Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst: Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen 9783050049915, 9783050042305

Konkurrenz ist allgegenwärtig, auch in der Kunst. Die verschiedenen Spielarten von Konkurrenz, vom freundschaftlichen Kr

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German Pages 291 [292] Year 2006

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Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst: Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen
 9783050049915, 9783050042305

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Renate Prochno Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst

Renate Prochno

Konkurrenz und ihre Gesichter in der Kunst Wettbewerb, Kreativität und ihre Wirkungen

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, der Paris-LodronUniversität Salzburg, und der Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg

ISBN-13: 978-3-05-004230-5 ISBN-10: 3-05-004230-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Einbandgestaltung: Dorén & Köster Satz: Werksatz Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Druckerei zu Altenburg Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Dank

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VII

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Die Konkurrenz mit der Antike: Künstleranekdoten, die (Kunst-)Geschichte machten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die stilisierte Konkurrenz nach der Antike: Die Ausschreibung für die Baptisteriumstüren in Florenz 1401 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Konkurrenz als Dialog: Robert Campin und Jan van Eyck . . . . . . . . . . . . . .

43

Die friedliche Konkurrenz um Innovationen: Giovanni Bellini und Andrea Mantegna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Die Konkurrenz der Gattungen: Die Paragone-Diskussion in Italien . . . . . . . .

97

Die aufgezwungene Konkurrenz: Leonardo und Michelangelo

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Die einseitige Konkurrenz: Antonis van Dyck und Peter Paul Rubens

113

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127

Konkurrenz als Verdrängung: Antonis van Dyck in England . . . . . . . . . . . . .

155

Die inszenierte Konkurrenz: Die Salons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Die erfundene Konkurrenz: Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough . . . . .

187

Konkurrenz und Nationalstolz: Sterbende Helden in England . . . . . . . . . . . .

221

Konkurrenz und gegenseitiges Lernen: Édouard Manet, Claude Monet und Auguste Renoir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Das Verhindern von Konkurrenz: Zünfte im späten Mittelalter

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265

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Personenregister

Dank

Während der Entstehung des Buchs haben im Laufe der Jahre Freunde, Kolleginnen und Kollegen wertvolle Hinweise, Ratschläge und Unterstützung in vielerlei Form gegeben. Ihnen allen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken, vor allem Johannes Helmrath, Eije Erich Pabst, Konrad Renger, Astrit Schmidt-Burkhardt, Gerrit Walczak für die kritische Lektüre einiger Kapitel, sowie Manfred Hollegger für die Korrektur der Endfassung. Gerd Giesler danke ich für seine stete Hilfestellung und die Drucklegung. Die Anfänge des Buchs reichen bis 1987/88 zurück, als die John Paul Getty Foundation ein Fellowship an der Johns Hopkins University in Baltimore für Forschungen zu „Competition as a Creative Principle in Art“ gewährte. Die Ergebnisse dieses Jahres wurden an anderer Stelle publiziert, sind aber in überarbeiteter und erweiterter Form in die Kapitel über englische Malerei eingeflossen. Die Paris Lodron-Universität Salzburg ermöglichte durch ein Forschungssemester im Sommer 2004 einige Monate intensiver Arbeit, und ihre Stiftungs- und Förderungsgesellschaft finanzierte ein Semester lang eine wissenschaftliche Hilfskraft. Romana Filzmoser und Petra Kronberger leisteten bei der Literaturrecherche und -beschaffung wahre Detektivarbeit. Den Studierenden in München und Salzburg, die ein Seminar bzw. Vorlesung zum Thema des Buchs besucht haben, verdanke ich weitere Anregungen, und in der Arbeitsgruppe „Metamorphosen“ konnte ich Teile einzelner Kapitel zur Diskussion stellen. Christian Sauer danke ich für die Erstellung des Registers. Die Drucklegung konnte erst aufgrund finanzieller Unterstützung erfolgen. Deshalb danke ich auch der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, der Paris Lodron-Universität Salzburg und ihrer Stiftungs- und Förderungsgesellschaft für ihre Großzügigkeit. Zahlreiche Museen haben bereitwillig Druckvorlagen ihrer Kunstwerke zur Verfügung gestellt und auf Reproduktionsgebühren verzichtet. Auch ihnen gilt mein Dank.

Einführung

Obwohl das Phänomen der Konkurrenz in der Kunst weit verbreitet ist, wird es in der Kunstgeschichte nicht als ein solches Wirkprinzip wahrgenommen. Einzelfälle werden erkannt, aber Konkurrenzen als wirksame Kraft mit mannigfaltiger Wirkung auf Kunst und Künstler sind ein weitgehend unbearbeitetes Feld. Für Wettkampf, für Konkurrenz ist kennzeichnend, daß es um Überlegenheit geht, darum, jemand anderen zu überflügeln, was den Gewinn von Ansehen und Ruhm, und in ihrem Gefolge manchmal auch von Geld nach sich zieht. Es kann um das Durchsetzen eines Prinzips gehen, oder vielleicht auch um die Befriedigung, die eigene Leistung überboten zu haben; es geht um Erfolg und manchmal um Triumph.

Das Spektrum von Konkurrenz Das Spektrum der Konkurrenzformen ist breit – so breit, daß dieses Buch nur eine Auswahl präsentieren kann, da sich der Bogen von der direkten Konkurrenz bis zur von der Kunstgeschichtsschreibung erfundenen spannt. Um direkte Konkurrenzen handelt es sich z. B. bei Künstlerwettbewerben. Daß der berühmte Florentiner Wettbewerb um den Auftrag für die Baptisteriumstüren im Nachhinein stark stilisiert wurde, verdoppelte diese Konkurrenz in dem Sinn, daß die Wettbewerber nicht nur miteinander konkurrierten, sondern auch versuchten, antiker als ihre antiken Vorbilder zu sein. Die Antike lieferte aber nicht nur das Paradigma für diese Art von Wettbewerb aufgrund einer Ausschreibung, sondern auch für zahlreiche Bildthemen. Die überlieferten Anekdoten wurden als Inbegriff antiker Kunst sowie Kunstauffassung und -rezeption zum Vorbild, das durch immer neue Belebung als Konkurrenz mit Vorbildern in der Vergangenheit Kunstgeschichte schrieb. Einen anderen Fall von Konkurrenz stellt das friedliche Ringen um Innovationen dar, in dessen Verlauf Robert Campin und Jan van Eyck neue Bildformen und -motive erfanden und die Möglichkeiten und Grenzen von Malerei ausloteten. Giovanni Bellini und Andrea Mantegna ließen sich auf ein gemeinsames künstlerisches Wagnis ein, als sie ebenfalls mit neuen Formen experimentierten und einen regelrechten gemalten Dialog führten. Eine Variante einer solchen friedlichen Spielart von Konkurrenz ist die freundschaftliche Konkurrenz als gegenseitiges Lernen und Lehren, wie sie Claude Monet, Auguste Renoir und Édouard Manet am Ende des 19. Jahrhunderts lebten.

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Einführung

Auch Konkurrenzen zwischen Kunstgattungen bzw. Kunsttheorien gab es – eine theoretische Konkurrenzform, die letztlich keine Sieger und keine Besiegten kannte, von der aber beide Gattungen profitierten. In eine von den Auftraggebern erzwungene Konkurrenz, die die Rivalität zwischen Künstlern vielleicht erst initiierte, auf jeden Fall aber erheblich anheizte, gerieten Leonardo und Michelangelo, als sie den prestigeträchtigen Auftrag für die Ausmalung des Florentiner Ratsaales erhielten. Sie steigerte sich jedoch nicht bis zur Konkurrenz als existientiellem Verdrängungswettkampf, wie ihn beispielsweise Antonis van Dyck in England führte, als er seine dortigen Konkurrenten aus dem Feld schlug. Die einseitige Konkurrenz, die nur im Kopfe eines der Kontrahenten besteht, wie z. B. das Anlaufen eines Jüngeren gegen eines Älteren, wird anhand von Antonis van Dyck und Peter Paul Rubens exemplifiziert. Als eine Variante der einseitigen Konkurrenz ist die Hommage zu nennen, bei der sich der Ehrende seinem Vorbild als gleichwertig erweisen will.1 Das funktioniert in der erwünschten Weise allerdings nur, wenn zumindest annähernde Gleichwertigkeit gegeben ist, denn Lob von unten wirkt eher peinlich. Den Gegenpol bildet die Parodie, die den Kontrahenten der Lächerlichkeit preisgeben will. Aber selbst der Parodie sind noch Züge der Hommage eigen, denn dem Parodisten winkt nur dann der Ruhm der Überlegenheit, wenn der Parodierte ein ernstzunehmender Gegner ist, weil sich der Erfolg an dessen Größe mißt. Die Stilmittel des Parodisten sind dieselben wie die des Parodierten (in der Dichtung z. B. gleiches Versmaß und Reimschema), doch übertrifft der Parodist sein Vorbild im Witz. Ähnlich funktioniert die Karikatur, übertreibt sie doch die charakteristischen Züge des Vorbildes vollends ins Lächerliche. Dabei steigert es den Ruhm bzw. macht die Niederlage noch schmählicher, wenn Publikum vorhanden ist. Kann man sich des Sieges rühmen und erhält Beifall, ist der Sieg doppelt so viel wert. Umgekehrt ist die Niederlage umso schlimmer, wenn sie vor Zeugen hingenommen werden muß und zum Schaden womöglich auch noch der Spott kommt. Diese Form von Konkurrenz spielt bei vielen Varianten mit. Auch für die inszenierte Konkurrenz gibt es Beispiele: Kunstausstellungen wie z. B. der französische Salon setzten die Teilnehmer dem direkten Vergleich aus. Diese Situation provozierte nicht nur Konkurrenz unter den Künstlern, sondern auch Konkurrenz um das Kunsturteil, um die vielbeschworene Deutungshoheit: Wer entscheidet über Qualität, Originalität, künstlerischen Wert? In welcher Weise wird entschieden? Wer sind diejenigen, die ein Urteil fällen und es auch durchsetzen, evtl. gegen abweichende Meinungen, und mit welchen Strategien? Hier ging es recht bald nicht nur um Geschmacks-, sondern auch um Machtfragen. Es waren aber nicht nur Individuen in Gestalt von Vertretern von Institutionen, Auftraggebern oder Kritikern, die eine Konkurrenz initiierten, sondern auch politische Strömungen konnten dazu führen. So entstanden z. B. in England auf dem Hintergrund von Nationalstolz – in der Konkurrenzsituation des Krieges zwischen dem Mutterland und den ehemaligen Kolonien, den neugegründeten Vereinigten Staaten von Amerika – einige Bilder, die den Heldentod für das Vaterland verherrlichten, wodurch Vertreter der einen Nation die der anderen an Patriotismus zu übertrumpfen suchten. Zugleich liefert der Blick auf die

1 Hierzu: Hattendorf, Claudia: Künstlerhommage. Ein Bildtypus im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1998.

Einführung

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englische Malerei auch ein prägnantes Beispiel dafür, daß die Kunstgeschichte auch Konkurrenzen bloß erfunden hat: die angebliche Rivalität zwischen Joshua Reynolds und Thomas Gainsborough ist ein solcher Fall.2 Endlich gehört auch das Unterbinden von Konkurrenz durch Zünfte oder Kartelle und Monopole zum Thema. Maßgeblich war dafür ein außerkünstlerischer Gesichtspunkt, nämlich die Garantie der Zunft auf gleiches Einkommen für alle ihre Mitglieder. Die Zunftpolitik hatte auch eine gleiche Qualität der Kunstwerke zur Folge, so daß das wirtschaftliche Sicherheitsdenken die Oberhand über künstlerische Interessen gewann. Das Verweigern von Konkurrenz seitens eines individuellen Künstlers ist sozusagen das freiwillige Unterbinden von Konkurrenz. So sperrte sich etwa Giovanni Bellini hartnäckig, für das Studiolo der Isabella d’Este ein schon zugesagtes Bild zu malen, denn er wollte sich weder dem Diktat der Auftraggeberin beugen noch sich dem Vergleich mit seinem Schwager Mantegna stellen 3 – offenbar hatte ihm der Konkurrenzkampf in jungen Jahren gereicht. Schließlich ist noch die Konkurrenz mit der eigenen Produktion zu erwähnen. Dabei wird bereits früher Erreichtes zum Maßstab, den man je nach Leistungsfähigkeit und -willen anlegt: entweder will man früher Geschaffenes zumindest wieder erreichen, oder man versucht, sich selbst zu übertreffen. Wie bei der Konkurrenz mit jemand anderem ist auch hier der Vergleich der springende Punkt. Der Blick auf die bisherigen Standards und angestrebten Ziele – gleichgültig ob vorgegeben oder selber gesetzt – kann motivierend wirken, wenn diese auf den eigenen Leistungswillen hin abgestimmt werden, denn Ziele müssen erreichbar erscheinen, klar umrissen werden, und der Erfolg in irgendeiner Weise meßbar sein.4 Alle genannten Formen von Konkurrenz werden jeweils anhand eines Beispiels dargestellt. Sie sind chronologisch geordnet, was aber nicht heißt, daß das betreffende Muster von Konkurrenz für die jeweilige Epoche immer typisch wäre, existieren doch vielmehr gleichzeitig mehrere Formen nebeneinander. Da es sich um Konkurrenz in der Kunst handelt, betreffen sie vor allem Künstler, d. h. Individuen. Die Konkurrenz zwischen Gruppen wird am Beispiel einiger Impressionisten und anhand der Zünfte behandelt. Wie sich Gruppen als eigene Entität definieren und gegenüber anderen Gruppen abgrenzen, also eine soziale Identität entwickeln, wäre ein weiterer Aspekt.5 Er ließe sich anhand von Organisationen wie z. B. Künstlervereinigungen oder anderer Institutionen bearbeiten und wird anhand der französischen Salonausstellungen angeschnitten.6

2 Auch die Musikgeschichte kennt solche Fälle: Angermüller, Rudolph: „Erstaunliche Cabalen unter sich“. Mozart und Salieri – Konkurrenten?, in: Kunstforum 173, Nov./Dez. 2004, S. 140–149. 3 Goffen, Rona: Giovanni Bellini, New Haven/London 1989, S. 238 und Documents 30–51. 4 Zielsetzungstheorie von Locke: das sog. SVEM-Prinzip: spezifische, vereinbarte, erreichbare und meßbare Ziele. 5 Zur Theorie der sozialen Identität siehe z. B. Tajfel, Henri: Gruppenkonflikt und Vorurteil. Entstehung und Funktion sozialer Stereotypen, Bern/Stuttgart/Wien 1982 (zuerst als: Human Groups and Social Categories. Studies in Social Psychology, Cambridge University Press 1981). 6 Als Beispiel seien Wallfahrtsorte genannt: Angesichts der seit dem 11. und 12. Jahrhundert zunehmenden Zahl von Kirchen, die bedeutende Reliquien besaßen, kam es zu handfesten Konkurrenzen um Pilgerbesuche und, damit verbunden, um finanzielle Einnahmen. Mirakel waren ein geeignetes Mittel, um beides anzuziehen. Mirakelberichte kündeten z. B. von der Heilkraft der ortsansässigen Heiligen. Im Laufe der Zeit bildeten sich sogar Spezialisten für bestimmte Krankheiten heraus; man

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Einführung

Weitere Formen von Konkurrenz hätten den Rahmen dieses Buchs gesprengt und können daher nur hier kurz angerissen werden, wie etwa der Wettstreit der Gattungen Malerei und Dichtkunst, ut pictura poesis,7 wobei nicht nur die Traktate, sondern auch die Bilder berücksichtigt werden müssten, wie z. B. Dichterinnen als Laura, die sich im Gemälde feiern ließen.8 Auch dies war ein Wettstreit der Gattungen, in dem es um die Aufwertung des Status’ der Malerei von einer der artes mechanicae zu einer der artes liberales ging, gleichwertig mit Dichtung, Musik und Wissenschaften: die Malerei als geistige Arbeit und Vermittlerin von „Wahrheit“. Ein weiterer Fall wäre die Konkurrenz der Geschlechter, z. B. anhand von Künstlerpaaren, für die es zahlreiche Beispiele gibt. Das Urbild sind Polytechnos und seine Gattin Aëdon. Sie rühmten sich, daß ihre Liebe größer sei als die zwischen Zeus und Hera. Das Götterpaar ließ sich jedoch nicht übertreffen – auch ein Fall von Konkurrenz, diesmal zwischen Paar und Paar –, und Hera schickte ihnen Eris, den Wetteifer. Damit zog das Unheil ein: das Menschenpaar machte aus seinen friedlichen Arbeiten (er an einem Wagen, sie an einem kunstvollen Gewebe) einen Wettkampf. Wer eher fertig würde, sollte vom anderen eine Sklavin geschenkt bekommen. Polytechnos war ein schlechter Verlierer; die Tragödie nahm ihren Lauf.9 Die Ikonographie dieses speziellen Themenkreises der Konkurrenz, ausgeweitet auf Künstlerneid allgemein und beispielsweise mit den Telchinen als dessen Personifikation, wäre sicherlich ein ergiebiges Thema.10

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könnte das als Profilbildung bezeichnen. Constanze Hofmann-Rendtel: Wallfahrt und Konkurrenz im Spiegel hochmittelalterlicher Mirakelberichte, in: Wallfahrt und Alltag in Mittelalter und früher Neuzeit. Internationales Round-Table-Gespräch in Krems an der Donau, 8. 10. 1990. Wien, Österreichische Akademie der Wissenschaften 1992, S. 115–131. Grundlegend dazu: Lee, Rensselaer: Ut pictura poesis. The Humanistic Theory of Painting, in: The Art Bulletin 22, 1940, S. 197–269, Neudruck New York 1967. Dazu z. B. Flemming, Victoria von: Harte Frauen – weiche Herzen? Geschlechterverhältnisse und Paragone in Bronzinos Porträt der Laura Battiferri, in: Dies./Schütze, Sebastian (Hrsg.): Ars naturam adiuvans. Festschrift für Matthias Winner zum 11. März 1996, Mainz 1996, S. 272–295. Ebenso: Helke, Gabriele: Giorgione als Maler des Paragone, in: Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 1, 1999, S. 11–79: sie behandelt dasselbe Thema anhand von Giorgiones Portrait der Laura im Kunsthistorischen Museum, Wien, von 1506 und anhand von Giorgiones „Drei Philosophen“. Polytechnos erbittet von seinem Schwiegervater Pandareos dessen zweite Tochter Chelidonis, vergewaltigt sie auf dem Heimweg und droht ihr mit dem Tod, wenn sie ihn verriete. Aëdon erfährt trotzdem von dem Verbrechen. Die beiden Schwestern rächen sich, indem sie den Sohn Itys töten und dem Vater Polytechnos als Mahl vorsetzen. Schlußendlich werden alle Beteiligten in Vögel verwandelt. Wüst, Ernst: Polytechnos, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearbeitung, 42. Halbband, Stuttgart 1952, Sp. 1834–1836. Antoninus liberalis überliefert in c. 11 diese Erzählung aus der Ornithogonia, die ein frühhellenistischer Dichter auf den Namen der legendären delphischen Priesterin Boio oder des Priesters Boios gefälscht hatte. Zu den Varianten und Herleitungen siehe auch ebd.: Aëdon, 1. Halbband, 1893, sp. 467–474, sowie Roscher, Wilhelm: Aëdon, in: Ders.: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 6 Bde., 3 Suppl. in 5 Bdn., Leipzig 1884–1927, Nachdruck Hildesheim/New York 1978, Bd. I, 1, sp. 83–85. Siehe auch: The Metamorphoses of Antoninus Liberalis, übers. u. komm. von Francis Celoria, London/New York 1992, S. 62 f, 135–142. Für freundliche Hinweise danke ich herzlich Prof. Dr. Gerhard Petersmann, Salzburg. Strabo: Erdbeschreibung, übers. u. durch Anmerkungen erläutert von A. Forbiger, 2. Aufl. Berlin o. J., cap. 472 beschrieb die Telchinen als mythisches Geschlecht der Kureten, das auf Rhodos lebt.

Einführung

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Im Rahmen dieses Buches konnte auch nicht die wirtschaftliche Vermarktung von Kunst untersucht werden: wie konkurrieren Künstler z. B. um Galeristen und umgekehrt, wie konkurrieren Sammler, Galerien, Museen und Auktionshäuser untereinander. Hier wäre einerseits nach der Rolle des Geldes zu fragen, und andererseits auch nach der des Geschmacks: wer lanciert Künstler, wer entscheidet, was des Kaufens und Sammelns würdig ist. Die Geschichte des Kunstmarkts ist nicht unbedingt die Geschichte künstlerischer Qualität, sondern vor allem die von Moden und wechselnden Geschmacks. Die Konkurrenz der Auftraggeber und Mäzene wird im Rahmen der Kunstpatronage immer wieder angeschnitten und verdiente eine eigene Studie.11 Nicht nur in der Kunst ist Konkurrenz, die mittels Bildern ausgetragen wird, allgegenwärtig. Häufig werden in anderen Lebensbereichen Bilder dortigen Konkurrenzen dienstbar gemacht, wie z. B. Wahlplakate im Konkurrenzunternehmen des Wahlkampfes, oder tagtäglich in der Werbung, die generell von Bildern lebt.12

Zur Etymologie von Konkurrenz, Wettbewerb, Rivalität Wie sind Konkurrenz, Rivalität, Wettbewerb voneinander zu unterscheiden? Im alltäglichen Sprachgebrauch werden sie oft synonym verwendet.13 „Konkurrenz“ leitet sich von lat. concurrere ab, d. h. zusammenlaufen, aufeinanderstoßen, gemeinsam nach einem Ziel laufen – hier klingt auch der Ursprung in antiken sportlichen Wettkämpfen, den Agonen, nach, an deren Rand auch die künstlerischen stattfanden. So konnte der Begriff von sportlichen auch auf künstlerische Leistungsvergleiche übertragen werden. Vor allem aber wurde er auf wirtschaftliche Kämpfe gewendet. „Wettbewerb“ im Sinn von Kampf um bessere Leistungen löste im 19. Jahrhundert „Konkurrenz“ als Bezeichnung teilweise ab. Als Ausdruck des Kräftemessens bei Sport und Spiel erscheint er allerdings schon im 16. Jahrhundert.14 Das Grimmsche Wörterbuch setzt die Begriffe „Wettbewerb“ und „Konkurrenz“ synonym. Als eine Neubildung des 19. Jahrhunderts, die von der liberalen Wirtschafts- und Soziallehre auch für Bereiche der politischen Rivalität – hier ebenfalls als Synonym – über-

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Sie schmiedeten als erste Eisen und Bronze. Da sie auf Nachahmer ziemlich eifersüchtig reagierten, wurden sie zu Personifikationen des Künstlerneides. Als Zauberer und bösartige, neidische Dämonen werden sie von Jupiter wegen ihres böses Blickes unter das Meer gebannt und als Meerkentauren dargestellt. Vgl. Ovid, Metamorphosen, Buch VII, Vers 365 ff und Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 5, München 1979, Sp. 563 f. Ausgewählte Beispiele bietet Hirschfeld, Peter: Mäzene: Die Rolle des Auftraggebers in der Kunst, München 1968. Einige Beispiele von Spezialstudien: Ferino-Pagden, Sylvia: „La prima donna del mondo“. Isabella d’Este. Fürstin und Mäzenatin der Renaissance, Kat. Ausst. Wien 1994, S. 184ff. – Tönnesmann, Andreas: Bundesrepublik und DDR. Ihre Staatsbauten in der Konkurrenz der Systeme, in: Dolff-Bonekämper, Gabi/Kier, Hiltrud (Hrsg.): Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert, München 1996, S. 193–212. Zu Wahlplakaten siehe Müller, Marion G.: Politische Bildstrategien im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1828–1996, Berlin 1997 (Diss. Hamburg 1995). Der folgende Abschnitt stützt sich auf: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer, 4. Aufl. Berlin 1999. Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 56 zum Zusammenhang von Wettbewerb, Wetten und antiken sportlichen Wettkämpfen.

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nommen wird, wurden sie für wissenschaftliche und künstlerische Leistung, für Ausschreibungen eines Preises sowie im Sinne der Nebenbuhlerschaft verwendet.15 „Rivalität“ leitet sich von lateinisch „rivalis“ ab: wer an demselben Bach wohnt, also mit jemand anderem das Wasserrecht teilen muß. Im Mittelfranzösischen wurde aus dem Wasser die Geliebte, d. h. der „rival“ zum Nebenbuhler.16 Von daher haftet der Rivalität oft der Ruch feindlicher Gegnerschaft bis hin zu Eifersucht, Neid und Haß an. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß der Leistungsvergleich Grundlage jeder Konkurrenz ist. Im folgenden wird Konkurrenz als Oberbegriff aufgefaßt.

Eine Grauzone: Nachahmung und Konkurrenz Der Vergleich als Essenz der Konkurrenz gerät in eine Grauzone, wenn er in die Nähe von Nachahmung führt, denn sie kann zur Konkurrenz führen, muß aber nicht. So spielt z. B. die Kopie in ihren vielerlei Erscheinungsformen bei der Übermittlung und schöpferischen Aneignung künstlerischer Inventionen eine nicht zu überbietende Rolle.17 Sie ist unentbehrliches Ausbildungsmittel, wie schon Cennino Cennini in seinem „Trattato della pittura“ von ca. 1390, Kap. 27 festhält: Das Kopieren großer Vorbilder fördert die eigene Erfindungskunst.18 Auch Joshua Reynolds hat in seinen „Discourses on Art“, die am Ende des 18. Jahrhunderts die klassische Kunsttheorie noch einmal zusammenfaßten, die Nachahmung als fest etabliertes Ausbildungsinstrument jedem Künstler ans Herz gelegt: „on account of the great advantage he will receive by bringing the ideas of great Artists more distinctly before his mind, which will teach him to invent other figures in a similar style.“ 19 Nachahmung als Mittel, um der eigenen Kreativität auf die Sprünge zu helfen: Diese Methode zielt nicht nur auf die stilistische Erziehung, sondern auch auf die Ausbildung eines Motivschatzes und der eigenen Inventionen, der eigenen Bildideen. Die Motivgeschichte ist eine Geschichte der Nachahmungen, der Appropriationen, „… eine Kette von Bildideen, die an dem einen Thema erprobt werden. Manchmal sind sie von Kontroversen mit einem Gegenspieler geprägt. Man kommt erst dann hinter ihren Sinn, wenn man ent-

15 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1893, sp. 663–665. 16 Jacob und Wilhelm Grimm kennen im Deutschen Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1893, sp. 1086, unter „Rival“ lediglich den Nebenbuhler in der Liebe. 17 Haverkamp-Begemann, Egbert/Logan, Carolyn: The Creative Copy, in: Creative Copies. Interpretative Drawings from Michelangelo to Picasso, Kat. Ausst. New York, The Drawing Center, 1988, S. 13–21. Siehe auch: Schwartz, Hillel: The culture of the copy. Striking likenesses, unreasonable facsimiles, New York 1996, bes. S. 246–252. 18 Cennino Cennini: Das Buch von der Kunst oder Tractat der Malerei, übersetzt, mit Einleitung, Noten und Register versehen von Albert Ilg, Wien 1871, S. 17 f (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, hrsg. v. R. Eitelberger von Edelberg, Bd. 1). 19 Robert R. Wark (Hrsg.): Sir Joshua Reynolds, Discourses on Art, New Haven/London 1975 (zuerst San Marino, Calif. 1959), Discourse III, S. 214 f. In dem vorliegenden Buch wird diejenige Variante der Nachahmung ausgespart, bei der Studiogehilfen den Stil ihres Meisters so täuschend nachahmen, daß dieser die Kopien als eigenhändige Werke signieren und als seine Originale verkaufen kann, weil es sich hierbei um keine Konkurrenz handelt.

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deckt, welche anderen Bilder sie überbieten und künstlerisch korrigieren.“ 20 Der Aneignungs- wird zum Überbietungsprozeß und ist umso fruchtbarer, desto subtiler die Aneignung bzw. die Umformung ist. Nachahmung impliziert die Identifizierung mit dem Vorbild und zugleich in dem Bemühen, dieses zu übertreffen, eine Distanzierung. Extreme dieser Aneignung sind die Hommage und die Fälschung. Letzterer ist daran gelegen, gerade nicht als Konkurrenzfall gesehen zu werden, um dem Vergleich mit dem Original zu entgehen und nicht als Fälschung entlarvt zu werden. Dem Charakter nach ist die Fälschung aber ein Fall von Konkurrenz, und das sogar in zweierlei Hinsicht, denn es geht sowohl um die künstlerische Angleichung an ein Vorbild, als auch um wirtschaftliche Konkurrenz, soll doch auf dem Markt derselbe Gewinn wie mit dem Original erzielt werden und dieses vielleicht sogar verdrängt und ersetzt werden. Auch das Plagiat, die Nachahmung, die den Vergleich vermeiden will, fällt in den Bereich der Konkurrenz. Hier geht es zwar nicht um schöpferisches Weiterverarbeiten des Vorbildes, sondern um schlichtes Abkupfern, und wie bei der Fälschung liegt der Vergleich mit dem Vorbild nicht im Interesse des Plagiators. Ein Beispiel dafür ist das Urheberrecht, das die Frage zum Thema hat, ob die Übernahme einer Idee, einer Struktur, eines Inhalts Neuschöpfung oder geistiger Diebstahl sind. Hier wird der Aspekt der wirtschaftlichen Konkurrenz zentral, weil mit dem Plagiat auch kommerzielle Vorteile verbunden sind – man denke nur an die Raubdrucke des 18. Jahrhunderts, die wesentlich preiswerter als die originalen Stiche z. B. von William Hogarth vertrieben wurden. Die teuren Originalstiche blieben liegen, zum Schaden Hogarths und zum Schaden des jeweiligen Stichhändlers. Daraufhin brachte Hogarth im Parlament ein Gesetz ein, das dem Urheber der Stiche die Rechte sicherte. Damit waren Raubkopien zwar immer noch nicht verhindert, aber jetzt zumindest illegal und konnten strafrechtlich verfolgt werden. Die sog. Hogarth Act wurde 1735 verabschiedet; sie ist die Grundlage des modernen Urheberrechts bzw. Copyrights.21 Die Konkurrenz strebt den Vergleich an; Fälschung und Plagiat suchen ihn zu vermeiden. Damit sind sie Beispiele für Camouflage von Konkurrenz und bilden das entgegengesetzte Extrem zur offenen, direkten Konkurrenz.

Zur Entstehung von Konkurrenz Wie kommt es zu Konkurrenz? Anlaß kann ein Leidensdruck sein, wie z. B. bei Antonis van Dyck, der gegen Rubens anrannte. Voraussetzung für das Entstehen einer wie auch immer gearteten Konkurrenz ist die Bekanntschaft mit den Werken oder der Person dessen, mit dem man sich mißt. Was man selber gerne erreichen möchte, muß einem ganz buchstäblich vor Augen stehen. Darum ist gerade in den frühen Fällen von Konkurrenz die räum20 Belting, Hans: Giovanni Bellini. Pietà. Ikone und Bilderzählung in der venezianischen Malerei (kunststück), Frankfurt/M. 1985, S. 58, hier bezogen auf Giovanni Bellinis Pietà-Darstellungen. 21 Zum Urheberrecht treten die gewerblichen Schutzrechte wie Patentrecht, Gebrauchsmusterrecht, Geschmacksmusterrecht, Markenrecht hinzu, um wirtschaftliche Interessen zu schützen. Siehe dazu: Woodmansee, Martha: The genius and the copyright: economic and legal conditions and the emergence of the ‘author’, in: Eighteenth-Century Studies 17, 1984, S. 425–448, sowie Losse, Deborah N.: From ‘auctor’ to ‘auteur’: authorization and appropriation in the Renaissance, in: Medievalia et Humanistica 16, 1988, S. 157–163.

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liche Nähe ein wesentlicher Faktor. Eine weitere Voraussetzung ist das Selbstvertrauen, den Vergleich als Herausforderung anzunehmen. Dazu gehört Zuversicht, das gesteckte Ziel erreichen zu können. Ein Malerlehrling im ersten Lehrjahr wird sich vielleicht Rubens als Vorbild wählen, aber noch nicht als Konkurrent auftreten. Erst in einem späteren Stadium kann sich der Vorbildcharakter auf dem Wege der Nachahmung, d. h. dem Versuch des Angleichens, zu einer Konkurrenz wandeln, wenn Begabung, Beherrschung der Technik, Training, und nicht zuletzt eigene künstlerische Vorstellungen hinzukommen. Auch hier kann wieder van Dyck als Beispiel angeführt werden. Die Wahl des Vorbildes kann über Erfolg und Mißerfolg der Konkurrenz entscheiden. Wer seine Ziele zu hoch steckt, kann nur Schiffbruch erleiden; wer sie zu niedrig steckt, wird an der Unterforderung scheitern. Wesentlich ist auch ein weiterer Faktor: das Spielerische, die Freude am Vergleich, am Lernen. Das ist jedenfalls möglich, solange der Umgang der Konkurrenten untereinander fair bleibt und allen Beteiligten die Chance zum Wachsen läßt. Werden Mitbewerber abgewertet, gemobbt oder gar vernichtet, wird die Konkurrenz destruktiv.22 Nicht umsonst sind Intrige und Verleumdung häufige Begleiterscheinungen erbitterter Konkurrenz, gegen die sich die Künstler manchmal mit ihrem ureigensten Mittel, der Kunst selbst, zur Wehr gesetzt haben. „Die Verleumdung des Apelles“, eine bei Lukian beschriebene gemalte Allegorie, mittels der sich Apelles gegen eine Verleumdung seines Rivalen Antiphilos bei ihrem gemeinsamen Mäzen Ptolemäus IV. von Ägypten zur Wehr setzte, wurde zum Prototyp ähnlicher Werke der Neuzeit.23 Wann eine Konkurrenz als gelungen gelten darf, hängt von den Kriterien und Zielsetzungen der Konkurrenten ab – sei es die Vernichtung des Gegners, der Gewinn von Geld und Ruhm, die Ausbildung der eigenen Möglichkeiten, das Entdecken einer Marktlücke, die man füllen kann. Gelegentlich wird der Nominalismus des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit mit seiner Ausbildung des Individuellen als Boden für die Entwicklung der Rivalität zwischen Künstlern bemüht: „Diese wußten die weltaufschließende Kraft der Kunst in die Energie des Einzelnen zu übertragen, weshalb die monadische Existenz so zum Phänotyp des neuzeitlichen Künstlers gehört und sich zur Freundschaft, gewissermaßen als notwendiges Korrelat, die Feindschaft gesellt.“ 24 Der Umkehrschluß, daß das Mittelalter eine konkurrenzfreie Epoche gewesen sei, gilt allerdings nicht. Das Thema der Konkurrenz in der Kunst wurde vor allem in der italienischen Renaissance und erneut im 20. Jahrhundert bei Kunsttheoretikern und -historikern zum beliebten Gegenstand von Diskussionen. Dieses Phänomen hängt vermutlich mit der Tatsache zu22 Im Bereich des Ökonomischen unterscheidet Böhm, Franz: Wettbewerb und Monopolkampf, Berlin 1933 (Nachdruck Berlin 1964), zwischen „Behinderungs- und Leistungskonkurrenz.“ 23 Sandro Botticellis Version (La Calunnia, Tempera auf Holz, 62 × 91 cm. 1485–90, Uffizien, Florenz) ist die bekannteste, die diese Geschichte in Malerei umsetzt, aber gerade in diesem Fall ist kein Verleumder Botticellis bekannt. Botticelli ging es offensichtlich um die Konkurrenz mit Apelles selbst. Zu anderen Beispielen siehe Cast, David: The calumny of Apelles, New Haven/London 1981. 24 Beyer, Andreas: Künstlerfreunde – Künstlerfeinde, in: Opus Tessellatum. Modi und Grenzgänge der Kunstwissenschaft. Festschrift für Peter Cornelius Claussen, hrsg. v. Corsepius, Katharina et al., Hildesheim/Zürich/New York 2004, S. 1–15, hier S. 13.

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sammen, daß Wissenschaft immer die eigene Situation, in der sie arbeitet, reflektieren muß. Wenn also das Thema der Konkurrenz in der Renaissance und erneut im 20. Jahrhundert virulent wird, so ist zu fragen, ob diese Zeiten solche verstärkter Konkurrenz sind. Am besten sind die italienische Renaissance und der Barock bearbeitet,25 und hier überwiegen ganz deutlich die Fälle rivalisierender Verdrängung bis zum Mord des Rivalen.26 Vasari hat mit seinen Viten nachhaltig zur Etablierung der Topoi von Rivalität, Neid und Feindschaft in den Lebensbeschreibungen beigetragen.27 Lodovico Dolce beschrieb Leonardo, Raphael und Tizian als Rivalen Michelangelos.28 Masaccio ist möglicherweise durch einen Giftanschlag, vielleicht des Masolino, ums Leben gekommen; 29 Andrea del Castagno wird des Mordes an Domenico Veneziano bezichtigt; 30 Andrea del Verrocchio erträgt nicht die künstlerische Überlegenheit seines Schülers Leonardo und malt deshalb aus Resignation nicht mehr; 31 Francesco Francia stirbt, als er die Überlegenheit Raffaels erkennt; 32 Benvenuto Cellini und Baccio Bandinelli leisten sich eine Dauerfehde, bis Bandinelli aus Neid auf Cellini das Zeitliche segnet.33 Alle Beispiele entsprechen so nicht den historischen Fakten. Doch offenbar dienten diese Motive dazu, die Künstler als Individuen mit extremen Eigenschaften und Schicksalen darzustellen, so, wie auch ihre Kunst die Grenzen sprengte. 25 Aus der Fülle der Publikationen hier nur einige wenige Beispiele. Locher, Hubert: Domenico Ghirlandaio, Hieronymus im Gehäuse. Malerkonkurrenz und Gelehrtenstreit (kunststück), Frankfurt/M. 1999. Brown, Beverly Louise: The Black Wings of Envy: Competition, Rivalry and Paragone, in: The Genius of Rome 1592–1623, Kat. Ausst. London, Royal Academy, 2001, S. 250–273, vor allem zu den Konkurrenzen, die Caravaggio betrafen. Goffen, Rona: Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven/London 2002. Zuletzt erschien Cropper, Elizabeth: The Domenichino Affair. Novelty, Imitation, and Theft in Seventeenth-century Rome, Yale University Press 2005. 26 Cellini beschreibt in seiner Autobiographie drei Morde, die er begangen habe. Bredekamp, Horst: Cellinis Kunst des perfekten Verbrechens. Drei Fälle, in: Benvenuto Cellini. Kunst und Kunsttheorie im 16. Jahrhundert, hrsg. von Nova, Alessandro/Schreurs, Anna, Köln 2003, S. 337–348. Cellini, Benvenuto: Lebensbeschreibung des Benvenuto Cellini, florentinischen Goldschmieds und Bildhauers, von ihm selbst geschrieben, übersetzt und mit einem Anhange hrsg. von Johann Wolfgang von Goethe, Frankfurt/M. 1981. Neu herausgegeben von Harald Keller, Frankfurt/M., 10. Aufl. 2004. 27 Poeschel, Sabine: Paragone – „Ein Duell vortrefflichster Künstler“. Zur Geschichte von Künstlerkonkurrenz und Künstlerkampf, in: Kunstforum 173, Nov./Dez. 2004, S. 90–111; zu den folgenden Beispielen S. 99–103. 28 Dolce, Lodovico: Dialogo della pittura intitolato L’Aretino, 1557, hrsg. von Cerri, Cajetan (Eitelbergers Quellenschriften), Wien 1871. 29 Vasari, Giorgio: Leben der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Baumeister, dt. Ausgabe von Ludwig Schorn und Ernst Förster, Worms 1983 (zuerst 1832–1849), Bd. II, 1. Teil, S. 162 f. 30 Ebd., Bd. II, 2. Teil, S. 41. Siehe auch Beyer 2004, S. 12, Anm. 34, der auf Gaetano Milanesi verweist, der in seiner Vasari-Ausgabe von 1862 klarstellt, daß nicht Domenico Veneziano das Opfer war, sondern Domenico de Matteo, und daß als Mörder lediglich ein gewisser „Andrea“ in Verdacht geriet. Vasari, Giorgio: Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori, e architetti (ed. Florenz 1568), 9 Bde., hrsg. v. Gaetano Milanesi, Florenz 1906, Reprint Florenz 1981. Vgl. auch Poeschel 2004, S. 101 f. 31 Vasari ed. Milanesi 1902, Bd. III, S. 366 und Bd. IV, S. 22. Poeschel 2004, S. 99 f. 32 Vasari ed. Milanesi 1902, Bd. III, S. 546. Poeschel 2004, S. 100. 33 Poeschel 2004, S. 92, 100.

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Dieses Bild von Künstlern entfaltete eine Wirkungskraft,34 die den Wünschen der Künstler und Leser gleichermaßen entgegenkam. Das Bedürfnis war offenbar eines nach Intensität: je mehr Antagonismen, desto mehr Spannung; je existentieller, desto intensiver schien das Leben, schien die Kunst. Johan Huizinga sah Wettbewerb als kulturelle Konstante: „Der agonale Trieb, der bereits auf so vielen Gebieten der Kultur als kräftig wirksam befunden wurde, findet auch auf dem der Kunst reiche Befriedigung. Tief in den ursprünglichen Schichten der Kultur liegt das Bedürfnis, einander durch Herausfordern oder Wetten zum Vollbringen einer schwierigen, ja scheinbar unausführbaren Aufgabe von Kunstfertigkeit zu bringen.“ 35

Zum Charakter von Konkurrenz Es ist banal, daß Konkurrenz allgegenwärtig und nicht auf die Kunst beschränkt ist. Ob Kinder um ein Spielzeug streiten,36 oder ob sie untereinander um die Liebe der Eltern konkurrieren, oder ob es sich um den schier unendlichen Bereich wirtschaftlicher Konkurrenzen handelt – sie ist omnipräsent. So sind z. B. Marktführer häufig an ein- und demselben Ort ansässig: man denke nur an das Silicon Valley. Auch hier gilt, was für Blütezeiten in der Kunst gilt: Sie zeichnen sich dadurch aus, daß in einer bestimmten Kulturlandschaft zahlreiche Künstler oder, allgemeiner ausgedrückt, Hersteller über einen längeren Zeitraum hinweg qualitativ hochwertige Werke produzieren. Dabei entsteht eine gewisse Konformität hinsichtlich der Produkte (für die Kunst wären das der Stil und die Ikonographie), häufig auch ein ähnlicher Verkaufspreis. Bei genauerer Betrachtung aber lassen sich zwischen den einzelnen Firmen bzw. Künstlerwerkstätten Unterschiede entdecken, die zum unverkennbaren Merkmal werden,37 wie etwa bei der „Zunftskulptur“. Die „Nesterbildung“ bzw. räumliche Nähe gehört zur Konkurrenz, auch im Sport, und das nicht erst beim Wettkampf selbst. So wurden z. B. Sportler verschiedener Natio34 Wittkower, Rudolf und Margot: Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists: A documented History from Antiquity to the French Revolution, London 1963. 35 Huizinga, Johan: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 163. 36 Girard, René: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, Wien u. a. 1999, entwickelt die „Theorie des mimetischen Begehrens“: Kinder, die gemeinsam spielen, rangeln innerhalb kurzer Zeit um ein einziges Spielzeug, obwohl genügend für alle vorhanden wären. Das Begehren eines Kindes macht den Anfang, so daß das gewünschte Spielzeug als besonders attraktiv erscheint. Da die anderen Kinder dieses Begehren nachahmen, kommt es zu Rivalität, Konkurrenz, Mißgunst – und daraus entsteht Gewalt. Girard führt diese Theorie weiter: Diese Gewalt wird als das Böse wahrgenommen, weshalb man einen Gegenpol, das Gute – Gott – stilisiert. Religion entsteht also aus der Notwendigkeit, mit Gewalt umzugehen. Zu Girard siehe: Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft, Reinbek 1992, bes. Kap. 20: Die Mimesis der Gewalt (Girard); Helm, Franz: Der Code der Dinge. Phänomenologie der Mimesis, Wien 2003. Siehe auch: Palaver, Wolfgang: René Girards mimetische Theorie im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, 2. korr. Aufl. Münster 2004. Rainer Metzger hat versucht, diesen Ansatz auf die Kunst zu wenden: Kunst im Licht von Konkurrenz, Neid und Rivalität, in: Kunstforum 173, Nov./Dez. 2004, S. 34–79. 37 Simon, Hermann: Die heimlichen Gewinner (Hidden Champions). Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, 2. Aufl. Frankfurt/New York 1999.

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nalmannschaften, obwohl Konkurrenten, gemeinsam trainiert, etwa vor den OlympiaSchwimmwettkämpfen von Sydney 2000. Als die Schwimmerin Sandra Völker deutlich schneller als ihre bundesdeutschen Teamkolleginnen wurde, fehlte ihr zur weiteren Leistungssteigerung die Herausforderung. Der Trainer Dirk Lange holte daraufhin die Schwedin Theresa Alshammar in die Trainingsgruppe. Voraussetzung war freilich, daß die beiden Sportlerinnen keine persönlichen Antipathien hegten. Die gesamte Trainingsgruppe aus sechs Spitzenathleten war international zusammengestellt; 38 es handelte sich also nicht um ein herausragendes Duellantenpaar innerhalb einer mittelmäßigen Gruppe. Sämtliche Schwimmer verbesserten sich: „Es ist einfach leistungsfördernder, in der Gruppe zu trainieren. Angenehmer ist es aber nicht immer.“ 39 Daß Alshammar schließlich sogar schneller als Völker wurde, gehört zu den Risiken einer Konkurrenz. Wer sich auf eine Konkurrenz einläßt oder in sie hineingezwungen wird, muß mit einer Veränderung seines Selbstverständnisses rechnen. Im Falle eines Erfolgs kann z. B. das Selbstwertgefühl steigen und bei Mißerfolg sinken. Solange es kein existentieller Wettbewerb ist, in dem Gewinner und Verlierer unwiderruflich in Sieger- und Unterlegenenposition verbleiben, können alle Beteiligten im Idealfall das eigene Potential entwickeln, neue Möglichkeiten entdecken und bestehende ausweiten.40 Wer das Loblied vom Nutzen der Konkurrenz singt, muß auch ihren moralischen Nutzen zumindest toposhaft erwähnen, sei er nun real oder nur gefordert. Wenn ein Zeitungsartikel über Sandra Völker und ihre Konkurrentin Therese Alshammar auch die Äußerung Völkers zitiert, sie habe von der anderen gelernt, „die Dinge lockerer zu sehen“,41 dann bedient er dieses Klischee. Derselbe Mechanismus wird z. B. bei Rankings wirksam. Von den Maßstäben einmal abgesehen, nach denen sie erstellt werden und die längst nicht immer quantifizierbare Kriterien enthalten, weisen sie den Beteiligten einen Platz innerhalb der Rangordnung zu. Die Schlechten sollen dadurch angespornt werden, sich zu verbessern, und die Guten dazu, ihren Spitzenplatz zu halten. Höchstleistungen – und das ist das Perfide an solchen Rankings – sind angeblich zu erreichen, wenn man nur ausreichend Fleiß, Disziplin und Leistungsbereitschaft zeigt.42 Es gehört zur Natur von Rankings, daß es immer Spitzenplätze und Schlußlichter gibt. Der erzieherische Druck ist wenigstens in der Theorie immer gegeben. Aber genauso kann dieser Druck das Gegenteil des gewünschten Effekts erzeugen, nämlich Leistungsverweigerung und Resignation. Wer wiederholt auf den hinteren Plätzen landet, sieht keinen Nutzen mehr in weiteren Anstrengungen, sich zu verbessern.

38 Sandra Völker (Deutschland), Therese Alshammar (Schweden), Vivienne Rignall (Neuseeland), Mark Foster (Großbritannien), Björn Nowakowski (Deutschland), Neil Willey (Großbritannien). 39 Sandra Völker, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 8. 2000. 40 Vgl. Kubler, George: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt/M. 1982 (zuerst als: The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven/London 1962), S. 94 f mit der Bemerkung über das „gleichzeitige Auftreten zweier großer Rivalen, die sich beide gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen mit der Lösung desselben Problems beschäftigen“. 41 Sandra Völker, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 8. 2000. 42 Zu den Kriterien von Rankings und ihrer moralischen Funktion: Stölting, Erhard: Rankings – sportlich gesehen. Eine Analyse aus soziologischer Sicht, in: Forschung & Lehre 3, 2003, S. 131–133.

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Wenn man sich an den Besten mißt („Benchmarking“) oder sich an positiven Vorbildern orientiert („best practice“), dann geht es um die Frage, was man von diesen Besten lernen und von den positiven Vorbildern übernehmen kann. Insofern kann ein Konkurrent, an dem man wachsen und mit dem man eine Streit- und Konfliktkultur entwickeln kann, ein Glücksfall sein, wie z. B. Rubens für van Dyck oder Édouard Manet für die Impressionisten. Der Wettbewerb, konstruktiv als Lernmöglichkeit verstanden, fördert das Wachstum aller Beteiligten. In der Erkenntnistheorie formulierte Karl Popper sein Falsifikationsmodell auf der Basis der Evolutionsgesetze. Ihm zufolge erzeugen Fehler einen Lernprozeß, d. h. Änderungen des eigenen Verhaltens, der wissenschaftlichen Modelle, Urteile oder Meinungen. Fehler bewirken also im günstigen Fall einen Erkenntnisfortschritt. Wer sich diesem Prozeß verweigert, indem er den Vergleich meidet, dogmatisch an eigenen Urteilen festhält, oder schlicht aus Angst vor Blamage den Wettbewerb scheut, der verschenkt die Chancen eines stimulierenden Wettbewerbs. Es geht in diesem Fall nicht um den Verdrängungswettkampf, sondern um eine „winwin“ Situation. Das Überleben allein des Stärkeren ist nicht das einzig wirksame Prinzip in der Konkurrenz. Gerade die freundschaftliche Konkurrenz, die das gegenseitige Lernen voneinander betont, kann zu einer Kooperation werden, die im Extremfall das Überleben der Beteiligten sichert. Ein solcher Fall in der Kunstgeschichte wäre die gleichzeitige Arbeit mehrerer unabhängiger Künstler an einem gemeinsamen Projekt, deren künstlerische Gleichwertigkeit anerkannt und etabliert ist.43 In diesem Buch behandelt das Kapitel über Manet, Monet und Renoir diese Spielart der Konkurrenz. In einer Konkurrenz, welcher Art auch immer, verändern sich die Betroffenen unter dem Einfluß des Gegenüber. Es bedeutet, dem anderen eine gewisse Macht über sich zu gewähren, wenn man sich mit ihm auf eine Konkurrenz einläßt oder in sie hineingezwungen wird. Bei einer freundschaftlichen Konkurrenz dürfte dies akzeptabel und auch gewinnbringend sein. Bei einer feindlichen Auseinandersetzung aber ergibt sich die Ironie, daß es ausgerechnet der Widersacher ist, der das eigene Verhalten bestimmt: sei es in angestrengter, bewußter Profilierung und bemühtem Anderssein, sei es im Übertrumpfen. So kann man bei der Wahl des Konkurrenten nicht bedachtsam genug sein, wenn man denn die Wahl hat. Ein guter Konkurrent kann zu einer persönlichen Bereicherung werden, die Konkurrenz kann die eigenen Kräfte wachsen lassen und die Kreativität fördern. Umgekehrt kann eine unselige Konkurrenz auch genau diese Eigenschaften verschütten und mit Verbissenheit und Haß vernichten. Leistungsvergleich als Leistungsansporn taugt nur, wenn Leistung auch lohnt, sei es im ideellen oder im materiellen Sinne. Große Firmen z. B., die auf demselben Sektor tätig sind, kennen die Stärken und Schwächen ihrer Konkurrenten sehr gut. Um zu bestehen und den eigenen Vorsprung zu halten bzw. auszubauen, müssen sie die eigenen, unverwechselbaren Eigenschaften pflegen und stärken.44 Hier kommen zwei Komponenten zum Tragen: die Nachahmung des Konkurrenten, also ein Lernprozeß, und die Ausbildung von etwas Eigenem, das der andere nicht besitzt. Beides ist eine kreative Leistung, die Schöpfung von etwas 43 Die Ausstattung der Sixtinischen Kapelle vor Michelangelo am Ende des 15. Jahrhunderts war ein solcher Fall. Die Wandfresken entstanden unter Ägide Peruginos als Gemeinschaftsarbeit von ihm selbst, Botticelli, Ghirlandaio und Rosselli. 44 Frey, Dieter/Schnabel, Albrecht: Chance zur Veränderung. Der Wettbewerb aus psychologischer Sicht, in: Forschung & Lehre 6, 1999, S. 294–297, hier S. 295. Siehe auch Simon 1999.

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Eigenständigem. Zwischen Erfindung und aneignender, transformierender Nachahmung besteht kein qualitativer, sondern nur ein gradueller Unterschied. Konkurrenz kann also im besten Fall die Kreativität, gleichgültig auf welchem Gebiet, wecken oder beflügeln.

Konkurrenz und Kreativität Bis heute ist unbekannt, was „Kreativität“ eigentlich ist. Außerdem wird sie in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedlich definiert.45 Der Westen verstand Kreativität von der Renaissance bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem als aneignende Nachahmung, die Stück für Stück Neuerungen hervorbringt, aber erst ab dem späten 18. Jahrhundert unter dem Vorzeichen des Genies, das die Regeln sprengt und explosiv Innovationen gebiert.46 Dieser abendländische Kreativitätsbegriff des Genies ist auch durch den biblischen Schöpfungsakt geprägt, der creatio ex nihilo: Gott erschuf die Welt aus dem Nichts.47 Arthur Koestler 48 hat anhand berühmter Beispiele wissenschaftlichen Fortschritts gezeigt, daß menschliche Innovationen gerade nicht aus dem Nichts entstehen. Schon vorhandene Theorien oder Lösungen werden neu betrachtet und kombiniert; sie bilden dann die Grundlage für die eigentliche Neuerung. Kreativität ist also eine Abstraktionsleistung und arbeitet u. a. mit Analogiebildung. Nachahmung im Sinne von Umformung nach geistiger Aneignung gehört folglich mit zur Kreativität. Genauso ist auch das Vermögen, Vorgefundenes auf Prinzipielles zurückführen zu können, um es dann in einem Analogieverfahren auf ungelöste Probleme transferieren zu können, Teil von Kreativität. 45 Allgemein zu Kreativität, ihrer Definition in verschiedenen Kulturen, Epochen, Wissenschaftssparten und den sie fördernden Umständen siehe Holm-Hadulla, Rainer (Hrsg.): Kreativität, Berlin/Heidelberg/New York 2000. Die Beiträge aus völlig unterschiedlichen Sparten und Berufsfeldern verdeutlichen, daß die Kreativitätsprofile in den einzelnen Bereichen unterschiedlich sein müssen, um den anstehenden Aufgaben gerecht zu werden. – Die im Gehirn ablaufenden Prozesse können verbildlicht werden: Zeki, Semir: A Vision of the Brain, Oxford 1993; ders.: Inner Vision: an exploration of art and the brain, Oxford 1999. Die Sichtbarmachung der Gehirnaktivitäten in bildgebenden Verfahren ist aber nicht die Gehirnaktivität selbst, sondern diese Bilder bilden ein Forschungskonzept ab. Das Verständnis der im Gehirn ablaufenden Prozesse hängt von diesem Konzept ab; es ist in seiner Aussagekraft letztlich bestimmt von der Kreativität des Konzepterfinders. – Siehe auch Binnig, Gerd: Aus dem Nichts: Über die Kreativität von Natur und Mensch, München 1992. Er sieht Kreativität ab der Entstehung der Welt und Ausprägung der Naturgesetze. Radermacher, Franz Josef: Cognition in Systems, in: Cybernetics and Systems 27, 1996, S. 1–42 untersucht Kreativität in der Evolution als Prozess des Erzeugens und Auswählens von Varianten, die abhängig von Kognitionsprozessen stattfinden und in einem Modell von vier Ebenen zu immer differenzierterer Informationsverarbeitung führen. – Zur Frage, ob Neurosen die Kreativität begünstigen oder stören siehe Neumann, Eckhardt: Künstlermythen: eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt/M. und New York 1986, bes. Kapitel: Mythen über Künstler und Kreativität in der Tiefenpsychologie, S. 190–286. 46 Zu den Wandlungen des Begriffs siehe Wassnig, R., Fabian, B., Ritter, Joachim: Genie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 279–309. 47 Ledderose, Lothar: Kreativität und Schrift in China, in: Holm-Hadulla 2000, S. 189–203, hier S. 189 f. 48 Koestler, Arthur: The Act of Creation, London 1964, deutsch als: Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, Bern 1966.

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Seit den 1950er Jahren wurde der Begriff der Genialität durch den der Kreativität ersetzt. Gleichzeitig galt Kreativität nicht mehr länger als Charakteristikum elitären geistigen Schaffens, sondern „wird heute besonders in den Kognitionswissenschaften (Psychologie, Gehirnphysiologie, KI-Forschung) … so definiert, dass sie für möglichst viele Bereiche menschlicher Tätigkeiten Geltung beanspruchen kann.“ 49 Anders als Kreativität selbst, sind ihre Ergebnisse leichter beschreibbar (wie z. B. Kunstwerke); ebenso einige Umstände, die Kreativität fördern.50 Kreativität ist eine schöpferische Fähigkeit, die oft als die Gabe definiert wird, Neues zu schaffen, wo vorher nichts oder anderes war. Sie umfaßt nicht nur den Geistesblitz, sondern auch die beharrliche, langwierige Auseinandersetzung mit einer Frage als Voraussetzung für das Finden einer dem Problem angemessenen Antwort oder sogar mehrerer Antworten. Sie schließt Flexibilität des Denkens und Intuition ein, sie setzt Sensitivität gegenüber Problemen voraus, auch multiples Denken, d. h. mehrere, parallel verlaufende Denklinien. Hier berührt sie sich eng mit der Definition von Intelligenz. Vor allem weitgespannte Interessen einerseits verbunden mit dauerhaftem Interesse am Problem andererseits, Neugier, intensiver Forscherdrang bis hin zur Leidenschaftlichkeit gelten als Motor der Kreativität. Ein funktionierendes Gedächtnis, Fleiß und Disziplin, ein intellektuell stimulierendes Umfeld, die Fähigkeit zum Distanznehmen, ausreichend Zeit und schließlich Humor und Spielfähigkeit gehören zu ihren Ingredienzien. Auch eine gewisse Frustrationstoleranz, die Fruchtbarmachung von Irrtümern und Zufällen sowie der Kolumbuseffekt (man sucht Indien, findet aber Amerika) fallen mit unter das Phänomen der Kreativität. Die Rolle des gegenseitigen Austausches, z. B. im Gespräch, hat Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ betont. Im Gespräch erst werden Gedanken präzisiert. Durch das Mitdenken und Verstehenwollen, durch die Rückmeldung über Verstehen und Mißverstehen entsteht ein Dialog, an dem beide Seiten beteiligt sind. Sie lernen voneinander, der Austausch fördert das geistige Wachsen beider und damit auch die Beantwortung einer Frage oder die Lösung eines Problems – oder das Erkennen der Unmöglichkeit. Damit siedelt Kleist Kreativität in der Kommunikation an und interpretiert sie als Entwicklungsprozeß im gegenseitigen Austausch.51 So vollzieht sich auch künstlerische Konkurrenz: man konkurriert nicht ins Blaue hinein, sondern in einem bestimmten Kommunikationsgefüge mit einem bestimmten Anliegen, einem bestimmten Ziel, sei es das höhere Einkommen, mehr Ruhm, leuchtendere Farben oder die angemessenere oder ungewohnte Darstellung eines Themas. Vielleicht ist es möglich, anhand des Begriffs der Konkurrenz eine weitere Annäherung an die Fragen zu versuchen: Was begünstigt Kreativität, welche Rolle spielen dabei Konkurrenzen in ihren verschiedenen Formen? Wie werden sie erlebt, wie wirken sie sich auf das Individuum und auf Gruppen aus? Welchen Anteil haben sie am Entstehen von sog. Blütezeiten?

49 Holm-Hadulla, Rainer: Wege zur Kreativität – Ein Überblick, in: Ders. 2000, S. 1–19, hier S. 12. 50 Funke, Joachim: Psychologie der Kreativität, in: Holm-Hadulla 2000, S. 283–300. 51 Vergleiche auch den Ansatz von Siefkes, Dirk: Fish in schools or fish in cans: evolutionary thinking and formalization, Berlin 1992.

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Zur Theorie der Konkurrenz Konkurrenzen in ihren verschiedensten Spielarten gehören zu grundsätzlichen menschlichen Verhaltensmustern. Vor allem die Wirtschaftsgeschichte hat sich mit dem Phänomen der Konkurrenz befaßt.52 Der Konkurrenz-Begriff als spezielle Form zwischenmenschlichen Verhaltens erscheint zuerst bei den Frühliberalisten und Physiokraten.53 Nach ihrer Theorie soll das Miteinander oder Gegeneinander nicht mehr durch allgemeine historische Normen geregelt sein, sondern die Rangverhältnisse und die Verhältnisse im Umgang miteinander sollen frei sich selbst überlassen sein. Der Stärkere setzt sich auf Kosten des Schwächeren durch. Das Gleichgewicht ist stets ein labiles, denn verschiebt sich eine Kraft, ändert sich das Gefüge des gesamten Systems. Es gehört zu den Voraussetzungen von Konkurrenz, daß zumindest einer der Konkurrenten für sich die Chance sieht, sein Ziel zu erreichen. Damit wird Konkurrenz zu einer „zwischenmenschliche(n) Aktionsform“, bestimmt durch das „Verhältnis von substituierbaren Gütern auf dem Markt“ und die „Gesetzmäßigkeit eines Selektionsvorgangs“.54 In der Soziologie setzten sich zuerst Georg Simmel, Karl Mannheim und vor allem Leopold von Wiese mit dem Phänomen der Konkurrenz auseinander. Georg Simmel (1858–1918) 55 lieferte eine bis heute nachwirkende Definition von Konkurrenz. Da bei ihm vieles vorgebildet ist, wird seine Sichtweise im folgenden ausführlich dargestellt. Simmel definiert Konkurrenz zwar als „eine eigentümliche Form des Kampfes“ 56 in abgemilderter Form der Auseinandersetzung, jedoch nicht in negativem Sinn, sondern als eine Grundbedingung menschlichen Lebens. Diese „Verschiedenheit von Stimmungen und Denkrichtungen“ im Austausch ist ihm Anzeichen für Lebendigkeit, für Veränderung und Entwicklung. Ein lebendiger Organismus – Simmel sieht die Gesellschaft als Organismus – hat Kräfte mit unterschiedlicher Richtung nötig, um die Gesellschaft zu gestalten. Diese Kräfte üben aufeinander eine Wechselwirkung aus: das ist entscheidend für das Thema der Konkurrenzen,57 auch in der Kunst. Laut Simmels Definition treten die Konkurrenten nicht direkt gegeneinander an. Stattdessen konkurrieren sie um ein Drittes, sie bemühen sich parallel um dieses Gut.58 Deshalb ist auch das Konkurrenzverhalten anders, als wenn zwei Rivalen sich gegenseitig aus dem Weg räumen wollten. Die totale Verdrängung des Konkurrenten scheidet Simmel aus seiner Definition aus, da die Eliminierung des Gegners die Rivalität beendet und das Ausschalten des Gegners noch nicht das Erlangen des gewünschten Gutes sichert: Der Kaufmann, der seinen Konkurrenten beim Publikum herabsetzt, hat die Kundschaft noch nicht überzeugt, 52 Allgemein siehe Rammstedt, Otthein: „Konkurrenz“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, sp. 970–974. 53 Einen Überblick bietet Sörgel, Angelina: Konkurrenz, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Hamburg 1990, S. 853–860. 54 Rammstedt 1976, S. 970 f. 55 Simmel, Georg: Soziologie der Konkurrenz, in: Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne), 14, 1903, S. 1009–1023. 56 Simmel 1903, S. 1010. 57 Simmel 1903, S. 1009 f; das Zitat S. 1009. 58 Simmel 1903, S. 1010: Das ist ein entscheidender Unterschied z. B. zu sportlichen Wettbewerben, bei denen der Sieg über den Gegner schon der Preis selbst ist.

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daß seine eigene Ware besser ist. Ein Liebhaber, der sich um eine Dame bemüht, ist noch keinen Schritt weiter, wenn er seinen Nebenbuhler verscheucht oder unmöglich macht, denn die Angebetete muß ihn auch noch erhören.59 Als Konkurrenz läßt Simmel nur gelten, wenn „der Kampfpreis sich nicht in der Hand eines der Gegner befindet“.60 Daß zwei Parteien miteinander in Wettstreit treten, ist also noch nicht zwangsläufig eine Konkurrenz. Bei echter Konkurrenz geht es um ein Drittes, das nicht allen Konkurrenten zuteil werden kann. Die Konkurrenz findet idealiter unter für alle gleichen Bedingungen statt, und der Gewinn des Preises hängt von der „Differenz der individuellen Energien“ ab. Bei Konkurrenzen ist deshalb immer danach zu fragen, was die Konkurrenten erreichen wollen. Kennzeichnend für eine Konkurrenz ist also das Streben nach einem Gut. Genauso kennzeichnend ist, „daß der Gewinn, weil er dem einen zufällt, dem andern versagt bleiben muß.“ 61 Gleichzeitig hat die Konkurrenz eine bestimmte Wirkung: Der Kaufmann muß sich um wirklich gute Ware oder um günstigere Preise für dieselbe Qualität bemühen. Der Läufer muß sich anstrengen, um seinen Mitläufer zu überrunden, und zwei Männer, die um dieselbe Frau konkurrieren, müssen ihre allerbesten Seiten an den Tag legen. Die Tatsache, daß die Parteien um ein Gut wetteifern, ist Grundlage für Konkurrenz als eine Form sozialen Handelns. Sie kann wertsteigernd wirken, indem sie bei allen Konkurrenten die Anstrengungen fördert, das gewünschte Gut zu gewinnen; sie wirkt leistungssteigernd, und sie zielt nicht auf die Auslöschung des Mitstreiters. Konkurrenzen können also ein „für dritte irgendwie wertvolles Resultat … ergeben“.62 Damit meint Simmel nicht nur die umworbene Dame, sondern die Gesellschaft allgemein. Konkurrenz und Individualismus gehen Simmel zufolge Hand in Hand. Wo die Leistung des Einzelnen zählt, ist Konkurrenz als soziales Verhalten vorprogrammiert. Der Einzelne kämpft für die Durchsetzung seiner Interessen. Und doch hat sein Verhalten Konsequenzen nicht nur für ihn alleine, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. Konkurrenz kann nämlich „objektive soziale Werte“ erzeugen,63 die sowohl der Gesellschaft als Ganzem als auch dem Individuum zugute kommen, da es „subjektive Befriedigungen“ erlangt.64 Die „objektiven sozialen Werte“ bestehen in der „ungeheure(n) vergesellschaftende(n) Wirkung: sie zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch zum eigentlichen Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die sein Sein und seine Leistungen mit jenem verbinden könnten.“ 65 Der Preis dafür ist freilich nach Simmel mitunter hoch, nämlich der „der persönlichen Würde und des sachlichen Wertes der Leistung“.66 Damit be59 Simmel zufolge ist auch dann keine Konkurrenz gegeben, wenn das Erstrebte sich in den Händen des Gegners befindet und mit dessen Ausschalten in den Besitz des Siegers übergeht. Simmel 1903, S. 1010. 60 Simmel 1903, S. 1010. 61 Simmel 1903, S. 1014 f, das Zitat S. 1015. 62 Simmel 1903, S. 1016, sinngemäß auch S. 1010, 1013. 63 Simmel 1903, S. 1011. 64 Simmel 1903, S. 1011. 65 Simmel 1903, S. 1012; ebd.: „diese ungeheure synthetische Kraft“, S. 1013: „die sozialisierende Kraft der Konkurrenz“. 66 Simmel 1903, S. 1012.

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schreibt Simmel ein metamorphisches Prinzip, nämlich sich in den Kontrahenten einzufühlen, sich ihm anzugleichen, um ihn dann mit den eigenen Waffen zu schlagen. Auf die Kunst gewendet, haben Künstler oft genug Stilmittel und Motivrepertoires von Rivalen imitiert, um zu zeigen, daß die eigenen Werke mindestens ebensolche Qualitäten wie die des anderen besitzen. Die Regeln des Wettbewerbs werden von der Gesellschaft diktiert: Verletzungen werden mit Sanktionen geahndet. Wer seinen Konkurrenten umbringt, verleumdet oder verletzt, wird bestraft (im Idealfall); der faire und der unfaire Wettbewerb sind bekannt.67 Der unfaire Wettbewerb führt zum Aufreiben der Kräfte statt zu ihrer Entfaltung. Die Energie ist nicht mehr auf etwas Konstruktives gerichtet, sondern auf Zerstörung, auf „Ausschalten“ des Gegners in welcher Form auch immer. Recht und Moral setzen die Grenzen für fairen Wettbewerb: Gewalt, Sachbeschädigung, Betrug, Verleumdung, Drohung und Fälschung sind Mittel, die auch vom Gesetz geahndet werden.68 Neben den Vorteilen erkennt Simmel auch die Nachteile der Konkurrenz. Als Soziologe bezieht er sich dabei vor allem auf das Gewinnen von politischer Führung. Wenn mehrere Aspiranten um die Gunst der Masse konkurrieren, „bedarf es des Gehorsams gegen die Instinkte oder Launen der Masse, sobald diese auf Grund der Konkurrenz die Auswahl unter den Bewerbern hat.“ 69 Konkurrenz kann also korrumpierbar machen: um die Gunst der Masse oder ein anderes ersehntes Gut zu erreichen, paßt man sich Standards an, die nicht die eigenen und nicht immer die besten sind. Wer sich aber dagegen entscheidet, fällt aus der Konkurrenz heraus und hat zwar seine eigenen Ideale gerettet, wird aber das angestrebte Gut nicht erreichen.70 Im Großen wie im Kleinen gilt: Konkurrieren heißt Vergleichen. Ein Konkurrent vergleicht seine eigene Leistung mit der der Konkurrenten, und sie erhält dadurch mitunter mehr Gewicht, als wenn man sie allein auf weiter Flur erzielt. Der Wert der Leistung wird also durch das Verhältnis bestimmt, das sie zur Leistung des Gegners hat. Der Erfolg ist in einer Konkurrenz immer ein absoluter: man erringt den Preis; er ist aber auch ein relativer, weil er in Relation zur Leistung der Konkurrenten gesehen wird. Der Wert ist gemindert, wenn man über jemanden gesiegt hat, der von vornherein unterlegen war. Dagegen ist ein Sieg, der zwischen Gleichstarken erkämpft wurde, viel mehr wert.71 Hier läßt sich ein Spezialfall einfügen, den Simmel nicht erwähnt: den Sieg über sich selbst, über zwei oder mehr widerstreitende Kräfte in einem selbst. Simmel weist darauf hin, daß das angestrebte Gut durch eigene Anstrengung erreichbar sein muß. Damit spricht er die Wertschätzung des zu erlangenden Gutes durch die Konkurrenten an. Es muß sich lohnen, um dieses Gut zu wetteifern und schneller, geschickter, 67 Röpke, Wilhelm: Wettbewerb – Ideengeschichte und ordnungspolitische Stellung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hrsg. v. Erwin Beckerath, Hermann Bente, Carl Brinkmann, Bd. 12, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1965, S. 29–36, hier S. 29 weist darauf hin, daß der Begriff der Konkurrenz immer stärker negativ besetzt ist und deshalb der des Wettbewerbs beliebter wird. 68 Simmel 1903, S. 1019 f; S. 1020–1022 zu unlauterem Wettbewerb. 69 Simmel 1903, S. 1012. 70 Simmel 1903, S. 1012. – Dasselbe gilt auch für die Kunst: wer gegen den Publikumsgeschmack malt, riskiert zu verhungern. Es kann Geldmangel bedeuten, Außenseitertum, fehlende Anerkennung erbrachter Leistungen. 71 Simmel 1903, S. 1015.

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intelligenter, feinfühliger usw. als Andere zu sein. Umgekehrt hat das Unterbinden von Konkurrenz ebenfalls Folgen: 72 Wo alle unabhängig von ihrer Leistung das Gleiche erhalten, oder wo es vom Zufall abhängt, wird es keine Konkurrenz geben, sondern Ruhe, Harmonie, Frieden – oder Lethargie, Passivität, Frustration, bis hin zu Neid und Erbitterung: Anstrengung lohnt nicht, gleichgültig ob man etwas leistet oder nicht, denn der Faulpelz und Ignorant neben einem erhält das gleiche Gut. Das Vorhandensein von Konkurrenz oder das Nicht-Vorhandensein entscheidet also noch lange nicht über sozialen Frieden oder Unfrieden.73 Im menschlichen Zusammenleben muß entschieden werden, ob es aufgrund von Konkurrenzen oder aufgrund gesetzter Regeln gestaltet werden soll. Dem liegt zugrunde, daß es auch Konkurrenzen von Gruppen gibt. Simmels Beispiele entstammen dem Bereich der Wirtschaft (Kartellbildung), dem Recht (Verbot unlauterer Wettbewerbspraktiken) und der Moral: letztere kann z. B. aufgrund von Mitleid Konkurrenzen mildern. Da aber Erarbeitetes Simmel zufolge in der Gesellschaft höheren Wert besitzt als Geschenktes, kann die Konkurrenz auch härter werden, ohne daß bei einem der Konkurrenten moralische Skrupel auftauchen. Ein weiterer Aspekt ist der der Intensität, denn nicht nur der Ertrag der Konkurrenz ist wichtig, sondern auch die Intensität, mit der der Wettbewerb geführt wird.74 Konkurrenz war in der Wissenschaft erst wenig bearbeitet, als Simmel sich damit befaßte. Erst fünfundzwanzig Jahre später wählte der deutsche Soziologentag von 1928 die Konkurrenz zum Thema. Zwei Vorträge setzten deutliche Akzente. Leopold von Wiese (1876–1969) 75 schloß sich Simmels Definition von Konkurrenz, die er dem allgemeinen 72 Simmel 1903, S. 1015: „Wo eine Anzahl von Menschen den genau gleichen Einsatz leisten und unter den genau gleichen Chancen des Erfolges stehen, aber wissen, daß eine von ihnen nicht beeinflußbare Macht diesen Erfolg ganz versagt oder ganz gewährt, da wird einerseits eine Gleichgültigkeit unter ihnen herrschen, ganz anders als bei der Konkurrenz, bei der der Erfolg von dem Vergleiche der Leistungen abhängt; …“ 73 Gleichzeitig benennt Simmel auch Bereiche, in denen Konkurrenzen in dem von ihm definierten Sinn ausgeschlossen sind. Denn nicht immer entscheidet allein Leistung darüber, wer unter den Konkurrenten das begehrte Gut erhält: es kann Glück sein, Zufall; Simmel nennt es „Gnadenwahl“ (1903, S. 1014.) Die Sinnlosigkeit von Konkurrenz, die mit dieser „Gnadenwahl“ einhergeht, führt Simmel zu sozialen Gruppen, die seiner Meinung nach konkurrenzfrei sind. Er rechnet dazu alle Vereinigungen, die „schlechthin auf Rezeptivität gestellt sind und individuell unterschiedenen Aktivitäten überhaupt keinen Raum geben“, wie z. B. wissenschaftliche oder literarische Vereine, religiöse Vereinigungen, oder „literarische Vereine, die nur Vorträge veranstalten, Reisegesellschaften, Vereinigungen zu bloß epikureischen Zwecken.“ (1903, S. 1014–1016, die Zitate S. 1016). Dem ist aber entgegenzuhalten, daß auch diese Gruppen nicht frei von Konkurrenz sind, wie z. B. dem Streben nach Anerkennung innerhalb der Gruppe. 74 Simmel 1903, S. 1018. 75 Wiese, Leopold von: Die Konkurrenz, vorwiegend in soziologisch-systematischer Betrachtung, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 6 (Verhandlungen des 6. Deutschen Soziologentages vom 17.–19. September 1928 in Zürich), Tübingen/Köln/Stuttgart 1929, S. 15–35. Siehe auch ders: Konkurrenz, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser, 4., gänzlich umgearbeitete Aufl., Bd. 5, Jena 1923, S. 825–833, sowie im Nachfolgewerk ders.: Wettbewerb – Soziologische Einordnung, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, hrsg. v. Erwin Beckerath, Hermann Bente, Carl Brinkmann, Carl, Bd. 12, Stuttgart/Tübingen/Göttingen 1965, S. 25–29.

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Sprachgebrauch folgend mit Wettbewerb synonym setzte, an, wonach die Parteien das Ziel haben, dasselbe Gut erstreben. Die Interaktion kann sich entweder zum Konflikt wandeln oder aber, umgekehrt, zu einer Beziehung des Miteinander. Dieser Gesichtspunkt war so nicht bei Simmel zu finden. Und noch ein neuer Aspekt erschien bei v. Wiese: Die Konkurrenz ist selten frei gewählt. Oft ist sie es nur teilweise, häufig wird sie sogar aufgezwungen. Wie Simmel, kennt auch v. Wiese die Konkurrenz als ein normales Phänomen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, als eine menschliche Konstante: „Es ist nicht richtig, daß auf dem Warenmarkte mehr Konkurrenz zu finden ist, als im außerwirtschaftlichen Berufsund Vereinsleben, in der Politik, in Kunst und Wissenschaft.“ 76 Es steht nicht in der Macht des Menschen zu entscheiden, ob es Konkurrenz geben soll oder nicht. Der menschliche Wille kann die Konkurrenz nur abschwächen oder verstärken, er kann sie kontrollieren oder frei wirken lassen, er kann sie individualisieren oder kollektivieren. Gleichzeitig existieren auch Mechanismen zur Unterdrückung von Konkurrenz. Engt man sie aber auf einem Gebiet ein, z. B. durch Kartelle, so wird sie sich auf anderem, z. B. in der Politik, umso stärker entfalten.77 Nach v. Wiese existieren zwei Arten von Konkurrenz: wenn ein Gut knapp ist, aber von allen benötigt wird, folgen wirtschaftliche Konkurrenz bzw. Wettbewerb. Das ist ein darwinistischer Ansatz: Da die Güter knapp sind, jeder sie aber braucht, müssen sich alle am Konkurrenzkampf beteiligen, auch wenn man keine Chance auf Sieg sieht. Es konkurrieren also mitunter Ungleiche miteinander, und der Sieger ist dann im Grunde von vornherein klar. Konkurrenz ist aber nicht nur eine Form der wirtschaftlichen Auseinandersetzung, sondern eine allgemeine soziale Beziehung. Sie zeigt sich auf allen Gebieten menschlicher Betätigung und kann sich überall entfalten. Wiese erklärt dies psychologisch: „sie ist ein Ergebnis des Verlangens nach Anerkennung und der Neigung zur Rivalität.“ 78 Daß die wirtschaftliche und die psychologisch-soziale Konkurrenz ineinanderfließen können, liegt auf der Hand. Damit ist Konkurrenz nicht nur als Beziehung zwischen Menschen und als Ergebnis von Prozessen definiert, sondern auch als soziales Ordnungssystem. Dieser Ansatz wird später auf Niklas Luhmann einwirken (siehe S. 22). Damit deutet auch v. Wiese Konkurrenz als Stratifikationsmodell, ist doch ihr Zweck „Personen und Personengruppen einen dem übergeordneten Ganzen dienenden Betätigungsbereich anzuweisen. Sie ordnet das Glied im Gesamtgetriebe der Körperschaft ein.“ 79 Diese positive Leistungskonkurrenz funktioniert aber nur, wenn „die gewählten Spielregeln Sozialkriterien wie Fairness, Verallgemeinerungsfähigkeit und Gemeinwohlverträglichkeit genügen.“ 80 76 v. Wiese 1929, S. 22. Vgl. auch ders. 1965, S. 26. 77 Daneben führt er auch den Begriff des „Dharmaprinzips“ der indischen Kastenordnung ein. In Gesellschaften, die von diesem Prinzip geprägt sind, wird die Rangordnung als „im wesentlichen vom Schicksal gegeben“ hingenommen bzw. wird „der Mensch für seine Standeszugehörigkeit geboren“. v. Wiese 1929, S. 26. – Zu dem Phänomen der Kartelle siehe das Kapitel über das Zunftwesen; Liefmann, Robert: Kartelle, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser, 4., gänzlich umgearbeitete Aufl., Bd. 5, Jena 1923, S. 611–630. 78 v. Wiese 1929, S. 15. 79 v. Wiese 1965, S. 27. Vgl. auch ders. 1923, S. 827; ders. 1929, S. 29–31. 80 Watrin, Christian/Heimbach, Stephan: Wettbewerb, in: Staatslexikon Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, hrsg. v. d. Görresgesellschaft, 7. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1989, Bd. 5, S. 973–977, hier

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Konkurrenz als zivilisatorische Komponente: im Sinne Simmels interpretiert v. Wiese die Vernichtung eines Konkurrenten nicht als Extrem einer Konkurrenz, sondern betont das Ringen um das gemeinsame Ziel: „die Tendenzen des Auseinander werden durch Tatsachen der Verbundenheit abgeschwächt, durchkreuzt und oft nahezu kompensiert. Miteinander konkurrieren können nur Personen oder Gruppen, die ein gleiches Ziel anstreben … aber nicht der Art nach.“ 81 Das Streben nach demselben Ziel schafft latent instabile Zustände: zeitweilige Bündnisse lösen sich auf, neue bilden sich. Gleichzeitig sucht die Gesellschaft, Konkurrenz auf Teilbereiche zu begrenzen und Gemeinschaftliches zu stärken, um zerstörerische Wirkungen einzudämmen und die produktiven Kräfte zu fördern. Erst in der modernen, „offenen“ Gesellschaft von Demokratien, die „nicht nur eine Gleichheitstendenz aufweisen, sondern auch Konkurrenzen schaffen, die vorher nicht vorhanden waren und zu neuen Unterschieden führen“,82 kommt es auch zu Konkurrenzen zwischen großen sozialen Gruppen. Karl Mannheim (1893–1947) wendet in seinem Beitrag den Begriff der Konkurrenz auf das „geistige Leben“.83 Seine Leitfrage ist, in welchem Verhältnis die geistigen Gebilde zu denjenigen Prozessen stehen, die sie bewirkt haben, er untersucht also die soziale Bedingtheit von Wissen und die Rolle der Konkurrenz für geistige Entwicklung und Erkenntnisgewinn. Einer der wichtigsten Prozesse der „geistigen Gestaltung“ ist die Konkurrenz. Ihn interessiert aber nicht die Rolle der Konkurrenz auf dem Gebiet des Geistigen überhaupt und generell, sondern vor allem im Prozeß des Erkenntnisgewinns, und hier besonders die sozial- und geisteswissenschaftliche Erkenntnis sowie die soziale Konkurrenz. Er hat dabei vor allem das Erringen und Beherrschen der „richtigen sozialen Sicht“ im Blick. Das sozial- und geisteswissenschaftliche Erkennen zielt auf Wesentliches, nämlich auf Grundbedingungen menschlicher Existenz. Deshalb nennt Mannheim es „seinsverbundenes Erkennen und Wissen“.84 Was sind dessen Merkmale? An erster Stelle steht das Verstehen, an zweiter Stelle das, was wir denken. Es ist von unserer Weltanschauung geprägt und bedingt. Oder, anders ausgedrückt: nicht alles ist überall und zu allen Zeiten denkbar. Will man also Denkergebnisse verstehen, so muß man abschätzen können, was zu dieser Zeit, an diesem Ort, geistesgeschichtlich möglich war.85

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S. 977. Vgl. auch Kellner, W.: Konkurrenz und Monopol, in: Wörterbuch der Soziologie, hrsg. v. Wilhelm Bernsdorf, Friedrich Bülow, Stuttgart 1955, S. 264–268, hier S. 268. v. Wiese 1965, S. 26. v. Wiese 1965, S. 27. Mannheim, Karl: Die Bedeutung der Konkurrrenz im Gebiete des Geistigen, in: Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd. 6 (Verhandlungen des 6. Deutschen Soziologentages vom 17.–19. September 1928 in Zürich), Tübingen/Köln/Stuttgart 1929, S. 35–83. Das Zitat Mannheim 1929, S. 36. Siehe auch ders.: Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte 1, (15), 1921/22, Wien 1923, S. 236–274; Neudruck in: Wissenssoziologie, hrsg. v. K. H. Wolff, Neuwied/Berlin 1964, S. 103 ff. Mannheim 1929, bes. S. 41–46. Dieser Aspekt wurde von Erwin Panofsky aufgenommen und für die Kunstgeschichte aufbereitet; er publizierte es zuerst 1932 als: Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: Logos 21, 1932, S. 103–119; in veränderter Fassung 1939 als: Introductory, in: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939 (The Mary Flexner Lectures 7, 1937), S. 3–31, sowie weitere, überarbeitete Fassungen. Mannheims „seinsverbundenes Wissen“ enspricht der dritten Stufe von Panofskys Deutungsmodell, der „ikonologischen“ Deutung, wie er sie seit 1955 nannte. Diese

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Nach Mannheim ist dieses Erkennen auf der dritten Stufe sozial-weltanschaulich gebunden.86 Diese Erkenntnisleistung ist jedoch nur in Verbindung mit einer gewissen sozialen Sensibilität möglich. Beides, die weltanschauliche Gebundenheit und die soziale Sensibilität, sind schöpferische Prinzipien. Sie sind zugleich auch Grenzen jeder Art sozial- und geisteswissenschaftlicher Erkenntnis, des „seinsverbundenen Wissens“.87 Welche Bedeutung hat Konkurrenz für das „seinsverbundene Wissen“ nach Mannheim? Zunächst definiert er die Konkurrenz auf dem Gebiet des Geistigen. Es gibt einen Wettbewerb der Individuen, der Institutionen, der konkreten Gruppen sowie der Generationen und der sozialen Schichten. Danach stellt er fest, daß es Wissen gibt, das aufgrund von Monopolsituationen zustande gekommen ist. Dieses Wissen ist einheitlich strukturiert, weil es nur von einer – eng begrenzten – Gruppe getragen und verwaltet wird. Wenn auch andere Individuen oder Gruppen usw. dieses Wissens habhaft werden wollen, entsteht eine Konkurrenzsituation. In der neuzeitlichen Geschichte des Denkens entdeckt Mannheim einen Prozeß, in dessen Verlauf der Wettbewerb weiter zunimmt. Es entwickeln sich immer mehr unterschiedliche Denkpositionen und eine größere Meinungsvielfalt zu bestimmten Themen. Diese konkurrieren miteinander, und zwar um die „richtige“ Sicht. Sie differenzieren sich in sozialer und in politischer Hinsicht, sie tauschen sich aus, und in diesem Kommunikationsprozeß polarisieren sie sich oder gleichen sich auch einander an. Als Auswirkung des Wettbewerbs konstatiert Mannheim folglich ein Gegeneinander-Denken und ein Miteinander-Denken. Die „Wahrheit“, die sich als Ergebnis der Konkurrenz durchsetzt, ist folglich eine Auslese aus verschiedenen Wahrheiten; 88 im Grunde beschreibt er die Konkurrenz um die vielbeschworene Deutungshoheit. Leon Festinger hat 1954 in seiner Theorie der kognitiven Dissonanz 89 aus sozialpsychologischer Sicht dargelegt, wie Menschen die Tendenz leben, sich miteinander zu vergleichen.

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dritte Stufe, die Ikonologie, untersucht, welche Denk- und Gestaltungsmöglichkeiten, welche Weltanschauung das Werk prägt, bzw. was zu welchen Zeiten überhaupt geistesgeschichtlich möglich war. Siehe hierzu Eberlein, Johann Konrad: Inhalt und Gehalt. Die ikonografisch-ikonologische Methode, in: Kunstgeschichte. Eine Einführung, hrsg. v. Hans Belting et al., 6. überarb. u. erw. Aufl. Berlin 2003, S. 175–197, bes. S. 179–182. Mannheim 1929, S. 42: „In unserem Falle besagt dies, daß bestimmte historischlebendige und in diesem Sinne qualitative Einsichten nur bestimmten historisch und sozial formierten Bewußtseinsstrukturen zugängig sind, weshalb in diesem Gebiete auch der historisch-soziale Aufbau des Subjektes für die Erkenntnistheorie von Bedeutsamkeit wird.“ Alfred Weber war der einzige Teilnehmer des Soziologentags, der den Vortrag als „wieder vorgetragene materialistische Geschichtsauffassung“ angriff, war er doch „für alle erkennbar eine Kampfansage und Herausforderung an Alfred Weber; sie wirkte auf ihn wie ein rotes Tuch.“ Norbert Elias, zit. n. Reinhard Blomert: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München/Wien 1999, S. 214. Mannheim 1929, S. 45 (Hervorhebung im Original): „… vom Standpunkte der Gesellschaftswissenschaft ist jedes historische, weltanschauliche, soziologische Wissen – auch wenn es die absolute Richtigkeit und Wahrheit selbst sein sollte – eingebettet und getragen vom Macht- und Geltungstrieb bestimmter konkreter Gruppen, die ihre Weltauslegung zur öffentlichen Weltauslegung machen wollen.“ Festinger, Leon: A Theory of cognitive Dissonance, Stanford University Press 1957; dt. als: Theorie der kognitiven Dissonanz, hrsg. v. Martin Irle, Volker Möntmann, Bern/Stuttgart/Wien 1978.

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Dieser Vergleich bezieht sich in umfassender Weise z. B. auf Leistungen und Fähigkeiten, und auch auf Einstellungen, Werte, Urteile. Durch den Vergleich wird die eigene Position innerhalb eines Systems definiert und ggfs. verändert – im Zweifel, entsprechend den Werten, die im System herrschen, verbessert. Das ist zugleich die Grundlage für Konkurrenz: man möchte besser abschneiden als andere und die eigenen Fähigkeiten und Leistungen optimieren. Auch diese Theorie Festingers macht vor allem klar, wie stark die Vergleichsprozesse und das daraus resultierende Verhalten sozialbezogen sind. Diese Prozesse strukturieren eine Situation. Statt im Chaos zu versinken, stellen die Beteiligten mittels der Konkurrenz eine Ordnung her. Wenn die Rangordnung nicht z. B. durch die Position innerhalb einer Institution oder durch Tradition vorgegeben ist, wird sie hergestellt – durch Konkurrenz. Leopold von Wiese hat in diesem Zusammenhang vom Dharma- oder Feudalprinzip gesprochen, das die soziale Stellung als „im wesentlichen vom Schicksal gegeben“ und die Standeszugehörigkeit durch Geburt festlegt.90 Niklas Luhmann führt in seinem Buch „Soziale Systeme“ von 1984 91 den Gedanken weiter aus, daß Konkurrenz auch als Sondertypus sozialer Erfahrung gesehen werden kann. Als „Systeme“ gelten ihm Maschinen und Organismen einerseits sowie soziale und psychische Systeme andererseits. Die Unterscheidung beruht auf dem Willen oder der Fähigkeit zu geistigen Prozessen. Die sozialen Systeme sind in Interaktionen, Organisationen und Gesellschaften zu untergliedern. Allen gemeinsam ist ihre Geschlossenheit, ihre Abgrenzung gegenüber anderen Systemen. Somit kann das Individuum als psychisches System interpretiert werden, das auf andere Systeme, aber auch auf sich selber einwirken kann. Damit bilden schon zwei oder mehr Individuen ein soziales System, wobei das oberste Ziel jedes Systems die Selbsterhaltung ist. Konkurrenzen werden für Luhmann erst interessant, wenn sie zum Konflikt führen, denn dieser erfordert Kommunikation zwischen den Konkurrenten bzw. Systemen. Diese Kommunikation ist immer wechselseitig, weil jedes Einwirken auf ein anderes System eine Reaktion und damit die Fortsetzung der Kommunikation bewirkt, was Luhmann als „wechselseitige Kontingenz“ bezeichnet.92 Dazu gehört auch, daß ein System eine Reaktion des anderen antizipiert und in das eigene Agieren einbezieht, das zweite System also durch seine bloße Existenz das Handeln des ersten beeinflußt. Ein Extremfall dieser Kommunikation wäre, daß die Konkurrenz nur im eigenen Kopf stattfindet, ohne daß Ansprüche anderer tatsächlich wirksam sind. Selbst wenn im Zuge der Selbsterhaltung des Systems das konkurrierende System auf der Strecke bleibt, sieht Luhmann die interaktiven Ereignisse und gegenseitige Beeinflussung grundsätzlich positiv: das Siegersystem hat sich erweitert und hinzugewonnen; der Prozeß hat etwas Neues hervorgebracht. Weiterentwicklung in jeder Form ist für Luhmann prinzipiell auch kreativ. Fritz Reheis zufolge ist allen diesen Studien das „Konkurrenz-Gleichgewichts-Paradigma“ gemeinsam: Indidviduen und Gruppen verfolgen ihre Ziele, geraten dabei in Wett-

90 v. Wiese 1929, S. 26. 91 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 666), Frankfurt/M. 1984, 10. Aufl. 2002. 92 Hier fühlt man sich – als eine mögliche Variante des Kommunikationsprozesses – an die Anverwandlung an den Gegner erinnert, die Simmel beschrieben hatte.

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bewerb, gehen schließlich Kompromisse ein und schaffen damit ein neues Gleichgewicht.93 Konrad Thomas faßt Wettbewerb, Konkurrenz und Konflikt unter dem Oberbegriff der Rivalität zusammen und erkennt ihr als Steuerungsprozeß sozialer Vorgänge und Problemlösungen in Gesellschaften zentrale Bedeutung zu: „Rivalität als Kristallisationskern wesentlicher Probleme, die gelöst werden sollen. Sie gilt für alle Gesellschaften, seien sie archaisch, frühzeitlich oder modern. Rivalität stellt in jeder Gesellschaft Aufgaben, die immer nur zum Teil gelöst, zum Teil durch Steuerung erträglich gehalten werden … Die Struktur von Rivalität nötigt Menschen zu ständiger Balancierung – sie zu fördern oder zu hindern, Gesellschaft zu erhalten, ist weniger ein Problemlösungs-, mehr ein Steuerungsversuch.“ 94 Allen Autoren ist gemeinsam, daß sie Konkurrenzen als ein Grundmuster menschlichen Verhaltens sehen. Die Beispiele aus dem Bereich der Kunst, die in diesem Buch geschildert werden, bieten verschiedene Spielarten aus dem breiten Spektrum von Konkurrenzmöglichkeiten und zeigen, wie sich Künstler unter dem Aspekt des Wettbewerbs verhielten. Mein Anliegen ist, bekannte Phänomene unter einem neuen Aspekt zu analysieren. Dabei habe ich mich auf die Neuzeit konzentriert, und hier auf die Malerei, um eine gewisse Konsistenz zu erreichen. Das Buch trägt in einzelnen Kapiteln auch neue Detailforschungen vor, doch versteht es sich vor allem als eine Pilotstudie zur Konkurrenz als kreativem Prinzip in der Kunst. Der Begriff der Konkurrenzen kann eine neue Sicht auf Vorgänge in der Kunst bieten. Kunstgeschichte befaßt sich zu einem großen Teil mit dem Wandel in der Kunst, wie z. B. dem Stil- und Motivwandel. Diese Prozesse verlaufen nicht immer stetig, sondern oft in Sprüngen, mitunter plötzlich, katastrophisch. Die Kunstgeschichte versucht, diesen Wandel nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären, z. B. mit Hilfe von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorgängen. Die Phänomene des historischen, kulturellen und ästhetischen Wandels von der Antike bis zur Gegenwart werden dabei oft linear erklärt, d. h. auf bestimmte Ursachen folgt ein Wandel in den Ausdrucksformen von Kunst. Als Alternative zu solchen Erklärungsversuchen bietet es sich an, diese Wandlungen als nicht-lineare Prozesse zu verstehen. Mit dem Ansatz, Konkurrenzen als schöpferisches Prinzip zu begreifen, läßt sich in manchen Fällen nachweisen, daß Entwicklungen keineswegs nur kausalen oder teleologischen Erklärungen folgen müssen.95 Nicht immer ist z. B. ein Machtwechsel mit einem neuen Konzept der Auftraggeber die Ursache solcher Brüche; es können auch Konkurrenzen sein, die einen Bruch in der Entwicklung hervorrufen. Selbst Bedeutungswechsel und -verschiebungen einzelner Motive können mitunter so neu gedeutet werden und zur Beantwortung der Frage beitragen, warum bestimmte Motive und Stile adaptiert werden, andere aber nicht, oder welche Vorstellungswelten bestimmte Darstellungsmöglichkeiten zulassen und andere nicht. Als Konsequenz kann sich damit unser Verständnis vom Wandel in der Kunst verändern.

93 Reheis, Fritz: Konkurrenz und Gleichgewicht als Fundament von Gesellschaft, in: Sozialwissenschaftliche Studien, Heft 13, Berlin 1986, S. 302. 94 Thomas, Konrad: Rivalität – Sozialwissenschaftliche Variationen zu einem alten Thema. Europäische Hochschulschriften, Reihe XXII, Soziologie, Bd. 192, Frankfurt/M. 1990, S. 7. 95 Es ist nicht immer „die unsichtbare Hand“ als Zeichen einer gewissen Hilflosigkeit bei der Erklärung solcher Änderungen in Form und Inhalt nötig.

Die Konkurrenz mit der Antike: Künstleranekdoten, die (Kunst-)Geschichte machten

Bis in die Gegenwart hinein greifen Künstler immer wieder Motive auf, die in der antiken Kunstliteratur als Beispiel für die Meisterschaft eines Künstlers genannt werden.1 Zu den beliebtesten gehören z. B. die gemalten Trauben des Zeuxis und die Aphrodite Anadyomene des Apelles. Dieses Nachleben ist Teil der Motivgeschichte, denn immer wieder erscheinen dieselben Sujets. Damit ist dieses Phänomen auf der Grenze zwischen Konkurrenz und Nachahmung angesiedelt, wie in der Einführung erläutert wurde. Es ist Konkurrenz in dem Sinne, als das Aufgreifen dieser Themen den Vergleich mit den „unvergleichlichen“ Meistern der Antike herausfordert, und auch in dem Sinne, daß die Nachahmung eines großen Vorbildes als Streben nach derselben Anerkennung zu verstehen ist, die dem vorbildhaften Meister zukam. Zugleich handelt es sich um eine einseitige Konkurrenz, denn der antike Künstler, mit dem der Nachgeborene wetteifert, bleibt von dieser Rivalität persönlich gänzlich unberührt. Die Nachahmung von Werken der Antike geht zugleich weit über Fragen der Motivgeschichte hinaus, denn mit einer solchen Nachahmung stellt sich der jeweilige Künstler in die antike Tradition. Das Aufgreifen ihrer Themen soll meistens nobilitierend wirken, indem sich der Meister damit als der wahre Erbe der Antike annonciert. Da die antiken Vorbilder nicht erhalten, sondern lediglich aus den oft nur summarischen Schilderungen der Literatur bekannt sind, präsentiert jeder Künstler, der solche Motive aufgreift, mit seinen Konkurrenzwerken zugleich seine Vorstellung von „Antike“. Nicht ganz unschuldig daran war Alberti mit seiner nachdrücklichen Forderung, diese Werke auf der Grundlage der antiken Bildbeschreibungen neu zu malen. Damit war eine weitere Variante der einseitigen Konkurrenz geboren, nämlich die zwischen Epochen: die aemulatio, die kompetitive Nachahmung der Antike. Manchmal betrieben Auftraggeber, manchmal die Künstler diese Konkurrenz. Da die antiken Werke nur in wenig detaillierten Beschreibungen existierten, war der Wettstreit mit den antiken Künstlern nie zu entscheiden,2 denn wie diese antiken Malereien genau ausgesehen hatten, wußte 1 Hierzu z. B. Lecoq, Anne-Marie: Götter, Helden und Künstler. Die Künstler in den griechischen Schriften und ihr Fortdauern im Zeitalter der Akademien, in: Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Kat. Ausst. Haus der Kunst, München 2002, S. 53–69. 2 Ein Beispiel ist Alfonso d’Estes Kunstkabinett in Ferrara. Alfonso trieb zeitgenössische Maler mit dem Auftrag zur Neuschöpfung verlorener Bilder, die nur in Beschreibungen erhalten waren, zur Konkurrenz mit der Antike durch Nachahmung.

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1. Tizian: Venus Anadyomene, Öl auf Leinwand, 76 × 57,3 cm. Ca. 1520/25, Edinburgh, The Duke of Sutherland, Leihgabe in der National Gallery of Scotland, Edinburgh. Photo © National Gallery of Scotland

man nicht. Die wenigen erhaltenen antiken Codices mit Buchmalerei wurden erst im 19. Jahrhundert bekannt. Pompeji, Herculaneum und Stabiae wurden ab 1860 planmäßig ausgegraben, seit dem 18. Jh. waren Fresken aus diesen Städten bekannt geworden. So mußten sich die Künstler auf Schilderungen in der antiken Literatur verlassen, wobei Plinius eine der wichtigsten Quellen neben den „Eikones“ des Philostrat war.3 Zu den Nachahmern und damit Konkurrenten des Apelles zählt z. B. Tizian (1477(?)– 1576) mit seiner „Venus Anadyomene“: 4 Venus bzw. Aphrodite, die dem Meeresschaum entsteigt und sich das Wasser aus den Haaren drückt. Plinius beschreibt das Gemälde: „Eine aus dem Meer steigende Aphrodite, Anadyomene genannt, weihte der Divus Augustus im Tempel seines Vaters Caesar, wobei ein solch bedeutendes Werk durch das Lob in griechischen Versen in den Schatten gestellt, aber auch berühmt gemacht wurde. Als der untere Teil des Bildes verdorben war, konnte niemand für die Wiederherstellung gefunden werden, so daß selbst der Schaden dem Künstler Ruhm einbrachte.“ 5 Die Geschichte um die Venusdarstellung geht bei Plinius aber noch weiter und wird zu einem Fallbeispiel der Konkurrenz eines Künstlers mit sich selbst: „Apelles hatte noch eine andere Aphrodite zu Kos begonnen, mit der er seine frühere noch übertreffen wollte. Als es 3 Philostrat von Lemnos: Eikones. Die Bilder. Übers. v. Ernst Kalinka und Otto Schönberger, Düsseldorf/Zürich 1968. 4 Tizian: Venus Anadyomene, Öl auf Leinwand, 76 × 57,3 cm. Ca. 1520/25, Edinburgh, The Duke of Sutherland, Leihgabe in der National Gallery of Scotland, Edinburgh. 5 Plinius, Naturalis historiae: Farben, Malerei, Plastik, Lateinisch-Deutsch, hrsg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Bd. 35, Düsseldorf/Zürich, 2. Aufl. 1997, § 91.

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zum Teil vollendet war, versagte ihm der Tod in seiner Mißgunst die Fertigstellung, und es fand sich niemand, der an dem Werk nach den skizzierten Linien fortarbeiten konnte.“ 6 Zugleich liegt hier auch eine Konkurrenz zwischen den Gattungen vor: das Lobgedicht auf die Aphrodite Anadyomene im Tempel des Caesar ist besser als das Gemälde selbst, aber es diente sowohl dem Ruhm des Dichters als auch dem des Malers; hier spielt also sogar noch ein Wettstreit zwischen den Gattungen Malerei und Poesie mit. Die beiden Gemälde des Apelles waren schon zur Entstehungszeit so berühmt, daß allein auf sie fünf Epigramme verfaßt wurden, darunter das folgende: „Kypris selbst sah der liebend bemühte Apelles / nackt aus den Fluten des Meeres geboren werden / und er malte sie, wie sie mit zarten Händen / ihre vom Meeresschaum nasse Lockenpracht wringt.“ 7 Eine exakte Bildbeschreibung boten weder Plinius noch diese Gedichte, und so war den Künstlern genügend Raum für Phantasie gelassen. Zum Wettstreit zwischen Malerei und Poesie berichtet Apelles noch von einem weiteren Beispiel: „Die bedeutenderen Kunstverständigen bevorzugen von allen seinen Werken … eine Artemis mitten unter der Schar opfernder Jungfrauen, womit er die Verse Homers, der eben dies[es Motiv] beschreibt, übertroffen zu haben scheint.“ 8 Tizian stellte seine Venus als Kniestück dar, weil Plinius zufolge der untere Teil des Bildes von Apelles verdorben und kein Maler imstande war, den zerstörten Teil zu ergänzen.9 Warum Tizian darauf verzichtete, in seiner Fassung die Beine zu ergänzen, kann man nur mutmaßen. Damit hätte er gezeigt, daß er zu einer solchen Reparatur in der Lage war, wodurch er seine Gleichwertigkeit mit Apelles und die Überlegenheit gegenüber antiken Apelles-Nachfolgern, die dazu nicht fähig gewesen waren, unter Beweis gestellt hätte. So aber wahrte er die Hierarchie, erkannte Apelles als unübertrefflich an und hielt respektvollen Abstand zum größten Maler der Antike. Eine weitere Venus Anadyomene stammt von dem irischen Maler James Barry (1741– 1806). Dieser hatte mit seiner überlebensgroßen Liebesgöttin von 1772 10 Aufsehen erregen und sich selbst als zweiten Apelles propagieren wollen. Eine entsprechende Reaktion ließ fünfzig Jahre auf sich warten, bis ein weiterer Maler genau dieses Gemälde auf geistreiche Weise zitierte: Raphaelle Peale (1774–1825) verbarg in seinem Bild von 1822 11 Barrys Venus hinter einem leinenen Vorhang. Der Vorhang wirkt zunächst wie die keusche Verhüllung einer nackten Dame. Auf den zweiten Blick jedoch erkennt der kundige Betrachter das Gemälde als Zitat der Venusdarstellung Barrys. Der Vorhang entzieht die nackte Gestalt 6 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 92. 7 Aulus Licinius Archias, zit. n. Scheibler, Ingeborg: Griechische Malerei der Antike, München 1994, S. 36. 8 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 96. 9 Plinius, Naturalis historiae Bd. 35, § 91. Scheibler 1994, S. 23 verweist auf Sueton (Vespasian 18), wonach Vespasian für sehr viel Geld eine „Koische Venus“, d. h. vermutlich das Bild des Apelles, habe restaurieren lassen. 10 James Barry: Venus rising from the Sea, 261,6 × 170,2 cm. Ausgestellt in der Royal Academy London 1772, Dublin City Gallery The Hugh Lane. Pressly, William: James Barry. Kat. Ausst. London: The Tate Gallery, 1983, S. 54, weist darauf hin, daß Barry für bestimmte Details auch auf Lucretius: De rerum natura und auf Hesiods Theogonie zurückgriff: die Wolken, die ruhige See, Regenbogen, turtelnde Vögel und die Blumen, die zu Füßen der Venus sprießen. 11 Raphaelle Peale: Venus rising from the Sea – a Deception. Ausgestellt 1822 in der Pennsylvania Academy of Fine Arts. Nelson Gallery, Atkins Museum, Kansas City.

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2. James Barry: Venus rising from the Sea, 261,6 × 170,2 cm. Ausgestellt Royal Academy London 1772; Dublin City Gallery The Hugh Lane

den Blicken des Publikums, macht es aber durch das Verstecken umso aufmerksamer und neugieriger. Schließlich wird man sich klar, daß Peale hier den Vorgänger zitiert, man also Barry und Peale in einem sieht. Barry hatte „erhaben“, „sublim“ sein wollen, was ihm nicht immer gelang. Die Verhüllung der Göttin der Schönheit bei Peale, die Barry in fast aggressiver Weise in üppiger Nacktheit präsentiert hatte, trifft das Gemälde in seinem Kern: es ist eine Ironisierung, die einer vernichtenden Kritik gleichkommt. Warum wählte Peale dafür den Vorhang als Motiv? Wie die Venus Anadyomene, so entstammt auch er einer antiken Konkurrenz. Plinius berichtet über Zeuxis: „Seine Zeitgenossen und Nebenbuhler waren Timanthes, Androkydes, Eupompos und Parrhasios. Der zuletzt Genannte soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe so naturgetreu gemalte Trauben ausgestellt, daß die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.“ 12 Peale spielte mit dem Vorhang auf die antike Konkurrenz an und machte sich selbst zugleich zu einem Parrhasios, dem überlegenen Künstler. Für die eigene Konkurrenz griff er auf die der Antike zurück, stellte sich damit in die antike Tradition, forderte den Vergleich mit antiken Malern heraus und kennzeichnete sein eigenes Bild deutlich als Teil eines Wettstreits.

12 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 65. Siehe auch Gschwantler, Kurt: Zeuxis und Parrhasios. Ein Beitrag zur antiken Künstlerbiographie (Diss. Univ. Graz), Wien 1975, S. 75–92.

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3. Raphaelle Peale: Venus rising from the Sea – a Deception. Ausgestellt Pennsylvania Academy of Fine Arts 1822. Nelson Gallery, Atkins Museum, Kansas City

Diese berühmte Anekdote ist nicht der einzige Beleg für die Konkurrenz zwischen Zeuxis und Parrhasios. Für die beiden sind zahlreiche Epigramme belegt, in denen sie ihre Kunst gegenseitig in Szene setzten und miteinander rivalisierten.13 Anthologien solcher Epigramme auf Kunstwerke kursierten bereits seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. und bildeten den Quellenschatz vieler antiker Schriftsteller.14 Die Künstler konkurrierten also nicht nur in ihren Werken miteinander, sondern auch mithilfe literarischer Mittel; sie inszenierten ihre Rivalität in verschiedenen Medien. So verstanden sie es, eine Öffentlichkeit herzustellen und auf diese Weise ihr privates Wetteifern zu monumentalisieren. Damit nicht genug: diese Öffentlichkeit garantierte, daß nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die Nachwelt von ihrem künstlerischen Kräftemessen erfuhr. Die Geschichte sollte diesem Vorgehen Recht geben. Die Werke sind verloren, aber die Epigramme zeugen noch immer vom Können der Künstler. Dieses Vorgehen – konkurrieren, und zwar medienwirksam konkurrieren – wurde ebenfalls in der Folge eifrig nachgeahmt, hatte es doch seine Effizienz eindrucksvoll bewiesen. Die klaren Schilderungen Plinius’, die nicht ohne Humor sind, riefen geradezu nach fortwährender Aktualisierung. Wer auch immer verhüllende Draperien, Vögel oder Trauben malte, konnte sicher sein, als neuer Parrhasios bzw. Apelles erkannt zu werden. Tiere als Schiedsrichter sind kein Einzelfall. So haben mehrere Maler, darunter Apelles, Pferde gemalt. Als echte Pferde zu den Bildern geführt wurden, sollen diese einzig das des Apelles angewiehert haben.15 Bei öffentlichen Spielen in Rom sollen Raben auf die gemalten

13 Siehe dazu im Einzelnen Gschwantler 1975, bes. S. 107–111. 14 Scheibler 1994, S. 36. 15 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 95 f.

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4. Jacopo de’ Barbari: Stilleben mit Rebhuhn, Eisenhandschuhen und Armbrustbolzen, Öl auf Lindenholz, 52 × 42,5 cm. 1504, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München

Dachziegel der Bühnendekoration zugeflogen sein.16 Dies mögen erfundene Anekdoten sein. Sie aber damit einfach abzutun, wäre verfehlt. Ihr Sinn ist ein anderer: immer wieder lobte Plinius die Naturnähe von bestimmten Kunstwerken, die Mimesis. Wenn er ein Werk, einen Maler, besonders preisen wollte, behauptete er, daß die Darstellung wie das Leben selbst gewirkt habe. Eine andere Möglichkeit des Qualitätsbeweises waren ihm zufolge exorbitante Preise, die für ein Werk gezahlt worden waren. Die naturgetreue Malerei, wie Plinius sie so schätzte, ist im Grunde die Konkurrenz zwischen Realität und Abbildung, Kunst und Natur, Abbild und Vorbild, Schein und Wirklichkeit. Der Schein der Malerei übertrifft die Wirklichkeit, wird mithin „wirklicher“ als diese. Darum bedeutet es den eigentlichen Sieg, wenn der Künstler nicht nur die Vögel täuschen kann: diese erleben den Schein als Wirklichkeit. Wenn man aber den Schöpfer des Scheins täuschen kann, den Maler, dann ist das nicht mehr zu übertreffen. Diese Thematik – Malerei als Schein, und doch realistischer als die Wirklichkeit –, die Frage der Wahrheit und der Idee der Bilder, ist ein Grundthema der Kunst und der Kunstgeschichte. Eine Vorstellung von dieser Form der Mimesis gibt z. B. die pompejanische Wandmalerei mit ihrer Scheinarchitektur und illusionistischen Darstellungsweise. Auch hier sind Vögel zu finden, und auch diese stehen in einer langen Tradition der Nachahmung bzw. Konkurrenz. Protogenes nämlich malte ein Bild mit einem Satyr, der an einem Pfeiler lehnt, den ein Rebhuhn zierte.17 Weil aber die lebendigen Rebhühner ihr gemaltes Bild gackernd umwarben, löschte der Künstler die gemalten Rebhühner wieder aus: er hatte ein Bild malen wol-

16 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 23. 17 Strabo XIV, 652.

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len, keine Lockvögel.18 Diese Anekdote dürfte mit Sicherheit erfunden sein, denn die Tatsache, daß sie in Zusammenhang mit verschiedenen Künstlern erzählt wird, ist dafür ein ziemlich eindeutiges Indiz. Sie soll die Fähigkeiten des jeweiligen Künstlers beweisen. Wohl deshalb hatten diese Vögel ein reiches Nachleben. Ein Beispiel in der Neuzeit ist das „Stilleben mit Rebhuhn, Eisenhandschuhen und Armbrustbolzen“ des Jacopo de’ Barbari von 1504. Möglicherweise ist dieses Gemälde das früheste unabhängige Stilleben überhaupt. Es könnte aber ursprünglich auch die Tür eines Waffenschranks oder die Rückseite eines Portraits gewesen sein.19 In jedem Fall ist es der Versuch einer sehr illusionistischen Malerei: Stil und Motiv sprechen für bewußte Antikennachahmung. Die Trauben entwickelten sich zu einem der beliebtesten Motive nach Plinius. Auch bei ihnen ist der Illusionismus ausschlaggebend; sie müssen zum Greifen verlocken. Leider hatte Plinius nicht gesagt, ob Apelles blaue oder weiße Trauben gemalt hatte: so fertigten manche Maler gleich zwei Bilder an, um ganz sicherzugehen.20 Darstellungen dieser Art, die bewußt auf Plinius bzw. antike Maler zurückverweisen, finden sich besonders gehäuft in den Vereinigten Staaten von Amerika im späten 18. und im 19. Jahrhundert. Hier mußte sowohl in politischer als auch in künstlerischer Hinsicht eine neue, von Europa emanzipierte Identität gefunden werden. Da die griechische Antike als demokratisch galt, bot sie sich als Vorbild an. In ihrer Nachfolge konnte man sich als Demokrat präsentieren, und obendrein hatte die Antiken-Imitation den Vorzug, daß man sich auf der Höhe der europäischen Malerei erweisen konnte. Damit verband sich die Konkurrenz zusätzlich mit Nationalstolz. Das Spektrum möglicher Konkurrenzen bei Plinius ist mit obigen Beispielen noch nicht ausgeschöpft. Er schildert einige Fälle, in denen die antiken Künstler untereinander konkurrierten. Damit war die Konkurrenz selbst als antike Form der Auseinandersetzung sanktioniert und als Mittel der Profilierung etabliert. Dabei konnten bisherige Sieger auch zu Besiegten werden. So unterlag z. B. Parrhasios, der Gewinner im „Vorhang-Wettbewerb“, seinerseits im Wettstreit gegen Timanthes von Samos. Beide sollten Aias malen, der im Wettstreit um die Waffen des toten Achill dem Odysseus unterliegt. Als Parrhasios „mit großer Stimmenmehrheit … übertroffen wurde, sagte er, daß er es im Namen seines Helden als peinlich empfinde, ein zweites Mal von einem Unwürdigen überwunden worden zu sein.“ 21 Hier wird ein Wettstreit anderer Art mit einem künstlerischen Wettstreit parallelisiert. Über die Art dieses Wettstreits berichtet Plinius aber nichts Näheres, und wer über die beiden Werke abstimmte, bleibt offen. Plinius berichtet auch von freundschaftlicher Konkurrenz.22 So suchte Apelles Protogenes auf, die sich gegenseitig im Ziehen feiner und feinster Linien, jeweils in die des Konkur18 Gschwantler 1975, S. 135. 19 Jacopo de’ Barbari: Stilleben mit Rebhuhn, Eisenhandschuhen und Armbrustbolzen, Öl auf Lindenholz, 52 × 42,5 cm. 1504, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München. Kultzen, Rolf: Barbari, Jacopo de’, in: Alte Pinakothek München, Katalog der ausgestellten Werke, 2. Aufl. München 1986, S. 58 f. 20 z. B. Andrew John Henry Way (1826–1888): Blaue Trauben/Weiße Trauben, beide Gemälde Öl auf Leinwand, 45,7 × 30,5 cm. 1876, Baltimore Museum of Art, Mrs. C. Oliver Iselin Fund, by exchange. 21 Plinius, Naturalis historiae Bd. 35, § 72; Gschwantler 1975, S. 132 f. 22 Plinius, Naturalis historiae Bd. 35, § 81–83.

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5. Euthymides: Amphora, Höhe 60 cm. Um 505 v. Chr, Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek, München

renten hinein, übertrafen, bis sich Protogenes als besiegt erklärte. Diese Konkurrenz spielte sich auf künstlerisch so hohem Niveau ab, daß das Werk zum Ruhme beider Künstler erhalten werden sollte.23 Die gegenseitige Wertschätzung zeigt sich auch darin, daß es Apelles gewesen sein soll, der den Werken des Protogenes zu Ruhm und Geld verhalf, indem er sie zu sehr hohen Preisen kaufte und das Gerücht ausstreute, er wolle sie als die seinigen weiterverkaufen.24 Apelles konnte dieses Gerücht nur deshalb lancieren, weil die Werke der beiden Künstler offenbar qualitativ vergleichbar waren. Damit nutzte er seine eigene Überlegenheit und marktwirtschaftlichen Vorteil, um – gegenläufig zu einer Konkurrenz – dem wirtschaftlich Schwächeren auf die Beine zu helfen. Hier spielt hinein, was Simmel (siehe das Einleitungskapitel) unter dem Aspekt der Moral formuliert hatte. Warum Apelles, warum war es so wichtig, mit ihm zu konkurrieren – seien es seine Zeitgenossen, seien es spätere Künstler? Die Antwort ist einfach; auch sie findet sich bei Plinius: „Alle Vorgänger und Nachfolger aber übertraf Apelles aus Kos. … Er allein trug zur Förderung der Malerei mehr bei als fast alle anderen, sogar durch Herausgabe von diesbezüglichen Lehrschriften.“ 25 Das reizte jeden Maler, der auf sich hielt und Ehrgeiz hatte. Apelles 23 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 83: „… man beschloß, die Tafel so der Nachwelt zu überliefern, zum ehrfürchtigen Staunen aller, besonders aber der Künstler. Ich vernehme, daß sie bei dem ersten Brand von Caesars Haus auf dem Palatin vernichtet wurde; vorher aber konnte man sie auf Rhodos sehen; sie enthielt auf einer großen Fläche nichts anderes als kaum sichtbare Linien; unter den herrlichen Werken vieler Künstler war sie gleichsam leer, lockte aber gerade darum an und war berühmter als jedes andere Kunstwerk.“ 24 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 88. 25 Plinius, Naturalis historiae, Bd. 35, § 79.

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gab den Maßstab vor, an der man sich messen konnte – und weil seine Bilder nicht erhalten waren, standen die Chancen gut, daß man als mindestens so gut wie Apelles gelten konnte. In der Kunstkritik wurde es zu einem üblichen Lob, einen Künstler als „neuen Apelles“ zu apostrophieren.26 Die Konkurrenz schlägt damit in bloße Formelhaftigkeit um, der Vergleich mit Apelles wird zu einem Topos. Aus all diesen Geschichten spricht erheblicher Stolz der Beteiligten, und damit auch erhebliches Selbstbewußtsein. Ein weiteres Beispiel dafür sind Signaturen, mit denen der Künstler bekundet, wer der Schöpfer des Werkes ist. So können solche Signaturen von Konkurrenzen zeugen, und auch hierfür finden sich antike Modelle. Nicht nur Maler von Bildtafeln konkurrierten. Ein sprechendes Beispiel aus der Vasenmalerei ist dank einer Amphore der Spätarchaik in der Münchner Antikensammlung überliefert; sie ist um 505 v. Chr. zu datieren.27 Der Künstler ist Euthymides. Ein junger Krieger, dank Beischrift als Hektor identifiziert, legt sich seinen ledernen Brustpanzer an. Neben ihm stehen seine Eltern, Hekabe und König Priamos. Links vom Krieger und zu beiden Seiten des väterlichen Knotenstocks ist die ausführliche Signatur „gemalt hat es Euthymides, der (Sohn) des Polios … [auf der anderen Seite, wo drei tanzende, mit Weinlaub bekränzte bärtige Zecher als Eledomos, Teles und Komarchos beschriftet sind] wie niemals Euphronios … [es hätte malen können]“. 28 Diese Art von Signatur ist einmalig und Zeugnis von größter Rivalität. Ob Euphronios seinerseits auch einmal ähnlich signiert hat, ist ungewiß, doch auch von ihm sind ausgezeichnete Vasenbilder überliefert. Aber Euthymides gelingt es besser als Euphronios, seine Figuren räumlich zu erfassen und plastisch durchzugestalten – wie z. B. bei der Verkürzung der Arme Hektors – 29 und darauf bezieht sich wohl das Eigenlob des Euthymides. Auffallend ist weiter, wie hier zwei Arten von Wettstreit miteinander verbunden werden: Die Konkurrenz zwischen zwei Künstlern stellt sich anhand eines Streits zwischen zwei Kriegern dar. Für Hektor wird der Zweikampf mit Achilles tödlich ausgehen. Für beide Fälle gilt das agonistische Prinzip, das sie verbindet.30 Unter dem Kriterium der lebensechten Naturnachahmung scheint es, daß die Kunst des Parrhasios eher auf zeichnerischen Gestaltungsprinzipien beruhte, die des Zeuxis aber eher auf malerischen. Er war es, der offenbar die Modellierung durch Licht und Schatten vorantrieb.31 Die Konkurrenzen, die sich in diesen Anekdoten überliefern, dienten folglich dazu, die jeweilige künstlerische Eigenart herauszustreichen. Der Sieger war für den sog. „Fort26 Beispiele der italienischen Renaissance z. B. bei Goffen, Rona: Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven/London 2002, S. 28. 27 Euthymides: Amphora, Höhe 60 cm. Um 505 v. Chr, Staatliche Antikensammlungen, München. 28 Arias, Paolo Enrico/Hirmer, Max: Tausend Jahre griechische Vasenkunst, München 1960, S. 66 f. Siehe auch Ohly-Dumm, Martha: Attische Vasenbilder der Antikensammlungen in München nach Zeichnungen von Karl Reichhold, Bd. I, München 1975, S. 22. Zu dieser Signatur auch Gschwantler 1975, S. 108, 143. Das Epigramm ist hier eine Art Künstlersignatur auf einem Werk, wobei der Text vor allem durch Verssammlungen überliefert ist. 29 Wehgartner, Irma: Euthymides, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider, Stuttgart/Weimar 1998, Bd. 4, sp. 319. 30 Diese Signatur ist nicht das einzige Zeugnis einer Konkurrenz. Paionios betonte auf seinem Monument der Nike in Olympia stolz, daß er bei der Konkurrenz um die Akroterien des Zeustempels gesiegt hat. Weitere Beispiele bei Gschwantler 1975, S. 108–111; zu dieser Inschrift ebd. S. 109, 129. 31 Gschwantler 1975, S. 151–157 zu „Zeuxis und Parrhasios als Vertreter verschiedener Kunstrichtungen“ ab Xenokrates (400–314 v. Chr.) bis zur Gegenwart.

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schritt“ in der Kunst verantwortlich – jedenfalls aus der Sicht der Nachwelt, die diese Anekdoten überlieferte. Das führte in der älteren Forschung dazu, die Anekdoten als Erfindung der Nachwelt anzusehen. Manche Verfasser konnten sich nicht vorstellen, daß solch ein Schlagabtausch zwischen Künstlern möglich gewesen war.32 Auch die zahlreichen Agone zwischen Künstlern, die überliefert sind, wurden als fiktiv interpretiert. Sie seien erfunden worden, um sich über eigene und fremde Werke äußern zu können.33 Als ernstzunehmende Konkurrenzen wurden sie erst im 20. Jahrhundert behandelt. Der Gedanke des Wettstreits war nahezu allgegenwärtig, und vielerlei Konkurrenzformen existierten gleichzeitig. Es gab Agone für ganze Gruppen von Künstlern, freiwillige Konkurrenzen zwischen zwei Künstlern, freundschaftliche Konkurrenzen. Auch nutzten die rivalisierenden Künstler die Konkurrenz, um sich in ihrer Verschiedenheit zu profilieren.34 Damit wurden sie zu Meistern ihrer jeweiligen Ausdrucksweise. Insgesamt war auf diese Weise ein breites Spektrum von Konkurrenzformen angelegt, das vor allem von Plinius überliefert wurde und das in nach-antiker Zeit immer wieder aufgegriffen werden sollte, vor allem in der Renaissance.35

32 Dieser Hinweis bei Gschwantler 1975, S. 107. Als Beispiel nennt er Benndorf, Otto: De Anthologiae Graecae epigrammatis quae ad artes spectant, Leipzig 1862 (Diss. Univ. Bonn 1862); dazu auch Gschwantler 1975, S. 109. 33 Gschwantler 1975, S. 128–131, daran anschließend und auf S. 146 f Aufzählung und Würdigung verschiedener künstlerischer Agone. 34 Der erste Wettstreit in der Malerei und das Malduell zwischen Panainos und Timagoras von Chalkis bei den Pythien (Plinius, Naturalis historiae Bd. 35, § 58 f). Phidias, Polyklet, Kresilas, Kydon und Phradmon konkurrierten um die schönste Amazonenstatue (Plinius, Naturalis historiae: Metallurgie, hrsg. u. übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Karl Bayer, Bd. 34, München/Zürich 1989, Kap. 19, § 53). 35 Siehe hierzu Pfisterer, Ulrich: Phidias und Polyklet von Dante bis Vasari: Zu Nachruhm und künstlerischer Rezeption antiker Bildhauer in der Renaissance, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26, 1999, S. 61–96.

Die stilisierte Konkurrenz nach der Antike: Die Ausschreibung für die Baptisteriumstüren in Florenz 1401

1401 schrieb die Florentiner Zunft der Tuchhändler, die Arte dei Mercanti di Calimala, einen Wettbewerb für die Gestaltung der nördlichen Türen des Baptisteriums aus: die bisherigen Holztüren sollten durch vergoldete Bronzetüren ersetzt werden. Die Bewerber mußten innerhalb eines Jahres ein Proberelief abliefern, wobei Maße, äußere Form, Thema und Ausführungsfrist vorgegeben waren. Als Motiv, das die Vergleichbarkeit der Stücke sichern sollte, wurde die Opferung Isaaks bestimmt. Der Konkurrenz stellten sich sieben Teilnehmer, die vierunddreißig-köpfige Jury votierte einstimmig für Ghiberti als Sieger.1 So stellt es sich jedenfalls in der Kunstgeschichte dar, wo dieser Fall zum Paradigma späterer Künstlerwettbewerbe wurde.2 Die frühen Kunsthistoriker, die sich mit diesen Reliefs auseinandersetzten, bedauerten allgemein, daß der eher konservative „Gotiker“ Ghiberti gewonnen hatte, und nicht der „fortschrittlichere“ Brunelleschi mit seinen offensichtlichen Antikenzitaten: es paßte nicht in ihr Bild vom Anbruch der Renaissance, der „Metamorphose“ von Gotik zur Renaissance.3 Zur allgemeinen Beruhigung hat man zwar in der Folge bei beiden Reliefs Antikenzitate entdecken können,4 aber dennoch blieb die Diskussion der Reliefs bis heute der Debatte um „Gotik“ oder „Renaissance“ unter den Vorzeichen von Tradition und Innovation verhaftet,5 was allerdings mehr über die Kunstgeschichtsschreibung als über die damaligen Verhältnisse sagt. Die Kunsthistoriker sahen vor allem eine Konkurrenzsituation, denn in dieser fanden sie die Kriterien der Neuzeit und auch ihrer eigenen Zeit wieder: „… das künstlerische Schaffen erfolge in freier Konkurrenz widerstrei-

1 Die Arte dei Mercanti di Calimala kaufte angeblich Brunelleschis Relief an und ließ es ca. 1402/03 vergolden. Es wird dann aber gegen 1432 als Altarschmuck der Alten Sakristei von San Lorenzo erwähnt, die Brunelleschi für die Medici erbaute. Um 1640 erscheinen beide Reliefs im Inventar des Großherzogs Ferdinand (1769–1824). Ende des 18. Jahrhunderts sind sie in den Uffizien, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Museo Nazionale del Bargello. Maße ohne Rahmen 45 × 38 cm. 2 Rauterberg, Hanno: Die Konkurrenzreliefs. Brunelleschi und Ghiberti im Wettbewerb um die Baptisteriumstür in Florenz (Diss. Univ. Hamburg 1995), Münster 1996. 3 Rauterberg 1996, S. 17, Anm. 25 und S. 18, 110–112, führt zahlreiche Literaturbelege an. 4 Dazu Rauterberg 1996, S. 64 f, 134–137, 181–186 zu deren damaliger politischer Funktion im Florentiner Kontext. 5 Rauterberg 1996, S. 11–16 zu der Geschichte der Rezeption des Wettbewerbs in der Kunstgeschichtsschreibung.

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Die Ausschreibung für die Baptisteriumstüren in Florenz 1401

6. Lorenzo Ghiberti: Opferung Isaaks, Bronze vergoldet, ohne Rahmen 45 × 38 cm. 1401, Bargello, Florenz. Foto © Hirmer Fotoarchiv München

tender Künstlerpersönlichkeiten. Der Wettbewerb als ein auf Fortschritt angelegtes Instrument forciere die Stilentwicklung, hier konstituiere sich das Künstlerindividuum.“ 6 Der vermeintliche Wettbewerb wurde zum Auftakt der Renaissance mit einem Paukenschlag: „The Renaissance began with a competition.“ 7 Ob die Auftragsvergabe – um es neutral zu formulieren – wirklich so ablief, wie es die Kunstgeschichte überliefert, die sich zumeist auf Ghibertis Bericht stützt, steht dahin. In seiner Darstellung verläuft diese Konkurrenz nämlich so lupenrein, daß man Verdacht schöpft und sich fragen muß, wieso es dermaßen wichtig war, den Wettbewerb in dieser Form zu überliefern. Was sollte damit bezweckt werden? 8 Wir wissen vor allem aus zwei Quellen von diesem Vorgang. Die früheste stammt vom Sieger Ghiberti selbst, der den prestigeträchtigen Auftrag erhielt. Er überliefert in seinen Lebenserinnerungen, den „Commentarii“ von 1447/48, die Details dieses Wettbewerbs, des „combattimento“, und zwar eingebettet in seine eigene Biographie. Diese ist zugleich die erste Künstler-Autobiographie.9 Die zweite Quelle findet sich in der Biographie des unter-

6 Rauterberg 1996, S. 16. 7 Goffen, Rona: Renaissance Rivals. Michelangelo, Leonardo, Raphael, Titian, New Haven/London 2002, S. 3, sinngemäß auch S. 4. 8 Seit dem frühen Mittelalter war die Wettbewerbspraxis durchaus geläufig. Middeldorf-Kosegarten, Antje: The origins of artistic competitions in Italy, in: Lorenzo Ghiberti nel suo Tempo. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento. Atti del Convegno Internazionale di Studi (Firenze, 18–21 ottobre 1978), Florenz 1978, S. 167–186. 9 Schlosser, Julius von: Lorenzo Ghibertis Denkwürdigkeiten (I Commentarii), Berlin 1912, S. 211 f.

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7. Filippo Brunelleschi: Opferung Isaaks, Bronze vergoldet, ohne Rahmen 45 × 38 cm. 1401, Bargello, Florenz. Foto © Hirmer Fotoarchiv München

legenen angeblichen Hauptkonkurrenten Brunelleschi, die ca. achtzig Jahre nach dem Ereignis datiert.10 Ghiberti zufolge sandte die Zunft Herolde aus, die in ganz Italien die Ausschreibung bekanntmachen und würdige Künstler zur Teilnahme auffordern sollten.11 Jeder, der sich die Aufgabe zutraut, werde vier Platten Erz bekommen und ein Jahr zur Fertigstellung Zeit haben. Die Jury, die die Regeln festlegte, bestand aus Fachleuten, nämlich aus Malern, Bildhauern, Gold- und Silberschmieden. Offenbar orientierte sich Ghiberti in seiner Schilderung an antiken Agonen – nicht umsonst war er der Verfasser der ersten nachantiken Kunstgeschichte. Deshalb ist an dieser Stelle ein Blick auf diese Agone notwendig. Ein Musterbeispiel dafür sind die zu Ehren Apolls in Delphi ausgetragenen Pythien.12 Diese zunächst alle acht Jahre stattfindenden Wettkämpfe waren anfangs rein künstlerischer Natur; in den ersten Anfängen gab es sogar nur einen einzigen Wettbewerb: den Hymnengesang mit Kitharabegleitung zu Ehren Apolls. Die musikalischen Wettbewerbe 10 Saalman, Howard: The Life of Brunelleschi by Antonio di Tuccio Manetti, Pennsylvania State University Press 1970, S. 47–51. Weitere Quellen wie die Schrift eines Anonymus in der Bibliotheca Magliabechiana in Florenz und die Viten Vasaris knüpfen daran an: Il codice Magliabechiano, cl. XVII. 17 contenente notizie sopra l’arte degli antichi e quella de fiorentini da Cimabue a Michelangelo Buonarroti, scritte da Anonimo Fiorentino, hrsg. von Carl Frey, Berlin 1892. Siehe auch Rauterberg 1996, S. 11 f. 11 Der Widerspruch, daß Ghiberti von sieben Bewerbern spricht, aber nur sechs Namen nennt, erklärt sich nach Julius von Schlosser dadurch, daß sich Ghiberti selber nicht namentlich aufführt. 12 Einen Überblick zu den Pythischen Spielen bietet Roux, Georges: Delphi. Orakel und Kultstätten, München 1971, S. 156 f.

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wurden nach festen Regeln und einem vorgegebenen Thema ausgetragen, das wohl aus dem Kreis der Apoll-Mythologie stammte. Später kamen auch das Kitharaspiel ohne Gesang, poetische und dramatische Wettbewerbe, sowie ein Malwettbewerb hinzu.13 Plinius deutet zwar an, daß es auch bei anderen Wettkämpfen Malwettbewerbe gegeben hat, aber Genaueres ist nicht bekannt.14 Den Anfang machte Plinius zufolge Panainos, vermutlich der Neffe des Phidias, bei einem Wettkampf um 450–440 v.Chr.15 Solche künstlerischen Wettbewerbe der Antike mußten Ghiberti vor Augen stehen. Ab 590 v. Chr. übernahmen die Amphiktionen, eine Art gewählte Ausrichter der Spiele, die Leitung der Pythien.16 Sechs Monate vor Beginn der Spiele befahlen sie den Bürgern von Delphi, Herolde zu den wichtigsten griechischen Städten auszusenden, um den allgemeinen Gottesfrieden zu verkünden und sie zum Besuch und zur aktiven Teilnahme aufzufordern – ein Motiv, das Ghiberti in seiner Schilderung des Florentiner Wettbewerbs aufnahm. Die antike Verfahrensweise läßt vermuten, daß die Bilder nicht vor Ort gemalt, sondern bei den Pythien als Ergebnisse einer Ausschreibung präsentiert wurden.17 Über die Bilder selbst wissen wir nichts, auch nicht, wo die Künstler ihre Werke ausstellten. Die musikalischen Aufführungen hingegen fanden sowohl im Theater als auch im Stadion von Delphi statt.18 Sie boten die Möglichkeit, einem größeren panhellenischen Publikum die eigenen Werke bekanntzumachen und sich gleichzeitig mit anderen Künstlern zu messen. Hier ist also die

13 Nicht umsonst zählte bis 1922 auch die Poesie zu den olympischen Disziplinen. 14 Der Siegespreis war eine Geldsumme oder ein Sachpreis. Maaß, Michael: Das antike Delphi. Schätze und Monumente, Darmstadt 1993, S. 76. Daher auch der Name Sachpreis-Wettspiele: agon chrematites. 15 „Ja, zur Zeit seines Höhepunktes wurde sogar ein Wettkampf in der Malerei zu Korinth und Delphi veranstaltet, und als erster von allen wetteiferte er mit Timagoras aus Chalkis, unterlag aber diesem bei den Pythischen Spielen, wie ein altes Gedicht des Timagoras selbst bezeugt, während die Geschichtsquellen zweifellos irren.“ Plinius, Naturalis historiae Bd. 35, hrsg. u. übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Düsseldorf/Zürich 2. Aufl. 1997, § 58. Ebd., S. 207 f, 210 f die Korrekturen und Erläuterungen. Gschwantler, Kurt: Zeuxis und Parrhasios. Ein Beitrag zur antiken Künstlerbiographie (Diss. Univ. Graz), Wien 1975, S. 128 nennt als weiteren Agon noch einen aus hadrianischer Zeit in Sparta. 16 Sie waren es auch, die die Preise verteilten und das Programm um sportliche Wettkämpfe erweiterten. Ab 582 v. Chr. wurden die Pythien alle vier Jahre gefeiert, jetzt auch mit Wagenrennen. Ab 582 v. Chr. erhielten die Sieger statt Geld- und Sachpreisen einen Lorbeerkranz vom heiligen Baum des Apoll oder auch Äpfel als Erinnerung an die Gabe der Nymphen an Apoll nach seinem Sieg über Python, d. h. über die Schlange, die Apoll an dem Ort seines späteren Heiligtums getötet hatte. Maaß 1993, S. 76. 17 Gschwantler 1975, S. 129 f, mit Nennung von möglichen ausgeschriebenen Künstlerwettbewerben: die Akroterien des Zeustempels in Olympia mit Paionios als Sieger, der Wettstreit zwischen Agorakritos und Alkamenes in Athen aufgrund einer Ausschreibung zu einer Aphrodite-Statue, schließlich Ausschreibungen staatlicher Aufträge in Ephesos, an denen die Töpfer Kittos und Bakchios teilnahmen; Parrhasios siegte mit einem Gemälde des Dionysos bei einem Wettstreit in Korinth. 18 Maaß 1993, S. 84. Gschwantler 1975, S. 130 zählt einige Ausstellungen von Werken am Rande von Sportereignissen auf, wie z. B. den Mantel des Zeuxis in Olympia, oder einen weiteren Prunkmantel, der bei dem Fest der Hera Lakinio in Kroton ausgestellt wird, und Lucullus erwirbt eine Kopie der Stephanoplokis des Pausias an den Dionysien in Athen.

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Herstellung einer Öffentlichkeit entscheidend für den Stellenwert der Konkurrenz – was auch Ghiberti begriff und in seine Darstellung der Ereignisse übernahm. Aber nicht allein solche Ausschreibungen aus der Antike boten Ghiberti ein willkommenes Vorbild. Eine andere Form von Vergleichen zwischen Künstlern und ihren Werken konnte er ebenfalls in Verbindung mit Sportwettkämpfen finden – am Beispiel Olympia: Pausanias 19 nennt 55 Künstler, von denen Werke ausgestellt waren, aber es dürften insgesamt weitaus mehr gewesen sein. Einige von ihnen signierten und bekundeten damit für eine breite Öffentlichkeit, wer die jeweilige Statue des Olympioniken geschaffen hatte: Ruhm für die Nachwelt, Werbung bei möglichen Auftraggebern. Aber auch Werke, die kaum etwas mit den Olympischen Spielen zu tun hatten, wurden von Künstlern nach Olympia transportiert. So berichtet Lukian (Herodotus sive Aetion 4), daß Aetion ein Gemälde von der Hochzeit Alexanders mit Roxane geschaffen hatte und es in Olympia ausstellte. Einer der Kampfrichter war davon so begeistert, daß er dem Maler seine Tochter zur Frau gab. Zweifellos brachte die Menge der ausgestellten Werke, auch wenn kein offizieller Preis zu vergeben war, Vergleiche zwischen den Werken, d. h. eine Konkurrenz mit sich, die in eine Art Ranking gemündet haben dürfte. Ein Musterbeispiel dieser Art, bei dem es zwar keine bestimmte Ausschreibung gab, aber die Ansammlung thematisch gleicher Werke zu einem Vergleich der Statuen führte, sind die Amazonen in Ephesos.20 Ghiberti fand also in der Antike eine Fülle an Beispielen für Konkurrenzen und Wettbewerbe, die das Modell für solche in der Neuzeit abgaben, denn schon die antiken Wettstreite und Künstleranekdoten (s. das vorhergehende Kapitel) streichen die Individualität der einzelnen Künstler heraus.21 Die Parallelen zwischen der Schilderung der antiken Wettbewerbe und der Schilderung Ghibertis von jenem um die Baptisteriumstüren in Florenz sind so auffallend, daß man mißtrauisch wird. Deshalb ist der Bericht eines anderen Teilnehmers besonders aufschlußreich. Manettis Bericht in der Vita Brunelleschis 22 spricht nur von zwei Bewerbern, die für die Zunft in Betracht kamen: Brunelleschi und Ghiberti. Hier ist keine Spur von einem ausgeschriebenen Wettbewerb oder anderen Konkurrenten zu finden. Das Urteil der Zunft war

19 Herrmann, H.-V.: Die Siegerstatuen von Olympia, in: Nikephoros 1, 1998, S. 119–183, bes. S. 122–125. Auf S. 128 rechnet er mit ca. 500 Siegerstatuen, die in Olympia ausgestellt waren. Die antiken Quellen berichten von Künstlern, Dichtern, Architekten, Politikern, Rednern, Philosophen usw., die sich bzw. ihre Werke präsentierten. 20 Plinius, Naturalis historiae Bd. 34, Lateinisch-Deutsch, hrsg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Karl Bayer, Düsseldorf/Zürich, 1989, § 53: „Auch die berühmtesten Künstler kamen, obgleich sie zu verschiedenen Zeiten geboren waren, miteinander in Wettstreit, da alle [Statuen der] Amazonen geschaffen hatten; als diese im Tempel der Artemis zu Ephesos geweiht wurden, beschloß man, die schönste von ihnen durch das Urteil der anwesenden Künstler selbst auswählen zu lassen; dabei wurde es offenbar, daß es diejenige war, die alle ohne Unterschied nach ihrer eigenen als die zweitbeste beurteilt hatten. Es war die des Polykleitos, die nächstfolgende die des Pheidias, an dritter Stelle stand die Kresilas, an vierter die des Kydon und an fünfter die des Phradmon.“ 21 Gschwantler 1975, S. 147, 149 setzt die Betonung solcher Einzelleistung in Beziehung zur Sophistik. 22 Saalman 1970, S. 46–50.

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keineswegs einhellig, ganz im Gegenteil: Ghiberti sei langsamer gewesen und habe oft die Zunft zu Rate gezogen. Deshalb sei sein Werk der Zunft bekannt gewesen und die habe es sehr gelobt, ohne aber Brunelleschis Probestück zu kennen. Brunelleschi habe aufgrund seines Könnens sein Relief schon vor Ablauf der Frist eingereicht. Die Zunft habe, als sie dieses Relief sah, bedauert, daß sie vorschnell Ghibertis Werk gepriesen hatte. Um ihr Gesicht zu wahren, beschloß die Zunft nach langer, kontroverser Beratung, beiden gemeinsam den Auftrag zu erteilen. Brunelleschi lehnte dies aber ab, so daß Ghiberti allein den Auftrag erhielt. Manetti erzählt weiter, daß daraufhin die öffentliche Meinung die Stadt in zwei Lager spaltete. Das klingt nach einer Rechtfertigung des Verlierers. Und doch macht es stutzig, daß hier die angebliche Ausschreibung nicht erwähnt wird, daß die übrigen angeblichen fünf Mitbewerber mit keinem Wort genannt werden und daß die Herolde, die Regeln, die Fachjury nicht vorkommen. Auffallend ist auch, daß von den angeblich sieben Konkurrenzreliefs nur zwei erhalten sind. In den Viten der anderen nach Ghiberti beteiligten Künstler, soweit diese bekannt sind, ist von diesem Wettbewerb ebenfalls keine Rede. Und es gibt noch eine weitere Merkwürdigkeit: in den Akten der Zunft wird lediglich die Auftragserteilung an Ghiberti dokumentiert. Von einem Wettbewerb ist nichts verzeichnet.23 Solch ein überregionaler Wettbewerb sollte nicht in irgendeiner Weise aktenkundig geworden sein? Vasari folgte Ghibertis Bericht, schmückte ihn aus und fügte außerdem Donatello hinzu, doch war dieser 1401 gerade erst 15 Jahre alt. Auf Vasari geht auch das Bedauern der Kunsthistoriker zurück, daß der „Falsche“ gewonnen habe. In jedem Fall handelt es sich hier um eine nachträglich stilisierte Konkurrenzsituation. Deshalb ist zu fragen, warum und in welcher Weise Ghiberti die Geschichte auf diese Weise umschrieb. Der erste Teil seiner Commentarii besteht aus Künstlerbiographien: es ist die erste nachantike Sammlung dieser Art und lehnt sich formal und inhaltlich stark an antike Vorbilder, wie z. B. Plinius, an und knüpft z. T. gewagte Verbindungen. So stellt Ghiberti z. B. Apollodorus und Zeuxis in eine direkte Entwicklungslinie zu Cimabue und Giotto. Auch in seiner eigenen Biographie will Ghiberti sein Leben und sein Werk in der Tradition antiker Vorgänger sehen und erklärt deshalb z. B. den Bildhauer Lysipp zu seinem Vorgänger.24 Dies dürfte der Schlüssel zum Verständnis sein, warum Ghiberti die eigene Biographie und die Geschichte des Wettbewerbs „all’ antica“ stilisierte.25 Die Umformung der autobiographischen „Wahrheit“ sollte die Neubelebung der Antike einläuten,26 mit Ghiberti als leuchten-

23 Krautheimer, Richard/Krautheimer-Hess, Trude: Lorenzo Ghiberti, Princeton Univerity Press 1956, S. 366, 370, Dokumente 1 und 33. 24 Dazu Schlosser, Julius von: Die Kunstliteratur. Ein Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte, Wien 1924, S. 88 f, 167–189. 25 Ghiberti folgt damit dem Beispiel des Humanisten Filippo Villani. Dieser wollte mit seiner „recordatio de origine civitatis Florantiae et eiusdem famosis civibus“ von 1381/82 Dichter der Dantezeit als Vorbilder für Zeitgenossen propagieren. Abgedruckt in Schlosser, Julius von: Quellenbuch zur Kunstgeschichte des abendländischen Mittelalters: ausgewählte Texte des 4. bis 15. Jahrhunderts, Wien 1896, S. 370 f. Siehe auch Baxandall, Michael: Giotto and the Orators. Humanist Observers of Painting in Italy and the Discovery of Pictorial Composition, 1350–1450, Oxford 1971, S. 146 f. 26 Deshalb auch Ghibertis Rechnung in Olympiaden, die aber nicht der griechischen Rechnung folgt, sondern „ab urbe condita“, d. h. ab 753 v. Chr. Dazu Schlosser, Julius von: Leben und Meinungen des florentiner Bildners Lorenzo Ghiberti, München 1941, S. 174.

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dem Held an der Schwelle zur Renaissance. Daß die Kunsthistoriker diese Legende fortschrieben, lag an ihrem eigenen Wunschdenken von scharfen Epochengrenzen und einem markanten Ereignis als eindeutigem, klarem Beginn der Neuzeit,27 den es aber in dieser Schärfe nicht gegeben hat.

27 Dazu Rauterberg 1996, S. 14–17; er nennt z. B. Pope-Hennessy, John: Italian Renaissance Sculpture, London 1958, S. 1, der diesen Wettbewerb als die Geburtsstunde der Renaissance proklamiert.

Konkurrenz als Dialog: Robert Campin und Jan van Eyck

Robert Campin und den Brüdern Hubert und Jan van Eyck verdankt die Kunst zahlreiche Innovationen. Viele davon wurden offenbar in einem Dialog entwickelt, bei dem ein Maler auf die Erfindungen des anderen reagierte. Da das Œuvre Huberts van Eyck nicht zweifelsfrei von dem seines Bruders Jan abzugrenzen ist, muß sich eine Untersuchung dieses Dialogs auf Robert Campin (um 1375/78–1444) und Jan van Eyck (um 1390–1441) konzentrieren. Das Œuvre Robert Campins, der vermutlich mit dem Meister von Flémalle identisch ist, wird immer wieder diskutiert. Da es in diesem Kapitel vor allem um Bilderfindungen geht, und nicht um Händescheidung innerhalb einer Werkstatt, spreche ich im Folgenden von Campin als Werkstattleiter, der für Innovationen verantwortlich ist, auch wenn sie von anderen Händen ausgeführt werden. Campin und van Eyck entwickelten innerhalb weniger Jahre nicht nur neue Motive, sondern interpretierten auch herkömmliche Bildgattungen neu, wie z. B. das Diptychon, Mariendarstellungen, das selbständige Portrait und auch große Altaraufsätze. Der Beginn des Dialogs und sein genauer zeitlicher Ablauf sind nicht ganz präzise zu bestimmen, denn die Werke Campins sind nicht aufs Jahr genau, sondern nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums datierbar, aber die Zeit um 1425 ist die intensivste der Auseinandersetzung. Im Folgenden werden einige beispielhafte Bilder der beiden Künstler auf jeweils zuerst auftauchende Innovationen hin untersucht. Campin revolutionierte die traditionelle Form des Diptychons, indem er segnenden Christus und fürbittende Maria auf ein- und derselben Tafel vereinte.1 Unabhängig davon, ob diese Tafel von Campin selbst stammt oder eine Kopie nach einem verlorenen Original ist,2 gibt sie in jedem Falle eine Bilderfindung Campins wieder. 1 Robert Campin: Segnender Christus und fürbittende Maria, Öl und Gold auf Eichenholz, 28,6 × 45,6 cm. Um 1424, Philadelphia, Philadelphia Museum of Art, John G. Johnson Collection; Inv. no. 332. Die Datierung schwankt, je nachdem, ob das Werk Campin selbst zugeschrieben oder als Kopie nach Campin identifiziert wird. Zu den Zuschreibungen s. Thürlemann, Felix: Robert Campin. Eine Monographie mit Werkkatalog, München, Berlin, London, New York 2002, S. 308. Das Gesicht Christi ist im Bereich der Nase und Oberlippe restauriert. Oben fehlt möglicherweise ein schmaler Streifen, unten ist ein ca. 1 cm schmaler Streifen aus Fichtenholz angestückt. Zur Provenienz s. Eidelberg, Martin: On the Provenance of Robert Campin’s Christ and the Virgin, in: Oud Holland 112, 1998, S. 247–250. 2 Die Diskussion zusammengefaßt bei Thürlemann 2002, S. 308 f.

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8. Robert Campin: Segnender Christus und fürbittende Maria, Öl und Gold auf Eichenholz, 28,6 × 45,6 cm. Um 1424, Philadelphia, Philadelphia Museum of Art, John G. Johnson Collection, 1917

Campin geht von der althergebrachten Form des Diptychons weg, indem er die Protagonisten nicht mehr statisch auf zwei getrennten Tafeln darstellt, sondern Maria und ihren Sohn auf einer einzigen Tafel vereint. Weil sich die Mutter zum Sohn wendet und Campin auch die Hände der beiden – und damit ihr Handeln – darstellt, gewinnt das Paar eine neue, ungewohnte Lebhaftigkeit. Die Brüstung, auf der die linke Hand Christi liegt, wird zwar nur angedeutet, doch ist die Funktion dieses architektonischen Elements deutlich: sie trennt und verbindet die Welt der himmlischen Personen mit unserer irdischen Welt; Richter und Fürbitterin sind zum Greifen nahe gerückt. Die Bildkonzeption rechnet also mit einem nahsichtigen Beter und war vermutlich für die private Andacht bestimmt. Der Beter wendet sich mit seinen Bitten an Maria, die wiederum als Advocata bei Christus bittet. Offenbar hat ihre Fürbitte Erfolg, denn Christus erhebt seine Hand im Segensgestus. Mit diesem Werk formulierte Campin das Christusportrait, wie man es von Ikonen her kannte und es vielfach Eingang in die westliche Malerei gefunden hatte, in seiner statischen Frontalität um und gestaltete es zu einer Erzählung aus. Das war aber nicht die einzige Neuerung. In diesem Gemälde taucht in der Kristallbrosche auf dem Gewand Christi zum erstenmal das Motiv des gespiegelten Doppelfensters auf, das in der frühen niederländischen Malerei so beliebt werden sollte. Von hier aus trat es seinen Siegeszug an; Spiegel und Spiegelungen wurden gewissermaßen zu einem der Markenzeichen der Frühen Niederländer (s. auch S. 102 f). Wenn das gespiegelte Fenster auf einen „Realismus“ abzielt, der die das Bild umgebende Welt wiedergeben soll, dann wurde diese Tafel für einen Privatraum gemalt, denn die Spiegelung reflektiert kein spitzbogiges

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9. Nach Jan van Eyck: Christusportrait von 1440, 33,3 × 26,8 cm. 17. Jahrhundert, Groeningemuseum, Brügge. Foto © IRPA-KIK Brüssel

Fenster, wie es für Kapellen die Regel war, sondern ein hochrechteckiges, das bei Profanbauten üblich war. Was Campin bewegte – das Christusportrait byzantinischer Herkunft und die Form des Diptychons – bewegte einige Jahre später auch Jan van Eyck. Er modernisierte ebenfalls den herkömmlichen Typus der Christusikone, jedoch auf andere Weise als Campin. Van Eyck behielt die strenge Frontalität bei, änderte jedoch das Proportionsschema. Sein Christusportrait ist in zwei Fassungen des Originals in Kopien erhalten (jeweils datiert 31. Januar 1438 und 30. Januar 1440).3 Die spätere Fassung, überliefert in den Kopien in Brügge und in Privatbesitz, stellt laut Inschrift auf dem Rahmen ausdrücklich die menschliche Gestalt des Ø Gottessohnes dar, „SPECIOS