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German Pages 264 Year 2021
Alexander Pähler Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Edition Umbruch - Texte zur Kulturpolitik | Band 34
Die Reihe wird herausgegeben von Henning Mohr.
Alexander Pähler, geb. 1988, unterrichtet Deutsch und Englisch an einem Gymnasium in Hamburg. Er promovierte bei Stephan Opitz in Kiel und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel in der Rühmkorf-Forschungsstelle an der entstehenden Gesamtausgabe der Werke Peter Rühmkorfs.
Alexander Pähler
Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft Überlegungen zu kulturellen Grenzen und Zwischenräumen
Gutachter der Dissertation: Prof. Dr. Stephan Opitz, Prof. Dr. Hans-Edwin Friedrich
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Inhalt
Einleitung .......................................................................... 7 1.
Kultur als operativer Begriff .................................................. 15
2.
Kultur als Symbolisierungsform kollektiver Identität......................... 23
3.
Kulturpolitik ................................................................. 29
4.
Der klassische Kulturbegriff nach Herder .................................... 35
5.
Nation, Staat und Pluralismus ............................................... 43
6.
Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff .......... 59
7.
Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse .......... 71
8.
Transkulturalität.............................................................. 91
9.
Hybridität und Postkolonialismus ........................................... 103
10.
Transkulturalität und Hybridität in der Kunst ............................... 125
11.
Multikulturalität und Interkulturalität ....................................... 133
12.
Leitkultur und Parallelgesellschaft .......................................... 141
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung ...................................... 163
14. Identität und Ambiguitätstoleranz ........................................... 177 15.
Kulturpolitik und Heimat .................................................... 211
16.
Kulturpolitik und Kanonbildung ............................................. 229
17.
Zusammenfassung...........................................................241
Literatur ......................................................................... 245 Dank ..............................................................................261
Einleitung
Diese Arbeit verfolgt als Beitrag zur konzeptionellen Begründung der Kulturpolitik in Deutschland vordergründig zwei Ziele. Erstens wird erörtert, in welchem Verhältnis Kulturpolitik zu kulturellen Grenzen und kollektiven Identitäten steht. Zweitens ist diese Arbeit ein Versuch, eine pragmatische kulturpolitische Perspektive auf kulturelle Grenzen zu erarbeiten, die sich mit der heutigen deutschen Gesellschaft auseinandersetzt, ohne sich einer der beiden gängigen Extrempositionen in der Debatte um kulturelle Grenzziehungen hinzugeben. Weder kultureller Essentialismus und ethnische Homogenitätsfantasien auf der einen Seite noch problemnegierende Fantasien des reibungslosen Zusammenlebens verschiedenster Weltanschauungen sind pragmatische Perspektiven auf kulturelle Grenzziehungen, sondern vereinfachte Darstellungen komplexer Probleme. Debatten um Identität, Multikultur, Leitkultur, Heimat, Nationalität und Patriotismus, die alle im Zusammenhang mit kulturellen Grenzziehungen stehen, werden seit Jahrzehnten in der deutschen Öffentlichkeit geführt. Besonders das Verhältnis zum Islam und der Umgang mit Flüchtlingen wird seit 2015 nahezu täglich in Zeitungen, im Fernsehen und in politischen Reden diskutiert. Auch in kulturpolitischen Debatten und Überlegungen erfahren diese Themen große Aufmerksamkeit. Darüber, in welchem Verhältnis Kulturpolitik zu kulturellen Grenzziehungen und kulturellen Vermischungen steht, herrscht keine Einigkeit. Der Diskurs wird besonders dadurch erschwert, dass die Begriffe der Identität und der Kultur trotz ihrer inhärenten Unschärfe meist ohne Begriffsklärungen verwendet und dass gesellschaftspolitische Debatten direkt auf kulturpolitische Debatten übertragen werden, ohne den Unterschieden dieser beiden Sphären gerecht zu werden. Die Überlegungen dieser Arbeit beziehen sich auf Kulturpolitik und die Sphäre der Kultur. Sie gelten ausdrücklich nicht in gleicher Weise für Gesellschaftspolitik.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Diese Arbeit ist ein Beitrag zur konzeptionellen Begründung und Legitimation von Kulturpolitik unter Beachtung der Unterschiede gesellschaftspolitischer und kulturpolitischer Debatten. Wenn öffentlich über die Legitimation von Kulturpolitik und staatlicher Kulturförderung diskutiert wird, dann bewegen sich die Legitimationsansätze zunehmend entweder in Richtung Beliebigkeit oder in Richtung Eindeutigkeit. Konzeptionelle Ansätze der Beliebigkeit haben das Problem, das alles als Kultur etikettiert werden kann, was von Menschen erzeugt wurde. Wird dann Kulturförderung per se als sinnvoll angesehen, gibt es keine nachvollziehbaren Auswahlkriterien. Dieser Auffassung nach gelten kulturpolitische Maßnahmen unabhängig von ästhetischen und kultur- und kunsttheoretischen Werturteilen immer als uneingeschränkt positiv. Auswahl auf der Grundlage von Werturteilen bedeutet immer, dass anderes nicht ausgewählt und somit von der Förderung ausgeschlossen wird. Da allerdings die finanziellen Mittel und das Interesse des potenziellen Publikums begrenzt sind, kann nicht alles gefördert und wahrgenommen werden. Es muss demnach in jedem Fall eine Auswahl getroffen werden. Diese Auswahl erscheint willkürlich und beliebig, wenn keine nachvollziehbaren Werturteile und Argumente transparent oder überhaupt vorhanden sind. Bei konzeptionellen Ansätzen der Eindeutigkeit wiederum schlägt das Pendel in die andere Richtung um und die kulturpolitischen Maßnahmen werden mit eindeutigen gesellschaftspolitischen Zielen begründet und ausgewählt. Dieser Auffassung nach hat Kulturpolitik sich bestimmten Zielen aus anderen Politikfeldern unterzuordnen und sollte nur fördern, was mit diesen Zielen vereinbar ist. So können beispielsweise außenpolitische, sozialpolitische oder wirtschaftspolitische Ziele im Mittelpunkt dieser Art von konzeptionellen Ansätzen stehen. Allerdings sind auch diese konzeptionellen Grundlagen jenseits von ästhetischen und kultur- und kunsttheoretischen Erkenntnissen zu verorten, denn Kunst entfaltet gerade nicht durch eindeutige Ziele, sondern durch Mehrdeutigkeit, Differenziertheit und oft sogar Widersprüchlichkeit seine Wirkung und entzieht sich meist eindeutigen gesellschaftspolitischen Zwecken. Wenn beispielsweise eine Kunstausstellung, ein literarischer Text oder eine Theaterinszenierung vorgeben, einzig dem Ziel der Kapitalismuskritik oder der Stärkung der patriotischen Gefühle oder dem wirtschaftlichen Standortfaktor zu dienen, dann geraten ästhetischkünstlerische Überlegungen in den Hintergrund. Öffentlich über die konzeptionelle Grundlage von Kulturpolitik zu diskutieren ist eine kontinuierliche Aufgabe für kulturpolitische Akteure und Kulturwissenschaftler. Wenn die beiden genannten konzeptionellen Ansätze der Beliebigkeit und der Ein-
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deutigkeit den öffentlichen Diskurs dominieren, dann ist es wichtig, erneut konzeptionelle Grundlagen der Kulturpolitik zu verhandeln. Fundierte ästhetische Werturteile von ausgebildeten Fachleuten sowie kultur- und kunsttheoretische Überlegungen müssen für die konzeptionelle Grundlage von Kulturpolitik und die Legitimationsgrundlage von Fördermaßnahmen berücksichtigt werden, damit Kulturpolitik ein wichtiges und ernstzunehmendes Politikfeld bleibt, das für seine Daseinsberechtigung nicht Ziele aus anderen Politikfeldern leihen muss, sondern mit kulturwissenschaftlichen und kunsttheoretischen Argumenten legitimiert ist. Problematisch ist dabei, dass konzeptionelle Begründungen für Kulturpolitik, die auf differenzierten theoretischen Überlegungen basieren, einen Komplexitätsgrad erreichen können, der für Laien und unausgebildete Interessierte nur schwer nachvollziehbar ist. Der Zweck kulturpolitischer Ausgaben erschließt sich für unbeteiligte Betrachter nicht unmittelbar. Gerade wenn es um die Verteilung finanzieller Mittel geht, hat es Kulturpolitik deshalb oft schwerer als andere Politikfelder. Um aktuelle kulturpolitische Diskurse im Kontext kultureller Grenzziehungen zu skizzieren, werden in dieser Arbeit Beiträge kulturpolitischer Akteure und anderer politischer Entscheidungsträger betrachtet. Neben Feuilletonartikeln in den größten Zeitungen eignen sich dafür besonders die kulturpolitischen Zeitschriften Kulturpolitische Mitteilungen der Kulturpolitischen Gesellschaft und Politik und Kultur des Deutschen Kulturrates. Eine besonders wichtige Veröffentlichung ist außerdem der 2007 fertiggestellte Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹. Einen Einblick in kulturpolitische Grundsätze der einzelnen etablierten Parteien in Deutschland ermöglichen die jeweiligen Grundsatzprogramme. International anerkannt und auch in Deutschland von Einfluss sind die offiziellen Veröffentlichungen der UNESCO, die sich insbesondere mit der kulturpolitischen Frage des kulturellen Erbes beschäftigen. Gegenstand dieser Arbeit sind vor allem operative Begriffe, deren Bedeutung sich im laufenden Diskurs je nach Verwendung ändert. Wie wir über Kultur und Identität denken und sprechen, beeinflusst die Bedeutung dieser Begriffe und hat letztlich Einfluss auf reale Lebensbereiche. In der Sprache scheint die Deutung der Wirklichkeit auf und durch Sprache wird Realität erzeugt und strukturiert. Das gilt insbesondere für operative Begriffe wie Kultur und Identität. Bestimmte Diskurse nachzuverfolgen und die jeweils einflussreichsten Begriffsverwendungen vorzustellen ist deshalb ein wichtiger Bestandteil dieser Arbeit.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Eine völlige wissenschaftliche Wertfreiheit und größtmögliche Objektivität sind im Umgang mit operativen Begriffen unerreichbar. Dennoch muss auch im Umgang mit operativen Begriffen schlüssig und logisch argumentiert werden können. Es kommt hinzu, an den bisherigen Diskurs zu diesen Begriffen anzuknüpfen und Anknüpfungsmöglichkeiten für zukünftige Beiträge aufzuzeigen. Völlige Wertfreiheit ist auch dann nicht möglich, wenn man die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die pluralistische Ausrichtung Deutschlands akzeptiert und davon ausgeht, dass auch die Kulturpolitik in diesem Sinne handeln sollte. Mögliche Ziele und Konzepte der Kulturpolitik werden deshalb aus einer Perspektive betrachtet und bewertet, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung als unverrückbaren Wert voraussetzt. Transkulturalität ist ein zentrales Konzept dieser Arbeit. Wolfgang Welsch entwickelt sein Transkulturalitätskonzept in Abgrenzung zu Johann Gottfried Herders Kulturkonzept. In dieser Arbeit wird argumentiert, dass im kulturpolitischen Diskurs in Deutschland das klassische Kulturkonzept nach Herder das einflussreichste Kulturkonzept ist. Es ist in Grundsatzprogrammen der Parteien und in öffentlichen kulturpolitischen Beiträgen zu finden. Als transkulturell bezeichnet Welsch kulturelle Vermischungen und Vernetzungen, bei denen im Gegensatz zu interkulturellen Vorgängen keine klare Trennung zwischen zwei kulturellen Kategorien möglich ist und sich stattdessen eine uneindeutige Zwischenkategorie ergibt. Auf diese Weise erzeugt Transkulturalität Ambiguität. Für diese Arbeit ist die begriffliche Trennung von Kultur und Gesellschaft zentral. Folgt man der Kulturtheorie Dirk Baeckers, ermöglicht die Sphäre der Kultur der Gesellschaft die Kommunikation über sich selbst und das Infragestellen, aber auch die Bestätigung gesellschaftlicher Gegebenheiten. In dieser Arbeit wird gezeigt, dass Kultur dafür sowohl Transkulturalität als auch Ambiguität braucht. Es wird außerdem gezeigt, dass gesellschaftspolitische Debatten um kulturelle Grenzen nicht unmittelbar auf kulturpolitische Debatten um kulturelle Grenzen übertragbar sind, sondern in der Sphäre der Kultur andere Gesetzmäßigkeiten gelten als in der Gesellschaft. Neben dem Konzept der Transkulturalität ist das damit verwandte Konzept der Hybridität, das Homi K. Bhabha als Beitrag zum postkolonialen Diskurs entwickelt hat, zentral für diese Arbeit. In Anlehnung an Bhabha und mit Blick auf die aktuelle Debatte um das Humboldtforum soll gezeigt werden, dass der spezifisch postkoloniale Kontext des Hybriditätskonzepts auch für
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Deutschland von Bedeutung ist und nicht nur die größeren ehemaligen europäischen Kolonialmächte betrifft. Diese Arbeit ist dezidiert transdisziplinär ausgerichtet. Kulturpolitik bewegt sich in einer Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Kunst. Der Kulturbegriff kann sich sowohl auf Gruppen von Menschen als auch auf Menschengemachtes – und in der Kulturpolitik insbesondere Kunst – in Abgrenzung zur Natur beziehen. Überlegungen zu konzeptionellen Grundlagen und eventuellen gesellschaftlichen Folgen heutiger Kulturpolitik können sich nicht nur auf kunsttheoretische und ästhetische Erkenntnisse gründen. Diese Arbeit bezieht sich auf soziologische, politologische, psychologische und geschichtswissenschaftliche Texte. Mit diesem erweiterten Blick können Zusammenhänge beleuchtet werden, die aus der Perspektive einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin nicht so klar hervortreten. Aus dem transdisziplinären Zugang zum Thema – der Frage, wie alles mit allem zusammenhängt – ergibt sich allerdings die Gefahr, den Blick fürs Detail zu verlieren. Ich schließe deshalb den allgemeinen Überlegungen exemplarische Analysen an, die einen direkten Bezug zur Kulturpolitik haben. Dazu werden sowohl kulturpolitische Projekte als auch bestimmte Kunstwerke und Künstler als Beispiele herangezogen. Durch meine literaturwissenschaftliche Prägung sind besonders viele Beispiele aus dem Bereich der Literatur in der Arbeit enthalten. Das ist nicht als Geringschätzung der anderen Künste zu verstehen, sondern ergibt sich daraus, dass mir im Bereich der Literatur ein breiteres und tieferes Wissen zur Verfügung steht. Doch sind Erkenntnisse, die aus den literarischen Beispielen gewonnen werden können, durchaus auf andere Kunstbereiche übertragbar. Jan und Aleida Assmann haben das transdisziplinär ausgerichtete Konzept des kulturellen Gedächtnisses entwickelt,1 das wichtige Impulse für das kulturpolitische Handlungsfeld des kulturellen Erbes liefert. Im Kontext einer postkolonialen Neubewertung bestimmter Sammlungen deutscher Museen, des Umgangs mit Denkmälern, der Kanonisierung von Kunstwerken und der Entstehung von Klassikern wird das Konzept in dieser Arbeit herangezogen. Die große Ausfächerung der Themen dieser Arbeit soll zeigen, dass das Konzept der Transkulturalität in vielen Bereichen und Ebenen von Kultur und Kulturpolitik relevant ist und mehr kulturpolitische Beachtung finden sollte. 1
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München 2002; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 3. Aufl. München 2006.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Die vorhandene Transkulturalität in Kultur und Gesellschaft sollte erkannt und bewusst gemacht werden. Hier geht es insbesondere um eine Aufwertung kultureller Zwischenräume, Vermischungen und Vernetzungen, die etablierte Vorstellungen von kultureller Homogenität, Essentialismus und Eindeutigkeitszwängen ablösen sollten, weil diese nicht der tatsächlichen Verfasstheit einer pluralistischen Gesellschaft entsprechen. Zweitens können transkulturelle Prozesse gefördert und unterstützt werden, um die positiven Effekte dieser Prozesse für die Sphäre der Kultur zu nutzen. Mögliche Nutzen sind zum Beispiel im Bereich der teilhabeorientierten Kulturvermittlung zu erwarten. In diesem Sinne ist diese Arbeit ein Plädoyer für die kulturpolitische Akzeptanz von Transkulturalität und Hybridität. Dieses Plädoyer kann sich aber auf kultur- und kunsttheoretische Erkenntnisse und auf das Selbstverständnis des deutschen Staates als pluralistisch stützen. Diese Arbeit steht im Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten über kulturelle Grenzen, Identität, Heimat und weitere verwandte Begriffe, die seit einigen Jahren wieder intensiver öffentlich – oft kontrovers und polarisierend – verhandelt werden. Die Konzepte der Transkulturalität und der Hybridität stehen in diesem Kontext für eine positive Konnotation kultureller Vernetzungsprozesse, die in den genannten gesellschaftspolitischen Debatten zunehmend negativ konnotiert werden. Dabei geht es nicht nur um solche Vernetzungen, die Staatsgrenzen überqueren, sondern auch um solche, die kulturelle Grenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft durchlässiger machen. Für den Umgang des deutschen Staates mit kulturellen Grenzziehungen ist traditionell das Selbstverständnis als Kulturnation prägend, das je nach Verständnis im Widerspruch zum Selbstverständnis als pluralistisch stehen kann und oft als Abgrenzung zu zivilen Staatsverständnissen wie dem Verfassungspatriotismus genutzt wird. Statt Postmoderne wird in dieser Arbeit meist der Begriff der Spätmoderne verwendet, um zu zeigen, dass die Moderne keineswegs beendet oder überwunden ist, sondern sich lediglich verändert hat. Gegenstand dieser Arbeit ist auch, welche Veränderungen in der Spätmoderne im Kontext von Kultur und Identität eingetreten sind und was diese Veränderungen für die Kulturpolitik in Deutschland bedeuten. Die meisten Autoren, auf die diese Arbeit sich bezieht, verwenden allerdings den Begriff der Postmoderne und Zygmunt Bauman hat in seinen soziologischen Texten, die ebenfalls für diese Arbeit wichtig sind, den Begriff der ›flüchtigen Moderne‹ (›liquid modernity‹) geprägt, den er aber in seiner wichtigen frühen Arbeit Modernity and Ambiva-
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lence2 noch nicht verwendet. In dieser Arbeit kommen alle drei Begriffe vor, aber gemeint ist immer die Unterscheidung zwischen einer ersten und einer zweiten Moderne, zwischen denen es Überschneidungen und Kontinuitäten gibt, aber auch Brüche und Veränderungen. Entscheidend für die Beschreibung spätmoderner Kultur ist für diese Arbeit auch Die Gesellschaft der Singularitäten des Soziologen Andreas Reckwitz.3 Für Andreas Reckwitz ist eine entscheidende Eigenschaft spätmoderner Gesellschaften die Tendenz zu Singularitäten in verschiedenen Lebensbereichen, aus denen das Allgemeine zunehmend verdrängt werde. Diese Tendenz hat nach Reckwitz auch Folgen für die Kultur spätmoderner Gesellschaften. Der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer erkennt in der deutschen Gesellschaft der Spätmoderne außerdem die Tendenz zur Vereindeutigung und eine abnehmende Ambiguitätstoleranz, was ebenfalls Auswirkungen auf die spätmoderne Kultur und auch auf die Rezeption von Kunstwerken hat.4 Bauer sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Tendenzen und dem gesteigerten Bedürfnis vieler Menschen nach unveränderlichen essentiellen Identitäten und nach Authentizität. Aus Gründen der Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit das generische Maskulinum. Damit sind stets weibliche, männliche und uneindeutige Geschlechtsidentitäten gemeint.
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Zygmunt Bauman: Modernity and Ambivalence. Oxford 1991. Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart 2018.
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1. Kultur als operativer Begriff
Jede wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur und Kulturpolitik muss den Begriff der Kultur definieren. Es ist allerdings nicht möglich, alle begrifflichen Ebenen in einer Definition unterzubringen. Stattdessen soll auch hier der Begriff in verschiedenen möglichen Verwendungen vorgestellt werden, um dann zu skizzieren, in welcher Weise der Begriff für diese Arbeit genutzt werden soll. Wolfgang Müller-Funk unterscheidet mit Verweis auf T. S. Eliot drei Ebenen des Kulturbegriffes und hebt angesichts des »vergeblichen Versuchs, eine Definition von Kultur fest- bzw. vorzuschreiben,«1 hervor, dass auch die von ihm beschriebenen drei Ebenen lediglich als Hilfsmittel der Analyse zu verstehen sind. Die erste Ebene Kultur I bezieht sich als Gegenbegriff zur Natur auf alles, das von Menschen gemacht ist. Diese Verwendung des Kulturbegriffs entspricht weitgehend der Verwendung des Zivilisationsbegriffs und die beiden Begriffe sind in der englischen und französischen Ideengeschichte und Sprache austauschbar. In der deutschen Ideengeschichte hingegen sind die Begriffe lange Zeit als konträr gedacht worden und es sollte an ihnen der Unterschied Deutschlands zu den westlichen Ländern Frankreich und England behauptet werden. Die Verbindung des Zivilisationsbegriffes mit universalistischen Werten und mit der teleologischen Vorstellung des (auch technischen) Fortschritts der gesamten Menschheit hin zu einer von aufklärerischen Idealen bestimmten Zielvorstellung steht im deutschen Sprachgebrauch noch immer im Kontrast zum Kulturbegriff, der sich vornehmlich auf Immaterielles und insbesondere auf Bildung bezieht. Kultur II bezieht sich auf das »Insgesamt symbolischer Formen und habitueller Praktiken«2 und ist insbesondere an diversen Verbindungen erkenn1 2
Wolfgang Müller-Funk: Kulturtheorie. Einführung in Schlüsseltexte der Kulturwissenschaften. Tübingen und Basel 2006, S. 7-8. Ebd., S. 8.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
bar, die das Wort Kultur mit anderen Wörtern eingehen kann. So gibt es zum Beispiel politische Kultur, Esskultur, Dialogkultur und viele weitere Verbindungen, bei denen »es um angelernte Fertigkeiten, Verhaltensweisen, eingeübte Selbstverständlichkeiten, kurz um kulturelle Sozialisation«3 geht. Kultur III bezieht sich auf »einen mehr oder minder ausdifferenzierten Sektor einer bestimmten Gesellschaft«4 , der bestimmte Formen der Kunst, die dazugehörigen Veranstaltungen und die entsprechende Auseinandersetzung mit dieser Kunst in den Medien (Feuilleton) umfasst. Traditionell gehören in diesen Sektor Formen der Kunst, die die Gesellschaft der Hochkultur zuordnet, aber in den letzten Jahrzehnten wurde diese Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur zumindest teilweise aufgeweicht. Der Kulturbegriff umfasst in diesem Kontext sowohl die Produkte als auch die Prozesse der entsprechenden Kunstformen. Zu den Prozessen von Kultur III gehören auch die Prozesse der Kulturpolitik. Für diesen Text ist deshalb besonders die dritte Ebene von Bedeutung, die sich allerdings in einem Wechselverhältnis der gegenseitigen Beeinflussung mit der zweiten Ebene befindet, denn die kulturpolitischen Entscheidungen haben Einfluss auf die kulturelle Sozialisation der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft und gleichzeitig sind eben diese kulturpolitischen Entscheidungen durch die habituellen Praktiken und Selbstverständlichkeiten der entsprechenden Gesellschaft beeinflusst. Kultur I ist der weiteste Kulturbegriff, in dem alles enthalten ist, was nicht der Natur zuzuordnen ist. Dementsprechend sind auch Kultur II und Kultur III in Kultur I enthalten. Ebenso ist in Kultur II Kultur III enthalten, denn dieser spezifische Sektor ist durch symbolische Formen und habituelle Praktiken Teil der kulturellen Sozialisation einer bestimmten Gesellschaft. Müller-Funk geht noch auf eine weitere Verwendung des Kulturbegriffes ein, die er der Ebene Kultur I zuordnet, die aber auch die Ebenen Kultur II und III betrifft: die Beschreibung bestimmter Gruppen von Menschen und der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften mit dem Begriff der Kultur. In dieser Verwendung kann der Kulturbegriff Verbindungen mit geographischen, politischen, ethnischen, konfessionellen und anderen Konzepten eingehen. Man spricht von der europäischen, italienischen, demokratischen, afroamerikanischen, islamischen Kultur und bezieht sich dabei auf die kulturelle Sozialisation und die habituellen Praktiken einer bestimmten Gruppe von Menschen 3 4
Ebd., S. 6. Ebd., S. 5.
1. Kultur als operativer Begriff
(Kultur II), spezifischer auf die künstlerischen Erzeugnisse dieser Gruppe (Kultur III) und auf das Wechselverhältnis zwischen diesen beiden Ebenen. Müller-Funk weist wie auch Wolfgang Welsch darauf hin, dass die »von Herder initiierte, spezifisch deutsche Tradition« dieser Verwendung des Kulturbegriffes dazu neigt, die jeweiligen Gruppen von Menschen »als mehr oder weniger homogene, d.h. in sich kompakte symbolische Welten zu betrachten«, während in den heutigen Kulturwissenschaften tendenziell »gerade das Heterogene großer (nationaler und supranationaler) Kulturen«5 akzentuiert wird. Kunst (Kultur III) ist diesem Verständnis nach eine Voraussetzung für das Selbstverständnis einer Gruppe von Menschen als Kultur. Jürgen Habermas zeigt in einem Aufsatz zum Multikulturalismus, dass eine Kultur – verstanden als Gruppe von Menschen – sich nicht über Generationen reproduzieren kann, wenn den individuellen Mitgliedern sich der Wert der Mitgliedschaft zu dieser Gruppe nicht erschließt, sondern lediglich bestimmte Traditionen und Symbole weitergegeben werden. Habermas definiert Kultur »als ein Ensemble von Ermöglichungsbedingungen für problemlösende Aktivitäten […]. Sie stattet die Subjekte, die in sie hineinwachsen, nicht nur mit elementaren Sprach-, Handlungs- und Erkenntnisfähigkeiten, sondern auch mit grammatisch vorstrukturierten Weltbildern und semantisch akkumulierten Wissensbeständen aus. Freilich kann eine Kultur nicht durch Drill oder handfeste Indoktrination […] am Leben erhalten werden. Traditionen bewahren vielmehr ihre Lebensfähigkeit, indem sie sich in die zerstreuten und vernetzten Kanäle individueller Lebensgeschichten einfädeln und dabei die kritischen Schwellen des autonomen Urteils jedes einzelnen potentiellen Nutznießers passieren. Frühestens in der Adoleszenz kann sich dann der intrinsische Wert einer Überlieferung jeweils zeigen. […] Der Test für die Lebensfähigkeit einer kulturellen Überlieferung besteht letztlich darin, dass sich in ihrem Licht für den Heranwachsenden Herausforderungen in lösbare Probleme verwandeln.«6 Habermas weist außerdem darauf hin, dass sich besonders in pluralistischen Gesellschaften jede Kulturgemeinschaft nur reproduzieren kann, wenn die
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Ebd., S. 7. Jürgen Habermas: Kulturelle Gleichbehandlung – und die Grenzen des Postmodernen Liberalismus. In: Ders.: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M. 2005, S. 279-323, hier: S. 313.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
einzelnen Mitglieder aus eigenem Antrieb die Mitgliedschaft als Bestandteil ihrer persönlichen Identität anerkennen und sich ihre Identität nicht aus den vielen anderen Möglichkeiten der pluralistischen Gesellschaft zusammensetzen. Laut Habermas können sich »dogmatisch abgeschirmte Kultur[en]« in der »alternativreichen sozialen Umgebung« pluralistischer Gesellschaften »nicht reproduzieren«7 . Mit dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses fragen Aleida und Jan Assmann »danach, warum, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen Kulturen identitätssicherndes Wissen in eine haltbare und tradierbare Form bringen«8 . In ihren Untersuchungen zeigen Aleida und Jan Assmann aus »einer langfristigen historischen und vergleichenden Perspektive«9 die Verbindungen von kulturellen Symbolisierungsformen wie literarischen Texten, religiösen Texten, Ritualen, Erinnerungsorten, Denkmälern und Kunstwerken mit kollektiven Identitätskonstruktionen und Traditionen, die das Selbstverständnis einer Gruppe als Kultur konsolidieren. Für ihre Untersuchungen gehen Aleida und Jan Assmann von dieser »Prämisse« aus: »Alle Kulturen […] sorgen dafür, dass Menschen nicht immer wieder von ganz vorn anfangen müssen, sondern auf eine kulturelle Ausstattung zurückgreifen können, die ihnen zugleich Grundlagen und Perspektiven für die Zukunft anbietet. Dieses Projekt der transgenerationellen Überlieferung der kulturellen Ausstattung bildet eine Kernaufgabe aller Kulturen, weshalb die Begriffe ›Kultur‹, ›Gedächtnis‹ und ›Identität‹ hier eng zusammengehören. Der Begriff ›Identität‹ ist allerdings nicht kompakt, sondern vielschichtig und vielfältig zu verstehen, weil Menschen gleichzeitig verschiedenen Gruppen angehören. Entsprechend vielstimmig ist deshalb auch das Gedächtnis.«10 Eine Besonderheit des Begriffes Kultur ist, dass es sich nicht um einen reinen Beschreibungsbegriff, sondern um einen operativen Begriff handelt, der seinen Gegenstand prägt, wie Wolfgang Welsch feststellt: »Sagt man uns – wie der alte Kulturbegriff es tat –, daß Kultur eine Homogenitätsveranstaltung zu sein habe, so werden wir uns entsprechend verhal-
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Ebd., S. 314. Aleida Assmann: Theorien des kulturellen Gedächtnisses. In: Gabriele Rippl und Simone Winko (Hg.): Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2013, S. 76-84, hier: S. 78. Ebd., S. 79. Ebd.
1. Kultur als operativer Begriff
ten und die gebotenen Zwänge und Ausschlüsse praktizieren. Wir suchen der gestellten Aufgabe Genüge zu tun – und haben Erfolg damit. Sagt man uns (oder den Heranwachsenden) hingegen, daß Kultur gerade auch Fremdes einbeziehen und transkulturellen Komponenten gerecht werden müsse, dann werden wir oder sie diese Aufgabe in Angriff nehmen. […] In diesem Sinn ist die ›Realität‹ von Kultur immer auch eine Folge unserer Konzepte von Kultur.«11 Jede kulturpolitische Debatte, in der auch der Begriff der Kultur selbst Gegenstand ist, ist vor diesem Hintergrund zu betrachten. Beide von Welsch genannten Beispiele konkreter Ausformungen des operativen Kulturbegriffes betreffen den Umgang mit Unterscheidungen zwischen Eigen und Fremd. Dirk Baecker sieht darin einen elementaren Bestandteil des Kulturbegriffes: »Die operative Bestimmtheit der Kulturformel ist eine Bestimmtheit im Umgang mit Unterscheidungen, die als solche ›kultiviert‹, das heißt mit Blick auf die Gemeinsamkeit der beiden Seiten der Unterscheidung ›zivilisiert‹, aber auch mit Blick auf die Unterschiedlichkeit der beiden Seiten bis hin zum möglichen Konflikt stilisiert werden kann.«12 Andreas Reckwitz beobachtet in der Post- oder Spätmoderne keinen Kampf der Kulturen, wie es Samuel Huntington in den 90ern beschrieben hat,13 sondern »einen globalen Konflikt um die Kultur, das heißt eine Auseinandersetzung darüber, was unter Kultur verstanden wird und wie man mit ihr umgeht«14 . Reckwitz verknüpft den Kulturbegriff außerdem untrennbar mit dem Wertbegriff und stellt fest, dass mit dem Kulturbegriff bestimmten Dingen Wert zugeschrieben und anderen Dingen Wert abgesprochen wird. Kultur ist als operativer Begriff zu denken, bei dem es um Eigen- und Fremdbestimmungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie »Wertaufladung 11
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Wolfgang Welsch: Auf dem Weg zu transkulturellen Gesellschaften. In: Lars AllolioNäcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 314-341, hier: S. 331-332. Dirk Baecker: Wozu Kultur? 3. Aufl. Berlin 2003, S. 14. Samuel Huntington: Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996. Andreas Reckwitz: Hyperkultur versus Kulturessenzialismus. Der Kampf um das Kulturverständnis. In: Deutschlandfunk vom 30.4.2017. URL: https://www.deutschlandfunk.de/hyperkultur-versus-kulturessenzialismus-der-kampf-um-das.media.604 67258ba3e85e8ce39fcd3dbbdcfd6.pdf (Datum des Zugriffs: 23.8.2018), S. 1.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
und Entwertung«15 geht. Als Gegenbegriff zur Kultur, in der das Sakrale verhandelt werde, nennt Reckwitz die Rationalität, die als »Sphäre der Zweck-Mittel-Verfahren, der neutralen Prozeduren, Gesetze und kognitiven Prozesse«16 zu denken sei und in der das Profane verhandelt werde. Einzelnen Dingen kann Reckwitz zufolge auf verschiedene Weise Wert zugeschrieben werden. Den Prozess der Kulturalisierung durch Wertzuschreibung beobachtet Reckwitz auf einer narrativ-hermeneutischen und auf einer ästhetischen Ebene: »In ihrer narrativ-hermeneutischen Qualität bieten die Einheiten der Kultur Erzählungen über die Welt der Natur und des Sozialen, über Vergangenheit und Zukunft, Menschen, Dinge und Götter; hier geht es um ein Verstehen der Zusammenhänge der Welt und des Ortes des Subjekts in diesem Weltzusammenhang. In ihrer ästhetischen Qualität bieten sich die Einheiten als Gegenstände einer intensivierten sinnlichen Wahrnehmung dar. Das Ästhetische kann mit dem Imaginären verknüpft sein, das heißt mit dem Vermögen, sich alternative Welten und Bezüge über das sinnlich Wahrnehmbare hinaus vorzustellen.«17 Einzelne Einheiten der Kultur können sowohl narrativ-hermeneutische als auch ästhetisch-imaginäre Qualität aufweisen. Den kulturalisierten Dingen wird eine Eigenkomplexität zugeschrieben, die sie von der zweckrationalisierten Alltagswelt des Allgemeinen absondert. Rationalisierte »Repräsentationen und Wahrnehmungen […] dienen der von Sparsamkeitsmaximen geleiteten Erfassung der Wirklichkeit mit dem Ziel, die Natur- oder Sozialwelt dadurch möglichst effizient und geordnet zu handhaben«, während in der Sphäre der Kultur »keine solchen Informationen geliefert, sondern komplexe Interpretationszusammenhänge fabriziert« werden, die die »Vielschichtigkeit«18 der Welt zum Ausdruck bringen. Den »Informationen« der Alltagslebenswelt, die den Anspruch haben »Realität abzubilden«, stehen die »Geschichten«19 der Kultur gegenüber, die immer wieder neu interpretiert werden müssen und keinen Anspruch auf Realitätsabbildung vertreten. Zusätzlich nennt Reckwitz noch drei untergeordnete Qualitäten der Kultur. Einheiten
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Ebd., S. 3. Ebd., S. 4 Reckwitz 2017, S. 88. Ebd., S. 89. Ebd.
1. Kultur als operativer Begriff
der Kultur können Qualitäten »des Ethischen, des Gestaltenden und des Ludischen«20 zugeschrieben werden. Ein weiterer elementarer Bestandteil des Kulturbegriffes ist nach Baecker, dass »eine Kultur überhaupt erst aus einem Kulturkontakt« entsteht: »Vor dem Kontakt weiß sie nicht, daß sie eine Kultur ist. Erst der Kontakt zwingt sie, aus der Erfahrung des Fremden (wenn es nicht mehr einfach als ›barbarisch‹ abqualifiziert werden darf) auf ein Eigenes zu schließen.«21 Jedem Selbstverständnis einer Kultur geht demnach der transkulturelle Prozess der Auseinandersetzung mit einer als anders beschriebenen Kultur voraus. Der Kulturbegriff in seiner heutigen Verwendung entstand aus der Erkenntnis, dass Menschen außerhalb der eigenen Gesellschaft zwar anders sind, aber nicht, weil »sie keine Menschen sind« und deshalb als Barbaren bezeichnet werden können, sondern weil sie »eine andere Kultur haben«22 . Mit dem Zugeständnis, den Menschen mit anderen Lebensweisen nicht länger das Menschsein abzusprechen, entsteht »das wichtigste Moment des modernen Kulturbegriffes: der Vergleich der Lebensumstände zwischen den Menschen, und dies in regionaler und historischer Hinsicht«23 . Zu den ersten deutschsprachigen Texten, in denen dieser vergleichende Kulturbegriff entwickelt wurde, gehören Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, auf die sich Wolfgang Welsch explizit bezieht, um das Konzept der Transkulturalität von diesem klassischen Kulturbegriff abzugrenzen. Baecker zufolge »impliziert alle Kultur ein mehr oder minder großes Ausmaß an Fremdheitserfahrung, weil man sieht, daß und wie dieselbe Situation von anderen anders eingeschätzt wird«24 . Dass die aller Kultur inhärenten Fremdheitserfahrungen auch zu »Gemeinsamkeitsbekräftigungen« werden können, nennt Baecker eine mögliche »Zusatzleistung«25 der Kultur. Dabei ist zum Beispiel an nationale Literaturkanons zu denken, in denen oft Texte zu Gemeinsamkeitsbekräftigungen einer Nation erklärt werden, die sich eigentlich durch im Text angelegte Fremdheitserfahrungen der Rezipienten auszeichnen. Die Lektüre des Textes oder die Betrachtung einer Inszenierung von Goethes Faust ist mit Fremdheitserfahrungen für den Rezipienten verbunden, die sich unter anderem durch Unterschiede in der dargestellten 20 21 22 23 24 25
Ebd., S. 90. Baecker 2003, S. 16. Ebd., S. 66. Ebd. Ebd., S. 117. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Lebenswelt und dezidiert vom Alltag abgehobene Ereignisse ergeben. Trotzdem dient Goethes Faust als Gemeinsamkeitsbekräftigung des deutschen Bildungsbürgertums. Dirk Baecker unterscheidet zwischen dem Kulturverständnis der Antike, in dem noch zwischen Menschen und Barbaren unterschieden wird, dem Kulturverständnis der Moderne, wie es zum Beispiel in Herders Text entwickelt wird, und einem Kulturverständnis der Postmoderne, das »bestimmte Motive des antiken und des modernen Kulturverständnisses«26 fortsetzt, diese aber um die Idee der Korrektur durch Irritation und insbesondere durch die Beliebigkeitserfahrung einer allgegenwärtigen Desillusionierung erweitert. In der postmodernen Kultur ist unsere Wirklichkeit »dem Verdacht der Unwirklichkeit«27 ausgesetzt und »[d]ie alten Kenntnisse um Glauben und Schrift werden rekonstruiert als Spielmaterial von Wirklichkeitskonstruktionen«28 . In der von Baecker beschriebenen Postmoderne verlieren die etablierten Kategorien des Kulturvergleichs und die Identitätskonstruktionen der Moderne an Bedeutung. Zygmunt Bauman ersetzt den Begriff der Postmoderne durch den Begriff der ›flüchtigen Moderne‹ (liquid modernity).29 Für Bauman ist es wichtig festzuhalten, dass die aktuelle Weltlage nicht etwa nach der nun abgeschlossenen Moderne anzusiedeln ist. Bestimmte Aspekte der Gesellschaft veränderten sich zwar, läuteten aber lediglich eine neue Phase der Moderne ein. Diese neue Phase zeichne sich durch Eigenschaften aus, die Bauman als flüchtig, beziehungsweise flüssig, beschreibt. Identitäten, Gemeinschaften, Zugehörigkeiten, Partnerschaften, Familien, andere zwischenmenschliche Beziehungen und Arbeitsbedingungen bieten weniger Orientierung und Verlässlichkeit, haben an Festigkeit eingebüßt und sind in einen flüssigeren Aggregatzustand kurzfristiger Veränderungen übergegangen. Das Individuum steht im Mittelpunkt der ›flüchtigen Moderne‹, aber erweist sich bisher nicht als ordnungsbildende Kraft.
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Ebd., S. 70. Ebd., S. 72. Ebd., S. 76. Zygmunt Bauman: Liquid Modernity. Cambridge 2000, S. 15.
2. Kultur als Symbolisierungsform kollektiver Identität
Jan Assmann unterscheidet zwischen individueller, personaler und kollektiver Identität. Die individuelle und die personale Identität ordnet Assmann dem Ich und die kollektive Identität dem Wir zu. Die drei Ebenen der Identität definiert er folgendermaßen: »Individuelle Identität ist das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen (›signifikanten‹) Anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Leitfaden des Leibes entwickelte Bewußtsein seines irreduziblen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit. Personale Identität ist demgegenüber der Inbegriff aller dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommenden Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen. […] Unter einer kollektiven Identität oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ›an sich‹, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.«1 Die kollektive Identität unterscheidet sich nach Assmann von der individuellen und der personalen Identität dadurch, dass sie eine »Fiktion […], ein Produkt sozialer Imagination«2 ist. Hier stimmen Assmanns Überlegungen mit denen Benedict Andersons zum Begriff der Nation überein, die die Nation als eine vorgestellte Gemeinschaft beschreiben. Entsprechend können kollektive 1 2
J. Assmann 2002, S. 131-132. Ebd., S. 133.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Identitäten verblassen und von Individuen aufgekündigt werden, ohne dass dadurch psychosoziale Schäden für das Individuum zu befürchten wären.3 Kultur und Gesellschaft »vermitteln bzw. ›produzieren‹ […] Identität, die immer personale, aber nicht unbedingt kollektive Identität ist. Der Einzelne wird in seinem Ich-Bewußtsein von ihnen geprägt, aber das heißt nicht, daß damit notwendigerweise auch ein Wir-Bewußtsein verbunden ist, in dem sich seine Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft und deren Kultur als Zusammengehörigkeit im Sinne der Mitgliedschaft artikuliert.«4 Die kollektive Identität ist die Steigerung der personalen Identität durch Bewusstwerden, wozu unter anderem die Konstruktion von Alterität notwendig ist. Die durch das Leben in Gruppen notwendig vorhandene personale Identität ist zunächst »mit allen ihren Normen, Werten, Institutionen, Welt- und Lebensdeutungen zu einer Selbstverständlichkeit, einer schlechthinnigen, alternativlosen Weltordnung naturalisiert und in ihrer Eigenart und Konventionalität dem Einzelnen unsichtbar«5 . Der Mensch als soziales Wesen bildet immer Gruppen, die verschiedene Ausmaße und Formen annehmen können und in denen immer eine individuelle und eine personale Identität entstehen. Von der Familie über den Stamm bis zum Staat können Gruppen aus einigen wenigen Menschen oder Millionen und sogar Milliarden Menschen bestehen. Einzelne Menschen können dabei mehreren Gruppen angehören und die Bindung an bestimmte Gruppen kann unterschiedlich stark ausgeprägt und mit verschiedenen Verantwortungen verbunden sein. So kann ein Individuum gleichzeitig einer Familie, einem Sportverein, einer Partei, einer Religionsgemeinschaft und einem oder sogar mehreren Staaten angehören. Ob es zu einer Bewusstwerdung der Zugehörigkeit kommt und zu der personalen Identität eine kollektive Identität hinzukommt, hängt davon ab, ob mit der Zugehörigkeit zur Gruppe auch die »Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem gemeinsamen Gedächtnis« verbunden ist, »die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache oder allgemeiner formuliert: die Verwendung eines gemeinsamen Symbolsystems vermittelt wird«6 . Zu die-
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Ebd. Ebd., S. 134. Ebd., S. 135. Ebd., S. 139.
2. Kultur als Symbolisierungsform kollektiver Identität
sem gemeinsamen Symbolsystem können »Wörter, Sätze und Texte, […] Riten und Tänze, Muster und Ornamente, Trachten und Tätowierungen, Essen und Trinken, Monumente, Bilder, Landschaften, Weg- und Grenzmarken«7 gehören. Assmann stellt fest, dass alles »zum Zeichen werden« kann, »um Gemeinsamkeit zu kodieren«8 . Diesen »Komplex an symbolisch vermittelter Gemeinsamkeit« nennt Assmann »Kultur« oder »kulturelle Formation«9 . Assmann merkt an, dass auf diese Weise definierte Kulturen außerdem eine interne Pluralisierung durch »kulturelle Sub-Formationen«10 aufweisen und dass bei einer zunehmenden Komplexität und einer höheren Anzahl kultureller Sub-Formationen einer Kultur, »die Funktionen und Institutionen interner Übersetzung und Verständigung«11 wichtiger werden. Assmann beschreibt das Reflexivwerden der personalen Identität als Voraussetzung für die Entstehung einer kollektiven Identität. Zu einer Steigerung der kollektiven Identität kommt es darüber hinaus, wenn die »sozialen (ethnischen), politischen und kulturellen Formationen«12 einer Gemeinschaft inkongruent sind, wie es bei allen Gemeinschaften der Fall sei, die mehr als einige Tausend Mitglieder umfassen und in denen aufgrund der Größe keine Face-to-face-Kommunikation zwischen den Mitgliedern mehr möglich ist. Das Aufkommen gesteigerter kollektiver Identitäten geht dabei meist einher »mit der Ausbildung besonderer kultureller Technologien«13 . Der moderne Nationalismus ging zunächst mit der massenhaften Verbreitung von Printmedien einher und ist auch heute noch eng mit dem Massenmedium Fernsehen verbunden. Aus einer Inkongruenz der ethnischen, politischen und kulturellen Formationen entstandene gesteigerte kollektive Identitäten sind in der Regel mit zwei Arten von Problemen verbunden: »Probleme der Integration und Probleme der Distinktion«14 . Probleme der Integration ergeben sich daraus, dass die zur Hochkultur erklärte kollektive Identität »die hochgradig instabile politische Formation […] stabilisieren und eine Vielzahl mehr oder weniger heterogener soziokultureller Formationen […] integrieren muss«15 . Probleme der Distinktion entstehen aus dem Zusammenhang von Identität 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 140. Ebd. Ebd., S. 144. Ebd., S. 160. Ebd., S. 144. Ebd., S. 145.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
und Alterität. Eine gesteigerte Identität erfordert eine ebenso gesteigerte Alterität. Metaphysisch aufgeladene Narrative gesteigerter kollektiver Identität gehen daher mit einer Isolation von der als feindlich wahrgenommenen Umwelt einher. Die meisten kollektiven Identitäten der Geschichte sind untergegangen oder in eine andere kollektive Identität eingeflossen. Außergewöhnlich überdauernde kollektive Identitäten zeichnen sich durch eine »Verschmelzung ethnischer Identität mit spezifischer religiöser Ausrichtung«16 aus. Die Aussage, dass Kulturpolitik Identität stifte,17 ist, bezogen auf einen pluralistischen Staat, eine Komplexitätsreduktion, denn wir haben es bei der Europäischen Union, der Bundesrepublik Deutschland und selbst bei den einzelnen Bundesländern und Kommunen nicht mit monolithischen Stammesgesellschaften, sondern mit komplexen Gruppenzusammensetzungen zu tun, die sich trotz übergeordneter gemeinsamer Symbolisierungsformen durch eine hohe Ausdifferenzierung in kulturelle Sub-Formationen auszeichnen, deren Existenzmöglichkeit in pluralistischen Demokratien gegeben zu sein hat. Die Probleme der Integration und Distinktion, die in einem modernen Nationalstaat notwendigerweise in verschiedener Intensität und Ausprägung entstehen, lassen sich nicht durch kulturpolitische Maßnahmen entfernen, aber es kann ein Umgang mit diesen Problemen gepflegt werden, der einem liberal-demokratischen Staat gerecht wird. Das kulturelle Gedächtnis eines demokratischen Staates ist vielschichtig und muss sogar Widersprüche anerkennen. Kulturpolitik in Deutschland kommt daher heute weniger die Funktion der Verbreitung nationalkultureller Symbolisierungsformen als die Funktion interner Übersetzung und Verständigung zu. Interne Übersetzung und Verständigung gelingt allerdings nicht, wenn kein gemeinsamer Rahmen der Kommunikation gegeben ist. Kulturpolitik kann der Gesellschaft einen gemeinsamen Rahmen der Kommunikation ermöglichen, der mit dem liberal-demokratischen Pluralismus und der Existenz kultureller Sub-Formationen vereinbar ist und trotzdem nicht in die Beliebigkeit mündet. Dafür muss allerdings bestimmten Kulturobjekten ein besonderer Wert für die Gesellschaft zugesprochen werden. Die Kanonisierung
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Ebd., S. 160. Z.B. Brigitte Faber-Schmidt: Zu Hause zwischen Prignitzern, Uckermärkern und Lausitzern. Heimat und Identität im Kulturland Brandenburg. In: Politik und Kultur 3/19, S. 24.
2. Kultur als Symbolisierungsform kollektiver Identität
von Kulturobjekten bedeutet auch unter Berücksichtigung liberal-demokratischer Grundsätze, dass bestimmten Kunsttraditionen ein höherer Wert zugesprochen wird als anderen. Dies ist jedoch gerade nicht gleichzusetzen mit einer Bevorzugung bestimmter kultureller Gemeinschaften. Es geht darum, der Gesellschaft einen geeigneten Kommunikationsrahmen bereitzustellen und nicht etwa darum, ewige Gesetze und verbindliche Regeln des Zusammenlebens und der Lebensgestaltung festzulegen. Für kulturelle Kanons liberal-demokratischer Staaten eignen sich deshalb besonders solche Kunstwerke, die nicht eindeutig und beliebig sind, sondern sich durch Ambiguität und Transkulturalität auszeichnen. Kanonisierung ist daher auch nicht mit der Schaffung einer Leitkultur gleichzusetzen. In den Leitkulturdebatten werden eindeutige Regeln des Zusammenlebens und die Essenz des Deutschseins gesucht, um eine Hierarchisierung kultureller Sub-Formationen durchzusetzen. Die Kanonisierung ausgewählter Kunstwerke kann sich hingegen auf die Übersetzung und Verständigung zwischen den kulturellen Subformationen konzentrieren. Damit dieser Unterschied offen sichtbar ist, sollte sich die Kanonisierung an ästhetischen und kulturwissenschaftlichen Kriterien orientieren und kann auch Kunstwerke berücksichtigen, die außerhalb des deutschen Staatsterritoriums und sogar außerhalb des deutschen Sprachraums entstanden sind.
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3. Kulturpolitik
Die UNESCO definiert in der Erklärung der UNESCO-Weltkonferenz über Kulturpolitik 1982 Kultur »als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte […], die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen«, zählt dazu »nicht nur Kunst und Literatur […], sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen« und fügt hinzu, »dass der Mensch durch die Kultur befähigt wird, über sich selbst nachzudenken«1 . Diese Definition, auf die sich auch der Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ beruft,2 vereint die verschiedenen Ebenen des Kulturbegriffs und zeigt die Verflechtung dieser Ebenen auf. Kulturpolitik befasst sich zwar direkt mit Kultur III, also mit dem Feld der Kunst, aber ist durch die Verflechtung von Kultur III mit den anderen Ebenen ebenfalls indirekt mit allgemeineren Überlegungen zum menschlichen Leben und Zusammenleben verflochten. Dirk Baecker bezeichnet all das als Kultur, »was wir nicht zur Disposition zu stellen bereit sind« und nennt als Beispiele soziale Regeln wie das Abnehmen der Mütze in der Kirche, das schweigende Betrachten von Bildern im Museum und das Bereithalten von Stift und Papier im Seminar. Als Kulturarbeit bezeichnet Baecker »nur eine Arbeit, die uns diese Regeln vorführt und uns anschließend die Entscheidung überläßt, ob wir uns an sie halten wollen oder nicht«3 . Das so »als nicht mehr Selbstverständliches vorgeführt[e]« wird uns bewusst, erlaubt »einen Blick über den Tellerrand der allgemeinen 1
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UNESCO: Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik. Mexiko-City 1982. URL: https:// www.unesco.de/sites/default/files/2018-03/1982_Erkl %C3 %A4rung_von_Mexiko.pdf (Datum des Zugriffs: 12.7.2019). Bundestag Drucksache 16/7000 vom 11.12.2007: Schlussbericht der EnqueteKommission »Kultur in Deutschland«, S. 47. Baecker 2003, S. 60.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Regeln, Werte und Symbole […] und zeigt uns so, was wir an ihnen haben«4 . Kulturarbeit und im engeren Sinne auch Kulturpolitik bewegt sich diesem Verständnis nach immer im Spannungsverhältnis zwischen Bewahren und Erneuern, denn einerseits kann die Bewusstmachung der selbstverständlichen sozialen Regeln diese festigen, aber andererseits kann sie auch zur Veränderung oder gar Abschaffung von nicht mehr zeitgemäßen oder überflüssigen Regeln führen. Ob Kulturarbeit zur Bewahrung oder zur Erneuerung beiträgt, hängt demnach von der rezipierenden Gesellschaft ab, in der die als nicht mehr selbstverständlich vorgeführten Regeln entweder weiter – und nun bewusster – eingehalten oder verändert werden. Bedenkt man das Konzept des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan Assmann, dann gehört zur Kulturpolitik auch die »transgenerationelle[] Überlieferung der kulturellen Ausstattung«5 , die im Falle pluralistischer, multikultureller Gesellschaften auf vielfältige Weise zur individuellen Identitätskonstruktion und zu verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten einzelner Menschen beiträgt. Besonders im Kontext von Denkmälern, Erinnerungsorten und kanonisierten Kunstwerken zeigt sich, dass Kulturpolitik auch Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis nimmt. Die Verbreitung eines diffusen Gefühls allgemeiner Unsicherheit in der gesamten Gesellschaft und in den meisten Lebensbereichen in der Spätmoderne beobachtet nicht nur Zygmunt Bauman, sondern insbesondere in der Soziologie werden ähnliche Überlegungen seit den 80er Jahren gemacht. Ulrich Beck beschreibt schon 1986 spätmoderne Gesellschaften als Risikogesellschaften6 . Globale Bedrohungen wie die Erderwärmung, Terrorismus und Finanzkrisen können von einzelnen Nationalstaaten nicht gelöst werden und trotzdem sind die Nationalstaaten nach wie vor die einzige wirklich handlungsfähige politische Einheit. Diese Gründe für das diffuse Gefühl allgemeiner Unsicherheit sollen hier nicht in aller Ausführlichkeit dargestellt werden. Jedoch ist aus kulturpolitischer Sicht festzuhalten, dass Unsicherheitsgefühle nicht nur individuell-psychologische Ursachen haben können, sondern sich auch durch bestimmte soziale Strukturen gesamtgesellschaftlich ausbreiten können. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Ausbreitung eines Unsicherheitsgefühls heraus entsteht auch ein neues Bedürfnis nach Sicherheit, Identi-
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Ebd., S. 61. A. Assmann 2013, S. 79. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986.
3. Kulturpolitik
tät und Eindeutigkeit, das als Erwartungshaltung zunehmend auch an die Kulturpolitik herangetragen und von bestimmten kulturpolitischen Akteuren als konzeptionelle Grundlage für Kulturpolitik herangezogen wird. Identität, Leitkultur, Selbstvergewisserung und Heimat sind Begriffe, die nicht nur in genuin gesellschaftspolitischen Debatten, sondern auch im Kontext kulturpolitischer Überlegungen häufig genannt werden. Aus der wahrgenommenen Unsicherheit entsteht weltweit ein Kampf um den operativen Kulturbegriff. Kulturkonzepte, die Transkulturalität und Hybridität in den Fokus rücken, stehen dabei in einem Konkurrenzverhältnis zu homogenitäts- und identitätszentrierten Kulturkonzepten. Kulturpolitik muss von Gesellschaftspolitik getrennt untersucht werden, auch wenn selbstverständlich Überschneidungen und wechselseitige Einflüsse bestehen. Kulturpolitik ist nur indirekt Gesellschaftspolitik, denn die Sphäre der Kultur zeichnet sich – nach Dirk Baecker – gerade durch die Abkopplung von gesellschaftlichen Realitäten aus. Während gesellschaftspolitische Einflussnahmen direkt gesellschaftliche Realitäten verändern, ändern kulturpolitische Einflussnahmen zunächst – wenn überhaupt – nur die Selbstreflexion einer Gesellschaft. Diese Selbstreflexion kann wiederum unvorhersehbare gesellschaftliche Realitäten zur Folge haben, muss dies aber nicht zwangsläufig. So hat die Erhöhung des Renteneintrittsalters unmittelbare Folgen für Mitglieder der Gesellschaft, während die Förderung oder Kanonisierung einer bestimmten Art von Musik oder Literatur zunächst nur Auswirkungen darauf haben kann, wie die Mitglieder ihre Gesellschaft wahrnehmen und wie sie sich zu ihr positionieren. Diese Auswirkungen auf die Wahrnehmung der eigenen Gesellschaft sind außerdem durch individuell verschiedene Rezeptionsvorgänge geprägt und werden nicht immer unmittelbar in gesellschaftliche Handlungen übersetzt, sondern beeinflussen zunächst nur, wie die Gesellschaft von ihren Mitgliedern gedacht wird. Die durch die Sphäre der Kultur veränderte Wahrnehmung der Gesellschaft kann jedoch sehr reale Folgen für eine Gesellschaft haben. So haben beispielsweise die besonders im 18. und 19. Jahrhundert zunächst auf die Sphäre der Kultur beschränkten Ideen der Nation und des Nationalismus reale gesellschaftliche Auswirkungen ausgelöst, die noch heute nahezu alle Gesellschaften der Welt entscheidend prägen. Diese Ideen verbreiteten sich nicht nur durch das aufkommende Massenmedium Zeitung, sondern auch über Medien, die in den Einflussbereich der Kulturpolitik gehören, wie literarische Texte, Musik und bildende Kunst. Dennoch ist Kulturpolitik nur indirekte Gesellschaftspolitik, über
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
die die Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst beeinflusst werden kann. Michael Flohr zufolge wird über Kulturpolitik »das gesellschaftliche Handlungsfeld der Kultur strukturiert. Dies geschieht durch politische Maßnahmen, die die inhaltlichen Bereiche der Künste, des Kulturerbes und der kulturellen Bildung gestalten, schützen und entwickeln und einen reflexiven Diskurs unter Aktivierung staatlicher, staatlich geförderter, gemeinnützig orientierter, wissenschaftlicher, ausbildender, privatwirtschaftlicher und medialer Akteure ermöglichen und fördern.«7 Wie das Handlungsfeld der Kultur von der Kulturpolitik strukturiert wird, hängt vom jeweils verwendeten Kulturkonzept ab. Armin Klein stellt fest, dass sich durch gesellschaftliche Veränderungen in der Spätmoderne »ein breiter Raum für kulturtheoretische Überlegungen und kulturpolitisches Handeln«8 ergibt. Auf die spätmoderne »Unübersichtlichkeit« gebe es verschiedene »Antworten, die sich teilweise […] in kulturpolitischen Programmen niederschlagen«9 . So sei »die rigideste« und zunehmend einflussreiche Antwort auf die Unsicherheit der Spätmoderne der »Fundamentalismus« in seinen verschiedenen Formen, die »die Rückkehr zu – scheinbar – sicheren Fundamenten, etwa der ›Nation‹ oder der ›Religion‹«10 , anstreben. Seit den 1980er Jahren beobachten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen diese Problematik, die sich bis heute intensiviert hat. Fundamentalistische Parteien und Bewegungen nationalistischer und religiöser Art gewinnen global an Macht, bestimmen über ganze Staaten und beeinflussen auch in den liberal-demokratischen Staaten den öffentlichen Diskurs. Es wird immer deutlicher, dass »[e]ine der Kernfragen des 21. Jahrhunderts« ist, »wie ›die Kultur‹ und ›die Politik‹ auf diese fundamentalistischen Herausforderungen reagieren«11 . Diese Kernfrage hat sich in Deutschland auch zu der Frage entwickelt, wie sehr fundamentalistische Konzepte sich im gesamtgesellschaftlichen Diskurs behaupten können und welche fundamentalistischen Forderungen von pluralistischer ausgerichteten Parteien mit Blick auf zunehmend verunsicherte Wähler übernommen werden. 7 8 9 10 11
Michael Flohr: Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke. Bielefeld 2018, S. 32. Armin Klein: Kulturpolitik. Eine Einführung. 3. aktualisierte Aufl. Wiesbaden 2009, S. 193. Ebd. Ebd. Ebd., S. 194.
3. Kulturpolitik
Als weitere mögliche Antwort nennt Armin Klein das Konzept der »kulturellen Kompensation«12 und bezieht sich dabei vor allem auf Odo Marquard. Marquard schreibt Geisteswissenschaften eine Kompensationsfunktion zu, die den Menschen die Modernisierung ertragbar macht.13 Klein überträgt Marquards Überlegungen auf die Kulturpolitik und zeigt, dass eine solche Kompensationsfunktion oft Legitimationsgrundlage kulturpolitischer Aktivitäten ist.14 Allerdings kritisiert Klein an diesem Kulturkonzept, dass »Modernisierungsschäden«15 als notwendiges Übel akzeptiert werden und Kultur auf die Kompensation dieser notwendigen Schäden reduziert ist. Eine dezidiert postmoderne Kulturpolitik bezeichnet Klein als »[d]ie entschiedenste Gegenposition zu Fundamentalismus und Gegenmoderne«16 und bezieht sich dabei auf Wolfgang Welschs Definition der Postmoderne und die von Welsch von dieser Definition abgeleiteten Forderungen an die Kulturpolitik. Nach Welsch zeichnet sich die Postmoderne insbesondere durch eine »radikale Pluralität« aus, die es zwar in Ansätzen schon in der Moderne gab, aber die jetzt »zur allgemeinen Grundverfassung wird«17 . Die Pluralität der Postmoderne ist laut Welsch jedoch kein Zeichen gesellschaftlichen Zerfalls, sondern ist geschichtlich gewachsen, ist »eine zuinnerst positive Vision« und »von wirklicher Demokratie untrennbar«18 . Welsch beschreibt die »Grunderfahrung der Postmoderne« als »die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster«, die alle aufgrund der »Schlüsselerfahrung« anerkannt werden, »daß ein und derselbe Sachverhalt in einer anderen Sichtweise sich völlig anders darstellen kann und daß diese andere Sichtweise doch ihrerseits keineswegs weniger ›Licht‹ besitzt als die erstere – nur ein anderes«19 . Aus dieser Erfahrung heraus »tritt« die Postmoderne »allen alten und neuen Hegemonie-Anmaßungen entschieden entgegen« und »folgt der Einsicht daß jeder Ausschließlichkeits-Anspruch nur der illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten 12 13 14 15 16 17 18 19
Ebd. Odo Marquard: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien. Stuttgart 1987. Klein 2009, S. 197. Ebd., S. 198. Ebd. Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Siebente Aufl. Berlin 2008, S. 5. Ebd. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
entspringen kann. Daher ergreift sie für das Viele Partei und wendet sich gegen das Einzige, tritt Monopolen entgegen und decouvriert Übergriffe. Ihre Option gilt der Pluralität – von Lebensweisen und Handlungsformen, von Denktypen und Sozialkonzeptionen, von Orientierungssystemen und Minderheiten.«20 Diese positive Deutung der spätmodernen Pluralität steht zunehmend einflussreichen, negativen Deutungen gegenüber, die die Pluralität als gesellschaftlichen Zerfallsprozess sehen und eine Rückkehr zu weniger pluralen Gesellschaftsformen anstreben. Diese Gegenüberstellung findet auch in der Auseinandersetzung um den Kulturbegriff statt. Welche Form der Kulturbegriff annimmt, beeinflusst wiederum die konzeptionelle Grundlage der Kulturpolitik. Die negativen Deutungen der Spätmoderne ergeben sich aus dem Hang der erweiterten Pluralität zur Beliebigkeit und Unverbindlichkeit, der als fehlende Orientierung gedeutet werden kann. Aus den negativen Deutungen der postmodernen Erfahrung speisen sich die neuen Fundamentalismen. Die Konzepte der Transkulturalität und der Hybridität sind hingegen eine positive Deutung der spätmodernen Pluralität.
20
Ebd.
4. Der klassische Kulturbegriff nach Herder
Wolfgang Welsch grenzt seinen Transkulturalitätsbegriff von Johann Gottfried Herders Kulturbegriff ab. Die ideengeschichtliche Bedeutung Herders hat zum Beispiel Isaiah Berlin herausgearbeitet.1 Herder wendet sich gegen den Universalismus der Aufklärung und betont die Andersartigkeit von Kulturen, deren jeweilige Wertesysteme von Außenstehenden nicht auf der Grundlage von bestimmten, allgemeingültigen Werten beurteilt werden könnten, weil es diese allgemeingültigen Werte nicht gebe.2 Berlin zufolge hatten Herders Schriften Anteil einerseits an der Entstehung von Romantik und Nationalismus, ohne dass Herder selbst als Vertreter dieser Weltsichten gelten kann,3 und andererseits an der Kritik am Eurozentrismus und an der Entstehung des Pluralismus4 . Kosmopolitismus erscheint aus Herders Sicht als defizitär gegenüber Menschen, die an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Gemeinschaft gebunden sind,5 und Migration führt aus Herders Sicht oft zur Degeneration der Menschen, die ihre Heimat verlassen haben.6 Herders Kulturbegriff und seine spezifische Weltsicht beeinflussen noch immer das Denken in Deutschland. Herders Kulturbegriff soll deshalb exemplarisch für den klassischen Kulturbegriff stehen, in dem sowohl die Anerkennung kultureller Diversität als auch Kulturrelativismus enthalten sind. Kaum ein Diskursteilnehmer beruft sich explizit auf Herder, um seine Argumente zu bekräftigen. Der klassische Kulturbegriff nach Herder wird stattdessen von den meisten Diskursteilnehmern als selbstverständliche Wahrheit 1 2 3 4 5 6
Isaiah Berlin: Herder and the Enlightenment. In: Ders.: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. London 1976, S. 143-216. Vgl. Isaiah Berlin: Introduction. In: Ders.: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. London 1976, S. XIII-XXVII, hier: S. XXIII. Ebd., S. XXIV. Berlin 1976, Herder and the Enlightenment, S. 153. Ebd., S. 178. Ebd., S. 179.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
vorausgesetzt. Die Multikulturalismusdebatten in Deutschland zeigen dies immer wieder. Zwischen den verschiedenen Lagern wird meist nur verhandelt, in welchem Verhältnis die als klar voneinander abgegrenzt gedachten Kulturen innerhalb der Gesellschaft stehen sollten. Welche Form die angenommenen kulturellen Grenzen haben, steht nicht zur Debatte. Kulturelle Vermischungen und hybride Identitäten gelten in diesen Debatten als Sonderfälle, wenn sie denn überhaupt wahrgenommen werden. Kulturelle Grenzen erscheinen als fest und undurchlässig, wenn der herdersche Kulturbegriff herangezogen wird. Dieser Kulturbegriff ist allerdings nicht auf politisch rechte Positionen festgelegt, sondern kann auch linken Positionen zugrunde liegen. Einerseits sind in Herders Schriften bereits protonationalistische und antifranzösische Ideen enthalten7 und andererseits ist besonders in Herders frühen Schriften die Forderung nach dem Erhalt kultureller Diversität entscheidend8 . Besonders in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit entwickelt Herder sein Kulturkonzept und grenzt sich von bestimmten französischen Philosophen der Aufklärung, wie zum Beispiel Montesquieu,9 ab. Herder unterscheidet zwischen dem politischen Staat und der als vorpolitisch gedachten Nation. Der Staat wird in der Aufklärung erstmals mit universalistischen Prinzipien in Verbindung gebracht. Liberal-demokratische Staaten beziehen sich in dieser Tradition stehend auf universalistische Werte wie die Menschenrechte. Für Herder sind Staaten, die sich hauptsächlich auf universalistische Werte als verbindendes Element der einzelnen Bürger beziehen, defizitär. Der optimale Staat ist Herder zufolge mit der Nation identisch und braucht deshalb keine universalistischen Prinzipien. Staaten, in denen sich verschiedene Ethnien mischen, sind in Herders Vorstellung ebenfalls defizitär. Bei Herder erhält die Unterscheidung zwischen einer als un- oder vorpolitisch gedachten Nationalkultur und dem als politisch gedachten Staat bereits eine Kontur, die in der späteren deutschen Ideengeschichte noch viel stärker hervortreten sollte. Das Volk mit seinem distinkten Nationalcharakter wird dabei als natürlich gedacht, während der Staat als künstlich und unnatürlich gedacht wird: »Die Natur erzieht Familien; der natürlichste Staat ist also auch Ein Volk, mit Einem Nationalcharakter. Jahrtausende lang erhält sich dieser in ihm und 7 8 9
Ebd., S. 180-181. Ebd., S. 190. Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zweiter Teil. Frankfurt a.M. 1989 [1785], S. 371.
4. Der klassische Kulturbegriff nach Herder
kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt, am natürlichsten ausgebildet werden: denn ein Volk ist sowohl eine Pflanze der Natur, als eine Familie; nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint als dem Zweck der Regierungen so offenbar entgegen, als die unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde Vermischung der Menschen-Gattungen und Nationen unter Einen Szepter. Der Menschenszepter ist viel zu schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man Staats-Maschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegen einander.«10 Da Deutschland sich als liberal-demokratischer Staat zu universalistischen Werten bekennt, ist der Einfluss des herderschen Kulturkonzeptes in Deutschland problematisch. Herder wendet sich in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zwar gegen bestimmte eurozentristische Auswüchse, wie den spanischen und portugiesischen Kolonialismus in Amerika11 und die Versklavung afrikanischer Menschen12 , aber teilt die Welt trotzdem nach europäisch-aufklärerischen Grundsätzen in kultivierte und barbarische Völker ein. Den mit dem Universalitätsanspruch der Aufklärung und dem technischen Fortschritt in Europa verbundenen Eurozentrismus überwindet auch Herder in seiner geschichtsphilosophischen Abhandlung nicht, sondern erklärt die Unterschiede zwischen Menschen auf der Welt durch die klimatischen und natürlichen Bedingungen, die in Europa besonders vorteilhaft seien. Er vertritt somit einen im Vergleich zu seinen Zeitgenossen milderen Eurozentrismus, der die Unterschiede zwischen Menschen nicht durch unterschiedliche genetische Ursprünge, sondern durch die jeweilige Lebensumwelt zu erklären versucht. Die Vorstellung von der Überlegenheit europäischer Menschen gegenüber nichteuropäischen Menschen überwindet Herder dennoch nicht. Auch im erstmals rational-wissenschaftlich geführten Rassismusdiskurs der Aufklärung wendet sich Herder zwar gegen eine bestimmte Spielart des Rassismus und weigert sich den Begriff der Rasse zu verwenden13 , aber überwindet nicht rassistisches Denken. Er wendet sich gegen die polygenetische Theorie, die von verschiedenen Ursprüngen der angenommenen Rassen ausgeht, und vertritt stattdessen eine monogenetische Sichtweise, die zwar den 10 11 12 13
Ebd., S. 369-370. Ebd., S. 244-246. Ebd., S. 232. Ebd., S. 255-256.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
gemeinsamen genetischen Ursprung aller Menschen anerkennt, aber ganzen Ethnien neben Unterschieden im Aussehen auch Unterschiede in der Mentalität, den körperlichen und geistigen Fähigkeiten, der Nahrungsverdauung und des Sexualtriebes zuschreibt. Allerdings führt Herder diese Unterschiede auf die klimatischen Bedingungen zurück, die aus der gleichen Anlage des Menschen über Jahrtausende in den verschiedenen Erdteilen zu verschiedenen Rassen geführt hätten. So schreibt Herder über Menschen mit schwarzer Hautfarbe: »Die feinere Geistigkeit, die dem Geschöpf unter dieser glühenden Sonne, in dieser von Leidenschaften kochenden Brust versagt werden mußte, ward ihm durch einen Fibernbau, der an jene Gefühle nicht denken ließ, erstattet. Lasset uns also den Neger, da ihm in der Organisation seines Klima kein edleres Geschenk werden konnte, bedauern, aber nicht verachten; und die Mutter ehren, die auch beraubend zu erstatten weiß.«14 Auf ähnliche Weise wie der Rassebegriff verbindet sich bei Herder auch der Kulturbegriff mit verallgemeinernden Beschreibungen der Eigenschaften, der Fähigkeiten und der Entwicklungsstufe der Mitglieder einer von Herder als Kultur klassifizierten Gruppe von Menschen. Der Eurozentrismus fand im Kolonialismus seinen Höhepunkt und beeinflusst bis heute den europäischen Blick auf die Welt. Im Kolonialismus »wurden europäische Technologien und Wissen als Symbole eines wünschenswerten Fortschritts verstanden« und es ergab sich eine »komplizenhafte Beziehung zwischen den Diskursen der Moderne sowie der Aufklärung und der kolonialistischen Vereinnahmung«15 . Gegen diese Vorstellung positioniert sich Herder mit seinem Anliegen, auch außereuropäische Gruppen als Kulturen in ihrer Andersartigkeit anzuerkennen. Herder geht in seiner Anerkennung der Verschiedenheit der Kulturen allerdings so weit, dass die Zugehörigkeit zu einer Kultur als essentielle Eigenschaft eines jeden Menschen verstanden wird und Kulturen als eindeutig und scharf voneinander abgrenzbar gedacht werden. Dafür benutzt Herder den Begriff der Nation, der jedoch in seiner Bedeutung noch von späteren Nationsbegriffen zu unterscheiden ist, da Herder ihn wie den heute gebräuchlichen Begriff der Ethnie verwendet.
14 15
Ebd., S. 236. María do Mar Castro Varela & Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2. überarb. Aufl. Bielefeld 2015, S. 38.
4. Der klassische Kulturbegriff nach Herder
In Herders Kulturrelativismus ist eine frühe Form des späteren multikulturalistischen Kulturrelativismus erkennbar. Mit der Kritik an Eurozentrismus und Rassismus verbindet sich eine neue Form essentialistischen Denkens, die Kulturen in klar voneinander abgrenzbare und isolierte Einheiten einteilt. Der aufklärerisch-universalistische Anspruch, alle Völker in ihrer Andersartigkeit anzuerkennen, gibt einerseits Gruppen, die ihrem Selbstverständnis nach Minderheiten sind, eine Argumentationsgrundlage für Minderheitenrechte, aber beinhaltet die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung der verschiedenen Gruppen voneinander. Aus dieser Perspektive können transkulturelle Prozesse als kulturelle Aneignungen und somit als Verletzung des Rechts auf Andersartigkeit jeder Gruppe erscheinen.16 So kommt es zu dem Phänomen, dass Vertreter des heutigen Multikulturalismus z.B. Künstler dafür kritisieren, dass sie kulturelle Symbole von Ethnien verwenden, denen sie nicht angehören.17 Dass eine afro-amerikanische Sängerin in einem Musikvideo traditionell-indische Kleidung trägt und eine weiße Frau Dreadlocks hat, gilt diesem Verständnis nach als unzulässiger Kulturtransfer, da er die Grenze zwischen den Gruppen unscharf werden lässt. Zwar ist die multikulturalistische Diskussion über kulturelle Aneignung besonders in den USA und Kanada einflussreich, aber auch in Deutschland sind vergleichbare Forderungen wahrzunehmen. So ist auf der Webseite des Bundes Deutscher Pfadfinder_innen ein Artikel veröffentlicht, der sich gegen die Pfadfindertradition der Indianerferienlager ausspricht, weil das Abhalten solcher Ferienlager sich der »rassistische[n] Praxis«18 der kulturellen Aneignung bediene. Weißen Menschen sei es nicht gestattet, sich kultureller Symbole der Ureinwohner Amerikas zu bedienen, weil Weiße auch verkleidet weiß blieben und das Privileg hätten, das Erscheinungsbild des Indianers wieder abzulegen. Den Ureinwohnern fehle »genau dieses Privileg« und sie seien deshalb der Diskriminierung »für ihre Hautfarbe, aber eben auch für das Tragen von Symbolen ihrer Kultur« ausgeliefert.19 Herder und seine 16 17
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Z.B. Greg Tate: Everything but the burden. What white people are taking from black culture. New York 2003. Vgl. Boris Pofalla: Die dürfen das doch nicht. In: FAZ. Artikel online aktualisiert am 13.9.2017. URL: www.faz.net/aktuell/feuilleton/pop/warum-stars-kulturelleaneignung-vorgeworfen-wird-15191197.html (Datum des Zugriffs: 15.6.2018). Laura Selle: Das Problem der kulturellen Aneignung. Oder: Warum wir uns über ›Indianer‹-Zeltlager unterhalten sollten. URL: http://bundesverband.bdp.org/content/dasproblem-der-kulturellen-aneignung (Datum des Zugriffs: 15.6.2018). Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
heutigen Nachfolger des Multikulturalismus wenden sich einerseits explizit gegen Eurozentrismus und Rassismus und sperren andererseits implizit Menschen anderer Hautfarbe in ein Ghetto der ewig zu bemitleidenden Andersartigkeit und Ungleichheit ein. Die multikulturalistische Forderung, das Eigene aus Respekt vor anderen Ethnien von fremden Einflüssen zu reinigen, unterscheidet sich dann nur in seiner Begründung und nicht in seinem Ziel von ethno-nationalistischen Homogenitätsforderungen. Um jeder Kultur das Recht auf Andersartigkeit einzuräumen, muss die jeweilige Kultur als in sich geschlossen und homogen gedacht werden. Das Recht auf Andersartigkeit der jeweiligen Kultur wird nur möglich, wenn man den Mitgliedern das Recht auf individuelle Andersartigkeit abspricht und stattdessen die Zugehörigkeit zur Gruppe als essentielle Eigenschaft hervorhebt. Auch Isaiah Berlin stellt fest, dass in Herders Vorstellungen die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer distinkten Gemeinschaft ein Grundbedürfnis jedes Menschen ist und das Leben im Exil Menschen verkümmern lässt.20 Aus Herders Sicht erscheint deshalb eine Welt, in der die kulturelle Diversität vom Universalismus der Aufklärung verdrängt wird, als eine verkümmerte und entmenschlichte Welt.21 Isaiah Berlin sieht in Herder auch einen Vordenker des Pluralismus.22 Allerdings ist der herdersche Pluralismus von dem in dieser Arbeit verwendeten Pluralismusbegriff zu unterscheiden. Herders Pluralismus geht von der klaren Abgrenzung verschiedener Kulturen aus, die jeweils das Recht auf eine einzigartige Weltsicht und ein distinktes Wertesystem haben. In Herders Vorstellung sollten Staaten so gebildet werden, dass sie nur je eine Nation umfassen, innerhalb der es Herder zufolge nur einen Volksgeist oder Nationalcharakter gibt. Der herdersche Pluralismus lässt deshalb keine unterschiedlichen Wertesysteme innerhalb eines Staates zu, was seinen Pluralismus vom Pluralismus liberal-demokratischer Staaten unterscheidet, in denen die Verhandlung von Wertekonflikten als wichtiger Bestandteil des Staates akzeptiert werden sollte. Der Gegensatz zwischen Universalismus und Pluralismus prägt insbesondere seit der Aufklärung die europäische Ideengeschichte und ist auch heute noch in Diskursen um kulturelle Grenzen relevant. Gibt es allgemeine Regeln des Lebens und des Zusammenlebens, die sich alle Menschen über den
20 21 22
Berlin 1976, Herder and the Enlightenment, S. 197. Ebd. Ebd., S. 206.
4. Der klassische Kulturbegriff nach Herder
bloßen Gebrauch ihrer Vernunft erschließen können und die deshalb für alle Menschen unabhängig ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen gelten müssen? Übertragen auf die Kulturpolitik könnte in diesem Kontext gefragt werden: Gibt es Kunst, deren Verbreitung zur Akzeptanz universal gültiger Regeln des Lebens und des Zusammenlebens beitragen würde und die deshalb bevorzugt gefördert und möglichst weit verbreitet werden sollte? Oder ist Kulturpolitik einem kulturellen Pluralismus verpflichtet, in dem verschiedenen Gruppen das Recht auf Ausdruck ihrer Andersartigkeit und ihrer jeweils verschiedenen Lebensformen zugesprochen wird? Beide Positionen sind in verschiedenen Ausprägungen und Vermischungen in aktuellen kulturpolitischen Diskursen wiederzufinden, wenn kulturelle Grenzen verhandelt werden, und für beide Positionen gibt es wichtige Argumente und Gegenargumente. So ist eine Gefahr universalistischen Denkens, dass anderen Menschen, die als rückständig gedacht werden, Regeln aufgezwungen werden, die als universal gültig erachtet werden und sich im Nachhinein jedoch als partikular herausstellen. So kann dem universalistischen Denken, wie es in der Aufklärung entstand, eine Komplizenschaft in den Kolonialbestrebungen Europas unterstellt werden. Andererseits wohnt der völligen Absage an universalistisches Denken ebenfalls eine Gefahr inne, wie Isaiah Berlin mit Blick auf die den Universalismus der Aufklärung kritisierende Romantik feststellt: »Denial of universal values, this emphasis on being above all an element in, and loyal to, a super-self, is a dangerous moment in European history, and has led to a great deal that has been destructive and sinister in modern times; this is where it begins, in the political ruminations and theories of the earliest German romantics and their disciples in France and elsewhere.«23 Von welchen destruktiven Folgen in der Moderne Isaiah Berlin hier spricht, soll im nächsten Abschnitt deutlicher werden.
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Isaiah Berlin: My intellectual Path. In: Ders.: The Power of Ideas. Hg. von Henry Hardy. London 2000, S. 1-23, hier: S. 10-11.
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5. Nation, Staat und Pluralismus
In der Moderne ist der Vergleich zwischen verschiedenen Kulturen zentral.1 Wenn andere Lebensweisen nicht länger als barbarisch, sondern als Ausdruck einer bestimmten, anderen Kultur gelten, dann entsteht die Notwendigkeit des ständigen Vergleichs. Eine Konsequenz ist, dass die Moderne zum Zeitalter des Nationalismus wurde, denn »[d]ie Nation ist die Bewaffnung der Kultur für die Zwecke des Vergleichs«2 . Erst in der Postmoderne, wie sie Dirk Baecker beschreibt, kann der Vergleich der Kulturen in Form des Nationalismus dekonstruiert und so teilweise entschärft werden. In den Kulturwissenschaften werden die Regeln des Kulturvergleichs und des Nationalismus in ihrer Selbstverständlichkeit vorgeführt und bewusstgemacht. Nach dem ›cultural turn‹ hat der Kulturvergleich an Schärfe verloren und kulturelle Erzeugnisse verschiedener Herkünfte werden weniger hierarchisch geordnet. Daraus darf allerdings nicht gefolgert werden, dass die Zeit des Kulturvergleichs und des damit verwandten Nationalismus am Ende ist, denn die spätmoderne Entschärfung des Kulturvergleichs erstreckt sich nicht auf alle Gesellschaftsbereiche und in alle sozialen Milieus. Stattdessen ist aktuell global eine Auseinandersetzung zwischen dem modernen Kulturvergleich und der spätmodernen Abschwächung des Kulturvergleichs zu beobachten, dessen Ausgang bisher nicht absehbar ist. Die Nation soll hier Benedict Anderson folgend als Konstruktion verstanden werden, die im Kontext der abnehmenden Wichtigkeit religiöser Welterklärungsmodelle zur Zeit der Aufklärung an Bedeutung gewonnen und im Zuge der Aufklärung frühere metaphysische Identifikationsmöglichkeiten ersetzt hat.3 Eine kulturelle Homogenität, wie sie die Idee der Nation propa1 2 3
Baecker 2003, S. 66. Ebd., S. 68. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. 2. Aufl. London/New York 1991.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
giert, gab es allerdings weder zur Zeit der Entstehung der Idee der Nation noch zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland oder einer anderen Nation, sondern musste erst künstlich erzeugt und aufrechterhalten werden. Die Erzeugung der Homogenität geschah Benedict Anderson zufolge insbesondere durch die Verbreitung der Massenmedien, die allmähliche Durchsetzung allgemeiner Schulpflicht und die damit einhergehende größere Verbreitung von Standardsprachen. Die Erzeugung der Homogenität war Anderson zufolge auch eine Voraussetzung für eine hochgradig mobile und flexible Bevölkerung, wie sie in industrialisierten Staaten mit komplexer Arbeitsteilung erforderlich ist. Insbesondere die Massenmedien versetzten die einzelnen Bürger in die Lage, sich die anderen Bürger des Staates als Gleiche vorzustellen, die die gleiche Zeitung in der gleichen Sprache lesen. Anders als die Gemeinschaften von Dörfern und Familien sind die nationalen Gemeinschaften nur vorgestellt, denn die einzelnen Mitglieder kennen nur einen Bruchteil der anderen Mitglieder persönlich und begegnen in ihrem Leben ebenfalls nur einem kleinen Teil der Gemeinschaft. Erstaunlich ist dabei, dass die nationale Gemeinschaft Anderson zufolge stets als Solidaritätsgemeinschaft vorgestellt wird, für die viele Mitglieder sogar töten oder ihr eigenes Leben opfern, selbst wenn in der Realität unsolidarisches Verhalten unter Mitgliedern der gleichen Nation alltäglich ist: »[…] because, regardless of the actual inequality and exploitation that may prevail in each, the nation is always conceived as a deep, horizontal comradeship. Ultimately it is this fraternity that makes it possible, over the past two centuries, for so many millions, not so much to kill, as willingly to die for such limited imaginings.«4 Der Ansatz der Transkulturalität beschreibt kulturelle Gemeinschaften als innen heterogen und nach außen nicht klar abgrenzbar. Den eindeutigen politischen Grenzen des Staates entsprechen keine eindeutigen kulturellen Grenzen der Nation. Essentialistische und insbesondere primordialistische Vorstellungen von Abstammungsgemeinschaften, die eine Kontinuität von der Antike bis heute haben, sind wissenschaftlich nicht länger haltbar. Aus der konstruktivistischen Sicht Andersons sind Nationen ›imagined communities‹ und keine Gemeinschaften, die auf natürlichen Eigenschaften ihrer Mitglieder beruhen. Die Nationalkultur kann deshalb als Narrativ verstanden werden, wie es zum Beispiel Homi K. Bhabha im Kontext des Postkolonialismus 4
Ebd., S. 83.
5. Nation, Staat und Pluralismus
tut,5 und jeder Diskurs über das Wesen oder den Zustand einer Nation hat Einfluss auf dieses Narrativ. Erst Setzungen in Form von Selektion und Kanonisierung kultureller Elemente lassen das Narrativ der Nationalkultur entstehen. So kommt eine Nationalkultur immer durch eine Selektion kultureller Merkmale, Traditionen und geschichtlicher Ereignisse zustande. Dabei werden Elemente regionaler Kulturen, aber auch über das Nationalterritorium hinaus vertretene religiöse und politische Traditionen und Werte in das Narrativ der Nationalkultur transferiert. So sind heutzutage sowohl Lederhosen und Fachwerkhäuser als auch Weihnachten und Demokratie Teil des Narrativs der deutschen Nationalkultur. Dass auch Demokratie heute ein Teil des Narrativs ist, zeigt, dass es ständigen Veränderungen unterworfen ist und ständig neu verhandelt wird, wie es auch Stephen Greenblatt mit seinem Begriff der ›Zirkulation‹ beschreibt: »Jedes Element in der Struktur einer Kultur ist prinzipiell ersetzbar. Jede Idee, wie orthodox sie auch sein mag, kann hinterfragt werden. Jede Repräsentation kann in Zirkulation treten. Und es hängt von der jeweiligen Art der Zirkulation ab – das heißt ob sie geheim oder offen ist, schnell oder schleppend, ob sie gewaltsam aufgezwungen oder frei gewählt, durch Schuld und Angst begrenzt oder als Vergnügen empfunden wird, – wie die Akkomodation, Assimilation und Repräsentation der Kultur des Anderen erfolgt.«6 Die Demokratie war in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen noch eine Repräsentation des Anderen. Sie galt als ›undeutsch‹ und eine mögliche Zirkulation der politischen Traditionen in Deutschland sollte mit militärischen Mitteln verhindert werden. In der Zeit der Weimarer Republik und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine Zirkulation und die Demokratie wurde schrittweise zu einer kulturellen Setzung des deutschen Nationalstaats. Besonders eine spezifische Erinnerung und Beschäftigung mit der Zeit vor 1945 wurde Teil des Narrativs der deutschen Nationalkultur. Selbst diese kulturelle Setzung der Demokratie ist jedoch ständigen Zirkulierungen unterworfen, die auf verschiedene Weise Eingang in das Narrativ der Nation finden. So hat sich die konkrete Ausformung der Demokratie und die kulturelle Setzung der damit verbundenen Werte und Traditionen seit 1945 bedeutend verändert, wie am Beispiel der 68er-Bewegung deutlich wird. 5 6
Homi K. Bhabha: The Location of Culture. New York 1994. Stephen Greenblatt: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker. übers. von Robin Cackett. Berlin 1998, S. 186.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Die Beschreibung der Nation als vorgestellte Gemeinschaft und der Nationalkultur als Narrativ offenbart die Konstruiertheit der Nation und der Nationalkultur. Die konstruktivistischen Theorien der Nationenbildung zeigen, dass ohne die selektiven Setzungen des nationalkulturellen Narrativs keine Nation bestehen würde. Den kulturellen Setzungen einer Nationalkultur entspricht keine natürliche Gemeinschaft von Menschen, die über eine gemeinsame essentielle Eigenschaft verfügen. Im Falle des Nationalstaats kann stattdessen durch kulturelle Setzungen die Vorstellung einer vorpolitischen essentiellen Eigenschaft erzeugt werden, die die Mitglieder der vorgestellten Abstammungsgemeinschaft vereint. Derartige essentialistische Setzungen haben das Narrativ der deutschen Nationalkultur entscheidend geprägt, sind weiterhin Bestandteil politischer Diskurse und bleiben für viele Menschen in Deutschland Bestandteil ihrer Vorstellung von der deutschen Nation. Die konstruktivistischen Beobachtungen stellen allerdings nicht die Tatsache in Frage, dass es Traditionen gibt, sondern dekonstruieren lediglich die Entstehungsmythen nationaler Traditionen und stellen die Entstehung von Nationen und den damit verbundenen Traditionen als einen ständigen Veränderungen unterworfenen kulturellen Prozess dar, der auch innerhalb einer Kultur ausdifferenziert ist. Die an die Idee der Nation gebundenen Traditionen variieren regional voneinander und sind individuellen Entscheidungen jedes einzelnen Mitglieds der vorgestellten Gemeinschaft unterworfen, die jeweils unterschiedliche Gewichtungen einzelner nationaler Traditionen vornehmen und so zu einer individuellen Ausprägung zwischen völliger Ablehnung über Gleichgültigkeit bis zu strikter Einhaltung gelangen. Die konkrete Ausformung nationaler Traditionen ist deshalb weniger fest und verbindlich als die Traditionen von kleinen Gemeinschaften, in denen sich alle Mitglieder tatsächlich kennen und begegnen. Ernest Gellner zufolge ist die wichtigste Forderung des Nationalismus die nach der Kongruenz der Grenzen der Nation und des Staates, also der kulturellen und der politischen Grenzen.7 Die meisten Kriege der Moderne lassen sich direkt auf diese Forderung zurückführen, denn wenn eine Gruppe von Menschen sich als Nation begreift, aber diese Nation in einem Staat lebt, der von Mitgliedern einer anderen Nationalkultur regiert wird, dann kann die Gründung eines neuen Nationalstaats meist nur durch Kriege gelingen. Anderenfalls muss sich die staatenlose Nation mit dem Status als nationale Minderheit abfinden und kann, wie im Fall vieler Minderheiten in der Geschichte, 7
Ernest Gellner: Nations and Nationalism. Ithaca 1983.
5. Nation, Staat und Pluralismus
von der Mehrheitskultur assimiliert werden. Eine vollkommene Kongruenz von ethnisch-kulturellen und politischen Grenzen ist in nahezu keinem Staat der Welt zu finden. Zur Entstehung eines Nationalstaats gehört es oft dazu, dass ethnisch-kulturell uneindeutige Mischzonen homogenisiert werden, was durch Anpassungszwänge und nicht selten durch Gewalt durchgesetzt wird. Die Aktualität der Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft und die Bedeutung von Massenmedien für diese Vorstellung ist zum Beispiel bei der Medienberichterstattung zu Katastrophen erkennbar. Nach der Ansage einer Gesamtopferzahl wird noch die Anzahl deutscher Opfer genannt. Für fast alle Fernsehzuschauer, Radiohörer und Zeitungsleser sind sämtliche Opfer der jeweiligen Katastrophe Unbekannte, denen sie noch nie begegnet sind und über die sie nichts wissen, und dennoch kommt den deutschen Opfern in der Berichterstattung eine besondere Bedeutung zu. Weitere Beispiele sind Sportereignisse, bei denen Nationalmannschaften gegeneinander antreten. In der Medienberichterstattung steht die jeweilige deutsche Mannschaft pars pro toto für die gesamte vorgestellte Gemeinschaft und so wird oft von den Wettkämpfen in der ersten Person Plural berichtet, als wären die Berichterstatter und die Zuschauer ein Teil der Mannschaft. Die Massenmedien ermöglichen auch heute die Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft in der gleichen Weise wie die Entstehung massenhaft verbreiteter Zeitungen in bürgerlichen Kreisen die Vorstellung der nationalen Zugehörigkeit überhaupt ermöglicht hat. In der Spätmoderne hat sich der karnevaleske Charakter von nationalen Feierlichkeiten gegenüber der Moderne noch verstärkt. Die Fußballpartys während der internationalen Turniere heben sich in ihrer Betonung der nationalen Gemeinschaft von den alltäglichen Erfahrungen der individualisierten Staatsbürger ab. Die Fußballpartys bieten die Möglichkeit, in einem politisch folgenlosen und ohne staatsbürgerliche Verantwortung auskommenden nationalen Karneval das Bedürfnis nach Gemeinschaft temporär zu stillen und ein nationales Gemeinschaftsgefühl zu konsumieren. Im Moment des Ausscheidens der deutschen Mannschaft kehren die Individuen in ihren von Gemeinschaftsvorstellungen meist abgekoppelten Alltag zurück, in dem Erfolg und Scheitern allein in der Verantwortung des Einzelnen liegen. Die nationale Identität ist in der ›flüchtigen Moderne‹ nicht mehr so bedeutend wie noch in der ›festen Moderne‹. Die feste Moderne war durch den Nationalstaat und die Vorstellung der Kongruenz von Territorium, Nation
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und Staat sowie damit einhergehende Homogenisierungszwänge geprägt.8 Diese Vorstellung war die zentrale ordnungsbildende Kraft während der Modernisierungsprozesse der festen Moderne. Die Industrialisierung und die komplexe Arbeitsteilung moderner Gesellschaften wurde in Staaten durchgesetzt, in denen politische Entscheidungen sich vorwiegend auf Probleme bezogen, die innerhalb des nationalstaatlichen Territoriums zu suchen waren. Die Staaten der festen Moderne hatten dabei einen Hang zum Totalitarismus und die Bürger der festen Moderne fürchteten zurecht vor allem den totalitären Staat, wie er in den Dystopien Brave New World und Nineteen Eighty-Four gezeichnet wurde. In der flüchtigen Moderne ist die Vorstellung der Kongruenz von Territorium, Nation und Staat allerdings noch immer allgegenwärtig und entsprechend beschäftigen sich die Politiker sämtlicher Nationalstaaten vor allem mit innerstaatlichen Angelegenheiten. Globale Märkte und Freihandelszonen, der Klimawandel, globale Terrornetzwerke und globale Flüchtlingszahlen im zweistelligen Millionenbereich erweisen sich zunehmend als Probleme, die globale Lösungen erfordern. Politische Institutionen, die solche Lösungen erarbeiten könnten, fehlen jedoch. Die Bürger der Nationalstaaten werden angesichts der globalen Probleme von ihren Regierungen darauf hingewiesen, dass die Probleme außerhalb des Machtbereichs der jeweiligen Regierung sind und dass die nationalstaatlichen Lösungen, die meist nur Symptome tieferliegender Ursachen bekämpfen, alternativlos seien. So wurde zum Beispiel die Rettung der systemrelevanten Banken während der von globalen Märkten ausgehenden Finanzkrise von der deutschen Regierung als alternativlos dargestellt. Weltweit sind Versuche einer nationalstaatlichen Isolation zu beobachten, die wohl damit zu erklären ist, dass sich die Bürger der Nationalstaaten danach sehnen, dass die politischen Entscheidungen der nationalstaatlichen Regierungen die Lebenswelt der Bürger aktiv gestalten, statt nur auf globale Probleme und global agierende Mächte schadenslindernd zu reagieren. Dieser Widerspruch zwischen Wunschvorstellung und Realität trägt zur Verunsicherung der Menschen in der flüchtigen Moderne bei und lässt die feste Moderne mit innerstaatlichen Problemen und innerstaatlichen Lösungsansätzen als verlorengegangene, bessere Zeit erscheinen, auch wenn das nicht unbedingt der Fall ist. Ernest Gellner und Benedict Anderson beschreiben den Nationalismus als Spezifikum der Moderne. Aufklärung, Massenmedien und Industrialisierung 8
Vgl. Zygmunt Bauman: Liquid Love. Cambridge 2003, S. 132.
5. Nation, Staat und Pluralismus
sehen beide Modernisierungstheoretiker als Entwicklungen, die den Nationalismus befördert haben. Der Nationalismus als Sinnstiftungs- und Welterklärungsmodell erscheint auch Zygmunt Bauman als spezifisch moderne Erscheinung. Für Bauman ist der Moderne das Streben nach Eindeutigkeit und nach der Beseitigung von Ambivalenz inhärent.9 Menschen eine essentielle Eigenschaft zuzuweisen, die sie eindeutig als Mitglied oder als Außenstehender einer Gesellschaft klassifiziert, ist demzufolge ein wichtiger Bestandteil der Moderne, in der es in allen Lebensbereichen um eine eindeutige Kategorisierung geht, die zum Ziel hat, nach und nach alle Ambivalenzen der Welt aufzulösen. Dieses Ziel ist allerdings unmöglich zu erreichen, denn jede eindeutige Kategorisierung erzeugt neue Ambivalenzen.10 Fortschritt bedeutet in der Moderne die Schaffung von Eindeutigkeit und da völlige Eindeutigkeit nie zu erreichen ist, erscheint die Gegenwart immer als unzureichend und wird ständiger Fortschritt zur Maxime moderner Gesellschaften.11 Im Zuge dieses Fortschritts erscheinen Vermischungen, Mehrdeutigkeiten und das Nichtkategorisierbare als überflüssige Abfallprodukte, mit deren Beseitigung sich der moderne Staat beschäftigt: »Thus the production of waste (and, consequently, concern with waste disposal) is as modern as classification and order-designing. Weeds are the waste of gardening, mean streets the waste of town-planning, dissidence the waste of ideological unity, heresy the waste of orthodoxy, strangerhood the waste of nation-state building. They are waste, as they defy classification and explode the tidiness of the grid. They are the disallowed mixture of categories that must not mix. They earned their death-sentence by resisting separation. […] If modernity is about the production of order then ambivalence is the waste of modernity.«12 Die Genozide der Moderne und insbesondere der Holocaust sind für Bauman nicht etwa Ausbrüche aus dem Geist der Moderne und zeugen nicht von vormoderner Barbarei, sondern sind mit radikaler Konsequenz durchgeführte moderne Fortschrittsbestrebungen. Die Verbrechen Deutschlands unter Hitler und der Sowjetunion unter Stalin beschreibt Bauman als die extremsten
9 10 11 12
Bauman 1991, S. 24. Vgl. ebd., S. 11-13. Ebd., S. 13-14. Ebd., S. 15.
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Fälle moderner Fortschrittsprojekte, die die totale Veränderung der gesamten Gesellschaft zum Ziel hatten, und denen besonders solche Menschen zum Opfer fielen, die entweder eindeutig als gesellschaftlicher Abfall kategorisiert wurden oder durch ihre Ambivalenzen nicht eindeutig kategorisierbar waren. Die Ermordung von Millionen Menschen in den Konzentrationslagern war für die Nazis kein irrationaler Selbstzweck, sondern geschah mit dem Ziel, im Eiltempo künstlich eine Gesellschaft herzustellen, die nach den rationalen und in der Wissenschaft der Zeit verbreiteten Kriterien der Eugenik und der Rassenkunde homogenisiert ist. Der millionenfache Mord war aus der Sicht der Nazis für den angestrebten gesellschaftlichen Fortschritt notwendig und rational begründet. Gleiches kann von den Morden im Zuge der politischen Säuberungen in der Sowjetunion behauptet werden, denen ab 1948 besonders die als »[w]urzellose Kosmopoliten«13 bezeichneten Juden zum Opfer fielen. Auch der Genozid in Ruanda, die ethnischen Säuberungen nach dem Zerfall Jugoslawiens und die Killing Fields von Kambodscha sind Beispiele rational begründeter, auf vermeintlichen gesellschaftlichen Fortschritt abzielender Massenmorde. Bauman fasst es wie folgt zusammen: »[…] modern genocide is not an uncontrolled outburst of passions, and hardly ever a purposeless, totally irrational act. It is, on the contrary, an exercise in rational social engineering, in bringing about, by artificial means, that ambivalence-free homogeneity that messy and opaque social reality failed to produce.«14 Bauman zufolge kann nur die Ambiguität dezidiert pluralistischer Gesellschaften das moderne Streben nach Eindeutigkeit bremsen und Genozide verhindern: »The ambiguity that modern mentality finds difficult to tolerate, and modern institutions set out to annihilate (both of them drawing from this intention their awesome creative energy), reappears as the only force able to contain and defuse modernity’s destructive, genocidal potential.«15 Derartige Massenmorde sind, das muss betont werden, die extremste Form des modernen Strebens nach Eindeutigkeit. Doch für die modernen Natio-
13 14 15
Harriet Murav: Kosmopoliten. In: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Band 3. Stuttgart/Weimar 2012, S. 424-427, hier: S. 426. Ebd., S. 38. Ebd., S. 51-52.
5. Nation, Staat und Pluralismus
nalstaaten ist auch heute noch die eindeutige Kategorisierung ihrer Bürger von zentraler Bedeutung. So wird die Frage, was mit den als Nicht-Mitglied kategorisierten und den nicht-kategorisierbaren Menschen geschehen soll, immer wieder neu diskutiert und auf verschiedene Weise beantwortet. Soll es die Möglichkeit geben, Pässe von zwei Nationalstaaten zu besitzen? Zu welchem Nationalstaat gehören Menschen, die mit Traditionen und Überzeugungen aus mehreren Nationalstaaten aufgewachsen sind? Wie soll der Nationalstaat mit den Flüchtlingen umgehen, die aus einem anderen Nationalstaat gekommen sind und nicht dahin zurückkehren können oder wollen? Sind Menschen noch als Mitglieder des Nationalstaates zu kategorisieren, wenn sie bestimmte Überzeugungen nicht teilen, die die Mehrheit der anderen Mitglieder als wesentlich für die Mitgliedschaft ansieht? In all diesen Fragen bemüht sich der moderne Nationalstaat um die Schaffung von Eindeutigkeit und kann sie doch nie vollständig erreichen, denn in der realen Gesellschaft wird es immer Ambiguität und die Vermischung von mehreren Kategorien geben. Während der Nationalstaat mit eindeutig feindlichen Bürgern anderer Nationalstaaten umzugehen weiß, stiften Menschen ambivalenter Zuordnung Verwirrung. Bauman nennt deshalb ›Freunde‹ und ›Feinde‹ als eindeutige Kategorien des Nationalstaats und ›Fremde‹ (›strangers‹) als ambivalente Position zum Nationalstaat.16 Wie Benedict Anderson gezeigt hat, werden von den einzelnen Mitgliedern der vorgestellten Gemeinschaft der Nation die anderen (unbekannten) Mitglieder als ›Freunde‹ gedacht, von denen Solidarität zu erwarten ist und denen prinzipiell Solidarität entgegengebracht werden soll. Mitglieder anderer Nationen werden als Rivalen und zumindest potenzielle ›Feinde‹ gedacht, denen nicht unbedingt Solidarität entgegenzubringen ist und deren Tötung im Kriegsfall sogar rechtens ist. ›Fremde‹ können beiden Kategorien gleichzeitig angehören und entziehen sich trotzdem einer eindeutigen Zuordnung. Zu ›Fremden‹ können je nach Nationalstaat und der genauen politischen Situation Flüchtlinge und Zugewanderte, ethnische und religiöse Minderheiten und Dissidenten werden. Am Umgang mit den ›Fremden‹ zeigt sich der Umgang eines modernen Nationalstaates mit Ambiguität. Von Fremden, die nicht eindeutig als Mitglieder oder Nicht-Mitglieder der Gruppe eingeordnet werden können, fordert der moderne Nationalstaat die Assimilation. Die Forderung nach kultureller, sprachlicher, religiöser und
16
Ebd., S. 62-63.
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ideologischer Anpassung ist dabei mit dem Versprechen des Vollmitgliedsstatus verbunden. Allerdings ist die Folge einer Assimilation meist nur ein ambivalenter Status zwischen einer unvollständigen Aufgabe der alten Mitgliedschaft und einer unvollständigen Aufnahme in die neue vorgestellte Gemeinschaft. Bauman beschreibt diese Assimilationsfalle anhand der ›assimilierten Juden‹ im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts.17 Jeder Assimilationsversuch ist eine bewusste Entscheidung und wird deshalb von den in die vorgestellte Schicksalsgemeinschaft Hineingeborenen mit Skepsis betrachtet, denn anders als die Hineingeborenen kann der Assimilierende aussuchen, welche Aspekte beider Traditionen er annehmen möchte. Durch diese Skepsis erreicht der Assimilierende jedoch nie die volle Anerkennung als Mitglied der Gemeinschaft, sondern gilt gegenüber den Hineingeborenen höchstens als defizitäres Mitglied.18 Öffentlich vorgetragene Loyalitätsbekundungen erregen gerade deshalb Misstrauen, weil sie offenbaren, dass die Mitgliedschaft eben nicht selbstverständlich ist. Die völlige Verweigerung der Assimilation führt allerdings zur Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft. Der ›Fremde‹ kann deshalb dem Vereindeutigungsdruck der Mehrheitsgesellschaft nicht gerecht werden. Die daraus entstehenden inneren Konflikte sind nicht eine Folge der Hybridität der Person, sondern des gesellschaftlichen Vereindeutigungsdrucks, werden dem ›Fremden‹ aber als Beweis seiner Minderwertigkeit ausgelegt. Bauman spricht deshalb von einer »self-fulfilling prophecy«19 . Als prominentestes Beispiel nennt Bauman Franz Kafka, der seinen ambivalenten Status als ›assimilierter Jude‹ selbst reflektiert hat und zwar einerseits darunter gelitten, aber andererseits daraus Kreativität geschöpft hat.20 Aus dieser ambivalenten Position entsteht Kafkas spezifischer Blick auf die Moderne. Die Sphäre der modernen Kultur ist nach Bauman ein unerlässlicher Gegenspieler der Sphäre des modernen Fortschritts. Beide Sphären stehen in Opposition zueinander und sind doch aufeinander angewiesen.21 Bauman sieht in der Sphäre der Kultur das Potenzial, auf den rationalen, oft erbarmungslosen Fortschritt der Moderne mildernd und korrigierend einzuwirken:
17 18 19 20 21
Ebd., S. 154. Ebd., S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 155, 162-163. Ebd., S. 9.
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»The modern powers’ struggle for artificial order needs culture that explores the limits and the limitations of the power of artifice. The struggle for order informs that exploration and is in turn informed by its findings. In the process, the struggle sheds its initial hubris: the pugnacity born of naivety and ignorance. It learns, instead, to live with its own permanence, inconclusiveness – and prospectlessness. Hopefully, it would learn in the end the difficult skills of modesty and tolerance.«22 Um dieses Potenzial zu erfüllen, darf die Sphäre der Kultur sich nicht an dem modernen Projekt der Eindeutigkeitsschaffung und Ambiguitätsbeseitigung beteiligen, sondern muss im Gegenteil einen Raum der Transkulturalität und Ambiguität schaffen, in dem selbst die unumstrittensten Eindeutigkeiten der Gesellschaft außer Kraft gesetzt sein können. In der Sphäre der Kultur darf Ambiguität nicht als störendes Defizit und als Anzeichen von Rückständigkeit betrachtet werden. Die Ambiguität der Kultur hat das Potenzial, die Aggressivität des modernen Fortschritts zu mildern, nur muss dieses Potenzial auch genutzt werden. Einen nicht geringen Anteil daran kann eine Kulturpolitik haben, die sich als pluralistisch begreift und hybride Identitäten zulässt. Gerade die hybriden Identitäten waren die Voraussetzung für den besonderen Beitrag der ›assimilierten Juden‹ zur Kultur der Moderne, zu der auch die Kritik an den Eindeutigkeiten der Moderne gehört: »Indeed, the assimilatory pressures which – courtesy of the nationalist state and the state-sponsored Kulturträger – descended upon European Jews, did not simply result in torn souls, broken lives, despondency and despair. […] Without any prior intention, by default rather than by design, assimilatory pressures brought forth a social context of a unique and unprecedented creative potential. With an outcome virtually opposite to that which was intended, the pressures generated by the modern project heavily contributed to the birth and flourishing of modern culture – perhaps that project’s most spectacular and precious, though largely unanticipated, side-product.«23 In den liberal-demokratischen Staaten ist in der Spätmoderne die uneinlösbare Assimilationsforderung zwar entschärft, aber nicht verschwunden. Diskurse um Integration, Leitkultur und den Umgang mit dem Islam enthalten oft die Forderung nach Assimilation in bestimmten Lebensbereichen. In
22 23
Ebd., S. 9. Ebd., S. 154.
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diesen Diskursen werden die Grenzen des allgemein-gesellschaftlichen Bekenntnisses zu Pluralismus und Diversität sowie die Möglichkeit eines unveräußerlichen Wertekanons westlicher Gesellschaften verhandelt. Die zentrale Forderung des Nationalismus ist die nach der Kongruenz von National- und Staatsterritorium, die von einer homogenen Bevölkerung bewohnt werden sollen. Diese Forderung hat seit dem 18. Jahrhundert das politische Denken in Deutschland so sehr geprägt, dass sich die meisten Menschen nur noch schwer einen Staat vorstellen können, der nicht als kongruent mit der vorgestellten Gemeinschaft der Nation gedacht wird. Diese Forderung steht allerdings im Konflikt mit der pluralistischen Ausrichtung des heutigen deutschen Staats. Jürgen Habermas stellt fest, dass der »ethische Republikanismus«, der sich auf eine Nation als Grundlage beruft, »für das Element der staatsbürgerlichen Solidarität den Preis einer Begrenzung des egalitären Universalismus in Kauf« nimmt, was bei einer pluralistischen Gesellschaft diese Folgen hat: »Jeder Bürger genießt gleiche Rechte nur in den Grenzen eines partikularen, von allen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft präsumtiv geteilten Ethos. Die Verschmelzung von Staatsbürgerschaft und nationaler Kultur hat eine ›einfarbige‹, für kulturelle Differenzen unempfindliche Interpretation der Bürgerrechte zur Folge. Der politische Vorrang eines ethisch imprägnierten Gemeinwohls vor der effektiven Gewährleistung gleicher ethischer Freiheiten muss innerhalb pluralistischer Gesellschaften zur Diskriminierung abweichender Lebensweisen und auf internationaler Ebene zur Hilflosigkeit gegenüber einem ›Kampf der Kulturen‹ führen.«24 Gleiche Bürgerrechte genießt in einem Nationalstaat nur derjenige, der vom Staat und von den Mitbürgern als Mitglied der Gemeinschaft anerkannt wird. In Nationalstaaten, die die Mitgliedschaft zur Nation über ethnische und/oder kulturelle Merkmale definieren, fällt die Anerkennung ethnisch und/oder kulturell verschiedener Menschen als Mitbürger schwerer als in Nationalstaaten, in denen die Staatsbürgerschaft gleichbedeutend ist mit der nationalen Zugehörigkeit. Kulturpolitik strukturiert und beeinflusst im Handlungsfeld Kultur auch das kulturelle Gedächtnis, beziehungsweise die kulturellen Gedächtnisse, einer Gesellschaft. Im Kontext wissenschaftlicher Kritik am Nationalismus wurde auch das Konzept des kulturellen Gedächtnisses von Aleida und Jan
24
Habermas 2005, S. 281.
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Assmann kritisiert. Die »neue Perspektive auf kollektive Identitätskonstruktionen und nationale Identitätspolitik«25 , die das Konzept des kulturellen Gedächtnisses ermöglichte, wurde dafür kritisiert, dass sie die bestehenden nationalen Identitätskonstruktionen bestätige, anstatt diese zu kritisieren, und sich nicht ausreichend vom Nationalismus distanziere. Der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wurde ein »affirmative[r] Umgang mit dem Begriff der Nation« vorgeworfen, »der u.a. der Weiterentwicklung einer multikulturellen Gesellschaft entgegensteht«26 . Diesen Vorwurf relativiert Aleida Assmann, indem sie darauf hinweist, »dass Nationen ungeachtet unserer theoretischen Präferenzen auch weiterhin existieren« und »das Studium nationaler Gedächtniskonstruktionen weiterhin notwendig« ist, »vor allem verbunden mit der Frage, ob sich Nationen lieber selbstbezüglich, exklusivistisch und konfrontativ imaginieren, oder ob sie dialogisch ausgerichtet sind und sich in einen größeren transnationalen Kontext einfügen«27 . Diese Frage ist auch aus kulturpolitischer Perspektive von entscheidender Bedeutung und wird in kulturpolitischen Debatten zur Leitkultur, zur nationalen Identität, zum Umgang mit dem kolonialen Erbe und zur kulturellen Teilhabe verhandelt. Deutschland gehört als Mitglied der EU in den transnationalen Kontext Europas und ist als liberal-demokratischer Staat pluralistisch ausgerichtet. Beim Begriff des Pluralismus ist zwischen einer deskriptiven und einer normativen Verwendung zu unterscheiden. Deskriptiv gelten Gesellschaften als pluralistisch, wenn in ihnen verschiedene und oft auch widersprüchliche Perspektiven und Wertesysteme nebeneinander existieren, aber keine der Perspektiven und Wertesysteme eine dominierende Stellung einnimmt, die die anderen Perspektiven und Wertesysteme marginalisiert. In der normativen Verwendung des Begriffes wird dieses Nebeneinander der Perspektiven und Wertesysteme als anzustrebender oder zu verteidigender Zustand der Gesellschaft betrachtet und in einen Gegensatz zu totalitären Staaten und Gesellschaften mit extremem Konformitätsdruck gestellt. Deutschland bekennt sich als demokratischer Staat zur normativen Verwendung des Pluralismusbegriffs. Der Soziologe Armin Nassehi beschreibt die moderne Gesellschaft »als ›funktional differenzierte Gesellschaft‹ […], also als eine Gesellschaft, die sich primär in Funktionssysteme mit je eigenen Leitdifferenzen differen25 26 27
A. Assmann 2013, S. 80. Ebd. Ebd.
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ziert […]: Zahlen/Nicht-Zahlen in der Wirtschaft, Regierung/Opposition in der Politik, wahr/unwahr in der Wissenschaft, Recht/Unrecht im Recht usw. […] Die moderne Gesellschaft zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass ihre innere, horizontale Differenzierungsform ein Zentrum ausschließt, von dem her die Einheit der Gesellschaft für alle verbindlich repräsentiert werden könnte.«28 Durch die komplexe Arbeitsteilung sind moderne Gesellschaften demnach immer durch eine Vielstimmigkeit und Multiperspektivität gekennzeichnet, zu der auch Widersprüche zwischen den verschiedenen Perspektiven gehören. Der Pluralismus demokratischer Staaten geht allerdings über diese Multiperspektivität der komplexen Arbeitsteilung hinaus und gewährt jedem Individuum das Recht auf eine eigene Perspektive, die religiös-spirituelle Welterklärungsmodelle, politische Überzeugungen, Lebensstile und Werturteile beinhalten kann, die im Widerspruch zu den Überzeugungen anderer Individuen und sogar der Mehrheitsgesellschaft stehen können, solange sie nicht im Widerspruch zur demokratischen Grundordnung stehen. Diese Perspektiven können öffentlich vertreten werden, ohne dass das jeweilige Individuum dafür mit staatlichen Strafmaßnahmen rechnen muss. Sowohl Jürgen Habermas als auch Chantal Mouffe sehen öffentliche politische Auseinandersetzungen zwischen konträren Perspektiven als essentiellen Bestandteil einer funktionierenden Demokratie.29 Widersprüche zwischen verschiedenen Wertesystemen sollen in Demokratien öffentlich und friedlich ausgehandelt werden, um zu einem Konsens zu kommen. Wird Pluralismus und Multiperspektivität als Bedrohung bezeichnet und bekämpft, um einen Zustand gesellschaftlicher Homogenität und Eindeutigkeit anzustreben, dann sind die wichtigsten Mechanismen der Demokratie gefährdet. Für Christoph Weller sind es »[n]icht Pluralität oder Heterogenität«, die »den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft« gefährden, »sondern der Verzicht auf die Bearbeitung der damit einhergehenden Konflikte«30 . Zur Kulturpolitik in einem 28
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Armin Nassehi: Inklusion, Exklusion, Zusammenhalt. Soziologische Perspektiven auf eine allzu erwartbare Diagnose. In: Michael Reder, Hanna Pfeifer & Mara-Daria Cojocaru (Hg.): Was hält Gesellschaften zusammen? Der gefährdete Umgang mit Pluralität. Stuttgart 2013, S. 31-45, hier: S. 33. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates. Frankfurt a.M. 1992; Chantal Mouffe: The Democratic Paradox. New York 2000. Christoph Weller: Konflikte in der pluralisierten Gesellschaft. Oder: Integration durch Konfliktbearbeitung. In: Michael Reder, Hanna Pfeifer & Mara-Daria Cojocaru (Hg.):
5. Nation, Staat und Pluralismus
demokratischen Staat gehört es unter anderem, einen der möglichen Austragungsorte öffentlicher Auseinandersetzungen zu ermöglichen. Für kulturpolitische Institutionen gilt das, was Christoph Weller für gesellschaftliche Institutionen in einer pluralistischen Gesellschaft insgesamt fordert: »Und wenn die Menge an Differenzen und Heterogenität in modernen Gesellschaften zunimmt, sollten auch die Institutionen für die Bearbeitung der damit einhergehenden Konflikte zunehmen.«31 Andreas Trampota stellt mit Verweis auf Isaiah Berlin fest, dass selbst im Falle einer fortschreitenden Verbreitung der Ideen der Aufklärung nicht damit zu rechnen sei, dass Konflikte um Werte verschwinden, die Menschheit in einen Zustand des aufgeklärten, »vollkommenen Ganzen« übergeht und »die Antwort auf alle unsere Wert-Fragen«32 gefunden wird. Wertekonflikte müssen diesem Verständnis nach als bleibender Bestandteil menschlichen Zusammenlebens begriffen werden, besonders in Gesellschaften mit vielen Millionen Mitgliedern. Moderne, liberale Gesellschaften werden nicht dadurch zusammengehalten, dass endgültige Antworten auf Wertfragen gefunden werden, sondern dass ein bestimmter Umgang mit den Wertekonflikten gepflegt wird, zu dem es gehört, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten. Bedeutende Kunstwerke – insbesondere in der Moderne – zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie als abgeschlossenes System auftreten und trotzdem in sich unauflösbare Widersprüche enthalten können. Michail Bachtins literaturwissenschaftliche Überlegungen zum Roman, den er als ebenso vielstimmigen wie hybriden Text versteht, können Aufschluss darüber geben, warum der Roman in der Moderne eine so wichtige Stellung erhält.33 Die Widersprüche der Teilsysteme der modernen Gesellschaft verlaufen Nassehi zufolge nicht entlang abgrenzbarer Gruppen von Menschen, sondern können aufgrund der mehrfachen Systemzugehörigkeiten der moder-
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Was hält Gesellschaften zusammen? Der gefährdete Umgang mit Pluralität. Stuttgart 2013, S. 48-53, hier: S. 53. Ebd. Andreas Trampota: Das Verhältnis von Werten und Normen im interkulturellen ethischen Diskurs. In: Michael Reder, Hanna Pfeifer & Mara-Daria Cojocaru (Hg.): Was hält Gesellschaften zusammen? Der gefährdete Umgang mit Pluralität. Stuttgart 2013, S. 113-125, hier: S. 120-121. Vgl. Michail Bachtin: The Dialogic Imagination. Übersetzt und hg. von Michael Holquist. Austin 1981, S. 360-361.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
nen Individuen innerhalb der Individuen bestehen.34 So sind beispielsweise die gleichzeitigen Zugehörigkeiten eines Individuums zu einer Religionsgruppe, einer Wissenschaftsdisziplin und einer politischen Partei möglich, die alle drei mit je eigenen Codes und Diskursen von anderen Teilsystemen der Gesellschaft abgekoppelt sind und sich im Widerspruch zu den je anderen beiden Zugehörigkeiten befinden können. Nassehi geht in seinem Beitrag nicht auf die Unterscheidung zwischen Moderne und Spätmoderne ein, aber ausgehend von seinen Überlegungen kann festgestellt werden, dass sich die Perspektiven- und Zugehörigkeitenvielfalt innerhalb der Individuen in der Spätmoderne noch intensiviert. Nassehi stellt fest, dass sich die Moderne durch die komplexe Aufteilung in Teilsysteme »stets als krisenhaft« erlebt.35 In der Postmoderne ist auch diese permanente Krisenerfahrung durch die erhöhte Perspektiven- und Zugehörigkeitenvielfalt innerhalb der Individuen und die unverbindlichere Natur der spätmodernen Zugehörigkeiten intensiviert. Das Individuum der Spätmoderne muss mit Widersprüchen und Ambivalenzen sowohl innerhalb seines eigenen Wertesystems als auch im Umgang mit seinen Mitmenschen umgehen. Die Sphäre der Kultur bietet einen Erfahrungsraum, in dem Widersprüche und Ambivalenzen kommuniziert und verhandelt werden können.
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Nassehi 2013, S. 36-37. Ebd., S. 34.
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
Für die Selbstbeschreibung deutscher Kultur und die Erschaffung von Identität und Alterität sind zwei Gegensatzpaare entscheidend, mit denen jeweils eigene Narrative verbunden sind und die teilweise in einem Konkurrenzverhältnis zu sehen sind. Zum Zweck der innereuropäischen Abgrenzung wird der Begriff der Kultur in Deutschland traditionell dem Begriff der Zivilisation gegenübergestellt und zum Zweck der Abgrenzung zu Nichteuropäischem werden die Begriffe Kultur und Zivilisation dem Unkultivierten und dem Unzivilisierten gegenübergestellt. In Deutschland befasste sich Kulturpolitik über mehrere Jahrhunderte mit der Erschaffung und Erhaltung einer nationalen Identität. Dementsprechend überwog in der Vergangenheit die Betonung des Eigenen durch Abgrenzung vom Fremden in der Kulturpolitik in Deutschland. Das Narrativ, das die Vorstellung von der deutschen Nation prägt, lässt sich am Begriff der Kulturnation erläutern. Lange vor der Entstehung eines deutschen Staates entstand in gebildeten Kreisen die Vorstellung einer auf gemeinsamen kulturellen Merkmalen beruhenden Gemeinschaft aller deutschsprachigen Menschen in den entsprechenden Kleinstaaten. Anders als in Frankreich, England und den Niederlanden konnte sich die Vorstellung einer solchen deutschen Nation nicht auf bestehende politische Grenzen und Strukturen eines einzigen Staates beziehen. Die angestrebte Vereinigung aller Mitglieder der vorgestellten Gemeinschaft in einem Nationalstaat bedurfte einer besonderen Betonung kultureller Gemeinsamkeiten. Die Überbetonung kultureller Merkmale und die mythische Überhöhung der vorgestellten rein germanischen Abstammung als Bestandteile der deutschen nationalen Identität waren Voraussetzungen für die Entstehung des völkischen Nationalismus, die allerdings schon im Zeitalter des Humanismus ihre Anfänge haben, wie Christopher Krebs mit der Geschichte der Rezeption der Germania von Tacitus dargestellt
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hat. Rainer Kipper stellt fest, dass »[d]er Gedanke der Wesenseinheit von zeitgenössischen Deutschen und alten Germanen sowie die Annahme einer Kontinuität der germanisch-deutschen Volksgeschichte über die Jahrtausende hinweg […] zu den wirkungsmächtigsten Elementen des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen«1 gehört. Auch Herder bemüht Tacitus’ Germania, um den von ihm postulierten Volksgeist der Deutschen darzustellen.2 Die von der Rezeption der neuentdeckten Germania beeinflussten Schriften von Ulrich von Hutten und Martin Luther prägten die Vorstellung spezifisch deutscher, beziehungsweise germanischer, Eigenschaften nachhaltig. Sowohl für Hutten als auch für Luther war der Bezug auf Tacitus durch den Wunsch nach einer klaren Abgrenzung von Rom motiviert, von dessen Einfluss sich die deutschsprachigen Humanisten lösen wollten. Damit begann eine Verknüpfung der vorgestellten deutschen Nation mit ethnisch-kulturellen Merkmalen der fortan als direkte Vorfahren gedachten Germanen, wie sie von Tacitus dargestellt wurden. Die Germania kann dabei kaum als detailgetreue Beschreibung germanischer Stämme gelten: »Tacitus has most likely never been to the Rhine. He wrote his work […] with one eye to Roman affairs and but a fleeting glance toward northern realities.«3 Die Germania erzeugte außerdem fälschlicherweise den Eindruck eines ethnisch-kulturell homogenen Germanenreiches, das es in der Realität nie gab. Die Informationen, die wir heute über die verschiedenen Germanenstämme haben, zeichnen ein ganz anderes Bild. So werden diverse Stämme als Germanen bezeichnet, denen man weder eine politische noch eine kulturelle pangermanische Einheit nachweisen kann. Die Bezeichnung Germanen ist heute ein »Sammelbegriff für viele, ursprünglich nach Herkunft, Ethnos und vielleicht sogar Organisation sehr unterschiedliche Völker«4 . Die zahlreichen germanischsprachigen Stämme, die große Gebiete Nordeuropas bewohnt haben, waren viel heterogener als sie in der Germania von Tacitus dargestellt werden. Ironischerweise diente den deutschsprachigen Humanisten ausgerechnet ein wenig glaubwürdiger Text eines Römers als Mittel zur Abgrenzung von Rom. In der Germania lobt Tacitus die ethnische Reinheit der Germanen: »Ich selbst schließe mich der Ansicht an, daß sich die Bevölkerung Germaniens 1 2 3 4
Rainer Kipper: Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung. Göttingen 2002, S. 11. Vgl. Christopher B. Krebs: A most dangerous book. Tacitus’s Germania from the Roman Empire to the Third Reich. New York/London 2011, S. 177-181. Ebd., S. 25. Rudolf Simek: Die Germanen. 2. überarb. Aufl. Stuttgart 2011, S. 17.
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
niemals durch Heiraten mit Fremdstämmen vermischt hat und so ein reiner, nur sich selbst gleicher Menschenschlag von eigener Art geblieben ist.«5 Durch den großen Einfluss der humanistischen Tacitus-Rezeption wurde die Idee der sprachlichen, kulturellen und ethnischen Reinheit ein zentraler Bestandteil der späteren Vorstellungen eines deutschen Volkes.6 Die Vorstellung vom Eigenen war deshalb nicht durch eine bloß graduelle Abgrenzung, sondern durch eine scharfe Trennung vom Fremden gekennzeichnet. Als Idealzustand einer Kultur galt die völlige Abwesenheit des Fremden im Eigenen. Der von Tacitus beschriebene Zustand der Germanen wurde als verlorener Urzustand der Deutschen dargestellt, den es wiederherzustellen galt. Dazu sollte zunächst die Sprache von fremden Einflüssen befreit werden. Justus Georg Schottelius – ab 1642 Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft – forderte 1641 in seiner Schrift Teutsche Sprachkunst 7 , dass die Deutschen, die »durch Göttliche Vorsehung das letzte Weltreich/und damit den höchsten Ehrenstand und das Haupt der Christenheit auf sich gebracht haben«8 , den Tacitus zur Kenntnis nehmen, der »die Sitten unserer Vorfahren zwar kürzlich/doch aufs fleissigste beschrieben«9 hat. Er fordert die Verwendung deutscher Komposita statt lateinischer und griechischer Fremdwörter und eine Bildung, in der die deutsche Sprache wichtiger ist als Latein und Griechisch.10 Indem die deutsche Sprache von den fremden Einflüssen befreit wird, soll sie erneut in den verlorenen Rang einer Hauptsprache gebracht werden, die von Gott nach dem Turmbau zu Babel geschaffen worden sei und aus der sich andere Sprachen entwickelt hätten. Die von Tacitus beschriebene Reinheit und Abwesenheit fremder Einflüsse bei den Germanen dient Schottelius dazu, einen verlorenen Urzustand der deutschen Sprache zu konstruieren, den es wiederherzustellen gelte. Parallel zu dieser Argumentation – allerdings ohne einen Bezug zu den Germanen des Tacitus – wird auch heute in kulturpolitischen Debatten gefordert, die deutsche Sprache vor fremden Einflüssen
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P. Cornelius Tacitus: Germania. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2016, S. 9. Krebs 2011, S. 113. Justus Georg Schottelius: Teutsche Sprachkunst/Darinn die Allerwortreichste/Prächtigste/reinlichste/vollkommene/Uhralte Hauptsprache der Teutschen auß ihren Gründen erhoben/dero Eigenschafften und Kunststücke völliglich entdeckt/und also in eine richtige Form der Kunst zum ersten mahle gebracht worden. Braunschweig 1641. Ebd., S. II. Ebd., S. III. Ebd., S. 18.
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zu schützen, da diese die Sprache schwächen würden. Selbst im Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ von 2007 wird diese Befürchtung geäußert: »Eine Ersetzung und Verdrängung von Teilen des deutschen Wortschatzes durch Anglizismen, Kunstwörter und Slang hinterlassen jedoch verstärkt Spuren in der deutschen Sprache, die zu der Befürchtung Anlass geben, dies führe zu einer Schwächung des Kulturgutes deutsche Sprache.«11 Aus linguistischer Sicht ist die gegenseitige Beeinflussung von Sprachen eine natürliche und unvermeidliche Entwicklung. Auch auf die Entstehung der deutschen Standardsprache hatten diverse Dialekte und andere Sprachen Einfluss. Schon zu Reformationszeiten beginnt die später noch deutlicher hervortretende Gegenüberstellung des primär politisch orientierten Zivilisationsbegriffes auf der Seite Frankreichs und Englands und des primär sprachlich, ethnisch und kulturell orientierten Kulturbegriffes auf deutscher Seite. Der Streit um die Definition deutscher Nationalität als primär politisch oder primär kulturell begleitet seitdem alle entstandenen deutschen Staaten. Schon in der Frankfurter Nationalversammlung 1848 hat Wilhelm Jordan sich gegen kulturnationalistische Ideen ausgesprochen: »Jeder ist ein Deutscher, der auf deutschem Gebiet wohnt. […] die Nationalität ist nicht mehr begrenzt durch die Abstammung und die Sprache, sondern ganz einfach bestimmt durch den politischen Organismus, durch den Staat.«12 Für solche Ideen von zivilen Ausformungen der deutschen nationalen Identität war nach dem Scheitern der Revolution und im 1871 gegründeten Deutschen Reich zunächst kein Platz mehr. Mit dem Ziel, den neu gegründeten Staat zu stabilisieren, wurde »die symbolpolitische Verankerung eines übergreifenden Nationalbewusstseins in den Mentalitäten (durch Denkmalsetzungen, nationale Feiertage, Ikonisierung von Integrationsfiguren wie Wilhelm I., Bismarck oder Moltke)«13 angestrebt. Die in diesem Kontext entstandenen Denkmäler und Straßennamen prägen bis heute die zentralen Orte der meisten deutschen Städte. Es wurde außerdem mit den Mitteln der Kulturpolitik versucht, »dem Kaiserreich eine konsensfähige historische Tradition zu verleihen, eine Nationalgeschichte zu konstruieren, in der sich möglichst alle wiederfinden konnten«14 . Die auf 11 12
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Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, S. 409. Franz Wiegard: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a.M.. Frankfurt a.M. 1848/1849, S. 737. Kipper 2002, S. 14. Ebd., S. 15.
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
diese Weise konstruierte, primär ethnisch geprägte nationale Identität sollte sich von den gebildeten Schichten auch auf alle anderen Bevölkerungsgruppen übertragen. Unter dieser Voraussetzung war es das erklärte Ziel staatlicher Kulturpolitik, eine ethnische nationale Identität zu erhalten, genau zu definieren und je nach politischen Bestrebungen umzuformen. Bei Friedrich Ludwig Jahn, auch Turnvater Jahn genannt, wird die Homogenitätsfantasie vom reinen Germanentum, das von fremden Einflüssen befreit ist, fortgesetzt und mit antisemitischen und antifranzösischen Überzeugungen verknüpft.15 Kulturelle Vermischungen gelten bei Jahn als degeneriert. Die von Jahn initiierte deutsche Turnbewegung war untrennbar mit diesen Überzeugungen der rassischen Reinheit verbunden und trug zur Popularisierung dieser Überzeugungen bei. Christopher Krebs zeigt außerdem anhand des sogenannten Bayreuther Kreises um Cosima Wagner, zu dem auch der englisch-deutsche Schriftsteller Houston Stewart Chamberlain gehörte, wie Germanenkult und Antisemitismus verknüpft wurden und auch über künstlerische Werke und theoretische Schriften Verbreitung fanden. Im Nationalsozialismus wurde der Germanenkult insbesondere von Heinrich Himmler fortgesetzt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere ab den 60er-Jahren verliert diese Ausformung der nationalen Identität an Bedeutung und die Zugehörigkeit zur Schicksals- und Abstammungsgemeinschaft des deutschen Volkes erhält wieder Konkurrenz durch die mögliche Zugehörigkeit zu einer liberaldemokratisch ausgerichteten Willensgemeinschaft deutscher Staatsbürger. Die Besonderheiten des deutschen Kulturbegriffes und gängiger Überzeugungen in der deutschen Kulturpolitik werden deutlich, wenn man beleuchtet, wovon der deutsche Kulturbegriff seit seiner Entstehung abgegrenzt wurde. Zum Selbstverständnis einer Gruppe von Menschen als Kultur ist die Abgrenzung von einer anderen Gruppe notwendig. Die Postulierung der Identität einer Gruppe funktioniert nur durch die Postulierung der Alterität einer anderen Gruppe. Für die Entstehung eines Selbstverständnisses als deutsche Kultur war bereits im Zeitalter der Reformation die Abgrenzung von Rom elementar. Wie Christopher Krebs gezeigt hat, diente die Rezeption von Tacitus’ Germania als Ausgangspunkt unter anderem für Ulrich von Hutten und Martin Luther, um einen Unterschied zwischen germanischstämmigen Deutschen und römisch geprägten Menschen zu betonen. Mit dieser kulturellen Abgrenzung ging schon im Zeitalter der Reformation, besonders bei Ulrich von Hutten, 15
Krebs 2011, S. 195.
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die Behauptung einer germanischen Überlegenheit einher. Spätere Vertreter einer germanischen Überlegenheitsfantasie konnten auf eine lange Tradition dieser Behauptung zurückblicken. Dass es keinen einzelnen, homogenen germanischen Stamm gab, sondern viele Stämme, die sich stark unterschieden und sich nicht selten im Krieg miteinander befanden, wird dabei ebenso ausgeblendet wie die kulturellen Vermischungen und Beeinflussungen, die die deutschsprachigen Regionen über die Jahrhunderte geprägt haben und eine simple, ethnisch-kulturelle Kontinuität vom Germanentum zum Deutschtum unmöglich erscheinen lassen. Die Gegenüberstellung der Begriffe ›Zivilisation‹ und ›Kultur‹, welche die Diskurse im Kontext des Kulturbegriffes bis heute prägt, kann exemplarisch an einflussreichen Texten aus der deutschen Ideengeschichte dargestellt werden. Es sei angemerkt, dass die Trennung der Begriffe heutzutage zwar nicht mehr so scharf wie in den Beispieltexten gezogen wird, aber trotzdem noch immer den Kulturbegriff im Sprachgebrauch und nicht zuletzt in der Kulturpolitik prägt. Als Beispiele für die Gegenüberstellung der Begriffe dienen hier Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes und Norbert Elias’ Über den Prozess der Zivilisation. Thomas Mann richtet sich in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen, die erstmals 1918 erschienen sind, gegen ›Zivilisationsliteraten‹, zu denen offensichtlich auch sein nicht namentlich genannter Bruder Heinrich zählt und die sich während des Ersten Weltkrieges auf die Seite der für die Ausbreitung der Zivilisation kämpfenden Entente geschlagen haben. Thomas Mann wünscht im Namen der Kultur der deutschen Seite den Sieg und bemüht dafür die Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur: »Geist ist nicht Politik: man braucht, als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses ›nicht‹ einzustehen. Der Unterschied von Geist und Politik enthält den von Kultur und Zivilisation, von Seele und Gesellschaft, von Freiheit und Stimmrecht, von Kunst und Literatur; und Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur.«16 Zwar distanzierte sich Thomas Mann später von diesem Text aus dem Jahr 1918, aber er kann dennoch als symptomatisch für das Denken der Zeit gelten, 16
Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt a.M. 2009 [1918], S. 35. (Als Gegenbegriff zur Literatur nennt Thomas Mann die Musik und insbesondere das Werk Richard Wagners.)
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
in der sich parallel zur konzeptuellen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation reale Armeen gegenüberstanden. Die Autoren des kritisch-polemischen Textes Der Kulturinfarkt konstatieren, dass die in Manns Text zum Ausdruck kommende »Politikferne, […] Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung«17 noch heute in der deutschen Kulturpolitik zu beobachten ist. Eine noch extremere Position als Thomas Mann vertritt Oswald Spengler fünf Jahre später in Der Untergang des Abendlandes, wo er den Kulturbegriff neben antidemokratischen und nationalistischen auch mit antisemitischen und sozialdarwinistischen Gedanken verknüpft. Den Untergang der abendländischen Kultur betrachtet er als durch die Ausbreitung der aufklärerischen Ideale im Zuge der französischen Revolution und der darauffolgenden Ereignisse eingeleitet. Diese Ausbreitung der Aufklärung bedeutet für Spengler den Eintritt der abendländischen Kultur in die Zivilisation, die in seiner Geschichtsphilosophie der Tod jeder Kultur und der Übergang in die Geschichtslosigkeit ist, welche Spengler mit der Tierwelt vergleicht. Der »historische Mensch« ist Spengler zufolge »der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur« und Spengler behauptet, »daß der Mensch nicht nur vor dem Entstehen einer Kultur geschichtslos ist, sondern wieder geschichtslos wird, sobald eine Zivilisation sich zu ihrer vollen und endgültigen Gestalt herausgebildet und damit die lebendige Entwicklung der Kultur beendet, die letzten Möglichkeiten eines sinnvollen Daseins erschöpft hat«18 . Dieser als unausweichlich dargestellte Kulturzerfall münde nach einer Zeit des Friedens in eine in Anlehnung an Julius Cäsar ›Kaiserzeit‹ genannte Zeit großer Kriege und extremer Gewalt: »Die Mächte des Blutes, die urwüchsigen Triebe alles Lebens, die ungebrochne körperliche Kraft treten ihre alte Herrschaft wieder an. Die Rasse bricht rein und unwiderstehlich hervor: der Erfolg des Stärksten und der Rest als Beute. Sie ergreift das Weltregiment, und das Reich der Bücher und Probleme erstarrt oder versinkt in Vergessenheit.«19 17
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Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz: Der Kulturinfarkt. Von allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubventionen. München 2012, S. 94. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 2. Welthistorische Perspektiven. München 1923, S. 58. Ebd., S. 542.
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Spengler hoffte, dass Deutschland in dem von ihm antizipierten nächsten Weltkrieg als Sieger hervorgehen und der abendländischen Kultur zu einer letzten Blüte in Form des »Imperium Germanicum«20 verhelfen würde. Spengler bestreitet außerdem, dass Kulturen sich in irgendeiner Weise gegenseitig beeinflussen können. Auch wenn Kulturen scheinbar Ideen aus anderen Kulturen übertrügen, so sei dies immer eine Erschaffung einer neuen Bedeutung aus einer einzelnen Kultur heraus, die lediglich die äußeren Formen aus anderen Kulturen übernehme und das annehme, was sie sonst aus sich selbst heraus geschaffen hätte. So seien Chinesen und Inder zu einer bestimmten Zeit zwar Buddhisten gewesen, aber innerlich trotzdem noch essentiell verschieden: »Es sind dieselben Worte, dieselben Bräuche, dieselben Zeichen – aber zwei verschiedene Seelen, die ihre eignen Wege gehen.«21 Transkulturalität ist diesem Kulturkonzept nach ausgeschlossen und die strikte Trennung der als isoliert voneinander gedachten Kulturen ist bei Spengler noch konsequenter als in den Texten Herders. Der Soziologe Norbert Elias beschreibt die Gegenüberstellung der Begriffe Zivilisation und Kultur 1939 in Über den Prozess der Zivilisation aus einer objektiveren Position: »Aber ›Zivilisation‹ bedeutet verschiedenen Nationen des Abendlandes nicht das gleiche. Vor allem zwischen dem englischen und französischen Gebrauch dieses Wortes auf der einen, dem deutschen Gebrauch auf der anderen Seite besteht ein großer Unterschied. Dort faßt der Begriff den Stolz auf die Bedeutung der eigenen Nation auf den Fortschritt des Abendlandes und der Menschheit in einem Ausdruck zusammen. Hier, im deutschen Sprachgebrauch, bedeutet ›Zivilisation‹ wohl etwas ganz Nützliches, aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfasst. Und das Wort, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ›Kultur‹.«22
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Oswald Spengler: Briefe 1913-36. Hg. von Manfred Schröter und Anton M. Koktanek. München 1963, S. 44. Spengler 1923, S. 65. Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1. Bern 1969 [1939], S. 1-2.
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
Wegen seiner deutsch-jüdischen Herkunft ist Elias 1933 zunächst nach Frankreich und 1935 nach Großbritannien emigriert und konnte mit Kenntnis beider Seiten die Gegenüberstellung der Begriffe feststellen. Diese vier Texte aus der deutschen Ideengeschichte zeigen exemplarisch die Besonderheit des deutschen Kulturbegriffes, die zwar nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der deutschen Ausrichtung auf die westlichen Demokratien zunehmend an Schärfe verloren hat, doch im alltäglichen Sprachgebrauch immer noch genutzt wird. Darüber hinaus ist die Besonderheit eines Verständnisses von einer spezifisch in Deutschland verankerten Kultur durchaus nach wie vor wirkmächtig in konzeptionellen Begründungszusammenhängen deutscher Kulturpolitik. Es wird an diesen Texten deutlich, dass die beiden Weltkriege keine Zäsuren der eigentlichen Kultur- und Bildungsnation waren,23 sondern sich in den Kriegen unter anderem die Gegenüberstellung der Begriffe Zivilisation und Kultur fortsetzte. Die Zivilisation gilt in dieser Denkweise als defizitär gegenüber der Kultur. Auch in den gegenwärtigen Debatten zur Leitkultur setzt sich die Gegenüberstellung der Begriffe in veränderter Form fort. Der Verfassungspatriotismus kann parallel zum Zivilisationsbegriff gesehen werden und wird von Unterstützern des Leitkulturbegriffs als defizitär und oberflächlich dargestellt. Glücklicherweise ist diese Debatte anders als zu Beginn des 20. Jahrhunderts im politischen Mainstream nicht mehr von Antisemitismus, Rassismus und Kriegsverherrlichung geprägt, aber die Gegenüberstellung der primär politischen, von der Aufklärung geprägten Zivilisation und der metaphysisch aufgeladenen Suche nach der unpolitischen Leitkultur ist auch heute nicht aufgehoben und wird sowohl in gesellschaftspolitischen als auch in kulturpolitischen Debatten verhandelt. Die Skepsis gegenüber dem Konzept des Verfassungspatriotismus und das Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation zeigen, dass auch nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und selbst nach den gesellschaftlichen Umwälzungen der 60er und 70er Jahre die Grenzziehung zwischen deutscher Kultur und der Zivilisation der älteren liberal-demokratischen Staaten in gesellschaftspolitischen und kulturpolitischen Diskursen in Deutschland noch relevant ist. Aus heutiger kulturwissenschaftlicher Perspektive hat »die Frage nach essentiellen kollektiven Gemeinsamkeiten einer Nation oder Ethnie […] ihre Le23
Als Zäsur der Kulturnation deutet die Weltkriege zum Beispiel Julian NidaRümelin: Das hat Humboldt nie gewollt. In: Zeit Online vom 3.3.2005. URL: www.zeit.de/2005/10/Kulturnation (Datum des Zugriffs: 6.12.2017).
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gitimation verloren«24 , da die in den Vordergrund gerückte transkulturelle Vernetzung jeder Nation und Ethnie essentialistische Narrative in der Kulturwissenschaft unmöglich gemacht hat. Andreas Ackermann stellt fest, dass »[d]ie Bedingungen der Globalisierung […] den (national-)staatlichen Umgang mit Differenz zugleich unausweichlich und komplizierter gemacht« haben und »[k]ulturelle Differenzen, die bislang vor allem zwischen Staaten bzw. Kulturen wahrgenommen wurden, […] nun auch verstärkt innerhalb eines Staates bzw. einer Kultur augenfällig«25 werden. Dass keine neuen Kollektivnarrative die Narrative ethnisch-kultureller Homogenität ersetzen, trägt allerdings zu der spezifisch spätmodernen Beliebigkeitserfahrung bei, die mit dem Bedeutungsverlust des Narrativs eines Klassenkampfes nochmals intensiviert wurde. Stark ausgeprägte kollektive Identitäten, die in früheren Zeiten Orientierung für das Individuum in der Gesellschaft boten, verlieren an Bedeutung und machen Platz für individuelle Identitäten, die nur schwer bestimmten Gruppen zuzuordnen sind. Gleichzeitig ist in allen westlichen Ländern das Erstarken von politischen Parteien und Gruppierungen zu beobachten, die eine Rückkehr zu den essentialistischen kollektiven Identitäten versprechen. Heute ist die Frage nach der konzeptionellen Begründung für Kulturpolitik deshalb auch eine Frage danach, wie mit der Beliebigkeits- und Desillusionierungserfahrung der Spätmoderne umgegangen werden soll. Andreas Reckwitz beschreibt diesen Gegensatz zwischen individuell ausgeprägten und kollektiven, verbindlicheren Identitäten mit den Begriffen Hyperkultur und Kulturessenzialismus und sieht darin zwei Seiten eines global stattfindenden Kampfes um den Kulturbegriff. Hyperkultur beschreibt Reckwitz als »eine kosmopolitische und zugleich marktförmige und individualistische Modellierung von Kultur« und Kulturessenzialismus als »eine Modellierung von Kultur als historische Gemeinschaften«26 . Reckwitz merkt an, dass beide Seiten nicht von vornherein zu verteufeln oder zu feiern sind, sondern in ihren Anliegen ernstgenommen werden müssen. Auch die traditionelle politische Einordnung in links und rechts greift bei der Konfliktlinie zwischen Hyperkultur und Kulturessenzialismus nicht mehr, denn beide Kulturmodellierungen lassen sich in konträren politischen Lagern finden. Reckwitz ver24 25
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Federico Celestini & Helga Mitterbauer: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kultureller Transfers. Tübingen 2003, S. 11-17, hier: S. 11. Andreas Ackermann: Das Eigene und das Fremde: Hybridität, Vielfalt und Kulturtransfers. In: Friedrich Jaeger & Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3. Themen und Tendenzen. Stuttgart/Weimar 2011, S. 139-154, hier: S. 140. Reckwitz 2017a, Hyperkultur versus Kulturessenzialismus, S. 2.
6. Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff
weist bei dem Konflikt stattdessen auf die Kategorien des Singulären und des Allgemeinen.27 Die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektiv tritt in der Spätmoderne nicht zum ersten Mal auf, sondern unter neuen Bedingungen globaler Verstrickungen und Bedrohungen und im Kontext neuer technischer Entwicklungen.
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Reckwitz 2017.
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7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
In den zahlreichen Institutionen und individuellen Akteuren der Kulturpolitik in Deutschland sind eine Vielzahl verschiedener und sich oft gegenseitig widersprechender Positionen zur konzeptionellen Grundlage von Kulturpolitik zu finden. Trotzdem sind in den Positionen einiger wichtiger Institutionen allgemeine Tendenzen kulturpolitischer Überzeugungen erkennbar. In dieser Arbeit sollen insbesondere die Positionen der Kulturpolitischen Gesellschaft und des Deutschen Kulturrates als Gradmesser für kulturpolitische Tendenzen genutzt werden. Beide Vereinigungen veröffentlichen Zeitschriften, in denen kulturpolitische Debatten geführt werden. Die Zeitschrift Kulturpolitische Mitteilungen, die von der Kulturpolitischen Gesellschaft herausgegeben wird, versammelt Artikel, die von kulturpolitischen Akteuren in Deutschland verfasst wurden und die sich in erster Linie an andere kulturpolitische Akteure in Deutschland richten. Die Kulturpolitische Gesellschaft wurde 1976 gegründet und »wirkt in der Tradition der Neuen Kulturpolitik, die ›der Entfaltung und Entwicklung der sozialen, kommunikativen und ästhetischen Möglichkeiten und Bedürfnisse aller Bürgerinnen und Bürger dient und die aktive Beteiligung aller Schichten der Bevölkerung am kulturellen Leben gewährleistet‹ (Grundsatzerklärung 1976)«1 . Wichtiger Bestandteil der Neuen Kulturpolitik ist das postulierte »Bürgerrecht Kultur«2 , demzufolge möglichst vielen Bürgern die Teilnahme an den öffentlich geförderten Kulturangeboten ermöglicht werden soll. Dieses Bürgerrecht Kultur schließt an Hilmar Hoffmanns 1976 formulierte Forderung nach »Kultur für
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Kulturpolitische Gesellschaft: Grundsatzprogramm der Kulturpolitischen Gesellschaft. Berlin 2012, S. 1. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
alle«3 und Hermann Glasers 1983 veröffentlichtes Buch Bürgerrecht Kultur 4 an. Den größten Teil der Zeitschrift nehmen meist Artikel über bestimmte kulturpolitische Projekte, kulturpolitische Ereignisse wie Tagungen und Festivals und Debatten über kulturpolitische Richtlinien, Vorgaben und Entscheidungen ein. Die Zeitschrift kann deshalb als Indikator für kulturpolitische Diskurse dienen. Die Zeitung Politik und Kultur wird vom Deutschen Kulturrat, dem Spitzenverband der Bundeskulturverbände, herausgegeben und soll hier ebenfalls Anhaltspunkte zu den aktuellen kulturpolitischen Debatten geben. Natürlich ist eine Vielzahl verschiedener und teilweise gegenläufiger Positionen in den Artikeln verschiedener Autoren zu finden und die Positionen hängen stark von den jeweiligen Institutionen ab, bei denen die Autoren beschäftigt sind. Trotzdem können die Artikel zeigen, welche Positionen und Konzepte häufig auftreten, um welche Fragen und Gegensätze sich Debatten entwickeln und welche Grundannahmen unbestritten sind. In vielen Artikeln werden kulturelle Grenzen verhandelt. In den letzten Jahren wird auch in der Kulturpolitik zunehmend über Integration, Identität und andere Begriffe im Kontext kultureller Grenzziehungen diskutiert. Dabei fällt auf, dass der operative Kulturbegriff oft mit einer Unschärfe verwendet wird, die präzise Aussagen erschweren. Das gilt insbesondere für Begriffe im Kontext kultureller Grenzziehungen. Ein weiterer wichtiger Text, in dem aktuelle Diskurse und Konzepte deutscher Kulturpolitik zu finden sind, ist der Schlussbericht der EnqueteKommission ›Kultur in Deutschland‹ von 2007. Obwohl die Erarbeitung dieses Berichts inzwischen einige Jahre zurückliegt, können die meisten der Positionen weiterhin als kulturpolitischer Konsens der etablierten Parteien, mit Ausnahme der AFD, gelten. Seit der Erstellung des Berichts sind keine in Umfang und Arbeitsaufwand vergleichbaren offiziellen Dokumente entstanden, die sich mit der konzeptionellen Begründung und Zielsetzung der Kulturpolitik in Deutschland beschäftigen. Häufig werden kulturpolitische Aktivitäten, die auf eine bestimmte Stadt begrenzt sind, mit einem Verweis auf die Stadtentwicklung und den Standortfaktor kultureller Angebote legitimiert.5 Dabei werden kulturelle Angebote einer Stadt generell als wirtschaftsförderlich für die Stadt dargestellt. So
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Hilmar Hoffmann: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt a.M. 1979. Hermann Glaser: Bürgerrecht Kultur. Berlin 1983. Z.B.: Christina Stausberg: Der Kulturpolitik Gewicht verleihen. Der Kulturausschuss des Deutschen Städtetages. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 157 (2017), S. 10-11.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
ist beispielsweise im Positionspapier »Standortfaktor Kultur« des Deutschen Städtetages zu lesen, dass eine fehlende kulturelle Infrastruktur eine »Region nicht nur für die dort lebenden Einwohner und Einwohnerinnen, sondern auch für Gäste und die Unternehmensentwicklung der ortsansässigen Wirtschaft und Ansiedlungswillige unattraktiv«6 macht. Die sogenannte Kulturund Kreativwirtschaft, die die Bereiche »Design, Architektur, Film, Verlagswesen, Software« und »private Kultureinrichtungen wie Musicals, Theaterhäuser, Museen und dergleichen mehr« umfasst, soll dazu beitragen, »kreative Potentiale in allen Wirtschaftssektoren«7 zu entfalten und soll dafür »Synergieeffekte zwischen privatwirtschaftlichen Investitionen und öffentlicher Kulturförderung nutzen«8 . Das kulturelle Angebot der Stadt soll »gut ausgebildete Arbeitskräfte« und »Wirtschaftsunternehmen« anlocken, aber nicht »das Kernanliegen von Kunst und Kultur – Ort der Auseinandersetzung und Orientierung zu sein – aus den Augen […] verlieren«9 . Eine solche ökonomisierte Legitimation kulturpolitischer Aktivitäten wird besonders dann von kulturpolitischen Akteuren vorgetragen, wenn zu befürchten ist, dass Sparmaßnahmen der Länder und Kommunen bestimmte Kultureinrichtungen vor finanzielle Probleme stellen. Kultur wird als Standortfaktor beschrieben, um kulturpolitische Förderungen als wirtschaftspolitische Investitionen darzustellen, die sich langfristig für die ökonomische Entwicklung lohnen würden. Eine Ausrichtung der Kulturbetriebe am Markt und ein Verzicht auf Teile der staatlichen Förderung ist jedoch mit derartigen ökonomisierten Legitimationsansätzen nicht gemeint. Stattdessen wird argumentiert, dass sich die Förderung von Kultureinrichtungen, die ohne staatliche Förderung nicht oder nur in anderer Form bestehen könnten, langfristig als Investition in marktorientierte Wirtschaftssektoren erweist. So sollen zum Beispiel prestigeträchtige, staatlich geförderte Theater oder Museen profitorientierte Firmen anlocken. Allerdings ist eine Kulturpolitik, die versucht, sich ökonomisch zu legitimieren, gefährdet, »sich selbst abzuschaffen«, denn »[d]ie ökonomischen Argumente tragen nicht, sondern sie stellen Kultur in eine Konkurrenz, deren Kriterien sie nicht erfüllen kann«10 . Kultur erscheint aus dieser Perspektive als politisches Mittel im wirtschaftlichen Wettkampf der verschiedenen Städte. 6 7 8 9 10
Standortfaktor Kultur. Positionspapier des Deutschen Städtetages (Beschlossen vom Hauptausschuss in seiner 208. Sitzung am 7. November 2013 in Berlin), S. 2. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd., S. 5. Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz 2012, S. 170.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Kulturpolitik leiht sich so Argumentationsmuster aus der Wirtschaftspolitik und ordnet sich auf diese Weise wirtschaftlichen Überlegungen unter. Für viele kulturpolitische Akteure und Institutionen ist das Konzept der teilhabeorientierten Kulturvermittlung eine konzeptionelle Grundlage ihres Handelns.11 Vermittlung bedeutet dabei, dass für bestimmte kulturelle Inhalte mithilfe professioneller Vermittler neue Rezipienten und Produzenten gewonnen und diese in ihren Rezeptions- und Produktionsprozessen unterstützt werden. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ ist festgehalten, dass kulturelle Teilhabe möglichst vieler Bürger ein parteiübergreifendes Ziel der Kulturpolitik in Deutschland ist: »Die Teilhabe aller an der Kultur muss gewährleistet sein, denn sie bedeutet auch Teilhabe an der Gesellschaft. Eine starke Breitenkultur, an der sich jeder aktiv beteiligen kann, ist insofern eine Voraussetzung für ein flächendeckendes Angebot von Kultur für alle und von allen.«12 Für die spezifische Ausrichtung der Kulturvermittlung sind verschiedene Schwerpunkte möglich, die jedoch gemeinsam haben, dass der Kulturpolitik eine gesellschaftsverbessernde Funktion zugeschrieben wird. Ein oft genanntes Ziel von Kulturvermittlung ist die Teilhabe möglichst vieler Menschen an der öffentlich geförderten Kultur. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung kritisiert, dass das Publikum, die Inhalte und die Künstler öffentlich geförderter Kultur hauptsächlich aus dem Bildungsbürgertum und selten aus anderen sozialen Milieus kommen. Deshalb wird versucht, als benachteiligt kategorisierte Gruppen von Menschen als Rezipienten und Mitwirkende öffentlich geförderter Kultur zu gewinnen. Dabei kann es das Ziel der Vermittlung sein, diese neuen Rezipienten und Mitwirkenden mit professioneller Hilfe in Bereiche der etablierten Hochkultur einzuführen, indem zum Beispiel die Entstehung oder die Wirkung bestimmter Kunstwerke mit professioneller Anleitung nachvollzogen wird. Auch von Kulturereignissen an unkonventionellen Orten erhoffen sich teilhabeorientierte Kulturvermittler die Erschließung neuer Zielgruppen. Ziel teilhabeorientierter Kulturvermittlung kann es aber auch sein, Laienkunst zu initiieren und zu unterstützen, die sich nicht an Kriterien der etablierten Hochkultur messen lassen muss.
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Z.B.: Alexander Koch: Ein Waschhaus als Mittelpunkt der Welt. Neuer Auftraggeber stellt Teilhabe vom Kopf auf die Füße. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 163 (2018), S. 100-101. Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, S. 8.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
Teilhabeorientierte Kulturvermittlung kann sich auch auf die möglichst große Verbreitung von als Hochkultur eingestuften Kunstwerken konzentrieren und von der Idee ausgehen, dass die Rezeption dieser Kunstwerke in den Mitgliedern der Gesellschaft ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit erzeugt, das ihnen sonst nicht zugänglich wäre. Auf diese Weise soll Kulturvermittlung »Gräben überwinden und neue Gemeinschaften bilden statt kulturelle Distinktion zu zementieren«13 . Zum Diskurs um Kulturvermittlung gehört die ständige Neuverhandlung kultureller Grenzen und des Verhältnisses öffentlich geförderter Kultur zu den jeweiligen Grenzen. So werden unter anderem die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur, zwischen Bildungsbürgertum und anderen sozialen Milieus, zwischen Stadtund Landbevölkerung und zwischen Einheimischen und Zugewanderten verhandelt. Für Birgit Mandel gehört zu den Aufgaben der Kulturvermittlung, »mittels Kunst und Kultur gemeinsame gesellschaftliche Identität und Gemeinschaft zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen herzustellen und kulturelle Bildungsprozesse aller Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen«14 . Neue Konzepte der Kulturvermittlung sollen Mandel zufolge außerdem auch »bestehende Strukturen des klassischen Kulturbetriebs […] erweitern und […] verändern und in Auseinandersetzung mit neuen Nutzern öffentlich finanzierte Kulturorte und -angebote neu zugänglich und zu anschlussfähigen ›interkulturellen‹ Begegnungsorten […] machen«15 . So werden zum Beispiel öffentliche Bibliotheken zunehmend als Orte der Begegnung betrachtet.16 Auch Argumente aus der Außenpolitik dienen oft als Legitimationshilfe für Kulturpolitik. Kulturausgaben sollen dann vordergründig das Image des deutschen Staates im Ausland aufbessern und diplomatische Beziehungen erleichtern. Ausgewählte Künstler gelten in diesem Kontext als Repräsentanten des deutschen Staates und deutscher Kultur, die sich in einen interkulturellen Dialog mit Menschen aus den jeweiligen anderen Staaten begeben. Neben 13
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Birgit Mandel: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 9-15, hier: S. 10. Ebd. Ebd. Harald Pilzer: Öffentliche Bibliotheken und »Dritte Orte«. Eine neue kulturpolitische Strategie? In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 161 (2018), S. 49-53; Anne Barckow: Bibliotheken als Orte interkultureller Begegnung. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 161 (2018), S. 94-95.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
den Botschaften und Konsulaten sind insbesondere die Goethe-Institute damit beschäftigt, derartige interkulturelle Begegnungen zwischen Künstlern und Rezipienten verschiedener Länder herzustellen. Insbesondere die Kulturpolitik der EU wird oft mit dem Verweis auf interkulturelle Dialoge begründet.17 Friedrich Schillers Überlegungen zur ästhetischen Erziehung des Menschen können als früher Legitimationsansatz von Kulturpolitik gelesen werden, der noch heute genutzt wird. Sie sind ein Beispiel für die Überhöhung der Kunst als unmittelbar gesellschaftsverändernde Kraft. Die Kunst soll den Menschen erziehen, um eine den humanistischen Idealen entsprechende Gesellschaft entstehen zu lassen. Dieses Kunstverständnis wird auch heute noch zur Legitimation von staatlicher Kulturförderung und insbesondere von Theaterförderung herangezogen. So wurde das Theater bei der Diskussion um die Zukunft der Berliner Volksbühne »zur Projektionsfläche für sämtliche Wünsche nach einer besseren, also mindestens gendergerechten, postkolonialistischen, gentrifizierungsresistenten und basisdemokratischen Gesellschaft«18 und auf diese Weise mit unerfüllbaren Ansprüchen konfrontiert. Auch im Bereich der Kulturvermittlung wird Schillers Text explizit als Legitimation genutzt.19 Ein zentrales Legitimationsargument kulturpolitischer Fördermaßnahmen ist das des Marktversagens. Adornos und Horkheimers besonders in der 68er-Bewegung viel rezipierte Dialektik der Aufklärung enthält ein Kulturkonzept, dass Schillers Erziehung des Menschen durch Kultur fortsetzt. Nach Meinung der beiden Autoren würde ›wahre‹ Kultur durch ihre Ernsthaftigkeit und Komplexität auf einem freien Markt am Geschmack der zu erziehenden Massen scheitern und ist deshalb auf staatliche Förderung angewiesen. Diesem elitären Hochkulturprinzip nach ist populäre Kultur per se defizitär. ›Kultur für alle‹ bedeutet diesem Konzept nach, dass alle Menschen nicht
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Z.B.: Kurt Eichler: 10 Jahre Europäische Kulturagenda und die Kulturstrategie von EUROCITIES. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 157 (2017), S. 24-26. Peter Laudenbach: Wir retten ein Theater. In: Süddeutsche Zeitung vom 17.6.2018. URL: www.sueddeutsche.de/kultur/berliner-volksbuehne-wir-retten-ein-theater-1.40193 20 (Datum des Zugriffs: 18.6.2018). Z.B. Wolfgang Zacharias im Gespräch mit Birgit Mandel: Aktiv partizipative Sozialrauminszenierung für kulturelles und künstlerisches Lernen vor Ort. 45 Jahre Spielkultur in München. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 239-245, hier: S. 242.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
mit irgendeiner Kultur, sondern mit der staatlich geförderten Hochkultur versorgt werden sollen. Da diese Hochkultur aber schon ihrer Definition nach nicht vielen Menschen gefällt, muss der Staat »[m]it immer weiter reduzierten Preisen […] die wahre Kultur einem widerstrebenden Publikum ein[flößen]«20 . Diese ›wahre‹ Hochkultur, die dem populären Mainstream gegenübergestellt wird, besteht aus kanonisierten Werken, die sich durch mangelndes Interesse potenzieller Rezipienten auszeichnen. Diesem Verständnis nach wäre paradoxerweise ein Werk per definitionem keine ›wahre‹ Kultur mehr, wenn es von sich aus großes Publikumsinteresse weckt. Dass etwas wenig rezipiert oder gar vom Publikum abgelehnt wird, wäre dann ein Gütekriterium förderungswürdiger Kultur. Nicht selten wird das Feld der Kunst und Kultur als Gegenpol der kapitalistischen Ökonomie in der Moderne bezeichnet. Kulturpolitische Förderung müsste sich diesem Verständnis nach möglichst ökonomischen Marktprinzipien entziehen oder sogar entgegen dieser Prinzipien handeln. Ein solches Kunstverständnis hält Andreas Reckwitz für »eine Mystifizierung der Kunst«, denn der Bereich der Kunst habe »schon sehr früh, namentlich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die Strukturmerkmale einer Ökonomie der Singularitäten entfaltet« und sei »in einer Drastik vermarktlicht, das heißt kulturökonomisiert, wie kein anderes Feld der modernen Gesellschaft«21 . Damit meint Reckwitz, dass einzelne Kunstwerke seit dieser Zeit in einem Markt kompetitiver Singularitäten um die Aufmerksamkeit und positive Bewertung der Rezipienten konkurrieren. Dieser Markt zeichne sich durch eine permanente Überproduktion ständig neuer Kunstwerke aus, von denen sich nur wenige durchzusetzen vermögen. Kunstwerke, verstanden als kompetitive Singularitätsgüter, müssen »immer zwei Filter passieren […], die zwar hintereinander geschaltet, jedoch real teilweise eng miteinander verbunden sind: den Filter der Aufmerksamkeit und den Filter der Valorisierung«22 . Erhält etwas keine Aufmerksamkeit, dann kann es auch nicht zu einer Valorisierung kommen, aber große Aufmerksamkeit bedeutet nicht zwangsläufig Valorisierung. Förderung meritorischer Güter in der Kulturpolitik sollte nicht bedeuten, dass überall gefördert wird, wo etwas als Kultur gilt und Marktversagen vorliegt, sondern dort, wo Singularitätsgüter zwar den Filter der Aufmerk-
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Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz 2012, S, 108. Reckwitz 2017, S. 155-156. Ebd., S. 162.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
samkeit nicht passieren würden, aber langfristig eine gesellschaftliche Valorisierung angenommen werden kann. Wie mit Kulturobjekten umzugehen ist, die nur wenig Publikumsinteresse wecken können und deshalb in ihrer Existenz bedroht sind, ist auch Gegenstand aktueller kulturpolitischer Debatten. Häufig wird mit Bezug auf die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt von 2005 Kulturpolitik mit dem Erhalt kultureller Vielfalt legitimiert. Kulturelle Ausdrucksformen sollen dem Kulturverständnis der UNESCO folgend in den entsprechenden Gruppen und Gesellschaften tradiert und erhalten werden. Die Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt der UNESCO von 2001 vergleicht den Erhalt kultureller Vielfalt mit dem Erhalt biologischer Vielfalt und suggeriert, dass der Verlust bestimmter kultureller Ausdrucksformen das ›Ökosystem‹ der kulturellen Vielfalt gefährdet, das als »Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität«23 beschrieben wird. Auf diese Weise wird auch in Deutschland argumentiert, wenn, ähnlich den Listen gefährdeter Tier- und Pflanzenarten, Listen gefährdeter Kultureinrichtungen gemacht werden, die durch intensivere kulturpolitische Förderungen vorm Aussterben bewahrt werden sollen.24 Seit einigen Jahren ist im öffentlichen Diskurs wieder häufiger zu vernehmen, dass es eine wichtige Aufgabe der Kulturpolitik sei, zur Selbstvergewisserung der Gesellschaft beizutragen, indem ein positiver Bezug zum Eigenen ermöglicht und eine klare Abgrenzung zum Fremden vollzogen wird. Nur so gelinge die Verständigung zwischen den nun klar abgegrenzten Kulturen. So argumentiert auch die Staatsministerin für Kultur und Medien Monika Grütters: »›Weltkulturpolitik‹ verstehe ich vor diesem Hintergrund als Kulturpolitik für eine weltoffene, pluralistische Gesellschaft. Mir geht es dabei vor allem um eine Kulturpolitik für eine Kultur der Verständigung. Verständigung erfordert einerseits ein Bewusstsein der eigenen Identität – Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche und als Europäer. Denn nur wer das Eigene kennt und wertschätzt, kann auch dem Fremden Raum geben, ohne sich
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UNESCO: Allgemeine Erklärung zur kulturellen Vielfalt von 2001. Diese Argumentation wird kritisiert in: Armin Klein: Rote Listen und Selbstmusealisierung als kulturpolitische Vergreisungstendenzen. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 157 (2017), S. 72-73.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
dadurch bedroht zu fühlen, und nur wer sich begründet abgrenzen kann, ist imstande, die eigenen (demokratischen) Werte zu verteidigen.«25 Wie bei Herder verbindet sich der Wunsch nach dem friedlichen Zusammenleben verschiedener Kulturen mit dem Wunsch einer eindeutigen Abgrenzung der verschiedenen Kulturen. Dafür fordert Grütters Klarheit in der Wesensbestimmung deutscher und europäischer Identität. Die Abgrenzung ist diesem Kulturbegriff nach die Voraussetzung für das Zusammenleben verschiedener Kulturen. Unklare Zugehörigkeiten und hybride Identitäten müssen vor diesem Hintergrund als Störfaktor erscheinen, da sie die klare Abgrenzung verschiedener Kulturen und damit die postulierte Voraussetzung der Verständigung unter diesen in Frage stellen würden. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ wird betont, dass »Interkultur, Migrantenkulturen und die interkulturelle Bildung«26 wichtige Bereiche der Kulturpolitik sind. Als »Migrantenkulturen« bezeichnet der Schlussbericht »die soziokulturellen Ausdrucksformen und kollektiven Identitäten, die sich in den unterschiedlichen Milieus der Migranten entwickelt haben und sich durch neue Erfahrungen und den Austausch mit dem Aufnahmekontext weiterentwickeln«27 . Diesen sogenannten Migrantenkulturen wird das Recht auf Andersartigkeit zugesprochen: »Das Zusammenleben in unserer Gesellschaft wird geprägt von den unterschiedlichen Lebenswelten, den Wertvorstellungen, Traditionen und Lebensweisen, aber auch der Anerkennung der bestehenden Unterschiede.«28 Neben einer »Akzeptanz des Zusammenlebens in einer Einwanderungsgesellschaft« sehen die Autoren des Schlussberichts es als wichtig an, dass »den Zuwanderern Orientierung über Recht, Kultur, Geschichte und das Staatswesen Deutschlands sowie Sprachförderung«29 angeboten wird. Die Interkulturalität, die im Schlussbericht angestrebt wird, setzt auf klare kulturelle Grenzen: »Von vielen Migranten wird eine mangelnde Selbstvergewisserung der Deutschen als Defizit empfunden. Der selbstbewusste Umgang mit dem Fremden setzt den selbstbewussten Umgang mit dem Eigenen voraus. Gerade deshalb müssen kulturelle Gesichtspunkte in der Integrationspolitik 25 26 27 28 29
Monika Grütters: Kulturpolitik für eine Kultur der Verständigung. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 157 (2017), S. 43. Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, S. 210. Ebd., S. 211. Ebd. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
stärker beachtet werden, zumal sich die kulturelle und ethnische Pluralität Deutschlands noch erweitern wird. Kulturpolitik muss diesen sozialen Gegebenheiten unserer Gesellschaft Rechnung tragen.«30 Während Interkulturalität – verstanden als Verständigung und Dialog zwischen mehreren Kulturen – als erstrebenswert beschrieben wird, werden Transkulturalität und Hybridität neutral als mögliche Entwicklungen in Einwanderungsgesellschaften beschrieben: »Durch den Prozess der Globalisierung beeinflussen sich Kulturen, wandern mit den Menschen und verändern sich. Neue Kulturen bilden sich heraus, ermöglichen die Begegnung vieler Kulturen wie auch von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Es entwickeln sich neue transkulturelle Identitäten (›hybride Kulturen/Identitäten‹), nicht nur durch die Zunahme binationaler Familien, sondern vor allem durch die eigenständige Entwicklung junger Menschen mit Migrationshintergrund, die sich weder von der Minderheiten- noch von der Mehrheitsgesellschaft vereinnahmen lassen.«31 Als mögliche kulturpolitische Handlungsfelder im Kontext der Integration werden im Schlussbericht die Förderung des Erwerbs der deutschen Sprache32 , die »interkulturelle Öffnung«33 von Kulturbetrieben, »eine verbesserte Partizipation der Interessenvertretungen der Migranten«34 und eine stärkere »Präsenz von Migranten in den öffentlich-rechtlichen Programmen«35 genannt. Im Bereich der teilhabeorientierten Kulturvermittlung geht der Schlussbericht von einer klaren Trennung zwischen Kulturangeboten von und für Einheimische und Kulturangeboten von und für Migranten aus, die in Zukunft allerdings auch Publikum aus den jeweils anderen Gruppen für sich gewinnen sollen: »Die Enquete-Kommission empfiehlt den Ländern und Kommunen, in ihren Kultureinrichtungen, wie Theatern oder Opern darauf hinzuwirken, dass diese versuchen, vermehrt Migranten als Publikum für sich zu gewinnen.
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Ebd. Ebd. Ebd., S. 212. Ebd., S. 213. Ebd., S. 216. Ebd.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
Gleichzeitig soll dort, wo es kulturelle Angebote der Migranten gibt, versucht werden, zunehmend Einheimische als Publikum zu gewinnen.«36 Zur Multikulturalität Deutschlands gehören auch die offiziell anerkannten Minderheiten der Sorben, Friesen, Sinti und Roma und der Dänen in Südschleswig. Für Angehörige dieser Minderheiten wird Mehrsprachigkeit und Mehrfachzugehörigkeit im Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ als positive Eigenschaft beschrieben: »Die Angehörigen der nationalen Minderheiten sind, auch wenn ihre Muttersprache nicht Deutsch ist, voll in die Gesellschaft integriert, da sie zweiund häufig mehrsprachig sind. Die Mehrsprachigkeit und die Fähigkeit, sich sicher in zwei Kulturen bewegen zu können, sind heute europäische Primärtugenden, werden aber auch bestimmt durch die Lebensverhältnisse, die die Mehrheitsgesellschaft den Minderheiten ermöglicht. Eine aktive Kulturpolitik und -förderung für die autochthonen Minderheiten stärkt somit auch den kulturellen Zusammenhalt in Europa.«37 Die Verfasser des Schlussberichts sehen in dem besonderen Schutz von Kultur und Sprache der Minderheiten und der Schaffung kulturpolitischer Rahmenbedingungen für die Aufrechterhaltung der Traditionen der Minderheiten eine kulturpolitische Aufgabe, durch die die »UNESCO-Konvention zum Schutz der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen«38 umgesetzt wird. Während der Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ als Konsens der etablierten Parteien bis 2007 entstanden ist und deshalb verschiedene und sich teilweise widersprechende Kulturkonzepte enthält, wird in den einzelnen Grundsatzprogrammen der Parteien das jeweilige Kulturkonzept deutlicher. Die Grundsatzprogramme der in Deutschland etablierten Parteien lassen zwar oft viel Spielraum für Interpretationen, aber lassen dennoch erkennen, welche Akzente das jeweils verwendete Kulturkonzept setzen soll, wie das Verhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft gesehen wird und mit welchen anderen Konzepten das Kulturkonzept verknüpft wird. Im Grundsatzprogramm der CDU wird der Kulturbegriff mit der nationalen Identität verknüpft:
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
»125. Deutschland ist eine europäische Kulturnation, geprägt vor allem durch die christlich-jüdische Tradition und die Aufklärung. Kunst und Kultur formen nicht nur die Identität des Einzelnen, sondern auch die unserer ganzen Nation. Wir wollen das reiche kulturelle Erbe unseres Landes bewahren, das geprägt ist durch die Vielfalt seiner Länder und Regionen. 126. Kulturelle Vielfalt gehört zur Lebendigkeit unserer Gesellschaft, trägt zur Lebensqualität in Deutschland bei und fördert die Bereitschaft, Neues zu wagen. Unser kulturelles Leitbild ist ein weltoffenes Deutschland, das auf der Grundlage seiner Traditionen aufgeschlossen ist für die Begegnung mit anderen Kulturen. Die kulturelle Vitalität und Attraktivität Deutschlands beruht bis heute auch auf dem Austausch mit anderen Völkern und Kulturen.«39 Der hier verwendete Kulturbegriff steht in der herderschen Tradition, in der Kunst und Kultur als Ausdruck einer klar abgrenzbaren Nation gedacht werden, die zwar in einen kulturellen Austausch mit anderen Kulturen treten kann, aber bei der keine Zwischenräume und Vermischungen vorgesehen sind. Auch das Bekenntnis zur kulturellen Vielfalt und zur Begegnung unterschiedlicher Kulturen steht in der Tradition des herderschen Kulturkonzeptes. Das Grundsatzprogramm der CSU verknüpft den Kulturbegriff ebenfalls mit der Nation. Darüber hinaus wird der Kulturbegriff bei der CSU in einen Zusammenhang mit den Begriffen Heimat und Patriotismus gestellt: »Heimatliebe und Patriotismus gehören zusammen. Patriotismus heißt: Wertschätzung der eigenen Kultur gepaart mit Respekt vor anderen Kulturen. Das Bekenntnis zur deutschen Nation und zu Bayern als unserer Heimat ist ein gesunder und positiver Patriotismus. Dieser Patriotismus stärkt unser Land. Eine Überhöhung der eigenen und Herabsetzung anderer Kulturen lehnen wir strikt ab.«40 Kulturelle Vielfalt findet im Grundsatzprogramm der CSU allerdings im Unterschied zur CDU nur im Kontext regionaler bayerischer Vielfalt Erwähnung: »Bayern mit seiner unvergleichlichen Geschichte und Tradition hat ein vielfältiges kulturelles Erbe. […] Besonders die regionale Vielfalt mit all ihren Pro39 40
CDU: Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm. Beschlossen vom 21. Parteitag. Hannover, 3.-4. Dezember 2007, S. 42-43. CSU: Die Ordnung. Das Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union. Hg. von der CSU-Landesleitung. München 2016, S. 53.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
filen wollen wir fördern und bewahren: angefangen von der Hochkultur über das reiche Spektrum der Volkskultur bis hin zu Brauchtum und Dialekt.«41 Im Grundsatzprogramm der SPD ist die Betonung kultureller Vielfalt und des kulturellen Kontakts in Form eines Dialogs enthalten. Der Kulturbegriff wird nicht mit der nationalen Identität, dafür aber mit einem »Bewusstsein von Verwurzelung und gesellschaftlichem Zusammenhalt« verknüpft: »Die Sozialdemokratie war von Anfang an auch eine Kulturbewegung. Wir hatten immer einen weiten Kulturbegriff. Er reicht über die Künste hinaus und bezieht Bildung, geschichtliches Erbe und die Formen des Zusammenlebens ein. So brauchen wir eine politische Kultur, die unsere Demokratie stützt. Kultur ist in besonderer Weise der Raum, in dem sich die Gesellschaft ihrer Werte- und Zielvorstellungen vergewissert. Sie stärkt die Menschen, schafft Zugehörigkeit, das Bewusstsein von Verwurzelung und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Wir sind für den Dialog zwischen den Kulturen. Er dient dem inneren und äußeren Frieden, aber auch der Integration. Wenn friedliche Globalisierung gelingen soll, brauchen wir eine Kultur der Anerkennung, die der Ausgrenzung von Minderheiten und ebenso der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenwirkt. Wir wollen kulturelle Vielfalt statt fundamentalistischer Verengungen und der Politisierung von religiösen und kulturellen Unterschieden, aber auch statt globaler Monokultur. Erst eine lebendige Kultur der Anerkennung ermöglicht eine Gesellschaft, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können. Friedliche Vielfalt wird nur möglich sein, wenn wir uns unserer geistigen Wurzeln in jüdisch-christlicher Tradition – die auch von griechischer Philosophie, römischem Recht, arabischer Kultur beeinflusst worden ist – und in Humanismus und Aufklärung versichern. Nur eine ebenso wertefundierte wie tolerante Kultur kann sich gegen den Versuch behaupten, Kultur und Religion als Mittel der Ausgrenzung zu missbrauchen. Für den Dialog der Religionen und das friedliche Zusammenleben in Deutschland ist der Beitrag der hier lebenden Muslime unverzichtbar.«42
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Ebd., S. 52. SPD: Hamburger Programm. Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen auf dem Hamburger Bundesparteitag der SPD am 28. Oktober 2007, S. 38-39.
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Im Grundsatzprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird ein Kulturbegriff verwendet, in dem auch kulturelle Zwischenräume und Vermischungen mitgedacht werden: »Der Kulturbegriff hat sich erweitert. Die Vielfalt kultureller Sparten und die wechselseitige Durchdringung verschiedener Kulturen finden ihr Spiegelbild in den Lebensformen und Lebensstilen moderner Gesellschaften. Die Durchlässigkeit und Vermischung der Kulturen als untrennbarer Bestandteil der Globalisierung schlägt sich in jedem persönlichen Lebensentwurf, in jeder Stadt und auf jeder Homepage nieder. Der Kunstbegriff ist offen und muss vor staatlichen Zugriffen und Vereinnahmungen geschützt werden.«43 Betont wird außerdem die »kulturelle Vielfalt«44 und der interkulturelle Dialog: »Zur Kultur eines Einwanderungslands gehört die Offenheit gegenüber Menschen aus anderen Kulturen, Ethnien und Religionen. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf der Begegnung der Kulturen und der Förderung von Kunst und Kultur der in Deutschland lebenden MigrantInnen. Ihre Kreativität ist eine Ressource, die gesellschaftliche Innovation hervorbringt. Interkultureller Dialog wird so zu einer gesellschaftlichen Bereicherung, die Erkenntniszuwachs bereitet und individuelles Selbstverständnis vertieft. Andere als gleichberechtigt gelten lassen zu können, setzt voraus, auch über Kenntnis und Wertschätzung der eigenen Kultur zu verfügen.«45 Die FDP verknüpft in ihrem Grundsatzprogramm den Kulturbegriff nicht mit kollektiven Identitäten, sondern betont bestimmte Funktionen der Kultur in der Gesellschaft: »Die offene Bürgergesellschaft drückt sich nicht zuletzt in liberaler Kulturpolitik aus, die zu den wichtigsten Aktionsfeldern liberaler Politikgestaltung gehört. Die Kultur einer Gesellschaft ist zugleich ihr Nährboden und Spiegel. Im Mittelpunkt kultureller Aktivität stehen die Künste. Der Dialog, den sie im Einklang von Kreativität und Freiheit anregen, trägt wesentlich zur gesellschaftlichen Erneuerung bei. Den Freiraum zur Entfaltung dieses Dialogs zu 43
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BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Zukunft ist grün. Grundsatzprogramm von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Beschlossen auf der Bundesdelegiertenkonferenz von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 15. – 17. März 2002 im Berliner Tempodrom, S. 109. Ebd. Ebd., S. 114.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
sichern, ist daher Aufgabe liberaler Kulturpolitik. Sie umfasst die Förderung kultureller Bildung, die zu diesem Dialog befähigt. Dabei geht jedoch die Gestaltung von Kultur nach liberalem Verständnis von den Bürgerinnen und Bürgern aus. Daher muss die Kulturhoheit bei den Bürgern liegen. Ihr kreatives und kulturelles Engagement zu ermöglichen, ist unser Ziel. Deshalb ist Kulturförderung eine notwendige Investition in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.«46 Im Grundsatzprogramm der AFD wird ein Zusammenhang zwischen Kultur und Identität besonders betont: »Deutschland gehört zu den großen europäischen Kulturnationen. Deutsche Schriftsteller und Philosophen, deutsche Musiker, bildende Künstler und Architekten, in jüngerer Zeit auch deutsche Designer und Filmemacher, haben wesentliche Beiträge zu ihren jeweiligen Disziplinen im weltweiten Maßstab geleistet. […] Kultur ist außerdem die zentrale Klammer, in der sich auch ein neues Politikverständnis sehen muss. Unser aller Identität ist vorrangig kulturell determiniert. Sie kann nicht dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt werden. Vielmehr soll ein Bewusstsein gestärkt werden, welches kulturelle Verbundenheit wahrnimmt, fördert und schützt. Für die AfD ist der Zusammenhang von Bildung, Kultur und Identität für die Entwicklung der Gesellschaft von zentraler Bedeutung.«47 Die AFD verwendet den herderschen Kulturbegriff und ist dabei so konsequent, dass die Nationalkultur als innen homogene und nach außen abzugrenzende Einheit gedacht wird. Kulturelle Vielfalt erscheint hier wie bei Herder nicht als Pluralismus innerhalb eines Nationalstaats, sondern als Unterscheidung zwischen den Nationalstaaten und ihren jeweiligen Nationalkulturen: »Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und
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FDP: Verantwortung für die Freiheit. Karlsruher Freiheitsthesen der FDP für eine offene Bürgergesellschaft. Beschluss des 63. Ordentlichen Bundesparteitages der FDP. Karlsruhe, 22. April 2012, S. 76. AFD: Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland. Beschlossen auf dem Bundesparteitag in Stuttgart am 30.04./01.05.2016, S. 90-91.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.«48 Im Grundsatzprogramm von DIE LINKE wird der Kulturbegriff ebenfalls mit dem Begriff der Identität verknüpft. Im Gegensatz zur AFD wird allerdings die kulturelle Vielfalt innerhalb der deutschen Gesellschaft als erstrebenswert betrachtet und das Recht aller Menschen auf kulturelle Teilhabe betont: »Kulturelle Vielfalt und die Künste in allen ihren Ausdrucksformen sind unverzichtbar für eine lebendige Demokratie. Günstige Rahmenbedingungen und Freiräume für ihre Entwicklung zu schaffen ist deshalb für uns als Linke wesentlicher Bestandteil unseres Ringens um eine demokratische und sozial gerechte Gesellschaft. Das Staatsziel Kultur gehört ins Grundgesetz. DIE LINKE tritt für eine demokratische Kultur ein, in der alle Gruppen und Milieus ihre kulturelle Identität finden und ausdrücken können. Alle Menschen sollen die Möglichkeit zur Teilhabe am kulturellen Leben und dem kulturellen Reichtum dieser Gesellschaft haben.«49 An den Grundsatzprogrammen wird deutlich, dass der klassische Kulturbegriff nach Herder auf vielfältige Weise in heutigen Verwendungen wiederzufinden ist, die jeweils andere Schwerpunkte setzen. Die Verknüpfung klar voneinander abgrenzbarer kollektiver Identitäten mit dem Kulturbegriff und die Forderung nach kultureller Vielfalt gehen auf Herder zurück und prägen bis heute kulturpolitische Diskurse und die Kulturkonzepte der etablierten politischen Parteien. Dass sich Kulturpolitik »zum Dienstleister anderer Politikfelder macht«50 und mit Argumenten aus der Wirtschafts-, Sozial- und Außenpolitik legitimiert wird, ist ein deutliches Zeichen ihres Legitimationsproblems. Dieses Legitimationsproblem entsteht, weil keine konzeptionelle Begründung der Kulturpolitik erkennbar ist. Stattdessen ist eine »alles umfassende und nicht
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Ebd., S. 92. DIE LINKE: Programm der Partei DIE LINKE. Beschluss des Parteitages der Partei DIE LINKE vom 21. bis 23. Oktober 2011 in Erfurt, bestätigt durch einen Mitgliederentscheid im Dezember 2011, S. 55. Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz 2012, S. 118.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
diskriminierende Förderung unter einem ›weiten‹ Kulturbegriff« zu beobachten, die mit der Einstellung einhergeht, »[d]ass öffentliche Kulturförderung immer nur gut sein könne, dass die Kulturetats zu steigern immer nur wünschenswert, dass jedes kulturelle Angebot immer nur eine Bereicherung sei«51 . Wenn finanzielle Kürzungen drohen, dann werden konzeptionelle Begründungen aus anderen Politikfeldern geliehen, was jedoch langfristig nicht für eine überzeugende konzeptionelle Begründung der Kulturpolitik sorgt. Die Autoren der Schrift Kulturinfarkt empfehlen deshalb, Kulturpolitik über den »Eigenwert von Kunst, Kultur und von kulturellem Lernen« zu legitimieren und den »Freiraum des unverstellten Austauschs«, den Kulturpolitik ermöglichen kann, als »Grund genug für Förderung« anzusehen, damit »Kultur selbstbewusst ihren Eigenwert begründet, um aus diesem heraus in die öffentliche Diskussion zu gehen«52 . Der genannte Freiraum des unverstellten Austauschs bedarf allerdings einer konkreteren Beschreibung, um zu ermöglichen, dass Kulturpolitik sich selbstbewusster und mit Verweis auf ihren Eigenwert legitimieren kann. Dirk Baecker sieht in der Kultur »eine Möglichkeit, die Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft zu beobachten, als geschähe es von außerhalb«53 und beschreibt den spezifischen Blickwinkel der Kultur auf die Gesellschaft wie folgt: »Aus dem Blickwinkel der Kultur sind die Strukturen der Gesellschaft immer eine Spur zu eindeutig, […] immer eine Spur zu festgelegt auf das, was sie sind, immer eine Spur zu unbeweglich gegenüber alternativen Fassungen ihrer selbst, immer eine Spur zu vergeßlich gegenüber alten Versprechungen und Erwartungen.«54 Kultur fungiert durch die »je aktuelle Operation des Einwands ausgeschlossener Möglichkeiten gegen wahrgenommene Möglichkeiten« als »Gedächtnis der Gesellschaft« und ermöglicht so den »paradoxen Einschluss[…] des Ausgeschlossenen«55 . Die Gesellschaft erscheint aus der Perspektive der Kultur als »Produzent von Eindeutigkeiten«56 . Diese Eindeutigkeiten werden von der Kultur selektiv dargestellt oder konstruiert, um dann »Mehrdeutigkeiten […]
51 52 53 54 55 56
Ebd., S. 122. Ebd., S. 170. Baecker 2003, S. 83. Ebd., S. 81. Ebd. Ebd., S. 83.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
gegen diese Eindeutigkeiten in Anschlag [zu] bringen«57 . Kultur ist als Gedächtnis der Gesellschaft inhärent transkulturell, denn den realen Strukturen der Gesellschaft werden durch die Kultur eine Vielzahl potenzieller Alternativen vergleichend gegenübergestellt, von denen einige bewahrende und andere erneuernde Potenziale der Gesellschaft entfalten können. Die vorgeführten Strukturen der Gesellschaft werden zunächst nur bewusst gemacht und die Entscheidung, ob sie bewahrt oder erneuert werden, fällt nicht die Kultur, sondern die Gesellschaft. Baecker versucht das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Kultur und eine mögliche Funktion der Kultur zu beschreiben: »Eine Kultur, so kann man noch kürzer sagen, ›thematisiert‹ die zugrundeliegende soziale Ordnung, wobei nichts sicher stellt, daß die Thematisierung trifft, was sie treffen will. Im Gegenteil, hier scheinen alle möglichen Formen historischer Ungleichzeitigkeiten möglich, die eine Kultur eher in ein Spannungsverhältnis zur Gesellschaft rücken als in ihren Dienst stellen. Andererseits kann die Thematisierung je nach Situation, das heißt je nach internem Abstimmungsbedarf der verschiedenen Komponenten der sozialen Ordnung untereinander und externem Abstimmungsbedarf der sozialen Ordnung mit der physischen, organischen und psychischen Umwelt, Momente der Feier des Gelungenen oder Momente der Kritik, ja Subversion des Unzureichenden annehmen. In jedem Falle besteht zwischen der Kultur auf der einen Seite und der sozialen Ordnung auf der anderen Seite eine relativ lose Kopplung, die Interpretationsspielräume der sozialen Ordnung durch die Kultur eröffnet.«58 Ein anderer Teilbereich der Kulturpolitik, der besonders in demokratischen Staaten nur wenig öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, ist allerdings Bernd Wagner zufolge, dass die »Förderung von Kultur und Kunst durch Fürstenstaaten, Städte, Parlamente und andere Obrigkeiten […]« nie nur das Ziel verfolgt, »Kunst und Künstler zu unterstützen und der Bevölkerung den Zugang zu Kunst und Kultur zu ermöglichen, sondern immer auch Repräsentationszwecke für politische Obrigkeiten und gesellschaftliche Gruppen«59 beinhaltet. Mit Verweis auf Eduard Sprangers 1923 aufgestellte Definition von Kul57 58 59
Ebd. Ebd., S. 37-38. Bernd Wagner: Kulturpolitik – Ein Praxisfeld ohne Theorie? In: Sigrid BekmeierFeuerhahn, Karen van den Berg, Steffen Höhne, Rolf Keller, Birgit Mandel, Martin Tröndle & Tasos Zembylas (Hg.): Kulturmanagement und Kulturpolitik. Jahrbuch für Kulturmanagement 2011. Bielefeld 2011, S. 41-53, hier: S. 45.
7. Das Eigene und das Fremde in der Kulturpolitik – Aktuelle Diskurse
turpolitik beschreibt Wagner dann Kulturpolitik als »Kultur durch Macht« und »Macht durch Kultur«60 . Die Repräsentationsfunktion ist besonders in der bildenden Kunst erkennbar, die auch heute von reichen Sammlern zum Distinktionsgewinn und zur Zurschaustellung ihres Reichtums genutzt wird. Wolfgang Ullrich bemerkt sogar, dass teure Kunstwerke von Künstlern wie Damien Hirst, Jeff Koons und Gerhart Richter nicht etwa wegen ästhetischer Qualitäten, sondern wegen ihrer Eignung als Repräsentationsobjekte so teuer gehandelt werden.61 Die Repräsentation des Geldadels ähnele dabei sogar der Repräsentation des Adels in der barocken Kunst. Kuratorenkunst, die zum Beispiel auf den zahlreichen Biennalen und auf der documenta ausgestellt wird, grenzt sich meist dezidiert vom Kunstmarkt ab und zeichnet sich durch politische Relevanz und moralische Aufladung aus. Ullrich schreibt allerdings auch dieser Art bildender Kunst eine Repräsentationsfunktion zu, denn »[w]er sie ausstellt, will eine moralische Gesinnung signalisieren: Sensibilität, Engagement, emazipatorisches Bewusstsein. Viele Künstler mögen zwar von sich aus eine ähnliche Gesinnung haben, doch bekommen sie Öffentlichkeit erst, wenn Kuratoren sie verpflichten – jedoch immer nur eine Öffentlichkeit, in der ihre Werke anders als bei einer traditionellen Hängung im Museum, gerade nicht für sich selbst, sondern innerhalb eines Programms und als Beitrag zu einem Diskurs ausgestellt werden.«62 Kulturpolitische Akteure können demnach die Repräsentationsfunktion nicht immer ausklammern, sondern müssen sich auch mit dieser Dimension auseinandersetzen. Auch Staaten nutzen das Repräsentationspotenzial der bildenden Kunst. Diese Dimension ist in pluralistischen demokratischen Staaten allerdings anderer Art als in absolutistischen Monarchien. Kulturpolitik dient auch heutzutage in Deutschland unter anderem dazu, Teile der etablierten Strukturen der Gesellschaft zu bestätigen. So wird in demokratischen Staaten unter anderem Kultur gefördert, die einerseits der Gesellschaft die demokratischen Strukturen bewusstmacht, in der Hoffnung, dass diese von der Gesellschaft bewahrt werden, und andererseits mögliche undemokratische Strukturen ins Bewusstsein ruft, in der Hoffnung, dass diese von der Gesellschaft verändert oder gegebenenfalls abgewendet werden. Ob die
60 61 62
Ebd. Wolfgang Ullrich: Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust. 3. Aufl. Berlin 2016. Ebd., S. 131.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Strukturen bewahrt oder erneuert werden, kann kulturpolitisch nicht direkt, sondern nur indirekt über die selektive Darstellung beeinflusst werden. Am Beispiel des Umgangs mit der deutschen Geschichte in der Bundesrepublik kann dieses Potenzial des Bewahrens und Erneuerns der Kultur verdeutlicht werden. Das Holocaust-Mahnmal in Berlin beobachtet selektiv die vergangene, von der heutigen Gesellschaft ausgeschlossene Möglichkeit der NS-Gesellschaft und des Genozids und überlässt den Umgang mit ihr der Gesellschaft. Das Holocaust-Mahnmal kann seine Betrachter nicht zu Rassismusgegnern erziehen oder weitere Genozide verhindern. Der Betrachter, dem jeweils im Moment der Betrachtung des Mahnmals die Ermordung der europäischen Juden ins Bewusstsein gerufen werden soll, kann allerdings seine individuellen Einstellungen diesbezüglich reflektieren und dann bewahren, ändern oder erneuern. Ein weiteres Beispiel aus der deutschen Geschichte ist der Einfluss westlicher Rock- und Popmusik in der DDR. Die durch die Musik ins Bewusstsein gelangende Möglichkeit eines anderen Lebensstils stellte gesellschaftlichen Eindeutigkeiten der DDR-Gesellschaft die Mehrdeutigkeiten westlicher Gesellschaften entgegen. Ob diese Mehrdeutigkeiten der Realität in westlichen Ländern entsprachen oder nicht, ist dabei irrelevant. Auch die westliche Musik kann nicht ihre Hörer zu Kapitalisten erziehen, die Idee einer Flucht einpflanzen oder eine neue Jugendkultur etablieren, sondern den Hörern geraten bestimmte Strukturen der Gesellschaft ins Bewusstsein, die sie bewahren oder erneuern möchten. Beispielsweise werden einige Hörer westlicher Musik in der DDR die FDJ als bessere und deshalb zu bewahrende Möglichkeit einer Jugendkultur empfunden haben. Andere Hörer hingegen haben die Entscheidung getroffen, den in der Musik zum Ausdruck gebrachten Lebensstil einer alternativen Jugendkultur auch in ihrer Gesellschaft zu etablieren. Der Einschluss ausgeschlossener Möglichkeiten einer Gesellschaft durch Kultur offenbart, dass Transkulturalität ein grundlegendes Prinzip jeder Kultur ist. Die Mehrdeutigkeiten der Kultur, in denen potenzielle andere Lebensweisen, Ideen, Werte und Ideale enthalten sind, werden den Eindeutigkeiten der bestehenden Gesellschaft gegenübergestellt und bewusst gemacht. Die bestehenden Strukturen werden dann von der Gesellschaft entweder bewahrt oder erneuert, je nachdem, auf welche Einstellungen in der Gesellschaft die Kultur trifft.
8. Transkulturalität
Der Begriff der Transkulturalität beschreibt Phänomene, die mit Begriffen aus mehreren anderen Forschungsgebieten und anderen Kontexten verwandt sind. Zu nennen sind hier der Synkretismus, die Kreolisierung und der Kulturtransfer. Als Synkretismus bezeichnet man in der Religionsanthropologie die Verschmelzung mehrerer mythischer Geschichten aus verschiedenen Traditionen zu einem neuen System. Die Kreolisierung beschreibt in der Sprachwissenschaft die Verschmelzung mehrerer Sprachen zu einer neuen Sprache und andere damit verwandte Aspekte des Sprachwandels. Das für diese Arbeit entscheidende Konzept der Transkulturalität nach Wolfgang Welsch soll durch Aspekte aus anderen Forschungsfeldern ergänzt werden. Alle genannten Konzepte widersprechen sich nicht, sondern entstammten nur unterschiedlichen Forschungsfeldern und haben deshalb unterschiedliche Schwerpunkte. Gemeinsam ist allen Begriffen das Infragestellen binärer Kategorien und fester kultureller Grenzen. Durch diesen theoretischen Fokus auf Grenzen und Differenzen werden dieselben jedoch nicht vollends aufgelöst, sondern ihre jeweilige Beschaffenheit differenzierter betrachtet. Peter-Ulrich Merz-Benz stellt fest, dass das Konzept der Transkulturalität »eine Verdichtung von Charakterzügen der Kulturwirklichkeit«1 ist. Durch diese Verdichtung treten »die Prinzipien des Unterscheidens und Zusammenstellens« in den Vordergrund: »das Unterscheiden eines bis dahin Einen und das Zusammenstellen des Unterschiedenen als Bezeichnen dessen, was das Unterschiedene immer schon eint«2 . Das ändert jedoch nichts daran, dass Kultur »vor allem anderen in Differenzen von Sinngehalten« 1
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Peter-Ulrich Merz-Benz: Kulturwissenschaft als Wissenschaft der Transkulturalität? In: Dariusz Aleksandrowicz & Karsten Weber (Hg.): Kulturwissenschaften im Blickfeld der Standortbestimmung, Legitimierung und Selbstkritik. Berlin 2007, S. 191-211, hier : S. 209. Ebd., S. 207.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
besteht, zu denen allerdings immer »deren Differenzen-übergreifende[…] Zusammenstellung«3 mitgedacht werden muss. Der Transkulturalität verwandte und allgemein bekannte Begriffe sind außerdem die Interkulturalität und die Multikulturalität, deren Diskurse allerdings in anderen Kontexten stattfinden und denen ein anderer Kulturbegriff zu Grunde liegt. Diese Begriffe sind deshalb klar von der Transkulturalität abzugrenzen. Der Begriff der Transkulturalität wurde in der deutschsprachigen Forschung besonders von Wolfgang Welsch geprägt, der ihn ohne Bezug auf Fernando Ortiz und dessen bereits vorher entstandenen spanischsprachigen Text zur Transkulturation4 neu gedacht hat. Welsch versucht auf der deskriptiven Ebene den Kulturbegriff zu erneuern und der komplexen Realität anzupassen und entkräftet deshalb binäre Unterscheidungen zwischen Fremdem und Eigenem im Kontext kultureller Identität. Auf der normativen Ebene soll sein Transkulturalitätskonzept zum bewussten Umgang mit der Hybridität jeder Kultur führen und so durch das Erkennen des Fremden im Eigenen die Angst vor dem Fremden relativieren. Wolfgang Welsch unterscheidet zwischen der Makro- und der Mikroebene der Transkulturalität. Auf der Makroebene der Staaten und Nationalkulturen ist Welsch zufolge zu beobachten, dass Kulturen nicht der Vorstellung innen homogener und nach außen klar abgrenzbarer Einheiten entsprechen, aber diese Vorstellung noch immer unseren Kulturbegriff prägt. Das von Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit entwickelte Kulturkonzept richtete sich gegen den Universalismus der Aufklärung, der »die Entwicklung der Menschheit auf einen einzigen Nenner zu bringen suchte – mit Europa als Maß«5 . Herder versuchte als »einer der frühesten Kritiker von Eurozentrismus«6 auch außereuropäischen Kulturen ein Existenzrecht zuzusprechen und verwies deshalb auf den je einzigartigen Charakter jeder Kultur, die in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit zu erhalten seien. Auch außereuropäische Menschen sollten diesem Kulturbegriff nach, auch trotz anderer Lebensweisen, nicht länger als Barbaren gelten, sondern als Menschen anderer Kulturzugehörigkeit. Allerdings entstehen durch Herders Konzept mehrere konzeptuelle Probleme, die auch die heute gängige Verwendung des Kulturbegriffes problematisch machen: 3 4 5 6
Ebd. Fernando Ortiz : El fenómeno social de la transculturación y su importancia en Cuba. In: Revista Bimestre Cubana. Bd. 46. Havanna 1940, S. 273-278. Welsch 2005, S. 316. Ebd.
8. Transkulturalität
»Erstens soll eine Kultur das Leben des betreffenden Volkes im ganzen wie im einzelnen prägen und jede Handlung und jedes Objekt zu einem unverwechselbaren Bestandteil gerade dieser Kultur machen: das Konzept ist stark vereinheitlichend. Zweitens soll Kultur immer die Kultur eines Volkes sein; sie stellt – so drückt Herder das aus – ›die Blüte‹ des Daseins eines Volkes dar: das Konzept ist volksgebunden. Drittens ergibt sich daraus eine entschiedene Absetzung nach außen; jede Kultur soll, als Kultur eines Volkes, von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und abgegrenzt sein: das Konzept ist separatistisch.«7 Alle drei Aspekte sind problematisch, weil sie nicht der realen Verfasstheit von Kulturen entsprechen. Erstens sind Kulturen nicht innen homogen, sondern durch eine komplexe Heterogenität gekennzeichnet, die sich nicht auf Menschen mit Migrationshintergrund beschränkt, sondern auch Geschlechter-, Klassen-, Milieu- und Generationsunterschiede miteinschließt. Auf diese »interne Pluralisierung« hat das klassische Kulturkonzept »nur eine falsche Antwort: die eines Homogenisierungsgebots«8 . Zweitens ist die Verbindung des Kulturkonzeptes mit dem Konzept des Volkes oder der Ethnie falsch, weil kulturelle Differenzen und Grenzen nicht mit ethnischen Differenzen und Grenzen deckungsgleich sind. Sie ist außerdem sogar gefährlich, weil die Vorstellung einer homogenen Nationalkultur verbunden mit der Vorstellung einer an diese Kultur gebundenen ethnischen Abstammung dazu verleiten kann, die in der Realität nie gegebene Deckungsgleichheit sprachlich-kultureller, politisch-geographischer und ethnischer Grenzen künstlich herzustellen. Die Erweiterung der politisch-geographischen Grenzen nach außen »durch Annexion« und die Herstellung innerer Homogenität »durch Säuberung«9 sind durch viele Beispiele aus der Geschichte und insbesondere auch aus der deutschen Geschichte bekannt. Drittens macht das Konzept eine klare Abgrenzung jeder Kultur zu allen anderen Kulturen notwendig und erzeugt so den Eindruck klar gezogener kultureller Grenzen. Auch diese Annahme entspricht nicht der Realität, die durch kulturelle Kontaktzonen und gegenseitige Beeinflussung geprägt ist. Diese binäre Unterscheidung der »Konzentration auf das Eigene und Abwehr
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Ebd., S. 317. Ebd. Ebd., S. 318.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
des Fremden«10 unterschlägt die Hybridität jeder Kultur und erzeugt eine Abneigung gegenüber dem immer vorhandenen Fremden im Eigenen. Das von Welsch eingeführte Transkulturalitätskonzept betont deshalb die folgenden Aspekte: »externe Vernetzung der Kulturen, Hybridcharakter, Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz, transkulturelle Prägung der Individuen, Entkoppelung von kultureller und nationaler Identität«11 . Auf der Makroebene beobachtet Welsch, dass »[z]eitgenössische Kulturen […] denkbar stark miteinander verbunden und verflochten«12 sind und bezieht sich dabei auf die Verbreitung gleicher Lebensformen in vielen Kulturen. So ist es durchaus möglich, dass bei einzelnen Menschen aus verschiedenen Teilen der Erde mehr kulturelle Gemeinsamkeiten zu finden sind als diese Menschen mit Individuen aus ihrem Herkunftsort haben. Ein Journalist aus New York kann beispielsweise abgesehen von der Sprache unter Umständen mehr kulturelle Anknüpfungspunkte zu einem Journalisten aus Peking finden als zu einem Börsianer der Wallstreet. Außerdem gibt es globale »Problem- und Bewußtseinslagen in den angeblich so grundverschiedenen Kulturen« und Menschenrechte, Feminismus und ökologische Fragen werden »quer durch die Kulturen«13 diskutiert. Den zeitgenössischen Kulturen schreibt Welsch eine generelle Hybridisierung zu, durch die sich außerdem die »Trennschärfe zwischen Eigenkultur und Fremdkultur« aufgelöst hat und durch die sich im Inneren einer Kultur »ähnlich viele Fremdheiten wie in ihrem Außenverhältnis zu anderen Kulturen«14 finden lassen. Dies hängt auch mit der Mikroebene der Individuen einer Kultur zusammen, auf der eine Vervielfältigung und Differenzierung der kulturellen Einflüsse bei der Bildung individueller Identitäten festzustellen ist. Aus kulturpolitischer Perspektive ist besonders wichtig festzustellen, dass diese individuelle Differenzierung über die Rezeption von Kunst und insbesondere Populärkultur stattfindet. Es ist deshalb notwendig, zwischen »kultureller Identität einerseits und regionaler bzw. nationaler Identität andererseits«15 zu unterscheiden. Die Annahme, »daß die kulturelle Formati-
10 11 12 13 14 15
Ebd. Ebd., S. 323. Ebd. Ebd. Ebd., S. 325. Ebd., S. 328.
8. Transkulturalität
on eines Individuums schlicht durch dessen Heimat oder Nationalität bzw. Staatszugehörigkeit bestimmt sein müsse«16 , ist nicht mehr zeitgemäß. Eine wichtige Ergänzung zum Transkulturalitätskonzept hat Wolfgang Welsch erst in den späteren Texten zur Transkulturalität gemacht. Welsch hat die Transkulturalität in den ersten Texten zum Thema als Entwicklung besonders der letzten Jahrzehnte dargestellt17 und auch in den späteren Texten steht, dass »zeitgenössische«18 Kulturen »nicht mehr«19 der durch das herdersche Kulturkonzept geprägten Vorstellung entsprechen. Auch wenn schon in den frühen Texten auf die Möglichkeit transkultureller Prozesse in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte verwiesen wird, macht Welsch in den späteren Aufsätzen explizit, dass Transkulturalität »[g]eschichtlich […] geradezu die Regel gewesen ist« und widerspricht den »vorgeblich historisch argumentierenden Anhänger[n] der herkömmlichen Kulturvorstellung«, »welche die Transkulturalität von Jahrhunderten übersehen, um statt dessen die erst im 19. Jahrhundert etablierte Fiktion homogener Nationalkulturen für verbindlich zu erklären«20 . Dirk Baecker verwendet den Begriff der Weltgesellschaft, um ähnlich zu argumentieren: »Man spricht heute von ›Globalisierung‹, um darauf hinzuweisen, daß die Weltgesellschaft nicht mehr nach dem Muster der Differenzierung politischer Territorialgesellschaften zu begreifen ist, sondern Wirtschaftskontakte, wissenschaftliche Kontakte, Religionsgemeinschaften, Intimbindungen, künstlerischen Austausch, Organisationsbildung und sogar rechtlich kodifizierte Regulierungen üblich werden läßt, die auf nationale Grenzen aus unterschiedliche[n] Gründen Rücksicht nehmen, aber nicht die eigenen Grenzen mit diesen Grenzen zusammenfallen lassen. Die Gesellschaft kehrt damit zu einem Kommunikationsmodus zurück, der bis zur Ausdifferenzierung der Territorialstaaten (›Nationen‹) im 19. Jahrhundert durchaus üblich war und heute nur deswegen ganz anders ausfällt, weil sich […] die Kommunikationsmöglichkeiten […] erheblich vereinfacht und beschleunigt haben.«21
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Ebd. Wolfgang Welsch: Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen. In: Irmela Schneider & Christian W. Thompson (Hg.): Hybridkultur: Medien, Netze, Künste. Köln 1997, S. 67-90. Welsch 2005, S. 324. Ebd., S. 316. Ebd., S. 329. Baecker 2003, S. 19.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Transkulturalität war eine wesentliche Eigenschaft menschlicher Gemeinschaften seit jeher. In den letzten Jahrzehnten haben lediglich eine Intensivierung und eine Beschleunigung transkultureller Prozesse stattgefunden, welche deshalb auch sichtbarer sind. Betrachtet man verschiedene Epochen der Menschheitsgeschichte, dann wird deutlich, dass Transkulturalität sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene nicht auf unsere heutige Zeit beschränkt ist, sondern zu jeder Zeit ein entscheidender Faktor historischer und individueller Entwicklungen war. Es kam zu umfangreichen Aneignungen und Vermischungen zum Beispiel bei der Ausbreitung der antiken griechischen und römischen Kulturen, bei der Verbreitung der Religionen des Buddhismus, des Islam und des Christentums, bei der europäischen Besiedlung Amerikas, bei der Kolonisierung der Welt durch europäische Staaten und bei der Aufteilung der Welt in Blocks während des Kalten Krieges, um nur einige der vielen möglichen Beispiele zu nennen. Es ist wichtig hier anzumerken, dass Transkulturalität kein genuin positiver, sondern ein wertneutraler Begriff ist, der sich auch auf kulturelle Austauschprozesse mit ungleich verteilter Macht beziehen kann, wie am Beispiel der Kolonisierung deutlich wird. Besonders für die in diesem Text dargestellten Überlegungen zu einer Kulturpolitik, die das Konzept der Transkulturalität akzeptiert, ist dieser Umstand entscheidend, denn es bedeutet, dass im kulturpolitischen Kontext nicht Transkulturalität generell, sondern nur bestimmte Arten von Transkulturalität eine positive Bewertung erfahren sollten. Viele kulturelle Entwicklungen der Geschichte sind unmöglich als einzelstaatliche oder gar als von einer Nationalkultur allein geprägte Entwicklungen zu denken. Die Renaissance, die Aufklärung und die Entstehung des Nationalismus geschahen in einem komplexen Wechselspiel verschiedenster kultureller Einflüsse, zu denen auch die Einflüsse längst untergegangener Kulturen gehören. Es lässt sich im Umkehrschluss kaum eine Kultur denken, die in einer bestimmten Epoche unberührt von äußeren Einflüssen existiert hat und gerade dies würde die betreffende Gemeinschaft daran hindern, sich als Kultur zu begreifen, denn dafür ist die Abgrenzung zu einer anderen Kultur notwendig: »Kultur ist kein autopoietisches System, das in ausschließlicher Selbstbezüglichkeit die eigenen Elemente selbst produziert und in diesem Prozessieren die konstitutive System/Umweltgrenze affirmiert und perpetuiert, sondern ein prozessuales Produkt der Interaktion von Systemen, deren Grenzen
8. Transkulturalität
freilich erst in diesem Austauschvorgang gezogen und beständig revidiert werden.«22 Michel Espagne stellt ebenfalls fest, dass Hybridität eine Eigenschaft jeder Kultur ist. Espagne thematisiert außerdem mehrere Vorwürfe, die den Begriffen Transkulturalität und Hybridität immer wieder gemacht werden, und reagiert auf diese. Erstens beriefen sich beide Begriffe trotz der Betonung der Vermischung auf ehemals reine Kulturen, die der Vermischung vorausgingen. Die Begriffe würden so die Fantasie reiner Ursprungskulturen perpetuieren und nicht dekonstruieren. Zweitens entstünde aus der positiven Konnotation von Kulturvermischungen ein Vermischungsgebot, das Kulturen abwerte, die solche Vermischungen nicht suchen oder sogar explizit verhindern. Drittens behaupteten beide Begriffe, dass es keine dauerhaften Kulturen gäbe, da diese sich ständig durch Vermischungen veränderten: »Wenn afrikanische Stämme in Kontakt zueinander treten und ihre Identität dadurch verändern, darf man nicht vermuten, dass irgendwann ein goldenes Zeitalter der reinen Kulturformen bestanden hat. Die in Kontakt zueinander kommenden Stämme sind an sich schon hybride soziale Einheiten, wie ihre Sprachen das Ergebnis einer andauernden Vermischung sind. Genauso absurd wäre der Verdacht, ein deutsch-französischer Kulturtransfer setze die prinzipielle Homogenität oder Reinheit des Ausgangs- oder Aufnahmekontextes voraus. Andererseits schafft die Tatsache, dass die allseitige Kreolisierung die Regel ist, die Existenz mittelfristig dauerhafter Gestaltungen keineswegs aus der Welt.«23 Besonders für das aus kulturpolitischer Sicht wichtige Feld der Künste sind transkulturelle Prozesse entscheidend. Kein bedeutendes Werk der Literaturgeschichte kommt ohne Einflüsse vorangegangener Werke aus oftmals anderen Epochen und Kulturen zustande. Transkulturalität ist deshalb nicht als kulturelles Defizit zu verstehen, wie es im Nationalismus der Moderne üblich
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Klaus Lösch: Begriff und Phänomen der Transdifferenz: Zur Infragestellung binärer Differenzkonstrukte. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 26-52, hier S. 33. Michel Espagne: Die anthropologische Dimension der Kulturtransferforschung. In: Helga Mitterbauer & Katharina Scherke (Hg.): Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart. Wien 2005, S. 75-94, hier: S. 79.
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ist, sondern als Bereicherung und Triebkraft jeder Kultur, denn »[d]ie wechselseitige Beeinflussung und gegenseitige Durchdringung der verschiedenen Kulturen in einer Gesellschaft gehören zum ›normalen‹ Vorgang der Herausbildung und Weiterentwicklung von Kulturen und Künsten« und »Kulturen sind immer Produkte von Beziehungen und bilden sich im Kontakt und der Auseinandersetzung mit Fremdem und Anderem sowie deren Aufnahme und Verarbeitung aus«24 . Zum herderschen Kulturkonzept gehört auch, dass kulturelle Assimilationsprozesse generell als verwerflich gelten. Linke Identitätspolitik, der dieses Kulturkonzept zugrunde liegt, fordert deshalb oft das Zusammenleben verschiedener Kulturen, von denen sich keine an eine andere anpassen muss. Das Transkulturalitätskonzept hingegen bewertet Assimilation nicht generell als negativ, denn kulturelle Übernahmen und gegenseitige Beeinflussungen sind nichts Anderes als Assimilationsprozesse. Entscheidend ist allerdings, in welchem Kontext die kulturellen Übernahmen geschehen. Während Assimilationszwänge in einer hierarchischen Ordnung von Kulturen zwar prinzipiell transkulturelle Prozesse sind, bezieht sich die von Wolfgang Welsch bemühte positive Neubewertung kultureller Vermischungen auf teilweise Anpassungsvorgänge, die nicht auf Gewaltandrohungen, Ausgrenzungen oder Diskriminierung zurückgehen. Besonders im Kontext liberal-demokratischer Werte wird immer wieder deutlich, dass auch pluralistische Staaten auf bestimmte Assimilationsanreize nicht verzichten können, wenn die liberal-demokratische Grundordnung langfristig aufrechterhalten werden soll. Obwohl Assimilationsprozesse, Beeinflussung und Vermischung im Transkulturalitätskonzept positiv neu bewertet werden, ist auch die Anerkennung der Andersartigkeit nicht ausgeschlossen, sondern modifiziert. Transkulturalität bedeutet nicht Vereinheitlichung aller unterschiedlicher Kulturen zu einer einzigen Kultur. Stattdessen wird das Recht auf Anerkennung in der Andersartigkeit des Multikulturalismus um das Recht auf Anerkennung der uneindeutigen Zugehörigkeit erweitert. Das Multikulturalitätskonzept wird ergänzt, indem festgehalten wird, dass zur kulturellen Diversität auch die Zwischenräume kultureller Vermischungen gehören. Christian Huck kritisiert am Begriff der Transkulturalität, dem daran angelehnten Begriff der Transdifferenzen und am Begriff der Hybridität die suggerierten Anfangs- und Endzustände transkultureller Prozesse. Diese wider24
Bernd Wagner: Fürstenhof und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik. Bonn 2009, S. 66.
8. Transkulturalität
sprechen Huck zufolge den realen transkulturellen Prozessen, die eine Bedingung für die Existenz von Kultur überhaupt seien. Wie in dieser Arbeit im Abschnitt zur Rezeptionsästhetik gezeigt wird, ist schon die individuelle Rezeption von Kunstwerken als kleinster transkultureller Prozess zu verstehen, in dem auf der Mikroebene Fragen der Repräsentation und der Identität verhandelt werden können. Vergegenwärtigt man sich die Komplexität schon einzelner individueller Rezeptionsvorgänge, dann erscheint die von Huck vorgebrachte Kritik sinnvoll, der zufolge Kultur immer als prozesshaft zu denken ist. Einen reinen Urzustand von einzelnen abgrenzbaren Kulturen und einen Endzustand neuer vermischter Kulturen hat es demzufolge nie gegeben. Deshalb ersetzt Huck den Begriff Hybridität durch Hybridisierung und beschreibt diese als einen Prozess »ohne Anfang und ohne Ende, ohne einen reinen Urzustand und ohne einen gemischten Zielzustand, weder eine Aufhebung der Differenz, noch ihre Ontologisierung«25 . Dieser stete Prozess sei außerdem als »niemals präsent, niemals darstellbar, immer anders«26 zu denken. Transkulturalität und Hybridisierung sind diesen Beobachtungen folgend nicht als moderne und besonders in den letzten Jahrzehnten stattfindende Prozesse, sondern als notwendige Bedingung für Kultur zu verstehen. Allerdings erschwert diese Beobachtung die Verständigung über Kultur, da sämtliche damit zusammenhängende Begriffe deutlich komplexer werden, wenn man Kultur als nicht darstellbaren, ständigen Prozess begreift. Huck geht sogar so weit, zu sagen, dass sich Kulturen nicht definieren lassen, und bezieht sich dabei auf den prozesshaften Charakter der Kultur, die aus der ständigen Kommunikation der einzelnen Individuen bestehe. Zwar ist einerseits dem Einwand insoweit zuzustimmen, dass Kultur immer ein Prozess ist, aber dennoch können andererseits auch Traditionen als Teil der kulturellen Sozialisation (Kultur II) durchaus bestimmten Gruppen von Menschen zugeordnet werden. Zwar sind diese Traditionen immer durch Hybridisierung entstanden und ebenfalls ständigen Veränderungen unterworfen, aber diese Beobachtungen dürfen nicht zu der Annahme verleiten, dass es überhaupt keine kulturelle Kontinuität gäbe. Selbst Historiker mit ex-
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Christian Huck: Kultur – Transdifferenz – Gemeinschaft. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 53-67, hier: S. 66. Ebd., S. 66.
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plizit transkulturellem Zugang zur Geschichte betonen deshalb die Existenz von Traditionen und ›heritage‹: »Tradition in this framework is understood as the implicit or explicit constructed memory of a social group which is activated to integrate the members and hold up a certain identity: customs, ideals, laws, language, and common experiences. It is formed and both constantly and consciously shaped and reshaped. Heritage on the contrary is to some extent – besides other elements – accumulated, sedimentary tradition, not explicitly constructed, but not easily changeable either, with unconscious effects.«27 Deshalb kann festgestellt werden, dass sich Kultur immer im Spannungsverhältnis von Bewahren und Erneuern befindet. Einerseits ist Kultur ständiger Hybridisierung unterworfen und es existieren keine festen Grenzen zwischen Kulturen. Andererseits existieren gleichzeitig durchaus Symbolisierungsformen, die ein kulturelles Gedächtnis konstituieren, das an der Konstruktion einer kollektiven Identität beteiligt sein kann. Dieses Spannungsverhältnis kann im Rahmen staatlicher Kulturförderung schnell in eine Schieflage geraten, wie die Autoren von Der Kulturinfarkt feststellen: »Die staatliche Kulturförderung erlaubt ihnen, sich vom Wettbewerb abzukehren. […] Identität bezieht man aus der Vergangenheit, und Kulturbetriebe verwalten fast ausschließlich das Erbe, weil sie alles zu Erbe machen, sobald sie die Hand darauf legen. Solches bedeutet in letzter Konsequenz, dass der institutionelle Kulturbetrieb nur die Vererbung zum Auftrag hat, nicht die Erneuerung.«28 Auch in der Kulturpolitik Kultur als Prozess zu verstehen und die Hybridität jeder Kultur anzuerkennen kann dazu beitragen, dass sich Kulturpolitik nicht auf die Etikettierung von Kultur als unverrückbares Erbe konzentriert, denn eine immer wieder mögliche Gefahr solcher Etikettierung ist, dass das als Erbe bezeichnete durch die Musealisierung erstarrt, zukünftiger Aneignung und Hybridisierung entzogen wird und auf diese Weise an kultureller Bedeutung verliert, anstatt zu gewinnen. Diese Gefahr ist besonders dann gegeben, wenn Aneignungen des kulturellen Erbes in neuen, der Tradition
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Thomas Foerster & Stefan Burkhardt: Introduction. In: Dies. (Hg.): Norman Tradition and Transcultural Heritage. Exchange of Cultures in the ›Norman‹ Peripheries of Medieval Europe. Farnham 2013, S. 1-18, hier: S. 7. Haselbach, Klein, Knüsel, Opitz 2012, S. 64-65.
8. Transkulturalität
teilweise entzogenen Kontexten, tabuisiert werden. Zum Beispiel kann der Wunsch nach Erhaltung der reinen Urform eines traditionellen Tanzes einer Region dem Tanz den Status als selbstverständlicher Bestandteil des kulturellen Lebens in der Region nehmen, wenn nur strikt geregelte und an bestimmte Orte gebundene Darbietungen erlaubt sind. Sind Mischungen des traditionellen Tanzes mit neuen Darbietungsformen nicht tabuisiert, dann kann der Tanz seine Selbstverständlichkeit als Bestandteil des kulturellen Lebens auch späterer Generationen behalten.
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9. Hybridität und Postkolonialismus
Die Begriffe der Hybridität und der Transkulturalität beziehen sich zwar beide auf Phänomene, in denen ethnische und kulturelle Grenzen verschwimmen, aber dennoch sind die Begriffe nicht synonym zu verwenden. Besonders die jeweilige Begriffsgeschichte ist bei der Verwendung der beiden Begriffe mitzudenken. Während der Begriff der Transkulturalität durch das Präfix von den Begriffen der Inter- und Multikulturalität abgegrenzt werden soll, entstammt der Begriff der Hybridität der Biologie und wurde zunächst mit kolonialrassistischen Ideen verknüpft. Im postkolonialen Diskurs wurde der Begriff insbesondere von Homi K. Bhabha angeeignet und antirassistisch neu gedacht. Der zentrale Unterschied des Hybriditätsbegriffs zum Transkulturalitätsbegriff ist die bewusste Neukodierung eines ehemals kolonialrassistisch verwendeten Begriffs. Aus der negativ konnotierten, kolonialrassistischen Verwendung wird im postkolonialen Diskurs ein dezidiert positiv konnotierter Hybriditätsbegriff, dem sogar antikoloniales und antinationalistisches Potenzial zugesprochen wird. Gemeinsam haben der Transkulturalitätsbegriff und der Hybriditätsbegriff, dass sie sich sowohl deskriptiv auf den Zustand der Vermischung von Kulturen und normativ auf den angemessenen Umgang mit dieser Vermischung beziehen und diese neue Betrachtungsweise in den Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher Überlegungen stellen. Zwar entstammt die kulturwissenschaftliche Verwendung des Hybriditätsbegriffs einem postkolonialen Kontext, aber die Beschreibung jeder Kultur als hybrid hat Geltung über diesen Kontext hinaus. Deshalb wurde Andreas Ackermann zufolge »›Hybridität‹ […] zusehends zu einem Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im Kampf gegen essentialisierende Sichtweisen auf Kultur, Nation und Ethnie«, der sich allerdings einer »eindeutigen Verortung« entzieht und als Metapher »Transformation gegen Kontinuität und Mehr- gegen Ein-
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deutigkeit setzt«1 . Ackermann verweist auf die konzeptuellen Unterschiede der Hybriditätsbegriffe verschiedener Autoren, die vom »jeweiligen disziplinären Kontext« geprägt sind: »In der Konsequenz bedeutet dies, dass die kulturwissenschaftlichen Debatten über Hybridität nicht leicht zu überschauen sind, zum einen, weil ethische, politische und epistemologische Perspektiven vermischt werden und zum anderen, weil die Theoriebildung selbst ›hybrid‹ wird und die traditionellen Grenzen zwischen verschiedenen Diskursfeldern und Disziplinen durchbricht.«2 Das einflussreichste kulturwissenschaftliche Hybriditätskonzept hat der postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha entwickelt. Zur positiven Umdeutung des Hybriditätsbegriffes bei Bhabha gehört die Idee eines ›Dritten Raumes‹ (›Third Space‹), in dem die Hybridisierung mehrerer Kulturen in einem hierarchiefreien und von Ambivalenz geprägten Raum des Dazwischen stattfindet, in dem ein Potenzial für Veränderung enthalten ist und in dem Vorstellungen kultureller Homogenität in Frage gestellt werden: »It is only when we understand that all cultural statements and systems are constructed in this contradictory and ambivalent space of enunciation, that we begin to understand why hierarchical claims to the inherent originality or ›purity‹ of cultures are untenable, even before we resort to empirical historical instances that demonstrate their hybridity. Fanon’s vision of revolutionary cultural and political change as a ›fluctuating movement‹ of occult instability could not be articulated as cultural practice without an acknowledgement of this indeterminate space of the subject(s) of enunciation. It is that Third Space, though unrepresentable in itself, which constitutes the discursive conditions of enunciation that ensure that the meaning and symbols of culture have no primordial unity or fixity; that even the same signs can be appropriated, translated, rehistoricized and read anew.«3 Kultureller Aneignung und Übersetzung kommt bei Bhabha eine positive Rolle zu. Darin unterscheidet sich Bhabhas Hybriditätskonzept vom multikulturalistischen Konzept der Diversität, dem der klassische Kulturbegriff nach
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Ackermann 2011, S. 140. Ebd. Bhabha 1994, S. 54-55.
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Herder zugrunde liegt und von dem sich Bhabha distanziert. Das hierarchische Verhältnis zwischen Kolonisierern und Kolonisierten ist in diesem Raum des Hybriden außer Kraft gesetzt und es kommt zu einem Wechselverhältnis kultureller Aneignungen und Vermischungen. Daraus ergeben sich Bhabha zufolge ein produktives Potenzial und die Möglichkeit nationalistische Vorstellungen zu transzendieren: »It is significant that the productive capacities of this Third Space have a colonial or postcolonial provenance. For a willingness to descend into that alien territory – where I have led you – may reveal that the theoretical recognition of the split-space of enunciation may open the way to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity. To that end we should remember that it is the ›inter‹ – the cutting edge of translation and negotiation, the inbetween space – that carries the burden of the meaning of culture. It makes it possible to begin envisaging national, anti-nationalist histories of the ›people‹. And by exploring this Third Space, we may elude the politics of polarity and emerge as the others of our selves.«4 Wie beim Transkulturalitätskonzept von Wolfgang Welsch denkt Bhabha Kultur als operativen Begriff. Stehen statt Homogenitäts-, Reinheits- und Abgrenzungsvorstellungen Vernetzungen, Vermischungen, Aneignungen und Transfers im Mittelpunkt des Kulturbegriffs, dann kann diese Betrachtungsweise politische und gesellschaftliche Veränderungen zur Folge haben. Das Konzept der Hybridität wurde »zunächst auf dem Gebiet der Botanik, dann aber auch in der Genetik in unterschiedlichen Kontexten zur Beschreibung von nicht ›reinrassigen‹ Lebewesen verwendet«5 . Im kolonialen Kontext wurden bereits existierende Klassifizierungen von Menschen nach bestimmten Unterschieden zunehmend biologisiert. Die entstandene Rassenlehre konnte »sich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als etablierte Wissenschaftsdisziplin behaupten« und »als extrem wirkungsmächtiges Ideologieelement im Kolonialismus, Rassismus, Imperialismus und An-
4 5
Ebd., S. 56. Kien Nghi Ha: »Hybride Bastarde«. Identitätskonstruktion in kolonial-rassistischen Wissenschaftskontexten. In: Eva Kimminich (Hg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen. Frankfurt a.M. 2003, S. 107-160, hier: S. 111.
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tisemitismus weitreichenden Einfluss auf den globalen Geschichtsverlauf in der Moderne nehmen«6 . Der besondere Einfluss der Rassenlehre auf die Ideologie des Nationalsozialismus und die konkrete Umsetzung dieser Lehre im Dritten Reich ist allgemein bekannt. Umso erstaunlicher ist es, dass der anthropologische Diskurs in Deutschland bis in die späten 60er Jahre »personell und vielfach auch inhaltlich nahezu bruchlos«7 mit der Rassenlehre fortgesetzt werden konnte. Zwar sind die Ideen der Eugenik und der Rassenlehre nicht länger Bestandteil des wissenschaftlichen Mainstreams, aber die Angst vor der Degeneration durch ›Mischung‹ ist ein nach wie vor wirkmächtiges, in Teilen immer noch ideengeschichtlich gut gestütztes Motiv politischer Diskussionen. So bedienen sich besonders Vertreter neurechter Ideen dieses Motivs und ersetzen dabei oft den Rassebegriff durch Volk, Kultur und Identität, die jeweils vor der Vermischung mit anderen Völkern, Kulturen und Identitäten zu schützen sind. Die Thematisierung der Angst vor der Vermischung scheint in Deutschland allgemeine Aufmerksamkeit zu garantieren, wie beispielsweise Thilo Sarrazins 2010 erschienenes Buch Deutschland schafft sich ab gezeigt hat, in dem Positionen der Eugenik vertreten werden, das trotzdem zu einem der erfolgreichsten Sachbücher der Nachkriegsgeschichte geworden ist und das wochenlang in diversen Medien diskutiert wurde. Die angestrebte eindeutige Trennung zwischen Kolonisierern und Kolonisierten ging während der Kolonialzeit mit einer Furcht vor Menschen mit uneindeutigen Zugehörigkeiten einher. Die teilweise Anpassung deutscher Siedler an Lebensformen und Traditionen der eingeborenen Bevölkerung, die sogenannten Mischehen zwischen Europäern und Eingeborenen und besonders der aus den Mischehen hervorgegangene Nachwuchs wurden »als Bedrohung für die Herrschaftsverhältnisse«8 wahrgenommen. Die Kolonialmächte versuchten deshalb, diese Entwicklungen mit Gesetzen und Strafen zu unterbinden.9 In der postkolonialen Theorie wurde das subversive Potenzial der Hybridität entdeckt und der Begriff positiv umgedeutet. Ohne jegliche empirische Erkenntnis behaupteten rassistische Lehren immer die Minderwertigkeit der Hybriden und die Möglichkeit einer ›Rassenhygiene‹ durch Vermeidung von 6 7 8
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Ebd. Ebd., S. 149. Livia Loosen: »Rassenfrage«, »Mischehen« und die Rolle der Frau. In: Horst Gründer und Hermann Hiery (Hg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick. Berlin 2017, S. 222-238, hier: S. 228. Ebd., S. 229-232.
9. Hybridität und Postkolonialismus
Mischungen. Das subversive Potenzial entfaltet die Hybridität genau deshalb, weil sie die rassistischen Klassifizierungen unterläuft und in ihrer Konstruiertheit entlarvt, indem sie einen uneindeutigen Zwischenraum eröffnet: »Obwohl die klaren Grenzen und eindeutigen Unterscheidungsmöglichkeiten von ›Rassen‹ immer nur imaginiert sein können, erkennt der Rassismus in der Hybridisierung eine Gefahr, die offensichtlich an der Wirksamkeit und Stabilität von Rassenkonstrukten zweifeln lässt und selbst deren körperliche Existenz in Frage stellt.«10 Aus kolonialrassistischer Perspektive wurde ethnische Hybridität als defizitär gedacht und von Biologen in der »biologistisch-kulturalistischen Argumentationslinie als Entartung« beschrieben, »die in Gesellschaft und Kultur ebenso wie in der Biologie der unterstellten ursprünglichen Reinheit schaden«11 würde. Zumindest im wissenschaftlichen Kontext kann diese Denkweise als überwunden angesehen werden und kein ernstzunehmender Wissenschaftler würde mehr mit Argumenten aus der Biologie vor dem Vermischen verschiedener Ethnien warnen, da inzwischen ausreichend bewiesen ist, dass die Vermischung verschiedener Gene keine degenerativen Effekte hat, dass 99,9 % des Genoms bei allen Menschen gleich ist und dass die 0,1 % der Unterschiede nur äußerlich sind.12 In der Biologie hat inzwischen »eine Neubewertung stattgefunden, der zufolge Kreuzung und polygenetisches Erbgut als Bereicherung des Genpools gelten«13 . Die koloniale Perspektive auf Hybridität und die damit einhergehende Beschreibung als defizitär hat sich allerdings von der biologischen Hybridität auf die kulturelle Hybridität verlagert. Kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten und hybride Identitäten gelten oft als Abweichung von der Norm und werden als Problem für Individuum und Gesellschaft gesehen. Statt die Bereicherung des Individuums durch verschiedene kulturelle Traditionen zu betonen, gelten hybride Identitäten oft als heimatlos und von inneren Konflikten geprägt.14 Statt einer ›Sowohl-als-auch‹-Vorstellung dominiert die Vorstellung der hybriden Identität als ›Weder-noch‹ oder als ›Entweder-oder‹. Es zeigt sich an diesen Vorstellungen der Essentialismus
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Ha 2003, S. 147. Ackermann 2011, S. 141. Luigi Cavalli-Sforza: Genes, Peoples, and Languages. New York 2000. Ackermann 2011, S. 141. Vgl. dazu z.B. die Äußerungen des Regisseurs Edgar Reitz im Abschnitt zum Heimatbegriff in dieser Arbeit.
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des klassischen Kulturkonzeptes, das nur singuläre Zugehörigkeiten erlaubt und Mehrfachzugehörigkeiten als defizitären Störfaktor einordnet. Durch diese Tendenz zum »Grenzfetischismus«15 werden hybride Identitäten nicht im Dritten Raum der kulturellen Überschneidung, sondern in einem kulturellen Niemandsland verortet. An diese Problematik setzen Homi K. Bhabhas und Jan Nederveen Pieterses im postkolonialen Diskurs entstandene Hybriditätskonzepte an, die den Hybriditätsbegriff neu denken und dezidiert positiv konnotieren. In diesen Kontext der postkolonialen Aneignung des Hybriditätskonzeptes ist auch Salman Rushdies Roman The Satanic Verses einzuordnen, in dem zwar auch mögliche Probleme hybrider Identitäten verhandelt werden, aber eine positive Besetzung der ambivalenten Hybridität im Sinne Bhabhas stattfindet. Der Roman ist ein Schlüsselwerk der postkolonialen Literatur und erlangte internationale Bekanntheit, weil der iranische Ajatollah Chomeini wegen der Darstellung Mohammeds im Roman in einer Fatwa zum Mord an Rushdie aufrief. Der Text ist ein hervorragendes Beispiel einer literarischen Verarbeitung des postkolonialen Hybriditätskonzeptes. Besonders die autobiographisch geprägte Hauptfigur Saladin Chamcha ist zwar einerseits von der Wurzellosigkeit und dem Mangel einer klaren Zugehörigkeit entweder zur britischen oder zur indischen Gesellschaft geplagt, aber erlangt nur durch diesen Mangel eine Außenperspektive auf beide Gesellschaften, die im Falle einer eindeutigen Zugehörigkeit nur schwer möglich wäre. Saladin Chamcha hat sich mit seinem indischen Vater zerstritten, fühlt sich der indischen Gesellschaft nicht zugehörig16 und hat ein neues, betont britisches, Leben in London aufgebaut. Chamchas Ansichten und Gedanken sind von einer Bildung geprägt, in deren Mittelpunkt europäische Philosophie und Kunst standen. In der problematischen Jugend in Indien ist aus dem weit entfernten Großbritannien ein idealisierter Sehnsuchtsort geworden, der erst im Erwachsenenalter nach desillusionierenden Erfahrungen mit der realen britischen Gesellschaft und der Erkenntnis, dass Chamcha trotz seines britischen Lebensstils, seiner britischen Frau und seines Lebensmittelpunktes in London nie von Briten als Brite angesehen werden wird, in sich zusammenfällt.17 Entscheidend für Chamchas Desillusionierung ist die Erfahrung,
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Jan Nederveen Pieterse: Hybridität, na und? In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 396-430, hier: S. 399. Salman Rushdie: The Satanic Verses. New York 1989 [1988], S. 35. Ebd., S. 397-401.
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dass die Definitionsmacht über seine Identität nicht in seinen eigenen Händen, sondern in den Händen der britischen Mehrheitsgesellschaft liegt. Im Stil des magischen Realismus wirkt sich die Definitionsmacht der britischen Gesellschaft in The Satanic Verses direkt auf Saladin Chamchas Körper aus, der sich in ein Abbild des Teufels verwandelt. Die Polizisten, die Chamcha fälschlicherweise für einen illegalen Einwanderer und Verbrecher halten, machen aus dem Menschen, der sich selbst als britisch beschreibt, eine Teufelskreatur.18 Danach kommt Chamcha in ein Krankenhaus, in dem diverse Einwanderer und Briten mit Migrationshintergrund gepflegt werden, die sich in verschiedene Tiere und Monstren verwandelt haben. Ein Mantikor – bezeichnenderweise ein mythisches Mischwesen – erklärt Chamcha, was mit ihnen geschieht: »They describe us […]. That’s all. They have the power of description, and we succumb to the pictures they construct.«19 Das Gefühl, fremddefiniert zu sein, sieht auch Werner Schiffauer in seiner Untersuchung des Begriffs der Parallelgesellschaften als entscheidende Hürde für ein Zugehörigkeitsgefühl bei Deutschen mit Migrationshintergrund, selbst nach mehreren Generationen.20 Im Postkolonialismus und unter anderem über das Konzept der Hybridität soll dieses Ungleichgewicht der Fremdzuschreibungen offengelegt und verändert werden. Dafür stehen insbesondere die Texte Salman Rushdies, die in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht den ehemaligen Kolonisierten eine Stimme geben. Der desillusionierte Saladin Chamcha stößt beim Zappen durch das britische Fernsehen auf einen Bericht über eine hybride Baumart und hat erstmals die Idee, dass Hybridität nicht unbedingt etwas Negatives ist. Das aus der Biologie auf Kultur übertragene Konzept der Hybridität erfährt hier eine – zunächst zaghafte – positive Bedeutung: »There it palpably was, a chimera with roots, firmly planted in and growing vigorously out of a piece of English earth […]. If such a tree were possible, then so was he; he, too, could cohere, send down roots, survive. Amid all the televisual images of hybrid tragedies – the uselessness of mermen, the failures of plastic surgery, the Esperanto-like vacuity of much modern art, the Coca-Colonization of the planet – he was given this one gift.«21 18 19 20 21
Ebd., S. 157ff. Ebd., S. 168. Werner Schiffauer: Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld 2008, S. 97. Rushdie 1989, S. 406.
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Saladin Chamcha ist der von Zygmunt Bauman beschriebene ›Fremde‹ (›stranger‹), der durch seine Mehrfachzugehörigkeit und gleichzeitige Nichtzugehörigkeit sowohl in Indien als auch in Großbritannien weder ein Freund noch ein Feind der anderen Gesellschaftsmitglieder ist. Für seine Bekannten und Verwandten in Indien ist Chamcha ein korrumpierter Inder und in seiner übertriebenen Betonung alles Britischen offenbart sich für geborene Briten die erzwungene und eben nicht natürliche und selbstverständliche Zugehörigkeit zur britischen Gesellschaft. Um britisch zu werden, sucht Chamcha vor allem eine britische Partnerin, die ihn verlässt, als sie feststellt, dass er nicht sie, sondern ihr Englischsein liebt.22 Und doch ist Saladin Chamchas Biographie mit beiden Gesellschaften untrennbar verbunden. Aus dieser ambivalenten sozialen Position entsteht die Möglichkeit einer objektiveren Perspektive auf beide Gesellschaften.23 Auf dieser Perspektive gründet sich die positive Neubewertung der Hybridität bei Bhabha, bei Bauman und in Rushdies Roman. Chamcha steht auch für die Unmöglichkeit vollständig gelingender Assimilation. Seine bewusste Entscheidung, alles Indische hinter sich zu lassen und stattdessen alles Britische zu zelebrieren, führt lediglich dazu, dass Chamcha in seinem Zuhause und in seinen Gedanken britisch wird. Sie führt aber nicht dazu, dass er von weißen Briten als Brite wahrgenommen wird. Rushdies Roman bestätigt Baumans Beschreibung der Assimilationsversuche von Juden im deutschsprachigen Europa der Moderne, in dem die ›assimilierten Juden‹ die Verbindung zu ihrer religiös-kulturellen Tradition aufgaben, um ihre Vorstellung vom Deutschsein zu leben, und denen trotzdem vom Rest der Gesellschaft die Mitgliedschaft verweigert wurde: »The traditional, pre-modern Jewish segregation took on, therefore, a new and subtler form: that of estrangement. Territorial and functional separation was replaced […] by social isolation and spiritual loneliness. Acculturation did not incorporate the Jews into German society, but transformed them into a separate, ambivalent and incongruous, non-category category of ›assimilated Jews‹, […]. In the no-win game of assimilation, the German-educated Jews found themselves transferred from closely-knit territorial ghetto to the ghetto of social incongruity and cultural ambivalence.«24
22 23 24
Ebd., S. 180. Vgl. Bauman 1991, S. 82. Ebd., S. 120-121.
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Aus dem ambivalenten Raum der Hybridität, in den die assimilierten Juden verbannt waren, entstand allerdings eine neue Perspektive auf die Gesellschaft, aus der einige der wichtigsten intellektuellen deutschsprachigen Beiträge der Moderne hervorgegangen sind. Franz Kafka, Karl Marx, Sigmund Freud, Ludwig Wittgenstein und Walter Benjamin sind dafür die bekanntesten Beispiele, die die Ideengeschichte der Moderne entscheidend geprägt haben.25 Die Ambivalenz der europäischen Juden führte dazu, dass sie Opfer der ambivalenzvernichtenden Eindeutigkeitsmaschine des modernen Fortschritts wurden, die ihre radikalste Form im totalitären Staat der Nazis fand. Aus der Forderung nach Eindeutigkeit durch kulturelle Assimilierung wurde die Forderung nach der Vernichtung der Juden selbst. Der ambivalente Status des Fremden als gleichzeitig zugehörig und nicht zugehörig entzieht sich dem modernen Streben eindeutiger Kategorisierungen und aus der objektiveren Perspektive heraus werden Aspekte beider Gesellschaften in Frage gestellt. Das hybride Individuum hat die Möglichkeit, nach eigenen Präferenzen aus beiden Gesellschaften bestimmte Aspekte zu befürworten und andere abzulehnen. Aus diesen beiden Gründen wird Hybridität von modernen Gesellschaften meist als Defizit und als Gefahr gedacht und dargestellt. Aus der Bewertung als Defizit und als Gefahr kann ein aggressiver Umgang mit den hybriden Individuen entstehen, der auch psychische und physische Gewalt beinhalten kann. Dass bestimmte Teile moderner Gesellschaften Hybridität als Defizit denken, wird wohl nicht zu verhindern sein, aber eine Aufwertung der Hybridität erscheint gerade in der Sphäre der Kultur möglich und notwendig. Kultur, verstanden als Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst, entfaltet ihr Potenzial gerade im ambivalenten Raum der Hybridität. Jan Nederveen Pieterse unterscheidet zwischen der empirischen, der theoretischen und der normativen Ebene des Umgangs mit kultureller Hybridität.26 Erstens ist es empirisch offensichtlich, dass Hybridisierung alltäglich und allgegenwärtig ist und deshalb kann nur gefragt werden, wie und nicht ob mit kultureller Hybridität umgegangen werden soll. Zweitens ist Hybridität ein geeignetes theoretisches Werkzeug zur Analyse kultureller Prozesse und drittens ist auf normativer Ebene »eine Kritik der Grenzen und Aufwertung von Mischungen«27 hilfreich, um der gesellschaftlichen Realität hybrider Identi-
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Vgl. ebd., S. 108. Nederveen Pieterse 2005, S. 424-425. Ebd., S. 425.
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täten gerecht zu werden. Das Infragestellen von Grenzen und die Aufwertung und Erprobung von Mischungen sind Vorgänge, die die moderne Kultur ausmachen und die nicht erst kulturpolitisch neu erfunden werden müssen. Es bedürfte nur einer bewussten kulturpolitischen Nutzbarmachung dieser Qualität der Kultur. Der spezifische, postkoloniale Kontext des Hybriditätsbegriffes erhält im deutschsprachigen Raum weniger Aufmerksamkeit als im englisch- und französischsprachigen Raum. Auch Deutschland war eine Kolonialmacht, die in Afrika, Ozeanien und China erobernd, ausbeutend und mordend aktiv war. Zwar sind die Zeiträume zum Beispiel der französischen oder der britischen Kolonialherrschaft größer als die der deutschen, aber daraus lässt sich nicht ableiten, dass eine Erinnerungskultur auch der deutschen Verbrechen unnötig wäre. Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) stellt in Politik und Kultur fest, dass »[i]n der offiziellen Erinnerungskultur der Bundesrepublik […] die deutsche Kolonialherrschaft, die damit verbundenen Verbrechen und der anti-koloniale Widerstand bisher kaum berücksichtigt«28 wurden. Dazu trägt sicherlich auch die alles überschattende Notwendigkeit des Erinnerns an die Shoah bei, denn neben den Genoziden der NS-Zeit wirkt »der erste Völkermord im 20. Jahrhundert im heutigen Namibia«29 weniger schrecklich. Ein derartiges Ranking der deutschen Genozide, demzufolge nur die schlimmsten erinnert werden müssen, dürfte bei den Herero und Nama allerdings auf wenig Verständnis stoßen. Norbert Lammert hat 2015 in der Zeit als erster hochrangiger deutscher Politiker von einem »Völkermord an den Herero und Nama«30 gesprochen und damit öffentliche Aufmerksamkeit für diesen Teil der deutschen Geschichte erzeugt. Bei diesem Verbrechen »sollen bis zu 80 Prozent der vielleicht an die 80 000 Herero und 50 Prozent der etwa 20 000 Nama der deutschen Kriegführung und Internierungspolitik zum Opfer gefallen sein«31 . Obwohl Uwe Timm schon 1978 mit seinem vielschichtigen postkolonialen Roman Morenga einen möglichen Anstoß lieferte, ließ die öffentliche Auseinandersetzung lange auf sich warten. 28 29 30
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Kirsten Kappert-Gonther: Dornröschenschlaf beendet. Die aktuelle KolonialismusAufarbeitung in Deutschland. In: Politik und Kultur 3/19, S. 4. Ebd. Norbert Lammert: Deutsche ohne Gnade. In: Zeit Online vom 9.7.2015. URL: https:// www.zeit.de/2015/28/voelkermord-armenier-herero-nama-norbert-lammert (Datum des Zugriffs: 31.5.2019). Winfried Speitkamp: Die deutschen Kolonien in Afrika. In: Gründer und Hiery 2017, S. 65-88, hier: S. 86.
9. Hybridität und Postkolonialismus
Bei der gewaltsamen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes im damaligen Deutsch-Ostafrika, zu der auch die bewusste Herbeiführung von Hungersnöten durch »eine Politik der verbrannten Erde« gehörte, kamen »bis zu 300 000 Afrikaner ums Leben« und starben »15 Deutsche«32 . Während dieser Völkermord im heutigen Tansania einen wesentlichen Bestandteil der Geschichtserinnerung ausmacht, dem mit mehreren Mahnmalen in verschiedenen Städten gedacht wird,33 ist er in Deutschland kaum jemandem bekannt und wird nicht öffentlich erinnert. Im Ethnologischen Museum in Berlin beschäftigen sich zwei Forschungsprojekte, die sich aus tansanischen und deutschen Forschern zusammensetzen, mit Objekten, die als Kriegsbeute aus dem Maji-Maji-Krieg nach Deutschland gelangten.34 Diese Forschungsprojekte bieten einen möglichen Ansatzpunkt für weitere kulturpolitische Projekte, die in Zusammenarbeit mit Menschen aus Tansania zu einem angemesseneren Erinnern auch in Deutschland beitragen können. Als letzter der »drei große[n] Kolonialkriege«35 Deutschlands ist noch die deutsche Beteiligung an der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China in den Jahren 1900 und 1901 zu nennen, die in Deutschland vermutlich noch weniger bekannt ist und noch weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhält, obwohl »[d]ie von den 12 000 deutschen Marinesoldaten verübten Massaker« sogar zur Zeit des Krieges »im Reichstag im Rahmen der allgemeinen Kritik am Imperialismus und seinen Kolonialkriegen zur Sprache gebracht«36 wurden. Die deutsche Kolonie in China, das damals sogenannte Deutsche Pachtgebiet Kiautschou auf dem Gebiet des heutigen Qingdao, und ihre Geschichte erfahren trotz der intensiven wirtschaftlichen Vernetzungen zwischen Deutschland und China in Deutschland nur geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Postkoloniale Studien, Erinnerung der kolonialen Verbrechen und hierarchiefreie, transkulturelle Vernetzungen mit den heutigen Staaten der ehe-
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Ebd., S. 87. Joachim Zeller: Das schwierige Erinnern an die koloniale Vergangenheit. In: Gründer und Hiery 2017, S. 297-315, hier: S. 314. Karolin Korthase: Geteilte Objekte – gemeinsame Geschichte: Der Umgang mit Kriegsbeute aus Tansania. In: Museum and the City. Blog der staatlichen Museen zu Berlin. URL: http://blog.smb.museum/geteilte-objekte-gemeinsame-geschichte-derumgang-mit-kriegsbeute-aus-tansania/ (Datum des Zugriffs: 31.5.2019). Jakob Zollmann: Militär, Kriege und Gewalt. In: Gründer und Hiery 2017, S. 239-258, hier: S. 253. Ebd., S. 254.
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maligen Kolonien sind kulturpolitische Ziele, die auch für die Bundesrepublik Deutschland wichtig sind und nicht nur Spanien, Portugal, Frankreich, Großbritannien und die Niederlande betreffen. Dass es in Deutschland in diesem Bereich noch Nachholbedarf gibt, zeigen zum Beispiel die völlig kenntnislosen Äußerungen des Afrika-Beauftragten der Bundeskanzlerin zum europäischen Kolonialismus in Afrika: »Es gibt schon Nachwirkungen. Schlimm waren die Sklaventransporte nach Nordamerika. Auf der anderen Seite hat die Kolonialzeit dazu beigetragen, den Kontinent aus archaischen Strukturen zu lösen.«37 Die eurozentrische Vorstellung der zivilisierenden Wirkung des europäischen Kolonialismus lebt offenbar fort, und das ausgerechnet in den Gedanken des Afrika-Beauftragten der Kanzlerin. In dem von Emmanuel Macron beauftragten Bericht der Kunsthistorikern Bénédicte Savoy und des Wirtschaftswissenschaftlers Felwine Sarr mit dem Titel Die Restitution des afrikanischen Kulturerbes fordern die beiden Autoren, dass Frankreich sämtliche koloniale Raubkunst an die Herkunftsstaaten zurückgibt.38 Dieser Bericht hat auch in Deutschland Aufmerksamkeit für die Möglichkeit der Restitution kolonialer Raubkunst generiert. Die aktuelle kulturpolitische Kolonialismus-Debatte konzentriert sich in Deutschland auf die bevorstehende Eröffnung des Humboldt Forums in Berlin. Laut Cécile Bründlmayer, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kuratorin an der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss, kann »[a]uch bei Objekten im Humboldt Forum […] ein ethisch problematischer Erwerbskontext nicht ausgeschlossen werden«39 . Jürgen Zimmerer kritisiert, dass das Humboldt Forum im Berliner Schloss »in die Tradition der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts« gestellt werde und so nicht nur an »die kulturellen Leistungen Preußens und des Deutschen Kaiserreiches« angeknüpft werde, sondern »zugleich ein Maß an Geschichtsvergessenheit und eurozentrischer Selbstgewissheit zum Aus-
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Ulrike Ruppel: Afrikabeauftragter Günter Nooke: »Wir haben lange Zeit zu viel im Hilfsmodus gedacht«. (Interview). In: B. Z. vom 7.10.2018. URL: https://www.bzberlin.de/deutschland/afrikabeauftragter-guenter-nooke-der-kalte-krieg-hat-afrikamehr-geschadet-als-die-kolonialzeit (Datum des Zugriffs: 1.4.2019). Felwine Sarr & Bénédicte Savoy: The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics. Translated by Drew S. Burk. URL: http://restitutionreport2018. com/sarr_savoy_en.pdf (Datum des Zugriffs: 10.4.2019). Cécile Bründlmayer: Wie das Humboldt Forum mit seinem kolonialen Erbe umgeht. In: Humboldt Forum 4/19, S. 18.
9. Hybridität und Postkolonialismus
druck« komme, »das seinesgleichen sucht«40 . Zimmerer, Professor für Globalgeschichte mit dem Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und Leiter der Forschungsstelle ›Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung‹, weist darauf hin, dass »auch Schädelsammler und Rassenforscher […] neugierig« waren und die »ethnologischen Sammlungen« auch in diesem Zusammenhang zu sehen sind: »Die völkerkundlichen Sammlungen des 19. Jahrhunderts dienten nicht nur dem Erkenntnisgewinn, sondern immer auch der Einübung bestimmter Sichtweisen auf die ›Anderen‹, wobei deren Fremdheit oftmals als unterlegen, ›wild‹ oder ›primitiv‹ konstruiert wurde. Gerade der Hinweis auf die eigene Wissenschaftlichkeit und Rationalität wurde dagegen zu einem zentralen Kriterium europäischer Überlegenheitsvorstellungen, diente der Stabilisierung des ›weißen‹ Selbstwertgefühls und letztendlich auch der Rechtfertigung der kolonialen Unterwerfung und Ausbeutung der Welt. Die Blüte völkerkundlicher Sammlungen fiel nicht zufällig in die Phase des Hochimperialismus, als weite Teile Afrikas, Asiens und Ozeaniens unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt waren.«41 Darüber hinaus erkennt Zimmerer in den Äußerungen von Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, »eine Sichtweise […], die Europa nach wie vor als unhinterfragten Mittelpunkt der Welt begreift, von dem aus der Globus vermessen wird«, die unter anderem daran zu erkennen sei, dass Alexander von Humboldt als »Entdecker« Südamerikas gefeiert werde und das Forum trotz dessen »Verstrickungen in das koloniale Projekt Europas«42 als Namenspatron genutzt werde. Zimmerer unterstellt »den Machern der heutigen deutschen Kulturpolitik« allerdings keine »koloniale Weltsicht«, sondern »mangelnde Sensibilität« und das Fehlen des notwendigen »Wissen[s] um die Geschichte der ethnologischen Sammlungen und völkerkundlicher Forschung im Kontext des Kolonialismus«43 . Besonders schwer wiegt laut Zimmerer, dass zu den Sammlungsobjekten »menschliche[…] Überreste[…]« gehören, die »während des ersten deutschen Genozids im heutigen
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Jürgen Zimmerer: Humboldt Forum: Das koloniale Vergessen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/15, S. 13-16, hier: S. 14. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd.
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Namibia zu rassenanthropologischen Untersuchungen auch nach Berlin verbracht wurden«44 , und dieser Zusammenhang erst durch öffentlichen Druck überhaupt diskutiert wird. Auch die Untersuchung aller Objekte auf deren möglichen kolonialen Ursprung geschah erst durch öffentlichen Druck. Zimmerer hat deshalb 2015 den Eindruck, dass »das Humboldt Forum als Aushängeschild Berliner und deutscher Kulturpolitik an der Zivilgesellschaft vorbei installiert werden« sollte und bezeichnet »die bisherige Geschichte des Humboldt Forums« als »Kommunikationsdesaster«45 . An diesem Kommunikationsdesaster hat sich – auch dank Jürgen Zimmerer – seit 2015 einiges getan, was auf einen angemesseneren Umgang mit dem kolonialen Erbe hoffen lässt. Eine innergesellschaftliche Kommunikation findet inzwischen statt, aber von transkultureller Kommunikation kann bisher nur vorsichtig die Rede sein. Jürgen Zimmerer hält die bisher geplanten Maßnahmen zur kolonialen Kontextualisierung für »defensive[…] Minimalmaßnahmen« und schlägt vor, »[d]as Forum als Ganzes oder einen substanziellen Teil in ›Benin-Forum‹ umzubenennen«, denn »[n]ur ein deutlicher symbolischer Akt kann den Willen zur Dekolonisierung zeigen und die Rolle des Humboldt Forums als Agora für das 21. Jahrhundert retten«46 . Die Überlegungen von Cécile Bründlmayer im Magazin des Humboldt Forums offenbaren das Potenzial, dass die tragische Geschichte der Objekte aus kolonialem Kontext heute durch eine positivere, transkulturelle Zusammenarbeit in einen neuen Kontext gerückt werden kann, der die Erinnerung an den alten Kontext nicht verdrängt: »Die von den Objekten im Laufe der Geschichte zurückgelegten Wege und dahinterliegenden Transaktionsprozesse schaffen Verbindungslinien zwischen Europa und der Welt, die durch Zusammenarbeit fruchtbar gemacht werden können. Im Zuge umfangreicher Kooperationsprojekte können unterschiedliche Sichtweisen auf die Objekte herausgearbeitet und einander gegenübergestellt werden.«47 Durch derartige internationale Kooperationsprojekte kann die Erinnerung an die koloniale Vergangenheit neben aktuelle transkulturelle Vernetzungen gestellt werden und so auf eine bessere Zukunft verweisen.
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Ebd. Ebd., S. 16. Jürgen Zimmerer: »Benin-Forum«. Die Zeit der defensiven Minimalmaßnahmen ist vorbei. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 6. Bründlmayer 2019.
9. Hybridität und Postkolonialismus
Kappert-Gonther plädiert angesichts des postkolonialen Nachholbedarfs in Deutschland »für eine zentrale und sichtbare Stätte des Erinnerns und Lernens – unabhängig vom Humboldt-Forum – in Berlin, dem politischen Zentrum des deutschen Kolonialismus und dem Ort der berüchtigten Berliner Afrika-Konferenz von 1884 bis 1885«48 . Laut Kappert-Gonther kann nur »[i]n einer offenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus […] die oft formelhafte Rede vom transkulturellen Dialog endlich mit Leben gefüllt werden«49 . Homi K. Bhabhas Konzept der Hybridität kann für diesen Dialog entscheidende Impulse liefern, denn es geht darum, Dritte Räume zu schaffen, in denen Hierarchien außer Kraft gesetzt sind. Dafür kann man auf Menschen setzen, die sich mit einer hybriden Identität schon biographisch jenseits der gesellschaftlichen Eindeutigkeiten von nationaler und ethnischer Zugehörigkeit bewegen. Eine derartige, zentrale Stätte des Erinnerns und Lernens gibt es in Deutschland nicht. Nach Verbrechern der Kolonialzeit benannte Straßen und zu deren Ehren erbaute Denkmäler gibt es hingegen viele. Der transkulturelle Dialog könnte hier ansetzen und einen angemessenen Umgang, zum Beispiel in Form einer Kontextualisierung oder Bearbeitung der Denkmäler, erarbeiten. Der namibische Botschafter in Deutschland Andreas Guibeb fordert ebenfalls die Rückgabe zumindest der wichtigen geraubten Objekte, aber weist auf das Problem hin, dass afrikanische Staaten oft nicht über geeignete Ausstellungsmöglichkeiten verfügen. Guibeb formuliert deshalb diese Bitte: »Bitte gebt uns die wichtigsten Objekte zurück – und helft uns dabei, Museen und Einrichtungen in unseren Ländern aufzubauen, wo wir sie angemessen aufbewahren und zeigen können.«50 Die Objekte in Europa zu lassen und lediglich für Transparenz zu sorgen, lehnt Guibeb ab, weil die meisten Afrikaner aufgrund der Einreisebestimmungen dann niemals die Möglichkeit haben werden, die Objekte in Ausstellungen zu sehen. Besonders wichtig ist Guibeb für einen Dialog auf Augenhöhe, dass Deutschland zunächst wenigstens den Genozid an den Herero und Nama offiziell anerkennt. Wie schwierig eventuelle Rückgabeverhandlungen sein können, zeigt sich schon daran, dass die Vertreter der Herero und Nama sich vom namibischen Botschafter, der nicht diesen Ethnien angehört, distanzieren.51 48 49 50 51
Kappert-Gonther 2019. Ebd. Hans Jessen: Namibia wartet. Die deutsche Anerkennung des Völkermords muss offiziell werden. [Gespräch mit Andreas Guibeb]. In: Politik und Kultur 5/19, S. 4. Sima Luipert: Nicht über uns ohne uns. In: Politik und Kultur 6/19, S. 27.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Zumindest wird seit einigen Jahren endlich der kulturpolitische Umgang mit kolonialen Sammlungsgegenständen diskutiert. Zur Diskussion steht, ob und welche Gegenstände, die aus Kolonien nach Deutschland gebracht wurden, zurückgegeben werden sollen. Außer der AFD, deren kulturpolitischer Sprecher Marc Jongen eine Hypermoral am Werk sieht und seine Partei als »Anwalt der heimischen Museen«52 bezeichnet, sind sich alle Parteien im Bundestag einig, dass bestimmte Objekte – insbesondere geraubte menschliche Überreste – zurückgegeben werden müssen.53 Der Deutsche Kulturrat bestätigt dies und »sieht alle Kultur- und Wissenschaftseinrichtungen, unabhängig von ihrer Trägerschaft, in der Verantwortung, ihre Objekte auf koloniale Kontexte zu prüfen«54 . In der Stellungnahme des Deutschen Kulturrates wird außerdem dazu aufgerufen, konkretere Kriterien zu erarbeiten, die die Rückgabe bestimmter Objekte ermöglichen sollen. Zum allgemeinen Umgang mit der Kolonialzeit fordert der Deutsche Kulturrat »eine grundlegende Erweiterung und Veränderung des westlich zentrierten Blicks« und bezeichnet es als Aufgabe »für Kultur, Kunst und Bildung […], mit dem kulturellen Erbe Kolonialismus umzugehen«55 . Der Umgang mit diesem Erbe ist nicht durch Forderungen nach einem transkulturellen Dialog getan, sondern es erfordert finanziellen und politischen Aufwand, um zunächst einmal festzustellen, welche Sammlungsobjekte aus dem kolonialen Kontext stammen, und wie weiter mit ihnen verfahren werden kann. Der transkulturelle Dialog kann auch an dieser Stelle ansetzen und einen angemessenen Umgang mit den jeweiligen Objekten erarbeiten, denn oft ist es nicht leicht, zu entscheiden, ob und an wen Objekte zurückzugeben wären. Rückgaben könnten an »Staaten, an einzelne Volksgruppen, an ehemalige Herrscherfamilien oder auch an Religionsgemeinschaften oder Privatpersonen«56 erfolgen. Wichtig ist allerdings, dass der kulturpolitische Umgang mit dem kolonialen Erbe Europas nicht auf die Rückgabe bestimmter Gegenstände beschränkt bleibt. Wiebke Ahrndt vom Deutschen Museums-
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Marc Jongen: Anwalt der heimischen Museen. Museumsbestände werden instrumentalisiert. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 4. Gabriele Schulz: Eine Debatte hat begonnen. Bericht zur Bundestagsdebatte zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. In: Politik und Kultur 3/19, S. 4-5. Deutscher Kulturrat: Vorschläge zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates. In: Politik und Kultur 3/19, S. 5. Ebd. Hartmut Ebbing: Ethikkommission ist erforderlich. Regeln für fairen und gerechten Umgang erarbeiten. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 4.
9. Hybridität und Postkolonialismus
bund stellt fest, dass die Herkunftsgesellschaften »gemeinsame Forschungsund Ausstellungsprojekte sowie Transparenz über den Sammlungsbestand«57 erwarten. Laut Felwine Sarr geht es bei der Restitution kolonialer Raubkunst »nicht um Schuld und Wiedergutmachung«58 , sondern um eine Reflektion der Geschichte und einen angemessenen Bezug auf geschichtliche Ereignisse heute. Dieser angemessene Bezug kann nicht durch einen Alleingang der ehemaligen Kolonialmächte, sondern muss in Zusammenarbeit mit allen betroffenen Staaten entstehen. Der Deutsche Museumsbund hat in diesem Sinne einen Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten veröffentlicht.59 Auch der Museumsbund betont, dass es »keineswegs immer nur um Rückgabe, sondern meist um Beteiligung, Einbindung, Aushandlungsprozesse, Deutungshoheit und um Wissenstransfer« geht und dieses Thema nicht nur die ethnologischen, sondern auch viele andere Sammlungen betrifft, denn »[e]ine Vielzahl musealer Sammlungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern ist zwischen dem 17. und dem frühen 20. Jahrhundert entstanden – ein Zeitraum, der stark von der europäischen Expansion geprägt war«60 . Der Museumsbund konzentriert seine Handlungsanweisungen dabei auf drei wichtige Aufgabenbereiche und fordert für deren Bewältigung erhöhte Budgets für die Museen in Deutschland. Museen sollen sich dem Museumsbund zufolge stärker um eine umfassende Provenienzforschung bemühen, durch Digitalisierung und eine zentrale Abfragbarkeit der Bestände für Transparenz sorgen und Kooperationsprojekte mit den Herkunftsgesellschaften einleiten.61 Der Umgang mit Hybridität und Transkulturalität ist nicht auf Museen mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten beschränkt, sondern betrifft allgemein Museen mit archäologischen, ethnologischen und sogar mit Sammlungen, die einen regionalen Fokus haben. Siegfried Müller beschreibt das Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg als einen »Teil regionaler Identität« und weist darauf hin, dass das Museum offiziell der
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58 59 60 61
Wiebke Ahrndt: Nicht-europäische Perspektiven fördern. Deutscher Museumsbund sensibilisiert für den Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 7. René Aguigah & Jenny Friedrich-Freksa: »Es geht nicht um Schuld und Wiedergutmachung«. [Gespräch mit Bénédicte Savoy und Felwine Sarr]. In: Kulturaustausch 2/19. Deutscher Museumsbund e.V. (Hg.): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten. 2. Fassung 2019. Berlin 2019. Ebd., S. 10. Ebd., S. 7-8.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
»Pflege und Fortentwicklung der oldenburgischen Kultur«62 dient.Den Besuchern, die das typisch Oldenburgische betrachten möchten, präsentiert sich allerdings ein differenzierteres und hybrideres Bild: »Den Oldenburger, der in selbstgestrickten Socken in einer oldenburgischen Tracht und mit Holzschuhen durch die Stube läuft, wird er nämlich vergeblich suchen. Dagegen wird er den reichen Bürger und Bauern des 16. Jahrhunderts in spanischer Tracht finden. […] Dort wird dem Besucher vermittelt, wie wenige der Waren schon damals tatsächlich aus Oldenburg kamen. So findet er englische Taschenuhren ebenso wie Buffons Histoire naturelle, böhmisches Glas und Chinaporzellan.« Damit ist das Beispiel des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg in der Auswahl der Gegenstände differenzierter ausgerichtet als es zum Beispiel das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg um 1860 war, in dem durch Selektion eine nationale Identität konstruiert wurde, die keine solch differenzierte Darstellung zuließ.63 Das Museum in Oldenburg zeichnet auch Konfliktlinien religiöser Identität zur Zeit der Reformation nach, zeigt Beispiele verschiedener berufsständischer Identitäten und erlaubt die Beschäftigung der Besucher mit Konstruktionen von Feindbildern und des kulturell Anderen in Kriegszeiten.64 Das Museum trägt auf diese Weise zu einer Differenzierung von Identitätskonstruktionen bei. Das Pergamonmuseum ist »[m]it jährlich mehr als einer Million Besuchern […] eines der bestbesuchten Museen Berlins«65 . Ausgestellt sind in der Antikensammlung, dem Vorderasiatischen Museum und dem Museum für Islamische Kunst Objekte verschiedener Kulturen und Zeitalter, deren Alltagsund Lebenswelt sich jeweils von der heutigen deutschen stark unterscheidet. Gerade aus dieser Differenzerfahrung ergibt sich das rezeptionsästhetische Potenzial des Pergamonmuseums, das sich bei genauerem Blick als ein Ort diachroner und synchroner Transkulturalität erweist.
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Siegfried Müller: Kollektive Identität im historischen Museum: Das Beispiel des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte Oldenburg. In: Hans-Joachim Gehrke (Hg.): Geschichtsbilder und Gründungsmythen. Würzburg 2001, S. 439-444, hier: S. 440. Vgl. Müller 2001, S. 439. Ebd., S. 441-442. Masterplan Museumsinsel. Projektion Zukunft. Pergamonmuseum. URL: https://www. museumsinsel-berlin.de/gebaeude/pergamonmuseum (Datum des Zugriffs: 1.3.2019).
9. Hybridität und Postkolonialismus
Das Wikinger-Museum Haithabu in Schleswig-Holstein ermöglicht seinen Besuchern ähnliche transkulturelle Erfahrungen mit dem kulturellen Erbe der Region. Die Vorstellung einer ethnisch-kulturellen Kontinuität von den Germanen bis zu den heutigen Deutschen wird bei einem Besuch im Haithabu-Museum nicht bestätigt, sondern auch hier kommt der Besucher zu einer differenzierteren Vorstellung von verschiedenen germanischen Stämmen und deren Verbindung zum heutigen Deutschland. Auch im WikingerMuseum Haithabu werden Handelsnetzwerke dargestellt, durch die Objekte und Ideen aus fernen Weltteilen ihren Weg nach Haithabu gefunden haben. Der Begriff des kulturellen Erbes wird auf verschiedene Weise verwendet, aber alle Verwendungen haben gemeinsam, dass es um »eine Form der Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart«66 geht. Als wichtigstes kulturpolitisches Organ im Kontext des kulturellen Erbes setzt sich die UNESCO weltweit für die Bewahrung ausgewählter materieller und immaterieller Kulturobjekte ein. Csáky und Sommer stellen fest, dass in den letzten Jahrzehnten Globalisierungs- und Individualisierungstendenzen zu einer wahrgenommenen Unsicherheit geführt haben, auf die unter anderem »mit einem erneuten, bewussten Rekurs auf das vermeintlich Eigene und lokal Spezifische reagiert werden kann«67 . Wird etwas zum Kulturerbe erklärt, dann gewinnt der jeweilige Gegenstand den Anschein von »Unveränderbarkeit, Dauerhaftigkeit«, soll »besonderen Schutz« erhalten und »unterstützt anscheinend die Vorstellung von einer authentischen, ursprünglichen, von einer ›reinen, unverfälschten‹ Kultur«68 . Das kulturelle Erbe ist nicht per se als etwas Eigenes einer bestimmten Gruppe von Menschen, einer Region, einer Ethnie, einer Religionsgemeinschaft oder einer Nation zu verstehen, sondern kann auch im Sinne des Weltkulturerbes als universales Kulturerbe der Menschheit gedacht werden. Kulturerbe als »ein nachträglich zuerkannter Status, der auf sozialen Verhandlungen und kollektiven Entschlüssen basiert«69 , erhält erst durch den jeweiligen Präsentationsrahmen einen eher partikularen oder eher universalen Anstrich und eine spezifische Position zu kulturellen Grenzen. Kulturelles Erbe kann als Zeugnis eines reinen Zustands einer bestimmten Kultur präsentiert
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Moritz Csáky & Monika Sommer: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Kulturerbe als soziokulturelle Praxis. Innsbruck 2005, S. 7-10, hier: S. 7. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
werden und sich auf diese Weise auf ein Kulturkonzept stützen, das Homogenität und Abgrenzung in den Vordergrund stellt. Problematisch wird dieser Zugang besonders dann, wenn eine frühere Zeit als verlorener Zustand kultureller Reinheit präsentiert wird, der von der als defizitär gedachten, transkulturellen Gegenwart abgegrenzt wird. Es ist allerdings ebenso möglich, das kulturelle Erbe in einem Rahmen zu präsentieren, der die Transkulturalität der Vergangenheit betont und das jeweilige Verhältnis der Gegenwartskultur zur Kultur der Vergangenheit ebenfalls als ein transkulturelles Verhältnis zeigt. Die deutsche UNESCO-Kommission fordert in ihrer Resolution der 78. Hauptversammlung von 2018 »die ausdrückliche Anerkennung von multiplen, hybriden und sich wandelnden Identitäten und Zugehörigkeiten, die immer häufiger auch Elemente einer europäischen und globalen Identitätsstiftung umfassen«, und weist darauf hin, »dass gegenseitige transkulturelle Bereicherungen und Austauschbeziehungen immer schon Teil der gemeinsamen Geschichte Europas und seiner Verbindung zu anderen Erdteilen waren«, »dass das enge und sich stetig wandelnde transkulturelle Zusammenleben von Menschen aus Europa und anderen Weltregionen grundsätzlich Voraussetzung für Innovation, Kreativität, Freiheit und Friedenserhaltung ist, und dass die Teilhabe an dieser Erfahrung nicht durch Armut, soziale Not und Ausgrenzung verhindert werden darf«70 . Zum Handlungsfeld der Kulturpolitik gehört auch die Gestaltung öffentlicher Räume mit Denkmälern, die durch ihre ständige Präsenz kontinuierlich an bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern sollen. In Deutschland stehen auch 2019 noch die meisten Denkmäler im öffentlichen Raum im Kontext von Kriegen aus der deutschen Vergangenheit. Viele dieser Denkmäler erinnern allgemein und über kulturelle Grenzen hinaus an die Opfer der beiden Weltkriege sowie die Opfer der Konzentrationslager. Solche Denkmäler warnen vor den Folgen von Krieg, Gewalt und Rassismus. Eine große Zahl von Denkmälern in Deutschland soll allerdings ausschließlich an gefallene deutsche Soldaten erinnern, die nicht selten auf den Denkmälern als Helden bezeichnet werden, und ist somit als Kriegerdenkmal einzustufen, das nicht vor dem Krieg warnt, sondern den Krieg verherrlicht. Auf zentralen
70
Deutsche UNESCO-Kommission: Kulturelles Erbe erhalten, Vielfalt gestalten, Europa stärken. Resolution der 78. Hauptversammlung der Deutschen UNESCO-Kommission anlässlich ihrer Sitzung am 8. Juni 2018 in Bamberg. URL: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/kulturelles-erbe-erhalten-vielfalt-gestalten-europa-staerken (Datum des Zugriffs: 13.7.2019).
9. Hybridität und Postkolonialismus
Plätzen von Städten und Dörfern, in Kirchen, Schulen und Vereinen kann man Tafeln, Steine und Statuen finden, die nur deutsche Soldaten erwähnen, darstellen und nicht selten als Helden bezeichnen. In vielen Gemeinden sind diese Kriegerdenkmäler sogar in Riten und Feiern eingebunden.71 Durch ihre Größe und zentrale Platzierung prägen die Kriegerdenkmäler oft das Bild des Ortes entscheidend. Das berühmteste Beispiel ist die aus erbeuteten Kanonen gegossene Siegessäule in Berlin, die an die Einigungskriege erinnern soll. Kriegerdenkmäler verherrlichen den Krieg, indem der Tod der Soldaten als notwendiger Heldentod für die Nation dargestellt wird und im Falle der Siegessäule zum entscheidenden Element des Gründungsmythos der Nation erhoben wird. Ob dieser Gründungsmythos heute für das liberal-demokratische, zur EU gehörende Deutschland noch angemessen ist, ist fraglich. Auf den ersten Blick erscheint auch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin nicht geeignet für einen neueren Gründungsmythos. Aleida Assmann weist allerdings darauf hin, dass die Holocausterinnerung für das Selbstverständnis Deutschlands als Demokratie seit 1945 ein entscheidendes Element ist.72 Das Gedenken an den Holocaust ist unangenehm und erzeugt sicher keine nationalen Gefühle in der Form, wie es Kriegerdenkmäler bei überzeugten Nationalisten tun können. Für die ca. 100 000 Kriegerdenkmäler in Deutschland wäre eine Kontextualisierung angemessen, sodass die Denkmäler nicht länger Krieg und Zerstörung als deutschen Gründungsmythos, sondern die Überwindung von Nationalismus und Militarismus als Teil eines neuen deutschen Gründungsmythos darstellen, der Deutschland in den transkulturellen europäischen Kontext stellt.
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Martin Dietzsch, Jobst Paul & Lenard Suermann: Kriegsdenkmäler als Lernorte friedenspädagogischer Arbeit. Duisburg 2012, S. 4. Aleida Assmann: Die trennende und verbindende Kraft von Erinnerungen in Europa. In: Michael Reder, Hanna Pfeifer & Mara-Daria Cojocaru (Hg.): Was hält Gesellschaften zusammen? Der gefährdete Umgang mit Pluralität. Stuttgart 2013, S. 89-98.
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10. Transkulturalität und Hybridität in der Kunst
Die Konstanzer Schule der Rezeptionsästhetik hat es geschafft, die Vorgänge der Rezeption von Kunstwerken in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Beobachtungen zu stellen und damit eine neue Sichtweise auf Kunst möglich gemacht. Die konkrete Ausformung eines Kunstwerkes geschieht aus Sicht der Rezeptionsästhetik erst bei der Rezeption. Wolfgang Iser hat in seinem Aufsatz Die Apellstruktur der Texte1 und in der Monographie Der Akt des Lesens2 gezeigt, dass die Rezeption eines narrativen Textes nicht als bloße Wissensaufnahme eines objektiv feststellbaren Inhalts gedacht werden kann, sondern der Rezipient mit dem Werk in eine Art Dialog eintritt, der zwar in seinem Verlauf durch die Textstrategien vorgegeben ist, aber entscheidend durch den jeweiligen subjektiven Erfahrungsschatz und die jeweilige subjektive Perspektive des Rezipienten mitgeprägt wird. Wie groß dieser Anteil des Rezipienten ausfällt, hängt von der jeweiligen Ausprägung der sogenannten Leerstellen im Text ab, die der Rezipient mit seiner eigenen Vorstellungskraft ausfüllen muss. Größere Leerstellen erfordern einen aktiveren Rezipienten. Hermann Danuser und Friedhelm Krummacher haben dieses Konzept auf die Musikrezeption und Wolfgang Kemp auf die Rezeption von bildender Kunst übertragen. Der Rezeption von Kunst ist daher generell ein transkulturelles Potenzial auf der Mikroebene zuzuschreiben, da der Rezipient in der aktiven Auseinandersetzung mit dem Werk in einen Dialog zwischen seiner je eigenen Perspektive und der Perspektive des Kunstwerks eintritt. Dieser Dialog hat eine von beiden Perspektiven verschiedene dritte Ebene der Konkretisation zum Ergebnis, die parallel zum ›Dritten Raum‹ (›Third Space‹) der hybriden Kultur gedacht werden kann. Es sind gerade diese Prozesse, die bei der Rezeption 1 2
Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. München 1976.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
von Kunst gesucht werden und durch die die Rezeption als intensiv und inspirierend wahrgenommen wird, wenn es zu einem solchen Dialog kommt. Wenn der Rezipient keine Anreize für einen Dialog erhält, weil das Kunstwerk für ihn keine andere oder keine zugängliche Perspektive eröffnet, dann wird die Rezeption nicht als inspirierend und intensiv wahrgenommen. Bei derartigen Differenzerfahrungen kann der Rezipient die Eindeutigkeiten der Gesellschaft in Frage stellen. Nicht umsonst versucht jeder totalitäre Staat bei der Zensur von Kunst, die Vielfalt an Perspektiven möglichst auf ein Minimum zu reduzieren. Ziel einer pluralistischen liberal-demokratischen Kulturpolitik sollte es stattdessen sein, eine möglichst große Vielfalt an Perspektiven zuzulassen. Dieses Potenzial ist naturgemäß besonders dann leicht zu entfalten, wenn bei der Begegnung von Rezipient und Kunstwerk zwei unterschiedliche kulturelle Prägungen aufeinandertreffen und deshalb ist es nicht überraschend, dass Kunstwerke auch gerade außerhalb ihrer Entstehungszeit und ihres Herkunftsortes Relevanz entfalten können. Für die Rezeptionsebene der Transkulturalität ist auch die Rezeption von Kunstwerken vergangener Kulturen hervorzuheben, die selbstverständlich zur Zeit ihrer Entstehung anders rezipiert wurden als lange nach ihrer Entstehung und gerade durch die entstandenen kulturellen Unterschiede eine intensive Rezeption ermöglichen und gerade wegen der wahrgenommenen Differenz zu Klassikern erhoben werden können. Bei der Bewertung und Förderung von Kunst muss die Ebene der Rezeption immer mitgedacht werden. Je nach Werk können die subjektiven Rezeptionserfahrungen einzelner Rezipienten sich erheblich unterscheiden und sogar konträre Perspektiven erlauben. Diese Einsicht relativiert Ansichten, denen zufolge eine gesellschaftspolitische Zielsetzung durch entsprechende kulturpolitische Förderungen geradlinig durchsetzbar sei. Die aktive, leerstellenausfüllende Rolle des Rezipienten ist der Grund dafür, dass der Effekt eines Kunstwerkes auf den Rezipienten nicht so relativ sicher planbar ist wie der Effekt eines Medikamentes auf einen Patienten. Je größer der Leerstellengehalt des Kunstwerkes ist, desto unvorhersehbarer und individueller fällt die Konkretisation durch den Rezipienten aus. Während ein maximaler Leerstellengehalt in die Beliebigkeit mündet, kann bei dem völligen Fehlen der aktiven Rezipientenrolle kaum mehr von Kunst die Rede sein. Die kulturpolitische Förderung von Rezeptionsvorgängen, bei denen der Rezipient nur als Empfänger von eindeutigen Informationen vorgesehen ist, erlaubt zwar eine kontroversenarme Verbreitung bestimmter Eindeutigkeiten, aber stellt aus
10. Transkulturalität und Hybridität in der Kunst
rezeptionsästhetischer Sicht keine Förderung von relevanter und wertvoller Kunst dar. Oft werden Künstler als Personen gesehen, die sich außerhalb der Gesellschaft befinden und diese mit ihrer Kunst von außen kommentieren. Diese Vorstellung stimmt insofern, als Rezeption auf die beschriebene Weise nur gelingt, wenn Künstler die Welt um sie herum auf eine besondere Weise wahrnehmen und in den jeweiligen Kunstwerken Perspektiven auf die Welt erarbeiten, die sich von den allgemein perpetuierten Perspektiven der Gesellschaft unterscheiden. Eine solche Kreativität entfalten Künstler nur aus einer Geisteshaltung, die sie selbst ebenfalls für neue Ideen und Perspektiven öffnet und aufnahmefähig macht. Menschen, die alle Eindeutigkeiten der Gesellschaft als unumstößliche Wahrheiten empfinden, können kaum eine solche kreative Geisteshaltung entwickeln. Menschen, deren biographischer Hintergrund oder individuelle Prägung eine Außenansicht auf eine Gesellschaft ermöglichen, sind eher dazu geeignet. Daraus folgt für die Kulturpolitik, dass sie sich auf ganz andere Weise Fragen der kulturellen Grenzziehung nähern muss als es in anderen Politikfeldern angemessen wäre. Fragen der Heimat, der Identität und der Nationalkultur stellen sich für die Kulturpolitik auf eine kompliziertere Weise, da ernstzunehmende Kunst gerade keine bloße Bestätigung gesellschaftlicher Eindeutigkeiten liefert, sondern diesen Eindeutigkeiten durch kulturelle Grenzgänge und Vermischungen Mehrdeutigkeiten gegenüberstellt. Kreativität ergibt sich aus einer Veränderung der gewohnten Wahrnehmung und ist deshalb gerade auf kulturelle Grenzüberschreitungen und Vermischungen angewiesen. Zygmunt Bauman lehnt die Aussage ab, dass große Kunst kein Heimatland habe, sich also durch ein kulturelles ›Weder-noch‹ auszeichne. Im Gegenteil, so Bauman, könnten Kunst und Künstler viele Heimatländer haben und haben fast immer mehr als eines.3 Große Kunst zeichnet sich durch ein kulturelles ›Sowohl-als-auch‹ aus und ermöglicht auf diese Weise den von Dirk Baecker beschriebenen Einschluss des Ausgeschlossenen. Bauman beschreibt diese Eigenschaft großer Kunst so: »Rather than homelessness, the trick is to be at home in many homes, but to be in each inside and outside at the same time, to combine intimacy with the critical look of an outsider, involvement with detachment – a trick which sedentary people are unlikely to learn. Learning the trick is the chance of
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Vgl. Bauman 2000, S. 207.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
the exile: technically an exile – one that is in, but not of the place. The unconfinedness that results from this condition (that is this condition) reveals the homely truths to be man-made and un-made, and the mother tongue to be a treasury of messages always richer than any of their readings and forever waiting to be unpacked anew.«4 Dieser Exilzustand muss nicht mit der tatsächlichen physischen Abwesenheit einhergehen, kann aber dadurch begünstigt werden. Unabhängig von den je aktuellen kulturellen Grenzziehungen der jeweiligen Gesellschaft muss der Künstler Ambiguität annehmen und Ambiguität schaffen. Dies erfordert geistige (und weniger physische) Mobilität.5 Diese Überlegungen können mit einer exemplarischen Betrachtung des Werks Alfred Döblins verdeutlicht werden. Es wird sich nur schwer ein Literaturwissenschaftler finden, der der Aussage widersprechen würde, dass Alfred Döblins Texte einen wichtigen Platz in der deutschsprachigen Literatur der Moderne einnehmen. Döblins Texte sind in der Literaturwissenschaft durch Werkausgaben und Sekundärtexte kanonisiert. Insbesondere Berlin Alexanderplatz ist auch außerhalb literaturwissenschaftlicher Kreise als wichtiger Roman der Moderne bekannt und wird im Deutschunterricht gelesen. Kennt man nur den Namen Döblin und den Titel des Romans Berlin Alexanderplatz, dann könnte man vermuten, dass der Autor dem modernen Berlin ein literarisches Denkmal gesetzt hat, das für deutsche Leser Identifikationsangebote aus der Hauptstadt bereitstellt. Eine genauere Lektüre des Romans sorgt allerdings für Differenzerfahrungen und eröffnet dem Leser die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Eindeutigkeiten des modernen Berlins zu reflektieren. Eine Auseinandersetzung mit den hochgradig ambigen Texten Döblins ist gerade deshalb dem Bereich der Kultur zuzuordnen, weil im Rezeptionsakt den Eindeutigkeiten der Gesellschaft die Mehrdeutigkeiten der Kultur gegenübergestellt werden. Die Auseinandersetzung mit Döblins Texten erfordert den Willen, sich in Welten hineinzudenken, die für die meisten Leser extrem fremd sind. Die Lebenswelt des Arbeiters und Kriminellen Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz ist zur Zeit der Erstveröffentlichung wie heute für die meisten Leser des Romans eine fremde Welt. Das China des späten 18. Jahrhunderts ist Schauplatz für den historischen Roman Die drei Sprünge des Wang-lun (1916), in den
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Ebd. Vgl. ebd., S. 209.
10. Transkulturalität und Hybridität in der Kunst
Döblins Auseinandersetzung mit chinesischer Geschichte und taoistischen Texten eingeflossen ist. Wallenstein (1920) erfordert vom Leser das Einfühlen in Figuren aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. In Berge, Meere und Giganten (1924) entwirft Döblin eine Zukunftswelt, die von Konflikten und Umweltkatastrophen geprägt ist. Der »Schelmenroman« Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall (1934) erzählt von »einem alternde[n] analphabetische[n] babylonisch-chaldäisch-assyrische[n] Gott […], der in Anlehnung an Goethes Faust im ›Vorspiel im Himmel‹ (erstes Buch) aus einem langen Schlaf im 20. Jahrhundert erwacht«6 . Der Versepos Manas (1927) entführt in die Welt indischer Mythen und in Amazonas (1937/38) unternimmt Döblin »den energischen Versuch […], den herrschenden Eurozentrismus zu überwinden und sich den Grundlagen des indianischen Denkens zu stellen«7 . Marion Brandt stellt fest, dass die »literarische Gestaltung von Begegnungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen […] eine wichtige Konstante des Gesamtwerks«8 ist und dass Döblin »meisterhaft« darin ist, »in seinen Werken kulturelle Diversität und Kulturkontakte sprachlich zu gestalten« und »philosophische und theologische Dispute, kulturell bedingte Wahrnehmungsunterschiede und interkulturelle Missverständnisse […] darzustellen«9 . Übereinstimmend mit Zygmunt Baumans Überlegungen zum ambivalenten Status assimilierter, deutscher Juden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aus dem ein besonderer Blick auf die Welt entstand, sieht auch Marion Brandt einen möglichen Grund für Döblins Auseinandersetzung mit Kulturkontakten in der »Erfahrung eigener Fremdheit und sozialer wie kultureller Differenz, bedingt durch die Familiensituation und die deutsch-jüdische Zugehörigkeit, und ab 1933 das Exil«10 . Die Kanonisierung der Texte Döblins ist allein deshalb schon nicht mit der Festlegung eines nationalkulturellen Kanons
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Julia Genz: Schelmenroman im Exil: Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall (1934). In: Sabina Becker (Hg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 126-133, hier S. 126. Michael Hofmann: Europäische Zivilisationskritik, indianische Mythen und moderne Mythopoetik. Alfred Döblins Amazonas-Trilogie im Lichte von Le Clézios Le Rêve mexicain. In: Christine Maillard & Monique Mombert (Hg.): Der Grenzgänger Alfred Döblin, 1940-1957. Biographie und Werk. Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Strasbourg 2003. Bern 2006, S. 107-126, hier: S. 110. Marion Brandt: Interkulturalität. In: Sabina Becker (Hg.): Döblin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2016, S. 343-346, hier S. 343. Ebd., S. 345. Ebd., S. 343.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
gleichzusetzen, der verbindliche Regeln der Gesellschaft enthält, sondern ist mit dem Selbstverständnis eines pluralistischen Staates vereinbar. Was aber haben die Texte von Alfred Döblin dann mit deutscher Kultur zu tun, außer dass sie in deutscher Sprache verfasst sind? Der kulturelle Wert des Lesens von Döblins Texten besteht in der Auseinandersetzung mit fremden Vorstellungswelten und Mehrdeutigkeiten. Gerade das macht diese Texte aus kulturpolitischer Perspektive interessant. Sie enthalten keine eindeutigen Listen deutscher Wesensmerkmale, anhand derer sich zum Beispiel eine Leitkultur genauer definieren ließe. Döblins Texte eröffnen transkulturelle Räume, in denen die Gesellschaft über sich selbst kommunizieren kann. Dies kann an Döblins Texten besonders gut illustriert werden, aber gilt für die Sphäre der Kultur allgemein. Denkt man Kulturpolitik hingegen als eindeutige Selbstvergewisserung und Bestätigung des Eigenen, dann würden Autoren wie Alfred Döblin eine Entwertung erfahren. Trotz der experimentellen Ausgangsposition geraten Döblins Erzähltexte nie in die Bedeutungslosigkeit, die immer eine Gefahr für avantgardistische Kunst ist. Stattdessen bleiben sie im Bereich der Mehrdeutigkeit, die vom Leser eine aktive Rolle der Textkonkretisation abverlangt. Obwohl Themen und Anknüpfungspunkte aus der Psychologie für Döblins Texte wichtig sind, neigen die Texte nicht zu psychologisierenden Erklärungen der Innenwelten einzelner Figuren, sondern überlassen die Suche nach möglichen Handlungsmotiven dem Leser, der keine eindeutigen Antworten finden kann. Schon in den kürzeren Erzähltexten erkennen Heinz Drügh und Christian Metz eine »große Affinität zum Wahnsinnsdiskurs«, die sich aber der »um 1900 expandierenden Psychologisierung« verweigert, »die so tut, als könne sie den aufklärerischen, verstehenden Blick auf das Innere des Menschen richten«11 . Die rezeptionsästhetischen Anforderungen an literarische Texte erfüllen Döblins Erzählungen, denn für den Leser ergibt sich aus der Textstruktur eine neue Perspektive oder ein Gedankenexperiment, das noch mit eigenen Vorstellungen und Erfahrungen angereichert werden muss, ohne jedoch den Rezipienten in eine komplett individuell-subjektive Rezeptionserfahrung zu entlassen, die keine Anhaltspunkte der Interpretation zulässt. Drügh und Metz verspüren bei den Erzählungen Die Zeitlupe und Die Ermordung einer Butterblume »die Gefahr, der Text selbst könnte gleichsam überschnappen, indem sich seine 11
Heinz Drügh & Christian Metz: Nachwort. In: Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Gesammelte Erzählungen. Gesammelte Werke. Hg. von Christina Althen. Bd. 2. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2014, S. 625-649, hier: S. 631.
10. Transkulturalität und Hybridität in der Kunst
Referenzsysteme auflösen«12 , aber stellen fest, dass die Kommunikation zwischen Text und Leser dabei nie ganz aufhört: »Aber so befremdlich und inkohärent Döblins Texte auf ihre Leser wirken mögen, sie verlieren doch niemals vollständig ihre Balance und werden reine Textur. Döblins Erzählungen treiben ihre Experimente nicht bis zu dem Extrempunkt, wo jede Kommunikation mit dem Leser, jede Formation von Bedeutung, jedes Verständnis für Figuren und erzählte Welt grundsätzlich in Frage stehen. Seine Prosa zerstört die gewohnten Zusammenhänge und Erzählstrukturen nie vollständig und schon gar nicht um der reinen Destruktion willen. Sie treiben ihr avantgardistisches Spiel vielmehr, um die Möglichkeiten neuer Beziehungs- und Bedeutungsmuster auszuloten.«13 An diesen Beobachtungen zu Alfred Döblins Erzählungen offenbart sich allerdings ein zentrales Problem kulturpolitischer Überlegungen. Kunstwerke, die eine für geübte Rezipienten stimulierende Balance zwischen Experiment und Tradition sowie zwischen Mehrdeutigkeit und gelingender Kommunikation ermöglichen, wirken auf ungeübte Rezipienten befremdlich, inkohärent oder sogar bedeutungslos. Aus dieser unterschiedlichen Rezeptionserfahrung ergibt sich eine Grundsatzproblematik der Kulturvermittlung. Kulturangebote entfalten ihr volles Potenzial, wenn sie derartige Rezeptionserfahrungen ermöglichen, aber diese Rezeptionserfahrungen bleiben ungeübten Rezipienten oft verschlossen. Um neue Nutzer öffentlich geförderter Kulturangebote zu gewinnen, müssen deshalb oft Kompromisse in der Komplexität des Angebots gemacht, bzw. schon in der Sozialisierung großer Wert auf eine Bildung gelegt werden, die derartige Rezeptionsprozesse selbststeuernd entwickelt.
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Ebd. Ebd.
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11. Multikulturalität und Interkulturalität
Beim Transkulturalitätskonzept stehen Vernetzungen, Transfers, Aneignungen, Beeinflussungen und Vermischungen von Kulturen im Mittelpunkt der Beobachtung. Diese Kulturkontakte werden von einigen Kulturwissenschaftlern als besondere Entwicklungen gedeutet, die an bestimmten Orten und in bestimmten Zeiten stattfinden, und von anderen Kulturwissenschaftlern als allgemeine Bedingung für die Existenz von Kultur überhaupt. Das Transkulturalitätskonzept hat inzwischen über wissenschaftliche Kreise hinaus Aufmerksamkeit erhalten und wird zum Beispiel in Kunstwerken verhandelt und in politischen Debatten verwendet. Die Konzepte der Interkulturalität und der Multikulturalität sind allerdings in öffentlichen Diskursen etablierter, haben in bestimmten Kontexten eine lange Verwendungsgeschichte und sind in ihrer grundsätzlichen Bedeutung den meisten Menschen bekannt. Auch in kulturpolitischen Kontexten in Deutschland sind die Konzepte der Interkulturalität und der Multikulturalität weiter verbreitet als das Konzept der Transkulturalität. Der Schlussbericht der Enquete-Kommission ›Kultur in Deutschland‹ bezieht sich vor allem auf das Interkulturalitätskonzept.1 Das Multikulturalitätskonzept findet in der Kulturpolitik besonders im Kontext der teilhabeorientierten Kulturvermittlung Verwendung, die als verschieden voneinander verstandene Gruppen der Gesellschaft als Nutzer kultureller Angebote gewinnen möchte. Das Konzept der Interkulturalität wird zum Beispiel in fremdsprachenlerntheoretischen Kontexten und bei beruflichen Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Nationalitäten verwendet. Das Konzept der Multikulturalität wird zum Beispiel in politischen Debatten über das Zusammenleben von unterschiedlichen Menschen innerhalb eines Staatsterritoriums verhandelt. Den Begriffen der Interkulturalität und der Multikulturalität
1
Schlussbericht der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland«, S. 210-216.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
sind eine gewisse Ambiguität eigen, die sich aus den jeweiligen Diskursen entwickelt haben, in denen die genaue Bedeutung der Begriffe umstritten ist. Darüber hinaus sind in Beiträgen zur Inter- und Multikulturalität teilweise Ansätze des Transkulturalitätskonzeptes zu finden, wenn versucht wird, das Inter- oder Multikulturalitätskonzept zu erweitern. Zusätzlich erschwert wird eine Abgrenzung der drei Begriffe voneinander durch eine oft unklare Verwendung der Begriffe im öffentlichen Diskurs durch Journalisten und Politiker, die die drei Begriffe teilweise synonym und ohne den Versuch einer genauen Definition nennen. In diesem Abschnitt sollen deshalb die drei Begriffe ihren ursprünglichen Verwendungen nach abgegrenzt werden. Diese ursprünglichen Verwendungen haben den jeweiligen Begriff und die damit einhergehenden Konnotationen entscheidend geprägt. Beim Diskurs um Interkulturalität steht nicht das wissenschaftliche Interesse an der Erforschung kultureller Kontakte, sondern die Suche nach konkreten Handlungsanweisungen für konkrete Kontaktszenarios in beruflichen, touristischen und diplomatischen Kontexten sowie beim Erwerb einer Fremdsprache im Mittelpunkt. Die schulischen Lehrpläne und Fachanforderungen der Bundesländer bemühen für Fremdsprachenfächer den Begriff der Interkulturalität und streben als Lernziel der Schüler die interkulturelle Kompetenz an. Selbst für das Erlernen der englischen Sprache betonen die Fachanforderungen die Akzeptanz des Fremden und suggerieren einen unüberwindbaren Unterschied deutscher Schüler und englischsprachiger Menschen. Wolfgang Welsch sieht diese Betonung des Fremden und der Abgrenzung kritisch, denn durch die »These vom Eigencharakter der einzelnen Kulturen schafft man das Problem der schwierigen Koexistenz und strukturellen Kommunikationsunfähigkeit«2 erst und auf diese Weise erzeugt das Konzept der Interkulturalität »die Erfolgsunmöglichkeit all seiner weiteren, auf interkulturellen Dialog zielenden Schritte«3 . Am Konzept des ›critical incidents‹, das in interkulturellen Trainings und im interkulturellen Unterricht Anwendung findet, lässt sich die problematische Betonung von kulturell bedingten Missverständnissen zeigen. Anhand eines beispielhaften Missverständnisses, häufig im Kontext geschäftlicher oder freundschaftlicher Verabredungen, sollen die Lernenden mit dem kulturellen Eigencharakter der Zielkultur konfrontiert werden und dann nach Auflösung des Missverständnisses eine Strategie zum Umgang mit diesem 2 3
Welsch 2005, S. 321. Ebd.
11. Multikulturalität und Interkulturalität
Unterschied zwischen Eigen- und Fremdkultur erlernen. Dass Missverständnisse im Kontext von Verabredungen bezüglich Zeit, Dresscode oder Etikette keineswegs auf Begegnungen mit Menschen aus anderen Ländern beschränkt sind und dass man auch bei intrakulturellen Begegnungen mit Menschen in unbekannten Umgebungen, zum Beispiel beim Wechsel des Arbeitsplatzes oder nach einem Umzug, erst die jeweiligen Spielregeln des Umgangs und des Verhaltens gegebenenfalls nach einigen Missverständnissen erlernen muss, wird bei den ›critical incidents‹ des interkulturellen Trainings ausgeklammert. Es entsteht so der Eindruck, dass intrakulturelle Begegnungen sich von interkulturellen Begegnungen darin unterscheiden, dass Missverständnisse bei Begegnungen von Menschen eines Nationalstaates durch die gemeinsame Nationalkultur eine Seltenheit und bei Begegnungen von Menschen aus verschiedenen Nationalstaaten die Regel sind. Wolfgang Welsch stellt mit Verweis auf Quine und Davidson fest, dass »das Problem der Übersetzung zwischen unterschiedlichen Gesellschaften und Sprachen strukturell gar nicht anders und keineswegs größer oder dramatischer als innerhalb ein und derselben Gesellschaft und Sprache«4 ist. Beim Begriff der Multikulturalität ist zu unterscheiden zwischen der deskriptiven Verwendung, die feststellt, dass es in einem Staat einen bestimmten Grad an kultureller Diversität gibt, und der normativen Verwendung des Begriffes, die einen bestimmten Umgang mit kulturellen Unterschieden innerhalb einer Gesellschaft vertritt. Deskriptiv ist die Bundesrepublik Deutschland de facto eine multikulturelle und keine monokulturell homogene Gesellschaft. Es ist fraglich, ob ein Staat mit über 80 Millionen Einwohnern überhaupt monokulturell homogen sein kann, und wenn dies gewünscht wäre, welche Mittel zur Durchsetzung so einer Homogenität notwendig wären. Allerdings sind verschiedene Bewertungen der de-factoMultikulturalität möglich. So kann Multikulturalität als temporäres Defizit des modernen Nationalstaats gesehen werden, das es zu beseitigen gilt. Eine solche Bewertung würde mit der von Zygmunt Bauman beobachteten Vereindeutigungstendenz der Moderne übereinstimmen, die anstrebt, jede multikulturelle Ambivalenz zu beseitigen. Diese Bewertung geht entweder mit der Forderung nach Assimilierung der Minderheitenkulturen oder im Extremfall mit der Forderung nach Verbannung oder Vernichtung der Minderheitenkulturen einher. Kulturelle Vermischungen gelten aus dieser Perspektive als Störfall und als minderwertig. Eine andere Bewertung der 4
Ebd., S. 325-326.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Multikulturalität geht von möglichen positiven Effekten multikultureller Interdependenzen aus und sieht das Nebeneinander verschiedener Kulturen nicht als Gefahr für den Nationalstaat. Den einzelnen Kulturen wird das Recht auf Andersartigkeit zugesprochen und der Staat fordert keine oder nur geringe Assimilierung. Kulturelle Vermischungen gelten jedoch aus dieser Perspektive entweder als Verletzung des Rechts auf Andersartigkeit oder als unerwünschte Assimilierung. Diese beiden Bewertungen und verschiedene Mischformen beider Positionen bestimmen den öffentlichen Diskurs über den Umgang mit der de-facto-Multikulturalität in Deutschland. Im Transkulturalitätskonzept von Wolfgang Welsch wird die de-facto-Multikulturalität als Ressource für Vernetzungen und Vermischungen gesehen, aus denen positive Entwicklungen hervorgehen können. Im politischen Diskurs um die normative Verwendung des Multikulturalitätsbegriffs geht es hauptsächlich um Fragen des Zusammenlebens mehrerer Gruppen, die sich ihrem jeweiligen Selbstverständnis nach voneinander unterscheiden und die trotzdem ein Staatsterritorium miteinander teilen. Deshalb werden besonders Fragen nach Mitbestimmung, Minderheitenrechten und gesellschaftlicher Anerkennung von nationalen Minderheiten und von Einwanderergruppen diskutiert. In den 60er- und 70erjahren hat sich dieser zunächst wissenschaftliche Diskurs in Nordamerika auch in politischen Kreisen etabliert und wurde oft erbittert geführt. Auch in Europa und in Deutschland ist das Konzept des Multikulturalismus fester Bestandteil der politischen Debatten um Minderheiten und Einwanderung und prägt das Denken der politischen Akteure in verschiedenen Positionen des liberalen, des kritischen und des konservativen Multikulturalismus. Auch wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel 2010 verkündete, dass »der Multikulti-Ansatz gescheitert«5 sei, prägt dieses Konzept noch immer den politischen Diskurs besonders im Kontext der Einwanderung, was zum Beispiel am konservativ-multikulturalistischen Schlagwort der Leitkultur deutlich wird. Die verschiedenen Positionen, aus denen der Begriff der Leitkultur verwendet wurde, haben zwei entscheidende Aspekte gemeinsam, durch die sie dem konservativen Multikulturalismus6 zugeordnet werden können. Erstens gehen sie von klar voneinander 5
6
»Merkel erklärt Multikulti für gescheitert.« In: Spiegel Online vom 16.10.2010. URL: www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-merkel-erklaert-multikulti-fuer-ge scheitert-a-723532.html (Datum des Zugriffs: 30.10.2017). Lars Allolio-Näcke: Einleitung (Multikulturalität). In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 151-156, hier: S. 153.
11. Multikulturalität und Interkulturalität
abgrenzbaren Kulturen innerhalb des Nationalstaates aus und zweitens proklamieren sie die Notwendigkeit einer dominierenden und klar definierten Mehrheitskultur, der sich die Minderheiten- und Einwandererkulturen unterzuordnen und anzupassen haben. In welchem Umfang diese Unterordnung und Anpassung stattzufinden hat, variiert hingegen je nach Position des politischen Diskursteilnehmers. Im Unterschied zu linksliberalen multikulturalistischen Positionen zielt der Leitkulturbegriff nicht nur auf ein Nebeneinander und gegenseitiges Tolerieren der klar voneinander abgegrenzten Kulturen, sondern zusätzlich dazu auch auf eine hierarchische Gliederung dieser Kulturen. Leitkulturkonzepte beinhalten deshalb immer die Suche nach einer Definition des obersten Gliedes dieser Hierarchisierung: der Leitkultur. Dass bestimmte Menschen nicht eindeutig in Kategorien eingeordnet werden können, die dem herderschen Kulturkonzept entsprechen, sondern uneindeutige Mehrfachzugehörigkeiten haben können, erzeugt ein Unbehagen, dem mit der Hierarchisierung der Kategorien entgegengewirkt werden soll. Das Unbehagen mit Ambiguität ist allerdings auch im Kulturbegriff der linken, multikulturalistischen Identitätspolitik enthalten. Zu der Stärkung von Minderheitenrechten gehört in der Identitätspolitik meist eine starke Betonung der ethnischen Identität der jeweiligen Minderheit. Identitätspolitik konzentriert sich ausgerechnet auf die problematischste Spielart kollektiver Identitätskonstruktionen und bemüht die Vorstellung der Abstammungsgemeinschaft, deren Mitgliedern qua Geburt eine unveränderliche, essentielle und primäre Identität zugeschrieben wird. Es verwundert nicht, dass die Idee fließender Übergänge besonders aus multikulturalistisch argumentierenden Minderheitenorganisationen als Angriff auf ihr Selbstverständnis als Ethnie kritisiert wird. So wurde der Vorschlag, bei Volkszählungen in den USA die Kategorie ›multiethnisch‹ anzubieten, von einigen afroamerikanischen Organisationen abgelehnt, weil sie »darin eine Unterminierung schwarzer Solidarität sehen«7 und weil die eindeutige Zugehörigkeit zur ›schwarzen Rasse‹ notwendig ist, um bestimmte Bürgerrechte, wie den erleichterten Zugang zu Universitäten, zu nutzen.8 Hier führt die Inkompatibilität des Multikulturalitätskonzeptes mit dem Transkulturalitätskonzept zu einem »Zusammen-
7 8
Nederveen Pieterse 2005, S. 417. Amitai Etzioni: ›Other‹ Americans Help Break Down Racial Barriers. In: International Herald Tribune vom 10.5.1997.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
prall zwischen der Politik der Anerkennung, die auf der Gewährung kollektiver Rechte basiert, und der Idee fließender Gruppengrenzen«9 . Sowohl der Interkulturalitäts- als auch der Multikulturalitätsdiskurs führen zu einer Reduktion der Komplexität zu handlungsbezogenen und politischen Zwecken. Ein möglicher Transkulturalitätsdiskurs im Kontext von konkreten Handlungsanweisungen für Mitarbeiter international agierender Firmen oder im Kontext der Integration von Einwanderern findet bisher nicht statt und würde den Diskurs erheblich komplizieren und erschweren, da ein differenzierteres Bild der gegenseitigen Durchdringung von Kulturen entsteht. Im kulturwissenschaftlichen Diskurs hingegen muss ein möglichst differenziertes Bild der Realität angestrebt werden und dafür hat das Konzept der Transkulturalität gegenüber den anderen genannten Konzepten mehr Potenzial. Auch für kulturpolitische Diskurse ist das Konzept der Transkulturalität vielversprechender als die anderen beiden Konzepte. Denn: Es sollte eine Zielsetzung auch deutscher Kulturpolitik sein, die kulturellen Gegebenheiten nicht etwa mit Blick auf konkrete Handlungsanweisungen zu simplifizieren, sondern differenzierter zu reflektieren, auch wenn das den Umgang mit Kultur komplizierter macht. Die Kulturpolitik einer pluralistischen Demokratie kann sich nicht mit einfachen kulturellen Identitätszuschreibungen begnügen, sondern sollte sich an der ständigen Neuverhandlung von kulturellen Identitäten auf differenziertere Weise beteiligen. Der Interkulturalitäts- und der Multikulturalitätsdiskurs und die daraus abgeleiteten Handlungsanweisungen für Kulturkontaktszenarien sind deshalb nicht ohne Weiteres auf den Bereich der Kultur zu übertragen. Wenn im Multikulturalitätsdiskurs über mögliche Gesetze zur Stärkung von Minderheitenidentitäten diskutiert wird und dafür die kulturellen Gegebenheiten simplifiziert werden, dann kann es dafür unter Umständen gute Gründe geben, aber diese guten Gründe gelten nicht uneingeschränkt für kulturpolitische Kontexte. Die Prämierung und Förderung von sogenannter Migrantenliteratur wird oft der transkulturellen Realität der jeweiligen Künstler mit Migrationshintergrund nicht gerecht, sondern reduziert die jeweiligen Künstler auf ihren Status als Deutsche mit Migrationshintergrund und die Werke auf den biographischen Hintergrund der Migrationsgeschichte des Autors. Genau wie der Interkulturalitätsdiskurs ist der Multikulturalitätsdiskurs nur durch eine Komplexitätsreduktion möglich, die nicht auf kunsttheoretische und kulturpolitische Überlegungen übertragen werden sollte, wenn man sich 9
Nederveen Pieterse 2005, S. 417.
11. Multikulturalität und Interkulturalität
in diesen Bereichen nicht ebenfalls eine Komplexitätsreduktion wünscht. So geht es Hans G. Ulrich zufolge im Multikulturalitätsdiskurs »um das Zusammenleben verschiedenartig kulturell geprägter Gruppen und um die Formen einer entsprechenden politischen Koexistenz. Und eben dafür sind praktische Regeln gesucht […] und nicht übergreifende intellektuelle Strategien, die politisch nicht zu handhaben sind.«10 Die Sphäre der Kultur sollte jedoch gerade für die Widersprüche und Mehrdeutigkeiten kultureller Hybridität Raum bieten und nicht für binäre Zuschreibungen und Kategorisierungen.
10
Hans G. Ulrich: Zur politiktheoretischen Debatte über den Multikulturalismus und ihre Grenzen. In: Lars Allolio-Näcke, Britta Kalscheuer & Arne Manzeschke (Hg.): Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt/New York 2005, S. 205-219, S. 210.
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12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
Sowohl in gesellschaftspolitischen als auch in kulturpolitischen Debatten werden oft die Begriffe Leitkultur und Parallelgesellschaft verhandelt. In diesen Debatten geht es um kulturelle Grenzziehungen innerhalb Deutschlands und den Umgang mit der Multikulturalität in Deutschland. Der Begriff der Leitkultur wird immer wieder öffentlichkeitswirksam und mit variierten Kurzdefinitionen neu in politische Debatten eingebracht. Bassam Tibi führte den Begriff mit dem Aufsatz Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust 1 in den politischen Diskurs ein und stellt ihn dem Begriff des Multikulturalismus gegenüber, womit im öffentlichen Diskurs meist linksliberale multikulturalistische Positionen gemeint sind. In Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit 2 fordert Tibi eine europäische Leitkultur, die auf den Werten der Aufklärung und der freiheitlichen Demokratie beruht und sich sowohl gegen »Rechtsradikale (deutsche Nationalisten und islamische Fundamentalisten)« als auch gegen »Linke (Multikulturalisten)«3 positioniert. Tibi definiert die Leitkultur – anders als in der späteren Verwendung verschiedener Politiker – als europäischen verbindlichen Wertekanon, nach dem die Menschen »ohne Berücksichtigung der Religion, ethnischen Herkunft oder Hautfarbe als Citoyen« und somit als »Mitglied eines politischen Gemeinwesens«4 gelten. Ethnisch-kulturelle kollektive Identitäten sollen dieser Definition nach in Europa in den Hintergrund treten. Bei Bassam Tibi ist der Begriff der Leitkultur eher mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus nach Jürgen Habermas verwandt als mit dem von Politikern vereinnahmten Leitkulturbegriff, der sich gerade durch eine über 1 2 3 4
Bassam Tibi: Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 52-53/96, S. 27-36. Bassam Tibi: Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit. München 1998. Ebd., S. 21. Ebd., S. 18.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
das Zivile hinausgehende kollektive Identität auszeichnet. So bezieht sich Tibi zur Beschreibung seines Leitkulturverständnisses sogar auf den Verfassungspatriotismus: »Wenn ich auf meine Aufforderung bei öffentlichen Auftritten, die deutsche Gesellschaft müsse durch eine demokratische Ausländerpolitik die Migranten zu deutschen Verfassungspatrioten machen, von Multikulturalisten belächelt werde, frage ich mich ernsthaft, wie loyal dieser Kreis gegenüber der Demokratie ist.«5 Gemeinsam ist allen Leitkulturbegriffen von den Anfängen bei Tibi bis zu den späteren Verwendungen von Politikern allerdings die Hierarchisierung von Kulturen. Tibi teilt die Welt auf in vormoderne, vor-aufklärerische Kulturen und moderne, aufgeklärte Kulturen und verwendet einen teleologischen Kultur- beziehungsweise Zivilisationsbegriff, demzufolge sich Europa in einem weiter fortgeschrittenen Zustand der geschichtlichen Entwicklung befindet.6 Der Modernebegriff erhält bei Tibi eine genuin positive Konnotation. Seine Forderungen nach einem reformierten Islam sieht Tibi als Teil der »Aufklärungsarbeit« und der »Entzauberung der Welt«7 , die sich von Europa ausgehend auf die von ihm als vormodern eingestuften Kulturen übertragen sollen. Als Voraussetzung für wirkliche Toleranz in einer multikulturellen Gesellschaft sieht Bassam Tibi die Vormachtstellung einer einzelnen Kultur.8 »Multikulturelle und kulturrelativistische Toleranz«, die auf die Vormachtstellung der von Tibi beschriebenen aufklärerisch-modernen Kultur verzichtet, sieht er als »eine Form der Aufgabe der eigenen Werte, das heißt der Selbstaufgabe und in diesem Fall Aufgabe von Aufklärung und Freiheit«9 . Für die Vormachtstellung einer Kultur lehnt Tibi allerdings »die tradierte deutsche Auffassung, die Nation sei eine ethnisch-kulturell homogene Gruppe«, ab und sieht die Nation stattdessen als »ein Gemeinwesen, das zugleich eine Werte-Gemeinschaft ist«10 . Im Sinne des Verfassungspatriotismus sucht Tibi nicht nach essentiellen kulturell-ethnischen Eigenschaften des Deutschseins, sondern sieht die wichtigste Eigenschaft im Bekenntnis des »Citoyen«11 zum demokratischen Gemeinwesen. Jürgen Nowak stellt fest, dass das von Tibi eingeführte Konzept einer europäischen Leitkultur »im Jahr 2000 von konservativen Politikern aufgegriffen 5 6 7 8 9 10 11
Ebd., S. 53. Ebd., S. 33-34. Ebd., S. 34. Ebd., S. 38. Ebd. Ebd., S. 57. Ebd.
12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
und zur ›deutschen Leitkultur‹ stilisiert«12 wurde. Er kritisiert an den auf diese neue Verwendung folgenden öffentlich geführten Leitkulturdebatten, dass »soziale Probleme […] ethnisiert oder kulturalisiert« werden: »Soziale Unterschiede, die zweifellos vorhanden sind, werden als ethnische und kulturelle Differenzierungsprozesse wahrgenommen, gedeutet, interpretiert und in neue Begriffsschemata gepresst. […] Die entscheidenden gesellschaftlichen Barrieren zwischen den Menschen liegen nicht in ihren möglichen ethnischen und/oder kulturellen Unterschieden. Vielmehr sind es zahlreiche sozioökonomische Differenzen, die die Menschen in der deutschen Gesellschaft trennen.«13 Nowak untersucht zusammen mit dem Leitkulturbegriff den Begriff der Parallelgesellschaft. Die Entstehung von ethnisch-kulturellen Parallelgesellschaften, so die Argumentation vieler Politiker, muss durch eine deutsche Leitkultur verhindert werden. In diesem Kontext ist meist von islamischen Parallelgesellschaften die Rede, in denen andere Regeln gelten würden als in der Mehrheitsgesellschaft. Zwar zählt Nowak fundamentalistische Religionsgruppen wie die Zeugen Jehovas, Scientology und radikal-islamistische Gruppen zu den Parallelgesellschaften Deutschlands,14 aber als größte Herausforderung sieht er die sozialen Parallelgesellschaften, die sich in ihrer Bildung und ihren ökonomischen Bedingungen so stark von der restlichen Gesellschaft unterscheiden, dass nicht mehr von gesellschaftlicher Teilhabe gesprochen werden kann.15 Besonders alarmierend sei der hohe Anteil funktionaler Analphabeten in Deutschland, der für Nowak ebenfalls eine Art Parallelgesellschaft darstellt.16 Laut der leo.Studie 2010 sind in Deutschland »mehr als vierzehn Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung« von funktionalem Analphabetismus betroffen und können trotz Schulabschluss »zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben […], nicht jedoch zusammenhängende – auch kürzere – Texte«17 . Menschen mit Migrationshintergrund sind in Deutschland prozentual häufiger von Armut und Arbeitslosigkeit bedroht als Menschen ohne 12 13 14 15 16 17
Jürgen Nowak: Leitkultur und Parallelgesellschaft. Argumente wider einen deutschen Mythos. Frankfurt a.M. 2006, S. 22. Nowak 2006, S. 23 Ebd., S. 76. Ebd., S. 54-72. Ebd., S. 65. Anke Grotlüschen und Wibke Riekmann (Hg.): Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. – Level-One Studie. Münster 2012, S. 19-20.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Migrationshintergrund.18 Das liegt allerdings nicht an genetisch bedingten Eigenschaften, wie Thilo Sarrazin in seinem Buch Deutschland schafft sich ab behauptet,19 sondern daran, dass in Deutschland Bildungsabschlüsse und berufliche Laufbahnen stark von den Bildungsabschlüssen der jeweiligen Eltern abhängen, es also eine sehr geringe soziale Mobilität gibt.20 Aufgrund dieser Problematik neigen bestimmte Politiker dazu, die sozialen Differenzen zu vernachlässigen und stattdessen nur ethnisch-kulturelle Differenzen in den Fokus zu rücken. Allerdings kann man ebenso Jürgen Nowak vorwerfen, die sozioökonomische Problemlage überzubetonen und dabei die Möglichkeit kultureller Differenzen von vornherein zu verwerfen. Werner Schiffauer hält Generalisierungen und Verabsolutierungen für das zentrale Problem des Diskurses um Leitkultur und Parallelgesellschaften. So beobachtet Schiffauer, dass bestimmte Diskursteilnehmer »das ökonomische Vorankommen als einzigen relevanten Wert im Leben erklären und damit Kultur letztlich für irrelevant erklären«21 . Schiffauer weist darauf hin, »dass wertrationale Gesichtspunkte zwar oft sekundär sind, manchmal aber gleichwertig neben die zweckrationalen Alltagsgesichtspunkte treten und gelegentlich sogar alles überschatten und dann plötzlich sehr handlungsrelevant werden«22 . Wenn der Diskurs allerdings von »Komplexitätsreduktionen« geprägt ist, dann geht er an der »Lebensrealität in den Einwanderervierteln«23 vorbei. Schiffauer betont, dass Kultur »dynamisch[…], widersprüchlich[…] und offen[…]« ist und weist darauf hin, dass auch unter Einwanderern »Auseinandersetzungen und Debatten« um Werte und insbesondere um »die problematischen Bestände der eigenen Kultur«24 geführt werden. Schiffauer zufolge gibt es »ein Problem mit Delinquenz in den Einwanderervierteln« und dieses »hängt in der Tat auch mit ›Kultur‹ zusammen«25 . Am Beispiel des mehrdeutigen Ehrbegriffs, der »im gesamten ländlichen Mittelmeerraum verbreitet« 18
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Armutsgefährdungsquoten von Migranten. In: Webpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung vom 23.4.2013. URL: www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-undfakten/soziale-situation-in-deutschland/61788/armut-von-migranten (Datum des Zugriffs: 11.3.2019). Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Vaterland aufs Spiel setzen. München 2010. Vgl. Nowak 2006, S. 63. Schiffauer 2008, S. 14. Ebd. Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 47.
12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
sei, zeigt Schiffauer jedoch, dass die Delinquenz in Einwanderervierteln »kein Problem ›der‹ Kultur« ist, »in dem Sinn, dass es sich hier nicht um ein von einer ethnischen Gemeinschaft akzeptiertes, bejahtes oder gar befürwortetes Verhalten handelt, wie es im Bild der Parallelgesellschaft anklingt«26 . Der Ehrbegriff in den ländlichen Regionen im Mittelmeerraum – auch in nichtmuslimischen Bereichen – unterscheide sich vom Ehrbegriff krimineller Jugendlicher in deutschen Großstädten in wichtigen Aspekten.27 Der Ehrbegriff ist außerdem kein genuin islamisches Phänomen und wird nicht aus islamischen, religiösen Texten abgeleitet. Schiffauer relativiert die Gegenüberstellung von westlicher Mehrheitsgesellschaft und islamischer Parallelgesellschaft und zeigt komplexere Zusammenhänge auf. Kinder von Einwandererfamilien befinden sich oft in einem ambivalenten Verhältnis zwischen der Erziehung durch die Eltern und der Sozialisation in deutschen Schulen. Wenn nur eindeutige Loyalitätsbekundungen Geltung haben, dann muss eine der beiden Seiten komplett negiert werden. Schiffauer plädiert in diesem Fall dafür, hybride Identitäten anzuerkennen und auf eindeutige Kategorisierungen zu verzichten: »Wenn man sich selbst treu bleiben will, darf man nicht in die Falle von Gegenüberstellung und Polarisierung (im Sinne von Islam und Westen) fallen, sondern vielmehr die Entwicklung einer Pluralität von Bezügen vorantreiben. Sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden, würde die Abspaltung eines Teils des Selbst bedeuten und hätte etwas von Selbstverleugnung. Worauf es ankommt, ist zu der Komplexität der Biographie zu stehen, und das heißt, Übersetzungs- und Kommunikationskompetenz zu entwickeln.«28 Gesellschaftlicher Druck, der eine eindeutige Zugehörigkeit der Einwanderer zum Westen forcieren soll, führen oft zu einer Abkehr vom Westen und einer eindeutigen Loyalität zu antiwestlichen Lebensmodellen. Es kann gerade der gesellschaftliche Druck zur eindeutigen Zugehörigkeit sein, der Jugendliche zu einem übertriebenen Ehrbegriff mit Gewaltpotenzial drängt. Damit auch in Einwanderervierteln das Bekenntnis zu liberal-demokratischen Werten gewährleistet werden kann, ist eine gesellschaftliche Aufwertung von Transkul-
26 27 28
Ebd. Ebd. Ebd., S. 86.
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turalität und hybriden Identitäten notwendig und kein Loyalitätszwang zu einer deutschen Leitkultur: »Wenn sich der Eindruck durchsetzen sollte, dass die Gesellschaft kein ›Sowohl-als-auch‹ zulässt, dass sie keine Zwischenräume erlaubt und Eindeutigkeit erzwingt oder dass sie jedem Ausdruck von Hybridität mit Misstrauen begegnet, dann ist es nicht undenkbar, dass die Widersprüche zugunsten einer vermeintlichen Klarheit aufgelöst werden […]. Es kann zu einer Fundamentalisierung kommen, zu enttäuschtem Rückzug oder zu Radikalisierung.«29 Schiffauer zeigt, dass es nicht die Hybridität an sich ist, die den Kindern von Einwanderern Probleme bereitet, sondern die erzwungenen Loyalitätsbekundungen sowohl von den Eltern als auch von den deutschen Sozialisationsinstanzen, insbesondere von der Schule. Während die Eltern oft jedes kleine rebellierende Verhalten als Abkehr von der Herkunft und als »Verdeutschung« deuten, gilt in der Schule oft jedes kleine rebellierende Verhalten als »Integrationsverweigerung«30 . Der Loyalitätskonflikt entsteht allerdings erst durch die von außen herangetragenen Loyalitätszwänge und ist nicht grundsätzlich in hybriden Identitäten als innere Zerrissenheit angelegt. In Deutschland wird dieser Konflikt zusätzlich erschwert, weil Integrationsforderungen im Widerspruch mit der tradierten Abstammungszugehörigkeit zur deutschen Nation stehen und eine vollständige Zugehörigkeit zur Gesellschaft von Deutschen mit Migrationshintergrund deshalb als unmöglich empfunden werden kann. Die geforderte Abkehr von der Herkunftskultur der Eltern hätte so nicht einmal eine vollständige Aufnahme in die deutsche vorgestellte Gemeinschaft zur Folge. Grundsätzliche Voraussetzung für einen angemessenen Umgang mit hybriden Identitäten ist demnach eine gesellschaftlich anerkannte, politisch-zivile Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, in der hybride Identitäten nicht negativ konnotiert sind. Eine positiv konnotierte hybride Identität schafft zwar Loyalitätskonflikte nicht aus der Welt, aber ermöglicht einen komplexeren Umgang mit diesen Konflikten als es unter Einfluss von Eindeutigkeitszwängen möglich ist. Konflikte zwischen einer Loyalität zu den Eltern und einer Loyalität zu den in der eigenen Sozialisation gewonnenen Werten sind nicht auf Menschen mit hybriden Identitäten beschränkt,
29 30
Ebd., S. 88. Ebd., S. 92.
12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
sondern sind Bestandteil der meisten Biographien. Der Unterschied ist allerdings, dass das soziale Umfeld Loyalitätskonflikte bei hybriden Identitäten anders bewertet und eindeutige Lösungen einfordert. Eine Aufwertung und Normalisierung von Transkulturalität würde Menschen mit hybriden Identitäten einen selbstverständlicheren Umgang mit ihren Loyalitätskonflikten ermöglichen, der auch ambivalente und komplexe Lösungen erlaubt. Zusätzlich komplex ist der Diskurs um Parallelgesellschaften, weil nur schwer »eine klare Grenze zwischen ›Migrantenkultur‹ und ›Kultur der Mehrheitsgesellschaft‹ zu ziehen« ist und »so viele Überschneidungen und Überlappungen« bestehen, »dass es fraglich ist, etwa von einer ›islamischen Kultur der Einwanderer‹ zu sprechen«31 . Schiffauer vertritt in seiner ethnographischen Arbeit die Überzeugung, dass »nicht eine gemeinsame Plattform von zentralen Überzeugungen […] entscheidend für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft ist, sondern die Aufrechterhaltung von kulturellen Austauschprozessen und eine damit zusammenhängende kulturelle Dynamik«32 . Schiffauer sieht in transkulturellen Prozessen die vielversprechendste Möglichkeit, mit kulturellen Differenzen innerhalb einer Gesellschaft umzugehen. Franz Walter beschreibt im Spiegel Parallelgesellschaften als »ethnisch, sozial, weltanschaulich homogene[…] Gruppe, die sich von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt, stigmatisiert, benachteiligt fühlt« oder sich »durch ihr fundamentalistisch abweichendes Ordnungsgerüst eigener Ideen und Ethiken auch selbst isolieren«33 kann. Walter sieht in möglichen Parallelgesellschaften mit eigenen Ritualen und Werten eine Gefahr für die Demokratie: »Sie verweigern oft die Kommunikation mit anderen Gruppen und Interpretationen, gelangen so zu einer selektiven Sichtweise des gesellschaftlichen Zusammenhangs. Sie setzen ihre eigenen Werte und Ziele absolut, neigen infolgedessen dazu – nicht immer, aber auch nicht selten – die Existenz des Anderen kompromisslos zu negieren, im gesteigerten Fall: militant zu bekämpfen. Demokratien aber brauchen ohne Zweifel eine Vorstellung von dem, was von allen Mitgliedern kollektiv geteilt und aktiv getragen wird, benötigen einen Sockel an gemeinsamen Vertrauen, Kooperationen und So-
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Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Franz Walter: Mangelt es an »Parallelgesellschaften«? In: Spiegel Online vom 18.6.2006. URL: www.spiegel.de/politik/debatte/essay-mangelt-es-an-parallelgesell schaften-a-421967.html (Datum des Zugriffs: 13.3.2019).
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
lidaritäten. Sonst ist der gesellschaftliche Zusammenhalt der Demokratien labil.«34 Allerdings sieht Walter im Jahr 2006 die deutsche Gesellschaft weit entfernt von solchen Parallelgesellschaften und merkt an, dass ethnische oder kulturelle Parallelgesellschaften erst durch eine gleichzeitige sozioökonomische und kommunikative Abkoppelung Gefahr laufen, fundamentalistisch und zu einem Feind der Mehrheitsgesellschaft zu werden. Solange sozioökonomische und kommunikative »Brückenköpfe zur Mehrheitsgesellschaft« bestehen, »positiv erfahrene Berührungszonen […] im Alltag vorhanden« sind und »die Eliten der ›Parallelgesellschaft‹ und der Mehrheitsgesellschaft dialogfähig« bleiben, »stehen die integrativen Möglichkeitsfenster weit offen«35 . Genau diese Dialogfähigkeit wird allerdings zunehmend erschwert, weil die Öffentlichkeitsmechanismen der demokratischen Gesellschaft im Zuge veränderter Mediennutzung erodieren. Die Echoräume sozialer Medien, in denen nur noch Nachrichten (inklusive Fake-News) wahrgenommen werden, die die eigene Sichtweise bestätigen, lassen Parallelöffentlichkeiten entstehen und führen zur Fundamentalisierung politischer Gegnerschaft. Die Grenzen dieser Parallelöffentlichkeiten verlaufen eher entlang politischer Orientierungen und nicht entlang kulturell-ethnischer Grenzziehungen. Die demokratische Gesellschaft und der für die demokratische Gemeinschaft wichtige öffentliche Dialog scheint aktuell eher durch die Entstehung dieser Parallelöffentlichkeiten gefährdet als durch die Entstehung kulturellethnischer Parallelgesellschaften. Der Leitkulturbegriff erhält erst in den Verwendungen von Politikern eine gewisse Unschärfe und wird als Gegenbegriff zum Verfassungspatriotismus in Debatten genutzt. Friedrich Merz verwendete den Leitkulturbegriff als erster Politiker öffentlich im Jahr 2000. Nach einer mündlichen Äußerung von Merz entstand eine öffentliche Debatte, zu der sich Merz in einem Artikel in der Welt äußerte.36 Merz wendet sich gegen »political correctness« und gegen »Gutmenschen in diesem Land« und fordert eine »Integrationsfähigkeit auf beiden Seiten«: »Das Aufnahmeland muss tolerant und offen sein,
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Ebd. Ebd. Friedrich Merz: Einwanderung und Identität. In: WELT vom 25.10.2000. URL: https:// www.welt.de/print-welt/article540438/Einwanderung-und-Identitaet.html (Datum des Zugriffs: 29.5.2019).
12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
Zuwanderer, die auf Zeit oder auf Dauer bei uns leben wollen, müssen ihrerseits bereit sein, die Regeln des Zusammenlebens in Deutschland zu respektieren.«37 Er fordert eine gesellschaftliche Debatte »um Wertmaßstäbe und einen allgemeinen gesellschaftlichen Minimalkonsens« und weist darauf hin, dass es »gar keine allgemein akzeptierte Definition dessen mehr gibt, was wir unter unserer Kultur verstehen« und es keinen »gemeinsamen, wertorientierten gesellschaftlichen Konsens«38 mehr gebe. Auf welche vergangenen Zeiten der deutschen Gesellschaft Friedrich Merz zurückblickt, wenn er suggeriert, dass man früher eine allgemein akzeptierte Definition deutscher Kultur und einen gemeinsamen, wertorientierten Konsens hatte, ist unklar und, ob es diese Zeit je gegeben hat, ist fraglich. Merz geht es in seiner Forderung nach einer deutschen Leitkultur um den Umgang der Gesellschaft mit »Ausländern«, zu denen er auch bestimmte Menschen zählt, die »in Deutschland geboren«39 sind, wobei nicht klar ist, ob es um ethnisch-kulturelle Differenzen oder die jeweilige Staatsangehörigkeit geht. Merz betont die »in Jahren und Jahrzehnten erkämpfte Stellung der Frau in unserer Gesellschaft« und warnt vor der »Entstehung von Parallelgesellschaften«40 . Dass sich die Kultur in Deutschland nicht komplett isoliert von anderen Ländern entwickelt hat, erkennt auch Merz an, wenn er zumindest anmerkt, dass »[d]ie deutsche Kultur […] nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend von der europäischen Idee geprägt worden«41 ist. Der Verfassungspatriotismus wird von Vertretern der meisten Leitkulturkonzepte als defizitär und unzureichend beschrieben. An diesem Unbehagen mit dem bloß zivilen Verfassungspatriotismus, der sich lediglich auf liberaldemokratische Werte beruft, zeigt sich noch immer die spezifisch deutsche Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur. Trotz der deutschen Ausrichtung auf die westlichen Demokratien erfährt der zivile Verfassungspatriotismus Ablehnung in bestimmten Bereichen der Politik und der Medien und stattdessen beharrt man auf dem Selbstverständnis als ethnisch-kulturell definierte Nation. So wurde zum Beispiel der Zehnpunktekatalog zur deutschen Leitkultur von Thomas de Maizière unter anderem mit dem folgenden Satz eingeführt: »Über Sprache, Verfassung und Achtung der Grundrechte hinaus gibt es etwas, was uns im Innersten zusammenhält, was uns ausmacht und 37 38 39 40 41
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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was uns von anderen unterscheidet.«42 Gemeint ist vermutlich die Annahme einer essentiellen Eigenschaft, die weder in der Sprache noch in etwas Politischem zu finden ist. Bei jeder Wiederholung der Leitkulturdebatte bleibt die Unschärfe dieser Suche nach dem, »was uns im Innersten zusammenhält«, bestehen. So bleiben am Ende doch wieder nur Aspekte, die auch unter dem Begriff des Verfassungspatriotismus und in jedem anderen demokratischen Nationalstaat gelten könnten, und der leere Verweis auf etwas, das darüber hinaus geht. Für Thomas de Maizière ist es ein unverhandelbarer Bestandteil deutscher Leitkultur, dass sich deutsche Staatsbürger als »Teil des Westens, stolze Europäer und aufgeklärte Patrioten«43 ansehen müssen, da sie sonst nicht Teil der Zivilgesellschaft sein könnten. An diesen Formulierungen wird deutlich, dass jede versuchte Definition des unverhandelbaren Kerns deutscher Kultur große Teile der Staatsbürger ausschließt, denn nicht jeder deutsche Staatsbürger hat ein uneingeschränkt positives oder überhaupt ein bewusstes Verhältnis zu den drei genannten politischen Begriffen des Westens, Europas und des Staates. Erstaunlich ist, dass de Maizières Suche nach dem, was Deutsche ausmacht und Deutsche von anderen unterscheidet, ausgerechnet den positiven Bezug zum Westen und zu Europa als Ergebnis hat, was kaum als nationales Distinktionsmerkmal gelten kann. Auch im Grundsatzprogramm der CDU steht die Leitkultur in einem europäischen Zusammenhang: »36. Unsere politische Kultur ist geprägt von den Gemeinsamkeiten der europäischen und den Besonderheiten der deutschen Geschichte. Dazu gehören vor allem die föderale und die konfessionelle Tradition, das besondere Verhältnis zwischen Staat und Kirche und die Verantwortung, die den Deutschen aus den Erfahrungen zweier totalitärer Regime auch für die Zukunft erwächst. 37. Diese kulturellen Werte und historischen Erfahrungen sind die Grundlage für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft und bilden unsere Leitkultur in Deutschland. Wir wollen sie mit Leben erfüllen. 42
43
»Wir sind nicht Burka«: Innenminister will deutsche Leitkultur. In: Zeit Online vom 30.4.2017. URL: www.zeit.de/politik/deutschland/2017-04/thomas-demaiziereinnenminister-leitkultur (Datum des Zugriffs: 30.10.2017). Ebd.
12. Leitkultur und Parallelgesellschaft
Unsere Kultur ist in Geschichte, Gegenwart und Zukunft europäisch geprägt und orientiert. Diese europäische Dimension wird im Zuge der fortschreitenden Einigung Europas weiter an Bedeutung gewinnen.«44 Selbst im Grundsatzprogramm der EU-feindlichen AFD steht die deutsche Leitkultur im Kontext europäischer Traditionen: »Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt.«45 Zum Verfassungspatriotismus bekennt sich keine der etablierten Parteien in ihren Grundsatzprogrammen. Obwohl die AFD in anderen Zusammenhängen stets den Schutz deutscher Kultur vor fremden Einflüssen betont, kommt die Partei bei ihrer Definition einer deutschen Leitkultur nicht darum herum, sich auf transkulturelle Zusammenhänge der deutschen Kultur zu beziehen. Obwohl dies vermutlich nicht im Interesse der AFD ist, offenbart der Verweis auf diese transkulturellen Zusammenhänge, wie fragil die Konstruktion einer von fremden Einflüssen befreiten Nationalkultur ist. Ernstzunehmende Definitionen deutscher Kultur müssen zwangsläufig die kulturellen Vermischungen und Vernetzungen miteinbeziehen, in deren Zusammenhang sich Deutschland entwickelt hat. Das, was allgemein als Abendland bezeichnet wird, ist ein kultureller Raum, in dem für alle Gesellschaften zwei ideengeschichtliche Bezugspunkte zentral sind: die Griechen und die Juden in der antiken Mittelmeerwelt. Jan Assmann betont nicht nur die Bedeutung dieser beiden »Kulturen der Alten Welt« und die »Verbindung« beider, sondern auch die Gemeinsamkeiten des christlichen Abendlandes mit der islamischen Welt, von der sich die meisten Leitkulturvertreter klar abgrenzen wollen: »Unter den Kulturen der Alten Welt gibt es zwei, die es verstanden haben, ihrer Überlieferung eine so zeitresistente und strahlkräftige Gestalt zu ge-
44 45
CDU: Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland. Das Grundsatzprogramm, S. 14. AFD: Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, S. 92.
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ben, daß sie bis auf unsere Tage identitätswirksam geblieben sind: Griechenland und Israel. Auf der Verbindung beider beruht nicht nur das christliche Abendland, sondern auch der Islam. Waren es im Abendland mehr die griechischen ›Klassiker‹ – Dichtung und Philosophie –, die im Verbund mit der hebräischen Bibel und den neutestamentlichen Schriften den Kern des kulturellen Gedächtnisses ausmachten, so dominierten im Islam die griechischen Wissenschaften, und die hebräische Bibel wurde durch den Koran übertrumpft. Trotzdem ist festzuhalten, daß beide kulturellen Welten, die abendländische und die islamische, auf einer je spezifischen Verbindung des griechischen und des israelitisch-jüdischen Erbes beruhen. Aber dieses ›Erbe‹ dauert nicht nur in der Verbindung, sondern auch in ›Reinkultur‹ fort: Israel im Judentum und Hellas im Humanismus.«46 Trotz aller Unterschiede, die zwischen einzelnen Gesellschaften und innerhalb der jeweiligen Gesellschaft bestehen, liefern diese beiden Bezugspunkte einen gemeinsamen Rahmen. In den Leitkulturdebatten wird deutlich, dass jeder Versuch, den Kern des Deutschseins auszumachen, auf je eigene Weise zumindest implizit einen Bezug zum Hellenismus und zur jüdischen Religionstradition herstellt. Als Teil deutscher Tradition werden zum Beispiel meist Aufklärung, Wissenschaft, bedeutende Denker und christliche Werte hervorgehoben, die ohne ihren Ursprung in den beiden genannten dauerhaften Kulturtraditionen nicht denkbar wären. Mithilfe der Germania von Tacitus wurde versucht, im Germanentum eine kulturelle Essenz des Deutschen zu konstruieren.47 Im Zuge dieser Konstruktionsbemühungen wurde auch versucht, die deutsche Sprache von griechischen und lateinischen Wörtern zu bereinigen. Diese Wörter sind allerdings nicht zufällig in die deutsche Sprache eingedrungen, sondern zeugen von dem bedeutenden Einfluss, den der Hellas und Rom auf alle europäischen Kulturen ausgeübt haben. Hellenismus soll hier als Denktradition verstanden werden, die ihren Ausgangspunkt in der griechischen Antike hatte, im antiken Rom fortwirkte, in der Renaissance neu belebt wurde und fortan die ideengeschichtliche Entwicklung in Europa erneut entscheidend geprägt hat. Auch über die christliche Religion haben unzählige lateinische Wörter Eingang in die deutsche Sprache gefunden, denn über Jahrhunderte war dies im Okzident die einzige Sprache einer gelehrten Schriftkultur. Kurz angemerkt
46 47
J. Assmann 2002, S. 163. Siehe Abschnitt 6 (Das Eigene und das Fremde im spezifisch deutschen Kulturbegriff).
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sei hier noch, dass die jüdische Religionstradition sich im Okzident natürlich gemeinsam mit dem Hellenismus verbreitet. Und nur durch den Einfluss des römischen Reichs konnte sich das Christentum später so weit verbreiten. Keine der bedeutenden Entwicklungen des Abendlandes und somit auch des deutschsprachigen Raums lässt sich durch irgendeine germanische oder spezifisch deutsche ideengeschichtliche Erneuerung erklären, die isoliert von der Tradition der griechischen Schriftkultur und der jüdischen Religionstradition stattgefunden hätte. Aufklärung und Christentum sind keine spezifisch deutschen Kulturtraditionen und nicht losgelöst von den transkulturellen Prozessen der Geschichte zu verstehen, die sich nur selten strikt an politische Grenzen gehalten haben. Durch die griechische Schriftkultur der Antike entstand ein neuer Umgang mit Texten, der im Gegensatz zu eindeutigen, unverrückbaren, festen Rezeptionstraditionen eine »widerspruchsvolle Stimmenvielfalt«48 ermöglicht und so dafür sorgt, dass im Umgang mit den tradierten Texten eine »Ideenevolution«49 stattfinden kann. Aus diesem neuen Umgang mit tradierten Texten entstanden »im Laufe weniger Jahrhunderte die fundierenden Texte, Traditionen und Denkformen des okzidentalen Rationalismus« und so wurde der Grundstein gelegt für »Philosophie und Wissenschaft, also die Entwicklung eines logischen Regeln der Wahrheitssuche verpflichteten Diskurses«50 . Es sei allerdings angemerkt, dass sich ein solcher Umgang mit tradierten Texten nicht nur im antiken Griechenland entwickelt hat. Zum Beispiel in der vom chinesischen Altertum geprägten Welt, zu der unter anderem auch Japan, Korea und Vietnam zu zählen sind, hat »in der Nachfolge des Konfuzius«51 eine ähnliche Entwicklung stattgefunden, die ebenfalls eine bis heute andauernde Ideenevolution ermöglicht hat. Im Okzident hat erst diese besondere Entwicklung dafür gesorgt, dass wir uns heute »auf Platon und Aristoteles im Sinne von ›Vorrednern‹ beziehen« können und sich die »Schriftkultur zu einer Kultur des Konflikts«52 entwickelt hat. Mit Platon und Aristoteles nimmt diese Kultur des Konflikts ihren Anfang. Während der Bezug auf die Epen Homers noch in Form der Auslegung eines grundsätzlich unanfechtbaren Klassikers geschah,53 ist beim Philosophieren 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 271. Ebd., S. 280. Ebd. Ebd., S. 289. Ebd., S. 285-286. Ebd., S. 300.
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der intertextuelle Bezug auf die Vorredner ein anderer. Dem Vorredner kann auch widersprochen werden, aber trotzdem bezieht sich der jeweils neue Text auf die Vorredner als Teilnehmer eines Regeln unterworfenen Diskurses und knüpft an die bisherigen Überlegungen an, muss demnach nicht ganz neu beginnen.54 Eine derartige Ideenevolution, in der Texte in ein Konfliktverhältnis zueinander treten können, ist in der digitalen Öffentlichkeit der von Algorithmen gesteuerten Echoräume und der unzähligen Parallelöffentlichkeiten erschwert. Zum kulturellen Gedächtnis gehören Erinnerungsorte, auf die sich nachfolgende Generationen und sogar nachfolgende Kulturen berufen und beziehen. Das kulturelle Gedächtnis, wie es Jan Assmann beschreibt, kann auch als diachrone Transkulturalität gedacht werden, durch die den Eindeutigkeiten der Gesellschaft die Mehrdeutigkeiten der Kultur gegenübergestellt werden: »In einer Welt totalisierender Gleichschaltung ermöglicht Erinnerung die Erfahrung des Anderen und die Distanz vom Absolutismus der Gegenwart und des Gegebenen. In einem allgemeineren, weniger politischen Sinne gilt das aber auch für den Druck, den der Alltag als solcher auf die soziale Wirklichkeit ausübt und der immer in Richtung Vereinheitlichung, ›Eindimensionalität‹ und Komplexitätsreduktion geht.«55 Das Beispiel des Leitkulturbegriffs zeigt, dass jede Diskussion darum, was deutsche Kultur und Identität ausmacht, nur mit Verweis auf die ebenso schwierig definierbaren Begriffe der europäischen Kultur und Identität überhaupt zu einem Ergebnisansatz kommen. Bei dem Versuch, das Eigene der deutschen oder der europäischen Kultur zu definieren, werden dann zwangsläufig kulturelle Vernetzungen des Eigenen mit dem Fremden deutlich, auch wenn das den politischen Interessen mancher Leitkulturvertreter widerspricht. Wirft man einen Blick auf einige wichtige Orte der europäischen Geschichte, von denen einer nicht einmal im geographischen Europa ist, dann wird klar, welche transkulturellen Zusammenhänge die Bezeichnung ›christliches Abendland‹ beinhaltet. Die Agora von Athen war als Versammlungsort der freien Bürger Athens, als zentraler Ort der Entwicklung der attischen Demokratie und als Wirkstätte von Sokrates für die Entwicklung Europas entscheidend. Noch heute steht
54 55
Vgl. ebd., S. 285. Ebd., S. 86.
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die Agora für öffentliche, politische Auseinandersetzungen, in denen sich verschiedene Positionen und Interessen auf zivile Weise begegnen und sich die Bürger um politische Lösungen bemühen. Das Forum Romanum illustriert den kulturellen Einfluss, den das antike Rom auf die Kultur Europas hatte. Die entscheidende Neuerung, die den römischen Einfluss vom griechischen Einfluss abgrenzt, ist die Betonung des Staatswesens, das nicht nur Menschen einer Stadt, sondern sowohl Land- als auch Stadtbewohner in einem größeren Territorium zu seinen Bürgern zählt. Ein solcher Staat kann auf die Loyalität der für seine Versorgung wichtigen Landbevölkerung zählen und ist nicht, wie der griechische Stadtstaat, auf die Loyalität der privilegierten Stadtbevölkerung beschränkt. Auch das Forum Romanum steht als zentraler Platz des antiken Roms für öffentliche, politische Auseinandersetzungen, bei denen sich verschiedene Positionen und verschiedene Kulturen begegnen. Am Ölberg in Jerusalem zeigt sich die Vernetzung Europas mit dem Nahen Osten. Als wichtiger Ort aller drei abrahamitischen Religionen kann der Ölberg exemplarisch für die Religion in Europa betrachtet werden. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird der Ölberg mehrfach erwähnt und mit Bedeutung aufgeladen, die ihn auch heute noch zum Ziel von Pilgerreisen macht. Judentum, Christentum und Islam treffen in Jerusalem sowohl im Austausch als auch in gewalttätiger Auseinandersetzung aufeinander. Die christliche Religion ist für die europäische Ideengeschichte von entscheidender Bedeutung und prägt auch heute noch die Gedanken vieler in Europa lebender Menschen. Dass für diese Religion ein jüdischer, Aramäisch sprechender Wanderprediger zentral ist, der in Jerusalem hingerichtet wurde, wird gerne ausgeblendet, wenn es darum geht, christliche Europäer von außereuropäischen Fremden abzugrenzen. Sich mit diesen drei Orten einem Verständnis europäischer Kultur zu nähern, eröffnet die Möglichkeit, dabei die Widersprüche, die wechselvolle Geschichte und die Transkulturalität Europas mitzudenken. Dass diese drei Orte für die Geschichte Europas von zentraler Bedeutung waren, wird niemand bezweifeln. Je genauer man diese Orte und die damit verbundenen Personen und Entwicklungen betrachtet, desto differenzierter wird jedoch das Bild, das man von Europa bekommt. Es entsteht das Bild transkultureller Vernetzungen, wie es typisch für zentrale Plätze großer Städte ist, an denen sich verschiedene Sprachen, Weltanschauungen und Professionen treffen, um miteinander zu kommunizieren und Konflikte auszutragen. Es wird bei der Betrachtung dieser drei Orte auch deutlich, dass allzu eindeutige Beschreibungen europäischer Identität eine Komplexitätsreduktion darstellen.
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Ein Problem des Leitkulturbegriffes ist die durch das ›Leiten‹ angedeutete Hierarchisierung von Kultur, die den Grundsätzen einer pluralistischen Gesellschaft widerspricht. Diese Hierarchisierung ist besonders problematisch, wenn sie auf die Kulturpolitik übertragen wird und zu einem veränderten Kunstverständnis beiträgt. Wenn man davon ausgeht, dass Kunst nur durch ständige Erneuerungen und Vermischungen des Bestehenden ihre Relevanz beibehält und sich nicht im ständigen Wiederholen des Immergleichen erschöpfen kann, dann ist die Vorstellung der Hierarchisierung von Kultur problematisch. Es droht dann eine Erstarrung des Kunstlebens und eine Verlangsamung kultureller Kommunikationsprozesse. Kunst bleibt nur gesellschaftlich relevant, wenn sie tradierte, eindeutige Wahrnehmungsweisen und Perspektiven in Frage stellen kann, und lebt von der Differenz zur Rezipientenperspektive und nicht von der Bestätigung dieser. Eine direkte Übertragung des Leitkulturkonzeptes von gesellschaftspolitischen zu kulturpolitischen Überlegungen steht im Widerspruch zu diesem Kunstverständnis. Das zentrale Problem des Leitkulturbegriffs ist jedoch die Unmöglichkeit, die deutsche Kultur eindeutig abgrenzbar und endgültig zu definieren, auch wenn viele Vertreter der Leitkultur suggerieren, dass dies in einer früheren Zeit gelang. Durch diese Komplexitätsreduktion eignet sich der Begriff zwar dazu, schnell öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren, aber nicht für aussagekräftige Untersuchungen der deutschen Gesellschaft. Eine verbindliche und eindeutige Definition kann nicht gelingen, weil den politischen Grenzen der BRD keine klaren kulturellen Grenzen entsprechen und vermutlich auch gar nicht entsprechen können, da eine derartige Homogenität mit den immer real stattfinden transkulturellen Prozessen im Widerspruch steht. Der Versuch, kulturelle Grenzen nach dem Vorbild politischer Grenzen eindeutig und klar zu ziehen, kann nicht gelingen, wenn es nicht um kleine Gruppen wie Dorfgemeinschaften geht, sondern um Staaten mit Millionen von Bürgern. Die Schwierigkeit, eine deutsche Leitkultur zu definieren, die »über den Buchstaben des Gesetzes hinaus, allgemein verbindlich eingefordert werden könnte«, hängt laut Werner Schiffauer »mit dem Konzept von Kultur selbst« zusammen, »das der Idee der Leitkultur zu Grunde liegt«56 . Er schlägt deshalb vor, »den Herder’schen Kulturbegriff« zu »überschreite[n]«57 und stattdessen
56 57
Schiffauer 2008, S. 112. Ebd., S. 113-114.
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ein Kulturkonzept zu verwenden, in dem Kultur als Formation unabgeschlossener, kommunikativer Prozesse verstanden wird und kulturelle Vernetzungen im Vordergrund stehen. Er nennt dabei zwar nicht den Begriff der Transkulturalität, aber stimmt mit den Überlegungen von Wolfgang Welsch überein, in dessen Transkulturalitätskonzept ebenfalls der Aspekt der »Vernetzung«58 hervorgehoben wird. Zu diesen kommunikativen Prozessen gehört unter anderem die Verhandlung von »Orientierungen, Deutungen, Normen und Werte[n]«59 . Als weiteren Prozess nennt Schiffauer »die reflexive Rückwendung auf die Normen, Werte und Deutungen, die sich eingespielt haben«60 . Diese reflexive Rückwendung geschieht im gesamtgesellschaftlichen Rahmen insbesondere über Kunst und Medien und fällt in den Handlungsbereich der Kulturpolitik. Schiffauer hält nicht ein »Fundament an gemeinsamen Orientierungen und Überzeugungen« für notwendig, um »für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, jenseits von der Zustimmung zu den Prinzipien der Verfassung und des Rechtsstaats« zu sorgen, »sondern die Existenz kultureller Überlappungen und Überschneidungen«, für die wiederum »die Existenz kommunikativer Netzwerke«61 notwendig ist. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ergibt sich aus funktionierenden Kommunikationskanälen, die auch zwischen Gruppen bestehen, bei denen nicht alle Überzeugungen übereinstimmen: »Die Überzeugungen, Deutungen, Normen und Werte, die in einem Bereich entwickelt werden, dringen, oft unmerklich, in andere Bereiche mit ein. Sie werden aufgegriffen und übersetzt. In diesem Prozess entfalten sich ständig neue Gemeinsamkeiten, die aber niemals flächendeckend sind. Umgekehrt führen Grenzziehungen, Einschränkungen von Kontakten und die Verweigerung von Zusammenarbeit zu kulturellen Abschließungs- und Abschottungsprozessen.«62 Für diese transkulturellen Prozesse kann »das Potenzial von pluralen kulturellen Zugehörigkeiten und Loyalitäten« genutzt werden und sollten »Eindeutigkeitszwänge«63 vermieden werden. Schiffauer verweist auf das Hybriditätskonzept von Homi K. Bhabha und in diesem Kontext auf den dritten Raum, 58 59 60 61 62 63
Welsch 2005, S. 323. Schiffauer 2008, S. 114. Ebd., S. 115. Ebd., S. 123. Ebd. Ebd., S. 125.
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»der weder deutsch noch türkisch (arabisch, russisch) usw. ist, beziehungsweise der beides gleichzeitig ist«64 . Einerseits gehört zum dritten Raum und zur hybriden Identität »die Erfahrung von lebensgeschichtlichen Brüchen«, »das Manövrieren zwischen Lebenswelten, die sich feindlich gegenüberstehen« und »die Konfrontation mit Zuschreibungsprozessen aller Art«65 . Andererseits können diese Probleme überwunden werden und so »entfalten sich Kulturen der Übersetzungen, der Collage, der Heterogenität, des Ex-zentrischen, die in kritischer Distanz sowohl zur Mehrheitsgesellschaft als auch zu den herkömmlichen Einwanderergemeinden stehen«66 . Der dritte Raum zeichnet sich nach Homi K. Bhabha insbesondere dadurch aus, dass in ihm kulturelle Hierarchien außer Kraft gesetzt sind, die in der restlichen Gesellschaft wirken. In diesem dritten Raum entsteht die besondere Perspektive auf die Gesellschaft, die Zygmunt Bauman auch den ›Fremden‹ zuschreibt. Eine Außenperspektive der Uneindeutigkeit, die weder von den Eindeutigkeiten der Mehrheitsgesellschaft noch von den Eindeutigkeiten der Minderheit beherrscht wird. Das Leitkulturkonzept, in dem sich Herders Kulturbegriff fortsetzt, ist für die transkulturellen Prozesse, die die Entstehung dritter Räume ermöglichen, nicht förderlich. Da »Leitkulturtheoretiker« den gesellschaftlichen »Prozess des Zusammenwachsens erzwingen wollen«, befürchtet Schiffauer, dass sich dies »eher kontraproduktiv auswirkt«: »Zunächst verprellt die Insistenz auf eine Leitkultur gerade die wichtigsten Personengruppen, die eine Brückenfunktion wahrnehmen könnten, nämlich die Mitglieder der zweiten und dritten Generation. Mit der Forderung nach Leitkultur und dem damit einhergehenden Bekenntnis zu gewachsenen Normen und Werten wird eine Eindeutigkeit abverlangt, die für die Phänomene, die sich im Zwischenraum von Familie, muslimischer Gemeinde und deutscher Gesellschaft entfaltet haben, keinen Raum lässt. Das geforderte ›Entweder-oder‹ wertet das ›Sowohl-als-auch‹ ab, das den dritten Raum charakterisiert.«67 Schiffauer plädiert deshalb dazu, »den Gedanken der Leitkultur aufzugeben und ihn durch den Gedanken der kulturellen Vernetzung zu ersetzen, der
64 65 66 67
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 136.
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in jeder Hinsicht einer offenen und freiheitlichen Gesellschaft angemessener ist«68 . Im Konzept des Verfassungspatriotismus ist der klassische Kulturbegriff nach Herder nicht enthalten und so ergibt sich eine Vereinbarkeit mit transkulturellen Kommunikationsprozessen und mit der liberal-demokratischen, pluralistischen Gesellschaft, die im Leitkulturkonzept eingeschränkt ist. Das Konzept des Verfassungspatriotismus steht allerdings im Widerspruch zum Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation. Es setzt sich in dieser Konfliktlinie die alte Unterscheidung zwischen Zivilisation und Kultur fort, die für das deutsche Selbstverständnis in Abgrenzung zu Frankreich, Großbritannien und Amerika seit mehreren Jahrhunderten entscheidend war. Allerdings ist Deutschland heute ein liberal-demokratischer Staat, der sich zum Pluralismus bekennt. Zu diesem Bekenntnis steht das Selbstverständnis als Kulturnation und ein konsequent zu Ende gedachtes Leitkulturkonzept im Widerspruch. Der Soziologe Armin Nassehi schließt seine Überlegungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt deshalb mit diesen Bemerkungen ab: »Jenseits aller Migrationsfragen muss zur Kenntnis genommen werden, dass moderne, liberale Gesellschaften vor allem dadurch integriert werden, dass sie auf Leitkultur, kulturelle Homogenität und einen Konsens über Lebensformen weitgehend verzichten können. Moderne, liberale Gesellschaften zehren weniger von Gemeinsinn und Gemeinschaftlichkeit. Sie sind vielmehr Gesellschaften von Fremden – die ihre Fremdheit als Ressource begreifen, nicht als Problem.«69 Der Begriff des Verfassungspatriotismus wurde von Dolf Sternberger in den politischen Diskurs eingeführt und insbesondere von Jürgen Habermas weiterentwickelt. Bei Sternberger soll der Verfassungspatriotismus das traditionelle Nationalbewusstsein in Deutschland nicht ablösen, sondern bloß ergänzen. Erst bei Habermas soll der Verfassungspatriotismus als universalistischere Alternative das traditionelle Nationalbewusstsein ablösen. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller erkennt in Sternbergers Beschreibungen deutscher Identität noch »ein Element von ›Natursache‹ und ›Gegebenheit‹«70 und stellt fest, dass »der vermeintlich rein politische Verfassungspatriotismus in der sternbergerschen Version keinen Deut an der ethnisch fundier-
68 69 70
Ebd., S. 138. Nassehi 2013, S. 43. Jan-Werner Müller: Verfassungspatriotismus. Berlin 2010, S. 28.
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ten Konzeption der deutschen Staatsbürgerschaft«71 änderte. Gerade die von Habermas geforderte Überwindung der ethnisch-kulturell fundierten Staatsbürgerschaft wird dem Begriff des Verfassungspatriotismus noch immer als Defizit ausgelegt, wenn etwa Norbert Lammert 2017 in einer Stellungnahme zum Thema Leitkultur sagt: »Der richtige Hinweis auf die Normen und Werte, die im Grundgesetz kodifiziert und für alle in Deutschland lebenden Menschen gültig sind, reicht allein nicht aus. Denn Verfassungen fallen nicht vom Himmel, sondern setzen historisch-kulturell gewachsene Werte voraus, die sie in Rechtsformen konkretisieren. Deswegen greift auch der offensichtlich weniger anstößige Begriff des Verfassungspatriotismus im Ergebnis zu kurz: Verfassungen sind kein Ersatz, sondern Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft, ihrer Geschichte, der über Generationen vermittelten Überzeugungen und Orientierungen, der Erfahrungen, die ein Land mit sich selbst gemacht hat – und im Zusammenleben der Menschen ständig fortschreibt.«72 Allerdings ist bei Jürgen Habermas der Weg zur je eigenen demokratischen Verfassung eines Staates für den Verfassungspatriotismus entscheidend. Dem Verfassungspatriotismus wird von seinen Gegnern vorgeworfen, dass die universalistische Natur des Konzepts dazu führe, dass sich Staatsbürger nicht mit einem bestimmten Staat identifizieren, sondern sich den als allgemeingültig gedachten liberal-demokratischen Prinzipien gegenüber loyal verhalten. Bei Habermas findet sich eine mögliche Antwort auf solche Vorwürfe in der je spezifischen Rückbesinnung der Staatsbürger auf den Weg ihres Staates zur demokratischen Verfassung. In Deutschland ist die Rückbesinnung auf den Weg zur demokratischen Verfassung eng mit der Erinnerung an die Zeit des Dritten Reichs und an den Holocaust verbunden: »Für uns in der Bundesrepublik bedeutet Verfassungspatriotismus unter anderem der Stolz darauf, daß es uns gelungen ist, den Faschismus auch auf Dauer zu überwinden, eine rechtsstaatliche Ordnung zu etablieren und diese in einer halbwegs liberalen politischen Kultur zu verankern. Unser Patriotismus kann die Tatsache nicht verleugnen, daß in Deutschland eine Demokratie erst nach Auschwitz – und in gewisser Weise erst durch den Schock 71 72
Ebd., S. 35. Norbert Lammert: »Verfassungspatriotismus greift zu kurz«. In: Cicero vom 4.5.2017. URL: https://www.cicero.de/innenpolitik/debatte-um-leitkultur-verfassungspatriotis mus-greift-zu-kurz (Datum des Zugriffs: 10.5.2019).
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dieser moralischen Katastrophe – in den Herzen der Bürger, wenigstens der jüngeren Generationen, hat Wurzeln schlagen können. Für diese Verwurzelung universaler Prinzipien braucht man immer eine bestimmte Identität.«73 Zum spezifisch deutschen Weg zu einer demokratischen Verfassung gehört die Überwindung einer Ideologie, die eine extreme, ethnisch fundierte nationale Identität und für viele Menschen tödliche Bestrebungen zur Durchsetzung kultureller Homogenität beinhaltete. Zum kulturellen Gedächtnis einer staatsbürgerlich ausgerichteten deutschen Identität gehört die Erinnerung an diese Vergangenheit. Die Begriffe des Verfassungspatriotismus und der sich davon abgrenzenden Leitkultur unterscheiden sich im öffentlichen Diskurs darin, dass die Leitkultur die Möglichkeit einer unpolitischen und essentiellen Eigenschaft des Deutschseins andeutet, das Selbstverständnis des deutschen Staates als Kulturnation betont und die Abgrenzung zu anderen Kulturen fordert, sich aber letztlich in der konkreten Ausformung genau wie der Verfassungspatriotismus ausschließlich auf politische Institutionen und internationale Zusammenhänge liberal-demokratischer Staaten bezieht. Darüber hinaus gehört zum Leitkulturbegriff die Vorstellung einer Hierarchisierung von Kulturen in einer multikulturellen Gesellschaft, in der eine Mehrheitskultur die Minderheitenkulturen ›leiten‹ soll. Diese Über- und Unterordnung ist nicht Bestandteil des Verfassungspatriotismus, in dem die Zugehörigkeit zum politischen Gemeinwesen der freiheitlichen Demokratie entscheidend ist. Es zeigt sich an diesen Debatten die Disparität des im öffentlichen Diskurs verwendeten Kulturbegriffes und der transkulturellen Realität, in der der deutsche Staat weder durch eine innen homogene Kultur noch durch nach außen klar abgrenzbare kulturelle Grenzen gekennzeichnet ist. Die herdersche Vorstellung der klar abgrenzbaren und innen homogenen Nationalkultur findet noch immer häufige Verwendung in Debatten zur Kultur- und zur Gesellschaftspolitik. Jeder Versuch, die vorgestellte Abgrenzung und Homogenität zu explizieren, scheitert jedoch daran, dass die kulturelle Realität heterogener und ambivalenter als dieser Kulturbegriff ist. Die Leitkulturdebatten und die Wichtigkeit, die diesen Debatten im öffentlichen Diskurs beigemessen wird, entstehen aus dem spätmodernen Unbehagen mit Kontingenz und Ambiguität. Die Spätmoderne unterscheidet sich von der Moderne insbesondere in
73
Jürgen Habermas: Grenzen des Neohistorismus. In: Ders.: Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften VII. Frankfurt a.M. 1990, S. 149-165, hier: S. 152.
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dem Bewusstsein, dass die Versprechen der Moderne von Eindeutigkeit, Universalismus und ewigem Fortschritt uneinlösbar sind und Ambiguität ein Bestandteil menschlichen Lebens bleibt.74 Der Fortschrittsglaube der Moderne beinhaltet das Schaffen von Eindeutigkeit und die Verdrängung von Ambiguität. In der Spätmoderne erzeugt das Bewusstsein von der Unauslöschbarkeit der Ambiguität ein neues Unsicherheitsgefühl, denn der Fortschrittsglaube ist durch den unvermeidbaren Störfaktor Ambiguität generell in Frage gestellt, während dieser Störfaktor in der Moderne noch als temporäres und bald überwundenes Problem galt, wie Zygmunt Bauman feststellt: »Modernity could dismiss its own uncertainty as a temporary affliction. Each uncertainty came complete with the recipe for curing it: just one more problem, and problems were defined by their solutions. […] The passage from uncertainty to certainty, from ambivalence to transparency seemed to be a matter of time, of resolve, of resources, of knowledge. It is an entirely different matter to live with the postmodern awareness of no certain exit from uncertainty […]. The discomfort such awareness brings about is the source of specifically postmodern discontents: discontent against the condition fraught with ambivalence, against the contingency that refuses to go away, […]«75 In diesen Zusammenhang gehören auch die Überlegungen von Thomas Bauer, der der heutigen deutschen Gesellschaft einen Verlust an Ambiguitätstoleranz und eine Tendenz zur Vereindeutigung unterstellt. Dieser Verlust kann dadurch erklärt werden, dass die Gesellschaft in der Spätmoderne nicht länger uneingeschränkt an den Fortschritt der Moderne als positive Entwicklung glaubt und der Störfaktor Ambiguität nicht länger als überwindbares Problem, sondern als permanenter Bestandteil menschlichen Zusammenlebens empfunden wird. Die Forderung nach Leitkultur sollte nicht auf die Sphäre der Kultur übertragen werden, die ihren Wert für die Gesellschaft erst als Rückzugsort für Transkulturalität, Ambiguität und Kontingenz erhält.
74 75
Vgl. Bauman 1991, S. 237. Ebd., S. 237.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
Teilhabeorientierte Kulturvermittlung beruft sich auf die Forderungen der Neuen Kulturpolitik nach dem Bürgerrecht auf Kultur und nach »Kultur für alle«, wie es Hilmar Hoffmann 19791 formuliert hat. Öffentlich geförderte Kulturangebote werden in Deutschland »vor allem von den höher gebildeten und sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen wahrgenommen«2 . Auf der Grundlage einer Metastudie unterscheidet Thomas Renz zwischen den »Kernbesuchern«, zu denen »[e]twa 10 % der deutschen Bevölkerung zählen«, den »Gelegenheitsbesucher[n], welche circa 40 % […] ausmachen« und den »NieBesuchern«, zu denen »[e]twa die Hälfte der Bevölkerung«3 gehört. Aus der Sicht der Neuen Kulturpolitik gilt diese Besuchertendenz als gesellschaftliches Problem, zu dessen Überwindung eine geeignete Kulturvermittlung beitragen soll. Im Diskurs um teilhabeorientierte Kulturvermittlung geht es um den kulturpolitischen Umgang mit der Multikulturalität und kulturellen Grenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft, womit nicht nur Differenzen durch Migration gemeint sind, sondern auch durch verschiedene Bildungshintergründe und soziale Ungleichheiten. Es sollen sowohl Gelegenheitsbesucher zu Kernbesuchern als auch NieBesucher zu Gelegenheitsbesuchern werden. Teilhabeorientierte Kulturver1 2
3
Hoffmann 1979. Birgit Mandel: Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building. Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öffentlich geförderten Kulturangebots. In: Dies. (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 20-49, hier: S. 20. Thomas Renz: Nicht-Besucher im Kulturbetrieb. Ein Überblick des aktuellen Forschungsstands und ein Ausblick auf praktische Konsequenzen der Publikumsforschung in Deutschland. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 62-78, hier: S. 65-66.
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mittlung ist in Deutschland allerdings in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt, denn es »galt bislang das Credo, dass künstlerische Produktionen und Programm nicht strategisch an den Interessen des potenziellen Zielpublikums auszurichten seien, um die künstlerische Freiheit und Qualität nicht zu gefährden […]«4 . Die meisten Kultureinrichtungen müssen sich deshalb darauf konzentrieren, »für ein nicht antastbares, künstlerisches Produkt das passende, weil bereits potenziell interessierte Publikum«5 zu mobilisieren. Allerdings haben mehrere Befragungen gezeigt, dass der häufigste Grund für die Nichtnutzung öffentlich geförderter Kulturangebote fehlendes Interesse ist.6 Die Unterscheidung zwischen ernsthafter Hochkultur, die auf dem Markt mangels Publikumsinteresse nicht bestehen könnte und deshalb öffentliche Förderung braucht, und unterhaltender Populärkultur, die sich auf dem Markt durchsetzt, hält Birgit Mandel für »eine Denktradition, die die soziale Spaltung verstärkt«7 . Der entscheidende Anknüpfungspunkt für die Gewinnung neuer Nutzer ist für Mandel die Berücksichtigung des Publikumsinteresses in den Programminhalten öffentlich geförderter Kultureinrichtungen. Sie fragt deshalb: »Wenn durch die Forschungsergebnisse deutlich wird, dass die Veränderungen der Rahmenbedingungen von Kulturanbietern wie Kommunikation, Distribution und Präsentation zwar notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen sind, um die sozial selektive Nachfrage hochkultureller Programme zu verändern, inwieweit kann und darf man im Rahmen eines kulturpolitisch motivierten Audience Development auch Einfluss nehmen auf künstlerische Programme und künstlerisches Personal einer Einrichtung?«8 Damit eine Gesellschaft mithilfe der Kultur über sich selbst kommuniziert und den negativen Auswirkungen der erodierenden Öffentlichkeit entgegengewirkt werden kann, ist ein gesellschaftlich anerkannter und viel rezipierter, kultureller Kanon hilfreich. Auch aus dieser Perspektive ist es demnach problematisch, wenn die öffentlich geförderten Kulturangebote nur von bestimmten sozialen Milieus genutzt werden.
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Mandel 2016a, S. 33. Ebd. Ebd., S. 25-26. Ebd., S. 35. Ebd.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
Kulturpolitik sollte in diesem Zusammenhang nicht als Lösung für soziale Probleme gesehen und in seiner Wirkung überschätzt werden. Regelmäßige Museums- oder Konzertbesuche können beispielsweise keine finanzielle Notlage mildern, keine psychischen Erkrankungen heilen, keine Alkoholabhängigkeit beenden und keine soziale Isolation verhindern. Vereine wie KulturLeben Hamburg e.V., die durch die Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter Menschen mit geringem Einkommen kostenlose Kulturbesuche ermöglichen, leisten einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Teilhabe, der die Auswirkungen gesellschaftlicher Probleme abmildern, aber leider nicht entfernen kann. Auf den Ausstellungen documenta 12, documenta 13 und documenta 14 hat man mit Verweis auf eine sozial integrative Kunstvermittlung bewusst auf die Beschäftigung von Kunstexperten verzichtet und stattdessen Laien als Vermittler eingesetzt.9 Der Fokus wurde auf die Interessen der Besucher gerichtet, um so einen Dialog zwischen Besuchern und Institutionen zu ermöglichen. Allein vom Publikumsinteresse gesteuerte Kulturangebote laufen allerdings Gefahr, den Anforderungen eines Kulturkanons nicht gerecht zu werden, dessen Kunstwerke immer wieder neue Interpretationen und intersubjektive Auseinandersetzungen ermöglichen sollen und deshalb einen bestimmten Komplexitätsgrad und Ambiguitätsgehalt nicht unterschreiten können. Kulturpolitik befindet sich deshalb in einem Spannungsverhältnis zwischen Publikumsinteresse und kunsttheoretischen und wissenschaftlichen Überlegungen zur Wirkungsweise und gesellschaftlichen Relevanz von Kunst. Für die Rezeption komplexer Kunstwerke ist meist eine ästhetische Vorbildung und ein geschulter Blick notwendig, was sich als schwer überwindbare Schwelle erweist, wenn man neue Nutzer öffentlich geförderter Kulturangebote gewinnen will. Auch Thomas Renz stellt fest, dass das Ziel »eines sozial ausgewogeneren Publikums« nur möglich ist, wenn Kultureinrichtungen daran arbeiten, »die Diskrepanz zwischen berechtigt anstrengend, komplex und mehrdeutig gestalteter Kunst auf der Seite der
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Vgl. zu documenta 12 und 13: Birgit Mandel: Sozial integrative Kulturvermittlung öffentlich geförderter Kulturinstitutionen zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse. In: Dies. (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 125-139, hier: S. 133-134. Zu documenta 14: Martin Doerry: Hauptsache, es klingt kompliziert. In: SPIEGEL ONLINE vom 28.7.2017. URL: www.spiegel.de/spiegel/ein-spaziergang-ueber-die-missratene-documenta-14in-kassel-a-1159482.html (Datum des Zugriffs: 27.6.2018).
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Produzenten und den ebenfalls berechtigten Ansprüchen nach Unterhaltung und Erholung auf der Seite der Nicht-Besucher zu überbrücken«10 . Renz sieht für diese Ziele zum Beispiel in öffentlich geförderten Theatern Entwicklungsbedarf. Um den »erlernten Rezeptionserfahrungen und Freizeitansprüchen von Nicht- und Gelegenheitsbesuchern« gerecht zu werden, reichen Renz zufolge keine »Marketing- und Vermittlungsmaßnahmen«11 aus, sondern müssten Theater auch ihre Programme anpassen. Gleichzeitig ist Kulturpolitik der Aufrechterhaltung eines tradierten, hochkulturellen Kanons verpflichtet, der der Gesellschaft einen gemeinsamen Kommunikationsrahmen intersubjektiver Interpretation ermöglicht. Kulturpolitik bewegt sich so immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Beibehaltung und Erneuerung, zwischen Tradition und Innovation, und muss beide Seiten in einer gesunden Balance halten. Rezeptionserfahrungen sind von subjektiven Bedingungen abhängig. Komplexe Kunstwerke können bei erfahrenen Rezipienten stimulierende Rezeptionserfahrungen bewirken, während Rezipienten, die nicht über diese Vorbildung verfügen, das gleiche Kunstwerk als überfordernd oder bedeutungslos wahrnehmen können. Damit bisher Uninteressierte zu Nutzern der öffentlich geförderten Kulturangebote werden, »ist eine positive Rezeptionserfahrung unumgänglich«12 . Eine langfristige Vergrößerung der Nutzergruppen auch für ästhetisch komplexere Kulturangebote gelingt deshalb nur über ästhetische Bildung.13 Zusätzlich zur ästhetischen Bildung muss aber natürlich auch Interesse bei den bisher Uninteressierten geweckt werden. Ein Ansatz dafür kann es sein, in der Programmgestaltung an Rezeptionsgewohnheiten der jeweiligen Zielgruppen anzuknüpfen und die traditionellen Hochkulturformate mit populären Formaten zu vermischen. Gaming erfreut sich in Deutschland großer Beliebtheit und wird zunehmend auch in der Kulturpolitik und insbesondere der Kulturvermittlung als Chance verstanden. Christoph Deeg erkennt in Computer- und Videospielen ein »großes Potenzial für eine zukunftsorientierte Kulturvermittlung«
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Renz 2016, S. 74. Ebd. Ebd., S. 73. Deshalb fordern z.B. Stephan Opitz und Heinrich Wolf eine integrierte Bildungs- und Kulturpolitik: Stephan Opitz & Heinrich Wolf: Kontrakt- und Konzeptförderung – kulturpolitisches Grundlagenhandeln. In: Norbert Sievers (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2014. Bonn/Essen 2015, S. 315-323.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
und bezeichnet dieses Thema sogar als »unverzichtbar«14 für Zukunftsüberlegungen im Kontext der Kulturvermittlung. Eine Möglichkeit der Kulturvermittlung mit Videospielen sieht Deeg in der »Vermischung der verschiedenen Kunstformen«15 und meint damit speziell die Vermischung tradierter – auch öffentlich geförderter – Kunstformen und -werke mit neuen, digitalen Videospielwelten, in denen der Nutzer selbst aktiv am Geschehen teilnimmt. Das große Potenzial der Videospiele für die Kulturvermittlung liegt Deeg zufolge gerade in dieser Partizipation der Nutzer, die aus den Rezipienten nicht nur passive Ziele der Kulturvermittler, sondern aktive Teilnehmer macht. Das Potenzial der Videospiele zeigt sich auch an der Anzahl der Nutzer in Deutschland. So konnte Bitkom, der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, 2015 feststellen, dass »42 Prozent der Bundesbürger«16 Computer- und Videospiele spielen. Linda Breitlauch, Professorin für Game Design an der Hochschule Trier und Jurymitglied des Deutschen Computerspielpreises, bezeichnet Computerspiele als »kulturelle[n] Ausdruck einer jungen Generation« und warnt vor »der drohenden internationalen Bedeutungslosigkeit des Kulturguts deutsche Computerspiele«17 . Der Deutsche Computerspielpreis, der vom Branchenverband game und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur getragen wird, trägt zwar mit den Preisgeldern zur Entwicklung deutscher Videospiele bei, aber hat insbesondere 2019 bei der Preisverleihung nur damit öffentliche Aufmerksamkeit erregt, dass die Moderatorin Ina Müller und die anwesenden Politiker Videospiele überhaupt nicht ernst nehmen, sondern alte Klischees bemühen, um Videospiele als defizitäres Medium zu markieren.18 14
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Christoph Deeg: Gaming als Blaupause für eine neue partizipative, digitale Kulturvermittlung. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 228-235, hier: S. 228. Ebd., S. 233. Axel Pols: Gaming hat sich in allen Altersgruppen etabliert. In: bitkom.org vom 29.7.2015. URL: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Gaming-hat-sichin-allen-Altersgruppen-etabliert.html (Datum des Zugriffs: 6.3.2019). Linda Breitlauch: Der kulturelle Ausdruck einer jungen Generation. In: Politik und Kultur 3/18, S. 32. Markus Böhm: Eine Branche erniedrigt sich selbst. Computerspielpreis mit Ina Müller. In: Spiegel Online vom 20.4.2019. URL: https://www.spiegel.de/netzwelt/games/ deutscher-computerspielpreis-2019-eine-branche-erniedrigt-sich-selbst-a-1262105. html (Datum des Zugriffs: 4.7.2019).
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Videospiele sind – ähnlich wie Brettspiele oder Sport – in unzähligen Varianten vorhanden und werden zu verschiedenen Zwecken genutzt, die nicht alle von kulturpolitischer Relevanz sind. Zunächst ist festzuhalten, dass die in Deutschland und weltweit mit Abstand beliebtesten Spiele Mehrspielerwettbewerbe sind, in denen sich einzelne Spieler oder Mannschaften in Geschicklichkeit, Strategie und Teamkooperation messen und in denen die virtuelle Welt nur als Spielfeld für den Wettbewerb dient, also eher einem Schachbrett gleicht als einem literarischen Text oder einem Film. Diese Spiele sind, gerade wenn es um Turniere und professionelle Ligen geht, weniger mit Kunst verwandt als mit Spielen wie Schach oder Basketball und liegen somit nicht im traditionellen Aufgabenbereich der Kulturpolitik. Anders ist das allerdings bei Computerspielen, in denen die interaktive Rezeptionserfahrung der virtuellen Welt und die audiovisuelle Gestaltung der Spielumgebung im Vordergrund stehen und Geschichten erlebt werden, denn hier ist eine Verwandtschaft zu anderen Kunstformen durchaus erkennbar. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf diese Art von Videospielen, die unter Umständen für teilhabeorientierte Kulturvermittlung genutzt werden kann. Zwar ist Wolfgang Zacharias zuzustimmen, dass Videospiele »zunächst grundsätzlich positiv bewertet werden« sollten und sie nicht einfach »als minderwertig abzuqualifizieren«19 sind, aber es ist auffällig, dass die beliebtesten Spiele das künstlerische Potenzial des Mediums nur sehr eingeschränkt nutzen. In Kriegs- und Kampfsimulationen in verschiedenen Settings vom Zweiten Weltkrieg bis zur Fantasy ist die aktive Rolle des Rezipienten zumeist auf das Töten oder Verletzen anderer Spieler oder von Nichtspielerfiguren beschränkt. Die Entscheidungen des Spielers drehen sich in erster Linie um die effektivsten Möglichkeiten des Kampfes. Die Vermischung tradierter Kunstformen mit der Games-Ästhetik zum Zwecke teilhabeorientierter Kulturvermittlung kann daher nur mit Vorsicht auf die etablierten Spielmechanismen und eingeübten Handlungsweisen der Nutzer zurückgreifen. Spiele, die in ihrer Thematik und ihren Spielmechanismen nicht die Erwartungen der Nutzer erfüllen, haben es meist schwer auf dem Markt. Das Erleben und Erkunden erfundener Welten, wie es in Open-World-Spielen möglich ist, ist in den etablierten Spielen dieses Formats wie World of Warcraft, Red Dead Redemption oder Grand Theft Auto nur der Hintergrund für unzählige Kampf- und Tötungserfahrungen des Nutzers vor wechselnden Kulissen. Eine Spielweise, die sich nicht auf Kämpfe konzentriert, ist meist nur möglich, wenn Spieler auf die 19
Zacharias 2016, S. 242.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
intendierten Pfade und Aufgaben verzichten und sich selbst eigene Regeln des Spiels schaffen. Auch in dem selbst in Feuilletons gelobten und weltweit von Millionen Menschen gespielten Assassin’s Creed: Odyssey, in dem der Spieler frei durch detailgetreu nachgebaute Teile des antiken Griechenlands zur Zeit des Peloponnesischen Krieges laufen kann, sind die schönen Landschaften, die realen historischen Personen wie Perikles und Sokrates und die historischen Bauten wie die Akropolis von Athen nur der dekorative Hintergrund für unzählige Kampf- und Tötungserfahrungen, die die meiste Anstrengung und Zeit des Spielers beanspruchen. Andere Interaktionsmöglichkeiten mit der Umwelt stehen dem Spieler kaum zur Verfügung. Wenn der Spieler von der passiven Betrachterrolle in eine aktive Rolle wechseln oder die Handlung vorantreiben möchte, dann ist er fast komplett auf gewalttätige und tödliche Interaktionen beschränkt. Oliver Weber lobt jedoch insbesondere, dass die Spieler die griechischen Statuen in bunter Farbenpracht und nicht etwa nur in weißem Marmor erleben können, was dem aktuellen Forschungsstand entspreche.20 Auch Jan Küveler lobt vor allem die Schönheit der detailreichen Spielwelt, in der die »großen Städte […] liebevoll animiert« sind und »man den Terrakotta-Vasen […] in allen vier Stadien ihrer traditionellen Herstellung begegnen kann«21 . Thomas Lindemann bezeichnet das Spiel zwar als »Actionspiel«, das »durchaus gelungen« ist, aber kann bei der abschließenden Bewertung nicht über die extreme Gewalt und Gewaltverherrlichung hinwegsehen und bezeichnet die »Stilisierung des massenhaften Tötens und Sterbens« in dem Spiel als »absurd« und »abstoßend«22 . Dass andere Rezensenten die extremen Gewaltdarstellungen nicht thematisieren, führt Lindemann darauf zurück, »dass die Videospieleindustrie sich eine gewisse Narrenfreiheit erkämpft hat, was Gewaltdarstellungen angeht«23 . So ist es in diesem Spiel wie in den meisten ak-
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Oliver Weber: Farbanstrich für das antike Griechenland. In: FAZ vom 26.01.2019 (aktualisierte Fassung). URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/ geist-und-mehr/assassin-s-creed-videospiel-vermittelt-historisch-akkurates-bild-160 01228.html (Datum des Zugriffs: 6.3.2019). Jan Küveler: Ein Computerspiel, das süchtig macht. In: WELT vom 08.10.2018. URL: https://www.welt.de/kultur/article181804698/Assassin-s-Creed-Odyssey-Macht-sosuechtig-wie-Heroin-Computerspiel-Playstation.html (Datum des Zugriffs: 6.3.2019). Thomas Lindemann: Wo der Spaß aufhört. In: Zeit Online vom 05.10.2018. URL: https://www.zeit.de/digital/games/2018-10/assassins-creed-odyssey-gewalt-gaming-rezension (Datum des Zugriffs: 6.3.2019). Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
tuell beliebten Spielen nicht möglich, »die Anwendung von Gewalt zu hinterfragen«, und »Gewalt ist in Odyssey die einzige Lösung für jedes Problem«24 . Wählen kann der Spieler in der »50 bis 100 Stunden«25 umfassenden Spielerfahrung nur zwischen verschiedenen Arten und Intensitätsgraden der Gewaltanwendung. Bezüge zu Homers Odyssee sind nur im Namen des Spiels und in einigen Dialogen zu finden. An Assassin’s Creed: Odyssey könnte sich wohl kaum eine interpretatorische Diskussion der Rezipienten entwickeln, in denen Eindeutigkeiten der Gesellschaft in Frage gestellt werden. Eine transkulturelle Vernetzung der heutigen Nutzer des Spiels mit der Kultur des antiken Griechenlands gelingt deshalb auch nur sehr eingeschränkt, beziehungsweise gelingt überhaupt nur, wenn der Nutzer die im Spiel angelegten Aufgaben ignoriert und selbst die Spielwelt erkundet. Andere Arten, die virtuellen Welten erfahrbar zu machen, scheinen die großen Spielehersteller und vielleicht auch viele Nutzer wenig zu interessieren, auch wenn andere Arten durchaus möglich sind.26 Die seltenen Beispiele für Spiele, die sich nicht auf Kämpfe beschränken, werden meist von einzelnen oder wenigen, von den großen Spielefirmen unabhängigen, Entwicklern produziert und fristen ein Nischendasein. Genau in dieser Nische, die nur schwer mit den Marketing- und Produktionsbudgets der internationalen Firmen konkurrieren kann, bewegen sich auch mögliche staatlich geförderte Vermischungen von virtuellen Welten und tradierten, anderen Kunstformen, wenn sich diese Vermischungen nicht an den Trend der Kampf- und Tötungssimulationen anschließen wollen. Das transkulturelle Potenzial von Games für die teilhabeorientierte Kulturvermittlung erscheint aus dieser Perspektive weniger groß als die Nutzerstatistiken der Gamesbranche vermuten lassen. Zu vernachlässigen ist dieses Potenzial trotzdem nicht, auch wenn ambiguitätshaltige Spiele, in denen der Spieler zum Beispiel in moralische Dilemmata seiner Entscheidungen gerät, auf dem Spielemarkt nur wenige Nutzer für sich gewinnen können. Nur wenige Gamer sind von Spielen zu begeistern, die erheblich von den üblichen Spielmechanismen und Verhaltensweisen innerhalb von Spielwelten abweichen und kontemplativere, mehrdeutigere Spielerfahrungen anbieten. Kulturpolitische Computerspielförderung ist deshalb nicht per se ein geeigneter Ansatz für eine teilhabeorientierte Kulturvermitt-
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Ebd. Ebd. Z.B. Journey des Studios thatgamecompany oder Firewatch des Studios Campo Santo.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
lung, durch den Millionen von Computerspielern für kulturpolitisch geförderte Angebote mobilisiert werden könnten. Projekte teilhabeorientierter Kulturvermittlung richten sich oft an bestimmte Zielgruppen wie sozial Benachteiligte, Jugendliche aus Problemvierteln, Menschen mit Migrationshintergrund oder Flüchtlinge. Dieser Ansatz wiederum wird für seine Tendenz kritisiert, die jeweilige Zielgruppe auf ein bestimmtes Defizit zu reduzieren, dass mithilfe der Kulturvermittlung ausgeglichen werden soll. Dabei werden die Kulturinstitutionen als Träger eines bestimmten Wissens gedacht, das sie den Zielgruppen vermitteln, um deren Defizit auszugleichen. Eine gleichberechtigte Kommunikation kommt daher oft nicht zustande und wahrgenommene Differenzen werden reproduziert.27 Wird diesen Zielgruppen von Fachleuten ein Theaterstück, eine Ausstellung oder ein Konzert erklärt und für sie entziffert, dann wird den Zielgruppen die Fähigkeit eigener Interpretation abgesprochen und die wahrgenommene Ausgeschlossenheit bestätigt. Ein hierarchiefreier ›dritter Raum‹ der Hybridisierung kommt in solchen Fällen nicht zustande. Auch in diesem Kontext erweist sich die Öffnung des Kulturangebotes über den Programminhalt als sicherste Variante, um neue Zielgruppen zu erschließen, die in ihren Interessen und Rezeptionsgewohnheiten ernstgenommen und nicht als defizitär gedacht werden sollten. Das bedeutet wiederum nicht, dass tradierte hochkulturelle Angebote keine Daseinsberechtigung mehr haben, sondern nur, dass neue Programminhalte neben die althergebrachten treten können, woraus vielleicht sogar ungeahnte Synergien entstehen. Problematisch ist, wenn die Adressierung von Zielgruppen über bestimmte allgemeine Eigenschaften komplett in Frage gestellt wird und stattdessen die jeweils besondere Umgebung jeder Kulturinstitution eigene Wege der teilhabeorientierten Öffnung finden soll. So plädiert etwa Alexander Henschel »für Aufmerksamkeit für singuläre Probleme mit singulären Menschen in singulären Kontexten und gegen die Verallgemeinerung von Vermittlungsproblemen« und sieht einen möglichen »Ausgangspunkt von Kunstvermittlung« darin, »die Aufmerksamkeit auf das je ganz eigene lokale Umfeld einer Institution zu richten«28 . Aus den Überlegungen von Zygmunt Bauman und Andreas Reckwitz ist hervorgegangen, dass das Individuelle das Allgemeine
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Vgl. Alexander Henschel: Die Brücke als Riss. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 141-153, hier: S. 148. Ebd., S. 151.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
zunehmend verdrängt und insbesondere im kulturellen und medialen Bereich zu Prozessen führt, die demokratische Öffentlichkeitsmechanismen zu zersetzen drohen. In dieser Arbeit wird argumentiert, dass Kulturpolitik einen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer allgemeinen Öffentlichkeit leisten kann. Wenn teilhabeorientierte Kulturvermittlung in jeder einzelnen Kulturinstitution neu erfunden werden muss und so jeweils neue Parallelöffentlichkeiten entstehen, dann ist der kulturpolitische Beitrag zum Allgemeinen schwer realisierbar. In Deutschland hatten 2017 »rund 19,3 Millionen Menschen […] einen Migrationshintergrund«29 . In den meisten westdeutschen Großstädten haben zwischen 30 und 40 % der Menschen einen Migrationshintergrund. Während es bei den Besucherzahlen der »privatwirtschaftlichen, unterhaltungsorientierten Kulturformen« zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund kaum Unterschiede gibt, »liegen die jeweiligen Besucheranteile der klassischen Kultureinrichtungen […] bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um etwa 10 bis 20 % unter denen der deutschstämmigen Bevölkerung«30 . Die populären, marktorientierten Kulturangebote haben offenbar kein Problem damit, kulturelle Teilhabe umzusetzen. Diese Unterschiede sind damit zu erklären, dass die klassischen Kultureinrichtungen stark auf die europäische, bürgerliche Tradition ausgerichtet sind, die im kulturpolitischen Kontext meist als bessere Kulturform gegenüber der marktorientierten Populärkultur gilt, welche nicht an eine bestimmte Kulturtradition gebunden ist. Nur, weil etwas öffentlich gefördert wird, ist es nicht automatisch anspruchsvollere, relevantere und bessere Kunst als marktorientierte Populärkultur. Andersherum gilt aber auch, dass nur weil etwas auf dem Markt besteht und von sich aus Publikumsinteresse generieren kann, es sich nicht automatisch um qualitativ hochwertige Kunst handelt. Zu Recht wird eine strikte Trennung zwischen unterhaltender und ernsthafter Kultur in den Cultural Studies abgelehnt. Öffentlich geförderte Kultureinrichtungen können von der Populärkultur lernen, unterhaltende und ernsthafte Aspekte miteinander zu verbinden, nicht generell Unterhaltung zu verbannen und nicht nur auf verstörte Rezipienten als Qualitätsmerkmal zu setzen.
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Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 282 vom 1.8.2018. URL: https://www. destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/08/PD18_282_12511.html (Datum des Zugriffs: 10.7.2019). Mandel 2016a, S. 24.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
Lutz Liffers, Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Einrichtung Kultur Vor Ort e.V., beobachtet, dass oft die »überholte Vorstellung von ›Multikulti‹ der konzeptionelle Orientierungsrahmen für viele Stadtteileinrichtungen, seien es Kitas, Schulen, Jugend- und auch Kultureinrichtungen«31 ist. Diese Vorstellung sei deshalb überholt, weil die zentralen Unterschiede in den heutigen Städten nicht mehr entlang kultureller oder ethnischer Grenzen, sondern entlang sozialer Milieus verlaufen. Mit Verweisen auf Wolfgang Welschs Transkulturalitätskonzept und Pierre Bourdieu stellt Liffers fest, dass wir es im Gegensatz zu den »sozial relativ homogenen und politisch gut organisierten Arbeiterstadtteilen des 19. und 20. Jahrhunderts […] in den heutigen globalisierten Stadtteilen mit extremer Ausdifferenzierung der sozialen Lagen innerhalb der ärmeren Milieus zu tun«32 haben. Diese Beobachtung macht auch der Soziologe Jürgen Nowak schon 2006 bei seiner Untersuchung der Begriffe Leitkultur und Parallelgesellschaft, in der er feststellt, dass die sozialen Differenzen der Gesellschaft erst durch die öffentlichen Diskussionen kulturalisiert und ethnisiert werden.33 Hinzu kommt, dass es nicht nur zwei oder drei verschiedene, klar voneinander abgegrenzte, ethnisch-kulturelle Einflüsse gibt, sondern sich von Migrationsgeschichten geprägte Menschen aus nahezu allen Teilen der Welt in den globalisierten Stadtteilen in unmittelbarer Nähe zueinander befinden und sich gegenseitig beeinflussen. Zusätzlich dazu entstehen besonders in den nachfolgenden Generationen hybride Identitäten, in denen kulturelle Einflüsse aus dem Herkunftsort der Eltern mit den je eigenen Erfahrungen in der globalisierten Stadt vermischt werden. Liffers bezeichnet diesen Diversitätsgrad heutiger globalisierter Stadtteile im Kontext kultureller Bildung als »eine Steilvorlage, denn künstlerisches Arbeiten speist sich aus Widerspruch, Ambivalenz, Heterogenität und Synkretismus«34 . Ein Potenzial sieht Liffers in der Identifikation mit der Stadt und dem Stadtteil. Dieses Potenzial sieht auch Werner Schiffauer im Kontext seiner Untersuchung des Begriffs der Parallelgesellschaften besonders bei den jungen Ein-
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Lutz Liffers: Superdiversity – Steilvorlage für die künstlerische Bildung in globalisierten Stadtteilen. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 247-256, hier: S. 250. Ebd., S. 249-250. Nowak 2006, S. 13. Liffers 2016, S. 251.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
wanderern, deren Identifikation mit der jeweiligen Stadt er als »ausgeprägt«35 bezeichnet. Ein Anknüpfungspunkt für Kulturvermittlung, die sich auch an Deutsche mit Migrationshintergrund richtet, ist das spezifische kulturelle Interesse der Menschen mit Migrationshintergrund, wozu unter anderem »eine große Aufgeschlossenheit für kulturelle Angebote aus verschiedenen Kulturräumen«36 zählt. Eine Fokussierung des Kulturmarketings auf bestimmte ethnische und nationale Zugehörigkeiten bestimmter Migrantengruppen im Sinne eines »Ethnomarketing[s]«37 erscheint Vera Allmanritter mit Verweis auf die von ihr ausgewerteten Befragungen als nicht empfehlenswert. Auch Liffers hält einen Marketingansatz, der bestimmte ethnische Gruppen direkt anspricht, für überholt und warnt insbesondere vor der Reproduktion gängiger Stereotypen und vor der künstlerischen Unterforderung der Zielgruppen, die zu häufig als defizitär gedacht werden: »Zu oft tragen Vorstadtprojekte selbst zu einer Ethnisierung bei, etwa durch die immer neue Reproduktion von Stereotypen zum Beispiel durch Rap und Breakdance als angeblich authentische Kunstform von Vorstadtkids. Zu oft werden Kinder und Jugendliche aus Vorstädten systematisch unterfordert, etwa durch Vermeidung konfliktträchtiger, trauer- oder angstbesetzter Themen in der künstlerischen Produktion. Dabei ist Unterforderung ein besonders starker Mechanismus der institutionellen Diskriminierung.«38 Liffers warnt außerdem davor, »Flüchtlinge und Kinder mit Migrationshintergrund auf diesen Aspekt ihres Lebens« zu reduzieren, indem sie in künstlerischen Projekten immer wieder »die Themen ›Flucht‹ oder ›Heimat‹«39 verhandeln müssen. Dass bestimmte ethnische Gruppen angesprochen werden, kommt für Allmanritter nur mit einer gewissen Vorsicht und in Kombination mit einem »Milieu-orientierten Ansatz[…]«40 in Frage. Als klare Handlungs-
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Schiffauer 2008, S, 16. Vera Allmanritter: Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum. Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands für ein erfolgreiches Audience Development. In: Birgit Mandel (Hg.): Teilhabeorientierte Kulturvermittlung. Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens. Bielefeld 2016, S. 89102, hier: S. 92. Ebd., S. 97. Liffers 2016, S. 254. Ebd., S. 254. Allmanritter 2016, S. 97.
13. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung
empfehlung formuliert Allmanritter stattdessen einen Ansatz, der den hybriden Identitäten und dem transkulturellen Interesse der Menschen mit Migrationshintergrund zumindest aus dem intellektuell-kosmopolitischen Milieu gerecht wird. Sie empfiehlt deshalb »ein künstlerisch hochwertiges und breites Angebotsspektrum mit verschiedensten herkunftskulturellen Bezügen in mehreren Sprachen anzubieten. Insbesondere herkunftskulturell hybride Angebote, bei denen etwas Gemeinsames und Neues in hoher künstlerischer Qualität entsteht, entsprächen den hybriden Identitäten vieler Menschen mit Migrationshintergrund und würden gleichzeitig Bezüge zu verschiedenen herkunftskulturellen Lebenswelten herstellen.«41 Dabei ist es in den meisten Kulturinstitutionen gar nicht nötig, das Programm völlig anders zu gestalten, sondern es würde schon ein anderer Blick auf das unveränderte Programm reichen, der die Transkulturalität der Kunstwerke im Programm sichtbar macht und kontextualisiert. So könnten zum Beispiel Theater die Transkulturalität im Werk Goethes bei Inszenierungen aufzeigen und auf diese Weise sogar neue Impulse in der Beschäftigung mit Goethes Dramen setzen. Die intensive Auseinandersetzung mit der griechischen Antike oder mit den Dramen Shakespeares wären dafür ein geeigneter Ansatzpunkt. Denkbar sind allerdings auch offensichtlichere transkulturelle Programme, in denen Künstler oder Werke vorkommen, die Transkulturalität explizit thematisieren. Der Sinn eines solchen transkulturellen Programms ist nicht auf den Nutzen für teilhabeorientierte Kulturvermittlung reduziert. Aus herkunftskulturell hybriden Angeboten können neue künstlerische Formen und Impulse hervorgehen, die der Gesellschaft neue Möglichkeiten eröffnen, über sich selbst zu kommunizieren. Als transkulturelle Kunst sind sie trotzdem ebenso gut geeignet, gesellschaftliche Selbstreflexionsprozesse in Gang zu setzen wie weniger offensichtlich transkulturelle Kunst. Teilhabeorientierte Kulturvermittlung muss sich aber nicht auf die Gewinnung neuer Nutzer der traditionellen etablierten Kulturinstitutionen konzentrieren, sondern kann neuere kulturelle Entwicklungen nutzen, um bisher an kulturpolitisch geförderten Kulturangeboten Uninteressierte anzusprechen.
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14. Identität und Ambiguitätstoleranz
Der Identitätsbegriff wird oft zusammen mit Kategorien wie Nationalität, Ethnie und Religionszugehörigkeit verwendet, denen bestimmte Eigenschaften und Mentalitäten zugeschrieben werden. Derartige Kategorien können zwar durchaus an der Identitätsbildung einer Person durch Selbst- und Fremdzuschreibungen beteiligt sein, aber sie sind immer nur ein Teil des fortwährenden und individuellen Prozesses der Identitätsbildung. Kollektive Identität ist nicht als tatsächlich nachweisbare Eigenschaft aller Mitglieder einer Gruppe, sondern als »Selbstvorstellung und Selbstdarstellung«1 dieser Gruppe zu denken. Jan Assmann betont, dass zwar »Identität […] ein soziales Phänomen«, aber die konkrete Ausformung »eine Sache individuellen Wissens und Bewußtseins«2 ist. Ein essentialistisches Identitätsverständnis vernachlässigt, dass »Identität nur als variables Prozessresultat und nicht als ontologische Gegebenheit bestimmt werden«3 kann. In diesem Prozess konstituiert sich Identität je nach Situation neu und anders im Bewusstsein des Individuums, aber »kann auf Dauer nur erfolgreich hergestellt werden, wenn sie von anderen freiwillig anerkannt und damit sozial legitimiert wird«4 . Eva Kimminich stellt fest, dass »[s]ich mit Identität auseinanderzusetzen heißt […], sich mit vielschichtigen Konstruktionsprozessen zu befassen, die in unterschiedlichen Zeichensystemen sowie in intersubjektiven als auch medialen Repräsentationen und in spezifischen individuellen wie kollektiven
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J. Assmann 2002, S. 130. Ebd., S. 131. Siegfried J. Schmidt: Über die Fabrikationen von Identität. In: Eva Kimminich (Hg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen. Frankfurt a.M. 2003, S. 1-19, hier: S. 1. Ebd., S. 5.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Semantisierungen ihren Ausdruck finden«5 . Dabei stehen die Narrative individueller und kollektiver Identitätskonstrukte nicht immer in einem konfliktlosen Verhältnis zueinander. Nationale Zugehörigkeit ist ein möglicher Bestandteil von Identitätskonstruktionen, der allerdings weder notwendig noch essentiell für das Individuum ist. In politischen Diskursen in Deutschland dominiert eine essentialistische Verwendung des Begriffs der Identität. Diese spezifische Verwendung wird sowohl in nationalkonservativen als auch in multikulturalistischen Argumentationen aus politisch konträren Lagern bemüht. Sie bedeutet eine Komplexitätsreduktion, die dem vielschichtigen Identitätsbegriff nicht angemessen ist. Kulturelle Setzungen, die eine nationale Identität konstituieren, bedürfen der Konstruktion von Alterität. So beinhalten kulturelle Setzungen immer die Vorstellung vom Eigenen und vom Fremden. Wenn sich alle kulturellen Setzungen einer Nationalkultur in uneingeschränkter Zirkulierung befinden würden, dann würde sich die nationale Identität auflösen: »Eine Kultur ist eine an sich instabile, vermittelnde Art und Weise der Gestaltung von Erfahrung. Nur durch gesellschaftliche Durchsetzung einer imaginären Ordnung der Ausschließung – durch das Funktionieren dessen, was ich im folgenden als ›Blockierung‹ bezeichnen werde – kann Kultur als eine stabile Entität fingiert werden, deren charakteristische Repräsentation geordnet, exportiert oder akkomodiert werden können. Eine solche Blockierung findet andauernd statt – eine unendliche, unbeschränkte, undifferenzierte Zirkulation würde zum vollständigen Zusammenbruch der kulturellen Identität führen –, ist jedoch niemals absolut.«6 Der Begriff der nationalen Identität wird verwendet, um die vorgestellten Gemeinsamkeiten der Mitglieder einer Nation zu betonen. Der Begriff der Identität zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass je nach Kontext andere Vorstellungen in den Vordergrund rücken. Mit Verweisen auf Aspekte der Geschichte, der Religion und der nationalen Zugehörigkeit dient der Identitätsbegriff der »Beschwörung des Eigenen als einzigartig«7 und somit der Abgrenzung vom Fremden. Dabei sind es häufig Wunschvorstellungen und 5
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Eva Kimminich: Macht und Entmachtung der Zeichen. Einführende Betrachtungen über Individuum, Gesellschaft und Kultur. In: Dies. (Hg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen. Frankfurt a.M. 2003, S. VII-XLII, hier: S. XXXVII. Greenblatt 1998, S. 185. Valentin Groebner: Identität. Anmerkungen zu einem politischen Schlagwort. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2018), Heft XII, S. 109-115, hier: S. 115.
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
idealisierte Ereignisse aus der Vergangenheit, die das Eigene vom Fremden abgrenzen sollen. Der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe beschreibt Identität als komplexes Zusammenspiel zwischen Individuum und seiner Umwelt, aus dem sich ein jeweils »vorübergehende[s] Resultat der Wechselwirkung zwischen Übereinstimmung und Abgrenzung«8 ergibt. Eine Gesellschaft sollte Verhaeghe zufolge eine »Balance zwischen Gleichheit und Verschiedenheit«9 anstreben, die den notwendig entstehenden Aggressionen entsprechende Ventile bietet. Kunst und Kultur dienen in Verhaeghes Vorstellung nicht als Erzeuger von Gleichheit und Verschiedenheit, sondern als Ventil, durch das die aus der gesellschaftlichen Gleichheit und Verschiedenheit der Individuen entstandenen Aggressionen abgebaut werden können. Auch Dirk Baecker unterscheidet in seinem Kulturverständnis zwischen Gesellschaft und Kultur. Eine Funktion der Kultur ist Baecker zufolge, den Eindeutigkeiten der Gesellschaft die Mehrdeutigkeiten der Kultur gegenüberzustellen und der Gesellschaft auf diese Weise die Möglichkeit zur Kommunikation über sich selbst zu geben. Diesen »paradoxen Einschluss[…] des Ausgeschlossenen«10 muss auch die Kulturpolitik als ihre Aufgabe betrachten. Kulturpolitische Maßnahmen müssen sich daran messen, ob sie auf diese Weise die Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst ermöglichen. Sowohl Verhaeghes als auch Baeckers Beobachtungen folgend, müsste Kulturpolitik sich nicht mit der Erzeugung, Festigung oder Auflösung von Identität befassen, sondern den notwendig vorhandenen Identitätszwängen der Gesellschaft einen Raum gegenüberstellen, in dem diese Eindeutigkeiten außer Kraft gesetzt sind und die Gesellschaft über sich selbst kommunizieren kann. Thomas Bauer beobachtet eine zunehmende Tendenz zur Vereindeutigung der Welt und eine abnehmende Fähigkeit der deutschen Gesellschaft zur Ambiguitätstoleranz.11 Zu der Vereindeutigung der Welt zählt Bauer eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Phänomene der Ambiguitätsbeseitigung. Am Beispiel der Religiosität in Deutschland zeigt Bauer, dass sich Vereindeutigung durch Gleichgültigkeit auf der einen Seite und Fundamentalismus auf der anderen Seite zeigen kann. Während die Zahl derer zunimmt, 8
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Paul Verhaeghe: Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft. Aus dem Niederländischen von Brigit Erdmann und Angela Wicharz-Lindner. München 2013 [2012], S. 16. Ebd., S. 33. Baecker 2003, S. 81. Bauer 2018.
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denen Fragen der Religion völlig gleichgültig sind, nimmt auch die Zahl derer zu, die Fragen der Religion auf eine fundamentalistische Art beantworten: »Der Gleichgültige erkennt Ambiguität (oder wittert sie zumindest, ohne es sich bewusst zu machen) und wendet sich deshalb vom ambiguitätshaltigen Phänomen ab. Der andere, der Fundamentalist, leugnet es demgegenüber einfach, dass es Ambiguität gibt. Da es sie aber trotzdem gibt, braucht er in diesem Falle irgendeine religiöse oder politische Autorität, die die richtige Deutung, die einzig richtige Deutung, kennt. Man braucht einen Führer, ein Zentralkomitee, einen selbsternannten Kalifen.«12 Mit traditionell gelebter Religiosität habe der Fundamentalismus jedoch nicht mehr viel zu tun, denn gelebte Religiosität verlange eine gewisse Ambiguitätsoleranz, die »in durchbürokratisierten, hochtechnisierten und vor allem kapitalistischen Gesellschaften«13 schwinde. Auch Reckwitz beobachtet eine Zunahme fundamentalistischer Religionsauslegungen, die »mit ihrem Anspruch radikaler religiöser Authentizität Attraktivität entfalten«14 . Für die kulturpolitische Perspektive noch interessanter ist allerdings, dass die Tendenz zur Vereindeutigung auch in der Kunst zu beobachten ist, die für Bauer neben der Religion »die höchsten Ambiguitätsanforderungen«15 stellt. Bauer beobachtet, dass »sich Kunst, Musik und Literatur vorwiegend nahe dem fundamentalistischen Pol markierter ambiguitätsfreier Eindeutigkeit einerseits und dem Gleichgültigkeitspol andererseits […] bewegen, der entweder durch Bedeutungslosigkeit oder durch eine allzu belanglose Eindeutigkeit erreicht wird.«16 Kunst ermöglicht erst durch ihre Kontingenz, dass Rezipienten sich die Sinnzusammenhänge hermeneutisch erschließen und so in einen Dialog mit dem Kunstwerk eintreten können. Die Gegenwartskunst ist Bauer zufolge nur scheinbar besonders ambiguitätstolerant. Stattdessen tendiere sie zur ambiguitätsvermeidenden Bedeutungslosigkeit. Bei Kunstwerken, in die alles hineinprojiziert werden kann und die erst durch erklärende Hinweise
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Reckwitz 2017, S. 409. Bauer 2018, S. 41. Ebd., S. 42.
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ihr Bedeutungsfeld teilweise eingrenzen, kann nicht mehr von Ambiguität, sondern nur noch von Bedeutungslosigkeit gesprochen werden. Eine Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst kommt bei der Rezeption derartiger Kunstwerke nicht zustande. Als Beispiel nennt Bauer ein als Mahnmal gedachtes Kunstwerk, das Bernhard Heiliger 1989 im Auftrag von Daimler geschaffen hat.17 Die Skulptur sollte der Zwangsarbeiter gedenken, die von Daimler im Dritten Reich ausgebeutet wurden. Doch in dem abstrakten Kunstwerk ist kein Verweis auf die Zwangsarbeiter erkennbar, sondern es zeichnet sich gerade durch seine Unverbindlichkeit und Bedeutungslosigkeit aus, in die alles und nichts hineininterpretiert werden kann. Erst eine nachträglich angebrachte Gedenkplatte ermöglichte den Betrachtern, überhaupt eine Verbindung zu den Zwangsarbeitern herzustellen. Das Kunstwerk ist ohne Gedenkplatte bedeutungslos und die Gedenkplatte würde ohne das Kunstwerk in seiner Bedeutung unverändert bleiben. Vereindeutigung ließ sich auch bei den meisten Kunstwerken auf der documenta 14 beobachten. Die Kunstwerke bleiben entweder ohne begleitende Erläuterungen bedeutungslos oder drängen eine eindeutige Botschaft auf. Bei der documenta 14 wurde außerdem auf Erläuterungstexte bei den meisten Kunstwerken verzichtet und statt Führungen von Kunstexperten anzubieten, hatte man sich entschieden, lediglich Spaziergänge zu organisieren, bei denen die Besucher ihre Eindrücke schildern sollten.18 Die Verantwortlichen der documenta 14 betonten die gesellschaftsverändernde Kraft und das subversive Potenzial der Kunst, aber übertrugen diese hohen Ansprüche in eindeutige Belehrungen der Besucher oder nichtssagende Objekte, welche die Besucher ratlos und kenntnisfrei zurückließen. Adam Szymczyk, der künstlerische Leiter der documenta 14, macht in seinem ausstellungsbegleitenden Essay deutlich, dass Kunst seiner Meinung nach durch Erklärung der politischen Verhältnisse die Welt verändern soll.19 Der erläuternden und kommentierenden Kunst kommt diesem Verständnis nach die Funktion der politisch-moralischen Belehrung zu, durch die Ambiguität vermieden wird. Szymczyk sieht in seinem Essay Kapitalismuskritik als Mittelpunkt der documenta 14, womit er auch die Entscheidung erklärt, die
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Ebd., S. 51. Doerry 2018. Adam Szymczyk: Iterabilität und Andersheit. Von Athen aus lernen und agieren. In: Ders. und Quinn Latimer (Hg.): Der documenta 14 Reader. München/London/New York 2017, S. 17-42, hier: S. 27.
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Ausstellung teilweise in Athen stattfinden zu lassen.20 Allerdings ist fraglich, ob eine Verlagerung einer Kunstausstellung nach Athen schon als Kapitalismuskritik gelten kann. Die Kunstwerke der documenta 14 zeichnen sich durch eine eindeutige Abkoppelung vom Kunstmarkt aus. Einmalige Aktionen und Installationen entziehen sich automatisch dem Kunstmarkt und sind nicht leicht für eine Rezeption an anderen Orten und zu anderen Zeiten reproduzierbar. Die auch von Szymczyk beschworene Freiheit der Kunst bewegte sich durch die politischen und ästhetischen Vorgaben auf der documenta 14 in einem eng abgesteckten Feld. Es war eine klare Positionierung zum Kunstmarkt und zum Kapitalismus vorgegeben, ohne die ein Künstler nicht auf der documenta 14 ausstellen konnte. Natürlich ist dies keine Einschränkung der Kunstfreiheit, sondern die Förderung einer bestimmten politischen Kunst, aber diese Tendenz zur Vereindeutigung lässt sich in der gegenwärtigen bildenden Kunst allgemein beobachten. Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich beschreibt die Entwicklung der Differenz zwischen Kunstmarkt und Museumskunst als »Schisma«21 . Kunst, die auf dem Markt erfolgreich ist, steht der Kunst gegenüber, die sich durch politische Brisanz und Moral auszeichnet. Auf beiden Seiten ist eine Vereindeutigung des Kunstbegriffs beobachtbar, die Kunst entweder als Luxusgut zum Distinktionsgewinn oder als vom Markt abgekoppeltes Mittel zur moralischen Entwicklung der Gesellschaft definiert. Ein ambiguitätstoleranterer Blick auf die bildende Kunst, in dem beide Richtungen in ihrer Widersprüchlichkeit anerkannt werden und sich sogar Synergien ergeben können, ist auf dem Rückzug. Aus kulturpolitischer Perspektive können derartige Schismen in der Kunstwelt nicht als Gewinn an Kunstfreiheit durch Abkopplung vom Markt bewertet werden, denn die politisch-moralische Kuratorenkunst zeichnet sich ja gerade durch den Zwang der ständigen Abgrenzung vom Markt und die immer wieder beschworene Notwendigkeit politisch-moralischer Themen aus. Rezeptionserfahrungen, die vom Rezipienten eine aktive Vorstellungsund Interpretationstätigkeit erfordern, gelingen nur dann, wenn erstens ein Dialog zwischen Kunstwerk und Rezipienten überhaupt zustande kommen
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Ebd., S. 23. Wolfgang Ullrich: Zwischen Deko und Diskurs. In: Perlentaucher vom 17.7.2017. URL: https://www.perlentaucher.de/essay/wolfgang-ullrich-ueber-kuratoren-undkunstmarktkunst.html (Datum des Zugriffs: 6.7.2018).
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kann, was zum Beispiel bei einem komplett bedeutungslosen Kunstwerk verhindert wird, und zweitens, wenn das Kunstwerk durch Mehrdeutigkeit die Vorstellungskraft des Rezipienten aktiviert. Kulturpolitik muss sich der von Thomas Bauer beobachteten Vereindeutigung der Kunst möglichst entziehen, sollten derartige Rezeptionserfahrungen überhaupt gewünscht sein. Als einen ersten kleinen Schritt, der der Vereindeutigung entgegenwirken kann, nennt Thomas Bauer eine intensivere, Ambiguitätstoleranz fördernde Kunsterziehung. Zwei Tendenzen der Vereindeutigung kann Thomas Bauer auch im Kontext des aktuellen Fernsehens erkennen. Die Programme im deutschen Fernsehen »bestehen fast ausschließlich aus Formaten, die ambiguitätslos sind (Nachrichten, Sport, Börse, Reality-TV) oder die zeigen, wie Ambiguität beseitigt wird (Krimi, Quizsendung)«22 . Obwohl Bauer bestimmte Krimis als »Bereicherung« ansieht, kritisiert er »das parasitäre Überhandnehmen des Genres«23 im Fernsehen. Diese Tendenz gilt insbesondere für die öffentlichrechtlichen Fernsehsender, die in ihren Programmen für kein Format so viel Sendezeit bereitstellen wie für Krimis. So sind zum Beispiel »im Jahr 2015 allein im Programm von ZDF und ZDFneo mehr als viereinhalbtausend Morde« in Form von Krimifilmen und -serien zu sehen gewesen, während es im realen Deutschland »[w]eniger als dreihundert tatsächliche Mordfälle gab«24 . An fast jedem Wochentag zeigen ARD und ZDF im Abendprogramm mehrere Krimiserien und -filme, die sich in ihrer Dramaturgie gleichen. In nahezu allen dieser fiktiven Mordfälle wird der Mörder am Ende gefasst oder zumindest entdeckt. Die Auflösung der für den Zuschauer quälenden Ambiguität am Ende des Krimis ist fester Bestandteil des Formats und Abweichungen von diesem Schema sind im deutschen Fernsehen selten. Nachdem in fast allen Krimis in den ersten Minuten die Entdeckung des Mordopfers und die Untersuchung des Tatorts durch die Ermittler gezeigt wird, entwickelt sich eine ambiguitätshaltige Spannung im Verlauf des Krimis, die sich aus der Einführung mehrerer möglicher Täter speist. Der Zuschauer weiß dabei meist nur das, was auch die Ermittler wissen und so ist die finale Offenlegung des Täters eine spannungs- und ambiguitätslösende Erleichterung für den Zuschauer.
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Bauer 2018, S. 90. Ebd., S. 90. Frank Zeller: Der tägliche Tod. In: Süddeutsche Zeitung vom 5.1.2019. URL: https:// www.sueddeutsche.de/medien/fernsehen-krimis-gesellschaft-1.4275443 (Datum des Zugriffs: 25.2.2019).
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Ein entscheidender Unterschied zu realen Mordermittlungen und Gerichtsverfahren ist, dass die fiktiven Mordfälle nahezu immer eine komplett eindeutige Auflösung erfahren und der Zuschauer durch Rückblenden, umfassende Geständnisse oder gefundene Beweismittel eine restlose Befreiung von der Ambiguität erhält, die in realen Mordfällen nur selten zu erreichen ist. Ein nur lückenhaft rekonstruierter Tathergang oder gar ein unaufgeklärter Mord mit mehreren möglichen Tatverdächtigen – in der Realität keine Seltenheit – kommt offenbar für die fiktiven Mordfälle nicht in Frage. Eine weitere Tendenz ist der Wunsch vieler Zuschauer nach Authentizität, die Thomas Bauer in einem Zusammenhang mit Vereindeutigung sieht. Talkshows beispielsweise, die ebenfalls viel Sendezeit der öffentlich-rechtlichen Sender füllen, »lassen entweder konträre, immer eindeutige Positionen aufeinanderprallen, ohne dass sich einer der Beteiligten bewegen müsste, oder geben oft erstaunlich unwissenden Prominenten die Gelegenheit, sich als authentisch zu präsentieren«25 . Reality-TV, die erfolgreichsten Youtube-Kanäle, Pop-Sänger wie Mark Forster und viele weitere aktuelle Kulturangebote, die sich bei jüngeren Nutzern großer Beliebtheit erfreuen, bedienen das Bedürfnis der Nutzer nach Authentizität, auch wenn sich bei allen genannten Angeboten das Authentische bei genauerem Blick als bis ins Detail inszeniert erweist. Thomas Bauer beschreibt die aktuell verbreitete Vorstellung von Authentizität so: »Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt. Und das bedeutet letztlich: Authentizität ist das Gegenteil von Kultur. Kultur, die cultura, sprich ›Anpflanzung, Pflege‹, ist das, was die Menschen aus dem Rohmaterial der Natur machen. Folglich ist der Mensch als Kulturwesen nie völlig identisch mit sich selbst als Naturwesen. Wiederum entsteht hier eine Situation der Ambiguität, die nur dann beseitigt werden kann, wenn das als authentisch geglaubte Naturwesen unkultiviert bleibt. […] der Mensch ist bereits seiner Natur nach ein Kulturwesen, doch lässt dies der Authentizitätsdiskurs weitgehend außer Acht, der voraussetzt, dass sich unser unverfälschtes Ich in uns selbst findet und sich nicht in unserem Zusammenspiel mit Kultur und Gesellschaft entwickelt.«26
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Bauer 2018, S. 90-91. Ebd., S. 67.
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In der Programmorientierung der öffentlich-rechtlichen Sender an den Zuschauererwartungen spiegelt sich die allgemeine Tendenz der Gesellschaft zur Vereindeutigung. Krimis und Formate, in denen Authentizitätsvorstellungen zentral sind, dominieren die aktuelle Programmgestaltung. Im Unterschied zu traditionelleren öffentlich geförderten Kulturangeboten orientiert sich die Programmgestaltung der öffentlich-rechtlichen Sender stärker an den Zuschauererwartungen und Einschaltquoten. Im Kontext teilhabeorientierter Kulturvermittlung wird eine stärkere Orientierung auch der traditionellen Kulturinstitutionen an Publikumsinteressen gefordert, für die es gute Gründe gibt. Dass das Publikumsinteresse allerdings nicht zum einzigen Qualitätskriterium werden darf, zeigen die Tendenzen der Vereindeutigung in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern. Der Begriff der Ambiguitätstoleranz ist auch im Kontext der kulturellen Grenzziehungen von Bedeutung, da mit der Abnahme der Ambiguitätstoleranz einer Gesellschaft der Druck zunimmt, Kulturen klar voneinander abzugrenzen und Individuen möglichst nur eine Kulturzugehörigkeit zuzusprechen. Eine abnehmende Ambiguitätstoleranz bedeutet auch eine abnehmende Transkulturalitätstoleranz. Die Widersprüche einer hybriden Identität auszuhalten, trifft in einer ambiguitätsintoleranten Gesellschaft auf kein Verständnis. Stattdessen werden Bekenntnisse zu einer eindeutigen Zugehörigkeit gefordert. Im Kontext kulturpolitischer Debatten wird oft die identitätsstiftende Funktion von Kunst und Kultur herangezogen. Auch dies lässt sich als Wunsch der Vereindeutigung von Kultur deuten, denn beim Identitätsbegriff handelt es sich ja gerade um die Beschwörung des Eigenen als das Identische und die Abgrenzung vom Fremden als das davon zu Unterscheidende. Dabei ist fraglich, ob Kunst so etwas überhaupt leisten kann. An der Popularität essentialistischer Identitätsbegriffe lässt sich die Ambiguitätsintoleranz einer Gesellschaft ablesen. Thomas Bauer sieht eine Verwandtschaft des Identitätsbegriffs zum Authentizitätsbegriff. Als authentisch wird ein Individuum bezeichnet, wenn man ihm zuschreibt, identisch mit sich selbst zu sein. Schon die Authentizität blendet die verschiedenen sozialen Rollen, die Veränderung im Laufe eines Lebens und das komplexe Zusammenspiel unbewusster und bewusster psychischer Vorgänge in einem Individuum aus, um die Vorstellung einer »wahre[n] Natur«27 zu ermöglichen. Beim essentialistischen Identitätsbegriff wird diese schon für die Beschreibung eines 27
Ebd., S. 71.
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Individuums problematische Authentizitätsvorstellung auf Kollektive mit Millionen von Individuen angewendet und stellt naturgemäß eine erhebliche Komplexitätsreduktion und Vereindeutigung dar. Aus einem besonders essentialistischen Identitätsbegriff wird bei Gruppierungen wie der ›Identitären Bewegung‹ ein Rassismus ohne Rassebegriff. Dabei wird der biologistische Rassebegriff durch die nichtbiologischen Begriffe Identität und Kultur ersetzt, um sich einerseits von rassistischen Massenmorden und Verbrechen zu distanzieren und andererseits ein neues Reinheitsgebot zu etablieren, demzufolge Vermischungen sowie mehrfache und uneindeutige Zugehörigkeiten defizitär sind und »sich Rassen bzw. Kulturen nur dann entfalten können, wenn sie untereinander bleiben«28 . Problematisch ist allerdings auch die Verwendung des Begriffes im Kontext der linken Identitätspolitik. Thomas Bauer zeigt am Beispiel der Sexualität, wie die Identitätspolitik zur Stärkung einer homosexuellen Identität die Möglichkeit uneindeutiger sexueller Biografien verdrängt und eine klare Binarität Homo/Hetero erst erzeugt, obwohl manche Menschen sich in einem Zwischenraum dieser beiden Kategorien befinden und sich die Sexualität mancher Menschen im Verlauf des Lebens ändern kann. Auf diese Weise werden deshalb nicht nur Probleme gelöst, sondern auch neue Probleme geschaffen. Wie bei Herders Kulturbegriff geht mit der Schaffung und Stärkung von Minderheitenidentitäten auch der Zwang einer klaren und starren Einordnung in Kategorien einher, der keinen Raum für Uneindeutigkeiten und Vermischungen lässt. Thomas Bauer stellt fest, dass derartige Identitätspolitik gerade kein Zeichen von Ambiguitätstoleranz ist: »Der Versuch, Eindeutigkeit in einer uneindeutigen Welt wenigstens dadurch herzustellen, dass man die Vielfalt in der Welt möglichst präzise in Kästchen einsortiert, innerhalb derer größtmögliche Eindeutigkeit herrscht, ist eher dazu geeignet, Vielfalt zu verdrängen als sie zu fördern.«29 Wenn wir nach Dirk Baecker davon ausgehen, dass Kultur den Eindeutigkeiten der Gesellschaft die Mehrdeutigkeiten der Kultur entgegenstellt, um der Gesellschaft eine Kommunikation über sich selbst zu ermöglichen, dann wirkt der essentialistische Identitätsbegriff in kulturpolitischen Diskursen noch problematischer als er ohnehin schon ist. In kulturpolitischen Diskursen müsste Dirk Baeckers Kulturbegriff folgend Eindeutigkeit (und Bedeu28 29
Ebd., S. 77. Ebd., S. 81.
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tungslosigkeit) als Verarmung der Kultur angesehen und die Schaffung von Räumen der Ambiguität als Aufgabe betrachtet werden. Identitätspolitik bedeutet Rationalisierung der komplexen sozialen Zusammenhänge nach der Sparsamkeitsmaxime der eindeutigen Zugehörigkeit jedes Individuums zu einer Identität. Über Sinn und Unsinn solcher gesellschaftspolitischen Ansichten kann kontrovers diskutiert werden, aber gewiss ist, dass diese Rationalisierung nicht in die Sphäre der Kultur gehört, die »komplexe Interpretationszusammenhänge fabriziert, das heißt Geschichten, in denen es um Welt (individuelle Biografien, politische Geschichte, kosmologische Strukturen etc.) in ihrer ganzen Vielschichtigkeit geht«30 . Das Leben in einer zunehmend als unsicher wahrgenommenen ›flüchtigen‹ Moderne, wie es der Soziologe Zygmunt Bauman beschreibt, verstärkt das Bedürfnis nach Sicherheit vermittelnder Eindeutigkeit und nach dem Gefühl der Zugehörigkeit. Das Gefühl der Unsicherheit wird dadurch verstärkt, dass man in der flüchtigen Moderne nicht nur die Freiheit hat, sondern gezwungen ist, seine Identität aus unendlichen Möglichkeiten und Angeboten individuell zu gestalten. Dabei stellt sich nie das Gefühl ein ›jemand zu sein‹, sondern immer nur das Gefühl ›jemand zu werden‹.31 Frühere Vorstellungen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Öffentlichkeit werden dabei zunehmend von neuen Vorstellungen abgelöst, die vermutlich an keinem Ort so geprägt werden wie im Silicon Valley. Es ist kein Zufall, dass sich die führenden Konzerne der neuen Technik in der Nähe San Franciscos ansammeln, die Stadt, die auch das Zentrum der Counterculture der 60er und 70er Jahre war und noch heute für seine liberalen Bürger bekannt ist. Im Silicon Valley werden progressive Ideen der Counterculture und insbesondere das Ideal der Selbstverwirklichung mit einem radikalen Glauben an die gesellschaftsverbessernde Kraft technischen Fortschritts und globalen Handels verbunden. Daten, Algorithmen und künstliche Intelligenz erscheinen aus dieser Sicht als heilsbringende Ressourcen, auf denen eine vermeintlich bessere Zukunft der Menschheit aufbauen soll. Die für Kunst und Kultur zentralen Eigenschaften der Ambiguität und der Kontingenz hingegen erscheinen aus dieser Perspektive als zu überwindende Hindernisse, die früher oder später von eindeutigen Daten und Informationen überwunden werden sollen. Der Fortschrittsglaube der Moderne, in der Ambiguitätsbeseitigung immer eine wichtige Rolle
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Reckwitz 2017, S. 89. Vgl. Bauman 2000, S. 62.
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gespielt hat,32 findet im Silicon Valley einen neuen Ausdruck, der nicht länger um das Konzept der Nation kreist, sondern sich mit Positionen des Liberalismus verbunden hat. Dies mag für bestimmte, einzelne Akteure und Unternehmen im Silicon Valley unzutreffend sein, aber den global einflussreichsten Konzernen und Akteuren kann diese Sicht auf die Welt unterstellt werden. Mark Zuckerberg, der Gründer und Vorstandsvorsitzende von Facebook, verdeutlicht 2017 in seiner Rede vor Harvard-Absolventen seine Vorstellungen von Fortschritt, die jeweils eng mit der Erfassung individueller Daten verbunden sind: »How about curing all diseases and asking volunteers to track their health data and share their genomes? Today we spend 50x more treating people who are sick than we spend finding cures so people don’t get sick in the first place. That makes no sense. We can fix this. How about modernizing democracy so everyone can vote online, and personalizing education so everyone can learn? These achievements are within our reach. Let’s do them all in a way that gives everyone in our society a role. Let’s do big things, not only to create progress, but to create purpose.«33 Im weiteren Verlauf der Rede verknüpft Zuckerberg diesen Fortschrittsglauben mit liberalen Überzeugungen: »This is the struggle of our time. The forces of freedom, openness and global community against the forces of authoritarianism, isolationism and nationalism. Forces for the flow of knowledge, trade and immigration against those who would slow them down. This is not a battle of nations, it’s a battle of ideas. There are people in every country for global connection and good people against it.«34 Zuckerberg sieht das soziale Netzwerk Facebook als seinen persönlichen Beitrag zu der von ihm postulierten global vernetzten Welt, die er als Voraussetzung für die Bewältigung globaler Probleme und als Überwinder des Nationalismus denkt. Inzwischen vertreten diverse Wissenschaftler und Journalisten allerdings die Meinung, dass die realen gesellschaftlichen Auswirkungen der
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34
Vgl. ebd., S. 9. Mark Zuckerberg: Commencement address at Harvard. In: The Harvard Gazette vom 25.5.2017. URL: https://news.harvard.edu/gazette/story/2017/05/mark-zuckerbergsspeech-as-written-for-harvards-class-of-2017/ (Datum des Zugriffs: 4.1.2019). Ebd.
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etablierten sozialen Netzwerke diesen Vorstellungen kaum entsprechen, sondern dass sie eher bestimmte gesellschaftliche Probleme verstärken und sogar neue Probleme entstehen lassen.35 Das gravierendste und aus kulturpolitischer Sicht wichtigste Problem ist das Erodieren etablierter Öffentlichkeitsmechanismen. Dass aus der Sphäre der Kultur gesamtgesellschaftliche Debatten angestoßen werden, erscheint heute kaum noch möglich. Symptomatisch ist dafür der Bedeutungsverlust des Feuilletons im deutschen Sprachraum.36 Gesellschaftliche Debatten verlaufen nicht mehr in einer einzigen Öffentlichkeit mit gemeinsamen Bezugspunkten, sondern sind in verschiedene Parallelöffentlichkeiten mit jeweils eigenen Bezugssystemen aufgeteilt. Innerhalb der einzelnen Parallelöffentlichkeiten werden abweichende Meinungen nicht mehr mit Argumenten widerlegt, sondern ausgeblendet. Kulturpolitik droht in einem Nebeneinander isolierter Parallelöffentlichkeiten an Relevanz zu verlieren, denn eine Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst ist unter diesen Voraussetzungen erschwert. ›Soziale Netzwerke‹ sind sowohl Symptom als auch Katalysator gesellschaftlicher Entwicklungen der Individualisierung und der Abnahme von Ambiguitätstoleranz. Von ›sozialen Netzwerken‹ wie Facebook und Twitter versprechen sich die Nutzer, die Beziehungen zu ihren Freunden und Bekannten zu stärken, neue Freunde und Bekannte hinzuzugewinnen und mit Informationen über das Weltgeschehen versorgt zu werden. Tatsächlich verstärken die sozialen Netzwerke, die zu Unrecht mit diesem Begriff bezeichnet werden, die Tendenz der modernen Gesellschaft zur Individualisierung und Vereinzelung und tragen sogar zur Zunahme isolationsbedingter psychischer Erkrankungen bei, weil digitale, narzisstische Selbstdarstellung keine realen Begegnungen mit anderen Menschen ersetzen kann. Die Selbstdarstellung in Form von Profilen sieht Reckwitz als spezifische Erscheinung der Spätmoderne, in der die »Differenzierung zwischen dem Persönlich-Privaten und dem Systemisch-Allgemeinen kollabiert […], und zwar nicht zuletzt durch die digitalen Technologien«37 . Das Profil, das das Individuum als einzigartig 35 36
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Z.B.: Reckwitz 2017; Roberto Simanowski: Facebook-Gesellschaft. Berlin 2016; Franklin Foer: World Without Mind. New York 2017. Siehe dazu: Thomas Steinfeld: Fallende Blätter. Gibt es einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit? In: Perlentaucher vom 15.9.2003. URL: https://www.perlentaucher.de/fallende-blaetter/gibt-es-einen-neuen-strukturwandel-der-oeffentlichkeit. html (Datum des Zugriffs: 8.7.2019). Reckwitz 2017, S. 254.
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darstellt, ist nicht länger auf »den Raum des Privaten und Persönlichen« beschränkt, sondern »tritt mit Hilfe der digitalen Infrastruktur ins Licht der Öffentlichkeit eines potenziell globalen Publikums«38 . Das individuelle Profil muss sich dabei einerseits weiterhin in einem Rahmen der Konformität bewegen, sich jedoch gleichzeitig von der Masse abheben, um Aufmerksamkeit zu generieren. Durch die spätmoderne Tendenz zum individuellen Profil erhalten Kollektivsymbole und allgemeine Narrative eine zusätzliche, veränderte Bedeutung. Sie können im Rahmen individueller Selbstdarstellung zur Generierung von Aufmerksamkeit genutzt werden, denn das »digitale Subjekt bewegt sich […] auf einem medialen Attraktivitätsmarkt«39 , auf dem extremer Konkurrenzdruck um die immer knappere Aufmerksamkeit der Betrachter herrscht. Um überhaupt Aufmerksamkeit zu erhalten, »müssen die neuen Texte, Bilder und Links dabei mit affektivem Reiz verbunden sein: interessant oder empörend, erheiternd oder bizarr«40 . Nicht selten dienen deshalb gerade provokante oder sogar schockierende Verweise auf Kollektivsymbole und allgemeine Narrative als Aufmerksamkeitsgarant. Diesem »Regime des affektiven Aktualismus« ordnen sich auch digitale Nachrichtenportale unter: »Die News-Seiten, die von der immer wieder neuen Aufmerksamkeit der Leser abhängen, tendieren daher dazu, immer wieder aufs Neue kurze Aufreger mit geringer Halbwertszeit zu posten oder auch Themen zu setzen, die negative Gefühle wie Empörung, Angst oder Neid hervorrufen und dadurch Aufmerksamkeit des Users absorbieren. […] Die wenig überraschende Kehrseite des Regimes des affektiven Aktualismus im Netz ist, dass es marginalisiert, was sich nicht in die Form des Ereignisses bringen lässt und was affektiv eher neutral oder ambivalent ist.«41 Genau dieser Mechanismen bedienen sich bestimmte Hacker und Politiker, die Wahlen und öffentliche Debatten beeinflussen, indem sie in sozialen Netzwerken erfundene Nachrichten verbreiten, die negative Affekte hervorrufen und zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Es ist kein Zufall, dass das Lieblingsmedium sowohl von Donald Trump als auch von Jair Bolsonaro Twitter ist.42 Kulturpolitik sollte sich nicht diesem Regime des 38 39 40 41 42
Ebd., S. 254-255. Ebd., S. 252. Ebd., S. 269. Ebd., S. 269-270. Amanda Hess: Trump, Twitter and the Art of His Deal. In: New York Times vom 15.1.2017. URL: https://www.nytimes.com/2017/01/15/arts/trump-twitter-and-the-art-
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affektiven Aktualismus unterordnen, sondern muss sich im Gegenteil gerade auf die Dinge konzentrieren, die meist durch das Raster der digitalen Aufmerksamkeitsmärkte fallen: »Themen und Reflexionen, die von langfristiger Bedeutung sind, tendieren dazu, durch den Aktualitätsfilter zu fallen. So interessiert auf den Profilen in den sozialen Medien nicht die langfristige biografisch-narrative Entwicklung der Subjekte oder eine Selbst- und Weltreflexion in längeren Texten, sondern die Aktualität der kurzen Postings.«43 Selbst ehemals von hoher journalistischer Qualität gekennzeichnete PrintMedien ordnen sich aus wirtschaftlichen Gründen zunehmend dem Regime des affektiven Aktualismus unter und messen die Qualität ihrer Texte nicht länger vorrangig an inhaltlichen und sprachlichen Kriterien, sondern an der eindeutigen Klickzahl, die ein Artikel generiert. Entscheidend für die Klickzahl sind nicht etwa differenzierte Überlegungen, innovative Ideen oder sprachlich anspruchsvolle Texte, sondern zunächst die sensationelle – bevorzugt schockierende – Überschrift, das vorangestellte Bild zum Artikel und eine emotionale Aufladung des Themas. Auch diese Entwicklung verstärkt die Vereindeutigungs- und Ambiguitätsvermeidungstendenz in der spätmodernen Gesellschaft und verhindert konsensorientierte allgemeingesellschaftliche Debatten. Feuilletonistische Texte haben es auf diesem Aufmerksamkeitsmarkt der Eindeutigkeiten besonders schwer. Sekundenschnelle, globale Kommunikation und die Verfügbarkeit von Inhalten aus diversen Ländern und in diversen Sprachen, wie sie das Internet ermöglicht, haben eigentlich das Potenzial zu einem nie dagewesenen kulturellen Austausch. Die Bürger einer Demokratie können sich eine differenziertere Meinung zu politischen Themen bilden als es in der Zeit vor dem Internet möglich war. Allerdings erfüllen soziale Netzwerke dieses Bedürfnis nur auf der Ebene der Oberfläche und tragen stattdessen zu einer Vereindeutigung und Ambiguitätsvermeidung bei der politischen Meinungsbildung bei. Die überwältigende Mehrheit der Nutzer sozialer Netzwerke bewegt sich
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of-his-deal.html (Datum des Zugriffs: 25.2.2019); Philip Lichterbeck: Wie Präsident Jair Bolsonaro Künstler attackiert. In: Der Tagesspiegel vom 19.2.2019. URL: https:// www.tagesspiegel.de/kultur/brasilien-wie-praesident-jair-bolsonaro-kuenstler-attack iert/24009620.html (Datum des Zugriffs: 25.2.2019). Reckwitz 2017, S. 269.
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in einem algorithmengesteuerten Echoraum, in dem sie nur noch die Informationen erreichen, die ihr ohnehin vorhandenes Weltbild mit eindeutigen Darstellungen unterstützen. Auch die Funktionsweise der Suchmaschine Google, die die individuellen Suchergebnisse basierend auf der Suchgeschichte des Nutzers präsentiert, trägt zur Entstehung der digitalen Echoräume bei. Dadurch dass Informationen, die das jeweilige eindeutige Weltbild in Frage stellen, die meisten Nutzer gar nicht mehr erreichen und die Nutzer nur noch Kontakt zu Gleichgesinnten pflegen, führt die Nutzung der sozialen Netzwerke bei vielen Nutzern sogar zur Radikalisierung. Die sozialen Medien bieten radikalen Organisationen eine besonders gut geeignete Plattform, um neue Mitglieder und Unterstützer anzuwerben.44 Sie bieten außerdem Individuen mit radikalen Gedanken eine Möglichkeit, Gleichgesinnte aus der ganzen Welt auf unkomplizierte Weise zu finden, und ermöglichen über ihre Echoräume eine gegenseitige Bestärkung der radikalisierten Nutzer. Schockierende, verstörende Inhalte sind ein Aufmerksamkeitsgarant in den sozialen Medien. Das machen sich auch Terrororganisationen und einzelne Terroristen für ihre Selbstinszenierung zu Nutze. Die Radikalisierung von Terroristen kann heutzutage an deren Nutzung sozialer Medien nachverfolgt werden und die Veröffentlichung von Manifesten, Videos und sogar Livestreams im Kontext ihrer Terroranschläge dient den Terroristen in den sozialen Medien als Inszenierung, die in anderen Medien keine vergleichbare Verbreitung finden würde.45 Die Algorithmen von Youtube sind so angelegt, dass die Nutzer möglichst viel Zeit auf dieser meistbesuchten Internet-Videoplattform verbringen und von einem vorgeschlagenen Video zum nächsten springen. Die Vorschläge richten sich dabei nach den Interessen und Überzeugungen des jeweiligen
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Die Terrororganisation IS beispielsweise nutzte die sozialen Medien zur Anwerbung neuer Mitglieder aus anderen Weltteilen und zur Verbreitung schockierender Exekutions- und Anschlagsvideos. Der rechtsradikale Terrorist, der im März 2019 in Neuseeland Massaker in zwei Moscheen anrichtete, veröffentlichte einen Livestream der Tat auf Facebook und ein Manifest auf Twitter. Er war außerdem in dem Alt-Right-Forum 8chan aktiv. Ausschnitte des Livestreams kursierten noch Stunden nach der Tat in großer Zahl auf Facebook, Youtube und Twitter, obwohl alle drei Plattformen angaben, die Verbreitung zu verhindern. Siehe dazu: Sherisse Pham: Facebook, YouTube and Twitter struggle to deal with New Zealand shooting video. In: CNN vom 15.3.2019. URL: https://edition.cnn.com/2019/03/15/tech/new-zealand-shooting-videofacebook-youtube/index.html (Datum des Zugriffs: 15.3.2019).
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
Nutzers und lassen so einen Echoraum entstehen, in dem nach kurzer Zeit alle vorgeschlagenen Videos die Überzeugungen des Nutzers bestätigen. Nach wenigen Klicks mit einem neuen Account kann es sein, dass alle vorgeschlagenen Videos eine bestimmte Verschwörungstheorie, z.B. dass die Erde doch flach ist, betätigen. Gleichzeitig bleibt die Illusion einer freien, nutzergesteuerten Videoauswahl bestehen, denn die Algorithmen der Videovorschläge sind nicht transparent. So kann beim Nutzer der Eindruck entstehen, dass er sich eine differenzierte Meinung bildet, obwohl er sich in einem individuellen Echoraum bewegt. Die Bereitschaft, Argumente von Menschen anzuerkennen, die anderer Meinung sind, schwindet in den Echoräumen sozialer Medien zunehmend. Beim Gang zum Supermarkt könnte ein Stadtbewohner mehr Menschen begegnen, die ein anderes Weltbild haben, eine andere Sprache sprechen oder einer anderen Generation angehören, als ihm in seinem persönlichen Echoraum der sozialen Netzwerke sichtbar sind. Die Begegnung mit realen, unbekannten Personen erfordert in der Regel ein höheres Maß an Ambiguitätstoleranz als der Nachrichten- und Statusfeed eines sozialen Netzwerks. Statt die Potenziale des Internets zu nutzen, machen die sozialen Netzwerke Profit aus dem Bedürfnis ihrer Nutzer nach Zugehörigkeit und tragen absurderweise zur Vereindeutigung und Vereinzelung der Gesellschaft bei. Zugehörigkeit ist in den etablierten sozialen Netzwerken nur in Form von Daten und Zahlen verfügbar. Relevanz erhalten Posts nicht durch inhaltlich überzeugende Argumente zu allgemein-gesellschaftlichen Debatten, sondern durch den eindeutigen Zahlenwert der Likes, Shares, Follower und Retweets. Der überwiegende Inhalt von Posts in sozialen Netzwerken gehört der Sphäre des Privatlebens an und ist kein Beitrag zu gesellschaftlichen Debatten. Selbst wenn es Beiträge zu gesellschaftlichen Debatten gibt, dann müssen sie so kurz und simpel formuliert sein, dass sie nicht wegen zu wenigen Klicks in der Kakophonie des sozialen Netzwerks komplett untergehen. In der flüchtigen Moderne steht das Individuum zunehmend in einem Konkurrenzverhältnis zum Staatsbürger und der Raum öffentlicher Auseinandersetzung wird zunehmend durch die Auseinandersetzung mit dem Privatleben des Individuums kolonisiert. Dieses Konkurrenzverhältnis ist besonders in den sozialen Netzwerken sichtbar, aber beschränkt sich nicht auf diese, sondern ist eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung westlicher Gesellschaften in der flüchtigen Moderne, wie Bauman schon im Jahr 2000 beobachtet:
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»The prospects of individualized actors being ›re-embedded‹ in the republican body of citizenship are dim. What prompts them to venture onto the public stage is not so much the search for common causes and for the ways to negotiate the meaning of the common good and the principles of life in common, as the desperate need for ›networking‹. Sharing intimacies, as Richard Sennet keeps pointing out, tends to be the preferred, perhaps the only remaining, method of ›community building‹.«46 Die so entstehenden Netzwerke lose verbundener Individuen sind allerdings äußerst fragil und neigen zur Potenzierung von Ängsten, die sich aus der Vereinzelung speisen. Bauman bezeichnet sie als »communities of shared worries, shared anxieties or shared hatreds […], a momentary gathering around a nail on which many solitary individuals hang their solitary individual fears«47 . Es ist kein Wunder, dass in den sozialen Netzwerken einfache Antworten auf komplexe Fragen, Verschwörungstheorien und die Suche nach Sündenböcken besonders breite Resonanz finden. So tragen die sozialen Netzwerke zur Vereindeutigung und Reduzierung politischer Problemzusammenhänge auf Identitätsfragen bei. Jürgen Habermas unterscheidet im Kontext des Liberalismus und des Individualismus zwischen einer privaten und einer staatsbürgerlichen Autonomie und zeigt, dass diese in einem demokratischen Staat nicht leichtfertig gleichgesetzt werden sollten: »Die von Rousseau eingeführte, von Kant universalistisch gewendete Idee, dass sich die Adressaten des Rechts zugleich als dessen Autoren müssen verstehen können, stellt den vereinigten Bürgern eines demokratischen Gemeinwesens keinen Freibrief für beliebige Entscheidungen aus. Sie sollen nur solche Gesetze beschließen, die ihre Legitimität daraus beziehen, dass sie von allen gewollt sein können. Die subjektive Freiheit, im Rahmen der Gesetze tun und lassen zu können, was man will, ist der Kern der privaten, nicht der staatsbürgerlichen Autonomie.«48 Zu einer funktionierenden Demokratie gehört Habermas zufolge eine »staatsbürgerliche[…] Solidarität«, die für die »Ermöglichung gleicher ethischer Freiheiten« der Staatsbürger sorgen soll und aus der sich eine »Dy-
46 47 48
Bauman 2000, S. 37. Ebd., S. 37. Habermas 2005, S. 283.
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
namik« entwickelt, die durch »kumulative Lernprozesse« und »Reformen«49 den demokratischen Staat ständig verbessern kann. Zu dieser Dynamik gehört eine funktionierende politische Öffentlichkeit: »Eine in der Zivilgesellschaft verwurzelte Demokratie verschafft sich dann in der politischen Öffentlichkeit einen Resonanzboden für den vielstimmigen Protest der ungleich Behandelten, der Unterprivilegierten und Missachteten. Dieser Protest gegen das Leiden an sozialer Ungerechtigkeit und Diskriminierung kann zum Stachel von Selbstkorrekturen werden, die den universalistischen Gehalt des Prinzips staatsbürgerlicher Gleichheit in der Münze gleicher ethischer Freiheiten jeweils ein Stück weiter ausschöpfen.«50 Sowohl Zygmunt Bauman als auch Andreas Reckwitz beobachten in der Spätmoderne die Verdrängung des Öffentlichen durch das Private und des Staatsbürgers durch den Privatmenschen. Diese Entwicklung ist zwar schon vor der allgemeinen Verbreitung des Internets zu beobachten, aber wird durch die aktuelle Nutzungsweise des Internets potenziert. Gerhard Schulzes Beobachtungen zur »Erlebnisgesellschaft«51 gelten umso mehr in der von sozialen Netzwerken geprägten Gesellschaft. Reckwitz sieht die Verdrängung des Öffentlichen durch das Private als eine Folge der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Liberalisierungstendenzen seit den 70er Jahren. Zwei Arten von Liberalismus haben seitdem schrittweise eine dominierende Stellung in der Politik westlicher Staaten übernommen und die jeweiligen Gesellschaften entscheidend geprägt.52 Zunächst die 1968 mit der Counter Culture beginnende Orientierung an Selbstverwirklichung und Diversität, die heute besonders für die meisten Mittelinks-Parteien zentral ist. Dieser Liberalismus ist der Motor verschiedener positiver Entwicklungen in den westlichen Gesellschaften. Die Stärkung von Minderheiten- und Frauenrechten, eine kritische Haltung gegenüber Nationalismus und Rassismus, das Bewusstsein für ökologische Fragen und ein allgemein gesunkener gesellschaftlicher Konformitätsdruck auf das Individuum gehen aus der Counter Culture der 70er Jahre hervor. Auch die Forderung nach dem Schutz kultureller Vielfalt ist diesem Liberalismus zuzu-
49 50 51 52
Ebd. Ebd., S. 284. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992. Vgl. Reckwitz 2017, S. 371ff.
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ordnen.53 Dieser Liberalismus kann zunächst als Fortsetzung der Aufklärung betrachtet werden, in der jedem Individuum ungeachtet der jeweiligen Unterschiede ein Wert an sich und jedem Menschen das Recht auf Andersartigkeit zugesprochen wird. Gesteigert zum Lebensmodell der Selbstverwirklichung jedoch, entfaltet dieser Liberalismus das Potenzial, die Individuen von sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Traditionen zu entfremden. So ist diesem Liberalismus auch die Betonung des Individuell-Besonderen vor dem Gesellschaftlich-Allgemeinen und die generelle Ablehnung etablierter gesellschaftlicher Strukturen inhärent. Das nach Selbstverwirklichung strebende Individuum sieht in allen gesellschaftlichen Regeln und verbindlichen Beziehungen Einschränkungen seiner Freiheit, die es zu überwinden gilt. Beziehungen zu Familienmitgliedern, Freunden, Kollegen und zum Partner werden oft nur so lange und nur so intensiv aufrechterhalten, wie sie nicht die individuelle Entfaltung behindern. So hat dieser Liberalismus auch dazu geführt, dass zwischenmenschliche Beziehungen unverbindlicher geworden sind, und auf diese Weise zum allgemeinen, diffusen Unsicherheitsgefühl der Spätmoderne beigetragen. Problematisch ist auch, dass sich auf paradoxe Weise im linksliberalen Multikulturalismus »Diversitätspolitik« und die »Kultivierung partikularer Gemeinschaften«54 vereinen und so kulturessenzialistische Vorstellungen von ethnischen, kulturellen und religiösen Gemeinschaften, die sich als von der Mehrheitsgesellschaft abgegrenzt verstehen, verstärkt werden. Als zweite Art des Liberalismus entwickelt sich seit den 80er Jahren eine starke Fokussierung auf Flexibilität und Selbstverantwortung auf dem Arbeitsmarkt und im Bereich des Sozialen sowie eine Übertragung von Wettbewerbs- und Marktmechanismen auf nahezu alle Lebensbereiche.55 Diese meist als Neoliberalismus bezeichnete Art des Liberalismus ist besonders – aber nicht nur – in Mitte-rechts-Parteien zu finden und hat eine gewandelte Vorstellung vom Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft: »An die Stelle des Staatsbürgers und sozialen Bürgers der organisierten Moderne ist der Selbstunternehmer und Konsument getreten, für den der Staat optimale Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen will.«56 Optimale Rahmenbedingungen herrschen aus neoliberaler Sicht dann vor, wenn der 53 54 55 56
Ebd., S. 380. Vgl. ebd., S. 404. Vgl. Wendy Brown: Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. Berlin 2015, S. 32. Reckwitz 2017, S. 377.
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Staat sich aus möglichst vielen Bereichen zurückzieht, um diese Bereiche den als selbstregulierend gedachten Kräften des Marktes zu übergeben. Ehemals staatlich verwaltete und finanzierte Bereiche der Gesellschaft werden im Neoliberalismus privatisiert und Marktmechanismen unterworfen. Unternehmen und vermögende Individuen sollen mit Steuerentlastungen zu mehr Investitionen angeregt werden. Arbeitnehmern werden aus neoliberaler Sicht weniger Rechte zugesprochen. Stattdessen wird von Ihnen höhere Flexibilität verlangt, die sich streng am Markt ausrichtet. Es entsteht so eine geringere und kurzfristigere Planungssicherheit im Leben der Arbeitnehmer. Bei Löhnen, Vertragsbefristungen und Arbeitszeiten werden dafür den Arbeitgebern größere Handlungsspielräume gegeben. Die neoliberale Sicht auf das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist am besten in einem Zitat Margaret Thatchers zusammengefasst: »They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.«57 Selbstverwirklichung ist das Ideal des Liberalismus, der aus der Counter Culture entstand, und unternehmerische Selbstverantwortung das Ideal des Neoliberalismus. Das Individuum trägt die Verantwortung für das eigene Gelingen und Scheitern im Leben und darf sich nicht auf soziale Strukturen der Gesellschaft als absicherndes Netz verlassen. Aus der bloßen Möglichkeit eines Daseins als Einzelunternehmer wird im Neoliberalismus der gesellschaftliche Zwang zum Dasein als Einzelunternehmer für alle, wie prekär die individuelle Ausgangsposition auch sein mag.58 Für bestimmte Teile der Bevölkerung in allen westlichen Ländern hat dieser Liberalismus zu einer Prekarisierung ihrer Lebensverhältnisse geführt. Durch den Verlust einer langfristigen finanziellen Sicherheit für viele Menschen und der gleichzeitigen Stigmatisierung von Arbeitslosen und Geringverdienern sind neue gesellschaftliche Probleme entstanden. Das neolibera57
58
Margaret Thatcher: a life in quotes. Key comments from Britain’s first female prime minister. In: The Guardian vom 8.4.2013. URL: https://www.theguardian.com/politics/ 2013/apr/08/margaret-thatcher-quotes (Datum des Zugriffs: 13.7.2019). Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Aus dem Französischen von Manuela Lenzen und Martin Klaus. Berlin 2008 [1998], S. 244.
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le Menschenbild, demzufolge es keine Gesellschaft, sondern nur individuelle Einzelunternehmer auf diversen Märkten gibt, beschränkt sich nicht auf das Berufsleben der spätmodernen Gesellschaften. Auch nichtwirtschaftliche Lebensbereiche sind diesem Denken unterworfen. Die Schule gilt aus neoliberaler Sicht nicht als Sozialisierungsinstanz demokratischer Gesellschaften, sondern in erster Linie als Produzent eigenverantwortlicher und flexibler Einzelunternehmer, die sich auf den verschiedenen Märkten behaupten müssen.59 In diesen Zusammenhang gehört auch, dass ab den 1980er Jahren Kulturpolitik und kulturpolitische Ausgaben zur Legitimation zunehmend als Wirtschaftsfaktor und als Wirtschaftsinvestitionen bezeichnet werden. Wettbewerbs- und Marktmechanismen werden im Neoliberalismus allen anderen Sinnstiftungs- und Weltdeutungsmodellen übergeordnet und gelten für viele Menschen als alternativlos. Dass zwischenmenschliche Beziehungen leiden, wenn ausschließlich Wettbewerbs- und Marktmechanismen über Zustandekommen und Dauer der Beziehungen entscheiden und Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen die Form eines Geschäftsdeals annehmen, hat zum Beispiel Zygmunt Bauman gezeigt.60 Eva Illouz, die sich in ihrer soziologischen Forschung auf Liebesbeziehungen spezialisiert, beobachtet ebenfalls, dass »in der hyperkonnektiven Moderne« soziale Beziehungen »trotz – und wegen – der Allgegenwart von sozialen Netzwerken, Technologie und Konsum«61 durch eine zunehmende Unsicherheit geprägt sind. Die neoliberale Übertragung der Verantwortung vom Kollektiv auf das Individuum trägt zur Verdrängung des Bürgers durch den Privatmenschen bei, denn menschliche Probleme werden in der neoliberalen Weltsicht als individuelles Scheitern und nicht als Scheitern der Gemeinschaft gedeutet. Diese Weltsicht verhindert Solidarität und führt bei direkt Betroffenen eher zur Resignation als zum politischen Engagement.62 Reckwitz beobachtet, dass in der akademischen Mittelklasse der Spätmoderne erstmals die vorher konträren Lebensmodelle der »Statusorientierung« und der »Selbstverwirklichung« vereint werden.63 Selbstverwirklichung be59
60 61 62 63
Vgl. dazu Paul Verhaeghe: Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft. Aus dem Niederländischen von Brigit Erdmann und Angela Wicharz-Lindner. München 2013 [2012]. Bauman 2003. Eva Illouz: Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Berlin 2018, S. 13. [Ersterscheinung auf Deutsch]. Vgl. Bauman 1991, S. 261. Reckwitz 2017, S. 289.
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
deutet in der neuen Mittelklasse der Spätmoderne nicht länger eine Absage an bürgerliche Wünsche nach finanzieller Sicherheit und hohem sozialen Status, wie es am Anfang der Counter Culture der Fall war, sondern soll das Individuum der Erfüllung dieser bürgerlichen Wünsche näher bringen, während es sich seinen persönlichen Neigungen widmet. Ein Anspruch, der nicht selten zur individuellen Überforderung führt, wenn Selbstverwirklichung nur mit einem Verlust finanzieller Sicherheit zu haben und Statusorientierung nur durch einen Verzicht auf Selbstverwirklichung möglich ist. Parallel zu dieser »erfolgreichen Selbstverwirklichung«64 sind in der neuen Mittelklasse die beiden Liberalismen vereint, die beide zu einer Individualisierung der Gesellschaft beitragen. Reckwitz fasst beide Arten des Liberalismus, die in den politischen Parteien in verschiedensten Mischformen existieren, unter dem Begriff des ›apertistisch-differenziellen Liberalismus‹ zusammen: »Apertistisch ist er, indem er auf permanente wirtschaftliche, soziale und kulturelle Öffnung und Grenzüberschreitung abzielt; differenziell ist er, indem er soziale und kulturelle Unterschiede hervorhebt und fördert.«65 Für die unter dem Begriff Populismus zusammengefassten politischen Bewegungen und Persönlichkeiten in den westlichen Staaten ist immer eine Kritik an den etablierten Eliten zentral, die verschiedenen Formen des apertistisch-differenziellen Liberalismus angehören. Während sich linkspopulistische Gruppen besonders gegen den wirtschaftlichen Liberalismus wenden, richten sich die rechtspopulistischen Gruppen vor allem gegen die linksliberalen Ziele der kulturellen Diversität. Eine zentrale Frage der Spätmoderne ist, warum selbst in Staaten mit starkem Wirtschaftswachstum und hohem Lebensstandard die Zahl frustrierter, verunsicherter und wütender Menschen wächst, die sich von den etablierten Parteien ab- und sich neuen vorgeblich anti-elitären Parteien zuwenden. Eine mögliche Antwort darauf ist, dass der apertistisch-differenzielle Liberalismus zwar einerseits diverse neue persönliche und wirtschaftliche Möglichkeiten für das Individuum bereitstellt, aber andererseits auch ein »struktureller Enttäuschungsgenerator«66 ist, der das Individuum überfordert. Reckwitz weist darauf hin, dass »insbesondere Milieus aus der alten Mittelklasse und der neuen Unterklasse« essentialistische Kulturkonzepte unterstützen
64 65 66
Ebd., S. 289. Ebd., S. 371. Ebd., S. 345.
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und »im Kampf gegen den apertistischen Liberalismus«67 einsetzen. In der Stichwahl der französischen Präsidentschaftswahl von 2017 wurde der spätmoderne Konflikt zwischen Liberalismus und Kulturessentialismus besonders deutlich. Die Wähler mussten sich zwischen Macron, der linksliberale Diversitätspolitik und neoliberale Wirtschaftspolitik vereint, und Le Pen, die kulturessentialistische und protektionistische Positionen vertritt, entscheiden. Zygmunt Bauman bemerkt schon 1991 die zunehmende Überforderung des Individuums in den liberal-demokratischen Staaten, in denen der wirtschaftliche und wissenschaftliche Fortschrittsglaube sowie politische Ideologien als Welterklärungs- und Sinnstiftungssysteme an Wirkungsmacht eingebüßt haben.68 Die in der postmodernen Freiheit entstehende permanente Konfrontation mit Ambivalenz und Kontingenz, verursacht ›mentale Schmerzen‹ und verlangt ›Nerven aus Stahl‹.69 Die heute weltweit zu beobachtende Krise des Liberalismus ist ein Anzeichen dafür, dass dem spätmodernen Individuum die mentalen Schmerzen der Kontingenz zu viel und die Nerven aus Stahl überfordert werden. Diese Überforderung bringt zunehmend viele Menschen in den liberal-demokratischen Staaten gegen den Liberalismus und gegen Ambiguität auf und verleitet auch Akteure der Kulturpolitik in Deutschland dazu, sich gegen Ambiguität in Position zu bringen und stattdessen eine Kultur der Eindeutigkeit und der Bedeutungslosigkeit zu unterstützen. Die Überforderung des Individuums ist keine spezifisch spätmoderne Erscheinung, sondern hat die Moderne seit dem Aufkommen des aufklärerischen Individualismus stets begleitet. Ein frühes Beispiel ist Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther, der »zeigt, dass es für das bürgerliche Individuum unmöglich ist, sich innerhalb des Feudalsystems zu definieren und seine Identität zu finden«70 . Der Roman thematisiert »die Problematik des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft« und »die Selbstverwirklichung des
67 68 69 70
Ebd., S. 419-420. Bauman 1991, S. 244. Ebd., S. 244 [»mental pain«, »nerves of steel«]. Inge Stephan: Aufklärung. In: Wolfgang Beutin, Matthias Beilein, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich, Christine Kanz, Bernd Lutz, Volker Meid, Michael Opitz, Carola OpitzWiemers, Ralf Schnell, Peter Stein & Inge Stephan (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 151-185, hier: S. 176.
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Individuums«71 und bleibt deshalb bis heute relevant. Dass diese Problematik nicht auf die Romanwelt beschränkt war, sondern reale Entsprechungen im Europa der Zeit hatte, zeigt unter anderem die »erhebliche Anzahl von Selbstmorden unter den Werther-Lesern«72 . Die Überforderung des Individuums verschärft sich in der vom Liberalismus geprägten Spätmoderne, in der dem Individuum als einziger gesellschaftlicher Zwang auferlegt wird, sich selbst zu verwirklichen. Alain Ehrenberg zeigt, dass die dominierende psychische Erkrankung der Moderne die Neurose war, die aus einem konfliktreichen Verhältnis des Individuums zu den gesellschaftlichen Regeln entsteht, während die dominierende psychische Erkrankung der Spätmoderne die Depression ist, die das von alternativloser Selbstverantwortung überforderte autonome Individuum befällt: »Die Therapien wollen das Individuum wieder handlungsfähig machen und dadurch seine Stimmung verbessern. Die Unsicherheit der Identität und das gehemmte Handeln sind […] die beiden Gesichter der Depression am Ende des 20. Jahrhunderts. Die Depression verkörpert also nicht nur die Leidenschaft, man selbst zu sein und die Probleme, die damit einhergehen, sondern auch die Forderung nach Initiative und die Schwierigkeit, ihr nachzukommen. Wie das Handeln beginnen? Jeder muss selbstständig sein, muss seine Affekte mobilisieren, statt äußeren Regeln zu entsprechen.«73 Die Melancholie in der Zeit Goethes ist Ausdruck des in der Entstehung begriffenen bürgerlichen Individuums und seiner Probleme. Sie kann dabei auch positive Konnotationen beinhalten. Die Depression ist ein eindeutig negativer Ausdruck des überforderten Individuums der Spätmoderne: »Dennoch gibt es einen Zusammenhang zwischen der Melancholie und der Depression, sie sind beide Ausdruck eines extrem zugespitzten Selbstbewusstseins, des Bewusstseins, nur man selbst zu sein. Wenn die Melancholie eine Eigentümlichkeit des außergewöhnlichen Menschen war, dann ist die Depression Ausdruck einer Popularisierung des Außergewöhnlichen.«74 Die spätmoderne Freiheit ist die Freiheit des Individuums von den Zwängen der Allgemeinheit. Das Individuell-Besondere verdrängt in der Spätmoderne
71 72 73 74
Ebd. Ebd. Ehrenberg 2008, S. 222. Ebd., S. 288.
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das Kollektiv-Allgemeine. Diese Entwicklung trägt allerdings zur Verunsicherung des Individuums bei, das sich sein Selbst aus unendlichen Möglichkeiten zusammenbauen muss. Die Popularisierung des Außergewöhnlichen und somit die Verunsicherung des Individuums wird durch die aktuell etablierte Nutzungsweise des Internets noch verstärkt. Reckwitz zufolge ist es die »forcierte Ausrichtung des Sozialen am Besonderen«, die »zu einer Erosion des Allgemeinen führ[t]«75 . Reckwitz zeigt dies anhand der digitalen Echoräume, die für eine »Vielzahl von Parallelöffentlichkeiten« und »eine Parallelexistenz des Differenten und tendenziell Inkommensurablen« sorgen: »Wenn jeder seinen auf ihn individuell zugeschnittenen Newsfeed als Fenster zur Welt begreift, kommt es zu einer Vervielfältigung von Perspektiven, so dass im Extremfall zwischen den Subjekten die gemeinsame Basis für die Debatte erodiert. Das Gleiche gilt für die kollektiven Einheiten: Die kulturelle Umwelt außerhalb der Freundes-Netzwerke oder der Communities […] kann fremd bis zur Inkommensurabilität werden. Der phatischen [, d.h. nur eine soziale Funktion erfüllenden (Anm. des Verf.),] Kommunikation nach innen entspricht hier eine Indifferenz oder gar ein Freund-Feind-Denken nach außen.«76 Öffentliche Debatten um gesellschaftliche Fragen erfordern ein viel höheres Maß an Ambiguitätstoleranz als die Auseinandersetzung mit banalen Informationen aus dem Privatleben und individuell zugeschnittenen Informationen aus dem digitalen Echoraum. Auf die Unsicherheiten der Spätmoderne reagieren viele Menschen mit vereindeutigten, undifferenzierten Meinungen zu gesellschaftlichen Problemen und einer Flucht in die Beschäftigung mit dem Privaten. Die exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Privatleben und dem Privatleben anderer Menschen, die Individualisierungsprozesse der Gesellschaft und die konsensverhindernden Echoräume sozialer Netzwerke tragen dazu bei, dass die Agora der Zivilgesellschaft zunehmend leerer wird. Es gilt, die Agora wieder zu bevölkern, indem Räume des Aufeinandertreffens, der Diskussion und des Verhandelns sowohl online als auch offline geschaffen werden, in denen sich Menschen als Zivilbürger und nicht als Privatmenschen begegnen und in denen Ambiguität erlaubt ist.77 In diesen Räumen
75 76 77
Reckwitz 2017, S. 268. Ebd., S. 269. Vgl. Bauman 2000, S. 41.
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muss es – anders als in den digitalen Echoräumen – eine gemeinsame Basis für die Debatte geben: von allen Beteiligten rezipierte Nachrichten oder – aus kulturpolitischer Sicht wichtiger – Kunstwerke jedweder Art, die der öffentlichen Auseinandersetzung einen intersubjektiven Bezugspunkt geben. Eine konstruktive Auseinandersetzung um kontroverse Themen in einer Zivilgesellschaft liegt nicht nur in der Verantwortung Einzelner, sondern damit sich Menschen überhaupt als Zivilbürger begegnen können, müssen die gesellschaftlichen Voraussetzungen stimmen. Was Zygmunt Bauman hier in Bezug auf das Leben in einer Stadt beschreibt, gilt ebenso für menschliche Begegnungen im Internet: »Civility, like language, cannot be ›private‹. Before it becomes the individually learned and privately practiced art, civility must first be a feature of the social setting. It is the urban environment which must be ›civil‹, if its inhabitants are to learn the difficult skills of civility. What does it mean, though, for the urban environment to be ›civil‹, and so to be a site hospitable to the individual practice of civility? It means, first and foremost, the provision of spaces which people may share as public personae – without being nudged, pressed or cajoled to take off their masks and ›let themselves go‹, ›express themselves‹, confess their inner feelings and put on display their intimate thoughts, dreams and worries.«78 Demokratische Staaten brauchen eine Öffentlichkeit, in der Zivilbürger mit inhaltlichen Argumenten Lösungen für gesellschaftliche Probleme diskutieren. Die Voraussetzungen für eine solche Öffentlichkeit werden von den sozialen Netzwerken unterlaufen, in denen sich jeder Nutzer vordergründig als Privatmensch präsentiert und neben jeder kurzen Meinungsbekundung zu aktuellen, gesellschaftlich relevanten Themen immer diverse Momentaufnahmen und Enthüllungen aus dem Privatleben zu sehen sind. In einer Gesellschaft von individualistischen Einzelunternehmern, die sich im permanenten Wettbewerb um die knappe Ressource Aufmerksamkeit befinden, sind gesellschaftliche Diskurse, in denen sich die Menschen als Bürger begegnen, nur schwer möglich. Dass der Bürger nicht vom Privatmenschen verdrängt wird, liegt deshalb zunächst in der Verantwortung der Gesellschaft, die die richtigen Voraussetzungen schaffen muss, und erst dann in der Verantwortung des Individuums, das sich als Bürger an den Diskursen beteiligen muss.
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Ebd., S. 95-96.
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Die Print-Medien, die einst zu einer solchen Öffentlichkeit der Zivilbürger einen wichtigen Beitrag geleistet haben, bleiben von den Entwicklungen der Spätmoderne nicht unberührt. Besonders der ökonomische Druck, der durch die digitale Verbreitung von Nachrichten entstanden ist, zwingt viele ehemals qualitativ hochwertige Zeitungen und Zeitschriften in den finanziellen Ruin oder in eine Anpassung an die Gesetze der digitalen Aufmerksamkeitsmärkte, in denen journalistische Qualität zunächst nur an der Klickzahl gemessen wird, somit Schock- und Sensationsüberschriften den Vorrang vor differenzierten Recherchearbeiten erhalten und nur mit Mühe Fake-News von beweisbaren Nachrichten auseinanderzuhalten sind. Die Bewertung von Informationen findet inzwischen primär über Kriterien der Quantität statt und inhaltliche Qualitätskriterien sind zweitrangig. Die zunehmende Verdrängung des Inhalts von Informationen durch Quantitätsangaben hat Zygmunt Bauman schon 1991 beobachtet.79 Auch diese Entwicklung der Spätmoderne wurde durch die massenhafte Verbreitung und die Art der Nutzung des Internets potenziert. Dass öffentliche Debatten jenseits von messbaren Angaben, Statistiken und der quantifizierbaren Social-Media-Reichweite stattfinden und sich auf inhaltliche Auseinandersetzungen konzentrieren, erscheint heute undenkbar. An diesen Tendenzen würde sich auch nichts ändern, wenn jedes Kind in der Schule Programmiersprachen lernen müsste, wie es zum Beispiel Angela Merkel gefordert hat.80 Die gesellschaftlichen Herausforderungen der Digitalisierung sind nicht bewältigt, wenn alle Menschen ihre eigene Software programmieren können. Das richtige Verhalten im Straßenverkehr, das Fahren eines Autos und die Gefahren motorisierter Fortbewegung lernt man nicht, wenn man selbst ein Auto baut. Es reicht deshalb auch nicht, wenn sich Kulturpolitik im digitalen Raum darauf beschränkt, dass bestimmte Institutionen in sozialen Netzwerken aktiv sind und Museumsbestände digital erfasst werden. Stattdessen sollte das Schaffen von digitalen Räumen der Ambiguität und der öffentlichen (konstruktiven) Auseinandersetzung um kontroverse Themen ein kulturpolitisches Ziel sein, wie übermächtig die Online-Riesen auch sein mögen. Sich auf die etablierten sozialen Netzwerke zu verlassen,
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Bauman 1991, S. 228. Angela Merkel: Rede zur Eröffnungsveranstaltung der 30. Medientage am 25. Oktober 2016. URL: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/10/2016-1025-merkel-medientage.html (Datum des Zugriffs: 22.8.2018).
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ist jedenfalls keine Option, um den Tendenzen der Vereindeutigung in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Das Erstarken rechter Parteien und identitärer Bewegungen sowie die Häufigkeit und Dringlichkeit gesellschaftlicher Debatten um Identität, Heimat und Nationalkultur entpuppen sich bei genauer Betrachtung als Zeichen einer Krise des Liberalismus. Ein kulturpolitisches Ziel sollte es sein, der Gesellschaft eine Kommunikation darüber zu ermöglichen, wie den negativen Begleiterscheinungen des Liberalismus entgegenzuwirken ist, ohne dabei die Errungenschaften der letzten 50 Jahre zu verwerfen und in ein vorliberales »Retrotopia«81 zurückzukehren. Die Stärkung individueller Rechte und die gesellschaftliche Akzeptanz alternativer Lebensstile rückgängig zu machen und sich erneut auf den Nationalismus als wichtigstes Welterklärungsund Sinnstiftungsmodell zu berufen, wären Maßnahmen, die die positiven Aspekte des Liberalismus entfernen und dabei vermutlich nicht einmal die aktuellen Probleme bewältigen würden. Als negative Aspekte kann insbesondere die in Vereinzelung mündende Individualisierung genannt werden, die sich in der aktuellen Nutzungsweise des Internets potenziert. Auch der global entgrenzte Kapitalismus, der sich außerhalb der einzelnen, nationalstaatlichen Einflussbereiche breitgemacht hat, ist zu nennen. Multinationale Konzerne wie Google und Facebook, die kaum Steuern zahlen, bestimmen die Art der Öffentlichkeit in den demokratischen Nationalstaaten und beeinflussen Wahlen und politische Entscheidungen auf undemokratische Weise. Die global eher unkontrolliert operierenden Finanzmärkte führen zu Wirtschaftskrisen, die ganze Staaten ruinieren, ohne dass die einzelnen Nationalstaaten dies verhindern können. Gleichzeitig sehen sich Arbeitnehmer nicht nur innerstaatlicher, sondern globaler Konkurrenz ausgesetzt. Die drohende Klimakatastrophe erfordert Lösungen, die nicht von einzelnen Nationalstaaten durchgesetzt werden können. Terroristische Gruppen vernetzen sich global und verüben Anschläge in vielen, weit voneinander entfernten Ländern. Derartig komplexe Probleme bedürfen ebenso komplexer Debatten in der Öffentlichkeit. Jan-Werner Müller kritisiert den Umgang liberaler Politiker mit den sogenannten Populisten, die den Bürgern eindeutige und einfache Lösungen dieser komplexen Probleme versprechen.82 Zunächst wird oft versucht,
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Zygmunt Bauman: Retrotopia. Cambridge 2017. Jan-Werner Müller: Die vielen Fallen des Populismus. In: Zeit Online vom 2.6.2019. URL: https://www.zeit.de/kultur/2019-05/liberalismus-rechtspopulismus-afd-carlschmitt-demokratie (Datum des Zugriffs: 3.6.2019).
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die Populisten von öffentlichen Debatten auszuschließen, was Müller zufolge »geradezu kontraproduktiv« ist, da dies das populistische Narrativ der abgehobenen Eliten, die sich nicht um die wichtigen Probleme kümmern würden, zu bestätigen scheint.83 Nach Wahlerfolgen der Populisten haben dann schon »oft […] sogenannte Mainstream-Politiker ihre Meinung über ihre populistischen Gegner radikal geändert«: »Die Populisten wüssten vielleicht doch etwas über die eigentlichen ›Sorgen und Nöte‹ der Bürger, die sonst niemand verstanden habe. Mit anderen Worten: Man schreibt den Populisten, die bei Wahlen erfolgreich sind, eine Art Monopol auf ein soziologisches Spezialwissen zu. Und der nächste Schritt ist dann offensichtlich, dass man anfängt, ihnen nach dem Mund zu reden.«84 Auch diese Strategie funktioniere laut Müller für die liberalen Politiker nicht, sondern könne sogar dazu führen, dass die Positionen der Populisten öffentlich »legitimiert« würden und »sich ein ganzes politisches Spektrum langsam, aber sicher verschiebt«85 . Wenn Mainstream-Politiker ihre populistischen Gegner öffentlich als irrational und postfaktisch und ihre eigenen Positionen als die einzigen rationalen darstellen, dann entstehe Müller zufolge durch diese technokratische Sichtweise »ein Teufelskreis«, denn die politischen Entscheidungen, die den Wählern als »alternativlos« verkauft werden, liefern »eine Steilvorlage für Populisten«86 , die sich als wahre Vertreter des Volkswillens und als alternative Politik präsentieren. Jan-Werner Müller bezeichnet deshalb »Technokratie und Populismus« als »unterschiedliche Ausprägungen von Antipluralismus«, die beide ihre jeweiligen »politischen Angebote als alternativlos« darstellen würden, »obwohl es in der Demokratie immer Alternativen gibt«87 . Müller schlägt stattdessen vor, dass liberale Politiker mit Populisten öffentliche Auseinandersetzungen und Debatten nicht verweigern, aber immer dann öffentlich »rote Linien ziehen«88 , wenn Populisten antipluralistische sowie antidemokratische Positionen vertreten und Verschwörungstheorien und Volksverhetzung verbreiten. Müller fordert einen grundlegenderen Liberalismus, der sich »nicht in Lobreden auf den ›freien
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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
Markt‹ oder im Faible für einen vermeintlich weltbürgerlichen Lebensstil« erschöpft, sondern der »Möglichkeiten schaff[t], damit Bürger selbstbestimmt leben können«, wobei dieser Liberalismus »anfechtbar« sei und sich »dem politischen Streit aussetzen«89 müsse. Kulturpolitik hat das Potenzial, die aktuellen Auseinandersetzungen insofern zu entschärfen, dass statt vereinfachter Eindeutigkeiten differenziertere Betrachtungen Beachtung finden, die auch Widersprüche thematisieren. Die als eindeutig und alternativlos präsentierten Zusammenhänge können in der Sphäre der Kultur als mehrdeutig und nicht alternativlos erscheinen. Kulturpolitik neigt dabei allerdings zur Überschätzung der eigenen Wirkung auf gesellschaftliche Prozesse. Das kulturpolitische Ziel ist nicht – so muss deshalb noch einmal betont werden – eine direkte gesellschaftliche Einflussnahme, sondern lediglich die Ermöglichung einer Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst in einem öffentlich-allgemeinen intersubjektiven Bezugsraum, der sich von den individuell-besonderen Parallelöffentlichkeiten der sozialen Netzwerke, Online-Nachrichtenportale und Suchmaschinen unterscheidet. In diesem Kommunikationsraum kann die gesellschaftliche Frage verhandelt werden, »wie das Gemeinsame und Kollektive als Bezugspunkt der Kultur, das so zentral für den Kulturkommunitarismus ist, nicht diesem allein überlassen wird, sondern von den heterogenen Nationalgesellschaften der Spätmoderne in einer Weise angeeignet werden kann, die den Pluralismus bewahrt und doch über das Konsummodell der Hyperkultur hinausgeht.«90 Durch die Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst in der Sphäre der Kultur entsteht die Möglichkeit, aktuelle gesellschaftliche Probleme jenseits bestehender Kategorisierungen und Eindeutigkeiten neu zu denken. Welche gesellschaftspolitischen Folgen daraus entstehen, ist eine andere Frage, die sich kulturpolitischer Einflussnahme entzieht. Kulturpolitik darf sich deshalb nicht in den Dienst technokratischer oder populistischer Eindeutigkeiten stellen, die vermeintlich alternativlose Lösungen für die gesellschaftlichen Probleme der Spätmoderne präsentieren. Eine kulturpolitische Aufgabe in einem liberal-demokratischen Staat – und hier zeigt sich die Überschneidung kulturpolitischer und bildungspolitischer Entscheidungen – ist es, aus den Individuen auch zivile Staatsbürger 89 90
Ebd. Reckwitz 2017, S. 422.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
zu machen. Demokratische Staaten können sich nicht selbst erhalten, wenn keine Individuen mehr in ihnen leben, die sich selbst als zivile Staatsbürger begreifen.91 Kulturpolitik kann für einen funktionierenden öffentlichen Diskurs sorgen und diesen am Leben erhalten, aber ist aktuell mit großen Hindernissen für diese Aufgaben konfrontiert. Thomas Bauer stellt fest, dass eine funktionierende Demokratie eine ambiguitätstolerante Gesellschaft braucht: »Demokratisch getroffene Entscheidungen beanspruchen nicht, die alleinige Wahrheit, sondern lediglich die wahrscheinlich bessere Lösung zu sein, und dies auch nicht in alle Ewigkeit, sondern nur so lange, bis eine andere Entscheidung getroffen wird (sind also nicht ›alternativlos‹, ein Begriff, der 2011 zum Unwort des Jahres gekürt wurde). […] Einen Anspruch auf Wahrheit, Reinheit und überzeitliche Gültigkeit können demokratische Entscheidungen nicht erheben. Könnte es also nicht der Fall sein, dass gerade der Widerwille, Uneindeutigkeit auszuhalten, und der Wunsch, ›authentisch‹ regiert zu werden, zur Erosion der Demokratie in Europa und anderswo beiträgt?«92 Bauer sieht deshalb auch einen Zusammenhang zwischen abnehmender Ambiguitätstoleranz und dem »Aufstieg populistischer Parteien«93 . Kulturpolitik sollte sich jedoch trotz des Erstarkens rechtsnationaler Bewegungen und Parteien nicht den aktuell zunehmenden Diskussionen um den Identitätsbegriff und verwandte Konzepte verweigern und diese als unmoralisch bezeichnen. Diese Diskussionen sind Symptome tieferliegender Probleme und es gibt offenbar einen gesellschaftlichen Bedarf, über diese Begriffe zu diskutieren. Kultur, verstanden als Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst, sollte sich solchen gesellschaftlichen Debatten nicht entziehen, sondern ihnen einen Raum geben, in dem auch Mehrdeutigkeiten möglich sind.
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Vgl. Jürgen Habermas: Staatsbürgerschaft und nationale Identität. In: Ders.: Faktizität und Geltung. Frankfurt a.M. 1992. Bauer 2018, S. 84. Ebd., S. 84.
14. Identität und Ambiguitätstoleranz
Gutes Zureden Bei jeder sich bietenden Gelegenheit deutsch sein oder links oder maskulin oder katholisch oder jung oder gelb, oder intelligent, oder im Gegenteil ‒ nicht sehr ergiebig, mein Lieber! Lebenslänglich herumirren als Sandwichmann für die eigenen Eigenschaften, das muß doch nicht sein! Eine schwach pigmentierte Epidermis ist schließlich kein Beruf, und was das betrifft, auch die Liebe zum Beruf kann man übertreiben. Aber ich kann doch nicht aus meiner Haut heraus! Zugegeben. Aber deshalb brauchst du noch lange nicht herumzureiten auf deiner berühmten Identität, die weiter nichts ist als eine tönerne Schelle und ein Klappern im Wind. Du könntest auch anders. Es käme, denk es, o Seele, auf den Versuch an. [Hans Magnus Enzensberger]94
94
Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1995, S. 6364.
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15. Kulturpolitik und Heimat
Die Aktualität sowohl des Heimatbegriffes als auch des Identitätsbegriffes zeigt sich an der Erweiterung des Bundesministeriums für Inneres um den Bereich der Heimat, der sich nach Angaben des Ministeriums mit Fragen »des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Identifikation mit unserem Land und der Integration«1 beschäftigen soll. Als Grund für die Erweiterung des Ministeriums des Innern um den Heimatbereich werden aktuelle gesellschaftliche Veränderungen genannt: »Heimat ist dort, wo sich Menschen wohl, akzeptiert und geborgen fühlen. Heimat hat nichts mit Enge zu tun, sondern gibt Orientierung und vermittelt einen festen Halt, die Herausforderungen des Lebens zu bestehen und nach vorne zu blicken. Heimatpolitik ist als gemeinsame Gestaltungsaufgabe zu verstehen. Der tiefgreifende Wandel unserer Zeit bewegt viele Menschen in ihrem Lebensalltag. Deutschland hat sich durch Globalisierung, Digitalisierung und Zuwanderung in den letzten Jahren stark verändert. Wenn Gemeinschaften vielfältiger werden, sind die Fragen der Identität und der Identifikation mit unserem Land umso wichtiger.«2 Das Ministerium möchte Antworten auf Fragen der nationalen Identität geben, die »normativ verbindlich« sind, und dabei »nicht nur die Grundrechte als Basis unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern auch die Achtung und Wertschätzung der hier tradierten Lebensweise«3 einbeziehen. Der in den letzten Jahren selbst in der Werbung inflationär gebrauchte 1
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Drucksache 19/3559: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Britta Haßelmann, Christian Kühn (Tübingen), Markus Tressel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Drucksache 19/3294), S. 7. Ebd., S. 6-7. Ebd., S. 7.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Heimatbegriff wird vom Bundesministerium für Inneres mit der nationalen Identität verknüpft, obwohl eine solche Verbindung alles andere als selbstverständlich ist. Der umstrittene Heimatbegriff kann auch als eine positive Bindung an bestimmte vertraute Orte und Personen verstanden werden und muss nicht mit dem Konzept des Nationalstaats verbunden sein. Für Norbert Sievers, Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V., ist »Heimat […] ein schillernder und problematischer Begriff, wenn er als politische Kategorie benutzt wird und nicht als persönliche Angelegenheit«4 . Markus Kerber, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, verknüpft in Politik und Kultur den Heimatbegriff zunächst mit der unmittelbaren Lebensumgebung und der Familie, aber dehnt diese Verknüpfung wie selbstverständlich auf den Nationalstaat und die nationale Identität aus: »Heimatpolitik muss tragfähige Antworten auf die Suche nach Identität und Zugehörigkeit geben und die Bürger auch emotional mitnehmen. Fragen der Identität und Identifikation mit unserem Land sind heute wichtiger denn je. Unsere Identität leitet sich aus Tradition und Geschichte her. Sie lässt sich häufig an mythologisierten Orten festmachen, an Monumenten des kulturellen Gedächtnisses, wie beispielsweise dem Brandenburger Tor in Berlin.«5 In der Verwendung des Heimatbegriffes durch Vertreter des Ministeriums sind demnach sowohl die Dimension der vertrauten, unmittelbaren Lebensumgebung als auch die Dimension der vorgestellten Gemeinschaft der Nation enthalten. Der Heimatbegriff ist einerseits mit Konnotationen wie Zuhause, Vertrautheit, Familie und Natur verbunden und ist andererseits in der deutschen Sprache durch Verwendungen in der Vergangenheit schwer belastet. Nach der Reichsgründung wird der Heimatbegriff im Zuge der völkischen Bewegung zunehmend mit nationalistischen Ideen verknüpft. In der literarischen Strömung der Heimatkunst, zu der als wichtige Autoren zum Beispiel Hermann Löns und Gustav Frenssen gehören, werden Zivilisationskritik und völkisch-
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Norbert Sievers: KULTUR. MACHT. HEIMATen. Problemaufriss zum 10. Kulturpolitischen Bundeskongress. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 164 (2019), S. 6-8, hier: S. 6. Markus Kerber: Eine Zu- oder Absage an die Kultur der Moderne? Heimatpolitik heute. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 18.
15. Kulturpolitik und Heimat
nationalistische Ideen mit Naturverbundenheit und einer idealisierten Vorstellung von Heimat verbunden. Eine neue, genuin positive Deutung des Heimatbegriffs wird deshalb nicht jedem Menschen in Deutschland unmittelbar einleuchten. Laut Aleida Assmann »galt« das Wort Heimat »lange als abgenutzt und unbrauchbar, aber so schnell wird man es nicht los«6 . Für eine neue Verwendung »musste es ausgeleert, neu aufgefüllt und neu besetzt werden« und »[d]ieser produktive Suchprozess ist noch im Gange«7 . Teil dieses neuen Suchprozesses ist aktuell die Frage, welche Menschen zur Heimat dazugehören und welche Menschen von diesem emotional aufgeladenen Konzept ausgeschlossen sind. Aleida Assmann zeigt, dass Zeiten, in denen »langfristige, selbstverständliche Sesshaftigkeit herrscht und soziale, politische und kulturelle Kontinuitäten nie schmerzhaft unterbrochen wurden«, auf »das Wort Heimat«8 verzichten können. Assmann bezeichnet Heimat als »Reflexionsbegriff, der Vergleich, Differenz und Distanz voraussetzt« und der auf etwas deutet, »das unselbstverständlich geworden, entzogen oder verloren ist«9 . In diesem Kontext spricht Assmann von »einem immer gröber werdenden Bedrohungsdiskurs«, in dem die Vorstellung entstanden ist, dass »Globalisierung und Migration […] automatisch zur totalen Entgrenzung und zum Identitätsverlust«10 führen würden. Der aktuelle Diskurs um den Heimatbegriff verläuft somit parallel zu den verwandten Diskursen um Identität und Leitkultur. Bei allen drei Begriffen lässt sich in öffentlichen Beiträgen eine Tendenz zur Vereindeutigung und zum Wunsch nach klar definierten Grenzen feststellen. Der Heimatbegriff hat eine Konstante von der Romantik über die Heimatbewegung und die Blut-und-Boden-Ideologie bis heute zur neuen Diskussion um den Begriff: Der Konflikt zwischen Tradition und Moderne, sowie zwischen Natur und technischem Fortschritt ist immer zentraler Ausgangspunkt aller Heimatbegriffe gewesen. Die Diskussion um den Heimatbegriff lebt nicht zufällig gerade jetzt wieder auf, sondern fällt in eine Zeit, in der traditionelle Lebensweisen verändert werden und die Aufrechterhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen langfristig nicht sicher ist. Die
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Aleida Assmann: Verortung in Raum und Zeit. Heimat wird in vielen Formen erlebt und tradiert. In: Politik und Kultur 1 u. 2/19, S. 1-2, hier: S. 1. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Veränderungen der letzten Jahrzehnte, aus denen die aktuellen Verunsicherungen vieler Menschen hervorgegangen sind, finden im Heimatbegriff ihren ideellen Gegenpol. Armin Nassehi stellt fest, dass »der Begriff Heimat dann auftaucht, wenn Zugehörigkeiten sich nicht mehr von selbst ergeben«, und dass es ein wichtiger Bestandteil der »kulturkritischen Kritik der Moderne« ist, »deren Verlust von klaren Zugehörigkeiten und ihre Entwurzelung« und »vor allem den Verlust quasi natürlicher Formen der Zugehörigkeit«11 zu beklagen. Dies ist Nassehi zufolge auch eine »Kritik am Liberalismus der Moderne, daran, dass die Menschen danach beurteilt werden, was sie sagen und leisten, nicht danach, was sie eigentlich sind«12 . Eindeutige und permanente Zugehörigkeiten haben in der Moderne an Bedeutung verloren und werden durch unbeständige Mehrfachzugehörigkeiten verdrängt: »In modernen Gesellschaften ist der einzelne Mensch gleichzeitig in eine Vielzahl von Rollen eingebunden – es gibt kein einzelnes Merkmal, das den Menschen in der Moderne ganz ausmacht. […] Deshalb müssen moderne Leben aktiv geführt werden und deshalb bleibt der Mensch irgendwie unbestimmt. Man kann nicht mehr von wenigen oder gar einem Merkmal auf alles andere schließen und auch nicht klar sagen, wer alternativlos wohin gehört.«13 Daraus ergibt sich eine größere Freiheit für und ein geringerer Druck von Kollektiven auf das Individuum. Daraus ergibt sich aber auch eine größere Verantwortung des Individuums. Das Individuum kann deshalb von der gewonnenen Freiheit überfordert sein und sich aus dem Gefühl der Unsicherheit heraus nach einer als verloren gedachten Heimatzugehörigkeit sehnen. Diese Entwicklungen werden durch gesellschaftliche und technische Veränderungen in der Spätmoderne beschleunigt und intensiviert, aber begleiten die gesamte Moderne. Nassehi beschreibt Heimat als eine »Ersatzhandlung […] für jene Lücke, die entsteht, wenn eine Gesellschaft ihr Personal nicht mehr eindeutig zuordnen kann« und weist darauf hin, dass das »Bezugsproblem« des Heimatbegriffes
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Armin Nassehi: Woher kommst du nicht? Sieben Exkursionen in eine Soziologie der Heimat. In: Ders. & Peter Felixberger (Hg.): Kursbuch 198. Heimatt. Hamburg 2019, S. 172-183, hier: S. 175. Ebd. Ebd., S. 176.
15. Kulturpolitik und Heimat
»alles andere als altmodisch ist, sondern in das Zentrum der Modernität moderner Gesellschaften zielt: etwas benennen müssen, was es gar nicht gibt, das aber gerade dadurch, dass es sich nicht von selbst ergibt, mit besonderer semantischer Energie ausgestattet werden muss.«14 Weil eindeutige Zugehörigkeiten zu beständigen sozialen Gruppen in der Moderne kaum noch möglich sind, werden gerade in der Moderne scheinbar feste Zugehörigkeiten konstruiert: »das Geschlecht im Sinne konkreter Geschlechtscharaktere, die Rasse im Sinne des unter anderem wissenschaftlich erfundenen Rassismus, die Nation als politisch, manchmal ethnisch begründete Zugehörigkeitskategorie […] und eben auch: die zumeist regional codierte Form der Heimat, deren empirische Ausprägung von der kleinräumigen Zugehörigkeit bis zum christlichen Abendland reichen kann.«15 Wichtig ist aus liberal-demokratischer Sicht, dass der Heimatbegriff einerseits eine Verbindung mit Fortschrittskritik und Naturverbundenheit sowie mit dem Konflikt zwischen Tradition und Moderne, aber andererseits auch die gefährlichere Verbindung mit einer ethnisch verstandenen nationalen Identität und der Heimatzugehörigkeit durch Abstammung eingehen kann und sich diese Aspekte oft vermischen. Die völkisch-nationalistische Heimatkunstbewegung und die Blut-und-Boden-Ideologie enthielten durchaus fortschrittskritische und naturschützende Aspekte. Deshalb darf bei der möglichen Neudeutung des Begriffs die Geschichte des Begriffs nicht vergessen werden. Kulturpolitik kann Räume der Kommunikation eröffnen, in denen der Heimatbegriff und in diesem Kontext das Verhältnis der Gesellschaft zu Tradition und Moderne sowie zu Natur und technischem Fortschritt neu verhandelt werden können, ohne dass man sich von liberaldemokratischen Grundwerten entfernt. Dass die neue Diskussion um den Heimatbegriff auch in kulturpolitischen Debatten angekommen ist, zeigen zum Beispiel die Themenschwerpunkte Heimat – Identität und Heimat – Kunst der Zeitung des Deutschen Kulturrates Politik & Kultur, die im Februar und März 2019 erschienen sind. Jens Kober, Referent für Nachhaltigkeit und Kultur beim Deutschen Kulturrat, bezeichnet in der Märzausgabe die Frage »Heimat: Was ist das?« als eine »Zukunftsfrage«
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Ebd., S. 180. Ebd.
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und bezieht sich insbesondere auf Verbindungen »zwischen dem Nachhaltigkeitsdiskurs des Natur- und Umweltbereiches und kulturpolitischen Debatten«16 . Wie beim Identitätsbegriff, birgt auch die kulturpolitische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff die Gefahr, sich eindeutigen Definitionen hinzugeben. In der Sphäre der Kultur ist es möglich, Konzepte in all ihrer Differenziertheit und Ambiguität zu erfahren und zu diskutieren. Wenn es einen starken gesellschaftlichen Drang danach gibt, den Heimatbegriff neu zu denken und auf die aktuelle Zeit anzuwenden, dann gelingt eine differenzierte Neuverhandlung nur über die Kultur. Strittig ist dabei, ob der Heimatbegriff in Deutschland nach seiner Verwendung im Dritten Reich noch positiv besetzt werden kann oder ob dieser spezifisch deutsche Begriff, der nur schwer in andere Sprachen übersetzbar ist, nicht von seinen problematischen Aspekten zu lösen ist. Die Heimat-Filmreihe von Edgar Reitz zeigt, wie der Heimatbegriff in der Sphäre der Kultur aufgegriffen werden kann, um differenziert und mehrdeutig dargestellt und in Interpretationen neu verhandelt zu werden. Edgar Reitz’ in veröffentlichten Texten und Interviews geäußerte Kommentare zum Film zeigen allerdings auch, wie die meisten Versuche, den Heimatbegriff für eine positive Neubewertung zu retten, an die problematischen Aspekte dieses Begriffs anknüpfen und diese oft bloß modifiziert fortsetzen. Heimat wird oft gleichgesetzt mit Nation, beinhaltet oft essentialistische Vorstellungen von Identität und dient oft der kulturellen Abgrenzung. Die Filme in Verbindung mit den Äußerungen des Regisseurs sind daher auch ein Beispiel dafür, dass Werk und Künstler zwar getrennt voneinander beurteilt werden sollten, dies aber oft schwerfällt, wenn Werk und Künstleräußerungen im Kontext der Erinnerung an die Verbrechen des Dritten Reiches stehen. Im ersten Film Fernweh (1919-1928) des ersten Teils Heimat – Eine deutsche Chronik befinden sich die Protagonisten zwischen Tradition und Erneuerung und zwischen Bleiben und Verlassen der Heimat, die zwar ein vertrauter, aber kein idealer Ort ist. Die Figur Paul Simon kehrt zunächst aus dem Ersten Weltkrieg zurück in den Kreis seiner Familie und arbeitet mit seinem Vater als Schmied. Allerdings eröffnet er sich ein Fenster zur Welt außerhalb des Dorfes, indem er ein Radio baut und sogar den BBC empfängt. Als Apollonia Paul fragt, ob er mit ihr das Dorf verlassen will, nennt Paul sein Radio
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Jens Kober: Heimat: Was soll das? Oder: Warum sich der Deutsche Kulturrat mit dem Heimatbegriff beschäftigt. In: Politik und Kultur 3/19, S. 26.
15. Kulturpolitik und Heimat
als einzigen Grund, warum er in Schabbach bleiben möchte.17 Am Ende des Films verschwindet Paul unangekündigt aus dem Dorf und spricht darüber nicht einmal mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Im nächsten Film Die Mitte der Welt (1928-1933) erfährt der Zuschauer, dass Paul in Amerika ist. Auch Apollonia verlässt das Dorf, in dem sie schon als Kind beschimpft wurde, weil ihre Mutter sie alleine erzogen hat, und in dem sie als Erwachsene geächtet wird, weil sie ein Kind von einem französischen Besatzungssoldaten bekommen hat, den sie heiratet und nach Frankreich begleitet. Diese problematischen Verhältnisse der Protagonisten zu ihrem Heimatdorf stehen im Kontrast zu den Landschaftsaufnahmen aus dem Hunsrück und dem dargestellten Familienleben, wie dem gemeinsamen Essen und Arbeiten, wobei gelacht und gescherzt wird. Der Umgang mit dem Fremden im Dorf und der Region zur Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus wird auch in Die Mitte der Welt (1928-1933) problematisiert. Einerseits wird eine durchreisende Französin gastfreundlich behandelt und ihre mitgebrachten Badedüfte lassen einigen Frauen des Dorfes die Großstadt Paris als Sehnsuchtsort erscheinen.18 Aber andererseits wird der zunehmende Antisemitismus und die Machtübernahme der Nationalsozialisten als selbstverständlich hingenommen und opportunistisch genutzt. Die Figuren der Filme treten nicht offen antisemitisch auf, sondern erscheinen als ahnungslose Mitläufer. Zu den handelnden Figuren gehört keine einzige jüdische Figur und in Heimatfront (1943) weiß nur der SS-Mann Wilfried Wiegand davon, dass die »Endlösung […] radikal und gnadenlos durchgeführt« wird und »[a]lle in den Schornstein«19 müssen. Im Dorf sind Wilfried Wiegand und sein Vater die einzigen Figuren, die als überzeugte Nazis auftreten, und so streitet Wilfried zum Beispiel mit Katharina Simon, weil diese zwei französischen Kriegsgefangenen Essen gegeben hat.20 Die Shoah und die Verbrechen der Deutschen sind nur ein nicht explizit genanntes Randthema der Filmteile, die in der Zeit des Nationalsozialismus spielen. Stattdessen überwiegt die Darstellung der Hunsrücker Dorfbewohner als Opfer des Zweiten Weltkrieges und die negative Darstellung der Amerikanisierung nach dem Krieg.
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Edgar Reitz: Heimat. Eine deutsche Chronik. Die Kinofassung. Das Jahrhundert-Epos in Texten und Bildern. Marburg 2015, S. 48. Ebd., S. 102. Ebd., S. 270. Ebd., S. 247.
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Während das künstlerische Werk sich durch eine mehrdeutige Darstellung von Heimat auszeichnet, lassen die öffentlichen Äußerungen von Edgar Reitz eine bestimmte Heimatvorstellung erkennen, der das klassische, herdersche Kulturkonzept zugrunde liegt, das von klar voneinander abgrenzbaren Kulturen ausgeht und Kunst als Ausdruck einer bestimmten Nationalkultur versteht. Edgar Reitz konzipierte den Film als Antwort auf die 1979 in Deutschland ausgestrahlte US-amerikanische TV-Serie Holocaust, die für ihn eine amerikanische Aneignung deutscher Geschichte darstellte, die er in einem deutschen Film richtigstellen wollte.21 Michael Brenner stellt in seinem Aufsatz zum Heimatbegriff der in der Nachkriegszeit in Deutschland lebenden Juden fest, dass erst die Serie Holocaust das schwierige Verhältnis der in Deutschland lebenden Juden zu ihrer Umgebung etwas verbessern konnte und einen Erinnerungsprozess auch bei einigen Deutschen anstoßen konnte: »Irgendwann änderte sich etwas. Gut drei Jahrzehnte nach Kriegsende brach das Schweigen auf beiden Seiten. Die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie Holocaust schuf nicht nur neue Begrifflichkeiten, sondern setzte ein Gespräch über die Beteiligung der eigenen Familienmitglieder an den Verbrechen in Gang, das in diesem Ausmaß vorher nicht vorhanden war.«22 In dem teilweise veröffentlichten Produktionstagebuch zur ersten HeimatFilmreihe notiert Edgar Reitz zum 24. Januar 1981: »Schon wieder eine Begegnung mit der internationalen, also der amerikanischen Ästhetik. Sie ist der eigentliche Terror. Es heißt ja, dass die deutschen und überhaupt die regionalen Themen inzwischen gut verkäuflich seien, die Amis seien aufmerksam auf den deutschen Film geworden, aber sie nehmen uns die deutsche Machart übel. […] Der wesentliche Unterschied liegt in der Machart. Show-Business-Regeln angewendet auf unsere Erinnerung. Was ist das? Das ist der tiefste Verlust, der Verlust der eigenen Sprache. Gerade jetzt, im Augenblick des Erfolges, verlieren wir die Identität, die Heimat wird zum letzten Mal und dafür ganz entäußert. 21
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Vgl. Edgar Reitz: Unabhängiger Film nach Holocaust. In: Ders.: Liebe zum Kino. Utopien und Gedanken zum Autorenfilm. 1962-1983. Köln 1983, S. 98-105; Thomas Elsaesser: New German Cinema. A History. New Brunswick 1984, S. 272. Michael Brenner: Ein Zuhause, aber keine Heimat. Eine kleine Geschichte jüdischer Zugehörigkeitsgefühle. In: Armin Nassehi & Peter Felixberger (Hg.): Kursbuch 198. Heimatt. Hamburg 2019, S. 125-139, hier: S. 131.
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In die internationale Konkurrenzsprache, das Amerikanische, übersetzt, so wird sie vermarktet.«23 Der Heimatbegriff ist bei Reitz nicht auf das ambivalente Verhältnis des Individuums zu seinem Herkunftsort und seiner Familie beschränkt, sondern beinhaltet auch die Abgrenzung deutscher von amerikanischer Ästhetik und wird mit dem Identitätsbegriff verknüpft. Fabian Wolff bezeichnet in der Jüdischen Allgemeinen Edgar Reitz’ Verwendung des Heimatbegriffes als »nicht ironisch gebrochen, sondern affirmativ« und kritisiert an Reitz Filmen, dass Amerika als Feindbild und »Juden als wurzelloses Gegenbild«24 gezeichnet werden. Während bei der Darstellung von Juden in Heimat – Eine deutsche Chronik eigentlich nur die nahezu komplette Abwesenheit jüdischer Figuren auffällt – selbst die Figur Otto Wohlleben bezeichnet nie sich selbst, sondern nur seine Mutter als Jüdin –25 lassen sich tatsächlich Belege in Handlung und Figurenrede finden, die Amerika als Feindbild erscheinen lassen. So droht die von Anton Simon nach dem Krieg mit eigenen Ideen aufgebaute Firma, die in der Region als größter Arbeitgeber für Wohlstand und Stabilität sorgt, von einem international agierenden, amerikanischen Konzern aufgekauft zu werden. Gerüchte davon sorgen bei den Dorfbewohnern und den Angestellten der Firma für Besorgnis.26 Anton fragt seinen Vater Paul, ob dieser ihm rate, das Angebot anzunehmen oder abzulehnen. Paul, der den Hunsrück, seine Frau und seine beiden Söhne 1928 verlassen und in Amerika eine erfolgreiche Firma gegründet hat, erzählt seinem Sohn in einem mit englischen Wörtern vermischten Deutsch daraufhin erstmals davon, dass er seine Firma an IBM verkauft hat und rät Anton, ebenfalls zu verkaufen.27 Anton erzählt seiner Frau daraufhin von dem Treffen mit seinem Vater und grenzt sich vom heimatlosen Amerikaner ab:
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Edgar Reitz: Die Schönheit der Nebensachen. Aus dem Produktionstagebuch zu »Heimat«. In: Michael Töteberg, Ingo Fliess & Daniel Bickermann (Hg.): Edgar Reitz. Drehort Heimat. Arbeitsnotizen und Zukunftsentwürfe. Frankfurt a.M. 2004, S. 19-103, hier: S. 26. Fabian Wolff: Heimat ohne Juden. Wie Edgar Reitz’ »deutsche Chronik« die Geschichte entsorgt: Eine Polemik. In: Jüdische Allgemeine vom 15.10.2013. URL: https://www. juedische-allgemeine.de/kultur/heimat-ohne-juden/ (Datum des Zugriffs: 19.3.2019). Reitz 2015, S. 227. Ebd., S. 445 u. S. 450. Ebd., S. 444.
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»anton. Typischer Amerikaner. Spielt mit dem Hermann Eisenbahn und ist nirgends dahem. martha. Was meinst du? Das versteh ich nich. anton. Der Mensch muss wissen, wo er dahem ist. Wir jedenfalls wissen es.«28 Edgar Reitz, so ist in Interviews nachzulesen, möchte Heimat nicht mit Nation und nicht »mit irgendeiner Art von politisch definierbarem Raum« gleichsetzen, sondern Heimat als »Gefühl eines gewissen Miteinanders« verstehen, das nicht »konfliktfrei« und als Ort weder »Paradies« noch »Idylle«29 ist. Von der Verwendung des Heimatbegriffes im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hält Edgar Reitz nichts, da der Heimatbegriff in der spezifischen Verwendung des Ministeriums »hohl« und »banalisiert«30 werde. Reitz gibt an, Heimat ohne eine »politische Haltung« und ohne eine »bestimmte Moral«31 zu denken. Stattdessen meint er »etwas ganz Reales, Konkretes«, »[e]twas, was man erlebt und erfährt« und betont, dass im »Heimatbegriff zunächst einmal keine Freiheit enthalten ist«32 . Die Überlegungen von Reitz zeigen die Ambivalenzen des Heimatbegriffes auf: »Heimat ist eine Haut, ein Gehäuse. Die Freiheit besteht immer darin, sich aus dieser Haut hinauszubegeben und dieses kleine Universum, das wir sozusagen von Geburt an wie einen Uterus mitbringen, zu verlassen. Wir müssen eine Distanz entwickeln, aus der heraus wir entscheiden können, ob wir die Verhältnisse so lassen oder nicht, ob wir uns fügen oder nicht fügen in die Traditionen und Verhältnisse. Heimat war immer eine Haut, aus der ich ausbreche.«33 Die »Zugehörigkeit« und das Gefühl der »Geborgenheit« gehen bei Reitz’ Heimatbegriff immer einher mit der Möglichkeit, die »Zugehörigkeit zu verlieren«, und mit einem möglichen »Verlust der Geborgenheit«34 . In Die andere 28 29
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Ebd., S. 451. Jochen Kürten: Edgar Reitz: »Heimat kann man sich nicht aussuchen« [Gespräch]. In: Deutsche Welle vom 20.12.2018. URL: https://www.dw.com/de/edgar-reitz-heimatkann-man-sich-nicht-aussuchen/a-46813657 (Datum des Zugriffs: 4.3.2019). Ebd. Hans Jessen: Es sind immer Raum und Zeit. [Gespräch mit Edgar Reitz]. In: Politik und Kultur 3/19, S. 17. Ebd. Ebd. Ebd.
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Heimat von 2013 sind Auswanderer zu sehen, die sich im 19. Jahrhundert aus Schabbach auf den Weg nach Brasilien machen, um ein neues Leben und eine neue Heimat zu beginnen. Der Verlust der alten Heimat ist in diesem Film von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig wird sichtbar, dass die Entfernung zum Ursprungsort eine idealisierte Heimatvorstellung erzeugen kann, die keine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. In der Heimat-Trilogie und in Die andere Heimat verweist der Heimatbegriff auf ein spannungsgeladenes Verhältnis des Menschen zu seinem Herkunftsort und dem Verlassen des Herkunftsortes, um an anderen Orten und eventuell mit anderen Menschen neue Bindungen einzugehen. Heimat erscheint als mehrdeutiger Begriff, der zwar die Sehnsucht nach dem verlassenen Ort, aber keine genuin positive Aufladung mit ideologischen Konzepten beinhaltet, wie es in der völkischen Heimatliteratur üblich war. In völkisch-rassistischen, kolonialistischen Texten der Heimatliteratur wie Peter Moors Fahrt nach Südwest von Gustav Frenssen und Volk ohne Raum von Hans Grimm stehen die Schwierigkeiten der Deutschen Kolonialisten in Afrika im Mittelpunkt, ihre kulturelle Identität in einem fremden Land zu bewahren und eine deutsche Heimat in einem anderen Land herzustellen. In Frenssens Text wird der Heimatbegriff häufig explizit genannt und dient dem Ich-Erzähler Peter Moor als Handlungsmotivation.35 Die Figuren der Romane argumentieren völkisch-rassistisch und setzen ihre Gedanken mordend und erobernd in die Tat um. Zum Heimatbegriff gehört bei Reitz und bei den meisten anderen Verwendungen die Sehnsucht nach einem idealisierten Ort der Vergangenheit. Diese Sehnsucht entsteht aus dem Spannungsverhältnis zwischen Verwurzelung und Unterwegssein, das die Philosophin Karen Joisten, die sich intensiv mit dem Heimatbegriff auseinandergesetzt hat, als eine Grundkonstante menschlichen Daseins beschreibt: » So befindet sich der Mensch stets an einem Ort. Dieser Ort steht aber nur scheinbar fest, denn, genauer betrachtet, ist er eine Art Fluss, der in seiner Selbigkeit einem permanenten Anderswerden unterliegt. Aber auch der Mensch, der mit diesem oder jenem Namen eine scheinbar unverrückbare Identität hat, unterliegt einer stetigen Veränderung, wodurch er sich in aller Selbigkeit als ein unermüdliches Unterwegssein erweist, und er heute nicht
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Gustav Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht. Hamm 1953 [1906], z.B. S. 70, 72, 78, 95.
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mehr derjenige ist, der er gestern, vorgestern und die Tage zuvor gewesen war. […] So ist er als eine Art Selbigkeit, die dem Wohnen des Menschen Rechnung trägt, eine Einheit, eine Stetigkeit, eine Ruhe, etwas Eigenes und Abgegrenztes. Und aufgrund des Anderswerdens, das das Unterwegssein des Menschen kenntlich macht, erweist er sich als Differenz, Fließen, Bewegung, Fremdes und Grenzenloses.«36 Zeiten, in denen intensiv über den Heimatbegriff diskutiert wird, sind Zeiten, in denen im Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne, zwischen Bewahren und Erneuern, Konflikte ausgetragen werden. Kulturpolitik kann Möglichkeiten eröffnen, diese Konflikte öffentlich zu verhandeln und zu entschärfen. An Reitz filmischer Bearbeitung des Heimatbegriffes und der Auseinandersetzung mit den Filmen zeigt sich allerdings, dass der Begriff mit Selbstverständlichkeit im öffentlichen Diskurs mit bestimmten kulturessentialistischen Überzeugungen und Fantasien kultureller Homogenität verbunden ist, von denen sich die Diskursteilnehmer offenbar nur schwer lösen können. Am Heimatdiskurs in der deutschen Öffentlichkeit ist die Kontinuität des klassischen Kulturbegriffs nach Herder abzulesen. Trotz seiner Bemühungen, den Heimatbegriff von nationalen Verknüpfungen zu befreien, bleibt auch Reitz bei der Idee einer kulturell homogenen Heimat, die von fremden Einflüssen zu beschützen und zu befreien ist. Einerseits bemängelt Reitz die Ideologisierung und die Rückkehr des Heimatbegriffes »in den braunen Sumpf«37 und andererseits ist Transkulturalität aus Reitz Sicht defizitär und ein Vorbote einer dystopisch anmutenden Zukunft: »Eigentlich ist Heimat schon heute nur noch eine Sehnsucht. Ich fürchte, es wird, in 200, 300 Jahren, eine Art Weltkultur geben, die gesamte Menschheit wird sich mehr und mehr durchmischen und das, was wir als nationale Lebensweisen und Kulturen kennen, wird verschwinden. Das geht natürlich nicht ohne Konflikte und Krisen, vielleicht sogar Kriege.«38
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Karen Joisten: Woher komme ich? Wohin gehe ich? In: Joachim Klose & Ralph Lindner (Hg.): Zukunft Heimat. Dresden 2012, S. 11-41, hier: S. 36. Georg Etscheit: Heimat ist ein Schlachtfeld der Gefühle. [Interview mit Edgar Reitz]. In: Zeit Online vom 1.11.2017. URL: https://www.zeit.de/kultur/film/2017-10/edgar-reitzheimat-begriff-ideologie (Datum des Zugriffs: 19.3.2019). Ebd.
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Das Ergebnis kultureller Vermischungen ist aus Reitz’ Sicht zunächst eine Zeit des Krieges, dann ein Verlust kultureller Vielfalt und letztlich eine einheitliche Weltkultur, in der alle Menschen ein – von Reitz ebenfalls als defizitär markiertes – »merkwürdiges Pidgin-Englisch sprechen«39 . Es sei hier angemerkt, dass Reitz Befürchtungen aus linguistischer Perspektive als unbegründet zu bewerten sind, denn Pidgin-Sprachen sind nur deshalb simplifizierte Sprachen, weil diese per definitionem für alle Sprecher Zweitsprachen sind, die als lingua franca verwendet werden. Menschen sind durchaus in der Lage, mehrsprachig zu leben und die größere Verbreitung des Englischen führt weder zu einer sprachlichen Verarmung der jeweiligen Landessprachen noch zu einer Degeneration des Englischen. Stattdessen trägt Bilingualität sogar zur Verbesserung sprachlicher und anderer kognitiver Fähigkeiten bei, wie zum Beispiel ein vom Didaktikprofessor Heiner Böttger begleiteter Modellversuch herausfinden konnte.40 Trotz der auch in dieser Arbeit thematisierten Probleme, die aus der verstärkten globalen Vernetzung hervorgehen, sollte diese Vernetzung nicht allgemein mit einem kulturellen Verfall gleichgesetzt werden. Auch die kulturessentialistischen Aspekte des Heimatbegriffs sind in Reitz Überlegungen wiederzufinden, wenn er die Integration kulturell verschiedener Menschen für unmöglich erklärt, weil diese »selbst nach 150 Jahren noch immer ihre alte Heimat in sich tragen«41 . Diese Äußerungen zeigen, dass der Heimatbegriff von Reitz mit dem Kulturkonzept von Herder verwandt ist, denn in beiden gelten universalistische Tendenzen und Migration als defizitär, weil sie Menschen ihrer als essentiell gedachten Zugehörigkeit zu einer distinkten Gemeinschaft berauben würden. Die Filme sind auch unabhängig von den Äußerungen des Autors zum Heimatbegriff zu betrachten und können trotz ihrer Vernachlässigung der jüdischen Perspektive als mehrdeutige Darstellung des Heimatbegriffes gesehen werden. Die spezifisch nichtjüdische, selektive Perspektive, die eher die Form ausschnitthafter Lebenserinnerungen annimmt, muss den Betrachtern der Filme klar sein. Zwar zeigt sich an den Filmen auch die enge Verbindung des Heimatbegriffes mit Vorstellungen einer homogenen Nationalkultur, aber trotzdem erlauben die Filme dem Betrachter komplexe Interpretati39 40
41
Ebd. Vgl. Englisch in mehreren Fächern. Bilingualer Unterricht macht Kinder klüger. In: Der Tagesspiegel vom 18.4.2019. URL: https://www.tagesspiegel.de/wissen/englisch-inmehreren-faechern-bilingualer-unterricht-macht-kinder-klueger/24230718.html (Datum des Zugriffs: 10.7.2019). Etscheit 2019.
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onszusammenhänge und individuelle Reflexionen zum Heimatbegriff. Gerade wenn die Filme im Kontext der Serie Holocaust gesehen werden, offenbaren sich neue Interpretationsansätze, die den Heimatbegriff, zu dem immer Erinnerung gehört, mit der Erinnerung an die Genozide der NS-Zeit kontrastieren. Die Fragen, ob der Heimatbegriff in Deutschland weiter von gesellschaftlicher Bedeutung sein sollte, welche Konnotationen mit diesem Begriff einhergehen und ob eventuell Bedeutungsverschiebungen des Begriffes nötig und möglich sind, können in der Sphäre der Kultur – zum Beispiel über die Filme von Edgar Reitz in Verbindung mit der Serie Holocaust – kommuniziert und verhandelt werden. Eine erneute Normalisierung des Heimatbegriffes, der die problematische Begriffsgeschichte im Zusammenhang mit der Shoah völlig außer Acht lässt und an nationalkulturelle Homogenitätsvorstellungen und die Dämonisierung transkultureller Prozesse gebunden ist, ist hoffentlich nicht das Ergebnis der gesellschaftlichen Neuverhandlung des Begriffs. So ist auch an Edgar Reitz’ Filmreihe nachzuvollziehen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff, die an spezifisch deutsche Geschichtserinnerungen gebunden ist, eine Tendenz dazu hat, negative Elemente dieser Geschichte auszublenden oder zu relativieren, um zu einem eher positiven Heimatgefühl zu gelangen. Es zeigt sich außerdem an den Äußerungen von Edgar Reitz, dass der Heimatbegriff oft in Verbindung mit der vorgestellten Gemeinschaft der Nation auftritt und als essentielle Zugehörigkeit gedacht wird. Trotz dieser negativen Einschätzung eignet sich die Filmreihe Heimat – Eine deutsche Chronik zu individuellen Interpretationen und als Ansatz für kontroverse Diskussionen um den Heimatbegriff, wenn diese in einem Kontext stattfinden, in dem klar ist, dass die Filmreihe keine realitätstreue Darstellung der Geschichte ist, sondern eine selektive Darstellung bestimmter Ereignisse der Geschichte aus der Perspektive der deutschen, nichtjüdischen Bevölkerung im Hunsrück, die auf Erinnerungsberichten basiert. Dass der Heimatbegriff in Reitz’ Filmen nicht idealisiert wird, unterscheidet diese Filme von den Heimatfilmen der 1950er Jahre. Jürgen Heizmann stellt fest, dass »der prototypische Heimatfilm im ländlichen Raum angesiedelt und der Konflikt zwischen Tradition und Moderne eines seiner grundlegenden Themen ist«42 . Im prototypischen Heimatfilm der Nachkriegszeit gab
42
Jürgen Heizmann: Bilder und Geschichten aus der Provinz. Der Heimatfilm. In: Politik und Kultur 3/19, S. 19.
15. Kulturpolitik und Heimat
es Heizmann zufolge »keine zerstörten Städte, keine Kriegsschuld, keinen Zivilisationsbruch« und »Heimat wurde als paradiesischer Ort präsentiert, wo Politik und soziale Probleme unbekannt waren«43 . Heizmann zählt Heimat – Eine deutsche Chronik zu den »kritische[n] Heimatfilm[en]«, die ab den 60er Jahren »den Weg zur sozialen, politischen und historischen Realität«44 fanden. Und dennoch zeigen die Filme eine spezifisch deutsche, provinzielle, nicht-jüdische Sichtweise auf die dargestellten Zeiträume. An dieser spezifischen Sichtweise zeigt sich, dass der Heimatfilm einen »Zugriff auf ›das Ganze‹ […] verwehrt« und stattdessen »Denkweisen, sozialen Wandel und Auswirkungen politischer Entscheidungen in einem konkreten Erfahrungsraum«45 zeigt. Das provinzielle Setting des Heimatfilms ist laut Heizmann »besser geeignet als das urbane, die Grenzlinien zwischen Tradiertem und Neuem, Eigenem und Fremdem, Integration und Ausschluss […] deutlicher hervortreten«46 zu lassen. Wie zur Heimatliteratur und zum allgemeinen Heimatbegriff, gehört zu den Heimatfilmen die spezifische Thematisierung des Spannungsverhältnisses zwischen Tradition und Moderne: »Das Genre Heimatfilm leistet eine Vermittlung zwischen ›Tradition‹ und ›Moderne‹ – und ist insofern eine Reaktion auf die erheblichen gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Umbrüche der Nachkriegszeit.«47 Georg Seeßlen bezeichnet in seiner Untersuchung des bayrischen Heimatbegriffes »[d]ie mehr oder weniger alpenländische Heimat-Popkultur in den 1980er- und 1990er-Jahren« als »Experimentierfeld der neonationalistischen und neurechten Semantik in der Berliner Republik«, in dem »die Grenzen der nationalistischen, sexistischen und xenophoben Sagbarkeiten«48 ausgetestet wurden und von dem spätere rechtspopulistische Gruppierungen Strategien für den Umgang mit der Öffentlichkeit gelernt haben. Kulturpolitik ist nicht dazu da, Heimatgefühle oder bestimmte Heimatkonzepte zu verbreiten, sondern gesellschaftliche Selbstbetrachtung und
43 44 45 46 47 48
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Verena Feistauer: Filmische Heimaten. Die Integration von Geflüchteten und Vertriebenen im Heimatfilm der Nachkriegszeit. In: Politik und Kultur 3/19, S. 21. Georg Seeßlen: Dahoam is Dahoamnis. Bayern als Mythos, Ideologie und Ware. In: Armin Nassehi & Peter Felixberger (Hg.): Kursbuch 198. Heimatt. Hamburg 2019, S. 1037, hier: S. 23.
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Kommunikation über Begriffe wie Heimat zu ermöglichen. Anhand mehrdeutiger, differenzierter Darstellungen können Rezipienten zu verschiedenen Ansichten gelangen, was der Begriff Heimat bezeichnet und ob er für die heutige Gesellschaft wichtig ist. Es gibt zwar eine problematische Tradition des Heimatbegriffes in Deutschland, in der Heimat stets mit nationalkulturellen und oft sogar ethnisch-nationalistischen Ideen verknüpft wurde, aber es gibt auch eine Tradition des Heimatbegriffes, in der Vertrautheit, Familie und Landschaft ambivalenter erscheinen und nicht mit der Idee der Nation in untrennbarer Verbindung gesehen werden. Die aktuelle Auseinandersetzung um den Heimatbegriff, die von kulturpolitischer Seite damit begründet wird, die Deutungshoheit über den Begriff nicht Rechtsradikalen zu überlassen,49 ist eine Neuauflage eines Konfliktes, der den Begriff seit Jahrhunderten begleitet. Aus der Literaturgeschichte können Wilhelm Raabe und Theodor Storm als Beispiele für Autoren herangezogen werden, die es geschafft haben, beim Heimatbegriff über den »Topos konservativen Weltverständnisses«50 hinauszugehen und dennoch die Spannungsverhältnisse zwischen Fortschritt und Tradition sowie zwischen Stadt und Dorf zu thematisieren. Damit heben sich diese beiden Autoren allerdings von der Tendenz des 19. Jahrhunderts ab, in der sich »die Diskussion um die Thematik der Dorfgeschichte so weit von der Realität des Dorfes entfernt« hatte, »dass ihrer völligen Ideologisierung nichts mehr im Wege stand«51 . In Theodor Storms Novelle Hans und Heinz Kirch hat die Figur Heinz ein problematisches Verhältnis zu seinem Vater Hans und dessen Plänen für Heinz’ Leben. Heinz hat mit seiner Familie vereinbart, »eine Reise mit dem Hamburger Schiffe ›Hammonia‹ in die chinesischen Gewässer«52 zu unternehmen und nach einem Jahr zurückzukehren. Für Heinz hat sein Vater eine Karriere als Geschäftsmann geplant, die der Familie zu bürgerlichen Ehren verhelfen sollte. Den Brief, den Heinz nach einem Jahr nach
49 50
51 52
Z.B. Peter Grabowski: Gib mir mein Wort zurück: Heimat! In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 160 (2018), S. 34-35. Klaus Ehlert: Realismus und Gründerzeit. In: Wolfgang Beutin, Matthias Beilein, Klaus Ehlert, Wolfgang Emmerich, Christine Kanz, Bernd Lutz, Volker Meid, Michael Opitz, Carola Opitz-Wiemers, Ralf Schnell, Peter Stein & Inge Stephan (Hg.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 8. Aufl. Stuttgart/Weimar 2013, S. 295-343, hier: S. 313-314. Ebd., S. 313. Theodor Storm: Hans und Heinz Kirch. In: Ders.: Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 3. Hg. von Peter Goldammer. 6. Aufl. Berlin/Weimar 1986, S. 375.
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Hause schickt, lässt der Vater ungeöffnet an seinen Sohn zurückgehen, weil er nicht frankiert ist. Aufgrund dieser Verletzung53 kommt Heinz erst nach 17 Jahren zurück und entspricht nicht mehr den Vorstellungen des Vaters, der nicht mit seinem Sohn in die Kirche gehen will, weil dieser mit 35 Jahren noch nicht Kapitän der Schiffe seines Vaters geworden ist54 . Auch nach der Rückkehr grenzt sich Heinz klar von den anderen Familienmitgliedern ab, indem er kein Interesse an den Geschäften des Vaters zeigt55 und als einzige Figur der Novelle Sätze aus anderen Sprachen verwendet56 . Besonders beim zweiten und letzten Abschied von seinem Vater markiert der von Heinz geschriebene englische Satz die Entfremdung mit seinem Herkunftsort: »›Thanks for the alms and farewell for ever.‹ Er wußte selbst nicht, warum er das nicht auf deutsch geschrieben hatte.«57 Dass die Heimat für Heinz trotzdem ein Sehnsuchtsort geblieben ist, wird an Heinz’ Verhältnis zu seiner Jugendliebe Wieb deutlich. Den Ring, den Wieb Heinz in der letzten Nacht vor dessen Abreise schenkt, trägt Heinz die gesamten 17 Jahre um seinen Hals und legt ihn erst ab, als er feststellt, dass Wieb längst mit einem anderen Mann verheiratet ist. Wieb ist auch die einzige, die Heinz nach seiner Rückkehr sicher erkennt und nicht dem Gerücht glaubt, dass er nicht der echte Heinz sei. Das kulturpolitische Verständnis des Heimatbegriffes sollte an ambivalentere Heimatvorstellungen, wie sie in den Texten Raabes und Storms zu finden sind, und nicht an eindeutige Idealisierungen des provinziellen Lebens anknüpfen. Zugegebenermaßen hat es ein problematischer, mehrdeutiger Heimatbegriff schwer, sich gegen idealisierte Darstellungen zu behaupten, aber das kann aus kulturpolitischer Perspektive keine Entschuldigung sein. Kultur kann einen Kommunikationsraum eröffnen, in dem die Ambivalenzen des Heimatbegriffes im Kontext von Fortschritt und Tradition sowie individueller Freiheit und kollektivem Zwang verhandelt werden. Aleida Assmann zeigt am Beispiel des jiddischen Schriftstellers Josef Burg, dass Heimat nicht an die vorgestellte Gemeinschaft der Nation gebunden sein muss und gegenüber dieser Gemeinschaft sogar subversiv sein kann, indem das Konzept Heimat sowohl kosmopolitisch als auch regional gebunden verstanden wird:
53 54 55 56 57
Ebd., S. 409. Ebd., S. 402. Ebd., S. 400. Ebd., S. 398, 399, 401. Ebd., S. 424.
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»Dieses eindrucksvolle Bekenntnis zur kleinen Provinz Bukowina und zu Wien als Ort der Herkunft spricht das Gefühl vieler Juden aus, die unterhalb der aufgezwungenen Vaterländer und Sprachen weiterhin ein Bewusstsein ihrer kulturellen Identität als moderne kosmopolitische Stadt am Rande des Habsburg-Reichs pflegten. Die kulturelle Heimat, die sie sich schufen, war politisch gesehen bereits eine Sache der Vergangenheit, mit der sie sich dem Trend der Nationalisierung subversiv widersetzten.«58 Die Heimat als kleinere und tatsächlich erfahrbare Lebensumgebung kann der bloß vorgestellten Gemeinschaft der Nation und dem komplexen System Staat gegenübergestellt werden. Das individuelle Mitglied einer Nation besucht nur einen Bruchteil der Orte des jeweiligen Territoriums und kennt nur einen Bruchteil der anderen Mitglieder tatsächlich. Die lokale Lebensumgebung hingegen wird täglich erfahren und die Menschen, die in ihr leben, begegnen und kennen sich tatsächlich. So argumentiert auch Aleida Assmann: »Während die Politik den politischen Rahmen für den abstrakten Staat und die abstrakte Nation festlegt, leben, erleben und gestalten die Bewohner ihre räumliche Nachbarschaft weitgehend selbst und legen dabei Sinn und Bedeutung des Raums fest.«59 Wenn dieser unmittelbar erlebte Raum offensichtlich transkulturell geprägt ist, wie es insbesondere in großen Städten der Fall ist, dann kann diese Prägung als Teil des Heimatgefühls akzeptiert und geschätzt werden und muss nicht als Auflösung der Heimat verstanden werden. Wenn Heimatpolitik als ein Teil von Kulturpolitik verstanden wird, dann sollte das zugrundeliegende Heimatkonzept auf eine Verknüpfung der Begriffe Heimat und Nation verzichten und stattdessen die tatsächliche – möglicherweise transkulturelle – Lebensumgebung der Bürger in den Fokus rücken.
58 59
A. Assmann 2019, S. 2. Ebd.
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Laut Gerhard R. Kaiser und Stefan Matuschek steht die »Kanondebatte« dort »im Zentrum der Aufmerksamkeit […], wo man über Erinnerungskultur, Identität und Alterität oder mediale Entwicklungen diskutiert«1 . Die dargestellten gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen der Spätmoderne geben der Kanondebatte aktuell neue – auch kulturpolitische – Relevanz. Aleida Assmann zufolge gehören kanonisierte Kunstwerke und insbesondere kanonisierte Texte zum kulturellen Gedächtnis und somit zur transgenerationellen Überlieferung der kulturellen Ausstattung, die an der Identitätskonstruktion einzelner Gesellschaftsmitglieder beteiligt sein kann.2 Anders als in den alten Hochkulturen sind »[i]n der modernen Gesellschaft […] kanonisierte Texte und Autoren dadurch definiert, dass sie aus der Flut der Druckproduktion herausgehoben und zur Wiederholungslektüre bestimmt sind«3 . Die Wertungsmechanismen, die zur Kanonisierung bestimmter Texte und Autoren beitragen, entsprechen nicht den Marktmechanismen, die populäre Bücher zu Bestsellern machen.4 Stattdessen sind kultur- und bildungspolitische Entscheidungen und Diskurse für die Kanonisierung von Kunstwerken entscheidend. So bieten beispielsweise wissenschaftliche Werkausgaben, Schulcurricula und die Programme von Kulturinstitutionen die Möglichkeit, bestimmte Texte und Autoren zur Wiederholungslektüre zu bestimmen und auf diese Weise von der Masse literarischer Texte abzuheben. Kanonisierung erfolgt nach Aleida Assmann 1
2 3 4
Gerhard R. Kaiser & Stefan Matuschek: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg 2001, S. 7. A. Assmann 2013, S. 80. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 81.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
nicht dadurch, dass sich ein ästhetisch überlegenes Kunstwerk von sich aus von der Masse der ästhetisch weniger gelungenen Kunstwerke abhebt, sondern hängt von Werturteilen in Bildungs- und Kulturinstitutionen ab. Als kanonisiert können Texte insbesondere dann angesehen werden, wenn zu den Texten kommentierende und deutende Sekundärtexte im literaturwissenschaftlichen und im schulischen Kontext produziert werden, die sich auch aufeinander beziehen können. Durch diese Interpretationsdiskurse wird eine öffentliche Kommunikation der Gesellschaft über sich selbst ermöglicht. Eine Gesellschaft braucht nicht etwa deshalb einen Kanon, weil sich an den enthaltenen Werken Eindeutigkeiten in Form von verbindlichen Regeln und unumstößlichen Wahrheiten ablesen ließen. Eine Gesellschaft braucht einen Kanon als verbindliches Bezugssystem von Mehrdeutigkeiten, das die Grundlage der gesellschaftlichen Kommunikation über sich selbst bietet. Die Bibel ist ein so ambiger Text, dass nie eindeutige Interpretationen sämtlicher Abschnitte gefunden werden können, auf die sich alle Menschen einigen könnten. Gerade das macht aus der Bibel jedoch so einen geeigneten Kanon, der immer wieder neu ausgelegt und auf bestimmte Kontexte angewendet werden kann. Die fortdauernde Diskussion um die Auslegung bestimmter Stellen in der Bibel ist gleichzeitig die fortdauernde Kommunikation der jeweiligen Gemeinschaft über die Eindeutigkeiten in dieser Gemeinschaft. Eine konstruktive Kommunikation wird erst dadurch möglich, dass sich alle Diskussionsteilnehmer auf den gleichen Text beziehen, der jedoch verschiedene Interpretationen innerhalb eines bestimmten Spielraums zulässt. An ambiguitätsvermeidenden Kunstwerken, die entweder völlig bedeutungslos oder zu eindeutig sind, entfalten sich solche Diskussionen nicht. Das bedeutungslose Kunstwerk entlässt alle Diskussionsteilnehmer in ihre subjektiven Interpretationszusammenhänge und das zu eindeutige Kunstwerk erlaubt für alle Rezipienten nur die eine feststehende Interpretation. Zu Recht hat die Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur an Bedeutung verloren. Doch daraus darf nicht der Schluss gezogen werden, dass damit sämtliche Kanonisierungsprozesse aufgehoben seien und von nun an alles, das als Kunst und Kultur bezeichnet werden kann, als Maßstab und Vorbild dienen kann. Dass auch Werke, die traditionell der Populärkultur zugerechnet werden, kulturpolitische Beachtung finden, bedeutet nicht, dass die Frage ästhetischer Qualität keine Rolle mehr spielen sollte. Als Beispiel kann hierfür der Comic dienen. Seit den 70er Jahren wandelt sich das öffentliche Bild vom Comic, der vorher generell als Schund galt, zu einem anerkannten Medium künstlerischen Ausdrucks. Das bedeutet allerdings nicht, dass
16. Kulturpolitik und Kanonbildung
nun alle Comics den Rang kanonisierter literarischer Texte haben, sondern nur, dass für ausgewählte, mehrdeutige, komplexe Comics die Möglichkeit einer Kanonisierung besteht. Trotz aller spätmodernen Versuche, die Unterscheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur und die Entstehung mehr oder weniger verbindlicher Kanons zu vermeiden, kommen wir »[a]us den Horizonten normativer und formativer Wertsetzungen […] nicht heraus«5 . Für kulturpolitische Kunstdiskurse gilt daher, was Jan Assmann für die historischen Wissenschaften ausführt: »Die Aufgabe […] kann nicht mehr darin gesehen werden, die Kanon-Grenzen einzureißen, zu ›zersetzen‹ (Gadamer), sondern zu reflektieren und in ihrer jeweiligen normativen und formativen Struktur bewußt zu machen.«6 Karl Heinz Bohrer untersucht, wie die klassischen griechischen Texte Homers und Platons und die antiken griechischen Tragödien im 19. und 20. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum als kanonisierte Texte behandelt wurden. Er geht von der Beobachtung aus, dass diese Texte – und dadurch insbesondere Vorstellungen von den griechischen Göttern – »in der europäischen Literatur, vor allem in der deutschen Geistesgeschichte, bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dominante Rolle gespielt«7 haben. Dieses Paradigma erkennt Bohrer im 19. Jahrhundert »in zwei Fassungen«, nämlich »die Fassung seiner klassizistischen Affirmation im deutschen Idealismus und die Fassung seiner Veränderung durch Nietzsche und dessen moderne Nachfolger«8 . In Nietzsches Bearbeitung des Paradigmas erkennt Bohrer »eine Formel zur Rolle des Kanons in der Moderne«9 . Aus kulturpolitischer Perspektive sind die folgenden Überlegungen Bohrers zu Nietzsches Umgang mit dem Paradigma der griechischen Götter entscheidend: »Er erklärt Kunst als Spannung zwischen Kanon und Kanonbruch, als einen Prozess zwischen Affirmation eines Paradigmas und Invention eines Neuen. In dieser Paradoxie liegt die auch heute noch interessante Originalität dieser Formel. Auch die geschichtsreflexive Voraussetzung, der Gedanke, dass 5 6 7
8 9
J. Assmann 2002, S. 129. Ebd. Karl Heinz Bohrer: Kanon und Invention. Das griechische Paradigma. In: Karénina Kollmar-Paulenz, Nikolaus Linder, Michele Luminati, Wolfgang W. Müller und Enno Rudolph (Hg.): Kanon und Kanonisierung. Ein Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften im interdisziplinären Dialog. Basel 2011, S. 9-26, hier: S. 12. Ebd. Ebd., S. 17.
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wir allemal Erben, nicht Anfänger sind, kann ja nach wie vor Gültigkeit beanspruchen. Die gedankliche Konsequenz: Es geht nicht ohne partielle Affirmation eines kulturellen Paradigmas, will man nicht auf einen naiven Spontanismus zurückfallen.«10 Übertragen auf kulturpolitische Überlegungen bedeutet das zum Beispiel, dass teilhabeorientierte Kulturvermittlung, die Programmänderungen an den etablierten Kulturinstitutionen anstrebt, um die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur sowie zwischen unterschiedlichen sozialen Milieus aufzubrechen und neue Zielgruppen zu erschließen, nicht ohne partielle Affirmation der etablierten Kulturkanons auskommen kann, wenn tradierte ästhetisch-künstlerische Qualitätskriterien weiter gelten sollen. Ebenso kann eine mögliche kulturpolitische Aufwertung von Transkulturalität und Hybridität nicht ohne partielle Affirmation bestimmter etablierter Kulturtraditionen auskommen. Eine partielle Erneuerung durch Transkulturalität – durch Akte der Vermischung und Vernetzung – braucht nach diesem Verständnis die partielle Affirmation bestehender Kulturtraditionen. Nietzsches intellektueller Umgang mit dem klassisch-griechischen Paradigma ist ein Beispiel für gelungene diachrone Transkulturalität. Zu innovativer Kunst gehört Bohrer zufolge der Bruch mit der Tradition, während Gesellschaften auf kulturelle Kanons angewiesen sind: »Offenbar ist es so, dass auf der Ebene künstlerischer Produktion immer wieder ein starker Kanonbruch notwendig ist, will man nicht epigonal, sondern innovatorisch wirken. Hierfür sind Nietzsches Dionysos-Konzept, seine Folgen und die Lyrik der internationalen klassischen Moderne vielsprechende Beispiele. Auf der Ebene politisch-gesellschaftlicher Aktionen und Formen scheint hingegen der Kanon eher eine Bedingung zu sein. Ohne Referenzen an einen solchen Kanon verliert eine Gesellschaft ihren Kompass.«11 Kulturpolitik als Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft hat deshalb zwei zentrale Ziele, die sich in einem Spannungsverhältnis befinden. Einerseits gehört zu den Zielen der Kulturpolitik die Gewährleistung von Rahmenbedingungen, die innovative Kunst ermöglichen. Andererseits gehören zu den Zielen der Kulturpolitik die Bildung, Reflexion und Aufrechterhaltung kultureller Kanons. Es zeigt sich an diesen Überlegungen, dass sich Kulturpolitik
10 11
Ebd., S. 22. Ebd., S. 24.
16. Kulturpolitik und Kanonbildung
stets in einem Spannungsverhältnis zwischen Bewahren und Erneuern befindet, das ständig neu verhandelt werden muss. Dieses Spannungsverhältnis sieht Bohrer in Deutschland heutzutage in einem Ungleichgewicht mit einer zu schwachen Kanonbildung, die »als Reaktion auf die faschistische KanonObsession«12 entstanden sei. »Kanonbildung und Kanonverletzung« bezeichnet Bohrer als »dialektische Struktur« und als »ein Gesetz des sogenannten Zivilisationsprozesses«13 . Der Zivilisationsprozess drohe »defizitär« zu werden, wenn »einer der beiden Pole gänzlich ausfällt«14 . Dennoch ist die spätmoderne Kritik an allgemeinverbindlichen Kanons nicht unbegründet, denn insbesondere literarische Kanons dienten bis zur Spätmoderne oft der Etablierung und Erhaltung von als homogen vorgestellten Nationalkulturen.15 Für die Entstehung der vorgestellten Gemeinschaft der Nation müssen Unterschiede zwischen den Mitgliedern »hinsichtlich Lebensformen, Sprachen, Dialekten, Gebräuchen und Literaturen«16 ausgeblendet oder sogar ausgelöscht und der Eindruck einer homogenen Gemeinschaft erzeugt werden. Laut Brinker-Gabler gilt das auch für die Etablierung nationaler Literaturkanons im 18. und 19. Jahrhundert.17 Zusätzlich dazu gilt für die so entstandenen nationalen Kanons, was auch für die im Zuge der Aufklärung entstandenen Nationen galt: Als Mitglieder der vorgestellten »Gemeinschaft der ›Gleichen‹«18 galten zunächst nur mündige Bürger, also in der Regel keine Frauen, keine Nicht-Europäer und meist auch keine Juden. Die so entstandenen nationalen Kanons haben deshalb bedeutende Texte der jeweiligen Sprache nicht beachtet. In der Spätmoderne mehren sich deshalb Forderungen, die von der Ergänzung über die Veränderung bis zur gänzlichen Abschaffung von Kanons reichen. Die nationalen, männlich dominierten und eurozentrischen Kanons sollen – so die Forderung – zu postnationalen, gendergerechteren und postkolonialen Kanons werden. Aleida Assmann beobachtet 1998 in diesem Zusammenhang eine »Dezentrierung der Kanondebatte«, die zu »einem ›clash of cultures‹ geführt« hat und bezeichnet »[d]ie Frage
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16 17 18
Ebd., S. 25. Ebd. Ebd. Vgl. Gisela Brinker-Gabler: Vom nationalen Kanon zur postnationalen Konstellation. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart 1998, S. 78-96. Ebd., S. 84. Ebd. Ebd., S. 83.
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nach dem Kanon« als »das zentrale kulturpolitische Problem, das in den USA derzeit Institutionen und Disziplinen ins Wanken bringt«19 . Der universale Anspruch der in den westlichen Ländern etablierten Kanons, die auch in den kolonisierten Ländern lange Zeit verbindlich waren, ist in der Spätmoderne in Frage gestellt. Durch die kulturwissenschaftliche Perspektive auf die Kanonfrage wird »die Rolle von Literatur als Medium einer geschlechts-, klassen-, nationen- oder kulturspezifischen Identitätsbildung«20 untersucht und kritisch hinterfragt. Aleida Assmann bezeichnet den Kanon als »ein Prägewerk der Identität, ob man dies will oder nicht, ob man dies anerkennt oder nicht«, und als »ein Gedächtnis-System«21 . Ob und wie dieses Gedächtnis-System organisiert werden soll, wird in der Spätmoderne neu verhandelt. Eine Rückkehr zu einem streng eurozentrischen, nationalen, männlichen, bildungsbürgerlichen Kanon ist jedenfalls nicht mehr möglich. In der Spätmoderne steht der kulturpolitischen Notwendigkeit, kanonische Kunstwerke zu tradieren, um der Gesellschaft die Kommunikation über sich selbst zu ermöglichen, die Notwendigkeit gegenüber, die tradierten Kanons einer pluralistischeren Neubewertung und Veränderung zu unterziehen. Argumente beider Seiten dieses konflikthaften Verhältnisses sollten kulturpolitischen Institutionen bewusst sein. Brinker-Gabler skizziert in Anlehnung and die Kunstform der Assemblage eine Möglichkeit, den beiden Notwendigkeiten gerecht zu werden. Der Begriff der Assemblage entstammt der bildenden Kunst und bezeichnet nach William C. Seitz »all forms of composite art and modes of juxtaposition […] stressing the accumulation of found elements in such a way that they remain separately recognizable. In effect, assemblage is collage in both two and three dimensions.«22 Eine Assemblage besteht Brinker-Gabler zufolge außerdem »aus heterogenem Material« und hat eine »Anordnung«, die »thematisch und zugleich transitorisch ist«23 . BrinkerGabler erkennt in diesem Konzept eine neue Möglichkeit, mit dem tradierten Literaturkanon umzugehen:
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Aleida Assmann: Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Renate von Heydebrand (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart 1998, S. 47-59, hier: S. 48. Ebd., S. 50. Ebd., S. 59. Zitiert nach Brinker-Gabler 1998, S. 95. Brinker-Gabler 1998, S. 95.
16. Kulturpolitik und Kanonbildung
»In einem Kanon als Assemblage sind die Texte nicht mehr Objekte, die ›gut‹ oder ›schlecht‹ sind. Sie werden in dieser Komposition, indem sie sich gegenseitig ›erhellen‹, zum lesbar wahren Ereignis, das aber nicht ›zeitenthoben‹ oder universal ist. Verbunden ist mit diesem Ereignis immer zugleich die Frage nach der Literatur – Was ist Literatur, was macht Literatur aus? –, ohne dass diese Frage gelöst werden könnte. Damit wird sowohl die Fixierung kanonischer Texte im Kanon vermieden als auch diejenige der nichtkanonischen Texte in Gegen- oder Alternativkanones. Möglich wird eine kreative Neuinterpretation der Tradition in neuen Konstellationen, und zwar sowohl innerhalb nationaler Grenzen als auch diese Grenzen überschreitend. Auf diese Weise wäre auch eine europäische Konstellation denkbar, die nicht Grenzen zum Außereuropäischen errichtet, sondern die vielfachen kulturellen Überschneidungen artikuliert.«24 Brinker-Gablers Assemblage-Konzept hat mit dem Konzept der Transkulturalität gemeinsam, dass der Fokus auf die Grenzen, Überschneidungen und Zwischenräume von Kulturen verlagert wird, anstatt sich der Suche nach einem als rein gedachten Kern zu verschreiben: »Das Gemälde wahrt die Reinheit des Mediums, die Assemblage ist die nicht mehr ›reine‹ Kunst des gebrochenen Feldes, in dem ›Anderes‹ eingefügt ist. Sie ist auf der Grenze angesiedelt, wie der postnationale Kanon auf der Grenze des nationalen (und die postnationale Demokratie auf der Grenze der Nation/en).«25 Brinker-Gabler hofft auf eine »kontinuierliche Intervention in den Kanon bzw. Öffnung der Grenze des Kanonischen-Nichtkanonischen zum Zwischenraum, der Assemblage«26 . Abschließend bemerkt Brinker-Gabler, dass die Effektivität derartiger »Interventionen« davon abhängt, wie gut »die Institutionen, die Kultur (re)produzieren«27 , mobilisiert werden können. Ein Ansatz kann es außerdem sein, die tradierten Kanons nicht nur zu ergänzen und zu verändern, sondern auch einer transkulturell sensibilisierten Relektüre zu unterziehen und bisher wenig beachtete transkulturelle Zusammenhänge zu betonen. Das ist deshalb vielversprechend, weil kaum ein kanonisierter Autor der deutschen Literaturgeschichte sein Werk in einem rein deutschen Kontext verfasst hat, sondern bei nahezu allen Autoren Ein-
24 25 26 27
Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd.
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ordnungen in internationale, europäische und sogar weltliterarische Zusammenhänge möglich sind. Gottfried Willems hingegen hält derartige Interventionsversuche von Institutionen für weniger einflussreich auf die Kanonisierung von literarischen Texten und betont stattdessen die Wirkung der »inneren Kanonbildung der Literatur selbst, wie sie von der äußeren Kanonpflege durch Literaturtheorie, Literaturpädagogik und ähnliches zu unterscheiden ist«28 . Entscheidend für die langfristige Kanonisierung bestimmter Texte und Autoren ist nach Willems weniger die institutionelle Empfehlung zur Wiederholungslektüre, sondern der Einfluss der jeweiligen Texte und Autoren auf nachfolgende Autoren, deren Schreiben durch ihre Leseerfahrungen geprägt wird: »Das Werk eines Autoren wird ja nur dann klassisch heißen, wenn es in den Werken anderer Autoren produktiv geworden ist. Niemand hat sich je ans Schreiben gemacht, der nicht zuvor gelesen hätte; einige seiner Lektüren werden in seinem Schreiben produktiv, in unbewußtem Nacheifern oder Widerstreben, in bewußter Nachfolge oder Gegenwendung. […] Dieses literarische Produktivwerden von Literatur ist die entscheidende Dimension der Kanonbildung, der gegenüber alles andere wie die Festschreibung und begriffliche Durchdringung, Harmonisierung oder Überhöhung eines Kanons durch Poetik und Ästhetik oder die Kanonpflege durch Institutionen, durch Universität, Schule und medialen Literaturbetrieb alten und neuen Stils, auch durch die Literaturgeschichtsschreibung, bloß sekundär ist.«29 Dieser Einwand berücksichtigt allerdings nicht, dass auch die Lesebiografien angehender, junger Autoren durch die Institutionen in ihrer Lebensumgebung geprägt werden. Dass ein Werk auf besonders viele spätere Werke Einfluss hatte, ist kein Hinweis darauf, dass es allein aufgrund ästhetischer Qualitäten und unabhängig von Kultur- und Bildungsinstitutionen kanonisiert wurde. Allerdings zeigen Willems Einwände, dass es auch nicht allein von den Entscheidungen in den Institutionen abhängt, ob und wie ein Werk kanonisiert wird, sondern letztlich die Rezipienten und nachfolgende Künstler einen eigenen Umgang mit den tradierten Werken finden.
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Gottfried Willems: Der Weg ins Offene als Sackgasse. Zur jüngsten Kanon-Debatte und zur Lage der Literaturwissenschaft. In: Gerhard R. Kaiser und Stefan Matuschek (Hg.): Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Heidelberg 2001, S. 217-267, hier: S. 229. Ebd.
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Willems weist die Kritik am etablierten Kanon zurück und zeigt anhand von Texten von Goethe und Shakespeare, dass die Klassiker der Literatur nicht »als Einschließung in eine bestimmte Vorstellungswelt, als einengende Festlegung, Knebelung der eigenen Möglichkeiten und ideologische[r] Drill« zu sehen sind, weil sich die Klassiker in der Regel gerade durch »Vielfalt und Offenheit«30 sowie innere Widersprüche als herausragende Kunstwerke auszeichnen. Als Qualitäten, die »ein literarisches Kunstwerk interessant und bedeutend machen«, nennt Willems »die Fülle der Motive, die Fülle der Schauplätze, Charaktere und Handlungsmotive, der Lebensentwürfe, Gesinnungen, Meinungen und Stimmungen, der gedanklichen, imaginativen und sprachlichen Aktivitäten, die in ihm zusammengebracht sind, ein Reichtum, der im allgemeinen gerade aus der Gegenstrebigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Motive erwächst«31 . Mag man den Einwänden von Willems auch zustimmen, so spricht zwar vieles dagegen, ganz auf Kanons zu verzichten, aber es spricht nichts dagegen, die etablierten Kanons zu ergänzen, zu verändern und mit einem neuen Blick zu betrachten. In der Spätmoderne kann nicht mehr die Erhöhung bestimmter Autoren und Texte zu unanfechtbaren Klassikern angestrebt werden, die als unerreichbare Meister kopiert werden sollen, sondern kanonische Literatur erhält einen weniger starren Charakter. Kanons sind in der Spätmoderne Änderungen und Ergänzungen unterworfen, aber das bedeutet nicht, dass Kanonisierung nicht mehr möglich ist. Ein völlig unkritischer Zugang zu bestimmten Werken der Vergangenheit erscheint aus spätmoderner Perspektive nicht mehr möglich. Jan Assmann beschreibt die Entstehung von Klassik so: »Damit Klassik entstehen kann, muß einerseits ein Bruch eintreten, der die Tradition unfortsetzbar macht und als Altertum stillstellt, und muß andererseits ein Akt der Identifikation über diesen Bruch hinweggehen, der die vergangene Vergangenheit als die eigene erkennt und in den Alten die Meister schlechthin. Die Vergangenheit muß vergangen, aber nicht fremd sein.«32 Auf diese Weise wurden Goethe und Schiller in Deutschland zu nationalkulturellen Klassikern, die – man denke an die Feiern und Denkmäler des 19.
30 31 32
Ebd., S. 231. Ebd., S. 231. J. Assmann 2002, S. 278.
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
Jahrhunderts – untrennbar mit der Konstruktion der deutschen Nation verbunden waren. Es wurde gezeigt, dass in der Kunst Ambiguität erstrebenswert ist, während Eindeutigkeit und Bedeutungslosigkeit zu vermeiden sind. In der Kulturpolitik ist deshalb allerdings gerade ein eindeutigerer Entscheidungswille gefordert, der Kunst fördert, die sich durch Ambiguität und nicht durch Eindeutigkeit oder Bedeutungslosigkeit auszeichnet. Nicht alles, das als Kunst und Kultur bezeichnet werden kann, ermöglicht der Gesellschaft die Kommunikation über sich selbst. Leider fehlt dieser Entscheidungswille bei kulturpolitischen Entscheidungsträgern wie Gremien und Preisjurys häufig. Einigung entsteht stattdessen in Form von Kompromissen, die dem Kontingenzproblem der Kunst und der Ambiguität ausweichen. Dabei gäbe es durchaus Hilfsmittel zu einer differenzierteren Einschätzung von Kunst, die von Fachleuten entwickelt wurden und in den entsprechenden Wissenschaften eingesetzt werden. So können Literaturwissenschaftler sich hermeneutischer Verfahren bedienen und die Komplexität der Binnenlogik eines literarischen Textes nachvollziehbar darstellen, beziehungsweise das Fehlen einer komplexen Binnenlogik offenbaren. Dies geschieht wohlgemerkt meist nicht durch einzelne Wissenschaftler, sondern in einem Fachdiskurs und einem fortwährenden Austausch. Allerdings sind derartige Verfahren zur differenzierten Einschätzung von Kunstwerken meist so komplex, dass sie von den individuellen Fachleuten eingeübt, reflektiert und erprobt werden müssen und nicht jedem Rezipienten unmittelbar zur Verfügung stehen. Kulturpolitische Entscheidungen, die die Wertung und die Kanonisierung von Kunstwerken betreffen, sollten deshalb von ausgebildeten Fachleuten selbst, mithilfe fachlicher Beratung oder wenigstens unter Zuhilfenahme von Fachpublikationen getroffen werden. Es gilt, einen Kanon zu erarbeiten, der Werke enthält, die nicht die Eindeutigkeiten der Gesellschaft abbilden, sondern diesen Eindeutigkeiten die Mehrdeutigkeiten der Kultur gegenüberstellen. Werke, die den Rezipienten Perspektiven ermöglichen, die sich von den gesellschaftlich perpetuierten Perspektiven unterscheiden. Dies gelingt nicht nur, aber auch, bei Werken und Künstlern, die sich durch Transkulturalität und Hybridität auszeichnen. Ein Kanon unanfechtbarer Klassiker muss dafür nicht angestrebt werden, sondern denkbar wäre ein Kanon, der regelmäßig neu verhandelt wird und dessen Werke kritisiert werden dürfen. Für die Etablierung von Kanons ist entscheidend, über welche medialen Kanäle allgemeine Aufmerksamkeit generiert werden kann. Die Entste-
16. Kulturpolitik und Kanonbildung
hung allgemeingültiger Kanons ist in der Spätmoderne durch die digitalen Medien erschwert, die wie kein anderer medialer Bereich Aufmerksamkeit absorbieren. Andreas Reckwitz nennt fünf Merkmale der »digitale[n] Kulturmaschine«33 , die »zur Auflösung des Allgemeinheitsanspruchs der Kultur«34 beitragen. So entsteht erstens »eine strukturelle Asymmetrie zwischen einer extremen Überproduktion von Kulturformaten (und Informationen) und einer Knappheit der Aufmerksamkeit der Rezipienten«35 . Da jeder Rezipient schnell und einfach zum Produzenten werden kann, ist zweitens der »Dualismus zwischen Kulturproduzenten und Publikum«36 nicht mehr so stark ausgeprägt wie vor der Spätmoderne. Da im Internet verschiedenste Inhalte »auf die gleiche Weise zugänglich«37 sind und als hochkulturell eingestufte Inhalte nicht an bestimmte sakrale Orte oder auratische Gegenstände gebunden sind, findet drittens eine »Enthierarchisierung der Kulturformate«38 statt. Durch die ständige Veränderung – oder zumindest Veränderbarkeit –, denen sämtliche Inhalte in der digitalen Welt unterliegen, findet viertens »eine radikale Verzeitlichung der Kulturformate statt«, die aus allen Kulturformaten »prozessuale Objekte«39 macht. Reckwitz beobachtet fünftens »eine Kultur der Rekombination«, die entsteht, weil sämtliche Inhalte im Internet leicht verfügbar und bearbeitbar sind, und die dazu führt, dass nur »relativ Neues als Ergebnis von Techniken der Rekombination und Rekontextualisierung (mash up)«40 entsteht. Wenn Kanonisierungsprozesse als eine Aufgabe der Kulturpolitik verstanden werden, dann muss sich die Kulturpolitik damit beschäftigen, wie für die kanonisierten Kunstwerke auch trotz der von Reckwitz beobachteten Auflösung des Allgemeinheitsanspruchs der Kultur durch die digitale Kulturmaschine ein Allgemeinheitsanspruch vertreten werden kann.
33 34 35 36 37 38 39 40
Reckwitz 2017, S. 238. Ebd., S. 242. Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. Ebd., S. 240. Ebd. Ebd., S. 241. Ebd., S. 242.
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17. Zusammenfassung
Unabhängig davon, ob in der Gesellschaft Vereindeutigungszwänge vorherrschen, sollte in der Kulturpolitik ein Raum für Mehrdeutigkeiten und Transkulturalität aufrechterhalten werden, um der Gesellschaft die Kommunikation über sich selbst zu ermöglichen. Kulturelle Grenzziehungen werden in verschiedenen Ausprägungen immer Bestandteil einer Gesellschaft sein. Gleichzeitig wird es aber auch immer Zwischenräume dieser Grenzen geben, in denen eine besondere Perspektive auf beide Seiten der jeweiligen Grenze entsteht. Die Kulturpolitik einer pluralistischen Gesellschaft zeichnet sich nicht nur durch den Umgang mit unterschiedlichen Wertesystemen und Perspektiven, sondern auch durch den Umgang mit den Zwischenräumen und Vernetzungen dieser Wertesysteme und Perspektiven aus. Der klassische Kulturbegriff nach Herder erschwert einen angemessenen Umgang mit Zwischenräumen und Vernetzungen und sollte deshalb überwunden werden. Zygmunt Bauman sieht einen Zusammenhang zwischen Eindeutigkeitszwängen und dem Fortschritt der Moderne. Die modernen Tendenzen der Vereindeutigung und des Verlusts an Ambiguitätstoleranz werden in der Spätmoderne modifiziert fortgesetzt, geschehen nicht zuletzt auch in den Echoräumen des Internets und sind auch in der Spätmoderne mit einem Glauben an technischen und rationalen Fortschritt verbunden. Kultur als Sphäre der Mehrdeutigkeiten, die der Sphäre der Rationalität und den Eindeutigkeiten der Gesellschaft gegenübergestellt ist, hat ein anderes Verhältnis zu kulturellen Grenzziehungen als die Gesellschaft und kann Eindeutigkeiten in Frage stellen. Die Überwindung des herderschen Kulturbegriffes ist deshalb besonders in der Kulturpolitik von Bedeutung. Will Kulturpolitik die Sphäre der Kultur stärken und für künstlerische Neuerungen, komplexe Kunstwerke und intensive Rezeptionserfahrungen sorgen, dann sollten Transkulturalität und Hybridität als elementare Bestandteile erkannt werden. Aus der Perspektive der kulturellen Teilhabe kann eine dezi-
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Kulturpolitik für eine pluralistische Gesellschaft
diert transkulturelle Kulturpolitik dazu beitragen, dass sich mehr Deutsche mit hybriden Identitäten, die besonders in Städten einen großen Teil der Bevölkerung ausmachen, von öffentlich geförderten Kulturangeboten als potenzielle Nutzer angesprochen fühlen. Auch für den Umgang mit dem kolonialen Erbe Deutschlands eignet sich ein transkultureller Ansatz, der eine Erarbeitung angemessener Lösungen zum Umgang mit den Sammlungen aus kolonialen Kontexten als Kooperation zwischen den Herkunftsgesellschaften und deutschen Museen ermöglicht. Das Selbstverständnis Deutschlands als Kulturnation setzt die traditionelle Abgrenzung Deutschlands von den westeuropäischen Staaten fort, die schon früher ihren Weg zu einem beständigen liberal-demokratischen Staat gefunden haben. Für diese Abgrenzung war die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation entscheidend, die noch heute in gesellschafts- und kulturpolitischen Debatten in Deutschland zu vernehmen ist, wenn zum Beispiel die Konzepte der deutschen Leitkultur und des Verfassungspatriotismus als Gegensätze dargestellt werden. Das Leitkulturkonzept wird problematisch, wenn dadurch ein öffentlicher Vereindeutigungsdruck auf Menschen mit hybriden Identitäten entsteht und ein ›Sowohl-als-auch‹ als unmöglich gilt. Aktuelle Debatten um eine Neubewertung des spezifisch deutschen Heimatbegriffes werden ebenfalls Teil des Vereindeutigungsdrucks, wenn Heimat nicht als unmittelbare, reale und vertraute Lebensumgebung verstanden wird, sondern mit dem Konzept der Nation und der Zugehörigkeit zu dieser verknüpft wird. Die Vereindeutigungszwänge der Moderne haben im Dritten Reich extreme Folgen gehabt. Das Erinnern an die Shoah ist im kulturellen Gedächtnis einer großen Mehrheit von Bürgern in der Bundesrepublik Deutschland verankert. Statt eines nationalen Gründungsmythos, der eine Kontinuität vom Germanentum zum Deutschtum beschwört, gehört zum Gründungsmythos des liberal-demokratischen Deutschlands die Überwindung des Totalitarismus und die allmähliche Überwindung des Rassismus. Eine Kulturpolitik, die Transkulturalität und Hybridität betont, steht auch in dieser Tradition. Eine dezidiert transkulturell ausgerichtete Kulturpolitik birgt allerdings das Risiko der Beliebigkeit in der Kulturpolitik, die die Unsicherheit der ›flüchtigen Moderne‹ intensivieren könnte. Diesem Risiko kann entgegengewirkt werden, indem die Kanonisierung ausgewählter (auch transkultureller) Kunstwerke kulturpolitisch angestrebt wird. Kanonisierung kann dazu beitragen, dass das Öffentliche und das Allgemeine nicht vollends vom Privaten und Besonderen verdrängt werden. Die Kommunikation der Gesellschaft
17. Zusammenfassung
über sich selbst kann besonders dann von der Kulturpolitik ermöglicht werden, wenn es kanonisierte Kunstwerke und Kunsttraditionen gibt, die den Rezipienten einen gemeinsamen Bezugspunkt bereitstellen, von dem aus intersubjektive Interpretationsansätze kommuniziert werden können. Dafür eignen sich allerdings keine eindeutigen Kunstwerke, sondern nur solche, die durch ihre Ambiguität die aktive konkretisierende Rolle des Rezipienten erfordern, ohne allerdings völlig beliebige Interpretationen zuzulassen. Das aktuell gesteigerte Bedürfnis nach Eindeutigkeit und eindeutigen Zugehörigkeiten und der Verlust von Ambiguitätstoleranz zeigen sich, genau betrachtet, als spätmoderne Krise des Liberalismus, der das Individuum in der Moderne und noch mehr in der Spätmoderne einerseits vom Druck von Kollektiven befreit und andererseits durch seine spezifische Ausformung überfordert. Liberal-demokratische Staaten, die ihren Liberalismus beibehalten wollen, müssen diese Überforderung erkennen und ihr, ohne die liberalen Grundprinzipien zu vergessen, entgegenwirken. Ein Ansatz kann es sein, sich nicht auf einen Liberalismus zu konzentrieren, dem es nur um Marktmechanismen und Individualismus geht, sondern einen, der »Möglichkeiten schaff[t], damit Bürger selbstbestimmt leben können«1 . Kulturpolitik kann dazu deutlich beitragen. Ein liberal-demokratischer Umgang mit der spätmodernen Überforderung des Individuums ergibt sich nicht durch Eindeutigkeitszwänge und die Ausgrenzung von hybriden Identitäten, sondern durch eine gesellschaftliche Bewusstwerdung und Akzeptanz von Transkulturalität und Hybridität. Dies gilt insbesondere für die Sphäre der Kultur, die sich den Eindeutigkeitszwängen der Moderne entzieht und Fortschrittsglauben hinterfragt – damit gilt es besonders für eine Kulturpolitik, die dieser Sphäre Freiräume ermöglicht. Die Akzeptanz von Transkulturalität und Hybridität lässt kulturelle Traditionen und Zugehörigkeiten nicht verschwinden, sondern macht die immer auch darauf zu beziehenden Mehrfachzugehörigkeiten, Zwischenräume und Vernetzungen zu einer legitimen Form von Partizipation und Zugehörigkeit.
1
Müller 2019.
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Dank
Ich möchte allen Personen meinen großen Dank aussprechen, die mich bei der Anfertigung meiner Dissertation unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt Stephan Opitz für die ausgezeichnete Betreuung und die enorme Unterstützung bei der gesamten Arbeit. Die intensive Beschäftigung mit Kulturpolitik geht ursprünglich auf ein Seminar zum Thema bei Stephan Opitz zurück. Außerdem möchte ich mich bei Hans-Edwin Friedrich bedanken, der mich während des Studiums und bei der Arbeit an der Dissertation mit Rat und Anregungen unterstützt hat. Des Weiteren möchte ich Sten Fink und Theresa Homm danken, mit denen ich bei der Arbeit im Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien der Uni Kiel viele anregende Gespräche geführt habe. Mein Dank gilt auch meinen Eltern und insbesondere meiner Frau für ihre Geduld und ihre Ermutigungen.
Kulturmanagement Andrea Hausmann, Antonia Liegel (Hg.)
Handbuch Förder- und Freundeskreise in der Kultur Rahmenbedingungen, Akteure und Management 2018, 326 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3912-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3912-8
Andrea Hausmann (Hg.)
Handbuch Kulturtourismus im ländlichen Raum Chancen – Akteure – Strategien Februar 2020, 164 S., kart., 3 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4561-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4561-7
Martin Tröndle (Hg.)
Das Konzert II Beiträge zum Forschungsfeld der Concert Studies 2018, 492 S., kart., 60 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4315-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4315-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturmanagement Birgit Mandel, Birgit Wolf
Staatsauftrag: »Kultur für alle« Ziele, Programme und Wirkungen kultureller Teilhabe und Kulturvermittlung in der DDR Oktober 2020, 308 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-5426-4 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5426-8
Constance DeVereaux, Steffen Höhne, Martin Tröndle (eds.)
Journal of Cultural Management and Cultural Policy/ Zeitschrift für Kulturmanagement und Kulturpolitik Vol. 6, Issue 1: Creative Cities off the Beaten Path July 2020, 234 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4957-4 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4957-8
Steffen Höhne, Thomas Schmidt, Martin Tröndle (Hg.)
Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 5, Heft 2: Theater – Politik – Management 2019, 224 p., pb., ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4466-1 E-Book: PDF: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4466-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de