Kunst baut Stadt: Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York [1. Aufl.] 9783839416839

»Kunst baut Stadt« fragt in einer Ethnographie, wie Künstler in Berlin und New York in ihrer Kunstproduktion Metropolenb

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German Pages 382 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung – Künstlerinnen und Künstler als Produzenten der Stadt
A PERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE
2. Zugänge I: Theoretische Perspektiven
2.1 Kunstbetriebslogiken
2.2 World Art Cities – Städte im globalisierten Kunstbetrieb
2.3 Zur Mikroproduktion städtischer Räume zwischen Kunst und Alltag. Theoretische Skizzen zu Lefebvre, Bourdieu und De Certeau
2.4 Künstler als Erfinder von (Stadt-)Räumen – Kunstwissenschaftliche Perspektiven
2.5 Medialitäten – Ko-Produktionsprozesse medialer Stadtbilder
3. Zugänge II: Methoden aus Kunstwissenschaften und Stadtanthropologie
3.1 Tropen und Paradigmen
3.2 Bildanalyse, Mental Maps und Multisited Ethnography
3.3 Vergleichsproblematiken Berlin – New York
3.4 Writing Art – Ethikfragen zu einer Feldforschung im Kunstbetrieb
B STÄDTISCHE KONTEXTE BERLIN – NEW YORK
4. Mythos Berlin. Die eigene Stadt mit neuen Augen sehen
4.1 Forschen in Berlin
4.2 Booming Brunnenstraße oder die Galerienszene im Wandel
4.3 Ortsbegehungen: Der Hamburger Bahnhof und der Skulpturenpark Berlin_Zentrum
4.4 Blicke auf die Stadt: Künstlerstimmen zu Berlin
5. Delirious New York – Feldforschung unter Zeitdruck
5.1 Einstieg in die Szene(n)
5.2 Williamsburg ist nicht Chelsea. Zur innerstädtischen Kartierung der Galerien
5.3 Knotenpunkte der städtischen Kunstbetriebslandschaft
5.4 Produktion von Außerhalb. Die Atelierwanderung nach Brooklyn und Williamsburg
C KUNST BAUT STADT – BAUT KUNST
6. Künstlerische Ortsproduktionen von Berlin
6.1 Fluide Räume – Stadtkonzepte bei Nevin Aladag und Christine Schulz
6.2 Gedächtnisraum Stadt – Jan Brokofs und Wiebke Loepers Archivierung verschwundener Orte
6.3 Diskursraum Stadt – Die kontextbezogene Kunst Dellbrügge & de Molls
6.4 In Bewegung – Ortsproduktion bei Anri Sala und Rirkrit Tiravanija
7. Artistic Placemaking – New York
7.1 Mirroring the City – Dan Grahams Reflexionen der vertikalen Stadt
7.2 Iconic City – Matthew Barneys „Bühne Stadt“
7.3 Streetwise – Die Aneignung des New Yorker Stadtraums bei Ellen Harvey
7.4 Die Stadt als glokale Chiffre – Post 9/11-New York in den Kunstwerken Dulce Pinzóns
8. Fazit – Verhandlungen künstlerischer Stadtkonzepte
8.1 Die Wiederentdeckung verschwundener Orte: Berlin in der Kunst
8.2 Verwundete Monumentalität: Künstlerische Stadtkonzepte New Yorks
8.3 Leitmotive des Urbanen. Vom symbolischen Kapital der Stadt
8.4 Überlegungen zum Verhältnis von gelebtem und konzipiertem Raum
D AUSBLICK
9. Ausblick – Metropolen im Spiegel von Stadtanthropologie und Kunst
9.1 Die Stetigkeit der Hegemonien. Knotenpunkte im globalisierten Kunstbetrieb
9.2 Zur Relationalität der Kunstmetropolen in der Globalisierung
9.3 Für eine Komplizenschaft von Kunst und Ethnografie
10. Danksagung
Literatur
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Kunst baut Stadt: Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York [1. Aufl.]
 9783839416839

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Christine Nippe Kunst baut Stadt

Image | Band 20

Für Christian Junge und meine Familie, Catherine, Karsten und Suzanne Nippe

Christine Nippe (Dr. phil.) arbeitet als Kuratorin und Autorin in Berlin. Sie hat zu transnationalen Netzwerken, Globalisierung und Künstlern wie Susan Hiller, Sabine Hornig, Susanne Kriemann publiziert.

Christine Nippe

Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York

Gefördert vom Evangelischen Studienwerk Villigst e.V., eingereicht bei der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: www.cnippe.com, Catherine Nippe, London 2011 Lektorat & Satz: Svenja Ganschow Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1683-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung – Künstlerinnen und Künstler als Produzenten der Stadt | 9

A P ERSPEKTIVEN UND ZUGÄNGE 2. Zugänge I: Theoretische Perspektiven | 19

2.1 Kunstbetriebslogiken | 19 2.2 World Art Cities – Städte im globalisierten Kunstbetrieb | 27 2.3 Zur Mikroproduktion städtischer Räume zwischen Kunst und Alltag. Theoretische Skizzen zu Lefebvre, Bourdieu und De Certeau | 30 2.4 Künstler als Erfinder von (Stadt-)Räumen – Kunstwissenschaftliche Perspektiven | 39 2.5 Medialitäten – Ko-Produktionsprozesse medialer Stadtbilder | 48 3. Zugänge II: Methoden aus Kunstwissenschaften und Stadtanthropologie | 51

3.1 Tropen und Paradigmen | 52 3.2 Bildanalyse, Mental Maps und Multisited Ethnography | 54 3.3 Vergleichsproblematiken Berlin – New York | 58 3.4 Writing Art – Ethikfragen zu einer Feldforschung im Kunstbetrieb | 59

B STÄDTISCHE KONTEXTE BERLIN – NEW YORK 4. Mythos Berlin. Die eigene Stadt mit neuen Augen sehen | 65

4.1 Forschen in Berlin | 68 4.2 Booming Brunnenstraße oder die Galerienszene im Wandel | 69 4.3 Ortsbegehungen: Der Hamburger Bahnhof und der Skulpturenpark Berlin_Zentrum | 76 4.4 Blicke auf die Stadt: Künstlerstimmen zu Berlin | 84 5. Delirious New York – Feldforschung unter Zeitdruck | 93

5.1 Einstieg in die Szene(n) | 95 5.2 Williamsburg ist nicht Chelsea. Zur innerstädtischen Kartierung der Galerien | 98 5.3 Knotenpunkte der städtischen Kunstbetriebslandschaft | 102 5.4 Produktion von Außerhalb. Die Atelierwanderung nach Brooklyn und Williamsburg | 110

C K UNST BAUT STADT – BAUT KUNST 6. Künstlerische Ortsproduktionen von Berlin | 123

6.1 Fluide Räume – Stadtkonzepte bei Nevin Aladag und Christine Schulz | 123 6.2 Gedächtnisraum Stadt – Jan Brokofs und Wiebke Loepers Archivierung verschwundener Orte | 143 6.3 Diskursraum Stadt – Die kontextbezogene Kunst Dellbrügge & de Molls | 177 6.4 In Bewegung – Ortsproduktion bei Anri Sala und Rirkrit Tiravanija | 202

7. Artistic Placemaking – New York | 221

7.1 Mirroring the City – Dan Grahams Reflexionen der vertikalen Stadt | 221 7.2 Iconic City – Matthew Barneys „Bühne Stadt“ | 244 7.3 Streetwise – Die Aneignung des New Yorker Stadtraums bei Ellen Harvey | 267 7.4 Die Stadt als glokale Chiffre – Post 9/11-New York in den Kunstwerken Dulce Pinzóns | 286 8. Fazit – Verhandlungen künstlerischer Stadtkonzepte | 301

8.1 Die Wiederentdeckung verschwundener Orte: Berlin in der Kunst | 302 8.2 Verwundete Monumentalität: Künstlerische Stadtkonzepte New Yorks | 308 8.3 Leitmotive des Urbanen. Vom symbolischen Kapital der Stadt | 312 8.4 Überlegungen zum Verhältnis von gelebtem und konzipiertem Raum | 320

D AUSBLICK 9. Ausblick – Metropolen im Spiegel von Stadtanthropologie und Kunst | 327

9.1 Die Stetigkeit der Hegemonien. Knotenpunkte im globalisierten Kunstbetrieb | 327 9.2 Zur Relationalität der Kunstmetropolen in der Globalisierung | 329 9.3 Für eine Komplizenschaft von Kunst und Ethnografie | 335 10. Danksagung | 339 Literatur | 343

„Art can become praxis and poises on a social scale: the art of living in the city as work of art. [It] can create ‚structures of enchantment‘ […] in other words, the future of the art is not artistic, but urban […].“ (Henri Lefebvre)

„Berlin, aus einer ‚tabula rasa‘ entstanden, erfand sich immer neu, indem es immer wieder ‚tabula rasa‘ mit seiner Vergangenheit machte. Es war immer ein Experimentierfeld, eine offene Baustelle. Trotzdem ist alles, was die verschiedenen sukzessiven Berlins gemeinsam haben, mehr, als was sie so auffällig unterscheidet; es sind die Metamorphosen der jüngsten und modernsten Großstadt, deren Essenz ihr proteischer Charakter ist.“ (Nikolaus Sombart „Viermal Berlin. Berliner Mythologien“)

„Asphalt – wie Glas Keine Spur von Grün Kein Wald, kein Gras. Klappernden Schritts. Von Süden nach Norden Ziehn Avenuen, von Westen nach Osten Streets. Dazwischen (wohin sich Gebäude verirrn!) manch Bandwurm von Häuserfront. Die einen Häuser Starrn ins Gestirn, die anderen kratzen am Mond. […]“ (Wladimir Majakowski, „Broadway“)

1. Einleitung – Künstlerinnen und Künstler als Produzenten der Stadt

Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, die beiden Städte Berlin und New York. Während es in der einen manchmal diesen kurzen Moment der Stille auf der Friedrichstraße gibt, quietscht in der anderen die Subway, heulen die Martinshörner, gurgeln die Wasserleitungen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Meine Wege führten nicht nur durch Hinterhöfe, in denen der Putz abbröckelt, durch glänzende Avenues oder an stinkenden Abfallbergen entlang in leer stehende Industriehallen. Es hieß, sich mit Einreiseantrag und biometrischem Foto in die lange Schlange der Amerikanischen Botschaft einzureihen, die Kältegrade im Februar zu vergleichen und nach der Rückkehr die Ruhe Berlins als beinah unheimlich zu empfinden. Emails und Mobilfunknummern waren meine ständigen Begleiter und das Diktafon kündigte nur sporadisch seine Unterstützung auf. Im Nachhinein ist es schwer zu entflechten, wie sich die einzelnen Schritte zwischen erster Kontaktaufnahme, Atelierbesuchen und Gesprächen vollzogen. Besonders deutlich bleibt nur die erste Ankunft in Erinnerung, sowohl in der fremden als auch in der eigenen Stadt. Im Laufe des Hinundzurück lagerten sich Gesprächsfetzen und Kunsteindrücke übereinander. Es schieben sich Matthew Barney und die Badenixen im Guggenheim Museum mit dem Brooklyner Spiderman von Dulce Pinzón übereinander; die Leerstelle des ehemaligen Kassenhäuschens an der Mollstraße, das Wiebke Loepers Fotografie festhielt, mit dem Video Nevin Aladags von singenden Jugendlichen im Görlitzer Park. Angesichts der Fülle von Bildern, Sätzen, Einblicken, Theorien wurde mir oft bange, wie das ganze Gewirr jemals Sinn ergeben sollte. Doch vielleicht ist es gerade dieses Fragmentarische, Veränderliche und Vielfältige, das die beiden Städte,

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die Alltagswelten meiner Interviewpartner sowie ihre Arbeiten zusammenhält. Meine Ethnografie untersucht die stadtbezogenen Ansätze zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler in Berlin und New York, da sie wichtige Produzenten städtischer Imaginationen sind. Aus einer interdisziplinären Perspektive von Stadtanthropologie und Kunstwissenschaften richtet sich meine Forschungsfrage darauf, wie Künstler ihre Stadt konzipieren, repräsentieren und verhandeln. Die lokalen urbanen Bedingungen, ihre Mythen und Diskurse sowie der globale Raum im System Kunstbetrieb bilden das Koordinatensystem, innerhalb dessen die urbanen Kunstpraxen zu lesen sind. Die Analyse künstlerischer Ansätze aus der Akteursperspektive heraus, ermöglicht es, Aussagen über veränderte Praktiken und Strategien stadtbezogener Kunst im Spiegel lokaler und globaler Dynamiken zu treffen. Mein Vorhaben wurde 2005 durch die Beobachtung angestoßen, dass seit Mitte der Neunziger und hinein in die Zweitausender Jahre Berliner Künstlerinnen und Künstler1 verstärkt die eigene Stadt zum Gegenstand ihrer Auseinandersetzung machten. Diese Entwicklung begann in einer Zeit, als die Metropolenwerdung Berlins von Journalisten, Autoren, Stadtforschern und Politikern diskutiert wurde. Zusätzlich schien auch der Kunstbetrieb, den Topos „Urbanität“ für sich entdeckt zu haben. Ausstellungen wie Berlin-Moskau/Moskau-Berlin im Martin Gropius Bau (2004), Constructing New Berlin im Phoenix Art Museum (2006), Die Stadt von Morgen in der Akademie der Künste (2007), die skulptur projekte münster (2007), die Schau zur Situationistischen Internationale im Basler Tinguely Museum (2007), die Gordon Matta Clark Retrospektive im Whitney Museum of American Art (2007), New York State of Mind im Haus der Kulturen der Welt/ Queens Museum of Art (2007/2008), oder Megastructures (2008) verweisen auf das steigende Interesse am urbanen Raum in der Kunst. Der Spatial Turn mit seinem Fokus auf räumliche Phänomene hat also nicht nur die Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern ebenfalls die künstlerische und kuratorische Praxis erfasst. Dort kreuzen sich theoretische Ansätze der Sechzigerjahre – inspiriert durch die Situationistische Internationale und Performance-Bewegung – mit Paradigmen

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Ich habe mich aus Gründen der Lesbarkeit und der Länge der Arbeit gegen die „Innen-Form“ entschieden. Damit möchte ich jedoch nicht die Wichtigkeit einer genderreflexiven Perspektive in Frage stellen.

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der Neunziger, die sich an einer kritischen Reaktion auf die symbolischen Ökonomien und ihrer Vereinnahmung des städtischen Raumes abarbeiten (Franzen/König/Plath 2007). Während die einen Produzenten künstlerische Projekte in Reaktion und Reflektion auf die postfordistische Stadt erproben, entwickeln andere alternative Mappings und Bildwelten, die nun auch per Internet abrufbar sind. Die Medien sind ebenso vielfältig wie die Themen und Raumparadigmen. Die Bandbreite reicht von Malerei, Fotografie, Video, Installation, Netzkunst oder Skulptur bis hin zu relationalen oder interaktiven Projekten. Um stadtbezogene Ansätze zu untersuchen, wählte ich stellvertretend für Berlin Arbeiten von Nevin Aladag, Jan Brokof, Dellbrügge/de Moll, Wiebke Loeper, Anri Sala und Christine Schulz aus. Für die künstlerische Reflektion New Yorks interessierten mich Werke von Matthew Barney, Dan Graham, Ellen Harvey, Dulce Pinzón und Rirkrit Tiravanija. Die Künstler stammen aus Albanien, Mexico, Thailand, der Türkei, Ost- und Westdeutschland sowie den USA. Dabei wurden ihre Lebensstationen durch vielfältige Kontexte und Reisen gekennzeichnet, weit bevor sie nach Berlin oder New York kamen und sich dort niederließen. Meine Auswahl repräsentiert bewusst unterschiedliche Generationen, Geschlechter, Nationalitäten und Bekanntheitsgrade, um multiple Perspektiven auf die jeweilige Metropole freizulegen. Gemeinsam ist den Künstlern die Reflektion urbaner Veränderungen im Zeitraum von 1989 bis 2009.

„Neue Lokalitäten“ in der zeitgenössischen Kunst Die Verschränktheit zahlreicher Stationen in einer Biografie verweist auf das übergreifende Phänomen veränderter Lokalitäten in der Nachmoderne. Nach Hou Hanru, chinesisch-französischer Kurator, sind jegliche gesellschaftliche Systeme von der Globalisierung betroffen und befinden sich in einem veränderten Koordinatenfeld: „Neue Lokalitäten zu errichten ist die vordringlichste Aufgabe der ‚Lokalen‘. Waren ihre Grenzen einst auch relativ klar definiert als eine Art Inseln im Ozean der Weltkarte, so ist eine solche mit Inseln durchzogene Karte heute nicht mehr haltbar. Jeder muss die Insel, die die seine ist, verlassen und sich in den

12 | K UNST BAUT STADT grenzüberschreitenden Ozean globaler Neustrukturierungen stürzen.“ (Hanru 2002: 193)

Hanru bezieht sich hier auf das Konzept des indisch-amerikanischen Anthropologen Arjun Appadurai, der für Kulturen eine erhöhte Beschleunigung und die Wichtigkeit entterritorialisierter virtueller Nachbarschaften konstatiert. Sein Ansatz der Production of Locality betont die aktive Rolle des Individuums bei der Generierung von Nähe. Außerdem versteht er globale Imagescapes als Motoren für Migrationsund Mobilitätsströme. 2 Lokales wird permanent durch Globales bedingt. In diesem wechselseitigen Austauschprozess begreife ich, angelehnt an Appadurai und Hanru, die Kunst als gleichzeitig befragende und gestaltende Kraft von Bildern, Vorstellungen und Orten. Indem die Gegenwartskunst zweckentfremdetes Material wieder in den Kreislauf der Medien einbringt, verändert sie alltägliche Wahrnehmungen. Dabei überschneiden sich künstlerische Konzepte mit anderen Disziplinen wie Architektur und Urbanismus und reichen über rein visuelle Umgebungen hinaus. Kunst wird häufig dematerialisiert und im Netzwerk globaler Kommunikation wieder re-materialisiert (Hanru 2002). Gleichzeitig ist unter den aktuellen Vorzeichen von Migration, Mobilität und kulturellen Strömen jeder Ort durch Diskurse, Ideologien und Werte geprägt. Diesem Aufeinandertreffen translokaler Biografien und Lokalitäten in der zeitgenössischen Kunst gilt mein Forschungsinteresse, denn: „Man kann die Künste nicht weiter im abgesteckten Bereich der Insel ‚Kunst‘ selbst sehen und noch weniger der ‚lokalen Kunst‘. Sie muss sich im Gegenteil mit dem Ende dieser Eingrenzungen auseinandersetzen.“ (Hanru 2002: 197) Wenn wir Künstler als eine relevante Gruppe für die Produktion von städtischen Imaginationen begreifen, so bleibt bislang noch immer unbeleuchtet, in welchem konkreten alltagsweltlichen Verhältnis sich solche „neuen Lokalitäten“ in der Kunst manifestieren. Besitzt der Lebensort angesichts einer hohen räumlichen Mobilität nun keinerlei Bedeutung mehr? Was macht die Stadt für Kunstschaffende unter diesen

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Appadurai definiert Lokalität als sozial relational und kontextuell, weniger ortsgebunden. Er fokussiert die Herstellung eines sozialen Zusammenhangs, welcher auf einer geteilten Verortung beruht. Solch ein geteiltes Nähe-Gefühl kann sich auch auf die Stadt beziehen (Appadurai 1996: 178).

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Vorzeichen aus? In meiner Ethnografie zeige ich die stadtbezogenen Produktions- und Alltagspraxen von Künstlern in Berlin und New York, um das bislang wenig erforschte Verhältnis von Lokalität und Globalität in der Kunst empirisch zu füllen und die Bedeutung dieser beiden Städte als Lebens-, Inspirations-, Imaginations- und Arbeitsorte zu erörtern.

Die Black Box der Verräumlichung im Kunstbetrieb Städte spielen als Bühnen und Handelsplätze eine wichtige Rolle im globalen Kunstbetrieb. Sie geben die Produktionsbedingungen in Form von Atelierräumen, technischen Infrastrukturen, Distributionsnetzen und Transportlogistiken vor. Auch diese Aspekte für die Produktion von Kunst sind bislang wenig empirisch unterfüttert. Wie Materialien die Raumpraxen der Produzenten beeinflussen, welche Logistik, Assistententeams und Wissensformen entwickelt und benötigt werden, wird innerhalb meiner Studie analysiert, um zu einer differenzierten Aussage über die Struktur künstlerischer Alltagswelten zu gelangen. Die Mikropraxen können Hinweise dafür geben, welche Rolle der Ort für die Produktion spielt, wie die Akteure ihren Alltag lokal organisieren beziehungsweise ob ihre globalen Mobilitäten eine strukturierende Dimension für ihre künstlerische Tätigkeit besitzen. Die Produktion wird in ihrem Kontext gefasst, um Verräumlichungslogiken, Zugangsbedingungen und Machthegemonien im globalisierten Kunstbetrieb zu skizzieren. Laut dem britischen Kulturgeografen Adian While ist die Rolle des Ortes wichtig, denn: „more needs to be known about the difference place makes in mediating the production, distribution and consumption of art“ (While 2003: 251). Städte haben mit ihrer spezifischen Dichte von Künstlern und Kuratoren, Vermittlern und Institutionen ebenso wie mit ihren Kunstakademien, Atelierräumen und Diskursplattformen nicht nur eine bedeutende Funktion für die Entwicklung und Präsentation von Kunst inne, sondern auch für die lokal produzierten Cultural Flows (Hannerz 1996) im globalen Metropolennetzwerk.

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Die Fragestellung: Ausformungen der gelebten und konzipierten Stadt Was macht den Kern meiner Arbeit aus? Aus einer interdisziplinären Perspektive von Stadtanthropologie und Kunstwissenschaften richtet sich meine Forschungsfrage darauf, wie Künstler in Berlin und New York ihre Stadt konzipieren, repräsentieren und verhandeln. Mich interessiert, inwiefern Alltag, mediale Praxis und Konzept der Stadt miteinander korrespondieren. Ich referiere dabei auf den Ansatz des sozialen Raumes von Henri Lefebvre. Es geht somit um die Frage, welche Praxen den gelebten und konzipierten Raum vor dem Hintergrund einer starken Mobilität im Kunstbetrieb bestimmen: Welches Beziehungsverhältnis kann also anhand der Künstlernarrative zum Zusammenhang von stadtbezogener Kunstpraxis und Alltag beobachtet werden? Mit meinem Anliegen möchte ich die Produktion von Kunst untersuchen, um damit das besondere Verhältnis von Kunst und Stadt zu analysieren. In meiner Ethnografie bilden die Veränderungen von Berlin und New York seit 1989 die Ausgangsbasis. Ich verstehe Städte als Basis struktureller Bedingungen in einer postindustriellen Gesellschaft, als ein ‚Brennglas‘ für übergeordnete gesellschaftliche Veränderungen und als Aushandlungsorte um Eigentumsrechte und Repräsentationsformen in der Gesellschaft. Sie sind Konkurrenten um die intellektuellen Eliten und international agierenden Kulturschaffenden im weltweiten Netz der Metropolen. Die Künstler ihrerseits gehören zu den zentralen Produzenten von städtischen Repräsentationen und Bildern.

Berlin und New York im Vergleich Als weiterer theoretischer Rahmen meines Vorhabens dient der Weltstädte-Ansatz von Ulf Hannerz. Der schwedische Kulturanthropologe geht davon aus, dass innerhalb einer Stadt unterschiedliche Akteursgruppen miteinander interagieren. Diese Austauschprozesse sind dafür verantwortlich, wie viel ‚kulturelles Material‘ eines Ortes in die Welt hinaus getragen wird. Ich habe mich für eine vergleichende Perspektive entschieden, die die Lebens- und Arbeitspraxen von Künstlern in Berlin und New York ins Zentrum stellt, da diese beiden Städte auf unterschiedlichen Ebenen als entscheidende Knotenpunkte im globali-

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sierten Kunstbetrieb gelten. Während Berlin als wichtiger europäischer Standort für die zeitgenössische Kunst und als Produktionsort im internationalen Feld verhandelt wird, ist New York zum Ausdruck der etablierten Akteure geworden, jenen, die es weltweit ‚geschafft‘ haben. Sie gelten als die „global player“ im Kunstbereich (Nippe 2006: 89). Das bedeutet für die Künstler, dass Städte nicht nur Orte des Lebens und Arbeitens sind, sondern dass diese ihre Biografie mit symbolischem Kapital versehen. Anhand ihrer Lebens- und Ausstellungsorte werden ihre Wege zwischen ‚Lokalem‘ und ‚Globalem‘ markiert. Ihre Strategien und Praxen wiederum verweisen auf die symbolischen Ordnungen, die urbanen Diskurse sowie die institutionalisierten Regeln in Berlin und New York.

Aufbau Zunächst widme ich mich anhand der Ansätze von Howard Becker, Pierre Bourdieu, Hans Abbing und Isabel Graw dem Kunstbetrieb und seinen spezifischen Logiken. Ich nehme Abstand von den aktuell modischen Konzepten der Creative Industries, um einen exakten Zugriff auf die Rolle der Künstler in den widersprüchlichen, gleichwohl kollaborierenden Subfeldern Markt und Institution zu beschreiben, um die Verfasstheit im ‚System Kunstbetrieb‘ zu berücksichtigen. Es folgt eine kurze Skizzierung zur Genese des World-Cities-Ansatzes. Ursprünglich von John Friedmann und Goetz Wolf entwickelt und von Saskia Sassen für Finanzmetropolen überprüft, zeigt sich die Erweiterung von Ulf Hannerz auf kulturelle Strömungen als die produktivste Variante für die Analyse von Kunstmetropolen. Sein Ansatz geht davon aus, dass spezifische Akteursgruppen in ihrer Interaktion dafür bestimmend sind, inwiefern eine Stadt „Material“ in den globalen Cultural Flow einspeist und Einfluss nimmt. Schließlich gehe ich im dritten Teil meines theoretischen Kapitels auf die beiden Wissenschaftsperspektiven der Ethnologie und der Kunstwissenschaften zur Produktion von Raum ein. Durch die Offenheit sowohl zum Alltag als auch zum konzeptionellen Ansatz in der Kunst bilden Lefebvres Überlegungen zur Dreidimensionalität des sozialen Raumes die perfekte Schnittstelle für mein interdisziplinäres Vorhaben. Die kunstwissenschaftlichen Ansätze zur Ortsbezogenheit sowie James Meyers Erweiterung zum funktionalen Ort ergänzen diesen Fokus, da sie die Ausei-

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nandersetzung um „Ort“ in der Kunst sowie die Öffnung in Richtung diskursiver und kontextbezogener Dimensionen aufzeigen. Das darauf folgende methodische Kapitel vergleicht die unterschiedlichen disziplinären Paradigmen und stellt meine Methodentriangulation von Mental Maps, Bildanalysen und Multisited Ethnography für das Vorgehen vor. Bevor das Kapitel mit den Künstlerporträts und ihren Konzepten der Stadt beginnt, skizziere ich die städtischen Kontexte Berlin und New Yorks, um die jeweiligen lokalen Spezifika anhand der Galerien-, Institutionen- und Produzentenlandschaft darzulegen. Den Kern meiner Arbeit bildet das Kapitel Kunst baut Stadt – baut Kunst. In Porträts ethnografiere ich die wahrgenommene, gelebte und konzipierte Stadt der Künstlerinnen und Künstler. Ich gehe dabei auf ihre Alltags-, Mobilitäts- und Produktionsräume sowie die Medialität und das Konzept ihrer stadtbezogenen Arbeiten ein, um gelebte und konzipierte Stadt, somit ihren sozialen Raum, aufeinander bezogen zu diskutieren. In meinem Fazit zeige ich übergeordnete lokale Topoi ihrer Ansätze von Berlin und New York sowie stadtübergreifende Leitmotive des Urbanen in der zeitgenössischen Kunst. In meinem Ausblick gehe ich auf Hegemonien im globalisierten Kunstbetrieb ein und wie Städte ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zueinander entwickeln. Doch bevor es hinein in die Ateliers und Ideenwelten der Künstler geht, bleibt festzuhalten: Obgleich die Motive für den Zuzug sehr vielfältig sind, die Städte sind entscheidend dafür, wer auf den Bühnen der Aufmerksamkeit einbezogen wird und wer ausgeschlossen bleibt. Insbesondere im globalisierten Kunst- und Kulturbetrieb sollten Alltagspraxen und Bewegungen untersucht werden, um Konturen von Verräumlichungs- und Machtlogiken in diesem veränderlichen Feld aufzuzeigen. Der erste Schritt dabei ist, den gegenwärtigen Kunstbetrieb und seine Funktionsweisen zu skizzieren.

A Perspektiven und Zugänge

2. Zugänge I: Theoretische Perspektiven

DER KUNSTBETRIEB: EIN BESONDERES FELD 2.1 K UNSTBETRIEBSLOGIKEN Eines der faszinierendsten Phänomene zeitgenössischer Kunstproduktion ist ihre vielschichtige Organisations- und Institutionalisierungsform. Ähnlich wie in der Wissenschaft, der Medizinforschung oder im Musikgeschäft gelten auch hier spezifische Logiken. Sie können nur unzureichend unter dem populären Forschungsansatz der Creative oder Cultural Industries gefasst werden. Richard Floridas Diktum vom Rise of the Creative Class (2002) machte die „kreative Klasse“ zu einem häufig strapazierten Ansatz in der Stadtplanung und -entwicklung. Nach Floridas Veröffentlichung nahmen Studien zur Kulturoder Kreativwirtschaft exponential zu, um die Grundlagen für eine „kreative Stadt“ in postindustriellen Gesellschaften zu erforschen. Der britische Stadtplaner Charles Landry (2003) entwickelte einen fünfstufigen Prozess der strategischen Planung für „die“ kreative Stadt (angelehnt am klassischen Management-Zirkel Planung-Umsetzung-Evaluation) und Florida propagierte, dass die soziale Diversität für den Zuzug kreativer Milieus ausschlaggebend sei. Sein Ansatz machte zwar die lange unterrepräsentierten weichen Faktoren von Kultur für Stadtplanung und Wirtschaftspolitik populär, doch basiert sein Konzept auf einem unpräzisen Begriff der kreativen Klasse. Unter ihn fallen Subfelder wie etwa die Musikindustrie, Designprofessionen, ITEntwickler oder bildende Künstler. Er machte seinen Ansatz zum Beraterinstrumentarium: Ausgehend vom amerikanischen Kontext und dem Revitalisierungsdiskurs um die „Regeneration of City Centers“

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wird das Konzept nun wahllos auf europäische und australische Städte adaptiert. Auch bei Ethnologen genießt der Kreativitätsbegriff eine hohe Popularität. Orvar Löfgren beschreibt in seinem Aufsatz Celebrating Creativity: On the Slanting of a Concept (2001) die Faszination an subkulturellen, kreativen Szenen. Er kritisiert, dass die Ethnologie von Paradigmen und Vorstellungen von der guten Kreativität von unten geprägt sei. Dieser Fokus auf die „builders and bricoleurs“ enthielt den Leitgedanken „cultural creativity is good for you!“ und werde von desillusionierten Marxisten als letzte Insel gesellschaftlicher Gegenstrategien aufgesucht. Im Kunstbetrieb hingegen kann eine Skepsis gegenüber dem Kreativitätsbegriff beobachtet werden. Das mag einerseits in einem Distinktionsbestreben gegenüber anderen Kreativberufen begründet sein, andererseits haben sich im Laufe der Kunstgeschichte und -soziologie nuanciertere Perspektiven entwickelt. Ich möchte hier ausgewählte Ansätze vorstellen, um auf die spezifischen Institutionalisierungen im Feld einzugehen. Die Begriffe der kreativen Klasse oder der Kulturindustrie verstellen hingegen die Lebensrealitäten und Zielsetzungen der Künstler. Ihre Arbeitsformen sind trotz der Zusammenarbeit mit Galeristen individualisiert. Oftmals agieren sie als eigene, kleine Wirtschaftseinheiten innerhalb eines durch Netzwerke geprägten Feldes. Obgleich Künstler durchaus auch Assistenten anstellen und wie Unternehmer agieren, kann in Hinblick auf die Standardisierung von Arbeitsabläufen und -produkten keinesfalls von Industrien gesprochen werden. Es handelt sich vielmehr um die Herstellung von Unikaten oder kleineren Serien, die sich im Produktionsablauf nur selten wiederholen. Der Ansatz der Cultural Industries ist somit aufgrund des unscharfen Klassenbegriffs, der wahllosen Adaptierung auf europäische Städte sowie aufgrund der Verschleierung spezialisierter Produktionsformen unproduktiv.

Zur Begrifflichkeit von Kunst und Künstler In Kunstwissenschaften, -soziologie und -anthropologie werden differierende Vorstellungen von ‚Kunst‘ und ‚dem Künstler‘ deutlich. Die Bestimmung von Bildender Kunst ist nicht nur aufgrund ihrer Geschichte, Funktion und Bedeutungswandlung vielschichtig, sondern

Z UGÄNGE I: THEORIE

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häufig fallen Produzent und Objekt zusammen (Ulrich 2005). Eine gute Übersicht über die Debatte bietet zunächst der Artikel Künstler– Kunstwerk–Betrachter von Barbara Aulinger (1992). Sie zeigt die unterschiedlichen Zugriffe der Disziplinen Kunstgeschichte und -soziologie und klammert dabei die Anthropology of Art aus (auf die Gründe gehe ich später detailliert ein). Während in der Kunstgeschichte die Künstler meist über ihre Werke erfasst wurden, konzentriert sich die Soziologie auf die Berufsgruppe. Das heißt, dass die Kunstgeschichte ein Interesse an den Objekten, die Soziologie an Institutionalisierungen entwickelte. Darüber hinaus existiert eine Fokussierung auf zwei konträre Paradigmen: einerseits die individualistischen sowie andererseits die soziologischen (vgl. Zollberg 1990: 107ff.). Der Freudsche Ansatz der Psychoanalyse versteht Künstler beispielsweise als von unbewussten Motiven gesteuert. Hingegen gehen soziologische Konzepte von einem gegebenen Talent aus und studieren die Effekte von Rollenspielen, Netzwerken und Institutionen im Feld. Mit der Diskussion um den Tod des Autors (Bakthins 1968, Foucault 1974, Barthes 1977) hat sich seit den Sechzigerjahren eine weitere Verschiebung ergeben: Angesichts übergeordneter Diskurse auf die Kunstproduktion sowie der zunehmenden Autorität der Rezipienten wurde die Idee von der Autonomie des Künstlers porös (vgl. Kraus 2000: 10ff.). Heute ist die Diskussion um das Künstlersubjekt noch lange nicht abgeebbt. Im Zuge der Wirtschafts- und Finanzmechanismen im Betrieb liefern subjektkritische Diskurse noch immer den Problemhorizont für aktuelle Handlungs- und Forschungsmodelle, wie Michael Michalka beschreibt: „Mit der Unterminierung modernistischer Autonomie-, Autoritäts- und Autorenschaftskonzepte wurden die Einheit des Kunstwerks und der Status seines Schöpfers, der diese bislang zu garantieren vermochte, wesentlich infrage gestellt. Aus heutiger Perspektive sehen wir uns im künstlerischen Feld mit einem komplexen und konfliktträchtigen Zusammenspiel konfrontiert, in dem Interpretation, Präsentation, Produktion und Konzeption ineinander greifen, in dem ‚lookers, buyers, dealers, makers‘ und noch einige andere mitwirken und in dem KünstlerInnen ganz unterschiedliche Rollen und Funktionen übernehmen beziehungsweise zugeschrieben bekommen.“ (Michalka 2006: 8)

In den Neunzigern wird die Rolle des Künstlers als freier Kurator erprobt und diskutiert (Bismarck 2006: 33ff.). Indem die Produzenten

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Strategien zur Kontextualisierung ihrer eigenen Arbeit entwickeln, zeigen sie, dass sie ihre Präsentation in Darstellungsformaten, räumlichen, kuratorischen und institutionellen Kontexten steuern. 3 Angesichts dieses konfliktreichen Aushandelns zwischen Produzent, Objekt, Wissenskontexten und Repräsentationen werden die vormals dominanten Konzepte von Autonomie und Genie für Produktion und Forschung fragwürdig. 4 Künstler verstehen sich angesichts vielfältiger Rollen und netzwerkförmiger Strukturen bereits seit längerem nicht mehr als autonomes Individuum, sondern agieren (gewollt oder ungewollt) in Doppelfunktionen. Sie sind Kleinunternehmer, Arbeitgeber, Kurator, Kunstvermittler oder Galerist in eigener Sache.

Auf Abstand: Die Anthropology of Art Die Kunstanthropologie wird bislang innerhalb und außerhalb des Faches Ethnologie kaum rezipiert. Neben den Beiträgen von Bourdieu (1993), Marcus/Myres (1995) und Schneider/Wright (2006) hat die Anthropology of Art nur wenig Niederschlag in der Kunstbetriebsdebatte samt seiner In- und Exklusionseffekte gefunden. In der Anthropologie ist eine Tradition des Misstrauens gegenüber kunsthistorischer Ansätze spürbar, die nicht erst seit dem von Arnd Schneider und Christopher Wright herausgegebenen Band Contemporary Art and Anthropology (2006) zu hinterfragen ist. Kunstanthropologen kritisieren die eurozentrische Geschichtsschreibung der Kunstgeschichte. Sie monieren die fortschrittsorientierte Stilgeschichte, das Fehlen einer postkolonialen sowie genderreflexiven Methodik- und Theoriebildung, ausbleibende Machtfragen sowie den Fokus auf die europäische und amerikanische Kunst. Die Bildinterpretation als Methodik spreche ebenfalls von dieser Eurozentrik, wenn sie nicht durch kontextualisierende Methoden wie Interview oder teilnehmender Beobachtung begleitet werde, lautet die Kritik (vgl. Morphy/Perkins 2006). Doch kann auch die Rolle der Anthropologie kritisch gesehen werden, ist sie mit ihrer Forschung zu ‚indigenen Künstlern‘ und ihrem Fokus auf Regionen jenseits des westlichen Kunstbetriebs doch selbst

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Siehe dazu auch: Nina Möntmann (2002).

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Im Kunstmarkt hingegen werden Individualität und Geniehaftigkeit weiterhin gern betont.

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an der Exotisierung des ‚ethnologischen Artefakts‘ beteiligt. Insbesondere in regionalen Forschungen bleiben die Relationen und Einflüsse des internationalen Kunstbetriebs unberücksichtigt. So verbleiben Inund Exklusionsprinzipien, Abgrenzungs- ebenso wie Kooperationspraxen zwischen westlich dominiertem Kunstmarkt und dem ‚Rest der Welt‘ im Unsichtbaren. Die beiden Anthropologen Morphy und Perkins (2006) hingegen betonen, dass es für die Kunstanthropologie von großer Wichtigkeit ist, gerade in Hinblick auf aktuell herrschende Machtverdichtungen im globalisierten Kunstbetrieb, einen Beitrag zur Formierung des Feldes zu leisten. Für meine Forschung in den beiden Städten Berlin und New York sind diese Überlegungen zu Machtkonzentrationen und den damit verbundenen Exklusionseffekten in der Globalisierung wichtig. Mit meinem Ansatz, die Stadt als Kontext und Auswahlkriterium künstlerischer Produktion zu wählen, möchte ich das Vereinende stärken und damit Grenzziehungen anzweifeln. Wie schon der Kunstwissenschaftler und Bildanthropologe Hans Belting betont, gilt es mir, Kunst und ihre Produktion zunehmend mit einem interdisziplinären Zugang zu begreifen und die jeweilige Praxis freizulegen (vgl. Belting 2002). Mein Forschungsinteresse für stadtbezogene Kunstwerke möchte den Spalt zwischen den Disziplinen schließen und hinterfragt die Dichotonomie von westlicher versus nicht-westlicher Kunst.5 Meine Beobachtung ist, dass Metropolen als Lebens- und Arbeitsorte Künstler vereinen. Meine Forschung zeigt, dass sie sich meist über die Stadt als ihren Lebens- und Arbeitsort definieren. Ich versuche mit meiner Studie, neue methodische und empirische Wege zu gehen und die herrschende, dualistische Denkfigur von einer westlichuniversalistischen versus nichtwestlichen-ethnischen Kunst auszuhebeln, um mich der Auseinandersetzung und Aushandlung zeitgenössischer Künstler mit ihrem urbanen Kontext zu widmen.

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Obwohl mir die Verwendung der Begriffe „westlich“ und „nicht-westlich“ widerstrebt, verwende ich sie in Anlehnung an Gerardo Mosquera, um die Effekte einer axialen Globalisierung sowie die historische Dominanz westlicher Kategorisierungen und ihrer Effekte auf die Kunstwelt sichtbar zu lassen (vgl. Mosquera 1994: 133-139).

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Vermittlungsketten und Ressourcenausstattungen, Markt und Institutionen Howard Becker verweist mit seinem Konzept der Art Worlds auf die Wertsteigerungsprozesse der Kunstproduktion (Becker 1982, 1997). Nach Becker ist das Kunstwerk ein von sozioökonomischen Netzwerken hervorgebrachtes Interaktionsprodukt. Wer im Kunstbetrieb wahrgenommen wird, ist vom Zusammenspiel einer ganzen Kette von Akteuren abhängig. Diese Perspektive stellt die Rolle von Vermittlern, wie Galeristen, Kuratoren und Kritikern, als bedeutsam heraus. Sie beeinflussen den symbolischen und ökonomischen Wert eines Kunstwerks und sind entscheidend, ob es den Zugang zum Markt erhält. Ein weiteres einflussreiches Konzept für meine Studie ist Bourdieus Ansatz des kulturellen Feldes (1993), auf das ich im späteren Verlauf weiter eingehen werde. Beide, sowohl das Konzept von Becker mit dem Fokus auf die Interaktionsnetze, als auch das von Bourdieu mit der Perspektive auf die Ressourcenausstattung der Akteure umreißen zentrale Mechanismen im Betrieb. Gleichzeitig besitzen diese jedoch auch ihre blinden Flecken, wenn Becker Kunst etwa auf ein Produkt von Konventionen reduziert und den künstlerischen Produktionsprozess außer Acht lässt und bei Bourdieu die ästhetische Wirkung der Artefakte und ihre Materialbasis diffus bleibt. Neben diesem in Vermittlungsketten produzierten Wert kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Der Künstler und Wirtschaftswissenschaftler Hans Abbing verweist in Why Are Artists Poor? The Exceptional Economy of the Arts (2002) auf die widersprüchlichen Regeln im Betrieb. Die beiden Subfelder Markt und Institutionen stünden zwar in Beziehung zueinander und definierten die Güte des Kunstwerks sowie die Kapitalausstattung ihrer Produzenten, doch könne nicht von einer äquivalenten Beeinflussung ausgegangen werden. So habe das ästhetische Feld mehr Einfluss auf das ökonomische als umgekehrt. Prestigeträchtige Ausstellungsstationen hätten demnach positive Effekte auf die Preisentwicklung der Objekte im Markt. Umgekehrt allerdings bedeute der Anstieg des ökonomischen Wertes nicht automatisch auch denjenigen des symbolischen Kapitals. Abbing zeigt zwar das widersprüchliche Spiel in der Bewertung von Kunst, doch sollte berücksichtigt werden, dass seine Studie auf dem öffentlich geförderten europäischen Kunstbetrieb gründet. Es bedarf somit einer Neubewertung, wenn es um das amerikanische System mit seinen pri-

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vaten Museen und Sammlungen geht. Des Weiteren ist in seinem Buch ein kritischer Unterton zu verspüren, wenn er die staatliche Subventionierung in Europa bemängelt und öffentlich finanzierte Artists in Residencies als Maßnahmen bezeichnet, 6 die Künstler langfristig ‚arm‘ hielten. Er entwickelt somit eine Argumentation, die die prekäre Lage der Künstler als Effekt fehlgeleiteter staatlicher Subventionen herleitet. Doch angesichts zusammenbrechender Finanz- und Wirtschaftsmärkte sowie ihre Effekte auf die amerikanische Museums- und Kunstlandschaft sind die Folgen für die Künstlerbiografien noch lange nicht abzusehen. Insbesondere schwache Marktteilnehmer leiden während und nach Krisenzeiten unter der Neuformierung liberalisierter Netzwerkökonomien. Im Konzept des Franzosen Pierre Bourdieu nimmt hingegen das symbolische Kapital eine zentrale Rolle ein. Während Abbing also für eine Liberalisierung des europäischen Kunstbetriebs im Sinne einer stärkeren marktlichen Orientierung argumentiert, ist in Bourdieus Ansatz die ökonomische Dimension eher unterbewertet. Er spricht von einem widersprüchlichen Wirtschaftsfeld: „In der künstlerischen Welt als einer verkehrten ökonomischen Welt sind die sich am eindeutigsten anti-ökonomisch gebärdenden ‚Verrücktheiten‘ in bestimmter Hinsicht ‚vernünftig‘, wird hier doch das Freisein vom Interesse anerkannt und belohnt.“ (Bourdieu 1985: 186) Im Sinne seines durch den Klassenhabitus hierarchisierten Begriffs der Distinktion mithilfe derer sich die Bourgeoisie gegenüber dem „zweckbestimmten, niederen Geschmack“ der unteren Klassen abhebt, betont Bourdieu die symbolische Wertsteigerung des Kunstwerks durch das interessefreie Spiel und die Positionierung jenseits des ‚Vulgär-Kommerziellen‘. Auch wenn diese Trennung reiner versus kommerzieller Kunst für die Siebzigerjahre in Frankreich stichhaltig sein mag, frage ich mich in Hinblick auf aktuelle Prozesse im Betrieb, ob diese von Bourdieu beschriebenen Logiken so noch Gültigkeit besitzen. Unter den jetzigen Entwicklungen scheint mir die ökonomische Wertsteigerung wenig hinderlich für die vormals gegensätzlich angelegte symbolische Aufwertung durch Museen und Institutionen. Im Gegenteil: Manche Arbeiten wurden im Boom des Kunstmarktes preislich hochgetrieben, um im nächsten Schritt ihre

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Mit diesen Einrichtungen sind Künstlerhäuser gemeint, die den Bewerbern ein Atelier, ein Stipendium und manchmal auch eine Ausstellungsmöglichkeit sowie eine Katalogfinanzierung bieten.

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Weihe in Museen und Ausstellungshäusern zu erhalten. Ökonomischer und ästhetischer Erfolg sind nicht länger widersprüchlich angelegt, sondern sie werden im „networking market“ (Karin Knorr Cetina) als gängiges Prinzip des „eine Hand wäscht die andere“ miteinander verschränkt (Graw 2008). Dennoch halte ich Bourdieus Unterscheidung von ökonomischem, sozialem, kulturellem und symbolischem Kapital für ein hilfreiches Instrumentarium, um Machtverdichtungen, Ressourcenausstattungen und Positionen im Feld zu berücksichtigen. Denn seine Leistung für die Ethnografie ist, dass er die Herstellung von Kunst an die sozioökonomischen Bedingungen ihrer Produzenten rückbindet. Das bedeutet, dass sein Ansatz ermöglicht, Machtrelationen im Kunstbetrieb sichtbar zu machen und die Handlungsspielräume der Akteure in seinem Begriff des Möglichkeitsfeldes zu fassen. Ferner können die unterschiedlichen Kapitalien die Konstruktion von Ein- und Ausschlussmechanismen aufzeigen. Neben informellen Absprachen und archaischen Tauschgeschäften generieren die Individuen ihre ökonomische Basis aufgrund ihres sozialen und symbolischen Kapitals. Damit wird der Künstler zum Prototyp jenes eigenverantwortlich agierenden unternehmerischen Selbst. Oder wie es Isabelle Graw zum aktuellen Betrieb treffend formuliert: „[es ist] ein soziales Universum, das dem feuchten Traum eines Neoliberalen entsprungen zu sein scheint. Entspricht es doch dem Ideal einer ‚reinen Wettbewerbsgesellschaft‘ ohne jede wohlfahrtsstaatliche Absicherung ebenso wie dem ökonomischen Imperativ, der zur Orientierung vormals ökonomiefreier Zonen (Privatleben, Freundschaften) aufruft.“ (Graw 2008: 93) Der Wert der Kunst als Sonderfall der Ware muss mit hohem Aufwand und Risiko vom Künstler und seinen Vermittlern erarbeitet werden (vgl. auch Moulin 2003: 10). Sie ist nicht etwa „per se“ wert- oder bedeutungsvoll (Graw 2008), sondern muss konzeptionell, sozial, symbolisch und ökonomisch permanent ausgehandelt und gesichert werden.

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W EGE IN DIE STADT 2.2 W ORLD ART C ITIES – S TÄDTE IM GLOBALISIERTEN K UNSTBETRIEB Der Begriff der Metropole stand lange Zeit für die zentrale Funktion der Hauptstadt im gesellschaftlichen Gefüge der Nation. Heute sind transnationale Prozesse zu beobachten, die die soziale und räumliche Umstrukturierung der Städte bestimmen und nach einer Erweiterung urbaner Forschungskonzepte verlangen (Massey 1994, Hannerz 1992 und 1995, Berking 2002, Noller/Prigge/Ronneberger 1994). So sind Gesellschaften und Orte nicht länger als exklusive, territorial definierte und national kontextualisierte Einheiten zu verstehen. Laut Keyder/Öncü stehen sie nun zunehmend in einem globalen Wettbewerb: „Cities, which have historically evolved under the aegis of strong national governments and their bureaucracies, are now opening to the international economy to compete with other cities across national boundaries.“ (Keyder/Öncü 1993: 7) In neueren Ansätzen wird daher die Stadt als sozialräumliche Organisationsform sozialer Beziehungen im Horizont globaler Raumbildungsprozesse verstanden (Albrow 1997, Eade 1997, Binder 2001). Die britische Geografin Doreen Massey (1994) betont, dass nun sowohl die lokalen als auch die globalen Beziehungen die Bedeutung des Ortes formulieren. Seine Besonderheit wird nicht durch die Grenzziehung verstanden, sondern „lies beyond, but precisely through the specificity of the mix of links and interconnections to that‚ beyond“ (Massey 1994: 5). Der demografische und ökonomische Wandel in den Städten wird durch die Globalisierung nicht hervorgerufen, doch erheblich verschärft wie etwa die Flexibilisierung der Produktion, die weltweite Vernetzung von Finanzströmen ebenso wie die Folgen der Deindustrialisierung.

Forschungsstand und Konzept: zum Ansatz der Cultural World Cities 1982 verdichteten John Friedmann und Goetz Wolff das theoretische Modell einer World City Formation. Sie führten geografische Raumordnungsperspektiven mit dem historisch entwickelten Weltsystem-

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ansatz sowie neueren stadtsoziologischen Überlegungen zusammen. Drei wichtige Faktoren wurden für die Entstehung eines weltweiten Städtesystems herausgehoben: (1.) die Industrialisierung sogenannter Drittwelt-Länder, (2.) eine forcierte Tertiarisierung der Wirtschaft in den Industrienationen und (3.) eine rapide Internationalisierung der Finanzmärkte. Die darauf folgenden Untersuchungen der Wirtschaftswissenschaftlerin Saskia Sassen galten der empirischen Überprüfung dieses Modells. Doch kritische Stimmen bemängelten, dass diese Ansätze mit ihrer Konzentration auf ökonomische Prozesse kulturelle Dimensionen der Weltverstädterung zu wenig berücksichtigen (vgl. Appadurai 1996, Robertson 1998, Sennett 1991). An dieser Stelle wird das ethnologische Stadtforschungskonzept der Cultural World Cities des schwedischen Kulturanthropologen Ulf Hannerz (1993) wichtig. Bei der weltweiten Vernetzung von Städten und ihrer Konkurrenz ist die Produktion von Kultur zentral. Dieser Ansatz zielt auf die kulturelle Kompetenz und das symbolische Kapital von Städten und relativiert eine rein ökonomische Sichtweise auf Metropolen. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Gedanke, dass die Verknüpfung zwischen Städten und die damit einhergehende urbane Praxis den Charakter und die Rolle von Kulturmetropolen ausmachen. Die Tatsache nämlich, dass sie kulturelle Bedeutungen und Ordnungen produzieren, die sich in und aus der Stadt ergeben und über sie hinausstrahlen ist dabei wichtig. Hierbei spielt für den Interaktionstheoretiker Hannerz der Austausch zwischen unterschiedlichen Akteuren, wie Künstlern, Unternehmern, Touristen und Migranten eine wichtige Rolle. Die Dichte der Stadt sowie die direkte und indirekte Interaktion dieser vier zentralen Gruppen bestimme, welche kulturelle Produktivkraft eine Metropole entwickeln könne. Aus dieser Rolle als Agenturen von Bedeutungen und Ordnungen ergibt sich auch der Gewinn für Städte, sich zu Kunst- und Kulturmetropolen zu entwickeln und diese zu fördern. 7 Dabei spielt die Vernetzung von verschiedenen Akteuren ebenso wie die Infrastruktur und Institutionenlandschaft der Stadt eine zentrale Rolle für die lokalen Produktionsbedingungen von Kunst- und Kultur. Zusammen beeinflussen diese Faktoren den globalen Anteil, den die

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Hierbei wird „Kultur“ nicht nur als Infrastruktur der Hochkultur, sondern auch im Sinne eines weiten Kulturbegriffs als neue kulturelle Lebensweisen verstanden.

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Stadt in die weltweiten Cultural Flows einspeisen kann (vgl. Hannerz 1995, 1996).

Die Rolle der Kulturwirtschaft in der Unternehmerischen Stadt Im Kontext dieser Entwicklungen wird die Kulturproduktion zu einem städtischen Wirtschaftsfaktor. Von Seiten des Stadtmarketings, der Tourismusbranche und der Politik wird ihr zunehmend eine ökonomische Bedeutung zugesprochen. Einerseits geht es hierbei darum, Touristen für eine Reise in die Stadt zu gewinnen, andererseits sollen langfristig Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor aufgebaut werden, um die sozialen Folgekosten der Deindustrialisierung zu kompensieren. Im industriell mager ausgestatteten Berlin wurde im Herbst 2004 eine Studie des Wirtschaftssenats zur Kulturwirtschaft angestoßen. 8 Laut Wirtschaftssenat realisierten mehr als 21.000 überwiegend mittelständische Unternehmen in der Kulturökonomie einen Umsatz von knapp 10 Milliarden Euro im Jahr 2002 und erreichten damit einen Umsatzanteil von 13,6 Prozent an der Wertschöpfung der gesamten Berliner Wirtschaft (Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen 2005: 2). Doch jenseits der auf Kreativität und Selbständigkeit setzenden Kulturwirtschaftsstrategie des Berliner Senats, die unter dem Wowereit’schen Diktum des „arm, aber sexy“ auf die individuelle Eigeninitiative des „be berlin“ setzt, sind die makrowirtschaftlichen Entwicklungen in postindustriellen Gesellschaften von zentraler Bedeutung.9 Die amerikanische Soziologin Sharon Zukin bezeichnet die Kulturwirtschaft als wichtige Ressource, um Städte ökonomisch und image-

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Der Berliner Senat zählt zur Kulturwirtschaft die Bereiche Film und Fernsehen, Multimedia und Musik, Buch- und Pressemarkt sowie den Kunstmarkt (2005).

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Aktuell lässt sich beobachten, wie der Kulturwirtschaftsbericht 2008 die Qualitäten einer „kreativen Stadt“ propagiert und damit die negativen Effekte von fehlender Absicherung, Altersarmut und prekären Beschäftigungsverhältnissen größtenteils verstellt. Häufig wird die Dynamik der „jungen Kreativen“ zelebriert, ohne dabei im gleichen Atemzug die Problematiken solch unternehmerischer Stadtentwicklungsmodelle aufzuzeigen sowie die fehlende Nachhaltigkeit kritisch zu diskutieren.

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politisch zu kontrollieren, wenn sie sagt: „What is new about the symbolic economy since the 1970s is its symbiosis of image and product, the scope and scale of selling images on a national and even a global level, and the role of the symbolic economy in speaking for, or representing, the city.“ (Zukin 1995: 8) Nach Zukin wird die bildende Kunst nicht nur für urbane Aufwertungsprozesse instrumentalisiert, sondern ist durch ihre Bildproduktion und Imagepolitiken, ihre Ortseffekte und der damit einhergehenden Aufwertung von Immobilien in die symbolischen Ökonomien der Städte involviert.

P RODUKTION VON U RBANITÄT : W ISSENSCHAFTSPERSPEKTIVEN Die

Veränderungen

von

Raum-

vorstellungen in den Künsten und in der Theorie sind enger miteinander verschränkt, als bisher dargestellt. ANGELA LAMMERT

2.3 Z UR M IKROPRODUKTION STÄDTISCHER R ÄUME ZWISCHEN K UNST UND ALLTAG . T HEORETISCHE S KIZZEN ZU L EFEBVRE , B OURDIEU UND D E C ERTEAU Für meine empirische Analyse sind sowohl Begriffe aus der Ethnologie als auch der Kunstwissenschaft wichtig. Dazu gehören aus einer ethnologischen Perspektive die Frage nach der Praxis, der Produktion von Raum sowie die Rolle des lokalen Kontextes. Aus der kunstwissenschaftlichen Sicht sind Überlegungen zu Ortsspezifik, dem funktionalen Ort sowie die Rolle der Medialität des Kunstwerks wichtig. Die Raumperspektive galt lange Zeit als vergessene Dimension der Sozial- und Kulturwissenschaften. Während in der Ethnologie dieser zwar beschrieben, extensiv bereist und erforscht wurde, waren historische Anthropologie und Soziologie vorrangig an Zeit und Geschichte interessiert. Raumtheorien waren marginalisiert oder wurden zum Repertoire der Geografen gezählt (vgl. Dünne/Günzel 2006). Erst Ende der Achtzigerjahre wurde eine breite Wiederentdeckung solcher Theo-

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reme ausgelöst, da sich die Forschung theoretisch und methodisch auf die Bedingungen spätmoderner Gesellschaften einstellen musste. In der Ethnologie suchten neben Akhil Gupta und James Ferguson (1997a) auch Arjun Appadurai und Ulf Hannerz nach Antworten. 10 Zum gleichen Zeitpunkt wurden in der Soziologie Topologien postmoderner Städte11 eruiert und in der Geografie begannen Doreen Massey und David Harvey unter dem Stichwort Radical Geography Raum in Abgrenzung zu klassischen territorialisierenden Lesarten zu bestimmen. Der Tenor in den unterschiedlichen Disziplinen lautete im Sinne Sojas Postulat: Space Matters! Dabei wurden auch Ansätze des französischen Philosophen und Stadtsoziologen Henri Lefebvre wiederentdeckt. Bislang durch die fehlende englischsprachige Übersetzung noch wenig beachtet, erhielt sein Werk späte Aufmerksamkeit im angloamerikanischen Raum. 12 Aus einer Marx’schen Tradition kommend, wollte Lefebvre kritisch die ökonomischen Bedingungen im Fordismus beleuchten. Raum und städtische Strukturen verstand er dabei als wesentliche Größen.13 Sein bis dahin in Deutschland, Großbritannien und den USA nur wenig beachtetes Buch La production de l’espace (1974) wurde nun verstärkt rezipiert. Seine Theorie konzentrierte sich auf Produktionsprozesse, soziale Praxis und die Entwicklung eines Thirdspace-Modells. Er war damals auch mit der Situationistischen Internationale und Guy Debord verbunden und prägte wesentliche Ideen ihrer urbanen Kunstpraxis. Auch Kunstwissenschaftler begannen sich eingehend mit seinem Konzept zu beschäftigen (vgl. Shields 1999, Rogoff 2000, Möntmann

10 Arjun Appadurai verknüpfte die Produktion von Kultur an überlagernde ethnische, soziale, ökonomische und mediale Formationen von Scapes/ Landschaften (1991, 1996, 1998). Ulf Hannerz stellte in seinem FlowKonzept Durchmischung und Prozesshaftigkeit von Kultur in den Mittelpunkt (1992, 1995). 11 So etwa die Konzepte World City/Global City (Cohen 1981, Friedmann/Wolff 1982, Friedman 1986, 1995, Sassen 1991, 1996), Gentrification (Glass 1964) oder Expolis (Soja 1992). 12 Seine 60 Bücher und mehr als 300 Artikel widmeten sich unter anderem der Kritik der Philosophie, dem Alltagsleben und der Entwicklung einer Praxistheorie, der Linguistik und Semiotik, der Agrarsoziologie und der Staatskritik (vgl. Shields 1999: 2). 13 Siehe dazu Le droit à la ville (1968) oder La révolution urbaine (1970).

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2002). So lobte beispielsweise Deutsche: „[Lefebvre’s] analysis of the spatial exercise of power as a construction and conquest of difference, although it is thoroughly grounded in Marxist thought, rejects economism and opens up possibilities of advancing analysis of spatial politics into realms of feminist and anti-colonial discourse.“ (Deutsche zitiert nach Schmid 2005: 64)

Die Thirdspace-Konzepte Bis in die Sechzigerjahre hinein arbeiteten viele Sozial- und Kulturwissenschaftler entweder mit einem Fokus auf Struktur- oder Praxistheoremen. In Ersteren dominierte die Auffassung, dass räumliche Konfigurationen die Naturalisierung von Machtverhältnissen fortschreiben (vgl. Bormann 2001: 297). In praxisorientierten Ansätzen konnte hingegen die Überbetonung kreativer räumlicher Aneignung beobachtet werden. Sie idealisierten Räume als Transformationsquellen sozialer Ordnungen. Es entstand die Tendenz, Potentiale der Umund Neugestaltung überzubewerten. Die Überwindung dieser unvereinbar scheinenden Konzepte von Raum als Struktur versus Raum als Handlung trieb Lefebvre voran. Er wollte die Kluft zwischen Firstspace Epistemologies (die Raum eine Objektivität unterstellen) und Secondspace Epistemologies (mit ihrer Subjektkonzentration) überbrücken. Er kritisierte die Vorstellung eines objektiven absoluten Raumes und monierte die abendländischen Konzepte seit Spinoza.14

14 In der abendländischen Denktradition betrachtete bereits Benedictus de Spinoza (1663) den absoluten Raum als ein Attribut oder eine Seinsweise des übergreifenden Wesens Gott. In der Mechanik Isaac Newtons kommt Raum ebenfalls eine absolute Rolle zu, indem er auf alle körperlichen Objekte einwirkt, ohne dass diese auf ihn eine Rückwirkung ausübten. Raum bildet auch das Referenzsystem, von welchem die Gültigkeit der NewtonMechanik abhing. Erst Gottfried Wilhelm Leibniz kritisierte im ausgehenden 17. Jahrhundert die Vorstellung des absoluten Raumes, indem er ihn ebenso wie die Zeit als relationales Konzept fasste. Beide, so seine These, stellten ideale Ordnungen dar. Während der Raum die Ordnung der gleichzeitigen Dinge, also das Beisammen oder Nebeneinander von Subjekten und Objekten definiere, organisiere die Zeit die Ordnung des Nacheinander (vgl. Schmid 2005: 192 ff.).

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Seine Kritik galt der Reproduktion des Dualismus von Subjekt und Objekt, von Individuum gegenüber dem Raum oder von Innen versus Außen. Er nahm sowohl Abstand gegenüber der Vorstellung, Raum sei eine res extensa, ein dem denkenden Subjekt Äußerliches (wie bei Descartes), als auch gegenüber der Vorstellung eines verinnerlichten Urbildes im Subjekt (wie bei Kant). Sein Anliegen galt der Aufhebung dieser Dualität, um eine Dreiheit zu entwickeln. Er verstand den Raum als soziales Produkt menschlicher Praxis. Diese Vorstellung erschien damals provokativ und doch widersetzte er sich damit der verbreiteten Meinung, dass der Raum vor den Dingen existiert. Sprachlich vollzog er auch den Bruch zum Containermodell (vgl. Schmid 2005: 203). Er begriff den Raum als menschliches Konstrukt: „The enormity of Lefebvre’s contribution which introduced the notion of ‚social space‘ was to shift from space as a context for material activity or manifestation to space which is produced by subjectivities and psychic states and in which nevertheless social relations take place.“ (Rogoff 2000: 23) Neben Henri Lefebvre können Michel Foucault und Edward Soja als Vordenker solcher Thirdspaces genannt werden.15 Sie vertreten einen Raumansatz zwischen Struktur und Praxis. Mit einem solchen dritten Weg werde ich auch in meiner Analyse arbeiten. Ich begreife also Künstlerinnen und Künstler als durch spezifische räumliche Bedingungen beeinflusst, gleichzeitig produzieren sie selbst auch Stadtraum mit. Damit bringen sie soziale und imaginäre Orte unter den gesellschaftlichen und feldimmanenten Bedingungen in Kunst und Alltag hervor.

Die Dreiheit von physischem, mentalem und sozialem Raum Die Lösung für Lefebvre lag in einer Dreiheit von erfahrenem, erdachtem und gelebtem Raum (perceived, conceived and lived). Damit ist „Raum“ zugleich eine physische Umgebung, die wahrgenommen wer-

15 Unter ‚Thirdspace‘ versteht Soja zunächst eine wissenschaftliche Betrachtungsweise von ‚Raum‘, der alle binären Logiken überwindet, Abstraktes und Konkretes, Materielles und Symbolisches, Objektives und Subjektives vereint: eine all-inclusive simultaneity (Bormann 2001: 300).

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den kann; eine semiotische Abstraktion, die zeigt wie gewöhnliche Menschen, Planer, Politiker und Geografen sich ihn vorstellen sowie ein Medium, durch welches der Körper in Interaktion mit anderen Körpern interagiert. Lefebvres Denken verknüpft das Physische, das Mentale und das Soziale. In der Entwicklung dieses Konzeptes führt er ein zweites „Triple“ ein, welches das erste verstärkt. So ist nach diesen doppelten Dreiheiten Raum gleichzeitig eine Praxis (in Form einer materiellen Umwelt, wie dem gebauten Stadtraum), eine Repräsentation des Raumes (als Stadtplanungskonzept) und ein Raum der Repräsentation (von gelebten sozialen Beziehungen der Benutzer zu ihrer Umwelt). Im Zentrum steht dabei der soziale Raum. Er kann als Brücke zwischen dem Physischen und dem Mentalen verstanden werden und fungiert als Scharnier zwischen der philosophischen Tradition des Materialismus und des Idealismus, wie das folgende Schema zeigt. Tabelle 1: Die Dreidimensionalität des Raumes bei Lefebvre Räumliche Praxis

L’espace perçu

Repräsentationen des Raumes

L’espace conçu

Räume der Repräsentation sozialer Raum

L’espace vecu

Erfahren (wahrgenommen, gebraucht) Erdacht (geplant, vorgestellt)

Physisch

Materialismus

Gedanklich

Idealismus

Gelebt

Gesellschaftlich

Materialismus & Idealismus

Laut Lefebvre basieren räumliche Repräsentationen auf zeitspezifischen Vorstellungen aus Physik, Stadtplanung und Geografie. Sie gründen auf Diskursen, Sprache, Kartierungen, Bildern und Statistiken. Diese Ordnungssysteme fließen in tradierte Raumbilder ein und beeinflussen unsere Alltagsvorstellungen. 16 Oftmals entschlüsseln Künstler solche historischen Raumbilder.17

16 Rogoff warnt vor den Traditionen der Geografie und ihren Klassifikationen. Sie kritisiert die angenommene Kongruenz von nationaler, kultureller,

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Sein Konzept vom sozialen Raum ist zentral für meine Forschung, da es Materielles und Imaginäres verbindet. Indem alltägliche Praxen sowohl Materialitäten reproduzieren als auch neue Bedeutungen hervorbringen, ist die Kunstproduktion an der Erzeugung von Dingen, Stadt und Imaginationen beteiligt. Sie besitzt sowohl eine gegenständliche als auch eine bedeutungsstiftende Dimension.

Die Räume der Repräsentation – Kunst und Alltag Mit den Räumen der Repräsentation sind bei Lefebvre neben dem Alltag, die der Literatur und Kunst gemeint. Letztere sieht er als Sphären, in denen neue Modelle von Stadt entwickelt werden können. Sie interessieren mich, da nach Lefebvre in Alltag und Kunst neue Visionen des städtischen Zusammenlebens entstehen können. So kann Kunst Sichtweisen freilegen. Künstler greifen dabei häufig auf Formen des Alltags zurück und schöpfen aus ihren Erfahrungen. In der körperlichen Nutzung von Räumen speichern, strukturieren und imaginieren sie diesen. 18 Beeinflusst durch die Surrealisten übernimmt Lefebvre

linguistischer und topografischer Geschichte sowie die Konstruktion eines homogenen Raumes durch das Ordnungssystem der indexikalischen Landmessungen (vgl. Rogoff 2000: 21). 17 Beispiele dafür sind: Nina Katchadourians Zerstückelung und Verdrehung von Kartenmaterial. Auch Andrea Fraser, Christian Philipp Müller und Gerwald Rockenschaub hinterfragen in ihrem Projekt für den österreichischen Pavillon der Venedig Biennale 1993 nationalistische Prämissen der Weltausstellung durch die fingierte Reihe illegaler Einwanderungsakte. Oder Daniel Knorr ließ bei European Influenza im rumänischen Pavillon der 51. Biennale von Venedig (2005) den Raum vollkommen leer. Das Werk materialisierte sich erst in den Reaktionen der Besucher und Rezensenten in Zeitschriften, Blogs und Foren. Einzig die Wörter „Europa“ und „Influenza“ fungierten dabei als Katalysatoren für territoriale Vorstellungen. 18 „Le corps, avec ses énergies disponible, le corps vivant, crée ou produit son espace: inversement, les lois de l’espace, c’est-à-dire de la discernabilité dans l’espace, sont celles du corps vivant et du déploiement de ses énergies.“ (Lefebvre 1974: 170) Siehe auch Yi-Fu Tuans Body-SpaceSchema (Tuan 1977: 34ff.).

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das Modell eines Kreislaufes. Bei ihm wird nicht das Objet trouvé zum Kunstobjekt, sondern die zufällig vollzogenen Alltagserfahrungen werden in der künstlerischen Produktion neu arrangiert und zum Objekt. In der Tradition der Post-Avantgarden vertritt er dabei die Position, dass die Kunst das Potential besitzt, Räume zu transformieren. Kunst ist demnach Praxis und Poesis der Stadt. Obgleich Lefebvre mit seinem großangelegten Vorhaben begann, eine fordistische Gesellschaftstheorie zu entwickeln, mündet sein Ansatz nicht in einem abstrakten Raumkonzept. Im Gegenteil: Seine Idee von der sozialen Produktion von Raum geht vom Mensch und seinen Lebensvollzügen aus. Gerade deswegen ist sein Konzept für meine empirische Analyse so produktiv. Es umfasst nicht nur das Kunstwerk, sondern den konkreten Produktions- und Lebenszusammenhang meiner Interviewpartner. Der vielschichtige Begriff des sozialen Raumes enthält Erfahrungs-, Alltags- und Imaginationsdimensionen. Einer seiner wichtigsten Gedanken für meine Forschung ist: Künstler reflektieren in ihren Arbeiten nicht nur die gesellschaftliche Wirklichkeit der Städte, sondern sie sind oftmals auch Visionäre des Urbanen.

Die Raumdiskussion mit Bourdieu Bei Pierre Bourdieu ist Raum, trotz Fehlen eines dazugehörigen Hauptwerks, allgegenwärtig. Auch bei ihm war sein Denken durch das Ziel geprägt, Subjektivismus und Objektivismus durch die Theorie des Habitus zu überwinden. Er erarbeitete eine Differenzierung des Marx’schen Kapitalbegriffs in soziales, kulturelles, ökonomisches und symbolisches Kapital und erweiterte das Klassenkampfparadigma um die kulturelle Distinktion. Grundmelodie seiner Raumtheorie ist, dass sich die sozialen Strukturen des von ihm als Abstraktion gedachten sozialen Raumes (aus relational zueinander stehenden Positionen und Kapitalausstattungen der Akteure) auch im materiellen Gefüge manifestieren. Der physische Raum wird bei Bourdieu (wie bei Lefebvre) als sozial konstruiert gefasst. Dabei besteht bei ihm jedoch eine starke Kongruenz von Sozialem und Materiellem, sodass sich die soziale Position auch unmittelbar im Physischen niederschlägt (vgl. Schroer 2006: 87). Soziale Strukturen werden als übergeordnete Kriterien für den materiellen Raum gefasst, umgekehrt fragt er jedoch nicht, inwiefern der Raum sich wiederum auf die soziale Position auswirkt oder

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den Habitus beeinflusst. Die Wirkungsverhältnisse werden von Bourdieu stets umgekehrt definiert: die sozialen Verhältnisse schreiben sich in den physischen Raum ein und sind somit ohne weiteres vom Soziologen „lesbar“. Er führt dies etwa in seinem Konzept räumlicher Lokalisationsprofite aus.19 Darin ist jedoch problematisch, dass Machtverhältnisse scheinbar im gebauten Raum der Stadt offensichtlich sind. Daneben lässt sich eine ökonomisch geprägte Semantik kritisieren, in der „Rendite“, „Profite“ oder „Kapitalien“ zum Tragen kommen. Die Logik des Geldes überdeckt andere Facetten urbanen Lebens, wie etwa Tausch und Interaktion (Goffman 1991). Diese Unterkomplexität und Kausalität zwischen sozialem und physischem Raum sind die Schwachstellen seines Ansatzes.20 Sein Konzept zum sozialen Raum ist hingegen fundierter als seine physische Raumtheorie und findet in Bezug auf die Kapitalformen und die soziale Mobilität Niederschlag in meinem Forschungsvorhaben. Sein physisches Raummodell halte ich hingegen für zu statisch und operiert zu kausal. Lefebvres dreidimensionaler Ansatz ist für meine Forschung passender.

De Certeau: Strategien und Taktiken im Raum Ein weiterer populärer, französischer Theoretiker ist Michel de Certeau. Es mag an seinem Fokus an Alltagspraxen und ihrer unbewusst vollzogenen Widerständigkeit liegen, dass sein Text L’intervention du quotidien. Les Arts de faire (1980) für kunst- und kulturwissenschaftliche Analysen so attraktiv ist. Er unterscheidet zwischen Taktiken und Strategien und somit zwischen alltäglich benutztem und geplantem Raum. Während Eigentümer, Unternehmer oder wissen-

19 In diesem Konzept beschreibt er, wie sich die soziale Stellung der Akteure durch ihre räumliche Positionen manifestieren. So entstehen Situationsrenditen aus der Ferne zu unerwünschten Personen und Dingen. Positionsund Rangprofite aufgrund einer renommierten Adresse, die Distinktionsgewinn mit sich bringt, sowie Okkupations- und Raumbelebungsprofite über den Besitz beziehungsweise Eigentum von Raum. 20 Es können etwa gesellschaftliche Situationen entstehen, in denen sich soziale Strukturen rasanter entwickeln als räumliche. In diesem Falle unterliegt der materielle Raum einem time-lag und kann nicht als Abbild aktueller sozialer Bedingungen gelesen werden (vgl. Schroer 2006).

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schaftliche Institutionen in ihren Strategien Raum kontrollieren, zeichnen sich die Taktiken durch ein spielerisches Eindringen in den Ort des Anderen aus. De Certeaus kurze Passage zur Unterscheidung dieser Modi enthält eine zentrale Metapher: Der Blick vom World Trade Center hinunter auf die Stadt ist Resultat einer Planung oder visuell kontrollierten Raumstrategie. Wenn sich jedoch der Passant „unten“ in den Straßen bewegt, dann vollziehe er eine körperliche Raumtaktik. Laut de Certeau entstehe der Stadtraum dann, „ohne ihn vollständig erfassen zu können und ohne ihn auf Distanz halten zu können“ (de Certeau 1988: 23ff.). Die Taktiker verfügen im Gegensatz zu den Strategen (eine Person kann auch beide Modi ausspielen) nicht über die gleiche Reflexionsmöglichkeit. Sie entwickeln unterschiedliche Formen der Raumnutzung, die sich durch divergierende Zeitrhythmen, Tarnungsformen oder temporäre Aneignung auszeichnen. 21 In Alltagspraktiken wie Sprechen, Lesen, Flanieren, Einkaufen oder Kochen liegt der taktische Charakter oder das gesellschaftliche Subversionspotential begründet. Für meine Analyse von temporären oder performativen Eingriffen ist seine Unterscheidung von Strategien und Taktiken hilfreich. Sie korreliert mit der Differenz zwischen Räumen und Orten. Während der Ort eine momentane Konstellation der Ordnung ist, ist der Raum Resultat von Handlungen. Er ist: „ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, […] eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften […]“ (de Certeau 1988: 217). Raum wird somit in und durch Taktiken ausgehandelt. Sein Ansatz umfasst dabei Alltag und Kunst. In seiner Gegenüberstellung von strategisch geplanter und taktisch (unreflektiert angeeigneter) Stadt wird der Kern seines Denkens deutlich. Er möchte der geplanten und kontrollierten Stadt die Poetik der alltäglichen Bewegungen und Nutzungen entgegensetzen. Beide Modi, so stellt er heraus, kreieren das städtische Gewebe. Gebündelt bilden die List und die Praxis „das Netz einer Anti-Disziplin“, wie er schreibt.

21 Siehe dazu Sue Ruddicks Studie zu subversiven Taktiken von Obdachlosen in der Frankfurter Zeil (1991). Dabei zeigt sie wie sich Taktiken als Bewegungen und getarnte Nutzungen innerhalb eines kontrollierten Raumes manifestieren.

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Obgleich de Certeaus Arbeit stellenweise ein euphorischer Widerstandsbegriff zu Grunde liegt, ist sein metaphorischer Terminus der Raumtaktik hilfreich, um die bewussten wie unbewussten Mikropraxen der Raumproduktion zu fokussieren. Ich verstehe dabei die Konzepte von Lefebvre und de Certeau eher als ergänzend als konträr. Während Lefebvres Projekt einer ganzheitlichen Raumtheorie innerhalb seines Gesellschaftsmodells geschuldet ist, betont de Certeau den alltagspraktischen, unbewussten Aspekt der Raumproduktion. Mit ihren theoretischen Perspektiven wird ‚Stadt‘ zu einem Schnittpunkt höchst unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen, Diskurse und Hervorbringungsformen. Beide lassen sich verbinden, um im Sinne einer stadtanthropologischen Forschung nach den Produktionspraxen spätmoderner Lokalität (Binder 2002) in und durch die Kunst zu fragen.

2.4 K ÜNSTLER ALS E RFINDER VON (S TADT -) R ÄUMEN – K UNSTWISSENSCHAFTLICHE P ERSPEKTIVEN Die Stadt unserer tatsächlichen Erfahrung ist gleichzeitig eine tatsächlich existierende physikalische Umwelt und eine Stadt in einem Roman, einem Film, einer Fotografie, eine Stadt, die wir im Fernsehen sehen, eine Stadt in einem Comicstrip, eine Stadt in einem Diagramm. VICTOR BURGIN

Aktuell sind in den Kunstwissenschaften viele Konzepte zur Ortsbezogenheit vorzufinden. Insbesondere in den Neunzigerjahren entstand eine kritische Auseinandersetzung um verschiedenartige Ortsbezüge in der Kunst (Kwon 2002, Meyer 1996, Möntmann 2002, Rogoff 2000, von Bismarck 2005). Vormals drehte sich die Diskussion noch um Kunst im Öffentlichen Raum. Nun suchte man verstärkt nach neuen Begriffen, die einerseits die Vorstellungen von Öffentlichkeit versus Privatheit, Außen- und Innenräumen hinterfragen, andererseits das Ortsverständnis erweitern sollten (Deutsche 1996, Finkelpearl 2001, Lewitzky 2005, Kwon 2002, von Bismarck 2005). Der Begriff der

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site-specificity oder Ortsbezogenheit wird als ein künstlerischer Ansatz verstanden, der im engeren Sinne Bezug zu seinem Ort herstellt. Dies kann auf formaler, institutioneller oder diskursiver Ebene geschehen. Kunst im öffentlichen Raum wird dabei in der Debatte nicht als notwendigerweise ortsspezifisch begriffen, da die ersten Arbeiten im öffentlichen Raum meist das Aufstellen einer autonomen Skulptur ohne Bezug zu ihrem Umfeld bedeuteten. Diese nach Miwon Kwon bezeichnete plop art wurde meist in einer großen Geste im Sinne einer Sichtbarmachung von Design oder Ästhetik für „die“ Öffentlichkeit installiert. Nach Kwon sei sie paternalistisch, „insofar as it elevates the artist as the sole creative force, driven by an object oriented conception of art work, it constructs the audience as a group of passive, often undereducated, spectators and passers by“ (Kwon 1998: 2). Mit der Einführung von Ortsspezifik wurde eine objektbezogene Kunst im Öffentlichen Raum kritisiert, die sich wenig am lokalen Kontext orientiert, sondern vorrangig design- oder aufwertungsorientierte Eingriffe im Stadtraum vornimmt (Franzen/König/Plath 2007). So hat sich das Konzept der Ortsspezifik aus der Kritik des Minimalismus am kontextfreien Modernismus des White Cubes, der Institutionenkritik über den funktionalen Ort bis hin zur Community Art entwickelt (vgl. Doherty 2004, Kwon 2002, Meyer 1996, Möntmann 2002). Nach Möntmann entstand damit eine Unschärfe um diesen Terminus: „Das in den 90er Jahren virulente Phänomen, die Kunst, die mit einer Überschneidung der Raumbegriffe des Ausstellungsraumes und des Umraumes, des Innen- und Außenraumes arbeitet, wurde […] bislang in der Forschung nicht berücksichtigt.“ (Möntmann 2002: 11) Es koexistieren disparate Vorstellungen von „Ort“ nebeneinander. Während sich der Minimalismus auf die architektonischen Innenräume der Museen und Galerien konzentrierte und damit phänomenologische Qualitäten beleuchtete, bezieht sich die Institutionenkritik auf die Dispositive des Kunstbetriebs. Bei der funktionalen Ortsspezifik stehen diskursive Funktionen im Mittelpunkt. Die begriffliche Unschärfe der oft zitierten site wurde in Praxis und Debatte deutlich. Unklar bleibt, ob mit diesem Terminus die Architektur, die Institution, der urbane Kontext oder ein diskursives Geflecht gemeint ist. Diese Diffusität wird durch den Einfluss unterschiedlicher Disziplinen auf die Kunstwissenschaften verstärkt. Nun diffundieren heterogene Raumparadigmen (von Foucault, Lefebvre, Castells oder Sassen) in die kunstwissenschaftlichen Begrifflichkeiten hinein. Die dadurch entstehenden heterogenen Raumepisteme werden

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von Wissenschaftlern thematisiert, in der Praxis werden diese jedoch weniger stark reflektiert. Anfang der Neunzigerjahre diskutierte bereits die amerikanische Kunsthistorikerin Rosalyn Deutsche anhand soziologischer Konzepte politische Raumpraxen in der zeitgenössischen Kunst (Deutsche 1996). Kunst verstand sich zunehmend als Mit-Produzent des sozialen Raumes. Sie macht dies anhand von Hans Haackes Auseinandersetzung mit verborgenen Spekulationen im New Yorker Immobilienbereich (1983) oder Krzysztof Wodiczkos Erfindung temporärer Behausungen für Obdachlose (Homeless Vehicles 1988-89) deutlich. Auch James Meyer beobachtete eine Ablösung von der phänomenologischen Ortsgebundenheit der Minimal Art, über die frühere an einem Einzelexempel orientierte Institutionenkritik hin zu einer „funktionellen Bezogenheit“ von Ortsrelationen, die sich auf Diskurse und sozioökonomische Bedingungen beziehen. Sein Konzept des funktionalen Ortes betrachtet Site als räumlich, diskursiv und sozial eingebettet. Die temporären Relationen des Ortes bestimmen sich somit über die jeweiligen gesellschaftlichen Funktionen und werden von Künstlern zum Gegenstand ihrer Reflektion gemacht. Dabei wird aus der Perspektive des erweiterten Ortsbegriffs die Kunstwelt „zum Netz aus Orten, zu einer Institution unter Institutionen“ (Meyer 1996: 46). Doch diese Loslösung vom authentischen Ort hin zu einem relationalen Gefüge, dass im Agieren des Künstlers ein ‚Mapping‘ von institutionellen und diskursiven Verwandtschaftsverhältnissen hervorbringt, beginnt die Figur des Produzenten selbst zu berühren: „Alluding to other points of departure and return, they posited a model of place that is, like the subject who passes through it, mobile and contingent“ (Meyer 2000: 2337). Mit der Dekonstruktion des Ortes wurde der Künstler wichtiger und die Arbeiten gerieten in Gefahr, zu einer Servicekunst zu werden, die von den Institutionen in Auftrag gegeben werden. Dazu fragte Miwon Kwon in One Place After Another, ob sich durch die Präsenz des Produzenten vor Ort das Autorenmodell unvermittelt wieder einschleicht und ein nomadischer Ortsbezug um sich greift (Kwon 2002). Das Konzept der „Site“ als einmaliger Ort perzeptueller Erfahrung wird heute stärker diskursiv und in seiner Einbettung gedacht, damit wird er zu einem Geflecht unterschiedlicher Bezüge und Funktionen, um jedoch wiederum das Künstlersubjekt als „Aufführer“ in den Mittelpunkt zu stellen. Meyer öffnet also den Ortsbegriff, um ihn dadurch jedoch auch unspezifischer werden zu lassen. Teilweise wird daran

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kritisiert, dass er ihn teilweise sogar vollständig von Ortsbezügen abkoppelt (vgl. Möntmann 2002: 48). Nina Möntmanns Buch Kunst als sozialer Raum setzt sich interdisziplinär mit Positionen der Neunzigerjahre auseinander, die „Ort“ vorrangig als soziales Gebilde begreifen (Möntmann 2002: 9). In ihrer dichten Analyse zeigt sie anhand zentraler Werke Andrea Frasers, Martha Roslers, Rirkrit Tiravanijas und Renée Greens heterogene künstlerische Konzepte zum sozialen Raum.22 Auch Jane Rendells Art and Architecture. A Place Between (2006) stellte eine inspirierende Lektüre für mein Vorhaben dar. Sie beschäftigt sich mit Ansätzen der critical spatial practice in Kunst und Architektur (2006). In ihrer interdisziplinären Studie zeigt sie neben Arbeiten, die räumliche Repräsentationen thematisieren, Ansätze zu Kollaboration, sozialer Skulptur oder Walking. Die neueren kunstgeschichtlichen Ansätze zeigen sich offen gegenüber anderer disziplinärer Modelle (allerdings bilden sie in der deutschen Kunstgeschichte noch immer eher die Ausnahme). 23 Gemein ist ihnen, dass sie sich oftmals mit der gesamten medialen Bandbreite zeitgenössischer Kunst beschäftigen und Theorien aus anderen Disziplinen aufgreifen. Die Debatte um das Verhältnis von Kunst und Raum vollzog sich nach Rosalyn Deutsche in den ehemals separaten Feldern der Ästhetik und des Urbanismus gleichzeitig. Kritische ästhetische Praxen verlagerten ihr Interesse auf den Kontext. Zugleich griff der urbanistische Diskurs marxistische Theorien auf, um Stadt unter ihren aktuellen Vorzeichen zu lesen: „Both attempt to reveal the depolicing effects of the hegemonic perspectives they criticize and, conversely, share an imperative to politicize the production of space and art. […] they con-

22 Während sich Fraser vorrangig an den institutionellen Rahmungen abarbeite, kritisiert Roslers If you Lived Here (1989) die Exklusion der Obdachlosen aus SoHo, stellt Tiravanija hingegen durch seine Kochaktionen soziale Situationen der Kunstproduktion und -rezeption im Ausstellungsraum her oder Green testet ethnografische Methoden aus, so Möntmanns Resumée in aller Kürze. 23 Die deutsche Kunstgeschichte präsentiert sich im Vergleich zu angloamerikanischen sowohl was Lehrstuhl- als auch Themenbesetzungen angeht noch immer als sehr abgeschlossen. Dies gilt beispielsweise für die Aufnahme von gender- und postkolonialen Ansätzen (vgl. Below/von Bismarck 2005).

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verge in the production of a new object – public art as a spatial activity.“ (Deutsche 1996) Dieser Paradigmenwechsel auf Raumaktivitäten führte Kunst und Urbanistik zusammen. Die Künstler begannen in ihrer Praxis die urbane Umgebung zu reflektieren und zunehmend stadtbezogene Ansätze zu entwickeln, die Stadtforschung öffnete sich ihrerseits der Kunst. Meist bleibt dabei leider in der Stadtgeografie und -planung der Fokus auf Kunst als Instrument für die Gentrifizierung, Verschönerung oder Revitalisierung von so genannten ‚problematischen Stadträumen‘ dominant (Bianchini 1993, Caves 2000, Florida 2002, Friedman 2001, Liep 2001, Scott 2000, von Bon 1999). In der Kunstpraxis schlugen veränderte Modelle von Öffentlichkeit neue Wege ein. Site wurde von einem real-existierenden physischen Ort zu einem diskursiven Vektor unterschiedlicher Funktionen. Ausgehend von früheren Versuchen, die Kunst aus dem Galerie- und Museumssystem herauszuholen, besetzten ortsorientierte Praktiken nun Wohnprojekte, Gefängnisse, Universitäten oder eroberten den medialen Raum (wie Radio, Zeitungen, Fernsehen und das Internet). Nach Kwon wird Ort heute „als Wissensfeld, intellektueller Austausch oder kulturpolitische Debatte entworfen“ (Kwon 1997: 24). Gleichzeitig müssen sich Künstler zunehmend kritische Fragen gefallen lassen, ob sie mit ihren Ansätzen den eigenen Eingriff reflektieren. Dies wurde beispielsweise unter dem Begriff des Ethnographic Turn von Hal Foster oder der Debatte um Kunst als Second Getrifier diskutiert.24 Viele Künstler verwenden dabei parallel institutionskritische, Communityoriented oder ethnografische Strategien und eignen sich Methoden und Verfahren aus anderen Disziplinen an.

24 Foster weist auf die institutionelle Vereinnahmung ethnografischer Kunst unter den prekären Rahmenbedingungen im Biennale-Betrieb hin. Eine Interaktion mit Gruppen vor Ort erfolge aufgrund knapper Finanzen meist unter Zeitdruck. Es entstehe ein soziales Readymade für den Kunstbetrieb (Foster 1996: 17). Andrej Holm bezeichnet Kunst als Second Gentrifier und macht auf negative unintendierte Aufwertungsdynamiken durch Kunst im Öffentlichen Raum aufmerksam.

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Künstlerische Vorgänger – Von der Flânerie urbaine zur Netzkunst In der historischen Rückschau haben stadtbezogene Kunstwerke eine große Bandbreite entwickelt. Neben der Dominanz von Walking, Flanieren und Dérive bilden die raumkritischen Ansätze zu Architektur, Stadtplanung und sozialer Exklusion wichtige zeitgenössische Praxen. In den Neunzigerjahren folgen interaktive Ansätze der Communitybased Art oder der Netzkunst. Mittlerweile haben sich auch neue Technologien wie Ubiquitous Computing und GPS einen Platz im raumbezogenen Feld erstritten. Die amerikanische Kunsthistorikerin Amelia Jones zeigt mit dem Fokus auf Walking historische Vorläufer stadtbezogener Kunst. Sie macht die konzeptionellen Verschiebungen vom Flanieren über die Performance zur automobilen Fortbewegung in den Kontexten Paris, New York und Los Angeles deutlich. Ausgehend von der flânerie urbaine Baudelaires entwickelten sich bereits in Dada und Surrealismus ein männliches Umherstreifen, welches den Begierden folgend durch den urbanen Raum wanderte und die dadurch gewonnenen Erfahrungen in Objet trouvés oder in der Beschreibung der begehrten Frau (André Bretons Nadja) einfließen ließen. Mit dem politisierten Impuls der Situationistischen Internationale änderte sich das Raumparadigma in den Sechzigern. Die Situationisten, die mit ihren Taktiken des Dérive und der Psychogéographie einen Zwischenraum der Stadt freilegen wollten, wurden etwa von Performance-Künstlern wie Yayoi Kusama mit ihrer Aktion Naked Event at the New York Stock Exchange (1968), Yoko Onos Arbeit Rape (1969) oder Vito Acconcis Following Piece (1969) aufgegriffen. Diese drei Arbeiten dekonstruierten den vormals männlichen Blick auf den urbanen Raum und sowohl Ono als auch Acconci verbildlichten durch ihre Aktionen das Scheitern.25 Künstler spitzten diesen Ansatz zu und zeigten sich in der Öffentlichkeit absichtlich abstoßend, um eine Situation der „desublimatorischen Selbstzurschaustellung“ herzustellen (Jones 2006: 95). Mit diesem Verfahren machten sie sich selbst zum Objekt. Dazu gehört Adrian Pipers Performance Catalysis. In einem New Yorker Bus

25 Acconci verfolgte in seinem Following Piece über einen Monat hinweg fremde Personen im Stadtraum von New York und versagte dabei an dem Versuch, mit ihnen Kontakt aufzunehmen.

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zeigte sie sich mit einem Handtuch aus dem Mund hängend oder wanderte mit einem Sweatshirt mit der Aufschrift „Wet paint“ durch die Straßen. Die schwarze Künstlerin machte mit dieser Aktion Kodierungen von Hautfarbe und Geschlecht im öffentlichen Raum deutlich.

Aufbrechen von Architektur und Stadtplanungsverfahren: Gordon Matta-Clark, Hans Haacke, Martha Rosler Ende der Sechzigerjahre sorgte Gordon Matta-Clark für Aufsehen. Er ließ ganze Hauswände einreißen, Ziegeldächer in kunstvolle Muster sägen oder Brachflächen zum Sammelobjekt werden. Aus der Architektur kommend kritisierte er die scheinbare Autonomie von Kunst und Architektur (Ursprung 2007: 264). In Zeiten der New Yorker Rezession machte er mit seinen Reality Positions: Property Fake Estates (1978) auf die Handlungsunfähigkeit der Architekten angesichts von Finanzruin, Wohnungsproblemen, sanitärer und ökologischer Missstände aufmerksam. Bei öffentlichen Versteigerungen hatte MattaClark für geringe Summen Reststücke von Land erworben, welche die Stadt von säumigen Steuerzahlern übernommen hatte. Diese waren jedoch aufgrund ihrer isolierten Lage und geringfügigen Größe beinah wertlos. Käufer seiner Arbeiten erhielten von ihm das jeweilige Grundstück, den Plan sowie eine Fotografie. Daneben handelten sich die Neubesitzer die alte Hypothek – folglich die Misslage der Stadt – ein. Mit solchen Aktionen gilt Matta-Clark noch heute als Wegbereiter einer kritischen Auseinandersetzung mit Architektur und Städtebau oder wie Philip Ursprung es treffend formuliert: als „Phantomschmerz im kollektiven Gedächtnis der Architekten“ (Ursprung 2007: 266). Auch Hans Haacke entwickelte eine politische Raumkritik, indem er die Immobiliennetzwerke des Board of Trustees vom Guggenheim Museum in New York aufdeckte (1974). Jenny Holzer installierte ihre konsumkritischen Leuchtbanner im Zentrum des Time Squares (1982) oder Mierle Laderman Ukeles ließ in Social Mirror (1983) ein verspiegeltes Müllauto durch die Metropole fahren, sodass sich die Bewohner gleichsam als Verursacher und Betrachter städtischer Abfallberge ‚spiegelten‘. Und schließlich beschäftigte sich auch Martha Rosler mit ihrer Ausstellung If You Lived Here… (1989) mit den prekären Wohnbedingungen in SoHo. Sie zeigte wie die grassierende

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Gentrifizierung immer mehr Menschen in die Obdachlosigkeit verbannte.

Performativität und Partizipation in räumlichen Eingriffen Die britische Kunsthistorikerin Claire Doherty (2004) diskutiert das Raumparadigma von in-situ-, also vor Ort entstandener Arbeiten, anhand der Aktion von Francis Alÿs und Rafael Ortega. In ihrer Intervention When Faith Moves Mountains (2002) gewannen die beiden Künstler 500 Freiwillige dafür, eine majestätische Sanddüne in Ventanilla schaufelnd zu verrücken. Dieses Projekt arbeitet mit Partizipation und zeigt im wahrsten Sinne des Wortes wie Handlungen ‚Berge versetzen‘ können. Ferner testen heute Künstler wie Cezary Bodzianowski, Francis Alÿs oder Roman Ondák mithilfe von absurden Situationen im urbanen Raum die Regeln des Öffentlichen aus. So positionierte sich Bodzianowski für seine berlin biennale Arbeit Magneto (2008) mit an einen Hufeisenmagneten erinnernde Styropor-Nachbildung vor den U-Bahn-Ausgängen am Alexanderplatz, um die aus den Schächten strömenden Passanten ‚anzuziehen‘. Seine Aktionen dehnen die Realität und verweisen auf die variable Lesbarkeit der Welt. Francis Alÿs vollzieht häufig redundante oder provozierende Handlungen in Mexiko City, wenn er in Paradox of Praxis (1997) so lange einen Eisblock durch die Stadt schob bis er sich vollends aufgelöst hatte. In Reenactments (2000) schlenderte er mit einer geladenen Beretta durch die Straßen bis ihn die Polizei überwältigte, um am nächsten Tag genau diese Handlung nochmals zu wiederholen. Ondák ließ eine Schlange von Statisten vor dem Kölnischen Kunstverein anstehen, um die Reaktionen der Passanten und Sicherheitskräfte zu testen. Netzkünstler entwickeln ebenfalls interaktive Projekte im Stadtraum. Zu nennen sind hier etwa Heath Buntings Kings Cross Phone (1994) oder Yellow Arrow (seit 2001). Indem Bunting anonyme Personen über das Web animierte, rhythmisch die Telefonzellen um den Londoner Hauptknotenpunkt Kings Cross anzurufen, testete er die Reaktionen der Passanten und orchestrierte ein „telefonisches Musical“. Yellow Arrow macht auf der Basis von Internet- und Mobiltelefontechnologien verborgene Geschichten des Urbanen erlebbar. Mithilfe

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nummerierter, selbstklebender Pfeile können sich die Stadtbewohner am Projekt beteiligen und ihre Lieblingsorte markieren. Ihre geheimen Informationen werden unter der Nummer des Pfeils im Internet abgelegt. Gibt ein Passant schließlich diese in sein Mobiltelefon ein, so erhält er die abgespeicherten Stadtnarrationen. Das Projekt verbindet ein situationistisches Umherwandern mit einem virtuellen Mapping und Partizipation.

Fazit: Orts- und Stadtspezifik in den Kunstwissenschaften und der Praxis Es kann beobachtet werden, dass die klassische kunstgeschichtliche Narration einer linearen Entwicklungsgeschichte zugunsten eines heterogenen Stil- und Raumansatzes aufgegeben wird. Die Künstlerinnen und Künstler kombinieren dabei unterschiedliche Ansätze und Methoden oder zitieren Vorgänger wie die Situationistische Internationale. Andere testen neuere Technologien wie das Internet, Mobiltelefontechnologien oder Ubiquious Computing, um damit in städtischen Räumen zu intervenieren. Diese unterschiedlichen Erklärungs- und Praxiskonzepte haben gemein, dass sie sich über den spezifischen Ort hinaus mit seinen sozialen und diskursiven Bezügen beschäftigen. Seine Verfasstheit und Kontextualität rücken somit in die Praxis und Reflexion ortsspezifischer Theorie- und Praxismodelle. Bei meiner Forschung erweitere ich den Begriff der Ortsspezifik um denjenigen der Stadtbezogenheit. Ich gehe dabei nicht nur von Kunstwerken aus, die sich nach einer klassischen Definition im Außenraum manifestieren, sondern auch die Stadt und ihre funktionalen Bezüge vom Ausstellungsraum heraus beleuchten. Mich interessiert, welche Ortstypen die Künstler verhandeln. Ich erweitere somit den Begriff der Ortsspezifik in Richtung übergreifender städtischer Topoi, Diskurse und Materialitäten.

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2.5 M EDIALITÄTEN – K O -P RODUKTIONSPROZESSE MEDIALER S TADTBILDER Bilder [sind] stets ein zentrales kulturelles Navigationssystem all unserer bislang denkbaren Welten. WO LFGANG KASCHUBA

Wichtig ist neben Raumproduktion und Ortsbezug die Medialität der künstlerischen Praxis: Ein Holzschnitt thematisiert und repräsentiert die Stadt anders, als es ein Video, ein Pavillon im Außenraum oder eine Intervention vermag. Überlegungen aus der Ethnologie wie aus der Kunstwissenschaft kommen hier zum Tragen, wenn es etwa um die Praxeologie der Bilder (Kaschuba 2006), dem Menschen als komplexen Ort der Bilder (Belting 2001: 11ff.) oder der Ko-Produktion von Technik und Gesellschaft (Jasanoff 2001) geht. Die Kunstgeschichte hat ein fundiertes Wissen über die technischen und medialen Bedingungen der Künste entwickelt, während sich die Ethnologie eher den anthropologischen Vorstellungsbildern in Form von kulturellen Symbolisierungspraxen widmet (Kaschuba 2006). Hinzu kommt, dass in der Ethnologie sowohl die Anthropology of Art als auch die Visual Anthropology bislang noch ein Nischendasein fristen. Besser steht es hier um die Material Culture (Buchli 2002, Daston 2004), die die Nutzungs- und Aneignungsweisen von Gegenständen im Alltag erforscht und insbesondere in der Volkskunde zum Repertoire gehört (Bausinger 1961, Beck 2000, Korff 1983, 1992).26

26 Dabei liegt hierbei jedoch meist der Fokus auf materielle Konsum- und Nutzungspraxen und weniger auf der Produktion von Artefakten. In den letzten zehn Jahren hat das Theorem der Actor-Network-Theory des französisch-amerikanischen Soziologen Bruno Latour die Debatte um das aktive „Eingreifen“ von Dingen in die menschlichen Bewegungs- und Geistesabläufe befördert. Er denkt Gegenstände als Aktanten, die sich in unsere Körper- und Wahrnehmungspraxen einprägen (Latour 1992). Diese Hinwendung zur Dingkultur in Anthropologie und Kunstwissenschaften (Browns 2004, Daston 2004, Glenn/Hayes 2007, Roelstraete 2008, Turkle 2007) sehe ich als Gegenbewegung zum Virtualisierungsdiskurs der Neunzigerjahre.

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Sheila Jasanoffs Co-Production Idiom lässt sich in der Forschung um Technikkulturen verorten. Sie verwehrt sich einem dualistischen Modell und widmet sich der gegenseitigen Beeinflussung von Technik, Medialität sowie gesellschaftlichem Wissen: „Briefly stated, co-production is shorthand for the proposition that the ways in which we know and represent the world, both nature and society, are inseparable from the ways in which we choose to live in it. Knowledge and its material embodiments are at once products of social work and constitutive of forms of social live. Scientific knowledge, in particular, is not a transcendent mirror of reality. It both embeds and is embedded in social practices, identities, norms, conventions, discourses, and institutions – in short, all the building blocks of what we term the social.“ (Jasanoff 2001: 5)

Wie wir uns die Welt erklären, ist durch Technologien geprägt. Die technogenen Materialitäten werden Teil unserer Wissensproduktion. Objekte, die aus solch einem Prozess hervorgehen, werden durch die medialen, technologischen und sozialen Verfahren zu Trägern von sozialen Werten und Normen. Das bedeutet, dass sie Macht ausüben können und politisch sind. Jasanoffs Hauptthese ist dabei, dass die soziale und die natürliche Ordnung gemeinsam in Ko-Produktionsprozessen hervorgebracht werden. Kurz: Technologie wird nicht nur gemacht, sondern sie formt auch unsere Denkweisen. Vor diesem Hintergrund frage ich danach, inwieweit das stadtbezogene Kunstwerk ein aktives Produkt von Subjekt(en) und Objekt(en) ist: also vom Künstler, dem Medium, Diskursen und dem städtischem Kontext. Die Frage, die sich hierbei stellt ist, wie diese Ko-Produktionen miteinander Repräsentationen des Städtischen hervorbringen. Ein weiterer wichtiger Ansatz zur Medialität des Kunstwerks stammt vom Kunsthistoriker Hans Belting. Er entwickelt eine bildwissenschaftliche Perspektive, die die Kulturgeschichte des Körpers mit dem des Bildes zusammenbringt. Mit seinem anthropologischen Bildbegriff plädiert er für den Fokus an Herstellungs- und Wahrnehmungspraxen.27 Sein Konzept unterscheidet zwischen Bild und Medium, denn die bildliche Wahrnehmung sollte als Praxis begriffen wer-

27 „Die anthropologische Sicht richtet sich dabei auf die Bildpraxis, die gegenüber den Bildtechniken und ihrer Geschichte eine andere Diskussion verlangt.“ (Belting 2001: 9).

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den, die in unterschiedlichen Kulturen auf verschiedene Weise eingeübt wird. Er referiert dabei auf W.J.T. Mitchells Begriff der Ikonologie bei seiner Unterscheidung von pictures und images (also Bilder als Trägermedium versus innerer Bilder). Dabei betont er ähnlich wie Jasanoff, dass unsere Bilderfahrung auf einer Konstruktion gründet, die wir selbst „veranstalteten“ und von medialen Bildern fortwährend modelliert wird. Interessant an Beltings Ansatz ist, dass er die Kulturgeschichte der Medien immer in Beziehung zur Kulturgeschichte des Körpers berücksichtigt. Das heißt konkret auf meine Forschung bezogen: Inwieweit formt das jeweilige Medium den Körper des Künstlers beziehungsweise seine Wahrnehmung der Stadt? Das Medium bestimmt, wie das Umfeld gefiltert und dargestellt wird. Es erweitert nicht nur die Körperorgane, sondern ebenfalls die Ausdehnung städtischer Vorstellungsbilder.

3. Zugänge II: Methoden aus Kunstwissenschaften und Stadtanthropologie

Eine interdisziplinäre Forschung stellt in Theorie- und Methodenreflektion eine besondere Herausforderung dar. In die Konzeption meiner Studie flossen Methodologien der Ethnologie und Kunstwissenschaften ein. Inspiriert durch das Konzept des chinesisch-amerikanischen Kunsthistorikers Wu Hung geht es mir darum, das eingeforderte Deflattening of Contemporary Art (2004) empirisch zu füllen. Hung macht die Relevanz einer Kontextualisierung von lokalen und globalen Einflüssen im Kunstwerk deutlich. Dies ist wichtig, um die Objekte, die Diskurszusammenhänge und ihre Produktion nicht zu verflachen. Schließlich bewegen sich Künstler nicht nur in ‚ihrem‘ lokalen Kontext und werden dort rezipiert. Die Akteure und ihre Arbeiten sind vielmehr vom internationalen Diskurs, durch Arbeitsaufenthalte im Ausland und den Beziehungen zu internationalen Kollegen, Theoretikern, Kuratoren, oder Sammlern beeinflusst. Das Kunstwerk soll als Produkt dieser global-lokalen Aushandlungen begriffen werden. Meine empirische Arbeit fußt auf diesen Überlegungen und arbeitet mit einem darauf abgestimmten methodischen Instrumentarium aus der Ethnologie und Kunstgeschichte.

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3.1 T ROPEN

UND

P ARADIGMEN

Die ethnologische Forschung musste sich Anfang der Neunzigerjahre theoretisch und methodisch auf globale Phänomene einstellen. Kulturelle Formationen schienen zunehmend komplexer. Es galt, die Diversifizierung von Lebenswelten, Mobilitäten und transnationalen Alltagspraxen zu beachten. Die Frankfurter Kulturanthropologin Gisela Welz sprach von Menschen und ihren kulturellen Praxen als moving targets, auf die die Ethnografie ihre Perspektive immer wieder neu einstellen müsse (Welz 1998). Forschungsstrategien und Begriffe sollten erneut geschärft werden (vgl. Clifford 1997, Gupta/Ferguson 1997a, Hastrup/Olwig 1997, Marcus 1998). Dazu gehörten das von Malinowski etablierte Ideal der Feldforschung und die damit impliziten Vorstellungen vom Eintauchen oder Ankommen „im Feld“. In seinem Artikel Travelling Cultures beschreibt James Clifford (1997), wie im Laufe der Fachgeschichte diese Methode zu einer Verortung und Verräumlichung von Kultur beitrug. Das Zelt des Forschers, mitten „im Feld“ platziert, wurde zum Symbol des eurozentrischen Mittelpunkts und des anthropologischen Festschreibens kultureller Praxen an ein Territorium. Noch immer beginnen viele Ethnografien mit der Erzählung des Ankommens. Es handelt sich dabei nicht nur um eine literarische Figur, sondern auch um eine theoretische. Nach Clifford besitzt das Feldforschungsparadigma darüber hinaus eine wichtige Funktion für das Selbstverständnis der Disziplin: „Fieldwork in anthropology is sedimented with a disciplinary history, and it continues to function as a rite of passage and marker of professionalism“ (Clifford 1997: 61). Obgleich dieser Ansatz während der Kolonialisierung entwickelt wurde, dient er weiterhin als eine Abgrenzungsstrategie gegenüber anderen Disziplinen. 28 Gleichzeitig plädieren viele Ethnologen dafür, neue Modi herauszubilden (Clifford 1997, Fog Olwig/ Hastrup 1997, Hannerz 2003, Welz 1998). Während in der klassischen Ethnologie meist über einen Zeitraum von vier bis sechs Jahren in der Fremde geforscht wurde, wobei Studie und Verschriftlichung, Nähe-

28 Diese Distinktion etwa gegenüber den Cultural Studies aufrechtzuerhalten, wird zunehmend schwierig, da mittlerweile auch dort dichte Feldforschungspraxen in Kombination mit Visual und Media Studies zur Forschungspraxis gehören (siehe etwa Susan Hardings Ethnografie zu christlichen Fundamentalisten in den USA).

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und Distanzierungsprozess in einem räumlichen und zeitlichen Innen vs. Außen gedacht wurden, sollen heutige Strategien stärker in Tiefe, Weite, Durchlässigkeit und Dauer differieren. Hinzu kommt, dass es einer Reflektion von Feldforschung als „embodied spatial practice“ (Clifford 1997: 53) bedarf. Die unterschiedlichen Felder und ihre Logiken schreiben sich förmlich in den Körper, die Kleidung und die Wissensbestände des Forschers ein.29 Der Versuch, das Feld nicht länger territorial zu fassen, ist auch für diese vergleichende stadtanthropologische Studie von Bedeutung. Die Konzeption meines Vorhabens orientiert sich deswegen nicht an klassischen Community- oder Neighborhood Studies, die sich auf kleinräumige Areale in der Stadt fokussieren, sondern begreift die Akteure als durch ihre Ausbildung, ihre Praxis und das medial vermittelte Wissen im Kunstfeld (inter-)agierend. Ihr Handeln findet innerhalb der Logiken des Kunstbetriebs statt. Die Wissensbestände und Regeln sind in den unterschiedlichen lokalen Kontexten jedoch nicht identisch, sondern differieren je nach Ort, Ressourcenausstattung und Netzwerken. Das ethnografische Wissen über das Feld oder über die Sites im Sinne Marcus wird durch eine Verknüpfungsleistung hergestellt. Verschiedene Quellen, bestehend aus Interviews, teilnehmender Beobachtung, Archivmaterialien sowie Medien- und Bildanalysen, werden ethnografisch verwoben (vgl. Marcus 1998). Dieser Prozess des Ordnens, Verbindens und Abstrahierens entspricht der Konstruktion des Feldes. Die Forschung ist somit nicht örtlich definiert, sondern entsteht durch Selektieren und Nachzeichnen der Verbindungen. Und schließlich bilden die ethnologischen Termini, wie es Renato Rosaldo (1980) beschreibt, das Abstraktionsinstrumentarium für die Analyse. Das Ver-

29 Wie offen über diese Initiierungspraxen berichtet wird, ist meines Erachtens noch sehr stark von Geschlecht, Klasse, akademischer Herkunft und Ethnizität der Forscherinnen und Forscher abhängig. Interessanterweise gibt es insbesondere Ende der Neunzigerjahre eine Flut von Methodenliteratur, die jedoch – insbesondere, was die Offenheit über Emotionen in der Feldforschung angeht – eher von männlichen Ethnologen produziert wurde (Bourdieu 1999, Clifford 1997, Hannerz 2003, Lindner 1981). Außerdem wird deutlich, dass auch in der Wissenschaft finanzielle, verlegerische und zeitliche Mittel bedeutsam sind, um sich im disparaten Fach Gehör zu verschaffen.

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fassen einer Ethnografie kommt einem Pendeln zwischen Nähe und Distanz gleich, das Beobachtung und Interview, dichte Beschreibung, Interpretation und Theoriebildung umfasst. Dabei berücksichtigt die ethnologische Methodendiskussion seit Geertz’ Dichter Beschreibung und der späteren Writing Culture Debatte die Subjektposition des Forschers, da jegliche Daten förmlich durch die jeweilige soziale Perspektive gefiltert werden.

3.2 B ILDANALYSE , M ENTAL M APS M ULTISITED E THNOGRAPHY

UND

In meiner Methodenwahl arbeite ich interdisziplinär: Aus der Kunstgeschichte verwende ich (1.) die Bildanalyse, beeinflusst durch die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Von der Ethnologie nutze ich (2.) die Methode der Multisited Ethnography, ethnografische Interviews und Mental Maps. Obgleich die Bildanalyse im Laufe ihrer Disziplingeschichte ebenfalls eine fortwährende Transformation und Neuausrichtung erfuhr,30 ist bislang eine umfassende kritische Methoden- und Textreflexion in der deutschen Kunstgeschichte weniger präsent als in der Ethnologie. So gehören die Reflexion der sozialen Forscherperspektive sowie ungleiche Machtverhältnisse nicht im gleichen Umfang zum disziplinären Konsens wie in der Anthropologie. Doch spätestens mit HansGeorg Gadamers Überlegungen zur Geschichtlichkeit der eigenen 30 Die Bildanalyse basiert historisch auf Annahmen der Hermeneutik. Dabei zielt das Verstehen des Bildes je nach Konzept auf unterschiedliche Inhalte ab. Im Sinne des Hermeneutikers Wilhelm Dilthey gilt es nicht auf das Gezeigte im Gemälde zu achten, sondern darauf, was derjenige damit ausdrücken wollte (Dilthey 1900: 319). Durch das Wirken des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg entfaltete sich daneben der Ansatz einer universellen bildgeschichtlichen Ikonografie, die aus der ehemaligen Hilfswissenschaft der Stilanalyse ein Hauptgebiet der Kunstgeschichte machte (Bätschmann 1984: 10). 1932 legitimierte Erwin Panofsky die Inhaltsdeutung, indem er drei Stufen der Analyse unterschied und für jede die notwendige Ausrüstung des Subjekts, den Gegenstand und die Korrektivprinzipien beschrieb. In der Nachfolge von Ernst Gombrichs Ansatz galt die Intention des Künstlers als Fokus kunstgeschichtlicher Interpretation.

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Interpretenperspektive (1960) sowie durch den Einfluss der Genderund Postkolonialismusdebatte, begann zumindest die amerikanische Kunstgeschichte ihren Methodenkanon zu revidieren (vgl. Below/von Bismarck 2005). Unter dem Druck von Feminismus und Black Artist Movement setzte eine Reflexion zur historisch eingeschliffenen eurozentrischen, weißen, männlichen Perspektive in den interpretativen Bildverfahren ein (Araeen 1991, Dyer 1988, Lewis 1998, Mercer 1990). Mit dem poststrukturalistischen Diktum vom Tod des Autors (Barthes; Foucault) sollte nicht nur das Modell des geniehaften Künstlers in Frage gestellt, sondern auch die eigene kunstgeschichtliche Interpretenperspektive diskutiert werden. Der Einfluss der Cultural Studies auf die zeitgenössische Kunstwissenschaft rückte (jenseits des Abwehrreflexes aus dem konservativen Lager) heterogene Rezipientenperspektiven sowie Sub- und Popkulturen in den Fokus. Das Kunstwerk wurde nun stärker als Aushandlungsobjekt unterschiedlicher kultureller Wissens- und Bedeutungsansätze begriffen.

Lokale Spezifika in der kunstwissenschaftlichen Methodik Anhand von Caroline A. Jones Vergleich Übersetzungsmodelle. Über die Zustände der Kunstgeschichte (2006) wird deutlich, dass sich disparate Methodik- und Theorielandschaften in der Kunstgeschichte Frankreichs, Deutschlands und der USA entwickelten. Jones beginnt ihren Essay mit der französischen Kunstgeschichte, die zunächst stark durch den Gedanken der Philatelie, des Akademiesystems und der Patrimoine das französische Erbe bewahren sollte. Heute sind es eher Theoretiker, die außerhalb der französischen Kunstgeschichte positioniert sind, die einen internationalen Ruf genießen. Zu ihnen gehört Nicolas Bourriaud mit seinem Ansatz der relationalen Ästhetik, Georges Didi-Hubermans Bildwissenschaften, Bruno Latours ActorNetwork-Theory oder Raymonde Moulins Kunstsoziologie. Einflussreich ist nach wie vor auch das Konzept der Sichtbarkeit von Foucault und Deleuze. Sie alle entstammen den mächtigen Strömungen des französischen Denkens: der Philosophie und der Soziologie. In den USA wurden Methodiken aus den Literaturwissenschaften, den Cultural Studies und der Anthropologie früher aufgenommen als in Deutschland oder Frankreich. Laut Jones sind die gewaltigen Kul-

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turkriege der 1990er Jahre abgeklungen und zwischen den beiden breiten nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Tendenzen (Greenbergs marxistisch orientierter Materialismus und der Formalismus) gelang eine Verbindung in einer funktionalen Dialektik. Besonders Linda Nochlins feministische Dekodierung von Kunst und Macht leitet seit Ende der Siebzigerjahre die Öffnung hin zur psychoanalytisch-feministischen Filmtheorie, der aufkommenden postkolonialen Kritik sowie der Identitätspolitik ein. So entwickelte sich in der neuen USamerikanischen Generation kunsthistorischer Forschung ein Interesse für methodische und theoretische Ansätze aus anderen Disziplinen. Im Vergleich zu ihren amerikanischen Kollegen schotten sich hingegen die deutschen Vertreter meist noch immer gegenüber Ansätzen aus den Bildwissenschaften, Media Studies oder der Visual Anthropology ab (Below/von Bismarck 2005), obgleich die Globalisierung einen erheblichen Druck auf die methodische Überarbeitung der Kunstgeschichte ausübt. Angesichts transnationaler Einflüsse müssen nun Übersetzungsmodelle formuliert werden, die Jones vorrangig in der Ethnologie sieht: „Unterstützung können wir indes von der Anthropologie erwarten, deren klügste Protagonisten (Franz Boas, Claude Lévi-Strauss) sich von ihren Anfängen an mit dem zerstörerischen Einfluss ihrer eigenen Interventionen sowie mit den deprimierenden Ergebnissen beschäftigen, die die Aufzeichnungen ihrer ‚leidenschaftslosen‘ Wissenschaft zeitigten. Ihre Erben (Clifford Geertz, James Clifford) erkannten, dass die Widerständigkeit der von ihnen studierten Völker, deren Fähigkeit, innerhalb und gerade durch das Trauma der Kolonialisierung einer Kultur zu schaffen, vielleicht das beste Beispiel für kreative Produktion sei, das die Welt je gekannt hat. […] Es zeigt uns, was wir heute wollen: eine klare Positionierung des Autors oder der Autorin, eine leidenschaftliche Beschäftigung mit dem Untersuchungsgegenstand, ein Verständnis unseres eigenen Interesses an diesem Gegenstand und nichtsdestotrotz die Bemühung, die historischen und performativen Komplexitäten des Gegenstands selbst zu spezifizieren.“ (Jones 2006:53)

Umgekehrt gewinnt auch die Ethnologie durch den Dialog mit der Kunstgeschichte. Von ihr inspiriert könnten bildanalytische Verfahren und Wirkungsmechanismen ausgebaut werden, um neben den kulturellen Imaginationen auch aktuelle Bildpolitiken und -produktionen zu erörtern. Vor dem Hintergrund des von W.J.T. Mitchell konstatierten

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Zeitalter des Spektakels einer alles durchdringenden Bildproduktion (2008), sollte der Fokus auf die Produzenten und ihre Herstellungsverfahren in der Ethnologie gestärkt werden. Für meine Forschung besteht die Herausforderung darin, nicht nur die Visualität des jeweiligen Kunstwerks textlich an den Leser zu vermitteln, sondern gleichzeitig einen distanzierenden Blick auf die Narrationen und die hohe Medienkompetenz der Künstler beizubehalten. Denn im Sinne eines ethnografischen Vorgehens sollten auch die Rollenspiele, Interaktionen und Performanzen in den Interviewsituationen beachtet werden.

Ethnografische Zugänge Wie bereits skizziert, gehören Debatten um adäquate Methoden seit Bronislaw Malinowski zur Tradition der Ethnologie. Die Multisited Ethnography entstand Mitte der Neunzigerjahre als Ansatz, um mobile Akteure, ihre kulturelle Sinnproduktion sowie wandernde Objekte relational zu begreifen. Marcus’ Ansatz kritisierte klassische Forschungsstrategien in abgegrenzten Räumen und richtete die Aufmerksamkeit auf kulturelle Verbindungen im Raum (Marcus 1998: 117ff). Die Methodik basiert auf dem Verständnis, Kultur sei ein Resultat von akkumulierten Interaktionsbeziehungen, das nicht an Stadt- oder Landesgrenzen Halt macht. Der Ethnologe sucht dabei nicht mehr nur einen Ort auf, um in seiner dichten Beschreibung die Kultur zu erforschen, sondern bewegt sich nun zwischen mehreren Kontexten, um übergreifende kulturelle Strukturierungen aus vielfältigen Perspektiven heraus analysieren zu können. Zusätzlich dazu verwende ich die Methode des ethnografischen Interviews. Es ist eine offene leitfadengestützte Form, die sich vorrangig am Gesprächsverlauf orientiert und keinem festgesetzten Ablauf folgt. Die Interviewten werden durch Erzählaufforderungen dazu angeregt, detailliert über ihre Praxis zu berichten. Bei meiner weiteren Methode der Mental Maps können unterschiedliche Herangehensweisen unterschieden werden (vgl. Wildner 1995): In Systematischen Kartierungen notierte Kevin Lynch Verhaltensspuren und Symbole, um die kreative Aneignung von Raum durch die Bewohner zu zeigen. Anhand von Interviews und Beobachtungen analysierte er die physischen Elemente (Wege, Grenzlinien, Knotenpunkte), die für die Orientierung in der Stadt notwendig sind. Diese

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Form der Mental Maps zeigen wie Menschen sich Raum aneignen, ihn konzeptualisieren, welche Orte und Symbole von Bedeutung sind. In Raumbezogenen Tätigkeitskartierungen dokumentierte Gisela Welz systematisch die Praxen der Akteure an einer bestimmten Straßenecke zu unterschiedlichen Tageszeiten, um raum-zeitliche Verdichtungen zu dokumentieren. In diesem Zusammenhang ist auch die Studie des Soziologen W.H. Whyte über Interaktionen von Menschen an öffentlichen Plätzen interessant. Er untersuchte die Auswirkungen städtebaulicher Situationen auf ihr Verhalten (vgl. Wildner 1995). Mithilfe einer angepassten Form der Mental Maps frage ich nach den alltäglichen Nutzungspraxen in der Stadt sowie die darüber hinaus reichenden Mobilitäten. Mithilfe dieser Zeichnungen und kleinen Kartierungen wurden die Raumpraxen der Künstler sichtbar und gaben Auskunft über das Zusammenspiel lokaler und transnationaler Bewegungen.31

3.3 V ERGLEICHSPROBLEMATIKEN B ERLIN – N EW Y ORK Außerdem verwende ich die Methodik des Städtevergleichs, in welchem die künstlerischen glokalen Praxen den Mittelpunkt bilden. Meine Forschung zielt mit einem relationalen Raumansatz auf die Mikroproduktion von Raum und stadtbezogener Kunst in Berlin und New York. Nach Susanne Stemmler und Sven Arnold werden „vergleichende Stadtforschung und Stadtbetrachtung […] dann interessant, wenn sie sich auf die Mikroebene des Lokalen begeben“ (2008). Ein Vergleich macht besonders auf solch einer Akteursebene Sinn, wenn Städte nicht als abgeschlossene, rein bauliche Entitäten, sondern durch translokale Prozesse beeinflusst konzipiert werden (vgl. Massey 1994; Smith 2001). Akteurspraxen sind an der Produktion solch kultureller Mikroglobalisierungen von Städten beteiligt. Die jeweilige Geschichte des Ortes spielt in ihre Effekte hinein. In Berlin und New York haben sich durch Historie und nationale Gesetzgebung spezifische ökonomische, soziale und ethnische Kontexte herausgebildet. Diese übergeordneten Bedingungen wirken lokal in den jeweiligen Kunstbetrieb hin31 Ähnlich wie bei den Interviews gehe ich auch hier davon aus, dass die Künstler sehr genau selektieren, welche Alltagsinformationen sie durch diese Zeichnungen und Kartierungen preisgeben.

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ein. Nicht nur die institutionelle Landschaft differiert, sondern ebenfalls Wertehierarchien oder Vorstellungen vom guten Leben. Gleichzeitig bietet sich ein solch vorsichtiger und durch künstlerische Praxen geleiteter Städtevergleich in Hinblick auf Berlin und New York besonders an. Denn gemeinsam haben diese besonders in ökonomischer Hinsicht so unterschiedlichen Städte eine hohe mediale Präsenz und das ausgeprägte Imaginationspotential im Kunstbetrieb. Diesem auf einer symbolischen und imaginären Ebene verlaufenden Metropolendiskurs gehe ich im Sinne von Appadurais Production of Localities nach, denn Lokalitäten werden nun nicht mehr nur vor Ort produziert, sondern generieren sich durch translokale Reisen und mediale Berichte. Die vergleichende Perspektive meiner Forschung hilft, lokale Phänomene aus einer komparatistischen Sicht klarer zu fokussieren und sie stärker zu konturieren.

3.4 W RITING ART – E THIKFRAGEN ZU EINER F ELDFORSCHUNG IM K UNSTBETRIEB Die ethnologische Writing Culture Debatte setzte sich in den Achtzigerjahren mit Fragen der Repräsentation auseinander. 32 Es wurde diskutiert, ob Bedeutung objektiv gegeben sei oder ob sie im Schreiben erst freigelegt und konstituiert werde. Das prekäre Verhältnis zwischen Forscher und Erforschten stand zur Debatte. Die Produktion ethnografischen Wissens und die Praxis der anthropologischen Interpretation und Interaktion rückten ins Zentrum und wurden erstmals systematisch diskutiert. Ziel war hierbei, die Subjekt-Objekt-Polarisierung zu überwinden und Machtaspekte der Wissensproduktion zu reflektieren. So wurden einerseits die Konstituierung der Forschungssubjekte als vermeintlich homogene Gemeinschaften sowie andererseits das Primat der Beobachtung als Objektivierungsstrategie der ethnologischen For32 Dabei handelt es sich um eine unübersichtliche Debatte. Die Hauptprotagonisten und Werke könnte man wie folgt zusammenfassen: die Essaysammlung Writing Culture, On Ethnographic Authority von James Clifford, Ethnographies as Texts von George E. Marcus und Dick Cushman. Hinzu kommen eine Fülle von Beiträgen, wie beispielsweise von Vincent Crapanzano, Johannes Fabian, Paul Rabinow, Roberto Ronaldo, Marilyn Strathern, Pierre Bourdieu etc.

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schung kritisiert. Während Tedlock für eine konsequente Dialogisierung des Forschungsprozesses plädierte (1979), verteidigte Bourdieu die Beobachtung als konstitutives Moment der Wissenschaft (1988). Zur Debatte standen die textliche Konstruktion der Anderen, die soziale Praxis der Ethnografie sowie die Sprecherfunktion. Für meine Forschung mit lebenden Künstlern bilden diese Überlegungen zu Macht- und Repräsentationsformen im Text eine wichtige Folie. Zu den Rollenerwartungen im Feld gewann ich den Eindruck, dass von Seiten meiner Interviewpartner eine große Offenheit für mein Vorhaben bestand. Hilfreich war hierbei neben meiner Themenwahl auch mein universitärer Hintergrund. Die abschließende Publikation mag für meine Interviewpartner ebenfalls ein Grund dafür gewesen sein, sich trotz enger Zeitbudgets zum Gespräch zu treffen. Sie ließen sich auf die vergleichbar zeitintensiven Treffen ein.33 Im Laufe der Forschung ergaben sich Rollenverschiebungen und Kollaborationen zwischen meinen Interviewpartnern und mir: So konzipierte ich aus meiner Berliner Forschung die Ausstellung Place Makers Berlin. Mancher Künstler beauftragte mich, Katalogtexte zu schreiben. Plötzlich wurde ich von meinem „Feld“ beauftragt, an der Präsentation ihrer Arbeiten mitzuwirken. Privates und professionelles Leben begannen, sich zu verweben. Dieser Moment, welcher in der klassischen Ethnologie mit dem Terminus Going Native bezeichnet wird, birgt nicht nur positive Effekte. Es fiel mir zunehmend schwer, eine distanziert-beobachtende Haltung zum Interviewmaterial einzuhalten. Ferner befürchtete ich jenseits der persönlichen Loyalitäten, dass die Interviews auch Informationen ins Feld transferieren könnten, die weitaus intimer sind als in journalistischen Genres. Ich prüfte bei jedem meiner Künstlerporträts, inwiefern meine Darstellung das Gegenüber beschädigen könnte und entschied, im Zweifel Details auszulassen. Denn es besteht die Gefahr einer langfristigen Markierung durch den Text. Dies kann im Falle meiner Forschung, die die Konventionen und Regelwerke im sozialen Raum berücksichtigt, stärkere Auswirkungen haben als durch Texte, die ausschließlich formale oder ästhetische Fragestellungen erörtern. Insbesondere in Hinblick auf die Werdegänge und Lebensstilpraxen, habe ich deswegen versucht, diese nicht als determiniert und unverrückbar darzustellen. Mir ist wichtig,

33 Ihnen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich dafür gedankt.

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das Prozesshafte biografischer Verläufe und sozialer Positionen im Feld zu betonen. Alle Interviews und Gespräche bilden den Wissensschatz, der mich auch in den nächsten Jahren – sei es in Wissenschafts- oder Kunstbetrieb – beruflich begleiten wird. Daneben, und dies wird von Ethnologen gern verschwiegen, bedeutet eine solche Feldforschung ein wichtiges kulturelles Kapital. Vielleicht ist der gewählte Städtevergleich auch gerade deswegen bei jungen Forscherinnen und Forschern so populär, da er ihnen ein breiteres Netzwerk jenseits des stagnierenden deutschen Wissenschaftsbetriebs an die Hand gibt, als es ethnologische Regionalstudien oder kunsthistorische Monografien leisten können. Meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Center for Metropolitan Studies leben dies bereits vor. Ihre Postdocstellen sind über den gesamten Globus verteilt. Angesichts prekärer Berufschancen für Nachwuchskräfte im deutschen Wissenschafts- und Kunstbetrieb sind solche forschungsstrategischen Entscheidungen durchaus nachvollziehbar. Denn auch Ethnologen und Kunstwissenschaftler sind den oftmals proklamierten Technologien des Selbst (Foucault) nicht enthoben. Ähnlich wie die individualisierten Lebens- und Professionalisierungswege der Künstler agieren junge Nachwuchswissenschaftler auch als Unternehmer ihrer Selbst (Foucault). .

B Städtische Kontexte Berlin – New York

4. Mythos Berlin. Die eigene Stadt mit neuen Augen sehen

Eine der klassischen ethnologischen Paradigmen in der Folge von Bronislaw Malinowski besteht darin, die eigene Kultur aus einer fremden Perspektive heraus zu betrachten. Die Situation der Fremdheit wurde als methodisches Prinzip eingeführt, um systematisch das Verstehensproblem zwischen den Kulturen neu zu thematisieren (Kaschuba 1999: 68ff.). Doch nicht nur die Komplexität fremder Kulturen ließen das Verstehen zu einem der virulentesten methodologischen Probleme im Fach werden, auch die eigene Gesellschaft schien zunehmend schwierig zu greifen. Der französische Ethnologe Marc Augé rief dazu auf, das Konzept des Fremden neu zu überdenken: „Vielmehr verlangt die heutige Welt aufgrund ihres beschleunigten Wandels selbst nach dem anthropologischen Blick, das heißt: nach einem neuartigen und methodischen Nachdenken über die Kategorie der Andersheit“ (Augé 1994: 32). Das Fremde schien nun nicht mehr nur in der Ferne zu liegen, sondern konnte auch in Lebenswelten der eigenen Kultur ausgemacht werden. Das Forschen zur eigenen Kultur kam einem permanenten Wechsel zwischen Verstehens- und Entfremdungsprozess gleich (Kaschuba 1999, Tedlock 1993).

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Abbildung 1: Die KW Institute for Contemporary Art in der Auguststraße, Berlin Quelle: Christine Nippe

Abbildung 2: Der Fernsehturm mit dem Palast der Republik zum Zeitpunkt der Fraktale-Ausstellung Tod, Berlin Quelle: Christine Nippe

Abbildung 3: Innenansicht im Palast mit Blick auf das abgetakelte Wappen der DDR Quelle: Christine Nippe

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Meine Forschung in Berlin bewegte sich zwischen diesen beschriebenen Polen. Während sich der Metropolendiskurs 2005 in seiner Hochphase befand, begann ich meine Fragestellung zu formulieren. 34 Zu diesem Zeitpunkt kannte ich die Stadt bereits aus neun Jahren Studium und Arbeit, während ich mir New York in nur sieben Monaten erschließen musste. So war das Wissen recht ungleich verteilt. 2005 brachte eine lose Gruppe von Stadtforschenden des Instituts für Europäische Ethnologie einen Band mit dem Titel Hotel Berlin heraus. Diese Publikation zeigte das große Interesse an der eigenen Stadt. Alexa Färber wies in ihrer Einleitung nicht zu Unrecht auf die Beeinflussung der Forscherperspektive durch aktuelle Diskurse und Medienberichterstattungen hin (Färber 2005: 8ff.). Wissenschaftliche Fragestellungen und Interessen stehen immer auch in ihrem zeitlichen, disziplinären und medialen Kontext. Mein Vorhaben ist hier keine Ausnahme (Bourdieu 1993). Mein Blick auf den New Yorker Kunstbetrieb war zunächst durch Berlin geleitet. Umgekehrt hatte jedoch auch meine amerikanische Feldforschung Auswirkungen auf die abschließende Phase in Deutschland. Durch die komparatistische Perspektive wurden etwa die Unterschiede in der institutionellen Struktur der beiden Felder deutlich. Dazu gehörten die länder- und staatsseitige Finanzierung der Ausstellungslandschaft, die sich auf die Künstlerpraxis niederschlägt. Weitere Differenzen wurden anhand des unterschiedlich ausgeprägten Engagements privater Mäzene spürbar. Während in den USA ein Misstrauen gegenüber staatlicher Politik vorherrscht und privates Engagement eher anerkannt ist,35 setzen die Institutionen im ehemals geteilten Berlin aufgrund des knappen Kulturetats auf die zusätzliche Förderung durch

34 Damals schrieben die Magazine über die Entstehung der neuen Kunstmetropole: „Figuring the New Germany“, Art in America June/July 2005; „Art’s blooming in Berlin“, Modern Painters. International Arts and Culture, March 2006, „The Artists talk. A cross section of the art life in Berlin“, Flash Art No. 247, March-April 2006 und „Künstlerstadt Berlin. Die deutsche Metropole ist das neue Atelier der Welt. Alles über die internationale Kunstszene der Stadt“, in: art. Das Kunstmagazin, Nr. 10/Oktober 2006. 35 Gleichzeitig ist der amerikanische Kunstbetrieb damit ebenfalls sehr abhängig von Börsen- und Finanzmarktentwicklungen, wie sich sehr erschreckend zeigte (Tagesspiegel 5. Oktober 2008, Nr. 20045).

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den senatseigenen Hauptstadtkulturfonds oder die Kulturstiftung des Bundes. Privates Sponsoring erfolgt nur schleppend und beruht auf besten Kontakten.

4.1 F ORSCHEN

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Mein Vorgehen begann mit Kontextinterviews. Ich traf Galeristen, wie etwa die junge Gründergeneration 2005 in der Brunnenstraße (Christian Ehrentraut, Sebastian Klemm und Birgit Ostermeier), sowie Nicole Hackert von Contemporary Fine Arts, die eine der erfolgreichsten Galerien im Berliner Feld leitet. Im institutionellen Bereich sprach ich mit dem Kurator des Hamburger Bahnhofs, Dr. Joachim Jäger, dem ehemaligen Direktor der Berlinischen Galerie, Prof. Jörn Merkert, dem Leiter des DAAD Künstlerprogramms, Dr. Friedrich Meschede, und im Zuge meiner wissenschaftlichen Mitarbeit für die 5. berlin biennale mit der Direktorin der KW Institute for Contemporary Art, Gabriele Horn. Daneben traf ich die beiden Initiatorinnen des White Cube Berlin im damaligen Palast der Republik, der später zur Temporären Kunsthalle Berlin geworden ist, Constanze Kleiner und Coco Kühn. Die Gründer des Skulpturenparks Berlin_Zentrum, die Künstlergruppe aus Matthias Einhoff, Philip Horst, Harry Sachs und Daniel Seiple, gehörten ebenfalls zu meinen Gesprächspartnern. Außerdem begann ich frühzeitig mit den Produzenteninterviews, da ihre Sichtweise auf die lokalen Bedingungen zentral für mein Vorhaben sind. Ich zeige anhand meiner Selektion von Orten und Institutionen, die wichtigsten Konditionen im Berliner Betrieb. Damit wird die Organisiertheit der unterschiedlichen Bereiche Markt, Institution und Produktion deutlich, um neben der Faszination auch die lokalen Untiefen zu skizzieren.

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4.2 B OOMING B RUNNENSTRASSE G ALERIENSZENE IM W ANDEL

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ODER DIE

Abbildung 4: Die AmerikaGalerie in der Brunnenstraße, Berlin Quelle: Christine Nippe

Abbildung 5: Verkaufsgespräch Quelle: Christine Nippe

Abbildung 6: Standort an der Zimmerstraße Quelle: Christine Nippe

2004 galt der Kunstmarkt in Berlin mit fast 7.000 Unternehmen (32 Prozent) als größter Teilmarkt der Kulturwirtschaft (damals waren Architekten noch in der Statistik enthalten). 2005 wurden diese Zahlen bereinigt und der Kunstmarkt wurde mit nur 16 Prozent am Gesamtumsatz der Berliner Kulturwirtschaft beziffert (damals inklusive Mode- und Schmuckdesigner) (vgl. Kulturwirtschaftsbericht 2005). Nach einer weiteren statistischen Korrektur entspricht der aktuelle Kunstmarkt mit 1.844 Unternehmen 8 Prozent der lokalen Kulturwirtschaft

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(vgl. Kulturwirtschaftsbericht 2008). Um ein Bild von den Zahlen des Galerienmarktes zu erhalten, verwertete der Kulturwirtschaftsbericht Statistiken des Landesverbandes der Galerien. Demnach existierten im Jahre 2005 280 Galerien für zeitgenössische Kunst in Berlin. Trotz dieser höchsten Dichte in Europa lag der Standort in Bezug auf das erzielte Umsatzvolumen weit hinter London und New York zurück. Seit dem Fall der Mauer hat sich die Struktur der Galerienviertel in Berlin mehrfach geändert. Mitte der Neunzigerjahre entstand neben dem alten Zentrum in Westberlin eine Verdichtung in Mitte (Kunstmarktstudie Berlin 2004: 67). Doch wenig später verließen viele der ehemaligen Kölner Galeristen, wie etwa Max Hetzler, den Stadtteil und zogen in die Zimmerstraße nahe der Touristenattraktion Checkpoint Charlie. Anfang 2000 etablierten sich in den ehemaligen S-Bahnbögen in der Holzmarktstraße eine Reihe von neuen Räumen sowie das Büro Friedrich. Heute ist diese erste Generation bereits weitergezogen, um sich in der Marktgrafenstraße in Kreuzberg oder an anderen Orten in der Stadt niederzulassen. 2005 betrat die Brunnenstraße als junge Kunstmeile das Feld, während ein Jahr später weitere Galeristen in der Heidestraße hinter dem Hamburger Bahnhof ihr Quartier bezogen. Es folgte die „Halle am Wasser“ und im Herbst 2007 ein Gebäude unweit des Jüdischen Museums in der Lindenstraße in Kreuzberg. Bei diesem Reigen an Umzügen und Neugründungen lässt sich schnell der Überblick verlieren. Doch nicht genug: seit Winter 2007 war ein ruckartiges Wachstum in der Galerienlandschaft zu verzeichnen. Es zogen Dependancen aus Los Angeles, London und New York in die Stadt, während ehemalige Assistenten ihre eigenen Räume eröffneten. Kritiker und Journalisten stöhnten über die ‚neue‘ Unübersichtlichkeit im Berliner Galerienfeld. Doch seit November 2008 ist im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Pleitewelle junger Unternehmungen abzusehen. Dadurch wird sich die Dichte im nächsten Jahr vermutlich entsprechend verdünnen. Denn laut Kunstmarktstudie (2005) sowie Kulturwirtschaftsbericht (2008) ist die Szenerie in Berlin eher durch kleine oder mittlere Galerien geprägt: 2005 machten 40 Prozent noch einen Jahresgewinn unter €50.000 und nur 15 Prozent erzielten mehr als €400.000 im Jahr. Dabei präsentierten 60 Galerien ihre Kunst auf 130 nationalen und internationalen Messen. Dieser hohe Anteil an internationalen Beteiligungen weist daraufhin, dass die meisten Jahresumsätze der Händler durch internationale Geschäfte im Ausland bestritten werden.

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Abbildung 7: Galerienviertel im Herbst 2008: Viertel mit hohen Umsätzen (sattes Orange), umsatzschwächere Bereiche (hell markiert) Osram Höfe – Wedding Heidestraße und Galerien am Wasser – Mitte/Wedding Zimmerstraße – Mitte/Kreuzberg. Seit 2007 Lindenstraße/Kreuzberg Brunnenstraße – Mitte/ Prenzlauer Berg Auguststraße – Mitte Holzmarktstraße/Jannowitzbrücke – Mitte/Kreuzberg Charlottenburg

Quelle: Christine Nippe

Die Brunnenstraße – Dem Modell der Produzentengalerien entwachsen Bereits im Herbst 2006 publizierten Zeitungen die Entstehungsgeschichte der jungen Galerienmeile Brunnenstraße: Als Christian Ehrentraut, ehemaliger Assistent bei Judy Lübkes Eigen + Art, seine Produzentengalerie Liga 2002 in der Torstraße installierte, zeigte er junge figurative Malerei der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Zuvor hatten die beiden ehemaligen Kuratoren Klara Wallner und Jan Winkelmann bereits ihre Galerien in der Brunnenstraße etabliert. Die nächste Generation folgte im April 2005. Dazu gehörte die Amerika Galerie mit 20 Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Der Fokus lag dabei auf Fotografie, Zeichnung sowie Installation. Diskus präsentierte zehn Skulpturenpositionen der Dresdner Kunstakademie. Beide basierten auf dem Modell der Produzentengalerie, während Christian Ehrentraut einige Liga-Künstler in seine Privatgalerie übernahm und Martin Mertens ebenfalls Rekord zur klassischen Galerie umwandelte. Nachdem die jungen Entrepreneure eine gemeinsame Vermarktungsstrategie ihres Standortes mit Eröffnungen, Sommerfesten und einem eigenen Flyer entwickelt hatten,

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siedelten sich im Oktober 2006 weitere Galeristen und Projekträume an. Unter ihnen waren die Dependance der New Yorker Galerie Geoff + Rosenthal und die Kuratorenplattform Curators Without Borders von Sarah Belden. Dazu gehörten auch Invaliden 1, ein von sechs spanischen Künstlern gegründeter Projektraum, die Galerie Nice & Fit und artnews projects vom Künstler Vlado Velkov. Ausschlaggebend war für viele Gründer, dass die Räume nahe der August-, Linien- und Sophienstraße lagen. Vom Gehsteig waren die meisten Standorte einsehbar. Nur Christian Ehrentraut installierte seine private Galerie im Hinterhof. Dazu sagt er: „Es ist relativ offensichtlich, dass es recht versteckt ist, nicht direkt an der Straße liegt. Für das Profil aus Ausstellungsbüro, Projektraum und Galerieraum ist das ganz gut. Allerdings ist es sehr zentral, gerade in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit den anderen Kollegen aus der Brunnenstraße, wo wir versuchen, gemeinsam zu arbeiten. Die Luxussituation ist, die Leute die hier herein kommen, sind weniger ein Laufpublikum von der Straße, sondern interessiert. Wenn jemand kommt, dann gibt es immer einen Anlass, über die Arbeiten zu reden. Trotzdem ist die Lage in Mitte nicht ganz unwichtig, weil man niemandem aufhalsen kann nach Treptow zu fahren, sondern hier kann man auch gleich in der Nachbarschaft schauen, was die so anbietet.“ (Interview Christian Ehrentraut September 2005)

Der damalige Standort in der Brunnenstraße wurde von den Jungunternehmern sorgfältig gewählt. Auch heute zeigt Ehrentraut seine Künstler in einem Ausstellungsraum in Mitte. Die Brunnenstraße besitzt den Vorteil, in der unmittelbaren Nähe zu den älteren, etablierten Kollegen in der Auguststraße zu liegen und gleichzeitig ein junges Profil zu betonen. Außerdem besaß sie lange einen sehr eigenen verruchten Charme. Bog man vom Rosenthaler Platz auf den Gehsteig der Brunnenstraße ein, so folgte nach mehreren Imbissbuden der Sexshop von Beate Uhse. Die Galerien waren Einsprengsel in einer bunten Zusammensetzung von Kleinst-, Trödel- und Secondhandläden, Schnellimbissen und leer stehenden Geschäften. Heute wird die Meile durch Galerien, einem Sushi Restaurant, dem Circus Hotel und Modeboutiquen gesäumt. Die erste Generation wählte ihren Standort nah beieinander, um dabei dennoch ihr eigenes Profil zu entwickeln. Laut Ehrentraut verfolgte jede Galerie ihr eigenes Programm: Die Amerika Galerie sei auf

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Fotografie aus Leipzig spezialisiert, Diskus auf skulpturale Objekte aus Dresden, Rekord habe ein heterogenes Programm mit Schwerpunkt auf Malerei, Jan Winckelmann ein konzeptbasiertes und am theoretischen Diskurs orientiertes Spektrum, Klara Wallner populäre Positionen und er (nicht ohne Augenzwinkern) ein interessantes internationales Programm „mit einem Fokus auf Malerei“. Insbesondere der Sprung in die Selbständigkeit im Anschluss an die Produzentengalerien wird durch Grafik und Raumausstattung betont. Kollektiv organisiert sind lediglich die gemeinsam abgestimmten Eröffnungsabende, dann verwandelt sich die Brunnenstraße in eine Partymeile. Vor den Galerien versammeln sich Trauben von Nachtschwärmern, während auch die älteren Sammlerinnen und Sammler den Menschenauflauf zu genießen scheinen.

Starten mit der Produzentengalerie Viele heutige Galerien begannen ihre Arbeit auf der Basis einer Produzentengalerie. Meist wird das Modell durch eine Gruppe von Kunstabsolventen gegründet. Sie suchen sich ihren Direktor, häufig ein Kunsthistoriker, gemeinschaftlich aus. Die Umsatzbeteiligung ist im Gegensatz zur klassischen 50-50 Basis eine Drittellösung. Das bedeutet, dass bei einem Verkauf der Galerist 30 Prozent erhält, weitere 30 Prozent in den kollektiven Topf fließen und der restliche Anteil dem jeweiligen Künstler zugute kommt. Das Anliegen ist dabei, dass die Produzenten sich ihre eigene kollektiv finanzierte Plattform schaffen. Viele solcher Modelle werden dabei auf eine Zeit von zwei Jahren beschränkt, danach erfolgt eine rechtliche und organisatorische Umgründung in eine klassische Form. Die Brunnenstraße wurde von der ersten Generation geschickt vermarktet. Zusätzlich schuf das Modell der Produzentengalerie Sympathien. Der Straßenname prägte sich als Synonym für junge Kunst im medialen Diskurs ein. Die Galeristen finanzierten eine Werbeanzeige im britischen Kunstmagazin Frieze, produzierten Postkarten und Streichholzschachteln mit der Straßenaufschrift und organisierten Feste. Doch trotz dieser gemeinsamen Aktionen, ist eine latente Konkurrenz nicht zu verhehlen. Jeder schaut genau, welche Sammler zum Kollegen kommen. Vor diesem Hintergrund kann man die Strukturen in der Brunnenstraße als loses Interessensnetzwerk bezeichnen, das auf

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Co-opetion – einem Wechselverhältnis von Kooperation und Konkurrenz – basiert (vgl. Sydow 2001). Daneben wirken im Hintergrund mentorenähnliche Beziehungen zu älteren Galeristen. Die alteingesessenen Kollegen besitzen ein Interesse daran, dass eine junge Generation von Künstlern nachwächst. Manche von ihnen sind finanziell am Produzentenmodell beteiligt. Doch hilfreich sind in jedem Falle die Empfehlungen, ohne die es in der Netzwerkökonomie Kunstbetrieb nur schleppend voran geht, wie Birgit Ostermeier beschreibt: „Wir haben viel Glück gehabt. Erst einmal mit der Positionierung in der Brunnenstraße, weil wir hier mit den anderen fünf Galerien diese Verbindung eingegangen sind. Das war ganz toll, weil wir hier relativ viel Öffentlichkeit bekommen haben. Das heißt die Galerie Diskus wurde in Zeitungen erwähnt wie der Welt, aber auch der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der ART – und das gerade mal nach drei Monaten Existenzzeit. Das ist schon Wahnsinn. […] Das hing auch damit zusammen, dass die Aufmerksamkeit hier auf die Brunnenstraße gerichtet wurde. Gerade die FAZ- und die ART-Artikel waren hilfreich, denn daraufhin gehen die Sammler ins Netz und schauen nach. […] Außerdem haben wir auch das Glück, dass Klara Wallner, Judy Lybke von Eigen + Art und Jan Winkelmann Interesse daran haben, die Jungen zu unterstützen. Wenn sie beispielsweise eine Arbeit sehen und wissen: Das würde dem und dem gefallen, dann geben sie Tipps und sagen ihnen: ‚Schau doch mal bei Diskus vorbei.‘ Und das ist natürlich wahnsinnig wichtig für uns.“ (Interview mit Birgit Ostermeier September 2005)

Solche mentorenähnlichen Beziehungen können in ganz Berlin zwischen den unterschiedlichen Galeristengenerationen beobachtet werden. Oftmals sind die Jungen ehemalige Assistenten der Protegés. Gleichzeitig besteht dabei jedoch immer auch die Gefahr, dass die älteren Kollegen Künstler abwerben. Attraktiv sind sie für junge Produzenten allemal, können sie sich doch oftmals die großen Messeauftritte oder Katalogzuschüsse leisten, während die Junggaleristen noch jede Stufe einzeln erklimmen müssen. So sind auch die mentorenähnlichen Netzwerke nie ohne Risiko verbunden. Vertrauen wird immer auch durch eine Portion Konkurrenz und Risiko im umkämpften Galeriengeschäft begleitet.

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Das symbolische Kapital der Brunnenstraße In den Interviews wurde deutlich, dass die Galeristen ein ausgeprägtes Gespür für die besondere Atmosphäre der Straße besitzen. So sprachen viele von der Faszination der amerikanischen Sammler am „wilden Osten“. Die abgeblätterten Fassaden, bröckelnden Brandmauern und bunten Graffitis unterstreichen solche Imaginationen. Manchmal nutzen sie dieses symbolische Kapital36 strategisch, wenn sie von amerikanischen Sammlern besucht werden, wie etwa Christian Ehrentraut erzählt: „Es ist ein bisschen so, wie es in dem letzten FAZ-Artikel über die Brunnenstraße beschrieben wurde: Da wo die Berliner Brandmauern noch wirklich wild wirken. [Er nimmt die Zeitung und liest vor:] ‚In der Brunnenstraße sieht Berlin noch so aus wie vor zehn Jahren. Es gibt neben den renovierten Häusern noch immer ein paar besetzte Gebäude mit großen Projektionsflächen und es gibt immer mehr Kunstsammler, die durch die Hinterhöfe irren, um zwischen Graffiti und Mülltonnen jene Galerien zu suchen, von denen es heißt, dass sie den Aufstieg zum Kunstkorso nur ein paar Meter neben der Auguststraße neu in Szene setzen können.‘ [Legt den Zeitungsartikel zur Seite] Das spricht für sich. Ja, ich habe ein kleines fanatisches Vergnügen daran, wenn Leute das erste Mal da sind, zu erzählen, dass auf der Brandmauer gegenüber ein Graffiti ist, auf dem steht: ‚Eigentum ist Diebstahl!‘ Das macht mir Spaß (lacht). Wenn nämlich [die Sammler plötzlich] die eigene Position hinterfragen müssen, ob es beim Kunstkauf nun um Investment geht oder um [einen wirklichen] kulturellen Wert.“

Ehrentraut weiß, die Atmosphäre für sich zu nutzen. Und so wird die Parole der Hausbesetzer zum symbolischen Kapital des Galeristen. Das Umfeld wird als authentische Kulisse in die Präsentation des Programms eingewoben. Der Fokus auf die Leipziger Schule sowie das

36 Mit Rückgriff auf den Bourdieuschen Begriff des symbolischen Kapitals werden diejenigen immateriellen Ressourcen bezeichnet, die „eine beliebige Eigenschaft (eine beliebige Kapitalsorte, physisches, ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital) [umfasst], wenn sie von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, deren Wahrnehmungskategorien so beschaffen sind, daß sie zu erkennen (wahrzunehmen) und anzuerkennen, ihr Wert beizulegen, imstande sind.“ (Bourdieu 1985: 108).

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städtische Umfeld Berlins korrespondieren in Hinblick auf den vermeintlich authentischen Osten. Der Galerist weiß, dass die internationalen Gäste nicht nur auf den Kauf von Kunst aus sind, sondern auch auf ein kleines Abenteuer. Haben sie sich erst einmal durch die Hinterhöfe geschlagen und Malereien akquiriert, werden sie glauben, dass sie etwas ganz besonders mit in die USA zurück nehmen. Doch unter der Oberfläche brodelt es bereits. Die Hausbesetzer verteidigen ihr Territorium: Briefkästen und die Galerienaufschrift von Amerika wurden entwendet. Der Groll über die spätestens jetzt einsetzende Gentrifizierung liegt in der Luft.

4.3 O RTSBEGEHUNGEN : D ER H AMBURGER B AHNHOF UND DER S KULPTURENPARK B ERLIN _Z ENTRUM Eine der wenigen staatlich finanzierten Institutionen für zeitgenössische Kunst in Berlin ist der Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart. Als Institution der Staatlichen Museen besitzt er den Auftrag, die zeitgenössische Kunst zu sammeln, zu dokumentieren und auszustellen. Im Jahre 1996 gegründet, wurde das ehemalige Gebäude vom Architekten Josef Paul Kleihues renoviert. Ab da stand der Standort für Ausstellungen bereit und wurde 2004 durch den Anbau für die private Friedrich-Christian Flick Sammlung auf 10.000 Quadratmeter erweitert. Während des Interviews mit dem Kurator, Dr. Joachim Jäger, wurde die Gründungsgeschichte des ehemaligen Bahnhofs plastisch: „Das Gebäude ist durch Harald Szeemann entdeckt beziehungsweise wieder entdeckt worden. Hier war früher ein altes Eisenbahnmuseum. Ich habe letztens einen alten Ro-Ro-Krimi gelesen und da las ich, wie der Kommissar durch dieses Museum stöbert. In den Sechzigerjahren war es wohl scheinbar zugänglich. Ich weiß aber, dass Harald Szeemann die große Ausstellung Zeitlos in diesem Gebäude, es war noch unrenoviert, durchgeführt hat. Damit geriet es in den Blick der Kunstöffentlichkeit. Angesichts des Tauwetters und der Großpolitik in den Gorbatschow Jahren erschien es wieder benutzbar, was ja nah an der Mauer lag und als Bahnhof nicht unter Alliiertenrecht stand. Also Ende der Achtzigerjahre kam der Plan auf, aus diesem Haus ein Museum zu machen. Die genauen Stufen der Planung bis 1996 sind mir nicht bekannt. Ich weiß aber, dass es von Anfang an eigentlich nicht nur ein Haus der Nationalgalerie

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sein sollte, sondern eines was primär für Ausstellungen gedacht war, an dem sich auch die anderen Museen am Tiergarten wie die Kunstbibliothek, das Kupferstichkabinett und das Kunstgewerbemuseum beteiligen sollten, also ein fachübergreifendes Haus. Außerdem sollte es eine Heimat von Privatsammlungen werden.“ (Interview mit Dr. Joachim Jäger im Oktober 2005)

Der interdisziplinäre Ansatz konnte aus finanziellen Gründen nicht realisiert werden, sodass eine enge Anbindung an die Sammlungsbestände und die Personalausstattung der Neuen Nationalgalerie logisch erschien. Mittlerweile vereint das Museum die gesamten zeitgenössischen Sammlungen der Staatlichen Museen. Außerdem präsentiert es die privaten Bestände von Erich Marx mit Künstlern aus den Sechzigerjahren, die Sammlung Egidio Marzona mit dem Fokus auf Arte Povera sowie die Friedrich-Christian Flick Sammlung. Schaut man auf die Gründung im damaligen organisationalen Feld (DiMaggio/Powell 1983) zurück, sind noch heute die Bedingungen des Museums spürbar. Aufgrund der starken Anbindung an die Neue Nationalgalerie und der latenten Unterfinanzierung der staatlichen Museen muss ein kleines Team aus angestellten Kuratoren eine große Fläche bespielen. Der Druck auf die wenigen Angestellten ist immens. Dennoch konnte das Museum zeitgenössische Ausstellungen realisieren, wie etwa von Pipilotti Rist, Manfred Pernice, Sarah Morris, Stan Douglas, Janet Cardiff und George Bures Miller, Walid Raad und Björn Dahlem (Hohmann/Ehlers 2005: 14).37 Jäger würde gern stärker auf Entwicklungen vor Ort reagieren: „Berlin ist schon einzigartig, weil hier so viele Künstler aus der ganzen Welt leben. Einmalig ist: a) die Größe der Kunstfläche auf der b) aber nur wenige im Blick sind. Das heißt, es gibt sehr viele kleinere Kreise, die sich auch rund um die Galerien bilden. Es gibt keine übergeordneten Treffen oder die Szene hat

37 Aufgrund der Haushaltsknappheit des Berliner Kulturetats wurden bei der Gründung des Museums private Sammlungen akquiriert. Dadurch erhielten private Sammler eine starke Präsenz in der staatlich finanzierten Institution. Um dennoch auf Entwicklungen in Berlin reagieren zu können, wurde der Preis für Junge Kunst der Freunde der Neuen Nationalgalerie geschaffen. Aus den Erlösen der MoMA in Berlin Ausstellung stellte der Freundeskreis €50.000 für die Auszeichnung einer zeitgenössischen Berliner Arbeit zur Verfügung.

78 | K UNST BAUT STADT kein Mekka, wo jeder ist. Es gibt weder eine Galerie, noch eine Kunstinstitution, noch ein Club wie es Anfang der Neunzigerjahre mit dem WMF der Fall war. Es ist eine sehr offene Szene, die sehr vielteilig ist, sehr heterogen und sehr groß. Es hat insgesamt nicht so einen Aufbruch gegeben, wie es in New York Anfang der Siebzigerjahre als die Lofts in SoHo besetzt wurden, der Fall war. Es gibt ja schon Künstler, die sich große Räume genommen haben, aber die liegen nicht zentral zusammen und deswegen fehlen auch Auftrittsorte, die es für größere Zusammenhänge bedarf. Es fehlt einfach eine große Kunsthalle, die diese junge Kunst besser ausstellen kann als ein Museum, welches die Geschichte im Blick hat und von daher mit der klassischen Sammlung operieren muss und dafür auch Gelder bekommt, nicht nur für das rein Zeitgenössische. Gegenwart bedeutet je nach Perspektive immer etwas anderes, wenn wir beispielsweise an Herrn Marx denken, der 83 Jahre alt und ein Zeitgenosse von Warhol und Rauschenberg ist.“ (Interview mit Dr. Joachim Jäger Oktober 2005)

Der Kurator hat den Eindruck, dass Berlin eher ein Transitort für viele Künstler ist. Die Stadt biete zwar den Produzenten gute Arbeits- und Interaktionsbedingungen, doch wie nachhaltig diese sind, werde sich erst später herausstellen. Er sehe im Gegensatz zur Young British Art oder der Leipziger Schule nur geringe Chancen auf eine Berliner Schule: „Ich habe den Eindruck, dass man hier den Anfang macht, woanders aber die professionelle Karriere. Das ist tragisch, weil die Personen, die eine geniale Geschäftsidee entwickeln, woanders hingehen. Es gibt kein wirklich großes Berliner Label, was hier entstanden ist. […] Das was die Stadt seit den Achtzigerjahren ausgezeichnet hat, ist Pluralismus und nicht Corporate Denken. New York ist insofern anders, weil es schon immer eine kapitalistische Stadt war, wo Markenartikel wie Lichtenstein ganz anders kreiert wurden und automatisch einen anderen Glanz bekamen. […] Hinzu kommt vielleicht, dass Berlin ein Ort ist, an dem der Individualismus sehr stark gedeiht. Ich frage mich manchmal, warum es hier nicht so etwas wie die Young British Art gibt. Das war sicherlich Saatchi mit starker Hand, da mussten sich letztlich aber auch die Künstler für eine gewisse Zeit darunter fügen. Es hat das einmal als Versuch in der Ausstellung in Wolfsburg German Open gegeben, ist aber nie weitergegangen. Es gab keinen Verbund junger deutscher Kunst. Das hat es in Düsseldorf mit der Becher Schule gegeben, aber es gibt keine Berliner Schule, einen Berliner Kreis oder Young Berlin, dafür ist hier zu viel Verschiedenheit. Es ist

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also eine einzigartige Szene, die nicht vergleichbar ist mit solchen aus anderen Städten, die ich aus der Geschichte kenne. Das geht vielleicht generell mit den Trends in der Kunst einher. Damals in Rauschenbergs Zeiten gab es vier starke Bewegungen wie Performance, Pop, Minimal und Fluxus. Da waren starke Kräfte zu spüren. Versuchen sie, das einmal heute zu benennen. Das gelingt nicht, es gibt nur Einzelrichtungen und davon hunderte.“

Joachim Jäger stellt die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Berliner Szene heraus. Die fehlende Entwicklung von Schulen könne einerseits an den heterogenen Ausbildungswegen liegen, andererseits – so weist Jäger anhand historischer Beispiele wie Rauschenberg und Lichtenstein hin – seien auch die ökonomischen Netzwerke zu wenig organisiert, um eine kollektive Namensbildung durchzusetzen. Für solche Gründungen bedarf es einer starken, kollektiven Initiative im Markt. Solch eine Position hatte etwa der Privatsammler Saatchi in Abstimmung mit anderen Londoner Schlüsselakteuren, wie Nicholas Serota (Direktor der Tate Gallery) and Norman Rosenthal (Royal Academy of Arts) zusammen mit dem Direktor der White Cube Gallery inne, wie es der britische Kulturgeograf Aidan While in Locating art worlds: London and the making of Young British Art (2003) zeigt. Nur in einer abgestimmten Strategie und zusammen mit anderen Akteuren lassen sich solche Titel international durchsetzen, so die Beobachtung Whiles. In Berlin existieren hingegen viele Mikroszenen nebeneinander, die punktuell miteinander verbunden sind. Eine lokale Allianz von Sammlern, Kuratoren, Kritikern und Galeristen, wie es im Falle der Young British Art war, sind bislang noch nicht auszumachen. Einzig das Galerien Wochenende oder die kürzlich daraus hervorgegangene Messe ABC stellen gemeinsam initiierte Initiativen dar.

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Skulpturenpark Berlin_Zentrum Berlin’s identity is closely related to the concept of the urban void. The city’s excess of urban interventions has resulted in a discontinuity that enables the self-effacing existence of the void. CUPERS/MIESSEN

Die beiden Autoren Kenny Cupers und Markus Miessen beschreiben Berlin als eine Stadt, die durch ihre Brachen charakterisiert werden kann. Auch der Skulpturenpark Berlin_Zentrum befindet sich inmitten der Berliner Stadtlandschaft auf einer Leerstelle. Das Gelände liegt mitten im Zentrum jenseits des Gendarmenmarktes und nahe des Axel Springer Hochhauses. Über 62 Parzellen bilden eine Brachfläche, die sich exakt auf dem ehemaligen Mauerstreifen – zwischen Kreuzberg und Mitte, ehemaligem West- und Ostteil der Stadt – befindet. Heute ist das Gelände von stereotypen Büro- und Wohnhäusern umgeben. Seine fünf Hektar große Fläche aus Sand- und Steinhügeln erstreckt sich über mehrere Straßenzüge hinweg und ist von Unkraut überwuchert. Abbildung 8 und 9: Der Skulpturenpark Berlin_Zentrum Quelle: Skulpturenpark Berlin_Zentrum

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Historisch gesehen handelt es sich bei diesem Areal um eine urbane Grauzone. Während der Industrialisierung lag es eingekeilt zwischen den beiden Stadtteilen Friedrich- und Luisenstadt. Auf den Grundmauern ehemaliger Kasernen entstand hier ein Arbeiterviertel mit dem Ruf einer ‚schlechten Gegend‘. Der Name einer damaligen Kneipe „Hundeleben“ dürfte für die Anwohner und Passanten programmatisch gewesen sein. Die räumliche Nähe zum historischen Zeitungsviertel änderte wenig an der abseitigen Lage, denn das Areal blieb ein Nichtort, eine Gegend, welche nur als Transitraum zwischen den Knotenpunkten der Information und Produktion des gründerzeitlichen Berlins fungierte. Während des Krieges wurde die dichte Bebauung der Mietshäuser mit ihren engen Hinterhöfen entlang der Kommandanten-, Alten Jakob- und Neuen Grünstraße nahezu vollständig zerstört. Später verlief hier – nur durch Schilder markiert – die ‚Grüne Grenze‘ zwischen amerikanischem und russischem Sektor. Es folgte im Jahre 1961 der Bau der Mauer, der aus dem Areal einen Teil des Todesstreifens machte. Lediglich der circa zwei Meter breite Gehsteig wurde den Kreuzbergern zwischen Modecentrum und Mauer zugestanden. Dieser Einschnitt hatte Folgen, sowohl für die sozio-ökonomische Entwicklung des Gebietes als auch für die Mobilität der Anwohner. Nach dem Abriss der Mauer 1990 führten ungeklärte Besitzverhältnisse erneut zum Stillstand, ein temporärer, wilder Parkplatz entstand. Mitte der Neunzigerjahre wurden die Brachflächen zum Spielball von Spekulanten, doch im Zuge der Hauptstadt-Euphorie und der Gewinnfantasien um das zentrumsnahe Gebiet verschätzen sich viele: Während anfänglich der Wert der Grundstücke anstieg, erfuhr es mit der Krise der New Economy einen rapiden Wertverfall. 2006 entdeckten vier Künstler von KUNSTrePUBLIK e.V. das seit mehr als 16 Jahren eingezäunte Brachland. Mittels ihrer als Skulptu-

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renpark Berlin_Zentrum bezeichneten Strategie realisieren sie seither auf dem Gelände kontinuierlich ortsbezogene Kunstprojekte. In Verhandlung mit den privaten und öffentlichen Eigentümern prägen sie eine Position, die sich jenseits klassischer Konzepte von Kunst im Öffentlichen Raum bewegt. Mithilfe von informellen Absprachen gewannen sie den Hausmeister des ehemaligen Modecentrums sowie öffentliche und private Eigentümer für die Umsetzung der Projekte. Die Realisierung bewegte sich häufig an offiziellen Bau- und Lärmschutzbestimmungen vorbei, im Graubereich. Eine Jury von lokalen Kuratoren schlug zeitgenössische internationale Künstler vor, sich mit einem Projekt zu bewerben. Die Finanzierung beantragten die Initiatoren bei der Kulturstiftung des Bundes und anderen öffentlichen Geldgebern. Der Skulpturenpark Berlin_Zentrum ist ein paradigmatischer Ort für die spezifischen Transformationsbedingungen im wiedervereinigten Berlin. Er symbolisiert nicht nur die ‚Narbe‘, welche die Mauer hier hinterließ, sondern auch schleppendes Wachstum, gescheiterte Gentrifizierung sowie Investorenfantasien. Diese Leerstelle in der urbanen Textur Berlins ist Vergessens- und Möglichkeitsraum zugleich. Das Engagement der fünf Künstler zeigt die Faszination, die von der Nutzung von Brachflächen ausgeht (vgl. Cupers/Miessen 2003; Rudolph 2007). Nicht zuletzt, da das Gelände nicht definiert ist und wie ein blinder Fleck im Stadtzentrum wirkt, bietet es für Künstlerinnen und Künstler im inzwischen weitestgehend bebauten Stadtraum einen ungewöhnlichen Reiz. Während der 5. berlin biennale akquirierten die beiden Kuratoren Adam Szymczyk und Elena Filipovic das Gebiet als Kontrastort zum Glastempel von Mies van der Rohe, der Neuen Nationalgalerie. Die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler entwickelten hier jedoch eher widerstrebend temporäre Interventionen, Videoinstallationen, architektonische oder skulpturale Arbeiten. Sie beklagten sich oftmals, dass das Areal zu überwuchert und unwegsam sei. Vielleicht war es auch die Erhabenheit der Neuen Nationalgalerie, die auf viele anziehender wirkte.

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Abbildung 10-12: LANDREFORM Carousel vom Künstlerkollektiv Skulpturenpark Berlin_Zentrum, bb5-Night Event am 10.06.2008 Quelle: Skulpturenpark Berlin_Zentrum und 5. berlin biennale

Mit der Entscheidung der Biennale, die Brachfläche in die Großausstellung zu integrieren, wurden leise Befürchtungen über den Ausverkauf des Gebiets laut. Die Initiatoren selbst sowie Kritiker ahnten, dass die mediale Aufmerksamkeit das Areal vereinnahmen könnte (Tan 2008: 125). Dies nicht zu Unrecht, denn noch bevor die Biennale mit ihren Skulpturen und ihrer Infrastruktur aufschlug, hatte bereits ein neuer Investor ein zentrales Grundstück erworben. Kurze Zeit später – noch während die Kunsthungrigen über das Areal pilgerten – stand schon eine Musterwohnung im Neorenaissance-Stil zwischen den Unkrauthügeln und bot das Gebiet zukünftigen Eigentümern feil. Danach ging es rasant weiter: Im Anschluss an die Biennale wurden die fünf Künstler von internationalen Entwicklungsfirmen angefragt, ob sie bei der Aufwertung Hamburger und Osloer Hafengebiete beratend tätig sein wollen. Die vormaligen ‚Grauzonenexperten‘ sollten nun bei der

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Entwicklung von Innenstadtgebieten aktiv werden. Ihre Rolle hatte sich im internationalen Biennalespiel geändert: Als Raumpioniere werden sie nun hoch gehandelt. Dieses Projekt kann als eines unter vielen gelten, welches die Rollenverschiebungen ortsbezogener Initiativen auf eine internationale Entwicklerebene hebt. Der Berliner Stadtsoziologe Andrej Holm spricht von der Doppelrolle der Künstler als Second Gentrifier (2005). Die Akteure müssen einen Spagat zwischen der Realisierung alternativer Projekte und kritischem Diskurs machen sowie der potentiellen Instrumentalisierung ihres Wissens begegnen. Die Grauzonenstrategie schließt dabei Komplizenschaften mit Entwicklern nicht aus.

4.4 B LICKE AUF DIE S TADT : K ÜNSTLERSTIMMEN ZU B ERLIN Statistische Daten zu Künstlern in Berlin sind noch immer schwer zu erhalten. Zu den wenigen Quellen gehören Statistiken des Berliner Künstlerverbands BBK, des Wirtschaftssenats oder von der Künstlersozialkasse. Laut Kulturwirtschaftsbericht waren Ende 2002 6.100 bildende Künstler Mitglieder in der Künstlersozialkasse (Kulturwirtschaftsbericht 2005: 25). Tabelle 2: Anstieg der in Berlin lebenden Künstler in den Jahren 2000 bis 2004

Quelle: Senat für Wirtschaft, Arbeit und Frauen (2005)

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Im Vergleich mit anderen deutschen Regionen kann Berlin die höchste Dichte von freien Künstlern verzeichnen. 5,8 Prozent der Gesamtbevölkerung in Berlin sind demnach Kunstschaffende. Die Zahl ist seit 2000 um 40 Prozent gestiegen (2005). Gleichzeitig meldeten die Berliner Künstler ein jährliches Durchschnittseinkommen von 18.540 Euro für das Jahr 2002 an. Das bedeutet, dass die durchschnittlichen Einkünfte 40 Prozent über dem Satz anderer freier Künstler in Deutschland liegt (Kulturwirtschaftsbericht 2005: 25) gleichzeitig jedoch weit unter anderen Kreativberufen in Deutschland. Doch wie leben Künstler in der Stadt, welche Zugangs- und Ausgangsbedingungen finden die Produzenten vor? Für die Kontextinterviews wählte ich zusätzlich zu meinen Porträts weitere Akteure aus. In Berlin sprach ich mit den folgenden Künstlerinnen und Künstlern über den städtischen Kontext: Tabelle 3: Kontextinterviews mit Berliner Künstlern Name Nevin Aladag John Bock

Jan Brokof Christiane Delbrügge/ Ralf de Moll Arturo Herrera Elín Jakodottir Folke Köbberling und Martin Kaltwasser

Geboren in/aufgewachsen Türkei/ Deutschland (West) Deutschland (West)

Gender

Arbeiten/Wohnen

Weiblich

Mitte, damals Neukölln

Männlich

Prenzlauer Berg

Deutschland (Ost) USA und Deutschland (West)

Männlich

Treptow, Neukölln

Künstlerpaar

Charlottenburg, Kreuzberg

Venezuela

Männlich

Island/Schottland

Weiblich

Kreuzberg, Charlottenburg Wedding, Mitte

Deutschland (West)

Weiblich/Männlich

Kreuzberg, Tiergarten

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Daniel Knorr Wiebke Loeper Frank Nitsche Christine Petit Anri Sala Christine Schulz Tino Sehgal Rirkrit Tiravnija Holly Zausner

Rumänien/ Deutschland Ostberlin

Männlich

Kreuzberg, Mitte

Weiblich

Mitte

Deutschland (Ost) Frankreich

Männlich

Kreuzberg, Prenzlauer Berg Prenzlauer Berg

Weiblich

Albanien Deutschland (West) Großbritannien/ Frankreich/ Deutschland Thailand38

Männlich Weiblich Männlich

Mitte Berlin und Garbolzum Mitte

Männlich

damals Mitte

USA

Weiblich

Prenzlauer Berg

Die Produktionsbedingungen In vielen Artikeln zu Berlin werden meist die billigen Ateliermieten als Grund für die Künstlermigration in die Stadt aufgeführt. Was ist also dran an der Frage des Atelierraums? Die Interviews brachten mich in die unterschiedlichsten Ecken der Stadt. Von einem Wohnhaus in Wedding, einem verlassenen Seitenflügel in Treptow bis hin zu professionellen Atelierhäusern in Kreuzberg, Tiergarten oder dem Prenzlauer Berg. Für mich war besonders interessant, dass die Größe der Ateliers meist in Hinblick auf das Medium differierte. So bedürfen Video- und Filmkünstler wie etwa Nevin Aladag, Anri Sala, Christine Schulz und Holly Zausner keinen zusätzlichen Atelierraum. Sie arbeiten meist von ihrer privaten Wohnung aus und suchen sich für Schnitt und Ton externe Infrastrukturen. Tino Sehgal, der aus dem Tanzbereich kommend, seine Arbeit anhand von performativen Installationen 38 Lebte Mitte der Neunziger gleichzeitig in Berlin und New York. Heute pendelt er vorwiegend zwischen Thailand und New York City, wo er an der Columbia University unterrichtet.

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mit Akteuren entwickelt, lebt in einem ehemals besetzten Haus in der Auguststraße. Als wir uns trafen, hatte er noch keinen eigenen Atelierplatz, sondern schrieb seine Anleitungen von zu Hause aus, um sie jeweils vor Ort mit den Schauspielern einzuüben. Hingegen benötigen die Maler Frank Nitsche und Arturo Herrera ebenso wie John Bock, der in seinen raumgreifenden Installationen Performance, Skulptur und Film kombiniert, große Ateliers für die Herstellung ihrer Arbeiten. Viele dieser bereits erfolgreichen Künstler greifen auf ein Team von Assistenten zurück. Sie helfen große Baukonstruktionen herzustellen, Dreharbeiten zu organisieren oder unterstützen Planung und Logistik. Anhand dieser unterschiedlich ausgeprägten medialen Raumanforderungen wird deutlich, dass sich Atelierstruktur und Medium gegenseitig beeinflussen. Während großformatige Malereien und Skulpturen mehr Platz für die Produktion benötigen, können die Atelierräume eine Auswirkung darauf haben, mit welchem Medium überhaupt gearbeitet werden kann. So erklärte mir eine Künstlerin, dass sie dringend wieder ein größeres Atelier brauche, um nicht immer wieder aus praktischen Gründen bei Film und kleinformatigen Papierarbeiten zu landen. Das heißt, dass das Medium die Produktion- und die Alltagsorganisation der Künstler strukturiert. Umgekehrt hat die Größe des Ateliers im Sinne von Bruno Latours Actor Network Theory einen reale Effekt auf die Handlungen der Akteure. Ein weiterer Effekt ist bei Künstlern festzustellen, die Arbeiten und Wohnen nicht getrennt organisiert haben. Ihnen fehlt manchmal die Bewegung zwischen diesen Sphären. Anri Sala verlässt beispielsweise seine Wohnung für einen langen Spaziergang, um über konzeptionelle Ideen nachzudenken. Kommt er wieder zurück, kann er mit einem unvoreingenommenen Blick die nächste Arbeitsphase beginnen. Insbesondere Künstler, die ihre Arbeit allein organisieren, bezeichneten Vernissagen und Diskussionsabende als Interaktionsmöglichkeiten. Was lässt sich anhand dieser Beispiele für die Raumstrukturierungen in Berlin ablesen? Die Frage der Ateliermieten spielt sicherlich eine wichtige Rolle für die Entscheidung, ob die Produzenten in die Stadt ziehen. Besonders im Vergleich zu anderen Orten, in denen Künstler akzeptieren, dass sie in verlassenen oder verseuchten Industriegebieten arbeiten, sind die räumlichen Bedingungen in Berlin optimal. Gleichzeitig gibt es jedoch einen weitaus wichtigeren Grund für den Zuzug in die Stadt: die Szenevielfalt. Der Aspekt der kritischen sozialen Masse wird in vielen Artikeln und Reportagen ausgeblendet. Für Produzenten

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kann und ist der Standort Berlin nur dann interessant, wenn er die Chance bietet, sich in einer vergleichbar internationalen Szene zu bewegen. Für viele Künstler sind Clubs, Szene und Programme wichtige Faktoren für die Entscheidung, in eine bestimmte Stadt zu ziehen.

Die (Übergangs-)Entscheidung Berlin Bedeuten diese Bedingungen nun, dass Künstler sich vollends für Berlin entscheiden? Zunächst kommen viele Produzenten meist für eine spezifische Phase während oder nach dem Studium in die Stadt, wie auch das Interview mit Tino Sehgal zeigt. Der Künstler, der als Sohn eines indischen Vaters und einer deutschen Mutter in London geboren wurde gehört nach seiner Venedig-Biennale-Präsentation zu einem der renommiertesten Vertreter Berlins. Er wuchs nach Stationen in Großbritannien und Frankreich in der Nähe von Stuttgart auf. Berlin bot eine Kontrastfolie zu der eher mittelständischen Gegend im Schwäbischen: „Ich war eigentlich nicht so an Kunst interessiert, meine Frage war: ‚Wie kann man andere Lösungen entwickeln, als für die Produktion von Gegenständen?‘ Tanz war eine Lösung. Das hört sich zwar schräg an, aber Tanz war eine ganz politische Lösung, denn wenn man mit Tanz beschäftigt ist, dann produziert man etwas, gleichzeitig aber auch nicht. Das ist diese Gleichzeitigkeit von Produktion und Deproduktion. Dann habe ich in der gleichen Woche in Berlin begonnen, Tanz zu machen und VWL zu studieren. Also mein Problem auf der praktischen und theoretischen Ebene anzugehen. Berlin war ganz klassisch für mich – ich war durch meine Eltern oder mein soziales Umfeld überhaupt nicht in Kontakt mit so einem Milieu – und dann habe ich gedacht: ‚so, ich gehe jetzt nach Berlin und dann finde ich es heraus, wie man es macht.‘ […] Ich bekam eine Zusage für das VWL-Studium in Münster und Berlin, da habe ich mich für Berlin entschieden, um das herauszufinden, was mich auf der kulturellen Ebene interessierte. So bin ich hierher gekommen.“ (Interview mit Tino Sehgal, Herbst 2005)

Aus einer Managerfamilie stammend, war Berlin für ihn Ausdruck eines unabhängigen und freien Lebens. So auch bei Arturo Herrera, der 1959 in Caracas (Venezuela) geboren wurde und seinem älteren Bruder nach Tulsa in Oklahoma für ein Studium folgte. Nachdem er dort

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1982 seinen BFA beendet hatte, wollte er die USA für Berlin verlassen. Doch aufgrund von Visaproblemen wurde ihm ein langfristiger Aufenthalt verwehrt. Erst nachdem er von Chicago nach New York kam, wurde er vom DAAD offiziell nach Deutschland eingeladen und blieb. Damals in Oklahoma sei Berlin für ihn der Inbegriff der freien und liberalen Stadt gewesen, wie er mir in unserem Interview erzählt: „At that time I wanted to get as far as possible from Oklahoma so I thought the most farest point is Berlin. […] Oklahoma is very conservative. [It] is in the middle of the US and you live very close and included in this university. So I thought: You need to have to get away from here and move to Berlin because it would have been a drastic change of languages and of the political situation. So I wanted to make the strongest break possible.“ (Arturo Herrera 2006)

Viele Künstler illustrieren die Atmosphäre von Berlin durch Attribute wie Offenheit, Experimentierfreudigkeit und alternative Lebensformen. Dies wird in Passagen deutlich, in denen andere Städte zum Vergleich herangezogen werden. Tino Sehgal beschreibt dies etwa anhand des Ruhrgebiets, wo er kurz studierte: „Damals war ich schon zu sehr in einem ‚Berlin-Film‘. Das ist hier Großstadt und Alternativkultur, Lebensformen und Lebensgestaltung, Herumexperimentieren. Dann kommst du da in Westdeutschland an, wo dir die Konventionen entgegenbrüllen. Essen war richtig runter gewirtschaftet. Wenn man da am Bahnhof ausstieg, war man geschockt von den ganzen kaputten Leuten. Das was mich immer an Berlin interessiert hat, ist diese Kreuzberg-, Westberlin-, nicht-zum-Wehrdienst-gehen-müssen-Kultur. Die Gesellschaft ist hier viel weiter. Es ist viel schwieriger in Berlin heraus zu fallen Anfang der 90er war es fast unmöglich. Ich hatte viele Freunde, wo es vollkommen egal war, ob sie arbeiteten oder nicht. Die Frage erübrigte sich irgendwie, weil hier eh alles so billig war und man machte einfach so Dinge. Das war mir schon immer sehr sympathisch, denn in den meisten Beschäftigungsverhältnissen wird ja nichts produziert, sondern Beschäftigung konsumiert und deswegen fand ich das sympathisch. Obwohl ich das damals so noch nicht hätte formulieren können.“ (Tino Sehgal 2006)

Auch Rirkrit Tiravanija beschreibt die Stadt in ähnlichen Worten, wenn er in unserem Email-Interview schreibt:

90 | K UNST BAUT STADT „Berlin is the alternative market in production and community, the life style as well. The structure/infrastructure is slowly rising in Berlin. With the advent of the berlin biennale, Berlin has become an alternative centre. Since artists and the arts community are often migrating in relation to economic conditions, Berlin has been the alternative centre for artists from both Europe as well as globally. The DAAD program, which brings international artists into residency in Berlin, has also been a big factor in the exposure of the city. Perceptually, Berlin also has the younger scene and hence its attractiveness as a city of alternatives.“ (Interview Rirkrit Tiravanija 2006)

Diese oftmals zitierte Offenheit variiert je nach sozialen Faktoren. So beklagen jüngere Künstler fehlende Projekträume, die auch weniger etablierten Produzenten eine Chance für eine Ausstellung geben. Viele Museen und Kunstvereine streben hingegen ein internationales Programm an, das die vor Ort lebenden Künstlerinnen und Künstler ausblendet. Während Anfang und Mitte der Neunzigerjahre experimentelle Orte dominierten, steigt der Internationalisierungsdruck auf Ausstellungsstationen. Viele Künstler der ersten und zweiten Nachwendegeneration entscheiden sich dabei nur für eine bedingte Zeit, in der Stadt zu leben. Oftmals verbringen sie ihre Ein- und Aufstiegsphase in der Stadt, um aufgrund familiärer Gründe oder besserer institutioneller und akademischer Infrastrukturen in andere Städte weiterzuziehen.

Multilokales Produzieren aus Berlin Häufig können insbesondere diejenigen von ihrer Kunst leben, die weltweit mit unterschiedlichen Galerien zusammenarbeiten. Das gleiche gilt für internationale Ausstellungspräsentationen: Aufwendige Installationen im Ausland bedürfen einer flexiblen Logistik. John Bock baut die architektonischen Bestandteile seiner Installation vor Ort. Davor muss er mit seinem Filmteam die dazugehörigen Dreharbeiten bereits Monate zuvor in Berlin produzieren. Frank Nitsche wird von Galerien in Berlin, London, New York und Paris vertreten. Diese verzweigte Distributionsstrategie ist auch bei Arturo Herrera’s Praxis sichtbar, wenn er neben seiner Galerie in New York ebenfalls mit einer in Spanien und Berlin kollaboriert. Wenngleich viele Berliner Künstler mit einer Hauptvertretung beginnen, entwickeln sie zunehmend ein dezentrales Distributionsnetzwerk von weltweiten Händlern. Damit

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überlassen sie sich einerseits nicht einem Galeristen, profitieren andererseits auch von anderen Märkten. Nur mit einem oftmals dezentralen multilokalen Netzwerk können Berliner Künstler auch ökonomisch von ihrer Kunst leben, denn hier sind zwar die Produktionsbedingungen gut, der Markt ist jedoch lange noch nicht so dynamisch wie in London oder New York. Sie müssen ihr ökonomisches und symbolisches Kapital über ein de-lokales Netzwerk akquirieren. Als Ort der Produktion wird Berlin damit durch vielfältige Beziehungen und Verträge mit Akteuren außerhalb der Stadt und des Landes verbunden. Die Produktionsbedingungen werden letztlich zu einem großen Teil auch von außen beeinflusst.

Fazit – Der Kunstbetrieb in Berlin Berlin stellt sich als eine Stadt dar, die in den letzten 15 Jahren eine rasante Entwicklung im Kunstbetrieb vollzogen hat. Gleichzeitig müssen die Bedingungen der jeweiligen Subfelder unterschiedlich bewertet werden: Während der Galeriebereich sich zwar als der größte in Europa darstellt, dominieren die Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmungen und die Umsätze können bislang nicht mit denjenigen in London und New York mithalten. Das institutionelle Feld kann ebenfalls nicht die gleiche Stärke aufweisen: Nach einer Abbau- und Konsolidierungsphase im Zuge der Doppelstruktur von Ost- und Westberliner Institutionen, folgte eine verhaltene Neugründungsphase. Insbesondere die Insolvenz der Berliner Landesbank riss ein erhebliches Loch in den Senatsetat, sodass die landeseigenen Institutionen wie das KW Institute for Contemporary Art, die Kunstvereine nbk und ngbk sowie die Berlinische Galerie unter knappen finanziellen Bedingungen operieren müssen. Besser steht es um die von der Kulturstiftung des Bundes finanzierte berlin biennale sowie den zum Preußischen Kulturbesitz gehörenden Hamburger Bahnhof. Für die temporäre Kunsthalle stellte der Senat das prominente Grundstück für zwei Jahre zur Verfügung. Der Bau des temporären Gebäudes vom Architekten Adolf Krischanitz wurde von der Stiftung Zukunft Berlin e.V. finanziert, die laufenden Betriebskosten müssen über die Eintrittspreise sowie private Sponsoren und Geldgeber gedeckt werden. Die große Stärke Berlins liegt insbesondere im Bereich der künstlerischen Produktion. Die ehemals geteilte Stadt konnte durch den

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sukzessiven Zuzug von Künstlern und durch die hohe Imaginationskraft als Metropole der Alternativen eine kritische Masse für die Szene herstellen. Mittlerweile hinterfragt niemand mehr, sei es lokal oder international, die herausragende Position der Spreemetropole für die Produktion. Diese Entwicklung wurde jedoch nicht nur durch die Raumkapazitäten und Mietpreise angestoßen, sondern Berlins Ausstrahlung als Szenestadt wirkt als imaginäre Antriebskraft für den Zuzug von Produzenten, Kritikern und Galeristen. Die Rolle von Szenezusammenhängen ist dabei nicht zu unterschätzen. Letztlich würde niemand in die Stadt ziehen, wenn sie nur den einzigen Vorteil besitzen würde, dass sie kostengünstiger ist. Denn möchten Künstler hier leben, streben sie oftmals ein multilokales Distributionsnetz mit internationalen Galerien an.

5. Delirious New York – Feldforschung unter Zeitdruck

Abbildung 13: Skyline von New York City Quelle: Christine Nippe

Abbildung 14: Die Straßen von New York City Quelle: Christine Nippe

Abbildung 15: Die Straßen von New York City Quelle: Christine Nippe

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Rem Koolhaas mag nicht der Einzige gewesen sein, der mit seinem Architekturpamphlet Delirious New York von 1967 auf die Faszinationskraft Manhattans setzte. In seinem Buch verbinden er und seine Koautoren die Analyse der Stadtstruktur mit Zeichnungen und fiktiven Fragmenten. Sie nutzten den Mythos, um an ihrem eigenen Kult zu arbeiten. Auch im Klassiker der Ethnologie, in Claude Lévi-Strauss’ Traurige Tropen, durfte die New York Hymne nicht fehlen. Seine Beschreibung knüpft an die Bewunderung der ersten Wolkenkratzer an: „Die Schönheit von New York beruht also nicht auf seinem städtischen Charakter, sondern darauf, daß sich diese Stadt – was unser Auge unweigerlich erkennt, sobald wir uns nicht mehr dagegen sperren – in eine künstliche Landschaft verwandelt, in der die Prinzipien des Urbanismus nicht mehr gelten: die einzigen signifikanten Werte sind das samtene Licht, die durchsichtige Zartheit der Fernen, die erhabenen Abgründe zwischen den Wolkenkratzern und die schattigen Täler, die mit bunten Automobilen übersät sind wie mit Blumen.“ (Lévi-Strauss Originalausgabe 1955, hier 1999: 70)

Auch mein Forschungsvorhaben ist nicht frei von diesem Mythos. Auch auf die Gefahr hin, in eine der klassischen Erzählmuster der Ethnologie zu verfallen: Ich kam für meinen Aufenthalt das erste Mal in die Stadt und war angesichts der mir fremden Umgebung durchaus eingeschüchtert. Der Blick in die schmalen, verdunkelten Querstraßen und hinein in die sonnendurchfluteten Avenues mit den US-Flaggen an den Fassaden oder dem aus Asphaltspalten zischendem Dampf hatte ich zwar bereits im Film gesehen, doch war ich angesichts der Massivität der Architektur unsicher: Wie sollte ich mir diese riesige Stadt erschließen, geschweige denn in weniger als sieben Monaten Einblicke in den Kunstbetrieb gewinnen?

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Abbildung 16: Chinatown in New York City

Quelle: Christine Nippe

Im Gegensatz zu den noch immer allgegenwärtigen, ethnologischen Vorbildern Lévi-Strauss, Malinowski oder Geertz musste ich mich allerdings nicht nur durch eine dünne Zeltwand geschützt ‚der Fremde‘ aussetzen. Meine Basis schlug ich in einem Zimmer zur Untermiete in der Upper Eastside sowie der kunstwissenschaftlichen Bibliothek der Columbia University auf. Nicht ungünstige Orte, um eine Feldforschung im hierarchischen New Yorker Kunstbetrieb zu beginnen, wie mir erst später bewusst wurde. Während der ersten Tage erkundete ich meine Umgebung. Ich beobachtete die livrierten Portiers im Eingangsbereich der luxuriösen Hochhäuser, Dogwalker führten große und kleine Hunde aus, während die Geschäftsfrauen im schnellen Stöckelschritt zur Arbeit hasteten. Später erweiterte ich meinen Radius und wanderte durch die Farb- und Geruchslandschaften von China Town, verweilte im eher europäisch wirkenden Greenwich Village oder bestaunte die Imposanz der Grand Central Station in Midtown. Ich installierte meinen Arbeitsplatz, schrieb mich in Seminare ein und knüpfte erste Kontakte zu Doktoranden. Die Basis war geschaffen, um mit der Forschung zu beginnen.

5.1 E INSTIEG IN

DIE

S ZENE ( N )

Während der Kunstmesse Armory Show sollte der erste ‚Feldkontakt‘ gewagt werden. Mit einer Presseakkreditierung bewaffnet, zog ich los, um Galeristen anzusprechen. Mein erstes Interview führte ich mit

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Kathelijn de Bakker, Direktorin der Armory Show und folglich eine der wichtigsten Akteurinnen im New Yorker Kunstmarkt. Wir trafen uns bei großer Lautstärke in einem American Diner an der 9th Avenue nahe Chelsea. Sie erzählte mir vom Umzug dorthin und berichtete, wie sie von MTV kommend, die Messe mit einem VIP-Begleitprogramm neu positionierte. Die nächsten zwei Monate waren davon bestimmt, in den Büros der Galerien unterschiedlichste Persönlichkeiten zu treffen. Die ersten Interviews galten weniger dem Zentrum meiner Forschung, den Künstlern und ihren städtischen Praxen, sondern waren eher eine Methode, um die Struktur und Logik des lokalen Kunstbetriebs auszuloten und erste Hierarchien im sozialen Raum auszumachen. Ich traf etwa einen der ersten Galeristen, der von SoHo nach Chelsea zog, Paul Morris. Er wird noch immer als Pionier für die Gründung des Viertels in der ehemaligen Hafengegend bezeichnet. Darauf erzählte mir die junge Galeristin Melissa Bent von Rivington Arms, davon, wie sie zusammen mit der Tochter des berühmten Malers Brice Marden ihre Galerie im East Village gründete. Damals hatten sie ihre Räume unlängst des im Bau befindlichen New Museums in einem eigens gekauften Galerie- und Wohnhaus an der Bowery eröffnet. Heute haben sich die beiden Geschäftspartnerinnen allerdings bereits wieder getrennt. Den deutschen Galeristen und häufigen Berlin-Besucher André Schlechtriehm traf ich in seinen temporären Räumen in Chelsea. Er berichtete von Kooperationen mit der Galerie Neu aus Berlin und von der Unterstützung durch eine der wichtigsten Schlüsselfiguren in New York, David Zwirner. Außerdem sprach ich mit dem Galeristen Anton Kern, der nur auf meine Nachfrage hin erzählte, dass er der Sohn des Malers Georg Baselitz ist. Ferner gehörten zu meinen Interviewpartnerinnen die Direktorin der besagten David Zwirner Galerie sowie der Grande Dame des New Yorker Kunstbetriebs, Marian Goodman, die ich in ihren großzügigen Räumen in Midtown besuchte. Die Galeristen berichteten davon, wie sie nach New York kamen und wie sich der Galerienbetrieb strukturiert. Nebenbei fielen die wichtigsten Namen. Langsam wurden Konturen der (Macht-)Topografie im lokalen Kunstbetrieb sichtbar. In der Retrospektive gestalteten sich die Interviews mit den Künstlern auch eher wie eine verschlungene Kette von Gesprächen. Bereits während meiner ersten Forschungsphase sammelte ich über Freunde, einen Professor sowie über die Kuratoren des Queens Museums, mit

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denen ich seit Mai 2006 am Ausstellungsprojekt New York State of Mind für das Haus der Kulturen der Welt in Berlin arbeitete, Ideen und Adressen. Dabei wurde deutlich, dass Galeristen meist weniger hilfreich für die Kontaktaufnahme zu Künstlern sind, sondern dass befreundete Kunsthistoriker und Kuratoren offener waren.39 Parallel dazu besuchte ich viele Ausstellungen, Tagungen und Diskussionsrunden. Zum Abschluss meines Aufenthaltes, nachdem ich die Künstlerinterviews beinah beendet hatte, gelang es mir, weitere Akteure aus dem Museums- und Ausstellungsbereich zu treffen. Ich sprach mit Christian Rattemeyer, damaliger Direktor des Artist Space, der Kuratorin des Whitney Museums und der Biennale 2006, Chrissie Iles, dem ehemaligen Direktor des P.S.1, Brett Littman, der MoMA-Kuratorin, Feresteh Daftari, sowie der sich im Ruhestand befindenden Direktorin des Studio Museums in Harlem, Lowery Sims. Besonders meine Gesprächspartner aus dem kuratorischen Bereich zeigten sich als offene und enthusiastische Erzähler. Bei vielen war ein großes Interesse an Berlin spürbar. Begeistert berichteten sie mir von ihren Beobachtungen und verglichen die beiden Städte miteinander. Chrissie Iles erweiterte gar ihre New Yorker Mental Map um eine Berlin-Karte und zeichnete ihre lokalen Routen auf. Eine auf sieben Monate begrenzte Feldforschung in New York kommt einem Ausloten unterschiedlichster Ausschnitte des Kunstbetriebs gleich, zumal mein Forschungsfokus auf den stadtbezogenen Arbeiten ausgewählter Künstler liegt. Dennoch ergibt sich aus den Kontextinterviews und -gesprächen ein Netz aus institutionellen Logiken, Szenezusammenhängen und Atelieragglomerationen. Eine solch zeitlich befristete Forschung besitzt den Vorteil, den Fokus auf die wichtigsten Konstellationen richten zu müssen. Bei meinen Interviewpartnern wählte ich Schlüsselakteure aus den drei Sphären der Kunstbetriebslandschaft aus. Ich zeige anhand meiner Selektion von Orten und Institutionen, die wichtigsten Bedingungen im New Yorker Betrieb. Damit wird die Organisiertheit der unterschiedlichen Bereiche

39 Einzige Ausnahme war die Marian Goodman Gallery, die mir großzügig die Kontakte zu Dan Graham, Anri Sala und Tacita Dean gab. An dieser Stelle ebenfalls herzlichen Dank an Berry Bergdoll, Tom Finkelpearl, Hitomi Iwasaki, Mariani Lefas-Tenes, Eleanor Morack, Valerie Smith und Dr. Petrus von Schaersberg.

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Markt, Institution und Produktion deutlich, um neben der Faszination auch die lokalen Untiefen zu skizzieren.

5.2 W ILLIAMSBURG IST NICHT C HELSEA. Z UR INNERSTÄDTISCHEN K ARTIERUNG DER G ALERIEN Beginnen wir mit einem der städtischen Zentren New Yorks, mit dem Galerienviertel Chelsea im westlichen Teil Manhattans. Das Gebiet erstreckt sich über knapp 20 Straßenzüge zwischen der West 17th und West 29th Street und der 9th und 12th Avenue. In diesem ehemaligen hafennahen, industriellen Viertel mit Lagerräumen, Werkstätten und Autogaragen siedeln sich seit 1998 die Galerien an. Heute sind hier mehr als 269 Dependancen zu finden.40 So genannte Blue Chip Galerien, also wirtschaftlich erfolgreiche Händler, wie Gagosian, Paula Cooper, Metro Pictures, Matthew Marks, Pace Wildenstein, Lutherin Augustine oder David Zwirner41 ebenso wie kleine und mittlere Vertreter, die häufig Räume im zweiten oder dritten Stock der Gebäude bezogen haben, befinden sich hier in nur wenigen Straßenzügen. Ihre Ansiedlung in diesem auf den ersten Blick unwirtlichen Viertel erfolgte hauptsächlich in den Jahren 1998 bis 2005. In dieser Zeitspanne stieg die Anzahl der kommerziellen Galerien von 71 auf 239 an. Damit verschob sich die Ballung vom vormaligen Standort SoHo nach Chelsea. Die Anzahl der Galerien in SoHo fiel von der Höchstzahl von 262 im Jahr 1989 auf 56. In ihrem Artikel Lessons from Chelsea. A Study in Contemporary Art zeigen David Halle und Elisabeth Tiso (2005/ 2006) die Hintergründe für diesen dramatischen Wandel. Einerseits weisen die Autoren auf den Kunstmarkt und seine Dominanz hin, andererseits machen sie auf einen unsichtbaren Faktor in der Stadtentwicklung New Yorks aufmerksam: auf die Zoning-Gesetze, die von der Stadtplanung vorgegebenen Nutzungsbestimmungen für einzelne Straßenzüge oder Gebäude. Kurz: die Dynamik des Immobilienmarktes, das Zoning und die Einführung des globalen Galerietypus sind für diesen Wandel ausschlaggebend gewesen. Anhand der Geschichte zei40 Diese Zahl wird alle zwei Monate im Galerienführer The Art in America Gallery Guide for Chelsea aktualisiert (vgl. Halle/Tiso 2005/2006). 41 Halle/Tiso 2005/2006: 3.

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gen sie, wie es zum Wegzug und später zur Konzentration der Galerien in Chelsea kommen konnte.

Die Kommerzialisierung und der Immobilienmarkt Während SoHo aufgrund von Künstlerinitiativen entstand, entwickelte sich Chelsea hauptsächlich aufgrund privater Galerien. Die nichtkommerzielle Dia Foundation löste 1986 den sukzessiven Zuzug aus. 1993 fand die damalige Direktorin Lynne Cooke einen Raum für den Galeriebesitzer Matthew Marks. Er wiederum überzeugte seine Freunde, Pat Hearn und Paul Morris, ihre Galerien von SoHo nach Chelsea zu verlagern. Paul Morris erzählte mir in unserem Interview, dass bereits damals die Mietpreise in SoHo stiegen und viele Galeristen angesichts der monatlichen Fixkosten in Panik gerieten. Chelsea bot hingegen die Chance, sich für eine moderate Summe Eigentum zu sichern. Umziehen schien die einzige Alternative. Parallel dazu wandelte sich die organisatorische Struktur von Galerien. Es entstanden globale Unternehmungen mit einem transatlantischen Handelsnetz von Dependancen, wie etwa Gagosian, Marlborough oder LeLong.42 Die jüngsten Entwicklungen mit Effekt auf Berlin und Beijing sind die Gründung von Projekträumen oder Zweitgalerien im Ausland. In Berlin haben sich Galeristen wie Geoff Rosenthal (New York), Peres Projects (Los Angeles) oder Haunch of Venison (London) angesiedelt. Einen Globalisierungseffekt übt auch die Dynamisierung des Messemarktes aus. Auf den Handelsplätzen Art Basel und Art Basel Miami, Armory Show oder Frieze London werden meist die höchsten Jahresumsätze erzielt. Daraus resultiert eine permanente Mobilität der Galeristen, verknüpft mit dem Druck, die hohen Messekosten durch Verkäufe zu kompensieren. Diese zusätzliche Beschleunigung im Markt durch Zweitgalerien und Messebeteiligungen wurde durch den Immobilienmarkt weiter vorangetrieben: „Indeed, SoHo’s decline and Chelsea’s rise were above all real estate-driven. Rents soared in SoHo from 1995-1999, fuelled by an influx of clothing boutiques and forcing a mass exodus to Chelsea of galleries that could not afford the new rents“ (Halle/Tiso 2005/2006: 5ff.). Die meisten Gale-

42 Gagosian hat zum Beispiel zwei Ableger in Los Angeles, zwei in New York City, zwei in London und ein Büro in Paris.

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risten versuchten, in Reaktion auf die steigenden Mietpreise nun in Chelsea Eigentum zu erwerben. Bei den restlichen Mietern blieb die Angst vor dem 2005 Faktor, dem Jahr, indem ihre zehnjährigen Mietverträge auslaufen sollten. Halle und Tiso’s Interviews zeigen, dass die Galeristen auf die fehlende Infrastruktur an Restaurants und Cafés und damit auf eine langsamere Entwicklung hofften. Zu Beginn befanden sich die Galerien in der Unterzahl zwischen den zahlreichen, kleinindustriellen Firmen und Autogaragen, doch mit dem Zuzug weiterer Kollegen nahm schlagartig auch die Anzahl der Restaurants zu. Die Gefahr des so genannten Outpricing stieg.

Die Macht des Zoning Ein einflussreicher städtischer Faktor sind die Zoninggesetze, die auch für Chelseas Zukunft bedeutsam wurden. Bis 2006 sollten sich in Chelsea nur Produktionsbetriebe ansiedeln, privater Wohnraum war bislang illegal. „One crucial factor that had (to early 2006) limited the rise of rents in the art gallery area of Chelsea was the fact that zoned as manufacturing; it had no resident population of artists who could give the district a special caché“ (Halle/Tiso 2005/2006: 8). Die beiden Autoren betonen die Rolle der Künstler im Zuge der Aufwertung. Denn viele Immobilienfirmen nutzen einen temporären Zuzug von Kunstproduzenten, um ganze Gebiete strategisch zu entwickeln. Schon nach kurzer Zeit können sich die Künstler das Leben in den zuvor infrastrukturarmen Arealen nicht mehr leisten. Sie verlassen die Gegend, während die Immobilienentwickler die Wohnungen meistbietend verkaufen (aktuell etwa in dem Gebiet Dumbo zu beobachten). Ebenso wie in SoHo war Chelsea als M1-5-Gebiet ausschließlich für Leichtindustrie und Gewerberäume bestimmt. Doch im Unterschied zu SoHo kam Chelsea nie in den Sog der Mietpreisreduzierung, wie es im Zuge der Planungen für den Lower Manhattan Expressway in SoHo geschah. Sogar zu Beginn konnten sich deswegen nur wenige Künstler leisten, in Chelsea (illegal) zu wohnen. Weder konnten sie hier die Mieten zahlen, noch konnten unter der existierenden M1-5 Bestimmung Entwickler Apartmenthäuser bauen. Unter diesen Rahmenbedingungen erhielt Chelsea einen profitablen Status für die Galeristen. Die Modeboutiquen hatten SoHo übernommen, während die Galerien nach Chelsea abwanderten. Die Zoning-Gesetzgebung hatte hier für

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sie noch eine Nische im aggressiven Immobilienmarkt Manhattans übrig gelassen. Ein neuer innerstädtischer Knotenpunkt des Kunstmarktes entstand. Abbildung 17: Galerienviertel im Herbst 2008. Höherer Umsatz (sattes Orange), umsatzschwächere Viertel (hell markiert)

Upper East Side Galerien

Williamsburg Galerien

Chelsea Galerien East Village Galerien

Dumbo Galerien

Quelle: Christine Nippe

Der neue Standort trug zur Differenzierung des Galerienmarktes bei. Gebiete in der Upper Eastside, Williamsburg, Dumbo und der Lower Eastside gelten als weniger exklusiv. Die Konzentration großer Unternehmungen auf wenige Straßenzüge in Chelsea wurde von meinen Gesprächspartnern häufig als Bedingung eines permanenten Qualitätsund Standortkampfes um „die beste Kunst“ genannt. Die erhöhte Dichte, so die liberalistische Argumentation, befördere die Güte der Kunstobjekte. Obgleich die Galeriengröße nicht alleiniger Maßstab für die Exklusivität des Programms ist und auch mittelgroße Standorte als prestigeträchtige Akteure gehandelt werden: die Größe bleibt meist wichtigstes Kriterium bei der lokalen Klassifizierung der Player. Im Gegensatz zu Berlin, wo auch Galeristen mit kleinen Räumen und mutigem Programm hoch gehandelt werden, ist in New York Raumgröße und ökonomische Potenz gleich bedeutend. Dies mag ebenfalls daran

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liegen, dass Galeristen aus Williamsburg oder Dumbo (Down Under the Manhattan Bridge) – allein aufgrund ihres Viertels – nicht die gleiche Aufmerksamkeit erhalten. Denn implizit werden mit dem Standort auch die ökonomischen und sozialen Parameter verhandelt. Im Immobilienmarkt geben Größe und Ort der Galerie Auskunft über die finanzielle Prosperität des Unternehmens. Und damit ebenfalls, mit welchem Nachdruck die künstlerischen Positionen auf dem globalen Markt gehandelt werden können. Die lokale Struktur in Manhattan bestimmt somit die Positionskämpfe im New Yorker Kunstbetrieb. Künstler einer Galerie aus Chelsea werden automatisch in einer anderen ‚Liga‘ als solche verortet, die von Galeristen aus Dumbo oder Williamsburg vertreten werden. Anhand der Galerien entsteht eine innerstädtische Topografie, die sich über die Künstler und ihre Werke legt.

5.3 K NOTENPUNKTE DER STÄDTISCHEN K UNSTBETRIEBSLANDSCHAFT Neben dem Markt in Chelsea bilden Kunst- und Ausstellungsinstitutionen das zentrale Feld in New York. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden wichtige Museumseinrichtungen, während ein zweiter Schub an Gründungen in den Sechzigerjahren folgte. Außer den großen Häusern wie dem Museum of Modern Art, dem Guggenheim Museum, dem PS.1/MoMA und dem Whitney Museum of American Art erstreckt sich eine Vielfalt von kleineren und mittleren Räumen über Manhattan, Long Island City/Queens und Brooklyn. So hat sich etwa in Long Island City eine eigene Ausstellungslandschaft rund um die ehemalige öffentliche Schule PS.1 etabliert. In der Bronx, Brooklyn und Queens können städtische Museen besucht werden. Darüber hinaus sind Künstler mit ihren eigens gegründeten Initiativen wie The Orchard, Sixteen Beaver Group oder dem South Asian Collective aktiv. Auch von privaten Stiftern geförderte Institutionen, wie das Dia in Chelsea (initiiert durch die De Menil Familie), das Fisher Landau Center for Art (der gleichnamigen Stifterin) oder das Noguchi Sculpture Center (aus dem Nachlass des Künstlers) sind in New York zu finden. Außerdem gründeten sich seit den Sechzigerjahren in Reaktion auf die dominante weiße Ausstellungspolitik ebenfalls das Studio Museum in Harlem, das Bronx Museum, das Museo del Bario oder die Asia Socie-

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ty (Ault 2002, Lippard 2002). Sie zeigen Arbeiten von Minoritäten, wie etwa von schwarzen, lateinamerikanischen oder asiatischen Künstlern. Bei meiner Auswahl habe ich mich auf zwei Institutionen in New York fokussiert: das Museum of Modern Art und das New Museum, da anhand dieser zwei großen Häuser übergeordnete institutionelle Herausforderungen für Ausstellungshäuser deutlich werden.

Das neue MoMA in Midtown Das Museum of Modern Art dürfte eines der bekanntesten Museen weltweit sein. 1929 von Lillie P. Bliss, Cornelius J. Sullivan und Abby Aldrich Rockefeller als kleine Institution gegründet, erhielt es mit Alfred H. Barr, Jr. seinen ersten Direktor. 1939 bezog das Museum of Modern Art das Gebäude in Midtown Manhattan. Von Beginn an stand es mit dem Metropolitan Museum in einem harten Profilierungskampf. Der französische Kunsthistoriker Serge Guilbaut beschreibt in seinem Buch How New York Stole the Idea of Modern Art (1983/ 1997), wie sich das Museum nach dem Zweiten Weltkrieg gegen seinen Konkurrenten absetzen musste. Indem es die naiven Künstler in der Neuen Welt ausfindig machen wollte, sollte es ein Bild der amerikanischen Kultur von Kontinuität und Direktheit transportieren: „Zum Unglück aller, die eine wohldefinierte ästhetische Linie wünschten, entschieden sich die Mitglieder des ‚inner circle‘ (Guggenheim, Barr, Soby, Sweeney, Greenberg u.a.) auf ihrer Suche nach einem ‚kohärenten‘ Bild, das den neuen amerikanischen Geschmack repräsentieren sollte, scheinbar für das Chaos. Dieses Chaos hatte einen Namen: Jackson Pollock.“ (Guilbaut 1997: 111)

Mit dem Action Painter hatte der Kreis einen Künstler gefunden, der die perfekte Synthese zwischen den widerstreitenden damaligen Richtungen vereinte. Er war der einzige moderne Maler, dem alle Seiten gewogen waren. Außerdem verkörperte seine Kunst den amerikanischen Wunsch nach Individualität. Vor dem Hintergrund der prosperierenden amerikanischen Nachkriegsgesellschaft, also den herrschenden Distinktionskämpfen zwischen ‚altem‘ und ‚neuem‘ Geld, dem Kalten Krieg und dem Bedarf, Kunst als Symbol für die amerikanischen, freiheitlichen Werte in der Außenpolitik einzusetzen, spielte das

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MoMA eine wichtige Rolle für den Abstrakten Expressionismus. Die Rockefeller Foundation, schon von Beginn an durch das Gründungsmitglied Abby Aldrich Rockefeller aufs Engste mit dem Museum verbunden, schickte die Expressionisten auf ihre internationale Reise, um die Fortschrittlichkeit der amerikanischen Politik zu unterstreichen. Gleichzeitig begann das Museum im großen Stil ihre Werke zu sammeln. Heute befinden sich neben der Sammlung Abstrakter Expressionisten häufig die zentralen Archivbestände emigrierter europäischer Künstler und Architekten in New York.43 Neben der aktiven Rolle, die das MoMA in der Kanonisierung der amerikanischen Kunst spielte, konnte es eine der weltweit wichtigsten Sammlungen moderner und zeitgenössischer Werke aufbauen. Für viele Künstler ist ein MoMAAnkauf noch immer ein bedeutsames Ereignis, auch wenn viele Arbeiten nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden, da die Sammlungsbestände so groß sind.

Die Erweiterung des MoMA in Midtown Nach Errichtung des Neubaus, der den aufsehenerregenden Zwischenstop MoMA in Berlin von Februar bis September 2004 ermöglichte, öffnete das Museum am 8. November 2004 seine Türen. 25 000 Gäste strömten in den ersten eintrittsfreien Tagen in die Räume (Bernau 2005: 14). Möglicherweise auch, weil die Eintrittskarten später von 12 auf 20 Dollar erhöht wurden. Sponsoren hatten 858 Millionen Dollar für das Projekt zusammengebracht, von denen mehr als die Hälfte für den Grundstückskauf investiert wurden (Bernau 2005: 14). Der Neubau gewährte neben dem Verkauf der Lufthoheitsrechte oberhalb des letzten Museumstockwerks für Luxuslofts erweiterte Ausstellungsflächen für die Bestände von Architektur, Design, Fotografie und Medienkunst. Daneben zeigt das Museum seine große Sammlung in einem eher klassisch angelegten „Gang durch die Moderne“.44 Neben dieser

43 Etwa die gesamten Bürobestände Mies van der Rohes, die Dokumente zu Lilly Reich, Kubismus und Abstrakter Kunst, die Duchamp Vorlesungen, Fotografien vieler Berühmtheiten sowie die Nachlässe weiterer zentraler Künstler, Architekten und Designer. 44 „[…] trotz aller Abstraktion warme, freundliche Architektur wird auch in der Ausstellung der Kunstwerke das inzwischen aus jedem Schulbuch ge-

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kunsthistorischen Tradierung einer klassischen, modernen Narration, hat das Museum auch für die zeitgenössische Kunst eine wichtige Position inne. Die aktive Sammlungstätigkeit der unterschiedlichen Abteilungen Malerei/Zeichnung, Skulptur, Fotografie, Media, Architektur, Design etc. kanonisiert auch zeitgenössische Kunst. Im MoMA spielen neben den Sponsorengeldern großer Unternehmen (aktuell wird dies durch das Wegbrechen der zugesprochenen Summen des bankrotten Bankhauses Merryl Lynch sehr deutlich) private Trustees als Berater der einzelnen Abteilungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Sie nehmen durch Ankäufe aktiven Einfluss auf die Sammlungs- und Ausstellungspolitik des Museums. Neben der Sammlung und dem Ausstellungsprogramm sind die MoMA-Talks ein wichtiges Instrument, um sich in den Diskurs einzumischen. Insbesondere die Veranstaltungen mit aufwendig kuratierten Diskussionsrunden (Worldart I Artworld 2006 mit Wu Hung), Künstlertalks (etwa im Rahmen von Feresteh Daftaris Without Boundaries 2006) oder Filmscreenings, die ich während meines Aufenthalts besuchte, sind ein erfolgreiches Instrument in der globalen Diskurs- und Bedeutungsproduktion im Kunstbetrieb. Sie strahlen über New York und die USA hinaus.

wohnte Bild der Moderne bestätigt. Jeder Raum ist einem der vielen ‚Ismen’ des vergangenen Jahrhunderts oder ihren kunsthistorischen Verflechtungen gewidmet […] Diese konventionelle Erzählung der Moderne ist bereits im Vorfeld der Eröffnung des MoMA scharf kritisiert worden. […] Schärfer als die Kritik am gewohnten Bild wiegt […] der Einwand, daß auch die neue Ausstellung wieder das Bild der modernen Kunst als einer vor allem weißen, männlichen, westeuropäisch-nordamerikanischen Angelegenheit bestätigt. Von Munch einmal abgesehen, fehlt schon der europäische Norden, der Osten ist bis auf die russische Avantgarde nicht existent, ebenso wenig Asien. […] Und die kleinen Gemälde Jacob Lawrences über das Schicksal der Sklaven betont eher noch die langjährige Ignoranz des MoMA gegenüber der afroamerikanischen Kunst“ (Bernau 2005: 14).

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The New Museum – Vom Alternativmodell zum schmucken White Cube Abbildung 18: Neue Architektur des New Museum Quelle: The New Museum

Eine weitere Ausstellungsinstitution, die durch ihren Neubau an der Bowery in das Zentrum der Öffentlichkeit rückte, ist das New Museum. Im Jahre 1977 war das TNM (The New Museum) von Maria Tucker als alternativen Raum für die bislang unterrepräsentierte aktuelle Kunst gegründet worden. Tucker, die als ehemalige WhitneyKuratorin viele Ausstellungen betreut hatte, kritisierte an den existierenden Institutionen, dass sie die lebenden Positionen negierten. Sie gründete den Raum als ein „exhibition, information, and documentation center for contemporary art – focusing on living artists and the work they make – work that does not yet have wide public exposure or critical acceptance“ (Ault 2002: 49). Ihre Initiative kann als Teil einer aktiven, selbstorganisierten Szene von Kuratoren, Kritikern und Künstlern gesehen werden, die insbesondere in New York City prägend war. Viele von ihnen schufen eigene Ausstellungsorganisationen, die sich deutlich von den etablierten unterschieden, indem sie von soziopolitischen Erwägungen geleitet waren (Frank 1992). Das von Tucker entwickelte Museum sollte angelehnt am deutschen Modell der Kunsthalle eine Zwischenposition zwischen den wenig historisch orientierten alternativen Räumen und den großen Museen einnehmen. Es begann sein öffentliches Programm im Graduate Center der New School for Social Research, später zog es in einen größeren Raum am Broadway in SoHo. Damit gehörte es in den Siebzigern zur zweiten Generation solcher Konzepte: „zum ersten Mal boten alternative Räume Alternativen zu alternativen Räumen!“ (Frank

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1992: 137). 45 Neben den selbstorganisierten Künstlerinitiativen und Salonformaten zu Anfang des Jahrhunderts setzte ab den Sechzigerjahren ein Gründungsboom von kritischen Räumen in New York ein (Ault 2002). Dabei entstanden die neuen Programmatiken meist aus Protest an existierenden Ausstellungspolitiken, die bis in die späten Siebzigerjahre hinein schwarze Künstler und Frauen aus der amerikanischen Kunstgeschichte ausklammerten. 46 Oftmals waren Frauen an

45 Bereits Anfang des Jahrhunderts wurden neue Formen entwickelt, die sich gegenüber den Institutionen positionierten, wie etwa die salonähnlichen Gruppen aus der New Yorker Bohemien-Szene. Zu nennen sind hier Gertrude Vanderbilt Whitneys „Studio Club“, der wiederum 1931 zur Gründung des Whitney Museums führte, oder die Armory Show von 1913, die im Arsenal des 69. Regiments in Manhattan gezeigt wurde. Sie machte die amerikanische Öffentlichkeit mit der Idee der Avantgarde – etwa mit den Arbeiten von Marcel Duchamp und anderen – bekannt (Frank 1992: 137ff.). 46 So formierte sich etwa aus Protest an der Whintey Ausstellung The 1930s: Painting and Sculpture in America (in der keine einzige Arbeit eines schwarzen Künstlers zu sehen war) die Gründung der Black Emergency Cultural Coalition. Unter Henri Ghents kuratorischer Leitung organisierte die dreißigköpfige Gruppe eine Ausstellung im Studio Museum in Harlem mit dem Titel Invisible Artists: 1930. Doch auch die im Jahre 1969 folgende Ausstellung Harlem on My Mind im Metropolitan Museum of Art negierte die Beteiligung schwarzer Künstler an der amerikanischen Kunstgeschichte. Aus dieser Situation der Ignoranz heraus entwickelte sich ein Konsortium, das bereits 1968 das Studio Museum Harlem gründete. Es sollte eine Infrastruktur für Künstler aus dem Viertel bereitstellen, Arbeiten schwarzer Produzenten präsentieren und ein anziehendes Programm für die Bewohnerschaft entwickeln. Weitere Alternativen formierten sich mit der Art Workers’ Coalition (1969), El Museo del Barrio (1969), Guerilla Art Action Group (1969) sowie mehren feministischen Gruppierungen, die ähnlich wie die schwarzen Künstler für mehr Präsenz in den großen Ausstellungshäusern kämpften. Dazu gehörten Women Artists in Revolution (1969) mit dem Ansatz „Museums should encourage female artists to overcome the centuries of damage done to the image of the female as an artist“ (Ault 2002: 28), Women’s Interart Centre (1969-70), Ad Hoc Women Artist’s Committee (1970) oder das Women Students and Artists for Black Art Liberation (1970).

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der Gründung dieser alternativen Räume beteiligt und in mehreren Organisationen und Netzwerken gleichzeitig aktiv. Auch Marcia Tucker vom New Museum hatte bereits zu ihren Whitney-Zeiten beim AWC und der frühen Frauengruppe Redstockings mitgewirkt. Sie verwehrte sich gegen den Terminus Feminist Art und wollte die herrschenden museologischen Autoritäten aufbrechen: „In museum culture“, so Tucker in einem Interview, „feminism never penetrated the actual structure of the organization“ (Carson 2002: 141). Sie achtete darauf, in ihrer Administration Frauen zu involvieren und erprobte teamgeleitete Formen des Kuratierens. Daraus resultierte ein eher forschender Ansatz des Ausstellens, der dem Museum am Broadway einen wichtigen Platz im organisationalen Feld New Yorks bescherte. Neben der Ausstellung Bad Paintings und der vom feministischen Heresis Kollektiv kuratierten Show Mothers, Mugs and Movie Stars: Feminism and Class,47 folgte die Ausstellung Difference: On Representation and Sexuality (1984), in der Ansätze von Lacan und Barthes Eingang in die kritische Auseinandersetzung mit der visuellen, weiblichen Kultur fanden. Wichtige Stationen des Museums waren auch die stadtbezogenen Ausstellungen Urban Encounters (1998) und East Village USA (2004). 48 Sowie die Aufnahme der bis dahin noch nicht etablierten Netzkunst in das Rhizome Archive (2002).

47 Lucy Lippard schrieb dazu: „Mothers, Mags and Movie Stars […was] a way of getting to know each other better and discussing politics and aesthetics more directly, outside of our usual business meeting format. For several months we discussed our own relationship to our mothers in terms of feminism and class.“ (Zitiert nach Carson 2002: 142). 48 Während Urban Encounters unter anderem anhand einer nachgebauten Hausbesetzerhütte an die Vertreibung dieser alternativen Szenen aus dem East Village erinnerte, widmete sich die zweite Ausstellung der Geschichte des Viertels. Sie zeigte die Durchmischungen von Musik, Kunst und Graffiti im East Village (siehe Pressemitteilung „East Village USA“ im Archiv des New Museum http://www.newmuseum.org/more_exh_EVUSA.htm abgerufen im April 2006).

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Neuer Standort, neuer Auftritt Im Jahr 2006 begannen schließlich die Bauarbeiten für den 60.000 Quadratmeter großen Neubau an der Bowery. Heute steht das mit einer netzartigen Aluminiumfassade umhüllte und von den Tokioer Architekten Seijima + Nishizawa/SANAA erbaute Gebäude in der Lower Eastside. Bedenkt man die alternative Geschichte der Institution, könnte der Kontrast nicht größer sein: Vom Eingangsbereich bis hin zum eleganten Sky Room ist jedes Detail im Sinne des modernistischen White Cube Konzeptes perfekt designt. Die über das gesamte Gebäude verteilten Plaketten mit den Namen der Geldgeber für Ausstellungshalle, den Fahrstuhl und sogar das Blumenbouquet im Eingangsbereich verdeutlichen das Netz von privaten Geldgebern und Mäzenen. Die ehemals aus einer alternativen Initiative hervorgegangene Institution stellt sich nun als Prototyp für die privatfinanzierte amerikanische Ausstellungsinstitution dar. Wie eine Schmuckschatulle thront es an der ehemals abgerissenen Straße Bowery und strahlt bereits jetzt in Form von Galeriezuzügen und Gentrifizierungswellen in seine Umgebung hinein. Als Folge dieser Dynamiken wird das hauseigene Zeitschriftenprojekt Artists in the Neighborhood vermutlich bald nur wenige Produzenten im anliegenden Viertel aufsuchen und dokumentieren können, denn bereits jetzt sind die Quadratmeterpreise in der Lower Eastside auf bis zu 125 USD hochgeschnellt (vgl. Kröner 2008).

Die New Yorker Museums- und Ausstellungslandschaft – Ein Zwischenfazit In New York ist zwar eine größere Anzahl von Institutionen als in Berlin vorzufinden, gleichzeitig macht sich jedoch die starke Abhängigkeit von privaten Geldgebern und Sponsoren in Krisenzeiten bemerkbar. Während viele Museen aus alternativen Initiativen entstanden und neue programmatische Wege verfolgten, haben sie sich heute zu Unternehmungen gewandelt, die sich aus einem Bündel privater Geldquellen finanzieren. Die Konkurrenz um Publikums- und Fundingzuspruch ist groß. Insbesondere letzteres ist von Börsendynamiken abhängig, da viele Geldgeber aus Steuerersparnisgründen ihre Überschüsse aus Aktien und Immobiliengeschäften an Museen stiften. Für

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New Yorker Kuratoren gehört es daher zu einer der zentralen Aufgaben, die Betreuung der Trustees zu übernehmen. Sie pflegen die Beziehungen zu den privaten Beratergremien, um damit inhaltlich und politisch die Zuwendungen für Ankäufe und Ausstellungsprojekte zu legitimieren. Das heißt also, dass private Spender, Sammler und Unternehmen einen starken Einfluss auf die Ausstellungsprogramme New Yorker Institutionen besitzen. Die Kuratoren und Leiter sind deswegen in zunehmendem Maße von der Industrie abhängig, wie Judith Butler eindrucksvoll anhand des Rücktritts der ehemaligen Direktorin des Drawing Centers, Catherine de Zegher, als Reaktion auf die Debatte um den Einzug des Drawing Centers in den neu gestalteten WorldTrade-Center-Komplex zeigt. Denn obgleich das Drawing Center von einer offiziellen Kommission für den neuen Komplex vorgeschlagen wurde, war die Direktorin dazu gedrängt worden, sich aufgrund eines vermeintlich „antiamerikanischen Ausstellungsprogramms“ und der „Verunglimpfung der Toten vom 11. September“ von ihrem Posten zurückzuziehen. Butler zeigt, wie die privatwirtschaftlichen Geldgeber Einfluss auf politische Entscheidungsträger ausübten. Damit wurde nicht nur eine programmatische Institution blockiert, sondern ebenfalls eine bis dato engagierte Kuratorin zum Rücktritt forciert. Man kann also für den institutionellen Bereich New Yorks zusammenfassen, das hier zwar zahlreichere Institutionen und Kuratorenpositionen vorzufinden sind, die Abhängigkeiten von privatwirtschaftlichen Finanzierungsquellen jedoch auf eine starke Verwobenheit zwischen Institution, Markt, Sammlern und Privatfinanziers schließen lässt.

5.4 P RODUKTION VON AUSSERHALB . D IE ATELIERWANDERUNG NACH B ROOKLYN UND W ILLIAMSBURG Neben dem starken Galerien- und Institutionenfeld leben viele Künstler in New York. Die Studie The Creative Engine vom Center for an Urban Future hielt fest, dass neben 600 kommerziellen Galerien und 2.095 Kunstorganisationen mehr als 150.000 individuelle Künstler in der Stadt arbeiten (Center for an Urban Future 2002: 3). Doch der statistische Überblick soll hier nicht an erster Stelle stehen. Im folgenden Abschnitt zeige ich anhand der Interviews, welche Lebens- und Arbeitsbedingungen die Produzenten für New York skizzieren. Ich traf

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bewusst sehr unterschiedliche Akteure, um heterogene Stimmen zum städtischen Gefüge zu hören. Beeinflusst durch die Debatte um Hierarchien in Kunstbetrieb und -geschichte (vgl. Araeen 1994, Below/von Bismarck 2005, Mosquera 1994) achtete ich darauf, dass auch Produzenten aus Asien und Südamerika (optimalerweise wäre auch Afrika dabei gewesen) berücksichtigt wurden. Tabelle 4: Kontextinterviews mit New Yorker Künstlern Name

Geboren in

Gender

Rina Banerjee Matthew Barney

Indien USA

Weiblich Männlich

John Beech

Großbritannien USA Uruguay

Männlich

Andrea Blum Luis Camnitzer Dan Graham Ellen Harvey

Weiblich Männlich Männlich Weiblich

Ik Joong Kang

USA Großbritannien Südkorea

Kristy Lynn Dulce Pinzón

USA Mexico

Weiblich Weiblich

Walid Raad

Libanon

Männlich

Shazia Sikander

Pakistan

Weiblich

Fred Wilson

USA

Männlich

Männlich

Atelier und Wohnen Brooklyn Meatpacking District + Greenpoint, wohnt in SoHo Brooklyn Greenpoint SoHo Vorort von New York SoHo Williamsburg China Town und Chelsea Williamsburg ICP Infrastruktur und Williamsburg Cooper Union und Brooklyn Financial District und Brooklyn Bushwick Brooklyn und East Village

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Rirkrit Tirvanija 49

Xu Bing Pinar Yolacan

Geboren in Argentinien, thailändisch China Türkei

Männlich

Männlich Weiblich

Nutzt kein Atelier, besitzt jedoch Büro an Columbia University. Brooklyn Greenpoint Williamsburg

Es waren die Künstlerinterviews, die mich in die entlegensten Gebiete der Stadt führten. Während die institutionelle Landschaft vorwiegend in Manhattan und Long Island City angesiedelt ist, findet die künstlerische Produktion hauptsächlich in Brooklyn, Queens und Williamsburg statt. Insbesondere die jüngere Generation findet meist keinen Atelierraum in Manhattan oder Williamsburg, nachdem die Mietpreise in Williamsburg zwischen 2000 bis 2001 um mehr als 100 Prozent stiegen (Center for an Urban Future 2002: 3). Die neuste Tendenz ist, dass die Künstler ihre Ateliers im früheren Schwerindustrieareal in Brooklyn Bushwick installieren. Dort befinden sich alte Hallen, die von findigen Besitzern in Ateliers aufgeteilt werden. Trotz chemischer Altlasten und sozialer Spannungen50 bleibt vielen Künstlern nach ihrem Studienabschluss häufig keine Alternative: sie nehmen lange Fahrzeiten, Umweltverschmutzung und Unsicherheit auf sich. Manche von ihnen teilen sich die Miete mit einem Kollegen. Eine Strategie, die insbesondere weibliche Produzentinnen entwickeln, denn die Wege von den UBahnstationen zum Atelier sind lang und führen durch unwirtliches, einsames Industriegebiet. Abends möchte man hier nicht gern allein durch die Straßen gehen.

49 Rirkrit Tirvanija hat Mitte der Neunzigerjahre lange sowohl in Berlin und New York gelebt. Später lebte er neben seinen nomadischen Kunstprojekten vorwiegend in New York, da er dort den MFA an der Columbia University unterrichtet. Das Jahr 2007 beabsichtigte er vorwiegend in Thailand verbringen, da er zum World Economic Forum ein ortsbezogenes Kunstwerk plante. 50 Die dortige Bevölkerung entwickelt wiederum Ängste vor den Aufwertungsdynamiken durch die Künstlerateliers. Aggressionen sind dabei nicht ausgeschlossen, wie mir Künstlerinnen berichteten.

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Abbildung 19: Atelierwanderung in New York City

Quelle: Christine Nippe

Artist Migration New York oder vom sukzessiven Installieren New Yorker Stadtforscher sprechen von einer neuen Migration, die die ethnische Dynamik der Stadt verändert (Foner 2007: 123ff.). Während Nathan Glazer und Daniel Moynihan in ihrem Buch Beyond the Melting Pot von 1963 die Bewohner New Yorks in fünf Gruppen aufteilten (Juden, Italiener, Iren, Schwarze und Puerto Ricaner), klingt diese Einteilung heute überholt. Laut Nancy Foner geht man gegenwärtig von einer Vierteilung in Weiße, Schwarze, Lateinamerikaner und Asiaten aus (2007). Die New Yorker Soziologin verweist darauf, dass der asiatische und lateinamerikanische Anteil steigt, während derjenige der Weißen zurückgeht. „Im Jahr 2000 machten Weiße nur noch 35 Prozent der Bevölkerung aus – 1970 waren es noch 63 Pro-

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zent gewesen. Der asiatische Anteil stieg in diesem Zeitraum von zwei auf elf Prozent, der lateinamerikanische von 16 auf 27 Prozent und der Anteil der Schwarzen von 19 auf 25 Prozent.“ (Foner 2007: 123) Durch diese veränderte Ethnoscape (Appadurai) modellieren sich zwar die unterschiedlichen Eigen- und Fremdzuschreibungen zwischen den unterschiedlichen Bewohnern New Yorks, gleichzeitig hat die weiße Bevölkerung jedoch, insbesondere was die wenigen Protestanten angeht, oftmals noch immer den höchsten ökonomischen und politischen Einfluss inne. New York besitzt eine der vielfältigsten Bevölkerungen der Welt. Dies schlägt sich auch im Kunstbetrieb nieder. Während in Berlin die Internationalität meist aus dem Zustrom west- und osteuropäischer, amerikanischer, kanadischer sowie weniger asiatischer oder lateinamerikanischer Künstler resultiert, ist das transnationale Spektrum in New York meistens höher. Gleichzeitig stellt sich auch hier noch immer die Frage, welche Künstler Eingang ‚in den Betrieb‘ finden. Die Zugangskriterien sind diffus, die Konkurrenz hoch. Meinen Gesprächen konnte ich entnehmen, dass viele meiner nichtwestlichen Interviewpartner höhere Ausbildungswege absolviert haben als ihre amerikanischen Kollegen. So beendete die pakistanischamerikanische Künstlerin Rina Banerjee ein vollständiges Ingenieursstudium, bevor sie in Yale die Aufnahme ins Art Department wagte. Die in Pakistan geborene Shazia Sikander hatte bereits ihr Studium der Kunst mit einem Fokus auf die traditionelle Miniature Malerei in Lahore absolviert, um nach ihrer Ankunft in den USA nochmals ein Studium an der Rhode Island School of Art zu beginnen. Xu Bing hatte bereits als Professor an der Kunstakademie in Beijing unterrichtet, um sich in der angespannten Situation nach dem Tianmen Massaker von 1989 in den USA wieder als Student einzuschreiben. Oder der im Libanon geborene und christlich erzogene Walid Raad kam im Zuge der Bürgerkriegssituation nach Chicago, um dort später seine Ausbildung mit einem PhD in Visual Culture abzuschließen. In manchen Fällen mag das Zweitstudium eine Strategie sein, um an ein Visum zu gelangen, doch auffällig ist der hohe Ausbildungsgrad vieler Neuamerikaner. Das jeweilige universitäre Umfeld stellt dabei häufig die soziale und kulturelle Basis für die nächsten Schritte her, dazu erzählt Shazia Sikander: „I was aware that the Rhode Island School of Design is next to the Brown University, which is Ivy League. Over there they had a great international body of

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students, an amazing library and resources. So you are in an environment which is one of the best environments America offers and the first few years when you are able to have an access to that environment it is a very strong foundation, I think. So that was essential for me. It allowed me to understand the system; it allowed me to figure out how I could stay for more years eventually. “ (Interview Shazia Sikander 2006)

Die meisten Künstler mit Migrationshintergrund begannen ihren Einstieg in mittelgroßen Städten oder kleineren Universitäten. Erst von dieser Basis aus entwickelten sie Strategien, um in New York leben zu können. Viele von ihnen nahmen eine Zwischenzeit des Pendelns auf sich, wie etwa der venezuelanisch-amerikanische Künstler Arturo Herrera (der jetzt in Berlin lebt). 51 Er wagte sich mit einem Stipendium der Elizabeth Foundation nach New York, um parallel dazu zwei Lehraufträgen in Chicago nachzukommen. Das kontinuierliche Pendeln per Flugzeug schien sich bezahlt zu machen. Es gelang ihm nach zwei Jahren, sich vollständig in New York zu installieren. Bei anderen halfen Freunde und Bekannte mit ersten Übernachtungsmöglichkeiten aus, wie etwa beim britischen Künstler John Beech, der aus San Francisco nach New York kam: „I knew people in Williamsburg and in Jersey City. During that period I could come on my feet. And then I rented an apartment in Williamsburg from an artist who was in Amsterdam. But after three months it turned out that he will come back within some few weeks. Then I really had to look very hard to find this place. Actually I found it from a sign on a billboard and I managed to get the rent almost cutting half from what they wanted. I was very lucky because the landlady barely raised the rent in ten years. She did two years ago but in the first eight years she didn’t raise it at all. So I had so much luck paying 700 Dollars for 2,000 square feet. Now it is only 925, so this is a pretty good deal. But I wanted to own a building. I had to get with the help of my parents this other building, which is twice as big as this one. “

51 So auch Shazia Sikander, die nachdem sie in Rhode Island ihren Abschluss machte, für ein Residency nach Houston ging und von da aus über eineinhalb Jahre zwischen Houston und New York pendele bevor sie sich vollends in der Metropole installierte.

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Während unseres Interviews erzählt Beech, dass er mit der finanziellen Unterstützung seiner Eltern ein eigenes ehemaliges Industriegebäude erworben hat. Sein Umzug führt ihn aufgrund der grassierenden Preisentwicklung weiter in den Osten Brooklyns. Auch Xu Bing lebt mittlerweile in seinem eigenen Haus mit integriertem Atelier in Brooklyn Greenpoint. Er hat das kleine, ehemalige Wohnhaus vollständig entkernt und mit großen Glasscheiben zu einem lichtdurchfluteten Refugium umgebaut. Für viele Neuankömmling in New York stellt insbesondere die Recherche nach Wohn- und Arbeitsräumen die größte Herausforderung dar. Ist dies mithilfe des sozialen Netzwerkes erst einmal geschafft, bietet der Betrieb Vorteile: Viele Künstler schwärmen von der hohen sozialen Dichte. Sie bewerten den Austausch und die Interaktion mit anderen Künstlern als positiv, wie etwa Walid Raad von der Atlas Group berichtet: „I tell you something, when I moved to New York the occasion to talk to people tripled compared to Massachusetts coming from nowhere. That I have never expected. I remember I was in New York and I ended up with some other artists in a studio with other video artists showing each other their works. I knew the woman named Shelly Silver from a long time ago and she invited me to take part of it. She has a connection to Berlin from a long time because she used to have a DAAD in 1993 and she was going out with Jace Salloum at that time, the guy I went to Lebanon and worked on the project with.“

Innerhalb der New Yorker Szene bilden sich einzelne Sub-Communities heraus. So entstehen beispielsweise auf Video und Film fokussierte Interessensgruppen oder manchmal schweißt auch die gemeinsame Herkunft zusammen, wie Shazia Sikander beschreibt: „The first time I went to NY I was only seeing the surface. I was overwhelmed. Then when I had the opportunity in 1997 I went several times only then I began to get a good idea of the limits and the limitlessness, the drawbacks and the excitements. It is all there. You are kind of excited about the energy and all the possibilities. [...] The proximity of things, everybody being from everywhere was very healthy for me […]. The relief that in New York you are almost invisible. […] Suddenly I tapped into a big South Asian community of musicians and DJs and graphic designers, performance and theatre people. So I was very excited that there was this large group of people who was interested in me and my work.“ (Interview Shazia Sikander 2006)

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Von der Wichtigkeit, ‚entdeckt‘ zu werden Nicht selten ist es gerade dieses Netzwerk aus anderen Künstlerinnen und Künstlern, welches zum entscheidenden Eintritt in den New Yorker Betrieb verhilft: Der Vertrag mit der ersten Galerierepräsentation erfolgt in den meisten Fällen auf eine Empfehlung eines Kollegen hin. Bei John Beech half ein älterer Künstler der Galerie, indem er den Galeristen ins Atelier nach Williamsburg lotste. Nachdem dieser die Skulpturen und Malereien gesehen hatte, bekam Beech seinen Vertrag. Shazia Sikander startete mit Jeffrey Deitch. Der ehemalige Kunstberater platzierte ihre Arbeiten schon nach kürzester Zeit in wichtigen Sammlungen. Heute wird sie durch die Galerie Sikkema und Jenkins vertreten, die ebenfalls Kara Walker und Wangeshi Mutu unter Vertrag hat. Neben einem breiten Netzwerk von Galerien pflegt der chinesisch-amerikanische Künstler Xu Bing noch immer seine Beziehungen mit China. Vor kurzem wurde er von einer Zeitschrift gefragt, ob er als ihr künstlerischer Direktor von New York aus agieren möchte. Walid Raad vertraut hingegen eher seinen europäischen Galeristen. Er gewinnt zunehmend den Eindruck, dass die New Yorker Vertretungen nur wenig in ihre Künstler investieren. Sein Bekanntheitsgrad resultiert weniger aus seinen New Yorker Kontakten, sondern durch die Beirut-Verbindung. Die Theater- und Performancekuratorin Frie Leysen, dessen niederländische Spielstätte eng in das europäische Theorem-Netzwerk eingebunden ist, sowie die französische Kuratorin Catherine David entdeckten ihn während eines Beirutaufenthaltes. Durch sie wurde er parallel in Theater- und Kunstbetrieb bekannt. Sein vollständiger Durchbruch in der Bildenden Kunst kam schließlich mit der von Okwui Enwezor kuratierten Dokumenta XI. Seitdem hat er in Europa viele Preise gewonnen und erhielt 2006 eine Einzelausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin. Das Vereinende der Lebenswege bleibt meist die Faszination, die die Stadt auf die Künstler ausübt. Viele meiner Interviewpartner sprachen von der besonderen Energie, die von ihr ausgeht. Gleichzeitig schwingen dabei immer auch Konkurrenzdruck und das hohe Tempo mit. Zwei Faktoren, die nicht unabhängig von den Raumstrukturen der Stadt zu denken sind. John Beech bringt diese Ambivalenz auf den Punkt, wenn er sagt:

118 | K UNST BAUT STADT „On a heightened level you get the feeling that people really want to be here because it is not an easy place to be. Essentially my feeling is that people are here and they are talented. […] Perhaps it is a competitive element as well. When you feel like the standard is high and people are willing to work incredible hard in New York City. When you are here you better be aware of that and you better be willing to operate on that level. I think there is a kind of unspoken kind of energy which goes with that city. Much more than what I know it is like in L.A. or San Francisco.“

Beech weiß, wovon er spricht. Lange Zeit musste er als Arthandler, Installationstechniker, im MoMA und anderen großen Museen sein Geld verdienen bis er schließlich den Galerievertrag erhielt. Die jüngeren Künstler, sowohl mit als auch ohne Repräsentanz, halten sich noch immer nur mit mehreren Jobs über Wasser. Und auch die mittlere Generation der Künstler in New York verdient weiterhin ihr Zubrot durch Lehrtätigkeiten, um den regelmäßigen ‚Pay check‘ nicht zu missen. Dabei sind sich alle bewusst: New York strahlt eine besondere Kraft aus, gleichzeitig bedeutet ein Leben hier, einem immensen, finanziellen Druck standzuhalten.

Fazit – Die Wahl fürs Zentrum und das Zusammenspiel der drei Sphären Woran es genau liegt, dass manche Künstler in die Höhen des New Yorker Betriebs und von da aus weiter in den globalen Markt ‚gespült‘ werden und andere nicht, bleibt eine schwierige Frage. Neben den verborgenen Dynamiken von Schlüsselfiguren und Netzwerken bleiben Qualität, Medium und Ansatz die offiziellen Kriterien. Hinzu kommt ebenfalls die Fähigkeit, auf günstige Diskurskonstellationen zu reagieren und die Arbeiten zu vermitteln. Eine Vielzahl von Faktoren macht das ‚Ankommen‘ im Markt und in den Institutionen New Yorks zu einem mühseligen Unterfangen. Neben dem Studium wählen viele Künstler zunächst mittelgroße US-amerikanische Städte als nächste Station oder bewerben sich auf Residencies, um von da aus den Umzug nach New York gewissenhaft zu planen. Diese ‚mittleren Orte‘ stellen häufig die Basis für erste Ausstellungen, Lehrtätigkeiten und Galeriekontakte dar. Nach New York gehen viele also erst, wenn sie sich dafür ‚bereit‘ fühlen. Das bedeutet, dass nicht nur die finanzielle

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Situation, sondern auch die künstlerische Entwicklung damit implizit verbunden wird. Für Berlin existieren solche Zugangsmythen nicht. Die Interviews zeigen, dass sich die meisten Künstler über mehre Quellen finanzieren müssen. Dazu gehören nicht nur die Produktion im Atelier, bestenfalls die Vertretung durch eine New Yorker Galerie, sondern auch Art Handler oder Restaurationsjobs neben Lehr- und Akademietätigkeiten. Sporadische werden idealerweise mit sicheren Einkommensquellen kombiniert. In Hinblick auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen nehmen Künstler in New York viel in Kauf: Während die jüngere Generation sich die Miete ihrer Wohnungen mit Partnern oder Mitbewohnern teilt und meist von zu Hause aus arbeitet, können auch die etablierteren Produzenten keine großen Sprünge machen. Viele akzeptieren für separierte Atelierräume lange Anfahrtszeiten von Manhattan in abgelegene Gebiete. Schließlich setzen alle darauf, dass sich irgendwann einmal die Situation entspannen wird. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass alle drei Sphären des New Yorker Kunstbetriebs stark von den Immobilienpreisen beeinflusst werden. Die Galerien in Chelsea zogen zwar in das neue Viertel, um Kosten einzusparen, doch auch hier war ein dramatischer Preiskampf zu beobachten (zwischen 1996 und 2002 stiegen die Mieten um 262 Prozent laut Center for an Urban Future 2004: 6). Museen können ihren Standort nur durch kluge Vermarktungsstrategien (Verkauf der Lufthoheitsrechte beim MoMA) und einer immensen Akquise privaten Kapitals sichern und die kleinste Einheit, die Künstler, werden in die Außenbezirke der Metropole verdrängt. Durch diese Abhängigkeit vom Immobilienmarkt, der in der Börsen- und Dienstleistungsmetropole trotz Finanzkrise nicht wesentlich abkühlt, steigt nicht nur im Galeriegeschäft, sondern auch im Museumsbereich der Kommerzialisierungs- und Globalisierungsdruck. Auch Künstler verspüren die Folgen dieser Raumentwicklung. Haben sie einen Vertrag mit einer der New Yorker Galerien abgeschlossen, müssen sie aufgrund des hohen Waren- und Messeumsatzes in immer kürzeren Intervallen produzieren. Manche von ihnen begegnen diesem Produktionsdruck, indem sie ihre Ateliers zu Unternehmungen umfunktionieren und die Arbeitsprozesse an Assistenten delegieren. Doch das Gros der Künstler finanziert sich meist neben ihrer künstlerischen Tätigkeit durch zahlreiche Jobs (vgl. Karaca 2001). Sie nehmen dieses in Kauf, da New York nicht nur in den USA, sondern auch weltweit als Zentrum der zeitgenössischen Kunst gilt. Dieses symbolische Kapital, die urbane

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Energie und die vielfältigen Szenezusammenhänge entschädigen sie für die Herausforderung des Big Apple und vielleicht tut auch der American Dream das seinige dazu, dass jährlich immer wieder neue Künstler aus aller Welt nach New York strömen.

C Kunst baut Stadt – baut Kunst

6. Künstlerische Ortsproduktionen von Berlin

Nachdem die unterschiedlichen Bedingungen im Kunstbetrieb von Berlin und New York deutlich wurden, möchte ich nun zum Hauptteil meiner Studie kommen und mich mit den stadtbezogenen Arbeiten der Künstler befassen. Ich beginne in Berlin:

6.1 F LUIDE R ÄUME – S TADTKONZEPTE BEI N EVIN ALADAG UND C HRISTINE S CHULZ Abbildung 20-22: Nevin Aladag, Voice Over 2006 Quelle: Nevin Aladag

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Für einen kurzen Moment leuchtet der Titel Voice Over als weiße Schrift auf dem schwarzen Hintergrund auf, bevor das Video Nevin Aladags beginnt: Ein durchdringender Ton. Die erste Einstellung zeigt einen ausgestreckten Arm, der bewegungslos eine Mundharmonika in den Fahrtwind eines Autos hält. Es fliegen die Konturen von Wohnblöcken vorbei. Kurze, verwischte Einblicke auf Straßenszenen. Der Begleittext zur Arbeit verortet das Video in Berlin. Den genauen Stadtteil können wir nicht erkennen. Wir passieren kahle Bäume, Straßenlampen, gelbe Bushaltestellen, einen Kiosk. Das Gefährt verlangsamt sich beim Abbiegen. Das Instrument verändert die Tonlage, wird leiser. Dies nur für einen kurzen Moment bis das Auto wieder an Fahrt zugenommen hat und der Luftwiderstand abermals einen heulenden Ton erzeugt. Kurze Einblicke auf das Dunkel der Hauseingänge, graue Betonflächen, kurze Schatten von Autos und Passanten, das Weiß von Schneeflächen, Schnitt. Die nächste Einstellung zeigt ein in der Dunkelheit grünlich schimmerndes Gesicht. Der Kamera zugewandt, singt ein Jungendlicher ein melancholisch anmutendes Lied in türkischer Sprache. So vergehen einige Minuten. Manchmal verschwindet die eine Hälfte seines Antlitzes aus dem Lichtkegel in den Schatten der Nacht. Die Stimme formt die Höhen des Liedes aus, in kurzen Atempausen hört man die Geräusche des anliegenden Parks herüber wehen, der Junge senkt den Kopf, nächste Szene: Nahaufnahme auf die graue Oberfläche eines Schlagzeugs. Silbrige Regentropfen lassen auf der vibrierenden Oberfläche einen dumpfen Rhythmus entstehen. Das Wasser perlt ab, bildet kleine Rinnsale und fließt über den Bildrand hinweg. Das Video endet mit weiteren Ausschnitten der beiden singenden Protagonisten. Diese kurze Beschreibung von Nevin Aladags Arbeit Voice Over (2006) soll genügen, um die Stimmung einzufangen.

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Ein weiteres Kunstwerk, das ich in diesem Kapitel besprechen möchte, stammt von Christine Schulz. Sie bezieht sich in ihrer Videoinstallation Odds-Berlin (2007) auch auf die Stadt. In montierten Szenen sieht man, wie ein Mann den Graffiti überzogenen Beton der Berliner Mauer passiert, nächtliche Großstadtlichter vor einem S-Bahnfenster verwischen oder eine Gruppe von Jugendlichen im U-Bahnhof herum lungert. Abbildung 23: Christine Schulz, OddsBerlin (2007)

Quelle: Christine Schulz

Wir hören Musikfragmente und Motorengeräusche neben dem Kreischen der Bahn und sehen Brückenpfeiler, Häuserwände, Passanten, Straßenpflaster. Kurze Einblicke auf die Schönhauser Allee, eine Treppe hinab – hinein in das zuckende Licht eines unterirdischen Clubs. Aufgebrochener Putz an Häuserwänden, das Blau des leuchtenden Sterns auf dem Europacenter, gläserne Bürofassaden. Die projizierten Bildsequenzen laufen über die Installation aus Papp- und Plexiglasträgern hinaus, wandern über die Wände des Ausstellungsraumes, werfen Lichtreflexe, Häusermauern und Muster in das Weiß der Galerie. Formal arbeitet die Künstlerin mit mehreren Film- und Diaprojektoren. Damit kreiert sie einen Erlebnisraum zufällig aufeinander treffender Abfolgen. Auf vier Flächen angelegt, entstehen immer wieder neue Konstellationen. Schulz’ Assemblage verarbeitet Found Footage aus Filmen mit selbstgedrehtem Material und Diabildern. Anhand dieser beiden stadtbezogenen Arbeiten von Aladag und Schulz möchte ich mit meinem empirischen Kapitel zur künstlerischen

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Ortsproduktion in Berlin beginnen. Es geht dabei um die Frage, in welchem Verhältnis ihr Konzept der Stadt zu ihrem gelebten Raum steht. Wie stellen sie die Stadt in ihren Videos dar? Welche Aspekte sind den Künstlerinnen wichtig? In meinen folgenden Überlegungen gehe ich auf die unterschiedlichen Dimensionen ihres sozialen Raumes ein, um abschließend die Beziehung zwischen ihrer gelebten, medialen und konzipierten Stadt zu erörtern.

Biografische Skizzen Nevin Aladag wurde 1972 in Van/Türkei geboren. Nachdem sie im Alter von zwei Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland zog, wuchs sie in der Nähe von Stuttgart auf. Mithilfe eines Stipendiums des Künstlerhauses Bethanien folgte Nevin ihrem Bruder, dem Filmemacher Züki Aladag, und ihrem damaligen Freund, dem Künstler Daniel Knorr, nach Berlin. Zuvor studierte sie bei Olaf Metzel an der Akademie der Bildenden Künste in München. Aladag zeigte ihre Arbeiten in Basel, Karlsruhe und Kassel, bei der Ausstellung Fokus Istanbul im Martin-Gropius-Bau sowie bei der von Harald Szeemann kuratierten Ausstellung Blut und Honig in der Sammlung Essl. Kürzlich gewann sie den Gasag-Kunstpreis und ihre Arbeit Voice Over wurde vom Verein der Freunde der Neuen Nationalgalerie für die Sammlung erworben. Ihre Galeristin in Berlin war Gitte Weise. Anhand dieser kurzen biografischen Skizze lassen sich verschiedene Ressourcen herauslesen. Aladag verfügt über vielfältige Relationen zu Kuratoren, Galeristen und „Entscheidern“. Ihre kurdisch-türkischdeutsche Biografie bildet ebenfalls eine wichtige Dimension für ihre Praxis. Aufgrund ihres Kontextwissens bewegen sich Aladags Arbeiten häufig in einem transnationalen Raum. Sie wurde bereits zu vielen Ausstellungen eingeladen, in denen Themen wie Migration oder die türkisch-deutschen Beziehungen thematisiert wurden. Aladag wuchs in mittelständischen Verhältnissen auf, ihr Vater arbeitete als Betriebsratsvorsitzender in verschiedenen großen Automobilkonzernen. Er war es auch, der Nevin und ihre Schwester maßgeblich förderte. Als ehemaliger Lehrer (und möglicherweise aufgrund seiner Stigmatisierung als Kurde in der Türkei) wusste er von der ‚doppelten Benachteiligung‘ seiner Töchter als Frauen und Migrantinnen, wie Aladag es in unserem Interview formulierte. Der spätere

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Wechsel vom bürgerlich geprägten München in das ökonomisch schlechter gestellte Berlin wurde durch ein Stipendium am Künstlerhaus Bethanien erleichtert. Aladags Ausstellungsstationen zeigen die frühzeitige Aufmerksamkeit, die sie mit ihren Arbeiten generieren konnte. Ferner dürfte ihre Beteiligung bei einer von Harald Szeemann kuratierten Ausstellung ebenfalls positive Bewertungseffekte im institutionellen Feld besitzen. 52 Inwiefern dabei ihr transnationales Kapital als symbolische Ressource im deutschen Kunstbetrieb gilt, ist eine interessante Frage. Aladag erzählt, dass sie insbesondere in den Neunzigerjahren zu vielen Ausstellungen mit Türkei- oder Migrationsbezügen eingeladen wurde. Ökonomisch gesehen lebt Nevin Aladag bislang von Stipendien, Kunstpreisen und kleineren Verkäufen. Christine Schulz lebt in Berlin und Garbolzum (nähe Braunschweig). Sie absolvierte ihr Studium der Freien Künste an der HBK in Braunschweig. Dort war sie Meisterschülerin bei John Armleder. Der Schweizer gilt als ‚Star‘ unter den Lehrenden der dortigen Hochschule. Sein Ruf und die durch ihn organisierten Gruppenausstellungen verschaffen den Absolventen seiner Filmklasse Aufmerksamkeit. 2002 erhielt Schulz das Jahresstipendium des Landes Niedersachsen und der Künstlerhäuser Worpswede. Sie zeigte ihre Arbeiten in Gruppenausstellungen wie im Kunstverein Hamburg und Hannover, in Mexiko City und in Shanghai Zendai Museum of Modern Art und wird durch die Galerie Upstairs in Berlin vertreten. Schulz’ Alltag ist durch ihr Pendeln zwischen Berlin und Garbolzum geprägt. Ähnlich wie bei Aladag waren die Stipendien, die sie nach ihrem Studium erhielt, Basis für den Umzug nach Berlin. Die Künstlerin erklärte in unserem Interview, dass sie den Vorteil gegenüber Kollegen verspürt hätte, mit einer fertigen Mappe in die Hauptstadt zu kommen. Damit wäre ihr der Anfang leichter gefallen. Wenngleich Video im Vergleich zu traditionellen Medien wie Malerei und

52 Harald Szeemann galt als Prototyp des „Star-Kurators“, hat er doch unter anderem die documenta 5 im Jahre 1972 in Kassel geleitet und mehrere Länderpavillons auf der Venedig Biennale kuratiert. In meinen Interviews tauchte sein Name häufig auf. So bezeichnete ihn neben Walid Raad auch John Bock als einen seiner zentralen Förderer. Neben ihm gilt nun der internationale Kurator Hans-Ulrich Obrist beispielsweise als wichtiger Kurator und „Katalysator“ im Kunstbetrieb.

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Zeichnung als weniger verkäufliche Technik gilt, ergänzen beide Künstlerinnen Galerieeinkünfte mit ihren Nebenjobs und Stipendien.

Berlin: Eine scheinbar offene Stadt Nachdem Nevin Aladag ihr Studium in München abgeschlossen hatte, blieb sie noch für eine Zeit in Bayern, um dort zwei Kunstprojekte zu gründen. Im Vergleich zu München beschreibt sie Berlin durch schwierige Bedingungen geprägt: „Ich bin hier her gekommen, weil ich das Gefühl hatte, in München für das, was ich da machen konnte, ausgereizt zu haben. […] Ich habe es als relativ konservativ empfunden und gesehen, dass man dort zwar etwas machen kann, trotzdem gab es für die junge Kunstszene keine großen Foren, wenig Plattformen. Heute ist das anders, es hat sich ein bisschen gebessert. Doch es ist halt eine sehr klassisch orientierte, konservative Stadt. Es ist super zum Studieren, ich habe meine besten Freunde immer noch dort, aber ich wusste, dass ich etwas anderes machen muss. Und weil mein Freund hier lebte, Teile meiner Familie ebenfalls, war es die nächstmögliche Alternative innerhalb Deutschlands und auch die günstigste. Es war auch diejenige, die die höchste Herausforderung bedeutete. Ich wusste, dass es eine Stadt ist, die schon sehr viele Künstler beherbergt, was [einerseits] ein Nachteil sein kann, was aber [andrerseits auch] eine Herausforderung ist. Eine positive Form von Konkurrenz […]“ (Aladag Interview).

Faszination und Wettbewerb halten sich in der Erzählung die Waage. Einerseits erscheint ihr die Stadt alternativlos, andererseits bedeutet die hohe Dichte an Produzenten eine große Herausforderung. Das steigert den Anspruch an die Qualität der Kunst. Auch Christine Schulz spricht von der Schwierigkeit, in Berlin Aufmerksamkeiten zu generieren: „Wenn man das Umfeld von Braunschweig mit den vielen Kunstvereinen betrachtet, [dann wird deutlich, dass] sich [dort] auch viel eher die Möglichkeit ergibt, überhaupt wahrgenommen zu werden. Eine Position zu besetzen, ist etwas anderes, aber dass man wenigstens wahrgenommen wird und dass man ein bisschen weiter kommt, indem man ausgestellt wird. In Berlin gibt es viele Leute, die […] einmal im Jahr in einem nichts sagenden Projektraum eine Aus-

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stellung haben. Das ist ja auch ein bisschen frustrierend. Man ist hier so mittendrin und man könnte alles machen, aber letztendlich ist es ja doch gar nicht für jeden der Fall. […] Im Vergleich zu der großen Künstleranzahl sind hier viel weniger […] Institutionen. Es ist dadurch viel schwieriger, einen Platz zu bekommen, weil es kommerzieller ist. [Dort ist es einfacher] eine erste Aufmerksamkeit zu erzielen, dann wird man vielleicht auch hier aufgegriffen.“ (Interview Schulz)

Schulz beschreibt, wie schwierig es ist, in Berlin das nötige öffentliche Interesse zu erzielen. Viele Künstler konkurrieren um den verhältnismäßig knappen Ausstellungsraum in der Stadt, sodass die Wahrscheinlichkeit geringer ist, einen Zugang zum Betrieb zu erhalten. Nach ihrem Studium waren sowohl bei Aladag als auch bei Schulz Projekte und Ausstellungsstationen wichtig, um mithilfe dieser Erfahrungen und Arbeiten im Gepäck, Zugang zum Berliner Kunstbetrieb zu erhalten. Daraus wird deutlich, dass die oftmals proklamierte Vorstellung von Berlin als offene Stadt je nach Position vorsichtig zu bewerten ist. Mit der Zunahme von Produzenten steigt die lokale Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Räume, Galerien und Pressestimmen. Im Vergleich zu Mitte der Neunzigerjahre haben sich die Eintrittsbedingungen verändert. Während zu Anfang junge, deutsche Künstler relativ schnell in Galerieprogramme aufgenommen wurden oder den Sprung in die berlin biennale schafften, handelt es sich nun eher um eine beschränkte Offenheit. Bei dieser Perspektive spielen Herkunft und Stadtvergleich eine Rolle: So wird sich Berlin für Neuankömmlinge aus London anders darstellen, als für Zuzügler aus westdeutschen Städten mit ihrer (bislang noch) besser ausgestatteten, länderfinanzierten Infrastruktur. Eine weitere Dimension ist die ökonomische Lage der Stadt: „Ich habe mich in den ersten zwei Jahren nur sehr langsam mit der Stadt angefreundet, gerade weil ich aus München komme […]. Man ist da einfach anders behütet. Wenn man in Berlin ist, man schlechte Zeiten und wenig Geld hat, dann ist man mit einer harten Realität konfrontiert und mit einem ganz anderen Sozialspiegel als in München. Dort fällt man quasi in kein soziales Loch, weil es immer Jobs gibt. Hier habe ich auch schon harte Zeiten gehabt. Aber auch das ist eine Herausforderung, es wird nicht langweilig. [I]ch habe mich mittlerweile auf eine positive Art mit der Stadt angefreundet, obwohl sie auch Ecken und Kanten besitzt. […] Ich finde super, dass man so viele Leute trifft

130 | K UNST BAUT STADT und toll, dass hier mittlerweile so viele internationale Künstler sind, dass es finanzierbar ist, dass es ein guter Nährboden für alles Kreative ist. Es ist auch eine Stadt, wo man gern mal wegbleibt – für zwei bis drei Monate eine Pause macht –, wo man aber auch wieder eine gute Basis vorfindet.“ (Aladag 2006)

Solch eine Pause von Berlin nahm sich Aladag im Zuge ihres Aufenthalts bei der Kopenhagener Biennale U-Turn. Artists in Residencies stellen für Künstler eine wichtige Basis dar, um neue Arbeiten zu produzieren und um ihr transnationales Kapital (Nippe 2006) weiter anzureichern. Dieses kann wiederum dafür wichtig sein, um den Sprung in renommierte Berliner Ausstellungshäuser zu schaffen. Denn auch hier gilt: je mehr die Künstler international vertreten sind, umso eher erhalten sie eine institutionelle Präsentation.53

Produktionsformen und Materialwahl als Rahmungen der Raumpraxen Angeregt durch den Ansatz des amerikanischen Stadtsoziologen Harvey Molotch (1998), der die Filmindustrie in Los Angeles erforschte und die Wertketten und Verfahren auf die Strukturierungen des städtischen Raumes bezog, analysiere ich die Produktionspraxen der Künstlerinnen und Künstler basierend auf ihrer Materialwahl. Diese beiden Dimensionen können die Handlungsspielräume umreißen, die als Basis und Resultat von Raumpraxen gelten. Ergänzend zu kunstwissenschaftlichen Ansätzen, die zwar auf die Technik des Kunstwerks aus formal-ästhetischen Gründen achten, besitzt die Materialwahl einen Einfluss darauf, wie die Alltagsräume strukturiert werden. Sie bestimmt, welche räumliche Einbettung, Organisation und Transportlogistik nötig sind. Molotchs Ansatz bezog sich auf die hoch standardisierten und institutionalisierten Produktionsprozesse von Cultural Industries wie Film und Design. Im Falle meiner Forschung habe ich mit Künstlern gesprochen, die mit sehr unterschiedlichen Medien wie Malerei, Fotografie, Video, Installation oder Plastik arbeiten. Sie erfordern jeweils ein unterschiedlich ausgeprägtes Produktionswissen, Team- oder Organisationsformen. Ich habe also den Ansatz von

53 So präsentieren Berliner Museen bislang eher Künstler mit einer internationalen Ausstellungsbiografie.

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Molotch eher als Inspiration gewählt, um den Aspekt der Materialwahl genauer zu betrachten. Während ich Nevin Aladag in ihrer Wohnung in Neukölln besuchte, traf ich Christine Schulz in einem Café in Kreuzberg unweit ihrer Wohnung. Beide Künstlerinnen unterhalten bislang noch kein Atelier und produzieren vorrangig von zu Hause aus. Aladag, die sich in ihrer Ausbildung auf Bildhauerei spezialisiert hat, arbeitete in den letzten Jahren aufgrund von Platzproblemen hauptsächlich mit Video und Papier. Während unseres Gesprächs berichtet sie, dass sie momentan auf der Suche nach einem Atelier ist, um wieder größere, experimentellere Werke erstellen zu können und um ebenfalls wieder über eine „ruhige Wand“ für Installationen zu verfügen. Schulz arbeitet vorrangig mit Found Footage aus Film und Fernsehen sowie mit eigens gedrehtem Material. Beide Künstlerinnen können, solange sie vorrangig mit Video – meist in digitalisierter Form – produzieren, noch mit einer relativ kleinen Infrastruktur auskommen. Während Schulz ihre Installation auf der Basis eines eigenen Archivs erstellt und dabei vom Schnitt bis zum Ton alles selbst komponiert, produziert Aladag mithilfe eines kleinen Dreh- und Schnittteams. Im Falle von Video wird der Vorteil eines solch mobilen Mediums deutlich. Es kann in Eigenregie aufgenommen und größtenteils allein per Computer bearbeitet werden. Ferner können Videoarbeiten im Reisegepäck mitgenommen werden. Das Medium wird in den Kunstwissenschaften nun auch vermehrt unter dem Genderaspekt diskutiert. Denn bislang scheint die künstlerische Materialwahl geschlechtlich markiert, sind doch Malerei und Installation meist noch männlich dominiert, während die erfolgreichen weiblichen Künstlerinnen, wie etwa Candice Breitz, Hanne Darboven, Tacita Dean, Cindy Sherman oder Kara Walker mit den Medien Video, Fotografie und Konzeptkunst arbeiten. Die Gründe für diese genderspezifische Materialwahl liegen nicht nur in unterschiedlichen Ressourcenausstattungen, sondern möglicherweise auch in der Dominanz männlicher Lehrender und der daraus resultierenden Mentorenbeziehungen in den klassischen Medien. Die Zentren werden noch immer vom männlichen Geschlecht beherrscht. Laut Artinvestor-Index 2006 waren unter 150 aufgeführten Akteuren nur 30 Frauen. Das entspricht einem Anteil von gerade einmal 20 Prozent (Schuhmacher 2007).

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Raumwahrnehmungen und Konzepte des Städtischen in der Kunst Abbildung 24: Mental Map von Christine Schulz

Quelle: Christine Schulz

Abbildung 25: Mental Map von Nevin Aladag

Quelle: Nevin Aladag

Unsere Bewegung im Raum und die soziale Zeit, die wir an spezifischen Orten und in der Interaktion mit anderen Menschen verbringen, können neben unserer sozialen Position, wie Milieuforscher betonen (Dürrschmidt 1997), wesentlich für die Entwicklung eines Raumge-

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fühls und unserer -wahrnehmung sein. Dabei sind individuelle Raumbilder eingebettet in den kollektiv geteilten Bedeutungszusammenhang einer Stadt. Dieser wird durch Diskurse, Reportagen, Bildstrecken und Statistiken angereichert. Anhand der Erzählungen und ihrer Skizzen lese ich verschiedene Praxen des gelebten Raumes bei Nevin Aladag und Christine Schulz heraus:

Nevin Aladags gelebter und konzipierter Raum Bisher habe ich viel beobachtet, recherchiert, mir ist sozusagen etwas vor die Füße gefallen. NEVIN ALADAG

Aladags Arbeiten thematisieren oftmals die Alltagskreativitäten oder performativen Ausdrucksformen von Migranten. Mit diesem Thema beschäftigte sie sich bereits in den Arbeiten The Man Who Jumped over his Shadow (1999), Freeze (2003) oder Familie Tezcan (2001). In der Fotoserie Freeze (2003) kooperierte sie mit einer Gruppe von Breakdancern. Über mehrere Monate begleitete Aladag die jungen Männer bei ihren Übungen. Schließlich produzierte sie zahlreiche Fotografien ihrer eingefrorenen Tanzbewegungen vor dem Straßenbild von München. Für Voice Over traf sie sich mit zwei Jungen türkischkurdisch-deutschen Hintergrunds, die sie zufällig im Görlitzer Park beim Singen beobachtet hatte. Für ihre Filmaufnahmen verabredete sie sich in der Dämmerung des abendlichen Parks, um ihre Gesänge zu dokumentieren. In einem zweiten Schritt produzierte sie die Sequenzen einsamer von der Natur bespielter Musikinstrumente. Welche Rolle spielt für Aladags Praxis das urbane Umfeld? Die Künstlerin verarbeitet nicht nur die Atmosphäre der Stadt, sondern ebenfalls Beobachtungen, die sie in ihrem Tagesablauf macht: „Indem ich Eindrücke sammle und das Umfeld wirken lasse, entstehen resultierend daraus Arbeiten. Das hat mich schon beeinflusst, weil es einfach ein ganz anderes Stadtbild und ein soziales Umfeld ist. Im letzten Video sieht man das stark: Berlin fordert von der Gesellschaft andere Dinge ab […]. Ich finde, dass es eine Stadt ist, die viel rauer ist als München und sehr viel mehr an der Realität gebaut ist. Deswegen hat es mich beeinflusst und meine Arbeiten erhalten

134 | K UNST BAUT STADT dadurch vielleicht auch eine gewisse Melancholie. Es ist ein Spiegel dessen, was ich erlebe.“ (Aladag Interview)

Ausgehend von ihrem Wohnort in Neukölln bewegt sich Nevin Aladag durch die Stadt. Aladags Interesse an kreativen Ausdrucksformen versieht sie mit einer hohen Sensibilität für soziale Phänomene in ihrem Umfeld. Oftmals inspirieren diese Beobachtungen sie, eine neue Arbeit zu produzieren. Anhand des Vergleichs mit München vermeint sie, den städtischen Einfluss als melancholische Grundstimmung in ihren Arbeiten zu verspüren. Sie spricht im Interview davon, dass sie den Stadtraum und seine Atmosphäre „spiegelt“. Dabei greift sie für ihre Beschreibung auf landschaftliche Attribute zurück, wenn sie etwa auf die Rauheit Berlins hinweist. In diesem Fall geht es ihr jedoch nicht um die Beschreibung der Architektur oder anderer materieller Dimensionen des Städtischen, sondern um eine soziale Schroffheit des Ortes.

Christine Schulz: Fokus auf den medialen Raum Mich interessiert, wie bestimmte urbane Orte eine beinah mediale Ästhetik produzieren. CHRISTINE SCHULZ

Christine Schulz’ Ansatz entwickelte sich aufgrund ihres Interesses an der Verwebung realer und fiktionaler Bilder in der Mediengesellschaft sowie der Entstehung fluider Räume in der Globalisierung. Ihre Arbeiten wie Alert (2006), die Bilder vergangener Katastrophenszenarien aufgreift, Spielwelt (2006), die Impressionen asiatischer Megastädte mit Nicht-Orten wie Flughäfen und Bankhäusern verwebt oder der Arbeit Movies (2005), in welcher sie Interaktionssequenzen von Filmklassikern sampelt, spürt sie den Effekten medialer Bilder nach. In ihrer Installation Odds-Berlin (2007) wirft sie Fragen zu unseren urbanen Imaginationen auf sowie zum Verhältnis von gebauter Umwelt und Film. Sie fragt aber auch, wie erfahrungsbasiert unser Bildgedächtnis der Stadt ist. Die beiden Technologien der Nachmoderne, das Reisen und die Massenmedien, tauchen in unterschiedlichen Konstellationen in ihrer Kunst auf. Schulz’ Installationen verdeutlichen diese

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Codes und Geschwindigkeiten. So verdoppelt sie einerseits den medialen Fluss, andererseits kreiert sie keinen vollkommenen Erlebnisraum, sondern nutzt „imperfekte Materialien“. Sie verwendet die scheppernden Lautsprecher der Projektoren, gebrauchte Kartonagen oder pixelige Internetbilder und lässt somit einen Spalt zwischen Medieneffekten und Apparaten entstehen. Ihre Installationen weisen auf ihre Konstruiertheit und ihren provisorischen Charakter hin. Abbildung 26: Christine Schulz, Movies (2005) Quelle: Christine Schulz

Basierend auf ihrer Mental Map und unserem Gespräch kann ich räumliche Praxen nachvollziehen, die zunächst einmal sehr stark durch ihr Pendeln zwischen Berlin und Garbolzum geprägt sind. In Berlin selbst frequentiert sie viele Eröffnungen mit dem Schwerpunkt auf Video. Daneben ist ihr Alltag vorrangig auf den nahen Umkreis rund um die Oranienstraße in Kreuzberg konzentriert. Bei Schulz sehe ich ihre Raumperzeption vorrangig durch ihr Interesse auf Medienrealitäten strukturiert. Deutlich wird dies anhand ihrer Erzählung über Reisen nach Hong Kong und Tokio. Die mediale Ästhetik der asiatischen Megacities habe ihr Interesse an Städten hervorgerufen: „Hong Kong war faszinierend, weil es die kontrastreichste Stadt ist, die ich jemals erlebt habe. […] Diese intensive Farbigkeit in Asien spielt sicherlich eine Rolle. Wenn man das mit Berlin vergleicht – Hong Kong und Berlin – das ist schon sehr anders [lacht]. […] Für mich ist interessant, dass die unglaubliche Farbigkeit, dieses Flimmern in der Stadt, uns an ein Computerspiel erinnert. Wir, die ja in einer nicht-flimmernden Stadt leben, erleben so eine Visualität nur in der fiktional beeinflussten Ästhetik des Computerspiels. Diese Annäherung von beiden Seiten […] – die Verquickung dieser beiden Pole von Medienrealität und erlebter Realität –, interessiert mich. […] Wenn ich zum Beispiel den Film Tokyo Eyes nehme und ich erinnere mich an die Bilder, die ich [darin] gesehen habe oder die, die ich [in Tokio] selbst gefilmt habe, dann

136 | K UNST BAUT STADT sind diese mehr oder weniger identisch. Keine Ahnung, wie sich das vielleicht noch in 20 Jahren verwischt.“

Neben Medieneffekten betont die Künstlerin ihre Mobilität. Anhand der erzählerischen Figur des „Metropolenhoppings“ wird die Relevanz von Reisen und Fremdheitserfahrungen im Kunstbetrieb deutlich. Städtereisen zu fernen Orten stellen ein wichtiges symbolisches Kapital der Selbstdarstellung vieler Künstler und Kuratoren dar. Anhand solcher Erfahrungen wird die Weltläufigkeit betont. Schulz interessiert sich für flimmernde Medienwelten als Apparate (Foucault), die unsere städtische Wahrnehmung beeinflussen und vermischen. Sie geht diesen Einwirkungen nach, indem sie die Betrachter ihrer Installationen in hybride Welten versetzt. In Odds-Berlin ergründet sie dabei die spezifische mediale Verfasstheit Berlins: „Besonders extrem war das in Paris oder auch in New York. Alte amerikanische Filme zeigen ein New York, das es so nicht mehr gibt und doch haben sich die Fassaden nicht unbedingt verändert, dadurch beginnt eine ‚Irrfahrt des Geistes‘. In Paris ist dies besonders stark ausgeprägt, denn wir haben bereits durch Filme so viele Bilder in unserem Kopf, man bräuchte es fast nicht mehr zu besuchen. […] In Berlin hat sich die Stadt dermaßen stark verändert, dass ein bestimmtes Bild wie etwa von Wim Wenders, nun nicht mehr da ist. […] In Paris hingegen sind der Triumphbogen und das Café von Außer Atem noch immer vorhanden, es sieht aus wie eh und je: wie ein eingefrorenes SchwarzWeiß-Foto.“ (Interviews Schulz)

Die Beschreibung zeigt, wie frappierend es sein kann, wenn eine Stadt filmischen Repräsentationen gleicht. Schulz gewinnt den Eindruck, als ob sie sich in einer Filmkulisse befände: reale und fiktionale Stadt stimmen überein. Komplizierter ist es hingegen in Berlin. Nach dem Fall der Mauer veränderte sich Anordnung, Dichte und Struktur des gebauten Raumes. Filme wie etwa Der Himmel über Berlin oder Wir Kinder vom Bahnhof Zoo haben ihre realen Schauplätze verloren. Durch den Wandlungsprozess ist eher das Verschwinden verblüffend. Etwa dann, wenn der Hauptprotagonist in Der Himmel über Berlin am einsamen Kiosk auf der Brache des Potsdamer Platzes unweit der Mauer steht. Dieser beinahe irreal-einsame Ort am Mauerstreifen hat sich heute in den geschäftigen Trubel des Potsdamer Platzes verwandelt. Gebaute und fiktionale Repräsentation fallen auseinander. Auf-

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grund dieser räumlichen Spezifik musste Schulz für die Entwicklung ihrer berlinbezogenen Arbeit eine veränderte Vorgehensweise entwickeln. Sie entschied sich eine Assemblage zu erstellen, die die fiktionalen Bilder auf aktuelle reale Orte Bezug nehmen lässt. Mithilfe dieser Konfrontation erzielt sie ein Verwischen von Realität und Fiktion und zeigt wie sich die heutige Stadt im Vergleich zu vergangenen Strukturen verändert hat. Dabei nimmt sie die Stadt durch einen Filmblick wahr und selektiert die urbanen Details dahingehend.

Konzepte des Städtischen bei Nevin Aladag und Christine Schulz Volker Demuth (2007) weist daraufhin, dass Künstler schon seit der Renaissance Medienpioniere seien. Sie sind weniger Schöpfer, sondern Rechercheure, Forscher und Entwurfsspezialisten. Seit einem Jahrzehnt zeigen sie sich nun auch an den ästhetischen Möglichkeiten des elektronischen und vernetzten Raumes interessiert. Für die Stadtforschung beschreibt Rolf Lindner die wechselseitige Beeinflussung von Zeitgeist und Raumparadigmen (2004). So etwa, wenn er darauf hinweist, dass Simmels Vorstellung der Großstadt aufs Engste mit dem Zeitgefühl der Moderne verknüpft war. Für ihn sei die Großstadt Ausdruck der Vereinzelung des Individuums im industrialisierten System der Moderne gewesen und habe als sozialen Raum Einfluss auf die Mentalität der Bewohner gehabt: „Simmel sah die Großstadt als Beispiel sui generis für eine Entwicklung, bei der die Versachlichung der Beziehungen mit der Auflösung traditioneller Bindungen und die Nivellierung mit Individualisierung einhergehe, eine Ambivalenz, die für ihn Kennzeichen der Moderne war.“ (Lindner 2004: 121) Es ist also die Zeitgenossenschaft, welche einen Einfluss auf die Bildung von Raumvorstellungen in Wissenschaft und Kunst besitzt. Im Falle von Nevin Aladag führen ihre urbanen Bewegungen zu der zufälligen Begegnung mit Menschen. Durch sie entdeckt sie ungewöhnliche Orte. Sie entscheidet sich, die beiden Jugendlichen für ihr Video anzusprechen und interessiert sich für ihre Performanzen im nächtlichen Görlitzer Park. Man kann ihren Ansatz als partizipatorischen bezeichnen, wenn sie sagt:

138 | K UNST BAUT STADT „Mich interessieren Personen, die in irgendeiner Form eine Passion, eine Leidenschaft entwickelt haben. Ich versuche in diesem Bereich dann, die Schnittstellen zu finden und meine Idee und ihr kreatives Potential zu kombinieren. Die Freeze Serie ist ebenfalls entstanden, weil es diese Form schon gibt und weil ich die beobachtet habe. Ich hatte die Idee, so etwas an einem bestimmten Ort im Punctum mit Fotografie festzuhalten. Doch die skulpturalen Ausgangsformen haben sie vorgegeben. Ich interessiere mich ja wirklich dafür, es ist ja nicht so, dass ich es von außen betrachte, sondern ich versuche mich weitestgehend in die Szene einzufinden. Ich habe mich fünf Jahre lang viel mit [den Breakdancern] unterhalten, war mit ihnen unterwegs. Einfach, weil ich es verstehen lernen wollte. Dadurch ist ein Vertrauensverhältnis entstanden und ein kreativer Prozess – vorher und nachher, also nicht nur wegen der Aufnahmen selbst, sondern ein wirkliches Verständnis voneinander.“ (Interview Aladag)

Abbildung 27-29: Nevin Aladag, Freeze (2003) Quelle: Nevin Aladag

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Auch in Voice Over rahmt Aladag die Sequenzen mit den beiden singenden Jungen ästhetisch ein, indem sie zusätzlich Szenen mit den Musikinstrumenten integriert. Durch diese Collage entwickelt sie einen Dialog zwischen Alltag und Ästhetik. Ihre Schnitttechnik funktioniert wie die Kommentatorenstimme, das Voice Over, und verlässt ein neutrales Dokumentarfilmgenre. Es entsteht ein dichtes, künstlerisch überformtes Porträt der Stadt und ihrer Akteure. Sie kombiniert die brüchigen Stimmen der Jugendlichen mit der Kargheit verlassener Orte. Mit diesem ästhetischen Mittel lenkt Aladag unsere Aufmerksamkeit auf die Performativität der Jugendlichen und widmet sich den Momenten, in denen hinter den männlichen Posen Verletzlichkeit durchschimmert. Dies beschreibt sie in einem Interview im Internetblog Homesick vom Center for Icelandic Art, wenn sie sagt: „I grew up with music and dance as means of expressing emotion. Singing sad songs and performing them within the family when you were in that very mood was completely normal for us and, more importantly, nothing to be embarrassed about. With Voice Over I found it all the more interesting the way these two German teenagers with Turkish and Kurdish backgrounds were singing such old and traditional elegies they had learned from their parents. As children we listened and shared in their yearning without making it our own. These particular songs are mostly about persecution and homelessness, and the two teenagers sang them with complete favour. This made them into a kind of voice for their parents’ woe. Evidently, these songs have a certain relevance for their own situation in Germany. […] This new longing consists of a whole range of feelings, starting with a general lack of perspectives and reaching as far as a lack of acceptance within the society they live in. Basically, this is a therapeutic way of venting their suffering.“ (Nevin Aladag, Interview in:

http:homesickx4.blogspot.com/2006/05/interview-with-nevin-aladag

am

07.12.2006)

Aladag thematisiert die fehlende Akzeptanz und Marginalisierung der Jugendlichen. Sie versteht die private Tradition des Singens türkischer Familien als sinnstiftenden Moment. Die Künstlerin interpretiert es als eine über das Private hinaus reichende Form der kollektiven Auseinandersetzung mit Migration und transnationalen Erfahrungen. Aladag gibt jenen männlichen Migranten eine Bühne, die im öffentlichen Diskurs Berlins eher stigmatisiert, denn wahrgenommen werden. Vor ihrer Kamera wird nicht nur ihre Kreativität, sondern auch ihre Verletz-

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lichkeit spürbar. Gleichzeitig eröffnet der Film einen melancholischen Sehnsuchtsraum zwischen Berlin und Orten in der Türkei. Ihre Arbeit berührt die Erfahrungsräume der Migration zwischen Berlin, Ankara und Istanbul. Vielleicht verweist sie in ihrer Kontextualisierung bewusst auf den Görlitzer Park, da er für heterogene Nutzer oder einen multikulturellen Ort in Berlin steht. Ihr alltägliches Streifen durch Berlin kann dabei als voraussetzendes ‚Städteln‘, ein aktives Abtasten der Lebensräume, aufgefasst werden. Die Künstlerin wird dabei von ihrer Sensibilität für Exklusionen im sozialen Raum geleitet, sie besitzt den Blick für ‚die Unsichtbaren‘. Sie beschäftigt sich mit dem vermeintlich Fremden. Als Übersetzerin vermittelt sie zwischen Mehrheitsgesellschaft und Marginalisierten. Sie wählt Nähe und Interaktion, die den Jugendlichen Raum für ihre Ausdrucksformen lässt. Abbildung 30: Christine Schulz, OddsBerlin (2007)

Quelle: Christine Schulz

Christine Schulz Arbeit Odds-Berlin 2007 untersucht das Zusammenspiel von realen und fiktionalen Bildern. Die Künstlerin verrät dem Betrachter ihrer Installation nicht, um welche zehn berühmten Berlin Filme es sich handelt. Sie erklärte mir, dass sich viele Besucher keine Zeit für die intensive Betrachtung ließen, wenn sie wüssten welche Filme verarbeitet worden seien. In ihrer Installation nutzt sie einfache Materialien, die sie mit einem roten Klebeband zusammenbaut, da sie: „einen improvisierten Charakter besitzen, der für mich zu Berlins provisorischer Qualität passt“ (Interview mit Christine Schulz). Die Künstlerin bezieht sich hier auf das Bild, der sich ständig wandelnden Metropole. Ihr chaotisch-synchroner Fluss von Bildern, der ein Aufei-

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nanderprallen medialer und realer Impressionen bewirkt, erinnert an Raumkonzepte der Globalisierung. Schulz verdeutlicht, wie fiktionale Bildströme in das „reale Material“ der Orte einfließen. Ihre multiperspektivischen Installationen machen Informationsflüsse und mediale Vernetzungen erlebbar. Abbildung 31: Christine Schulz, Alert (2006)

Quelle: Christine Schulz

Abbildung 32: Christine Schulz, Weltrennen (2004)

Quelle: Christine Schulz

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Fazit Anhand des Vergleichs dieser beiden stadtbezogenen Arbeiten, die jeweils auf den medialen Möglichkeiten des Videos basieren, habe ich gezeigt, wie die Konzepte des Städtischen nicht nur auf theoretische Diskurse oder mediale Entwicklungen in der Kunstgeschichte referieren, sondern dass sie häufig im Alltag der Künstlerinnen und ihrem lived space verankert sind. Gleichzeitig sollte die Perzeption der Stadt immer auch im Kontext des gesamten Werks analysiert werden, um die jeweilige Perspektive der Produzenten zu verstehen. So handelt es sich bei Aladag um eine Praxis, die sich während des Schweifens durch den urbanen Raum auf die zufälligen Begegnungen mit Bewohnern einlässt, während Schulz eher von ihrem Interesse an Medienrealitäten geleitet wird. Auf der Basis von Filmbildern selektiert Christine Schulz das urbane Umfeld. Das bedeutet, dass die tägliche Nutzung der Stadt nicht zwingend einen Einfluss auf die Produktion besitzen muss. Ihre Recherchen beginnen mit einer medialen Auseinandersetzung. Erst in einem zweiten Schritt wird das urbane Umfeld hinzugezogen. Nevin Aladag mit ihrem Interesse an Ausdruck, Kreativität, und Performanzen wird oftmals in ihrer Alltagspraxis auf städtische Sozialphänomene aufmerksam. Bei ihr ist eine direktere Wirkung ihres Alltagsvollzugs auf ihre stadtbezogene Kunstpraxis zu verspüren, da sie solche Begegnungen förmlich aufzusaugen scheint. Dieses Kapitel zeigt, wie eine Ethnografie ‚unter‘ die Oberfläche des Kunstwerks gelangen kann, um es in seiner alltäglichen Kontextualität von Raumpraxen, -erfahrungen und -wahrnehmungen zu erfassen. Künstler werden von aktuellen Raumkonzepten und urbanen Imaginationen beeinflusst. Sie sind dabei gleichzeitig Entwickler neuer Vorstellungen vom Städtischen. Dabei bringen sie diese in einer von der Kunstgeschichte, ihrem eigenen Fokus, der Stadt und ihrer Medialität beeinflussten Perspektive zum Ausdruck.

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6.2 G EDÄCHTNISRAUM S TADT – J AN B ROKOFS UND W IEBKE L OEPERS ARCHIVIERUNG VERSCHWUNDENER O RTE Dass man sich an das Verschwinden von Dingen und Orten mehr erinnern kann als an die Orte und Dinge selbst. JULIA SCHOCH

Abbildung 33 und 34: Wiebke Loeper, aus der Serie Lad (1996-1997)

Quelle: Wiebke Loeper

Wiebke Loeper und Jan Brokof arbeiten in unterschiedlichen Medien: Loeper ist Fotografin, während Brokof Blei- und Farbstifte, Tuschen und Holzschnitte verwendet. Beide beschäftigen sich vor dem Hintergrund des wiedervereinigten Deutschlands mit der Verbindung von Biografie, Erinnerung und Stadt. Das vorliegende Kapitel zeigt, wie sich die beiden Künstler mit dem Verschwinden von Gebäuden im veränderten Nachwendekontext Berlins und anderer ostdeutscher Städte befassen. Ihre Arbeiten können als Kommentare auf den Wandel gesellschaftlicher Bedingungen nach 1989 begriffen werden, da sie beide biografische Brüche anhand urbaner Transformationen verhandeln.

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Beide Künstler sind im Osten Deutschlands aufgewachsen. Ein Umstand, der hier zwar erwähnt wird, der jedoch weder meine Auswahl begründet noch zu einer einseitigen biografischen Festschreibung führen soll. Vor dem Hintergrund des Ostalgie-Diskurses Ende der 1990er-Jahre ist verstärkt zu beobachten, dass Kunstwerke einseitig biografisch besprochen werden. Dieser Tendenz wird hier eine andere Lesart entgegengesetzt, indem nämlich die thematische Verbundenheit der Ansätze im Vordergrund stehen soll. Beide Künstler besitzen ein Verständnis von Stadt als Speicher von Erinnerungen und Erfahrungen. Meine Ethnografie geht von ihren korrespondierenden Konzepten des Städtischen als Erinnerungsraum, prägender Umwelt und Wissensreservoir aus, um gleichzeitig ihre persönlichen Zugänge zu ‚Stadt‘ zu begreifen. Abbildung 35: Jan Brokof, Block (2005)

Quelle: Jan Brokof

Abriss befragen – Jan Brokofs Herstellung von Stadträumen Auf Jan Brokof’s Arbeiten wurde ich während der jungen Kunstmesse Preview 2006 aufmerksam. Seine Kunst, die in scharfkantigen Konturen und einer kontrastreichen Schwarz-Weiß-Ästhetik Plattenbauten und Wohnquartiere zeigt, stach aus der üblichen Reizüberflutung heraus. Geboren 1977 in Schwedt, wuchs Brokof dort im VorzeigeNeubaugebiet auf, das in den Siebzigerjahren parallel zur örtlichen

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Chemieindustrie expandierte. Nach der Wende wurde das ortsansässige VEB Petrochemische Kombinat im Zuge des einsetzenden Strukturwandels nahezu vollständig eingestellt. Brokofs Mutter arbeitete als Unterstufenlehrerin, sein Vater zunächst in der örtlichen Chemieindustrie. Nachdem er dort seinen Arbeitsplatz verlor, wechselte er in den Fliesenverkauf und heute in die Betreuung von sozialen Jugendprojekten. Beide Eltern unterstützten ihren Sohn bei seiner Wahl, Künstler zu werden. Er schließt sich der städtischen Hip Hop- und Graffiti-Szene an, die zu seinem Schwerpunkt wird. Für diese organisiert er viele Partys. Seine Wohnung ist ein häufig frequentierter Treffpunkt und die Gruppe erschließt sich gemeinsam die Stadt. Abbildung 36 und 37: Jan Brokof, Ich steh auf hammerharte Rockmusike (2004); Markuz schon komisch (2005)

Quelle: Jan Brokof

Brokofs Aktivitäten werden aus seinen privaten Fotografien und Zeichnungen ersichtlich, die er für seinen Künstlerkatalog Unter dem Pflaster, da liegt der Strand (2007) zusammengestellt hat. Sie zeigen die gemeinsamen Trinkgelage, das heimliche Sprayen sowie die Attribute und Rituale seiner Jugendkultur. Diese Erinnerungssplitter verarbeitet er in Zeichnungen, die er oftmals ironisiert und die sein Schwedter Erlebnisarchiv bilden. Nach dem Abitur studiert Brokof Malerei und Grafik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden und ist von 2004 bis 2006 Meisterschüler von Prof. Rolf Kerbach. Dort baut der junge Künstler ein enges Netzwerk von Freunden und Kunstschaffenden auf. Er lernt ebenfalls seinen Galeristen Patrick Daniel Baer kennen. Der nur wenige Jahre Ältere eröffnet seine Räume in der Dresdener Neustadt und

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führt ein ambitioniertes Programm mit Beteiligungen auf jungen internationalen Messen durch. 2004 erhält Brokof den Grafikpreis der Volksbank Chemnitz und den prestigeträchtigen Marion-ErmerPreis. 54 Nachdem er das Meisterschülerstudium in Dresden beendet hat, entscheiden Brokof und seine Freundin, die zu diesem Zeitpunkt schwanger ist, nach Berlin umzuziehen. Ihre Eltern leben in Marienfelde, das Paar findet eine Wohnung in Neukölln. Sein Atelier in Dresden behält er, um dort großformatigere Arbeiten, seine Holzschnitte sowie Stadtmodelle herstellen zu können. Zusätzlich mietet er in einem leer stehenden Quergebäude in Treptow eine kleine Wohnung an, die er als Atelier umfunktioniert. Hier produziert er vorrangig kleinformatige Arbeiten, wie Tuschen und Zeichnungen.

Die Zweiteilung des Lived Space: Pendeln zwischen Berlin und Dresden Für Künstler spielen die unterschiedlichen Orte der Produktion eine wichtige Rolle. Sie strukturieren ihre Raumpraxen und wirken sich auf ihre Mobilität aus. Mit der genauen Beobachtung des gelebten Raumes erfahren wir mehr über ihr Spacing (Löw 2001), also ihre reale und wahrgenommene Raumorganisation. In Hinblick auf Brokof fällt auf, dass er seine Produktion zwischen zwei Ateliers organisiert: Brokofs Treptower Atelier liegt abseits einer verkehrsreichen Straße in einer von Brachflächen durchzogenen Gegend. Eine kahle Asphaltfläche mit Glassplittern befindet sich vor dem unbewohnt wirkenden Quergebäude. Brokof hat eine ehemalige Wohnung zum Atelier umfunktioniert. Man betritt einen schmalen Raum. Nach einer winzigen Kochnische folgt ein größerer Bereich, in dem sein Arbeitstisch steht. Über der Holzfläche hat er Bilder mit Eulen und Pilzen angebracht, inspiriert durch die comicartig vereinfachten Zeichnungen und Collagen des israelischen Künstlers Tal R, beschäftigt er sich mit naiven Formen und Tonpapier. Er setzt sich mit dem kindlichen Bildgedächtnis auseinander. An anderer Stelle hängen eine Vielzahl von Zeitungs- und

54 Aufgrund der Preisverleihung wird ihm sein erster Katalog finanziert, der vermutlich für die nächsten Schritte bedeutsam war, denn ein Einzelkatalog gilt als Qualitätskriterium und dient der Vermehrung des symbolischen Kapitals.

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Fotografieschnipseln mit Fassaden und Gebäuden über der Arbeitsfläche. (Ethnologisches Tagebuch vom 27.10.2006) Während Brokof in Berlin Zeichnungen und Tuschen in kleinen Formaten produziert, erstellt er in Dresden die technisch aufwendigeren Holzschnitte. Die Produktion stimmt er auf die Ausstattung und Größe seiner Ateliers ab. Dabei prägt das damit verbundene Pendeln zwischen den Städten seinen lived space. Er ist gezwungen, seine soziale Zeit am jeweiligen Ort einzuteilen, um Ausstellungen auf der Basis unterschiedlicher Medien rechtzeitig fertig zu stellen. Solange sich Künstler keinen Assistenten leisten können, gehört der Ausstellungsaufbau ebenfalls zu ihren Alltagsroutinen. Dies umfasst eine komplizierte Logistik aus Transporten, Zugfahrten und Aufbautagen vor Ort. Neben der Produktion für Messen und Ausstellungen sind es die persönlichen Treffen mit seinem Galeristen sowie die Pflege der Freundschaften an beiden Orten, die ebenfalls seine Lebenswelt prägen. Sein professionelles Netzwerk scheint an seinem ehemaligen Studienort stärker ausgeprägt. Berlin ist hingegen eher familiärer Mittelpunkt und zweite Produktionsstätte. Abbildung 38: Mental Map von Jan Brokof

Quelle: Jan Brokof

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Seine Zeichnung verrät mehr über seinen gelebten Raum. Es wird deutlich, dass er seine soziale Zeit auf die zwei Bereiche ‚zu Hause‘ und ‚Studio Treptow‘ konzentriert sind. Das bedeutet, dass sich sein Alltagsleben hauptsächlich in Neukölln und Treptow abspielt. Insbesondere die Betreuung seiner Tochter, die er sich mit seiner Freundin teilt, verdichtet seine städtische Nutzung auf den Nahbereich um Wohnung und Atelier.

Blicke auf die Stadt – Die Verbindung von Lived Space, Sociosphere und Stadtwahrnehmung Ähnlich wie bei Nevin Aladag wird aus Brokofs Erzählungen die soziale Härte der Stadt deutlich. Er beschreibt eine latente Aggressivität auf Spielplätzen und auffällig viele Alkoholiker im öffentlichen Raum. Während der in Mitte lebende Künstler Tino Sehgal noch von den vielen Individualisten im Galerienviertel Mitte, der fehlenden Corporate Culture und den Nachtschwärmern erzählte, tauchen in Beschreibungen junger Künstler, die in Vierteln jenseits von Mitte, Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Kreuzberg leben, nachdenklichere Töne auf. Es wird deutlich, dass der Nahraum aus Wohnung und Atelier einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der Stadt besitzt. Hinzu kommt das soziale Netzwerk aus Freunden und Künstlerkollegen, Galerierepräsentationen und Professoren, das letztlich entscheidend ist, wo man sich jenseits des Ateliers trifft.55 Der britische Stadtforscher Martin Albrow (1997) konzipiert die Wahrnehmung und Produktion von Lokalität im Begriff der Sociosphere. Dabei zeigt er, dass die Verknüpfung von lokalen und transnationalen Netzwerken letztlich den sozialen Radius eines Individuums prägt. Sie haben wiederum Auswirkungen auf die räumliche Wahrnehmung und Bewertung von Orten. Im Kunstbetrieb ist eine Überlappung und Beeinflussung von lokaler und internationaler Sphä-

55 Einige meiner Interviewpartner, die Teil des DAAD-Künstlerprogramms sind, erzählten, dass sie sich in den „wunderbaren“ Altbauwohnungen Charlottenburgs zum privaten Essen oder in den Restaurants und Bistros Westberlins träfen. Internationale Künstler mit diesem Stipendium verbringen so meist ihre soziale Zeit im Westen der Stadt. Ihre Wahrnehmung von Berlin wird durch ihr Nahumfeld geprägt.

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re häufig und verdient eine genaue Analyse, auf die ich im Schlussteil dieser Arbeit eingehen werde. Festhalten möchte ich an dieser Stelle, dass die individuelle Wahrnehmung einer Stadt hochgradig von den lokalen Bewegungen innerhalb des urbanen Großraumes abhängen. Weitere strukturierende Größen für den gelebten Raum ebenso wie die Stadtperzeption sind Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Familienstand und ökonomische Ressourcen. Brokofs Blick wird durch seine Vaterrolle und den Nahbereich geprägt. Das heißt, dass er zwar immer wieder auch Abstecher in den Kunstbetrieb nach Mitte unternimmt, doch letztlich verbringt er den Hauptteil seiner sozialen Zeit in den Stadtteilen Neukölln und Treptow. Seine familiäre Verantwortung erhöht seine Sensibilität für die sozialen Probleme und Brüche seines Nahraumes. Diese Beobachtungen fließen in sein Berlin Bild ein.

Prägungsraum Stadt – Jan Brokofs Projekt der Rekonstruktion verschwundener Urbanität Abbildung 39: Jan Brokof, Wohnhaus mit Fabrik (2005) Quelle: Jan Brokof

Brokofs Drucke, die er auf der Basis von Holzschnitten erstellt, zeichnen sich durch ihre Einfachheit und Klarheit aus. Durch diese Technik kommen die Kontraste zwischen hellem Himmel und dunkelgehaltenen Häusern scharfkantig zum Ausdruck. Er richtet seinen Blick auf städtische Fassaden, auf die Strukturen des Plattenbaus oder auf emporragende Industrietürme. Dabei wird sein Interesse am Typus der ‚ostdeutschen Stadt‘ sichtbar. Er misst ihre Raumverhältnisse, um die Konturen diese vor dem Abriss betroffenen Stadträume festzuhalten: „Schwedt ist nach dem Krieg dort hingedonnert und ausgebaut worden […]. Das ist jetzt circa 40 Jahre her. Die Werke werden belebt, es wird angebaut und dann kommt diese Wende und dann braucht man nicht mehr 9.000 Arbeiter,

150 | K UNST BAUT STADT sondern nur noch 900. Die Menschen verschwinden wieder und die Viertel werden abgerissen. Meistens machen es dieselben Leute, die sie aufgebaut haben, doch nun als ABM-Kräfte. Faktisch ist es so und das meine ich überhaupt nicht negativ, sondern nur als Bild: Es gibt meinen Kindergarten nicht mehr, die Schule, die Kaufhalle, wo ich eingekauft habe, mein Wohnhaus nicht mehr. Eigentlich ist dieses komplette Viertel verschwunden. Es gibt also nur noch Punkte, wo du dich hinstellen kannst und vage weißt: hier war es. Du hast Fluchten, wo du ganz weit hinten Perspektivpunkte hast, an die du wieder anknüpfen kannst. Doch du stehst auf dem Acker und musst dir deine Jugend zusammenreimen.“ (Brokof Interview 2006)

Brokofs Interesse an urbanen Räumen hängt eng mit der Befragung seiner Jugendzeit zusammen. Die Leerstelle der abgerissenen Wohnblöcke lese ich als Metapher für das Verschwinden eigener Lebenserfahrungen. Dabei stellt die „biografische Unvoreingenommenheit […] zweifellos einen Vorteil für künstlerische Kommentare und Interventionen im allgegenwärtigen Freilichtmuseum der postsozialistischen Plattenbausiedlungen dar,“ wie die Kunsthistorikerin Susanne Altmann (2005) feststellt. Auch Brokofs Erfahrungswissen legitimiert ihn als Kenner im Diskurs um Shrinking Cities. Er tastet die abgerissenen Konturen seines früheren urbanen Umfeldes ab, um ein eigenes Archiv des Sehens zu erarbeiten. Seine Kunstwerke zielen auf das Freilegen verschwundener, biografisch geprägter Raumerfahrungen ab. Bereits 2003 setzte er sich in seiner Arbeit Hasenkäfig mit den Fassaden ostdeutscher Neubaugebiete auseinander. Es folgt das Projekt P2, welches sich dem in Ostdeutschland verbreiteten Plattenbautypus 2 widmete. Akribisch überträgt er dabei schnitzend die Raummaße und Fassadenstrukturen in das Holz der Platten und bedient sich der Technik des verlorenen Schnitts (Altmann 2005: 7). Von derselben Druckplatte werden die nicht mehr benötigten Details entfernt und für den zweiten Druckvorgang verwendet, um beispielsweise dunklere Grautöne zu erzielen. Für seine Arbeit Jugendzimmer gewann der Künstler 2005 den Marion-Ermer-Preis. Aus alten Familienfotos – das Umfeld und ihre Personen ausklammernd – extrahierte er in seiner Installation die Details seines Zimmers: den verschwundenen Blick auf die umliegenden Plattenbauten, die Zimmerwände, sein Bett, selbst seine Topfpflanze zimmerte er zusammen und überzog sie maßstabsgerecht mit Holzschnitten. Es ergab sich ein begehbarer Raum in der Größe von 2,62 x

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3,10 x 3,68 Metern. Ein doppeltes Relikt einer vergangenen Zeit: Jugendgefühl und Verschwinden, beide werden in diesem Raum gespeichert und sind Teil seines Archivs. Die Aufhebung unhinterfragter Alltagswahrheiten ist Teil von Brokofs Auseinandersetzung mit Geschichte. Seine Suche nach der eigenen Jugend ist eng mit der Frage verknüpft, was eigentlich „objektive Geschichtsschreibung“ sein kann. Dabei schwingen Grundfragen zur deutsch-deutschen Erzählung mit, wenn er sagt: „Geschichtsschreibung ist immer eine machtvolle Beschreibung. […] Es sind aber vorgefertigte Meinungen: also lese ich in alle Richtungen, von denen die dieses Land gehasst haben, von denen die es geliebt haben. Ich lese alles mit einer grundlegenden Skepsis, denn ich kann nicht mehr frei hinter irgendetwas stehen, es gibt kein ja oder nein mehr. Es gibt immer sofort ein ‚aber‘ zu jeder Sache über die man nachdenkt […]“ (Brokof Interview 2006).

Obwohl er zwar mit der Reproduktion der ehemaligen Einrichtungsgegenstände auf seinen persönlichen Kontext verweist, achtet er auf Detailtreue und Objektivität des Dargestellten. Er fügt im Nachhinein nichts hinzu, hält die Raummaße genau ein. Er überträgt sie aus den alten Fotografien maßstabsgetreu in die Installation. Es wird deutlich, dass er der damaligen Dingwelt nichts hinzufügen möchte, sondern sich zum Ziel setzt, sie in ihrer Materialität zu reproduzieren. Auch sein Geschichtsverständnis unterstreicht dieses Bestreben nach Sachlichkeit, das von einer starken Skepsis geprägt ist. Er nimmt sich zurück und lässt nur die „Dinge“ sprechen. Auch sein Jugendzimmer wird somit zum objektiven Indiz einer vergangenen Zeit. Indem der Künstler sich an dieser Gegenstandswelt gesellschaftlicher Vergangenheit abarbeitet und seinen objektiven Ansatz betont, scheint er sich zwischen den sich gegenüberstehenden Diskursen von Ost versus West positionieren zu wollen, um sich möglicherweise vor dem Vorwurf der (N)Ostalgie schützen zu wollen. Er versteht sowohl die städtischen Außen- sowie die architektonischen Innenräume als prägende Maße einer Raumerfahrung. Nicht nur seine eigene Biografie, sondern ebenfalls Geschichte, Wissen und Erfahrung sollen dokumentiert werden. Wie ein Archäologe fördert er gebaute Räume zutage und macht sie für andere Menschen erlebbar. Sein akribisches Arbeiten am Detail mithilfe von alten Fotografien und dem langsamen Prozess des Schnitzens unterstreicht dies:

152 | K UNST BAUT STADT „[Mit dem Abriss] haben manche gesagt: ‚Na ist doch super, Tabula Rasa, neuer Anfang, alles von vorn. Jetzt kann man neu loslegen!‘ Aber womit will man denn jetzt loslegen? Das gehört einfach zu unserer Geschichte meiner Meinung nach. Wenn die nicht mehr da ist, wird es schwierig. Natürlich ist die Frage [weiterhin]: braucht man wirklich die haptische Erinnerung oder reicht nicht auch die geistige aus?“ (Brokof Interview 2006)

Sein Interesse konzentriert sich auf die Materialität der Vergangenheit. Eine Grundfrage des Künstlers liegt für mich also darin, ob sich die städtische Umwelt in der Jugend in unser räumliches Gedächtnis einschreibt und welche Folgen das Verschwinden ganzer Stadtteile und ihrer baulichen Strukturen – nicht nur in Hinblick auf Biografie und Geschichte, sondern ebenfalls auf das Wissen des Menschen vom Raum besitzt. Fragen, mit denen sich schon der Philosoph und Kulturwissenschaftler Walter Benjamin in seinem Essay Städtebilder beschäftigte (Benjamin 1992: 102). Benjamin fragte sich, wie sie ihn in seiner Jugend geprägt haben und ging davon aus, dass diese Raumerfahrung seine Persönlichkeit geformt hat. Ich sehe Parallelen in Brokofs Ansatz, wenn er sagt: „Ich nenne das immer die ‚Rekonstruktion der Dekonstruktion‘. Ich baue das [alles] wieder auf, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was es ist. Das Arbeiten daran finde ich auch sehr schön, die Recherche vor Ort, das Unterhalten mit den letzten Bewohnern, wo der Fahrstuhl abgestellt wurde und sie laufen mussten. Einer wollte die Fledermäuse dort schützen, skurrile Typen, die eine ganz rätselhafte Beziehung zu diesen [Gebäuden] aufgebaut haben.“ (Brokof Interview 2006)

Brokof befragt die letzten Bewohner kurz vor dem Abriss Schwedter Stadtteile. Er untersucht, wie sie mit der Situation umgehen. Viele von ihnen leben noch immer in den leer stehenden Blöcken. Die Recherche wird auch für den Künstler zu einer ‚Reise in die Vergangenheit‘. Diese Sequenz steht im Widerspruch zu seinem zuvor betonten Anspruch des objektiven Rekonstruierens. Brokof objektiviert die subjektiven Erfahrungen des Verlusts. Mit dieser Taktik entzieht er sich dem Vorwurf der Nostalgie, obgleich der Text Über die Brachen der Literatin Julia Schoch, welchen er für seinen Katalog auswählte, die untergründigen Emotionen zu diesem Thema deutlich macht:

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„Dass man sich an das Verschwinden von Dingen und Orten mehr erinnern kann als an die Orte und Dinge selbst. Dass man dem Verschwinden zusehen kann. […] Anstatt mit den Orten zu verschwinden, haben wir uns aufgemacht, weggestohlen. […] Schon später überlegten wir uns einen Schwur und hatten doch gar nicht die Wahl: Wir werden, wenn wir von den Orten berichten, sparsam umgehen, sagten wir, sparsam mit der Farbe, dem Licht, dem Wort. Sparsam, damit durch die Lücken das Verschwundene, unser Leben ein und ausgehen kann. […] Längst sind wir abgereist. Zuerst, dachten wir, aus Reiselust. In Wahrheit aber aus Kümmernis darüber, dass die Hässlichkeit verschwinden und dabei etwas zurücklassen kann. Inzwischen sitzen wir in Städten dieser Welt, kommen uns vor, wie die letzten Menschen mit solch einer Erfahrung. Tief unter uns nehmen die Wagen und Bahnen auf den Hochstraßen zu, überschwemmen sie die Kanäle, werden Wälder geschnitten und Häuser aufgestockt im Gewühl – in jede Behausung fünf, sechs neue Leben gezwängt. Und über allem schlagen die Laternennetze an, beleuchten beleuchtete Fenster. Wir schweigen. Was weiß diese Zeit von einer anderen (Seoul 2005).“ (Julia Schoch 2005: 32)

In diesem Prosatext von Schoch wird der Schmerz um das Verschwinden deutlich. Mit dem Satz „anstatt mit den Orten zu verschwinden, haben wir uns aufgemacht, weggestohlen […],“ weist die Autorin auf ein gemeinschaftlich geteiltes Gefühl der mobilen ostdeutschen Jugend hin: Im Motiv des Weggehens schwingen Selbst- und Fremdbeschuldigungen des ‚sich Wegmachens‘ mit. Man lässt seinen Herkunftsort und seine Häuser hinter sich und verspürt darüber ein schlechtes Gewissen. Der Text von Julia Schoch eröffnet dabei den Blick für die Grundstimmung einer Nachwendegeneration, die sich nicht nur mit dem Verschwinden ihrer Jugendorte, sondern darüber hinaus mit dem Auflösen einer geteilten gesellschaftlichen Realität beschäftigt. Ihr Text endet mit dem vergeblichen Versuch einer Übersetzung in den neuen Kontext: „Wir schweigen. Was weiß diese Zeit von einer anderen“ kann auch für Brokofs Ansatz Geltung besitzen. Wie können vergangene Ortserfahrungen in die heutige Zeit übersetzt werden? Die Stadträume sind fundamental andere, die Realität der ehemaligen DDR schwerlich kommunizierbar.

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Von der objektiven Rekonstruktion zu der Serie der ‚Comicstädte‘ In seinen neuesten Holzschnitten bewegt sich Jan Brokof vom realen Stadtraum weg. Nun arbeitet er mit Abstraktion. Er verlässt damit den biografisch orientierten Ansatz seiner ersten Holzschnitte und widmet sich der vereinfachten Darstellung von Städten. Nur noch seine Titel wie beispielsweise Berlin, New York oder Landsberger Allee (2007), dienen als Referenzen an reale urbane Räume und seinem neuen Wohnort Berlin. Abbildung 40 und 41: Jan Brokof, New York (2007); Berlin (2007)

Quelle: Jan Brokof

Wir sehen Quadrate, Gitternetzlinien, scharfkantiges Schwarz und Weiß. Diese reduzierten Formen erzielen trotz ihrer Einfachheit genügend Vorstellungskraft. Es geht ihm hier um eine Auseinandersetzung mit archaischen Bildkonventionen. Er sagt dazu: „Mir ist wichtig, alles was darum herum ist, abzuschälen.“ Dies gelingt ihm durch die Vereinfachung. Die unterschiedlichen Höhen der Wolkenkratzer werden zu großen und kleinen Kuben reduziert, die Einblicke auf Gebäudefassaden zu Gitternetzlinien abstrahiert. Ein „comicartiger Raum“ von Stadt entsteht. Mit den Titeln Berlin, New York, Paris oder Tokio greift er die Faszination für Weltmetropolen auf. Sie lassen einen Resonanzraum entstehen. Sie referieren an unsere Imaginationen von „Traumstädten.“ Wir beginnen die New York- mit der Berlin-Landschaft zu vergleichen und tatsächlich: Wir sehen das Architekturgebirge Man-

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hattans, neben dem großzügig angelegten Wohnquartieren Berlins. Brokof spielt – nicht ohne einen ironischen Unterton – mit unseren Vorstellungsbildern.

Holzschnitt – Die Wiederbelebung einer alten Technik Kunst entsteht nicht nur durch Inspiration und Auseinandersetzung mit dem persönlichen Kontext des urbanen Umfeldes, mit Literatur, Philosophie oder der Kunstgeschichte. Teil des Schaffens ist meistens auch die Befragung der eigenen technischen Voraussetzungen. Indem Brokof den Holzschnitt nutzt, reaktiviert er eine traditionelle Technik. Durch diese Strategie der Wiederbelebung wählt er auch formal ein Mittel, um Geschichte und Erinnerung medial zu unterfüttern.56 Abbildung 42: Jan Brokof, P2 (2004) Quelle: Jan Brokof

56 Das Verfahren gilt als eines der ältesten in der Kunst. In der Renaissance erfuhr es im Zuge der Buchgrafik mit den Arbeiten von Albrecht Dürer und Hans Baldung seinen Höhepunkt. Nach der Einführung des Kupferstichs verlor es wiederum an Bedeutung, da es nicht die gleiche ausdifferenzierte Qualität wie die Kaltnadel ermöglichte. Künstler des 20. Jahrhunderts griffen den Holzdruck schließlich wieder auf: So entdeckten William Morris oder Paul Gaugin ebenso wie Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein, Edvard Munch oder Emil Nolde die ausdrucksstarken Qualitäten des Mediums. Letztere schätzten seine Expressivität, seinen herben und kraftvollen Ausdruck (vgl. Lewinson 2007).

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Brokofs Arbeiten sind dadurch gekennzeichnet, dass er den Holzschnitt auf eine ungewohnte Weise einsetzt. Er testet ihn nicht nur im klassischen Sinne als eindimensionale Abbildung, sondern erweitert diesen zu Installationen: „So ‚installiert‘ er metergroße Papiercollagen, baut Reliefs und Objekte, deren massive Kerne mit Holzschnitten überzogen sind und erweitert diese bis hin zu ganzen Raumszenarien“ (Holler 2007: 21). Die Technik ist durch das langsame und mühevolle Schnitzen in die Holzplatten geprägt. Lineare oder kantige Formen gelingen schneller und expressiver, als die mit einem Cutter nur schwierig zu vollziehenden Rundungen oder Ornamente. Brokofs Drucke von Stadtlandschaften nutzen die Möglichkeiten der Technik aus, um Naivität und handwerkliche Schlichtheit als die materialimmanenten Ausdrucksqualitäten hervorzuheben. Dies wird besonders bei den ‚Comicstädten‘ deutlich. Schnell gedruckt, hinterlässt das Holz Schraffuren auf dem Papier. Durch ein fleckenhaft aufgetragenes Schwarz haben sich die Fasern des Holzes auf das Weiß des Papiers gepresst. Die ungenau gedruckten Stellen sind einkalkuliert: „Oft sieht man die Maserungen des Holzes, von dem gedruckt wird, ein Effekt, den Edvard Munch erstmals als eigenen Ausdruckswert in die Holzschnittkunst einführte. Wie bei Munch so haben auch Brokofs Holzschnitte zudem einen deutlich selbstreferentiellen Charakter, sie sind nicht nur Abbild, sondern thematisieren gleichsam die ihnen zugrunde liegende Technik selbst.“ (Holler 2007: 22)

Im Gegensatz zu den oft bewusst glanzvoll und perfekt wirkenden Oberflächen mancher Fotografien oder Videoarbeiten distanziert sich Brokof mit seiner Medienwahl gegenüber hyperrealer Bildwelten. Er vermeidet Glätte und Perfektion, betont hingegen die grobe Reliefartigkeit der Hochdrucktechnik und macht damit im doppelten Sinne auf ihren Abbildcharakter aufmerksam. Er setzt das Medium zunächst rekonstruktiv, später comicartig, überzeichnend ein. Brokof betont mithilfe der Technik unsere inneren Bilder und Imaginationen zu urbanen Räumen. Seine Wahl ‚alter‘ Verfahren wie dem Holzschnitt scheint auch in inhaltlicher Hinsicht die Aufgabe zu besitzen, die Thematik des Erinnerns zu unterstreichen. Dabei nehmen seine Stadtdarstellungen neben der Rekonstruktion genauer Raummaße die naive Form von kindlich erinnerten Landschaften ein.

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Im Punctum des Ostberliner Nahraums – Zur fotografischen Praxis Wiebke Loepers Ich stand in der leeren anonymen Halle, in der die Drähte aus der Decke hingen und KaisersPlakate klebten. Das war so ziemlich alles. Es gab keinen äußeren Anlaß, in diesem Raum zu fotografieren. Ich wußte aber, daß die Halle in den nächsten Tagen abgerissen würde. Wenn ich noch ein Bild von diesem Ort wollte, mußte ich es jetzt machen. Wie wenig sichtbare Anhaltspunkte es für jede Art von persönlichem Bezug gab, erstaunte mich, doch ich fand einen! Die Abdrücke dieser Kästen, in denen die Kassiererinnen mit ihrer Kasse saßen. WIEBKE LOEPER

Diese Fotografie von Wiebke Loeper ist kurz vor dem Abriss der Kaufhalle entstanden und bezieht sich auf das Verschwinden persönlicher Bezüge am Ort ihrer Kindheit nahe des Alexanderplatzes. Zusammen mit einem Künstlerbuch gehört sie zur Serie Lad (19961997). Später folgt das Künstlerbuch Moll 3, in welchem sie die Räume ihrer alten Familienwohnung kurz vor dem Abriss des Hauses dokumentiert und die Serie Mitte, Berlin in den Jahren 2003 und 2004. Auf diese drei Arbeiten werde ich mich im folgenden Abschnitt konzentrieren. Daneben hat sich Loeper mit einer Vielzahl anderer Themen beschäftigt. In Hello from Bloomer. Viele Grüße aus Wismar (2000) erforscht sie anhand von Familienfotografien und eigenen Aufnahmen die Lebensläufe ihrer beiden Onkel. Sie interessiert sich dafür, inwieweit die unterschiedlichen Systeme der DDR und der USA sich in ihren beruflichen und lebensweltlichen Praxen niedergeschlagen haben. Eine andere aktuelle Arbeit ist das Künstlerbuch Gold und Silber lieb’ ich sehr (2006), welches die Notizzettel enthält, die Loeper nach dem Tod ihrer an Alzheimer erkrankten Großmutter fand und durch eigene Fotografien ergänzt wurden. Damit ist das Spektrum Loepers knapp angedeutet, in welchem ‚Stadt‘ zwar einen wichtigen Platz einnimmt, jedoch von anderen Themenfeldern begleitet wird.

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Abbildung 43: Wiebke Loeper, aus der Serie Lad (1996-1997) Quelle: Wiebke Loeper

Loeper kombiniert ihre Fotografien häufig mit gefundenem Material aus Familienalben oder Notizen anderer Personen. Durch die Publikationstätigkeit von drei Künstlerbüchern konnte ich auf ihre eigene Kontextualisierung zurückgreifen und wurde dabei auf Bedeutungsverschiebungen zwischen ihrem im Jahre 1996 entstandenen Buch Lad und unserem Interview (2007) aufmerksam. Dies ist auch nicht verwunderlich, handelt es sich doch bei Moll 31 und Lad um autobiografische Arbeiten, die die Künstlerin für ihr Diplom 1997 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig erstellte. 57 Solche Verschiebungen in Kunstwerken können vor dem Hintergrund des Konzeptes der narrativen Identität (Ezzy 1998, Hall 1999, Kraus 2000) als fortwährende Rekonzeptualisierung der eigenen Biografie begriffen werden. Das bedeutet, dass die Akteure ihre Lesarten und Erzählungen verändern. Für den Titel dieses Kapitels habe ich den Begriff des Punctums von Roland Barthes (1989) gewählt, da für Loepers Arbeiten der Aspekt des fotografischen Moments vom Sterblichen im Unsterblichen interessant ist. Barthes weist in Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie (1989) auf die Besonderheit von räumlicher Gleichzeitigkeit und zeitlicher Vergangenheit („here-now“ und „there-then“) der Fotografie hin. Dieser Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart macht präsent, was in der Zwischenzeit verlorengegangen ist. Gleichzeitig bedürfe es zum Lesen der Fotografien genügend Kontextwissen,

57 An der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig studierte sie kurz nach der Wiedervereinigung in den Jahren 1990-1997 bei Arno Fischer und später als Meisterschülerin bei Joachim Brohm.

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um die „Nachricht ohne Code“ (Barthes 1989) zu entziffern: „It seems to present us with an object as a fait accompli, as if this object is implacably there, independent of a viewing subject, since the photograph represents first of all a world whose components have to be literally identified: ‚all needed is the knowledge‘.“ (Evans 1999: 13) Dieses fotografische Wissen fließt in die Texte und Arbeiten Loepers ein. Sie zeigt sich als bewusste Interpretin ihrer eigenen Bildproduktion, die Problematiken des scheinbar naturalistischen Mediums Fotografie berücksichtigend. Loeper reflektiert ihren eigenen Blick und Kontext, ebenso wie denjenigen ihrer Familie, deren Fotografien sie stellenweise verarbeitet. Sie geht somit auf ein Basiskonzept der Visual Culture für die Interpretation von Fotografien ein: nämlich dem komplexen Orbit der Visualität (Evans/Hall 1999), der sich aus der Relation zwischen visuellen Registern und Apparaten, den Körpern von Produzent und Rezipient, Figuralität und gesellschaftlichem Kontext ergibt (vgl. Evans/Hall 1999: 3ff.). Die Künstlerin reflektiert damit ihren eigenen Blick, der vom gesellschaftlichen Entstehungskontext gerahmt wird.

Moll 31 – Die Innenräume der alten Wohnung festhalten Die Diaprojektion Moll 31 referiert in Größe und Format auf ein älteres Künstlerbuch Loepers von 1995. Im Ausstellungsraum kommt das Abspielen der Dias einem Blättern durch ein Buch gleich. Wir sehen zunächst das Cover, um mit jedem Knopfdruck des Projektors tiefer in die privaten Räume ‚hineinzublättern‘. Indem Loeper die Ausstellungsbesucher einlädt, sich auf einem Sessel niederzulassen und den Apparat selbständig zu bedienen, soll ein Moment der Interaktion zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, zwischen familiären Innen- und öffentlichem Ausstellungsraum, entstehen.

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Abbildung 44: Wiebke Loeper, Moll 31 (1995)

Quelle: Wiebke Loeper

Abbildung 45: Wiebke Loeper, Moll 31 Künstlerbuch (2005)

Quelle: Wiebke Loeper

Loeper führt uns in ihre damalige Wohnung in der Mollstraße 31. Basierend auf den Fotografien ihres Vaters aus den Siebzigerjahren, hält sie kurz vor dem Abriss ihres Wohngebäudes genau den Abschnitt ihrer Wohnung ein zweites Mal fest. Sie positioniert sich mit ihrer Kamera im gleichen Winkel, in der gleichen Haltung, die der Vater damals eingenommen hatte. Dadurch ergibt sich ein Vorher-NachherVergleich. Zu Beginn sehen wir eine Aufnahme des leer stehenden Wohnblocks kurz vor dem Abriss, daneben ist eine Fotografie arrangiert, die die junge Mutter Loepers vor dem frisch erbauten Gebäude

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strahlend zeigt. Es geht hinein in die Wohnung, die mit der damals hochmodernen Einrichtung des variablen Wohnens, die Lebensvisionen der ersten DDR-Generation symbolisierte. Als Gegenstück sucht Loeper eine Aufnahme der leeren Räume – kurz vor dem Abriss – aus. Nur ein paar Kartons liegen in der Ecke. Für Loeper besitzt der Titel Moll 31 eine doppelte Bedeutung: Er ist einerseits Referenz an den Straßennamen, andererseits verweist er auf die melancholische Grundstimmung von Musik. Sie schreibt in ihrem Vorwort: „Mein Jahr 0 und das des Hauses fielen zusammen. Oben im 17. Stock lebten wir drei. Ich wurde volljährig, man zog das Haus leer, und seitdem ist es eine Ruine.“ Bei der Dokumentation geht es nicht nur um das Verschwinden einer vertrauten Innenwelt, sondern ebenfalls um das gesellschaftlicher Visionen, die sich im variablen Wohnen ihrer Eltern verdinglichten: „Es beginnt schon damit, dass diese Wohnung und dieses Experiment des variablen Wohnens sehr viel mit den maximalen Vorstellungen in diesem Land DDR zu tun hatte. Einerseits: Architektur, Fortschritt, Weiterentwicklung des Bauhaus-Gedankens. Andererseits war dies auch nur in Berlin möglich. Das hätte ja nie in Cottbus oder Zwickau realisiert werden können. Es wurde für diese Wohnung extra ein Möbelsystem von Studenten entwickelt. Dafür brauchte es aber bestimmte Bezugsstoffe. Diese Stoffe waren ein rein Ostberliner Phänomen, die waren nur hier erwerbbar. Gleichzeitig waren diese Entwurfsideen typisch für diese Zeit, wie die verschiebbaren Wände, die abwaschbaren Oberflächen. Es gab solche Ideen sowohl in Ost als auch West.“ (Interview Wiebke Loeper 2007)

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Abbildung 46: Wiebke Loeper, Moll 31 (1995)

Quelle: Wiebke Loeper

Abbildung 47: Wiebke Loeper, Moll 31 Künstlerbuch (2005)

Quelle: Wiebke Loeper

Das Gebäude, ursprünglich Ausdruck des Fortschritts, steht an einer der wichtigsten Ostberliner Magistralen. Dies wird ihm zum Verhängnis, denn es ist schon nach weniger als 20 Jahren marode. Es stand nämlich an der Protokollstrecke, genau dort, „wo Erich Honecker jeden Tag zur Arbeit vorbeifuhr. Man hat dieses Fundament des Hauses nicht aushärten lassen, weil man ja zu Honeckers Geburtstag mit diesem Bau fertig sein wollte.“ (Loeper Interview 2007) Die Arbeit Moll 31 bringt verschiedene Ebenen zusammen. Es ist eine Auseinandersetzung mit den Visionen der DDR-Gesellschaft, mit

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den internationalen Vorstellungen vom Neuen Wohnen sowie mit der Abbildung privater Träume vom Glück. Und schließlich geht es hier um die Verarbeitung eines weiteren Verlustes: den Tod der Mutter, der sich durch das plötzliche Fehlen der blonden Frau und das jähe Auftauchen ihres Grabsteins dokumentiert. „Vielleicht ist es die Erzählung des Verschwindens, die die Arbeit so beeindruckend macht: dem des Hauses, der Frau und des Landes drumherum und als alles umschließendes Ganzes vielleicht auch der Tod der Utopie, die Licht, Luft, Sonne für alle und noch vieles mehr versprach […]“, schreibt Annett Gröschner im Anhang des wiederaufgelegten Künstlerbuches (2005: 2). Neben diesen persönlichen Einblicken, die uns Loeper in ihre Privaträume und ihr Leben gewährt, entsteht eine Spannung aus der Kombination von Familienfotografien und eigenen Aufnahmen. Diese Methode basiert auf ihrem Wissen um das Medium der Fotografie als „Verkörperung eines Idealortes oder eines Idealzustandes“, wie es Joachim Kallinich in seinem Aufsatz Fotografie und Lebensgeschichte (1983) formuliert. Während Familienfotografien häufig der Integration von Veränderungen in bekannte Muster dient, sich die Mitglieder immer wieder über das Anschauen alter Aufnahmen selbst vergewissern, lässt Loeper durch die Bildkombinationen einen Spalt entstehen. Es handelt sich eher um eine De-integration, denn um eine Vereinbarung von Vergangenheit und Gegenwart. Erst auf den letzten Seiten der Arbeit mildert sie diesen Einschnitt ab. Das Buch endet mit hoffnungsvolleren Aufnahmen, indem sie sich beispielsweise mit ihrer Teenagerfreundin zeigt. Beide schauen leicht lächelnd über die Balkonbrüstung in den damaligen Ostberliner Nachthimmel. Auch das finale Bild stimmt etwas hoffnungsvoller angesichts des leuchtenden Fernsehturms, den man vom 17. Stock ihrer Wohnung aus sah. Er steht auch heute noch da.

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Abbildung 48: Wiebke Loeper, Moll 31 (1995)

Quelle: Wiebke Loeper

Abbildung 49: Wiebke Loeper, Moll 31 Künstlerbuch (2005)

Quelle: Wiebke Loeper

Lad – Loslösungen vom Außenraum der Stadt In der Serie Lad beschäftigt sich Loeper ebenfalls mit dem Verschwinden. Hier verlässt sie die privaten Innenräume der ehemaligen Wohnung und streift nur durch ihr Viertel. In dieser Serie zeigt sie die Orte, Menschen und Dinge ihrer Ostberliner Jugend. Der Titel Lad referiert auf das plattdeutsche Wort für eine Truhe auf Rädern, in der Kostbarkeiten des Haushaltes vor Brand, Unwetter und Sturmfluten

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gesichert werden. Loeper hält mit ihren Aufnahmen die graffitiüberzogenen Mauern ihrer alten Schule fest, dokumentiert den Abriss der anliegenden Kaufhalle anhand einer rechteckigen Leerstelle, zeigt das Porträt ihrer ehemaligen Kindergärtnerin und fängt den Dämmerzustand der verlassenen Sporthalle ein. Damit sind implizit Fragen nach der Entwertung von biografischem Wissen im Zuge der räumlichpolitischen Transformationen Berlins verbunden. „Lad hat ganz klar mit einem Anerkennen von Herkunft zu tun. Mit einer Befragung des Begriffs Heimat, ob es so etwas überhaupt für mich gibt. Die Arbeit entstand aus dieser eigenartigen Fremdzuschreibung [nach der Wiedervereinigung] mit einem Land, was quasi verschwunden ist. Es ist diese Auseinandersetzung damit, dass man mit einem Land verbunden wird, mit Formen oder Denkhaltungen, weil man dort herkommt. Insofern war das erst einmal eine Befragung dieser Orte: Wie sehen die überhaupt aus? Was sind das für Orte des Aufwachsens? Man kann sich als Kind vieles erträumen, aber mein Schulweg ging eben an einer Magistralen Berlins und quer durch ein Neubaugebiet hindurch. Es ging also um ein Anerkennen der Herkunft, um sich gleichzeitig ebenfalls davon lösen zu können.“ (Interview Loeper 2007)

Abbildung 50-52: Wiebke Loeper, aus der Serie Lad (1996-1997) Quelle: Wiebke Loeper

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Ähnlich wie Brokof beschäftigt sich auch Loeper mit ihrem urbanen Erfahrungskontext. In ihrer Arbeit befragt sie ihre Herkunft anhand der Dinge, Orte und Menschen, die sie in Ostberlin umgaben. Sie zeigt uns diese, ohne ihre Hässlichkeit zu verhehlen: „Mit meinen beiden Arbeiten habe ich die Beziehungslosigkeit anerkannt, beziehungsweise auch die Ablehnung mancher Dinge. Daher rührt auch der Umgang mit diesen. Sie sind ja nicht liebevoll aufgenommen, sondern ich habe sie einfach ‚abgeknallt‘. Vollautomatische Mittelkamera, das war wie ein ‚Pam, Pam‘, ein Abknallen. Es den Orten irgendwie auch ein bisschen heimzahlen.“ (Interview Loeper 2007)

Die Präsentation ihrer Fotografien zeigt ambivalente Momente. Während sie sie in einem schnellen, beinah brutalen Vorgang ablichtet, präsentiert sie die fertigen Aufnahmen sorgfältig von Vorder- und Rückseite geschützt in Kunststoffträgern. Durch diese Form und den Titel Lad wird die Bedeutung dieser Orte deutlich. Auch wenn diese hässlich sind, bewahrt Loeper sie unter den transparenten Platten auf. Diese Praxis des Archivierens dient ebenfalls einem Ablegen von Dingen, wie Loeper es beschreibt: „Es handelt sich dabei um ein zwiespältiges Gefühl, das die Arbeit natürlich nicht löst, aber was ein ganz wichtiger Antrieb ist. Einerseits eine große Sehnsucht, diese Heimat zu besitzen, aber andrerseits auch die Enttäuschung, was sie eigentlich im Endeffekt ist. Bewahren und gleichzeitig Abzulegen, also beides. Auf jeden Fall hat für mich Fotografie immer diesen Stellvertretercha-

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rakter. In dem Moment, wo das Bild aufgenommen wurde, kann ich mich von der Vorlage in der Realität lösen. Dieser Referenzcharakter von Fotografie ist mir wichtig – und damit sind wir bei Roland Barthes, das Ding verweist auf das, was vor der Kamera einmal war.“ (Interview Loeper 2007)

Eine Fotografie ist ein Stellvertreter für das verschwundene Ding, den verlorenen Menschen oder einem damaligen Ort. In seiner Theorie zur Fotografie kombinierte Roland Barthes Annahmen der Phänomenologie mit solchen der Psychoanalyse. Er unterscheidet das Studium vom vorher erwähnten Punctum. Während Ersteres an die Sprache gebunden bleibt, nur durch sie Bedeutung kollektiv mitteilbar ist und sich damit auf erfahrene Phänomene bezieht, wohnt dem Punctum das Unbewusste und Nichtsprachliche inne (Burgin 1987: 63ff.). Der Begriff des Punctums referiert auf das lateinische Wort für Trauma oder Wunde. Lacan interpretiert dies als mütterliche Abwesenheit im frühkindlichen Stadium. Angelehnt an diese Überlegung kann eine Fotografie nach Barthes an etwas erinnern, welches das Kind in der Significance erlebt hat (der Zeit, in der es seine taktilen Fähigkeiten noch dicht am Körper der Mutter entwickelt). Laut Barthes schwingen also in der Fotografie immer zwei Momente mit: die kollektiv und über die Sprache vermittelbare Bedeutung des Studiums sowie der nur individuell erlebte über das Unterbewusstsein transportierte Augenblick des Punctums. Die Fotografie hat somit einen doppelten Referenzcharakter: Sie verweist nicht nur auf das Festhalten vergänglicher Dinge, sondern sie ist gleichzeitig Ausdruck individuell-unterbewusster ebenso wie gesellschaftlich-geteilter Erfahrungen. Das Festhalten der Dingwelt und der Orte in den Fotografien von Loeper transportiert diese beiden Momente von Punctum und Studium. Sie können gleichermaßen für die kollektiv geteilte Erfahrung der Wiedervereinigung stehen sowie für den subjektiv erfahrenen Verlust. Durch ihre scheinbar realitätsabbildende Qualität stellen sie dies schneller und effizienter her als es ein Holzschnitt vermag.

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Abbildung 53 und 54: Wiebke Loeper, aus der Serie Lad (1996-1997) Quelle: Wiebke Loeper

Jedes Objekt hat eine sprachlich vermittelbare ebenso wie individuelle Bedeutung. Dabei wird sowohl in Loepers als auch in Brokofs Arbeiten ein erhöhtes Interesse an Dingen und Orten als Speicher von Erinnerung deutlich. „Loeper believes that finding an image for something prevents this something from getting completely lost“ (Paeslack 2006: 547). Ihre Fotografien des Berliner Stadtraumes dienen dem Archivieren. Die Dinge stehen für die Präsenz des damaligen Lebens, sie sind Ausdruck der Vergangenheit.

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Abbildung 55: Lad (1996-1997) gehängt durch Loeper in der Ausstellung Place Makers

Quelle: Place Makers Ausstellung, kuratiert von Christine Nippe, Curators Without Borders, Foto: Catherine Nippe

Für die Präsentation ihrer Arbeiten wählt sie eine räumliche Anordnung, die das menschliche Erinnerungsvermögen mit seinen Lücken nachempfindet. Diese Leerstellen verweisen auf das kontinuierliche Neuanordnen von Erinnerungen im Gedächtnis. Ihre Jugendstadt Ostberlin wird somit auch immer wieder neu arrangiert.

Die Mitte finden Die dritte Arbeit Loepers Mitte, Berlin entstand in den Jahren 20032004. In unserem Interview beschreibt sie ihr damaliges Anliegen als eine Suche nach dem Verhältnis der Stadt zu ihren Bewohnern. In dieser Serie kombiniert sie Aufnahmen von Orten mit solchen von Personen. Sie untersucht beide in Hinblick auf ihren Zustand und ihrer Beziehung zueinander: „Das Bild von Berlin hat sich in dieser Zeit so wahnsinnig schnell verändert, weil es so stark kommuniziert wurde. Leute von außen kamen mit ganz starken Bildern von der Stadt her, sehr im Gegensatz zu meinem eigenen Erleben. Mit-

170 | K UNST BAUT STADT te, Berlin war wie eine Bestandsaufnahme. Mich haben Fragen beschäftigt, wie etwa: Wie sieht diese Stadt eigentlich aus? Was sagt das Aussehen der Stadt über den Zustand der Bewohner und umgekehrt?“ (Interview Wiebke Loeper 2007)

Abbildung 56: Wiebke Loeper, Mitte, Berlin (2003-2004) Quelle: Wiebke Loeper

Auch in dieser Arbeit besitzt der Titel eine doppelte Bedeutung: Einerseits geht es um den Stadtteil, andererseits auch um das persönliche Zentrum des Individuums. Loeper sucht in den Gesichtern und auf den Mauern der Stadt nach Spuren, die Aufschluss über ihr inneres Befinden geben können. Räumlich fokussiert sie dabei das Areal in Mitte, sozial die Generation von Gleichaltrigen, die hier leben. Beide Auswahlkriterien ergeben sich aus ihren persönlichen Bezügen. „Deswegen habe ich mir auch als Viertel die Mitte Berlins gewählt, in dem ich geboren, aufgewachsen bin, lebe und arbeite und das mittlerweile zu einer weltweiten Projektionsfläche geworden ist. Es war eine Überprüfung, wie ich diese Oberflächen sehe. Auch weil ich das Gefühl hatte, dass sich die Oberflächen schließen und dass man immer weniger die Möglichkeit hat, hinter die Dinge zu schauen. Dieses Übertünchen, dieser Versuch, etwas zu erzeugen, aber Dinge nicht in den ‚Griff zu bekommen‘. Es hatte sehr viel mit meiner eigenen Generation der 30 bis 40-jährigen zu tun, die sich in diesem Jugendwahn immer noch wie Studenten organisieren, gerade im Kontrast zu unseren Eltern. Dass wir ähnlich wie die Stadt keine festen Strukturen mehr bauen und gleichzeitig wahnsinnige Maßstäbe an uns setzen. Das ist eine schöne Parallele zu Berlin, welche als Stadt eine europäische Metropole sein will. Ich konnte in den Gesichtern meiner Freunde und im Gesicht der Stadt, diese Erschöpfung wahrnehmen. Meine Frage war: Woher kommt diese Erschöpfung?“ (Interview mit Wiebke Loeper 2007)

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Abbildung 57-60: Wiebke Loeper, Mitte, Berlin (2003-2004)

Quelle: Wiebke Loeper

Loepers Arbeit ist hier weniger stark vom Erinnern geleitet als ihre vorigen Serien, dennoch deutet sich hier ebenfalls der subjektive Zugang der Künstlerin an. Sie sucht nach Gründen für die Kraftlosigkeit der Stadt und ihrer Bewohner. Gleichzeitig spricht sie in unserem Interview von einem Existenznachweis, den sie durch ihre Fotografien erzielen möchte. Bei Mitte, Berlin handelt es sich somit auch um die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Zustand, den sie auf ihre Generation und das urbane Umfeld überträgt. Es geht ihr um das Dokumentieren eines Schwebezustands. Dabei beschreibt sie den Verlust fester Strukturen sowie die von ihr beobachtete Überforderung einer Generation und transferiert ihr eigenes Empfinden auf die Stadt.

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Untersuchungsdispositiv Kamera – Einige Überlegungen zur fotografischen Praxis Loepers Für Mitte, Berlin (2004-2005) durchstreifte Loeper mit ihrer Kamera die Stadt. Sie ist auf der Suche nach Orten, die einen spezifischen Zustand verkörpern. Dabei versteht die Künstlerin ihre Kamera als Instrument, mit deren Hilfe sie ihren Fragen nachgeht. Ihre fotografische Praxis entspricht einem Klärungsprozess. Sie beginnt mit einem systematischen Ablaufen der Orte, mithilfe ihrer Kamera fokussiert und selektiert sie Situationen: „Für mich ist die Kamera immer auch ein Forschungsmittel. Es ist ein großer Unterschied, ob ich die Straße mit der Kamera ablaufe oder im Täglichen. […] Es gibt Schlüsselbilder, da zeigt sich das Gefühl, das ich fassen wollte. Zusätzlich gibt es ebenfalls eine zweite Ebene von Orten. Es handelt sich dabei um einen Aneignungsprozess. Ich wollte zum Beispiel auch mein Bild vom Palast der Republik und vom Staatsratsgebäude haben, also Orte, die in jedem Touristenführer repräsentiert sind.“

Loeper wählt Orte des Unfertigen und Provisorischen. Wir sehen vor einem frisch verputzten Neubau die unvollständig installierten Metallhalterungen einer Ampel, eine halb getünchte Plattenbaufassade, ein Steinbrocken auf den Stufen des Palasts der Republik oder eine Küchentür mit einem klaffenden Loch. Abbildung 61-63: Wiebke Loeper, Mitte, Berlin (20032004) Quelle: Wiebke Loeper

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Hier befindet sich noch alles im Aufbau, nichts scheint abgeschlossen. Dazwischen schauen uns Menschen fragend, unsicher, manchmal kritisch an. Für ihre Aufnahmen bat sie die meist weiblichen Porträtierten, sich im Objektiv der Kamera zu betrachten. Entstanden sind Aufnahmen, die uns an den prüfenden Blick in den Spiegel erinnern, mit dem der innere Zustand befragt wird: „Am Ende waren es alles Freunde von mir. Es war nur eine Person dabei, die ich auf der Straße angesprochen habe. Im Verlauf der Arbeit habe ich dann noch gemerkt, dass es nur bei Frauen funktionierte. Denn Frauen stecken in einer besonderen Situation: sie müssen sich entscheiden, welchen Weg sie gehen, für Kinder oder nicht usw. Diese Entscheidung hat eine andere Präsenz zur Folge. […] Ich suche einfach nur, wo sich im Gesicht, in der Haltung des Körpers etwas zeigt. Es ist aber mein Blick, der das festschreibt.“ (Interview mit Loeper 2007)

Loeper nutzt die Kamera nicht nur als Forschungswerkzeug für die Stadt, sondern ebenfalls als persönliches Untersuchungsinstrument. Die Kamera verkörpert dabei einen sensibilisierten Blick, einen Apparatus (Foucault) der Selbstreflexion. Anhand ihrer drei Serien zu Berlin wird deutlich, dass diese immer auch eine Suche nach dem Selbst verkörpern. Die Bilder sprechen vom liminalen Moment des sich Zurechtfindens und Verortens. Zugespitzt bedeutet dies, dass Loepers Aufnahmen ihren Versuch dokumentieren, sich auf einen sich wandelnden gesellschaftlichen und städtischen Kontext einzustellen: „Berlin functions as a manifestation as well as a metaphor of fragmen-

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tation, reunification, and transformation. As such, it can be understood as the quintessence, pars pro toto, for a nation curiously ambivalent about reunification.“ (Paeslack 2006: 548) Die ehemals geteilte Stadt wird zur Bühne für die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Bewohner und kurzfristigen Besucher. Loeper möchte mithilfe ihrer Fotografien das unterschiedliche Wissen um die Stadt sichtbar machen: „Ich wollte meinen spezifischen Blick aus meiner Herkunft heraus beschreiben, um diesen für andere lesbar zu machen, die die gleichen Oberflächen benutzen. Denn das Wissen um die Orte ist sehr unterschiedlich ausgeprägt, deswegen sind die Lesarten auch sehr heterogen. Bei beiden Arbeiten […] geht es mir darum, meinen Platz in dieser Stadt zu behaupten. Das hat auch etwas mit einem Existenznachweis zu tun.“ (Interview mit Loeper 2007)

Ihre Arbeiten machen auch die Ambivalenz der städtischen Transformationen deutlich. Hier geht es weniger um den Kult der neuen Hauptstadt, sondern um ein Nachdenken über die urbane Vergangenheit und den Jetzt-Zustand. Denn die Stadt ist aus ihrer Sicht Speicher und Manifest einer persönlichen ebenso wie einer gesellschaftlichen Umbruchsituation, die sich durchaus schmerzhaft vollzogen hat.

Fazit – Die Konzepte Brokofs und Loepers zur Stadt Im vorliegenden Kapitel habe ich aufgezeigt, dass sich sowohl Brokof als auch Loeper mit dem Topos der Stadt im Sinne eines Archivs von Erfahrungen auseinandersetzen. Beide haben ein Verständnis, welches eng mit Vorstellungen an die Umwelt als Erfahrungsraum gekoppelt ist. Für beide besetzen die Orte ihrer Kindheit eine wichtige Rolle in ihrer künstlerischen Praxis, doch finden sich in ihren Ansätzen ebenfalls unterschiedliche Strategien der Stadtdarstellung: Jan Brokof interessiert sich für die verschwundene gebaute Umwelt in ihrer Maßstabstreue. Seine Faszination an der Rekonstruktion ist eng mit seinem Interesse an kindlichen Raumerfahrungen gekoppelt und findet weitestgehend ohne persönliche Bezugspersonen statt. Bei Wiebke Loeper tauchen die urbanen Orte ihrer Kindheit und Jugend hingegen in enger Beziehung mit ihr wichtigen Menschen auf. In Moll 31 reproduziert sie den Kamerablick ihres Vaters. Dadurch entstehen persönliche Narrationen zu ihrem fotografischen Gedächtnisort Berlin.

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Brokof betont seinen künstlerischen Ansatz der objektiven Rekonstruktion – obgleich dahinter Emotionalitäten zu Tage treten, während Loepers Fotografien bewusst einen subjektiven Ansatz des Existenznachweises verfolgen. Bei beiden kann man eine zunehmende Distanzierung von anfänglich biografisch orientierten Arbeiten beobachten: Während sich Brokof in seiner aktuellen Auseinandersetzung mit Stadt von den realen Strukturen entfernt und sich zunehmend einer archaischen Bildsprache metropolitaner Vorstellungsbilder zuwendet, beschäftigt sich auch Loeper in ihrer neueren Arbeit Mitte, Berlin (20032004) mit geteilten Dimension des Urbanen. Hier geht es ihr um die Erforschung des „Gesichts der Stadt“ und ihrer Bewohner. Dabei spiegelt sie den baulichen Zustand der Stadt im Ausdruck der Menschen. Die Porträts verkörpern das spezifische Lebensgefühl und den Zustand, in welchem Loeper sich auch selbst gerade befindet. Ihr Blick sucht und findet den Moment des Unfertigen. Ich erkläre mir das Abwenden von biografischen Topoi als Loslösung. Viele Arbeiten, die im Anschluss an das Studium erstellt werden, dienen dem Erproben und dem Finden einer eigenen Handschrift. Oftmals werden dabei individuelle Lebensbezüge aufgegriffen, um sich erst nach einer gewissen Phase davon abzunabeln. Interessant ist, dass sowohl Brokof als auch Loeper ihr jeweiliges Medium als „Filter“ für die Auseinandersetzung mit dem Stadtraum begreifen. Während Loeper die Kamera als ein Instrument beschreibt, mit welchem sie die Straßen abläuft und erforscht, entwickelt Brokof seine Bilder mithilfe einer doppelten Objektivierung: Er nutzt Fotografien und überträgt diese maßstabsgerecht in die Holzstöcke, um sie schließlich lagenweise auf das Papier zu drucken. Beide Techniken werden in Hinblick auf eine biografische Erfahrungswelt eingesetzt. Dabei werden die medialen Repräsentationen von urbanen Orten und ihrer Architektur zu Stellvertretern räumlicher Erfahrung. Diese werden in den Kunstwerken gespeichert. Diese Prozesse des Bewahrens bedeuten auch eine Distanzierung von den Dingen. Denn durch das Festhalten der verschwundenen Orte in den Kunstwerken haben sich beide am Verschwinden des realen Plattenbaus, der Kaufhalle oder der Hochhaussiedlung abgearbeitet. Sie sind auf den Trägern gespeichert und können förmlich ‚abgelegt‘ werden. Ihre Stadtrepräsentationen werden somit zum Ausdruck eines übergeordneten Archivs gesellschaftlicher Transformationen. Während Brokof eine Objektivierung des gebauten Umfeldes verfolgt, handelt es sich bei Loeper um eine

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Subjektivierung – eine Vermenschlichung der Stadt. Obwohl sich beide Ansätze in ihrem Zugang und ihrer Darstellungsweise fundamental unterscheiden, müssen sie vor dem Hintergrund der Transformationen nach 1989 gelesen werden. Während das Alltagswissen, das kulturelle Kapital sowie das Geschichtsverständnis der ‚verschwundenen Gesellschaft DDR‘ im Laufe der Neuformierung der ‚neuen Bundesrepublik‘ abgewertet wurden, verbleibt ‚Stadt‘ als einzig anerkanntes Thema für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit. Ostberlin wird dabei sowohl Speicher, liminaler Ort ebenso wie Zukunftsvision anhand dessen die veränderten gesellschaftlichen Realitäten im wiedervereinigten Deutschland bearbeitet und verhandelt werden.

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6.3 D ISKURSRAUM S TADT – D IE KONTEXTBEZOGENE K UNST D ELLBRÜGGE & DE M OLLS Ich glaube also, daß die heutige Unruhe grundlegend den Raum betrifft – jedenfalls viel mehr als die Zeit. MICHEL FOUCAULT

Abbildung 64: Dellbrügge/de Moll, New Harmony (2007)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Die Stimmen schwellen an, der Ton wird schriller, unwilliges Kopfschütteln. Ein Kreuzberger Bezirksverordnetenmitglied liefert sich mit einem Mitarbeiter vom Künstlerhaus Bethanien einen verbalen Schlagabtausch. Wir befinden uns in der Ausstellung New Harmony von Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll im Künstlerhaus Bethanien.58 Im Halbrund einer aus der Antike nachempfundenen Arena sitzen Besucher und eingeladene Experten. Das Künstlerduo hat zu ihrer Ausstellung ein Rahmenprogramm konzipiert, dessen zentraler Bestandteil dieses Forum ist. Nach einer kurzen Einführung in das abendliche Thema „Branding the Bethanien“ wird die Diskussionsplattform eröffnet, am Ende soll abgestimmt werden. Heute lautet die Frage: Pro oder Contra für eine Dachmarke Bethanien? Im Verlauf des Abends nimmt die Spannung zu, als sich die unterschiedlichen Träger des Komplexes zu Wort melden. Neben den Mit58 Seit ihrem Studium an der Kunstakademie in Karlsruhe arbeiten sie zusammen, 1988 zogen sie nach Berlin.

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arbeitern des Künstlerhauses, den Werkstätten und dem Atelierprogramm, sind viele Interessierte gekommen. Von den ehemaligen Hausbesetzern aus der Yorkstraße, die nun ebenfalls im Bethanien untergekommen sind, ist keiner gekommen. Es wird die seit Sommer 2005 bestehende Situation der Hausbesetzung im Südflügel des Gebäudes und der damit verbundene politische Beschluss zu einer neuen gemeinschaftlichen Trägerschaft diskutiert. 59 Unterschiedliche Vorstellungen von ‚Kultur‘ stehen sich gegenüber. Hinzu kommt die Angst, dass das Künstlerhaus seine Position im umkämpften Feld in Berlin schwächt. Während die eine Seite das internationale und von vielen Botschaften unterstützte Atelierprogramm rühmt, verweisen die anderen auf den Bezirk Kreuzberg und seine sozialen Probleme. Es zeigt sich hier eine Gegenüberstellung von bildender Kunst versus Soziokultur.

Die künstlerische Praxis als Diskursproduktion Die Plattform illustriert ein zentrales Instrument Dellbrügges und de Molls. In ihren Arbeiten setzen sich die Künstler mit ihrem Kontext auseinander, um ihn hinsichtlich seiner diskursiven Konstellation zu dechiffrieren und zu bearbeiten. Während sie in KunstkonsumentenProfile (1992-95) oder DressCode (2004) die institutionelle Rahmung anhand von Rezeptionstypen oder einer interaktiven Vermittlung reflektierten, beschäftigen sie sich nun verstärkt mit Urbanität.

59 Nachdem Besetzer von der Räumung in der Yorckstraße betroffen waren, erhielten sie von der Kreuzberger Lokalpolitik ihre Duldung im Bethanien. Die zuvor angestrebte Privatisierung, die das Künstlerhaus Bethanien, Musikschule und Druckwerkstatt mit den ansässigen Vereinen und Produktionsfirmen unter einem Dach zusammenführen sollte, wurde von Seiten der Politik wieder aufgegeben. Die Kreuzberger Abgeordneten beschlossen ein gemeinschaftliches Trägermodell, welches einstimmig Entscheidungen fällen muss (van Bebber 2006, Schönball 2007, van Bebber 2008).

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Abbildung 65: Dellbrügge/de Moll, Musterstädte (1995)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

So kombinieren sie in der Aquarellserie Musterstädte (1995) Motive von Paris, Moskau, Kassel bis Berlin mit Zitaten von Stadtplanern und Architekten.60 In ihrer Arbeit Der gute Ruf der Architekten (2005), ein Projekt, das sie im Zuge der Veranstaltungsreihe x-wohnungen vom Berliner Theater HAU inszenierten, geht es ebenfalls um städtebauliche Utopien. Diese untersuchten sie im Kontext des Märkischen Viertels. Als Ort wählten sie den Gebäudekomplex des Architektenteams Müller/Heinrichs. Dort luden sie Besucher auf das Dach des Gebäudes ein. Ausgestattet mit Helmen und Megaphonen, konnten die Akteure stadtplanerische Leitsätze hinaus in das Viertel rufen. So hörte man Formulierungen wie: „Individualismus der Einzelwohnung im Arrangement durch Staffelung und Farbe betont: das ist Demokratie.“ Von sechs weiteren Häusern aus antworteten ihnen gegenüberstehende Besucher.

60 Auf ihrer Homepage stellen die Künstler ihre Arbeiten mithilfe von kleinen Abbildungen und Kurztexten vor: www.workworkwork.de vom 22.11.2006.

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Abbildung 66 und 67: Dellbrügge/de Moll, Der gute Ruf des Architekten, x-wohnungen, Suburbs, HAU (2005)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Diese unterschiedlichen Projekte deuten bereits ihr Interesse zu Stadt als Kontext und Vorstellungsraum an. Bei meiner folgenden Analyse möchte ich mich auf ihre aktuellsten, in Berlin situierten Arbeiten Artist Migration Berlin (2006) und New Harmony (2007) konzentrieren. Mich interessiert, wie sie sich mithilfe ihrer künstlerischen Methoden dem städtischen Kontext annähern, um neue Diskursformationen zu arrangieren. Ich möchte mir dabei ihr jeweiliges Vorgehen anschauen, um zu erörtern, welche Orte sie sich in Berlin aussuchen, und wie sie sie mithilfe ihrer Techniken künstlerisch präsentieren. Welche übergeordneten Vorstellungen von Stadt werden aus ihren Projekten ersichtlich? Es kann gefragt werden, ob eine intervenierende Kunst ein effektiver Ort sein kann, die Funktion einer kritischen Instanz städtischer Öffentlichkeiten zu übernehmen. Ferner interessiert mich die Frage, welche Theorien sie sich in einem Wissenstransfer aneignen, um in ihrer funktionalen Ortsspezifik (Meyer) diese zu transformieren. Sie untersuchen Orte nämlich über ihren Kontext und greifen dabei, wie ich zeigen werde, auf Ansätze von Pierre Bourdieu, Michel Foucault oder Michel de Certeau zurück. Ihre Praxen der Ortsproduktion

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und die Rolle von aus der Wissenschaft entlehnten Verfahren möchte ich in diesem Kapitel ebenfalls diskutieren. 61

Die künstlerische Selbstpräsentation des ‚Ankommens‘ Ich besuche Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll in ihrer Wohnung. Nähe der Heinrich Heine Straße geht es über einen schmalen Trampelpfad durch Hochhausblöcke. Ein Treppenaufgang führt mich in das großzügige Loft hinauf. Die beiden Künstler wohnen in einem puristisch gehaltenen weißen Raum mit hohen Decken, ihre Wölbung erinnert an die vormals handwerkliche Nutzung. Im Eingangsbereich stehen zwei Apple-Rechner dicht beieinander, ein Hinweis auf ihre enge praktische Zusammenarbeit. Wir setzen uns an einen langen, glatten Tisch und trinken Tee aus feinen Porzellanschalen. Die Kleidung ist abgestimmt auf die Puristik und das Design des Lofts: Ralf de Moll trägt ein schlichtes kariertes Hemd, Christiane Dellbrügge einen schwarzen Rollkragenpullover und roten Lippenstift. (Ethnografisches Tagebuch vom 23.11.2006) In ihrer Publikation New Harmony (2007) schildern die beiden Künstler, wie sie sich in Berlin installierten. Es ist eine ‚Erzählung des Ankommens‘, die sie anhand der Berliner Viertel und Institutionen beschreiben. 1988 kamen sie durch das Atelierprogramm des Künstlerhaus’ Bethanien nach Berlin. Nach einer Wohnung „mit Außenklo und Ofenheizung im Prenzlauer Berg und einem Jahresvertrag bei Fit am Rosenthaler Platz“ (Dellbrügge/de Moll 2007: 9) ging es für sie Anfang der Neunzigerjahre in ein Atelier der ehemaligen Margarinefabrik, die zum Ausstellungs- und Produktionsort der Kunst-Werke e.V. umfunktioniert worden war. Diese Institution symbolisiert in ihrer Beschreibung den erfolgreichen Einstieg ins Berliner Feld:

61 „Wir arbeiten kontextbezogen und medienübergreifend auf der Schnittstelle zu öffentlichen, institutionellen und digitalen Räumen. Wir haben von Anfang diskursive Plattformen geschaffen, sei es, dass wir Kunstzeitschriften oder andere Druckmedien herausgegeben haben, dass wir Ausstellungen kuratiert oder konzipiert haben oder Videoprogramme zusammengestellt haben.“ (Christiane Dellbrügge, Interview 2007).

182 | K UNST BAUT STADT „Mit dem Status der ‚relativen Neuankömmlinge‘ nach der Phase in der Adalbertstraße war es wie ein Entschluss, dass wir uns durchsetzen beziehungsweise abheben wollten. Wir haben damals mit Thomas Wulffen die Below Papers gestartet. Das war eine Kunstzeitschrift in den Kunst-Werken, die dafür, dass es nur ein kleines Projekt mit einer Auflage von 500 Exemplaren war, unheimlich viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, weil es diese Kombination aus theoretischen und künstlerischen Positionen bot. Es stieß förmlich in ein Vakuum. Jeder jammerte darüber, dass es kein Organ für die Kunstszene gab. Diese Aktivitäten im KW gaben uns mehr Ausstrahlung. Das war ein ganz wichtiges Instrument, mithilfe dessen wir Ausstellungen und Präsentationen gemacht haben.“ (Interview Dellbrügge/de Moll 2007)

Deutlich wird anhand ihrer Selbstbeschreibung, die eine Topologie Berliner Viertel und Kunstinstitutionen in einer chronologischen Erzählung verwebt, dass sie ihren Weg als Etablierung präsentieren. In unserem Interview erwähnen sie ebenfalls verschiedene Stipendien, die sie für Moskau, Kopenhagen und Florenz erhielten. Ihre Liste internationaler Residencies klingt weltläufig. Dellbrügge und de Moll waren und sind aktive Akteure im Berliner Kunstdiskurs. Sie engagierten sich im Künstlerhaus Bethanien, entwickelten ein Zeitungsprojekt, kuratierten eine Ausstellung im Sparwasser HQ und beteiligten sich im Projektraum des Verbandes der Bildenden Künstler in der Rosenthaler Straße. Sie wissen um die Bedeutung solcher Institutionen zur Etablierung ihrer Ideen. Auch hinsichtlich ihrer finanziellen Situation möchten sie keinen Zweifel aufkommen lassen: In unserem Interview betonen sie, dass sie bei ihren Projekten immer auf ein angemessenes Budget achten.

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Abbildung 68: Mental Map von Dellbrügge/de Moll

Quelle: Dellbrügge/de Moll

In ihrer Mental Map, die einen umfangreichen Radius in das Berliner Umfeld skizziert, tauchen der Feinkostladen Lindberg in Moabit ebenso wie das KaDeWe, der Winterfeldmarkt, der ‚türkische Markt‘ in Kreuzberg und das Lafayette auf. Mit dieser Bandbreite zeigen sie ihren kosmopolitischen Geschmack und betonen einen gepflegten Lebensstil. Neben ihrem elegant eingerichteten Loft unterhalten sie ein Atelier in der Nähe des Brücke Museums im Grunewald. Für ihre Fitness gehen sie schon lange nicht mehr zu Fit am Rosenthaler Platz, wie sie mit einem Augenzwinkern berichten, sondern ins Holmes Place am Gendarmenmarkt. Dellbrügge und de Moll zeigen mit diesen Stichworten auf ihnen wichtige Lebensstilpraxen. Sie machen damit deutlich, dass sie nicht unter prekären Bedingungen arbeiten müssen, sondern sich einen „gu-

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ten Geschmack“ leisten können (Bourdieu 1987, Neckel 2000, Veblen 1899). Indem sie eine Narration des Ankommens und Etablierens zum Bestandteil ihres Katalogs machen, wählen sie eine Strategie der Biografisierung als Teil ihrer künstlerischen Praxis. Sie zeigen dadurch einerseits den Wandel der Berliner Kunstlandschaft, um andererseits ebenfalls ihre aktive Beteiligung und ihren Aufstieg zu betonen.

Artist Migration Berlin – Die Künstlermetropole als Kunstwerk Abbildung 69 und 70: Dellbrügge/de Moll, Artist Migration Berlin (2005), Videostills

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Es handelt sich gewissermaßen auch um ihr eigenes Ankommen im Nachwende Berlin, welches sie mit ihrer Videoinstallation Artist Migration Berlin thematisieren. 2005 führten sie 30 Videointerviews mit internationalen Künstlern, die hier wohnen und arbeiten. In 180 Filmminuten erörterten Künstler Motive, Wahrnehmung und Imagination ihrer Migration. Vor einem schwarzen Hintergrund sehen wir ihre ausgeleuchteten Gesichter und ihre Mimik. Auf kurze, standardisierte Fragen Dellbrügges und de Molls erzählen sie, ob ihre Erwartungen an die Stadt erfüllt wurden, wie sie sich finanzieren, wie ihre Einschätzung zu Lebensstandard und Kunstpublikum ausfällt, welche Effekte ihr Aufenthalt für ihre Karriere besitzt, oder ob sie sich für einen Insider der lokalen Kunstszene halten. Ralf de Moll beschreibt in unserem Interview, wie sie die Arbeit entwickelten: „Zu unseren Freunden gehören hier naturgemäß viele internationale Künstler. Ich bin sicher, wenn wir in Karlsruhe geblieben wären, wäre unser Kontext ein

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anderer. Um die Beschreibung unseres Umfeldes geht es bei dieser Arbeit, die wir ja als Künstler machen. In diesem Falle sind wir von unseren Arbeitsbedingungen ausgegangen und haben von da aus Fragestellungen entwickelt, die uns aus unserer eigenen Praxis heraus relevant erschienen. Die Fragen sind ja sehr kurz, wie ‚How do you make a living?‘ Auch die Frage nach dem Insidertum ist natürlich komisch, oder wie man Kontakt zur Szene bekommen hat.“ (Ralf de Moll im Interview 2007)

2006 zeigten sie dieses umfassende Material im Heidelberger Kunstverein und luden ihre Interviewpartner ein, ebenfalls eigene Arbeiten auszustellen. So ergab sich eine umfassende Gruppenausstellung. Dazu veröffentlichten sie ein gleichnamiges Buch mit dem Titel Artist Migration Berlin. In ihrer Einleitung schreiben sie: „Every week a new busload of artists arrives in Berlin. Scandinavia, Asia, Eastern Europe, Canada, Latin America, Great Britain, the USA – there is hardly any art scene without a satellite in Berlin. Those left behind even speak of an art-drain. After questioning artist migrants in interviews, topography of attitudes and behavioural patterns become visible within the coordinate system of subsidies and self-organisation, success and deprivation, adaptation and assertion of demands. […] What patterns does artist migration develop? […] What status do they have in their own country compared with Berlin? Are artists involved in the shaping of public life? How do the cultural producers see their own role? […]“ (Artists Migration Berlin 2006: 6).

Ihr Arrangement von 30 Interviews ähnelt einem ethnografischen Verfahren. Sie befragen unterschiedliche Akteure zu ihrer Wahrnehmung von Berlin, um soziale Muster hervorzuheben. Dabei fallen in unserem Interview häufig Begrifflichkeiten Bourdieus, wie etwa „symbolisches Kapital“, „Habitus“ oder „soziale Muster“. Doch als ich sie frage, ob für sie ethnografische Konzepte relevant sind, winken sie ab: Ralf de Moll: „Wir fragen nicht als Journalisten und nicht als Ethnologen, sondern die saßen hier und kennen uns. Sie wissen, dass wir Künstler sind und wir haben sie wiederum auch als Künstler gefragt. Das heißt, dass man als Ethnologe berücksichtigt, dass man als Fragender in das Experiment eingreift. Es ist ja eine Illusion, dass, wenn er den Indianerstamm besucht, sich nichts verändert, sondern die haben ein Erlebnis und müssen damit ganz anders umgehen, als wenn da einer von ihnen kommt. Wir sind eben nicht Ethnologen oder

186 | K UNST BAUT STADT Journalisten, deswegen hat Christiane auch auf die Veröffentlichungsreihe von Künstlerinterviews anlässlich der 4. berlin biennale im Stadtmagazin Zitty hingewiesen. Da werden die Künstler von Journalisten befragt und überlegen natürlich angestrengt, wie sie sich am coolsten darstellen.“ Christiane Dellbrügge ergänzt: „Und obwohl wir von Künstler zu Künstler gesprochen haben – und du uns ja eine größere Unbefangenheit unterstellst – ist es ja trotzdem so, dass das Selbstbild der Künstler rüber kommt. Sie tragen ja auch etwas vor.“

Auffällig an diesem Abschnitt ist, dass de Moll seinen Eingriff als Künstler von demjenigen des Ethnologen klar unterscheidet. Er argumentiert mit einem geteilten beruflichen Hintergrund und den Freundschaften zu ihren Interviewpartnern und zählt sich quasi zum „Stamm“ dazu. Neben seiner Exotisierung ethnologischer Praxis funktioniert seine Distanzierung über die Argumentation des Eindringens vom Fremden in das Eigene. Der Künstler hingegen, so seine Begründung, sei aufgrund des geteilten beruflichen Erfahrungkontexts „gleich“. An dieser Stelle ist frappierend, wie wenig er über die von ihnen geschaffene Interaktionssituation reflektiert. Er zieht in unserem Gespräch die Argumentationskarte ‚Künstler‘, doch er berücksichtigt nicht den inszenatorischen Charakter ihres Videos. Ihre Befragung kreiert ebenfalls eine öffentliche Interaktion. Einerseits schafft die Kamera eine Situation der Beobachtung, andererseits wissen ihre Interviewpartner um die Herstellung des Kunstwerks für den Ausstellungskontext. Die Situation wird durch beide beeinflusst: am Ende sind die befragten Künstler Teil einer Arbeit, welche wiederum im Kunstbetrieb gezeigt wird. Die Interaktionssituation ist von diesem Wissen der doppelten Präsentation durchdrungen. Die betonte Authentizität und Nähe erscheint mir somit eher als klassische Argumentationsfigur zur Rolle des freien Künstlers. Durch diese Zuhilfenahme grenzen sie sich auch vom journalistischen Ansatz ab und betonen den ästhetischen Charakter ihres Projektes. Doch außer der sorgfältigen Inszenierung und Ausleuchtung des Materials, unterscheidet sich diese Arbeit nicht wesentlich von einem ethnologischen, soziologischen oder journalistischen Vorgehen. Ausschließlich der Produktionszusammenhang, somit die Bestimmung, dass es später im Ausstellungskontext gezeigt wird, macht es zu einem Kunstwerk. In diesem Moment blenden sie Kunstbetriebslogiken – und damit streng genommen orts- und institutionsspezifische Faktoren – aus. Das Feld und seine Regeln der Inszenie-

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rung werden in diesem Falle nicht in ihren kontextbezogenen Ansatz aufgenommen. Laut Albertsen und Diken ist dies ein automatischer Feldeffekt: „In a simultaneously internal and external struggle, the history of the field accomplishes a ‚veritable essential analysis‘ of art, which does not require any reference to ‚transcendent significations‘. The result is a certain irreversibility and ‚cumulatively‘ of the field. The more art is purified, the more the practical mastery of the tradition of the field is necessary in order to play in the field, both as a producer and consumer.“ (Albertsen/Diken 2004: 38)

Auch wenn Dellbrügge/de Moll ihren Ansatz als kontextbezogene Kunst begreifen, können und wollen sie ihre Praxis nicht vollständig durchleuchten. Schließlich würden sie sonst ihr eigenes Kunstwerk und dessen Legitimation mit anderen Formaten gleichsetzen und es damit beschädigen. 2006 wurden sie mit Artist Migration Berlin in die Kopenhagener Ausstellung City Rumble eingeladen. Dazu wählten sie bewusst die Multivokalität ihrer Videos, um das heterogene Spektrum der Stadt sichtbar zu machen: Christiane Dellbrügge: „Was wir machen, ist, dass wir 30 Stimmen dort hinbringen, um eine ganz andere Diskussion anzuregen. Dieser Mythos Berlin wird dort ein bisschen entmystifiziert. Wir bringen immerhin 30 Stimmen nach Kopenhagen mit und für die Leute, die dort sitzen, entsteht ein größeres Bild, als wenn nur wir dort angekommen wären.“

Sie möchten den städtischen Mythos befragen und die realen Arbeitsbedingungen der Künstler zur Sprache bringen. Interessant ist dabei, dass trotz ihres Anliegens der Entmystifizierung der Titel Artist Migration Berlin unweigerlich mit dem symbolischen Kapital der Stadt spielt. Während andere Künstler durch ihre Titelwahl bewusst eine Sublimierung oder Abstrahierung ansteuern, gibt ihr Titel sofort einen inhaltlichen und damit ortsspezifischen Hinweis. Das Video soll somit vor allem im internationalen Kontext gezeigt werden. Leise schließen sie an den herrschenden Diskurs von Berlin als wichtige zeitgenössische Kunstmetropole in Europa an. In der Videoinstallation antwortete beispielsweise die Leiterin des Projektraums Sparwasser HQ Lise Nellemann auf die Frage, wie sie ihren Status als Künstlerin in Berlin einschätzt, wie folgt:

188 | K UNST BAUT STADT „I find in Berlin, that is one of my reasons to stay in Germany, in Berlin especially, artists have a totally different status in the society, among people. The community is also bigger and provides you with a life, you could say. And the media support the artists in a very qualified way. The whole atmosphere is more intellectual here, which I appreciate. […]“ (Ausschnitt aus Videointerview Artist Migration Berlin mit Lise Nellemann).

Ferner stellen Dellbrügge und de Moll eine Verbindung zum dänischen Diskurs um den so genannten Art-Drain der Kunstszene in Kopenhagen her.62 Ihr Kunstwerk ruft diesen Imaginationsraum als symbolische Ressource ab. Das Video Artist Migration Berlin haben sie für einen internationalen Kontext entwickelt. Ihre Arbeit funktioniere vor allem in anderen Städten und weniger in Berlin, erzählen sie mir im Interview. Sie werden mit dieser Arbeit als Insider eingeladen, um die Stadt auch an anderen Orten zu repräsentieren. Obwohl ihr genuines Anliegen darin besteht, ihren Kontext besser zu verstehen und einer Mystifizierung entgegenzuwirken, wirkt die Videoinstallation automatisch am Mythos der Stadt mit. Dies ist auch nicht zu vermeiden: Der internationale Kunstbetrieb zeigt großes Interesse an der neuen Metropole. Viele beschäftigt die Frage, wie die Stadt diese Stellung für die Produktion von Kunst erreichen konnte. Ein Kunstwerk, welches sich der Analyse dieses veränderten Kontextes widmet, bewegt sich automatisch in diesem Diskursfeld. Mit den Interviews geben sie sich letztlich selbst mehr ‚Stimme‘. Sie machen sich zu Metaerzählern einer Berlin-Narration. In Hinblick auf Fragen des Wissenstransfers kann man an dieser Stelle festhalten, dass Dellbrügge/de Moll sich mithilfe ihrer Interviews an einem sozialwissenschaftlichen Befragungsverfahren orientieren, um es an die Bedingungen des Kunstbetriebs anzupassen. Weder durch Schnitt, noch durch einen eigenen Kommentar greifen Dellbrügge/de Moll in die Interpretation ein. An dieser Stelle zeigt sich somit, dass der Wissenstransfer nur teilweise erfolgt und von den Künstlern angepasst wird. So liefern sie zwar, wie mittlerweile üblich, eine Kurzbeschreibung zu ihren Ausgangsüberlegungen und binden die Arbeit in einen größeren Kontext – nämlich der Metropolisierung

62 Siehe dazu den Artikel von Jennifer Allen „Berlin, Hauptstadt Dänemarks?“,

Zitty

Januar

2008.

http:/kunst.zitty.de/3862/kultur__kunst

hauptstadt.html vom 30.01.2008. Ebenso wie: Volquardsen (2007).

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Berlins – ein, doch sie halten im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen Repräsentation bewusst die Interpretation offen und überlassen diese den Besuchern. Diese Offenheit der Interpretation entspricht meines Erachtens einer gängigen Praxis in der bildenden Kunst, nämlich der des Akkumulierens von Informationen, die aus widersprüchlichen Feldern herausgegriffen und miteinander verbunden wird. Dabei gilt die ungeschriebene Regel, dass ein Kunstwerk sich nicht vollständig entschlüsseln oder gar didaktisch argumentieren sollte. Hingegen ist es eher legitim, konträre Referenzen zu verweben. Nicht selten provozieren Künstler mithilfe ihrer Zusammenstellung von disparatem Recherchematerial aus Pop-, Hoch- und Wissenschaftskultur bewusst einen Moment der Absurdität. So werden nur fragmentarisch Begriffe und Konzepte in die künstlerische Praxis eingebunden, um diese letztendlich in eine klassische Präsentation zu überführen: Der Film wird in einem Loop in der Black Box präsentiert. Davor stehen minimalistisch gehaltene runde Sitzgelegenheiten.

New Harmony – Das ‚Paradies‘ sichern Ihre Einzelausstellung im Künstlerhaus Bethanien präsentierten Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll im Sommer 2007. Der Direktor, Christoph Tannert, lud sie ein, die Situation der Besetzung aus ihrer künstlerischen Perspektive heraus zu diskutieren. In einem mit einer Kuppel versehenem Ausstellungsraum samt Empore, zeigten sie ein Arrangement verschiedener städtischer Utopien. Sie bedienen sich dabei urbaner Orte aus Berlin und Kopenhagen, die sie miteinander kombinieren.

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Abbildung 71: New Harmony (2007) [hier u.a.: Sabrina van der Ley, ehem. Künstlerische Direktorin Artforum; Michael Haerdter, Gründungsdirektor Künstlerhaus Bethanien; Christoph Tannert, Direktor Künstlerhaus Bethanien; Nele Hertling, Akademie der Künste; Matthias Lilienthal, Intendant HAU]

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Vor dem Ausstellungsraum ist in zwei Einbuchtungen jeweils ein Bildschirm installiert worden. Dort flimmern Gespräche mit den Leitern des Künstlerhauses ebenso wie mit Experten der Berliner Kulturszene. Auch hier bedienen sich Dellbrügge und de Moll des Interviews als Werkform, wenn sie Christoph Tannert (Geschäftsführer Künstlerhaus Bethanien GmbH), Nele Hertling (Akademie der Künste und vormals DAAD), Michael Haerdter (Gründungsdirektor des Künstlerhaus Bethaniens), Matthias Lilienthal (Sprecher des Kulturrats/Leiter des HAU) oder Andreas Broekmann (Initiator des Unterstützerbriefes für das Künstlerhaus) zeigen. Bei der Auswahl ihrer Interviewpartner interessieren sich die Künstler für die Sichtweisen des Inner Circles, der Externen und der Entscheidungsträger. Deutlich wird anhand dieser ersten Komponente, dass Dellbrügge/ de Moll die Diskursformationen durchdringen, um sie in Form der Videos abzubilden. Wie eine Feldanalyse zeigen sie dabei den Kunstbetrieb Berlins und seine Schlüsselfiguren. Sie nutzen ihren Künstlerstatus, um zentrale Figuren als legitime Instanzen sichtbar zu machen. Es zeigt sich hier bereits, wie sie mit dem Konzept des Feldes von Pierre Bourdieu umgehen. Sie rollen es samt seiner Hierarchien auf und zeigen die Beteiligten der Diskursproduktion und -formierung.

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Abbildung 72: Dellbrügge/de Moll, New Harmony (2007)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Betritt man den Ausstellungsraum schaut man zunächst auf einen Jahrmarktschriftzug: „In Quest of the Perfect Location“, steht hier in großen, leuchtenden Lettern aus Glühbirnen. Neben der zentral platzierten Arena, befinden sich als Spielsteine die extrahierten Räume des Künstlerhauses vor wandhohen Fotografien des Plänterparks. Im hinteren Bereich ist ein Kinosaal installiert. Gezeigt werden Filmausschnitte, die die Suche nach utopischen Orten zum Thema haben.63 Auf der Empore vollenden Fotografien und ein Schießstand die Jahrmarktatmosphäre, die bereits im Untergeschoss durch die Leuchtschrift angedeutet ist. Wir sehen wandhohe Bilder von glitzernden Kronleuchtern, Würfel- und Glücksspielen aus dem Freizeitpark Tivoli neben den Aufnahmen von verwilderten Buchten und selbstgebauten Häusern aus dem alternativen Kopenhagener Stadtteil Christiania. Die letzte Station der Ausstellung besteht aus dem Tivoli-Stand Det muntre koekken, einer nachgebauten Jahrmarktbude, in der die Besucher Porzellan zerschießen können. Dellbrügge und de Moll haben die dänischen Heterotopien Tivoli und Christiania ins Künstlerhaus Bethanien transferiert. Umgekehrt haben sie es mit seiner Infrastruktur aus 63 Dazu gehören: Michael Crichtons Westworld (1973), John Boormans Zardoz (1974), George Millers Mad Max II (1972) oder Danny Boyles The Beach (2000). Auf einer schwarzen Leinwand sind in weißer Schrift die Dialoge zu lesen, in denen sich die Protagonisten über ihre Sehnsucht nach dem Paradies äußern.

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Ateliers, Ausstellungsräumen und dem Bürotrakt in den leer stehenden Plänterpark ‚verschoben‘. Der Titel der Ausstellung New Harmony referiert dabei auf die im Jahre 1825 vom Sozialreformer Robert Owen gegründete gleichnamige Mustersiedlung, die er nach Prinzipien des Gemeinschaftsbesitzes und der Gleichheit erfand und die genossenschaftlich verwaltet werden sollte. Diesen Titel haben die Künstler durch eine historische Recherche gefunden. Er verdeutlicht die Suche nach einem utopischen Ort. Sie bringen die Owensche Siedlung, mit der Entstehung von Freizeitparks (wie Tivoli, dem Plänterpark oder Disney Land) und der Geschichte des ehemaligen Diakonissen-Krankenhaus zusammen. Sie konterkarieren somit die Suche nach dem Paradies mit kapitalistischen Freizeitparks, ohne den zentralen Ort des Geschehens, das Künstlerhaus Bethanien, auszuklammern. Es funktioniert als konkretes Bindeglied in der Gegenüberstellung von Freizeitpark versus Siedlungsutopien. Abbildung 73: Installationsansicht der Ausstellung New Harmony im Künstlerhaus Bethanien (2007)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Dellbrügge/de Moll haben die Infrastruktur des Bethaniens in dreidimensionale Modellelemente, wie Würfel, Dreiecke und Halbkreise extrahiert. Diese – wie aus einem Planspiel entnommenen – Formen platzieren sie vor wandhohen Fotografien aus dem verlassenen Plänterpark in Treptow. Die Spielsteine stehen somit vor einem leer ste-

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henden Riesenrad, einem Graffiti besprühten Kassenhäuschen, aufgetürmten Autoscootern oder einem Karusselpferd im wuchernden Grün: „Zum Zeitpunkt des Projekts war das Modell als Gedankenexperiment durchaus plausibel. Der Spreepark Plänterwald ist ein brachliegender Vergnügungspark und interessiert uns vor dem Hintergrund der Tivolisierung städtischer Räume. Leerstand – räumlich und semiotisch – provoziert Besetzung. Der Spreepark ist ein stadtplanerisches Scheitern und eine Investitionsruine. Er befindet sich, ebenso wie das Bethanien, im Zustand der Stagnation. Wir verschreiben ein Rezept, das ein Desaster mit einem Desaster kuriert.“ (Dellbrügge/de Moll Interview 2, 2008)

In ihrer Praxis arbeiten sie mit den Mitteln von Planspiel, Dekontextualisierung und Ironie. Gewitzt verrücken sie das Künstlerhaus in die „wilde Natur“. Durch diese fiktive Verschiebung entwickeln sie einen Möglichkeitsraum. Sie zeigen die Absurdität ihres hypothetischen Vorhabens, indem sie den Gegensatz von verdichtetem Kreuzberger Viertel und der städtischen Leerfläche betonen: Christiane Dellbrügge: „Christiania und der Themenpark Plänterwald sind ja ganz deutlich Heterotopien, weil sie Grenzen besitzen, wie Ein- und Ausgänge zur äußeren Welt und dabei ihre eigenen Regeln haben. Ich denke, dass in Bethanien diese krisenhafte Situation auch dadurch zu Stande gekommen ist, weil die Grenzen erodiert sind. Tannert hat neulich bei einem Treffen gesagt: Es sei ja ein Ort für Utopieproduktion. Dazu denke ich, ist Abgrenzung und ein gewisser heterotopischer Status von Nöten. Sonst löst sich das Ganze in der allgemeinen Beliebigkeit der Kiezkultur auf.“

Michel Foucault stellte dem Konzept der Utopie die Heterotopie gegenüber (1992). Er verstand beide als unterschiedliche Raumtypologien. Während die Utopie ein unwirklicher, virtueller Raum der Idealvorstellungen ist, seien Heterotopien wirkliche und wirksame Orte, die in der Gesellschaft Gegenentwürfe aufzeigen. Als Plätze in der Kultur werden sie repräsentiert, bestritten und gewendet. Sie seien gewissermaßen „Orte außerhalb aller Orte.“ (Foucault 2005). Interessanterweise betont meine Interviewpartnerin, dass das Künstlerhaus festerer Regeln bedürfe. Werde dies nicht umgesetzt, so ihre Befürchtungen, verschwinde es in der „Beliebigkeit der Kiezkultur“. Es scheint, als ob sie der Meinung ist, dass die Kunst nur innerhalb von klar gesetzten Gren-

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zen agieren könne. Diese Passage zeigt sehr eindrucksvoll, in welche Argumentationsprobleme die sonst so liberale bildende Kunst abgleitet, wenn die Grenzen erodieren. Abbildung 74 und 75: Dellbrügge/de Moll, New Harmony (2007)

Quelle: Dellbrügge/de Moll

Die beiden Künstler arbeiten in ihrer Praxis mit heterotopischen Arealen. Im Falle des Plänterparks ist dieser Ort jedoch vor allem ein vergessenes Gebiet, eine städtische Brachfläche. Nachdem der im Jahre 1969 in der DDR eröffnete „VEB Kulturpark Plänterwald“ nach 1989 an die Spreepark GmbH verkauft wurde und schließlich 2001 Insolvenz anmeldete, steht es leer. Die Geschichte könnte nicht skurriler sein: 2002 schifft sich der insolvente Geschäftsführer mit seiner Familie und sechs demontierten Fahrgeschäften nach Peru ein. Doch auch dort scheitert sein Freizeitparkmodell. Mit dem Fliegenden Teppich, in dessen Mast 167 Kilogramm Kokain im Wert von 4 Millionen Euro versteckt sind, kehrt er wieder nach Deutschland zurück. Seinen letzten ‚Auftritt‘ hatte er im Gerichtssaal, wo er wegen versuchten Drogenschmuggels zu sieben Jahren Haft verurteilt wird (Dellbrügge/de Moll 2007). Die Künstler kombinieren die Narration des verwilderten Ortes mit dem durch „Regellosigkeit“ gefährdeten Künstlerhaus. Sie skizzieren den Plänterpark als ausgeplündertes Paradies hinter hohen Zäunen. Dabei ist ihre Erzählung durch zwei Lesarten bestimmt: Einerseits zeigen sie anhand der gescheiterten Investition, wie sich nach 1989 skrupellose Investoren bereichern konnten. Andererseits rahmen sie mithilfe ihrer Kopenhagener Studie und dem Stichwort Tivolisie-

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rung diesen Fall in größere Zusammenhänge ein. Sie schließen damit an den in der Stadtforschung verbreiteten Diskurs um die Festivalisierung von Innenstädten (Bittner 2001) an. Besonders negativ wurden in der Fachliteratur Freizeitparks, wie Disney Land oder andere kommerzielle, globalisierte Modelle diskutiert.64 Der verlassene Ort des Plänterparks als ehemalige Stätte des Vergnügens dient Dellbrügge/de Moll dazu, um das Bethanien aus seiner festgefahrenen Diskussion zu extrahieren und es damit neu zu kontextualisieren. Durch die Verschiebung des Künstlerhauses in die Stadtnatur befreien sie es für einen Moment von seinem angestammten Kontext und zeigen einen alternativen Raum auf. Sie fragen: Was wäre, wenn das Künstlerhaus seinen Standort wechselt? In einer ausweglosen Situation entfernen sie einen zentralen Akteur aus dem Spiel, um ihn an anderer Stelle neu aufzustellen. Sie verschieben damit die Diskursanordnung des Kontextes, um andere Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Ralf de Moll: „Wir haben versucht, den Kontext mitzudefinieren, nicht nur am Werk festzuhalten, sondern eine Interaktion mit dem Umfeld herzustellen. Das heißt die Kommunikation führt – das ist ein Ziel – zu Handlung und zu einer Veränderung. Denn, in dem Moment wo ich kommuniziere, schaffe ich einfach auch Pattern, das heißt gedankliche Muster, die reproduzierbar sind. Das ist ja eine unserer schönsten Qualitäten, dass wir als Menschen, wenn wir was hören, lesen, sehen - unweigerlich, wenn wir in die Welt gesetzt werden, kopieren, filtern, aufnehmen. Insofern ist Kommunikation wichtig. Nicht per se, sondern Handlung passiert aufgrund von Kommunikation. Einfach so bekommt man keinen Zugriff. Es reicht nicht zu sagen: ‚Ich bin Künstler‘ und dann ja toll, sondern man muss auch sehen, dass man etwas einspeisen kann.“ Ich: „Sie haben gerade das Wort Pattern benutzt. Was meinen Sie damit?“ R: „Wenn beispielsweise zum Potsdamer Platz Entscheidungen getroffen werden sollen und ich habe nur ein paar Architekten, die kennen wiederum nur Architekten und laden diese ein. Dann kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, was dann passiert. Gebe ich aber eine größere Auswahl […] und Bandbreite von Auswahlmöglichkeiten vor, etwa alternative Architektur. Dann kommt vielleicht der eine oder andere auf die Idee zu fragen: ‚Ja, warum müs-

64 Marc Augé (2000): An Ethnologist in Disneyland, in: Alex Coles (ed.), Site-Specificity: The Ethnographic Turn, de-, dis-, ex- Volume 4, S. 182194.

196 | K UNST BAUT STADT sen wir das so machen? Wir könnten doch etwas anderes entwickeln.‘ Das heißt diese Auswahl [schafft alternative Muster.] Wir sind diejenigen, die diese zehn Modelle nebeneinander stellen und Leute dazu einladen, eigene Modelle hinzuzufügen. Damit entsteht eine ganz andere Form der Kommunikation, eine andere Debatte.“

Zu ihrem Forum haben sie unterschiedliche Experten eingeladen. Sie formen dabei eine Diskurssituation und bringen Akteure mit ihren Wissensfeldern zusammen. Das Publikum ist ebenfalls eingeladen, sich an der Auseinandersetzung zu beteiligen. Das Verständnis der beiden Künstler von „Kontext“ und somit auch von ihrem städtischen Umfeld begründet sich auf der Vorstellung von einem Zusammenspiel von institutionellen Formationen, Positionen im Feld, Experten- und Laiendiskursen, politischem, sozialem und kulturellem Aushandlungssphären. Sie greifen dabei auf sozialwissenschaftliche Konzepte von „Öffentlichkeit“, „Feldern“ und „Diskurs“ zurück, um diese für ihre eigene Praxis zu nutzen. „Je mehr die Sozialwissenschaften voranschreiten und mediale Verbreitung finden, um so stärker müssen wir, um Bourdieu zu paraphrasieren, darauf gefaßt sein, im Forschungsgegenstand auf Sedimente vorangegangener Forschung zu stoßen.“ (Linder 1996: 43) In diesem Falle finden wir in der künstlerischen Praxis der beiden Künstler bereits eine aktivierte Feldanalyse wieder. Sie positionieren sich in diesen Diskursformationen, um mithilfe einer Entfremdungs- und Neukontextualisierungsstrategie die Muster der Wahrnehmung und des Handelns zu hinterfragen. Doch welche Rolle können sie in diesem Gefüge einnehmen? Welche Möglichkeiten werden ihnen in dieser Arena zugestanden? Obwohl ihnen der aktive Zugang und die Veränderung durch Kunst wichtig sind, sehen sie in ihr nur bedingte Eingriffsmöglichkeiten: Christiane Dellbrügge: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass ein Künstler doch die Rolle des Kommentierens, Dekorierens, symbolischen Überhöhens zugestanden wird, aber nicht tatsächlich in die Hard- und Software von Stadt eingreifen soll, die tatsächlich für ein Zusammenleben [und] für eine Lebensqualität relevant ist. Da haben immer noch die Investoren, der Fluss des Verkehrs und die Gewinnung von Ladenfläche höchste Priorität. Künstler kommen vielleicht an vorletzter oder letzter Stelle. Obwohl wir natürlich immer mehr Zugang fordern, sehen wir schon, dass der Hauptspielraum sich auf eine Metaebene kommunikativer Aktivität bewegt.“

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Abbildung 76 und 77: Installationsansichten der Ausstellung New Harmony im Künstlerhaus Bethanien (2007) Quelle: Dellbrügge/de Moll

Dellbrügge und de Moll sprechen einen kritischen Punkt ihrer künstlerischen Praxis an: Eigentlich verfolgen sie die Intention, stärker und wirksamer in städtische Prozesse eingreifen zu können, doch als Künstler haben sie nur wenig Handlungsspielraum. Ihnen wird keine Mitsprachekompetenz zugestanden. Die Entscheidungsträger in der Stadt sind eher Planer, Architekten, Investoren und Politiker. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass das Künstlerduo im Falle von New Harmony in den vom Kunstbetrieb vorgegebenen Formaten Ausstellung, Katalog und Newsletter verbleibt. Sie reagieren entsprechend der Erwartungen, die ihnen vom Künstlerhaus und seinem Direktor angetragen werden. Obgleich sie in ihrem Arrangement ein ungewöhnliches Format wie die Arena einbauen und damit die Möglichkeit einer Partizipation eröffnen, bleibt ihre Arbeit sowohl in den Gegebenheiten des Ausstellungsraumes ebenso wie in denjenigen der Institution. Ihre Installation öffnet zwar neue Denkräume, doch eine dezidierte Kritik an der Institution formulieren sie nicht. Sie bewegen sich auch räumlich nicht außerhalb des ihnen zugestandenen Raumes. So trifft es sie doppelt hart, dass der Direktor bei ihren initiierten Diskussionen nur selten anwesend war. Übergeordnet ließe sich hier untersuchen, ob Künstlern vom Betrieb nur die Rolle des ‚Narren‘ angetragen wird, ihnen ein gewisser Regelbruch innerhalb eines abgesteckten Rahmens zugestanden wird.

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Die amerikanische Kunsthistorikerin Rosalynd Deutsche unterscheidet bei der Analyse ortsspezifischer Ansätze zwischen einem assimilativen oder interruptiven Modell des Eingreifens (1996). Ich frage mich dahingehend jedoch, ob dieses dichotomische Konzept künstlerischen Ortsansätzen gerecht werden kann. Festzuhalten ist eher, dass Künstler, die mit kontextkritischen Methoden arbeiten, nur bis zu einem gewissen Punkt diesen kritisieren können, da sie sonst ihre eigene Position im Feld unterminieren. Dies beschreibt beispielsweise Andrea Fraser, die in ihren Performances häufig den Kunstbetrieb und seine Rollen persifliert und in überzogenen Darstellungen, die Muster vom „Künstler“, „Kurator“, „Sponsor“ oder „Mäzenen“ spiegelt.65 Gleichzeitig gestand sie anlässlich der Konferenz Representations of the Other. The Visual Anthropology of Pierre Bourdieu, die zum Tod des berühmten Ethnologen in den KW durchgeführt wurde, dass es ihr immer noch schwer fallen würde, die Rolle der Künstlerin in Gänze kritisch zu performen. Dieses Eingeständnis zeigt, dass trotz der hohen Durchlässigkeit von sozialwissenschaftlichen Konzepten in den Kunstbetrieb noch immer Tabus bestehen. Eingeschliffene Präsentationsformen werden – trotz Wissenstransfer – nicht berührt, sie bleiben bei aller Institutionenkritik bestehen.

65 1986 trat Fraser erstmals in der Persona der Kunstvermittlerin Jane Castleton mit Damaged Goods Gallery Talk Starts Here im New Museum of Contemporary Art in New York auf. In diesem und weiteren MuseumsTour-Performances analysierte sie die Geschichte, Funktion und Praxis von Kunstinstitutionen sowie die Rolle weiblicher Volontärinnen. In Audioarbeiten für die Whitney Biennial, New York und ihrem Beitrag zum österreichischen Pavillon auf der Biennale di Venezia 1993 thematisierte Fraser die Diskurse der Kuratoren, Kommissäre sowie der Besucher und zeigt Konflikte um kulturelle Dominanz auf. In ihrer Arbeit Inaugural Speech (1997) performte Fraser die unterschiedlichen Rollen von Kuratorin, Sponsorin und Direktorin und machte damit die versteckten Rollenaushandlungen innerhalb des Kunstbetriebs innerhalb einer Rede sichtbar.

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Abbildung 78: Andrea Fraser, Inaugural Speech (1997) Quelle: Andrea Fraser

Abbildung 79: Andrea Fraser, The Public Life of Art: The Museum (1988) Quelle: Andrea Fraser

Manche Kunstwerke arbeiten stärker mit einem interruptiven Modell als andere, doch letztlich müssen Akteur und Arbeit innerhalb des Feldes, der institutionellen Rahmung und einer lokalen Diskurskonstellation positioniert werden, um als Kunst wahrgenommen zu werden. Die viel beschworenen autonomen Künstler sind so frei nicht. Sie können zwar das Feld und seine Rollen aufdecken, müssen sich jedoch immer wieder seinen Restriktionen stellen, um wahrgenommen zu werden.

Fazit – Kontext Stadt bei Dellbrügge und de Moll Deutlich wird anhand der Arbeiten von Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll, dass sie ein hohes Interesse an der Stadt als sozialem Lebensumfeld besitzen. Dabei ziehen sich drei Kernthemen durch ihre Praxis: ihre Faszination an städtisch-sozialen Utopien, Fragen zum urbanen Mythos sowie Engagement für die Stadt. Indem sie selbst bereits seit 1988 in Berlin leben, haben sie eine Vielzahl von ortsspezifischen Projekten realisiert, die sich mit dem lokalen Kontext beschäftigen. Es tauchen dabei eher periphere Orte aus der Stadtlandschaft auf,

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wie etwa das Märkische Viertel als eine Westberliner Plattenbausiedlung, das Künstlerhaus Bethanien während seiner Besetzung oder der Plänterpark als verwildertes Areal. Das Duo besitzt ein feines Gespür für die Faszination an bislang unerschlossenen Orten. Vielleicht ist es diese Anziehungskraft des „Fremden“ in der eigenen Stadt, die sie mithilfe dieser unbekannten Plätze und ihrer ganz eigenen Atmosphäre fokussieren. Ein wichtiges Element ihrer künstlerischen Praxis ist dabei häufig, dass sie die Besucher ihrer Ausstellungen einbinden und zu Agierenden machen. Sei es, wenn sie sie auf die Dächer des Märkischen Viertels einladen, sie anhand eines Farbcodes mit den Vermittlern im Hamburger Bahnhof interagieren oder sie zu Diskutanten und Entscheidern über das Künstlerhaus Bethanien machen. Die Künstler besitzen dabei eine ausgeprägte Fähigkeit, angeregte Diskussionssituationen zu schaffen. Indem sie Experten zu kurzen Vorträgen einladen, sie Streitgespräche initiieren, das Publikum einbinden oder ihren Newsletter mit Fotografien an ihr Netzwerk verschicken, sind sie steuernde Mitproduzenten des Diskurses. Ihr Konzept der Stadt ist durch einen vielschichtigen Kontextbegriff geprägt. Im Mittelpunkt steht, dass verschiedene soziale Akteure miteinander in Verhandlung treten. An dieser Stelle lässt sich wiederum auf einen Aufsatz von Pierre Bourdieu zu Ortseffekten verweisen. Seine Denkfigur des Verhandelns und Kämpfens um Eigentumsrechte und Repräsentationsformen im Raum, sehe ich ebenfalls in Dellbrügge/de Molls Erläuterungen. Gleichzeitig gehen sie davon aus, dass die Akteure unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf den Öffentlichen Raum besitzen. Diese sichtbar zu machen, ist eines ihrer wesentlichen Anliegen. Oder wie Marc Ries in Anlehnung an Bourdieu in ihrem Ausstellungskatalog schreibt: „Raum ist, in diesem Verständnis, die Menge aller von den einzelnen Akteuren eingenommenen Positionen, die als Dispositionen, als habituelle Einheiten, sich unterscheiden und zueinander finden. Und dieser Relation entspricht eine Homologie der Räume: In jedem Raum ist eine gleichermaßen auf Differenz verpflichtete Struktur wieder zu finden. Zwei Unterscheidungsprinzipien bestimmen die Verteilung der Akteure: ökonomisches und kulturelles Kapital. Dieses letzte, das kulturelle Kapital, kommt in der Spätmoderne offensichtlich primordial zur Geltung, nimmt man die von ihm abgeleiteten Eigenschaften wie Kommunikation, Aufmerksamkeit, Atmosphäre, das Mentale und das

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Emotionale in den einschlägigen Analysen wahr.“ (Dellbrügge/de Moll 2007: 56)

Dieses Zitat von Ries verweist auf eine weitere Praxis des Wissenstransfers: Die Künstler nutzen für ihre Konzepte nicht nur Begrifflichkeiten sozialwissenschaftlicher Denker, sondern sie beauftragen befreundete Autoren, Essays für ihren Katalog beizusteuern. Auch diese tragen dazu bei, dass sich ein Theoriekorpus um ihr Werk anreichert. Ries stößt dabei unvermittelt auf eine der zentralen Strategien Dellbrügges und de Molls. Denn sie selbst verwenden aktiv ihr kulturelles Kapital, also ihr Wissen um die lokalen Diskurskonstellationen, um vergessene Orte und ihre Atmosphären. Dabei kombinieren sie diese lokal verankerten Themen mit universalistischen Motiven wie „Utopie“, „soziales Zusammenleben“ oder dem „Kampf um Raum“. Diese Fähigkeit, lokales Wissen mit übergeordneten Motiven zu verbinden, ist eine ihrer zentralen Techniken der site-specificity. Mit Meyer kann hier von der Herstellung eines funktionalen Ortes gesprochen werden, der durch die Kombination von lokalen ebenso wie durch überlokale Wissens- und Diskursbestände hergestellt wird. Auch wenn sich die Künstler mit den spezifischen Bedingungen des Ortes beschäftigen, ist ihre Position erfolgreicher, wenn sie auch in anderen Kontexten anschlussfähig bleibt. Diese Spannung zwischen lokaler Ortsbezogenheit und übergreifenden Raumtheoremen vermögen Dellbrügge und de Moll in ihren Arbeiten herzustellen. Sie kombinieren die Suche nach Utopien anhand von Hollywoodfilmen, illustrieren das Konzept der Heterotopie anhand von Christiania und Tivoli, um das Künstlerhaus Bethanien in eine größere Narration einzubinden. Damit bewegen sie sich nicht nur im Kunstbetrieb Berlins, sondern nutzen das symbolische Kapital der Stadt und ihr translokales Wissen, um jenseits der Stadt Aufmerksamkeiten zu generieren. Mithilfe des Bourdieu’schen Konzeptes schließlich analysieren sie ihren Kontext nicht nur, sondern bearbeiten und aktivieren ihn für sich. Dabei geht ihre Studie nur soweit, wie es sich mit den Kunstbetriebslogiken vereinbaren lässt. Eine vollständige Dekonstruktion wäre dabei eher hinderlich, schließlich gilt es, verschiedene visuelle und kognitive Welten miteinander zu kombinieren, die bislang so noch nicht in Erscheinung traten. Der städtische Kontext ist für sie künstlerisches Umfeld, Analyseobjekt, Produkt und nicht zuletzt im Bourdieu’schen Sinne symboli-

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sches und kulturelles Kapital. Sie sind sich der Faszinationskraft Berlins wohl bewusst und nutzen diese für ihre eigene Praxis.

6.4 I N B EWEGUNG – O RTSPRODUKTION BEI ANRI S ALA UND R IRKRIT T IRAVANIJA Es können nicht künstlerische Raumpraxen untersucht werden, ohne nomadische oder translokale Formen zu berücksichtigen. Bereits seit Anfang der Neunzigerjahre können Ansätze beobachtet werden, die sich in einer konstanten Suchbewegung mit Orten und Relationen beschäftigen.66 Anri Sala und Rirkrit Tiravanija, deren ortsbezogene Arbeiten und Alltagspraxen ich in diesem Kapitel vorstelle, beschäftigen sich ebenfalls mit der Produktion des Dazwischen. Während Tiravanija als Paradebeispiel einer nomadischen Kunstpraxis gilt, wird Salas Ansatz verschiedenartig gedeutet. Ich sehe seine Arbeiten dabei von einem translokalen weniger jedoch von einem nomadisch definierten Zugriff geprägt, da seine Reisen vielfach auf der Achse TiranaParis-Berlin verlaufen. Hinzu kommt, dass beide unterschiedliche Lebensorte besitzen: Während Sala vorwiegend in Berlin und Paris lebt, pendelte Tiravanija Mitte der Neunzigerjahre zwischen Berlin und New York. Heute bewegt er sich eher zwischen Bangkok und New York, wo er an der Columbia University unterrichtet. Berlin stattet er zwar immer wieder einmal einen Besuch ab, doch ist die Stadt eher in den Hintergrund gerückt.

Horizontlinie Berlin – Undecided Areas bei Anri Sala In einer kurzen Skizzierung werde ich vorab Eckpunkte zu Salas Biografie nennen, um daraufhin in die Analyse seiner in Berlin entstande66 Franz Ackermann kartografiert in seinen wandhohen Malereien Mental Maps aus Reiseerinnerungen und visualisiert dabei seine Bewegungen zwischen Metropolen. Renée Green ist von postkolonialen Theoremen beeinflusst und entwickelt Installationen zu den Aspekten von Entterritorialisierung, Fremde und Home. Gabriel Orozco oder Francis Alys beschäftigen sich mithilfe performativer Praxen mit Städten und ihrer Raumstruktur.

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nen Filmarbeit Long Sorrow (2005) einzusteigen. Anria Sala wurde 1974 in Tirana/Albanien geboren. Nachdem er zunächst an der National Academy of Arts in Tirana Malerei studierte, brachte ihn ein Stipendium nach Frankreich. Dort setzte er sich mit Video an der École Nationale Supérieure des Arts Décoratifs in Paris und mit Filmregie am Le Fresnoy, Studio National des Arts Contemporains in Tourcoing, auseinander. Er wurde durch Beteiligungen an der Manifesta und Venedig Biennale, durch Ausstellungen im New Yorker PS.1 sowie durch seine Beiträge für die 3. und 4. berlin biennale binnen kurzer Zeit bekannt. Anri Salas Video Long Sorrow (2005) beginnt mit einer Aufnahme aus dem Inneren eines weißen Raumes auf ein gekipptes Fenster. Mit einer ausgeprägten Langsamkeit nähert sich die Kamera einem undefinierbaren Objekt auf der Fensterbank. Der Betrachter weiß zunächst aufgrund von Entfernung und Unschärfe nicht, um was für einen Gegenstand es sich hierbei handelt, an dessen Rand der Himmel und die oberste Etage der gegenüberliegenden Häuser auszumachen sind. Erst nach einer Nahaufnahme wird deutlich, dass es sich um den Hinterkopf eines schwarzen Musikers handelt, der vor dem geöffneten Fenster auf dem Dach sitzt. Er beginnt auf einem Saxophon zu spielen, der Ton entweicht heiser dem Instrument. Die Kamera schwenkt auf die Stadt mit ihren einheitlich bebauten Wohnsiedlungen. Langsam streicht sie über das Gesicht und die Blätter, die der Mann in seinen Rastazöpfen trägt. Die Perspektive wechselt auf die Rückenansicht: Wir schauen dem Protagonisten über die Schulter hinab auf die Bäume und Autos in der Straße. Der Blick in den Außenraum wird später durch einen Fokus auf den Mann abgelöst. Die Kamera zeigt seine geschlossenen Augen, die sich leicht, wie in Trance, öffnen und wieder schließen. Die letzte Sequenz des zwölf minütigen Films entfernt sich schließlich von der Ebene des Sitzenden auf dem Dach und zeigt ihn seitlich aus der Ferne. Gleichförmige Wohnblöcke wiederholen sich. Der Musiker über der Stadt wird durch einen Scheinwerfer beleuchtet. Er hat sich eine eigene urbane Bühne gebaut. Ein Flugzeug steigt am Himmel auf. Der Film endet, indem der Mann hoch oben über den Dächern sein Saxophonspiel abbricht.

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Abbildung 80 und 81: Anri Sala, Long Sorrow (2005)

Quelle: Anri Sala

Beim Betrachten des Filmes werden unterschiedliche Präsentationstechniken deutlich, die sich auch an anderer Stelle in Salas Arbeiten zeigen. Durch die anfängliche Kameraperspektive entsteht eine Wahrnehmungsirritation. Hier ist es die Unschärfe, andere Filme werden im Dämmerzustand aufgenommen. In dem Moment also, wenn es noch nicht vollständig Tag oder Nacht ist und man die Dinge nicht gänzlich erkennen kann. Im Französischen gilt hierfür die Redewendung „entre chien et loup“, die Sala etwa für seine Einzelausstellung im Pariser Musée d’Art Moderne wählte. Die Kritikerin Janneke de Vries interpretiert Salas Interesse an diesem irritierenden Zwischenzustand wie folgt: „Viel wurde bereits geschrieben zu den biografischen Hintergründen des in Albanien aufgewachsenen Anri Sala und der Art und Weise, wie seine Erfahrungen mit Diktatur, dem Zusammenbruch politischer Regime und Bürgerkrieg Eingang in sein Schaffen finden. […] Doch was immer Sala inhaltlich verhandelt, er tut es frei von Pathos, ohne Wertungen, Ab- oder Loslösungen vorzugeben. […] Seine Arbeiten schreiben sich in eine Zwischenzone ein, die mit

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dem Verlust von fixen Anhaltspunkten unsere scheinbar gesicherten Vorstellungen von sozialen, politischen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten unterläuft und erreicht […]“ (de Vries 2004: 29).

Der Moment des Zweifelns wird hier mit der Biografie des Künstlers verzahnt. De Vries ist nicht die einzige Kritikerin, die in Salas Technik eine postsozialistische Erfahrung sieht. Viele lesen aus seinen Aussagen die Fragmentierung von Wirklichkeiten heraus (Mitringer 2003, Wege 2001, Schaffhausen 2000). Sala nutzt dieses Interesse für seine Selbstpositionierung. So antwortete er auf meine Frage, ob es ihn nicht manchmal stören würde, fortwährend als albanischer Künstler wahrgenommen zu werden, das sei nicht schlimm, denn die meisten Gesprächspartner hätten nur eine diffuse Vorstellung zu seinem Herkunftsland. Die Kategorisierungen scheinen ihn nicht zu irritieren, im Gegenteil: Ich denke, dass seine Biografie ein interessantes Feature für die Präsentation und Kommentierung seiner Arbeiten darstellt. So behauptet auch der Kurator Nikolaus Schaffhausen, dass Sala sein kulturelles albanisches Kapital nutze, um übergeordnete gesellschaftliche Fragestellungen zu thematisieren: „Like other artists with comparable biographies, he directly brings into the artistic discourse his cultural capital of the familial and social experience of break and continuity, life in a historical construction that’s different than most others, and the complex network of the transnational experience. […] This distinguishes his work from many other productions by younger artists, who also investigate concepts of subjectivity and identity, yet often without reference to their positioning within a social field.“ (Schaffhausen 2000: 10)

Sala ist sich der Wirkung seiner Biografie durchaus bewusst. Er aktiviert sie, wenn er immer wieder von seiner Jugend in Albanien oder seiner Hinterfragung der Wirklichkeit spricht (Vries 2004; Interview mit Gioni/Robecchi 2001). Umgekehrt ist er vor dem Hintergrund von Europäisierungs-, Transformations- und Postsozialismusdebatten für Kuratoren und Kritiker attraktiv, um ihre eigene Offenheit gegenüber dem östlichen Europa zu belegen. Interessant finde ich an dieser Stelle, dass Schaffhausen das Bourdieu’sche Konzept des kulturellen Kapitals für seine These verwendet und behauptet, dass Sala sich von anderen Künstlern unterscheide. Doch der Begriff des kulturellen Kapitals umfasst jegliches Wissen aus der Pop-, der Hoch- als auch Alltagskultur,

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also Bereiche, die Schaffhausen hier anderen westlichen Künstlern abzusprechen scheint. Doch zurück zur Filmnarration: Unter den Techniken und Darstellungsweisen, die Sala in seinem Video verwendet, finden sich 1.) der Wechsel zwischen Nah- und Fernaufnahmen, 2.) das Kombinieren von Fiktional- und Dokumentarfilmgenre sowie 3.) der Verzicht auf eine Filmnarration. Sala verbindet unterschiedliche Perspektiven, wenn er Nahaufnahmen des Musikers mit seinem innerperspektivischen Blick auf das Stadtumfeld und einer distanzierten Außenperspektive auf den Musiker kombiniert. Abbildung 82: Anri Sala, Long Sorrow (2005) Quelle: Anri Sala

Er wechselt also zwischen Empathie und Distanz. Helligkeit, Farbgebung des Materials und die Auswahl der Protagonisten erinnern eher an ein hochwertiges Dokumentarfilmgenre, als an Fiktion. Gleichzeitig handelt es sich bei den Darstellungen meist um besondere Menschen, Orte oder Situationen, die einen rein dokumentarischen Ansatz fragwürdig erscheinen lassen. Charakteristisch für seine Werke ist, dass sie meist Situationsaufnahmen zeigen, die durch keinen narrativen Faden verbunden werden.67 Sala löst damit die Situationen nicht auf, sondern 67 So sehen wir in Ghost Games (2002) von Taschenlampen beleuchtete Füße auf dem nächtlichen Strand Taschenkrebse jagen. In Dammi i Colori (2003) montiert Sala den Vortrag des Bürgermeisters einer albanischen Stadt, die er mithilfe bunt bemalter Häuserfassaden zu einer „city of choice“ machen möchte mit den Aufnahmen der nächtlichen Gebäude. In Byrek (2000) sehen wir die Arme einer albanischen Frau in Brüssel den Teig kneten, den Sala mit den Kindheitserinnerungen an seine Großmutter verknüpft. In Arena (2001) hören wir das Gebell der streunenden Hunde, die nun das Gehege eines ehemaligen Zoos in Tirana belegen. Oder in time after time (2003) filmt er ein ausgemergeltes Pferd im Halbdunkel apathisch am Rande einer Autobahn stehend. Es zeigt beim Vorbeidonnern

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versetzt den Betrachter in einen angespannten Zustand der Beobachtung. „I guess everyday thousands of stories go on around us; what makes me choose one story instead of any other is my sensibility or my predisposition towards that topic or that problem in that specific moment. What plays an important role is the awareness of what’s happening around you: you have to drag yourself out of the somnambulism of the everyday.“ (Interview mit Massimiliano Gioni und Michele Robecchi 2001: 106)

Sala möchte sich fortwährend aus dem „Schlaf des Alltags“ befreien, um für potentielle Filmstoffe wachsam zu bleiben. In Long Sorrow ging es ihm eher um das Verbildlichen von städtischen Grunddispositionen als um das Abbilden und Verarbeiten einer Alltagssituation. Er erzählt, dass er zuvor eine genaue Idee zur Atmosphäre seines Films entwickelt hatte, die er mit der Wahl des Ortes und des schwarzen Saxophonisten umsetzen wollte. Ihm sei es dabei mehr um das Transportieren eines Eindrucks gegangen, als um den exakten Ort. Ich lese seinen Film somit weniger als eine genuine Darstellung Berlins, sondern eher als die Verbildlichung des Topos von der Einsamkeit des Menschen in der Stadt. Die abschließende Szene, die den Saxophonisten auf seiner städtischen Bühne vor dem aufsteigenden Flugzeug am Abendhimmel zeigt, kreiert ein Gefühl von Melancholie. Die Plattenbauten stehen für die Anonymität der Großstadt, für Enge und Konformität, während die Musik die Sehnsucht des Mannes nach Individualität und das startende Flugzeug den Wunsch nach Weite und Freiheit symbolisiert. Das Viertel wird in solcher Weise festgehalten, dass die Kameraperspektive nicht den Ort Preis gibt. Es verkörpert in seiner Anonymität keine lokale Besonderheit. Dieses Interesse an der Atmosphäre von Orten taucht ebenfalls in unserem Interview auf, wenn Sala von den undefinierten Arealen Ostberlins spricht: „In Berlin there is something interesting about the intellectual life in connection to the undecided areas. These undecided areas bring you back in this landscape of the past. It reinjected this to me and threw me back into this sort of landscape of my youth.” (Interview mit Anri Sala) An seiner Beschreibung ist interessant, dass die Ortsqualität in ihm nachhallt. Er

hupender Lastwagen nicht mehr Reaktion, als das Hinterbein kraftlos anzuheben.

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fühlt sich an Tirana erinnert. Auch hier nutzt er sein biografisches Wissen, um einen Zustand des Dazwischen zu beschreiben.

„Berlin is an enriching reduction“ – Translokales Leben zwischen Berlin und Paris Sala kam 2004 mit einem DAAD-Stipendium von Paris nach Berlin. Er nimmt seinen neuen Wohnort als Umgebung wahr, in der man sich gut installieren und wieder deinstallieren kann. Obwohl er kein Deutsch spricht, fühle er sich nicht als Tourist. Er macht die Toleranz der beiden städtischen Umfelder vorrangig an Sprache fest. Während ihm in Paris der Spracherwerb zwingend erschien, könne er in Berlin auf Englisch zurückgreifen: „Paris is richer in terms of art events and the art calendar. In Berlin people are often travelling so much that it is a permanent back and forth. Berlin is a good place for developing ideas. Paris is good for post-production and has a better film infrastructure. So Berlin is for me rather an enriching reduction.“ (Interview mit Anri Sala) Während seines Filmstudiums war die französische Metropole mit ihrer Kinokultur ein produktives Umfeld. Berlin bezeichnet er dagegen als „digitale Stadt“. Noch immer pendelt er zwischen den beiden Orten: In Berlin entwickelt er seine Konzepte, nach Frankreich fährt er für die Postproduktion, um dort mit Kollegen Schnitt und Ton zu bearbeiten. Salas Berliner Radius ist recht kleinräumig und vorrangig auf seine Wohnung sowie auf seinen Joggingweg entlang der Spree konzentriert. Hingegen spricht seine Mobilität, die er mir anhand seines überfüllten Jahreskalenders verdeutlicht, Bände. 2006 bestand aus unzähligen Residencies, Messe- und Ausstellungspräsentationen. Insgesamt war er nur sechs Monate in Berlin. Dies mag auch an der massiven Zahl seiner Händler liegen (weltweit vertreten ihn zehn Galeristen). Zu seinem sozialen Netzwerk in Berlin gehören die internationalen Künstler Jose Davilla, Damian Ortega, Pash Buzari, Seadanne Asif, Olafur Eliasson, Tacita Dean, Thomas Demand und Philipp Ardenan. Doch in ihrer hohen Mobilität verpassen sie sich oftmals während ihrer kurzen Aufenthalte in Berlin. In Salas gelebtem Raum spielt das Temporäre und Übergangsweise eine große Rolle. Er führt ein translokales Leben zwischen seinen Arbeitsorten Berlin, Paris und Tirana. Insbesondere in diesem Milieu der Mobilen können sich die Zentren und

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Aufenthaltsorte schnell ändern. Wie lange die Stadt also mit ihrer „enriching reduction“, wie Sala sie bezeichnet, ihn und seine Freunde binden kann, bleibt abzuwarten. Auch in Hinblick auf seine Kunst schreiben sich seine Reisen ein: sie sind Inspirationsquellen für seine Filme, die wiederum die bereisten „Wirklichkeiten“ thematisieren. Er beschäftigt sich mit einsamen Figuren, wie etwa dem schlafenden Obdachlosen in einer Kirche in Rom, dem Saxophonisten über dem Stadthimmel Berlins oder dem sterbenden Pferd am Autobahnrand in Tirana. Es sind eher periphere, aufrüttelnde Orte, Situationen und Wirklichkeiten, die er mit seinen Filmen zeigt. Interessant ist, dass er sowohl in seinen künstlerischen Arbeiten als auch in seinen Interviews stark mit zwiespältigen Realitäten arbeitet. Das temporäre Beschreiben von Orten wird als übergreifender Topos deutlich. In einem Interview mit Annie Fletcher berichtete er von seiner translokalen Praxis, seinem damaligen Pendeln zwischen Paris und Tirana: „I think the problem for me is not the mixed feeling of being between two places, but has more to do with which of these realities I believe in. Somehow I believe in both, not as a result of the mixture of both, of their different values, but through the division of myself over the two spaces of different times. Let’s do the experiment of the aeroplane landing and what follows directly after, the noise and the soundtrack of the place. Try to close your eyes and read the information from the sounds, like a blind person does. In one place landing has an informational sound about it, taking off, buses taking you somewhere, hotels welcoming you etcetera: a sound as clear as the architectural environment surrounding you. You can ‚read‘ the distance, the exact stairs to get you to distant places, through different comforts. You can be blind. In the other place, behind an electronic door that opens and closes, you fall in a space where the people, the constructions, the whole infrastructure doesn’t respond to the idea of an expanded world going in the same direction. Government programmes or know-how structures will explain it as a collapse of a structure of society, as a time of transition, a matter of time and patience. From the perspective of the ‚central reality‘ trying to expand itself, I don’t see this other reality, my native one, on the way of joining the centre by complying with the centre’s rules. It’s not pessimism though, it’s happy awareness!“ (Vorabinterview mit Annie Fletcher zum Katalog der berlin biennale)

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Anhand der Soundscapes von Paris und Tirana beschreibt Sala, inwiefern sich die Realitäten der beiden Städte unterscheiden. Indem er die Geräusche der Kontexte beschreibt, verwendet er eine ungewöhnliche Perspektive für einen visuellen Künstler. Er fungiert sowohl in Alltag und Kunst als ein Übersetzer unterschiedlicher (östlicher versus westlicher) Wirklichkeiten. Diese Übertragung kann jedoch nur bruchstückhaft und in einer verschobenen Zeit gelingen: „It happens when you get in too late, or when you come back to a place and a missing piece of time is waiting there for you, while another piece from elsewhere is still in you. You bring a different narrative to the present reality, like a stranger in his suitcase or a magician in his magic box. Inside are those milestones, which are partial truths, like topography of another place, a substitute of it. Those milestones are shortcuts that bring you to a reality without being in it. It would be better not to compare the reality with the substitute though. When it happens to me, I realize that I’m nowhere, in no place, left with the icons, the shortcuts.“ (Vorabinterview mit Annie Fletcher zum Katalog der berlin biennale)

Sala stellt sich als Verlorener innerhalb unterschiedlicher Zeitrhythmen dar. Diese widersprüchlichen Tempi und Ortsqualitäten beeinflussen seine Selbstwahrnehmung: er befände sich häufig in einem Nichtort, zurückgelassen mit einer Vielfalt von Bildern und Ausschnitten. Auch wenn ich Salas Gefühl des Transitorischen nachempfinden kann, denke ich auf der anderen Seite, dass er dies ebenfalls taktisch als Selbstbeschreibung nutzt. Denn mit dieser Erzählung macht er seine künstlerische Praxis und somit auch seine Filme einzigartig. Die Topoi drehen sich um fragmentierte (postsozialistische) Perspektiven und seine Bewegung zwischen den Wirklichkeiten.

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Rikrit Tiravnija – Nomadische Selbstpräsentationen Es geht immer ums Draußensein. Kunst handelt gewissermaßen von diesem Zustand. Für mich gibt es immer einen anderen Ort, eine andere Möglichkeit, eine andere Situation. RIRKRIT TIRAVANIJA

Während sich Anri Sala mit den unterschiedlichen Wirklichkeiten der Orte beschäftigt und dabei das Fragmentarische und Verschobene in seinen Filmen betont, kann Rirkrit Tiravanijas Konzept vorrangig durch einen interaktiven Ansatz gefasst werden. Im folgenden Abschnitt werde ich auf seine nomadische Ortspraxis anhand unseres E-Mail-Interviews eingehen, das er mir über sein Büro in Bangkok im August 2006 zurückschickte. Als weiteres Material kommen Kritiken, Artikel und Katalogtexte hinzu. Geboren in Argentinien zog Tiravanija mit seinen thailändischen Eltern in seiner frühen Kindheit nach Äthiopien. Sein Vater war als Diplomat am thailändischen Außenministerium angestellt und so pendelte die Familie in der Folge zwischen Bangkok und Kuala Lumpur. Seine Großmutter, die ein thailändisches Restaurant führte, wird von ihm in der Retrospektive als wichtigster Einfluss seiner künstlerischen Praxis idealisiert. In Kanada schließt Tiravanija die High School ab. Er möchte Fotojournalist werden: „However, I had at the end of high school been exposed to the idea of photography, such magazines as LIFE and National Geographic were of great influence to me. Combined with the observations of my own father who worked as a civil servant for the Thai government, and the corrupted political system, I wanted to stay as far away as possible from such situations. These ideas, led me to the idea of becoming a photojournalist, with the idealism of work and travel, and seeing distant places and cultures.“ (Interview Rirkrit Tiravanija)

Er beginnt in Alberta ein Studium der Fotografie, Geschichte und Kunstgeschichte. 1982 geht er mit einem Austauschprogramm nach New York. In der Gesamtsicht stellt die amerikanische Metropole also eine der wenigen Kontinuitäten in Tiravanijas nomadischer Selbstprä-

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sentation dar. Mittlerweile unterrichtet Tiravanija den MFA an der Columbia University. Die Lehrtätigkeit wird vermutlich eine seiner steten Finanzierungsquellen sein, denn obwohl er mit seiner Kunst eine hohe Anerkennung erreicht, wird ihn seine vorrangig kontextuelle und wenig objektbezogene Kunst vermutlich nicht vollständig finanzieren.68

Das symbolische Kapital der Kunstmetropolen Berlin und New York I found Berlin to be an interesting hole in the wall, and I fell in love. RIRKRIT TIRAVANIJA

Tiravanijas Metapher des „Lochs in der Mauer“ steht für die Möglichkeit der Durchsicht in eine „andere Welt“. Durch diese Öffnung wird ermöglicht, einer anderen Realität gewahr zu werden. Er bezieht sich auf die damalige verborgene Welt des östlichen Europas und berührt dabei einen wesentlichen Aspekt für die Faszination an der ehemals geteilten Stadt. 1993 beschließt Tiravanija nach Berlin zu ziehen. Ab da pendelt er zwischen Europa und New York und reist weiterhin zu anderen Orten. In seiner Kunstpraxis stellen Objekte eine Katalysatorenfunktion für soziale Situationen dar. Sie sind Werkzeuge zur Umcodierung des Ausstellungsraumes. Seit 1990 gehört zu seiner Arbeit, Besucher in Ausstellungen zu bekochen und eine soziale Situation der Interaktion herzustellen. Abbildung 83: Rirkrit Tiravanija, Untitled (tomorrow is another day) (1996) Quelle: Rirkrit Tiravanija

68 Auch wenn sein damaliger Galerist Gavin Brown, behauptete „Rirkrit’s work sells from anywhere between 5,000-200,000 USD“ (Lufty & Gumpert 1997:153).

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Abbildung 84: Rirkrit Tiravanija, Pad Thai (1991-1996) Quelle: Rirkrit Tiravanija

In Untitled, free (1992) baute er etwa die Räume der 303 Gallery in New York um, indem er Ausstellungsraum und Büro tauschte und dort Kochplatz, Campingstühle und Tische zur Bewirtung installierte. Ein anderes Mal öffnete er seine Privatwohnung für ein Essen im East Village: „Located east of Avenue B, the apartment has served as home base, quasistudio, and crash pad for out-of-town-friends since he first rented it for 299 USD a month in 1982. It is small, cramped, and with the excerption of two landscape murals by his wife, the painter Elizabeth Peyton, the rooms are unremarkable and functionally furnished. But a Siamese cat and a Bang & Olufsen stereo suggest that poverty is not the reason why. In the kitchen, Rirkrit has arranged Shanghai-style, flat, and Japanese udon noodles on the round wooden table. Chopped bok choy is on a cutting board: fresh coriander is draining in the sink.“ (Lutfy & Gumpert 1997: 152)

In Untitled (tomorrow is another day) 1996 baute er eine Kopie seiner New Yorker Wohnung im Kölnischen Kunstverein nach und überließ sie sowohl tags als auch nachts dem Publikum. Er erweiterte die Öffnungszeiten und übergab die Verantwortung für die Erhaltung seines Kunstwerks den Besuchern. Tiravanijas Ansatz ist von institutionskritischen Modellen beeinflusst, die die Ausstellungs-, Präsentations- und Rezeptionsmodi des Kunstmuseums hinterfragen (vgl. Möntmann 2002: 106ff). Er bricht mit den offiziellen Regeln der Institution, wenn er die Öffnungszeiten erweitert, Privaträume ausstellt oder auf Wachleute verzichtet. Außerdem verschiebt er die Herstellung des Kunstwerks in den Ausstellungsraum, das er in Form eines thailändischen Gerichts selbst oder durch beauftragte Köche für die Besucher anrichten lässt. Wichtiger Bestandteil dieser Prozedur ist das gemeinsame Verspeisen und Kommunizieren. Die Interaktion zwischen den Besu-

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chern versteht er als Teil seiner Produktion. Er möchte damit eine temporäre Community im Ausstellungsraum herstellen und hebt die Trennung zwischen Präsentation und Rezeption auf. Die kontemplative Betrachtung wird durch Interaktion ersetzt, der Prozess der Produktion wird zum Ausstellungsobjekt.69 Neben dieser Inbesitznahme des White Cubes durch Kochaktionen, beschäftigt sich Tiravanija ebenfalls mit dem Reisen oder der Bewegung zwischen Orten. So zeigte er in Untitled (bon voyage monsieur ackermann) (1995) das Reisegefährt, das sein Künstlerkollege Franz Ackermann und er nach Turin nutzten: ein gelber Opel Commodore. In der Ausstellung wurde der Wagen mit einem geöffneten Kofferraum, Kochgeschirr und aufgestellten Campingstühlen wie bei einer Autorast arrangiert. Tiravanija servierte dazu Tütensuppen vom Kocher, während aus dem Kassettenrekorder Musik dudelte. Ihre Reiseeindrücke aus Landschaftsaufnahmen, fahrenden Autos und ihren Gesprächen wurden auf Monitoren gezeigt.70

Bei der Popart abgeschaut? Thailändische Selbstbiografisierung bei Tiravanija Neben der institutionellen Kritik ist eine starke Personalisierungsstrategie in Tiravanijas Arbeit zu verspüren. Interessant finde ich, dass er als Künstlersubjekt sowohl beim Anrichten des thailändischen Essens als auch bei der Darstellung seiner Reisen im Zentrum steht. Er voll-

69 Er referiert damit auf Gordon Matta-Clark, der einerseits Architekturen und ihre Codierungen zerstörte, andererseits 1971 das Kochen und Servieren von Speisen in seinem Restaurant ‚Food‘ in SoHo zur Kunst erhob. 70 Das Video, das er mit dem thailändischen Künstler Navin Rawanchaikul für Hans-Ulrich Obrists und Hou Hanrus Ausstellung City on the Move (Obrist/Hanru 1997) in Wien produzierte beschäftigt sich anhand einer Liebesgeschichte zwischen einem thailändischen Tuk Tuk Fahrer und einer europäischen Frau auch mit Bewegung. Es stellt fiktiv die Reise aus Bangkok nach Wien dar. Den Film konnten die Besucher während einer Fahrt mit dem thailändischen Gefährt durch die Stadt sehen.

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zieht das Ritual und nutzt kulturell kodierte Versatzstücke vom Buddhismus:71 „Location has become contextual to the discussion, knowledge for me is an internal development that is exchange through exposure, and it perhaps is not necessary to be discussed even. I believe in practice, which is rather Eastern in attitude, and have not put to much weight in identification or the same focus on analysis as I think it is in the West.“ (Interview Rirkrit Tiravanija 2006)

Tiravanija nutzt sein kulturelles Kapital, um sich im globalisierten Kunstbetrieb abzuheben. Dabei könnte man ihn als Sohn eines Diplomaten ebenso gut als kanadisch-amerikanisch oder kosmopolitisch bezeichnen. Indem er jedoch bewusst den Schwerpunkt auf eine „östliche Praxis“ setzt, wird er als thailändisch/asiatisch wahrgenommen. Dies kam ihm in den Neunzigerjahren zugute, in denen Diskurse zur Boomregion Asiens kursieren. 72 Ferner können solche biografischen Features hilfreich sein, um im postkolonialen Diskurs als Exempel für den bislang unentdeckten Künstler zu gelten. In Anlehnung an Hal Foster bezeichnet Nina Möntmann Tiravanijas Kunst zwischen Pop und Institutionskritik verortet: „Während Warhol mit seiner ‚Factory‘ die westlichen Ikonen der Warenwelt und ihrer Konsumgesetze bestätigt, überschreitet Tiravanija diese Gesetzesmäßigkeiten, indem er Konsumpraktiken der buddhistischen Kultur in den westlichen Kulturbetrieb transferiert und kostenlose Mahlzeiten und Getränke verteilt.“ (Möntmann 2002: 116) Interessant finde ich an diesem Zitat, dass Möntmann zwar hier auf die Strategie der Pop Art zur Selbstpositionierung des Künstlers hinweist, sie in ihrer Analyse Tiravanijas Taktik jedoch spiegelt, wenn sie

71 Hou Hanru fragte Tiravanija beispielsweise anlässlich der Ausstellung City on the Move, warum er nicht anstelle des putzigen thailändischen Tuk Tuks einen Toyota nach Wien brachte, beides verkörpere doch das asiatische Image (Obrist/Hanru 1997: 4). 72 So bezog sich etwa die Ausstellung City on the Move von Hou Hanru und Hans-Ulrich Obrist selbst ebenfalls auf das steigende Interesse an der Transformationskraft asiatischer Städte: „Unser Hauptanliegen war es, die erstaunliche neue Generation asiatischer Künstler in Europa vorzustellen, wo die meisten von ihnen noch nahezu unbekannt waren.“ (Obrist/Hanru 1997: 338).

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zwischen „seiner“ buddhistischen Kultur und dem „fremden“ westlichen Kulturbetrieb unterscheidet. Ein solcher Gegensatz greift bei Tiravanija nicht, da er Imaginationen zum „Thailändischen“ im Sinne einer Selbstethnisierungsstrategie im Kunstbetrieb nutzt. Er konstruiert eher eine Erzählung vom Thailändischen und Nomadischen, während andere seiner Lebensstationen in Kanada, Argentinien oder Äthiopien zurücktreten.

On the Move – Nomadische Ortsproduktionen in Alltag und Kunst I work where I am, I don’t have a studio but rather I have offices which are simply a place to receive and transmit information’s and this can double up as a meeting point or a point of reference. RIRKRIT TIRAVANIJA

Welche Qualität von Ort entsteht in Tiravanijas Kunstproduktion? Insbesondere in seinen Installationen, in denen er die Besucher durch die Darreichung von Essen in Interaktionen involviert, entstehen soziale Kontaktzonen. In anderen Arbeiten betont er die Ritualisierung transnationaler Bewegung. Damit macht er zwar eine herrschende Praxis im globalisierten Kunstbetrieb sichtbar, die er jedoch nicht kritisch kommentiert, sondern als Markenzeichen nutzt. Es lässt sich anhand seiner starken Mobilität durchaus kritisch fragen, inwieweit hier noch die Rede von Ortsspezifik sein kann. Deutlich wird dies insbesondere anhand der wahnwitzigen Reiserouten, die der Künstler vor einer Ausstellung im Walker Art Center absolvierte: „Zwischen dem Zeitpunkt seiner Zusage, die uns per Telefon aus Berlin erreichte, und der Ausstellungseröffnung im Mai 1995, präsentierte sich Tiravanijas Reisefahrplan wie folgt: 30. Oktober-8. November 1994: Berlin 9.12. November 1994: Köln 16.-17. November 1994: Basel 5.-15. Dezember 1994: Madrid 5.-7. Januar 1995: Minneapolis 5.-7. Februar 1995: London 8. Februar 1995: Berlin 9. Februar 1995: Hamburg 10.-16. Februar 1995: Berlin

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17. Februar-1. März 1995: Johannesburg 1. März 1995: London 14.-21. März 1995 Minneapolis.“ (Flood/Steiner 1995: 124)

Die Kuratoren skizzieren, wie eine Reihe von Touren in die Umgebung für die Entwicklung des ortsspezifischen Kunstwerks genutzt werden. Am Ende von fünf Tagen Vorbereitung hat Tiravanija zwei Videos gedreht, zwei Sofas aus der alten Museumseinrichtung von 1970 ergattert, eine seiner charakteristischen Campingszenerien und einen Meditationsraum installiert. In seinem Arrangement hat er so mannigfache Elemente wie die Bilder eines lokalen Fotografen, Stickereien von Hmong-Flüchtlingen, einige Design-Klassiker von George Nelson sowie Arbeiten von Ellsworth Kelly und Dan Flavin integriert. Und er soll zu guter Letzt sogar noch geschafft haben, eine Fahrt auf der lokalen Achterbahn Camp Snoopy zu machen, wie der Kurator den Text mit einem ironischen Bogen abschließt (Flood/ Steiner 1995: 126). Kann hier von einer kontextspezifischen Installation gesprochen werden? Tiravanijas Arbeiten haben nur wenig gemein mit einer historischen Auseinandersetzung mit der Institution, ihrer städtischen Umgebung oder der lokalen Geschichte. Es handelt sich eher um ein Zusammenfügen sehr unterschiedlicher Fragmente, die in einem fünftägigen experimentellen Prozess angesammelt werden. Die Selektion enthält sowohl Tiravanijas Versatzstücke des Reisens (wie das Campingmobiliar) ebenso wie lokale Entdeckungen, die aus diversen Zeiten und Kontexten stammen. So entstehen zwar einzigartige Gebilde für die beauftragenden Institutionen, doch eine Ortsspezifik möchte ich hier eher hinterfragen. Vielmehr kann eine Praxis der Bricolage beobachtet werden, die mit nomadischen Ortsbezügen und einer starken Personifizierung kombiniert werden: „Seine Methode der ortsbezogenen Arbeit folgt einem Prinzip, das mit seiner nomadischen Künstleridentität korrespondiert. Innerhalb der Dienstleistungsgesellschaft und ihren Anforderungen an die Mobilität des Einzelnen, spiegelt das nomadische Verhalten, das sich gleichzeitig innerhalb des Kunstbetriebs abspielt, einen opportunen Stellenwert, der hinterfragt werden muss. So schreibt Hans-Christian Dany über den Aspekt des in den 90er Jahren bei ‚Kontext-, In-situ- oder Interventionskünstlern‘ nicht unüblichen Reisens und führt Tiravanija in diesem Zusammenhang als ‚Unterwegs-zum-nächsten-JobKünstler‘ an. Er sieht in der Figur Tiravanijas den ‚erfolgreichen‘ vagabundie-

218 | K UNST BAUT STADT renden Arbeitnehmer in der ‚Fluidity‘ des globalen Kapitalismus durchschimmern.“ (Möntmann 2002: 126)

Diese Einschätzung möchte ich ergänzen und neben der Praxis der Gouvernementalität (Foucault) die Rolle des Künstlers als Dienstleister herausstellen. Er spielt mit der Figur des Nomaden, der während des Globalisierungsdiskurses große Faszination ausstrahlt, wie etwa der Kulturanthropologe Dick Pels in seinem Aufsatz Privileged Nomads kritisch anmerkt: „[…] dicourse of normadism has recently turned into a cognitive playing of the educated elite […]. It hence takes issue with a powerfully suggestive, but also risky and misleading set of metaphors which celebrate the traveller, […] or the nomad as quintessential post modern subject.“ (Pels 1999: 64) Die negativen Implikationen, die mit einer stark vom Neoliberalismus geprägten Mobilität einhergehen, werden weder in Hinblick auf ökonomische noch ökologische Dimensionen hinterfragt. Somit würde ich nur bedingt von einem institutionskritischen Ansatz sprechen. Tiravanija verschiebt zwar die klassischen Modi der Kunstproduktion, -präsentation und -rezeption, um dabei allerdings aktuelle Gouvernementalitäten im globalisierten Kunstbetrieb unberücksichtigt zu lassen beziehungsweise zu reproduzieren.

Fazit – Translokale und nomadische Ortsproduktion bei Anri Sala und Rirkrit Tiravanija Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sowohl Tiravanijas als auch Salas gelebter und konzipierter Raum von einer starken Mobilität geprägt sind. Während Sala sich in seinen Filmen mit den unterschiedlichen lokalen Wirklichkeiten beschäftigt, ist Tiravanijas Bricolageprozess von zufälligen lokalen Fundstücken und nomadischen Referenzen geprägt. Er entwickelt einen flexiblen Ortsbezug, der sich weniger an der Spezifik der einzelnen Stationen orientiert, sondern durch Institutionen und Städte hindurch schweift. Man könnte hier also von einem nomadischen Dérive sprechen. In der Gesamtsicht produziert Tiravanija durch seine Praxis der Dislokation einen deterritorialisierten Raum, den ausschließlich seine eigene Person verbindet. Sein reisender Blick korrespondiert mit seiner Alltagspraxis. Erfahrung und Arbeit bedingen sich in seiner von Interaktion gepräg-

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ten Form gegenseitig. Auch bei Anri Sala beeinflusst seine translokale Arbeitsweise die Inhalte seiner Filme. Er entdeckt die ungewöhnlichen Situationen auf seinen Reisen. Gleichzeitig eröffnet seine Produktion, die einen hohen Anspruch an die Bildqualität hat, ein stärkeres Innehalten und Reflektieren. Wurde das Material erst einmal aufgenommen, kann es einige Monate unberührt bleiben, um erst im Prozess des Schnitts und der Vertonung seine vollständige Form zu erhalten. So ist zwar die Mobilität eine einflussreiche Größe, sie wird jedoch medial verarbeitet und hat somit eine unterschiedlich ausgeprägte Direktheit. Während bei Sala die Reiseerfahrung durch den Prozess der Postproduktion distanzierter vorgenommen werden kann, muss Tiravanija vor Ort und mit wenig Zeit seine Installationen entwickeln. Hinzu kommt ein weiterer Unterschied zwischen den medialen Verfahren. Während Sala durch seine Filme relativ unabhängig von seinem Kunstwerk agieren kann, ist Tiravanijas Praxis durch Performance, Interaktion und Installation geprägt. Zu Beginn seiner Karriere verzichtete er weitestgehend auf Objekte. Seine mediale Praxis der relationalen Ästhetik (Bourriand 2001) war somit zunächst von der Interaktion mit den Ausstellungsräumen und den Besuchern geprägt. Dabei geschieht eine merkwürdige Umkehrung: Gerade weil der Künstler auf das Objekthafte seiner Kunst verzichtet, rückt seine Person zunehmend in den Mittelpunkt. Miwon Kwon beschreibt diesen nicht beabsichtigten Nebeneffekt ortsspezifischer Praxis wie folgt: „Perhaps because of the absence of the artist from the physical manifestation of the work, the presence of the artist has become an absolute prerequisite for the execution/presentation of site-oriented projects. It is now the performative aspect of an artist’s characteristic mode of operation (even working in collaboration) that is repeated and circulated as a new art commodity, with the artist him/herself functioning as the primary vehicle for its verification, repetition, and circulation.“ (Kwon 2002: 47)

Je nach Medium nimmt die Person des Künstlers also eine unterschiedliche Rolle ein. Auch wenn sich seit den Siebzigerjahren die Produzenten zunehmend vom Genieverständnis distanzieren und mit poststrukturalistischen Methoden arbeiten, hat sich unbemerkt das Künstlersubjekt in performativen ortsspezifischen Ansätzen wieder eingeschlichen. Dies geschieht insbesondere dann, wenn keine Objekte produziert werden. Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass so-

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wohl Salas als auch Tiravanijas Praxis mit den Unterschieden zwischen Orten arbeiten. Sie präsentieren sich damit als Träger fragmentierter Realitäten und als Reisende zwischen den Welten. Beide zeigen sich in ihren Narrationen von vielfältigen Bezügen beeinflusst, sie praktizieren ein fortwährendes Ent- und Reterritorialisieren (Berking 1998). Die Künstler greifen in ihrem Handeln auf Bedeutungen zurück, die sie an anderen Orten aufgegriffen haben. Ihr Verständnis von Lokalität verändert sich somit in dem Maße, wie häufig sie ihren Alltag und ihre soziale Zeit in transnationalen Bezügen oder auf Reisen verbringen. Diese Praxis verbindet der französische Ethnologe Marc Augé mit dem Begriff des Nicht-Ortes. Man finde sie in Zügen, Autobahnen, Flughäfen, Shopping-Malls oder Flüchtlingslagern vor. Die Nicht-Orte, die keinerlei Geschichte, Erinnerung und Bedeutung besäßen sind die Passagenräume der Übermoderne, die als Transiträume von einer Mobilitätsform zur anderen durchquert werden müssen. „Dies scheint in der Tat die ‚condition postmoderne‘: für bestimmte soziale Gruppen gleichsam austauschbare Orte zur Verfügung zu halten, die im Raum nicht mehr durch Geschichte und Aura ‚existieren‘, sondern nur mehr kurzfristig durch Imagination und Symbolik neu produziert und durch Nutzung wiederum konsumiert werden.“ (Kaschuba 2004: 240) So auch bei Sala und Tiravanija: Ihr Alltag wird durch die Durchreise und durch Nicht-Orte geprägt. Ihr Verständnis wird permanent durch das Sporadische und die Bewegung beeinflusst.

7. Artistic Placemaking – New York

7.1 M IRRORING THE C ITY – D AN G RAHAMS R EFLEXIONEN DER VERTIKALEN S TADT Art shouldn’t be about the white cube, this is a very simplistic idea. It should be about the city plan. DAN GRAHAM

Abbildung 85: Dan Graham, Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (1989-91) Quelle: Dan Graham

Eines der vielleicht unverwechselbarsten Markenzeichen Dan Grahams ist sein abruptes Einsteigen in Telefonate. Nach einer kurzen Begrüßung geht es auch schon unvermittelt los. Er erzählt von seiner Reise nach Warschau, der Planung eines neuen Pavillons für ein Museum oder über seine Inspiration durch Michel Butor. Seine Themen wechseln sich in schneller Folge ab, noch eine kurze Verabredung für ein nächstes Treffen und schon endet das Gespräch ebenso jäh wie es begonnen hat. Man könnte die Praxis des Telefonierens als ein kleines nebensächliches Detail abtun. Doch dies möchte ich herausgreifen, um zentrale Aspekte seines gelebten Raumes zu beleuchten. Dan Graham, der

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ein New Yorker Zeitgenosse und Kollege der Minimalisten, wie etwa Donald Judd, Sol LeWitt oder Dan Flavin sowie dem Universalkünstler und Architekten Gordon Matta-Clark ist, reist kreuz und quer durch Europa. Regelmäßig hält er seine Lectures in London, er fährt von der Art Basel, über die Documenta und die Skulptur nach Düsseldorf. Er hält einen leidenschaftlichen Vortrag im Rahmen einer Gordon MattaClark Tagung in der Berliner Akademie der Künste, um danach schnell noch einen Abstecher nach London zu unternehmen. Als ich ihn im Rahmen unseres Interviews fragte, welchen Zeitpunkt er in der Retrospektive als zentral für seine Karriere bezeichnen würde, antwortete er mir mit dem lakonischen Satz: „Well, I didn’t have a career; I always wanted to be an artist. All the galleries, but I sold nothing. So I had no career.“ Einerseits kann man an dieser Stelle bemerken, dass er die Frage nach seiner Karriere im Sinne eines ökonomischen Erfolgs interpretiert. Andererseits ergibt sich aus dieser Antwort eine nicht ganz unwichtige Schlussfolgerung: Auch ein so bekannter Künstler wie Graham scheint permanent um seine ökonomische Grundlage zu fürchten. Er selbst sagt dazu, dass seine zentralen Einkommensquellen Vorlesungen, Seminare und Vorträge darstellen, obwohl er mit renommierten Galeristen wie etwa Hauser & Wirth in Zürich oder der Johnen Galerie in Berlin zusammenarbeitet und obwohl seine Biografie mit wohlklingenden Namen großer Institutionen angereichert ist, wie etwa der Venedig Biennale, MoMA, Castello di Rivoli, UCLA Hammer Museum Los Angeles oder das Witte de With in Rotterdam. Diese Ausstellungshäuser verweisen im Sinne einer Bourdieu’schen Feldanalyse auf das hohe symbolische Kapital Grahams. Man kann also festhalten, dass der Künstler bereits eine legitime Position im Institutionenfeld besitzt. Dies führt jedoch nicht dazu, dass er automatisch ebenfalls eine ökonomische Absicherung besitzt. Der 66-jährige setzt sich einer kontinuierlichen Mobilität aus, fliegt von New York nach Europa und reiht einen Aufenthalt an den nächsten. Aus der Außenperspektive scheint Graham seinem eigenen ebenso wie einem betrieblichen Druck zur Mobilität ausgeliefert zu sein. Er wird von solchen Engagements getrieben, genießt das Reisen jedoch auch, um seinem eher einsamen Leben in New York zu entfliehen und weltweit Freunde zu treffen. Trotz dieser oftmals anstrengenden Arbeitspraxis würde ich Dan Graham als einen der offensten Menschen bezeichnen, den ich während meiner Forschung traf. Hat ihn erst einmal ein Thema gepackt,

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dann sprudelt er los und reiht einen Namen an den nächsten, springt zwischen Interessen und Orten. Liest man dann noch die zahlreichen Kataloginterviews mit seinen Freunden, wie etwa der Sängerin von Sonic Youth, Kim Gordon, dem Filmemacher und Rockmusiker, Tony Oursler, oder dem kanadischen Fotografiekünstler, Jeff Wall, dann wird ersichtlich, mit welcher sozialen Hingabe Graham lebt. Trotz seiner in jedem Falle herausragenden Künstlerkarriere, die vorrangig auf dem symbolischen Kapital der großen Museen basiert, hält und pflegt er soziale Kontakte in New York, Los Angeles und Europa. Es sind seine kurzen und chaotischen, aber auf das Essentielle fokussierte Telefonate, mit welchen er immer wieder „Verbindung“ herstellt. Damit involviert er Freunde, Bekannte oder Arbeitspartner in neue Projekte und hält den Austausch wach. Durch diese Form der Kommunikation bewältigt er nicht nur die Anforderungen eines stark neoliberalen, globalen Kunstbetriebs, sondern ihm gelingt es, ein sowohl enges als auch loses Netzwerk von Personen um sich und sein Werk zu erhalten. Seine Fähigkeit mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen, zeigt sich auch in einer anderen Leidenschaft, nämlich seinem Wissen um Astrologie. Damit ist die Möglichkeit verbunden, über die international stereotypisierten Charaktereigenschaften der Sternzeichen schnell eine persönliche Ebene herzustellen. Seine Art des Telefonierens und sein Interesse an Sternzeichen dienen der Herstellung sozialer Nähe und Orientierung.

Die Sociosphere mit engem New Yorker Radius Der zuvor beschriebenen immensen Reisetätigkeit steht die gegensätzliche Beobachtung eines sehr kleinen Stadtradius gegenüber. Wir trafen uns an einem schwülen Julitag. Bevor es steile Treppen empor in das oberste Geschoss des Hauses ging, schlich ich durch das Viertel. Dieser Teil von SoHo ist ruhiger und schöner, als der Abschnitt um den nahe liegenden Broadway, an welchem die Autos und Taxen vorbei rasen, Jeans- und Kleidungsläden, Schmuckhändler und Kebabstände ihr Angebot feil bieten. Dort strömen auch zu morgendlichen Stunden, wenn in Berlin die Friedrichstraße noch leergefegt ist, die Menschen zur Arbeit oder in die Geschäfte. Hier in einer Seitenstraße SoHo’s spielen Tagesmütter mit den Kindern reicher Bewohner auf dem Spielplatz, Bauarbeiter setzen eine Garagenauffahrt in Stand und

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zeitweise hört man das unverwechselbare Brummen eines Automatikgetriebes. Ich treffe Dan Graham vier Wochen nach einer Herzoperation. Er wirkt noch etwas geschwächt, sodass ich das Interview so kurz wie möglich halte. Doch er scheint sich sehr über das Gespräch zu freuen und beginnt in schnellem Tempo von der Szene der Sechzigerjahre in New York City, dem Wandel der Stadt in den Neunzigern sowie seinen vielfältigen musikalischen, philosophischen und architekturhistorischen Inspirationsquellen zu erzählen. Zwischendurch holt er zur Illustration ein Buch aus einem durch den gesamten Raum verlaufenden Regal, das seinen Wohnbereich wie eine zentrale Achse teilt. Seine Bücher, eine riesige Plattensammlung und seine kleine Kunstsammlung mit Arbeiten von Eva Hesse oder Sol LeWitt bilden räumlich das Herzstück seines Wohnbereichs und vermutlich auch seines New Yorker Alltags. (Ethnografisches Tagebuch vom Juli 2006) Abbildung 86-88: Dan Graham in seiner Atelierwohnung.

Quelle: Christine Nippe

Nach unserem Interview frage ich wie üblich, ob mir Dan Graham seine alltägliche Stadtnutzung in Form einer kleinen Karte zeichnen könne. Beim Auswerten seiner Mental Map wird mir erst sehr viel später

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ein frappierender Kontrast bewusst. Denn im Gegensatz zu seiner immensen Reisetätigkeit durch Europa, sind in seiner Mental Map ausschließlich zwei Straßenzüge in seiner Nachbarschaft eingezeichnet. Vier Orte in unmittelbarer Nähe bilden seinen aktuellen Lebensmittelpunkt. Während seine Atelierwohnung Arbeitsplatz und Ort der Produktion, literarischen und musikalischen Kontemplation ist, bietet der öffentliche Park die Möglichkeit zur Beobachtung unterschiedlicher Menschen. Ein Restaurant bildet den sozialen Treffpunkt und der Vintage Shop eine Reminiszenz an seine Szenepraxis der Sechzigerjahre. Gleichzeitig zeigt der eklatante Unterschied zwischen ausgeprägter globaler und konzentrierter lokaler Sociosphere wesentliche Charakteristika einer New Yorker Künstlerbiografie. So ist der Wohnort SoHo nur mit einer relativ erfolgreichen Karriere zu erreichen. Gleichzeitig ist ebenfalls anzumerken, dass Stars, die es sich leisten können, heute meist außerhalb der Stadt im Grünen leben. Sie bewegen sich vom Stadtzentrum – zu Beginn wichtig – hinaus in die landschaftlich schönen Gebiete jenseits der Metropole. Die jüngere Generation kann hingegen ihren Lebensmittelpunkt nur außerhalb Manhattans in Brooklyn oder Queens finanzieren. Somit sind es nur die älteren und mit einem mittleren Einkommen versehenen Künstler und Kuratoren, die sich (noch) einen Lebensort in SoHo, East Village oder Greenwich Village leisten können. Graham gehört zu diesen etablierten Akteuren, die sich rechtzeitig eine Eigentumswohnung im stark von Gentrifizierung geprägten Stadtteil SoHo gesichert haben. Bei ihm kommt hinzu, dass sich durch sein Alter der lokale Bewegungsradius einschränkt. Ein weiterer Faktor für seine Mobilität ist, dass Grahams Arbeiten in Europa und den USA bislang unterschiedlich stark rezipiert werden. Während er in Europa viele Pavillons für mittlere oder größere Städte baute oder von Museen beauftragt wurde, ihre Cafés (wie etwa in den KW Institute for Contemporary Art oder dem Eingangsbereich der Hayward Gallery in London) neu zu gestalten, ist er in New York und den USA noch immer weniger präsent. 73 Erst mit der Beauftragung durch das Dia in Chelsea produzierte Graham ein wesentliches Kunst-

73 Diese Diskrepanz zwischen europäischer und amerikanischer Aufmerksamkeit wird aktuell durch seine erste amerikanische Retrospektive im Moca in Los Angeles, dem Walker Art Center sowie dem Whitney Museum of American Art (spät) begegnet.

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werk für New York City, den Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (1989-91), der im weiteren Verlauf dieses Kapitels im Zentrum steht. Die unterschiedlich ausgeformten Präsenzen Grahams in den USA und Europa resultieren nicht nur aus divergierenden persönlichen Netzwerken – etwa mit Schlüsselfiguren wie den Kuratoren Kaspar König, Klaus Biesenbach oder Ulrike Groß –, sondern auch aufgrund unterschiedlicher institutioneller Strukturen. Während in Europa seit den Achtzigerjahren große Etats für Kunst im Öffentlichen Raum geschaffen und durch öffentliche Museen in Anspruch genommen wurden, sind in den USA vor allem private Trustees Entscheider in der Museumspolitik. Die Pavillons von Dan Graham wurden von amerikanischen Sammlern eher für ihre eigenen Gärten akquiriert. Anhand von Grahams aktiver globaler Mobilität mit Schwerpunkt Europa, lässt sich zusammenfassen, dass die Sociosphere eines Künstlers und damit auch seine Bewegung durch den urbanen wie transnationalen Raum im starken Maße davon abhängig ist, welches Alter er besitzt und wie seine Einnahmequellen sowie Netzwerke strukturiert sind. Sind die Unterstützer und Kuratoren stärker in europäischen Institutionen verankert, dann wirkt sich dies auf die (erzwungene) Mobilität des Produzenten aus. Den Betrieb kümmert es dabei wenig, ob die Künstler alters- oder krankheitsbedingt kürzer treten würden. Es gilt hingegen eher, sich trotz knapper Budgets eines der begehrten Kunstobjekte zu sichern, bevor der Produzent das Zeitliche segnet. Die Verantwortlichen rühmen sich dabei gern mit ihrem Entdeckergeist, ihrem Gespür für einen posthum ‚großen‘ Künstler.

Biografische Stadt-Land-Bezüge I lived in New Jersey at the end of the suburbs. DAN GRAHAM

Bevor ich detailliert auf das Konzept des Kunstwerks Two Way Mirror Inside Cube and Video Salon und seinen urbanen Bezug eingehen werde, möchte ich kurz Grahams Biografie skizzieren. Der Künstler betonte in unserem Interview seine Bezüge zu den Vorstädten New Jerseys und seiner aktiven Szenetätigkeit in New York. Beide sehr unterschiedlichen Umgebungen, so meine These, haben Grahams Vor-

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stellung von Stadt nachhaltig beeinflusst: 1942 wird Graham in Urbane Illinois geboren und wächst in den Vorstädten von New Jersey auf. In einem seiner Essays schreibt er, dass er von der dortigen Do-ityourself-Ästhetik geprägt worden sei (Richards 2004: 211). In dieser Biografisierung stellt er einen Zusammenhang zwischen seinem Aufwachsen in den amerikanischen Vorstädten und seiner Praxis her. Möglicherweise nimmt er hier ebenfalls Bezug auf sein Autodidaktentum, denn Graham gehört zu einer Generation, die nicht an einer Kunsthochschule studierte. Während Matta-Clark und LeWitt in Architektur ausgebildet wurden, absolvierte er nur wenige Semester Philosophie an der Columbia University und betont, dass er nie gelernt hat, Zeichnungen zu erstellen. Im Jahre 1964, als er zusammen mit Freunden eine Galerie in New York eröffnet, lernt er die späteren Minimalisten Sol LeWitt, Robert Smithson, Dan Flavin und Donald Judd kennen. Viele von ihnen seien an Fragen der Serialität, dem Stadtplan und der Neuen Musik interessiert gewesen, erzählt Graham. Sie tauschten sich über Literatur, die Konstruktivisten-Ausstellung im MoMA sowie Filme der Nouvel Vague aus. In seiner Galerie zeigte Graham die Arbeit von Donald Judd, doch verkaufen konnte er nichts. Nach einem Jahr war das Vorhaben gescheitert, die Unternehmung pleite. Graham zog sich nach New Jersey zu seinen Eltern zurück und produzierte mit einer Instamatik-Kamera die Fotografie-Serie Homes for America (1966/ 67). In unserem Interview verwies Graham auf diese Serie als Ausgangspunkt für sein Interesse an Urbanität. Obgleich Fotografie Mitte der Sechzigerjahre noch wenig anerkannt ist, konnte er sie als Diaserie im Finch College Museum of Art zeigen (1966). Kurze Zeit später veröffentlichte er sie zusammen mit einem rasterförmigen Layout in der Kunstzeitschrift Arts Magazine (1966-67). Diese massenhafte Verbreitung bildete, wie Graham in einem Aufsatz betont, einen wichtigen konzeptionellen Aspekt seiner Arbeit. Sie sollte den Inhalt seiner Fotografien auch formal „spiegeln“. Dazu schreibt er: „Die Fotos nehmen Bezug auf die Kolumnen und Spalten serienmäßiger Dokumentationen und ‚repräsentieren‘ beide die serielle Logik jener Art von Wohnungsbau, von dem der Artikel handelt. In meinen Augen ist das Wichtigste an Homes for America, daß es am Schluß nur ein Zeitschriften-Artikel war und keinerlei Kunstwerk-Charakter für sich in Anspruch nahm.“ (Dan Graham, in: Perth 1985: 12)

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Graham ist die massenhafte Verbreitung der Fotografien in Korrespondenz zu seinem Thema, den industriell angefertigten Vorstädten, wichtig. Kurz darauf entwickelt er ein Projekt, das bereits 1966 auf den zentralen Aspekt seiner späteren Praxis eingehen wird. In Project for Slide Projector verzichtet er auf jegliches Bildmaterial und konzentriert sich ausschließlich auf die Durchsicht und Reflektion seriell aufgestellter Glasscheiben. Einerseits beginnt er sich also mit Homes for America mit den Strukturen und Plänen der amerikanischen Vorstädte zu beschäftigen, andererseits lotet er mit dem darauf folgenden Projekt die Materialität von Glas als spiegelnde Oberfläche aus. Beide Arbeiten, die hier noch experimentell entwickelt werden, stellen wichtige Momente für seine späteren Pavillonbauten und insbesondere für Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon dar. Sie bilden die Anfangspunkte für sein Interesse an reflektierender Pavillonarchitektur und der Stadtstruktur. Abbildung 89 und 90: Dan Graham, Homes for America (1965)

Quelle: Dan Graham

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Darüber hinaus begann Graham mit dem Verfassen seiner Essays. Sie sind bis heute Bestandteil seiner Praxis und (Selbst-)Kommentierung. Seine Texte habe ich als zusätzliche Quellen genutzt, dabei verstehe ich diese drei Ebenen (Kunstobjekt, Präsentation im Interview und Essaytexte) als miteinander verflochtene Dimensionen seiner Produktion. Eine Schwierigkeit bei der Auseinandersetzung mit einem bekannten Künstler, wie Dan Graham ist jedoch: Zu seinem Werk wurden bereits unzählige Katalogtexte von Architektur- und Kunsthistorikern geschrieben. Teile dieser Bedeutungsproduktion werden einerseits vom Künstler selbst für seine Präsentation in unserem Interview aktiviert, andererseits ist auch meine Sicht als Forscherin nie eine ungefilterte. In die Interaktion zu Künstler und Kunstwerk schleichen sich quasi immer wieder ‚heimlich‘ andere Perspektiven und Stimmen ein. Grahams Praxis, die sich anfangs im engen Dialog mit den Minimalisten entwickelt, erweiterte später das phänomenologische Interesse an Innenräumen zugunsten von institutionskritischen, medien- und ortsspezifischen Fragen. Sei es, wenn er in seinen späteren Videoarbeiten gemeinsam mit dem Publikum die Beobachtungsqualitäten des Mediums Film austestet oder mithilfe seiner spiegelnden Pavillonbauten die Architektur New Yorks hinterfragt. Ein weiterer zentraler konzeptioneller Punkt ist sein Interesse an einem Moment der Verzögerung: „[…] In der Folge sollte Graham die scheinbare Synchronität zwischen der physischen Welt und dem betrachtenden Subjekt in Frage stellen. Er begann Time-delay als einen Mechanismus einzusetzen, mit dem sich die ‚Verschiebung‘ zwischen dem Moment der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen in Szene setzen ließ.“ (Brouwer 2001: 13) Meine Fragen für das Kapitel lauten deswegen: Inwieweit ist der Prozess des Spiegelns wichtig für sein Verständnis von Stadt? Handelt es sich bei diesem Kunstwerk um ein ortsspezifisches, den Stadtraum New York reflektierendes? Und schließlich: Wie beeinflussen sich Kunstproduktion und mobile Alltagspraxis?

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Der Pavillon als Spiegelung von Urbanität My two-way mirror pavilions can be seen as microcosms of the city environment as a whole. DAN GRAHAM

Abbildung 91: Dan Graham, Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (19891991)

Quelle: Dan Graham

Es war zu Beginn der Neunzigerjahre als Dan Graham seine Arbeit Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (1989-1991) auf dem Dach eines Gebäudes in Chelsea installierte. Beauftragt wurde er von der Kunstinstitution Dia, die neben ihrem Standort in Manhattan für ihre Ausstellungshallen in Beacon bekannt ist. 74 Von einem Gremium aus Künstlern und Kuratoren wurde Graham damals für die Umsetzung einer ortsspezifischen Arbeit ausgewählt. Er entwickelte auf dem Dach in Chelsea zwei Pavillons sowie eine Video- und Cafébar. Während der eine die Form eines Quadrates besitzt, ist der andere ein Zylinder. Graham setzte das Ensemble auf eine erhöhte Plattform, die einem Holzsteg ähnelt. Der runde Körper wird also von dem quadratischen umrahmt, beide sind begehbar. Als Material für 74 Dort zeigt sie in weitläufigen, perfekten White Cube Räumen berühmte großformatige Arbeiten der Minimalisten, der Land Art oder Konzeptkunst.

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den äußeren Pavillon nutzt Graham Zweiweg-Spiegelglas, das sowohl durchsichtig als auch von beiden Seiten spiegelnd ist. Der Künstler wollte das Dach des Gebäudes in der 548 West 22nd Street in einen kleinen urbanen Park transformieren. Außerdem funktionierte er einen Holzverschlag in ein Café samt Videoraum um. Für die Ausstellung im September 1991 entwickelte er ein Videoprogramm, das seine Interessensgebiete Performance, Architektur, Musikvideo und Comic umfassen sollte. Während unseres Interviews beschreibt er die Intention seines Projektes folgendermaßen: „What I wanted to design was like the old ICA in London. There wasn’t anything on the roof, so I took [it]. This was my idea. Actually, the old ICA was a building where you had art exhibitions, a restaurant-café, they showed films and performances, they had dance. In other words it was an open cultural situation. I wanted to transform the Dia into an experimental space for performance and video art. […] So my decision for [it] was [that] I will use the roof and will keep it as it was. There was a tool shed which I turned into a video space and also a coffee area. What I wanted to do in the late Eighties when […] everybody was interested in Baselitz and Neo-Expressionism and [when] there was no interest in performance, no interest in video. So my idea was that the Kitchen, which hosted many performances and video art should be installed on the roof of the Dia. […] I wanted to show videos from artist’s performances in the Seventies, music videos. […] The outside area was supposed to be a performance place. […] I would show the 1970s all kinds of spaces and the 1980s corporate atrium.“ (Interview Dan Graham 2006)

Graham bezieht sich hier auf zwei Institutionen der Siebzigerjahre: Einerseits möchte er den transdiziplinären Ansatz des ICA in London mit seinem Videoscreening für das Dia umsetzen, andererseits das Programm der für Tanz und Performance berühmten New Yorker Institution Kitchen installieren. 75 Dabei betont er, dass er eine Strategie

75 Seit 1947 besteht das Institute of Contemporary Arts (ICA) in London. Es wurde von einer Gruppe von Künstlern, Philosophen und Designern zusammen mit dem Poeten, Schreiber und Modernisten Herbert Read und dem surrealistischen Maler Sir Roland Penroses Labor für die Künste entwickelt. Eines der Gründungsprinzipien des ICA's galt der Verstärkung von Diskussion, Vitalität und Experimentierfreude, um somit eine Alternative zum klassischen Museum zu entwickeln. Auch the Kitchen ist eine in-

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wählte, die konträr zum damaligen Kunstmarkt verlief. Sein kritischer Verweis auf den Neoexpressionismus und sein Anknüpfen an andere Modelle kann damit im Sinne eines institutionskritischen Ansatzes begriffen werden. In Zeiten der Objektfokussierung (sowohl im Kunstmarkt als auch im institutionellen Feld) stellt er ephemere Kunstformen wie Video, Film und Performance heraus. Sein Verweis auf das ICA in London und the Kitchen in New York City bedeuten für ihn eine Kritik an der Sammlungs- und Ausstellungspolitik des Dia Center for the Arts. Sie stelle in ihren Räumen in Beacon Großobjekte in auratisch gehaltenen Räumen aus, kritisiert Graham. Doch ob es Graham tatsächlich gelungen ist, die performativen Räume der Siebzigerjahre mit den Corporate Artiums der Achtziger zu verschmelzen, ist fraglich. Während der Eröffnung fand zwar eine Performance mit Tänzern statt, doch später ebbte das Interesse an solch temporären Formen seitens der Institution wieder ab. Der Pavillon wurde ebenfalls zum Objekt.

Die Stadtstruktur reflektieren Durch ein Video dokumentiert Graham (1992) den Aufbau seiner Skulptur. Ich musste darauf zurückgreifen, da zum Zeitpunkt meiner Forschung das Dach des Museums aufgrund von Renovierungsarbeiten nicht betreten werden konnte. Der Film beginnt mit dem Lärm eines Hubschraubers, während die Kamera über die Straßen und Dächer streift, den hölzernen Wassertank auf dem Dach des Dias passiert, um schließlich die Glasinstallation zu fokussieren. Zwei Personen betreten den Pavillon. Dabei gehört die Begehung zu einem wichtigen inszenatorischen Element der filmischen Darstellung. Am Ende bewegen sich viele Besucher durch das Ensemble. Doch zunächst erklärt eine Stimme aus dem Off die Spiegelung der städtischen Formen in den architektonischen Konstrukten, während im Hintergrund ein Dampfer tutet und auf das nahe liegende Hafengebiet am Hudson River hinweist. Der Film zeigt die Dachsituation und die naheliegende Battery Park City in

terdisziplinäre Institution, die 1971 von einem Künstlerkollektiv gegründet wurde. Es versteht sich bis heute als Ort, wo Videokünstler, Performer und Komponisten experimenteller Musik ihre Ideen austauschen und entwickeln können.

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Lower Manhattan. Aus dem Off beschreibt Grahams Stimme die Idee der Arbeit: „Rectliniar structure references the city below, the grid pattern, which determines its topography and to its framing of the dual character of urban social experience, of seeing and being seen, of spectatorship and spectacle“ (Video). Abbildung 92: Dan Graham, TwoWay Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (1989-1991) Quelle: Dan Graham

Er erklärt mir im Interview, dass das gitternetzartige Muster des „Grids“, der die New Yorker Topografie dominiert, im Pavillon als vereinfachtes Quadrat enthalten ist. Die runde Form des New Yorker Wasserturms hat er hingegen im Zylinder aufgenommen. Durch die zusätzliche Erhöhung des Ensembles auf dem Dach sollte es nicht nur die urbane Umgebung spiegeln, sondern ebenfalls einen Panoramapunkt über der Stadt bieten. Graham weist dabei auch auf die Nähe zur Battery Park City hin. Der rechtliche Status des halböffentlichen Parks interessierte ihn. Aus eigenen Spaziergängen weiß ich, dass hier seit 1989 viele Kunstprojekte im öffentlichen Raum mit funktionalen teilweise dekorativen Zielen umgesetzt wurden. Kurz: der Battery Park wurde als öffentlich-privates Vorhaben geplant.76 Später wird die New Yorker Stadtsoziologin Sharon Zukin genau diese Praxis der Symbolic Economy kritisieren. In ihrer Veröffentlichung The Cultures of Cities (1995) moniert sie die Instrumentalisierung von Kunst zur Errichtung 76 „Battery Park City is owned and managed by the Battery Park City Authority (BPCA), a public-benefit corporation created by New York State. […] Under the 1989 agreement between the BPCA and the City of New York, $600 million was transferred by the BPCA to the city.“ (wikipedia.com am 6.5.2008).

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ästhetischer Schranken. Mithilfe solch designorientierter Eingriffe würden im öffentlichen Raum exkludierende Schranken errichtet. Sie seien symbolische Marker und formten vormals öffentliche Räume unbemerkt zu privaten, exklusiven Arealen um, so ihre Kritik. Bei Graham schwingt hingegen eher ein anderer Gedanke mit, wenn er sich auf den halböffentlichen Park bezieht. Er nennt die gemeinschaftlich organisierten Punk- und Rockclubs der 1970er-Jahre als Vorbild für seinen Dachgarten. Er pflegte diese aufzusuchen, um Tonbandaufnahmen der Konzerte aufzunehmen. Mit seinem Projekt wollte er den hochkulturellen Andachtsraum im Museum brechen. Er wandelte das Dach des Dias sozial und räumlich zu einem Ort des Genießens, des Erlebens und der Stadtreflexion um: „I transformed a penthouse roof into a slum roof.“ (Graham Interview 2) Er wollte also die exklusive und geschlossene Dachterrasse des privaten Museums in einen quasiöffentlichen Raum erweitern. Doch jenseits der Architektur und der inszenierten Dokumentation bleibt unklar, inwiefern Grahams Eingriff nachhaltig war und als solcher tatsächlich die Institution für ein kunstfernes Publikum öffnen konnte. Doch zurück zu Grahams Ideen: Ferner sollte das Ensemble durch die Dachlage dazu einladen, sich näher mit der Stadt und ihrer Struktur auseinander zu setzen. Zunächst mag es verwunderlich erscheinen, warum ihm die Beschäftigung mit der Topografie der Stadt als Teil seines Kunstwerks so wichtig ist. Doch schaut man sich den folgenden Abschnitt unseres Interviews zu seinem Interesse an Urbanität genauer an, dann wird aus seinen vielfältigen Referenzen seine Vorliebe an formalen Strukturen deutlich: „I got very much involved in city planning by a French writer Michel Butor. He wrote a book called Passing Time (L’emploi du temps). I was also very much influenced by Jean Luc Godard and his biggest films. He was dealing with modern suburbia. He made this film called Weekend, which is about what happens when suburban people get caught in a traffic jam. […] At that time Donald Judd wrote an article about Kansas City and its city plan of the 19th century. Judd moved actually from Kansas to New Jersey. So when I made Homes for America I was going back to the sources of Judd. It was about the urban plans of Kansas City. Art shouldn’t be about the white cube this is a very simplistic idea. It should be about the city plan. Great architecture like from Robert Venturi and Aldo Rossi relate to the plan of the city. The city plan is an archive, which contains all structures of all different periods of time.

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Everybody is trying to build a monumental work of art but great architecture is always about the city.“ (Interview mit Dan Graham)

Graham verweist auf unterschiedliche Einflüsse seines Stadtkonzepts. Einerseits bezieht er sich auf das Buch L’emploi du temps von Butor, der als Autor des Nouveau Roman seinen Hauptprotagonisten durch eine nächtliche Metropole in England irren lässt. Sie wird als soziales Labor beschrieben und nur anhand der Topografie kann er sich in ihr orientieren. Godards Film Weekend hingegen zeigt anhand eines Autostaus am Wochenende die menschlichen Abgründe der Vorstadtbewohner. Die Aggression der Wartenden steigert sich in eine absurde Hetzjagd durch brennende Fahrzeuge und Autowracks, es gibt Tote. Judds Artikel zu Kansas City bezeichnet Graham als Auslöser für sein eigenes Projekt Homes for America. Er wollte die Stadtplanung und Struktur der Vorstädte untersuchen, um darin ihre Logik zu erkennen. Damit folgt er dem Aufruf des amerikanischen Architekten Robert Venturi an die „elitäre Architektenwelt“, sich auf die Gegebenheiten der jetzigen Gesellschaft einzulassen und mit den „ordinären“ Vorstellungen eines Amerikas zu arbeiten, anstelle dagegen. Venturi, der etwa das Buch Learning from Las Vegas (1977) verfasste, formulierte wichtige Thesen zur postmodernen Architektur, die sich an den gesellschaftlichen Alltagsentwicklungen orientieren sollte. Im Verlauf des Zitats distanziert sich Graham von der minimalistischen Auseinandersetzung mit dem White Cube. Die Minimalisten hatten sich auf das Innere des Ausstellungsraumes bezogen, um mit ihren Objekten vorrangig phänomenologische Fragen der Architektur zu erörtern. Er betont hingegen, dass er sich mit dem Stadtplan auseinandersetzen wolle. Für ihn scheint die Topografie der Stadt wichtiger, da diese in seiner Vorstellung wie ein Speicher die vorausgegangenen Entwicklungen und Epochen enthält. Diese freizulegen, hält er für das zentrale Ziel ortsspezifischer Kunst und seiner Pavillonbauten.

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Abbildung 93-95: Privataufnahmen des Pavillons von Besuchern

Quelle: Unbekannt

Durch die Erhöhung sollen die Besucher vom Dach des Dias auf die reale Textur der Stadt hinabschauen. Die rational geplante Topografie des Grids solle dabei sichtbar werden, denn New York wurde von Anbeginn an als ökonomisches System geplant. Dem Gitterprinzip folgend, könnten in solch einem Raster einzelne Gebäude entfernt und erneuert werden, ohne dass das Gesamtgefüge der Stadt berührt wird. In Grahams Konzept „erinnert“ die Stadtstruktur die ökonomischen und räumlichen Planungsvorhaben vergangener Epochen, um zukünf-

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tige Transformationen mithilfe ihres vorgegebenen Gitternetzplanes aufzunehmen und zu unterwerfen. Graham besitzt meines Erachtens ein Interesse an der urbanen Textur, weil ihn trotz seiner zuvor proklamierten Distanzierung zu den Minimalisten weiterhin formelle Fragestellungen interessieren. 77 Während seine ersten Pavillonbauten noch sehr stark an Ideen der Moderne, wie etwa an Mies van der Rohes Glasbauten angelehnt waren, behauptet er, dass ihn später die poststrukturalistischen Ideen zum Raum von Michel Foucault oder Manfredo Tafuri faszinierten (Buchloh 2002: 81). Danach versucht er mit den Pavillons, die strukturelle Logik der Umgebung freizulegen, um die in ihnen eingeschriebene Raumentwicklung sichtbar zu machen. Neben dem Interesse an der historischen Struktur der Stadt und ihrer Topologie macht sein Video deutlich, dass es ihm ebenfalls um die Interaktion der Besucher mit seinen Konstruktionen geht. In seinen Darstellungen bildet sich die Skyline der Stadt vor ihnen spiegelnd ab. Grahams Dokumentationsbilder zeigen, dass die Menschen anhand der Spiegelungen in den Pavillonbauten 1.) spezifische Formen der New Yorker Architektur sowie 2.) die Semiotik des Stadtplanes und der Unternehmensarchitektur erkennen sollen: „The first thing we had were corporate atriums. See, New York was unsafe in the 70ties. So the idea was to have a kind of suburbian garden inside office buildings with surveillance cameras so you could be safe. It was like the Botanical gardens of the 19th century. Companies in America became interested in environment. So they used Einwegspiegel because it turned down the air conditioning costs. Also the one-way-glass reflects the sky, so the corporation looks like nature.“ (Interview Dan Graham 2006)

77 Buchloh beschreibt dieses Interesse wie folgt: „The Minimalists’ detachment from any representation of contemporary social experience … resulted from their attempts to construct models of visual meaning and experience which juxtaposed a reductivist formal strategy to a structural and a phenomenological model of perception. Graham’s work, by contrast, argued for an analysis of (visual) meaning which defined signs as both structurally constituted within the relations of a language system as well as grounded in the referent of social and political experience.“ (Buchloh 1989: 46).

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Die spiegelnden Oberflächen der Bürotürme, die Graham hier zitiert, beschreibt er in einem Interview mit dem Kunsthistoriker Buchloh als Kontroll-Architekturen. Denn in ihnen besäßen zwar die Mitarbeiter einen perfekten Ausblick auf die städtische Umgebung, doch von außen werde dies von der Gebäudefassade getarnt. Bei seinen Pavillons, so betont er, nimmt er hingegen einen Eingriff vor. Er verwendet Zweiwegspiegelglas im Gegensatz zum Einwegspiegelglas der Unternehmen, um diese Corporate-Ästhetik zu brechen und eine Situation der sozialen Interaktion zwischen den Besuchern zu evozieren. Für mich ist frappierend, wie Graham mithilfe der transparentspiegelnden Materialität ein in sich urbanes Kunstwerk entwickelt, da sein Architekturensemble Prinzipien des Städtischen verkörpert: Menschen werden sich in einer dichten räumlichen Umgebung gewahr, reagieren aufeinander. Oder um mit Simmel zu sprechen: sie verwandeln sich im gegenseitigen Erblicken zu Großstadtmenschen (1904). Indem Graham das von beiden Seiten spiegelnde Glas transparent hält, sehen sich die Besucher gegenseitig. Dabei nehmen sie ihre eigene Reaktion um einen Time-Delay verzögert wahr und werden sich ihrer Interaktion mit dem Anderen bewusst. Somit ahmt das architektonische Ensemble eine verdichtete urbane Situation nach, um diese gleichzeitig durch die Selbstspiegelung der Akteure wieder freizulegen. Darüber hinaus referiert er in unserem Interview auch auf die Pergola Englischer Gärten und urbaner Kleinbauten, wie der Bushaltestelle oder Wartehallen. Dabei fasziniert ihn der arkadische Blick auf den Pavillon, um sich dem Paradoxon von Natur und Stadt zu widmen: „Historically speaking Jean Jacques Rousseau’s idea of architecture in the park or countryside contained the idea of the Greek temple. The idea was to go back to nature and to get rid of all the terrible things of the city. So I am dealing with this paradox. […]There is a relationship between these two. It is always changing. Many of the great paintings are about the edge of the city. Van Gogh made this painting about the edge of Paris. This is where I went: to the edge of suburbia.“ (Dan Graham Interview Juli 2006)

Anhand dieser Passage wird deutlich, dass Graham Referenzen aus der europäischen Kulturgeschichte für die Kontextualisierung seines Pavillons heranzieht. In seiner begleitenden Publikation von 1992 verweist er auf die Entwicklungsgeschichte von architektonischen Typen, die er in seinem Pavillon aufgreift. Er referiert dabei an europäische Wur-

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zeln, wie das arkadische Gartenhaus inmitten königlicher Parkanlagen oder die Glaspassagen um die Jahrhundertwende. Danach widmet er sich Architekturtopologien aus der amerikanischen Gesellschaft, wenn er auf vorstädtische Shoppingmalls, Themenparks und Atriums (wie das Gebäude der Ford Foundation und dem ChemCourt in New York City) hinweist. Graham nutzt in seiner Kontextualisierung also eine Art Genealogie von Architekturtypiken. Sein urbaner Park bringt Natur und Stadt zusammen. Er bezieht sich dabei auf die utopische Idee der europäischen Romantik von Rekreation und Bildung des Bürgertums im Park, gleichzeitig sieht er seinen Dachgarten aber auch als Suburbian Park, also für die Vorstädter gedachtes Areal der Entspannung und Unterhaltung. Schon van Gogh hätte die Stadtgrenze Paris faszinierend gefunden, weil diese Randgebiete das größte Potential zur Veränderung besäßen. Interessanterweise arbeitet Graham also mit einer romantisch tradierten Vorstellung von Stadt versus Land, städtischen Intellektuellen versus vorstädtischem Kleinbürgertum. Ihn fasziniert die Vorstellung sowohl Sädtisches als auch Ländliches in seinem Pavillon aufzunehmen. Er greift sehr unterschiedliche Referenzen auf, um dabei keinesfalls eine eindeutig kapitalistische Kritik zu formulieren. Im Gegensatz zu konsumkritischen Ansätzen, wie etwa von der Frankfurter Schule, besitzt Graham ein großes Interesse an der amerikanischen Vergnügungskultur und wie diese Architektur prägt. Dies wird beispielsweise in seinen Videos Rock My Religion (1982-84) und Death by Chocolate (2005) deutlich. In seiner Stadtkonzeption vermischen sich also vielfältige Zeiten und Architekturtypologien. Er bringt Pavillonbauten, Corporate Atrium und Vergnügungsparks zusammen. Das Integrieren solch gegensätzlicher Elemente in seine Kontextualisierung führt trotz der minimalen Formen zu einer Bedeutungsoffenheit seiner Arbeiten. In seiner Stadtkonzeption, die er anhand der Arbeit für das Dia schildert, vermischen sich vielfältige Zitate. Sie stammen aus Semiotik, filmischen und literarischen Einflüssen, Psychoanalyse, Interaktionsstudien und Architekturtypologien.

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Abbildung 96 und 97: Dan Graham, Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon (1989-1991) Quelle: Dan Graham

Fazit – Ein dreifaches Spiegelstadium der Stadt produzieren Abschließend möchte ich Grahams New Yorker Stadtkonzept zusammenfassen. Mithilfe der Materialität seiner Pavillonbauten referiert er an ein dreifaches Spiegelstadium. Dabei ist er theoretisch von JeanPaul Sartres ebenso wie Jacques Lacans Begriff des Spiegelstadiums beeinflusst, wenn er sagt: Ich denke, der Spiegel interessierte mich auch deswegen, weil ich immer ‚Doubles‘ machte. Dinge, die Mischformen waren zwischen einer Sache und einer anderen, und weil ich mich sehr für das Bildfenster interessierte (Graham im Interview mit Buchloh 2002: 79). Der Künstler bezieht sich hier auf Ideen von Lacans Psychoanalyse. 78 Der Entfremdungsmoment im Spiegelstadi78 Lacan entwickelte das Konzept des Spiegelstadiums, als er entdeckte, dass Kinder in ihrem sechsten und achtzehnten Lebensmonat beim Erkennen ihrer selbst im Spiegel in Verzückung geraten. 78 Die Identifikation des Kindes mit seinem Bild besitzt eine „Verkennungsfunktion“ (Lacan 1986: 69) – das Erkennen (me connaître) ist zugleich ein Verkennen (méconnaître). Das Kind sieht nicht sich im Spiegel, sondern eben nur sein Bild. Der Ort dessen, was es sieht, befindet sich außerhalb seiner selbst: im Spiegel. Dies führt zur Spaltung von je und moi: Der Andere, dessen Bild

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um spielt in Grahams Konzeption eine wichtige Rolle, hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um ein psychoanalytisches Erkennen, sondern um eines, welches sich auf den eigenen, den sozialen und den urbanen ‚Körper‘ bezieht. Während er in seinen Filminstallationen einen vergleichbaren Effekt erzielt, indem er das Bild um einige Sekunden verspätet auf eine Wand projiziert, sind es hier die durchsichtig gehaltenen Spiegel, die den Moment des Time-Delays produzieren. Dieses dreifache Spiegelstadium äußert sich im Dokumentationsvideo, indem er erstens: die Menschen zeigt, wie sie im gegenseitigen Erblicken ein „soziales Spiegelstadium“ erfahren. Zweitens stellt der Film dar, wie das veränderte urbane Umfeld in Form von Bauten aufgegriffen wird (Gridstruktur, Wasserturm, Corporate Atrium), um schließlich drittens das Natur-Stadt-Paradoxon zu nennen. So kann man zusammenfassen, dass Kunstwerk, Dokumentation und Selbstkommentierung verschiedene Ebenen enthalten. Graham referiert auf New York als zunehmend rationalisierte Stadt, Urbanität als soziales Interaktionsprodukt und dominante Architekturtopologien der amerikanischen Bau- und Lebenskultur. Auf einem privaten Dach eines Museums wollte er einen quasiöffentlichen Raum schaffen, der sich der Reflexion der New Yorker Architektur der Achtzigerjahre, der Geschichte der rational geplanten Stadtlinguistik ebenso wie den damals institutionell dominanten Formen der Museumslandschaft widmet. Graham greift die institutionellen und architektonischen Rahmenbedingungen New Yorks auf, um mithilfe des Time-Delays diese Strukturen zu spiegeln.

dem Subjekt als Ideal-Ich (moi) gilt, und dem es sein Ich (je) anzunähern versucht, liegt außerhalb des eigenen Körpers in der bildlichen Darstellung des Spiegels, so die zentralen Ideen Lacans.

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Abbildung 98: Dan Graham, From Boulée to Eternity

Quelle: Dan Graham

Abbildung 99: Dan Graham, Café Bravo, KW Institute for Contemporary Art Berlin

Quelle: Dan Graham; Rainer Jordan, KW Institute for Contemporary Art Berlin, 2004

Doch die Arbeiten Grahams enthalten nicht ausschließlich ortsspezifische Elemente. Sicherlich sein lokales Wissen, welches er vorrangig in den Siebzigerjahren durch seine Touren durch die New Yorker Punkund Rocklandschaft generiert hat, floss zu einem erheblichen Teil – quasi als stilistisches und autobiografisches Kontrastmittel – in den Dia-Pavillon ein. Dennoch enthält diese Arbeit, insbesondere im Vergleich zu anderen seiner Pavillonprojekte, Ähnlichkeiten. So greift Graham in seinen Bauten immer wieder auf eine geschlossene Formsprache aus Quadraten, Zylindern, Halbkreisen oder Dreiecken zurück.

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Sei es, wenn er seinen Triangular Solid with Circular Inserts (1989) für die Stadt Nordhorn, die Two-Way Mirror Pergola (1990) in Nantes/Frankreich, den Triangular Pavillon for Wiener Secession (1992) oder sein Funhouse for Münster (1997) entwickelt. Seine Bauten sind durch ihre einfachen Formen und ihr Zweiwegspiegelglas zu unverwechselbaren ‚Grahams‘ geworden. Ihre Unverkennbarkeit und geometrische Form werden entscheidend dafür gewesen sein, dass er noch immer in einem Atemzug mit den Minimalisten genannten wird (obwohl sein Werk durch vielfältige Einflüsse gekennzeichnet ist). Seine Pavillons sind zum globalen Markenzeichen von Graham geworden. Durch ihre serielle Formgebung bieten sie zwar die Möglichkeit ortsspezifische Elemente und Erzählungen aufzunehmen, um gleichzeitig auch in vollständig unterschiedlichen urbanen Kontexten aufgebaut zu werden, sich dem westlichen Kunstbetrieb und seiner Logik von Flexibilität und Universalität anzupassen. Damit ist sein Werk Voraussetzung und Motor von Mobilität. Die Anschlussfähigkeit seiner Arbeiten korrespondiert mit seiner globalen Reisetätigkeit oder um mit Lefebvre zu sprechen: Gelebter und konzipierter Raum enthalten vergleichbare Mechanismen. Sie sind lokal eingebettet, doch zu einem entscheidenden Anteil von übergeordneten Ideen geprägt. Diese Offenheit und Möglichkeit zur Adaptierung wirkt sich wiederum auf die gelebte Raumpraxis des Künstlers aus. Er wird von sehr unterschiedlichen Museen in Europa beauftragt, auf die jeweilige Stadt bezogene Pavillonbauten zu realisieren. Seine Ortsspezifik ist auf formelle Bezüge der Architektur und des Stadtraumes bezogen. Seine Pavillons bedienen sich aus einem festgelegten ‚Baukasten‘ minimalistischer, geometrischer Formen. Sie enthalten einen hohen Anteil an Abstraktion und sind durch die Kontextualisierung leicht an den jeweiligen Ort anpassbar. Es findet gewissermaßen eine Ko-Produktion zwischen den Pavillons und ihren sich wiederholenden Formen, Grahams Narrationen zum lokalen Kontext und seiner gelebten Raumpraxis statt. Kritisch gesehen könnte man sagen, dass Grahams spiegelnde Pavillonbauten mittlerweile zu einem Statussymbol europäischer Museen und Städte geworden sind. Durch die Möglichkeit der Adaptierung hat damit das Werk eine eigene Logik entwickelt und schreibt sich quasi auch in die Alltagspraxis des Produzenten ein. Der Künstler ‚folgt‘ seinem Werk beziehungsweise seinen Aufträgen. Zum Abschluss lässt sich auf ein letztes Paradoxon hinweisen: Was passiert, wenn das Kunstwerk, welches die Stadt spiegeln soll,

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selbst von der Stadt dominiert wird? Der Two-Way Mirror Cylinder Inside Cube and Video Salon imitiert in seiner Konstruktion und seiner Darstellung in Videos und Katalogen die Vertikalität New Yorks. Das Ensemble ist auf einem erhöhten Punkt gebaut und somit ist es, als ob das urbane Umfeld nur von einem Blick von oben erfolgen kann. Es braucht scheinbar den „Birds-Eye-View“ (De Certeau) vom Dach oder aus dem Cockpit des Helikopters im Video, um das Kunstwerk in seinem Kontext inszenieren und begreifen zu können. Damit steuert die Stadt New York in ihrer Vertikalität ebenfalls die künstlerische Praxis. Das Objekt muss auf dem Dach eines Gebäudes installiert werden, um die städtische Umgebung reflektieren zu können. Graham kann sich nicht vollständig von der Stadt absetzen, sondern ist ihrer Struktur gleichsam ausgesetzt. Das architektonische Umfeld wird zum Aktant (Bruno Latour) und schreibt sich in die Raumtaktik des Kunstwerks ein. Hinzu kommt eine weitere Inbesitznahme: Mittlerweile ist die Skulptur Grahams nämlich nicht mehr begehbar. Das Dia wurde von der galoppierenden Gentrifizierung in Chelsea mitgerissen und musste sich einen anderen Ort suchen. Das Pavillonensemble sollte wie ein erhöhter Aussichtspunkt über und inmitten der Skyline stehen, doch es dauerte nicht lange und auch dieser Moment des Time-Delays, des Einhaltens über die Rationalität und Dynamik der Stadt, wird von eben dieser Gefräßigkeit verschlungen. Somit enthebt sich das Kunstwerk zwar zu einem gewissen Teil über das New Yorker Umfeld, um dabei jedoch ebenfalls davon dominiert zu werden.

7.2 I CONIC C ITY – M ATTHEW B ARNEYS „B ÜHNE S TADT “ New York felt like a natural condition, a vertical extreme, a vertical landscape. MATTHEW BARNEY

Ich sitze in einem Sessel dem Künstler gegenüber und das rote Lämpchen des Mikrofons spiegelt sich im Glastisch. Endlich ist es gelungen, ein Interview mit Matthew Barney zu realisieren. Nach sechs Monaten Korrespondenz unterhalten wir uns nun doch in persona. Seine New Yorker Mental Map zeichnet er bereitwillig auf ein Papier,

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die Situation kommt mir noch immer recht irreal vor. Denn bereits einen Monat nach meiner Ankunft in New York hatte ich über seine Galerievertretung versucht, Kontakt aufzunehmen. Beinahe sechs Monate später, nach vielen E-Mails und Telefonaten, treffe ich den Künstler persönlich. Man könnte nun vermuten, wir hätten uns in seinem Atelier in New York oder in den Räumen seiner Galerierepräsentanz getroffen. Doch weit gefehlt: Wir befinden uns in einer der uniformen Luxussuiten in einem Hotel am Gendarmenmarkt in Berlin. Barney hat zwei Stunden zuvor ein Künstlergespräch mit der aus New York angereisten Kuratorin Nancy Spector anlässlich seiner Ausstellung Barney I Beuys in der Deutschen Guggenheim geführt, danach die vielen Autogrammjäger bedient, einen Termin mit einem britischen Kurator absolviert und nun unser Interview. Ich werde nach etwa zwei Stunden das Hotel mit einer Bandaufnahme und seiner sorgfältig gezeichneten Mental Map verlassen. Das gesammelte Material ebenso wie die zusätzlich erhältlichen Katalogtexte und Artikel stellen die Basis für meine Studie dar. Dabei ist einerseits noch wenig erforscht, wie der Künstler mit architektonischen Räumen umgeht, andererseits musste ich mich angesichts der Langwierigkeit des Kontaktprozederes fragen, ob es nicht einer näheren Analyse innerhalb meines ethnografischen Textes bedarf: Inwieweit kann die Auseinandersetzung mit dem dichten Geflecht von vorgelagerten, professionellen Instanzen einen Einblick über die Organisation des Künstleralltags im Kontext des New Yorker Betriebs liefern? Und steht der Aufwand für ein solches Interview im Verhältnis zum Gesamtprojekt einer dichten Ethnografie? Aus diesen kritischen Überlegungen heraus, entwickelte ich den Aufbau dieses Kapitels. Es wird somit eine andere Struktur besitzen als die vorausgegangenen. Zu Anfang wird das Stadtkonzept Barneys und seine Verwendung ikonischer New Yorker Architekturen in seinem Film Cremaster 3 (2002) stehen. Ich arbeite dabei mit einer Bildanalyse seines Videos sowie eines gleichnamigen Katalogs, der die Filmstills aufführt. Außerdem kommt auch hier mein Gespräch mit dem Künstler zum Einsatz, ebenso wie später die Analyse seiner Mental Map. Im weiteren Verlauf des Kapitels gehe ich auf die professionellen Räume seines Alltags ein. Was kann man anhand der Instanzen, die es zu überwinden galt, herauslesen? Inwieweit sind Interviews mit sogenannten Stars für ein ethnografisches Forschungsverfahren geeignet? Dies

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werden neben der Analyse des Stadtkonzepts und seiner künstlerischen Praxis die bestimmenden Fragen dieses Kapitels sein.

Ein schneller Einstieg in die Kunstwelt Spätestens seit Mitte der Neunziger wird Matthew Barney als einer der ‚Stars‘ im zeitgenössischen Kunstbetrieb gehandelt. Die Heirat mit der isländischen Sängerin und Popikone Björk wird vermutlich diesen Status noch weiter befördert haben. 1967 geboren, wuchs er in Boise/Idaho auf. Zunächst begann er Medizin in Yale zu studieren. Nach wenigen Semestern wechselte er zum Fine Art Department der gleichen Universität. Ein Bachelor an einer solchen Ivy League University bedeutet gewöhnlich, dass der Absolvent aus einer wohlhabenden Familie stammt. Barney betont hingegen in seinen Interviews meist, dass er sein Studium über Fotomodelljobs in New York finanzierte. Gleichzeitig wird ebenfalls die Galeristin Barbara Gladstone als eine seiner familiären Geldgeberinnen genannt. Festzuhalten gilt: sein Studium in Yale wird für seinen schnellen Einstieg in den Kunstbetrieb wichtig gewesen sein. Barneys Auseinandersetzung mit körperlichen Prozessen innerhalb seines Medizinstudiums ebenso wie seine athletischen Erfahrungen im Baseball-Team der Highschool erwähnt er oftmals als zentrale Referenzen. So begann er zunächst mit stark körperbezogenen Performances, in welchen er sich, wie in der Serie Drawing Restraint (19872005), von der Decke zwischen zwei Leinwänden abseilte und Zeichnungen unter hohem körperlichem Einsatz erstellte. Eine Kernidee war dabei, dass sich wie im Sport Höchstleistung nur dann herausbilden kann, wenn Widerstände überwunden werden. Muskeln bilden sich aus, wenn sie durch das Training zunächst „beschädigt“ werden, lautet eine seiner Erklärungen. Erst im darauf folgenden Heilungsprozess gehe der Athlet gestärkt daraus hervor. Diese Idee eines auf Fortschritt orientierten Körpersystems, sowie der Stärkung durch Widerstand, ziehen sich wie ein Metakonzept durch viele seiner Arbeiten. Seine Praxis ist geprägt durch sein Interesse an geschlossenen Kreisläufen, biologischen Prozessen und Sexualität. Die Auseinandersetzung mit Räumen taucht sowohl in seiner eigenen Kontextualisierung als auch in der Kunstkritik nur peripher auf. Doch Architekturen besitzen meines Erachtens eine wichtige inszena-

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torische Funktion in seinem Werk, da sie im Gegensatz zu den rätselhaften Narrationen und Fabelwesen seiner Filme reale Bezugspunkte und biografische Hinweise setzen. Auf diese Aneignung von emblematischen New Yorker Orten in seinem Film Cremaster 3 (2002) möchte ich in diesem Kapitel eingehen, um anhand dessen sein Konzept von Raum zu diskutieren.

Cremaster 3 – Die Ikonik New Yorker Architekturen Der Film Cremaster 3 gehört zum monumentalen Cremaster Zyklus (1994-2002). Dabei ging Barney nicht chronologisch vor, sondern produzierte den dritten Teil als finales Bindeglied zum Abschluss der Dreharbeiten. Der Cremaster Cycle wirkt wie ein geschlossenes ästhetisches System, welches nicht nur aus dem Medium Film besteht, sondern ebenfalls Fotografie, Zeichnungen und Skulpturen des Künstlers inszeniert. Die Filmreihe kann als eigene „Bühne“ bezeichnet werden, auf der Barney sich und seine Werke präsentiert. In einem surrealistischen Reigen von Orten und Fantasiefiguren beschäftigt er sich mit der Entwicklung eines, wie er sagt „pränatalen Reproduktionssystems“. Dabei ist – ganz im Sinne der biologisch-sexualisierten Sprache Barneys – die Reihe nach dem lateinischen Wort des Hodenhebers Musculus cremaster benannt, der für den männlichen Hoden die Funktion der Thermoregulation vornimmt. Barney selbst bezeichnet den Zyklus als ein geschlossenes, autobiografisches oder auch narzisstisches System. In Entwicklung und Kontextualisierung wird eine Strategie der Verrätselung genutzt. Biografische Bezüge werden in Form der Orte, Landschaften oder Architekturen in die vielschichtig-überladene Narration eingestreut. 79 Cremaster 3 spielt dort, wo Barney heute lebt: in New York. Mit diesen, wie ich meine, bewusst gesetzten Ortsbezügen konnte Barney sich nicht zuletzt im internationalen Kunstbetrieb als einer der New Yorker Künstler positionieren. Die Wahl der Schauplätze ist also wichtiges stilistisches und inszenatorisches Mittel seines Gesamtkunstwerks. Über den Einsatz dieser Orte präsentiert er eine mystifizierte Selbstpräsentation.

79 So dürfte dem Experten anhand von Interviews und Website des Künstlers bekannt sein, dass der blaue Astroturf in Cremaster 1 das Footballstadium war, wo er in der High School zu trainieren pflegte.

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Cremaster 3 erzählt den Fortschritt beim Bau des Chrysler Buildings. Das Gebäude wird dabei nicht nur als Bühne genutzt, sondern entwickelt einen eigenen Charakter. Es ist ein Architekturkörper, in welchem sich innere, widerstreitende Kräfte abspielen, die miteinander um spirituelle Transzendenz wetteifern. Diese Kontroversen werden anhand der Freimaurerlegende Hiram Abiffs erzählt. Im Film stellt die Figur des Architekten (vom Künstler Richard Serra gespielt) den Counterpart zum neu aufgenommenen Lehrling (Matthew Barney) dar. Die Filmerzählung folgt ihrem Aufstieg durch den Turm. Sie leben die Freimaurerlegende Abiffs nach, der den Tempel König Salomos erbaute, die Geheimnisse des Universums kannte und nach seiner Ermordung wieder auferstand. Der Film greift die Initiationsriten der Freimaurer auf, in denen der Kandidat drei Stufen durchläuft. Sie vollziehen sich vom ersten Grad des Lehrlings zum dritten Grad des Meisters. Dabei webt er auch irische Mythologien in die Legende ein und referiert damit auf die Dreißigerjahre als irische Maurer an den New Yorker Wolkenkratzern arbeiteten. Später wird der Film von The Order unterbrochen. Dieser spielt im berühmten Guggenheim Museum, in welchem der Lehrling wie in einem Computerspiel unterschiedliche Schwierigkeitsstufen durchlaufen muss. Abbildung 100 und 101: Matthew Barney, CREMASTER 3, Lodge of the Entered Apprentice (2002), Production Still

Quelle: Matthew Barney, 2002, Gladstone Gallery, New York, Foto: Chris Winget

Interessant am Aufbau von Cremaster 3 ist einerseits, die Idee des Initiierungsrituals, welches räumlich mit dem Erklimmen des Turmes verbunden ist. Andererseits werden Innen- und Außenraum des be-

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rühmten Chrysler Buildings unterschiedlich dargestellt. Im Inneren des Gebäudes dominieren eher dunkle Farben, das Licht ist in einer grünlichen Diffusität gehalten. Barney greift das Untergeschoss mit seinen gemusterten Böden und dem üppig rot-braunen Marmor auf. Erst mit dem Erklimmen des Wolkenkratzers verwandelt sich die Atmosphäre mit dem in der 66. Etage befindlichen Clouds Club in ein helles Blau. Dieser Bereich enthält neben den kunstvollen Holztüren des Fahrstuhls eine wolkenähnliche Tupfstruktur auf den Wänden. In der darauf folgenden Episode Architectural Firm nimmt die Dunkelheit wieder zu. Anhand von kleinen, elfenbeinfarbigen Architekturmodellen des Chrysler Buildings und seinen Konkurrenten wird der Wettkampf des Architekten um die Errichtung des höchsten Gebäudes in New York illustriert. Der Film knüpft dabei an die geschichtliche Situation beim Bau des Gebäudes an. Abbildung 102: Matthew Barney, CREMASTER 3 (2002), Production Still Quelle: Matthew Barney, 2002, Gladstone Gallery, New York, Foto: Chris Winget

Während die Aufnahmen im Inneren des Gebäudes in gedeckten Farben gehalten sind, wird das Chrysler Building meist von Außen in seiner architektonischen Imposanz gezeigt. Sei es, wenn die Bauarbeiter auf Stahlträgern oberhalb der Stadt schweben, die mit irischen Bändern geschmückte Spitze sich gegen den blauen New Yorker Himmel abzeichnet und damit die Machtfülle dieser Architektur symbolisch überhöht wird, oder wenn des Nachts die Kamera oberhalb der Spitze des Gebäudes die kleinen Lichter der Stadt filmt. Dies sind die Momente, wo es inmitten der eindrucksvollen Kulisse New Yorks sichtbar wird. Barney wählte diese ikonische Architektur und ihre Aura gezielt aus:

250 | K UNST BAUT STADT „I chose the Chrysler Building because the Cremaster 3 was scripted in the first place. It was about selecting locations and to design a kind of psychological state for each of these locations or designate a station in this dramatic arc. Cremaster 3 was designated as narcistic state, a place where there is a very satisfying state. The corporate icon of the Chrysler Building felt useful in that way to make a kind of headquarter and to work with the inner architectural power of the 30ties where everybody wanted to build the tallest building in the world to symbolize that kind of power and prosperity in the face of pression.“ (Matthew Barney Interview 2006)

In dieser Sequenz spricht er über die Achse, die der Film in seinem Zyklus von fünf Streifen einnehmen sollte. Dabei ging es ihm darum, die Architektur in Korrespondenz zur Gesamterzählung auszuwählen. Das Chrysler Building repräsentiert als Firmenzentrale und damalig höchstem Wolkenkratzer einen narzisstischen Zustand der Selbstspiegelung. Gleichzeitig verweist er hier auf eines seiner Leitmotive: Entwicklung gegen Widerstände. Er bezieht sich auf die historischen Hintergründe bei der Entstehung des Gebäudes. Am 28. Mai 1930 wurde es von seinem Architekten William van Alen triumphal eingeweiht. Es maß bis zur Spitze 319 Meter und war damit das höchste Gebäude der Welt. Während seiner Erbauung hatte es bis zur letzten Sekunde einen Wettlauf mit der Bank of Manhattan, dem heutigen Trump Tower, gegeben. Doch durch die minutiöse Geheimhaltung der Metallspitze und ihrer Voranfertigung im Inneren des Gebäudes, gelang es Alen, das höchste Gebäude der Welt zu erbauen.80 Der Künstler nutzt die Narration des New Yorker Wolkenkratzers, der trotz aller Wiederstände gelingt. Dabei machten die schlechten ökonomischen Bedingungen es überhaupt erst möglich, dass es in einer damals rasanten Bauzeit reali-

80 „Die einzelnen Bestandteile dieser Metallspitze sind im Heizungsschacht des Gebäudes zunächst gelagert und vormontiert worden. Dann wurden die riesigen Stahlplatten heimlich auf das 65. Geschoss gebracht, dort zusammengeschraubt und anschließend in einem Stück mit einem Drehkran auf das Gebäude gesetzt, das damit 318,8 Meter Höhe erreichte und die Konkurrenz deutlich übertrumpfte. Dieses Unterfangen dauerte weniger als 1½ Stunden. Dieser Stahlaufbau, genannt ‚Vertex‘ (lat. Wirbel, Drehung), ist 56 Meter hoch und wiegt nur 30 Tonnen, ist also reine Dekoration – eines der faszinierendsten Beispiele des Art Déco.“ (wikipedia.de am 20. Mai 2008).

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siert werden konnte. Es büßte jedoch schon nach wenigen Wochen seinen Status ein. Dieses doppelte Scheitern fasziniert den Künstler: „It sort of reflects a kind of simultaneously failure. This building reflects a failure as much as a power. Of course the Cremaster Cycle has to do with this kind of duality as well of some attempt to overcome a condition. It is a staged heroic effort to do this and a failure to that at the same time. So these buildings of the 1930ties felt useful for that. Also the Chrysler Building is a mirror, it is a reflector. So the metaphor of reflecting the entire cycle and creating a multifaceted mirror of reflecting all the aspects of Cremaster became the program of it.“ (Matthew Barney Interview 2006)

Auch hier schreibt sich die Meta-Narration Barneys zur Überwindung von Wiederständen in die Auswahl des Gebäudes ein. Die Architektur der Dreißigerjahre symbolisiert das Bezwingen der ökonomischen Flaute. Der Wolkenkratzer steht einerseits als Symbol für den menschlichen Narzissmus, andererseits für das Streben nach ökonomischer Größe. Barney bedient sich hier einer schnell zu verstehenden Lesart: Die architektonische Höhe steht gleichbedeutend für den Willen nach Macht. „It was about the atmosphere and the character of the building, yes. But I think that the mirror can function as different models not just the literalization of the narcism but the fact that it had multiple facades. It is not a plain mirror. It is a faceted mirror in that way that the Cremaster is not a single narrative. It has a number of paths that connect elliptically.“ (Matthew Barney Interview 2006)

Er versteht die gebrochenen Spiegelungen im Eingangsbereich und Untergeschoss des Art Déco Gebäudes als hilfreiche Symbolik für die Gesamtidee. Verschiedene Erzählebenen werden hier verflochten. Hinzu kommt das Guggenheim Museum, welches er in dem filmischen Zwischenkapitel The Order als Raum mit verschiedenen Spielebenen inszeniert.

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The Order – Die Inszenierung des Guggenheim Museums als Metaspiel auf fünf Ebenen Im Verlauf dieses Zwischenfilmes wird Barney als Lehrling gezeigt, der das Guggenheim Museum und seine unterschiedlichen Ebenen erklimmen muss. Der Film beginnt mit einer Einstellung auf einen Pool im unteren Geschoss des Museums. Fünf Nixen baden im Wasser, die Kamera zoomt nach oben, um den Blick auf die berühmte Glasdecke des Gebäudes freizugeben. Die unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen und ihre Ebenen werden eingeblendet. Das Spiel beginnt, indem Matthew Barney in einem Schottenkostüm bekleidet das Gebäude hochklettert und dabei unterschiedliche Aufgaben bewältigen muss. Insgesamt wirkt dieses ‚Spiel‘ auf mich wie eine hermetische und chaotische Einheit. Als Betrachterin verliert man schnell den Überblick, in welcher Stufe er sich befindet und was der Sinn seiner Aufgaben ist. Abbildung 103-105: Matthew Barney, CREMASTER 3, The Order (2002), Production Still

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Quelle: Matthew Barney, 2002, Gladstone Gallery, New York, Foto: Chris Winget

Barney klettert über die weißen Balustraden des Guggenheim Museums empor. Dazu spielt ein pixeliger Technosound, der an die Akustik von Computerspielen erinnert. Eine ganze Armada von Revuetänzerinnen in Schafskostümen erwartet ihn auf dem nächsten Stockwerk des Guggenheims. Zu den Klängen New Yorker Revuen beginnen sie zu steppen. Die Kamera zeigt das gläserne Dach, wo ein von ihm erfundenes Symbol das Gebäude in diffuse Dunkelheit hüllt. Durch die exakte Bewegung der Tänzerinnen entsteht ein Eindruck der Serialität. Barney wird ein totes Lamm, eine Glocke und eine Augenbinde umgebunden. Die Tänzerinnen schieben ihn zur Balustrade und stoßen ihn hinab. Einige Augenblicke später landet er im Schaumpool. Die Kamera filmt auf den kobaltblauen Boden des unteren Geschosses, während Barney wieder die Wand emporklettert. Er erklimmt das nächste Stockwerk, auf dem ein Wettbewerb zwischen den beiden bekannten New Yorker Punkrockbands Agnostic Front und Murphys Law stattfindet. Die beiden gelten als Urgesteine der New Yorker Szene, die sich Anfang der Achtzigerjahre formierte. Die Fans beginnen mit einem wilden Pogo, während Barney im Zentrum der Tanzenden mithilfe von aus weißem Kunststoff gegossenen Werkzeugen eine Klappe im Boden öffnet. Auf der nächsten Ebene erwartet ihn das Modell und die Paraolympics Sportlerin Aimee Muffins in einem weißen Kleid. Als er sie umarmen möchte, verwandelt sie sich in eine Le-

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opardenfrau und verletzt ihn. Er erklimmt die nächste Empore, um in dieser Etage säulenähnliche Objekte in die Einbuchtung einer Großskulptur zu werfen. Im obersten Stockwerk trifft er schließlich auf Richard Serra, seinen Architekten und Meister, der eine Skulptur aus Vaseline gießt. Abschließend sind verschiedene Sequenzen dicht zusammengeschnitten: die Schuhspitzen der Tänzerinnen geben einen klackenden Takt vor, die Vaseline spritzt von der Wand, Barney erschlägt die Leopardenfrau. Die letzte und finale Szene zeigt ihn als weibliches Alter Ego mit verbundenen Augen, vier Lämmer haltend, auf einem Thron oberhalb der irischen Fahne sitzend. Das Order-Zeichen an der Decke wird angezoomt, der Film endet. Neben der Umwandlung des Guggenheim Museums in eine Spiellandschaft sind die Revuetänzerinnen ebenso wie die beiden Hardcore Bands Agnostic Front und Murphys Law wichtige New York-Referenzen in diesem verworrenen Bildreigen. Zusammen geben sie popkulturelle Verweise auf die Metropole: „One of the most significant examples is the Guggenheim. Of course it became a character in Cremaster 3. I used it for the exhibition and the film. The five rings of the Guggenheim were very useful for organizing the chapters of the Cremaster. These rings became the different levels of initiation of this character in that story.“ (Interview Matthew Barney 2006) Der Künstler beschreibt, wie er die bauliche Struktur des Museums als übergeordnetes erzählerisches System für seinen Film nutzt. Es handelt sich bei The Order um einen Film im Film, der einerseits das Initiierungsritual des Lehrlings nacherzählt, andererseits als Metatext für die anderen Cremaster Episoden funktioniert. Der Lehrling muss sich verschiedenen Prüfungen unterziehen. Am Ende kann er sich erfolgreich gegen die Leopardenfrau durchsetzen. Er hat die nächste Stufe erreicht. Abbildung 106: Matthew Barney, CREMASTER 3, Guggenheim Museum (2002), Production Still Quelle: Matthew Barney, 2002, Gladstone Gallery, New York, Foto: Chris Winget

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Der Cremaster Zyklus. Orte als Bühnen der Künstlerbiografie Zwei wichtige New Yorker Architektur-Ikonen stehen im Mittelpunkt dieser beiden Filme. Das Chrysler Building symbolisiert den ungebrochenen Repräsentationswillen eines Großunternehmers, während das von Frank Lloyd Wright erbaute Guggenheim Museum mit seiner schneeweißen Architektur und seinen spiralförmigen Geschossen für eine der bekanntesten Museumsgebäude weltweit steht. In unserem Interview beschreibt Barney, warum ihn das Arbeiten in diesen Räumen faszinierte: „It is exciting for me to work with things of this nature that are nearly un-extractable and to put them into the system whose purposes is to abstract. Cremaster 3 especially took on pretty iconic things as for instance Richard Serra, the Chrysler Building and the Guggenheim.“ (Interview mit Matthew Barney) Schwierig zu abstrahierende Strukturen für seine Geschichten zu erschließen, bilden Barneys Motive. Dabei interpretiere ich beide Filmszenen als ein ‚Öffnen‘ von hermetischen Orten. Denn im realen Leben können Besucher des Chrysler Buildings nur den Eingangsbereich betreten. Barneys Materialschlacht in diesen Gebäuden, die Inszenierung des Guggenheims als Spiellandschaft mit Bandcontest, Revuetänzerinnen und Swimmingpool sehe ich als Strategie der Verwandlung. Das Museum wird von einem Ort der Kontemplation in einen des Vergnügens, der Körperlichkeit und des Kampfes verwandelt. Das Chrysler Building wird vom Künstler ebenfalls vollständig ‚umgekrempelt‘, wenn etwa in einem Carcrash mehrere Chrysler einen Oldtimer zu einem Autowrack fahren, die Skybar zum Operationssaal umfunktioniert oder der Fahrstuhl mit Mörtel gefüllt wird. Barney beweist damit seine Fertigkeiten, diese hermetischen Architekturen für seine Fiktionen einzunehmen. Dabei baut er die Innenräume dieser ikonischen Gebäude um, verwandelt sie zu Bühnen seiner Welten. Es geht dabei um nicht weniger als um einen Gestus des Einnehmens dieser für New York so symbolischen Orte. Die reale Stadt und ihre Bauwerke – ebenfalls aus einer vertikalen Perspektive heraus aufgenommen – werden zur Bühne für seine Fiktionen von Cremaster 3. Ihre architektonische Aura eignet er sich als Kulisse an. Er nutzt ihre Besonderheiten und macht sie zu eigenen Akteuren in seinen Filmen.

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Während im Guggenheim die weiblichen Charaktere überwiegen, handelt es sich beim Chrysler Building um eine Bühne für einen männlich dominierten Wettstreit zwischen Lehrling und Meister. Abbildung 107: Porträt von Matthew Barney (2003) Quelle: David Heald, Solomon R. Guggenheim Foundation, New York

Um solch prominente Orte und ihre institutionellen Umfelder effektiv in die Arbeit einzubinden, bedarf es einer großangelegten Infrastruktur. Auch wenn Barney auf dieser Fotografie, die das Guggenheim Museum für seine Pressearbeit verwendet, als nachdenklicher Erfinder der Szenerie wirkt, arbeitet ein großes Team von professionellen Akteuren bei der Realisierung seiner Cremaster Filme mit. Insgesamt müssten vermutlich mehr als 200 Menschen und Produktionsfirmen in die Umsetzung der Filme involviert gewesen sein. Das Bild des sinnierenden Künstlers steht symbolisch für die Rolle des Genies. Es verweist auf den beiderseitigen Gewinn dieses Projektes. Während Barney die Museumsikone zu einem Schauplatz seiner Phantasiewelt umfunktionieren konnte, profitiert die Institution wiederum vom professionell distribuierten Kunstfilm und der Integration seiner Architektur in sein Werk. Es kann sich als offene Institution präsentieren, die Künstlern jegliche Freiheit gewährt. So verwundert es ebenfalls nicht, dass im Anschluss an die Cremaster Filme Barney eine Retrospektive im

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Guggenheim angeboten wurde: 81 Kunstwerk und Museum potenzieren ihr jeweiliges symbolisches Kapital gegenseitig.

Das Landschaftskonzept Barneys Das System von Barney besteht in einer perfekten Verzahnung von Film, Skulpturen und Zeichnungen. Er kann damit sehr unterschiedliche Sammler- und Kuratorenbedürfnisse bedienen. Einerseits eignen sich seine Skulpturen als raumgreifende Objekte für größere Museums- und Ausstellungsräume, andererseits können seine Zeichnungen ebenfalls kleinere Privaträume schmücken. Von Cremaster 3 vertreibt er den Zwischenfilm The Order über den internationalen Videoverleih. Die anderen Teile seines Zyklus werden hingegen nur in ausgewählten Filmspielhäusern gezeigt. So halte ich nicht nur seine Produktions-, sondern auch seine Distributionspolitik für eine sorgfältig und sehr professionell entwickelte Strategie. Für seine Filme entwickelte er eine Vorschau. Sie beginnt nicht mit seinen Charakteren oder der Filmnarration, sondern mit einer Sequenz der eindrucksvollsten Orte: Wir sehen das blaue Baseballspiel neben den schroffen Felswänden in Idaho, um schließlich das Chrysler Building aus der Luftperspektive im nächtlichen New York zu sehen. In der Gesamtheit der CremasterFilme scheinen die Stätten also bewusst gesetzt. Barney eignet sich die Orte an, besetzt sie räumlich und konserviert ihre Aura innerhalb seiner halb autobiografischen Narration des Cremasters. Sie fungieren als reale Anknüpfungspunkte an die Künstlerpersönlichkeit: „[…] The site and the place are very important for me and always the starting point. One of the other things, which attracted me in the first place, was having grown up where the mountains are very dominant there is a kind of verticality in the landscape of New York – you can feel this more than in another city […]. It felt like an aspect of nature somehow. It felt like a natural condition, a vertical extreme, a vertical landscape.“ (Interview Barney 2006)

81 Die Ausstellung tourte ebenfalls durch solch renommierte Häuser wie das Ludwig Museum in Köln und das Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris.

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Barney beschreibt, dass ihn die Höhe der New Yorker Skyline beeindruckt. Er verbindet mit den empor ragenden Wolkenkratzern die karstige Landschaft Idahos, in der er seine Jugend verbrachte. Er vergleicht die Felsenküste mit dem Betongebirge der Stadt. Beide stellen für ihn einen natürlichen Zustand der Vertikalität dar. In seiner Beschreibung vergleicht er die Konsequenzen der räumlichen Gedrungenheit und ihre Effekte auf den menschlichen Körper. Dieser Effekt des Überwältigtseins sei ihm vor allem durch Schiffstouren auf dem Hudson River aufgefallen, erzählt er. Für einen Sommer hatten er und seine Familie sich ein kleines Boot angeschafft, um damit zum Wochenendhaus oberhalb des Flusses fahren zu können. Vom Wasser aus auf die Stadt schauend sei ihm bewusst geworden, dass die Metropole die massive Monumentalität der bergigen Landschaft seiner Jugend teile: „Idaho has a lot to do with the way I think about the landscape and how landscape is an active character in my work. There is a passage in Norman Mailer’s Executional Song that describes the landscape in Northern Utah, which is basically an extension of Idaho and the relationship between the vertical raw front and the plain. How you have this pressure that exists in this community that has pushed itself up into the mountains. The available space – around there is only desert – it has pushed itself up into this sheer face. So there is a kind of inversion [and] a kind of pressure, which is reflected in the psyche of the people there.“ (Interview Matthew Barney 2006)

Anhand von Mailers Executional Song beschreibt Barney den Zusammenhang von menschlicher Psyche und Landschaft. So seien die Bewohner vom Norden Utahs durch ihren Kampf gegen die Natur geprägt. Die Vertikalität der Berge hätte ihre Mentalität beeinflusst. In seinem Denken scheint sich der Raum in den Körper einzuschreiben. Diese Einflussnahme passt in sein Gesamtkonzept, das durch einen biologischen Fokus auf den Menschen geprägt ist. Ähnlich wie bei seiner These zum Muskelaufbau gegen Widerstände scheint er davon auszugehen, dass ein dichter Raum sich auch innerlich niederschlägt. Diese Kraft des räumlichen Umfeldes auf seine eigene künstlerische Imaginationskraft zeigt sich ebenfalls im folgenden Interviewabschnitt, wenn er New York als machtvolle Entität beschreibt: „I think the attraction and certainly there are many attractions but one is that there is a kind of anonymity to live in New York in the sense of being in the face of something which is much larger than you are and larger than some of

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its parts. It has its own behavior. It has its own nature. It is ambivalent like nature is. When the city gets smaller the ambivalence is gone somehow. When I feel that I can understand the city I am not interested in it anymore. I have never been able to understand New York.“ (Interview Matthew Barney 2006)

Auch hier findet eine Überhöhung des Raumes, in diesem Falle des urbanen Umfeldes, statt. Die Großstadt wird in Barneys Beschreibung zu einem lebenden Körper. Sie entwickelt eine eigene Naturkraft, eine eigene Logik, die nicht greifbar ist. Diese Ambivalenz fasziniert ihn. Mit Cremaster 3 scheint es ihm nicht zuletzt darum zu gehen, diese geheimnisvolle Monumentalität für sein Werk zu nutzen. Durch die komplexe Narration stellt er eine Verwobenheit von Wolkenkratzerarchitektur, Ökonomie und menschlichem Machtwillen dar. Barneys Konzept der Stadt versteht sie einerseits als prägendes Umfeld, welches den (jugendlichen) Körper durchdringt, andererseits spricht er über sie als Lebewesen, als unkontrolliertes, lebendiges System. Diese anarchische Vorstellung fasziniert ihn, da die Metropole sich niemals vollständig erschließt und somit für ihn unbegreifbar bleibt: „So I think it was appealing to me both personally and for my work because that kind of extraction is central to ideas I am using in my work: of abstracting for instance a skyscraper into a body or a mountain range into a figure. It is a term of my own program. Thinking of environment and putting the story together with all these decisions. This functions not literally that way – it is more a conceptual program.“ (Interview Matthew Barney 2006)

Barneys Konzept vom urbanen Raum möchte so wenig rational wie möglich sein. Sein Ansatz ist auf das Verbinden von Gegensätzen gerichtet. Oder wie er selbst sagt: Er möchte das Unmögliche realisieren und den Wolkenkratzer in einen Körper versenken und umgekehrt. In seinen Filmen wird die Architektur zum Lebewesen, zu unvorhersehbaren Mächten. Er verwendet dabei Anleihen aus dem Horrorfilmgenre, um das Eigenleben der steinernen Materie zu beleben. So werden zum Schluss von Cremaster 3 Lehrling und Architekt von einer stählernen Spitze, die an die Innenausstattung des Chrysler Buildings erinnert, erstochen.

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Zwischenfazit – Die Funktion der Gebäude in Barneys Kunst Landschaft, Stadt und Architektur spielen somit in Barneys Werk eine wesentliche Rolle. Auch wenn ihnen bislang nur wenig Beachtung geschenkt wurde, erfüllen sie eine erzählerische Funktion. Insbesondere bei den beiden ikonischen New Yorker Gebäuden verkörpern diese drei Dimensionen. Sie sind 1.) reale Wiedererkennungszeichen und Verweise auf die Biografie des Künstlers. Sie werden in der Kommunikation dafür verwendet, um darauf hinzuweisen, dass er in der Stadt lebt. Indem er selbst Hauptdarsteller in diesem Film ist, wird in der Besprechung seines Werkes die Verbindung zwischen ihm und New York hergestellt. 2.) Ihre architektonischen Besonderheiten dienen Barney als Bühne. Mit ihren ikonischen Innen- und Außenräumen steuern sie zur Atmosphäre des Geschehens bei. Während das Chrysler Building und seine elegante Ausstattung aus Marmor, dunklen Hölzern und gebrochenem Spiegelglas den inneren Machtkampf symbolisiert und in den abschließenden Szenen in seiner vollen Pracht vor dem Stadthimmel emporragt, nutzt Barney mit dem Guggenheim die musische Aura des Gebäudes. Diese Charakteristika greift er durch die Filmnarration auf und unterstreicht die architektonischen Besonderheiten. Die beiden Gebäude werden zu Kulissen seiner Schöpfung. Schließlich unterstreichen sie 3.) seine Strategie der Raumaneignung. Er funktioniert die Gebäude radikal um und kreiert in ihnen ein vollständig anderes Innenleben. Diese Inbesitznahme solcher symbolischen New Yorker Orte verweist auf seinen Gestus der Umdeutung. In seinen aufwendig produzierten Filmen, exzessiven Buchprojekten und sexualisierten Performances sehe ich ein Interesse an der Grenzüberschreitung. Barney nutzt die Raumstrategie symbolischer Orte. Der Künstler zeigt sich beim Erklimmen ihrer Spitzen. Chrysler Building und Guggenheim Museum sind architektonische Trophäen seines Werkes. Barney nimmt diese ikonischen Orte körperlich, symbolisch und künstlerisch ein. Er ordnet sie seiner Arbeit und Filmnarration unter.

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Kontrollierte Arbeitsräume – Aus dem Alltag Matthew Barneys Wie ich bereits zu Anfang des Kapitels skizziert habe, war es kein leichtes Unterfangen, ein Interview mit dem Künstler zu vereinbaren. Im Vorfeld musste ich verschiedene Ansprechpartner überzeugen, ihn treffen zu können. Im Nachhinein habe ich mich gefragt, ob dieser immense Aufwand für die Kontaktaufnahme gerechtfertigt war und welche Art der Ethnografie sich eigentlich mit solch bekannten Künstlern realisieren lässt. So entschied ich die sozialen und professionellen Schranken einzubeziehen. Denn anhand des langwierigen Prozederes lassen sich die organisatorischen Strukturen, in denen Barney arbeitet, herauslesen. Im Frühling 2006 eröffnete er seine Einzelausstellung in der Barbara Gladstone Gallery in Chelsea. Mit Freunden stellte ich mich in die lange Schlange von Wartenden. Eine Jahrmarktsatmosphäre lag in der Luft und vor dem Eingang der Galerie parkte ein Eiswagen. Als die Menschenmasse nicht abebbte, entschieden wir, nicht länger zu warten. An einem ruhigeren Nachmittag kehrte ich in das Galerienviertel zurück, um die Ausstellung anzusehen und den Kontakt herzustellen. Am Empfangstresen nahm eine Assistentin meine Interviewanfrage entgegen. Es vergingen Wochen, in denen sie mich auf die ausstehende Entscheidung ihrer Vorgesetzten verwies. Schnell wurde mir klar, dass es über diesen Weg nicht gelingen würde. Abbildung 108: Ausstellung von Barney in der Barbara Gladstone Gallery Quelle: Christine Nippe

Über einen Gastprofessor aus Deutschland erhielt ich die, wie er mir einbläute, „Geheimnummer“ von Matthew Barneys Büro. Ich telefonierte mit seiner Assistentin. Sie wirkte offener und vielleicht war es mein ‚Exotenbonus‘ als Doktorandin aus Berlin, dass sie sich bei ihm für das Interview einsetzte. Zwei weitere Monate vergingen, bis ich

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Barney in Berlin traf. Zuvor musste die Galerie nochmals offiziell informiert werden, ich telefonierte mit seiner Mitarbeiterin sowie der Leiterin der Deutschen Guggenheim. Anhand dieser zunächst etwas undurchsichtig wirkenden Kette von Kommunikationspartnern lassen sich verschiedene Eckpunkte eines hoch professionellen Künstleralltags herauslesen: Einerseits spielt die Galerie eine äußerst zentrale Rolle bei der Präsentation und Kommunikation. Sie begleitet den Künstler nach Berlin, obwohl dieser vom Museum, seinen persönlichen Aufbauassistenten und dem lokalen Team betreut wird. Barney hat ebenfalls seine eigene Mitarbeiterin innerhalb der Galerie, die Informationen zu seinen Vorhaben steuert und strategische Fragen mit der Galeristin abstimmt. Zusätzlich arbeitet ein ganzes Team für Matthew Barney in seinem persönlichen Büro. Die Aufgaben werden dabei verteilt. Während häufig eine Person das Büromanagement und die Terminplanung übernimmt, realisieren Produktionsassistenten die Arbeiten, die die Namensgeber meist nur noch konzeptionell entwickeln. Hinzu kommt eine Person, die sich um die Pressekommunikation und die Terminierung von Interviews kümmert. Anhand der Mental Map Barneys ist abzulesen, dass er seine breite künstlerische Produktion (Film, Skulptur, Zeichnung, Fotografie) auch räumlich differenziert organisiert hat. Er verfügt neben seiner privaten Wohnung in SoHo über eine Produktionsinfrastruktur im Meatpacking District sowie in Brooklyn/Greenpoint. Im dicht besiedelten Schlachthofareal in Lower Manhattan, das seit Ende der 1990er-Jahre vom vormaligen Fleischerei- und Kühlhallenareal zu einem Lifestyle Viertel mit angesagten Clubs, Designläden und Restaurants avancierte, hat Barney sein Atelier für die Produktion kleinteiliger Arbeiten installiert. Dort hatte er zunächst ebenfalls sein Apartment. In einer umfunktionierten Lagerhalle in Brooklyn/Greenpoint werden hingegen seine Skulpturen angefertigt.

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Abbildung 109: Mental Map von Matthew Barney

Quelle: Matthew Barney

Barney fährt zu seiner Produktionsstätte meist im Privatwagen, er ist auf die unzureichende Verkehrsinfrastruktur nicht angewiesen. Diese große räumliche Ausdifferenziertheit seiner Produktion zeigt ebenfalls den Grad seiner künstlerischen Professionalität. Je nach „Produkt“ wird ein effizienter Herstellungsort erschlossen. Greenpoint ist dabei nahe an Manhattan gelegen und bietet ehemalige Industriehallen als weitläufig überdachte Produktionsstätten. Der Meatpacking District in Manhattan zeichnet sich durch eine hohe professionelle Infrastruktur aus. Dabei ist diese Zweiteilung innerhalb der Stadt paradigmatisch für New York. Auch ein finanziell erfolgreicher Künstler wie Barney muss sehr genau kalkulieren und den effektivsten Ort für die Herstellung großformatiger Arbeiten erschließen. Viele Künstler suchen sich deswegen zunehmend Ateliers in abgelegenen Teilen von Brooklyn, ziehen nach Long Island City oder nach Queens hinaus. In Berlin kön-

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nen hingegen Künstler von Barneys Kaliber, wie etwa Olafur Eliasson, Thomas Demand oder Tacita Dean sich in zentrumsnahen Gebieten große Atelierhallen leisten, um dort ihre Skulpturen und Installationen nahe des Hamburger Bahnhofs zu produzieren. Der Tagesablauf und die Mental Map machen deutlich, wie stark organisiert Barneys Alltag ist. 82 Während seine Arbeitsschritte sehr dicht und präzise formuliert werden, wirken seine Freizeittätigkeiten eher sporadisch und entkoppelt. Die Wege zu ihnen zeichnet er nicht ein. Hingegen nennt er die wichtigsten alltäglichen Straßen auf seinem Arbeitsweg (Bowery, Houston Street, Bleeker Street). Zur Entspannung geht er in die Musikclubs Knitting Factory in Lower Manhattan, wo er Grindcore und Noise Musik hört und das BB Kings für Death Metal. Daneben taucht nur das Boot auf, welches er und seine Familie einmal an den Chelsea Piers besaßen sowie ihr Wochenendhaus im Piermont, in dem sie ausspannen. Sein räumlicher Radius im Alltag beschränkt sich vorwiegend auf drei Nah-Areale: SoHo, Meatpacking District, Greenwich Village. Hier absolviert er einen klaren zeitlichen Ablauf. Sein Tag ist von Arbeiten, sportlicher Ertüchtigung und kurzen Snacks geprägt. Elemente seiner vorherigen athletischen Praxis ziehen sich durch seine Organisation: Der Tagesablauf ist minutiös geplant, sogar die Mahlzeiten sind Teil seiner effizient gestalteten künstlerischen Produktion. Seine überbordend inszenierten fiktionalen Räume haben mit seinem disziplinierten Alltag gemein, dass sie entsprechend eines sportlichen Prinzips konzipiert werden. Eine hohe Disziplinierung gehört dazu. Funktionieren kann diese breite künstlerische Tätigkeit nur, weil sie von vielen Assistenten und Mitarbeitern unterstützt wird. Der Künstler wird damit zunehmend zum Erfinder von fiktionalen Räumen, die er in der Produktion an andere übergibt. Er ist möglicherweise nur noch Ideengeber und Manager eines komplexen Produktionsteams. Im Sommer 2006 musste Barney unterschiedliche Ausstellungsprojekte und ihre Eröffnungen koordinieren: Während er im Mai seine Einzelausstellung in der Barbara Gladstone Gallery eröffnete,

82 Nachdem er in SoHo startet, frühstückt er morgens in Greenwich Village („two eggs on roll“) und absolviert seinen Sport im nahegelegenen Gym. Danach geht es in sein Studio im Meatpacking District, um mittags einen „tuna melt“ zu essen und sich auf den Weg in sein Atelier nach Greenpoint zu begeben.

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folgte schon einige Wochen später eine Retrospektive im San Francisco Museum of Modern Art, um anschließend im Guggenheim zu sprechen. Warum schlug er einen Interviewtermin in Berlin vor? Einerseits wird sein enger alltäglicher Zeitplan ein Grund gewesen sein, andererseits scheint es für ihn interessanter zu sein, sich für ein Interview in Berlin zu treffen. Angesichts eines so minutiös getakteten Arbeitsalltags ist die Frage, inwieweit es bei einer Ethnografie tatsächlich noch um das Beobachten der künstlerischen Produktionspraxis gehen kann oder ob es nicht eher um die Analyse solch einer Produktion auf Distanz geht. Meines Erachtens sind es genau diese Verfahren des Erfindens, Managens und Kommunizierens, die den Alltag eines Künstlers wie Matthew Barney in New York kennzeichnet. Er ist der Ideengeber, doch für die Realisierung seiner Werke gibt es Projektmanager, Produktionsleiter, Assistenten und professionelle Galeristen.83

Fazit – Das Verhältnis von gelebter und konzipierter Stadt bei Matthew Barney Ich verstehe Barneys Einsatz der symbolischen Gebäude Guggenheim Museum und Chrysler Building als 1.) gesetzte biografische Hinweise in seinem Werk und 2.) als Teil seines Gestus der Umdeutung. Barney eignet sich diese hermetischen Architekturen an, um in ihnen seine Fiktion zu inszenieren. Sein Konzept von Stadt ist stark von Körpermetaphern geprägt. Einerseits versteht er Raum als prägend für den Geist. Andererseits ist er fasziniert von der Massivität und Unüberschaubarkeit von New York. Die Stadt beschreibt er als lebendige Entität. Ihn fasziniert das Geheimnisvolle und Unkontrollierbare der Metropole. Die beiden berühmten Orte hat er aufgrund ihrer ikonischen Qualität herausgegriffen. Er begreift sie als eigene Charaktere in seinem Film. Sie spielen ihre Rolle und entwickeln im Verlauf von Cremaster 3 ein Eigenleben. Damit ist Matthew Barneys konzipierte Stadt und sein Verständnis von Architektur durch sein Gespür für die Wirkung und Ausstrahlung von Gebäuden geprägt. Er nimmt sich damit nur eingängige Motive punktuell aus New Yorks heraus, um sie in eine andere „Welt“ zu übertragen. Er verwendet dabei sowohl ihre his-

83 Dies wird z. B. deutlich schaut man sich die Abspänne seiner Filme an.

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torische Entstehungsgeschichte sowie ihre räumliche Aura (Gernot Böhme). Die monumentale Inszenierung der Gebäude in seinem Film nutzt er als symbolisches Kapital. Sie dienen als reale Anknüpfungspunkte für ein breites Publikum und werden mit der Person des Künstlers assoziiert. Dafür hat Barney ein hoch professionelles Netz von Mitarbeitern und Produktionsorten in New York etabliert. Anhand seiner Mental Map sowie der Analyse der unterschiedlichen professionellen Instanzen habe ich gezeigt, dass seine gelebte Stadt durch eine aufwendige Organisation und Disziplinierung geprägt ist. Sein Alltag hat nicht mehr viel mit einem vermeintlich lustvollen Lebenswandel eines Künstlers gemein, sondern ist zeitlich und räumlich streng organisiert. Seine Produktion und Präsentation wird von einer New Yorker Blue Chip Galerien begleitet und kontrolliert, er unterhält ein persönliches Büro und muss externe Dienstleister für die Realsierung seiner Arbeiten beauftragen. Dieser hohe Grad an Professionalisierung mit einer genauen Zeit- und Kostenplanung ist charakteristisch für die lokalen Produktionsbedingungen der amerikanischen Metropole. Die Stadt und ihre Infrastruktur ermöglicht zwar viele gut ausgebildete Akteure zu involvieren, zwingt jedoch gleichzeitig bekannte Künstler dazu, ein schnelles Tempo zu realisieren. Alltägliche und künstlerisch hervorgebrachte Stadt wirken sich aufeinander aus. Barney erschließt ungewöhnliche und hermetische Orte und besetzt sie mit seinen Objekten und Aktionen. Diese extensive künstlerische Produktion verlangt im Alltag umso mehr zeitliche und räumliche Disziplin. So taucht auch hier wiederum das athletische Grundprinzip Barneys auf: Entwicklung gegen Wiederstände. Die Frage ist dabei nur, wie lange ein Künstler solch einem hohen Produktionsdruck standhalten kann, denn schließlich muss sich eine solch entwickelte Organisiertheit auch finanziell rentieren.

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7.3 S TREETWISE – D IE ANEIGNUNG DES N EW Y ORKER S TADTRAUMS BEI E LLEN H ARVEY This is how it started. Mayday Productions, which was a group of curators and artists, asked me to do a piece for „Parking“, a one-day art event in Highbridge Park next to the East River [...]. The park had just been renovated by the New York Restoration Project, and the event was supposed to persuade the community that it was safe to use the park again. It had been a pretty scary place. […] I’m a painter, and this was the first time anyone had asked me to do anything outdoors, so I thought I’d better paint something. I bought a lot of horribly expensive gold paint and painted all the vandalized lampposts in the park gold. […] Because I finished early with the lampposts, I thought I would paint some graffiti to add to all the existing graffiti. I spent two days painting a little oval landscape over a graffiti tag on one of the highway overpass pillars. I had never painted a landscape before, so I stole the background from Nicolas Poussin’s Landscape with Diogenes. I thought a classical landscape would be a nice reflection of the park’s aspirations. It also seemed like a good tag for a white European painter like me. ELLEN HARVEY

In ihrem Buch The New York Beautification Project (2005) berichtet Ellen Harvey von ihren Erlebnissen, die sie während ihrer gleichnamigen Arbeit in den Jahren 1999 bis 2001 auf den Straßen New Yorks machte. Im Juni 1999 begann sie das Vorhaben, die Stadt mithilfe von 100 kleinen ovalen Landschaftsmalereien „zu verschönern“. Sie realisierte 40 dieser in Öl gemalten Szenerien auf von Graffiti besprühten Oberflächen über den gesamten Stadtraum verteilt und betont, dass sie dies ohne Auftrag und ohne Erlaubnis durchführte. Jede Malerei besaß

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eine ungefähre Größe von fünf mal sieben Inches. Fühlte sich jemand von ihnen belästigt, ließ sie sie unvollendet oder entfernte sie wieder. Das Buch enthält eine Stadtkarte, die alle 40 Eingriffe mit Fotografie und Text dokumentiert. Zusammen mit der Mental Map und dem Interview, das ich mit Ellen Harvey im Mai 2006 führte, gehört es zu den zentralen Ressourcen meiner Analyse. Im darauf folgenden Abschnitt werde ich anhand des Interviews die zentralen Eckpunkte ihres Stadtkonzeptes vorstellen, um es in Beziehung zum New York Beautification Project zu diskutieren. Abschließend gehe ich im dritten Abschnitt dieses Kapitels auf ihre städtische Alltagswelt, ihren gelebten Raum, ein. Auch in diesem Teil steht das Beziehungsverhältnis zwischen künstlerischer Praxis und städtischem Alltag im Mittelpunkt meiner Analyse. Harveys Arbeiten bieten sich dafür besonders an, da sie sich dezidiert auf den Stadtkontext New Yorks beziehen und viele lokale Aspekte beleuchten. Schon bevor sie damit begann, beschäftigte sie sich neben der Hinterfragung von Malerei als klassischem Medium mit dem Spannungsverhältnis von Malerei und Graffiti im Stadtraum. So erstellte sie für die Wiener Secession ein Bildwerk, welches die Malereien von Klimt mit dem Titel Bad Boy Klimt (2002) zitierte. In ihrem New York Beautification Project lotet sie nicht nur die „Streetcredibility“ ihrer Malereien aus, sondern sie erforscht auch den Stadtraum und seine Logiken. Abbildung 110 und 111: Ellen Harvey, New York Beautification Project, Northwest corner of Cortland Alley and White Street, back of 380 Broadway, New York (2000) Quelle: Ellen Harvey

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The New York Beautification Project – Mit klassischer Malerei die Straßen „verschönern“ Harvey präsentiert ihre Erfahrungen, die sie während des Projektes in der Stadt macht. In ihren Texten kann man einerseits von ihrer stadträumlichen Einordnung des jeweiligen Ortes erfahren, andererseits lesen wir von ihren zufälligen Interaktionen mit Passanten. Aus vielen Einzelbeobachtungen ergibt sich eine Gesamterzählung der Stadt mit ihren lokalen Spezifika. Nachdem sie ihre erste Malerei im Highbridge Park erstellte (siehe erstes Zitat), folgte im März 2000 eine Arbeit auf einem Container in Williamsburg, im September auf einer Wand nahe des Bronx River Art Centers in der South Bronx und im November auf einem Sockel am Broadway in SoHo. Zur dortigen Straße schreibt sie: „If you’ve ever seen a movie about New York City where the hero walks down a scary alley, this is probably the alley they used. It’s always being filmed. Because the alley was quite close to my studio at the Clocktower, I spent a long time on this painting. Somehow, though, it never quite worked. […] Part of the problem may have been that it started getting very cold […]. Later, I started using those chemical hand warmers, which helped a lot. This was a popular street corner. A group of homeless men hung out opposite; there was also a steady stream of teenage boys with gold teeth – the kind where the spaces between the teeth are filled, not the teeth themselves. On the second day, a car full of cops drove down the alley very, very slowly. They rolled down their window, and I turned around and smiled as broadly as I could and waved enthusiastically, and then they rolled up their window and drove on. All the boys with the gold teeth had suddenly disappeared.“ (Ellen Harvey 2005)

Der Text beginnt mit der Schilderung des Ortes und seiner beklemmenden Atmosphäre. Sie wählte ihn, da er nahe ihres damaligen Ateliers lag. Sie macht dem Leser auch die körperliche Anstrengung ihres Arbeitens auf der Straße bewusst. Bei den winterlichen Temperaturen frieren ihre Hände ein. Sie verstärkt die Unheimlichkeit des Ortes durch die Darstellung der Jugendlichen und Obdachlosen. Durch ihre Beschreibung der goldenen Zähne ebenso wie das plötzliche Verschwinden der Männer als die Polizei auftaucht, vermittelt Harvey dem Leser, dass es sich hier wohl um Kleinkriminelle handelt. Sie präsentiert in diesem Text mehrere Herausforderungen der Straße. So muss sie mit den winterlichen Bedingungen kämpfen, ist umgeben von

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„dubiosen“ Gestalten und vollzieht selbst eine illegale Handlung. Obgleich ihr Text mit einer Prise Ironie gewürzt ist, enthält er klassische Erzählfiguren „der“ Straße. Im weiteren Verlauf ihres Buches geht es häufig um Dialoge, die sie mit städtischen „Marginalisierten“ führt. Es tauchen hauptsächlich Sprayer, Spieler und Obdachlose auf, die sie in Gespräche verwickeln. Die Reaktion von bürgerlichen Passanten bleibt hingegen unbeschrieben. Dies verweist auf das Aufgreifen klassischer Sozialtypen, die eng mit dem Genre Straßenerzählung verknüpft sind: Schaut man zurück in die Stadtsoziologie, dann fällt auf, dass auch in diesem Feld soziale Randgruppen besondere Popularität genossen. Mit The Hobo (1923), The Taxi-Dance Hall (1932) sowie The Professional Thief (1937) oder Street Corner Society (1943) wurden in der Chicagoer Stadtforschung die Erzählungen über das Fremde in der eigenen Stadt gepflegt. Man hielt sich dabei gern an exotische Figuren des Urbanen, wie auch Gouldner beschreibt: „Man zieht das Entlegene, den Extremfall, dem Üblichen oder Durchschnittlichen vor; man bevorzugt die assoziationsträchtige ethnographische Einzelheit gegenüber leidenschaftslosen und langweiligen Taxonomien […] den Standpunkt des gewitzten Außenseiters gegenüber der langweiligen Perspektive des mit dem Strom schwimmenden Durchschnittsmenschen.“ (Gouldner 1984: 192)

Rolf Lindner konstatiert dazu, dass sich neben den Ethnologen auch die Chicagoer Soziologen auf die exotischen Schauplätze der Halbwelt konzentrierten. So wurde der „Underdog“ zum Charakteristikum ethnografischer Stadtforschung (Lindner 2004: 115). Dabei sei vor allem das Chicagoer Umfeld der Zwanzigerjahre dafür ausschlaggebend gewesen, dass die Forscher von den sozialen Figuren der Straße fasziniert gewesen seien. Dies ging einher mit einer Abwendung von der Bibliothekssoziologie. Es galt sich dem authentischen Leben zu widmen: „Die Metropole gilt ihnen als ein Erfahrungsraum, in dem alle Provinzialität, alle Enge ein Ende hat, dem Heterogenität der Anschauungen, Lebensweisen und Kulturen innewohnt.“ (Lindner 2004: 119) Das Bild von der Straße wurde dabei nicht nur durch die Stadtsoziologie geprägt, sondern vielmehr durch Reportagen, Großstadtromane sowie Detektiv- und Gaunerfilme dargestellt. Auch in den expressionistischen Großstadtgemälden Ernst Ludwig Kirchners dominieren

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soziale (Rand-)Typen, wie etwa die Prostituierte am Potsdamer Platz (Gephart 1991: 185-187). Die Straße und ihre Figuren werden somit kulturgeschichtlich in Literatur, Kunst, Reportage und Stadtforschung als „Gesichter der Großstadt“ hervorgebracht. Noch immer schafft die Figur des Strangers Schreiberlingen, Künstlern und Forschern die Legitimationskraft des Ich war da. Das ästhetische Interesse an anderen Lebensweisen kann als Ausdruck für die Sehnsucht nach dem ‚wirklichen‘ Leben verstanden werden. Die Beschreibung der urbanen Halbwelt dient der Herstellung und Imagination des Authentischen. Auch Harveys Projekt ist durchzogen von diesen kulturellen Erzählfiguren. Indem sie eine illegale Handlung vollzieht, stellt sie sich mit den Graffiti-Künstlern sowie anderen Straßenakteuren gleich. Neben den sozialen Typendarstellungen enthalten Harveys Beschreibungen kurze Einführungen zum Ort. Dabei erfahren wir nicht nur mehr über das Viertel und seine Ausstrahlung, sondern sie thematisiert vielfältige ortsgebundene Problematiken, die im lokalen Diskurs verhandelt werden: „For some reasons, this building in SoHo has avoided gentrification. It’s completely covered with graffiti and full of garment workers. It’s a bit like going back in time. The rest of SoHo is very fancy. It used to be a dying industrial area; then the artists moved in. With them came the galleries and then the shops. Now it’s pretty much just a big, upscale shopping mall. The New York Loft Law, which protects people who moved into commercial buildings before 1981, started because of SoHo.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

Harvey thematisiert aktuelle Stadtenwicklungsproblematiken anhand des bis in die Alltagssprache verbreiteten Schlagworts Gentrification auf und erklärt die damit einhergehende soziale Exklusion. Außerdem zeigt sie sich ebenfalls als Wissende des urbanen Wandels, wenn sie das heutige Gebäude von Textilarbeitern mit der Situation der Siebziger vergleicht. Bevor nämlich die Galerien und Modeläden kamen, war SoHo ein industrielles Gebiet für die Textilproduktion. Schließlich verdeutlicht sie ihre Kenntnisse über die gesetzlichen Schutzmechanismen gegenüber Dynamiken der Gentrification. Harvey verweist auf das New York Loft Law, welches alteingesessene Bewohner vor dem Auszug aus Gewerbegebäuden schützt. Im späteren Verlauf ihres Buches erfahren wir von Harveys Beteiligung an einer Aktionsgruppe, die sich für die Belange und den Schutz von Künstlern in Gewerbeein-

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heiten einsetzt. Künstler leben in New York häufig illegal in Gewerbegebäuden, wenn sie dort neben ihrem Atelier auch ihre privaten Wohnräume einrichten. Mit ihrem juristischen Hintergrund ist Harvey eine kompetente Mitstreiterin in solchen Aktionsgruppen. In ihrer Freizeit setzt sie sich für lokalpolitische Belange ein. Abbildung 112-114: Ellen Harvey, New York Beautification Project (2002) Quelle: Ellen Harvey

Doch zurück zu den Straßen New Yorks: Ellen Harvey wird bereits bei der Erstellung ihres sechsten Kunstwerks nahe eines Fleischereigroßhandels in Chelsea überrascht: „Halfway through the second day, I was suddenly slammed against the wall. Someone grabbed my arms and started banging me headfirst against the

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concrete. [...] Then I got turned around and saw that it was the police. There was a moment of silence before one of the two cops said, ‚We thought you were homeless.‘ […] They looked at me for a bit, and then one of them asked, ‚You got permission to paint that?‘ I was so flustered that I said, ‚Well, not exactly, but it seems OK with the meatpackers.‘ So one of the cops went off to the plant to see if I had permission and the other one stayed to make sure that I didn’t run away. […] He just kept yelling that the mayor, Rudy Giuliani, hated graffiti and that they were going to arrest me […]. I offered to paint over my painting so that the wall would look like it had before […]. This seemed only to enrage him further: ‚You don’t touch that wall, ever, you understand?‘ Finally, his partner came back and pointed out that there was no way I could have permission, since the owner of the building was apparently dead. After shouting a bit more and telling me that they would arrest me if they ever saw me again, they let me go. Sometimes it really is good thing to be a white woman in her thirties.“ (Harvey 2005: 16)

Dieser Abschnitt verdeutlicht die illegale Handlung während des Kunstprojektes und betont das autoritäre Gebaren der offiziellen Ordnungskraft. Der Abschnitt endet mit einem Nachdenken über den eigenen sozialen Status als weiße Frau. In der Verkehrung bringt der Satz soziale Ungleichheiten, besonders für schwarze Männer im sozialen Raum zum Ausdruck. Nicht nur an dieser Stelle reflektiert Harvey ihre Position. Durch ihren Text zieht sich einerseits das Wissen um ihre privilegierten Status als europäische Malerin und weiße Frau, andererseits enthält er an anderer Stelle implizite Momente der Angst. Insbesondere in Stadtteilen, die im öffentlichen Diskurs als gefährlich markiert sind, wird ihre Unsicherheit deutlich. So enthalten Passagen zu der South Bronx und dunklen Ecken in Brooklyn diesen geschlechtlich markierten Subtext der Angst. Ihre Andeutungen zeigen den Zusammenhang von Handlungsradius, Geschlecht und Stadtraum und verweisen auf das raumsoziologische Konzept der Disposition. Pierre Bourdieu führte es in Anlehnung an den Kunsthistoriker Erwin Panofsky im Begriff des Habitus als ein dauerhaftes und übertragbares System der Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata ein. „Wesentlich sind beim Bourdieuschen Habitusbegriff nicht nur die Betonung der Körperlichkeit, sondern auch die Dimensionen der Wahrnehmung und des Urteilens, der Wertmuster und normativen Orientierungen. Alle drei Dimensi-

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Auch Harvey reproduziert in ihrem Denken die Relation ihrer eigenen Position (weiblich, bürgerlich, weiß), hinzu kommt ihr sozialer Status als Künstlerin. Sie verlässt die geschützten Räume des Ateliers, um sich der Straße auszusetzen. Wenn ich zunächst Bourdieus Habituskonzept als innere Disposition räumlichen Handelns (je nach Klasse, Hautfarbe und Geschlecht) aufgeführt habe, so kann Harveys Projekt ebenfalls als eine Opposition gegen diese Zuschreibungen gesehen werden. In ihrer Arbeit spielt sie mit den Dichotomien: Malerei, Atelier, Weiblichkeit versus Graffiti, Straße, Männlichkeit. Hinzu kommt eine ironische Brechung von Landschaftsmalerei und Graffiti, Schönheit gegenüber Verschandelung. Sie benutzt die sorgfältig gemalten Repliken europäischer Maler, um ihre eigene Signatur graffitibesprühten Wänden hinzuzufügen. Dabei ironisiert sie in ihrer Werkform Vorstellungen von weiblichem Künstlertum und Schönheit. Bei der Realisierung ihres Konzepts erlebt sie jedoch die Strukturierungen von weiblichem versus männlichem Raumverhalten in der Stadt. Sie reflektiert dies zwar in ihren Texten ironisch, doch letztlich berühren diese sie in ihrer Wahrnehmung. Sie kann sich von untergründigen Ängsten nicht befreien. So können: „Handlungsverläufe […] aufgrund dieser Einschreibungen häufig trotz besseren Wissens nicht verändert werden. Strukturprinzipien durchziehen gerade deshalb alle Strukturen, […] weil sie nicht nur auf Gewohnheiten aufbauen, sondern körperlich gelebt werden.“ (Löw 2001: 176) Harvey entwickelt mit ihrem Projekt eine künstlerische Strategie, die mit dem Konventionsbruch im öffentlichen Raum arbeitet. Als Malerin erstellt sie zwar Landschaftsminiaturen, doch nicht in ihrem Atelierraum. Sie entstehen in Aushandlung und Interaktion mit Akteuren auf der Straße. Ihr sind die Zuschreibungen an eine weibliche Künstlerin dabei bewusst, sie kann sich diesen impliziten sozial-räumlichen Regeln nicht entziehen. Nach ihrem Erlebnis mit den beiden Polizisten entschließt sie sich, zunächst nur bekannte Orte aus ihrem Nahraum oder in der Nachbarschaft von Bekannten und Freunden zu wählen. Harvey ist durch diese Erfahrung verunsichert. Sie weiß, dass ihr Projekt vom

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Regelbruch lebt, doch mittlerweile verspürt sie auch ein Unbehagen während ihrer Aktionen. Abbildung 115 und 116: Ellen Harvey, New York Beautification Project (2002)

Quelle: Ellen Harvey

Auch ihre fotografische Darstellung, wie etwa das Bild ihres Bucheinbandes, katapultiert uns als Rezipienten direkt in die Straßen New Yorks. Die Fotografie ihres Buchcovers zeigt das Kunstwerk auf der Säule einer Straßenbrücke. Es wurde mit einem Pfeil bereits von anderen Passanten kommentiert. Wir stehen also förmlich mit der Fotografin vor der Landschaftsmalerei und können den Gestank der Autoabgase im Halbdunkel riechen. Harvey schafft damit eine verdichtete Atmosphäre, die dem Leser ihre Erfahrungen mitteilen. Während ihr an vielen Stellen ein Innehalten über die ungeschriebenen Gesetze im öffentlichen Raum gelingt, bricht sie dies durch die Darstellung von Straßen-Typen wieder auf. Sie verwendet dabei eine kulturhistorisch

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verbreitete Figur und reproduziert eher traditionale Vorstellungen vom Fremden in der eigenen Stadt.

Das Stadtkonzept Ellen Harveys In unserem Interview erzählt die Künstlerin, warum sie sich in ihrer Praxis mit dem urbanen Raum New Yorks beschäftigt. Sie beschreibt, dass sie sich insbesondere für alternative Aneignungsformen des Öffentlichen interessiert: „I think it is the same reason why I am interested in utopias. It is the attempt to solve public problems and private problems in the public space. Especially in New York I feel there is not so much public space. It only says to you: ‚You are a consumer.‘ It doesn’t say to you: ‚You could dream a big dream, you could do something extraordinary, and this is an incredible moment for civic togetherness.‘ It [only] says: ‚Your job is to buy.‘ And I think that ultimately this is a very dangerous thing. I think that people are more than consumers and I think that one of the things an artwork can do is to make people think and to dream and to have this moment – of maybe a ridiculous romantic phantasm – but to question the status quo.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

Harvey moniert in diesem Zitat, dass der öffentliche Raum vorrangig auf Konsum ausgerichtet sei. Dies verhindere Formen von Utopieproduktion und Gemeinnutz. Ähnlich wie bei Graham, dessen Pavillon ebenfalls die Ökonomisierung New Yorks thematisiert, kritisiert Harvey die zunehmende Kommerzialisierung des öffentlichen Raums. Dies wird auch von der amerikanischen Stadtforschung seit Mitte der Achtzigerjahre unter den Stichworten Ökonomisierung und Unternehmerische Stadt diskutiert. So entwickelte David Harvey als führender Vertreter der radical geography eine politische Ökonomie der Urbanisierung. Gleichzeitig entwarf Manuel Castells die Theorie der kollektiven Konsumption, die zum Kern der new urban sociology wurde. Beide gingen von einem Abbildungsverhältnis gesellschaftlicher Strukturen in der gebauten Umwelt aus. Erst neuere Ansätze aus den Cultural Studies begreifen solche Praxen als aktive und kreative Alltagsformen von Identitätsproduktion, Performance und Umdeutung (De Certeau 1998). Ellen Harvey schließt sich hingegen der Kritik an den ungeschriebenen Regeln der Konsumption im öffentlichen Raum

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an. Sie möchte mithilfe ihrer Kunst ein Nachdenken über die Ökonomisierung der Stadt erreichen. Abbildung 117: Ellen Harvey, Painting on a Painting (2003)

Quelle: Ellen Harvey „I want to create something what is glamorous, exotic and exciting for other people, so somebody is saying: ‚Ah, I saw this thing. It was so interesting and so cool; you should see that thing too.‘ I am interested to create things which create an experience which is for somebody extraordinary. The thing I care about is what the viewer gets. I am not so interested in self-expression I am more interested in the idea that somebody walks away with a new story or a new idea or that somebody cared about them enough to make this glamorous thing.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

In ihrem Ansatz ist ein spielerisches Element von Bedeutung. Ihre Kunst soll dabei neue Sichtweisen, kleine Erlebnisse oder ungewöhnliche Geschichten offenbaren. Obgleich ihr Partizipation und Austausch wichtig zu sein scheinen, geht es ihr zu einem nicht unwesentlichen Teil auch um Selbstdarstellung. Harvey legt Wert auf das Sichtbarmachen ihres eigenen unkonventionellen Lebensentwurfes, wie auf ungewöhnliche Aneignungsformen im öffentlichen Raum: „I am really interested in self-expression. As I am really interested in the urge people have to claim public space. And I am interested in the fact that people see urban neglect as a problem but it can also be an opportunity: you see people plant garden in abandon lots, you see them decorate the basement through mosaic. People do really crazy stuff because they feel this urge to owe

278 | K UNST BAUT STADT something that seems disowned and to make it beautiful for other people.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

Hier treten Vorstellungen von einem quasi anthropologischen Bedürfnis nach der kreativen Aneignung von Orten zu Tage. Auf Manhattan ist jeglicher Platz ausgeschöpft, nur an wenigen Stellen in der Stadt, wie etwa dem Washington Square Park, dem Central Park oder kleineren Plätzen und Grünstreifen entlang der Flussufer können Menschen im Grünen entspannen. Indem Harvey auf die Bepflanzung von Brachflächen hinweist, hat sie vermutlich eher Gebiete wie ihren eigenen Wohnort Brooklyn vor Augen. Als ehemals industriell genutztes Areal stehen trotz aktuellem Bauboom noch immer ungenutzte Freiflächen oder leer stehende Industriehallen zur Verfügung. Die vielen kreativen Formen sind also eher in ihrem Brooklyner Nahumfeld zu beobachten. Sie hat ein großes Interesse an diesen Formen der alternativen Ortsproduktion: „I am more interested in those gorilla-art-projects often done by people who are not coming from art. You see sometimes patterns in the sidewalk of NY, somebody drilled patterns in the sidewalks, there was somebody who made hummingbirds all over the city in the early nineties. Somebody was telling me that during the first gulf war a person had stuck the American flag with tooth sticks in all the dog-shit in the city. There is a book Kelly Burns did. It is a whole collection of things like that, which you find on the streets and which my project was in. We end up corresponding and swooping books. I never met him, you know, I am only one anonymous project in his book.“ (Interview Harvey 2006)

Harveys New York Beautification Project wurde neben vielen anderen Interventionen veröffentlicht. Sie erzählt von den unterschiedlichen Eingriffen, die in der Stadt getestet wurden. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um Akteure, die sich als Künstler verstehen. Der Grund für die bislang erst sporadisch entwickelten Aktionen sieht Harvey in den Sicherheitsbestimmungen, die insbesondere nach dem 11. September an Schärfe zugenommen haben: „It might be public but there are lot of rules what you cannot do in it. Most of these rules prohibit you of physically changing public space. And yet there is this great desire of people to change it. So you see people all the time breaking

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the law with the attempt to restructure public space in small ways. And that is really interesting because I think we live in a brainwashed world where most people don’t think that they have a right to express themselves physically. There is freedom of speech but there is not really a freedom of action. I think most people […] think all entertainment or aesthetics has to be left to the professionals. I like when people disuse public space and when they think: ‚What if I will make a little sculpture here of these bits of leftover things?‘ So people start playing and there is something about the idea of playfully intervening that I find very interesting because it is art. At the same time it says: ‚Yes, I am just one person but this is my little idea, you want to see?‘ They really want that somebody sees it so they are doing it outside because this is the only place which is available for them.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

In New York scheint der Außenraum die einzige Alternative zum beengten Wohnen zu sein. Harvey interpretiert den kleinen Gesetzesbruch oder den Mikroeingriff als Restrukturierung und Umnutzung und sieht darin die Möglichkeit, dass sich Menschen physisch ausdrücken. Sie versteht diese Intervention als eine Form von kreativer Praxis. Interessant finde ich an dieser Stelle, dass Harvey diese Ausdrucksformen nicht von ihrer eigenen Praxis unterscheidet. Sie scheint diese materiellen Veränderungen als Bestandteil für die Herstellung eines demokratischen Raumgefüges zu begreifen. Dadurch tendiert sie zu einem Begriff der Öffentlichkeit, der stark durch die Vorstellung von Demokratie als Sichtbarmachung geprägt ist. Dabei versteht Harvey den öffentlichen Stadtraum als für unterschiedliche Akteure zugänglichen Ort. Hier können sich Bewohner, Graffitiproduzenten und bildende Künstler kreativ ausdrücken. Sie hält diese Praxis deshalb für so wichtig, da sie damit die Hoffnung auf Partizipation und Gegenreaktion zum Konsum verbindet. Ihr Verständnis von öffentlichem Raum ist mit Vorstellungen von demokratischer und partizipativer Teilhabe geprägt. Ihr Konzept von Stadt ist eng mit ihrem Lebens- und Arbeitsort in Brooklyn verbunden, denn ihr Nahumfeld mit seinen Leerstellen, Industrieruinen und Brachflächen ermöglicht überhaupt nur solche Eingriffe. Außerdem leben hier junge Menschen aus der Mittelschicht, die sich in Form von Streetart, Graffiti oder kleinen Gärten räumlich sichtbar machen. Auch ihre eigene Praxis im urbanen Raum zeichnet sich durch Erschließbarkeit und Spiel aus. Ihre Intervention arbeitet mit den Gegensätzen des klassischen Landschaftsgenres versus illegaler Handlungen zur Verschönerung der Straßen. Diese

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Gegensätze werden vermutlich für viele Rezipienten leicht verständlich sein. Ihre Eingriffe sind sowohl für Experten als auch ein breites Publikum erkennbar.

Ellen Harveys alltägliche Stadt Harvey lebt mit ihrem Partner in einem Loft in WilliamsburgBrooklyn. Sie erklärt, dass es einer befreundeten Künstlerin gehört, die gerade für ein Jahr verreist ist. Es ist wirklich eine schöne Wohnung mit einer großen Küche, einem offenen Wohn - und Schlafbereich und einem Atelier. Im Wohnzimmer hat Harvey ihre Arbeit Whitney for the Whitney ausgestellt. Sie produziert gerade eine Spiegelarbeit, bei der sie mit einer Glasscherbe eine Zeichnung in einen wandhohen Spiegel ritzt. Wir sitzen am großen Holztisch mit dem Blick auf die Dachterrasse mit Wasserturm und vielen Pflanzen. Sie erzählt, dass sie gern Freunde zum Essen einlädt. Man kann sich dies gut vorstellen: der große Tisch ist für gemeinsame Zusammenkünfte wie gemacht. Abbildung 118-120: Ellen Harvey auf ihrem Dachgarten in Williamsburg (Mai 2006) Quelle: Christine Nippe

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In ihrer Mental Map ist auch der Tisch unter dem Stichwort „Home“ eingezeichnet. Atelier und Dachgarten tauchen ebenfalls auf. Sie geht in Williamsburg aus und nutzt die Bedford Street mit ihren kleinen Geschäften. Ansonsten ist ihre Stadtnutzung vorrangig auf die City ausgerichtet, wie sie mit einem Ausrufungszeichen schreibt. Abbildung 121 und 122: Lokale und transnationale Mental Map von Ellen Harvey

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Quelle: Ellen Harvey

Harvey entfaltet einen auffällig großen Stadtradius. Für ihren Alltagsbedarf fährt sie von Williamsburg ins East Village, nach Chelsea und nach SoHo und ihre professionellen Orte sind über die Upper East Side, Long Island City und Queens verteilt. Ihre globale Mobilität von Mai 2005 bis 2006 zeichnet sie mir ebenfalls auf. Sie finanziert sich durch Lehraufträge in Boston, Pennsylvania und Rhode Island City. Ihre Eltern wohnen in Milwaukee, während ihre Großmutter in Ostfriesland lebt. Hinzu kommen verschiedene Reisen, wie etwa zu Konferenzen in Helsinki und Mumbai, der Besuch des CTA in Chicago, einer Ausstellung im Kwanju Art Museum in Südkorea und ihr Residency Platz im Sirius Art Center in Irland. In Deutschland stellte sie in Dresden bei der Galerie der Lehmann Brüder aus und war in einer Gruppenausstellung in der Galerie Art Embassy in Berlin vertreten. Diese ausgeprägte globale Mobilität verweist sowohl auf Harveys soziales Kapital, als auch auf ihr durch ihren binationalen Hintergrund generiertes kulturelles Kapital. Dies prägt auch heute ihre Perspektive, wenn sie den europäischen Kunstbetrieb immer als Option mitbedenkt: „I remember talking to an American artist, a friend of mine, and I told her about a project in Europe and she said: ‚Why are you doing that?‘ And I was asking her: ‚Are you at all interested to show outside from New York?‘ And she said: ‚Why should I show outside of New York?‘ That is an extreme

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example but it is true, there are many people like her. They are sure when it is not here it is not so interesting. But I think that it is a kind of problematic attitude.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

Harvey macht mit dieser Anekdote deutlich, dass manche Künstler in New York noch immer stark auf die eigene Stadt ausgerichtet sind. Sie sieht darin eine gefährliche Form der Inselmentalität. Andererseits betont sie ebenfalls, dass New York die Voraussetzung dafür war, dass sie als Künstlerin persönlich Anerkennung fand: „I think I couldn’t have had such an art career without being in New York. It was really easy for me to meet people and other artists. […] People were incredibly generous and helpful and suggested opportunities. […] I think NY is particularly good for that because it has this kind of introducing culture. [When you go to an] opening in NY and you are with people they will introduce you to everybody they know. And it is not a big deal but if you like that person with whom you have a conversation you might meet up again. It is very light; there is not much social obligation involved. Whereas in Germany I stand next to somebody and I get never introduced. I think it has also something to do with the economics of New York, where you might need a friend or acquaintance; it might be helpful to know somebody who knows this.“ (Interview Ellen Harvey 2006)

Harvey beschreibt das Ritual des Bekanntmachens in New York. Diese Form der Kommunikation erleichtert es ihrer Meinung nach, schnell und ohne Verpflichtungen andere Akteure des Kunstbetriebs kennen zu lernen. Sie versteht diese Offenheit als Charakteristikum der Stadt. Ihre Beobachtung zu den Umgangsformen in Relation zu den ökonomischen Bedingungen erscheinen sehr treffend. Im New Yorker Kunstbetrieb ist die Umschlagfrequenz um ein Vielfaches höher als in Berlin, da Finanzmarkt, Auktionshäuser und die Galerien dichter vernetzt sind. Gleichzeitig mag es ebenfalls unterschiedliche Kulturen des Smalltalks geben. Harvey bringt mit ihrer familiären Herkunft und ihrem Jura Studium einen selbstsicheren und offenen Habitus mit. Beides – sowohl Umgangsformen als auch Verhalten – werden vermutlich dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass sie im sozio-ökonomischen Umfeld des New Yorker Kunstbetriebs einen so erfolgreichen Einstieg vollziehen konnte.

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Abbildung 123 und 124: Ellen Harvey, Look Up Not Down (2005) 84

Quelle: Christine Nippe

Fazit – Internationalität auf der Basis lokaler Verbundenheit Harveys Praxis und Alltagswelt sind durch eine intensive lokale Verbundenheit sowie eine stetige globale Mobilität gekennzeichnet. Ihre Themen ergeben sich einerseits aus der Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Status als Malerin, andererseits aus ihrer Beschäftigung mit der Stadt. Die Breite ihrer städtischen Intervention korrespondiert mit ihrem weitläufigen Alltagsradius sowie ihrem hohen sozialen Kapital. Für die Umsetzung ihres Projekts suchte sie Orte auf, die ihr durch Besuche bei Freunden oder Alltagsverrichtungen bekannt waren. Ferner erfahren wir anhand des Buches von ihren vielfältigen Kontakten zu 84 Mosaic commissioned by MTA Arts for Transit for the Queens Plaza subway station in Long Island City, NY. Fabrication by Kolorines, Mosaicos Venecianos de Mexico S.A. de C.V. Photographs: Jan Baracz.

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lokalen Kuratoren, die ihr Projekt in ihre Programme einbezogen. Es wird deutlich, dass Harveys sozialer, städtischer und künstlerischer Raum sich gegenseitig beeinflussen. Harvey arbeitet mit einer spielerischen Taktik und hinterfragt die Konventionen von Malerei, Graffiti, Straße und Schönheit. Dieser intelligent gesetzte Regelbruch verschafft ihr auch im Kunstbetrieb ein höheres symbolisches Kapital. So war sie 2008 auf der Whitney Biennale for American Art vertreten. Sie gehört zu den Künstlerinnen, die sehr bewusst die Imaginationen New Yorks aktivieren, ein lokales Interesse sichtbar machen, um diese Einblicke mit Leichtigkeit auf andere Plattformen zu transferieren. Die Künstlerin versteht die Stadt als öffentlichen Aushandlungsraum menschlichen Zusammenlebens. Sie möchte mit ihren Eingriffen ungeschriebene Regeln der Konsumption hinterfragen und Menschen dazu auffordern, sich sichtbar den Stadtraum anzueignen. Denn sie geht davon aus, dass eine solch visuelle Intervention, einer Verbalisierung von Interessen gleichkommt. New York nutzt sie einerseits, um von hier aus Reisen zu unternehmen. Andererseits ist sie eine der wenigen Künstlerinnen in meiner Forschung, die sich auch vor Ort engagiert. Harvey verbindet somit ein hohes lokales mit einem globalen Engagement, was eher ungewöhnlich ist. Gleichzeitig kann man an ihrem Konzept jedoch kritisieren, dass es idealisierte Vorstellungen von Partizipation, Demokratie und Sichtbarkeit im öffentlichen Raum enthält. Doch mit ihrer temporären Intervention entwickelt Ellen Harvey eine kritische Haltung zu den städtischen Bedingungen in ihrer Stadt. Denn ihr Kunstwerk widersetzt sich nicht nur den herrschenden räumlichen Bedingungen von Raumknappheit, Ökonomisierung und Gentrifizierung, sondern sie hinterfragt auch dominante Muster der Objektzentriertheit im New Yorker Kunstmarkt. Am Ende hat sie ein für viele Menschen zugängliches Kunstwerk entwickelt: Per Internet kann jeder auf die Suche nach ihren Malereien in der Bronx, Brooklyn, Manhattan und Queens gehen. Damit hat Ellen Harvey nicht nur durch ihre Malereien New York wieder ein Stück schöner gemacht.

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7.4 D IE S TADT ALS GLOKALE C HIFFRE – P OST 9/11-N EW Y ORK IN DEN K UNSTWERKEN D ULCE P INZÓNS Abbildung 125: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005)

Quelle: Dulce Pinzón

Die Fotoserie Super-hero (2004/2005) der mexikanisch-amerikanischen Künstlerin Dulce Pinzón beschäftigt sich ebenfalls mit der Stadt. Pinzóns Fotografien, die sich durch eine hohe Farbigkeit und Brillanz auszeichnen, führen direkt in das Herz von New York City. Wir sehen mexikanische Migranten in Kostümen von Batman, Catwoman oder Spiderman bei ihrer Arbeit in der städtischen Serviceindustrie. Die Künstlerin zeigt mit ihren Bildern Einblicke in einen für uns unsichtbaren Arbeitsalltag in der World City am Hudson River. Als Doormen, Pizzaboten oder Kinderfrauen sind die mexikanischen Migranten symptomatisch für die auseinanderdriftende soziale und ökonomische Strukturierung Manhattans. Es ist der hohe Anteil der „unsichtbaren working poor“ im Niedriglohnsektor bei einer vormaligen Zunahme von Höchstverdienern im Finanzbetrieb und stetig steigender Immobilienpreise, die die sozio-ökonomische Strukturierung des Boroughs auszeichnet. Indem Pinzón in ihrem Begleittext auf den 11. September 2001 und die darauf folgende Beschwörung nationaler Helden im politischen Diskurs sowie auf die Zunahme der filmischen Superheros Hollywood’scher Prägung verweist, bettet sie ihre Fotoserie in den spezifischen urbanen Kontext der Weltstadt ein, der durch die Anschläge auf das World Trade Center markiert ist.

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In meinen folgenden Überlegungen werde ich mich mit der Verwobenheit von lokalem und globalem Wissen in den Arbeiten Pinzóns beschäftigen. Das vorliegende Kapitel zeigt, wie die Stadt zur Chiffre des Glokalen wird. Mit diesem Begriff beziehe ich mich auf das Konzept des amerikanischen Soziologen Roland Robertson (1998), der in seinem Ansatz darauf hinweist, dass sich aktuell Lokalisierungs- und Globalisierungsprozesse gleichzeitig vollziehen. So widerspricht er etwa der These, dass sich Orte und lokale Kontexte in der Globalisierung vollständig anpassen und einheitlich werden. Lokales und Globales sollten als gleichzeitige Einflussfaktoren verstanden werden, ohne dass eine der beiden Ebenen ausgeklammert ist. Es handelt sich dabei weder um ein Gegensatzpaar, noch um die Auswirkungen eines Makroeinflusses auf die Mikroebene. Nach Robertson gehe es nicht um die Dualität von Homogenität versus Heterogenität, sondern um die Qualität des ineinander Verflochtenseins. Für Robertson resultiert daraus die Notwendigkeit, das Konzept der Glokalisierung in die sozialen Theorien zu integrieren und damit auf die gegenseitige Beeinflussung lokaler sowie globaler Phänomene zu verweisen.

Dulce Pinzóns fotografische Serie und ihr Bezug zu ihrem Alltag Die Arbeit The Real Story of the Super-heros (2004/2005) fiel mir durch ihren städtischen Bezug und ihren politischen Subtext auf, den ich sofort als Kommentar auf die posttraumatische Situation nach den Anschlägen vom 11. September begriff. Ich traf Dulce Pinzón zum Interview in ihrer Zweizimmerwohnung, die sie sich mit ihrem Mitbewohner teilt. Die Künstlerin lebt im szenigen Viertel Williamsburg in Brooklyn jenseits des East Rivers. Das Appartement liegt in einer kleinen Straße unweit der Autotrasse, die das Viertel nicht nur ökonomisch, sondern auch ethnisch-religiös teilt. Während es um die erste Subway-Haltestelle nach Manhattan modische Kleidungsläden, Coffeeshops und die sichtbaren Zeichen der zunehmenden Gentrifizierung in Form von Baukränen aufweist, wird das Quartier jenseits der Trasse ruhiger und ist durch eine blockartige Bebauung strukturiert. Dank der Lage ihrer Wohnung, nahe der stark befahrenen Straße, hat die Künstlerin viele Interessen in Einklang bringen können: Sie konnte die Kosten für den in New York teuren Wohnraum niedrig hal-

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ten, ohne dass sie dabei auf die Nähe zu Manhattan und kurze Wege zu ihrem Arbeitsplatz am International Center for Photography in Midtown verzichten musste. Dulce Pinzón wurde 1974 in Mexiko City geboren und studierte zunächst Kommunikationswissenschaften an einem mexikanischen College. Nachdem sie mit einem Austauschprogramm für einige Zeit im US-Bundesstaat Pennsylvania lebte, beschloss sie, am International Center for Photography (ICP) zu studieren. Pinzón, die aus einer mexikanischen Mittelklasse-Familie stammt, finanzierte sich ihr Studium an der renommierten Akademie durch eine studentische Hilfskraftstelle. Heute unterrichtet sie dort neben ihrer künstlerischen Tätigkeit Fotografie. Außerdem arbeitet sie mit behinderten Jugendlichen in einer sozialen Einrichtung und wird an Wochenenden als Werbefotografin von Firmen gebucht. Diese Kombination aus vielen Finanzierungsquellen neben dem Beruf der Künstlerin gehört zum Alltag vieler Kunstschaffender in New York, wie die Kulturanthropologin Banu Karaca in ihrem Artikel Künstler in New York City: Die neuen Dienstleister im Arts Capital of the World (2001) beschreibt. Karaca zufolge gehört die Vielbeschäftigung zu einer – auch politisch gewollten Strategie – der New Yorker Kulturpolitik. Durch die bewusst gering gehaltene Subventionierung der Kultureinrichtungen, etwa für Künstlerstipendien oder Atelierprogramme, werden gut ausgebildete, aber niedrig bezahlte Mitarbeiter für den lokalen Dienstleistungsbereich gesichert. Vor dem Hintergrund des überteuerten lokalen Immobilienmarktes sind für viele Produzenten diverse Nebentätigkeiten für die Lebenssicherung wichtig. Doch die Künstler sprechen nur ungern über ihre außerkünstlerischen Erwerbstätigkeiten, da diese ihren Status und ihre Position im Betrieb unterminieren können. Diese ökonomischen Bedingungen und ihre möglichen Auswirkungen auf die Produktion sowie die damit einhergehenden Statusprobleme der Akteure sind bislang auch in vielen kunst- und kulturwissenschaftlichen Forschungen tabu. Eine nähere Betrachtung von Finanzierungs- und Organisationsformen geben jedoch wesentliche Hinweise darauf, wie Künstler ihren Alltag in Abstimmung mit den schwierigen Bedingungen in New York bewältigen. Inwiefern bestimmen ihre Produktionsmöglichkeiten und -formen ebenfalls ihre Nutzung und Wahrnehmung der Stadt? Pinzón kann aufgrund des von ihr verwendeten Mediums Fotografie nach dem Shooting digitaler Aufnahmen zunächst mit Software-

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programmen die Bearbeitung in ihrer Wohnung vollziehen. Für die kostspielige Entwicklung und den Ausdruck nutzt sie die Infrastruktur des ICP. Sie ist somit relativ unabhängig von einem zusätzlichen Atelierarbeitsplatz. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, die ich während meiner Feldforschung in New York traf und sich mit Malerei oder Skulptur beschäftigen, wie etwa Matthew Barney, John Beech, Ellen Harvey oder Xu Bing, benötigt Dulce Pinzón kein großräumiges, kostenintensives Atelier. Das ICP und seine Infrastruktur bieten Pinzón zudem nicht nur praktisch, sondern auch institutionell die Möglichkeit, ihre Kunstwerke zu bearbeiten, zu entwickeln und schließlich auch zu präsentieren. So nutzt sie etwa die hauseigenen Dunkelkammern und Fotolabore. Insbesondere der institutionelle Status des ICP als Ausbildungsschule in New York mit gleichzeitiger Anbindung an die Ausstellungsräume für Fotografie stellte für die Künstlerin ein wichtiges Sprungbrett dar. 2004 zeigte sie dort ihre Arbeiten in der Gruppenausstellung Plan & Degression.

The Real Super-heroes – Die wahren Helden New Yorks sichtbar machen Die Fotografien von Pinzón stellen Arbeitssituationen mexikanischer Migranten in New York City dar. Bereits auf den ersten Blick erkennen wir Superhelden aus Hollywoodfilmen. Doch hier finden wir sie nicht in spektakulären Situationen vor, wie wir es aus Filmen gewohnt sind, sondern beobachten sie bei ihren Tätigkeiten in ihren Arbeitssituationen als LKW-Fahrer, Kindermädchen, Bauarbeiter oder Kellner.

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Abbildung 126: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005), PAULINO CARDOZO from the State of Guerrero works in a greengrocer loading trucks. He sends 300 dollars a week.

Quelle: Dulce Pinzón

Anhand von Bildunterschriften erfahren wir Namen, Tätigkeit und Angaben darüber, wie viel ihres Verdienstes sie nach Hause schicken. Mithilfe dieser Informationen wird der Titel der Serie „Super-heroes“ nochmals bekräftigt. Wir beginnen uns zu fragen, wie die Protagonisten es bewerkstelligen, einen so hohen Anteil ihres Einkommens nach Hause zu senden. Mit der Untertitelung erzielt die Künstlerin eine Personalisierung der „Helden“, um sie mithilfe der Kostümierung und Maskierung gleichzeitig auch wieder zu anonymisieren. Sie überlässt es den Betrachtern, sich an Personen aus dem eigenen New Yorker Alltag zu erinnern ohne die Akteure dabei bloßzustellen.

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Abbildung 127: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005), FEDERICO MARTINEZ from the State of Puebla works as a taxi driver in New York. He sends 250 dollars a week.

Quelle: Dulce Pinzón

Durch die fotografische Perspektive schauen wir den Protagonisten über die Schulter, hinein in ihren Arbeitsalltag. Die soziale Hierarchie schreibt sich als Subtext in das Arrangement ein. Sei es, wenn beim Aufhalten der BMW-Limousinentür zunächst der abgewandte Blick der Frau die Situation sozial definiert. Wenn die schweren Kartons von der Ladefläche des LKWs in den Feinkost-Deli geschleppt werden. Oder die Superheroin in der Wäscherei die benutzte Kleidung der anliegenden Bewohnerschaft säubert. Die Abbildungen entwickeln ihre Kraft und Lesbarkeit aus der Kombination ästhetischer Techniken, den Bildunterschriften und dem Begleittext der Künstlerin. Letzterer trägt zur vertiefenden gesellschaftlichen Kontextualisierung bei, wenn sie erstens auf die hohe Präsenz der Figur der Superhelden nach dem 11. September 2001 verweist und zweitens die Wichtigkeit mexikanischer Migranten für die amerikanische Ökonomie herausstellt. Ästhetisch arbeitet Pinzón mit einer cinematografischen Bildsprache, die mittels einer hohen Farbigkeit und sorgsamen Beleuchtung die Präsenz der Protagonisten unterstreicht. Dies wird beispielsweise in der Limousinen-Szene deutlich: Durch das Ausleuchten entfalten die Farben besondere Sattheit und Tiefe. Das Gefährt wird mit einem leichten Glanz umgeben, während im Hintergrund eine Laterne den Abend ankündigt und das angrenzende Grün auf den Central Park

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verweisen könnte. Pinzón setzt korrespondierend zum Thema und Titel ihrer Serie auf filmische Effekte, dabei stellen die Lichtverhältnisse ein wichtiges Stilmittel dar. Für die sorgfältige Ausleuchtung bildete sie sich in Workshops am ICP weiter, um ihre technischen Fähigkeiten zu verbessern. Während unseres Interviews erzählte sie mir, dass sie das Werk Annie Leibovitz’ bewundere und bei ihrer Assistentin extra einen Kurs absolvierte. Mithilfe der Lichttechnik lenkt sie das Interesse der Betrachter auf die Arbeitsszenen. Sie inszeniert die Protagonisten und ihren Alltag hinter den Kulissen der städtischen Dienstleistungsökonomie. Das Licht und die Kostümierung schaffen Aufmerksamkeit für die Exkludierten der Metropole innerhalb der amerikanischen Gesellschaft. Abbildung 128: Dulce Pinzón, Superhero series (2004-2005), MINERVA VALENCIA from Puebla works as a nanny in New York. She sends 400 dollars a week.

Quelle: Dulce Pinzón

Lokal-globale Bezüge in der Arbeit Dulce Pinzóns Pinzóns Serie verweist auf ein transnationales Wissen, welches sie als mexikanische Migrantin in New York und als amerikanische Künstlerin in Mexiko generierte. Die Fotografien können mithilfe ihres Begleittextes auch von Rezipienten außerhalb des New Yorker Kontextes gelesen werden. Durch die Auswahl der Szenerien, wie dem Feinkost-

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Deli, dem Waschsalon und der Limousine, gelingt es ihr, soziale Bezüge für lokale Betrachter zu erstellen, um gleichzeitig durch die international bekannte Figur des „Superheroes“ auch für den „fremden Blick“ lesbar zu bleiben. Nachdem sie einige Monate in New York studiert hatte, begann sie auf die Situation der mexikanischen Einwanderer aufmerksam zu werden: „It was at that point that Mexicans got more visible in the city. I remember when I came here and I saw somebody who looked Mexican I thought: ‚Ah, there is somebody like me.‘ I was very curious and touched. I was also feeling a little bit nostalgic because that person also made me question my own personality. But then I realized that there were coming more and more Mexican people to the city.“ (Interview mit Dulce Pinzón 2006)

Anhand der Begegnung mit anderen mexikanischen Einwohnern New Yorks beschreibt Pinzón in unserem Interview ihren Versuch, sich als mexikanisch-amerikanische Künstlerin zu definieren und eine eigene Position zu entwickeln. Ihre Selbstbeschreibung changiert zwischen der Nähe zu ihren Landsleuten und einer gewissen sozialen Distanz ihnen gegenüber. Als Künstlerin scheint sie sich nicht vollends mit den Interessen der mexikanischen Arbeiter zu identifizieren. Sie hat das Gefühl, eine Sonderposition einzunehmen. Pinzón beschäftigte sich bereits frühzeitig in ihren Arbeiten mit dem Themenkomplex der Migration in die amerikanische Gesellschaft. Zu Beginn dokumentierte sie mithilfe von Innenaufnahmen die Wohnungseinrichtungen ihrer mexikanischen Landsleute in der Fremde. Darauf entwickelte sie in ihrer Porträtserie Multiracial (2003), eine Dokumentation, welche die Vielfalt der Hautfarben und Mischungen in der Weltstadt New York festhielt. Mit ihren Porträtaufnahmen vor blauem, gelbem und rotem Hintergrund visualisierte sie die Einwanderungsgesellschaft der USA und wollte ein Statement gegen Rassismus und Diskriminierung setzen. Schließlich entwickelte sie in einer Schwarz-Weiß-Serie mit dem Titel Viviendo el Gabacho eine Nahaufnahme der mexikanischen Migranten in ihrem häuslichen Umfeld in New York City. Im Interview erklärt Pinzón, dass das mexikanische Wort „Gabacho“ auf den mexikanischen Humor verweise, der ebenfalls ein wichtiger kultureller Bestandteil ihrer Arbeiten sei:

294 | K UNST BAUT STADT „I mean this sense of humor that we have for seeing the everyday life and politics. We always have this other way of seeing things, you know. I was interested in the aspect of how we are leaving traces of our past in the city and how much we were incorporating the city in our daily lives. How we were transforming the landscape of this place New York.“ (Interview Dulce Pinzón 2006)

Aus ihrer Erzählung wird deutlich, dass Pinzón sich mit dem vergemeinschaftenden „Wir“ als Übersetzerin zwischen den Kontexten begreift. Sie versteht sich als Mitglied einer nationalen Imagined Community (Benedict Anderson). Durch ihre Aussage entsteht der Eindruck, als habe die Form des Humors sie auch künstlerisch geprägt. Sie bezieht „den“ mexikanischen Humor als Einfluss und Ausdruck ihrer Kunst in ihre Selbsterzählung ein. Damit nutzt sie eine Narration der ethnischen Biografisierung für ihren künstlerischen Ansatz. Sie möchte in unserem Interview deutlich machen, dass sie als mexikanisch-amerikanische Künstlerin eine Zwischenposition einnimmt. Sie teilt den Humor mit den mexikanischen Migranten, nimmt gleichzeitig jedoch auch eine distanzierte Beobachterrolle ein, wenn sie sich für die Akzeptanz und den Einfluss der Mexikaner in New York einsetzt. Während sie sich in der Interviewpassage zuvor noch zum Mitglied einer Gemeinschaft macht, betont sie im weiteren Verlauf ihre differierende soziale Position zu „den“ mexikanischen Arbeitern, wenn sie sagt: „[The Mexican workers] are invisible in that economy, socially invisible. But they are actually contributing enormously to the wealth of the country. […] I don’t know if you realized that the Mexican worker is very shy and if you approach them you feel that they are very approachable people but at the same time you feel that they are very discouraged. […] but I realized: we are everywhere. Every house has a Mexican nanny but we are still invisible. This is a kind of way taking the invisibility of them.“ (Interview Dulce Pinzón 2006)

Auch wenn das Wir noch mehrmals in unserem Interview auftaucht, möchte Pinzón eher eine Vermittlerinnenrolle für die marginalisierten mexikanischen Arbeiter einnehmen. Sie möchte sie aus ihrer „Unsichtbarkeit“ holen und auf sie aufmerksam machen. Dafür verwendet sie eine spielerische Ästhetik, die durch ihre leuchtende Farbenpracht sowie durch die Verwendung von Kostümen kein Mitleid mit den Pro-

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tagonisten aufkommen lassen möchte, sondern eher auf Effekte der Anerkennung bei den Rezipienten setzt. Während eines Nebenjobs für eine Gewerkschaft bemerkte sie, welches Vertrauen sie bei den Arbeitern genoss. Langsam begann sie, ihren Zugang zu ihnen als Ressource für ihre künstlerische Arbeit zu begreifen. Abbildung 129: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005), MARIA LUISA ROMERO from the State of Puebla works in a Laundromat in Brooklyn New York. She sends 150 dollars a week. Quelle: Dulce Pinzón

Abbildung 130: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005), JUVENTINO ROSAS from the State of Mexico works in a fish market in New York. He sends 400 dollars a week. Quelle: Dulce Pinzón

Abbildung 131: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005), SERGIO GARCÍA from the State of México works as a waiter in New York. He sends 350 dollars a week. Quelle: Dulce Pinzón

Der 11. September 2001 bedeutete sowohl für die Stadt New York als auch für das nationale Selbstverständnis der USA eine Zäsur. Mit den Anschlägen auf das World Trade Center wurde die Verletzlichkeit der Weltmetropole deutlich. Im Anschluss auf den Terroranschlag wurde

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nicht nur über den Schock, die Bedrohung durch den sogenannten islamischen Terrorismus sowie dem darauffolgenden Krieg diskutiert. Die Bewohner New Yorks litten an einem Trauma angesichts der Bilder von fallenden Körpern, dem Verwesungsgeruch und Staub. Pinzón nennt den 11. September ihren Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit diesem Thema und dem Projekt. Dabei lässt sie jedoch die Details der Ereignisse unausgesprochen, möglicherweise, weil ihr bewusst ist, dass sie noch immer mit vielen Tabus belegt sind: „I started to think about the superheroes because of 9/11. In that time there were so many films about superheroes. For instance shortly after 9/11 there was this blockbuster of Spiderman and I thought: This is so interesting what we have here, culturally and psychologically. I think when we are really afraid of the situation we need somebody who protects us, a superhero. In some cultures it is god and here there were so many superheroes in the media. At that time I was working for the campaign of the union and I was hoping to help them to get better working conditions. So these two observations mixed somehow in my work […]. So one day I was in Mexico and I was with my family in a market and I saw the same thing again. [...] Mexico had always this fantasy and it had been always the country of many superheroes, we had the wrestlers and fantasy characters. And then I saw it again: I saw this horrible Spiderman in this market and I said: This is it! […]“ (Interview mit Dulce Pinzón 2006).

Ihr durch das Pendeln zwischen New York und Mexiko geschärfter Blick erkennt die länderübergreifende Figur des Superheroes. Diese Figur besitzt in unterschiedlichen lokalen Kontexten vielfältige Konnotationen, um dennoch als global verbreitete Erscheinung Bezugspunkte für mexikanische als auch amerikanische Rezipienten zu bieten. Kombiniert mit Pinzóns Beobachtungen zu den gesellschaftlichen Veränderungen nach dem 11. September 2001 münden diese schließlich in ihrer Themenfindung. Pinzóns Arbeit spricht dabei nicht nur von ihren lokalen Beobachtungen in New York City, sondern kombiniert diese mit einer transnational verständlichen Bildsprache. Diese ist über den amerikanischen ebenso wie über den mexikanischen Kontext hinaus entzifferbar. Indem sie in ihren Bildern die Figur des Superhelden nutzt, welcher durch die amerikanische Filmindustrie weltweit Verbreitung erfahren hat, um je nach lokalem Kontext vermutlich mit eigenen Bedeutungen versehen zu werden, schafft sie Bezugspunkte

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für ein internationales Publikum. Oder, um mit Roland Barthes zu sprechen: Geschickt entwickelt sie mit ihrem kurzen Begleittext einen Raum der Intertextualität, welcher abhängig vom jeweiligen Kontext und Wissen des Betrachters eine unterschiedliche Tiefe und Assoziierungskette besitzt. Denn nach Roland Barthes hängt die Interpretation von Bildern, Texten und Kunstwerken vom Wissen der Rezipienten ab. Dieser entscheide, in welchem Kontext das Kunstwerk interpretiert werde (Barthes 1990).

Fazit – Die Stadt als glokale Chiffre Pinzóns Arbeiten, die sie aus ihrer Zwischenposition und dem Bezug zu einem anderen nicht-amerikanischen Kontext entwickelt hat, besitzen eine besondere Sensibilität für den Kontext. Ihr Verweis auf die Situation in New York nach dem 11. September zeigt ebenfalls ihr Gespür dafür, wie sie ihre Arbeiten auch in internationalere Zusammenhänge übertragen kann. Obgleich der Bezug auf das global rezipierte Ereignis in unterschiedlichen Kontexten eine differierende Bedeutung besitzen mag, ermöglicht dieser Verweis eine Anschlussfähigkeit. Es besteht die Chance, dass ihre fotografischen Arbeiten ‚auf die Reise‘ gehen können. Dies war auch der Grund, warum das Queens Museum of Art ihre Arbeit für die New York. State of Mind Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt in Berlin für den Sommer 2008 vorschlug. Obwohl ihre Serie dort leider nicht gezeigt wurde, verdeutlicht die Wahl der Kuratoren aus Queens, dass Pinzóns Strategie, sich als transnationale Vermittlerin und Kommentatorin der Post-9/11-Situation in New York zu positionieren, gelungen ist. Ihre Serie arbeitet mit der Stadt als Marker und Hintergrundkulisse, um die weitreichenden gesellschaftlichen Thematiken von Migration, wirtschaftlicher Verwobenheit, und der Arm-Reich-Dichotomie zu diskutieren. Ferner betont Pinzón in unserem Interview den Aspekt der Aneignung, wenn sie sich dafür interessiert, wie die mexikanischen Migranten „Spuren in der Stadt“ hinterlassen. Sie macht die Protagonisten und ihre Interessen für die amerikanische Öffentlichkeit sichtbar. Doch auch Pinzóns künstlerische Arbeit kann als Taktik im New Yorker Kunstbetrieb interpretiert werden: Indem sie die mexikanischen Einwanderer in ihrem Kunstwerk zeigt, macht auch sie sich selbst im Betrieb „sichtbar“. Sie weiß dabei, dass sie mit ihrer mexikanischen Biografie als kompetente

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Sprecherin und Repräsentantin anerkannt wird. Mit ihren Arbeiten hat sie sich zu einer Übersetzerin zwischen den unterschiedlichen nationalen und sozialen Kontexten etabliert. Mit ihrem Verweis auf den 11. September wird ferner eine diskursive Strategie deutlich, die sie für die Kontextualisierung ihres Kunstwerks nutzt. Mit ihrer Bilderserie greift sie das Trauma der Stadt auf, um vor diesem Hintergrund sensibilisierte Blicke auf die Situation der mexikanischen Migranten zu ermöglichen. Ihre Fotoserie profitiert von ihrem eigenen biografischen Kontext als amerikanisch-mexikanische Künstlerin. Darüber hinaus musste sich Pinzón die Stadt und ihre Orte auch räumlich erschließen, wenn sie für viele Aufnahmen Genehmigungen vom Ordnungsamt einholte, um etwa Aufnahmen des Spidermans als Fensterputzer vor der Skyline Manhattans zu machen. Ihre Arbeiten sind dabei in doppelter Hinsicht vom 11. September und seinen Folgen beeinflusst. Denn der Zugang zu öffentlichem Raum, gar künstlerische Aktionen in ihm, sind im Zuge der Verschärfungen der Sicherheitsmaßnahmen schwierig geworden. Abbildung 132: Dulce Pinzón, Super-hero series (2004-2005)

Quelle: Dulce Pinzón

Zur Realisierung ihrer Superhero-Serie beantragte Pinzón Gelder beim New York Council for the Arts. Sie konnte institutionelle Unterstützung für die Umsetzung ihrer Arbeiten auf den Straßen und öffentlichen Plätzen der Stadt generieren. Für die Realisierung ihrer Ideen geht sie finanzielle und institutionelle Anstrengungen ein. Sie sucht

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nach unbekannten Orten, bat die Protagonisten und ihre Arbeitgeber um Unterstützung und organisierte die Durchführung ihres Fotoshootings in den Straßen der Stadt. Außerdem finanziert sie ihre künstlerische Tätigkeit über zusätzliche Nebentätigkeiten. Dadurch nimmt ihre Kunstproduktion eine wichtige Stellung in ihrem Leben ein. Für die Umsetzung ihrer „Superheroes“ koordiniert sie verschiedene Jobs, kombiniert ihre Tätigkeiten zwischen den Stadtteilen Brooklyn, Midtown und der Upper Eastside und organisiert die Fotoshootings. Die Realisierung dieser Fotoserie bedurfte somit über ein ausgeprägtes lokales Wissen. Pinzón muss nicht nur ihr Thema finden, sondern sie mithilfe ihrer Kenntnisse (über Akteure, Orte, institutionelle Zugänge und Genehmigungen) umsetzen. Darüber hinaus verweist die Fotoserie auch auf ihr transnational generiertes Kapital, wenn sie die Figur des Superheldens als Inspiration und in Relation zu Mexiko präsentiert. Durch diesen transnationalen Hintergrund konnte die Serie bereits jenseits der Grenze gezeigt werden. Ihre Repräsentation der amerikanisch-mexikanischen Beziehungen stieß auch dort auf Interesse. Das Interview mit Dulce Pinzón zeigt, wie die Künstlerin die Logiken und Regeln des Feldes bedenkt und reflektiert. Das kulturelle Wissen, welches Pinzón für die Entwicklung einer eigenen Position im Kontext des New Yorker Kunstbetriebs einsetzt, möchte ich als transnationales Kapital bezeichnen. Sie begreift ihre Mobilität zwischen den USA und Mexiko sowie ihre Bewegung zwischen den auch unterschiedlich gerahmten sozialen Kontexten Gewerkschaft, International Center for Photography und Kunstbetrieb als Alleinstellungsmerkmal, mit dem sie ihre Position begründen kann. Sie konnte dieses Wissen auf ihren Reisen zwischen New York und ihrer Familie in Puebla, in vielen Begegnungen mit mexikanisch-amerikanischen Migranten, während ihrer Jobs für die Gewerkschaft, ebenso wie durch ihre Ausbildung am ICP oder während Gesprächen bei Vernissagen und Eröffnungen erwerben. Künstlerische Arbeiten enthalten je nach Alltagskontext, Mobilität und Biografie der Produzenten sowohl lokale als auch globale Bedeutungsdimensionen. Ferner weisen Arbeiten Referenzen an kunstgeschichtliche Traditionen auf, werden durch das technische Wissen der Künstler geprägt und antizipieren die Logiken des aktuellen Kunstgeschehens. Anhand dieses Kapitels wird deutlich, dass in zeitgenössischen Kunstwerken nicht nur lokales, sondern ebenfalls transnational erworbenes Wissen einfließt. Die Repräsentation der Stadt kann in die-

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sem Fall als eine glokale bezeichnet werden. Sie verweist als Chiffre auf den dahinter liegenden, vielschichtigen Bedeutungs- und Wissensraum der Künstlerin. Bei Pinzón führt das Sichtbarmachen dieser Verflochtenheit zu einer facettenreichen Repräsentation von New York. Ihre Arbeit fächert die Stadt in einen komplexen Bedeutungsraum zwischen lokalen Bezügen und globalem Kontext auf. Lokal macht sie auf die Rolle der Migranten im New Yorker Dienstleistungsbereich und ihre sozio-ökonomische Marginalisierung aufmerksam, um gleichzeitig auf die globalen Zusammenhänge und Abhängigkeiten der amerikanischen und mexikanischen Ökonomien zu verweisen. Mit ihrem Rekurs auf den 11. September hinterfragt sie leise Vorstellungen „amerikanischen Heldentums“ und stellt implizit den American Dream in Frage, wenn sie die prekären Arbeitsbedingungen der Migranten sichtbar macht. Durch diese Kontextualisierung wird die Stadt zu einer glokalen Chiffre, die in einem vielschichtigen ökonomischen und sozialen Gefüge eingebunden ist, dass sowohl von lokalen ebenso wie globalen Mechanismen beeinflusst wird. .

8. Fazit – Verhandlungen künstlerischer Stadtkonzepte

The mobilization of site-specific art from decades ago, and the normadism of artists in recent site-oriented practices, can be viewed alike as symptomatic of the dynamics of deterritorialization as theorized in urban spatial discourse. MIWON KWON

Aus einer interdisziplinären Perspektive von Stadtanthropologie und Kunstwissenschaften habe ich diskutiert, wie Künstler ‚Stadt‘ konzipieren, repräsentieren und verhandeln. Dabei habe ich insbesondere die Rolle ihres jeweiligen lokalen Umfeldes in Berlin und New York erörtert. Mich interessiert, inwiefern Alltag, mediale Praxis und Konzept der Stadt miteinander korrespondieren. Es geht somit um die Frage, welche Praxen den gelebten und konzipierten Raum vor dem Hintergrund einer starken Mobilität im Kunstbetrieb bestimmen. Ferner habe ich das Verhältnis zwischen den Narrativen zur urbanen Kunstund Alltagspraxis erörtert. Abschließend möchte ich einige übergeordnete Thematiken aus den unterschiedlichen Erzählungen und künstlerischen Ansätzen skizzieren. Leitfragen sind hierbei: Inwiefern sind bei der Vielzahl der Themen, Stadtrepräsentationen und medialen Techniken wiederkehrende lokale Topoi zu Berlin und New York auszumachen? Tauchen geteilte Narrationen zum jeweiligen urbanen Kontext auf? Und

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schließlich: Existieren stadtübergreifende urbane Leitmotive in der zeitgenössischen Kunst?

8.1 D IE W IEDERENTDECKUNG VERSCHWUNDENER O RTE : B ERLIN IN DER K UNST Die Konzepte des Städtischen wurden von den ausgewählten Berliner Künstlern mannigfach entwickelt: Nevin Aladag begreift in ihrer künstlerischen Praxis die Stadt als einen von unterschiedlichen Akteuren verhandelten sozialen Raum. Indem sie in ihrem Video zwei türkisch/kurdisch-deutsche Jugendliche im nächtlichen Görlitzer Park filmt, gewährt sie den Marginalisierten der Stadt eine Bühne für ihre Kreativität und zollt ihnen Respekt. Christine Schulz entfaltet in ihrer mehrperspektivischen Videoinstallation aus Found-Footage und Sequenzen berühmter Berlin-Filme ein Konzept, welches sich vorrangig auf das Verhältnis von gebauter und filmisch repräsentierter Urbanität bezieht. Sie zeigt, dass sich Film- und Stadtraum nicht entsprechen, sondern dass insbesondere der architektonische Umbau und die Schließung der materiellen Struktur das neue Gesicht der wiedervereinigten Stadt prägt. Ihr Fokus auf Berlin ist durch ihren filmischen Blick gesteuert. Auch Jan Brokof und Wiebke Loeper beschäftigen sich mit dem Wandel der Stadt. Sie setzen sich mit ihr im Sinne eines Archivs von verschwundenen Gebäuden, Erfahrungen und Materialitäten auseinander. Beide bearbeiten Orte ihrer Jugend und archivieren diese. Während Brokof seinen künstlerischen Ansatz der objektiven Rekonstruktion betont, wählt Loeper in ihren Fotografien bewusst einen subjektiven Ansatz. Sie untersuchen die Stadt im Sinne eines biografischen Archivs. Beide verhandeln verschwundene Wissensformen über sie und halten diese bildlich fest. Christiane Dellbrügge und Ralf de Moll verstehen Stadt als Aushandlungsfeld sozialer, politischer und institutioneller Interessen. Ihre drei Kernthemen beziehen sich auf städtischsoziale Heterotopien, Fragen zum Mythos sowie zur urbanen Wahrnehmung. In ihrem kontextspezifischen Ansatz tauchen dabei eher periphere Orte auf. Sie binden ihre Besucher interaktiv ein und versuchen sie damit, in Diskurse zur Stadtentwicklung zu involvieren. Bei Rirkrit Tiravanija wie Anri Sala wird der jeweilige Ort durch einen transitorischen Zugang gefasst. Beide beziehen sich in ihren künstlerischen Arbeiten nur wenig auf Berlin. Während Tiravanija in seiner

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Praxis und Materialwahl das Nomadische hervorhebt, ist Salas Konzeption eher durch den translokalen Vergleich west- versus osteuropäischer „Wirklichkeiten“ geprägt. Beide arbeiten mit einem temporären Ortsansatz, der sich auf das Relationale und die Bewegung zwischen ihren Stationen bezieht. Abbildung 133 und 134: Verlassene Areale in Berlin bei Damián Ortega und Mark Sadler

Quelle: Damián Ortega; Mark Sadler

Die Darstellung Berlins als Transformationsstadt Diese unterschiedlichen Arbeiten besitzen dennoch ein gemeinsames Sujet. Sie skizzieren die Stadt im Wandel. Dieser gemeinsame Topos von Berlin als Transformationsstadt enthält dabei drei verschiedene Ebenen: (1.) Anhand vergessener Orte verhandeln viele Künstler die

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Neuordnung der Stadtlandschaft. Es scheint, als ob sich spezifische Areale in den Vordergrund geschoben haben, während andere verschwinden. Die Künstler zeigen sich als Rechercheure weniger sichtbarer Gebäude, sie erspüren verlassene Areale und beschäftigen sich mit peripheren Plätzen in der Stadt. So erkundet Loeper die Gegend nahe der Mollstraße, um mithilfe ihrer Fotografien eindrucksvoll das Entschwinden biografischer Orte festzuhalten. Auch Dellbrügge und de Moll widmen sich einem vergessenen Bereich, der in seiner Wildheit mittlerweile auch andere Künstler fasziniert, den Plänterpark. 85 Sie nutzen seine Bedeutungsoffenheit als heterotopische Rahmung, in die sie das Künstlerhaus Bethanien fiktiv verschoben haben. Und Schulz ruft uns das vergangene Berlin anhand eines illegalen Clubs im U-Bahnschacht oder der Leerstelle am Potsdamer Platz in Erinnerung. Produzenten, die hier bereits länger leben, beschäftigen sich offensichtlich eher ungern mit medial präsenten Orten Berlins. So werden nur in wenigen Arbeiten Wahrzeichen wie Fernsehturm, Brandenburger Tor oder der neue Potsdamer Platz abgebildet. Eine Ausnahme stellt der Palast der Republik dar. Dieser wurde trotz oder gerade wegen seiner symbolischen Präsenz von Tacita Dean, Maroan el Sani/Nina Fischer, Wiebke Loeper, Ulrike Mohr oder Reynold Reynolds, zitiert. Auch hier handelt es sich um einen Ort, der durch seine Porosität und Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Besonders eindrucksvoll war beispielsweise die Installation mit dem kurzen Wort „Zweifel“ auf dem Dach des Palasts der Republik. Trotz Widerstände konnte der Künstler Lars Ramberg (2005) seine Intervention auf dem von der DDR- und Wiedervereinigungsgeschichte kodierten Schlossplatz installieren. Er brachte damit den Widerstreit zwischen Erhalt des Palastes und Rekonstruktion des Schlosses mit nur einem einzigen Wort auf den Punkt. Künstler, die in Berlin stadtbezogen arbeiten, suchen sich vorrangig unbekannte, vergessene oder widersprüchliche Orte. Diese verkörpern meist eine besondere Atmosphäre und machen die Konfliktlinien der Transformation auch visuell anhand der baulichen Materialität deutlich. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Sabine Eckmann fasst das Phänomen eher aus der urbanen Perspektive, wenn sie schreibt:

85 So taucht der Plänterpark auch in den Arbeiten von Holly Zausner auf.

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„Die Stadt ist als Inbegriff des konstanten Wandels ohne Frage eine Vorstellung, die das Bild des neuen Berlin in seinem ersten Jahrzehnt äußerst präzise beschreibt. Von der Info-Box am Potsdamer Platz, die ab Mitte der 1990-er Jahre bis 2000 detaillierter Bilder produzierte, die vermittelten, wie die Leerstelle dieses bestimmten geografischen Areals ausgefüllt werden würde, bis hin zu Daniel Liebeskinds Entwurf für das Jüdische Museum, der dem Leitmotiv der Leerstelle, des voids folgt, haben unbesetzte Räume, Räume der Unbestimmtheit, Praktiken der Zwischennutzungen von Gebäuden und die Neubesetzungen und Neucodierungen von Gegenden eine Schlüsselrolle in der Definition Berlins als eine Stadt im Wandel gespielt.“ (Eckmann 2007: 58)

Die bauliche Struktur der Stadt mit ihren Rissen, Leerstellen und Neubesetzungen gemeinsam mit dem Diskurs um die Hauptstadtwerdung Berlins schreibt sich, dies zeigt meine Studie, in die Arbeiten der zeitgenössischen Künstler ein. Es entstehen förmlich paradigmatische Berlin Orte, die durch die Kunst aufgegriffen und visualisiert werden. Dies gilt nicht nur für die stadtbezogenen Arbeiten der Künstler, sondern ebenfalls für die Praxis von Kuratoren. Während Klaus Biesenbach mit seiner Ausstellung 37 Räume leer stehende Gewerbe- und Wohnflächen entlang der Auguststraße bespielte, ist es insbesondere das Team der Berlin Biennale, das sich neben vielen freien Projekten immer wieder der Recherche ungewöhnlicher Orte widmet. Während bei der 4. berlin biennale etwa die ehemalige jüdische Mädchenschule ins vergangene Leben in der Spandauer Vorstadt führte und beim Besucher einen „Schauer der Geschichte“ auslöste, symbolisierten die Ausstellungsorte Neue Nationalgalerie, Skulpturenpark Berlin_Zentrum, KW und der so genannte Schinkel Pavillon des DDR-Architekten Gerhard Paulick Ost- und Westentwurf der ehemals geteilten Stadt. In die Recherche und konzeptionellen Ideen der 5. berlin biennale involviert, arbeiteten die Kuratoren bewusst mit Gegensätzen in Architektur, Materialität und Kodierungen. Die Neue Nationalgalerie verkörperte seit 1968 den Westberliner „Tempel der Moderne“ als Schaufenster zum Osten. Die KW den Prototyp für die Transformation ehemaliger Industriehallen in Kunst- und Kulturräume in den 1990ern, der Schinkel Pavillon mit dem Blick auf den Schlossplatz und den abgetakelten Palast der Republik, die Reminiszenz an die DDR der Ulbricht Ära und schließlich der Skulpturenpark Berlin_Zentrum, die ‚letzte‘ noch bestehende Wunde des ehemaligen Todesstreifens in der Stadt.

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Abbildung 135 und 136: Tacita Dean und Wiebke Loeper, Abgebrochene Vergangenheit. Der Palast

Quelle: links: Tacita Dean, Palast (2005), I-VI, Farbgravüre auf Somerset 300gr, je ca. 50x70 cm, Set: 6, Auflage: 24, verlegt von Niels Borch Jensen Galerie, Berlin und der Künstlerin; rechts: Wiebke Loeper

Deutlich wird ebenfalls bei den von mir diskutierten Arbeiten, dass sie (2.) die Spannungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart thematisieren. So verweist Schulz mit ihrem filmischen Blick auf die Veränderung der urbanen Landschaft in der Gegenüberstellung fiktionaler und dokumentarischer Bilder. Anhand ihrer Installationen wird der rasante Wandel der Stadt deutlich. Ihre Assemblage zeigt den Spalt zwischen Gebautem und Medialem, Vergangenheit und Gegenwart. Auch bei Brokof und Loeper spielt der Zeitenwandel eine wichtige Rolle, wenn sie die radikalen städtebaulichen Eingriffe, den Abriss ganzer Plattenbauviertel und den darauf folgenden Neubauprozess festhalten. Beide verdeutlichen anhand des Verlustes dieser Gebäude die gesellschaftliche Zäsur nach 1989. Sie betrifft nicht nur die Ebene des Stadtumbaus, sondern wirkt sich ebenfalls übergreifend auf (ost-)deutsche Wissensbestände und Identitätsmodelle aus. Außerdem wird die Transformation Berlins anhand (3.) sozialer Veränderungen thematisiert. So diskutieren Dellbrügge und de Moll mit der Künstlermigration, inwiefern Berlin sich in den letzten 15 Jahren zu einer Metropole gewandelt hat. Sie thematisieren, welche Wünsche und Imaginationen die zugezogenen Künstler mit der Stadt verknüpfen und welche Rolle soziale Vergemeinschaftungsformen wie Szenen oder Unterstützernetzwerke besitzen. Aladags sensibles Porträt der beiden türkisch-deutschen Jugendlichen weist ebenfalls auf einen sozialen Aspekt hin, wenn sie leise die Stigmatisierung der jungen, männlichen

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Migranten in Berlin berührt. Anhand ihrer Porträts, die die Kreativität und Melancholie der Protagonisten akzentuiert, repräsentiert sie ein anderes Bild von ihnen. Auch Loepers Porträtserie Mitte, Berlin widmet sich einem spezifischen sozialen Milieu. Sie stellt die „Generation Mitte“ als freiheitsliebende, jedoch zweifelnd in die Zukunft blickende Gruppe dar. Sie visualisiert damit den lokalen Diskurs um die unsteten, sozialen Chancen der Studenten, Kreativen und Selbständigen der Stadt. 86 Diese unterschiedlichen Porträtserien zeigen, dass mit dem Topos der städtischen Transformation ebenfalls soziale Positionierungen, Träume und Chancen verhandelt werden. Je nach Milieu werden diese unterschiedlich dargestellt. Die Künstler präsentieren sich als Beobachter des sozialen Wandels der Stadt. Abbildung 137-139: Das soziale „Gesicht“ der Stadt bei Dellbrügge/de Moll, Wiebke Loeper und Nevin Aladag

Quelle: Dellbrügge/de Moll; Wiebke Loeper; Nevin Aladag 86 Neuerdings gern unter dem Stichwort der digitalen Bohème oder dem „neuen“ Bildungsprekariat diskutiert.

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In der Gesamtschau der Arbeiten wird Berlin mit dem Topos der Transformation verknüpft. Durch die Diskussion architektonischer, ortsspezifischer, geschichtlicher und sozialer Dimensionen ergibt sich eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der städtischen Textur. Diese Vielfalt an Thematiken und Beobachtungen spricht für den reichhaltigen ‚Stoff‘, den gerade Berlin nach 1989 bietet (vgl. dazu ebenfalls Diedrichsen 2007, Eckmann 2007 und Kemfert 2007). In meiner Forschung wurde ersichtlich, dass Künstler sich häufig längerfristig und über mehrere Arbeitszyklen hinweg mit ihrem urbanen Umfeld beschäftigen. Ihr Konzept des Städtischen wird im Prozess der Produktion und Vermittlung verhandelt, angereichert und modelliert. Und schließlich: In dem Maße, wie sich die Stadtstruktur und die Diskurse wandeln, werden sich auch die stadtbezogenen Arbeiten neu ausrichten. Es wird weiterhin spannend bleiben, welche vielfältigen Blickwinkel und Thematiken die nächste Künstlergeneration zu Berlin entwickelt, oder ob nun andere Städte oder Inhalte in den Vordergrund rücken.

8.2 V ERWUNDETE M ONUMENTALITÄT : K ÜNSTLERISCHE S TADTKONZEPTE N EW Y ORKS Bei den ausgewählten New Yorker Positionen ließen sich ebenfalls unterschiedliche Ansätze beobachten: Dan Grahams Konzept der Stadt arbeitet mithilfe eines dreifachen Spiegelstadiums über soziale Interaktion, urbane Struktur und institutionelles Umfeld. Seine Installation zeigt New York als zunehmend rationalisierte Stadt, von privaten Museen geprägt und Urbanität als soziales Interaktionsprodukt. Graham hat auf dem Dach eines Museums, der Dia Art Foundation, einen quasi öffentlichen Raum installiert, der die Stadt sozial und räumlich öffnen sollte. Gleichzeitig zieht sich seit seinen Video- und Pavillonarbeiten ein übergreifendes Interesse an Interaktion und Spiegelung urbaner Topografien durch sein Werk. Obgleich sich also seine ortsspezifischen Arbeiten häufig durch eine starke Serialität, abstrakte Formensprache und reduzierte Bezüge zur Architektur auszeichnen, würde ich seine Dia-Arbeit als eine seiner ortsspezifischsten bezeichnen. Denn hier ging Graham sowohl auf die institutionellen als auch auf die urbanen Besonderheiten des Umfeldes ein. Matthew Barney – dessen Werk

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als am wenigsten stadtbezogen bezeichnet werden kann, da keine Rückkopplung an das soziale, institutionelle oder urbane Umfeld existiert – nutzt ikonische New Yorker Architekturen für seine Filmnarration Cremaster 3. Er setzt diese Gebäude als biografische Marker in seinem Werk ein und nutzt sie als Bühnen für seinen Gestus der Umdeutung. Sein Raumkonzept ist stark von Körpermetaphern geleitet und wird in seinen Ansatz des Körper-Systems integriert. Ellen Harvey ist an spielerischen Formen der urbanen Aneignung und Umgestaltung interessiert. Dabei versteht sie den öffentlichen Stadtraum als durch unterschiedliche Akteure gestaltbar. Sie bezieht sich mit ihren Eingriffen dezidiert auf New Yorks ökonomische und soziale Bedingungen. Ihre Praxis ist mit der Hoffnung auf Interaktion und Widerstand gegen dominante Konsumideologien verknüpft. In ihrem Konzept sind idealisierte Vorstellungen von Partizipation, Öffentlichkeit und Sichtbarkeit enthalten. Dulce Pinzóns Arbeit fächert die Stadt in einen komplexen Bedeutungsraum zwischen lokalen und transnationalen Vernetzungen auf. Lokal macht sie auf die Rolle der mexikanischen Migranten im New Yorker Dienstleistungsbereich und ihre sozio-ökonomische Marginalisierung aufmerksam, um gleichzeitig auf die übergeordnete Relation zwischen der amerikanischen und mexikanischen Ökonomie zu verweisen. Mit ihrem Rekurs auf den 11. September 2001 hinterfragt sie Vorstellungen amerikanischen Heldentums und macht die prekären Arbeitsbedingungen in der New Yorker Serviceindustrie sichtbar. Durch diese Kontextualisierung wird die Stadt zu einer glokalen Chiffre, die in einem komplexen ökonomischen und sozialen Gefüge eingebunden ist.

New York zwischen Ökonomie- und Sicherheitsbestrebungen Im Gegensatz zur Auseinandersetzung um die historische Transformation in Berlin geht es bei den New Yorker Ansätzen stärker um kritische Perspektiven gegenüber der zunehmenden Ökonomisierung der Stadt. Dies ist nicht verwunderlich, da die Themen Raumknappheit, hohe Mieten, Gentrifizierung, Börsendynamiken und Konsumausrichtung permanent im Alltag virulent sind. Festzuhalten gilt an dieser Stelle, dass (1.) die Ökonomisierung des Stadtraumes ein viel diskutiertes Problem ist. So kritisiert Graham mit seinem Pavillonensemble

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Kontrolle und Illusion der verspiegelten Corporate Architektur. Er beabsichtigte, einen alternativen Dachgarten auf einem privaten Museum zu installieren. Dabei bleibt offen, ob ihm dies während der Laufzeit seiner Arbeit tatsächlich gelungen ist, oder ob es sich dabei eher um eine Geste handelt. Auch Harvey beschäftigt sich mit der Aneignung des öffentlichen Raums und möchte sich Konsumideologien widersetzen. Sie interessiert sich für alltägliche Interventionen und setzt ihr Verschönerungsprojekt in den Straßen New Yorks als spielerische Gegenaktion zur Privatisierung öffentlicher Räume um. Pinzóns Fotoserie der Super-heros beschäftigt sich mit den wirtschaftlichen Bedingungen der Metropole, wenn sie diejenigen sichtbar macht, die das schlecht bezahlte ökonomische Getriebe der World City am Laufen halten. Sie zeigt diese Alltagshelden auf den Straßen und in den lokalen Betrieben der Stadt. Damit thematisiert sie den Social Divide zwischen Arm und Reich in Manhattan. Ein weiterer Punkt ist (2.) die Thematisierung der Sicherheitsbestimmungen nach 9/11. In ihrer Publikation verweist Harvey auf die aggressiven Reaktionen der Sicherheitskräfte auf Graffiti und marginalisierte Nutzer der Straße. Die Szene, in der sie beschreibt, wie sie von Polizisten überwältigt und niedergeschlagen wird, zeigt das harte Durchgreifen im öffentlichen Raum New Yorks. Auch Dulce Pinzón bemerkt in unserem Interview, wie aufwendig das Fotoshooting ihrer Serie war, sobald der öffentliche Raum tangiert wurde. Für die Umsetzung ihrer fotografischen Projekte muss sie sich zunächst durch das Verwaltungsdickicht der New Yorker Behörden durchkämpfen. Filmund Fotografieprojekten wird somit nach den Geschehnissen vom 11. September der Zugang zum urbanen Raum erschwert.

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Abbildungen 140-142: Die Skyline der Stadt bei Dulce Pinzón, Matthew Barney und Dan Graham

Quelle: Dulce Pinzón; Matthew Barney; Dan Graham

Als dritten und letzten Punkt möchte ich auf eine weitere gemeinsame Form der Repräsentation New Yorks eingehen, nämlich auf die (3.) Visualisierung der Stadt anhand der Skyline: So werden sowohl bei Grahams Installationsansicht und dem Dokumentationsvideo, bei Barneys Darstellung des ikonischen Chrysler Buildings und stellenweise auch bei Pinzón die Monumentalität der Stadt durch eine von der Straße enthobenen Perspektive auf die Skyline betont. Dies lässt sich mit der baulichen Struktur New Yorks erklären: Erst mit der Sicht von oben auf die jeweiligen künstlerischen Taktiken in seinem urbanen Umfeld wird der künstlerische Eingriff vollends deutlich und damit auch im Kontext der Weltmetropole verortet. Die Arbeit wird vor der Skyline der Stadt gerahmt.

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8.3 L EITMOTIVE

DES U RBANEN . V OM SYMBOLISCHEN K APITAL DER S TADT

Gemeinsam ist den hier diskutierten Ansätzen, dass Künstler ‚Stadt‘ als Teil ihrer biografischen Narrationen nutzen. Das bedeutet, dass sie in der Kontextualisierung ihrer Arbeiten häufig auf ihre eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen zurückgreifen. Dabei wird die individuelle Perspektive betont. Viele stellen sich als genuine Interpreten des städtischen Umfeldes dar und akzentuieren ihre subjektive Deutung städtischer Phänomene: „Often we are comforted by the thought that a place is ours that we belong to it, even come from it, and therefore are tied to it in some fundamental way. Such place are thought to reaffirm our sense of self reflecting back to us an unthreatening picture of grounded identity.“ (Kwon 2002: 163) Diesen Rekurs auf den individuellen Ortsbezug möchte ich als übergeordnete Logik der Biografisierung im Kunstbetrieb herausstellen. Obwohl Künstler und Kuratoren den Geniebegriff kritisieren und zunehmend poststrukturalistische Modelle favorisieren, bleibt eines doch immer wieder bestehen: die Betonung der individuellen und auf subjektiver Erfahrung basierenden Künstlerperspektive. Für diese Strategie der Authentizität künstlerischer Zugänge sind Städte eine wichtige Ressource. Das heißt, dass Künstler, indem sie die Stadt als biografische Folie für ihr Schaffen nutzen, sich über diese definieren. In ihren Narrationen und Texten stellen sie einen Bezug zu diesen Orten her und nutzen damit die Aura und Imaginationskraft der Metropolen für ihre Arbeit. Mit ihrem Wissen über das urbane Umfeld versuchen sie ungewöhnliche lokale Aspekte aufzuspüren, wie ich bereits anhand der Leitmotive Berlins und New Yorks in der Kunst gezeigt habe. Wichtig ist dabei jedoch, dass sich nicht jede Stadt für die künstlerische Auseinandersetzung und einer solchen Authentifizierungsstrategie eignet.

Die Reziprozität des symbolischen Kapitals – Imaginäre und reale Effekte Die zuvor genannte Strategie der Authentizität sowie die Praxis der metropolitanen Verortung verweisen auf das komplexe Wechselverhältnis zweier symbolischer Kapitalien: Dem Gewinn des Künstlers

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für die Stadt und umgekehrt. So schmücken sich lokale Journalisten, Politiker und Kunstbetriebsakteure gern mit den Namen international bekannter Kunstschaffender. Umgekehrt verorten Künstler sich bewusst in einer Metropole und werden mit spezifischen globalen Stadtimaginationen verknüpft. Biografien werden meist mit dem geläufigen Satz „lives and works in“ eingeleitet, der neben dem Geburtsort des Künstlers die wesentlichen Daten zu seiner Verortung beinhalten. Mittlerweile hat sich die standardisierte Darstellungsweise der Biografie auf wenige Metropolenlabels konzentriert. 87 Künstlern gilt es als attraktiv, einer oder mehrerer Städte zugeordnet zu werden. Insbesondere ein Pendeln zwischen östlicher und westlicher Hemisphäre verweist auf die Weltläufigkeit der Protagonisten und damit auf ihr transnationales Metropolenkapital. Die Reduzierung auf wenige nationale oder städtische „Labels“ zeigt: „Obgleich im Kunstbereich Diskurse über das ‚Nomadentum‘ oder von der ‚Hybridisierung von Kultur in der Globalisierung‘ kursieren, scheinen biographische Erfahrungen zu komplex, um in ihrer Prozesshaftigkeit dargestellt und wahrgenommen zu werden. Die verschiedenen Lebensstationen werden immer wieder unter das Geburtsland [oder den Wohnort] des Protagonisten subsumiert.“ (Nippe 2006: 99)

Beide Informationen dienen der schnellen Zuordnung des Künstlers. Doch geben jährliche Ausstellungsfrequenz und Stationen (neben vielen undokumentierten Reisen) nur unzureichende Hinweise auf die tatsächliche translokale Praxis der Produzenten. Reisen formen die milieuspezifischen Kontexte sowie die Wahrnehmung der Akteure (Dürrschmidt 1997). Es besteht daher ein Wechselverhältnis zwischen dem symbolischen Kapital der Kunst und der Stadt. Denn auch umgekehrt profitiert die Stadt vom Zuzug der Künstler. Dabei werden internationale Namen herausgestellt, um im globalen Kunstbetrieb die Beson-

87 Im Kunstband Art Now des Du Mont Verlags stellen sich mehr als ein Drittel der Künstler mit der Nennung zweier Städte vor, wie etwa BerlinLA oder New York-Bangkok etc. Dies verweist auf einen weiteren Punkt, nämlich das Zelebrieren translokaler Praxen. Interessanterweise tauchen vorwiegend Metropolen in den Selbstbeschreibungen dieser „100 wichtigsten zeitgenössischen Künstler“ auf, wie der Verlag behauptet. Kleine und mittelgroße Städte werden hingegen nur selten aufgeführt.

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derheit des eigenen Standortes zu betonen. In Berlin strahlen etwa Künstlerstars wie Olafur Eliasson, Monica Bonvincini, Tacita Dean, Mona Hatoum oder Damian Ortega über den lokalen Kontext hinweg. Während in Artikeln zu New York häufig Matthew Barney, Jeff Koons, Shirin Neshat, die Atlas Group oder Vertreter der Minimal Art genannt werden. Es entsteht ein spezifisches, durch Künstlerpersönlichkeiten unterfüttertes, symbolisches Kapital. Die Namen werden als Beleg für die Kunstmetropole zitiert, sie werden somit zur symbolischen Währung der Stadt. Darüber hinaus können bekannte Künstler ebenfalls reale Ortseffekte auslösen, etwa wenn sich neue Galeriestandorte bilden, wie nahe der Ateliers von Demand, Dean und Eliasson in Berlin. Manche Künstler kaufen sich frühzeitig Immobilien in vormals unterentwickelten Gebieten. Häufig bauen sie sich ihr zunächst baufälliges Eigentum aus und ziehen wiederum andere Kreative an, so dass sie mittlerweile in der Stadtforschung entweder kritisch als Second Gentrifier (Holm 2006, Tan 2008) oder idealisiert als Raumpioniere (Matthiesen 2005, Stadtentwicklungssenat 2007, Klaus Overmeyer 2004-2005) bezeichnet werden.88 Sie haben somit sehr reale Effekte auf die Bewertung und den Ausbau von Stadtquartieren. Mittlerweile wissen auch Immobilienentwickler von diesem symbolischen Kapital der Künstler, wenn etwa seit kurzem Architekten Künstler einbinden, um sammlungsadäquate Luxuslofts oder Repräsentationsbauten zu entwickeln. Prominentestes Beispiel ist der chinesische Künstler Ai Wei Wei, der Herzog & de Meuron bei der Entwicklung des Olympiastadions Birdnest in Beijing unterstützte. Cosima von Bonin, Sabine Hornig, Dan Graham oder Katharina Grosse sind weitere Künstler, die in diesem Kontext zu nennen sind und die dabei häufig als Übersetzer zwischen den unterschiedlichen Kontexten fungieren.

88 Während meiner Feldforschung in Berlin und New York traf ich unterschiedliche Künstler, die sich Eigentum in Gegenden erwarben, die kurz darauf eine Aufwertung erfuhren. Während John Beech und Xu Bing ihre Atelierhäuser in Williamsburg/Brooklyn kauften und ausbauten, finanziert die New Yorker Künstlerin Holly Zausner ihre Berliner Miete durch Einnahmen aus ihrem Loft in Chelsea. Fred Wilson kaufte sich ein Atelier in Brooklyn und eine Wohnung im East Village. Insbesondere in New York entscheidet der Erwerb von Eigentum über Bleiben oder Gehen der Künstler.

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Ort- und Stadtspezifik als symbolische Ressourcen Zeitgenössische Künstler haben in der Kontextualisierung ihrer Arbeiten bemerkt, welche symbolische Ressource die Auseinandersetzung mit Ort, Stadt und Bewegung für ihre Kunst besitzt. Die Themen und Ansätze sind (wie in anderen Bereichen der Kultur- und Wissensproduktion auch) ebenfalls durch Moden und Diskurse beeinflusst. Einen solchen Impuls bildet einerseits der Spatial Turn, der sich seit der Globalisierung mit Grundfragen zu Raum beschäftigt (Doherty 2004, Gupta/Ferguson 1997a, 1997b, Hanru 2002, Kwon 2002, Kaschuba 2004, Löw 2001, Massey 1994) und andererseits das aktuell hohe Interesse an städtischen Phänomenen (Abbas 1997, Binder 2001, Castells 1999, Harvey 1989 und 1995, Sassen 2000, Soja 1989, Zukin 1991). Diese beiden Diskurse bieten ein förmlich unbegrenztes TheorieSpektrum für künstlerische Arbeiten. Dabei spielen übergreifende Agenden und Fördergelder einen nicht unwesentlichen Effekt auf das Themensetting. Man kann hier von einem Trickle-Down-Effekt sprechen, der sich von EU-Töpfen und nationalen Fördergeldern89 über die einzelnen Institutionen und Kuratoren auf die Künstler auswirkt. Und schließlich spielen bei der aktuellen Vorliebe für Ort und Stadtraum auch die Biennalen eine nicht unwesentliche Rolle. Ob man nun nach Liverpool, Istanbul, Berlin oder Bukarest schaut, viele aktuelle Großausstellungen thematisieren mit ihren kuratorischen Schwerpunkten (mit dem gleichen Anspruch auf Individualität wie bei den Künstlern) Ortsbezogenheit, Stadtgeschichte, Architektur, Öffentlichen Raum, Globalisierung und postsozialistische Transformation. „The rhetoric of ‚place‘ has become the rallying cry for the curator of the international scattered-site exhibition or biennial. In 2004, the ‚international‘ component of the Liverpool Biennial professed to ‚address and empower place as having value‘, commissioning some 48 artists to produce new works for the city. That same year, Donostia-San Sebastian was conceived as ‚a privileged social site and catalytic trigger‘ for Manifesta 5, whilst this year the Gwanju Biennale purports to provide ‚an impetus to the city of Gwanju to be reborn as a geographical metaphor‘.“ (Doherty 2007: 101)

89 In Deutschland stellen hier insbesondere die Kulturstiftung des Bundes, der Kunstfonds, die Lotto Stiftung sowie das Außenministerium mit dem Goethe Institut die wichtigsten Finanzierungsquellen dar.

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Entstanden sei diese Dominanz des Ortes in der künstlerischen und kuratorischen Praxis durch die Herausbildung von drei Kommissionierungsmodellen, fasst Claire Doherty zusammen: 1.) durch die Zunahme von Stadt-Biennalen (wie Tyne International, Skulptur Projekte Münster sowie die Initiativen von Mary Jane Jacob in Charleston, Chicago und Atlanta), 2.) durch Recherchebasierter Projektprogramme (Locus, Casco, Artangel) und 3.) durch das Residency Modell mit der Konzentration auf Engagement, Prozess und Begegnung in Verbindung mit einem Stipendium vor Ort. Doherty kritisiert daran, dass diese dominanten institutionellen Formen zunehmend zu einem quasi-anthropologischen Ortsansatz führten. Mit den kuratorischen und künstlerischen Projekten werde eine Auseinandersetzung mit Ort und Kontext suggeriert, die aufgrund der Zeit- und Ressourcenknappheit nur oberflächlich ausfallen könne und häufig die Machtrelationen zwischen ortsansässigen Communities und Künstlern nicht reflektiere (siehe dazu ebenfalls Hal Fosters Kritik am Ethnographic Turn). Ferner basierten diese Modelle auf einem statischen Verständnis von Orten. Neuere Konzepte, wie etwa von Doreen Massey und David Harvey, so gibt Doherty zu bedenken, konzipierten den Ort hingegen als ein dynamisches Produkt sozialer Beziehungen. In der Kunst- und Kuratorenpraxis bleibe dies jedoch häufig noch unberücksichtigt. Auch Kwon greift dieses Ortsverständnis auf, das große Ähnlichkeiten zum anthropologischen Diskurs von Hannerz und Appadurai aufweist, wenn sie festhält: „It seems historically inevitable that we will leave behind the nostalgic notion of a site and identity as essentially bound to the physical actualities of a place. Such a notion, if not ideologically suspect, is at least out of sync with the prevalent description of contemporary life as a network of unanchored flows.“ (Kwon 2002: 164) So sei es nun Aufgabe der Kuratoren und Künstler diese dynamischen Konzepte aufzunehmen und eher prozessorientierte, ortsspezifische Strategien zu entwickeln. Ferner müssten die Rahmenbedingung der Ausstellung sowie die Formen der Produktion und Präsentation modelliert werden: „What may distinguish critically-acclaimed biennials from the more quasi-anthropological is their capacity to allow projects to emerge over time in different guises in dialogue with existing works and contexts.“ (Doherty 2007: 108) Biennalen bilden mit ihren Produktionsverfahren die Rahmenbedingungen für Kommissionierung und Präsentation von so genannten ortspezifischen Kunst-

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werken. Da sie jedoch meist unterfinanziert sind, müssen Künstler häufig in einer minimalen Entwicklungszeit ihre lokalen Recherchen betreiben. Im Hintergrund wirken dabei die Dispositive von globaler Eventkultur, Medialität und kuratorischem Distinktionsgewinn. Mit bizarren Effekten: Kwon geht so weit, zu behaupten, dass das Paradigma von Orts- oder Kontext-Spezifik diesen zunehmend essentialisiere. Die Authentizität von Werk und Künstler werde nun auf den Ort verschoben: „While site-specific art is still described as refuting originality and authenticity as intrinsic qualities of the art object or the artist, these qualities are readily relocated from the art work to the place […]“ (Kwon 2002: 53). Aktuelle kritische Fragen zu ortsspezifischer Kunst lauten somit nun: Wie erschließt sich der Künstler den Ort? Inwiefern bedarf es Hintergrundwissen, Sprachkenntnisse und sozialer Kontakte, um auf den lokalen Kontext einzugehen? Wie relational und prozessorientiert wird Site konzipiert und dargestellt? Und schließlich: Woran binden Künstler die Authentizität, an die eigene Person, das Objekt oder den Ort?

Die Proklamierung des Zeitalters der Städte Jenseits dieser Fragen ist heute eine zunehmende Auseinandersetzung mit ‚Stadt‘ oder ‚Metropole‘ zu bemerken. Dies führe ich auf die gesellschaftliche Diskussion um etwa die ‚neuen‘ asiatischen Megacities, Migrationswellen sowie Fragen zum europäischen Stadtmodell zurück. Insbesondere um das Millennium wurde über die Zukunft der Städte debattiert und von Wissenschaft und Politik das „Zeitalter der Städte“ ausgerufen.90 Mit dieser Ebene ist zunächst nur der politische Diskurs in Presse und Wissenschaft angesprochen. Weitere Einflussgrößen sind steigende Mobilitätsraten aufgrund der sinkenden Transportkosten und das Modell der Artist in Residencies. Diese werden aktiv von den Nationalstaaten finanziell gefördert und in spezifische Regionen geleitet, um die nationalen Künstler in den globalen Betrieb einzufüh-

90 Dies wurde vorrangig in Hinblick auf Wasser- und Raumknappheit, Bevölkerungswachstum und sozialem Wandel diskutiert.

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ren. 91 Ihre Aufenthalte in Kairo, Beijing, Delhi, Moskau oder New York münden nicht selten in der Auseinandersetzung mit dem dortigen fremden, urbanen Kontext.

Gemeinsame Stadtrepräsentationen und Wissenstransfer Als weiteren übergreifenden Punkt möchte ich neben der Biografisierung von Stadt ebenfalls die partielle Verwissenschaftlichung von Kunst anführen. Künstler, so wurde anhand der empirischen Fälle deutlich, eignen sich verstärkt Modelle und Theoreme aus der Wissenschaft an. Sie bedienen sich aus den Cultural Studies, der Stadtforschung, Geografie, Kunstgeschichte, Anthropologie, Philosophie oder Soziologie. So trifft man in der zeitgenössischen Kunst auf einen Mix an Epistemen. Dieses heterogene Wissensfeld umfasst in den von mir diskutierten Arbeiten ein breites, manchmal auch widersprüchliches Netz an Referenzen.92 Es ist augenscheinlich, dass heterogene Theoreme Eingang in den Kunstbetrieb erhalten. Die Interviews waren etwa mit Begriffen aus der Stadtforschung und der Kulturanthropologie gespickt. Manchmal fiel es angesichts dieser Nähe schwer, Unterschiede und Grenzziehungen zwischen Kunst und Wissenschaft auszumachen. Doch der Umgang mit vermeintlich identischen Begriffen bedeutet nicht zwingend ein übereinstimmendes Verständnis. Vielmehr wirken in den Feldern eigene Regeln: Während in der Wissenschaft die Episteme und Paradigmen offen gelegt, theoretische Vorgänger diskutiert und vorsichtig abgewogen werden müssen, ist im Kunstbetrieb ein collagehaftes Zitieren zu beobachten. Die Referenzen müssen kein ko-

91 Zur Rolle von Residency-Modellen der Schweizer Kulturpolitik verfasst Andrea Glauser gerade eine Dissertation. 92 So bezogen sich Dellbrügge und de Moll auf die Theoretiker De Certeau, Bourdieu und Foucault, um sich gleichzeitig jedoch von einem ethnografischen Ansatz zu distanzieren. Bei Dan Graham trafen so unterschiedliche theoretische Versatzstücke, wie das Spiegelstadium Lacan’scher Prägung mit Venturi-, Godard- und subkulturellen Zitaten aufeinander. Während Wiebke Loeper neben Roland Barthes Punctum auch Gaston Bachelards Poetik des Raumes zitierte.

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härentes Ganzes bilden, sondern sind Versatzstücke zwischen Dokumentation und Fiktion. Die Methoden sind dabei sehr vielfältig: „Everything had already been done; all that remained was for us to take fragments of what was to hand and combine and recombine them in ways that were meaningful. A postmodern culture was one, therefore, of quotation, and viewed the world as simulacrum. Quotation could appear in a number of guises – as copying, pastiche, ironic reference, imitation, duplication, and so on.“ (Michael Archer 2002: 143)

So entstehen im und um das Kunstwerk eine Collage aus Wissensformen, Materialien und Visualitäten. Die Wissenschaft ist dabei ein Feld von vielen, aus welchem sich die künstlerische Praxis bedient. Die einzelnen Begrifflichkeiten werden zu einer Ressource im Spiel der Aufmerksamkeiten. Je nach Aktualität entstehen somit spezifische Zitations-Wellen zwischen Wissenschaft und Kunst.93 Der urbane Diskurs gehört in den Neunzigerjahre zu einer der wichtigsten symbolischen Ressourcen im Kunstbetrieb.

Die Stadt schreibt sich ein Ich habe gezeigt, dass sich trotz der hohen Mobilität vieler Künstler lokale Topoi herausbilden. Gleichzeitig schreibt sich jenseits der Diskurse die Stadt mit ihrer Raumstruktur in die Arbeiten ein. Sie wirkt wie ein Aktant (Latour) auf das Werk und seine Darstellungsweisen (vgl. dazu auch Albertsen/Diken 2004). Das heißt, dass die gebaute Umwelt – im Falle New Yorks durch Vertikalität und Enge geprägt – die künstlerischen Repräsentationen der Stadt formt, da die Abbildung der Skyline oder die Vogelperspektive dominant sind. In Berlin überwiegen hingegen eher Nahaufnahmen auf Fassaden, Leerstellen sowie

93 Während in stadtbezogenen Arbeiten immer wieder gern auf die Situationistische Internationale zurückgegriffen wird, bilden insbesondere Theoretiker, die auch im wissenschaftlichen Feld eine „Hochphase“ erleben, auch im Kunstbetrieb eine zeitlich versetzte Zitationswelle. Dazu gehören Guattari/Deleuzes Plateau- und Rhizom-Theorem, Negri/Hardts EmpireBegriff, die Debatte um Postkolonialismus oder De Landas Ansatz zur Nichtlinearen Geschichte.

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die Darstellung des Ab- beziehungsweise Aufbaus der Stadt. Neben dem Topos des Abrisses war zu Beginn der Neunzigerjahre der Bauboom ein häufig gewähltes Thema. So wurde damals die Stadt mit ihrem ‚Himmel voller Kräne‘ abgebildet, wie etwa bei den Künstlern Christina Dimitriadis, Michael Wesely oder Frank Thiel. Auch Berlins Raumstruktur, die sich eher durch Leerstellen im Straßenbild, Brachflächen, breite Straßen und niedrige Bebauung auszeichnet, wird in den Arbeiten gespiegelt. Die zeitgenössische Kunst kann somit als Speicher einer spezifischen visuellen und baulichen Kultur ihrer Zeit gesehen werden. Der Zustand und die Materialität der Stadt formt dabei das künstlerische, urbane Repertoire mit.

8.4 Ü BERLEGUNGEN

ZUM V ERHÄLTNIS VON GELEBTEM UND KONZIPIERTEM R AUM

Alltag und Kunstproduktion, so zeigen meine empirischen Beispiele, stehen in einem Verhältnis zueinander. Man kann von verschiedenen Typen der Ko-Produktion sprechen, bei denen sich die Dimensionen von Lebensvollzug, Kunstwerk und Medium unterschiedlich stark überlagern. In der Praxis von Aladag, Loeper, Pinzón oder Harvey korrespondieren Alltagsnutzung und stadtbezogene Arbeiten miteinander. Die Künstlerinnen werden häufig durch Erfahrungen im Stadtraum inspiriert, ihre Recherchen zu vertiefen, um ihre ortsspezifischen Arbeiten darauf aufzubauen.94 Die Kunstwerke sind somit von einer alltagsorientierten Stadtperspektive geleitet, bei der die Kamera das eingesetzte Untersuchungsinstrument ist. Bei Schulz, Barney oder Graham formen hingegen eher die Medialitäten Video, Film und Architektur ihre Perspektive auf die Stadt. Schulz unternimmt eine Reise in die Filmgeschichte, um das Found Footage erst im zweiten Schritt mit ihrem Dokumentationsmaterial zu konfrontieren. Barney baut berühmte New Yorker Gebäude als effektvolle Bühnen in seine fiktionale Erzählung ein, während Graham seine eher universelle Pavillonarchitektur an das urbane Umfeld 94 Während Aladag auf ihrem Weg durch die Stadt die türkisch-deutschen Jugendlichen im Görlitzer Park traf, untersuchte Loeper ihren Wohnort Mitte nach Baustellenspuren, während Pinzóns Serie der Super-heroes durch ihre Arbeit bei der Gewerkschaft angeregt wurde.

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anpasst. Somit kann man in diesen Fällen eher von einer medienorientierten Stadtperspektive sprechen. Die unterschiedlichen medialen Praxen haben mannigfache Stadtinszenierungen zur Folge. Während bei Barney und Pinzón cinematografische Effekte dominieren, besitzen Loepers fotografische Serien, Dellbrügge/de Molls Videoporträts oder Harveys Fotografien einen eher dokumentarischen Charakter. Aladags montierte Filmszenen zu Voice Over ebenso wie Salas Long Sorrow bewegen sich hingegen in einem Zwischenraum, wenn sie poetische Elemente oder außergewöhnliche Kameraperspektiven mit einem dokumentarischen Duktus verbinden. Manche Künstler kombinieren Fotografie und Video auch mit direkten urbanen Eingriffen, wie etwa Dellbrügge/de Molls Arbeit zu x-Wohnungen auf den Dächern des Märkischen Viertels, Harveys Verschönerung des New Yorker Stadtraumes, Aladags Rebound oder Grahams Konstruktion für Chelsea. Sie greifen also zu einem spezifischen Zeitpunkt direkt in den Stadtraum ein. Dabei unterscheiden sich diese Raumtaktiken (De Certeau) anhand ihrer Dauer und Präsenz. Während Dellbrügge/de Moll einen temporären, performativen Akt auf den Dächern des Märkischen Viertels vollziehen, sind Harveys und Aladags Eingriffe weniger vergänglich. Einzig Grahams architektonische Installation auf dem Dach des Dias entspricht einer dauerhaften Intervention, solange die Kunstinstitution noch in Chelsea ansässig war. Übergreifend experimentieren viele Künstler mit unterschiedlichen Medien und Zeitlichkeiten. In einer Etappe, welche Rosalind Krauss als „post-medium condition“ bezeichnet, existieren in künstlerischen Praxen mehrere Medien parallel (Krauss 1998). Dennoch scheint die Präsenz von Fotografie und Video aufgrund der aktuellen, visuellen Kultur stetig zu steigen. Großflächige Video- und Filmprojektionen sowie die Netzkunst formen ein wirkmächtiges Bild der Stadt, wie es bereits die Fotografie Ende des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. Das Zusammenspiel beziehungsweise die Abgrenzung zwischen Kino- und Kunstfilm, Netart und Ubiquitious Computing wären eine interessante, weitergehende Forschungsperspektive für die Analyse der visuellen Kultur der Stadt.95

95 Siehe hierzu die Dissertation von Laura Frahm zu Filmrepräsentationen der Stadt.

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Zeit- und Raumprozesse bei der Ortsproduktion Meine Forschung zeigt, dass ein wichtiger Zusammenhang in der medialen Infrastruktur und der Alltagsorganisation besteht. Künstler, die mit Video arbeiten, besitzen ein relativ flexibles Medium. Großflächige Malereien, Holzschnitte und Installationen sind produktionsseitig auf große Räume angewiesen. Sowohl bei Malern als auch Holzschnittkünstlern nimmt die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Medium einen intensiven Arbeitsprozess ein. Viele halten ihre Ideen in Form von Fotografien oder Skizzen fest, um sie erst später im Atelier zu verarbeiten. Es besteht somit eine zeitliche Lücke zwischen erstem Dokumentieren und Finalisierung. Im Vergleich dazu enthalten Tiravanijas Installationen die direktesten Raumerfahrungen. Er kreiert sie im Reisen oder in kurzen, experimentellen Rechercheverfahren. Bei Filmkünstlern entscheidet die „Rohheit“ ihrer Ästhetik, inwiefern Bearbeitungszeit und Schnitt eine zunehmende Distanzierung oder Abkühlung herstellen können.96 So sind es eben auch diese Produktionsrhythmen der Medien, die nach Homi Bhaba eine unterschiedliche Zeitlichkeit – und meines Erachtens Örtlichkeit im Kunstwerk – herausbilden: „An interest in a slower art should not be seen as an obscurantist celebration of tradition or a revival of the past. By bringing our attention to the fact that the making of the image requires the intervention of a delayed or lagged temporality, […] artists disrupt the global reach of digital immediacy by introducing the issue of mediation: the diverse elements or processes – each carrying its own cultural and formal signature – that come together to give a work its visual presence and its yield of pleasure.“ (Bhaba 2006: 30)

Die Zeitlichkeit der Produktion, so möchte ich festhalten, ermöglicht unterschiedliche Stadien der Distanzierung. Hinzu kommt, dass sie ebenfalls die Rhythmen des In- und wieder De-Installierens bestim-

96 Insbesondere anhand von Barneys professionalisiertem Alltag wurde dabei deutlich, dass seine Filmproduktion nicht nur ein hohes Zeitkontingent, sondern ebenfalls eine Vielzahl von Assistenten benötigt. Je professioneller die Infrastruktur des Künstlers ausgebaut ist, desto mehr wird seine eigene alltägliche Stadtwahrnehmung durch die Mitwirkung von Mitarbeitern, Schnitt-Teams und der Galerie beeinflusst.

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men. Ein Faktor also, der in der Kulturanthropologie mit dem Begriff der sozialen Zeit aufs Engste an die Erschließung und das Verstehen von Orten gekoppelt ist. Hier knüpft schließlich auch mein letzter Punkt an, wenn man die unterschiedlich ausgeprägten Mobilitäten und translokalen Praxen im Verhältnis zur Stadt vergleicht. Manche Künstler suchen die intensive Interaktion mit lokalen Akteuren und arbeiten langfristig an stadtbezogenen Themenkomplexen (Dellbrügge/de Moll), andere bewegen sich mehrere Jahre seriell über die Stadt hinweg (Pinzón, Harvey), während letztere sich eher kurz und punktuell vor Ort aufhalten (Tiravanija, Sala). Angesichts dieser Differenzierung künstlerischer Ansätze zwischen den Polen Denkmal/Objekt, Intervention oder temporärer Interaktion lokalorientierter und nomadischer Ortsproduktionen werden neue Problematiken deutlich. Während die einen eher lokale Authentizität und territorial verankerte Identitäten betonen, zelebrieren die anderen das fortwährende Reisen durch unterschiedliche Stationen. Mit beiden Konzepten sind spezifische Mythen verbunden. Während erstere tendenziell den Ort essentialisieren, setzen zweitere auf die Authentizität des eigenen Nomadentums. Im Zuge dessen werden Qualitäten wie Permanenz, Kontinuität und Verortung ortsspezifischer Kunstwerke abgewertet, während Ambiguität, Instabilität und Temporalität aufgewertet werden (Kwon 2002: 160).

D Ausblick

9. Ausblick – Metropolen im Spiegel von Stadtanthropologie und Kunst

Unsere Reise durch die beiden Städte Berlin und New York, hinein in die Straßen und Ateliers, Institutionen und Marktlogiken, in die jeweiligen gelebten und konzipierten urbanen Räume der Künstler, hat uns vielfältige Einblicke vermittelt. Wir haben ihre wahrgenommenen, vorgestellten und realen Räume kennen gelernt, die sie in Arbeit und Alltag hervorbringen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass ihre Ansätze übergreifende Stadtnarrationen und -bilder produzieren sowie unterschiedliche mediale Zugänge zum Ort herstellen. In meinem Ausblick möchte ich den Versuch wagen, von einer übergeordneten Perspektive aus, die makrostrukturellen Entwicklungen Berlins und New Yorks sowie die Interrelationalität im globalen Städtenetzwerk zu erörtern. Wie stellen sich räumliche Dynamiken im globalisierten System dar?

9.1 D IE S TETIGKEIT DER H EGEMONIEN . K NOTENPUNKTE IM GLOBALISIERTEN K UNSTBETRIEB Bereits 1978 hat der britisch-pakistanische Künstler Rasheed Araeen die Frage nach den Zugangsbedingungen und Hegemonien im Kunstbetrieb aufgeworfen. Er beklagte, dass der so genannte Internationalismus in der Kunst eine okzidentale Erfindung sei und noch immer als scheinbar objektives Kriterium zur Bewertung von Kunst herangezogen werde. Noch in den Neunzigerjahren konstatierte er die begrenzten Ausdruckmöglichkeiten nicht-westlicher Künstler: „The obsession

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with cultural difference is now being institutionally legitimised through the construction of the ‚postcolonial other‘, who is allowed to express itself only so long as it speaks of its own otherness.“ (Araeen 1994: 10) Araeen berührt damit die Konflikte rund um die kulturellen Kämpfe von Multikulturalismus, Othering und Identität, die sich nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in den Künsten manifestierten. Wie steht es heute um die Zugangsbedingungen so genannter nichtwestlicher Künstler zum Zentrum des Betriebs? Der deutsche Kultursoziologe Ulf Wuggenig fasst die Dynamiken der letzten Jahre in seinem Artikel L’Empire, le Nord-Ouest et le reste du monde (2002) zusammen und konstatiert anhand seiner Auswertung des Top-100-Rankings vom Wirtschaftsmagazin Capital die Stetigkeit der Zentren im Kunstbetrieb. Mithilfe von Johann Galtungs Modell der vier Weltregionen (2000) differenziert er den Nordwesten (Nordamerika und Europa), den Nordosten (frühere Sowjetunion, östliches Europa, die Türkei, Pakistan und Iran), den Südwesten (Lateinamerika, karibische Inseln, das okzidentale Asien, Arabien, Afrika, Südasien und Indien) sowie den Südosten (Südostasien, das östliche Asien, die pazifischen Inseln, China und Japan). Demnach leben 20 Prozent der Weltbevölkerung im Norden, während 80 Prozent im Süden angesiedelt sind. Indem Wuggenig und seine Mitarbeiter die statistische Entwicklung der künstlerischen Zugangsbedingungen (basierend auf dem genannten Ranking) mit der ökonomischen Entwicklung dieser vier Weltregionen zwischen den Jahren 1970 und 2001 vergleichen, kommt er zu folgenden Ergebnissen: Bei den Zugangsbedingungen von Künstlern aus den drei Regionen jenseits des Nordwesten kann nur ein leichter Anstieg von 2 auf 4 Prozent zwischen den Jahren 1970 und 2001 beobachtet werden. Offenkundig ist an diesen Zahlen, dass Künstler aus dem östlichen Europa, aus Lateinamerika, Australien, Afrika und Asien weiterhin aus dem Zentrum des internationalen Kunstbetriebs weitestgehend ausgeschlossen sind.97 Während also die ‚kapitalistische Triade‘ (USA, Europäische Union und Japan) dreiviertel der ökonomischen Aktivitäten in den Neunzigern für sich sichern konnte (obgleich sie nur 15 Prozent der Weltbevölkerung stellt), wird das Ausmaß der Hegemonien im internationalen Kunstbetrieb also

97 „D’un point de vue statistique, il s’agit de processus d’inclusion marginaux, du moins en ce qui concerne le dynamisme au centre du champ artistique.“ (Wuggenig 2002: 7).

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noch verstärkt: Die USA und die Europäische Union konnten im zeitlichen Vergleich kontinuierlich 82 bis 95 Prozent des internationalen Zentrums bewahren. Trotz Globalisierung wird der Kunstbetrieb auch in den Neunzigerjahren von Europa und den USA dominiert. Nach Wuggenig erhalten die nicht-westlichen Künstler einzig über die Metropolen den nötigen Zugang zum Kunstbetrieb: „la majorité des artistes hommes et femmes ne provenant pas du Nord-ouest vivent/ vivaient et travaillent/travaillaient certes dans les métropoles artistiques de cette région et surtout à New York, mais aussi à Londres, Paris, Cologne et Berlin.“ (Wuggenig 2002: 7) Dabei fungieren neben den Städten die Biennalen jenseits des Nordwestens als Brückenköpfe für die regionalen Eliten und bestimmen die Möglichkeiten für den Einstieg in den amerikanisch-europäisch dominierten Kunstbetrieb.

9.2 Z UR R ELATIONALITÄT DER K UNSTMETROPOLEN IN DER G LOBALISIERUNG Wie Wuggenigs Studie zeigt, ist der globale Kunstbetrieb durchaus nicht grenzenlos. Städte sind wichtige Orte für den Zugang. In Europa und den USA spielen in die Zugangsbedingungen der Metropolen die Migrationsgesetze hinein. Im Vergleich von Berlin und New York bedeutet das: Für außereuropäische Künstler ist es nach dem Studium wesentlich einfacher in den USA ein Aufenthaltsrecht zu erhalten als in der Europäischen Union. Meine Interviewpartner aus China, Libanon, Pakistan und der Türkei konnten aufgrund des speziellen Visums für herausragende kreative Leistungen ihr J1-Studienvisum um ein längeres Aufenthaltsrecht in Amerika erweitern. Hier zeigt sich im Vergleich zur EU die Möglichkeit, durch eine flexiblere Einwanderungspolitik tatsächlich die ‚besten Köpfe‘ im Land zu halten und nicht nur im medialen Diskurs die Wichtigkeit der Kreativen zu propagieren. Sicherlich: die unterschiedliche Verfasstheit der Sozialsysteme in den beiden Ländern sollte nicht außer Acht gelassen werden. Denn während Deutschland im Vergleich zu den USA ein ausdifferenziertes und umfassendes Sozialsystem (wie die Künstlersozialkasse) anbieten kann, agieren Kunstschaffende in den USA oftmals ohne jegliche Absicherung. Weitere harte Faktoren für die städtischen Zugangsbedingungen sind die Mieten und Raumkapazitäten der jeweiligen Stadt. In Berlin

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ist die Situation noch immer entspannter, da Künstler nach wie vor in zentrumsnahen Gebieten ihre Atelierräume anmieten können. In New York müssen sie hingegen lange Wege in Kauf nehmen. Daneben beeinflussen ebenfalls die Ausbildungsgänge an amerikanischen EliteUniversitäten die Berufswege der Künstler. Absolventen stehen aufgrund ihrer Studienverschuldung und der schwierigen Mietbedingungen unter hohem ökonomischen Druck. Umso mehr sind ihre Professoren implizit dazu verpflichtet, ihre Absolventen durch Ausstellungen und ihre Netzwerke schnell an Galeristen zu vermitteln. Die hohen Studiengebühren für einen BFA oder MFA an einer privaten USUniversität rentieren sich schließlich nur solange, wie das symbolische Kapital eines solchen Zertifikats auch ökonomische Vorteile bietet. Man muss hier nicht betonen, dass die Zugänge zu Künstlerausbildungen an der Columbia University, an UCLA oder Yale von finanziellen Ressourcen abhängig sind. In Deutschland kann man keine so offensichtliche Hierarchie der Kunstakademien beobachten. Neben diesen durch wirtschaftliche, räumliche, ausbildungstechnische und gesetzliche Faktoren definierten Zugangsbedingungen der Städte sind die folgenden weichen Indikatoren für die Herausbildung von Metropolen relevant: In meinem Fazit habe ich gezeigt, wie ein Wechselverhältnis zwischen dem symbolischen Kapital der jeweiligen Stadt und ihren Künstlerpersönlichkeiten entsteht. Nimmt der Mythos oder die Imaginationskraft des Ortes weltweit zu, kann dies sehr reale Effekte auf den Zustrom von Produzenten, Galeristen und Kunsttouristen bedeuten. Umgekehrt wird die Attraktivität des Standortes durch den Ruhm der Protagonisten gesteigert.

Relationsverschiebungen im globalen Städtenetzwerk Im Folgenden werde ich mich auf wenige vergleichende Beobachtungen aus meiner Forschung konzentrieren, um die Verschiebungen und relationalen Konzentrationen im globalen Städtenetzwerk zu beleuchten. Denn die Herausbildung Berlins zu einem der relevanten Knotenpunkte der Kunst in Europa zieht in anderen Regionen ebenfalls Veränderungen nach sich. Dies zeigen die Mental Maps der New Yorker Kuratoren (sie sind insofern wichtig, da sie durch ihre Künstlerauswahl mitbestimmen, wer ausgestellt wird). So illustriert Chrissie Iles Auflistung ihrer Reisen, die sie im Zuge ihrer Recherche und Kuratur

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der Whitney Biennale for American Art 2006 aufsuchte, dass sie ausschließlich Städte wählte, und dass Berlin mit fünf Besuchen bei ihr die höchste Frequenz verzeichnet. Abbildung 143: Mobilität von Chrissie Iles zwischen 2005 und 2006

Quelle: Chrissie Iles

Anhand dieses Einzelfalls wird deutlich, dass sich – selbstverständlich vor dem Hintergrund von Iles Aufgabe, eine amerikanische Biennale zu kuratieren – eine Schwerpunktbildung auf die USA, Europa sowie nur ausschnittsweise Südamerika heraus kristallisiert. In ihrer persönlichen Mobilitätskarte für Juni 2005 bis 2006 zeigt sich eine Verdichtung auf London, Los Angeles (je vier) und Berlin (mit je fünf) Reisen. Sie notiert dazu, dass sie ihre Biennalen besuchte (in London kam die Kunstmesse Frieze hinzu). Etwas abgeschlagen von diesen drei Orten

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folgen die Städte Chicago, Paris, Köln, Zürich, Basel, Miami, Rom und Minneapolis 98 mit zwei Besuchen im Untersuchungszeitraum. Außer Basel und Miami, die sie aufgrund ihrer Messen aufsuchte, galt ihre Visite den Ausstellungen und Museen der Orte. Aus der Dominanz westeuropäischer und amerikanischer Städte fallen einzig Puerto Rico, Moskau, Vilnius, Mexiko, Tijuana und St. Petersburg heraus. Aus Iles’ Auflistung ergibt sich eine Kartierung, die durch die drei Knotenpunkte Berlin, Los Angeles und London dominiert wird. Zur mittleren Gruppe gehört interessanterweise Paris, das im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts den Status als Zentrum verlor. Obgleich diese Karte selbstverständlich nicht nur einen stark subjektiv, institutionell und zeitlich geprägten Ausschnitt wiedergibt und sie keinesfalls generalisiert werden kann, wird eines dabei doch deutlich: Auch bei einer extremen Mobilität, wie es hier im Zuge der Whitney Biennale ersichtlich wird, müssen Kuratoren aufgrund von zeitlichen und finanziellen Ressourcen eine Auswahl treffen. Mit dieser Wahl sind automatisch Verdichtungseffekte verbunden: Während einerseits ausschließlich Städte für die Recherche angesteuert und damit ländliche Regionen vollständig ausgeklammert werden, bedeutet andererseits die höhere Besuchsfrequenz von Berlin, Los Angeles und London automatisch auch eine Fokusverschiebung und möglicherweise auch Schwächung anderer Regionen. Wie in Doreen Masseys Beispiel, in welchem sie beschreibt, wie durch die Verdichtung des transatlantischen Flugnetzes der Fährverkehr in der Karibik reduziert wurde und damit eine von den Verkehrströmen ausgeklammerte Inselregion entstanden ist, müsste die Verdichtung im Kunstbetrieb einen vergleichbaren Effekt entfalten. Wenn wir Orte also in Anlehnung an Massey als sozial produziert und relational begreifen, entwickeln sich je nach Vernetzung in der globalen Power-Geometry entweder pulsierende Knoten oder periphere Regionen. Ferner verändert sich ebenfalls das Verhältnis der Städte zueinander. Während Berlin als interessante Produktionsmetropole in den Reigen der europäischen Zentren aufstieg, könnte dies möglicherweise für Paris einen partiellen Prestige-, Aufmerksamkeits- und Frequenzverlust bedeutet haben. So versuchte die französische Regierung durch aufwendig finanzierte Ausstellungsprogramme, wie kürzlich den staatlich initiierten Galerienaustausch zwischen Berlin und Paris oder der

98 Vermutlich aufgrund des Walker Art Museums.

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aufwendig kuratierten Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, dieser Tendenz entgegenzuwirken. Sobald eine Stadt diesen für Berlin beschriebenen kritischen Punkt erreicht hat, sie in der internationalen Berichterstattung sowie in der Netzwerkökonomie Kunstbetrieb verstärkt Aufmerksamkeit auf sich zieht, verstärkt sich die Sogwirkung weiter. Die Künstler einer solchen Stadt besitzen bessere Zugangsbedingungen zu Ausstellungen und Biennalen: 2007 kamen über die Hälfte der auf der Biennale in Venedig und der Documenta in Kassel vertretenen Künstlerinnen und Künstler aus Berlin (Hohmann/Ehlers 2005). Andere Städte müssen hingegen mithilfe eines erhöhten Aufwands an finanziellen Ressourcen, Kommunikations- und Austauschprojekten das verlorene Interesse kompensieren. Neben dieser Zentrumsbildung in Europa und den USA existieren in anderen Regionen gleichfalls Unterzentren und Peripherien, wie Trinth T. Minh-ha herausstellt. So kann man in den letzten Jahren eine Vernetzung asiatischer Großstädte mit Australien wie etwa zwischen der Gwanju-, Shanghai- und Sydney-Biennale beobachten. Auch die sich neu formierende Golfregion zeigt Bestrebungen, Messestandorte und Museen wie in Dubai mithilfe europäischer Partner zu etablieren. Außerdem brachte das Projekt East Art Map Fragen zur Formierung einer osteuropäischen Kunstgeschichte auf die Agenda. Die slowenische Künstlergruppe Irwin erarbeitete in Interviews sowie in einer von einer Jury begleiteten offenen Enzyklopädie eine Karte der divergenten osteuropäischen Kunstpraxen, um sie untereinander sowie im internationalen Rahmen vergleichen zu können (Irwin 2006). Sie setzte sich für dieses alternative Geschichtsprojekt ein, da: „der spezifische Unterschied zwischen West und Ost nicht verschwunden ist, sondern gerade durch die Einführung des Marktes weiterexistiert. […] Um es etwas anekdotisch zu formulieren: Wenn in den postsozialistischen Gesellschaften gerade alles und jedes privatisiert wird, dann ist es an der Zeit, sich klar zu machen, dass auch die Kunstgeschichte privatisiert wird.“ (Borut Vogelnik im Gespräch mit Hito Steyerl, in: Klingan/Kappert 2006: 533ff)

Wie es Irwin hier konstatiert, findet unter den jeweiligen lokalen Bedingungen der Transition eine Privatisierung nicht nur von ökonomischem, sondern ebenfalls kulturellem Kapital statt. Hinzu würden westliche Kuratoren eine Standardisierung östlicher Kunst vorantrei-

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ben, wenn sie etwa nach den Kriterien „minimalistisch, neue Medien und nicht exotisch“ vorgehen. Sie repräsentierten „den Osten“ mithilfe weniger Namen, um Exklusionsvorwürfen entgegenzuwirken (Miran Mohar im Gespräch mit Hito Steyerl, in: Klingan/Kappert 2006: 537). Die Effekte dieser nordwestlichen Hegemonien seien die Vereinheitlichung von Großregionen zum „Rest der Welt“. Deshalb sollten nach Gerardo Mosquera, die Logiken der Verdichtung und der Auslassung in einer axialen Globalisierung genaustens beachtet werden, um differierende Zugangsmöglichkeiten sichtbar zu machen: „Every time the word ‚globalisation‘ is mentioned, one tends to imagine a planet in which all points are interconnected in a reticular network. In fact, connections only happen inside a radial and hegemonic pattern around the centres of power, where the peripheral countries (most of the world) remain disconnected from one another, or are only connected indirectly via – and under the control of – the centres. […] This structure of axial globalisation and zones of silence is the basis of the economic, political and cultural network that shapes, at a macro level, the whole planet. [It] is a globalisation from and for the centres, with limited South-South connections.“ (Mosquera 1994: 133)

Wie in einer Schwarmformation nehmen spezifische Städte die Spitze ein, während andere sich einfach nur in den ‚Zug‘ eingliedern. Sie sind eher die passiven Mitglieder einer solchen Metropolenformation. Die Anderen strahlen vielmehr aktiv Dynamiken auf sie aus. Innerhalb Deutschlands lassen sich solche Sogwirkungen beispielsweise anhand des veränderten Kräfteverhältnisses von Köln und Berlin nach 1989 beobachten. Köln galt seit den 1960er Jahren in Westdeutschland als das Zentrum des Kunstbetriebs. Mittlerweile zieht es auch Kölner ‚Urgesteine‘ wie die Galeristen Daniel Buchholz, Jörg Johnen und Sprueth/Magers an die Spree. Nicht zuletzt macht sich diese Verschiebung und Zentralisierung auch in der Förderpolitik von privaten Stiftungen sowie dem Umzug vieler Künstler, Kuratoren und Journalisten nach Berlin bemerkbar. Aktuell haben es Institutionen jenseits der Hauptstadt deshalb deutlich schwerer, die gleiche Aufmerksamkeit für ihre Programme zu erhalten als zu Zeiten der alten Bundesrepublik. Somit bedeutet der Aufstieg einer Stadt die sukzessive Schwächung einer anderen. Während in Berlin ein Zuzug internationaler Künstler zu beobachten ist, beklagt Kopenhagen einen enormen Art Drain.

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Neben den ökonomischen und politischen Weichenstellungen muss auch die Akquise symbolischen Kapitals relational begriffen werden. Insbesondere in Zeiten der finanziellen und wirtschaftlichen Krise wird sich das exzessive Reisen für Ausstellungen, Biennalen oder Messen für viele im Kunstbetrieb stark verringern. Das heißt, dass auch die Städte mithilfe von gebündelten Veranstaltungs- und Ausstellungsprogrammen die Aufmerksamkeiten verteidigen müssen. Meine Forschung zur Relationalität im globalen Städtenetzwerk verdeutlicht, dass stadtbezogene Bilder und Imaginationen ebenso wie ihre realen Effekte nicht im ‚luftleeren Raum‘ entstehen. Zukunftsprognosen für Berlin und New York sind angesichts der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise dennoch schwierig. Es bleibt fraglich, wie lange die beiden Standorte die Faszination der Künstler und Vermittler halten können. Nicht zuletzt sind nämlich neben diesem Imaginationspotential der Metropolen die jeweiligen institutionellen und marktbestimmenden Strukturen wichtig. Wie sich diese angesichts der hohen Abhängigkeit des deutschen Feldes von staatlichen Fördergeldern sowie jenseits des Atlantiks von den Börsenentwicklungen erhalten lassen, wird eine der entscheidenden Fragen im Kunstbetrieb der nächsten zehn Jahre sein.

9.3 F ÜR

EINE K OMPLIZENSCHAFT VON UND E THNOGRAFIE

K UNST

Zu den Geistern, die die Orte heimsuchen, gehören auch, wenn auch nicht in vorderster Front, Ethnographien, die in die kumulative Mythographie der Stadt eingegangen sind. ROLF LINDNER

Mein Forschungsanliegen galt der Stadt als terra incognita, einem erst zu findenden und zu erfindenden Territorium, das nach drei Jahren intensiver Forschung vielfältige Bilder und Erzählungen hervorgebracht hat. Die Kunstwissenschaftlerin Irit Rogoff spricht von der Komplizenschaft, die Kuratoren und Kunsthistoriker eingehen, wenn sie sich mit der zeitgenössischen Kunst- und Kulturproduktion beschäftigen. Wie teilnehmende Beobachter nehmen sie Anteil am Geschehen, ma-

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chen es zu einem Teil von sich selbst und tragen somit zum Schmuggel von Ideen und Konzepten bei. Auch in meiner Forschung hat eine Komplizenschaft zwischen ethnografischer Forschung und der stadtbezogenen künstlerischen Produktion stattgefunden. Der vorliegende Text ‚schmuggelt‘ Ideen und Praxen aus der Kunst in die Wissenschaft und auch umgekehrt habe ich Begriffe und Perspektiven in Gesprächen und Ausstellungen eingebracht. Meine Ethnografie ist damit Teil der modernen Mythenproduktion der Städte, denn sie „ist durchtränkt von der ästhetischen Erfahrung, wie sie den Künstler ebenso auszeichnet wie den Ethnographen“ (Lindner 2004: 209). Doch inwieweit kann eine durch die Stadtanthropologie und Kunstwissenschaften geleitete Kritikalität (Rogoff), also eine gesteigerte und praktizierte Kritikfähigkeit, in Hinblick auf aktuelle Ortsund Stadtproduktionen entwickelt werden? Es reicht nicht aus, wie es Kwon in ihrem Schlusswort zusammenfasst, die ungleichzeitigen lokalen Bedingungen und Gegensätze zwischen einem Ding, einer Person, einem Ort, einem Gedanken oder einem Fragment nebeneinander zu thematisieren, sondern eher in ihrer gegenseitigen Auswirkung aufeinander interdisziplinär und multiperspektivisch zu verfolgen. Dies gelingt nur, wenn man einerseits die Wechselbeziehungen zwischen Orten, Lebenswelten und Medien in der Kunst- und Wissensproduktion sowie andererseits die Verwobenheit von Lokalitäten sichtbar macht. Das vorliegende Forschungsvorhaben hat dabei von Perspektiven der Ethnologie und der Kunstgeschichte profitiert. Während die Kultur- und Stadtanthropologie mit der Konzeption und Erschließung von Lokalitäten aus der Akteursperspektive vertraut ist, bringt die Kunstwissenschaft das spezifische Wissen um die Bilder mit. Beide Disziplinen können also auch in Zukunft in einen produktiven Austausch treten, ohne dass ‚quasi-anthropologische‘ oder ‚pseudo-ethnografische‘ Ansätze entstehen. Mir geht es dabei eher um eine gegenseitige kritische Diskussion und Rezeption in Hinblick auf relationale Ortskonzepte, Bild- und Textproduktionen. Denn ethnografische Studien und kunstwissenschaftliche Darstellungen bewegen sich bereits in ähnlichen Themensettings, nur ihre Herangehensweisen sind dabei unterschiedlich. Während die Ethnografie ihre Text- und Subjektreflexivität einbringt, bedeutet die visuelle Methodik und das historische Verständnis der Kunstwissenschaft eine Bereicherung für die Ethnologie. Schneider und Wright fordern die Anthropologen deshalb auf, ihre Iconophobia aufzugeben und in einen reflexiven Austausch mit der

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Kunstpraxis und -wissenschaft einzutreten: „Connections between the two disciplines have become more relevant and problematic, with the so-called ‚ethnographic turn‘ of contemporary art. This has involved, among other things, the adaption of a broad definition of ethnography, and the production of an increasing number of works that directly tackle some of the concerns of anthropology.“ (Schneider/Wright 2006: 3) Sie plädieren unter anderem für eine stärkere Einbeziehung visueller Praxen in die Anthropologie und die Entwicklung kooperativer Modelle zwischen Kunst und Ethnologie. Neben der Tendenz, die Anthropologie für künstlerische Methoden zu öffnen, ruft eine andere Fraktion der ethnologischen Debatte dazu auf, die politischen Implikationen ethnografischer Repräsentationen zu fokussieren und dabei die Wirkung von Bildern stärker zu berücksichtigen. Unter dem Stichwort des Pictoral (William J. T. Mitchell) oder Iconic Turn (Gottfried Boehm) entspannt sich eine Debatte um eine kritische Bildwissenschaft, die die Rolle von bildgebenden Verfahren in der ethnologischen Repräsentation auf den Grund gehen möchte. Nach Wolfgang Kaschuba gilt es nicht nur in Hinblick auf die Texte, sondern ebenfalls in Bezug auf die Bilder die gleiche Kritikalität zu entwickeln: „Wir machen uns damit Bilder von den ‚Bildern der Anderen‘, und das ist nicht falsch, aber ein mindestens ebenso kompliziertes Geschäft wie die Textproduktion.“ (Kaschuba 1999: 245) Danach sollten die Ethnologen das visuelle Othering ebenso wie die hegemonialen Bildkonzepte der Gegenwart unter die Lupe nehmen. Meine Forschung ist von diesen Debatten inspiriert und hat empirisch erprobt, wie sich solch ein Dialog zwischen den Disziplinen herstellen lässt. Es wäre schön, wenn mein Ansatz trotz der unvermeidbaren Teilhabe an metropolitanen Mythenbildungen weitere kollaborative Projekte zwischen Ethnologie und Kunstwissenschaften anstößt. Denn insbesondere in der aktuellen gesellschaftlichen Umbruchsituation warten vielfältige Prozesse darauf, gemeinsam kritisch erfasst, erforscht und diskutiert zu werden. Die Zeiten der Zentralperspektive gehören dabei nicht nur wissenschaftlich, sondern ebenfalls ökonomisch und kulturell zu einem überholten euro-amerikanischen Modell, das sukzessive durch eine multipolare Welt- und Wissensordnung abgelöst wird. Dazu gehört eine vergleichende Forschung in Richtung kultureller und künstlerischer Produktionen in Städten wie Beijing, Istanbul, Johannesburg, Moskau, Neu Delhi und Sao Paulo inklusive

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ihrer Verbindungen und Abhängigkeiten in einem relationalen Raumgefüge. Denn obgleich sich die Hegemonien im Kunstbetrieb nach wie vor auf den Nordwesten konzentrieren, sind die oben genannten Regionen in ihren Entwicklungen nicht zu unterschätzen. Die Produktion von Städten samt ihrer relationalen Lokalität in der Kunst zu analysieren, wird nur in einer Komplizenschaft zwischen Ethnologie, Kunstpraxis und -wissenschaft gelingen. Diese gilt es fortzusetzen.

10. Danksagung

Zunächst gilt mein Dank den Hauptprotagonisten meines Vorhabens. Einen großen Dank also an Nevin Aladag, Matthew Barney, Jan Brokof, Christiane Dellbrügge/Ralf de Moll, Dan Graham, Ellen Harvey, Wiebke Loeper, Dulce Pinzón, Anri Sala, Christine Schulz und Rirkrit Tiravanija. Ohne die Bereitschaft für zahlreiche Gespräche und Fragen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Desweiteren möchte ich den Künstlerinnen und Künstlern danken, die über ihre Wahrnehmung und Einschätzung der jeweiligen Stadt erzählten. Für Berlin danke ich: John Bock, Arturo Herrera, Elín Jakobsdottir, Folke Köbberling/Martin Kaltwasser, Daniel Knorr, Frank Nitsche, Christine Petit, Tino Sehgal und Holly Zausner. In Bezug auf New York möchte ich Rina Banerjee, John Beech, Andrea Blum, Luis Camnitzer, Ik Joong Kang, Kristy Lynn, Walid Raad, Shazia Sikander, Fred Wilson, Xu Bing und Pinar Yolacan danken. Außerdem bin ich natürlich den Galeristen und Kuratoren verbunden, die mir ebenfalls ihre Zeit opferten. Hier gilt mein besonderer Dank Christian Ehrentraut, Fereshteh Daftari, Marian Goodman, Nicole Hackert, Gabriele Horn, Chrissie Iles, Dr. Joachim Jäger, Sebastian Klemm, Brett Littman, Birgit Ostermeier, Christian Rattemeyer, Lowery Sims und den Initiatoren des Skulpturenpark Berlin_Zentrum (Matthias Einhoff, Philip Horst, Harry Sachs und Daniel Seiple). Diese Dissertation würde nicht in dieser Form vorliegen, wenn ich nicht auf die Hilfe von vielen Gesprächspartnern und fleißigen Korrekturlesern hätte vertrauen können. In erster Linie möchte ich meinem Freund Christian Junge danken. Er hat mich trotz seines eigenen Promotionsvorhabens immer tatkräftig unterstützt. Ich bin mir sicher, wenn beide geschafft sind, kann uns nichts mehr so schnell umhauen.

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Außerdem vielen Dank an meine beiden Cheflektoren, meinen Eltern, Suzanne und Karsten Nippe. Svenja Ganschow großen Dank für die Formatierung und das Schlusslektorat der Arbeit sowie meiner Schwester, Catherine Nippe, außerordentlichen Dank für die Covergestaltung. Meinen Freundinnen, die alle tapfer Korrektur gelesen haben: Carina Herring, Ilka Lorenzen, Annkatrin Kirschner und Franziska Sauerbrey und meiner Doktorandengruppe: Jens Adam, Anika Kainz, Maria Kudriav, Cornelia Kühn, Kerstin Poehls und Asta Vonderau. Danken möchte ich ebenfalls ausdrücklich meiner Stiftung, dem Evangelischen Studienwerk Villigst e.V., ohne die finanzielle Unterstützung wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen. Ich schätze sehr, dass die Stiftung in Zeiten der Standardisierung von Promotionswegen ein so ungewöhnliches Vorhaben gefördert und mir dabei ermöglicht hat, in New York einen Forschungsaufenthalt zu finanzieren. Die Liberalität und Offenheit (unter anderem auch für meine Beurlaubung während der 5. berlin biennale) möchte ich hier lobend erwähnen. Stellvertretend für das gesamte Studienwerk gilt mein Dank Eberhard Müller und Heidelore Lahmann-Braun für die Unterstützung. Mein Dank geht ebenfalls an Prof. Dr. Volker R. Berghahn, Prof. Dr. Berry Bergdoll, Prof. Dr. Francesca Ferguson und Dr. Petrus von Schaersberg von der Columbia University New York. Dank Ihrer Hilfe habe ich mich am Department of Art History and Archaeology sehr wohl gefühlt, gerade weil mir der Zugang so leicht gemacht wurde und ich in den Doktorandenkreis von Herrn Berghahn aufgenommen wurde. Meinen internationalen Kolleginnen, die ich während dieses Aufenthaltes traf, Andrea Glauser, Claire Lin und Wiebeke Openheim möchte ich für den Spaß sowie den anregenden Gedankenaustausch danken. Catherine Bindman, Catherine Fraixe, Jen Hutton, Mariani Lefas-Tenes, Eleanor Morack, Birgit Rathsmann und Britta von Campenhausen ebenso wie meinen Kollegen vom Queens Museum of Art, Tom Finkelpearl, Hitomi Iwasaki und Valerie Smith, haben mir bei der Künstlerrecherche sehr geholfen. Außerdem möchte ich dem Transatlantischen Graduiertenzentrum for Metropolitan Studies Berlin – New York dafür danken, dass sie mich als Assoziiertes Mitglied und darüber hinaus für die Diskussionen, Tagungen und Konferenzen aufnahmen. Hier gilt mein Dank insbesondere Prof. Dr. Heinz Reif und Katja Sussner sowie Melanie Fasche, Laura Frahm und Doreen Jakob für die intensiven Gespräche.

D ANKSAGUNG

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Meinen Kolleginnen aus dem Kunstbetrieb, die mir zahlreiche Anregungen gaben und in mancher Projektarbeit angesichts der Doktorarbeit ‚ein Auge zudrückten‘, Kristina Ehle, Kathrin Jentjens und Anja Nathan-Dorn, Kirsten Lloyd, Annette Maechtel, Katia Reich, Angela Rosenberg, und Stephanie von Spreter möchte ich ebenfalls herzlich danken. Sie haben mich motiviert, dieses Vorhaben bis zum Schluss zu verfolgen. Doch ganz besonders möchte ich mich für die intensive Betreuung durch Wolfgang Kaschuba, Beate Binder und Beatrice von Bismarck bedanken. Ohne die vielen Gespräche und den Ideenaustausch wäre der Abschluss solch eines interdisziplinären Großprojektes schwierig gewesen. Sie haben mich immer wieder motiviert, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und auf das Gelingen zu vertrauen.

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Kirsten Einfeldt Moderne Kunst in Mexiko Raum, Material und nationale Identität 2010, 462 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1503-6

Matilda Felix Nadelstiche Sticken in der Kunst der Gegenwart

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Jürgen Stöhr Auch Theorien haben ihre Schicksale Max Imdahl – Paul de Man – Beat Wyss. Eine Einfühlung in die Kunstgeschichtsschreibung der Moderne 2010, 338 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1403-9

Lilli Weissweiler Futuristen auf Europa-Tournee Zur Vorgeschichte, Konzeption und Rezeption der Ausstellungen futuristischer Malerei (1911-1913) 2009, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1205-9

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