Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit: Mit einem Ausblick in die Moderne [Reprint 2011 ed.] 9783110950816, 9783484365872

The return of the Baltic states to Europe has been accompanied by a veritable glut of largely historical literature. The

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German Pages 611 [612] Year 2003

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Table of contents :
Vorwort
I. EINGANG
Versehrte Tradition. Zur Überlieferungsgeschichte frühneuzeitlicher Literatur in Archiven und Bibliotheken des Baltikums
Die baltischen Lande, ihre Bewohner und ihre Geschichte
II. BUCH- UND BIBLIOTHEKSWESEN
Buchaustausch zwischen Deutschland und Reval/Estland im 15.–17. Jahrhundert
Das Druck- und Verlagswesen in Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Die Bibliothek der Domschule zu Reval
Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva in der Estnischen Nationalbibliothek
Nikolaus Specht und sein Büchernachlaß in der Estnischen Akademischen Bibliothek
Privatbibliotheken im kulturhistorischen Kontext Lettlands: Vom 17. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
III. ERFAHRUNG DES RAUMES UND ÜBERSCHREITEN DER GRENZEN
Die Stadt und die Städter stellen sich vor. Öffentliche und private Räume in Reval am Beginn der Neuzeit
Die Bedeutung des livländischen Postwesens für die Unterhaltung der Verbindungen zwischen Ost und West im 17. Jahrhundert
Eine siebenbürgisch-baltische Beziehung am Ende des 17. Jahrhunderts: Georg Soterius (1673–1728)
IV. KULTURELLER AUSTAUSCH IN SPRACHE UND LITERATUR
Gotthard Friedrich Stender (1714–1796) und die Entwicklung der lettischen Schriftsprache
Die Sammlung von Volksliedern im lettischen Livland Herders Helfer in den Jahren 1777 und 1778
Über die Rolle des deutschen Kirchenliedes in der estnischen Kulturgeschichte
V. LITERARISCHE PORTRÄTS
Die ›Chronica der Prouintz Lyfflandt‹ von Balthasar Rüssow. Ein lutherischer Pastor als politischer Chronist
Paul Fleming anonym in Riga. Der bislang unbekannte Erstdruck von Oden IV, 31
Das Erbe Opitzens im hohen Norden. Paul Flemings Revaler Pastoralgedicht
Reiner Brockmann und die Anfänge der estnischen Kunstpoesie
Henricus Stahell: Geistlicher und Sprachkodifizierer in Estland
Heinrich Stahls ›Leyenspiegel‹. Eine jahrhundertelang schweigende Predigtsammlung
Johannes Gutslaffs ›Kurtzer Bericht‹. Eine typische und einzigartige Erscheinung im estländischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts
VI. VON DER AUFKLÄRUNG ZUM NATIONALEN ERWACHEN IM SPIEGEL DER GELEHRTENGESCHICHTE Johann Georg Eisen als Kritiker der livländischen Verhältnisse
Friedrich Konrad Gadebusch (1719–1788): Vater der modernen livländischen Geschichtsschreibung?
Johann Friedrich von Recke (1764–1846) und Karl Eduard von Napiersky (1793–1864). Ihre Bemühungen um die flächendeckende Erfassung der livländischen Geschichtsliteratur
Konzeptionen des ›Nationalen Erwachens‹. Der persönliche Beitrag von Johann Voldemar Jannsen, Johann Köhler, Carl Robert Jakobson und Jakob Hurt zur estnischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
VII. DER WEG IN DIE MODERNE – LITERATUR ALS MEMORIALE INSTANZ
Nicht am Ende der Welt. Stationen des literarischen Baltikum-Bildes bis zum Ende der Romantik
Formen der Erinnerung in deutschbaltischer Literatur
Abbildungen
Register
Verzeichnis der Autoren
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Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit: Mit einem Ausblick in die Moderne [Reprint 2011 ed.]
 9783110950816, 9783484365872

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Frühe Neuzeit Band 87 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit Mit einem Ausblick in die Moderne Herausgegeben von Klaus Garber und Martin Klöker

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2003

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-36587-0

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Sigloch, Blaufelden

Inhalt

Vorwort

IX

I. EINGANG

Klaus Garber Versehrte Tradition. Zur Überlieferungsgeschichte frühneuzeitlicher Literatur in Archiven und Bibliotheken des Baltikums

3

Heinz von zur Mühlen Die baltischen Lande, ihre Bewohner und ihre Geschichte

15

II. BUCH- UND BIBLIOTHEKSWESEN

Liivi Aarma Buchaustausch zwischen Deutschland und Reval/Estland im 15.-17. Jahrhundert

39

Tiiu Reimo Das Druck- und Verlagswesen in Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

59

Kaja Hisel Die Bibliothek der Domschule zu Reval

83

Sir je Lusmägi Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva in der Estnischen Nationalbibliothek

105

Kyra Robert f Nikolaus Specht und sein Büchernachlaß in der Estnischen Akademischen Bibliothek

129

Viesturs Zanders Privatbibliotheken im kulturhistorischen Kontext Lettlands: Vom 17. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

137

Yj

Inhalt

III. ERFAHRUNG DES RAUMES UND ÜBERSCHREITEN DER GRENZEN

Krista Kodres Die Stadt und die Städter stellen sich vor. Öffentliche und private Räume in Reval am Beginn der Neuzeit

151

Pärsla Petersone Die Bedeutung des livländischen Postwesens für die Unterhaltung der Verbindungen zwischen Ost und West im 17. Jahrhundert

183

Lore Poelchau Eine siebenbürgisch-baltische Beziehung am Ende des 17. Jahrhunderts: Georg Soterius (1673-1728)

201

I V . KULTURELLER AUSTAUSCH IN SPRACHE UND LITERATUR

Wolfgang P. Schmid Gotthard Friedrich Stender (1714-1796) und die Entwicklung der lettischen Schriftsprache

219

Beate Paskevica Die Sammlung von Volksliedern im lettischen Livland Herders Helfer in den Jahren 1777 und 1778

229

Siret Rutiku Über die Rolle des deutschen Kirchenliedes in der estnischen Kulturgeschichte

245

V . LITERARISCHE PORTRÄTS

Karsten Brüggemann Die > Chronica der Prouintz Lyfflandt< von Balthasar Rüssow. Ein lutherischer Pastor als politischer Chronist

265

Martin Klöker Paul Fleming anonym in Riga. Der bislang unbekannte Erstdruck von Oden IV, 31

283

Klaus Garber Das Erbe Opitzens im hohen Norden. Paul Flemings Revaler Pastoralgedicht

303

Marju Lepajöe Reiner Brockmann und die Anfänge der estnischen Kunstpoesie

319

Inhalt

VII

Raimo Raag Henricus Stahell: Geistlicher und Sprachkodifizierer in Estland

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Piret Lotman Heinrich Stahls >LeyenspiegelKurtzer Bericht Nationalen Erwachens Umsiedlung< der Deutschen aus dem Baltikum wurde ein Kapitel deutsch-baltischer Geschichte und kultureller Gemeinschaft beendet, das sich niemals mehr wiederholen wird. Auch im Baltikum - und in ihm vielleicht besonders drastisch - wurde noch vor Einsatz der Hitlerschen Militärund Liquidations-Maschinerie der Zusammenbruch des alten Europa sinnfällig. Das nur vage Wissen um diese Zusammenhänge stand hinter der Neugierde, mit der der Bibliotheksreisende die baltischen Länder betrat.

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Vorwort

Sie waren Gegenstand vieler Gespräche, in denen immer auch die von Tragik überschatteten und vielfach traumatischen Erfahrungen mit der Sowjetmacht hineinspielten. Beherrschend aber blieb natürlich der Austausch mit den Wissenschaftlern, Bibliothekaren und Archivaren vor Ort. Und der war auf das Schicksal gerichtet, das Handschriften und Bücher unter den desaströsen Einwirkungen zweier Weltkriege und mehrfachem Herrschaftswechsel binnen kürzester Zeit genommen hatten. Das war ein ebenso reizvolles wie schwieriges Unterfangen in einem von wechselseitiger Bemühung um Annäherung geprägten Dialog. Der deutsche Gesprächspartner kam mit dem Wissen um den Ertrag der deutschen Forschung bis zum Ende der dreißiger Jahre. Die estnischen, lettischen und später auch litauischen Kolleginnen und Kollegen vermochten in dem einen oder anderen Fall über die Kriegs- und Nachkriegszeit zu berichten. Ihre Arbeit aber hatten die älteren von ihnen bestenfalls in den fünfziger Jahren aufgenommen, die jüngeren sehr viel später. Es galt eine Lücke in der Überlieferung anzupeilen und mit Kenntnissen von der einen wie der anderen Seite zu überbrücken, die gravierender war, tiefer klaffte als je zuvor in der von Leid so erfüllten Geschichte der baltischen Völker. Das Fazit dieser Bemühungen zeichnete sich rasch ab und glich prinzipiell jenem, das auch in anderen Regionen Mitteleuropas immer wieder zu ziehen war. Es konnte nicht gelingen, den ungeheuren Verwerfungen, die die kulturelle Überlieferung und speziell die bibliothekarisch-archivarische in der jüngsten Vergangenheit erlitten hatte, in welcher Form auch immer produktiv und womöglich gar sinngebend zu begegnen. Die Fäden, nicht in allen Fällen, aber doch zumeist bis in die dreißiger Jahre intakt, waren an den Knotenpunkten gerissen, und keine Bemühung hüben wie drüben war in der Lage, sie neuerlich zu knüpfen. Was in die Hände gelangte - am drastischsten in den Institutionen Rigas, die den geistigen Mittelpunkt des Baltikums gebildet hatten waren einzelne Perlen, deren Zugehörigkeit zu einer einst stolzen Kette nur erahnbar und gelegentlich exakter beschreibbar, die im alten Glanz zusammenzufügen jedoch nicht mehr möglich war, weil allzu viele Glieder fehlten. Gelegentlich schon im Gefolge des Ersten Weltkriegs, zumal aber in Vorbereitung und Exekution des Zweiten Weltkriegs waren über Jahrhunderte gepflegte, langsam herangewachsene und geordnete Schätze vernichtet, veruntreut, verschleppt und in jedem Fall aus ihren originären Verwahrungsstätten herausgerissen und ihren einstigen Trägerinstitutionen entfremdet, ohne daß je einmal Hoffnung bestand, die einstigen Filiationen zu restituieren. Noch einmal: Der Untergang des alten Europa wurde im Baltikum hautnah auch und gerade im Spiegel der Geschichte von Archiven und Bibliotheken erfahrbar. Diese Erfahrung freilich geleitete fast im gleichen Atemzug zu dem Versuch, über das, was da im Zuge des Wiederaufbaus der kulturellen

Vorwort

XI

Infrastruktur an Kenntnissen zumal über Zeugnisse aus der Frühen Neuzeit zwischenzeitlich in Erfahrung gebracht worden war, möglichst umfassend Kunde zu geben. Schon auf der ersten Reise im Jahr 1984 wurde in Gesprächen mit estnischen und lettischen Kolleginnen und Kollegen - Litauen konnte erst drei Jahre später erstmals bereist werden - der Gedanke geboren, einen Sammelband zur Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit zu erarbeiten. Er sollte gleichermaßen von deutschen wie von estnischen und lettischen Wissenschaftlern bestückt werden und seinen Schwerpunkt, wie aus dem Anlaß der geknüpften Kontakte erklärlich, im Buch- und Bibliotheks- sowie im Druck- und Verlagswesen haben. Besondere Aufmerksamkeit, so der Vorsatz, sollte der Dokumentation wiederentdeckter Handschriften und Drucke gelten. Zwei folgende Reisen 1987 und 1989 waren nicht zuletzt in vielen Gesprächen der Entwicklung und Konkretisierung dieser Idee gewidmet. Eine stolze Aktenreihe planerischer Bemühungen hält diese Phase der Exploration fest, die wie immer auch dann ergiebig war, wenn das Experiment als solches schließlich scheiterte. Warum das geschah, ist im nachhinein leicht zu sagen. Auf deutscher Seite fehlten in den achtziger Jahren die Fachleute, die sich in den geplanten Schwerpunktbereichen des Vorhabens auskannten. Und in Estland, Lettland und Litauen waren die Fachkräfte so intensiv in ihre beruflichen Obliegenheiten eingespannt, daß es immer wieder an Zeit fehlte, um die begonnenen Forschungen angemessen zu fördern und in vertretbaren Zeiträumen zum Abschluß zu bringen. Die dem Band zugedachte Rundung wollte sich nicht einstellen und ließ sich schon gar nicht erzwingen. Gleichwohl waren die Mühen nicht vergeblich. Der intensive geistige Austausch in Tallinn und Tartu, Riga und Vilnius hatte zu menschlichen und wissenschaftlichen Kontakten gefuhrt, die in einer vermutlich nur im Osten erfahrbaren Weise stabil blieben und bis heute unter den Gesprächspartnern von einst andauern, sofern sie am Leben blieben und nicht zwischenzeitlich zu betrauern waren. Geboren auf den Bibliotheksreisen im Osten Europas, zeichneten sich alsbald die Konturen eines internationalen Kongresses ab, der den städtischen literarischen Verhältnissen im alten deutschen Sprachraum und den Trägern ihrer Überlieferung gewidmet sein sollte. Auf ihm aber sollten die Freunde und Kollegen aus den bereisten Ländern des Ostens nicht nur nicht fehlen, sondern sich erstmals wieder in großer Zahl im Westen vernehmen lassen. Daß dieser Plan Wirklichkeit wurde, hat alle auf dem Osnabrükker Kongreß im Sommer 1990 Versammelten mit anhaltener Freude erfüllt und zu neuen Begegnungen Anlaß gegeben, die bis heute lebendig blieben, ja wiederholt zu Arbeitsgemeinschaften führten, die ihrerseits Früchte zeitigten. Für die aus Mittel- und Osteuropa Anreisenden bedeutete der Aufenthalt in Osnabrück vielfach die erste Begegnung mit Deutschland und

XII

Vorwort

der westlichen Welt. Diese Erfahrung wurde dem Initiator mit einer Dankbarkeit entgolten, die bis heute in den Austausch von Nachrichten und die Aufnahme zumal der jungen Nachwuchskräfte hineinspielt. Wissenschaftlich und speziell im Blick auf den hier vorgelegten Band hatte die große Konferenz den Effekt, daß viele in den baltischen Staaten für den gemeinsamen Sammelband geplante Beiträge nun in Osnabrück zu Vortrag und Verhandlung kamen und folglich später eingingen in das zweibändige opulente Sammelwerk Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Es erschien 1998 in der Reihe >Frühe Neuzeit< im Niemeyer-Verlag und nimmt sich im nachhinein wie ein Nukleus zu den alsbald dann einzelnen Regionen gewidmeten Bänden aus, die zwei Jahre nach der Konferenz im gleichen Verlag und in der gleichen Reihe zu erscheinen begannen. Für das Baltikum mußte, wollte man an dem ursprünglichen Plan festhalten, ein neuer Anlauf genommen werden. Ein solcher konnte ins Auge gefaßt werden, als das fünfzigjährige Jubiläum der Baltischen Historischen Kommission nahte, das festlich-akademisch in Göttingen im Frühjahr 1997 begangen werden sollte. Es war der erklärte Wille der Kommission und ihres langjährigen Vorsitzenden Gert von Pistohlkors, auf dem geplanten Kongreß mit dem Titel »Das Baltikum in Europa« Vertreter verschiedener Fächer zu Wort kommen zu lassen und also Sektionen mit disziplinaren Schwerpunkten zu bilden. Der Aufbau eines Gesprächskreises aus dem Einzugsbereich der Sprach- und Literaturwissenschaft wurde dem Leiter des frühneuzeitlichen kulturwissenschaftlichen Instituts in Osnabrück übertragen. Erklärter Vorsatz war es wiederum zum einen, ein möglichst ausgewogenes Verhältnis zwischen Referentinnen und Referenten aus den baltischen Staaten und jenen aus Deutschland herzustellen, und zum anderen, keine Epoche - und gerade auch die Moderne, wie allerorten üblich - zu privilegieren, sondern einen exemplarischen Gang vom späten Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert anzutreten. Leider waren kurz vor Kongreßbeginn zwei Absagen zu beklagen: Jänis Kr5slin§ aus Stockholm konnte aus tragischen persönlichen Gründen seinen mit Spannung erwarteten Beitrag zur »Entstehung der baltischen Schriftsprachen im Zusammenhang mit der deutschen und lateinischen Sprach- und Literaturentwicklung« nicht vortragen, und Karl Lepa aus Tartu mußte wegen Paßschwierigkeiten gleichfalls kurzfristig seinen zugesagten Beitrag über »Deutsch-estnische Beziehungen in Sprache und Literatur im 17. und 18. Jahrhundert« stornieren. Auch blieben alle Versuche, einen Sprecher aus Litauen zu den baltisch-preußisch-litauischen Austauschprozessen in der Sprach- und Literaturentwicklung dieser Region in der Frühen Neuzeit zu gewinnen, vergeblich. Um so dankbarer nahmen die Teilnehmer das Referat von Silvija Pavidis aus Riga zum Thema »Riga als Begegnungsstätte kultureller Wech-

Vorwort

XIII

selbeziehungen zwischen Deutschen und Letten im 16. Jahrhundert« entgegen, das begleitet war von einem ebenso leidenschaftlichen wie eindrucksvollen Bekenntnis der Referentin, dem deutschen wie dem lettischen Beitrag zur Genese der frühmodernen Sprachkultur in Lettland nachzugehen, geleitet allein von dem Bestreben nach historischer Gerechtigkeit. Auf knappstem Raum gelang es Martin Klöker (Osnabrück), erstmals eine enggefuhrte Synopsis der literarischen Zeugnisse vor Einsatz der Druckerei in Reval im Jahre 1634 zu erarbeiten, während Axel Walter (Osnabrück) in Ersatz fur den vergeblich umworbenen litauischen Kollegen das häufiger behandelte Thema der »Anfänge des litauischen Schrifttums im Zeichen von Humanismus und Reformation« aus der Perspektive der Königsberger Buchkultur und des gelehrten Lebens in der Kapitale des Herzogtums Preußen präsentierte. Der Sektionsleiter Klaus Garber (Osnabrück) suchte den Ausfall der erwarteten Referenten durch einen kleinen improvisierten Beitrag über Paul Flemings 1635 in Reval geschriebene Schäferei zu Ehren seines Freundes Reiner Brockmann und seiner Braut Dorothea Temme zu kompensieren, dessen Diskussion durch die überraschende Anwesenheit Albrecht Schönes Farbe gewann. In einem dritten und letzten Durchgang, gruppiert um das kardinale Paradigma der Gegenwart, >MemoriaNationalen Erwachens< und der linguistisch-literarischen Folgen im 19. Jahrhundert«, während Michael Garleff (Oldenburg) seinen weitgespannten Abschlußbeitrag »Formen der Erinnerung in deutschbaltischer Literatur« mit einem souveränen Blick auf die gegenwärtige Diskussion um Formen kollektiver Erinnerung und Erfahrung im Medium literarischer Adaptation und Transformation verband. Schon auf der Göttinger Konferenz wurde Übereinkunft darüber erzielt, die Referate der Sektion einem Sammelband zur Literatur- und Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit zuzuführen. Er sollte für die Nachgeschichte frühneuzeitlicher Themen wie schon auf der Göttinger Tagung geöffnet bleiben und durch gezielte EinWerbung weiterer Beiträge abgerundet werden. Um so bedauerlicher blieb es, daß eine Reihe der in Göttingen 1997 unter großem Anklang vorgetragenen Beiträge ungeachtet nicht endender Bemühungen der Herausgeber für den Band nicht zur Verfugung gestellt wurden, sei es, daß sie nicht termingerecht fertig wurden, sei es, daß sie anderweitig eine Bleibe fanden, sei es, daß ihre Verfasser eine Publikation nicht glaubten verantworten zu können. Wenn dieser Band in einem zweiten Anlauf einem festen Vorsatz entsprechend zum Abschluß gebracht werden kann, so ist das der Be-

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Vorwort

reitschaft zahlreicher Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, vor allem aber aus den baltischen Staaten selbst zu danken, sich auch ohne ausdrücklichen Rückbezug auf die Göttinger Tagung auf das Unternehmen einzulassen und eigens Studien für das Sammelwerk auszuarbeiten. Dieses gelang vor allem durch den neuerlichen intensiven Kontakt Martin Klökers zu Bibliothekaren und Forschern in Est- und Lettland während der Arbeiten im Osnabrücker Personalschrifttumsprojekt. Zum Zeichen ehrenden Andenkens an die 1997 verstorbene estnische Buch- und Bibliothekswissenschaftlerin Kyra Robert, die den Osnabrücker Gästen mit Rat und Tat stets kompetent zur Seite stand, bemühten sich die Herausgeber sogleich nach dem posthumen Erscheinen ihrer letzten Arbeit in estnischer Sprache um die Aufnahme einer deutschen Übersetzung. Schließlich konnten die auf dem 53. Baltischen Historikertreffen gehaltenen Vorträge von Roger Bartlett, Christina Kupffer, Gert von Pistohlkors und Wolfgang P. Schmid, die sich unmittelbar in das Profil dieses Sammelbandes fugten, als wertvolle Ergänzung hinzugewonnen werden. Die Herausgeber schätzen sich besonders glücklich, für viele Themen erstmals Sachkenner aus Estland und Lettland gewonnen zu haben, die die methodische Verfahrensweise wie vor allem den gegenwärtigen Stand der Forschung in ihren Heimatländern vielfach erstmals in den internationalen Diskussionsprozeß einbringen. Wie immer bei der Konzeption der kulturgeschichtlichen Sammelbände fur die Reihe >Frühe Neuzeit< des Niemeyer-Verlages ging es auch bei diesem Band darum, möglichst viele einschlägige Aspekte einem raumkundlich-kulturwissenschafitlich orientierten Ansatz zu integrieren, und sei es auch, daß nur ein einzelner Baustein dazu seinen Beitrag leistete. Daß der bibliothekarischen und archivarischen Überlieferungsgeschichte und damit der Grundlagenforschung - dem ursprünglichen Ausgangspunkt entsprechend - neuerlich breiter Raum gegeben wurde, wird verstehen und vermutlich begrüßen, wer mit Arbeitsformen und Zielsetzungen, wie sie in Osnabrück gepflegt werden, vertraut ist. Die Herausgeber danken dem Vorsitzenden der Baltischen Historischen Kommssion, Gert von Pistohlkors, gleichermaßen für den schönen Rahmen, der 1997 für das festliche Ereignis gefunden wurde, wie fur die tätige Anteilnahme am Zustandekommen des nun vorliegenden Werkes. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern aus dem In- und Ausland, die Gefallen an dem Unterfangen fanden und ihm bis zum Schluß ungeachtet langer Fristen der Vorbereitung die Treue hielten, ist an dieser Stelle ebenfalls Dank abzustatten. Die redaktionelle und mitunter aufwendige sprachliche Bearbeitung der Beiträge übernahm Martin Klöker mit zeitweiliger Unterstützung durch Sabine Krafft und Silvia Werny, die sich speziell um die erste Einrichtung der Manuskripte verdient machten. In der letzten Phase der Redaktionsarbeiten leisteten Kai Bremer und Veronika Marschall hilfreichen Beistand, während Stefan An-

Vorwort

XV

ders neben vielseitiger Unterstützung der Arbeiten insbesondere die Erstellung des Registers zu wesentlichen Teilen übernahm. Schließlich gebührt dem Verlag Max Niemeyer und speziell Frau Birgitta ZellerEbert für die überaus große Geduld mit den Herausgebern aufrichtiger Dank. Möge das nach einer langen Wegstrecke Zustandegekommene dazu beitragen, die Kenntnis der kulturellen Physiognomie der baltischen Lande zu erweitern und ihre bevorstehende politische Rückkehr nach Europa geschichtlich gediegen zu flankieren. Osnabrück, im Frühjahr 2003 Klaus Garber, Martin Klöker

I.

EINGANG

Klaus Garber

Versehrte Tradition Zur Überlieferungsgeschichte frühneuzeitlicher Literatur in Archiven und Bibliotheken des Baltikums*

Die baltischen Bibliotheken haben das Schicksal der deutschen Bibliotheken geteilt. Auch sie sind Opfer von Artilleriebeschuß und Luftangriffen, von Kampfhandlungen, Veruntreuung, Vandalismus etc. geworden. Sie haben jahrhundertelang eine gemeinsame Geschichte gehabt bis zu dem von Hitler entfesselten Inferno am Ende, in dem das alte Europa definitiv und unwiederbringlich unterging. Riga, Reval, Mitau, Narva usw. waren Stätten, an denen deutsche Literatur über Jahrhunderte in deutscher und lateinischer Sprache gedruckt wurde. Mit dem Verlust oder der Versehrung ihrer Verwahrungsstätten, der Bibliotheken, ist der deutschen Literaturgeschichte nicht anders als an ungezählten anderen Stätten des alten deutschen Sprachraums Mitteleuropas außerhalb des Reichs unersetzlicher und bislang durchaus auch unübersehbarer Verlust zugefugt worden. Daß damit zugleich Austauschprozesse definitiv beendet, ältere Symbiosen zerrissen, über Jahrhunderte intakte Überlieferungsverhältnisse unwiderruflich zerstört wurden, ist nur die andere Seite der Dinge in einem Kulturraum, der eben von Interaktion wiederum über Jahrhunderte gelebt hat. Den - in meinen Augen - tragischen Aspekt dieser tödlichen Versehrung von Tradition konnte man sogleich wahrnehmen, wenn man in den achtziger Jahren nach Riga, Tallinn, Tartu, Vilnius aufbrach. Er wird sich mildern in dem Maße, wie die das Kriegsende noch miterlebende Generation ausstirbt - weil er dann schlicht nicht mehr wahrgenommen zu werden vermag. Die Pflege der kulturellen Überlieferung in den Bibliotheken, Archiven, Museen, Gesellschaften etc. lag zum großen Teil bei den Deutschbalten. Mit ihrem Auszug verwaiste daher auf einen Schlag ein Großteil eben dieses kulturellen Gutes. Der Verlust, der Aderlaß hätte auch bei bestem Willen von den lettischen, den estnischen Behörden nicht aufgefangen werden können. Und das schon deshalb nicht, weil sich automatisch mit dem Weggang der Deutschen das Interesse auf ganz andere Zweige der Überlieferung konzentrierte, nämlich verständlicherweise solche, die einen erkennbaren und möglichst direkten Zug zur nationalen Sprache, Literatur und Geschichte besaßen. Das aber wiederum hatte zur Folge, daß bei Kriegsende kein geschultes Per-

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Klaus Garber

sonal vorhanden war, das die Ende der dreißiger Jahre zerrissenen Fäden hätte aufnehmen können. Mir sind zahlreiche Personen begegnet - ich erinnere in Verehrung und in Schmerz nur an Kyra Robert und Meta Taube - , die ihr Leben an eben die deutsch-baltische kulturelle Tradition zumal im 17. und 18. Jahrhundert in Reval und in Riga setzten, Erstaunliches leisteten und doch, wenn ich es irgend recht einschätzen kann, schlechterdings überfordert waren angesichts der ungeheuren Verwerfungen in der Überlieferungsgeschichte der Quellen und zu keinem Zeitpunkt die Sicherheit in der Verfügung und Handhabung des Materials zurückgewinnen konnten, die ihre deutschen Kollegen vor dem Krieg wie selbstverständlich besaßen. Ich hatte vor allem aufgrund der deutschen wissenschaftlichen Literatur zumal aus den zwanziger und dreißiger Jahren ungezählte Fragen an die beiden verehrungswürdigen Bibliothekarinnen. Sie konnten sie nicht mehr beantworten, ja, sie waren vielfach noch gar nicht in ihr Blickfeld getreten. Das meint die Rede von der ungeheuerlichen Krisis der Tradition, die der Nationalsozialismus und der von ihm entfesselte Weltkrieg über Mitteleuropa gebracht hat. Denn natürlich kennt jeder Bibliotheksreisende Vergleichbares. Überall, in Stettin und in Posen, in Warschau und St. Petersburg, in Lemberg und in Minsk, trifft man auf meist ältere Menschen, die ihr Bestes gegeben haben, um Ordnung in die Dinge zu bringen, und die Ihnen doch auf die elementarsten Fragen keine Antworten geben können, einfach weil die Sicherheit im Umgang mit der kulturellen Habe angesichts des unendlichen Wirrwarrs in dem entscheidenden Jahrzehnt zwischen 1940 und 1950 verloren ging. Und nur ganz wenige Häuser wie etwa die Universitätsbibliothek Breslau oder die Akademiebibliothek Danzig haben dank geretteter Kataloge und hervorragendster Fachleute vor Ort - die freilich alle soeben ihre Häuser verlassen - den Anschluß an die Vorkriegszeit und -Verhältnisse wiederherstellen können. Wir müssen uns also damit abfinden, auch nur in Umrissen rekonstruieren zu können, was bis in die zweite Hälfte der Dreißiger Jahre selbstverständlicher und vielfach durch Jahrhunderte verbürgter Fundus des Wissens im Umgang mit den Bibliothekaren wie Archivaren anvertrauten Schätzen war, und müssen wissen, daß wir in fast allen Fällen im Baltikum nicht anders als in Dutzenden ehemals herausragendster Bibliotheken in Deutschland und Mitteleuropa fortan nur noch mit Stückwerk hantieren, über keinerlei Sicherheiten und vielfach auch über keinerlei Orientierungen mehr verfugen. Ich wiederhole mich, wie ich natürlich weiß, und stelle dennoch erneut fest, daß es mir unfaßlich dünkt, wie nicht nur in der normalen Bevölkerung, sondern bis tief in die akademischen, mit der Geschichte, der Kultur, dem Buch professionell befaßten Kreise hinein auch nicht die Spur einer Beunruhigung über diesen doch atemberaubenden Sachverhalt herrscht. »Es ist eine Kata-

Versehrte

Tradition

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strophe, die in der Geschichte der Bibliotheken und in der Geschichte der Wissenschaften keinen Vergleich hat«, schreibt Georg Leyh in einer Studie zum Schicksal der deutschen Bibliotheken im Zweiten Weltkrieg im Jahre 1947, die in denkwürdigem Kontrast steht zu den Folgerungen, welche die historischen, die kulturwissenschaftlichen Disziplinen aus diesem Sachverhalt bislang gezogen haben. Auf eine in mancherlei Hinsicht einmalige Weise läßt sich am Baltikum der Prozeß des Eindringens, des Ausbreitens und des Assimilierens der neuen deutschen humanistischen Dichtung klassizistischer Provenienz verfolgen. Sie macht eben in den zwanziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Schlesien, in der Pfalz, in Anhalt unter dem Patronat von Opitz und der Fruchtbringenden Gesellschaft ihre ersten Gehversuche, da ist sie ein Jahrzehnt später eben nicht nur in Straßburg und Hamburg und Leipzig, sondern auch bereits in Reval, in Riga, in Dorpat präsent. Wichtigster Mittelsmann ist Paul Fleming, wie bekannt. Aber es sind eben auch seit den dreißiger Jahren die akademischen Gymnasien bzw. Universitäten an allen drei Orten zur Stelle, ohne die als Kristallisationspunkt und als Reservoir gelehrter und damit automatisch auch poetischer Kompetenz es eben kein literarisches Leben gegeben hätte. Dieses gleicht in seinen produktiven Voraussetzungen nicht anders als in seinen rezeptiven Formen der Aneignung den Ausprägungen an ungezählten Stellen des Reichs. Und wenn es eine Besonderheit gibt, so eben die, daß das vor einem Jahrzehnt vom Lateinischen ins Deutsche herüberwechselnde Dichten nun sogleich weiterwandert ins Estnische, ins Lettische, der literarische Transfer aus dem Reich den baltischen Völkern die Zunge löst, oder - etwas vorsichtiger - die vor Ort wirkenden Gelehrten zu dem in spielerischem Geist unternommenen Versuch reizt, aus der Koine des Lateinischen und des Deutschen auszubrechen und noch im Stadium des Lernens die Polyglottie auszuweiten, die heimischen Idiome gleichfalls zu Literatursprachen aus dem Geist des Klassizismus mit zu erziehen. Für diese gleichermaßen wenigstens in die Zuständigkeit der Neolatinistik, der Germanistik und der Baltistik fallenden literarischen Austauschprozesse gibt das Baltikum das schönste Paradigma ab. Folglich ist der Literaturwissenschaftler über den Umweg des Bibliothekshistorikers gehalten, mit allen ihm verfügbaren Mitteln nach den erhaltenen Zeugnissen dieses faszinierenden Phänomens Ausschau zu halten und sich ihrer Rekonstruktion zu widmen. Denn natürlich bleibt es nicht bei einigen wenigen Versuchen im Gefolge der Großen. Schreiben bei Gelegenheit wird in guter humanistischer Tradition übliche Gepflogenheit, und dicke Sammelbände, zumeist von den großen Sammlern noch im 18. Jahrhundert angelegt, fahren die Ernte in die Scheuern. An der seit der Empfindsamkeit unermüdlich gescholtenen Gelegenheitsdichtung bibliothekarisch gesprochen: dem Grau- und Kleinschrifttum, von dem

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Klaus Garber

Berufsstand des Bibliothekars bis in jüngste Vergangenheit gleichfalls nicht eben geliebt - läßt sich vor allem ablesen, wie literarisches Leben für anderthalb Jahrhunderte auch im Baltikum funktionierte, zu vergleichsweise später Stunde schließlich auch noch Mitau erreichte, das dann für eine kurze Weile eine Hochburg im Blick auf die Übergänge zur Aufklärung, zum Klassizismus wurde, in deren Zeichen noch einmal ein neuer Reigen und ein inniger Austausch mit den Entwicklungen im Reich anhob. Ich kann nicht mehr als ein paar ganz knappe Schlaglichter werfen. Die bibliothekarisch-archivalische Topographie des der westlichen literaturwissenschaftlichen Forschung fast ganz entrückten Gebiets wurde 1988 anläßlich der Entdeckung eines Fleming-Konvoluts in Riga in einer größeren Abhandlung erstmals wieder freigelegt, so daß an dieser Stelle größtmögliche Raffung erlaubt sein muß. Für nähere Einzelheiten sind zudem die Ergebnisse des von der Volkswagen-Stiftung finanzierten Projekts zur Überlieferung des Personalschrifttums in zwanzig Bibliotheken des Ostens und damit die Forschungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Osnabrück und vor Ort in Tallinn, Tartu und Riga abzuwarten. Das hier zu eröffnende Kapitel freilich ist an sich ein fast unerschöpfliches, und das auch dann noch, wenn man sich auf das protestantische Estland und Livland beschränkt und das katholische Litauen an dieser Stelle vorerst ausklammert. Alle maßgebliche und vornehmlich auf die deutsche Tradition bezogene kulturgeschichtliche Arbeit lag im Baltikum bei den großen wissenschaftlichen Vereinen mit ihren diversen Publikationsorganen. Das ist ein faszinierendes Kapitel nicht nur der baltischen Historiographie, über das hier nicht berichtet zu werden braucht. In Estland, um mit ihm zu beginnen, existierten die Estländische Literarische Gesellschaft zu Reval und die Gelehrte Estnische Gesellschaft in Dorpat nebeneinander. Die Bibliothek der in der Hauptstadt Estlands seit 1842 tätigen Gesellschaft konnte nicht nur auf große eigene Schenkungen zurückgreifen, sondern barg auch die wertvollen Bestände der alten Olai-Bibliothek und das eine oder andere Stück der leider schon im ersten Weltkrieg zerstreuten Bibliothek des alten, von Gustav Adolf 1631 gegründeten Gymnasiums. Ihr letzter, kürzlich hochbetagt verstorbener Bibliothekar und Historiograph Hellmuth Weiss hat wiederholt über die Schätze und damit auch die personalkundlichen Sammlungen berichtet. Es muß als großer Glücksfall für das heutige Tallinn wie für die Barockforschung gelten, daß die Gesellschaftsbibliothek fast ohne Einbußen in die nach dem Kriege geschaffene Akademiebibliothek überführt werden und über Jahrzehnte von engagierten sachkundigen deutschsprachigen Bibliothekaren betreut werden konnte. Kyra Robert hatte sich wie bekannt der Altdrucke angenommen und systematisch auf eine Bibliographie der Revaler Drucke des 17. Jahrhunderts hingearbeitet, die

Versehrte

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nach ihrem Tod unbedingt weiter zu pflegen ist und über das im Entstehen begriffene Verzeichnis der deutschen Drucke des 17. Jahrhunderts, wie es die Deutsche Forschungsgemeinschaft in Auftrag gegeben und in sechs ausgewählten Bibliotheken eröffnet hat, auch aus deutschen Bibliotheken noch namhaften Zuwachs erhalten wird. Zugleich entsteht in Estland, angesiedelt in der Akademiebibliothek unter langjähriger Leitung von Endel Annus eine retrospektive estnische Nationalbibliographie, die selbstverständlich auch alle in Estland gedruckten deutschen und lateinischen Stücke mit umfaßt und derzeit konsequent auch auf die Überlieferungen außerhalb Estlands, vor allem in Skandinavien, ausgedehnt wird. Schließlich bildet das Staatliche Archiv in Tallinn, das soeben seinen alten Namen »Stadtarchiv« wieder angenommen und seine seit dem Zweiten Weltkrieg in Koblenz lagernden wertvollen Bestände reintegriert hat, einen weiteren Sammelschwerpunkt mit wichtigen Überbleibseln aus der Gymnasialbibliothek, der über lange Zeit von Kaja Altof betreut wurde, der wir den bislang maßgeblichen Beitrag über die große Mittlerfigur am Revaler Gymnasium Reiner Brockmann verdanken und dessen seit langem angekündigte Werkausgabe wir so sehnsüchtig erwarten. Drei Schwerpunkte lassen sich in den auf Bibliothek und Archiv verteilten Sammelbänden ausmachen. Beherrschend wie immer tut sich die gymnasiale Professorenschaft, angeführt von Heinrich Vulpius, Timotheus Polus, Reiner Brockmann und Heinrich Arninck in Dissertation und Gelegenheitsgedicht hervor. Als Paul Fleming kurzzeitig hinzustößt, intensiviert sich das deutsch-estnische Literaturgespräch, dringt die Opitzsche Reformbewegung vermittelt über Brockmann und Stahl auch in die estnische Literatursprache vor. Brockmann aber kommt wie ungezählte andere Gelehrte aus dem Westen, aus Mecklenburg. Und so findet sich, wie nicht anders zu erwarten, der gesamte Ostseeraum mit Königsberg an der Spitze und mit Schwerpunkt im 17. und frühen 18. Jahrhundert gut repräsentiert in Tallinn. Hinzunehmen muß man freilich gerade für die gymnasiale Produktion einen aus dem Gymnasium stammenden und in die Leninbibliothek nach Moskau verschlagenen Sammelband und sodann - wie fur das gesamte Baltikum - die schlechterdings überwältigenden Baltikum-Bestände, aus denen Winckelmann nicht zuletzt geschöpft hat, welche die russische Nationalbibliothek in St. Petersburg aufgrund der langen Zugehörigkeit der baltischen Länder zu Rußland in ihrer Rossica-Abteilung zusammenbringen konnte und die heute vielfach in Kopie in Osnabrück lagern. Erwähnt werden muß schließlich, daß weiteres Material im Historischen Museum in Tallinn zugänglich ist, das sich vor allem aus den Sammlungen der Estländischen Literarischen Gesellschaft speist, darunter zwei erhaltene Stammbücher, das eine einen Fleming-, das andere einen Kant-Eintrag bewahrend.

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In Dorpat/Tartu ist der gleichfalls reiche Fonds an Handschriften und Büchern der Gelehrten Estnischen Gesellschaft eingegangen in die Universitätsbiliothek, in das Zentrale Staatliche Historische Archiv sowie in das auf Estland bezogene Kreutzwald-Museum. Das Gelegenheitsschrifttum der Universitätsbibliothek Tartu in seiner jetzigen Zusammensetzung ist noch nicht zusammenhängend gewürdigt worden und wird jetzt erstmals komplett ermittelt und verfilmt. Nur für die Bestandteile aus der Bibliothek von Reckes (des Begründers des Recke-Napierskyschen Schriftsteller-Lexikons) liegt ein Spezialbeitrag vor. Die Bibliothek hat jedoch Teile der alten Revaler Gymnasialbibliothek an sich bringen können, ja selbst aus Rigaer Beständen sind zu unbekannter Zeit Einzelstücke nach Dorpat gelangt, so daß die Universitätsbibliothek heute neben der Staatsbibliothek in Riga als das zweite große baltische Sammelzentrum gerade auch für Klein- und Gelegenheitsschrifttum gelten darf. Deshalb war es ein großer Glücksfall, daß in Tartu von dem dort wirkenden Bibliothekar Arvo Tering als dem ersten Sachkenner der baltischen Gelehrten- und Universitätsgeschichte die schlechterdings mustergültige, allen modernen Anforderungen genügende Dorpater Matrikel erarbeitet und publiziert werden konnte, in der auch das gesamte einschlägige Gelegenheitsschrifttum verarbeitet wurde. Zugleich ist Ene Jaanson weiterhin im Zusammenwirken mit der Osnabrücker Forschergruppe damit befaßt, eine Bibliographie der Gelegenheitsdrucke des 17. Jahrhunderts (bis 1710) in der UB Dorpat vorzubereiten. Es macht den Reiz der stärker überregional geprägten Dorpater Dissertations- und Gelegenheitsschrifttums-Sammlungen aus, daß sie sich gleichmäßig über das alte Estland und Livland erstrecken, also beträchtliche Sammlungen aus Dorpat und Reval, Riga und Mitau, ja noch Pernau und Narva mit Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des 17. und vor allem der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts versammeln. Die wenigen (aber sehr gewichtigen) deutschsprachigen Frühdrucke aus Estland aus dem Brockmann-Kreis, die heute zumeist im Kreutzwald-Literaturmuseum bewahrt werden, findet man abgebildet und besprochen in der schönen Arbeit von Alttoa und Valmet. Über die Buchbestände des Zentralen Historischen Staatsarchivs Tartu, die ich erstmals 1989 bearbeitete, ist m.W. noch nichts Näheres bekannt. Sie gehen vor allem auf die Bibliothek der Estländischen Ritterschaft zurück, beherbergen jedoch auch wichtige Teile des Nachlasses des größten Historiographen des Baltikums, Friedrich Konrad Gadebusch. Einziges bibliothekarisches und archivarisches Zentrum für Lettland und für das alte Kurland ist heute, nach dem tragischen Untergang Mitaus, die lettische Hauptstadt Riga. Auch nach mehreren Besuchen ist die buchgeschichtliche Überlieferung insbesondere des Personalschrifttums angesichts der vielen Kriegs- und Nachkriegs-Diversifikationen immer noch nicht lückenlos zu überschauen. Die Befürchtung ist leider

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nicht mehr von der Hand zu weisen, daß mehr als fünfzig Jahre nach Kriegsende nicht mehr alle der vielen offenen Fragen geklärt werden können. In Riga sind die Akademiebibliothek, die Staatsbibliothek und das Staatsarchiv für das historische Buchgut zuständig, wohingegen die Universitätsbibliothek unter diesem Gesichtspunkt vernachlässigt werden darf. In diese drei Zentren sind jedoch Bestände von mindestens vier bedeutenden und heute ausgelöschten Vorgänger-Institutionen eingeflossen. Die folgenden Bemerkungen versuchen - wieder am Leitfaden des Gelegenheitsschrifttums, das der beste Indikator für die lokalbezogenen Überlieferungsverhältnisse bleibt - Licht in das obwaltende Dunkel zu bringen Zentrale Sammelstelle für das Kasualschrifittum war wie stets in den Kommunen des alten deutschen Sprachraums die Stadtbibliothek Riga, die 1941 bei dem Einmarsch der Deutschen sogleich in Flammen aufging und alle Bestände (sofern nicht in Safes geborgen) verlor - das wohl traurigste Kapitel baltischer Bibliotheksgeschichte. Die letzten bekannten Benutzer der unvorstellbar reichhaltigen Sammlungen an Gelegenheitsschrifttum waren Kurt Tiersch, Gertrudt Schmidt und Erich Seuberlich. Tiersch hat es leider versäumt, eine genaue quellenkundliche Beschreibung zu liefern, statt dessen wiederholt er die landläufigen Vorurteile über die Gelegenheitsdichtung, die zehn Jahre später in Riga zerstört war. »Die Ziffern geben Band und Abteilung der in der Rigaischen Stadtbibliothek liegenden Sammlung von Gelegenheitsdichtungen an«, heißt es lakonisch in einer Anmerkung, wobei »Abteilung« vermutlich mit dem jeweiligen Einzelstück in dem Sammelband zu übersetzen ist. Tiersch zitiert aus achtzehn solcher Sammelbände. Ob es weitere gab, bleibt unklar. Schmidt spricht von einer »Sammlung von einheimischen Hochzeit- und Trauergedichten« in der Stadtbibliothek Riga und zitiert aus den Bänden I, II, III, IV, VII, VIII und X ohne Signatur; es muß offenbleiben, ob diese Sammlung identisch ist mit der von Tiersch ausgeschöpften, wahrscheinlich dürfte es so sein. Erich Seuberlich, den Russen die Brandstiftung der Bibliothek andichtend, wußte sehr wohl um den unikaten Status der meisten dieser Stücke. Er spricht von vier »dickleibigen Bänden« aus der Frühzeit des Gelegenheitsschrifttums, dem sich ungezählte weitere aus dem 18. Jahrhundert anschlossen. Auf ihnen und den Loseblattsammlungen der Bibliothek, die es also gleichfalls schon damals gab - beruht die Auswertung von 252 Leichenpredigten in einem Artikel Seuberlichs. Die gesamten sonstigen Anlässe sind in der üblichen Überschätzung der Gattung Leichenpredigt also nicht berücksichtigt. Und da es bislang nicht gelungen ist, die Sammelbände wieder aufzufinden, die offensichtlich nicht mit in die Safes gelangten, und Recke/Napiersky und Buchholtz diese Quelle nach dem Zeugnis Seuberlichs kaum ausschöpften, sind von ungezählten Stücken

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aus der alten Stadtbibliothek Riga für immer Titel und Dichternamen untergegangen - ein ungemeines Handikap für die Rekonstruktion des literarischen Lebens in der baltischen Kapitale gleichermaßen für das 17. wie das 18. Jahrhundert. Nun weist jedoch schon Seuberlich auf die zweite große Sammlung in der Stadt Riga aus der Bibliothek der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der russischen Ostseeprovinzen hin - der weitaus bedeutendsten wissenschaftlichen Vereinigung im Baltikum bis zum Kriegsbeginn, deren Anfänge bis in das Jahr 1834 zurückdatieren. Sie verfugte ebenfalls über eine phantastische Bibliothek und innerhalb ihrer über eine »umfangreiche Sammlung von Gelegenheitsdrucken, die aber selten in die älteste Periode der Rigaer Stadtdrucker zurückreichte«. Die Anzahl der Bände gibt Seuberlich nicht an. Sie gelangte nach Posen in die »Volksdeutsche Mittelstelle, Abteilung Kultur«. Eine Spur von ihr habe ich bislang trotz aller Bemühungen nicht entdecken können. Immerhin hat sich in der genealogischen Forschungsstelle zu Leipzig ein Exemplar des Seuberlichschen Katalogs der Gelegenheitsschriften der Bibliothek der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde zu Riga, Band I - III, Riga 1937-38 (Masch.) erhalten. Seuberlich wertet auch in Mappen verwahrte Einblattdrucke aus, die in Riga verblieben waren und von denen ich Spuren in der Akademie- und der Staatsbibliothek sowie dem Staatsarchiv fand. Ansonsten ist das Schicksal der Bibliothek der Gesellschaft für Altertumskunde bislang von niemandem aufgeklärt worden. Archiv und Dommuseum (in dem die Gesellschaft seit 1890 untergebracht war) wurden 1935 bzw. 1936 vom lettischen Staat beschlagnahmt. Das Archiv mit der Handschriftensammlung kam ins lettische Staatsarchiv. Was aber wurde aus der mächtigen Bibliothek? Überreste von ihr findet man heute in der Akademie- und der Staatsbibliothek. Gelangten sie noch vor oder während oder nach dem Krieg dorthin und nach welchen Kriterien - wenn überhaupt - wurde sortiert? Niemand hat bislang auf diese Fragen in Riga eine Antwort geben können. Im Staatsarchiv wurden noch keine Altdrucke aus der Gesellschaftsbibliothek aufgefunden, doch ist mit ihrer Existenz gewiß zu rechnen; entsprechende Forschungen vor Ort wurden von mir über SarmTte Pijola angeregt und werden derzeit von einer Osnabrücker Forschergruppe fortgeführt. Seuberlich verweist schließlich auf eine dritte große Personalschriften-Sammlung im Kurländischen Provinzialmuseum zu Mitau. Dieses gehörte der ältesten Sozietät im Baltikum, der 1815 ins Leben gerufenen »Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst«, und war auf Anregung Reckes schon 1818 entstanden. Es umfaßte wiederum gleichermaßen ein - vor allem durch Reckes Sammlungen bestücktes - Archiv und eine schon 1917 40000 Bände zählende Bibliothek. Beide Institutionen wurden im Kriege zusammen mit dem alten Schloß zerstört. Aber

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schon vorher waren die Schätze in verschiedene Richtungen gegangen. Seuberlich spricht von einer »Reihe von Bänden« dieser Provenienz in der Volksdeutschen Mittelstelle zu Posen, wo insgesamt 16 Bände aus Mitau und Riga zusammengekommen seien. Bestände aus dem Kurländischen Ritterschaftsarchiv sowie Sammlungen aus der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst in Mitau kamen gleichfalls 1936 in die Obhut des Lettischen Staates und wurden dem Staatsarchiv in Riga überwiesen. In welchem Umfang Bücher darunter waren, ist nirgendwo aktenkundig, soweit ich sehe. Nach privater fachkundlicher Auskunft ist die Hauptmasse der Bibliothek mit nach Posen gelangt, überstand dort den Krieg, wurde teils auf polnische Bibliotheken verteilt, teils auf dem Antiquariatsmarkt angeboten und fand in Restbeständen in der Bibliothek Bong eine Heimstatt, die soeben nach Riga zurückgekehrt ist. In jedem Fall findet man wertvolle alte Buchbestände mit Gelegenheitsschrifttum aus dem Kurländischen Provinzialmuseum - darunter die Werke des einzig namhaften Dichters Christian Bornmann - wie aus der Bibliothek der Kurländischen Ritterschaft sowohl in der Staatsbibliothek zu Riga wie - neben den entsprechenden Handschriften und Archivalien beider Institutionen - im Staatsarchiv zu Riga. Die große Aufgabe in bezug auf Riga besteht für den Buchhistoriker also darin, die heute neben den originären Sammlungen in der Akademie-, der Staats- und der Archivbibliothek zusammengekommenen Überreste aus der Gesellschaft für Altertumskunde und der Livländischen Ritterschaft sowie aus dem Provinzialmuseum und der Kurländischen Ritterschaft in Mitau (neben kleineren zumeist gymnasialen Streubeständen) zu sondern und in eigenen Katalogen unter Rückgriff auf die im Staatsarchiv bewahrten alten Kataloge wieder zusammenzuführen. Dafür bestehen heute vor Ort in Riga gute Voraussetzungen. Ojar Sander ist mit einer Überarbeitung der Buchholtzschen Mollyn-Bibliographie befaßt, die in einem Jubiläumsband für den ersten Rigaer Drucker ihrer Niederschlag fand, an dem alle historischen Buchkundler Rigas mitwirkten. Die soeben verstorbene langjährige Mitarbeiterin der Akademiebibliothek Meta Taube arbeitete an einer Bibliographie des zweiten Druckers Gerhard Schröder und hat darüber auf der Osnabrücker Tagung Stadt und Literatur berichtet. Weitere Kataloge zu Bessemesser und Nöller waren lange Zeit in Vorbereitung und müssen dringlichst erarbeitet werden. In der Staatsbibliothek hat der langjährige Direktor Andris Vilks die historische Buchforschung nach Maßgabe des Möglichen zu befördern gesucht. Die Aufgabe, das aus verschiedenster Provenienz zusammengeströmte alte Buchgut zu spezifizieren, ist hier besonders vordringlich und schwierig. Im Staatsarchiv schließlich hat sich SarmTte Pijola des in beträchtlichem Umfang vorhandenen Gelegenheitsschrifttums nach meinen Besuchen angenommen; eine entsprechende Publikation ist leider nicht zustandegekommen.

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Namen w i e diejenigen von Johannis Horningk und Adam Gottfried Hörnick, von Johann Höveln und Johannes Brever, von Johannes Wedemeyer und Nikolaus Witte, von Ulrich Poorten und Gottlieb Schlegel, von Liborius Depkin und Johannes Wischmann, aber auch des Hauptes der Mitauer Dichterschule, Christian Boramann, wollen ebenso wie die der Sammler und Bibliographen v o m Schlage Henning Wittes und seines Nachfolgers in der Rigaer Literaturgeschichte, Jonas Johann Phragmenius, wie die von Johann Christoph Schwartz und Johann Christoph Brotze, der Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung des alten deutschen Sprachraums im Osten zurückgewonnen werden. Erst damit vollendet sich auch für das Baltikum die Rückkehr nach Europa in der angemessenen, nicht auf die großen Namen beschränkten historischen Tiefenperspektive.

* Der voranstehende Text wurde auf dem 51. Baltischen Historikertreffen in Göttingen im Jahr 1998 auf Einladung von Gert von Pistohlkors vorgetragen. Ein Abdruck im vorliegenden Sammelband war nicht vorgesehen. Stattdessen wurde ein neuer Beitrag in Analogie zu dem Königsberg-Text in dem parallel zu diesem Band angelegten Werk Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit (herausgegeben von Klaus Garber, Manfred Komorowski, Axel E. Walter.- Tübingen: Niemeyer 2001 (= Frühe Neuzeit; 56)) ausgearbeitet. Er wuchs sich jedoch zu einem Buch aus und hätte die Proportionen des vorliegenden Werkes gesprengt. Der Text wird als selbständige Monographie erscheinen. Er ergänzt das thematische Spektrum dieses Bandes. Zudem ist er reichhaltig mit Anmerkungen ausgestattet, so daß auf eine Wiederholung im Rahmen dieses Vortrages, dessen Anlage nicht angetastet werden sollte, verzichtet werden konnte. Verwiesen werden darf auf die erwähnte und gleichfalls reichhaltig mit Literatur ausgestattete Abhandlung des Verfassers: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch.- In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff.- Amsterdam: Rodopi 1988 (= Chloe; 7), S. 255-308. Für den Vortrag zurückgegriffen wurde auf einen erstmaligen zusammenfassenden Bericht über die baltische Archiv- und Bibliothekslandschaft, gleichfalls eingehend mit Literatur ausgestattet, in: Klaus Garber: Das alte Buch im alten deutschen Sprachraum des Ostens. Stand und Aufgaben der Forschung am Beispiel des städtischen Gelegenheitsschrifttums.- In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 24 (1997), Heft 1-2: Deutscher Buchdruck im Barockzeitalter, S. 445-520, hier zum Baltikum S. 507-520. Das Baltikum auch berührt in Klaus Garber: Eine Bibliotheksreise durch die Sowjetunion. Alte deutsche Literatur zwischen Leningrad, dem Baltikum und Lemberg.- In: Neue Rundschau 100 (1989), S. 5-38. Zum Kontext der hier wiederholt anklingenden Motive sei auf ein im Herbst erscheinendes Buch des Verfassers hingewiesen: Nation - Literatur - Politische Mentalität. Beiträge zur Erinnerungskultur in Deutschland. Essays, Reden, Interventionen.- Paderborn: Fink 2003. In dem erwähnten Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums, das seit 2001 im Olms-Verlag (Hildesheim) publiziert wird, sind inzwi-

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sehen die Reval und Dorpat gewidmeten Bände, herausgegeben von Sabine Beckmann und Martin Klöker unter Mitarbeit von Stefan Anders, erschienen; diejenigen zu Riga befinden sich in Vorbereitung und werden wie die Vorgänger gleichfalls noch im Jahre 2003 erscheinen. Sie sind mit ausführlichen Einleitungen und Bibliographien ausgestattet, so daß auch auf sie an dieser Stelle für ein weiteres Studium verwiesen werden kann.

Heinz von zur Mühlen

Die baltischen Lande, ihre Bewohner und ihre Geschichte

Land und Völker des Ostbaltikums Die einstigen Ostseeprovinzen Rußlands, seit 1918 die Staatsgebiete Estlands und Lettlands und nach heute üblichen Begriffen auch Litauens, waren zu Beginn der geschichtlichen Zeit ein Land ohne Namen. Es bildete einen Keil zwischen der Ostsee und der weiten Ebene Rußlands und hatte zusammengenommen eine nordsüdliche Ausdehnung von 600 Kilometern. Das klimatische Gefalle wurde durch dieses geographische Ausmaß bestimmt, zugleich wirkten sich auch maritime und kontinentale Einflüsse aus. Landschaftlich war es vielfaltig gegliedert durch vorgelagerte Inseln, Steilküsten (Glind, skandinavisch klint) im Norden, Flachund Hochmoore, eiszeitliche Endmoränen und Hügellandschaften bis hin zu Niederungen mit fruchtbarem Untergrund im Süden. Oberflächengestaltung, Klimagefalle, Bodenqualität und auf Sommer- und Winterwegen wechselnde Verkehrsverbindungen bedingten Lebensverhältnisse und Siedlungsweise der Bewohner, doch der entscheidende Unterschied zwischen Nord und Süd war und ist auch heute noch die Volkszugehörigkeit der angestammten Bewohner. Das ostseefinnische Volk der Esten siedelte vom Finnischen Meerbusen bis zur heutigen Staatsgrenze zu Lettland, mit Einschluß der Inseln Ösel und Dago und vieler kleineren. Südwärts entlang dem Meeresufer und beiderseits der unteren Düna lebten die stammverwandten Liven; mit Kuren vermischt waren am Nordufer Kurlands und entlang der kurländischen Westküste ebenfalls Liven angesiedelt. Das Land östlich davon war von lettischen Stämmen eingenommen, die der baltischen Sprachfamilie angehören: nördlich der Düna Lettgaller, südlich - von Ost nach West - Selen, Semgaller und Kuren. Wie die Lettischen Stämme, die erst später das lettische Volk bildeten, gehören auch die nur dem Kontinent, nicht dem Meer zugekehrten Litauer der baltischen Sprachfamilie an: den Letten benachbart die Schemaiten, weiter südöstlich die Augstaiten (vgl. Abb. 1). Gemeinsam war diesen Völkern ihre soziale Schichtung. In der Mehrheit waren sie persönlich freie Bauern mit Eigen- und Allmendebesitz. Unfrei war eine Minderheit von Sklaven, Drellen genannt, meist aus Kriegsgefangenen oder aus Raubhandel hervorgegangen. Über den Bau-

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ern erhob sich eine Schicht von Ältesten der Dörfer, DorfVerbände, Gaue und Stammeslandschaften mit militärischen und politischen Funktionen, teilweise - von Nord nach Süd in zunehmendem Maße - mit adeligem und fürstlichem Rang und Bezeichnungen wie >senioresnobilesmelioresmaior natuprincepsduxquasi rex et senior< oder auch schlicht >rex terra matris< nicht gegen den Namen Livland als Land der Liven durchgesetzt, der nach und nach dem ganzen durch Christianisierung und Eroberung gewonnenen Ostbaltikum zuteil wurde und schließlich durch Schaffung weiterer Bistümer mehrere Territorien umfaßte. Nur Litauen blieb außerhalb und war sogar wiederholt Feindesland. Zum Femhandel und zur abendländischen Kreuzzugsidee kam die ostdeutsche Siedlungsbewegung als drittes Element des künftigen Staatenbundes. Außer der Stadt Riga mit zunächst gotländischen deutschen Bürgern bildeten Burgen die Ausgangspunkte fur eine lockere Streusiedlung auf dem Lande, an der Vasallen aus der Schicht des deutschen niederen Adels, der Ministerialität aus Norddeutschland vom Rheinland bis Holstein mitwirkten. Erst später, unter gesicherten Lebensverhältnissen, konnten die Vasallen sich bei den ihnen als Lehen übertragenen Dörfern niederlassen und sich dort feste Wohnsitze errichten. Riga und später weitere Städte erhielten Zuzug durch Kaufleute und Handwerker aus Niederdeutschland. Nur der deutsche Bauer blieb aus, da es für ihn dank der Genügsamkeit der Einheimischen keinen Bedarf gab und das ungünstige Klima und die kargen Böden ihn nicht zur Ansiedlung verlockten.

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Bis 1212 war das Land der Liven und Letten erobert oder durch freiwillige Unterwerfung gewonnen, 1215 auch die südestnischen Landschaften Ugaunien und Sackala. Dem Orden wurde jeweils ein Drittel des eroberten Landes zur Bildung eines eigenen Territoriums eingeräumt. Bei den weiteren Kämpfen gegen die Esten kam es zum Konflikt mit den Dänen, die 1219 in der Revaler Bucht landeten und NordEstland - die Reval-Landschaft, Harrien und Wierland - einnahmen. Bei der Taufe der Esten machten die Deutschen und Dänen sich gegenseitig ihre Ansprüche streitig, doch konnten sich die Deutschen in Süd-Estland behaupten. 1227 gelang es dem Schwertbrüderorden, die Dänen aus Nord-Estland zu vertreiben. Mit deutschen Kaufleuten von der Insel Gotland gründete er 1230 die Stadt Reval am Fuße des von ihm besetzten Domberges. Reval mit Harrien und Wierland mußte der Orden allerdings nach einem Schiedsspruch des Papstes wieder den Dänen herausgeben, die von 1238 bis 1346 Nord-Estland beherrschten. Inzwischen war die Insel Ösel unterworfen (1227) und bald danach auch Kurland (1234). Weitergehende Pläne, die Mission von Livland aus in russische und litauische Gebiete zu tragen, scheiterten an der militärischen Macht des Fürsten Alexander Nevski im Osten (1242) und der Litauer im Süden (1260), obwohl kurz vorher der Litauerfurst Mindowe oder Mindaugas sich zur Taufe bereit erklärt und sogar Schemaiten dem Orden abgetreten hatte. Als letztes Gebiet Livlands wurde 1290 Semgallen erobert. Das Wort > Schwertmission < als Gegensatz zur friedlichen Bekehrung sollte man nicht als Zwangsmission durch Kampf verstehen. Das Schwert sollte dem Schutz der Mission vor heidnischer Reaktion und Abfall der Bekehrten sowie vor Angriffen von außen dienen. Aber der Kampf gegen die noch nicht unterworfenen benachbarten Heiden konnte aus anderweitigen Anlässen ausbrechen und in der Folge zur Unterwerfung, zu Friedensverträgen und zur Annahme der Taufe fuhren. Daß hierbei in erster Linie der Orden eine entscheidende Rolle spielte, lag in der Natur der Sache.

Die Staatenbildung Die Christianisierung Livlands war ein politischer Vorgang von europäischer Bedeutung. Kirchenpolitisch und kulturgeschichtlich war die Entscheidung zugunsten des Westens gefallen. Der Osten mußte sich damit abfinden. Zu einer ernsten Bedrohung wurden die russischen Teilfursten erst im späten Mittelalter. Die östliche Nachbarschaft brachte Livland, insbesondere den Städten, den Vorzug blühenden Transithandels zwischen West und Ost. Die Zugehörigkeit zur römischen Kirche und die

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ständige Zuwanderung vor allem aus Norddeutschland, aber auch aus Skandinavien, schufen ein festes Band der Verwandtschaft, des Lehnrechts und Stadtrechts, des Handels und Handwerks, der Kirche und Religion sowie der Kunst, aber auch der staatlichen Ordnung und der sozialen Verhältnisse. In staatsrechtlicher Hinsicht war das Ergebnis die Entstehung von fünf geistlichen Territorien: dem Stift Riga, seit 1246 Erzstift, den Stiften Dorpat (seit 1219), Ösel-Wiek (1228) und Kurland (1234) und dem Territorium des Deutschen Ordens, der 1237 die überlebenden Schwertbrüder nach einer verlorenen Schlacht gegen die Litauer aufgenommen und ihre Aufgabe in Livland übernommen hatte. Diese geistlichen Territorien bildeten zusammen einen Staatenbund. Hinzu kam als sechstes Territorium das von Dänemark beherrschte Gebiet. Der Bischof, später Erzbischof von Riga hatte die Befugnis, Bischöfe zu ernennen und zu weihen und war seit 1214 unabhängig von jeder Metropolitangewalt, also dem Papst direkt unterstellt. Die Erzdiözese umfaßte auch die Bistümer Preußens, aber nicht das Bistum Reval, das zum Erzbistum Lund gehörte. Als Landesherr war der Erzbischof vom deutschen König abhängig, dem Albert 1207 Livland als Lehen aufgetragen hatte. 1225 galten die bischöflichen Territorien Riga und Dorpat als > Marken < des Reiches. Erst viel später wurden die livländischen Bischöfe förmlich als Reichsfürsten anerkannt. Der Orden in Livland war seit 1237 ein Zweig des im Reich und in Preußen niedergelassenen Deutschen Ordens, der livländische Landmeister war dem Hochmeister in Preußen unterstellt. Er stand zugleich formal in Lehnsabhängigkeit von den Bischöfen, in deren Diözesen er Herrschaft ausübte. Faktisch war er aber durch seine militärische Macht und straffe Verwaltung sowie durch die Größe des Ordensterritoriums der mächtigste Landesherr, besonders seit der käuflichen Erwerbung Dänisch-Estlands (1346), und nutzte seine Stärke zur Erringung der Vormacht in Livland. Seit 1530 war auch der livländische Ordensmeister Reichsfürst. Die Vasallen der Bischöfe und des Königs von Dänemark waren zur Heeresfolge verpflichtet und daher für ihre Lehnsherren unentbehrlich. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dieser militärische Berufsstand zu einem adeligen Geburtsstand, der durch Grundherrschaft und Erblichkeit der Lehen fest mit dem Grund und Boden und untereinander verbunden war. Als erste schlossen sich schon im 13. Jahrhundert die Vasallen des dänischen Königs zu einer Korporation mit einem Landesrat als dem obersten Gericht Harrien-Wierlands zusammen. Die stiftischen Vasallen folgten diesem Beispiel erst später, ohne jedoch im Mittelalter eine vergleichbare Autonomie erreichen zu können. Auch im Erbrecht waren die harrisch-wierischen Vasallen ihnen zeitlich voraus.

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Die Städte Livlands mit der kaufmännischen Oberschicht und einem aus ihr hervorgehenden autonomen Rat an der Spitze gehörten fast alle der Deutschen Hanse an. Die Mittelschicht bildete der Handwerkerstand, die unteren Schichten setzten sich aus dem Transportgewerbe, Hilfsgewerben des Handwerks, Arbeitern und Dienstboten zusammen und waren in der Mehrzahl vom Lande zugewandert. An Hansetagen und Inländischen Städtetagen nahmen die drei großen Städte Riga, Reval und Dorpat teil, die dort auch die Interessen der kleinen Städte vertraten. Das mittelalterliche Livland bildete einen Staatenbund, eine Konföderation der Territorien, zusammengehalten durch gleichgerichtete Interessen innerhalb der ständischen Ebenen, der Bischöfe und ihrer Domkapitel, des Ordensmeisters und seiner Gebieter, der Vasallenschaften sowie der Städte. Aus gelegentlichen Anlässen wurden Konföderationen gebildet. Daraus entstand im 15. Jahrhundert die Gepflogenheit, gemeinsame Landtage abzuhalten. Zuerst berieten die Stände in getrennten Kurien, um dann eine Einigung anzustreben. Der einzige Stand, der auf den Landtagen nicht vertreten war, aber oft Gegenstand der Beratungen und Beschlüsse war, waren die Bauern.

Die einheimische Bevölkerung Die > Neugetauften < wurden später in Stadt und Land allgemein - ohne gewollte Herabsetzung - als > Undeutsche < bezeichnet. Die Annahme der Taufe erfolgte teils freiwillig, teils nach erheblichem Widerstand. Trotz einiger Erfolge der Mission und der Bemühungen, den Glauben der Unterworfenen durch Predigt in ihrer Sprache zu vertiefen, blieben heidnische Gebräuche unter der Oberfläche noch in den folgenden Jahrhunderten erhalten. Die vertraglich festgelegte Unterwerfung brachte den Stammesverbänden den Verlust der politischen Unabhängigkeit, beließ aber dem Einzelnen die angestammte persönliche Freiheit, freilich unter Auflage der >jura christianorumharrischen Mord< fielen alle Deutschen, auch Frauen und Kinder zum Opfer, soweit ihnen die Flucht nach Reval nicht gelang. Auch die Zisterziensermönche von Kloster Padis und Priester wurden umgebracht. Der Aufstand dehnte sich auf die Wiek und Ösel aus und konnte nur mit großer Anstrengung vom Orden niedergeschlagen werden. Der Aufstand und die durch ihn verursachten Bevölkerungsverluste in den betroffenen Gebieten sowie nachfolgende Seuchen in Alt-Livland fielen zeitlich mit dem Schwarzen Tod und Hungerzeiten sowie Verlusten durch Kriegsereignisse in Europa zusammen. Es war die Zeit der Entstehung von Siedlungswüstungen, die nur langsam durch Wiederbesiedlung überwunden wurde. Die Folge war eine allmähliche Wandlung der Wirtschafts- und Sozialstruktur. So wurde die Agrarkrise des 14. Jahrhunderts in Europa von einer lebhaften Konjunktur des Getreidehandels abgelöst, die für die Grundherren ein Anlaß wurde, selbst Feldbau zu betreiben oder auszudehnen. Dieser Vorgang erforderte eine neue Arbeitsverfassung durch Vermehrung der bisher eher geringen, aber ungemessenen Fronpflicht der Hintersassen bei der Rodung von Wüstungen, Buschland und Wäldern und bei Saat und Ernte. So entstand die Gutswirtschaft, die mehr und mehr die Zinswirtschaft überlagerte und in Verbindung mit der Gerichtsherrschaft der Grundherren zur Gutsherrschaft wurde. Ihre Kennzeichen waren Bindung der Bauern an ihre Höfe und die Entstehung des Läuflingswesens. In den Städten erwartete die Läuflinge Freiheit und Arbeit. Die Gutsherren bestanden auf der Auslieferung entlaufener Bauern. Zwischen den Ritterschaften und Städten, besonders zwischen Harrien-Wierland und der Stadt Reval, kam es deswegen zu ernsthaften Konflikten, die durch Vermittlung des Ordens geschlichtet werden konnten, der von der Läuflingsfrage nicht betroffen war, weil er selbst - anders als in Preußen - weder Gutswirtschaft noch Getreidehandel betrieb. Die Vermehrung der Bevölkerung im ausgehenden Mittelalter bewirkte in Stadt und Land einen sozialen Wandel. Auf dem Lande entstand aus erbenlosen Bauernsöhnen und ehemaligen Drellen eine Schicht von Kleingrundbesitzern, >Einfußlinge< genannt, auch wuchs die Zahl der Landlosen oder Lostreiber. Die Städte waren zunehmend auf Arbeitskräfte durch Zuwanderung vom Lande angewiesen, doch deren unfreie Herkunft führte zur Verschlechterung ihrer Rechtslage als > undeutsche < Einwohner ohne Bürgerrecht. In der Frage der durch heidnische Reaktion erforderlichen geistlichen Seelsorge zeigten sich langsame Erfolge durch die Tätigkeit der Bettelorden und durch den Bau von Kirchen auf dem Lande. Mehr wurde in

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dieser Hinsicht in den Städten erreicht, wo schon in katholischer Zeit > undeutsche < Predigtstühle in den Kirchen eingerichtet wurden. Die lutherische Reformation führte auch in Livland zu einer religiösen Erregung. Gegen den Widerstand der Bischöfe hielt die neue Lehre, von Unruhen und Bilderstürmen begleitet, in Livland Einzug, zuerst seit 1521 in den Städten, dann auch auf dem Lande. Sie hatte eine Hinwendung der Kirche und der Oberschicht in Stadt und Land zu den Esten und Letten in stärkerem Maße zur Folge, als es zur katholischen Zeit der Fall gewesen war. Schon bald wurde die Übersetzung des Katechismus Martin Luthers ins Estnische in Auftrag gegeben, es wurde auf Estnisch und Lettisch gepredigt und für die Ausbildung estnischer und lettischer Prediger Sorge getragen.

Das Ende Alt-Livlands Die außenpolitische Lage Livlands wurde durch die Nachbarschaft im Westen, Süden und Osten bestimmt. Die Hansestädte wurden in die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Dänemark, der Orden in die Bekämpfung der Vitalienbrüder hineingezogen, die die Ostsee verunsicherten. Ernste Gefahren für Livland gingen aber von Dänemark nicht aus. Anders war es mit den Litauern, die wiederholt in Livland eingefallen waren. Als der litauische Großfürst Jagello sich mit der polnischen Thronerbin vermählte und sich taufen ließ (1386), entstand im Süden eine bedeutende Macht, die besonders dem Orden in Preußen gefährlich wurde, den livländischen Zweig aber in die Kriege hineinzog. Für Livland kam die größte Gefahr aus dem Osten, seitdem die russischen Teilfürstentümer von Moskau unterworfen wurden, nachdem es sich von der Tatarenherrschaft befreit hatte. Seit dem späten 15. Jahrhundert war Livland in ständiger Gefahr, die nur durch einen Mann wie den Ordensmeister Wolter von Plettenberg (1494-1535) gebannt werden konnte. 1502 besiegte er die Russen am Smolinasee und erreichte damit einen Beifrieden, der immer wieder erneuert werden konnte und Livland über ein halbes Jahrhundert eine Zeit des Friedens und wirtschaftlichen Gedeihens bescherte. Der Wohlstand machte indessen blind gegen die Bedrohung aus dem Osten. Hinzu kam, daß der Orden, die stärkste Militärmacht Livlands, durch die Reformation innerlich ausgehöhlt wurde. Plettenberg selbst, der nicht bereit gewesen war, den neuen Glauben anzunehmen, die Reformation aber geduldet hatte, hatte die ihm angetragene Alleinherrschaft als weltlicher Herzog nach dem Vorbild Albrechts von Preußen abgelehnt. Für den Entschluß des Zaren Ivan IV., Livland mit Krieg zu überziehen, waren unter anderem historische Ansprüche und Tributforderungen an Dorpat sowie wirtschaftliche Interessen maßgebend. Mit dem Über-

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fall auf Narva entbrannte der livländische Krieg (1558-1583), der zum Untergang Alt-Livlands führte, das vom Reich und von den Hansestädten im Stich gelassen wurde. Der Orden wurde 1560 bei Ermes entscheidend geschlagen. Auf ausländische Hilfe angewiesen, unterwarf sich der Bischof von Ösel und Pilten (Kurland) 1559 dem König von Dänemark, Reval und die Harrisch-Wierische Ritterschaft unterwarfen sich 1561 König Erich XIV. von Schweden, gefolgt vom Erzbischof von Riga und dem letzten Ordensmeister, die bei Polen-Litauen Schutz suchten (1561/62). Die Landesteile nördlich der Düna wurden Litauen inkorporiert, während Kurland Lehnsherzogtum des Königs Sigismund II. August von Polen wurde. In der Historiographie pflegt man in der Unterwerfung unter Dänemark, Schweden und Polen/Litauen das Ende des Mittelalters Livlands zu sehen, in erster Linie wohl wegen des tiefen Einschnitts, aber auch wegen der Konservierung mittelalterlicher Erscheinungen wie des Rittertums (keine Raubritter!), der Macht der Stände ohne autochthone Fürstenmacht. Altertümlichen Stilelementen der Kunst, wie der gotischen Architektur, standen jedoch infolge der engen Beziehungen zum Herkunftsland andere, modernere Erscheinungsformen gegenüber, wie das frühe Eindringen der Reformation oder die Malerei einheimischer Künstler, wie des Revaler Malers Michel Sittow (f 1525). Das livländische Mittelalter ist eingerahmt von zwei bedeutenden Chronisten, dem aus dem Magdeburgischen stammenden Lettenpriester Heinrich, der als Beteiligter an Eroberung und Mission für Bischof Albert schrieb, und dem Pastor an der > undeutschen < Gemeinde zu Reval Balthasar Rüssow (um 1535-1600), der vermutlich estnischer Herkunft war. Als Freund der Bauern und scharfer Gegner ihrer adeligen Unterdrücker war er zugleich Revaler Patriot und durch Studium in Stettin und Heirat gänzlich germanisiert. Beide schrieben über die Bauern ihrer Zeit. Dagegen war das Schrifttum für die Bauern - abgesehen vom übersetzten Katechismus - erst eine spätere Frucht der Reformation.

Der Kampf um die Vorherrschaft an der Ostsee Die Unterwerfungsverhandlungen mit den auswärtigen Mächten hatten neben dem Schutz vor Moskau auch die Erhaltung der Privilegien der Städte und Ritterschaften zum Ziel. Friedrich II. von Dänemark, Erich XIV. von Schweden und Sigismund II. August von Polen und Litauen garantierten den Ständen die Freiheit des Glaubens und die Geltung deutschen Rechts und deutscher Sprache. In dem von Polen-Litauen beherrschten Raum galt das sogenannte Privilegium Sigismundi Augusti. Livland wurde in Litauen inkorporiert, jedoch ohne Riga. Kurland wurde Lehnsherzogtum des Königs. Der Staatenbund war zerborsten, aber das

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Land wurde weiterhin von einer Serie von Kriegen heimgesucht oder war mittelbar betroffen. Es ging um den Besitz des alten Livland und um die Vorherrschaft an der Ostsee sowie um ungehinderten Handel. Beteiligt als kriegfuhrende Mächte waren Moskau mit dem dänischen Prinzen Magnus, von Moskaus Gnaden > König von Livland Herzogtum EhstenInflanty< oder >Polnisch-Livland< bei Polen (1629). Dieses Land fiel bei der ersten Teilung Polens an Rußland und wurde erst bei der Staatsgründung Lettlands als >Lettgallen< wieder mit dem Stammland vereinigt.

Unter schwedischer Herrschaft Für Estland und Livland war der Sieg über Polen von vergleichbarer Bedeutung wie das Eingreifen Gustav Adolfs in den Dreißigjährigen Krieg für Norddeutschland: die Erhaltung des lutherischen Glaubens. Trotz der Zugehörigkeit zu Schweden empfand man sich immer noch als zu Deutschland gehörig. Segensreich war für die im Kriege arg beschädigten kirchlichen Verhältnisse die Reform durch schwedische Kirchen-

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männer, die Hebung des Schulwesens und die Gründung der Universität Dorpat (1632-56 Academia Gustaviana, 1690-1710 Academia GustavoCarolina). Es hatte sich gezeigt, daß der reformatorische Schwung nicht erlahmt war. Der Prediger Balthasar Rüssow an der Heiligengeistkirche in Reval wurde schon erwähnt. Die Predigten seines Nachfolgers Georg Müller (1600-06) waren zwar nicht zur Veröffentlichung bestimmt, sie demonstrieren aber die direkte Zuwendung zu seiner Gemeinde. Eine andere Art, sich um das estnische Volk zu kümmern, machte sich der aus Reval gebürtige Oberpastor am Dom, später Superintendent in Narva, Heinrich Stahl mit seinem Hand- und Haußbuch für das Fürstenthumb Ehsten in Liffland in vier Bänden (1632-38) zu eigen, in dem er versuchte, für die Pfarrer die estnische Sprache schriftreif aufzubereiten. Ein Handbuch in lettischer Sprache hatte ein halbes Jahrhundert früher Herzog Gotthard Kettler von Kurland drucken lassen, nach dem katholischen Katechismus des Canisius das Zweitälteste Buch in lettischer Sprache. Ihm folgten weitere lettische Literaturdenkmäler in Riga wie das Handbuch des Buchdruckers Mollyn (1615) und die Lang-gewünschte lettische Postill, ein Predigtbuch von Propst Georg Mancelius (1654). 1681-89 wurde die Bibel durch Propst Ernst Glück ins Lettische übersetzt; Kirchenlieder übertrug Christoph Fürecker in die Volkssprache, wenn auch nicht als erster in ganz Livland. Bleibt noch festzuhalten, daß die Übersetzung geistlichen Schrifttums in die Sprachen der Esten und Letten von der schwedischen Obrigkeit gefördert wurde. Unter der schwedischen Herrschaft nahm das bunte städtische Leben trotz der Verrohung der Sitten durch die lange Reihe der Kriege seinen gewohnten Fortgang. In den Gilden pflegte man die traditionellen Drunken, man hielt sich an die festlichen Umzüge, an die kirchlichen und privaten Feiern; Musik und Kunstsinn, Dichtung und Theater erfüllten das gesellschaftliche Leben. Buchhändler, > Buchführer < genannt, versorgten die Leser mit Literatur aus Deutschland, wie sie sich in Nachlässen von Pastoren, Kaufleuten und auch Handwerkern erhalten haben. In Reval scharten sich um Adam Olearius, den Dichter Paul Fleming und andere Teilnehmer an der Expedition nach Persien Ratsherren, Kaufleute, Pastoren und Adelige zu Lektüre und Gedankenaustausch. Die schwedische Herrschaft hatte indessen fur die Stände auch ihre Schattenseiten. Während die Privilegien Revals und der Estländischen Ritterschaft sowie die der Ritterschaft Ösels, das seit 1645 schwedisch war, weitgehend erhalten blieben, war die Provinz Livland als erobertes Land in mancher Hinsicht benachteiligt. Schon zu polnischer Zeit waren viele Güter eingezogen und an Polen und Litauer vergeben worden. Nach der Vertreibung der Polen wurden sie verdienten schwedischen Magnaten geschenkt. Immerhin bildete sich unter schwedischer Herrschaft eine vereinigte Ritterschaft der früheren Teile der Provinz. Die Kriege Schwedens veranlaßten die Krone in ihrer Finanznot, die Provinz

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kräftig zu schröpfen. 1656-61 tobte ein neuer polnisch-schwedischer Krieg, an dem auch Brandenburg, Dänemark und Rußland beteiligt waren. Auch Kurland wurde hineingezogen, das unter Herzog Jakob durch Gründung von Unternehmen im Geiste des Merkantilismus und durch ausländische Kolonien (Tobago und Gambia) aufgeblüht war und nun den Ruin erleben mußte. Unter Karl XI. begann die sogenannte Güterreduktion, durch die zahlreiche Güter, besonders in Livland, eingezogen wurden. Betroffen waren zuerst die schwedischen Magnaten, dann aber auch der einheimische Adel. Der Protest der Livländer war vergebens. Der livländische Landrat Johann Reinhold von Patkul, der sich im Kampf um die Standesrechte gegenüber dem König zu weit vorgewagt hatte, mußte sich in Stockholm vor Gericht verantworten. Der Vollstreckung des Urteils, unter anderem dem Verlust der rechten Hand, konnte er sich durch die Flucht entziehen. Er begab sich in die Dienste Augusts des Starken und trug viel zum Bündnis Sachsen-Polens mit Dänemark und Rußland und damit zum Ausbruch des Nordischen Krieges (1700-1721) bei. Zuvor aber hob Karl XI. den sogenannten livländischen Landesstaat, das heißt die durch die Privilegien gesicherte Verfassung Livlands, auf (1694). Mit seiner Rache hat der livländische Patriot seiner Ritterschaft und Heimat, die im Kriege arg verwüstet wurde, keinen guten Dienst erwiesen. Im Nordischen Kriege hatten Livland und Estland in erschreckender Weise zu leiden. Nach anfänglichen Erfolgen des jungen Königs Karl XII. verwüstete der russische Feldherr Scheremetjev planmäßig das Land, um dem Feinde die Basis fur seine militärischen Operationen zu zerstören. In der Armee des Königs dienten zahlreiche Bewohner beider Provinzen, die Offiziere waren zu 60 Prozent Angehörige baltischer Geschlechter, jeder vierte fiel im Kampf. Nach der Schlacht bei Poltava wandte sich das Schicksal zu Ungunsten Schwedens. 1710 mußten sich die Ritterschaften von Livland und Estland und nacheinander die belagerten Städte Riga, Pernau und Reval, deren Verteidigungskräfte und Bewohnerschaften durch Hunger und Pest auf einen Bruchteil dezimiert waren, den Russen unterwerfen.

Von Peter I. zu Katharina II.: Pietismus und Aufklärung Zar Peter I. bestätigte seinen neu gewonnenen Provinzen, den Ritterschaften und Städten die alten Privilegien und tat es erneut anläßlich des Friedensschlusses zu Nystad (1721). Damit war die alte ständische Ordnung wiederhergestellt. Auch die Landeskirche war nicht mehr von zentralisierenden Tendenzen der Schwedenzeit eingeengt. Das geistige Leben stand im 18. Jahrhundert unter den Einwirkungen zweier Strömungen, die zum Teil durch zugewanderte Hofmeister, wie

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man die studierten Hauslehrer bezeichnete, zum Teil auch durch in Deutschland ausgebildete Landessöhne vermittelt wurden. Der pietistische Geist Philipp Jakob Speners und August Hermann Franckes hatte, unter anderem durch Bekanntschaft mit Persönlichkeiten Liv- und Estlands wie dem livländischen Landrat Johann Balthasar von Campenhausen (1689-1758) und Christoph Friedrich Mickwitz (1696-1748), Dompastor zu Reval, Eingang gefunden und zu individueller Seelsorge und Diakonie in der pastoralen Praxis gefuhrt. In dieser Zeit wurde die Bibel ins Lettische und in den südestnischen Dialekt übersetzt. Vom Pietismus wurden Pastoren, Stadtbürger und Gutsherren ergriffen, aber auch Esten und Letten in Stadt und Land, die besonders von der Herrnhuter Bewegung erfaßt wurden. Ihr Stifter Graf Zinzendorff weilte 1736 persönlich im Lande. Günstig wirkte sich diese Belebung auch auf das Schulwesen auf dem Lande aus. Allerdings sah die Landeskirche in den Herrnhutern eine unliebsame Konkurrenz ihrer eigenen Wirksamkeit, was dazu führte, daß die Herrnhuter > Brüdergemeine < 1743 von der Kaiserin Elisabeth verboten wurde. Sie lebte jedoch später wieder auf und beeinflußte das geistige Bewußtsein der Landbevölkerung und die Entwicklung ihrer Sprache und Literatur. Die Ideen der Aufklärung schlugen Wurzeln in den gebildeten Kreisen. An erster Stelle ist Johann Gottfried Herder zu nennen, der von 1764 bis 1769 in Riga wirkte, ferner der Philosoph Johann Georg Hamann aus Königsberg und der Rigaer Buchhändler und Verleger Johann Friedrich Hartknoch aus Goldap. Ebenfalls aus Deutschland zugewandert waren Friedrich Konrad Gadebusch, Justizbürgermeister in Dorpat und Geschichtsforscher, August Wilhelm Hupel, Pastor in Oberpahlen in Livland, dessen Sammeleifer wir genaue Kenntnis des Landes und seiner Bewohner verdanken, sodann August Friedrich von Kotzebue, Theaterdichter und Gründer des Revaler Liebhabertheaters, und der Schriftsteller Johann Eisen von Schwarzenberg (1717-1779), der die Leibeigenschaft in Livland beschrieb und recht negativ bewertete, gefolgt von dem Pastor und gebürtigen Livländer Heinrich Johann von Jannau (1753 1821) und vor allem dem Pastorssohn Garlieb Merkel (1769-1850), der mit seinem Buch Die Letten, vorzüglich in Liefland, am Ende des philosophischen Jahrhunderts (1797) durch die Schärfe der Sprache Aufsehen erregte und vielfach Widerspruch hervorrief. Im Unterschied zu den Pietisten und Herrnhutern begannen die Aufklärer, sich für die Volkskultur und Volkssprache der Esten und Letten zu interessieren, mit denen Herder durch seine Veröffentlichungen die Leser in Deutschland bekannt machte: ein Vorgriff auf die Tätigkeit vieler Literaten im Lande und die im 19. Jahrhundert gegründeten gelehrten Gesellschaften und ein Beitrag zum nationalen Erwachen dieser Völker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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Die Aufklärung hatte noch eine andere Wirkung. Die Ostseeprovinzen wurden von den Modernisierungsmaßnahmen der Kaiserin Katharina II. berührt, die sie 1775 in ganz Rußland nach dem Vorbild der Ostseeprovinzen durchführte. Ihr Ratgeber war der livländische Landrat Graf Jakob Johann von Sievers (1731 -18'08). Als die sogenannte Statthalterschaftsverfassung 1783 auch auf die Ritterschaften Liv- und Estlands und 1787 auf die Städte übertragen wurde, waren die Abweichungen vom Vorbild jedoch so groß, daß die historisch gewachsenen Verfassungen der Ritterschaften und Städte in mancher Hinsicht zum Nachteil der privilegierten Stände beschädigt und von den Betroffenen als Bruch ihrer Privilegien angesehen wurden. 1795 wurde auch Kurland, das durch die dritte Teilung Polens an Rußland fiel, das gleiche Schicksal zuteil. Nach dem Tode Katharinas (1796) stellte ihr Sohn Zar Paul I. die alte Ordnung, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, wieder her. Das 18. Jahrhundert war eine Zeit, in der sich viele Balten um Rußland große Dienste erwarben, nicht zuletzt auch bei der Einfuhrung der neuen Reichsverfassung. Zahlreiche hohe Militärs und Verwaltungsbeamte, Diplomaten und Politiker standen im Dienst des Kaiserhauses oder der Regierung, zum Teil im weiten Russischen Reich, zum Teil in den Ostseeprovinzen selbst. Die Treue zum Hause Romanov wurzelte in der freundlichen Haltung Peters des Großen gegenüber seinen neuen Provinzen, die er für sich gewinnen wollte. Sie übertrug sich auf seine Nachfolger. Die Dienste der Balten gereichten dem Russischen Reich und seinem Kaiserhause zum großen Segen, besonders im 19. Jahrhundert, seitdem aus der Universität Dorpat zahlreiche Akademiker aller Fakultäten hervorgingen, die im weiten Russischen Reich Betätigung fanden. Die Gründung der Universität Dorpat (1802) war ein Erfolg ritterschaftlicher Initiative, obwohl Kaiser Alexander I. sie noch im selben Jahr zur Staatsuniversität erhob. Durch die Wirksamkeit deutscher und deutschbaltischer Gelehrter erreichte die Universität einen wissenschaftlichen Rang, der den Vergleich mit Universitäten Deutschlands nicht zu scheuen brauchte. Aus der Universität ging das deutschbaltische Literatentum hervor, das heißt die Akademiker wie Pastoren, Juristen, Ärzte und Lehrer, die einen eigenen > Stand Herrenkirche Deutschrussen < bezeichnet, gegen den Zeitgeist mit dem Rücken zur Wand. Vorspiel der Russifizierung war noch unter Alexander II. die Einführung der russischen Städteordnung in den Ostseeprovinzen im Jahr 1877. Unter seinem Nachfolger Alexander III. (1887-1894) folgten Maßnahmen gegen die als geduldete Sekte angesehene lutherische Kirche. 1885 begann die Russifizierung des Bildungswesens, die in der Einfuhrung des Russischen als Unterrichtssprache an den Schulen und der Umwandlung der Universität Dorpat in eine russische Universität Jurjev gipfelte. In der Verwaltung führte man das Russische als Geschäftssprache ein, durch die Justizreform (1889) wurden die ständischen Gerichte aufgehoben, die russische Gerichtsverfassung eingeführt und ausschließlich Russen zu Richtern ernannt, die nicht einmal das Provinzialrecht kannten, das noch Zar Nikolai I. 1845 hatte kodifizieren lassen. Estnische und lettische Intellektuelle, die gegen die Machtstellung der Deutschen im Lande opponierten, übersahen die Gefahr, die auch ihren Völkern drohte. Sie triumphierten über den Abbau deutscher Landesbehörden, obwohl den Esten und Letten keine sprachliche Eigenständigkeit in Aussicht gestellt wurde. Die russische Bürokratie zielte auf ihre Assimilierung, die eine Beseitigung der deutschen Selbstverwaltung beschleunigen sollte. Eine besondere Gefahr für das Deutschtum barg die Wandlung im sozialen Gefüge der Bevölkerung. In den Städten wuchs seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Fabrikproletariat heran, das städtische deutsche Handwerk verlor durch die industrielle Konkurrenz immer mehr die Basis seiner Existenz und, da auch der Zunftzwang aufgehoben wurde, seinen organisatorischen Rückhalt. Unter der Arbeiterschaft verbreitete sich marxistisches Gedankengut, das sich mit deutschfeindlichen sozialen Ressentiments verbunden zu einem Gemisch von gefährlicher Explosivkraft entwickelte. 1905 brach in Rußland eine Revolution aus, die sehr bald auf die Ostseeprovinzen übergriff. Die Revolutionäre, hauptsächlich Fabrikarbeiter aus den Städten, zogen von Gutshof zu Gutshof, ermordeten viele Gutsbesitzer und zündeten Gutshäuser an. Ein bewaffneter deutscher Selbstschutz verhütete manche Gewalttaten, aber nur mit militärischer Gewalt durchgeführte Strafexpeditionen konnten die Ordnung im Lande wiederherstellen. Seitdem herrschte in den Ostseeprovinzen Ruhe bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Den Schulunterricht in der Muttersprache hatte Zar Nikolai II. 1905 wieder gestattet, was als Erleichterung begrüßt wurde. Dennoch empfand man beim Deutschtum Enttäuschung über das verspätete Eingreifen der Regierung. Hatte das nationale Erwachen der Esten und Letten dazu geführt, daß die beherrschende Stellung der Deutschen von ihren politischen Führern immer mehr in Frage gestellt wurde, so erhöhten die revo-

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lutionären Ereignisse von 1905 noch die Spannungen zwischen den Nationalitäten. Für das Deutschtum hatten die letzten Ereignisse die Wirkung eines engeren Zusammenrückens. In den drei Provinzen wurden > Deutsche Vereine < gegründet, in denen sich hauptsächlich Adel und Literaten zusammenfanden. Das Vereinssymbol war das schwarze Deutschordenskreuz, das noch heute als Baltenabzeichen dient. Einige deutsche Gutsbesitzer in Livland und Kurland versuchten, das Deutschtum durch Ansiedlung von deutschen Bauern aus Wolhynien auf parzellierten Gütern zu stärken. Ein Vorschlag des estländischen Ritterschaftshauptmannes Eduard Baron Dellingshausen, die Landesverfassung durch Einbeziehung estnischer und lettischer Vertreter zu reformieren und dadurch Spannungen abzubauen (1907), scheiterte am Widerstand der russischen Regierung. Durch den Ersten Weltkrieg wurde das Baltenland, wie schon so oft in seiner Geschichte, wieder in die europäischen Auseinandersetzungen hineingezogen. Zunächst war das Deutschtum betroffen, dem die Anwendung der deutschen Sprache in Wort und Schrift in der Öffentlichkeit von der russischen Regierung verboten wurde. Zugleich mußten die wehrpflichtigen Deutschen auf russischer Seite in den Krieg ziehen, in vielen Fällen an der Westfront gegen Deutschland. Sie entsprachen ihrem Treueid gegenüber dem Zaren. Erst 1917 nach der Absetzung des Zaren durch die Februarrevolution fühlten sie sich von ihrem Eide entbunden und strebten einen gesamtbaltischen Staat unter der Oberhoheit des deutschen Kaisers an. Kurland war schon 1915 von deutschen Truppen besetzt worden. 1918 wurden auch Livland und Estland eingenommen. Die Eroberer wurden von den Deutschbalten als Befreier und Retter vor der bolschewistischen Gewaltherrschaft begrüßt, die sich nach der Oktoberrevolution auch auf Estund Livland ausgedehnt hatte. Die Esten und Letten strebten jetzt jedoch eigene Republiken an. Die Republik Estland (Eesti vabariik) wurde gerade noch vor dem Einmarsch der Deutschen am 24. Februar 1918 von Konstantin Päts ausgerufen. Die Letten folgten dem Beispiel nach der Kapitulation Deutschlands. Am 19. November rief Karlis Ulmanis die Republik Latvija aus. Zugleich aber drangen die Bolschewiken wieder auf breiter Front in den baltischen Raum ein, unter ihnen die kommunistischen lettischen Schützenregimenter.

Vom Freiheitskrieg bis zum Ende der Unabhängigkeit der baltischen Staaten Der Krieg um die baltischen Länder begann im Norden, wo die Rote Armee am 22. November 1918 Narva angriff. Am 29. November wurde

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die Sowjetrepublik Estland ausgerufen. Von dort drangen die Bolschewiken bis nahe Reval vor. Der Gegenangriff des von langer Hand vorbereiteten und jetzt mobilisierten estnischen Heeres begann Anfang 1919 unter Beteiligung finnischer Freiwilliger und des aus deutschbaltischen Freiwilligen mobilisierten Baltenregiments. Ende Februar war Estland von den Roten gesäubert. Die Esten drangen daraufhin in Nord-Lettland ein, wo die Bolschewiken schon am 3. Januar Riga und danach auch Mitau eingenommen hatten und Libau bedrohten. Von hier aus setzte der Gegenangriff der Baltischen Landeswehr und der > Eisernen Division < reichsdeutscher Freiwilliger ein. Am 16. April wurde durch einen Putsch der Landeswehr die Regierung des ihr feindlich gesinnten Ulmanis abgesetzt. Er hatte schon früher mit den Esten ein Verteidigungsbündnis geschlossen und konnte jetzt unter englischen Schutz fliehen. Am 22. Mai 1919 fiel Riga durch einen wagemutigen Handstreich der Stoßtruppe der Landeswehr in deutsche Hände. In Verkennung der politischen Konstellation und der möglichen Folgen ihres Handelns marschierten die Landeswehr und die Eiserne Division nach Norden gegen die eingedrungenen Esten und ihre lettischen Verbündeten. Durch den Sieg der Esten bei Wenden am 23. Juni war die Landeswehr gezwungen, sich nach Riga zurückzuziehen. Sie wurde der von den Vertretern der Alliierten wieder eingesetzten Regierung Ulmanis unterstellt, während die reichsdeutschen Freiwilligen abgezogen wurden. Die langfristige Folge dieser Schlacht war die Vergiftung der Atmosphäre in den Beziehungen zwischen Esten und Deutschbalten und eine für die deutschen Großgrundbesitzer katastrophale Agrargesetzgebung in beiden Ländern mit der Folge fast entschädigungsloser Enteignung. Viele Deutschbalten wanderten nach Deutschland aus, andere suchten in den Städten einen neuen Lebensunterhalt. Mit einem Schlage waren die im Lande gebliebenen Deutschbalten von einer herrschenden Oberschicht zu einer nationalen Minderheit geworden. An Stelle des Wohlstandes trat Armut ein. Es gab zwar noch Fabriken, Handelsunternehmen und Banken in deutschen Händen, aber für eine Volksgruppe mit einer kopflastigen Sozialstruktur, das heißt mit einem zu großen Anteil an Akademikern und anderen Berufen mit höheren wirtschaftlichen und Bildungsansprüchen, reichte ihr Einkommen nicht hin. Die Berufe des Staatsbeamten und Offiziers waren den Deutschen, von Ausnahmen abgesehen, gesperrt. In Estland erhielten die ethnischen Minderheiten 1925 eine Kulturautonomie, die im Vergleich zu Einrichtungen anderer europäischer Länder mit nationalen Minderheiten als vorbildlich bezeichnet werden muß. Nicht ganz das gleiche Niveau hatte die den Minderheiten in Lettland gewährte Schulautonomie. Die Gesetzgebung konnte die Deutschen auch nicht vor der Tendenz schützen, ihren Anteil an gehobenen Berufen auf den Prozentsatz zu reduzieren, der ihrem Bevölkerungsanteil entsprach.

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In Estland lebten rund 1,1 Millionen Menschen, davon (1934) ca. 16000 Deutsche (1,5 Prozent). Lettlands Bevölkerung erreichte 1935 fast zwei Millionen, davon waren 62000 oder 3,2 Prozent Deutsche. Für sie waren Frauenüberschuß und Überalterung, Geburtenrückgang und Sterbeüberschuß kennzeichnend. Im Rückgang der Zahl, auch infolge von Abwanderung, drückte sich auch die Stimmung der Deutschen aus. Für die Überlebensaussichten gab es auf die Dauer nur zwei Möglichkeiten: Abwanderung nach Deutschland, das hieß Verlust der Heimat, oder Ausharren mit der Aussicht auf soziales Absinken und Assimilierung mit der Mehrheit. Kulturelle Einrichtungen, Schulen und kirchliches Leben erhielten Unterstützung aus dem Deutschen Reich, aber seit der Machtergreifung des Nationalsozialismus in Deutschland fanden auch völkische Ideologie und in ihrer Begleitung fur die baltische Lebensart ungewohntes und provokantes Verhalten Eingang in Estland und in noch stärkerem Maße in Lettland. Von der > Bewegung < wurden in beiden Ländern Hoffnungen auf einen Wandel der Rolle des Deutschtums suggeriert, während mit der Einfuhrung autoritärer Regierungsformen im Frühjahr 1934 die für die Minderheiten nachteiligen Tendenzen noch verschärft wurden. Die Hoffnungen der > Bewegung < auf einen Wandel wurden durch den fur die baltischen Staaten so verhängnisvollen Pakt zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vom 23. August 1939 zunichte gemacht, durch den die baltischen Staaten in den sowjetischen Einflußund Machtbereich fielen. Die Umsiedlung der Deutschbalten war für viele ein schmerzhafter Abschied, auch wenn die Versprechungen und Aussichten zugleich bei vielen Euphorie auslösten. Die Esten und Letten legten ein gespaltenes Verhalten an den Tag, das von Triumph und Schadenfreude bis zu Trauer und Angst vor den Sowjets reichte, die sich durch die Einverleibung der drei Staaten im Jahr 1940 als gerechtfertigt erweisen sollte. Mit der Umsiedlung hatten 750 Jahre gemeinsame Geschichte ihr Ende. Sie hatte mit Christianisierung und Landesausbau, aber auch Unterdrückung begonnen. Esten und Letten waren vor der Einschmelzung in das russische Volk bewahrt worden. Sie hatten das lateinische Christentum angenommen und die Reformation und die ihr folgende geistige und kulturelle Entwicklung bis hin zur Auseinandersetzung mit russophilen Bestrebungen erlebt und sich zuletzt sogar physischer und geistiger Sowjetisierung widersetzen müssen. Sie hielten dabei an ihrem abendländischen Kulturempfinden ebenso wie an ihrem eigenen Nationalbewußtsein und an eigenen Kulturtraditionen fest. Seit Ende August 1991 sind Esten und Letten frei von Unterdrückung; sie sind sich dessen bewußt, daß ihren Händen nicht nur ihr eigenes nationales Erbe, sondern auch ein deutschbaltisches kulturelles Erbe anvertraut ist.

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Literatur: Baltische Länder. Hrsg. von Gert von Pistohlkors.- Berlin: Siedler 1994 (= Deutsche Geschichte im Osten Europas; 4). Baltische Kirchengeschichte. Beiträge zur Geschichte der Missionierung und der Reformation, der evangelisch-lutherischen Landeskirchen und des Volkskirchentums in den baltischen Ländern. Hrsg. von Reinhard Wittram.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956. Horst Garve: Konfession und Nationalität. Ein Beitrag zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft in Livland im 19. Jahrhundert.- Marburg/ Lahn: Herder-Institut 1978 (= Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; 110). Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission unter Mitwirkung von Michael Garleff, Jürgen von Hehn und Wilhelm Lenz hrsg. von Georg von Rauch.- Köln, Wien: Böhlau 1986 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 20). Aufklärung in den baltischen Provinzen Rußlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit. Hrsg. von Otto-Heinrich Elias u. a.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 15). Sozialgeschichte der baltischen Deutschen. Hrsg. von Wilfried Schlau. 2. Aufl.- Köln: Wissenschaft und Politik 2000.

BUCH- UND BIBLIOTHEKSWESEN

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Buchaustausch zwischen Deutschland und Reval/Estland im 15.-17. Jahrhundert

Gegenwärtig gibt es zahlreiche buchwissenschaftliche Publikationen, die sich der Erforschung von Kontakten und Kulturbeziehungen in ganz Europa vor und nach der Reformation widmen. Einflüsse und Wechselwirkungen der Buchkultur spiegeln sich in unterschiedlichen Bereichen der Buchgeschichte wider: dem Druckwesen und der Druckertätigkeit, dem Buchgewerbe und den Veröffentlichungen selbst. Die Druckkunst des 16. Jahrhunderts in Westeuropa zeichnete sich durch ein hohes Niveau aus und war gleichzeitig Ausdruck einer Gesamtentwicklung besonders der Länder Italien, Niederlande, Frankreich und Deutschland. Der in Deutschland erfundene Buchdruck entwickelte sich innerhalb von zwanzig Jahren zu einer gesamteuropäischen Erscheinung: Bereits Ende des 15. Jahrhunderts lassen sich in Europa 265 Druckereien mit 1100 Druckern nachweisen. 1 In estnischen buchwissenschaftlichen Beiträgen haben Friedrich Puksoo und Hans Treumann die historischen Beziehungen zwischen Reval (estn. Tallinn) und Deutschland bzw. Westeuropa untersucht. Doch fehlen fur das Revaler Buchgewerbe solch gründliche Forschungsergebnisse, wie sie Wilhelm Stieda über Dorpat oder Riga erzielt hat.2 1

Monika Toeller: Die Buchmesse in Frankfurt am Main vor 1560. Ihre kommunikative Bedeutung in der Frühdruckzeit.- Diss. phil. München 1983, S. 23 -24. 2 Friedrich Puksoo: Eesti raamatu arengulugu seoses kiija ja raamatu üldise arenemisega [Zusammenfassung: Entwicklungsgeschichte des Buchgewerbes und der Bibliographie in Estland].- Tallinn: Eesti Raamatukogu hoidjate Ühingu Kirjastus 1933, hier spez. S. 171-181; ders.: Raamatukauplemisest rootsi ajal Tartus ja Pärnus, eriti akadeemia raamatukauplejaist [Vom Buchhandel in Pernau und Dorpat während der schwedischen Zeit, besonders in Verbindung mit der Academia Gustaviana].- In: Ajalooline Ajakiri (1933), H. 2, S. 88-98; ders.: Raamatukauplemise oludest Tallinnas XVII sajandi keskel.- In: Ajalooline Ajakiri (1937), S. 1-11; ders.: P. Tielman Hube. Buchhändler in Tallinn und Narva um die Mitte des 17. Jahrhunderts.- In: Liber Saecularis. Litterarum Societas Esthonica.- Tartu: Öpetatud Eesti Selts 1938 (= Öpetatud Eesti Seltsi toimetused; Commentationes litterarum Societatis Esthonicae), S. 510-528; Hans Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost [Von der älteren Buchkulturgeschichte in Estland].- Tallinn: Eesti Raamat 1977; Wilhelm Stieda: Die Entwicklung des Buch-Gewerbes in Dorpat.- In: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 7 (1882), S. 163-198; ders.: Zur Geschichte des Buch-

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Welche Umstände herrschten in dieser Zeit in Reval im Vergleich zur europäischen Buchdruckkunst, die sich so schnell entwickelt hat? Gab es direkte Verbindungen zwischen estländischen und deutschen > Schriftstellern armen Schuljungen armen Schuljungen< Bücher verkaufen konnten. Unter diesen Büchern befand sich auch der in den Jahren 1566-70 gedruckte estnischsprachige Katechismus des Bischofs Johannes Robertus von Gellern.26

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Paul Johansen: Wanradt-Koelli katekismuse senitundmatuist järglastest.- In: Eesti Kiijandus (1935), Nr. 10, S. 433-436. 22 TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Aa 5, S. 42. 23 Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 28. 24 Roland Seeberg-Elverfeldt: Revaler Regesten. Band III: Testamente Revaler Bürger und Einwohner aus den Jahren 1389 bis 1851.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung; 29), Nr. 251, S. 218-221: Johannes Topf von Sondershausen in Thüringen, Sekretär des Revaler Niedergerichts, erwähnt im Testament vom 16.04.1576 den Buchführer (Boekforer) Laurentius Beckmann als > Gevatter und Wirte Beckmann wurde am 14.09.1548 Revaler Bürger. Vgl. Das Revaler Bürgerbuch [Bd. I:] 1409-1624. Hrsg. von Otto Greiffenhagen.- Reval: Revaler Estnische Verlagsgenossenschaft 1932 (= Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; 6), S. 58. 25 Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 30-31; Kaja Altof: Vaesed koolipoisid Tallinnas XVI sajandi teisel poolel [Arme Schuljungen in Reval in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts].- In: Religiooni ja ateismi ajaloost Eestis 3 (1987), S. 57-91, hier S. 65. 26 Jüri Kivimäe: Teateid senitundmatu eestikeelse katekismuse kohta Liivi söja ajast.- In: Keel ja Kiijandus (1993), H. 7, S. 392-397.

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Ein sehr reges Geschäft führte der Lübecker Buchführer Niclas Grund in Reval in den Jahren 1565-77. 27 Seine Tätigkeit wurde von seinem Verwandten David Grund, der schon zuvor als Revaler Buchhändler und Buchbinder bezeichnet worden war, bis zu dessen Tod um 1597 in Reval fortgeführt.28 Es bestehen auch Angaben über eine kurzzeitige Tätigkeit von Franziscus Herzog in Reval. Er war zunächst von 1586 bis 1591 Buchbinder und Buchhändler in Stockholm, dann einige Zeit in Reval; von hier reiste er jedoch nach Äbo (Turku) weiter und führte dort sein Geschäft bis 1615 fort.29 Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts waren im Revaler Buchgewerbe gleichzeitig zwei Buchbinder/Buchführer mit dem Namen Weiß beschäftigt: zum einen der Buchbinder und Buchhändler Hans Ulrich Würtinge Weiß (auch Weyß), der ab 1589 Revaler Bürger war und in Bayern die Rechtslehre studiert hatte.30 Zum anderen lebte in Reval Adam Weiß als Buchbinder und Buchhändler, über dessen Vita im Vergleich zu den bisher genannten Personen die meisten Nachrichten vorliegen: Er wurde um 1555 in Eisenach geboren, schrieb sich als Buchbindergeselle an der Heidelberger Universität ein und wurde im Jahre 1581 exmatrikuliert. Er führte den Titel Buchbinder und trat am 17. Oktober 1586 an der St. Nicolaikirche das Küsteramt an.31 Im Jahre 1589 ist er als Buchbinder in den Kammerrechnungen des Königreichs Schweden aufgeführt. Dies läßt sich dadurch erklären, daß sich der schwedische König Johann III. in dieser Zeit mit seinem Hofmaler Johannes von der Euthe in Reval aufhielt. Johannes von der Euthe wohnte bei Adam Weiß und benötigte für seine Malerei ausländische Farben, die Weiß über den Revalschen Schloßvogt Wartmann aus Deutschland bestellte. Zuletzt nahm der Hofmaler alle Farben mit sich nach Schweden; die Kosten, die Adam Weiß entstanden waren, bezahlte der König.32 Diese archivalischen Informationen bestätigen die These Hans Treumanns, daß die hiesigen Buchbinder gleichzeitig eigenständige Blockbuchdrucker und Typographen waren und unter anderem auch in 27

28 29

30

31

32

Seeberg-Elverfeldt: Revaler Regesten III (Anm. 24): Johannes Topf erwähnt im Testament auch den Buchhändler (Buchfhurer) Nickel Grund zu Lübeck. Dem Testator soll von den in Lübeck befindlichen 1100 Tlr. ausgerichtet werden, über die Nickel Grund Unterlagen hat; vgl. Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 30. TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Aa 42. Hellmuth Hellwig: Das deutsche Buchbinderhandwerk: Handwerks- und Kulturgeschichte.- Stuttgart: Hiersemann 1965, S. 162. Endel Valk-Falk: Eesti köitemeistrid 1495 -1900 [Buchbindermeister in Estland 1495-1900].- In: Renovatum (1992), S. 17-21, hier S. 21. Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 35; Revaler Stadtarchiv B. 31 [Nikolaikirche], V. 1, Nr. 3. Schwedisches Reichsarchiv in Stockholm, Kammerarchiv, Baltische Vogtenrechenschaften, F 365 Revaler Schloßvogt, 1591 -1592, [ohne Numerierung].

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Reval die hölzernen ABC-Blätter gedruckt haben. Adam Weiß hatte in seinem Küsteramt an der St. Nicolaikirche Probleme mit dem Kirchenvorsteher und wurde im Jahre 1592 entlassen. Doch wurde er bald in das gleiche Amt an der St. Olaikirche aufgenommen, wo er auch Unterricht an der ABC-Schule für die Stadtkinder hielt.33 Im Hinblick auf die Bücherpreise in Reval im 16. Jahrhundert ist festzustellen, daß die Druckkosten des ersten erhaltenen estnischen Buches, des niederdeutsch-estnischen Katechismus von 1535, dessen Auflage wegen der vielen Fehler in Reval verboten wurde und zu Makulatur verarbeitet werden sollte, genau bekannt sind. Ob es sich um dasselbe Buch handelt, das im Inventar des Buchführers Silvius a Betza unter zahlreichen anderen Katechismen als »ein bunt undeutschen Katechismen« angeführt ist,34 läßt sich heute nicht mehr feststellen. Über die Druckkosten in Wittenberg bei Hans Lufft geben die Angaben des Reformators Johannes Bugenhagen Auskunft: Das für 1500 Exemplare erforderliche Papier kostete 20 Gulden, das Drucken 16 Gulden; somit betrug der Herstellungspreis insgesamt 36 Gulden oder 222 Rigische Mark. In diesem Zeitraum entsprach eine Rigische Mark in der Rechnungseinheit für Reval 4 Ferdingen und 36 Schillingen.35 Zum Vergleich kann man die beiden teuersten Bucheinkäufe anführen: Im Jahre 1531 kaufte der Revaler Rat für zwei Prediger zwei viersprachige Bibeln (Chaldäisch / Hebräisch / Griechisch / Lateinisch); zusammen kosteten diese Bücher 100 Rigische Mark.36 Der erste estnische Katechismus kostete nach Berechnungen des Historikers Gunnar Mickwitz ungebunden etwa 15 Schillinge, doch sind hier die Kosten, die der Buchführer Giesebert Schepeler vom Revaler Rat für den Transport seiner Ware nach Reval verlangte, nicht einberechnet. Der Preis entspricht in etwa dem, was ein estnischer Bauer für den Verkauf eines Lofes (27 kg) Roggen erhielt.37 Insgesamt kostete ein estnischer Katechismus etwa 18 Schillinge. Denselben Preis mußte man damals in Reval auch für andere kleine ungebundene Drucke bezahlen, wie anhand der folgenden Beispiele zu sehen ist.

33 34

35 36

37

Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 35. Johansen: Wanradt-Koelli katekismuse senitundmatuist järglastest (Anm. 21), S. 4 3 3 - 4 3 4 . Mickwitz: Johann Selhorst (Anm. 10), S. 4 - 5 . Leonid Arbusow: Livlands Geistlichkeit vom Ende des 12. bis ins 16. Jahrhundert.- In: Jahrbuch für Genealogie, Heraldik und Sphragistik 1911/1913 (1914), S. 1 -432, hier S. 229; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Ad 32. Mickwitz: Johann Selhorst (Anm. 10), S. 5.

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Preise für ungebundene Bücher in Reval im 16. Jahrhundert:38 1. 2. 3. 4. 5.

ABC-Blätter für Holztafeln (ein »bredenes« ABC) (1575) Kleines Compendium ABC-Buch Philipp Melanchthons Kleine Grammatik und Syntax Undeutscher Katechismus (1576)

18 9 27 24 27

Schill. Schill. Schill. Schill. Schill.

Preise für gebundene Bücher in Reval im 16. Jahrhundert: 1. Eine chaldäisch-hebräisch-griechisch-lateinische Bibel 40 Mark / 60 Mark im Folio-Format (1531) 5 Mark 18 Schill. 2. Ph. Melanchthons Grammatik mit Wörterbuch und Katechismus 2 Mark 3. Philipp Melanchthons Rhetorica (1575) 5 Mark 4. Evangelium und Psalterium (1577) 5. Lateinisches Evangelienbuch (1567) 1 Mark 15 Schill. 6. Grammatik (1575) 2 Mark 7. Donatus (1576) 2 Mark 9 Schill. 8. Ducinarius (Grammatik) 3 Mark 27 Schill. 9. Terentius (1566) 3 Mark 10. Syntax Civilitate 2 Mark 12 Schill.

Im Vergleich dazu kosteten Waren des täglichen Bedarfs in den Jahren 1565-1580 in Reval: 1. Ein Paar Hosen für Schuljungen 2. Ohne Gage ein Hemd 3. Ein Paar Hosen, Strümpfe mit Hemd

1 Mark / 1 Mark 9 Schill. 2 Mark 18 Schill. 11 Mark 9 Schill. 39

Somit waren die gebundenen Bücher um das Zehnfache oder mehr teurer. Dabei muß man jedoch auch in Betracht ziehen, daß es sich hier um Bücher mit größerem Umfang handelt. Es war für einen Buchbinder günstig und gewinnbringend, in Deutschland gedruckte Bücher ungebunden nach Livland transportieren zu lassen und hier in gebundener Form selbst zu verkaufen. Daher erweiterte sich der hiesige Buchhandel, indem man die Bücher aus den Druckorten Deutschlands direkt auf >Commis in albis< bekam. Üblicherweise betrieben diese Tätigkeit die Buchbinder selbst, das bedeutete, Buchbinder waren gleichzeitig auch Buchhändler, und noch mehr: Sie wurden darüber hinaus Verleger, da sie ihr Geld an anderen Orten als Investition für Drucke der in Reval benötigten Schriften anlegten. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts besuchten verhältnismäßig viele fremde Buchführer die Stadt Reval, doch am Ende des Jahrhun38 39

TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Aa 25. Ebd.

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derts erlangten die ansässigen Buchbinder die vorherrschende Stellung im städtischen Buchgewerbe. Folgt man den Ausführungen Friedrich Kapps und Johann Goldfriedrichs, lagen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert alle drei buchgewerblichen Tätigkeiten - Druck, Buchbindung und Verkauf - in der Hand jeweils ein und derselben Person, da eine Tätigkeit allein zum Unterhalt nicht ausreichte. Somit konnte einerseits der Verdienst erhöht und andererseits ein offensichtlich vorhandener Bedarf gedeckt werden.40 Weil die geistlichen Institutionen keine eigenen Druckereien unterhielten, beschäftigten sich Geistliche in Weiterfuhrung der mittelalterlichen Tradition auch über die unmittelbaren kirchlichen Bedürfhisse hinaus mit Büchern. Der Kantor, in der katholischen Kirche der Kapellan oder Kaplan, in der lutherischen Kirche auch der Küster oder jemand anderes, der ein niedriges geistliches Amt wie Diakon oder Adjunkt innehatte, war häufig im Buchbinderhandwerk und im Buchhandel tätig. So war es auch in Reval. Der Kaplan und spätere lutherische Pastor Gert Kulemann, der am 28. November 1550 verstarb, war auch Buchbinder in Reval gewesen.41 Die Revaler Küster Adam Weiß, Christopher Elbing, Jürgen Puser und auch andere waren gleichzeitig ausgebildete Buchbinder. Das Handwerk eines Buchbinders war kostenintensiv, wie auch die handschriftliche Herstellung von Büchern. Obwohl die Buchdruckkunst den Herstellungsprozeß verbilligte und die Exemplarzahl verhundertfachte, behielt das Buchbinderhandwerk jedoch das hohe QualitätsNiveau bei. Die Buchbinder gehörten damals zur Schicht der gebildeten städtischen Bevölkerung, sie wurden manchmal auch an den Universitäten immatrikuliert, wodurch sie in den Genuß von deren Privilegien kamen. So ist beispielsweise Christopher Elbing (Halbig) in der Matrikel der Universität zu Frankfurt/Oder im Jahre 1583 zu finden, Johann Weiß war 1586 in Eisenach eingeschrieben.42 Im Revaler Buchgewerbe waren vom Anfang bis zum Ende des 17. Jahrhunderts etwa 20 Personen beschäftigt. Als erster ist Adam Weiß anzuführen, von dem bekannt ist, daß er die verheerende Pest des Jahres 1603 in Reval überlebte. Er verstarb am 3. Februar 1616 in Reval. Der aus derselben Generation stammende Buchbinder, Buchhändler und Verleger Christopher Elbing aus Celle, Küster an der St. Nicolai-Kirche, er40

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42

Friedrich Kapp, Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels. Bd. I-IV, Reg.-Bd.- Leipzig: Börsenverein der deutschen Buchhändler 18861923, Bd. 1(1886), S. 12. Paul Johansen, Heinz von zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval.- Köln, Wien: Böhlau 1973, S. 356. Aeltere Universitäts-Matrikeln I. Universität Frankfurt/Oder. Hrsg. von Ernst von Friedlaender. Bd. I-III.- Leipzig: Hirzel 1887, Bd. I: 1506-1648 (= Publikationen aus den Königlich Preußischen Staatsarchiven; 32), S. 300.

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lag jedoch dem > Schwarzen Tod< im Juli 1603 in Reval. Von ihm ist außerdem bekannt, daß er bis zum Jahre 1603 an die Stadt für seine Krambude bezahlte.43 Sein Nachlaßinventar enthält ca. 300 verschiedene Buchtitel in insgesamt 1100 Exemplaren. Unter diesen befindet sich ein Werk mit dem Titel Geistliche Lieder Henrici Fabr. Teutsch u. Unteutsch.H Dieses Buch war bisher unbekannt, und ein Exemplar ist nicht nachweisbar; zudem weiß man bis heute nichts über den Autor: War dieses Werk eine Übersetzung der Liederausgabe des Deutschen Heinrich Faber von Lichtenfels oder eine Ausgabe des estländischen Predigers Heinrich Fabricius?45 Christopher Elbing war der Verleger von Lambert Kemmerlings Kalendern und Prognostica. Diese Drucke bekam er in Reval von dem Magdeburger Buchdrucker Ambrosius Kirchner in albis,46 Der Buchbinder Jürgen Puser, der im Jahre 1587 in der Buchbinderzunft von Magdeburg registriert wurde, war anschließend Geselle bei Elbing in Reval. Im Jahre 1606 regelte er die Geschäftsbeziehungen und den Nachlaß Elbings und führte dessen Buchhandlung fort. Er starb in Reval am 3. Juni 1627.47 Sein Geschäft führte ein Sohn weiter, der Buchbinder und Buchkrämer Hans Puser, der im Jahre 1631 Revaler Bürger wurde. Hervorragende Buchhändler in Reval in der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren der bereits erwähnte Kantor, Organist und Buchbinder Adam Weiß und besonders sein Sohn Joachim Weiß. Letztgenannter versorgte nicht nur die Schulen und das Gymnasium mit Büchern, sondern verlegte auch selbst Schulbücher, was für ihn große Unkosten mit sich brachte. Sein Geschäft führten die Nachkommen in Reval weiter: der gleichnamige Enkel Joachim Weiß, der am 5. Mai 1681 in Reval verstarb, und der Großenkel Joachim Weiß (getauft am 16. August 1650 und verstorben am 6. Dezember 1693 in Reval).48 Zur gleichen Zeit wie Joachim Weiß senior führten in Reval Baltzer Hegelmüller, der um 1633-43 in Reval nachzuweisen ist, und der aus Tübingen stammende 43

TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Ad 66 (Kämmereibuch 1581-1612); ebd., Bestand 236 [St. Olaikirche], S. 1, 3 und 19. 44 Johansen, zur Mühlen: Deutsch und Undeutsch (Anm. 41), S. 356. 45 Liivi Aarma: Ring ümber eesti varasema trükisöna [Über frühere estnische Druckschriften].- In: Raamatukogu (1995), Nr. 2, S. 7. 46 Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 30 und 33-37. 47 TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bestand 31 [Nikolaikirche], Verz. 1, Nr. 4, S. 5. 48 TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bestand 236 [Olaikirche], S. 1 und 50. Das Revaler Bürgerbuch [Bd. Π:] 1624-1690 nebst Fortsetzung bis 1710. Hrsg. von Georg Adelheim.- Reval: Revaler Estn. Verlagsgenossenschaft 1933 (= Publikationen aus dem Revaler Stadtarchiv; 7), Nr. 406.; Hellmuth Helwig: Die Buchbinder in Reval von 1594-1785.- In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 8 (1966/67), Sp. 1325-1330, hier Sp. 1327; Puksoo: P. Tielman Hube (Anm. 2); TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bf 1.

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Joachim Pfiester ihre Geschäfte. Pfiester war Revaler Bürger und starb 1647, am 22. Mai des Jahres wurde er in Reval begraben. 49 Daniel Bismarck aus Magdeburg, verwandt mit deutschen Buchdruckern, wurde am 12. August 1653 Revaler Bürger und starb vor dem 19. Februar 1658 in Reval. 50 Nach dem Tod von Joachim Weiß senior führte der Buchbinder und Buchhändler in Reval und Narva Peter Tilemann, der am 10. Oktober 1648 in Reval seinen Bürgereid als Buchbindergeselle leistete, das gemeinsame Geschäft in Reval weiter. 51 In einem eigenhändig geschriebenen Brief schilderte er die Schwierigkeiten des Buchhandels in Reval in bezug auf fremde Buchführer, und im Jahre 1649 protestierte er zusammen mit Weiß gegen die Eröffnung einer ständigen Buchhandlung durch den Lübecker Buchhändler Lorenz Jauch. Tilemann selbst bestellte Kalender in verschiedenen Größen aus Deutschland und besaß Geschäftsverbindungen nach Wiborg und Nyen sowie nach Nürnberg zu den Brüdern Wolfgang und Andreas Endter. Im Jahre 1654 erhielt Tilemann in Narva eine größere Bestellung im Werte von 163 Rtl., die in einem Faß verpackt war. Die Sendung enthielt 37 Bücher, 400 Kalender und auch Papier für Buchbinderzwecke. Die Bücher waren zum größten Teil geistlichen Inhalts, darunter auch kostbare Bibelausgaben und historische Werke wie beispielsweise das von Merian illustrierte Theatrum Europaeum. Um 1660 bestellte Tilemann beim Lübecker Buchhändler August Johann Becker 1100 Exemplare von Kalendern aus Deutschland, freilich in verschiedenen Größen, und Schulbücher wie Rechenbücher und Grammatiken. 52 Auch mit Amsterdam pflegte Tilemann Handelsbeziehungen. Als Buchbinder, Archivarius und Bibliothecarius führte der um 1620 in Reval geborene Predigersohn schwedischer Herkunft Heinrich von Jürgky in Reval ein kleines Buchhandelsgeschäft. Er hatte Dorothee Balhorn, eine Verwandte der Lübecker Buchdruckerfamilie Balhorn, geheiratet und wurde im Jahre 1663 Revaler Bürger. Für 166 Rhst. war er in den Jahren 1666-67 damit beauftragt, die handschriftlichen Proto-

49

TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bf 30, Bestand 236 [Olaikirche]; Schwedisches Reichsarchiv, Livonica II: 51A. 50 Adelheim: Das Revaler Bürgerbuch Π (Anm. 48), Nr. 406; Helwig: Die Buchbinder in Reval (Anm. 48), Sp. 1327. 51 Adelheim: Das Revaler Bürgerbuch II (Anm. 48), Nr. 320; eigentlich Peter Tielmann Hube, geboren in Drontheim (heute Norwegen), gestorben in Reval um 1662. 52 Puksoo: P. Tielman Hube (Anm. 2), S. 522; Wilhelm Greiffenhagen: Geschichte der ehstländischen öffentlichen Bibliothek.- In: Beiträge zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands 4 (1894), S. 342-350, hier S. 344; Schwedisches Reichsarchiv, Livonica 51 B; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bi 152; Adelheim: Das Revaler Bürgerbuch Π (Anm. 48), Nr. 28.

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kolle des Revaler Rats aus den Jahren 1603-57 in Folio einzubinden. Er war ein Verwandter des berühmten schwedischen Astronomen Siegfrid Aronus Forsius und starb um 1693 in Reval. Forsius selbst hatte in Reval um 1593 sehr wertvolle, schöne Bücher gekauft.53 Aus Schweden stammte der Revaler Buchbinder und Buchhändler Erik Andersen, der im Jahre 1667 in Reval verstarb. Er kaufte im Jahre 1665 in Reval 250 Kalender. Sein Nachlaßinventar enthält etwa 2000 Bände.54 Der Buchbinder und Buchhändler Severin Thomassen, gebürtig aus Kolding/Jütland, führte wahrscheinlich Tilemanns Buchhandlung in Reval weiter. Thomassen, der 1665 das Revaler Bürgerrecht erwarb und im August 1680 in Reval begraben wurde, bestellte Kalender von Fuhrmann und erreichte, daß dem Buchdrucker Adolph Simon in Reval der Kalenderhandel verboten wurde. Eine Information in seinem Testament vom 16. Juli 1680 gibt Aufschluß über seine Beziehungen zum Buchhändler Heinrich Peck in Amsterdam: Seine Schulden sollten an den Buchftihrer Hinrich Pecks aus Amsterdam bezahlt werden, dessen nach Reval gelieferte Bücher verbrannt waren, ebenso wie das für den Erlös dieser Bücher gekaufte Getreide.55 Es gab noch viele weitere Personen, die sich zu jener Zeit in Reval mit dem Buchhandel beschäftigten. Größte Ambitionen hatte in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Reval der Buchhändler und schwedische Lizentverwalter Lorenz Jauch aus Lübeck, der von 1651 bis zu seinem Tode um 1680 in Reval tätig war. Jauch wurde Revaler Stadt- und Dorpater Universitätsbuchhändler und erwarb 1651 auch das Privileg fur den Handel mit Büchern in allen Städten Estlands und Finnlands.56 Als 53

Ebd., Nr. 697; Helwig: Die Buchbinder in Reval (Anm. 48), Sp. 1327; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bf 30; Terhi Pursiainen: Sigfridus Aronus Forsius pohjoismaisen renessanssin astronomi ja luonnon filosofi. Tutkielma Forsiuksen luonnonfilosofisista katsomuksista, lähteistä ja vaikutteista [Summary: Sigfridus Aronus Forsius. An Astronomer and Philosopher of Nature during the Nordic Renaissance. A Study in Forsius' Philosophy of Nature, its Sources and Origins].- Helsinki: Suomalaisen kiijallisuuden seura 1997 (= Suomalaisen kirjallisuuden toimituksia; 674), S. 151. 54 TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bf 37 und Bt 14. 55 Seeberg-Elverfeldt: Revaler Regesten ΠΙ (Anm. 24), Nr. 365-, S. 293-294; Katalog des Revaler Stadtarchivs. Hrsg. von Otto Greiffenhagen. 2. Aufl.- Reval: Estländische Druckerei Aktien-Gesellschaft 1924, S. 97; Puksoo: Raamatukauplemise oludest Tallinnas (Anm. 2), S. 2-4; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bi 101. 56 Lorenz Jauch war von 1652 bis 1658 Lizentbuchhalter in Reval. Vgl. Arwo Viljanti: Suomen ensimmäinen kiijakauppias. Piirteitä Laurentius Jauchiuksen toiminnasta Suomessa ja Baltiassa ww. 1642-1666.- Turku: Aura 1953; Werner von Schulmann: Die zivile Staatsbeamtenschaft in Estland zur schwedischen Zeit 1561-1710.- Coburg: Tageblatt-Haus 1940 (= Abhandlungen des

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Sohn des Lübecker Buchhändlers und Verlegers Samuel Jauch war er von 1642 bis 1655 Universitätsbuchhändler in Abo und in den Jahren 1650-1656 zudem Lieferant der Dorpater Akademie gewesen und hatte in Reval die Gründung der Buchbinderwerkstatt sowie einer Druckerei und Kupferstecherei geplant. In den 1660er Jahren erlangte der Buchdrucker Adolph Simon, der 1665 einen Prozeß mit den Buchbindern begann, eine herausragende Stellung. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung war ein Entscheid des Rates, der dem Buchdrucker erlaubte, neue Bücher ausschließlich ungebunden, antiquarische hingegen auch gebunden zu verkaufen; der Handel mit Kalendern blieb den Buchbindern vorbehalten. Daraufhin verschaffte Simon sich 1672 vom König ein umfangreiches Privileg als Buchdrucker, Verleger und Buchhändler, das jedoch auf Betreiben der Revaler Buchbinder bei der Regierung in Stockholm hinsichtlich des Buchhandels wieder annulliert wurde. Lorenz Jauch beendete seine aktive Tätigkeit als Buchhändler und betätigte sich fortan in der Papierindustrie in Reval. Mit ihm verwandt war der aus Rostock stammende Buchhändler in Reval und Kommissionär der Königsberger Universität Martin Hallervord.57 Der in Hamburg geborene Buchhändler Christian Guth übte als Bürger der Stadt Hamburg seine Tätigkeit von 1651 bis 1688 aus. Am 26. April 1679 erhielt er auch die Erlaubnis, ein Buchhandelsgeschäft in Reval für zehn Jahre zu führen. Schon sein Vater Martin Guth hatte Geschäftsbeziehungen nach Magdeburg zu Ambrosius Kirchner und über diesen auch mit Estland gepflegt. Im März 1678 war der Buchhändler Christian Guth mit seinem Diener Michael Zacharias sowie seinem Schwiegersohn Samuel Otto, einem Lübecker Buchhändler, in Reval verhaftet worden. Michael Zacharias war von Guth ausgebildet und dann nach Reval geschickt worden, hatte dort das Bürgerrecht und ein Buchhandelsprivileg erhalten. Am 8. Mai 1678 hatte er sich in Bürgermeister Strahlborns Haus zur Auslieferung der Bücher und Abrechnungen verpflichtet, war jedoch danach zunächst auf den Tönisberg, dann nach Narva und Pernau entwichen. Nach einem mißglückten Fluchtversuch beim Päsküllschen Kruge war er schließlich auf Befehl des Pernauschen Stadtkommandanten nach Reval gebracht worden, wo Samuel Otto mit Haftverschonung einverstanden war, wenn Zacharias besitzliche Bürgen beibringen könne.58 Instituts für wissenschaftliche Heimatforschung; 6) S. 147; Puksoo: Eesti raamatu arengulugu (Anm. 2 ), S. 12. 57 Benzing: Die deutschen Verleger (Anm. 16), Sp. 1156; Puksoo: Raamatukauplemisest rootsi ajal (Anm. 2), S. 89. 58 Roland Seeberg-Elverfeldt: Revaler Regesten. [Bd. I:] Beziehungen der Städte Deutschlands zu Reval in den Jahren 1500-1807.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1966 (= Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archiwerwaltung;

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Ein Geschäft führte in Reval darüber hinaus der Buchbinder und Buchhändler Heinrich Hakelmann, der seit 1676 Revaler Bürger war und großartige Verlagspläne hatte.59 Er hatte mit dem aus Ingermanland stammenden Chronikschreiber Thomas Hiärne kurz vor dessen Tod (1678) einen vorläufigen Verlagskontrakt geschlossen. Hiärne hatte ihm auch schon »die saur ausgearbeitete Chronica, vollständig geendet« zum Druck überliefert. Hakelmann seinerseits wandte sich nach dem Tode des Autors mit der Bitte um Unterstützung des Werkes an die estländische Ritterschaft, die auf dem Landtag im Februar 1679 resolvierte, daß das Buch »von etlichen dazu geordneten Herrn« erst revidiert werden solle, und bewilligte dafür 1 Rtlr. von jedem Pferde Roßdienst. Dieses Maß der Hilfeleistung ist vergleichbar mit dem Vertrieb der Chronik Balthasar Rüssows, deren Preis einer Roßdienstleistung entsprach.60 Doch konnte Hakelmann diese Pläne nicht verwirklichen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts führte außerdem der in Reval geborene Johann Habbe die Bezeichnung Ratsbuchhändler; er starb im Jahre 1680 in Reval. Ein Geschäft führte auch noch der Buchbinder Michael Hauswalt, wahrscheinlich ein Buchdruckersohn, der 1686 Revaler Bürger wurde.61

Vom verbreitenden zum herstellenden Buchgewerbe Unterscheidet man das - aufgrund fehlender Druckereien - lediglich verbreitende Buchgewerbe vom herstellenden Buchgewerbe, welches auf regionale Druckereien zurückgreifen kann, so begann letzteres in Estland mit der Gründung der Druckereien in Dorpat (1632) und Reval (1633). Im folgenden sollen die Auswirkungen dieser für den Buchhandel bedeutenden Veränderung betrachtet werden. Mit dem herstellenden Buchgewerbe entstand ein heftiger Kampf um eine günstige Position auf dem Buchmarkt. Die Einstellung der Buchbinder und Buchhändler zur einheimischen Druckereitätigkeit war zu-

22), Nr. 740, S. 330. Estnisches Historisches Archiv zu Dorpat, Bestand 2 [Archiv des Tallinner Burggerichts], Verz. 2, Nr. 638, S. 2-11: Buchbinder Christopher Gundmunsohn contra Buchhändler Michael Zacharias und Samuel Otto; Benzing: Die deutschen Verleger (Anm. 16), Sp. 1152; Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 64; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Aa 160, S. 235. 59 Geboren in Lübeck, gestorben nach 1686 in Reval. 60 Benzing: Die deutschen Verleger (Anm. 16), Sp. 1155; Adelheim: Revaler Bürgerbuch II (Anm. 48), Nr. 906; Johansen, zur Mühlen: Balthasar Rüssow (Anm. 3), S. 265. 61 Adelheim: Revaler Bürgerbuch II (Anm. 48), Nr. 1199; Helwig: Die Buchbinder in Reval (Anm. 48), Sp. 1327-1328.

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nächst durchaus positiv, denn sie waren der Meinung, daß es sehr günstig sei, wenn man die Bücher nicht über so große Entfernungen besorgen müsse. Die örtliche Buchherstellung verringerte die Gefahr von Schäden oder gar Verlust im Vergleich zur früheren Situation beträchtlich. Doch die Buchdrucker traten sogleich auch als Buchhändler hervor und bildeten auf diese Weise eine neue Konkurrenz. In Reval führten sämtliche Buchdrucker - Christoph Reusner,62 Heinrich Westphal, Adolph Simon, Christopher Brendeken - zugleich eine Buchhandlung. 63 Proportional zu einer größeren Produktion durch den Buchdrucker fielen jedoch um so mehr Buchbindearbeiten an, so daß die Buchbinder ebenfalls mehr Aufträge erhielten. Sowohl Buchdrucker als auch Buchbinder waren zur gleichen Zeit Buchhändler und Verleger. Der endgültige Preis der Bücher resultierte nicht allein aus dem Druck, sondern zu einem größeren Anteil aus der Arbeit des Buchbinders. Dieser Unterschied, der aus der folgenden Preisliste deutlich hervorgeht, veranschaulicht außerdem, warum zugleich mit dem herstellenden Buchgewerbe ein hartnäckiger Kampf zwischen Buchdruckern und Buchbindern entstand. Preise der von Buchdrucker Adolph Simon gedruckten Bücher in den Jahren 1672-1674 (ungebundene und mit Einband)64 Exemplar 1. Fibeln Estnisch Deutsch Schwedisch

Preis ungebund. Buch

Preis gebund. Buch

3,5 Schillinge 3,5 Schillinge

4 Weißrundstück 4 Wrst vergült mit Haken 8 Wrst 4 Wrst vergült mit Haken 7 Wrst kein gebund. Buch

3,5 Schillinge

2. Kleine Kalender Deutsch 3,5 Schillinge 3. Grosse Kalender « 4 Wrst 3 Schillinge 4. Katechismus Deutsch 1 Wrst 2 Schillinge Schwedisch 62

1 Wrst 2 Schillinge

5 Wrst vergült mit Haken 8 Wrst 5 Wrst

Kyra Robert: Christoph Reusner der Ältere. Revals Erstdrucker im 17. Jahrhundert.· In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Bd. I-IL- Tübingen: Niemeyer 1998 (= Frühe Neuzeit; 39), Bd. II, S. 813-821. 63 Eesti raamat 1525-1975. Ajalooline ülevaade [Zusammenfassung: Estnisches Buch 1525-1975. Historische Übersicht]. Hrsg. vom Autoren-Kollektiv: V. Miller, K. Robert, M. Lott u. a.- Tallinn: Valgus 1978, S. 38-42, 48-61 und 346; Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost (Anm. 2), S. 25, 31-32, 5259,62,64, 70 und 81. 64 TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bi 101, S. 25-25v; Estnisches Historisches Archiv zu Dorpat, Bestand 1 [Estländisches Generalgouverneursarchiv aus der schwedischen Zeit], Verz. 2, Nr. 356, S. 337.

Liivi Aarma

56 5. Vocabel Estnisch 6. Hand- und Hausbuch Estnisch

26 Wrst

39 Wrst

1 Rhst (auf Schreibpapier) 39 Wrst (auf Druckpapier) 1 Rhst 3 Wrst Schwedisch 1 Rhst 8 Rhst 7. Wittenberger Bibel mit Kupffer Deutsch 1 Rhst 8. Revalsches Gesangbuch " 2 Rhst 44 Wrst 9. Psalter Davids in Leder, ohne Haken 16

In den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts entsprach der Reichstaler 56 Weißrundstücken (Silberören, abgekürzt Wrst) oder 280 Schillingen (abgekürzt Schill.) Ein Weißrundstück entsprach 5 Schillingen. Adolph Simon druckte im Jahr 1672 ein Verzeichniß derer Bücher/ so in Reval bey Adolf Simon gedruckt/ nebst beygefiigten Taxt/ wie sie ungebunden an die Buchbinder verkaufft werden. Im Jahre 1674 fertigte er auch ein »Verzeichniß der Eingebundene Bücher, so Severin Thomas bereits zum anderen Mahl besehen und zum öfteren ein Inventarium davon bekommen«. 65 Am Ende des 17. Jahrhunderts waren in Reval Johann Mehner und Christian Trapp die namhaftesten Buchbinder, die sich zugleich mit dem Verkauf von Büchern befaßten. Im Jahre 1690 bat Johann Mehner um die Möglichkeit, seine buchhändlerische Tätigkeit bei der Dorpater Akademie zu erweitern. In früheren Jahren hatte er bereits die Schulen und Gymnasien in Reval, Dorpat und Narva mit Literatur versorgt. Mehner verlegte 1695 auch Christian Kelchs Livländische Historia.66 Der estnische Buchforscher Friedrich Puksoo vertrat die Meinung, daß der eigenständige Beruf des Buchhändlers, also nicht mehr nur als Nebenerwerb des Buchdruckers oder Buchbinders, sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildete,67 doch ist dies zu korrigieren. Es gab in Reval neben den buchhändlerisch tätigen Buchbindern und Buchdruckern immer auch reine Buchhändler wie Silvius a Betza, Lorenz Jauch, Michael Zacharias usw. Von dem regen Handel mit Büchern zur damaligen Zeit zeugen auch schöne und große Bibliotheken der Einwohner. Sie enthielten vielfältiges geistliches und weltliches Schrifttum aus Deutschland und Schweden. In den Revaler Nachlässen sind beispielsweise folgende Buchbestände dokumentiert:

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Estnisches Historisches Archiv in Dorpat, Bestand 1 [Estländisches Generalgouverneursarchiv aus der schwedischen Zeit], Verz. 2, Nr. 356, S. 337; TLA, Revaler Magistrat (Anm. 9), Bi 101, S. 29-30. Puksoo: Raamatukauplemisest rootsi ajal (Anm. 2), S. 95-97; Adelheim: Revaler Bürgerbuch II (Anm. 48), Nr. 1307; Eesti raamat 1525-1975 (Anm. 63), S. 52, 54 und 71. Puksoo: Eesti raamatu arengulugu (Anm. 2), S. 177.

Buchaustausch zwischen Deutschland und Reval/Estland

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um 1603: Bibliothek von Bartholomäus Bä(e)rner, Prediger der Revaler Nicolai- und Olaikirche, geboren in Meissdorf in Worms - 351 Bände um 1657: Bibliothek von Nicolaus Specht, Prediger der Revaler Nicolaikirche, geboren in Reval - 342 Bände, inkl. drei große Konvolute68 um 1657: Bibliothek von Martin Zahrenius, Prediger zu Halljal in Wierland - mehr als 250 verschiedene Bücher um 1684: Revaler Olaikirchen-Bibliothek - 1777 verschiedene Werke Zum Vergleich mit diesen Buchbeständen in Reval und Estland kann man die hervorragende Bibliothek des bekannten schwedischen Adligen Hogenskield Bielke heranziehen, die am Ende des 16. Jahrhunderts ungefähr 400 Bände gedruckter und ungedruckter Bücher (Handschriften) umfaßte.69 Es zeigt sich also, daß die Bestände in Estland aufgrund des regen Buchhandels durchaus beachtlich waren.

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Kyra Robert: Nicolaus Specht ja tema raamatupärand Eesti Akadeemilises raamatukogus [Referat: Nicolaus Specht and his Heritage of Books in the Estonian Academic Library].- In: Keel ja Kirjandus (1997), H. 9, S. 614-617 und 648. Vgl. auch den Beitrag von Kyra Robert in diesem Band. 69 Hogenskild Bielke's Library. A catalogue of the famous 16th century Swedish private collection. Reconstructed and comp, by Wolfgang Undorf.- Uppsala: Acta Universitatis Upsaliensis 1995 (= Uppsala Universitetsbibliothek: Acta Bibliothecae Regiae Universitatis Upsaliensis; 32).

Tiiu Reimo

Das Druck- und Verlagswesen in Reval in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Im Nordischen Krieg verlor Schweden seine baltischen Provinzen Estland und Livland an Rußland. Der zwei Jahrzehnte andauernde Krieg zerstörte die einheimische Wirtschaft und den Handel, der großen Pest fielen 70 % der Bevölkerung der Provinzen zum Opfer. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts normalisierte sich die wirtschaftliche Lage, und auch das kulturelle Leben begann sich wieder zu erholen. Die früheren engen Verbindungen mit Deutschland wurden wiederhergestellt und entwickelten sich weiter. Der Estländischen Ritterschaft und dem Revaler Rat gelang es, ihre ehemaligen Privilegien und das Recht der Geschäftsausübung in deutscher Sprache zu erhalten. Die Nachkommen des einheimischen deutschbaltischen Adels und der Intelligenz studierten an den Universitäten in Deutschland. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erweiterte sich die Immigration der deutschen Intellektuellen und Handwerker bedeutend, da die baltischen Provinzen nach den Kriegsverlusten und der grassierenden Pest eine günstige Gelegenheit für Geschäft und Karriere boten. Daraus resultierend orientierten sich Intelligenz und Adel an der deutschen Kultur; wesentlichen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung hatten religiöse Bewegungen, speziell der Pietismus und die Herrnhuter Brüdergemeine, sowie die in den baltischen Provinzen auftretende Aufklärungs-Philosophie nach deutschem Vorbild. Mit der Volksaufklärung wuchs die Bedeutung der gedruckten Schriften erheblich. In dieser Zeit gliederte sich die Bevölkerung Estlands nicht nur in die verschiedenen ständischen, sondern auch in verschiedene Sprachgruppen. Die Sprache des Adels, der gebildeten Stände und der Stadtbürger war deutsch, die Sprache der Bauern hingegen estnisch. Über viele Jahrhunderte bezeichneten sich die Esten selbst als >maarahvas< - das > Landesvolk luftigeres < Gesamtbild des Buches. Mit einem Drucksatz wurden vermutlich bis zu 4000 Exemplare gedruckt. Auf dieser Grundlage wurden die Verträge der Estnischen Bücherverlagskasse mit den Druckern in Bezug auf das Setzen eines Bogens abgeschlossen. Im Vertrag für das 1771 bei Lindfors gedruckte deutschsprachige Gesangbuch heißt es: »Er [Landgraff] bestimmte für Satz und Druck per Bogen auf 4000 Exemplaria 7 Rubel«.29 Bei der 29

TLA, B. 230, V. 1, A. Bf 78 Π, Bl. 87.

Das Druck- und Verlagswesen in Reval

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1779 gedruckten estnischsprachigen Predigtensammlung wurde für Papier, Satz und Druck eines Bogens mit der Estnischen Bücherverlagskasse ein Vertrag auf 16 Rubel für 4000 Exemplare geschlossen.30 In dem mit Iversen und Fehmer geschlossenen Vertrag für das estnische Neue Testament ist die Auflagenhöhe ebenso auf 4000 Exemplare festgesetzt.31 Bei neuem Satz wurden oft Vignetten und Druckleisten ausgetauscht. Die Veränderungen im Satz sind besonders beim Druck der in hoher Auflage erschienenen estnischsprachigen Haus- und Kirchenbücher zu bemerken. Zum Beispiel haben wir vom 1793 erschienenen Katechismus-Teil des Handbuches vier verschiedene Varianten, die unterschiedliche Vignetten auf dem Titelblatt oder im Kopftitel aufweisen. Vom Teil Evangelien und Episteln in derselben Auflage gibt es drei Varianten; unter den geistlichen Liedern, die zum Gesangbuch-Teil gehören, finden wir zwei Varianten mit unterschiedlichen Vignetten. Bei Gymnasialprogrammen und Reden - deren Auflagenhöhe 300 bis 500 Exemplare betrug - schwankte der Preis für Satz und Druck je nach dem Umfang zwischen 2 und 5 Rubeln. Für Satz und Druck von 400 Exemplaren des Programms des Gymnasialrektors Friedrich Gustav Arvelius beispielsweise, das 1792 im Quartformat auf 1 Vi Bogen gedruckt wurde, zahlte man 5 Rubel.32 Das im selben Jahr in Quartformat gedruckte Programm von Professor Johann Jakob Reutlinger kostete hingegen 3 Rubel.33 Die Programme und Reden von gewöhnlich einem Bogen anläßlich der Geburts- und Namenstage des Zaren kosteten 2 Rubel.34 Der Preis für gedruckte Steuerscheine und Formulare für den Stadtrat betrug 1,50 bis 2 Rubel.35 Wie man Drucktypen und Vignetten fast ohne Ausnahme aus Deutschland bestellte und einführte, wurde auch Papier aus sehr verschiedenen Ländern beschafft, aber ebenso die einheimische Produktion genutzt. Die Erzeugung der im Jahre 1730 angelegten Papierfabrik in Rappin (estn. Räpina), die nach Urteil von Peter Friedrich Körber »doch nicht hinreichend, von kleinem Formate und sehr mittelmässiger Bonitaet« war,36 konnte weder den Bedürfnissen der Druckereien noch den Wünschen der Besteller nachkommen. Deswegen war es nötig, hochwertiges Papier aus dem Ausland zu bestellen. Qualitätspapier kostete viel mehr, weil die Transportkosten hinzugerechnet werden mußten; dadurch 30 31 32 33 34 35 36

TLA, B. 874, V. 1, A. 9, Bl. 2. Ebd., A. 5, Τ. 1, Bl. 35. TLA, B. 230, V. 1, A. Bf 78 I.B1.26. Ebd., Bl. 25. Ebd., Bf 78 I, Bl. 18 und 20; Bf 78 II, Bl. 101. Ebd., Bl. 20. Peter Friedrich Körber: Patriotische Gedanken und Vorschläge über die Cultur der Naturgeschichte in Ehstland.- Reval: gedruckt mit Lindforsschen Schriften 1783, S. 39.

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wurde der Preis von Druckschriften beträchtlich erhöht. Günstiges und hochwertiges Papier war ein Grund, warum die Autoren ihre Werke bei Gelegenheit im Ausland drucken ließen. Um den Preis eines Buches zu differenzieren, wurde ein und dasselbe Buch auf unterschiedliches Papier gedruckt. Die Auswahl des Papiers hing vom Wunsch der Kunden ab. In allen Einzelheiten ist dies bei der neuen Ausgabe des deutschsprachigen Gesangbuches beschrieben. Das Revalsche Stadt-Ministerium stellte fest, daß Rappiner Papier, mit dem in Reval auch Lindfors selbst handelte,37 am billigsten war, 7 Rubel pro Ballen, aber nach Ansicht des Faktors war »es schlechtes, braunes und diefes Papier«, daher wurde nach Papierproben aus Fabriken in Deutschland gefragt. Zuletzt wurde zugunsten der Papierfabrik bei Riga entschieden und mit dieser 1768 ein Vertrag zum Kauf von 50 Ballen Papier zum Preis von 10 Rubeln und 50 Kopeken pro Ballen geschlossen. Für einen Teil der Exemplare wurden aus Holland 74 Ries dünnes Briefpapier bestellt. Ungefähr 200 Exemplare wurden auf dem Rappiner Papier gedruckt, um das Buch für ärmere Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen.38 Laut des mit dem Rat geschlossenen Vertrages war die Stadtbuchdruckerei verpflichtet, Ratsverordnungen und -befehle, amtliche Ausgaben der Gouvernementsregierung, Gymnasialprogramme und Reden der Professoren zu drucken. Dafür erhielt der Drucker ein bestimmtes jährliches Gehalt teils von der Stadt, teils von der Generalgouvernementsregierung.39 Im Jahre 1716 bezahlte der Rat dem Drucker 25 Rubel,40 und sein Gehalt blieb bis zum Ende des Jahrhunderts unverändert, wie ein vom Jahre 1798 erhaltener Vertrag zwischen dem Rat und Carl Johann Gottfried Minuth bestätigt, in dem es heißt, Dass dem Buchdrucker Minuth für die an die Stadt Kanzelley übernommene Lieferung der zehn Exemplare von allen in der Druckerey gedruckten Ukasen, Placaten und Verordnungen, von dem Ersten Februarii d. J. ab, fünf und zwanzig Rubel jährlich ausgezahlt werden solle. 41

Auch war zwischen dem Buchdrucker und der Gouvernementsregierung vertraglich besonders vereinbart, daß die Druckerei deutsche Übersetzungen von > Nachlassen < und Verordnungen des Zaren und des Senats zu drucken hatte.42 Überdies stand dem Drucker eine freie Wohnung in

37

Treumann: Mönda Eesti Raamatute Kirjastuskassa arhivaalide lehekülgedelt (Anm. 2), S. 103. 38 TLA, B. 230, V. 1, A. Bf 78 II, Bl. 84-89. 39 Friedrich Puksoo: Jacob Johann Köhler. Esimese Eesti piibli trükkal.- In: Vana Tallinn 4 (1939), S. 5-34, hier S. 12. 40 TLA, B. 230, V. 1, A. Bf 78 II, Bl. 4. 41 Ebd., A. Bf 78 I, Bl. 29. 42 EAA, B. 29, V. 1, A. 6, Bl. 46.

Das Druck- und Verlagswesen in Reval

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den Räumen des ehemaligen Klosters zu, in dem auch das Gymnasium untergebracht war; darüber hinaus war er von den städtischen Steuern befreit.43 Aus den dem Rat eingereichten Quittungen bzw. den darin vorhandenen Bemerkungen über den Geldempfang ist zu ersehen, daß für die übrigen Arbeiten nach gesonderten Rechnungen bezahlt wurde. Am Kopf einiger Quittungen stand »Vor einem Hochedelen und Hocherweisen Magistrat ist in der hiesigen Kayserl. privilegirten Buchdruckerey folgendes gedruckt worden«, am häufigsten sind einfache Scheine mit dem Titel »Nota!« - neben Rechnungen für den Druck auch andere Forderungen für die dem Rat geleisteten Dienste, wie beispielsweise die Versorgung mit Briefpapier und den Druck von Quittungen. Die speziell für das Gymnasium gedruckten Ausgaben kommen meistens in den Rechnungen an die Stadtkasse vor. Im Revaler Stadtarchiv gibt es einige Rechnungen, die nur für das Gymnasium bestimmt waren: Das Gymnasium hatte laut Verordnung vor allem Programme anläßlich des Geburtsund Namenstages des Zaren (20. April und 23. November) sowie Lektionskataloge, Reden der Professoren, Programme und Einladungen zu drucken. Für den Stadtrat wurden Ratsverordnungen (Eines [...] Raths der [...] Stadt Reval [...] Ordnungen nebst der Taxa 1775 und 1798; Strassenverordnung 1784), Befehle und Bekanntmachungen (Publicata) gedruckt; darüber hinaus auch diverse Formulare, Preislisten, Eintrittskarten und Quittungsbücher, ζ. B. im März 1779 20 Exemplare der Monats-Taxe zu 35 Kopeken,44 im November 1788 zehn Quittungsbücher der Stadtkasse,45 im Dezember 1786 vier Bücher Tabellen für das Bürgerbuch. Überdies beschaffte die Stadtbuchdruckerei für den Magistrat Papier: hauptsächlich Briefpapier verschiedener Größe, im Oktober 1787 aber drei Ries Rappiner Papier zu 2 Rubeln pro Ries.46 Die Verlagstätigkeit befand sich im 18. Jahrhundert noch in der Entwicklungsphase. Sowohl die Drucker als auch die Verfasser und die Behörden verlegten ihre Schriften selbst. Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern bildete sich die Institution der Buchhändler-Verleger heraus, und die ersten Verlage wurden gegründet. Die estnischsprachigen Kirchenbücher wurden hauptsächlich durch die im Jahre 1721 gestiftete und seit 1733 unter der Leitung des Konsistorialkollegiums stehende Estnische Bücherverlagskasse verlegt: Diese gab die zweite Auflage der estnischsprachigen Bibel (1773) und der estnischsprachigen Predigtsammlungen (1779 und 1791) heraus. Für den Druck der zweiten Ausgabe der estnischen Bibel wurde am 4. März 1771 43

44 45 46

Friedrich Puksov: Die Buchdrucker Brendeken in Estland.- In: Gutenberg Jahrbuch 9 (1934), S. 199-207, hier S. 199. TLA, B. 230, V. 1, A. Bf 78 II, Bl. 100. Ebd., A. Bf 78 I, Bl. 23. Ebd., Bl. 21.

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ein Vertrag mit der Stadt- und Gymnasial-Buchdruckerei geschlossen. Als Lohn wurden 2464 Rubel gezahlt, davon 2440 Rubel fur die Kosten der Druckerei und 24 Rubel »Discretion für Gesellen«.47 Für die Anzeige und Abonnementsquittungen der estnischsprachigen Bibel wurden zusätzlich 7 Rubel 50 Kopeken bezahlt.48 Am 6. Juli 1777 Schloß die Estnische Bücherverlagskasse einen Vertrag mit Lindfors d.J. über den Druck der estnischsprachigen Predigtsammlung. Durch den Vertrag verpflichtete sich die Druckerei, um Michaelis des Jahres 1778 4000 Exemplare auf dem von der Druckerei gekauften Druckpapier und 200 Exemplare auf dem von der Verlagskasse beschafften Briefpapier zu drucken. Druckpapier, Satz und Druck eines Bogens kosteten 16 Rubel, das Drucken von 200 Exemplaren auf Briefpapier 40 Rubel. Gleich nach der Vertragsunterzeichnung wurden 800 Rubel in Silbermünzen ausbezahlt, so konnte der Drucker seine Arbeit sogleich beginnen und eine Subskription organisieren.49 Diese Summe wurde auch im Kontobuch der Verlagskasse eingetragen. Für den Druck der zweiten Ausgabe der Predigtensammlung Schloß die Verlagskasse durch Philipp Christian Moier am 7. März 1790 einen Vertrag mit Lindfors' Witwe. Laut dieses Vertrages mußte die Druckerei um Johannis des Jahres 1791 2000 Exemplare auf Druckpapier drucken, wobei der Preis für einen Bogen Papier inklusive Satz und Druck auf 11 Rubel festgelegt wurde. Dabei mußte die Druckerei einen Probebogen auf dem gewähltem Papier vorlegen; der Probebogen wurde mit dem Siegel versehen und deponiert. So war es möglich, bei der Übergabe des Buches das Papier zu vergleichen. Da in diesem Vertrag eine Klausel wie im vorhergehenden Vertrag fehlte, bekam Lindfors' Witwe gleich nach der Vertragsunterzeichnung nur ein Drittel vom Preis, nämlich 300 Rubel in Silbermünzen. Das zweite Drittel konnte die Druckerei erhalten, wenn die Hälfte der Auflage gedruckt war, das letzte Drittel aber bei Übergabe der Gesamtauflage. Neben der Unterschrift von Lindfors' Witwe steht auf dem Vertrag auch der Namenszug des Kurators Joachim Rudolph Hippius.50 Über die in der Revaler Stadt- und Gymnasialdruckerei herausgegebenen Schriften ist anhand der Produktionsberichte eine Übersicht zu bekommen. Daraus ist zu ersehen, daß die Druckerei selbst deutschsprachige Gesangbücher, estnischsprachige Haus- und Kirchenbücher, estnisch-, deutsch-, finnisch- und schwedischsprachige Fibeln und Katechismen sowie estnisch- und deutschsprachige Kalender verlegte. Ebenfalls sind Werke anderer Autoren verlegt worden.

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TLA, B. 874, V. 1, A. 5, Bl. 85. Ebd., Bl. 84 [General-Conto der Ehstn. Bibel], Ebd., A. 9, Bl. 2-3. Ebd., A. 9, Bl. 50-51.

Das Druck- und Verlagswesen in Reval

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Der älteste Bericht stammt vom 27. Oktober 1772 und enthält 21 Werke, die alle nach der Bestätigung des Privilegs gedruckt wurden.51 Auf der Liste befinden sich sowohl in der Druckerei verlegte als auch auf Bestellung vorgelegte Arbeiten. Im Verzeichnis gibt es vier estnischsprachige Bücher: das Haus- und Gesangbuch, die Bibel, den Katechismus und Hansu ja Mardijutt (laut Verzeichnis »ein Ehstnisch gespruch zwisch. Hans und Mard«). Bei letzterem handelt es sich um ein DuodezBüchlein von 3 Vz Bogen, über dessen Druck bisher keine Angaben vorliegen; man weiß lediglich von einem defekten Exemplar des Buches vom Jahre 1739. Neben dem estnischsprachigen Katechismus sind dort auch ein finnisch- und schwedischsprachiger Katechismus sowie zwei deutschsprachige Katechismen notiert. Die deutschsprachige Unterrichtsliteratur wird noch ergänzt durch den Wohleingerichteten LeseSchlüssel (im Verzeichnis gekürzt »lese schlüssell«) und das acht Bogen starke Spruch Büchlein für Kinder, auf alle Sonn- und Festtage. Im Verzeichnis waren auch eine Philosophie für Anfönger und ein Kompendium der Metaphysik für Anfönger zu finden, zwei Werke des GymnasialPhilosophieprofessors Ernst August Wilhelm Hörschelmann, wobei sich das letztgenannte Buch noch in Drucklegung befand. Es folgen im Verzeichnis die Sammlung einiger Schulreden (1771) von Johann Gottlieb Willamow, Inspektor der Peter-Schule zu St. Petersburg, die Tragödie Jane Shore (1771) von Nicholas Rowe, die Dritte Kantzelrede von der Rechtmässigkeit der Blattereinimpfung in Ansehung der Pflichten gegen Gott von Pastor Joachim Christian Grot und Deo duce justum examen quaestionis: an creatio et conservatio mundi ceteraeque operationes Dei transeuntes mutationem quandam in Deo efficiant? (1772) von Pastor Albert Magnus Haller, eine Abhandlung von der Pest (1771) von Peter Friedrich Körber, eine Unterweisung zur Glücklichseligkeit nach der Lehre Jesu (1772) von Johann Samuel Diterich und die Trauerrede des Pastors von Wolde (estn. Valjala) Johann Heinrich Schmidt anläßlich des Todes des Landmarschalls Hermann Gustav von Weymarn (1771). Neben der Zeitung Revalsche Wöchentliche Nachrichten ist als eine zweite periodische Schrift die 26 Oktavbogen starke St. Petersburger Zeitschrift Spaziergänge verzeichnet. Der deutschsprachige und der estnischsprachige Kalender sind im Verzeichnis jedoch nicht notiert. Im Verzeichniß dererjenigen Bücher, welche in der Kayserl. priviligirten Lindforsischen Buchdruckerei in Reval gedruckt und verlegt werden vom Jahre 1775 sind als Verlagsartikel sieben deutschsprachige Bücher genannt:52 das Revaler Gesangbuch, Die Lehre Jesu, der Frankfurter Katechismus und derselbe mit einem Anhang Ordnung des Heils in zwei

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Latvijas Valsts V6stures Arhivs, Riga [Historisches Staatsarchiv Lettlands in Riga], B. 4038, V. 2, A. 1640, Bl. 639-640. EAA, B. 3, V. 1, A. 374j. Bl. 1.

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Ausgaben (Oktav und Sedez), der Leseschlüssel und ein Spruchbuch. An estnischsprachigen Drucken gibt es im Verzeichnis gleichfalls sieben: das Gesangbuch, den großen Katechismus, den kleinen Katechismus, den kleinen Katechismus mit Auslegung, ein Buch mit dem deutschsprachigen Titel Ordnung des Heils, das nach Angaben von Vello Helk den estnischsprachigen Titel Jummala nou innimesse iggawessest önnistusest tragen soll, ein »Auszug aus der Bibel«, vermutlich der erste Teil des Buches Jummala surest Teggudest Ma-ilma peäl von Johann Christoph Henckel, erschienen im Jahre 1774, und das bereits aus dem Verzeichnis vom Jahre 1772 bekannte Hansu ja Mardijutt, das in deutscher Sprache unter dem kurzen Titel »Bauergespruch« notiert ist. Verlagsartikel der Druckerei waren auch ein schwedischsprachiger Katechismus und die finnischsprachige Bibel in großem Quartformat, die sich noch in Drucklegung befand und erst im Jahre 1777 erschien. Auch diesmal ist im Verzeichnis weder der estnischsprachige noch der deutschsprachige Kalender notiert. Neben den in der Druckerei herausgegebenen Büchern sind in der zweiten Spalte die in der Druckerei in den Jahren 1771 bis 1775 gedruckten Bücher angegeben. Es sind 16 Werke, bei denen meistens der Titel und das Erscheinungsjahr, manchmal auch der Autor genannt ist. Das Verzeichnis vom Jahre 1783 trägt den Titel »Verzeichniss derer Bücher, so ich [...] unterbenannten dato eingereichet habe«.53 Aus dem 1775 herausgegebenen Verzeichnis sind hier erneut die deutschsprachigen Bücher Frankfurter Katechismus, Luthers kleiner Katechismus, Leseschlüssel und Spruchbuch genannt; hinzugefugt wurden eine Fibel sowie sogenannte > domische Catechismi Landrolle Domschule < wurde die >Akademische Ritterschule < oder >Ritterakademie Akademie < die Rede war, sondern nur noch von einer > Schule realen < Einschlag. Damit war die Revaler Domschule als >Estländische Ritter- und Domschule < eine Eliteschule geworden; ihre Zöglinge leisteten einen großen Beitrag zur Entwicklung der estnischen Kulturgeschichte.13 Im Laufe der Schulreform zu Anfang des 19. Jahrhunderts entstand in den Städten Estlands in den Jahren 1804/05 ein Netz öffentlicher Schulen, zu dem von nun an auch die Revaler Domschule als gymnasiale Lehranstalt, den Gouvernementsgymnasien Revals und Dorpats gleichgestellt, gehörte. Die damalige Estländische Ritter- und Domschule unterstand unmittelbar dem Kurator des Lehrbezirks, wurde jedoch von der Estländischen Ritterschaft unterhalten. In dieser Privatlehranstalt gab es fünf Klassen und acht hauptamtliche Lehrer. Ihre Zöglinge erhielten die

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Pabst, Croessmann: Beiträge (Anm. 3), S. 41 -46. Eesti kooli ajalugu. Hrsg. von Ferdinand Eisen. Bd. I: Eesti kooli ajalugu 13. sajandist 1860. aastateni.- Tallinn: Valgus 1989, S. 246-247.

Die Bibliothek der Domschule zu Reval

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gleiche Bildung wie Gymnasiasten und das Recht, nach Absolvierung der Domschule in die Universität einzutreten.14 In den Jahren 1842-44 wurde auf dem Domberg ein neues Schulgebäude im zeitgenössischen Stil fertig, das Anfang des Jahres 1845 eingeweiht wurde. Beständig verbesserte sich die Versorgung mit Literatur, Lehrmitteln und Inventar.15 Obwohl die mit den Gymnasien gleichgestellten Schulen von amtlicher Seite nicht mehr als Stätten gelehrter Forschung galten, bewahrte die Lehrerschaft der Domschule die Tradition der >wissenschaftlichen< Arbeit noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damit wurde die Estländische Ritter- und Domschule neben dem Revaler Gymnasium zu einer natürlichen Basis für die 1842 gegründete Estländische Literarische Gesellschaft, unter deren Mitgliedern die Lehrer einen großen Anteil bildeten und sich aktiv mit der Erforschung der Geschichte der Baltischen Länder beschäftigten.16 Per Gesetz wurde im Jahre 1887 in allen Schulen Russisch als Lehrsprache eingeführt. Da die Domschule den Übergang zum russischsprachigen Unterricht aufzuschieben oder die Erfüllung des Gesetzes gar zu umgehen versuchte, unterzeichnete der Zar am 27. Juli 1889 den Entschluß des Staatsrates, die Estländische Ritter- und Domschule in Reval binnen drei Jahren zu schließen. Infolgedessen beendete die Domschule 1892 ihre Tätigkeit.17 Als im Jahre 1906 die Genehmigung zur Gründung muttersprachlicher Privatschulen erteilt wurde, ergriffen in erster Linie die estländischen Deutschen diese Möglichkeit. So wurde im Jahre 1906 die frühere Revaler Domschule von neuem als ein Privatgymnasium für Jungen mit dem Status eines öffentlichen Gymnasiums eröffnet. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 geriet die Leitung der Domschule in große Schwierigkeiten, denn in Rußland herrschten deutschfeindliche Stimmungen, die systematisch geschürt wurden. Der Unterricht konnte jedoch fortgesetzt werden. Eine ernstere Gefahr für die Tätigkeit der Domschule erwuchs aus den Revolutionen in Rußland im März und Oktober 1917. Die Oktoberrevolution brachte die Abschaffung der Stände und eine starke Nationalisierung mit sich. Anfang 1918 kam es wegen der unruhigen Zeiten zu kürzeren Unterbrechungen in der Arbeit der Schule. Im November 1918 begann der Freiheitskrieg, an 14

Allan Liim: Keskharidus Eestis 19. sajandi kahel esimesel aastakümmel.- In: Nöukogude kool 1 (1975), S. 78-82. 15 Die Einweihungsfeier des neuen Classengebäudes der Ehstländischen Ritterund Domschule am 24. Januar 1845.- Reval: Lindfors Erben 1845, S. 1-52. Heute befindet sich in diesem Gebäude eine Ballettschule (Toomkooli-Str. 11). 16 Tallinna ajalugu 19. sajandi 60-ndate aaste algusest 1965. aastani. Hrsg. von Raimo Pullat.- Tallinn: Eesti Raamat 1969, S. 89. 17 Allan Liim: 19. sajandi 80. aastate koolireform Baltimaadel ja keskhariduskoolid.- In: Nöukogude kool 5 (1974), S. 433-437.

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Kaja Tiisel

dessen Kämpfen sich auch die älteren Schüler der Revaler Domschule beteiligten. Die Estländische Ritterschaft, die über anderthalb Jahrhunderte die Domschule geleitet und unterstützt hatte, wurde im Jahre 1920 per Gesetz aufgehoben. Zur Zeit der Estnischen Republik setzte die Domschule ihre Arbeit als deutsches Privatgymnasium unter verschiedenen Namen fort. In allen Fächern erfolgte der Unterricht in deutscher Sprache. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die sogenannte > Umsiedlung < der Deutschbalten nach Deutschland im Herbst 1939 bedeuteten auch das Ende der mehr als 600jährigen Tätigkeit der Revaler Domschule. Am 11. Oktober 1939 versammelten sich die Lehrer und Schüler der Domschule zum letzten Festakt in der Aula der Schule, wo an die ruhmreiche Vergangenheit erinnert und der unsicheren Zukunft gedacht wurde.18 Parallel zur Schließung der Domschule wurden auch die Stützen der deutschbaltischen Kultur in Tallinn aufgelöst. Den unmittelbarsten Einfluß auf die estnische Kultur übte die Domschule wahrscheinlich über die Entwicklung der estnischen Schriftsprache und Volksbildung aus. Die bedeutendsten Namen sind hier Vater und Sohn Forselius aus dem 17. Jahrhundert sowie Eduard Ahrens, der Begründer der neuen estnischen Schriftsprache, der die Schule 1811-19 besuchte; für das Ende des 19. Jahrhunderts ist der Schulmann Friedrich Eduard Kentmann zu nennen.19 Beim Aufstieg Rußlands zur Seemacht im 19. Jahrhundert spielte der Einfluß der Revaler Domschule eine wesentliche Rolle. Der Anteil der Zöglinge der Schule an den damaligen Reisen um die Welt war bemerkenswert. Die erste russische Reise um die Welt in den Jahren 1803 1806 leitete Adam Johann von Krusenstern. Von den 16 Schiffsoffizieren dieser Reise stammten sieben aus Estland, die auch ehemalige Schüler der Domschule waren, unter ihnen zum Beispiel Otto von Kotzebue und Fabian Gottlieb von Bellingshausen.20 Von ehemaligen Schülern der Domschule wurde auch eine bemerkenswerte Zahl an geographischen Werken über Festlandexpeditionen verfaßt. Die bekanntesten Geographen aus der Tallinner Domschule sind Karl Ernst von Baer und Alexander Theodor von Middendorff.21 Die Revaler Domschule besaß eine reichhaltige, gut ausgewählte Bibliothek, zu der spätestens im Jahre 1727 der Grund gelegt worden war. Im selben Jahr wurde Johann Friedrich Becker aus Gera, der im Jahre 1726 18 19

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Thomson: Geschichte der Domschule (Anm. 10), S. 89, 102-114, 126, 130. Maie Remmel: Tallinna Toomkool - suurmeste kasvulava.- In: Horisont 1 (1990), S. 20-21. Dies.: Krusenstern ehk Eestimaalt globaalpoliitikasse.- In: Horisont 2 (1990), S. 27-30. Dies.: Tallinna Toomkool (Anm. 19).

Die Bibliothek der Domschule zu Reval

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als > Kollege < an die Domschule gekommen war, als Bibliothekar angestellt.22 Folglich existierte schon damals eine Bibliothek, die offensichtlich so umfangreich war, daß die Anstellung eines Bibliothekars erforderlich wurde. Hierbei muß daran erinnert werden, daß die Schule nach dem verheerenden Nordischen Krieg und der Pest erst im Jahre 1724 wiedereröffnet werden konnte. Es ist anzunehmen, daß - wenn überhaupt - nur wenige Bücher aus der Zeit vor dem Krieg erhalten waren, denn 1684 wurde bei einem Großbrand auf dem Domberg auch das Gebäude der Domschule vernichtet. 1691 wurde zwar das neue Schulhaus eröffnet, und man konnte den Unterricht abermals beginnen, doch bis zum Ende des Nordischen Krieges führte die Schule ein kümmerliches Dasein.23 Durch die Bemühungen des pietistisch gesinnten Oberpastors der Revaler Domkirche seit 1724, Christoph Friedrich Mickwitz, der dann auch Kurator der Domschule wurde, konnte der Unterricht in der Domschule wieder aufgenommen werden. Es ist anzunehmen, daß auch die Bibliothek der Domschule auf Initiative und unter Mithilfe von Mickwitz entstand und sich anfangs unter seiner Aufsicht entwickelte, da die Pietisten die Kenntnis der Heiligen Schrift und deren Verbreitung hoch schätzten. Ob die Domschule aber in früheren Zeiten eine Büchersammlung besaß, ist unbekannt, aufgrund des Bedarfs an Lehrliteratur ist jedoch davon auszugehen. Jedenfalls existierte die Bibliothek der Revaler Domschule schon, bevor diese 1768 zu der von der Ritterschaft finanzierten Ritterakademie wurde. Die Amtszeit des ersten Bibliothekars der Domschule war nur kurz: Bereits im Jahr 1727 wurde Mickwitz zum Pastor im Kreis Nuckö ernannt; dann trug der > Collaborator < Rössler für kurze Zeit Sorge für die Bibliothek. Von 1728 bis 1739 hatte die Bibliothek möglicherweise keinen Aufseher. Von 1739 an wurden die Aufgaben des Bibliothekars dem Subkonrektor Tideböhl zugeteilt. Johann Georg Tideböhl (Tiedeböhl) wurde in Pommern geboren, studierte 1732-35 in Jena und wurde 1738 Subkonrektor der Revaler Domschule, zwei Jahre darauf wurde er zum Konrektor ernannt. Für die Mühe im Amt des Bibliothekars wurde Tideböhl aus der Kasse der Bibliothek ein Geschenk ausgesetzt - alle zwei Jahre ein Buch, dessen Preis zwei Taler nicht überschreiten durfte.24 Im Jahre 1834 veröffentlichte Johann Ernst Wehrmann, Direktor der Revaler Domschule 1822-34, eine Übersicht über öffentliche Bibliotheken in Reval, in der er - im Anschluß an die im Jahre 1825 gegründete Estländische Allgemeine Öffentliche Bibliothek, die alte und neue Bi22

23 24

Alexander Plate: Beiträge zur Geschichte der Ehstländischen Ritter- und Domschule. Einladungsschrift zu der öffentlichen Prüfung in der Ritter- und Domschule am 21. Juni 1840.- Reval: Lindfors Erben 1840, S. 38, 54. Eisen: Eesti kooli ajalugu (Anm. 13), S. 143-145. Plate: Beiträge zur Geschichte (Anm. 22), S. 38, 54.

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bliothek der Prediger an der Domkirche sowie das Ritterschafts- und Stadtarchiv - auch über die Bibliothek der Ritter- und Domschule Auskunft gibt. Wehrmann schreibt, daß die Bibliothek der Domschule aus Spenden und Erbschaften entstanden und allmählich gewachsen sei. Besonders umfangreich waren die von dem Landrat und früheren Kurator der Schule, Moritz Engelbrecht von Kursell, und von dem verdienten Mathematiklehrer Georg Adolph Blasche hinterlassenen Sammlungen. Erst seit 1828 stand der Schule jährlich eine bestimmte Summe für die Anschaffung neuer Bücher zur Verfügung. Neben den alten theologischen und juristischen Werken enthielt die Bibliothek der Revaler Domschule in den 1830er Jahren auch mathematische und philologische Bücher. Nach Angaben von Wehrmann gehörten im Jahre 1834 annähernd 4000 Bände zum Bestand der Bibliothek, jedoch keine Manuskripte.25 Für diese Zeit handelte es sich um eine bemerkenswert große Bibliothek, deren Aufbau fast ein ganzes Jahrhundert in Anspruch genommen hatte. Obwohl Wehrmann seinem Beitrag die Überschrift »Oeffentliche Bibliotheken in Reval« gegeben hatte, waren die meisten von ihm beschriebenen Sammlungen nur für einen engen Kreis erreichbar. So war auch die Bibliothek der Domschule nur für den Gebrauch der Lehrer der Estländischen Ritter- und Domschule gedacht. Als öffentliche wissenschaftliche Bibliothek konnte damals nur die »Ehstländische Allgemeine Öffentliche Bibliothek« bezeichnet werden. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts schritt die Entwicklung der Bibliothek der Ritter- und Domschule stetig voran. Wie erwähnt, stand der Schule seit 1828 jährlich eine Summe für den Kauf von Büchern zur Verfügung. So wurden zum Beispiel in den Jahren 1843-1847 jährlich im Durchschnitt 23 Werke in 52 Bänden gekauft und fünf bis sieben Titel periodischer Ausgaben bezogen. Den Großteil der in diesem Zeitraum gekauften Literatur bilden historische und geographische Werke, Reisebeschreibungen, Werke antiker Autoren, Wörterbücher und allgemeine Nachschlagewerke. Die naturwissenschaftliche Literatur macht nur einen kleinen Anteil aus. Ungeachtet der für den Kauf der Bücher eingesetzten Summe wurde die Bibliothek durchgängig auch in wesentlichem Maße durch Geschenke und Erbschaften ergänzt. Wenn jährlich im Durchschnitt 20 bis 30 Werke gekauft wurden, so kam annähernd die gleiche Menge an Büchern durch Spenden hinzu, so daß die Sammlung rasch komplettiert werden konnte. Die Spender waren zumeist auf verschiedene Weise mit der Domschule verbunden: Kuratoren der Schule, Philister oder Eltern der Kinder; doch gab es auch freigebige Spender, die oft in höheren Staatsämtern tätig waren.26 25

Johann Ernst Wehrmann: Öffentliche Bibliotheken in Reval.- In: Dorpater Jahrbücher für Literatur, Statistik und Kunst 2 (1834), S. 78-80, S. 79. 26 Kaja Tiisel: Endine Tallinna Toomkooli raamatukogu Eesti Akadeemilises Raamatukogus. [Handschrift].- Tallinn 1998, S. 35-39.

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Am 1. Januar 1872 enthielt die Bibliothek der Estländischen Ritterund Domschule 3588 Titel in 6712 Bänden, von denen 17 Titel in 39 Bänden während des Jahres 1871 gekauft und 41 Werke in 54 Bänden als Geschenk hereingekommen waren. Im Vergleich zum Jahr 1834, als die Bibliothek 4000 Bände besaß, war die Anzahl der Bücher erstaunlich angestiegen. Nach wie vor war der Anteil der Schenkungen fast doppelt so groß wie der der Käufe.27 Die folgende Periode in der Geschichte der Revaler Domschule - und damit auch ihrer Bibliothek - war eine besonders schwierige. Die von der Zarenregierung im Jahre 1885 begonnenen Russiflzierungsreformen trafen vor allem die Schulen, denn mittels derer wollte man unmittelbar und schnell die Russifizierung der ganzen Gesellschaft erreichen. Dies um so mehr, als das Bildungs- und Schulsystem in Estland, Livland und Kurland stärker als andere Gebiete des öffentlichen Lebens von ganz eigener Art und verschieden von dem in Rußland herrschenden System war. Laut Gesetz des Jahres 1887 sollten alle hiesigen Jungengymnasien und Realschulen mit deutscher Unterrichtssprache vom Schuljahr 1887/ 1888 an zum russischsprachigen Unterricht übergehen. Die Anordnung des Bildungsministers räumte für den Übergang allerdings eine fünfjährige Frist (1887-92) ein.28 Die Umgestaltung rief in den deutschbaltischen Kreisen starken Widerstand hervor. Auch in der Estländischen Ritter- und Domschule wurde protestiert, und man versuchte, den Übergang zum russischen Unterricht aufzuschieben oder die Erfüllung des Gesetzes zu umgehen. Die Zarenregierung antwortete auf diesen Widerstand mit Gegenmaßnahmen. Da in der Revaler Domschule verweigert wurde, in russischer Sprache zu lehren, unterzeichnete der Kaiser am 27. Juli einen Entschluß des Staatsrates, die Schule binnen drei Jahren vom August 1889 an zu schließen. Der Festakt zur Schließung fand am 18. Juli 1892 statt, und am 23. Januar des folgenden Jahres wurde die Arbeit der Revaler Domschule eingestellt. Die Schule blieb in der Folge für nahezu 14 Jahre geschlossen.29 Dementsprechend stagnierte der Bestand der Bibliothek der Revaler Domschule fur 14 Jahre. Allerdings gibt es Grund zu der Annahme, daß die Bibliothek in dieser Zeit nicht völlig vernachlässigt wurde. Es ist gut möglich, daß der letzte Bibliothekar der Schule, Christian Fleischer, auch nach 1892 für die Bibliothek in gewissem Maße Sorge getragen hat. Fleischer wurde im Jahre 1840 in Kurland geboren, 1860-64 stu27

Eesti Ajalooarhiiv, F. 854 (Eestimaa Rüütelkond), Ν. 1, S. 354: Toomkooli missiiv 1863-1875, 1.63. 28 Allan Liim: Haridussüsteem Eestis 19. sajandil ja 20. sajandi algul.- In: Baltisaksa kultuuri osatähtsus Eesti ajaloos.- Tallinn: Avita 1996, S. 15-30. 29 Zur Geschichte der Schließung der estländischen Ritter- und Domschule in Reval.- Berlin: Hugo Steinitz 1897, S. 3-34.

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dierte er an der Dorpater Universität Mathematik und Astronomie. Von 1868 bis zur Schließung 1892 arbeitete er als Oberlehrer für Mathematik und Physik an der Revaler Domschule.30 Umfangreiche Auskünfte über die Bibliothek der Revaler Domschule sind aus dem handschriftlichen, systematisch-alphabetischen Bandkatalog zu erhalten. Dank dieses Kataloges ist es möglich, auch heute ein genaues Bild von dem Einteilungs- und Aufstellungssystem der Bibliothek der Domschule und ihrem Bestand zu bekommen. Der Katalog beginnt mit dem Lageplan der Bibliothek, auf dem angezeigt wird, wo sich die Regale im Raum befanden. Die Bücherschränke oder Repositorien waren mit den Großbuchstaben Α bis R bezeichnet; andere Möbel gab es nur wenige. Der Plan der Bibliothek befindet sich im einleitenden Teil des Kataloges, der diesem später beigelegt wurde. Ihm folgt zunächst eine Übersicht über die Anordnung der Literatur in den Regalen nach den Abteilungen und anschließend das Inhaltsverzeichnis des Kataloges. Der Katalog spiegelt - wie der Titel »Verzeichnis der in der Bibliothek der früheren Ritter- und Domschule vorhandenen Werke, 1893 « bereits zeigt - den Stand der Bibliothek der Revaler Domschule zu Anfang des Jahres 1893 wider, als die Schule eben geschlossen worden war und damit auch die Tätigkeit der Bibliothek für 14 Jahre bis zum Jahr 1906 unterbrochen wurde. Von dem Bibliothekar Christian Fleischer stammen die Bearbeitungsspuren im Katalog. Auf der Innenseite sowohl des Vorderdeckels als auch des Hinterdeckels finden sich kleine Hinweise für die Benutzer des Kataloges, die die Überschrift »Zur Beachtung!« tragen und von Fleischer in Reval im Jahre 1893 unterzeichnet sind. In derselben schönen, aber schwer lesbaren Handschrift ist auch ein Teil der Eintragungen im Katalog gemacht worden, insbesondere über die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienenen Werke, sowie auf den Beiblättern des Kataloges. Berücksichtigt man die Menge der von ihm eingetragenen Literatur, dann scheint Fleischer in der Bibliothek eine längere Zeit gearbeitet zu haben, obwohl unbekannt ist, ob er die ganze Zeit während seiner Tätigkeit in der Domschule auch als Bibliothekar tätig war. Der oben beschriebene einleitende Teil des Katalogs wurde ebenso von Fleischer zusammengestellt, aus seiner Feder stammen auch mehrere erläuternde Anmerkungen im Katalog, die an künftige Bibliothekare gerichtet sind und den Gebrauch des Bandes erleichtern sollen, falls die Bibliothek erneut in Gebrauch genommen werden könnte. Die Mehrheit der Anmerkungen hat Fleischer unterzeichnet und mit der Jahreszahl 1893 versehen. Er bereitete die Bibliothek also nach der Schließung der Schule für den Stillstand von unbekannter Dauer vor, indem er - vielleicht auch schon während der Schließung der Schule - Inventur machte und die Bibliothek in vorbildliche Ordnung brachte. 30

Bernhard Haller: Album der estländischen Ritter- und Domschule zu Reval vom 12. Januar 1859 bis 18. Juni 1892.- Reval: Kluge 1893, S. 11.

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Der systematisch-alphabetische Katalog der Bibliothek der Domschule in seiner anfanglichen Form wurde in den Jahren 1848/49 zusammengestellt, wie einer Bemerkung auf der letzten Seite zu entnehmen ist. Carl Julius Zepernick, ein Schüler der letzten Klasse, bearbeitete ihn auf Antrag des Direktors der Schule, Alexander Plate. Natürlich kann die Zusammenstellung des Kataloges nicht nur als Verdienst des Schülers angerechnet werden, sondern die wesentliche Rolle dabei kam wohl Direktor Plate zu, der die Notwendigkeit des Kataloges sah und die geeignete Person für diese Arbeit fand. Den Katalog haben später mehrere Bibliothekare ergänzt, doch in seiner Grundform stammt er aus der Hand Zepernicks, dessen Arbeit sehr sorgfältig war. Beim Blättern des Kataloges fällt gleich an erster Stelle ins Auge, daß der Großteil der Eintragungen in einer sehr schönen, regelmäßigen, klaren und sauberen Handschrift geschrieben wurde. Der nächste bekannte Bearbeiter des systematisch-alphabetischen Kataloges der Bibliothek der Estländischen Ritter- und Domschule war Eduard Winkelmann, der in den Jahren 1860-65 Oberlehrer für Geschichte und Geographie in der Revaler Domschule war. Er hatte an den Universitäten in Berlin und Göttingen studiert und den Grad eines Doktors der Philosophie erworben. Nach der Tätigkeit in der Domschule arbeitete er als Dozent an der Dorpater Universität und danach als hauptamtlicher Professor für Geschichte an den Universitäten zu Bern und Heidelberg.31 Eduard Winkelmann veröffentlichte mehrere historische Forschungen zum Baltikum und zu Deutschland. Jedem Historiker der Baltischen Länder ist er jedoch vor allem als Verfasser der Bibliographie Altlivlands, der Bibliotheca Livoniae historica, bekannt.32 Im Anschluß an seinen Unterricht in Geographie und Geschichte fand Winkelmann noch Zeit für die Einrichtung der Bibliothek, wie es unter den begeisterten Lehrern üblich war, die die Notwendigkeit der Bibliothek sahen und den Nutzen zu schätzen wußten. Dem Historiker und ausgewiesenen Bibliographen Winkelmann lag die Bibliotheksarbeit nahe, und zudem beförderte sie zweifellos seine Kenntnisse. Denn mit den Vorarbeiten zu seiner großen Bibliographie, die zuerst 1870 gedruckt wurde und im Jahre 1878 in zweiter, verbesserter und ergänzter Auflage erschien, begann Winkelmann gewiß schon neben der Arbeit in der Revaler Domschule, so daß er aus der Bibliotheksarbeit wertvolle Erfahrungen schöpfen konnte. Auch im Katalog der Bibliothek der Estländischen Ritter- und Domschule sind seine Eintragungen erkennbar, denn er hat die Veränderungen mit einer entsprechenden Anmerkung gekennzeichnet. Seine Arbeit am Katalog fallt nicht so sehr durch ihren Umfang 31 32

Ebd., S. 7. Eduard Winkelmann: Bibliotheca Livoniae Historica. Systematisches Verzeichnis der Quellen und Hülfsmittel zur Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands. Zweite, verbesserte Aufl.- Berlin: Weidmann 1878.

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auf, sondern wegen seines Wunsches, den Katalog und dementsprechend auch die Struktur der Bibliothek zu verändern. So hat er eine große Menge Bücher aus einer Abteilung in eine andere umgestellt. Besonders auffällig ist dies bei der historischen und philologischen Literatur, aus der viele Werke in andere Abteilungen umgestellt wurden. Im systematisch-alphabetischen Katalog der Bibliothek der Revaler Domschule sind die Bücher in sieben Rubriken eingetragen: Ordnung, Titel, Format, Bände, Druckort, Jahr und Auflage. In der Rubrik »Ordnung« wurden der Familienname des Autors und die Bibliothekssignatur des Buches angezeigt. Die Bücher waren in 13 mit römischen Ziffern bezeichnete Hauptgruppen eingeteilt. In den Hauptabteilungen wurde das Material zum Teil weiter systematisiert, und nach Bedarf wurden Unterabteilungen gebildet, in welchen die Literatur jeweils alphabetisch angeordnet war. Durch diese immer neue alphabetische Anordnung wird allerdings der Gebrauch des Kataloges erschwert und die Suche nach Titeln verlangsamt, da fur das Auffinden eines Werkes dessen Thema sehr genau bestimmt und auf jeden Fall zusätzlich in mehreren Unterabteilungen nachgeschlagen werden muß. Die Klassifikation war folgende: I Theologie 1) 2)

Ueberhaupt A. Bibel und ihre Erklärung B. Kirchenväter C. Systematische Theologie D. Practische Theologie E. Kirchengeschichte

II Philosophie III Unterrichtswesen 1) 2) 3) 4)

Einleitende und geschichtliche Schriften u.s.w. Theoretische Schriften Kinderschriften aller Art Hygiene, etc.

IV Mathematik 1) 2) 3)

Ueberhaupt A. Arithmetik und Algebra B. Mathematik und Analysis Α. Mechanik, Astronomie, Optik B. Kriegswissenschaft, Architektonik, Nautik, Musik u.s.w.

V Naturkunde

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VI Philologie - Neuere Sprachen 4)

A. Deutsche Literatur B. a) Englische Literatur b) Italienische Literatur c) Spanische und Portugiesische Sprache d) Französische Literatur

VII Philologie - Alte Sprachen 1) 2) 3)

Linguistik Asiatische Sprachen A. Griechische und Römische Literatur 1. Einleitende Schriften, Enzyklopädien, u.s.w. 2. Geschichte und Literatur 3. Vermischte Schriften und Sammlungen B. Griechische Literatur 1. Einleitende Schriften, Enzyklopädien, Geschichte und Literatur 2. Schriftsteller 3. Chrestomatien und Lesebücher, Grammatiken und Wörterbücher C. Römische Literatur 1. Einleitende Schriften, Enzyklopädien, Geschichte und Literatur 2. Schriftsteller 3. Chrestomatien und Lesebücher, Grammatiken und Wörterbücher 4. Lateinische Literatur der Renaissanceperiode D. Griechische und Römische Alterthumskunde

VIII Geschichte 1) 2) 3) 4) 5)

Ueberhaupt Historische Hülfswissenschaften Universalgeschichte A. Geschichte der Menschheit B. Geschichte der Völker und Staaten Staatswissenschaften

IX Russische Sprache und Literatur X Geographie XI Jurisprudenz XII Generalia 1) 2) 3) 4)

Bibliothekswissenschaft Enzyklopädien, Allgemeine Literatur- und Bücherkunde Polyhistorische Zeitschriften - Inländische Zeitschriften und Zeitungen polyhistorischen Inhalts Varia - Sammelbände

XIII Doubletten

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Die letzte der Hauptabteilungen - die Dubletten - ist erst später gebildet worden. Im Verzeichnis am Ende des Kataloges und im Katalog selbst ist sie nicht enthalten, aber im einleitenden Teil des von Christian Fleischer zusammengestellten Kataloges wird die Dublettenabteilung schon genannt und eine Anmerkung hinzugefugt, daß die Dubletten in einem separaten Verzeichnis vermerkt werden. Mit nur 72 Titeln gibt es relativ wenige, woraus die Bedeutung jedes einzelnen Werkes für die Bibliothek ersichtlich wird. Die Aufstellung der Dubletten in einer eigenen Abteilung war ebenfalls eine Idee von Christian Fleischer. Die hier präsentierte Systematik enthält bereits die von Winkelmann und Fleischer durchgeführten Änderungen. Von den Veränderungen Winkelmanns war schon die Rede. Sie betrafen im wesentlichen nur die formale Seite der Abteilung Generalia (XII); in geringerem Maße stellte er die Werke aus den Gebieten Philologie (VII) und Geschichte (VIII) um. In der Abteilung Generalia hielt er es für ratsam, die Bibliothekswissenschaft als eigene Unterabteilung zu präsentieren, die jedoch nur sieben Werke enthielt. In derselben Abteilung befanden sich auch die Zeitungen und Zeitschriften mit allgemeinem Inhalt, von denen ihrerseits die inländischen periodischen Schriften abgetrennt wurden. Ein Verdienst von Christian Fleischer war auch die Numerierung der Hauptabteilungen. Zuvor wurden nur die Unterabteilungen mit römischen Ziffern bezeichnet, bei den Hauptabteilungen fehlten hingegen jegliche Nummern, sie wirkten einfach als große Titel. Da nun sowohl die Hauptabteilungen als auch die Unterabteilungen mit römischen Ziffern bezeichnet wurden, könnte eine mangelnde Eindeutigkeit befurchtet werden, die aber wahrscheinlich nicht der Fall war, denn im Laufe der Zeit verloren die Unterabteilungen wohl ihre strengen Grenzen sowie ihre Bedeutung. Da die Numerierung erst erfolgte, als der Katalog schon zusammengestellt war, befinden sich die Hauptabteilungen nicht in der festgesetzten Reihenfolge, dasselbe gilt für die Unterabteilungen. Eine grundsätzlich ähnliche Systematik existierte im 19. Jahrhundert auch in der Bibliothek der Estländischen Literarischen Gesellschaft und gelangte von dort in die heutige Baltika-Abteilung der Estnischen Akademischen Bibliothek. Der Grundunterschied zwischen beiden Systematiken besteht darin, daß es in der Bibliothek der Estländischen Literarischen Gesellschaft keine Unterabteilungen gab. Jede Abteilung wurde durch eine römische Ziffer oder einen Buchstaben bezeichnet, und es gab bei abweichender Reihenfolge einige Abteilungen mehr als in der Bibliothek der Domschule. Der systematisch-alphabetische Katalog, in dem die Literatur nach Abteilungen eingeteilt, innerhalb der Abteilungen aber alphabetisch angeordnet war, existiert noch heute in der BaltikaAbteilung der Estnischen Akademischen Bibliothek. Solch ein System war im 19. Jahrhundert allgemein verbreitet, da es dem im Jahre 1834 vom Ministerium für Volksbildung eingeführten Berichtssystem für die

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unterstellten Gouvernementsbibliotheken entsprach.33 Die Estländische Ritter- und Domschule samt ihrer Bibliothek unterstand ebenso dem Ministerium für Volksbildung. In dieser Gliederung nach Wissenschaftszweigen sollte der Bericht fur das Ministerium zusammengestellt werden, wobei die Reihenfolge der Wissenschaftszweige frei war. Den Bibliotheken war es in diesem Zusammenhang angenehmer, das entsprechende Einteilungssystem auch für die Bibliothekssystematik zu verwenden, und so wurde es allgemein gebräuchlich. Daß im System der Bibliothek der Revaler Domschule einige Hauptabteilungen eine andere Nummer bekommen haben und es dort weniger Abteilungen gibt, ist natürlich mit dem Bestand der konkreten Bibliothek zu begründen, für den das System angepaßt wurde. Das Einteilungssystem der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft läßt sich demgegenüber als durchdachter und zweckmäßiger bezeichnen, da die ganze Aufteilung sozusagen auf einer Ebene ist. Die Zahl der einzelnen Abteilungen war in der Bibliothek der Domschule nicht wesentlich geringer, aber ihre Gruppierung in Abteilungen, Unterabteilungen und in noch kleinere Teilungen machte das System umständlich. Die Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft war in diesem Sinne offensichtlich benutzerfreundlicher, aber da sie auch wesentlich größer war, benötigte man ein einfacheres und zuverlässigeres Einteilungssystem. Die Signaturen der Druckwerke in der Bibliothek der Revaler Domschule wurden von der römischen Ziffer für die Abteilungen und der Reihennummer des Buches gebildet. Zum Beispiel bedeutet die Signatur 11.102, daß das Werk sich auf der 102. Position der Abteilung Philosophie befand. In dem von Christian Fleischer zusammengestellten einleitenden Teil ist eine statistische Übersicht über den Bestand der Bibliothek der Domschule zu finden, in der auch die Anzahl der Titel, der Bände und Einzelhefte in jeder Abteilung angeführt wird. Zum Jahr 1893 gab es in der Bibliothek der Revaler Domschule 4064 Titel in 11 386 Bänden. Das ergibt einen Durchschnitt von etwa drei Bänden pro Werk. Die größte Abteilung bildeten die alten Sprachen mit 791 Titeln in 1623 Bänden, was 19,4 % der Gesamtzahl der Titel ausmacht. Den nächsten Platz nahm die theologische Literatur mit 572 Titeln in 935 Bänden ein, das entsprach 14,0 % des Gesamtbestandes. Der Größe nach die dritte Abteilung war »Neuere Sprachen« mit 551 Titeln in 1280 Bänden. Durch Addition der Abteilungen neuere und ältere Sprachen zeigt sich, daß die philologische Literatur in der Bibliothek am zahlreichsten vertreten war, nämlich 1342 Titel in 2903 Bänden, also genau ein Drittel des Bestandes. Diese Gewichtung wurde durch die russische Sprache noch vergrößert. Bescheiden waren die Geographie (3,7 %), die Philosophie (4,1 %), Generalia 33

Voldemar Miller, Kyra Robert: Baltika ja haruldaste raamatute osakond. Ajalugu, fondid, kasutamine 16. saj. - 1970. [Handschrift].- Tallinn 1971, S. 29.

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(4,1 %) und die Rechtswissenschaft (4,3 %) vertreten. Die kleinste Abteilung bildeten Dubletten, von denen es nur 72 Titel in 216 Bänden gab, also 1,7 % der Gesamtzahl. Sowohl in bezug auf die Abteilungen als auch auf die Gesamtanzahl der Titel fällt ein deutlicher Schwerpunkt im Bereich der Humanitär- und Sozialwissenschaften im Bestand der Bibliothek der Domschule auf. Das wichtigste Merkmal, das die Zugehörigkeit eines Buches zur Bibliothek der Ritter- und Domschule erkennen läßt, war und ist auch jetzt noch der Stempel der Bibliothek. Wann die Bibliothek den Stempel in Gebrauch nahm, ist heute nicht mehr festzustellen. Wahrscheinlich wurde er in der Mitte des 19. Jahrhunderts angeschafft, als Alexander Plate Direktor der Schule war und der Entwicklung der Bibliothek seine ganze Aufmerksamkeit widmete.34 Der Stempel der Bibliothek der Revaler Domschule hat eine ovale Form und trägt den lateinischen Text »Bibl. Schol. Equest. Reval«, was mit »Bibliothek der Ritterschule in Reval« zu übersetzen ist. Der Text zeugt davon, daß der Bibliotheksstempel angeschafft wurde, nachdem die Domschule 1768 in > Akademische Ritterschule < umbenannt worden war.35 Auch auf der ersten Seite des systematisch-alphabetischen Kataloges der Bibliothek der Domschule befindet sich ein Stempelabdruck als Beispiel. Die Bücher in der Bibliothek der Domschule tragen den Stempelabdruck ausnahmslos auf dem Titelblatt. Auf dieser Grundlage ist es möglich, sämtliche Bücher der Bibliothek der Domschule zu identifizieren. In vielen Büchern ist bis heute auch die Bibliothekssignatur erhalten, die meistens mit blauem oder rotem Bleistift geschrieben ist. Im wesentlichen stammen die Bücher aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Das Verhältnis ist nach den Abteilungen verschieden, doch im allgemeinen ist der Anteil der im 17. und 18. Jahrhundert herausgegebenen Drucksachen am größten. In den Abteilungen Theologie und Philosophie überwiegen die Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts eindeutig, in den Abteilungen Naturwissenschaften und Pädagogik dominiert hingegen die Literatur des 19. Jahrhunderts. Die ältesten Bücher der Bibliothek der Revaler Domschule sind zwei Inkunabeln. Die erste von ihnen, die Dekades von Titus Livius, ist im Jahre 1491 in Venedig gedruckt worden. In der Bibliothek der Domschule war sie in die Abteilung Philologie/alte Sprachen eingestellt. Die andere Inkunabel ist Fortalicium fidei contra fidei christianae hostes von Alphonsus de Spina, die im Jahre 1494 in Nürnberg von Anton Koberger gedruckt worden ist. In der Bibliothek der Domschule gehörte sie zur Abteilung Theologie.

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Julius Kirchner: Album der Ehstländisehen Ritter- und Domschule zu Reval vom 2. März 1834 bis 2. März 1859.- Reval: Lindfors Erben 1859, S. 8. Pabst, Croessmann: Beiträge (Anm. 3), S. 49.

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Die Hauptsprache in den zur Bibliothek der Domschule gehörenden Druckwerken ist selbstverständlich die deutsche Sprache, denn die Lehrer, die diese Bibliothek benutzten, waren meistens deutscher Nationalität, und die Sprache, in der gelehrt wurde, war Deutsch. Es finden sich aber auch Ausgaben in anderen Sprachen. Zum Beispiel machen lateinische Werke den Großteil der theologischen Literatur aus, auch sind Werke in griechischer und hebräischer Sprache vertreten. In der naturund realwissenschaftlichen Literatur nehmen Französisch, Englisch und Russisch einen wichtigeren Platz ein, vertreten sind ebenfalls Italienisch, Portugiesisch, Hebräisch und Finnisch. In estnischer Sprache befand sich in der ganzen Bibliothek der Domschule wahrscheinlich nur ein Buch: das im Jahre 1804 in Reval gedruckte Eestima Tallorahva Kohto-Seädus, ehk Walla-Kohto Kässoramat (Gerichtsverfassung der Estländischen Bauern oder Verordnungs-Buch der Gemeinde-Gerichte). Überhaupt gab es in der Bibliothek verschiedene Est- und Livland betreffende Gesetzeswerke, auch solche, die früher in diesem Gebiet gegolten hatten. Als Bürger sollten auch die Lehrer der Domschule mit der geltenden Gesetzgebung vertraut sein, die früheren Gesetze aber hatten historische Bedeutung. Einen zentralen Platz in der Bibliothek der Domschule nahmen verschiedene Werke zur regionalen Geschichte und Geographie ein; die Lehrer werden sich also dafür interessiert haben und gaben dieses Interesse gewiß an die Schüler weiter. In vielen Büchern sind verschiedene Autogramme und Autographen zu finden, von denen einige lediglich zeigen, daß das vorliegende Buch ehemals einer bestimmten Person gehört hat, andere stellen aber eine Widmung an die Domschule dar. Oft stammen von einer Person mehrere Bücher, öfters wurde der Domschule eine ganze Bibliothek geschenkt oder vererbt. Im Grunde können die Personen, aus deren Bibliotheken die Bücher stammen, in drei Gruppen eingeteilt werden: Lehrer der Domschule, Philister der Schule und ihre Kuratoren. Von den Lehrern der Domschule sind in diesem Zusammenhang Gustav Heinrich Hirschhausen, Christian Fleischer und Georg Adolph Blasche zu nennen. Man kann sagen, daß diese drei Männer ihr ganzes Leben der Revaler Domschule gewidmet haben: Viele Jahre waren sie in der Schule tätig und vermachten dann im Anschluß ihre umfangreichen Privatbibliotheken der geliebten Schule. In mehreren Abteilungen gibt es eine Vielzahl von Büchern, in die ihre Namen als Eigentumsvermerk eingeschrieben sind. So stammt rund die Hälfte der Bücher der Mathematikabteilung von Georg Adolph Blasche, der selbst Verfasser einiger Lehrbücher war. Auch Christian Fleischer war Mathematiklehrer, doch seine Bibliothek ist vielseitiger und deshalb in größerem Maße unter mehreren Abteilungen zerstreut worden. Auch viele andere Lehrkräfte und Direktoren haben der Schule eine größere oder kleinere Anzahl von Büchern geschenkt. Unter den namhafteren Schülern hat Karl Ernst von Baer der

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Schule einige Bücher geschenkt, darunter auch seine eigenen Werke. Unter den Kuratoren sei Robert Ferdinand Klaudius Samson von Himmelstiern genannt, von dem mehrere wertvolle Werke stammen. Betrachten wir nun die Entwicklung der Bibliothek der Revaler Domschule im 20. Jahrhundert. Nachdem die Domschule 14 Jahre geschlossen war, fand am 21. August 1906 zur Wiedereröffnung der Domschule ein Festakt mit einem Gottesdienst statt. Von nun an wurden die Schuljahresberichte, in denen auch manches über die Bibliothek enthalten war, regelmäßig im Druck veröffentlicht. Im Bericht des Schuljahres 1906/07 ist in dem Abschnitt »Bibliothek und Lehrmittel« zu lesen, daß der Ritter- und Domschule die alte und ehrwürdige Lehrerbibliothek aus den früheren Zeiten gehörte, die dem damaligen Lehrerkollegium in einwandfreier Ordnung übergeben worden war. Da die Bibliothek aber seit der Schließung der Schule keine Ergänzung erfahren hatte, entstand das Bedürfnis nach Erwerbung einer großen Menge Neuerscheinungen auf dem Gebiet der zeitgenössischen Pädagogik und anderer Fachwissenschaften, so daß im Laufe des betreffenden Schuljahres viele neue Bücher angeschafft wurden. Dessenungeachtet gab es im Bestand der Bibliothek noch wesentliche Lücken, die in den nächsten Jahren gefüllt werden sollten.36 Daraus kann man schließen, daß die Bibliothek auch in den dazwischenliegenden Jahren unter der Aufsicht von Christian Fleischer gestanden haben wird, denn wie sonst hätte sie in so vorbildlicher Ordnung dem neuen Lehrerkollegium übergeben werden können. Nach der Wiedereröffnung der Revaler Domschule im Jahre 1906 wurde die alte Bibliothek der Schule zum ersten Mal zu einer > Lehrerbibliothek < ernannt, obwohl sie das immer gewesen war: Sie wurde angesichts der Bedürfhisse der Lehrer geschaffen und ist nie eine öffentliche Bibliothek gewesen. Ebenso war sie nicht an den Bedürfnissen der Schüler orientiert. Die alte Bibliothek der Domschule könnte auch > Fundamentalbibliothek < genannt werden. Im Grunde begann man jedoch, die alte Bibliothek als Lehrerbibliothek zu bezeichnen, weil im Jahre 1906 erstmalig eine Schülerbibliothek eingerichtet wurde. Im ersten Jahr gelang es, eine bescheidene Grundsammlung zu bilden. Für die deutsche und russische Abteilung wurden rund 500 Bände beschafft, wozu die besten und anerkannten Werke für die verschiedenen Altersgruppen ausgewählt wurden. Dabei halfen mehrere Spender, besonders frühere Schüler, die Schülerbibliothek zu ergänzen.37 Für die nächsten Jahre geben die Berichte der Ritter- und Domschule Übersichten über die Komplettierung sowohl der Lehrer- als auch der Schülerbibliothek. Im Bericht des Schuljahres 1907/08 ist vermerkt, daß die Lehrerbibliothek die wichtigsten Neuerscheinungen auf dem Gebiet 36

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Jahres-Bericht der Ritter- und Domschule über das Schuljahr 1906/07, Reval: Buchdruckerei der »Revalschen Zeitung« 1907, S. 42. Ebd., S. 4 2 - 4 3 .

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der Pädagogik und anderer Wissenschaften erhalten hatte und anschließend 13 Titel der periodischen Ausgaben abonniert worden waren, deren Liste dem Bericht beigelegt wurde. Daraus ist zu ersehen, daß Anfang des 20. Jahrhunderts bei der Komplettierung der Lehrerbibliothek das Hauptaugenmerk auf die pädagogische Literatur gerichtet war. So wurden auch die Fachzeitschriften nicht in erster Linie aus fachlicher Perspektive angeschafft und gelesen, sondern aufgrund der für die Lehrer notwendigen Didaktik des Faches. Offensichtlich hatte sich am Beginn des 20. Jahrhunderts der Lehrerberuf schon so sehr spezialisiert und die pädagogische Wissenschaft entwickelt, daß die Lehrer sich nicht mehr mit wissenschaftlicher Arbeit in ihrem Fach befaßten, sondern sich im wesentlichen nur den mit der Lehre des entsprechenden Faches verbundenen Problemen widmeten. Im Schuljahr 1907/08 wurden sowohl die Lehrer- als auch die Schülerbibliothek durch Spenden unterstützt; im Bericht werden die Spender und manchmal auch einzelne geschenkte Werke genannt. Zum Beispiel wurde vom Oberlehrer Christian Fleischer im Schuljahr 1907/08 eine Partie Bücher übergeben, unter denen überwiegend Ausgaben von Klassikern waren.38 In der Lehrerbibliothek verfolgte man auch weiterhin die genannten Komplettierungsgrundsätze: Es wurden die wichtigsten neuen Werke auf dem Gebiet der Pädagogik und anderer Fächer angeschafft und einige periodische Ausgaben abonniert, deren Auswahl sich in den nächsten Jahren wenig änderte. Auch die Namen der Spender von Büchern wiederholen sich großteils von Jahr zu Jahr. Im Bericht des Schuljahres 1908/09 wird letztmalig der frühere Oberlehrer und Bibliothekar Christian Fleischer erwähnt; er war in diesem Jahr gestorben und hatte seine Bücher der Bibliothek der Revaler Domschule vermacht.39 Im allgemeinen ist festzustellen, daß der Lehrerbibliothek nach der Gründung der neuen Schülerbibliothek bedeutend weniger Aufmerksamkeit gewidmet wurde als zuvor, auch seitens der Spender. Aus dem Bericht des Schuljahres 1911/12 geht hervor, daß Alexander Eggers als Bibliothekar der deutschen Abteilung der Lehrerbibliothek und der Schülerbibliothek beschäftigt war.40 In der Revaler Domschule arbeitete Eggers in den Jahren von 1906 bis 1915: zunächst 1906-10 als Schuldirektor und anschließend bis zum Jahr 1915 als Lehrer für deutsche Sprache und Literatur.41 Neben dieser Lehrtätigkeit pflegte er die Bibliothek, wobei ihm nach dem Verzicht auf das Direktorat möglicher38

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40

41

Jahres-Bericht der Ritter- und Domschule über das Schuljahr 1907/08, Reval: Buchdruckerei der »Revalschen Zeitung« 1908, S. 13. Jahres-Bericht der Ritter- und Domschule über das Schuljahr 1908/09, Reval: Buchdruckerei der »Revalschen Zeitung« 1909, S. 13-14. Jahres-Bericht der Ritter- und Domschule über das Schuljahr 1911/12, Reval: Buchdruckerei der »Revalschen Zeitung« 1912, S. 49. Thomson: Geschichte der Domschule (Anm. 10), S. 154.

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weise mehr Energie für die Beschäftigung mit der Bibliothek blieb. Daß man als Bibliothekar, besonders in der deutschen Abteilung, einen Lehrer der deutschen Sprache und Literatur (und nicht zum Beispiel Mathematik- und Physiklehrer) wählte, ist naheliegend. Während des Schuljahres 1911/12 wurden für die Lehrerbibliothek der Revaler Domschule 32 neue Werke in 36 Bänden angeschafft. Obwohl die Erscheinungsdaten im Bericht nicht angeführt sind, wird es sich um relativ neue Ausgaben handeln. Die Bestrebungen gingen also dahin, die Bibliothek zweckmäßig mit Neuerscheinungen zu ergänzen, da man davon ausgehen konnte, daß die Bestände an älteren Büchern durch Spenden und Erbschaften regelmäßig aufgestockt wurden. Den wesentlichen Anteil der erworbenen Neuerscheinungen bilden Werke der verschiedenen historischen Disziplinen: Die Lehrer der Domschule benötigten sowohl Werke zur Geschichte Westeuropas als auch Rußlands. Ebenso wurden relativ zahlreich Werke von oder über antike Autoren besorgt, den bedeutendsten Platz nahmen die Philosophie und die Geschichte der Philosophie ein. Zuletzt fällt noch der Überhang literaturund sprachwissenschaftlicher Arbeiten auf, deren Mehrzahl der russischen Sprache und Literatur gewidmet ist. Die früher im Vordergrund stehenden Sprachen Deutsch und Latein scheinen nach dieser Auswahl ihre Bedeutung zu verlieren. Gleichzeitig wurde im Schuljahr 1911/12 kein einziges neues Buch auf dem Gebiet der Naturwissenschaften für die Lehrerbibliothek der Domschule besorgt.42 Die folgenden, von Krieg und Unruhen geprägten Jahre ließen auch die Domschule und ihre Bibliothek nicht unberührt. Im Jahre 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, im März und Oktober des Jahres 1917 folgten die Revolutionen in Rußland. Im November 1918 begann der Freiheitskrieg, und die drei oberen Klassen der Domschule wurden geschlossen, da die Schüler Kriegsdienst leisten mußten. Zum Februar 1919 hatte sich die Lage in Tallinn jedoch beruhigt, so daß der Unterricht in allen Klassen fortgesetzt werden konnte. Es ist verständlich, daß in solch unruhigen Zeiten die Bibliothek Schaden genommen hat. Wahrscheinlich verlor die Lehrerbibliothek in diesen Jahren ihre Bedeutung, denn die Lehrer wechselten schnell, und eine kontinuierliche Ergänzung der Bibliothek durch Neuerscheinungen dürfte schwierig gewesen sein, so daß sie veraltete. Offensichtlich wurde die Bibliothek auch durch den Raummangel bedrängt. Daher kam es bald dazu, daß die vernachlässigte Fundamentalbibliothek ihre Bedeutung für die Revaler Domschule verlor, sie wurde nicht mehr gebraucht und schließlich verzichtete man bald ganz auf die alte und ehrwürdige Lehrerbibliothek. Die nächsten Angaben finden wir schon im Jahresbericht der Estländischen Literarischen Gesellschaft (ELG) für 1927. Dort ist zu lesen, daß 42

Jahresbericht über das Schuljahr 1911/12 (Anm. 40), S. 4 9 - 5 0 .

Die Bibliothek der Domschule zu Reval

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die Bibliothek der Gesellschaft sich im Jahre 1927 in wesentlichem Maße dank der Überlassung der Lehrerbibliothek der Domschule, die sich schon mehrere Jahre in den Räumen der Estländischen Literärischen Gesellschaft befunden hatte, vergrößerte, denn man beschloß in diesem Jahr, die Bibliothek der Domschule an die Bestände der Hauptbibliothek der ELG anzuschließen. Auch wurde die Hoffnung geäußert, daß die Bibliothek der Domschule auf diese Weise der Öffentlichkeit zugänglich werde.43 Der Grund für die Überfuhrung der Bibliothek der Domschule in die Räume der ELG war offensichtlich Raummangel; die Revaler Domschule arbeitete ja nach wie vor im 1845 gebauten Gebäude. Es ist möglich, daß die Domschule zunächst nicht die Absicht hatte, auf die Bibliothek zu verzichten, aber als die Jahre vergingen und die Lage sich nicht änderte, gab sich die Schule mit dem Anschluß ihrer wertvollen Bestände an die Bibliothek der ELG zufrieden. Erinnert sei daran, daß die Bibliothek Anfang 1893, als die Schule geschlossen wurde, 4064 Werke in 11 386 Bänden umfaßte. Bei der Überlassung an die ELG war außerdem die nach der Wiedereröffnung der Schule ergänzte Literatur hinzugekommen. So stand die Lehrerbibliothek der Revaler Domschule schon im Jahre 1927 in den Räumen der Estländischen Literärischen Gesellschaft und wartete auf ihr Schicksal, aber noch im Jahre 1932 hatte man nichts mit den Büchern unternommen. Zu diesem Jahr teilte der Bibliothekar der ELG, Hellmuth Weiss, mit, daß die Bibliothek der Domschule, die sich bisher auf dem Dachboden im sogenannten »Sternzimmer« befunden hatte, mit ihrem zu großen Gewicht in der Baukonstruktion des Hauses Schäden hervorrufen könnte. Deshalb erwies sich die Übersiedlung der Bibliothek der Domschule in die Bibliotheksetage der ELG (im Keller des Hauses) als notwendig, wo sie vorläufig, bis zum Anschluß an die Hauptbibliothek, untergebracht wurde.44 Die Zusammenführung der reichen Bücherschätze der Revaler Domschule mit der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft kam in den nächsten Jahren dann auch in der Tat zustande. Zur Bibliothek der ELG waren im Laufe der Zeit die Bibliothek der Olai-Kirche (1831), ein Teil der Revaler Rathausbibliothek (1882), die Bibliothek des Estländischen Deutschen Vereins (1914), aber auch viele andere Sammlungen von Organisationen und Privatpersonen hinzugekommen.45 In diesem Zustand ging die Bibliothek der ELG samt des Eigentums des 43

44

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Jahresbericht der Estländischen Literärischen Gesellschaft für 1927.- In: Beiträge zur Kunde Estlands 14 (1928), S. 41 -48. Berichte für die Jahre 1932 und 1933 und Mitgliederverzeichnis der Estländischen Literärischen Gesellschaft zu Reval.- In: Beiträge zur Kunde Estlands 18 (1934), S. 2 7 1 - 2 9 8 . Miller, Robert: Baltika ja haruldaste raamatute osakond (Anm. 32), S. 2 3 - 2 4 .

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Provinzialmuseums in den Besitz des am 2. Oktober 1940 gegründeten Staatlichen Geschichtsmuseums über. Während der folgenden deutschen Okkupation gelang es den Mitarbeitern des Geschichtsmuseums, die Bibliothek vor dem Abtransport nach Deutschland zu retten, indem die Bücher in Verstecke gebracht wurden. Nach dem Ende des Krieges ging das Geschichtsmuseum über in das System der soeben gegründeten Akademie der Wissenschaften der Estnischen SSR. Das bisherige Gebäude der Estländischen Literarischen Gesellschaft wurde dem Präsidium der Akademie der Wissenschaften überlassen, die Bibliothek aber verblieb in ihren bisherigen Räumen im Kellergeschoß. Im Januar 1947 wurde die Zentralbibliothek der Akademie der Wissenschaften der Estnischen SSR gegründet, der im Jahre 1950 die frühere Bibliothek der ELG - leider nicht ganz vollständig - übergeben wurde. Auf der Basis dieses Bestandes wurde im Jahre 1954 der Sektor für seltene und handschriftliche Bücher und im Jahre 1968 die Abteilung für Baltika und seltene Bücher der Wissenschaftlichen Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der ESSR geschaffen.46 Den Kern des Bestandes der Baltika-Abteilung in der heutigen Estnischen Akademischen Bibliothek (EAB) bildet somit die frühere Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft. Wie oben dargelegt, wurde die Lehrerbibliothek der Revaler Domschule im Jahre 1927 an die Bibliothek der ELG angeschlossen. Als selbständige Institution existierte die Bibliothek der Revaler Domschule damit von etwa 1727 bis 1927, also rund 200 Jahre. Die Bücher wurden in der Folge im Bestand der Bibliothek der ELG zerstreut, so daß die Bibliothek der Revaler Domschule als ein selbständiges Ganzes zu existieren aufhörte. Gleichzeitig sind die Bücher jedoch in überwältigender Mehrheit bis zum heutigen Tag erhalten und befinden sich in verschiedenen Abteilungen des Baltika-Bestandes der EAB. Glücklicherweise ist auch der systematisch-alphabetische Katalog der Bibliothek der Revaler Domschule erhalten, und die Bücher tragen den Stempel der Bibliothek. Somit ist die Geschichte der Bibliothek der Revaler Domschule und ihrer Bestände bis zum heutigen Tag zu verfolgen.

46

Ebd., S. 3 3 - 3 6 .

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Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva in der Estnischen Nationalbibliothek

Die politischen Umwälzungen der 40er Jahre unseres 20. Jahrhunderts haben in Estland eine große Neuverteilung der Bibliotheksbestände verursacht - viele Anstalten und Organisationen waren gezwungen, ihre Tätigkeit einzustellen. Deren Bibliotheken wurden entweder an andere Institutionen übergeben oder ganz einfach vernachlässigt; infolgedessen wurden die Bücher verschleppt oder gingen auf irgendeine andere Weise verloren. Das gleiche Schicksal fiel auch den Privatbibliotheken zu, deren Besitzer dem Krieg und der sowjetischen Okkupation zum Opfer gefallen waren. Das Zentrum in Nordestland, wohin die aus den Bibliotheken ausgesonderten oder von Privatpersonen enteigneten Druckschriften zusammengebracht wurden, war die Staatliche Öffentliche Bibliothek der Estnischen SSR.1 Die eingetroffene Literatur wurde zunächst im Reservebestand magaziniert und erst später in die verschiedenen Bestände der Bibliothek eingearbeitet. Neben dem allen Benutzern zugänglichen allgemeinen Bestand gab es damals auch eine streng geheimgehaltene Sondermagazinabteilung mit verbotener und für >Sowjetmenschen< »ideologisch schädlicher« Literatur, zu der ein gewöhnlicher Leser keinen Zutritt hatte. Im Jahre 1950 wurde mit der Anlage einer Rara-Sammlung begonnen, wohin alte und seltene Drucke überstellt wurden, deren Anzahl dank der Erwerbung mehrerer historisch wertvoller Sammlungen im Vergleich zur Vorkriegszeit sprunghaft angewachsen war. Die ersten Zugangsbücher fur rare Drucke enthalten keinerlei Informationen über die Provenienz der angekommenen Literatur, später wurde wohl eine entsprechende Rubrik eingeführt, doch bei den Druckschriften, die in den 40er Jahren in die Bibliothek gelangt waren, steht meistens der Vermerk: »aus dem Reservebestand ausgesondert«. Es fehlen jegliche Unterlagen, die das Eintreffen oder die Übergabe der enteig1

1918 bis 1944 unter dem Namen Staatsbibliothek (estn. Eesti Vabariigi Raamatukogu), dann Staatliche Öffentliche Bibliothek der Estnischen SSR (estn. Eesti NSV Riiklik Raamatukogu), ab 1988 Estnische Nationalbibliothek (estn. Eesti Rahvusraamatukogu). Vgl. Eesti Rahvusraamatukogu ja tema raamatud. National Library of Estonia and its Books. Estnische Nationalbibliothek und ihre Bücher. Koostanud Anne Ainz ja Ene Kenkmaa, Tekst: Piret Lotman.Tallinn: Eesti Rahvusraamatukogu 1992.

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neten Literatur betreffen. Deshalb dienen zur Ermittlung der Provenienz hauptsächlich die Eintragungen, Stempel, Besitzvermerke, Exlibris usw. in den alten Drucken selbst. Es gibt ebenfalls keine Belege darüber, wann die Sammlung der St. Johanniskirche zu Narva, nach der Eintragung in den Bänden verkürzt > Kirchenbibliothek zu Narva < genannt, in die Nationalbibliothek gebracht wurde, ebenso wenig über ihre inhaltliche Zusammensetzung. Die Drucke sind zu verschiedenen Zeiten in den Rara-Bestand eingearbeitet worden, sie sind nicht gesondert aufgestellt, und ihre Zugehörigkeit zur Kirchenbibliothek kann nur nach Eintragungen, Einbänden, ehemaligen Signaturen und Standortnummern de visu festgestellt werden.

Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kirchenbibliothek zu Narva Die Rekonstruktion der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Kirchenbibliothek zu Narva ist kompliziert und muß an vielen Stellen auf Vermutungen basieren. Der in den Bänden zu findende Eintrag »St. Johannis Kirche gehörig« beweist, daß es sich um die deutsche St. Johanniskirche, eine der ältesten Kirchen in Narva handelt, die im März 1944 durch Bombenangriffe zu einer Ruine wurde. Obwohl die Kirche zu den Kulturdenkmälern zählte, wurden in der Nachkriegszeit auch die Mauerreste niedergerissen, da der Wiederaufbau wegen des schlechten Zustands zu aufwendig gewesen wäre. Die Geschichte dieser Kirche war die Jahrhunderte hindurch so kompliziert und wechselvoll, daß auch die Fragen zur Entstehung und Formierung der Bibliothek sowie nach deren möglichen Stiftern nicht einwandfrei beantwortet werden können. In der gedruckten Literatur ist die Kirchenbibliothek zu Narva nicht erwähnt worden, obwohl keine Publikation zur Geschichte Narvas den ehemaligen Aufenthaltsort der Bibliothek - die St. Johanniskirche - übergeht. Über die verhältnismäßig kleine Stadt Narva, deren Einwohnerzahl zu Anfang des 19. Jahrhunderts nur 3000 betrug und auch heute unter 100000 liegt, sind offensichtlich aufgrund ihrer ereignisreichen Geschichte und ihres besonderen Status' als Grenz- und Hafenstadt relativ viele Abhandlungen erschienen, darunter auch Monographien, und das Interesse der Historiker dauert an. Die Kirchenbibliothek ist aber aus irgendeinem Grunde bisher übersehen worden. Nur eine einzige lakonische Bemerkung über die Bibliothek konnte von der Autorin in der 1929 erschienenen Broschüre Turist Narvas entdeckt werden: »In der Turmkammer der Kirche befand sich früher die Bibliothek mit hauptsächlich theologischen Büchern.«2 Daraus ist zu schließen, daß die Sammlung 2

Gustav Matto: Turist Narvas [Tourist in Narva].- Narva: Narva Linnavalitsus 1929, S. 15.

Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva

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damals nicht mehr in der Turmkammer untergebracht war; die gleichgültige Beschreibungsweise zeugt aber davon, daß es sich für den Autor und die Stadtbewohner um etwas Fremdes und Uninteressantes gehandelt haben muß. Der Grund dafür, daß die Kirchenbibliothek in Vergessenheit geraten war, könnte in der Entwicklung der Stadt liegen. Während der russischen Herrschaft hatten sich hier sowohl die Struktur und die nationale Zusammensetzung der Einwohnerschaft wie auch die konfessionelle Privilegierung gründlich verändert. Unter schwedischer Herrschaft war Narva eine blühende Handels- und Industriestadt, die sogar mit Reval konkurrierte. Schon damals war die nationale Zusammensetzung der Einwohnerschaft äußerst bunt. Der Chronikschreiber Christian Kelch berichtet: [...] treibet auch Narwa [...], bis auf diesen Tag grossen Handel, wie denn in Narwa so vielerlei Nationen verkehren, dass keine Stadt im ganzen Königreich Schweden ist, da man so vielerlei Sprachen reden höret, als in dieser, und zwar so sind in besagter Stadt die Schwedische, Deutsche, Finnische, Ehstnische, Polnische, Russische und Englische Sprache so gangbar, dass ein Liebhaber genugsahme Gelegenheit hat, welche ihm aus diesen gefallet, zu lernen.3

Unter schwedischer Herrschaft war die lutherische Kirche eine Staatskirche. Dieser Status wurde ihr schon zur Zeit Karls XI. (1694) mit dem schwedischen Kirchengesetz, das bis zum Jahre 1833 gültig war, verliehen. Aufgrund des russischen Kirchengesetzes von 1832 besaß die evangelisch-lutherische Kirche keine Vorrangstellung mehr, sondern wurde gewissermaßen nur geduldet. Die zweite Auflage des Kirchengesetzes (1857) enthielt schon Verordnungen, die der orthodoxen Kirche den Vorzug gaben. Nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, verlor die Stadt Narva ihre wichtige Rolle als Zentrum des Kirchenlebens. Das schon 1648 von der Königin Christina gegründete Konsistorium in Narva, dessen geistliche Gerichtsbarkeit sich über Narva, Ingermanland und Alientacken (estn. Alutaguse) erstreckte, mußte seine Tätigkeit einstellen, und die evangelisch-lutherischen Kirchen wurden dem St. Petersburger Konsistorial-Bezirk zugeordnet. Im 19. Jahrhundert wurde Narva die wichtigste Textilindustriestadt der baltischen Gouvernements, hierher strömten Arbeiter aus ganz Rußland, und die Einwohnerzahl vervielfachte sich. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schulbildung hauptsächlich russischsprachig geworden. Obwohl die Nachfolger der deutschen Familien auch während der Estnischen Republik in ihrer Heimatstadt Narva blieben und die St. Johanniskirche nach wie vor der deutschen Gemeinde gehörte, hatten die Gemeindemitglieder offensicht-

3

Christian Kelch: Lieffländische Historia [...] in funff Büchern abgefasset.- Reval, Rudolstadt: Mehner 1695, S. 11.

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lieh schon ganz andere Interessen, während das Geistesgut der Kirchenbibliothek nur noch einzelnen Personen verständlich war. Die St. Johanniskirche zu Narva wurde in den Jahren 1641-51 gebaut und war ursprünglich für die schwedische Gemeinde vorgesehen. Die deutsche Gemeinde besaß damals ihr eigenes Gotteshaus in der ältesten Steinkirche der Stadt, die 1430 erbaut worden war. Schon bald spiegelte sich die St. Johanniskirche auch in Wort und Bild wider. So ist in der zweiten Auflage der bekannten Reisebeschreibung von Adam Olearius, Offt begehrte Beschreibung der Newen Orientalischen Reise (1656)4 eine Ansicht der Stadt Narva abgedruckt, auf der die Türme der beiden Kirchen zu sehen sind, die in den Anmerkungen als Deutsche Kirche und Schwedische Kirche bezeichnet werden; im Text wird über den Bau der schwedischen Kirche berichtet. Wie die Kirche dann alle wichtigen Ereignisse der Stadtgeschichte miterlebte, so fiel sie auch mehrmals dem Feuer zum Opfer, wenn verheerende Feuersbrünste in der Stadt wüteten. Sowohl die schwedische als auch die deutsche Kirche waren Mittelpunkte des kulturellen Lebens der Stadt und eng mit den Schulen verbunden. Im 17. Jahrhundert war das Geistesleben in Narva speziell im kirchlichen Sinne äußerst intensiv. In den Jahren 1641 -1657 war der bekannte Gelehrte Heinrich Stahl (ca. 1600-1657), den man für den Begründer der älteren estnischen Schriftsprache hält, Superintendent von Narva und Ingermanland. Er führte sein Amt sehr aktiv, plante vieles und setzte es auch in die Tat um: Neben der Verbesserung der Zustände im kirchlichen Leben (Gehaltserhöhung für die Geistlichen), widmete er der Schulbildung große Aufmerksamkeit; seine besondere Fürsorge galt aber der Missionsarbeit unter den Orthodoxen von Ingermanland. Aus diesem Grunde war er ganz besonders daran interessiert, die nötige Literatur sowohl den Geistlichen als auch dem Volk zugänglich zu machen. Die beabsichtigte Gründung einer Druckerei in Narva zur Herausgabe von Druckschriften in schwedischer, russischer und lateinischer Sprache kam zeit seines Lebens jedoch nicht zustande. Er unternahm auch konkrete Schritte zur Verbesserung der kirchlichen Verhältnisse: so bat er die Regierung, 40 bis 50 Exemplare von Bibeln in finnischer Sprache für die Kirchen von Ingermanland zu spenden.5 Aus dem Briefwechsel von Stahl kann man schließen, daß er schon zu Beginn seiner Amtstätigkeit die 4

Adam Olearius: Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Rejse [...].- Schleswig: Jakob zur Glocken 1647. - Einen Nachdruck der zweiten, erweiterten Auflage u. d. T. Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse [...].- Schleswig: Fürstl. Druckerei/Johann Holwein 1656 gab Dieter Lohmeier 1971 im Verlag Niemeyer, Tübingen, in der Reihe Deutsche Neudrucke (Reihe Barock, Nr. 21) heraus. 5 Piret Lotman: Veel kord Heinrich Stahli Ingerimaal kirjutatud katekismusest. In: Keel ja Kiijandus 8 (1995), S. 541-547, S. 542. Piret Lotmans Angaben stammen aus dem Schwedischen Staatsarchiv, Livonica II, 202: H. Stahls Brief vom 09.08.1643.

Die Bücher der Kirchenbibliothek

zu Narva

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Gründung einer Bibliothek beim Konsistorium für notwendig hielt.6 Leider gibt es keine Belege darüber, ob bereits zu Stahls Lebzeiten eine Bibliothek gegründet wurde. Die Rara-Sammlung der Estnischen Nationalbibliothek enthält ein 1687, also 30 Jahre nach Stahls Tod gedrucktes Buch im Originaleinband des Konsistoriums. Es handelt sich um das schwedische Kirchengesetz, das in schwarzes Leder gebunden ist und auf dem Vorderdeckel in Blinddruck den Text »Narvens Consistorium« trägt.7 Die Intensität des Geisteslebens - und damit auch das Interesse für Literatur - wurde zweifellos von der Zahl der sogenannten > Literaten < in Narva geprägt.8 Daß es in der Stadt an hochgebildeten Bürgern nicht fehlte, geht aus dem Gelehrtenkatalog Narva literata (1703) klar hervor.9 Diese 20seitige Broschüre in lateinischer Sprache, wie durch ein Wunder während des Nordischen Krieges zwischen zwei blutigen Schlachten herausgegeben, stellt eines der ersten biographischen Lexika über hiesige Persönlichkeiten dar, das zudem in Estland gedruckt wurde. Hier finden wir Angaben über 120 Personen, die entweder in Narva wohnhaft oder sonst irgendwie mit der Stadt verbunden waren. Über die Namen hinaus sind noch weitere Angaben enthalten: Ämter und ggf. akademischer Grad sowie Herkunftsort. Sowohl aus der nächsten Umgebung (Narvensis, Revaliensis, Ingermannus) als auch aus Schweden (Svecus), Deutschland (Westphalus), Polen und sogar aus England stammten die > Literaten < (Gelehrten) von Narva, unter denen Lehrer, Geistliche, Juristen und Ratsherren genannt werden, auch einige Studenten wurden zum > Literatenstand < gezählt. Etliche Personen aus der Narva literata haben ihre Namen in die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva handschriftlich eingetragen, so beispielsweise die Juristen Gustav und Konrad Herbers, der Justizbürgermeister Sigismund Adam Wolff und Pastor Johannes Govinius. Allerdings gab es beträchtlich mehr Buchbesitzer, die in dem Nachschlagewerk ihrer Heimatstadt nicht vertreten sind, jedoch - wie aus anderen Quellen hervorgeht - gebürtig aus Narva kamen oder in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts dort tätig waren. So tauschte zum 6

Lotman: Veel kord Heinrich Stahli (Anm. 5), S. 542. Kyrkio-Lag och Ordning, som [...] Carl then Elofte [...] ihr 1687. af trycket utgä och publicerna. Jemte ther til hörige Stadgar.- Stockholm: Eberdt 1687. 8 Vgl. dazu grundlegend Wilhelm Lenz: Der baltische Literatenstand.- Marburg/ Lahn: [o.V.] 1953 (= Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas; 7) und Clara Redlich: »Literaten« in Riga und Reval im 17. und 18. Jahrhundert.- In: Reval und die baltischen Länder. Festschrift fur Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag. Im Auftrag der Baltischen Historischen Kommission und des Johann-Gottfried-Herder-Instituts hrsg. von Jürgen von Hehn und Csaba Jänos Kenez.- Marburg/Lahn: Herder-Institut 1980, S. 295-311. 'Narva literata sive catalogus eruditorum Narvensium.- Narva: [o.V.] 1703. 7

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Beispiel ein gewisser »Hend. Mollerus Narvensis« Bücher mit dem Pastor von Ingermanland, Erik Candelin (f 1720) und dem Rektor der schwedischen Schule, Isac Börk (t 1700). Die Namen von Candelin und Mollerus sind auf dem Titelblatt von Johannes Botsacks Moralium Gedanensium (Frankfurt 1655) zu finden. Die Vorsatzblätter von Johann Ebarts Enchiridion theologicum positivo-polemicum (Jena 1675) sind dicht beschrieben worden. Auf der Innenseite des Vorderdeckels verkündet Erik Candelin sein Eigentumsrecht: Anno millecimo Sexentecimo nonagecimo nono die 6 Aprilis hunc librum mihi acquisivi, a Henrico Mollero Narvensi. Pretio justissimo 6 Thalerae Cupreae monetae. Ericus Candelinus Wiburg 1699.

Eine Eintragung in schwedischer Sprache auf der Innenseite des Rükkendeckels, datiert 1698 und leider nicht vollkommen erschließbar, verbindet Mollerus mit dem Rektor Börk, der mit seiner wechselvollen Lebensgeschichte eine tiefe Spur in der Kulturgeschichte hinterlassen hat und auch in heutigen schwedischen Nachschlagewerken nicht übergangen wird. Vor seiner Tätigkeit in Narva hatte er an den Universitäten Uppsala und Dorpat (estn. Tartu) studiert und als Dramatiker am ersten professionellen Theater in Stockholm gewirkt. Seine Tätigkeit in Narva war nur von kurzer Dauer, 1695 wurde er als Notar am hiesigen Konsistorium angestellt; das Amt des Rektors der schwedischen Schule konnte er nur in den letzten Jahren seines Lebens bekleiden. Isac Börk besaß auch ein Exemplar der gesammelten Werke von Vergil, offensichtlich nach Johannes Gezelius, weil dessen Eintragung aus der Zeit stammt, als Isac Börk noch nicht in Narva war: »Emi Narvae d. 10 Obris A. 1686 3. Imperialib. Johannes Gezelius«. Die beiden Besitzer waren durch die schwedische Schule zu Narva verbunden, wo Gezelius im Amt des Rektors der Vorgänger von Börk war. Aus Nachschlagewerken ist ersichtlich, daß es in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts in Narva zwei Personen mit dem Namen Johannes Gezelius gab, auch der Superintendent von Narva 1681-88 trug diesen Namen, allerdings waren die Vatersnamen unterschiedlich: der Vater des Superintendenten hieß Johannes, der des Rektors Georg.10 Zugunsten der Vermutung, daß Rektor Johannes Gezelius der Besitzer der Werke von Vergil war, spricht die Tatsache, daß ihn und Isac Börk außer dem Rektoramt noch weiteres verband: beide stammten aus demselben Landkreis in Schweden und studierten fast gleichzeitig an den Universitäten in Uppsala und Dorpat. Eine besondere Kollektion bilden im früheren Teil der Kirchenbibliothek zu Narva die Bücher, die der Familie Herbers gehört haben. Unter 10

Dem schwedischen Brauch entsprechend hießen die beiden also vollständig: Johannes Johanni Gezelius und Johannes Georgii Gezelius, wobei zuweilen auch der Nachname weggelassen wurde.

Die Bücher der Kirchenbibliothek

zu Narva

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ihnen befindet sich eine Bibel in lateinischer Sprache, gedruckt 1570 in Antwerpen, die älteste Bibel im Bestand der Rara-Sammlung der Estnischen Nationalbibliothek; weiter liegen Elzevier-Ausgaben vor, wie Hugo Grotius' Epistolae ad Gallos (Leiden 1628) und Gasparo Contarinis De republicae Venetorum (Leiden 1648); aus dem 16. Jahrhundert stammen Ciceros Tusculanarum quaestionum aphorismi (Basel 1580), Tacitus' Opera omnia (Leiden 1584) und andere wertvolle Schriften. Es gibt Werke griechischer und römischer Autoren, Abhandlungen zur Theologie und zur Geschichtsschreibung, Wörterbücher u.v.m.; insgesamt sind von der Familie Herbers über 50 Druckschriften in die Kirchenbibliothek gelangt. Die Eintragungen in den Büchern sind zu verschiedenen Zeiten gemacht worden, wobei der Familienname konstant bleibt, nur die Vornamen verändern sich, was davon zeugt, daß in dieser Familie die Liebe zum Buch durch Generationen fortgedauert hat. Die ältesten Eintragungen stammen von Ulrich Herbers, der in den 70er Jahren des 16. Jahrhunderts in Narva Bürgermeister war. Von seinen zwölf Kindern haben drei ihre Namen in die Bücher hineingeschrieben: Gustav, Konrad und Hermann.11 Gustav und Konrad Herbers waren Juristen und hatten an der Universität Halle studiert. Gustav Herbers (1674-1704) war nach dem Studium als Advokat in Narva tätig und kam im Jahre 1704 bei der Eroberung Narvas um. Konrad Herbers (16721723) war ebenso Rechtsanwalt, dazu noch Ratsherr und Gerichtsvogt in Narva. In direkter Verbindung mit der Kirche stand der älteste Bruder, Hermann Herbers (1668-1701), der von 1692 bis 1699 als Diakon und Pastor der deutschen Gemeinde zu Narva tätig war. Vermutlich gelangten die Bücher von Herbers durch seinen Sohn Ulrich Johann in die Bibliothek. Dieser wurde vom Narvaer Magistrat 1722 zum ersten Konrektor und 1726 zum Rektor der nach dem Nordischen Krieg wiedereröffneten deutschen Stadtschule zu Narva bestimmt. Wie sein Vater und seine Onkel hatte auch Ulrich Johann Herbers die Universität besucht und war Kandidat der Theologie; 1756 ging er aus dem Rektoramt in den Ruhestand. Wohl mit einem geringeren Anteil von Büchern, die allerdings wieder mehreren Generationen gehörten, ist die Familie des Justizbürgermeisters Sigismund Adam Wolff (1646-1720) im Bestand der Kirchenbibliothek vertreten. Die früheste Eintragung ist zwar ohne Datum, doch mit einer Ortsangabe für den Besitzer: »Siegmund Adam Wolff Sagan. Siles.« Dieser Eintrag steht auf dem Vorsatzblatt eines Konvolutes, das achtzehn in verschiedenen deutschen Städten in den Jahren 1620-40 herausgegebene juristische Traktate zusammenfaßt. Der Justizbürgermeister Sigismund Adam Wolff, der als Gründer des livländischen Zweiges der Familie von Wolff gilt, stammte gebürtig aus der Stadt Sagan in " U l r i c h Herbers', weil. Bürgermeisters zu Narva: Lebensmaximen.- In: Baltische Monatsschrift 57 (1904), S. 370-383.

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Schlesien. Er studierte Jura in Frankfurt an der Oder und kam wahrscheinlich 1669 oder 1670 nach Narva. Dort bekleidete er verschiedene Ämter beim Rat und wurde im verhängnisvollen Jahre 1704 Justizbürgermeister. Nach der Eroberung Narvas durch die russischen Truppen teilte er das bittere Schicksal anderer Stadtbürger und wurde auf Befehl der russischen Regierung 1708 nach Inner-Rußland, nach Wologda, in die Verbannung geschickt. Unter den Verbannten befand sich auch sein Sohn Sigismund Adam Wolff d.J. (1675-1752), der damals Gerichtsvogt war und später außerhalb Narvas verschiedene wichtige Ämter im Gerichtssystem von Est- und Livland bekleidete; 1721-1730 war er Vizepräsident des russischen Justizkollegiums. An Wolff d.J. erinnert die handschriftliche Eintragung auf dem Vorsatzblatt des Werkes von Melchior Junius, Selectarum epistolarum ex Μ. T. Ciceronis familiaribus (Lübeck 1633): Wilhelm Bastian Ritter 1 Januarius 1705 In Narva, von Sigismund Adam Wolff [...] hat dieses Buch gekaufft [...].

Auch der Enkel des Justizbürgermeisters und Neffe von Sigismund Adam Wolff d.J., der ebenso Sigismund Adam Wolff hieß, war Jurist von Beruf. Während des Studiums an der Universität Königsberg12 schenkte er der Kirchenbibliothek das Lexikon der Scholastik von Basilius Faber, Thesaurus eruditionis scholasticae (Leipzig 1587) in einem Folioband. In diesem Zusammenhang schrieb sein ehemaliger Lehrer in der Stadtschule zu Narva und Pastor der Johanniskirche, Johann Heinrich Lange, auf dem Titelblatt des Buches folgende Zeilen nieder: Hie utilis liber bibliothecae nostrae donata est a discipulo olim optimae notae hinc Regiomantum professuro Sigismundo Adamo Wolfio d III September scholae nostrae valedicente MDCCLXIII.

Von 1700 bis 1701 war der in Reval geborene Nicolaus Bergius (16581706) Superintendent über Narva und Ingermanland und zugleich Pastor der schwedischen Kirche. Trotz seiner kurzen Amtszeit hat er vieles erreichen können. Bergius war ein vielseitig gebildeter Mann, der seine Zeitgenossen mit außerordentlichen Sprachkenntnissen in Erstaunen versetzte, denn außer den klassischen Sprachen beherrschte er noch die französische, italienische, schwedische, englische, niederländische, estnische, finnische und russische Sprache. Auch die von ihm bekleideten Ämter zeugen davon, daß es fur ihn keine Sprachgrenzen gab: in Stockholm war er Pastor der französischen Gemeinde, in Narva Superintendent und Pastor der schwedischen Gemeinde; von Narva ging er nach 12

Julius Eckhardt: Livland im achtzehnten Jahrhundert.- Leipzig: Brockhaus 1876, S. 559.

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Pernau (estn. Pärnu), wo er Superintendent von Livland wurde, außerdem war er noch Prokanzler an der Universität und Pastor der deutschen Gemeinde. Die Missionsarbeit lag ihm sehr am Herzen, sie war jedoch ohne Literatur nicht durchfuhrbar. Aus diesem Grund gab er in Narva Luthers Kleinen Katechismus in schwedischer und russischer Sprache heraus. Auch mit den Büchern in der dortigen St. Johanniskirche stand er gewiß in Verbindung, obwohl sein Autogramm - genauso wie das von Heinrich Stahl - nirgends in den Bänden vorkommt. Es ist auch bekannt, daß er das Archiv des Konsistoriums in Ordnung bringen und einbinden ließ,13 weil er sich selbst fur die Geschichte interessierte. Vermutlich wurden dann auch die Bücher der Konsistoriumsbibliothek gebunden, wie zum Beispiel das oben erwähnte schwedische Kirchengesetz. In dem Artikel über Bergius in der Livländischen Bibliothek von Friedrich Konrad Gadebusch werden die in der Kirche angesammelten Bücher erwähnt. Auch ist dort der scherzhafte Ausspruch des russischen Popen Fjodor Stepanov, der Bergius die russische Sprache beibrachte, über den großen Bücherraub des russischen Heeres in den Kirchen zu Narva während des Nordischen Krieges abgedruckt: Die Russen hätten Narva angegriffen, nicht mit Waffen, sondern mit Büchern: sie hätten nicht einen Feldzug, sondern einen kirchlichen Umgang vorgenommen.14

Wie viele Bücher dem Raub entgingen, in der Stadt blieben und später in die Bibliothek der Johanniskirche gerieten, bzw. wie groß überhaupt der von der schwedischen Gemeinde und dem Konsistorium herstammende Bestand der Bibliothek war, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Schon seinem Äußeren nach scheint die mit einem Vorwort in französischer Sprache von Nicolaus Bergius versehene Kirchengeschichte von Erik Benzelius, Breviarium historiae ecclesiasticae (Strengnäs 1699), diesen Kirchenraub überlebt zu haben: der Pergamenteinband ist fleckig und trägt Brandspuren, etwa zehn Seiten sind am Anfang herausgerissen, - so könnte in der Tat ein Buch aussehen, das in die Hände der russischen Soldaten gelangt war. Wann die Bücher in die Bibliothek gelangten oder welcher Gemeinde sie zuvor gehört hatten, läßt sich auch nach dem Inhalt schließen. Nicolaus Bergius war bekannt als ein Mann mit strengen orthodoxen Prinzipien, der keine Abweichungen von der Augsburger Konfession duldete. Für die Bibliothek des Konsistoriums oder für die der schwedischen Gemeinde hätte er auf keinen Fall Werke von Pietisten und religiösen Mystikern ausgewählt. Philipp Jakob Spener 13

Eesti evangeeliumi luteri usu konsistooriumi ja kirikute arhiividest.- In: Eesti Kirik 13/14 (1934), Nr. 12, S. 3. 14 Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek. Bd. I-IIL- Riga: Hartknoch 1777, Bd. I, S. 47.

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wurde von ihm schon in einem seiner in Schweden verfaßten Werke als > falscher Prophet < bezeichnet; als Prokanzler an der Universität Pernau wurde Bergius später ein heftiger Gegner der pietistischen Theologen. In der deutschen Gemeinde zu Narva aber war der Pietismus schon am Ende des 17. Jahrhunderts vorherrschend, sowohl zur Zeit Hermann Herbers, der auch pietistische Ansichten hatte, als auch später. Gustav Herbers, der Bruder von Hermann, stand im Briefwechsel mit August Hermann Francke, einem der fuhrenden Vertreter des Pietismus.15 Narva war also »Stützpunkt von Halle« in Estland.16 Die Polemik um die Reinheit des Glaubens in Livland war so heftig, daß sie sogar während des Krieges nicht zum Erliegen kam. Im Jahre 1710, der schwersten Zeit des Nordischen Krieges, wurde in Stockholm eine Kommission gebildet, um die im Glaubensstreit entstandenen Probleme in Livland zu lösen. Die Kommission kam zu dem Schluß, daß Livland in großer Gefahr sei, nicht nur wegen des Krieges, sondern auch wegen der falschen Ansichten der Pietisten.17 Zu Anfang des 18. Jahrhunderts rückten theologische Dispute in Narva selbst vermutlich jedoch in den Hintergrund, denn die Stadt, ihre Einwohner und Kirchen unterlagen den schwersten Schicksalsschlägen ihrer bisherigen Geschichte. Während des Nordischen Krieges ging die Stadt von Hand zu Hand. Im Jahre 1700, nach dem Sieg der Schweden bei Narva, ließ Karl XII. in der schwedischen Kirche einen Dankgottesdienst abhalten. Schon 1704 aber feierte an demselben Ort Peter I. den russischen Sieg. Am 29. Februar 1708 machte der Magistrat zu Narva den Befehl des Zaren bekannt, daß alle Stadtbürger, die hier während der schwedischen Zeit gelebt hatten, ihre Heimatstadt verlassen und nach Rußland gebracht werden sollten, weil sie in Verdacht stünden, noch für die frühere Regierung eine Vorliebe zu bewahren.18 Die Einwohner wurden in verschiedene Städte Rußlands verbannt, hauptsächlich nach Wologda, wohin 1700 Narvaer gelangten, aber auch nach Archangelsk, Kasan, Woronesch und Nowgorod. Nur ungefähr 300 Lutheraner, unter ihnen der Pastor Heinrich Bruiningk, blieben in Narva zurück. Der andere Pastor, Johann Andreas Helwig, befand sich in der Verbannung in Wologda. Erst nach zehn Jahren durften die überlebenden Gemeindemitglieder in ihre Heimatstadt zurückkehren. Der Zar erlaubte gnädig, daß sie ihre Häuser wieder bewohnen durften,19 doch natürlich waren die Zu15

Voldemar Ilja: Vennastekoguduse (herrnhutluse) ajalugu Eestimaal (PöhjaEesti) 1730-1743.- Helsinki: Societas historiae ecclesiasticae Fennica 1995, S. 218. 16 Ebd. 17 Tartu ülikooli ajalugu. 1632-1798. Bd. I-III.- Tallinn: Valgus 1982, Bd. I, S. 146-148. 18 Heinrich Johann Hansen: Geschichte der Stadt Narva.- Dorpat: Laakmann 1858, S. 251-252. 19 Ebd., S. 278.

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rückgekehrten verarmt, ihr Zuhause war verfallen oder ausgeplündert, ihr Gut verschleppt, und es dauerte Jahre, bis das Leben wieder ins Gleis kam. Die Kriegsfolgen und der Wechsel im Besitz der Kirchengebäude haben selbstverständlich jegliche Kontinuität des kirchlichen Lebens zerstört. Auf Befehl des Zaren Peter I. wurden zunächst die beiden lutherischen Kirchen den Orthodoxen übergeben. Das Gebäude der deutschen Kirche blieb dann in den Händen der Orthodoxen, als russisch-orthodoxe Kirche wurde es in > Kathedrale der Verklärung Christi < umbenannt. Die schwedische Kirche jedoch befand sich nur vier Jahre, 1704-08, im Besitz der Russen, danach stand sie 25 Jahre leer. Falls es vor dem Nordischen Krieg in einer Kirche (oder sogar in beiden) eine Bibliothek gegeben haben sollte, konnte diese unter den widrigen Bedingungen nicht unversehrt erhalten bleiben. Nach Erinnerungen des Narvaer Bürgermeisters Gerhard Heinrich Arps, die als Manuskript aus dem Jahre 1745 erhalten sind,20 wurde der Besitz der deutschen Kirche, darunter auch Bücher und verschiedene Dokumente, während der Schlachten unter dem Altar oder anderenorts in der Kirche versteckt. Nach der Eroberung der Stadt wurde das Kircheneigentum eingezogen, vom ganzen Beutegut ist später nur ein einziges Kirchenbuch gefunden worden. In seinem Manuskript erwähnt Arps auch eine mit Silberbeschlag geschmückte Altarbibel der deutschen Kirche, die nach der Übergabe des Gotteshauses an die Russen ins Rathaus gebracht wurde, wo sie zur Ablegung des Eides diente.21 Diese Bibel war 1686 in Nürnberg herausgegeben worden, und die im Alter von 22 Jahren verstorbene Hedwig Tretzel hatte sie der deutschen Gemeinde vermacht. Als die Kirche der deutschen Gemeinde wieder zuerkannt wurde, konnte auch die Bibel wie früher benutzt werden. Wo sich die Altarbibel der deutschen Kirche zur Zeit befindet, ist der Autorin unbekannt; in den Beständen der Nationalbibliothek ist keine Bibel vorhanden, die der Beschreibung entsprechen könnte. Was den übrigen verlorenen Kirchenbesitz betrifft, so schließt Arps jedoch die Möglichkeit nicht aus, daß die damaligen Pastoren der deutschen Gemeinde, Helwig und Bruiningk, einen Teil davon versteckt haben könnten. Derselbe Bürgermeister Gerhard Heinrich Arps schenkte der Gemeinde zusammen mit dem Ratsherren Jürgen Steffens im Jahre 1719, als für die Deutschen noch im Rathaus Gottesdienst abgehalten wurde, ein umfangreiches Werk in einem Pergamentband, Biblische Summarien oder gründliche Auslegung über die ganze Heil. Schrift Alten und Neuen Te20 21

Ebd., S. 225. Über das weitere Schicksal der Bibel berichtet Otto Clemen in seinem Aufsatz: Die Bibel in der Johanniskirche zu Narva.- In: ders.: Beiträge zur Kulturgeschichte aus Riga, Reval und Mitau.- Berlin, Riga, Leipzig: Würtz 1919, S. 275-279.

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stamentes (Leipzig 1709). Auf dem Vorsatzblatt steht folgende handschriftliche, kalligraphisch gestaltete Widmung: Gott zu Ehren und Der Christlichen Teutschen Gemeine in Narva zur Erbauung gaben diese Auslegung der gantzer Bibell [...] v. Wohlweisen Herrn der Raths, Hr. Jürgen Steffens, v. Hr. Gerhard Hinrich Arps den 28. Februarius Anno 1719.

Diese Eintragung beweist, daß man ungeachtet des Fehlens eines eigenen Gotteshauses doch bestrebt war, Bücher anzusammeln. Erst 1733 wurde es den Lutheranern erlaubt, das mittlerweile seit 25 Jahren leerstehende Gebäude der schwedischen Kirche wieder zu benutzen. Da die meisten Mitglieder der schwedischen Gemeinde die Stadt verlassen hatten, wurden jetzt die Deutschen, die bisher ihren Gottesdienst im Rathaus und im Börsengebäude abhalten mußten, Besitzer der ehemaligen schwedischen Kirche. Die wenigen Schweden, die in der Stadt geblieben waren, schlossen sich der finnischen Gemeinde an. Diese besaß schon vor dem Nordischen Krieg eine kleine hölzerne Kirche in der Neustadt Narvas, die während des Krieges niederbrannte, aber 172627 wieder aufgebaut wurde. Die Gottesdienste wurden abwechselnd in finnischer und schwedischer Sprache abgehalten. Zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es in der schwedischen Gemeinde nur etwa zehn Mitglieder.22 Als das Kirchengebäude der deutschen Gemeinde zuerkannt wurde, saß die Zarin Anna Iwanowna auf dem russischen Thron. Bei ihr hatten zwei einflußreiche Männer für die deutschen Gemeindemitglieder Fürsprache eingelegt: der Präsident des Kriegskollegiums, Graf von Münnich, und der Erzbischof von Nowgorod, Theophanes (Feofan Prokopowitz), ein angesehener orthodoxer Geistlicher, der in theologischen Fragen durch seine Toleranz bekannt war und auch ein guter Freund des damaligen Pastors der deutschen Gemeinde in Narva, Caspar Matthias Rodde, gewesen sein soll. Der Michaelistag des Jahres 1734 war ein wichtiges Datum für die deutsche Gemeinde: das ihnen übergebene ehemalige schwedische Gotteshaus wurde als St. Johanniskirche eingeweiht. Jetzt, in einer neuen stabileren Periode konnte auch die Kirchenbibliothek sich herausbilden. Wie dies in der Tat vor sich ging, kann man nur vermuten. Aus der verhältnismäßig großen Zahl der Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert (etwa 700 Drucke), die mehr als ein Viertel des Gesamtbestandes der Kirchenbibliothek ausmachen, läßt sich wohl schließen, daß in die Kirche auch Bücher aus einer anderen, schon im vorherigen Jahrhundert in der Stadt vorhandenen Bibliothek gebracht wurden.

22

August Wilhelm Hupel: Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland, Anhang.- Riga: Hartknoch 1777, S. 49.

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Caspar Matthias Rodde (1689-1743), der damalige Pastor, war zweifellos an Literatur und Büchern interessiert. Er scheint ein Mann gewesen zu sein, der sich seiner geistlichen Mission durchaus bewußt war. Auch war er pietistisch gesinnt und durch seine freundliche Einstellung zur Brüdergemeine bekannt. Im Jahre 1708 wurde er zusammen mit anderen Stadtbürgern nach Rußland verbannt; dort erlernte er die russische Sprache und übersetzte später pietistische Werke ins Russische, u. a. Johann Arndts Wahres Christenthum und August Hermann Franckes Traktat Anfang der christlichen Lehre. Rodde hatte an der Universität Halle Theologie studiert, wo er mit Francke persönlich bekannt wurde; auch später in Narva blieb er dessen Anhänger. Darüber hinaus pflegte Rodde freundschaftliche Beziehungen zu zwei hohen orthodoxen Geistlichen, Theophanes und Simon Kochanowski, die eine bedeutende Rolle in der Geschichte der russischen orthodoxen Kirche gespielt haben. Die Tätigkeit Roddes trug einen beträchtlichen Teil dazu bei, daß Narva in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Stützpunkt für Pietisten und Herrnhuter aus Halle wurde, um dann Verbindungen mit Petersburg und überhaupt mit dem Osten aufzubauen.23 In der Kirchenbibliothek gibt es 17 Bände, die Pastor Rodde gehört haben, darunter viele Konvolute, insgesamt 53 Titel. Zwei Sammelbände, die Kleinschriften enthalten, charakterisieren die Interessen und Ansichten des Besitzers besonders eindrucksvoll: im ersten sind Predigten, Trauerreden und -lieder zum Tod von August Hermann Francke und Paul Anton, im zweiten solche zum Tod von Joachim Justus Breithaupt versammelt worden. Anton und Breithaupt waren wie Francke bekannte pietistische Gelehrte. Ferner liegen Predigtsammlungen vor, hauptsächlich von pietistischen Autoren, darüber hinaus exegetische Werke sowie Abhandlungen zur Geschichte und zum klassischen Altertum. Die handschriftlichen Eintragungen in Roddes Büchern zeigen, daß die Werke erst nach dem Tod des Besitzers in die Kirchenbibliothek gelangt sind, denn viele enthalten einen Hinweis auf die Auktion, die nach Roddes Tod stattfand und bei der die Bücher erworben wurden. Johann Heinrich Lange, später Pastor der Johannisgemeinde, war zum Zeitpunkt des Todes von Caspar Matthias Rodde in Petersburg tätig und kam erst 15 Jahre später nach Narva, doch auf irgendeinem Wege hatte er sich von der Auktion ein Buch besorgt, wie die Eintragung auf dem Vorsatzblatt des Werkes beweist: »Ex auctione def. Rodde Narva olim pastoris Primarius comparavi mihi [...] 1 Vi Rbl. Petroburgi d. 17 Oct. 1744«.24 Von einem ähnlichen Kauf berichtet die Notiz auf dem Vorsatzblatt der Predigtsammlung von Philipp Jakob Spener (Frankfurt/M. 1711): »Anno 1744

23 24

Ilja: Vennastekoguse (herrnhutluse) ajalugu (Anm. 15), S. 217-218. Es handelt sich um: Joachim Justus Breithaupt: Das Saltz der Erden.- Halle: Verlag des Waisenhauses 1729.

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d. 30 Junius habe ich dieses Buch gekauft von der Seeligen Pastor Roddes Hausbibliothek von Ein Rubel und 30 Cop. Isac Backmann.« Pastor Rodde selbst hat der Stadtschule, wo er Arabisch unterrichtete, ein Buch geschenkt; seine handschriftliche Widmung steht auf dem Titelblatt des historischen Werkes Flosculi historiarum in areolas suas distributi (Leiden 1662) vom französischen Jesuiten Jean de Bussieres: »Ad Cl. Im destin. A Dno P. Roddio.« Das Werk In historia Trogi Pompeii epitomarum von Justinus hatte zuerst Rodde gehört, danach war es im Besitz des Rektors Ulrich Johann Herbers und wurde an die Schulbibliothek weiterverschenkt. Den Besitzerwechsel dokumentieren die Eintragungen auf dem Titelblatt: »Caspar Matthias Rodde 1701«; »dono dedit Ulr. Joh. Herbers 1722, qui hunc librum rursus dicat classi primae scholaeNarv. 1732.« Die Stadtschule wird also ursprünglich eine eigene Bibliothek gehabt haben, doch später wurden die Kirchenbibliothek und die Bibliothek der Stadtschule als eine Einheit betrachtet, denn die Bücher aus beiden Sammlungen weisen ganz ähnliche Signaturen und Einbände auf. Es sind auch Werke vorhanden, die aufgrund der Eintragungen anscheinend gleichzeitig den beiden Bibliotheken gehörten: »Kirchenbibliothek zu Narva«; »ad Cl Im.« - In diesen zwei Bibliotheken spiegelten sich die Interessen ein und desselben Personenkreises wider: In der Stadtschule, die sich neben der Kirche befand, wurden die Kinder der Gemeindemitglieder unterrichtet, und die Lehrer waren oft sowohl in der Schule als auch in der Kirche tätig. Folglich waren es oft die selben Personen, die den beiden Bibliotheken Bücher schenkten oder für sie erwarben. Die Verbindung der deutschen Stadtschule mit der St. Johanniskirche übte ohne Zweifel einen fruchtbaren Einfluß auf die Entwicklung und den Zuwachs der Kirchenbibliothek aus. Vermutlich sind bei der Anschaffung der Werke die Bedürfnisse beider Institutionen berücksichtigt worden. Die meisten Schullehrer waren Kandidaten der Theologie,25 deshalb ist ein Interesse an theologischer Literatur und eine eifrige Benutzung der Bibliothek anzunehmen. Ausgehend vom Bedarf der Schulen wurden viele Werke zur klassischen Philologie, zur Sprachvermittlung und zur Geschichte angeschafft. Der offensichtlich von Hand des Rektors Ulrich Johann Herbers geschriebene Eintrag »ad Cl.m primam« zeigt, daß die Bücher in der obersten Klasse oder > Prima < der Stadtschule als Lehrbücher gebraucht wurden. Hier wurden Latein, Griechisch, Hebräisch, Logik und Rhetorik unterrichtet. Als Lehrbücher oder Lektüre dienten Werke griechischer und römischer Autoren, die der Schule sowohl von Lehrern als auch von Schülern gespendet wurden. Einer der freigebigsten Stifter war Ulrich Johann Herbers, der erste Rektor der deutschen Stadtschule nach dem Nordischen Krieg. Von den fünfzehn 25

Geschichte der deutschen Stadtschule in Narva.- Narva: Pachmann 1864 (= Schriften der Narvaschen Alterthums-Gesellschaft; 2), S. 4 - 5 .

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Bänden, die er der Kirchenbibliothek geschenkt hatte, war die Hälfte direkt für den Schulbedarf bestimmt. Drei Jahre nachdem Herbers in den Ruhestand getreten war, wurde Johann Heinrich Lange (1717-1788) zum Rektor der Stadtschule und zugleich auch zum Pastor der St. Johanniskirche in Narva berufen. Dieser hatte genau wie seine Vorgänger in Halle studiert, war im Gegensatz zu Herbers und Rodde jedoch kein Einheimischer, sondern stammte gebürtig aus der Stadt Preetz in Holstein, wie handschriftliche Besitznachweise in seinen Büchern zeigen: »Johannes Heinrich Lange aus Preetzien Holsteinische gebürtig« oder »Joannes Henricus Lange Holsato-Preetzensis«. Langes Weg nach Narva führte über St. Petersburg und Dorpat, wo er als Geistlicher, daneben auch als Lehrer tätig war. In Dorpat war er Diakon der deutschen Gemeinde bei der St. Johanniskirche und zugleich Rektor der Stadtschule. Seine Einstellung zum Leben und die durch seinen leidenschaftlichen Charakter hervorgerufenen Skandalgeschichten beschrieb Friedrich Konrad Gadebusch, sein zeitgenössischer Mitbürger in Dorpat, in den Livländischen Jahrbüchern.26 Besonders großen Widerhall fand die Polemik zwischen Lange und Christian David Lenz, einem der bekanntesten deutschbaltischen theologischen Literaten, die in der St. Johanniskirche zu Dorpat 1759 entstand. Noch im selben Jahr kam Lange nach Narva. Seine Tätigkeit als Rektor der dortigen Stadtschule wird diplomatisch beschrieben: [...] folgte jetzt eine Gährungsperiode, die freilich durch Lange herbeigeführt, aber durch seine Tüchtigkeit auch wieder glücklich überwunden wurde, so daß sie sich zum Heil der Schule wendete.27

Weiter wird über Lange berichtet, daß er leidenschaftlich und herrschsüchtig war und oft mit seinen Kollegen in Konflikt geriet, so daß die Inspektionsbehörde - das >Scholarchat< - mit Berichten des Rektors und Klagebriefen der Lehrer überschüttet wurde.28 Trotz seines schwierigen Charakters aber war Lange ein gebildeter Mann und als Schulleiter gewandt und gewissenhaft; deshalb sah das Scholarchat über seine Fehler hinweg. Im Jahre 1777 trat Lange vom Rektoramt in den Ruhestand, setzte aber seine kirchliche Tätigkeit fort und wurde zum Compastor ernannt. Bis zu seinem Tod 1788 blieb Lange in Narva eine einflußreiche Person und übte in den letzten Jahren seines Lebens das Amt des Konsistorialpräses aus. In der Geschichte der Kirchenbibliothek zu Narva spielte Johann Heinrich Lange eine wichtige Rolle. Von seinen bibliophilen Neigungen 26

27 28

Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Jahrbücher. Bd. I-IV.- Riga: Hartknoch 1780-1783, Bd. IV, 2. Abt., S. 448, 451 und 626. Geschichte der deutschen Stadtschule in Narva (Anm. 25), S. 11. Ebd.

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zeugen seine eigenen Bücher; insgesamt 288 Schriften mit seinen handschriftlichen Eintragungen sind aus der Kirchenbibliothek in die Nationalbibliothek gelangt. Es handelt sich überwiegend um theologische und sprachwissenschaftliche Werke; aus dem 16. Jahrhundert liegen 14 und aus dem 17. Jahrhundert 53 Druckschriften vor. Besonders deutlich kommt Langes Interesse für Pietisten zum Ausdruck: in seiner Sammlung sind Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke, Johann Jakob Rambach, Joachim Justus Breithaupt, Johann Philipp Fresenius und Joachim Lange mit mehreren Werken vertreten. Über Angaben wie Name, Datum, Erwerbungsquelle, Preis usw. hinaus hat Lange immer den folgenden Satz, seinen Wahlspruch, mit kleinen Abweichungen in seine Bücher hineingeschrieben: »Symb. Cum Jesu JehovaH Licet nonniHiL«. Im Bestand der Kirchenbibliothek hat Lange auch Bücher geordnet und so die Pflichten eines Bibliothekars auf sich genommen. In seiner bekannten Handschrift ist auf dem Vorsatzblatt von Konvoluten der Inhalt erschlossen worden. Nach der Überschrift > Inhalt dieses Buches < folgt das Verzeichnis der Titel, die im Konvolut zusammengebunden sind. In einige Bücher hat er auch Angaben über die Spender eingetragen, zuweilen relativ lang und feierlich. So enthält zum Beispiel ein Zeitungsband, den die Witwe des Justizbürgermeisters der Schule gespendet hat, folgende ausfuhrliche Inschrift vom Rektor: Diese also gebundene Hamburgische Zeitungs-Blätter [...] hielte die S. T. Fraw JustitzBürgermeisterin Schröern bald nach dem Tode des seel. JustitzBürgermeisters, der gleich zu Anfange des 1765sten Jahres starb, an unsere Schulbibliothek, nach dessen ausdrückte Befehl. Narva d. 12 Jan 1765.

Auch andere Pastoren, die im 18. Jahrhundert an der St. Johanniskirche tätig waren, haben ihre Bücher der Kirchenbibliothek geschenkt, so Friedrich Ludolph Trefurt, Johannes Govinius d.J. und Friedrich Knorre, doch im Unterschied zu Lange war die Anzahl der gespendeten Schriften bei diesen nicht so hoch, sondern betrug im Durchschnitt nur zwei bis drei Titel. Von den Pastoren der schwedisch-finnischen Michaeliskirche hat Jakob Alopaeus vier Bücher gespendet. Auch manche Ratsherren und ihre Familienmitglieder haben den Bestand der Kirchenbibliothek vervollständigt - es kommen u. a. die Namen Cramer, Schröern, Törne, Sutthoff, Hoffmann, Hertwich und Heibig vor. Häufig wurden in den geschenkten Büchern auch Epigramme oder Aphorismen dem Namen des ehemaligen Besitzers und dem Datum hinzugefügt. So hat Eberhard Willemsen, Lehrer in der Stadtschule in Narva 1730-57, auf dem Vorsatzblatt des Werkes von Curtius Rufus, Historiarum libri (Amsterdam 1670), die folgenden frommen Verse niedergeschrieben, die zugleich sein Besitzrecht dokumentieren:

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Omnia cum Deo Et nihil sine eo Omnia cum Christo Et nihil sine isto Hie liber est meus Testis est Deus Signis meum nomen quaerit Aspice infra erit Eberhardus Willemsen est verus possessor hujus libri.

Ein genauso frommes Verslein, geschrieben in der Handschrift eines Kindes, steht auf dem Vorsatzblatt von Johann Anastasius Freylinghausens Compendium oder kurtzer Begriff der gantzen christlichen Lehre (Halle 1741): Gottes Fürcht und wahre Tugend Ist die Zierde meiner Jugend Johan Gustav Törne Narva d. 3 Maij Ao 1744.

Es ist zu vermuten, daß die Blütezeit der Kirchenbibliothek zu Narva ins 18. Jahrhundert fallt, denn aus dieser Zeit stammen sowohl die Mehrzahl der erhaltenen Werke als auch der Kreis ihrer Spender. In diesem Jahrhundert gab es auch Bücherfreunde, welche die Drucke binden ließen und sie zu einer richtigen Bibliothek zu ordnen versuchten; auf eine feste Aufstellung weisen Standortnummern auf den Einbandrücken hin. Von den Druckschriften des 19. Jahrhundert gelangte nur ein unbedeutender Teil in die Rara-Sammlung der Nationalbibliothek. 1843 wurde in Narva eine russische höhere Kreisschule gegründet, und der Besitz der deutschen Stadtschule wurde dieser übergeben. Von dieser Zeit an begann die deutschsprachige Ausbildung in der Stadt auszusterben. Wohl waren noch einige deutsche Privatschulen vorhanden - wie zum Beispiel eine private Töchterschule bei der St. Johannis-Gemeinde doch handelte es sich bei all diesen nur um Elementarschulen. Es scheint als habe auch die Kirchenbibliothek gerade in dieser Zeit ihre Bedeutung verloren und sei fast nicht mehr gewachsen. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war aus der Kirchenbibliothek eine museale Sammlung geworden, die keine besondere Benutzung mehr fand, auch wurden keine neuen Bücher mehr angeschafft. Hierauf verweisen zwei Bände aus der Kirchenbibliothek, die Widmungen aus einer späteren Zeit besitzen und mit dem Bestand anderer Bibliotheken in die Nationalbibliothek gekommen sind. Der Name des estnischen Folkloristen und Diplomaten Oskar Philipp Kallas (1868-1946), der in den Jahren 1893-95 als Lehrer in Narva gearbeitet hat, steht auf dem Vorsatzblatt der Ehstnischen Sprachlehre (Mitau 1818) von August Wilhelm Hupel. Dieses Buch kam wahrscheinlich in den 20er Jahren des 20. Jahr-

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hunderte zusammen mit anderen Bänden als Geschenk von Kallas in die Estnische Nationalbibliothek. Die alte theologische Literatur scheint Adolf Horn (1897-1953) als Spezialisten und Sammler sehr interessiert zu haben, denn sein Name findet sich in acht Schriften des 16. bis 18. Jahrhunderts, die in der RaraSammlung aufbewahrt werden; eine darunter, Johann Michael Dilherrs Emblematische Postill,29 hat früher der Kirchenbibliothek zu Narva gehört. Adolf Horn hatte das Studium an der theologischen Fakultät der Universität Dorpat als Magister der Theologie abgeschlossen und war dann zunächst von 1934 bis 1935 Gymnasiallehrer, anschließend Pastor in Narva. Im Jahre 1949 wurde er verhaftet und starb während seiner Gefangenschaft in Sibirien. Offensichtlich wurden dann seine Bücher in die Staatliche Öffentliche Bibliothek der Estnischen SSR (die spätere Estnische Nationalbibliothek) gebracht, genauso wie es mit den Bibliotheken vieler anderer Deportierter geschah. Aus den oben erwähnten Tatsachen läßt sich schließen, daß der Bestand der Kirchenbibliothek zu Narva sich zu dieser Zeit jedoch eher vermindert als vergrößert hatte. Vielleicht wurden die Bücher sogar schon früher (1919 oder 1920) nach Tallinn gebracht, weil der Turm der Kirche in Narva während des Krieges beschädigt worden war. Wann genau die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva in die Staatsbibliothek gebracht wurden, ist aufgrund fehlender Dokumente leider nicht zu ermitteln, doch aller Wahrscheinlichkeit nach geschah es vor dem Kriege. Nachdem die Deutschbalten im Jahre 1939 Estland verlassen mußten, hörte auch die Tätigkeit der deutschen Gemeinde auf, und der Bestand der Kirchenbibliothek wurde herrenlos. Nach Bombenangriffen im Jahre 1944 stand Narva in Ruinen, die Altstadt im Barockstil ging fast vollständig zugrunde.

Bestandsübersicht der Kirchenbibliothek zu Narva In der Rara-Sammlung der Estnischen Nationalbibliothek konnten insgesamt 2228 Druckschriften aus der Kirchenbibliothek zu Narva festgestellt werden. Aus dem 16. Jahrhundert stammen 93, aus dem 17. Jahrhundert 552, aus dem 18. Jahrhundert 1551 und aus dem 19. Jahrhundert 25 Werke. Ungefähr ein Drittel der Bücher besitzt auf dem Vorsatz- oder Titelblatt die mit Gallustinte geschriebene Eintragung: »Kirchenbibliothek zu Narva«. Bei den übrigen zwei Dritteln war die Ermittlung der Provenienz aufgrund anderer Nachweise möglich. Alle Bände der Kir29

Ohne Titelblatt, vermutlich handelt es sich um: Johann Michael Dilherr: Hertzund Seelen-Speise Oder emblematische Haus- und Reis-Postill: in welcher alle sonn- und festtägliche Evangelia gründlich erkläret [...] wird.- Nürnberg: Endter 1661 oder die zweite Auflage aus dem Jahre 1663.

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chenbibliothek zu Narva tragen auf dem Vorsatz oder dem Titelblatt mit Bleistift geschriebene Nummern, die sich stets an der gleichen Stelle befinden und in ein und derselben Handschrift eingetragen sind; vermutlich handelt es sich hier um Signaturen. Da die Höhe der Nummern nicht davon abhängig ist, wann die Schriften in die Bibliothek gelangt sind,30 ist anzunehmen, daß die Inventarisierung erst zu einer späteren Zeit, vermutlich im 19. Jahrhundert, vorgenommen wurde. Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva sind auch an den Einbänden zu erkennen. Hauptsächlich liegen Pergament- und Halblederbände vor, aber es sind auch Druckschriften in originaler Broschur vorhanden. Die Pergamentbände besitzen sämtlich einen identisch gestalteten Rückentitel. Eine gleichartige Gestaltung weisen auch die Halblederbände auf: der Buchdeckel ist mit einem besprenkelten braunen Deckpapier, der Buchrücken aber mit einem braunen Leder überzogen, der Rückentitel steht in Golddruck auf einem rötlichen Lederstreifen. Dem Inhalt nach hat die Sammlung theologischen, philologischen und historischen Charakter. Wie für eine Kirchenbibliothek typisch, ist die theologische Literatur am stärksten vertreten: von den 2228 Druckschriften zählen 1289 zur Theologie. Die Sammlung spiegelt einen lutherischen Geist und eine ausgeprägte Neigung zum Pietismus wider, besonders deutlich kommt dies bei den Autoren und ihren Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert zum Ausdruck. Die wichtigsten geistlichen Lehrer des 16. Jahrhunderts wie Martin Luther, Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen sind selbstverständlich mit ihren Schriften vertreten, darunter auch zu ihren Lebzeiten erschienene Titel. Von Martin Luther besitzt die Rara-Sammlung 16 Titel in 25 Bänden, unter denen sich auch verschiedene Ausgaben seiner gesammelten Werke befinden, von Melanchthon hingegen sechs Titel, davon zwei sprachwissenschaftlichen Inhalts, von Bugenhagen schließlich ein Traktat. Es gibt mehrere Auslegungen zur Augsburger Konfession, wie zum Beispiel das fast 1000 Seiten starke Concordia. Pia et unanimi consensu repetita confessio fidei et doctrinae electorum (Leipzig 1580). Noch umfangreicher ist das Werk Consilia theologica Witenbergensia. Das ist Wittenbergische Geistliche Rathschläge [...] Martini Lutheri, seiner Collegen, und treuen Nachfolger (Frankfurt/M. 1664), das die Ansichten der lutherischen Professoren aus Wittenberg zusammenfaßt und der Lehre von Martin Luther gewidmet ist. Aus dem Kreis der bekannteren Reformatoren und Humanisten sind in der Kirchenbibliothek noch Johann Brenz, Lucas Oslander und Aegidius Hunnius mit ein bis zwei Werken vertreten. Fünf Titel liegen von Hugo Grotius vor, darunter zwei Ausgaben der Schrift De veritate religionis christianae (Amsterdam 1696 und Halle 1734). Die theologische Literatur in der Kirchenbibliothek aus der späteren Zeit (Ende des 17. Jahrhunderts und 18. Jahrhundert) ist in erster Linie 30

Der Zeitpunkt kann aufgrund der Eintragungen festgestellt werden.

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auf pietistische Ausgaben und Autoren fokussiert. Zwei wichtige Autoren sind mit ihren meisten Werken vertreten: Philipp Jakob Spener, der Hauptvertreter des deutschen Pietismus, mit 30 Titeln in 45 Bänden; sein Schüler und für die Bewegung wichtigster Nachfolger, August Hermann Francke, mit 56 Titeln in 62 Bänden. Besonders große Aufmerksamkeit hat man dem Erwerb von Predigtsammlungen der genannten Autoren gewidmet. Gezielt sind auch Werke anderer pietistischer Autoren gesammelt worden: Johann Jakob Rambach ist mit 27 Titeln (in 29 Bänden) vertreten, Paul Anton mit acht (21), Joachim Justus Breithaupt mit sieben, Johann Anastasius Freylinghausen und Joachim Lange jeweils mit elf Titeln. Von Joachim Lange liegen neben theologischen Werken auch Grammatiken der lateinischen Sprache vor. Vorrangig sind hier wieder Predigtsammlungen, darüber hinaus exegetische Werke, religiös-moralische Traktate, Erbauungsliteratur und einige Sammlungen geistlicher Gedichte vertreten. Im Zusammenhang mit dem Streben der Pietisten, das Volk des Alten Testaments zu missionieren, finden sich in der Kirchenbibliothek mehrere Schriften zur Judenfrage, wie beispielsweise das Werk von Johann Heinrich Callenberg mit dem charakteristischen Titel: Bericht an einige Christliche Freunde von einem Versuch das arme Jüdische Volck zur Erlcänntniss und Annehmung der Christlichen Wahrheit anzuleiten (Halle 1730; mit 16 Beilagen). Bei der theologischen Literatur aus der Kirchenbibliothek fällt auf, daß sie hauptsächlich wissenschaftlicher bzw. theoretischer Art ist. Unter den theologischen Schriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert fehlen Gesang- und Gebetbücher, abgesehen vom Kleinen Katechismus Martin Luthers handelt es sich ausschließlich um kommentierte Ausgaben. Aus dem 18. Jahrhundert liegen einige für Kinder gedachte Religionslehren und zehn Exemplare der Petersburgischen Sammlung gottesdienstlicher Lieder (St. Petersburg 1783) vor. Dieses Gesangbuch war während einer längeren Zeit bei der deutschen Gemeinde zu Narva in Gebrauch, bis es im Jahre 1851 gegen Carl Christian Ulmanns Sammlung geistlicher Lieder für Gemeindegenossen der evangelisch-lutherischen Kirche (Riga und Moskau 1843) ausgetauscht wurde.31 Offensichtlich wurde auch Heinrich Gottlieb Zerrenners Kleine Schul-Bibel (Halle 1800) als Lehrbuch benutzt, denn die Vorsatzblätter aller 18 Exemplare sind mit ersten > schriftstellerischen Versuchen < der Schuljungen dicht beschrieben. Auch die theologischen Schriften aus dem 18. Jahrhundert in der Kirchenbibliothek zu Narva sind überwiegend theoretischer Art. Es liegen umfangreiche, oft mehrbändige Ausgaben zur Religions- und Kirchengeschichte vor, darunter Kirchenväter-Editionen, weiterhin Schriften über Homiletik, Katechetik und Exegetik. Relativ stark vertreten sind Werke mit theologischer Polemik gegen Kalvinismus, Papsttum und Kartesianismus. Den Glaubensstreitigkeiten ist das fünfbändige Werk von Jo31

Hansen: Geschichte der Stadt Narva (Anm. 18), S. 351.

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hann Georg Walch gewidmet: Historische und theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der Ev.-Luth. Kirche (Jena 1730-39). In der Kirchenbibliothek sind auch theologische Dissertationen und Disputationen gesammelt worden, die oft nur aus einigen Seiten bestehen, und daher für gewöhnlich zu Dutzenden zusammengebunden wurden. Der Nachlaß der Kirchenbibliothek enthält über zwanzig Bibeln, Alte und Neue Testamente in verschiedenen Sprachen, abgesehen von der deutschen Sprache liegen Ausgaben in Latein, Syrisch, Chaldäisch, Hebräisch und Arabisch vor. Die vorhandenen deutschsprachigen Bibeln des 18. Jahrhunderts entstanden in großer Mehrzahl in Halle, dem Zentrum des Pietismus. Aus der Kirchenbibliothek zu Narva stammen sowohl die älteste Bibel als auch das älteste Neue Testament im RaraBestand der Estnischen Nationalbibliothek. Die Vollbibel in lateinischer Sprache ist 1570 in Antwerpen herausgegeben worden, bei dem Neuen Testament (Mainz 1543) handelt es sich um eine von Erasmus verbesserte Übersetzung in die lateinische Sprache. Neben theologischer Literatur sind Schriften zur Sprachwissenschaft, wie Wörterbücher (u. a. erläuternde, phraseologische und Synonymwörterbücher), Grammatiken und Lehrbücher verschiedener Sprachen, mit einem beträchtlichen Anteil vertreten. Die Bibelwörterbücher helfen, den Wortschatz der Bibeln in lateinischer, griechischer, syrischer, hebräischer oder chaldäischer Sprache zu verstehen. Stillehren sind meistenteils auf die lateinische Sprache bezogen, hiervon liegt das Werk von Johann Gottlieb Heineccius, Fundamenta stili cultioris sogar in drei Exemplaren vor (Leipzig 1748 und zwei Exemplare ebd. 1761). Was die neue Philologie betrifft, so macht sich hier neben der deutschen Sprache auch das Interesse an französischer, englischer, italienischer und schwedischer Sprache bemerkbar, denn alle diese Sprachen sind im Bestand der Kirchenbibliothek mit ein bis drei Wörterbüchern vertreten. Grammatiken und Sprachlehrwerke gibt es hauptsächlich zu den alten Sprachen, eine Ausnahme bilden hier nur Russisch und Estnisch. Der universale Wissenschaftler Michael Lomonossow ist in der Kirchenbibliothek mit seiner Russischen Grammatik (St. Petersburg 1764) vertreten. August Wilhelm Hupeis Ehstnische Sprachlehre (Mitau 1818) ist in der Rara-Sammlung einer der wenigen Drucke aus dem 19. Jahrhundert, zugleich aber die einzige Abhandlung über die estnische Sprache und die Esten. Eine Verbindung zwischen der Theorie und dem praktischen Leben stellen Anleitungen zum Briefeschreiben, sogenannte > Briefsteller < dar, die in der Bibliothek mit fünf Titeln vertreten sind: vier von diesen sind auf Basis der deutschen Sprache zusammengestellt worden, die fünfte enthält Musterbeispiele von Briefen in italienischer und französischer Sprache und trägt den charakteristischen Titel II segretaro perfetto (Turin 1788). An Texten in alten Sprachen besaß die Kirchenbibliothek zahlreiche Schriften von Autoren des klassischen Altertums, die Literatur ist mit

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111, die Geschichte mit 59 Werken vertreten. Auch die Lehrbücher der Rhetorik bestehen aus Texten griechischer und römischer Klassiker. Die meistgeschätzten Autoren scheinen Ovid mit 18, Cicero mit 14 und Vergil mit 13 Werken gewesen zu sein; weiterhin sind zu nennen: Plutarch, Horaz, Terenz, Phaedrus, Curtius Rufus, Julius Caesar u. a. Fast alle ihre Schriften sind mit ausführlichen Kommentaren versehen und auf gutem Papier herausgegeben - gerade unter den Werken der griechischen und römischen Klassiker sind viele schöne Beispiele der Druckkunst des 16. und 17. Jahrhunderts zu finden. Es handelt sich jedoch durchweg um Schrifttum in Latein, für Griechisch und altorientalische Sprachen stehen nur Bibeltexte zur Verfugung. Zeitgenössische schöngeistige Literatur ist in der Kirchenbibliothek erst aus dem 18. Jahrhundert vertreten und bildet eine aus 89 Drucken bestehende Sammlung, die den Eindruck hinterläßt, man habe auf gezielten Erwerb keinen Wert gelegt, denn mehrbändige Ausgaben sind oft nicht vollständig angeschafft worden. So sind zum Beispiel Shakespeares Theatralische Werke (Zürich 1763-64) nur mit dem ersten, dritten und vierten Band, Miguel de Cervantes' Leben und Thaten des [...] Don Quixote (Weimar und Leipzig 1775-77) aber mit dem zweiten und dritten Band vertreten. Auch gibt es keinen Autor, dessen Werke vollständig erworben wären, von fast allen Verfassern liegen nur Einzelwerke vor. Die deutsche Belletristik ist ausnahmslos mit Autoren des 18. Jahrhunderts vertreten, wie Ewald Christian von Kleist, Justus Friedrich Wilhelm Zachariä, Friedrich von Hagedorn und Christoph Martin Wieland. Von Gottlieb Wilhelm Rabener sind ausnahmsweise sogar zwei Werke vorhanden; von Johann Christoph Gottsched und Johann Gottfried Herder liegen außerdem noch literaturkritische Schriften vor. Die französische schöngeistige Literatur hat am Bestand etwa den gleichen Anteil wie die deutsche, von den bekanntesten Autoren sind die Marquise de Montalembert, Pierre de Marivaux und Francis de Fenelon zu nennen. Neben Shakespeare und Cervantes ist unter den Klassikern der Weltliteratur aus der früheren Periode noch Giovanni Boccaccio mit seinem Werk II Decamerone (T. 1-2, Amsterdam 1789) hervorzuheben, das etwas überraschend im Bestand einer Kirchenbibliothek wirkt. An der Geschichtsliteratur (260 Druckschriften) haben die Abhandlungen zum klassischen Altertum einen beträchtlichen Anteil, ein Fünftel davon sind Schriften antiker Autoren. Besonders populär waren hier die Werke De rebus gestis Alexandri Magni von Curtius Rufus, Historiarum Philippicarum Trogi pompei epitome von Justinus und Vitae excellentium imperatorum von Cornelius Nepos, die in verschiedenen Auflagen vorhanden sind. Bei der Anschaffung der genannten Schriften sind offensichtlich die Interessen der Stadtschule berücksichtigt worden, wie auch gewiß bei den achtbändigen Lebensbeschreibungen der berühmtesten Griechen und Römer (Leipzig 1747-54) von Plutarch. Zur Ge-

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schichte der Neuzeit gibt es sowohl ausführliche Gesamtdarstellungen als auch Abhandlungen, die sich mit einer kürzeren Zeitperiode, einzelnen historischen Ereignissen oder Personen befassen. Lebensdarstellungen der Herrscherpersönlichkeiten Europas sind vertreten durch Biographien über Maria Theresia, Triumph und Tugend auf dem Thron in der Geschichte der [...] Maria Theresia (Frankfurt und Leipzig 1759), und über Friedrich II., Helden-, Staats- und Lebensgeschichte Friedrich des Andern (Frankfurt und Leipzig 1746). Konkrete historische Ereignisse den Westfälischen Frieden und die Verbrennung Moskaus durch Napoleons Truppen etc. - berühren die Historia pacis Germano-Gallo-Sveciae (»Irenopoli« 1679) und Johannes von Horns Versuch einer Darstellung der Verbrennung und Plünderung Moskwas (St. Petersburg 1813). Cyriacus Spangenbergs Adelsspiegel (Schmalkalden 1591), ein schönes Werk mit Illustrationen in Holzschnitt, gibt eine Übersicht über den damaligen Adel Europas, Johann Joachim Winckelmanns Caesareologia sive quartae monarchiae descriptio (Leipzig 1668) macht den Leser mit der Genealogie der herrschenden Dynastien Europas vom klassischen Altertum an bis zum 17. Jahrhundert bekannt. Der neuere Teil des Bestandes der Kirchenbibliothek zu Narva enthält mehrere eingehende, oft mehrbändige Schriften zur Geschichte. Hervorzuheben sind das Allgemeine historische Lexikon (Leipzig 1722) in vier Bänden und Weltgeschichten von bekannten Historikern wie Franz Dominik Häberlin, Samuel von Pufendorf und Friedrich Eberhard Boysen. Andere Wissenschaftsgebiete wie Astrologie, Logik, Geographie, Anatomie, Zoologie, Mathematik und Physik sind in der Kirchenbibliothek mit nur wenigen Titeln vertreten. Fast alle Wissenschaften sind in gewissem Maße mit der Theologie verbunden; ein eindruckvolles Beispiel dafür bietet der deutsche geistliche Gelehrte Johann Jakob Schmidt, der eine Reihe von Schriften mit charakteristischen Titeln vorlegte, so etwa Biblischer Mathematicus (Züllichau 1736) und Biblischer Medicus (Züllichau 1743). Auch Theologie und Philosophie sind in manchen Werken so verschmolzen, daß die Klassifizierung schwer fällt. Etwas größer ist der Anteil der juristischen (76 Drucke) und pädagogischen Literatur (64 Drucke) am Bestand. Unter juristischen Schriften sind sowohl die griechischen und römischen Autoren mit ihren Werken vertreten wie beispielsweise die Kodizes des Kaisers Justinian, Codicis DN. Justiniani libri XII (o. O. 1606), und Die vier Bücher der Institutionen des Kaisers Justinianus (Lemgo 1765) - , als auch die Gelehrten der Neuzeit: Hermann Vultejus, Giulio Claro, Hugo Grotius, Johannes Goddaeus, Johann Friedrich von Beust. Es liegen auch verschiedene Ausgaben von Kirchengesetzsammlungen vor; unter den pädagogischen Schriften befinden sich ebenfalls ein paar Zeitschriften zur Erziehung. Hier ragt die französische Schriftstellerin Madame de Beaumont unter den Verfassern hervor, ihre Werke wurden offensichtlich mit Sorgfalt gesammelt.

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Für das 16. und 17. Jahrhundert dominieren in der Kirchenbibliothek bei fast gleichen Proportionen die Schriften in Latein und Deutsch, für das 18. Jahrhundert vergrößert sich der Anteil der deutschsprachigen Druckschriften und auch andere europäische Sprachen kommen hinzu. Die Sprache hängt vom Benutzerkreis ab: wissenschaftliche Werke, insbesondere Disputationen und Dissertationen sind vorwiegend lateinisch, Predigtbücher hingegen deutsch. Im 18. Jahrhundert sind aber auch umfangreiche Monographien in deutscher Sprache herausgegeben worden, um sie einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. In griechischer, hebräischer, arabischer, syrischer und chaldäischer Sprache sind nur Bibeln, Alte und Neue Testamente, Bibelwörterbücher und Sprachlehrwerke vorhanden. Erst ab dem 18. Jahrhundert sind unter der schöngeistigen Literatur auch Schriften in französischer Sprache zu finden, insgesamt 38 Bände; es handelt sich zumeist um Werke französischer Autoren. Der Anteil der übrigen europäischen Sprachen ist unbedeutend. In englischer, schwedischer, russischer und estnischer Sprache gibt es nur einige Wörterbücher und Sprachlehren, in russischer außerdem noch ein Buch über Zolltarife, die italienische Sprache ist mit lediglich zwei Titeln vertreten. Dem Erscheinungsort nach handelt es sich weit überwiegend um deutsche Drucke, nur die Städte der Niederlande (Leiden, Amsterdam, Utrecht) und Paris bieten einigermaßen Konkurrenz. Von den Werken des 16. Jahrhunderts sind die meisten in Wittenberg, dem Zentrum des Luthertums, gedruckt worden, von denen des 17. Jahrhunderts stammen etwa hundert aus Frankfurt am Main und Leipzig, den Städten mit ausgezeichneter Drucktechnik. Im 18. Jahrhundert rückt das pietistische Halle mit fast dreihundert Schriften in den Vordergrund, auch Jena, Leipzig, Königsberg und Frankfurt am Main sind mit ihrer Buchproduktion beträchtlich vertreten. Unter den Büchern des 18. Jahrhunderts befinden sich auch einige Baltica und Rossica: sechs Schriften aus Riga, zwei aus Mitau, vier aus Reval und 25 aus St. Petersburg (davon zehn Exemplare der Petersburgischen Sammlung gottesdienstlicher Lieder). Im älteren Teil des Bestands gab es nur drei in Riga gedruckte Disputationen und einen Katalog der Vorlesungen des Gymnasiums zu Reval. Die Bücher der Kirchenbibliothek zu Narva sind ein Andenken an die estnisch-russische Grenzstadt, an ihre ehemalige Verbindung mit der westeuropäischen Kultur, an ihre Geschichte und ihre konfessionelle Ausrichtung. Der Bestand der Kirchenbibliothek, insbesondere aber die theologische Literatur, veranschaulicht die Kirchengeschichte in Estland und anderen Ländern. Der breite Kreis der Buchbesitzer zeigt darüber hinaus, daß die Bibliophilie in der Stadt weit verbreitet war, die Eintragungen in den Einbänden - Namen, Daten, Widmungen, Aphorismen und Randnotizen - verbinden diese Schriften mit dem Ort und den Menschen, mit Narva und seiner damaligen Einwohnerschaft, und besitzen damit historischen Quellenwert.

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Nikolaus Specht und sein Büchernachlaß in der Estnischen Akademischen Bibliothek1

Im 17. Jahrhundert wurde die Revaler städtische Bibliothek an der Olaikirche (Bibliotheca Revaliensis ad D. Olai) reorganisiert und erhielt dann im Jahre 1660 eine umfangreiche Bücherspende aus dem Nachlaß des Pfarrers Nikolaus Specht, der im Jahre 1657 gestorben war. Auf Grund der am 9. August 1658 vom Konsistorium getroffenen und am 1. November 1659 vom Rat bestätigten Entscheidung2 und mit Zustimmung der Vormünder von Nikolaus Spechts Kindern übergab Georg Specht, der Bruder des Pfarrers, die Sammlung am 11. Januar 1660 dem Bibliothekar der Olaikirche, Heinrich Bröcker.3 Da es sich um eine sehr umfangreiche und wertvolle Bibliothek mit insgesamt 836 Druckschriften handelte, hat auch ihr Besitzer größere Aufmerksamkeit verdient. Über Nikolaus Specht finden wir in biographischen Lexika der Gelehrten und Pfarrer Estlands nur einige Angaben. Etwas ausfuhrlicher haben Ernst Gierlich in seinem Buch Reval 1621 bis 16454 und Martin Klöker in der Magisterarbeit Reiner Brockmann und der Revaler Dichter- und Gelehrtenkreis im frühen 17. Jahrhundert über ihn berichtet.5 Für die folgenden Ausführungen wurden neben den gedruckten Werken auch Archivalien aus dem Stadtarchiv Tallinn (Tallinna Linnaarhiiv) und das älteste Bücherverzeichnis der Olai-Bibliothek verwendet. Dieses handschriftliche Verzeichnis, das sich heute in der Baltica-Abteilung der 1

Aus dem estnischen Original (Nikolaus Specht ja tema raamatupärand Eesti Akadeemilises Raamatukogus.- In: Keel ja kirjandus 40 (1997), S. 614-617) übersetzt von Kristel Laurimaa, redaktionell bearbeitet von Martin Klöker. 2 Tallinna Linnaarhiiv (Stadtarchiv Tallinn, im folgenden: TLA), Best. 230, Verz. 1, Nr. Ab 71, Bl. 269. 3 Verzeichnüs derer Bücher, so von der alten Revalschen Bibliothec, sent Ao. 1552 überblieben, und jetzo, in S. Olai Kirche, annoch vorhanden sind. [Reval 1658-1664. Handschrift in der Estnischen Akademischen Bibliothek Tallinn, Signatur V-230, Inv. Nr. 48054], 4 Ernst Gierlich: Reval 1621 bis 1645. Von der Eroberung Livlands durch Gustav Adolf bis zum Frieden von Brömsebro.- Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1991 (= Historische Forschungen), S. 369-370. 5 Martin Klöker: Reiner Brockmann und der Revaler Dichter- und Gelehrtenkreis im frühen 17. Jahrhundert. Magisterarbeit zur Erlangung des Magister Artium (M.A.) im Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück 1993, S. 82.

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Akademischen Bibliothek Estlands in Tallinn befindet, stammt aus den Jahren 1658-1664 und enthält eine Liste des Büchernachlasses von Specht.6 Das Geburtsdatum von Nikolaus Specht ist bisher unbekannt. Seiner Herkunft nach ist er Revaler, ein Sohn des dortigen Kaufmanns Georg Specht. Wie es üblich war, studierte Nikolaus Specht an mehreren Universitäten im Ausland: Ab 1623 ist er in Königsberg zu finden, von 1629 an in Wittenberg und 1633 dann wieder in Königsberg. Am 15. Mai 1635 immatrikulierte er sich in Dorpat und schließlich, im Januar 1636 in Rostock.7 Für das Studium bekam er von der Stadt Reval ein Stipendium, denn es war üblich, daß der Rat die begabtesten Söhne der Stadtbürger bei ihren Studien mit dem Geld des sogenannten > Gotteskasten < unterstützte. Die Anzahl der Stipendiaten war begrenzt, meistens waren es nur zwei bis drei zur gleichen Zeit. Das Stipendium betrug durchschnittlich 50 Reichstaler, außerdem bekam man noch 30 bis 50 Taler für die Kosten der Magisterpromotion. Die Bewerbung um das Stipendium wurde beim Rat meistens von den Vätern eingereicht. Der Bewerber mußte eine Prüfung vor dem städtischen Ministerium ablegen, das aus den Predigern der Stadt zusammengesetzt war. War die Bewerbung erfolgreich, mußte der junge Mann eine Verpflichtung unterschreiben, daß er nach der Beendigung seiner Studien in den Dienst der Stadt treten werde, wodurch der Rat sich versprach, qualifizierte Arbeitskräfte an die eigenen Kirchen und Schulen berufen zu können. Zugleich mußte der Stipendiat versichern, daß er die angefangenen Studien erfolgreich fortsetzen und die Universität absolvieren werde.8 Kamen Zweifel an der Einhaltung dieser Verpflichtung oder wurde es aus anderen Gründen notwendig, ließ der Rat den Stipendiaten kontrollieren. Im Jahre 1633, als Specht die Wittenberger Universität absolviert und im Jahr zuvor dort den Magistergrad erhalten hatte, schlug der Rat ihm vor, an das Revaler Gymnasium als Professor für Mathematik und Geschichte zu kommen. Doch Specht lehnte ab und erklärte, daß er sich auf den Beruf eines Pfarrers vorbereite und dafür noch zusätzliche Studien benötige. Am 24. Mai 1633 schrieb der Rat an den Lübecker Superintendenten Nicolaus Hunnius und bat diesen, bei der theologischen Fakultät in Wittenberg schriftlich nachzufragen, ob Specht den Anforderungen des Pfarramtes entspreche.9 Aus der Antwort von Hunnius ist zu ersehen, daß dieser einen seiner Wittenberger Freunde gebeten hat, eine Predigt von Specht anzuhören und zu bewerten. Im Ergebnis empfahl er, Specht 6

Verzeichnüs derer Bücher (Anm. 3), Bl. 11 -21v. Arvo Tering: Album Academicum der Universität Dorpat (Tartu) 1632-1710.Tallinn: Valgus 1984 (= Publicationes Bibliothecae Universitatis Litterarum Tartuensis; 5), S. 161. 8 Gierlich: Reval 1621 bis 1645 (Anm. 4), S. 369-370. 9 TLA, Best. 230, Verz. 1, Nr. Ab 48, Bl. 40. 7

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solle sich mehr dem Studium der Mathematik und Geschichte widmen, wofür diesem seitens des Revaler Rates später eine Professur im heimatlichen Gymnasium zugesichert werden sollte. Aber Specht hatte zu dieser Zeit Wittenberg schon verlassen und seine Studien zunächst in Königsberg,10 dann in Dorpat und Rostock fortgesetzt. Im Jahre 1637 dann trat Specht mit Erlaubnis des Rates eine Stelle als Hauslehrer beim Grafen Heinrich von Thum in Pernau an, weil es in Reval noch immer keine vakante Pfarrerstelle gab. Zwei Jahre später bot der Rat ihm wieder eine Professur im Gymnasium an, diesmal fur die griechische Sprache. Specht lehnte wieder ab; und weil auch die Gräfin von Thum sich an den Rat gewendet hatte, daß Specht noch bei ihr im Dienst bleiben solle, erreichte die Stadt Reval noch immer nicht die erhoffte Anstellung des einstigen Stipendiaten.11 Im Januar 1640 starb der Graf Heinrich Matthias von Thum, und ein halbes Jahr später, am 14. Juli, folgte ihm sein 16jähriger Enkel Christian, dessen Hauslehrer Specht gewesen war.12 Im selben Jahr bot der Revaler Rat Nikolaus Specht die Stelle des Hilfspfarrers an der Olaikirche an. Für den Fall der abermaligen Ablehnung drohte der Rat, das Stipendium von ihm zurückzufordern, denn schließlich war ja eine der Bedingungen gewesen, daß der Stipendiat in den Dienst der Stadt treten werde.13 So trat Specht am 15. Januar 1642 die Stelle des Hilfspfarrers allerdings bei der Nikolaikirche - an, die durch den Tod von Eberhard von Renteln vakant geworden war. Bei derselben Kirche wurde Specht im Jahre 1651 Pfarrer und arbeitete dort bis zu seinem Tod. Im Sommer 1657 starb Nikolaus Specht an der in Reval grassierenden Pest.14 Als Schriftsteller war Specht nicht sehr produktiv. Bekannt sind sechs erschienene Werke, von denen fünf auch in der Estnischen Akademi10

TLA, Best. 230, Verz. 1, Nr. BB 29, Bl. 16-17. TLA, Best. 230, Verz. 1, Nr. Ab 53, Bl. 284. 12 Der Adel der russischen Ostseeprovinzen (Estland, Kurland, Livland, Oesel).Neustadt a. d. Aisch: Bauer & Raspe 1980 (= Siebmachers großes Wappenbuch; 25), S. 221. 13 Klöker: Reiner Brockmann (Anm. 5), S. 82; TLA, Best. 31, Verz. 1, Nr. 142, Bl. 129. 14 Es gibt unterschiedliche Angaben über den Todestag von Specht. Sowohl im Allgemeinem Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon von Johann Friedrich von Recke und Karl Eduard Napiersky (Mitau 1827-32) als auch in Hugo Richard Pauckers Ehstlands Geistlichkeit (Reval 1849) wird der 13. August 1657 als Todesdatum genannt. Arvo Tering setzt im Album academicum (Anm. 7) 1657 als Todesjahr, ohne ein Datum zu erwähnen. In einem Buch aus dem Nachlaß von Specht findet sich jedoch eine handschriftliche Bemerkung vom Juli 1657, die besagt, daß er »nun in der Seligkeit« liege (Signatur des Buches in der Baltica-Abteilung der Estn. Akad. Bibliothek: 1-2221): wörtlich: »Reveranda ad modum atque doctissima Dn. M. Nicolaus Specht, Ecclesiastes ad D. Nicol. vigilantissima, nunc [makaph]ilus, Bibliothecae Revaliensi quoque hunc Baronij Epitomarem consecravit. Ao 1657. Mens julio.« 11

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sehen Bibliothek vorhanden sind. Das berühmteste Werk von Specht ist die am 5. Januar 1629 an der Wittenberger Universität gehaltene akademische Rede über Livland, die im Jahre 1630 erschienene Oratio De Livonia,15 Unter Livland versteht Specht darin das alte Livland, das vor der schwedischen Zeit Estland, Livland und Kurland umfaßte. Er preist die Schönheit und die natürlichen Reichtümer des Landes sowie die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verdienste der Machthaber. Im Jahre 1796 erschien in Rujen (lett. Rüjiena) ein Neudruck dieser Rede nach dem Exemplar der Weimarer Bibliothek.16 Alexander von Reutz erinnerte im Jahre 1837 an »Nicolaus Specht, Revalia-Livonus« und referierte dabei auch den Inhalt dieser Rede ausführlich.17 Auch eine Disputation von Specht erschien im Jahre 1630, die Theoria compendiosa totius philosophiae naturam et conditionem exhibens,18 Im Jahre 1631 folgte eine Dissertation, Dissertatio ethico-politico de honoribus tum in genere tum in specie,19 für die Specht am 20. März 1632 der Magistergrad verliehen wurde. In der Liste der Bücher von Specht findet man noch die Angabe eines Titels, »Nie. Specht in eund. oratio Witteb 32«, zu dem aber keine weiteren Angaben vorliegen, weil das Konvolut, in dem sich das Werk befand, nicht erhalten ist.20 Aus den Revaler Jahren Spechts sind drei gedruckte Trauerschriften bekannt. Die erste gedenkt seinem letzten Brotherren und dessen Enkel: PANEGYRICUS, ILLUSTRIBUS ac GENEROSIS DNN. COMITIBUS a THVRN/ &c. Dn. HENRICO MATTHIAE, Avo, [...] denato Pemaviae Livon: Anno 1640. die 28. Januarij: Dn. CHRISTIANO, Nepoti, [...] denato Pernaviae Livon: Anno 1640. die 14. Julij; [...].21

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Oratio de Livonia publice in celeberrima & florentissima Wittebergensi Academia habita & recitata a Nicoiao Specht/ Revalia-Livono [...].- Wittenberg: Johannes Hake 1630. 16 Johann Friedrich von Recke, Karl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller· und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland.Band I-IV.- Mitau: Steffenhagen und Sohn 1827-32, Band IV, S. 252. 17 Alexander von Reutz: Nicolaus Specht. Revalia-Livonus.- In: Das Inland 2 (1837), Nr. 7, Sp. 105-112. 18 Theoria Compendiosa [...] Quam [...] In Celeberrima Wittebergensi Academia Praeside [...] Dn. M. Iohanne Schwalben Misenensi, [...] Publice ad veri stateram examinandam proponit. Nicolaus Specht Revalia-Livonus. [...].- Wittenberg: Johannes Hake 1630. 19 Dissertatio ethico-politica [...] Quam Praeside Wilhelmo Nigrino, [...] Publice proponit Nicolaus Specht/ Revalia Livon: [...].- Wittenberg: Johannes Hake 1631. 20 Erschienen also in Wittenberg 1632. Verzeichnüs derer Bücher (Anm. 3), Bl. 28v. [Es handelt sich um eine Rede auf den schwedischen König Gustav II. Adolf, Anm. d. Red.]. 21 Reval, gedruckt bei Heinrich Westphal 1641.

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Die zweite trägt den Titel: JUSTA BREMIANA, Das ist: Zwo Christliche Leichpredigten/ [...] bey dem tödtlichen Abgang Deß [...] Herrn Tuw Bremen/ [...] Welcher [...] den 23. Martij deß 1645. Jahres [...] sanfft vnd selig abgeschieden, [...]. 22

und bei der dritten schließlich handelte es sich um [...] Eine Christliche LeichPredigt [...] über den tödtlichen vnd seligen Abgang Des [...] Herrn Fabian von Tiesenhausen/ [...] Welcher den 8. Julij morgends vmb 2. Vhr des 1649. Jahrs [...] auß dieser müheseligen Welt vnd Jammerthal abgefodert/ [...]. 23

Im Verzeichnis der Büchersammlung der Olaikirche finden wir aus dem Nachlaß von Nikolaus Specht 836 Werke mit Haupttitel, Erscheinungsort und -jähr aufgeführt, die in 322 Bänden zusammengefaßt sind. Die Anzahl der Bände und die Anzahl der Titel unterscheiden sich so stark, weil es sich beim größten Teil der Bände um Konvolute handelt, in denen also jeweils mehrere verschiedene Titel zusammen eingebunden sind. Als Material für den Einband gebrauchte man überwiegend Pergament. Die Konvolute bestehen meistens aus zwei bis vier Druckschriften, aber es gibt auch solche, die 40 bis 60 oder noch mehr Titel enthalten. Drei solche > Riesenbände < haben auch die Aufmerksamkeit des Bibliothekars der Olaikirche, Heinrich Bröcker, geweckt. Er schrieb: Noch sind unter Sei. H. Mag. Spechten Bücher, drey große ticke Bänder in quart, in beschrieben Pergement gebunden, von allerhand Disputationen, Programmat. und Carminibus; wie folget: [...]. 24

Es hat sich herausgestellt, daß dem Sohn des Verstorbenen einige Bücher zum Andenken überlassen wurden, wie zum Beispiel die Lüneburger Bibel, die Reisebeschreibung des Adam Olearius und die dreiteilige Evangelische Haus-Postill von Theodor Steding in einem Band. Letzteres Werk wurde - wie ein Vermerk im Verzeichnis der Olai-Bibliothek zeigt - schließlich doch unter den anderen Büchern gefunden, und man ließ es in der Olai-Sammlung.25 Leider hat Specht das Erwerbungsdatum in seinen Büchern nicht vermerkt, wie es hingegen bei den Büchern des Pfarrers Heinrich Göseken zu beobachten ist. Es hätte ermöglicht, die Entfaltung seiner Bibliothek gemäß seiner Leseinteressen und -bedürfhisse zu verfolgen. Doch wir finden in seinen Büchern nur seinen Namen, leider auch diesen nicht in 22 23 24 25

Reval, gedruckt bei Heinrich Westphal 1646. Reval, gedruckt bei Heinrich Westphal 1650. Verzeichnüs derer Bücher (Anm. 3), Bl. 27v. Ebd., Bl. 21v.

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allen. Datiert sind nur wenige Bücher, meistens diejenigen, die er als Geschenk erhalten hat. Die frühesten Datierungen befinden sich in vier Büchern, in denen der jeweilige Text sich gleicht: » E x superlectile [auch: supathalis] Nikolai Specht, Revalia-Livoniae« mit den Jahreszahlen 1624, 1625, 1626, 1627. Es handelt es sich folglich um die Zeit, in der Specht wahrscheinlich das Gymnasium absolviert hatte und in Königsberg an der Universität immatrikuliert wurde. Hinsichtlich des Erscheinungsjahres gehört auch ein bemerkenswerter Teil seiner Bücher zu seiner Studienzeit: 35 Prozent der Werke aus dem Nachlaß sind im Zeitabschnitt von 1626 bis 1636 erschienen. In der Sammlung von Specht gibt es 52 Bücher, die aus dem 16. Jahrhundert stammen. Das älteste unter diesen ist Philipp Melanchthons Über die Episteln an die Römer und Corinthiae Auslegung, das im Jahre 1527 in Wittenberg gedruckt wurde. Zu den Raritäten gehört zweifellos die Schrift Von der Belagerung der Stadt Reval aus dem Jahre 1577, die aber bedauerlicherweise nicht erhalten ist. Unter den Erscheinungsorten, die bei etwa 800 Druckschriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert bekannt sind, kommen am häufigsten Wittenberg (mit 131 Titeln), Leipzig (96), Königsberg (52), Frankfurt (50) und Rostock (44) vor. Drucke aus Wittenberg, Königsberg oder Rostock - den Städten, in denen Nicolaus Specht studiert hat - bilden 29 Prozent seines gesamten Nachlasses. Es folgen Lübeck, Danzig, Nürnberg, Stettin, Jena, Straßburg und eine Reihe von anderen Erscheinungsorten. Mit einzelnen Drucken sind Genua, Paris, Prag, Krakau, Vilnius, Warschau und weitere Städte vertreten. Von den Druckereien aus dem Gebiet Estlands und Lettlands kommen Riga (mit 17 Drucken), Reval (8) und Dorpat (5) vor. Inhaltlich betrachtet steht die Theologie an erster Stelle der Werke im Nachlaß des Pfarrers Specht: Bibeln, Katechismen, Bibelkonkordanzen, viele Predigt-Sammlungen und einzelne Predigten, theologische Disputationen etc. Weiterhin gibt es auch Chroniken von vielen Ländern und Städten, historische Literatur und Reisebeschreibungen, unter denen auch die dritte Ausgabe der Chronica der Provintz Lyfflandt von Balthasar Rüssow (Barth 1584) und die anonyme Polonia. Lituania. Prussia. Livonia (1627) sowie die schon erwähnte Reisebeschreibung von Adam Olearius zu finden sind. Die zu den Raritäten zählende Topographia (1652) von Martin Zeiler und Matthäus Merian ist leider nicht erhalten. Zahlreich sind die Werke von antiken Autoren vertreten: Horaz, Vergil, Plautus, Ovid, Martial, Seneca, Cicero etc. Auch lateinische, griechische und hebräische Grammatiken und Wörterbücher fehlen nicht. Schließlich ist noch zu fragen, wie der Büchernachlaß von Specht in der Estnischen Akademischen Bibliothek aufbewahrt wurde - eine Frage, die nur sehr schwer richtig zu beantworten ist. Im Jahre 1831 wurde die Sammlung der Olaikirche, zu der die Bücher von Specht gehörten,

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mit der Estländischen Allgemeinen Öffentlichen Bibliothek vereinigt. Bei der letzten Inventarisierung im Jahre 1863 wurden alle Bücher dem Inhalt nach klassifiziert und gemäß dieser Klassifikation sortiert, ungeachtet ihrer Provenienz. So wurde auch die gesamte Olai-Bibliothek mit den Büchern von Specht zerstreut. Bisher konnten von seinen Büchern nur jene Bände identifiziert werden, die mit seinem Namen versehen sind oder die als Konvolute inhaltlich mit den Angaben im handschriftlichen Verzeichnis der Olai-Bibliothek übereinstimmen. Die anderen zweifelsfrei zu identifizieren, ist unmöglich. Im Laufe der Zeit sind bedauerlicherweise auch Dubletten mit dieser Provenienz von der Bibliothek ausgesondert und verkauft worden, ebenso wurden ältere Ausgaben gegen neuere ausgetauscht. Darüber hinaus sind viele Bücher einfach verlorengegangen. So ist es nahezu unmöglich, unter den erhaltenen Büchern jene aus dem Besitz von Nikolaus Specht zu bestimmen, wenn auch selten Anmerkungen vorkommen, wie beispielsweise in einem Buch »M.[agister] Renteln hat weggenommen«. In neuerer Zeit wurden noch einige Konvolute geöffnet, um einzelne Drucke auf Ausstellungen zu zeigen - zurückgelegt hat man sie aber leider nicht immer. Schließlich blieben im Jahre 1951, als die Estländische Allgemeine Öffentliche Bibliothek von ihrem damaligen Verwalter - dem Historischen Museum - der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften (estn. Teaduste Akadeemia Raamatukogu) übergeben wurde, einige Werke im Museum zurück. Sie zu finden und zu identifizieren, ist aber aus obengenannten Gründen fast ausgeschlossen. Beim Vergleich des Verzeichnisses von Spechts Büchernachlaß mit den Büchern, die sich heute in der Baltica-Abteilung der Estnischen Akademischen Bibliothek, also der Nachfolgeinstitution der Olai-Bibliothek, befinden, konnte ich 370 Titel in 103 Bänden identifizieren. Unter diesen befinden sich die Historia Danica (1644) von Saxo Grammaticus, Werdenhagens De rebus publicis Hanseaticis (1641), der Atlas Minor (1628) von Mercator, das Kirchenrecht von Rostock (1570) und einige andere Raritäten. Nicht erhalten aber sind leider der Kurtze Bericht vnd Vnterricht Von der Falsch-heilig genandten Bäche in Lieffland Wöhhanda (1644) von Johann Gutslaff und der erste Teil von Heinrich Stahls Hand- und Hauszbuch (1632), der in der Bibliothek durch das Exemplar von Carl Eduard Malm ersetzt worden ist. Auch war das Konvolut nicht aufzufinden, zu dem das bereits erwähnte unbekannte Werk von Specht »In eund. oratio« (Wittenberg 1632) wahrscheinlich gehörte. Zusammenfassend kann Nikolaus Specht als ein Leser mit starkem Interesse an Theologie, Geschichte und Geographie charakterisiert werden. Seine Bibliothek ist besonders wertvoll aufgrund des zahlreich vertretenen akademischen Kleinschrifttums, unter dem sicherlich auch Drucke zu finden sind, die die Aufmerksamkeit von Druckforschern aus ganz Europa wecken könnten.

Viesturs Zanders

Privatbibliotheken im kulturhistorischen Kontext Lettlands Vom 17. Jahrhundert bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Einen sehr bedeutenden Platz in der Bibliotheksgeschichte Lettlands nimmt die 1524 gegründete Rigaer Stadtbibliothek - Bibliotheca Rigensis (heute Akademische Bibliothek Lettlands) - ein. Abgesehen von wenigen Ausnahmen war die bibliophile Tradition in Lettland mindestens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts mit dieser Büchersammlung verbunden. Leider sind die Angaben über die Entwicklung des Buchbestandes und die Arbeitsorganisation der Bibliothek in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens sehr spärlich. Ein Ende Juni 1941 ausgebrochenes Feuer vernichtete nicht nur den größten Teil des Bestandes - mehr als 350000 von ungefähr 400 000 Bestandseinheiten, sondern auch das Bibliotheksarchiv, die Kataloge und die Akzessionsjournale. Die im 20. Jahrhundert noch vor dem Brand erschienenen Untersuchungen1 bringen ebenfalls keine ausfuhrlicheren Informationen über die Anfänge der Bibliotheksbestände als mehrere Betrachtungen aus dem 18. Jahrhundert.2 Als erster bekannter Bücherspender für die Rigaer Stadtbibliothek wird der Literat Hinrick Stoibers angesehen. Doch weder über den Umfang noch den Inhalt der im Jahre 1545 von ihm gespendeten Bücher gibt es präzise Angaben. Nur Stulbers theologische Studien in Rostock lassen uns annehmen, daß es sich um überwiegend geistliche Literatur handelte. Bücherspenden von einzelnen Personen blieben fur die Rigaer Stadtbibliothek lange Zeit die bedeutendste Quelle der Bestandsergän1

Arthur von Boehlendorff: Die Stadtbibliothek.- In: Der Stadt Riga Verwaltung und Haushalt in den Jahren 1878-1900. Hrsg. von Nikolai Carlberg.- Riga: Müller 1901, S. 195-207; Nicolaus Busch: Einfuhrung in die Geschichte der Rigaer Stadtbibliothek und ihre Bestände.- In: Nachgelassene Schriften von Nicolaus Busch, Stadtbibliothekar zu Riga. Bd. Π.- Riga: Rigaer Stadtverwaltung 1937, S. 1-31, zu den BeständenS. 19-31. 2 Johann Friedrich Willisch: Die bishero unbekannt und verborgen gewesene Bibliotheque der [...] Stadt Riga.- Riga: Frölich 1743; Johann Christoph Berens: Bonhomien. Geschrieben bei der Eröffnung der neuerbauten Rigischen Stadtbibliothek.- Mitau: Steffenhagen 1792; Karl Gottlob Sonntag: Beiträge zur Geschichte und Kenntnis der Rigischen Stadtbibliothek.- Riga: Müller 1792.

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zung; daneben traten Druckschriften der 1588 gegründeten Rigaschen Druckerei als auch Dissertationen der Lehrkräfte von der Rigaer Domschule und vom akademischen Gymnasium. Ende des 16. Jahrhunderts gelangten Bücher in die Rigaer Stadtbibliothek, die im Besitz der evangelischen Prediger Wenceslaus Lemchen (f 1571), Georg Neuner (f 1587) und Gregorius Plinius (t 1596) gewesen waren. Medizinische, naturwissenschaftliche und sprachwissenschaftliche Literatur überwiegt in der Sammlung des Stadtarztes Johannes Bavarus (1575-1636), in der auch Drucke von Manutius, Froben, Estienne und Plantin nachgewiesen sind. Noch heute werden in der Akademischen Bibliothek Lettlands fünf Inkunabeln aus der Bibliothek von Bavarus aufbewahrt. Von diesen wurden drei in Italien gedruckt, wo Bavarus selbst an der Universität Padua studiert hatte. Für die Kulturgeschichte des Baltikums im 17. Jahrhundert ist auch die Privatbibliothek des Rigaer Ratsherrn Ludwig Hintelmann (15781643) von Interesse. Diese Sammlung, die ungefähr 500 Bände enthält und zum größten Teil aus rechtswissenschaftlicher Literatur besteht, wurde 1643 der Universität Dorpat (estn. Tartu) vermacht und gelangte 1647 dorthin.3 Dieses Ereignis ist in der Dichtung des ehemaligen Greifswalder Professors Laurentius Ludenius (1592-1654) verewigt, der seit 1634 den Lehrstuhl für Poetik und Rhetorik an der Universität Dorpat einnahm. Er verfaßte das Elogium Ludovici Hintelman J.K.D. a. 1643 denati, seu parentatio carmine heroico a. 1647 illi habitat Im Jahre 1664 erhielt die Rigaer Stadtbibliothek Bücher aus dem Besitz des livländischen Superintendenten Hermann Samson (1579-1643) und 1687 aus dem Besitz des Pfarrers Johann Hermeling (1626-1685). Obwohl der Bestandsumfang zunahm, blieben die Benutzungsmöglichkeiten immer noch relativ begrenzt. Auch waren die vom Rigaer Magistrat besoldeten Bibliothekare ihrer Aufgabe nicht immer gewachsen. So hatte sich nach dem Tod des Konrektors des Stadtgymnasiums, Georg Gunteken (f 1698), herausgestellt, daß die Bücher in der Bibliothek nach mehr als 30jähriger Aufsicht durch Gunteken unter einer dichten Staubschicht verborgen unordentlich herumlagen.5

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Arvo Tering: The University library.- In: History of Tartu University 16321982. Hrsg. von Karl Siilivask.- Tallinn: Perioodika 1985, S. 65. 4 Friedrich Puksoo: Die Universität Tartu und Tartu-Pärnu in der Schwedenzeit.In: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft 1931 (1932), S. 2 5 2 - 2 8 2 , hier S. 260-261. 5 Marija Läcis: Istorija Fundamentalnoi biblioteki Akademiji nauk Latvijskoj SSR (1524-1946) [Geschichte der Fundamentalen Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der lettischen SSR (1524-1946)].- In: Biblioteke 450: k jubileju Fundamentalnoi biblioteki AN Latvijskoj SSR 1524-1974. 450 Jahre einer Bibliothek. Zum Jubiläum der Fundamentalen Bibliothek der Akademie

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Guntekens Privatbibliothek hingegen ist durch den bis zum heutigen Tag erhaltenen Auktionskatalog dokumentiert.6 Die im Katalog genannten Ausgaben sind nach Format geordnet und nicht selten ohne korrekte Erscheinungsdaten angegeben. Mehrmals begegnen uns solche Formulierungen wie »Eine alte Bibel« oder »Ein Polnisch Buch«. Der Katalog Guntekens weist ca. 950 Ausgaben auf, darunter mindestens 31 Postinkunabeln. 1703 wurde die Rigaer Stadtbibliothek durch 279 medizinische Bücher aus der Sammlung des Arztes Wilhelm Lange (1656-1698) ergänzt. Die in einigen Quellen behauptete Angabe, daß diese Bücher in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts erschienen seien, muß korrigiert werden.7 In der Tat enthält Langes Sammlung mindestens 104 im 16. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gedruckte Bücher, darunter auch zwei Postinkunabeln.8 Der Professor des Stadtgymnasiums Johann Paul Moeller (16481711) spendete 730 Bücher an die Bibliothek. Es handelte sich hierbei vorwiegend um Bücher, die sich der Rechts- und den Naturwissenschaften, der Mathematik und der Philologie widmen. Infolge des Nordischen Krieges wurde Livland mit Riga zu Anfang des 18. Jahrhunderts in das Russische Reich einverleibt. Die neuen Verhältnisse übten bleibenden Einfluß auch auf das Buchwesen und die Bibliotheken aus. 1714 wurden die Einrichtung und die Arbeiter der Rigaer Stadtdruckerei nach St. Petersburg, in die neue Hauptstadt des russischen Reiches, verlegt. Im selben Jahr erteilte Peter der Große auch den Befehl, die von mehreren Generationen aufgebaute Bibliothek der Kurländischen Herzöge nach St. Petersburg zu bringen. Obwohl das Herzogtum Kurland als selbständiger Staat erst 1795 sein Ende erlebte, scheint dem russischen Zaren die einige Monate dauernde Ehe des Herzogs Friedrich Wilhelm (1692-1711) mit der späteren Kaiserin Rußlands, Anna Iwanowna (16931740), ein genügender Vorwand gewesen zu sein, um die Überführung der Bibliothek zu befehlen. Die Anfänge der herzoglichen Bibliothek gehen bis in die 60er Jahre des 16. Jahrhunderts zurück. Ursprünglich befand sich die Bibliothek in Goldingen (lett. KuldTga), später dann in der Hauptstadt des Herzogtums, in Mitau (lett. Jelgava). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts zählte die Bibliothek in ihrem Bestand schon über 3000 der Wissenschaften der Lettischen SSR 1524-1974.- Riga: Zinätne 1974, S. 7 - 4 2 , hier S. 18. 6 Catalogue variorum in quavis doctrina librorum viri, dum viveret, doctiss. Georgia Guntekenii [...].- Riga: Nöller 1699. Ein unvollständiges Exemplar des Kataloges wird in der Nationalbibliothek Lettlands aufbewahrt. 7 Läcis: Istorija Fundamentalnoi biblioteki (Anm. 5), S. 17. 'Handbuch der Stadtbibliothek 1702-1842 (Akademische Bibliothek Lettlands, Rara-Abteilung, Ms. 336).

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Bände, während die Rigaer Stadtbibliothek noch im Jahre 1735 nur 5000 Bände besaß. In St. Petersburg wurde die Bibliothek der kurländischen Herzöge zum Grundstein der Bibliothek der neuen russischen Akademie der Wissenschaften. Mehr als 1000 Bände aus dieser Sammlung wurden nach dem verheerenden Brand in Turku 1827 als Hilfe zum Aufbau einer neuen Universitätsbibliothek nach Helsinki geschickt, wo sie noch heute aufbewahrt werden.9 Im Bestand der Bibliothek der kurländischen Herzöge, die sich heute in St. Petersburg befindet, dominiert theologische und rechtswissenschaftliche Literatur. Auch 61 Handschriften haben sich dort erhalten.10 1743 wurde der Bestand der Rigaer Stadtbibliothek durch 900 überwiegend philosophische, geschichtliche und rechtswissenschaftliche Bücher ergänzt, die der Magistrats-Sekretär Paul Brockhausen (f 1743) ihr vermacht hatte. Einen gewissen Einblick in die Sammlungen der Bibliophilen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bieten einige bis zum heutigen Tag erhaltene Bücherkataloge. Ein solcher wurde nach dem Tod des kurländischen Pfarrers zu Landsen (lett. Landze), Georg Christopher Hagk (t 1736), fertiggestellt.11 Unter den 467 genannten Büchern befindet sich eine größere Anzahl von Texten aus der antiken Literatur (Horaz, Cicero u.a.) sowie Werke von Verfassern des 16. Jahrhunderts (Erasmus, Melanchthon u. a.). Im Katalog der Bibliothek des Pastors Johann Schroeder (1686-1743) sind die Bücher schon traditionsgemäß nach ihrem Format geordnet.12 Neben Titelangaben mit Impressum findet man auch hier Einträge wie »Ein Band gesammelter Gedichte« oder »Ein Band unterschiedenen LeichPredigten«. Insgesamt wurden in diesem Katalog 666 Bücher festgehalten. Durch die systematische Erforschung der Akten des Rigaer Waisengerichts waren umfangreiche Informationen über die Büchersammlungen 9

Library of the dukes of Courland.- In: Collections donated by the Academy of Sciences of St. Petersburg to the Alexander University of Finland in 1829. An annotated Catalogue compiled by Sirkka Havu and Irina Lebedeva.- Helsinki: Helsinki University Library 1997 (= Publications of the Helsinki University Library; 61), S. 23-139. 10 Irina Lebedeva: Obzor rukopisnyh knig kurlanskogo sobranija Biblioteki AN SSSR [Übersicht der Handschriftbücher der kurländischen Sammlung der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften der UdSSR].- In: Rukopisnye i redkije peöatnye knigi ν fondah Biblioteki AN SSSR. Hrsg. Akademija Nauk SSSR. Red. Sergej P. Luppov, Ariadna A. Moiseeva.- Leningrad: Biblioteka AN SSSR 1976, S. 4-26. 11 Catalogue Librorum beata memora George Christopfory Hagk (Latvijas Valsts vgstures arhTvs, Historisches Staatsarchiv Lettlands [weiterhin zitiert: LVVA], Bestand [B.] 4060, Verzeichnis [Verz.] 1, Akte [Α.] 531, Bl. 1 -9). 12 Catalogue auserleßenn Theologischer und in andere Fakultäten einschlagender Bücher, aus weyl. Herrn Pastoris Johann Schroeders Bibliothek.- Riga 1746.

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der lettischen Familien in Riga zu erhalten.13 Doch in den 109 analysierten Nachlaßfällen wurde zumeist nur über den statistischen Umfang dieser Sammlungen berichtet. Die Erforschung der Akten des Waisengerichts ist jedoch von großer Bedeutung, weil hier viele Informationen über die Büchersammlungen der Rigaer Einwohner anderer Nationalitäten (speziell Letten) enthalten sind. Dabei darf nicht vergessen werden, daß ein großer Teil der Sammlungen ohne Vermittlung des Waisengerichts in die Hände der kommenden Generation gelangte. Die ansehnlichsten Bibliotheken besaßen der Holzhändler Albrehts Muizelis (1747-1821) mit 109 Bänden sowie der Oberpastor der lettischen Gemeinde an der St. Johannis-Kirche zu Riga, Heinrihs Gotlibs Pe§s (1817-1849) mit 377 Büchern und Zeitschriften. In der Bibliothek von Peäs dominierte die deutschsprachige Literatur, jedoch sind auch lateinische, französische, lettische und russische Bücher angegeben. Neben geistlicher Literatur, Abhandlungen zur Weltgeschichte, griechischen und römischen Klassikern sowie Grammatiken und Wörterbüchern befinden sich hier auch gesammelte Werke von Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller sowie Dichtungen von Christoph Martin Wieland und Friedrich Gottlieb Klopstock. Die in den 70er bis 90er Jahren des 18. Jahrhunderts erschienenen Auktionskataloge der Privatbibliotheken spiegeln das Spektrum der geistigen Interessen der verschiedenen Kreise der Gesellschaft wider. Die dominierende Rolle unter den Bibliotheksbesitzern spielte die Geistlichkeit. Von jenen Geistlichen, die die örtliche evangelisch-lutherische Kirche geleitet haben, sollen an dieser Stelle nur drei erwähnt werden: Größere Büchersammlungen besaßen der Generalsuperintendent Livlands von 1745 bis 1769, Jacob Andreas Zimmermann (1705-1770), und sein Nachfolger von 1770 bis 1777, Jacob Lange (1711 -1777), der einen bedeutenden Einfluß auf die lettische Kultur ausgeübt hat. Weisen die Kataloge der Bibliotheken von Zimmermann und Lange 1934 bzw. 980 Buchtitel auf, so umfaßt der Katalog der Büchersammlung von Karl Gottlob Sonntag (1765-1827), der seit 1803 Generalsuperintendent war, schon 2666 Druckeinheiten, wobei hier sogar nur ein Teil der Sonntagschen Bibliothek nachgewiesen ist: philosophische, philologische, geschichtliche und geographische Literatur, Belletristik und verschiedene andere Ausgaben der weltlichen Literatur.14

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Valda PStersone, Melita Svaräne: Grämatas Rigas latvieäu mäjäs 18. gs. otrajä un 19. gs. pirmajä pusS. [Bücher in den Häusern der Rigaer Letten, zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bis erste Hälfte des 19. Jahrhunderts].- In: Biblioteku zinätnes aspekti. Hrsg. V. Läca LPSR Valsts biblioteka.- Riga: Avots 1980, S. 4 7 - 6 2 . Verzeichnis der nicht-theologischen Werke aus der Bibliothek des weil. Herrn General-Superintendenten Dr. Sonntag.- Riga 1829.

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Einzelne Auktionskataloge zeugen von einem zielbewußten Sammeln eines bestimmten Literaturzweiges. Bibliotheken dieser Art besaßen sowohl der am Rigaer Hofgericht tätige Anton Christian Müthel (17251773), ein Bruder des als letzter Schüler von Johann Sebastian Bach bekannten Johann Gottfried Müthel, als auch der Arzt und Baineologe Johann Heinrich von Eckhof (1750-1810). 15 Mehrere andere Sammlungen bestätigen ihrerseits die für die Zeit der Aufklärung charakteristische Vielseitigkeit der Interessen. Jakob Benjamin Fischer (1731-1793), ein Schüler Carl von Linnes und Verfasser der ersten vollständigen Naturbeschreibung Livlands, Versuch einer Naturgeschichte von Liefland (Leipzig 1778), sammelte nicht nur Bücher, sondern auch Karten, Atlanten und Porträts namhafter Persönlichkeiten. Der Katalog seiner Bibliothek weist auch in Handschrift erhaltene »Materialien zur livländischen Kirchenhistorie« auf.16 1787 bekam die Rigaer Stadtbibliothek 3400 Bände aus der Bibliothek des Rigaer Arztes Nikolaus von Himsel (1729-1764), überwiegend Bücher medizinischen, mathematischen und geschichtlichen Inhalts. »Besonders reich ist diese Sammlung an englischen und holländischen Werken, selbst viele italienische und spanische enthält sie«,17 urteilte der damalige Rektor des Kaiserlichen Lyzeums, der schon erwähnte Karl Gottlob Sonntag. Himsels Sammlung von Kunst- und naturwissenschaftlichen Gegenständen bildete die Grundlage des ältesten Museums im Baltikum, des 1773 gegründeten Rigaer Geschichts- und Schiffahrtsmuseums.18 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Privatbibliotheken zu einem bedeutsamen Faktor für die Entstehung mehrerer anderer Bibliotheken. Der letzte Herzog von Kurland, Peter Biron (1724-1800), gründete 1775 in Mitau, dem Zentrum des Herzogtums, ein Akademisches Gymnasium. Den Kern der angegliederten Gymnasialbibliothek bildete die Bibliothek des Hofrats Christoph Anton Tottien (17211790), die nach einem Jahr ergänzt wurde durch die Bibliothek des Samuel Albrecht Ruprecht (1692-1773), der Pastor des kurländischen Pa-

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Verzeichniß derer zum Nachlaß des Wohlseligen Herrn Ober-Fiscals Anton Christian Müthel gehörigen juristischen [...] Bücher.- Riga 1776; Verzeichniß der Bücher aus der nachgelassenen Bibliothek des Herrn Hofraths v. Eckhof. [o. O. u. J.]. 16 Verzeichniß der Büchersammlung weiland Herrn Waisenbuchhalter J. B. Fischer [...].-Riga 1793, S. 5. 17 Karl Gottlob Sonntag: Beiträge (Anm. 2), S. 13. 18 Vgl. Rigas vestures un kugniecibas muzejs. Museum of the History of Riga and Navigation. Das Rigaer Geschichts- und Schiffahrtsmuseum. Reprodukciju albums. SastädTtäja un teksta autore Ilona Galvanovska. Mäkslinieks Alnis Mitris. Fotogräfs Ilgvars Gradovskis.- Riga: Liesma 1990. Dass, auch Rostock: Hinstorff 1992.

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storates Grünhof (lett. Zalenieki) war.19 In Mitau bestand zu dieser Zeit auch die Bibliothek der Freimaurer, deren Leiter Jakob Friedrich Hinz (17347-1787) als Herausgeber bekannt wurde. Der Mathematiker und Geograph Johann Bernoulli (1744-1807) machte sich während seiner Reise 1778 mit der in der Hinz'schen Wohnung aufgestellten Bibliothek vertraut. Er stellte fest: [...] die Bücher stehen in Nischen, wie in der Paulinerbibliothek zu Leipzig; man sagte mir von etwa 16000 Bänden, die hier befindlich seyn; die ersten 1500 wurden von einem Major Fink von Finkenstein geschenkt.« 20

Der von Bernoulli erwähnte Hermann Christoph Fink von Finkenstein (1693-1758) war selbst ein langjähriger Meister vom Stuhl der Loge »Zu den drei gekrönten Schwertern«. Die Bibliothek der 1796 abgeschafften Freimaurerloge wurde dem akademischen Gymnasium Mitau übergeben, und im Jahre 1800 zählten die Bestände der Bibliothek schon ungefähr 30000 Bände. Sehr unterschiedliche Schicksale erfuhren jene Privatbibliotheken, die außerhalb von Riga und Mitau entstanden. Der bekannte Publizist und Literaturkritiker Garlieb Helwig Merkel (1769-1850) bildete sich in großem Maße durch Studien in der Privatbibliothek seines Vaters Daniel Merkel (1714-1782), der Pastor zu Loddiger (lett. Ledurga) war. Nach dem Tod des Vaters sollte Garlieb den Auktionskatalog dieser Bibliothek vorbereiten und mußte während der Auktion Achtlosigkeit gegen die von ihm selbst so liebgewonnenen Bücher erleben. >Aber wie ist das möglich!< rief ich einmal aus, als eine Schrift, aus der ich unendlich viel Belehrung und Genuß geschöpft hatte, für wenige Ferdinge zugeschlagen wurde. - >Man hat jetzt viel schönere Ausgaben davon Inseln Adelhoch importiert Schein < der europäischen Großstädte hier widerspiegelt, wie der Prototypus oder - um mit Georg Kubler zu reden - das prime object, hier auftritt, ob dieses sich veränderte und wie stark.7 Von der materiellen Kunst Revals im 16. bis 17. Jahrhundert ausgehend, sollen auch diese Fragen beantwortet werden. Unser Hauptinteresse jedoch gilt einer Thematik, deren Grundlagen durch die kunsthistorischen Forschungen der letzten Jahrzehnte gut bekannt sind: Es ist die Architektur und Kunst als Ausdruck der politischen Macht einerseits und andererseits die Wohnkultur, vor allem aber die wohl wichtigste Aussage dieser Kultur - die Repräsentation des eigenen sozialen Status' und der Weltanschauung durch die eigene Wohnung. Die Vermessung der visuellen Rhetorik der Architektur und Kunst bringt uns auch den Revaler Bürger der Neuzeit nahe.

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Johansen, Mühlen: Deutsch und Undeutsch (Anm. 4), S. 95 -106. Raimo Pullat: Eesti linnarahvastik 18. sajandil.-Tallinn: Olion 1992, S. 69. 7 Georg Kubler: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge.Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 102; vgl. Jan Bialostocki: Langsames und schnelles Geschehen in der Geschichte der Kunst.- In: Stil und Epoche. Periodisierungsfragen. Hrsg. von Friedrich Möbius, Helga Sciurie.- Dresden: Kunst 1989, S. 210-217. 6

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Der städtische Raum Der städtische Raum Revals (seit 1905 Tallinn) war zu Beginn der Neuzeit schon umgrenzt; seit dem 13. Jahrhundert baute man an der Stadtmauer, die schließlich drei Kilometer lang war und am Ende des Mittelalters insgesamt 46 Wehrtürme besaß.8 Die Revaler Unterstadt, die seit spätestens 1248 das Lübische Recht besaß, umfaßte 29 Hektar, dazu gesellte sich der viel kleinere Domberg (Toompea), die Oberstadt des Adels, der eine eigene Jurisdiktion besaß. Der in steinerne Mauern eingefaßte städtische Corpus bot wenig Möglichkeiten für eine räumliche Expansion: Alle, die im Kriegsfall einen Schutz ihrer irdischen Güter anstrebten, hatten sich intra mures einzufügen. Obwohl man > innerhalb der Mauern < auch noch auf den Zeichnungen der Straßenfluchten von 1825 >Verdichtungsraum < finden kann,9 liegt der Beginn des Umbaus der Innenhöfe in der hier betrachteten Zeit. Im städtischen Raum ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert auch eine Tendenz sichtbar, die den Transithandel kennzeichnenden großen Speicher an den Straßen für Wohnzwecke umzugestalten. Um die beseitigten Lagerflächen zu ersetzen, wurden große gemeine Lager von der Stadt errichtet. Aktive Umbauten zur Schaffung neuen Wohnraums fanden auch zu Beginn der Neuzeit an den bestehenden mittelalterlichen hanseatischen Giebelwohnhäusern statt, wo in den oberen Lagergeschossen Zimmer eingerichtet wurden. Diese Wandlungen veränderten nicht immer die Struktur und das Aussehen des Straßenbildes; um so gründlichere Umgestaltungen gab es aber durch diese räumliche Expansion in der Hoflandschaft der Grundstücke. Die Wohnhäuser wuchsen in die Tiefe der Grundstücke, und die Hofräume wurden immer mehr bebaut. Dabei wurde von dort die bis dahin noch starke landwirtschaftliche Funktion verdrängt, wenigstens die reicheren Bürger erwarben dafür Grundstücke mit Gärten außerhalb der Stadtmauern. Um Anarchie im Stadtbau zu verhindern, befolgte man in Reval bis zu den ersten Jahrhunderten der Neuzeit die Bauregeln des Lübecker Rechts De Aedificii Privatorum. Laut diesen wurde die Einhaltung der Straßenflucht verlangt und ein Bauen gefordert, das dem Grundstück des Nachbarn nicht abträglich war; unter anderem durften keine neuen Durchgänge, Anbauten, Wohnkeller, Fenster, Türen, Hofbauten angelegt werden, ohne solches mit dem Nachbarn zu vereinbaren.10 Auf diese Weise sollten für alle Bürger gleiche Möglichkeiten geschaffen werden. Im Alltag kamen jedoch zahlreiche Verstöße gegen diese Bestimmungen vor, wovon noch heute voluminöse Aktenfolianten 8

Rein Zobel: Tallinna keskaegsed kindlustused.- Tallinn: Valgus 1980, S. 7. Vgl. auch Abb. 2. 9 Helmi Üprus: Tallinn 1825.- Tallinn: Kunst 1965. 10 Bunge: Die Quellen des Revaler Stadtrechts (Anm. 1), S. 164-166.

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von Gerichtssachen im Revaler Stadtarchiv zeugen. Die tatsächliche Ungleichheit der Bürger hatte natürlich materielle Ursachen. Im Stadtraum zeigte sich solches darin, daß vom Mittelalter an die für den Handel günstigen Straßen und großen Plätze den reichsten Bürgern aus dem Kaufmannsstand gehörten - die Viru-, die Vene- und die Pikkstraße; am dichtesten siedelten die Kaufleute aber in den Vierteln bei der Großen Strandpforte, denn sie lagen dem Hafen am nächsten." Gerade in diesen Straßen standen die größten und prächtigsten Wohnhäuser.

Die öffentlichen Bauten Natürlich wurden öffentliche Bauten für die Bedürfnisse der Stadt als Institution wie auch aus Prachtgründen errichtet, wie es auch von Seiten der königlichen Regierung in jener Zeit geschah. Durch die öffentlichen Bauten repräsentierte sich vor allem die begüterte und offensichtlich auch mehr gebildete Oberschicht der Stadtbürger, der Magistrat. Daß die Bautätigkeit für die Stadt als wichtig erachtet wurde, ist unter anderem dadurch bezeugt, daß zum Rat stets ein für das Bauwesen verantwortliches Mitglied, der Bauherr, gehörte. Spätestens seit dem Ende des 14. Jahrhunderts beschäftigte die Stadt auch einen Baumeister, der am Ende des 17. Jahrhunderts bereits feierlich Architectus genannt wurde.12 Zu Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert konnte sich die Stadt nur relativ wenig mit der Bautätigkeit befassen. Der 1558 ausgebrochene Russisch-Livländische Krieg endete für Reval zwar schon 1561, da aber die schwedische Krone auf dem übrigen Gebiet Liv- und Estlands Kriegshandlungen bis zum endgültigen Frieden 1628 weiterführte, war die lokale Wirtschaftstätigkeit wenig ertragreich, was sich auch auf die Investitionen auswirkte. Dennoch gab es gegen Ende des 16. Jahrhunderts wenigstens zwei Bauobjekte mit wichtiger öffentlicher Funktion: die Waage und das Haus der Bruderschaft der Schwarzenhäupter. Das Haus der Waage, noch vor Kriegsausbruch fertiggestellt (15541555), war für seine Zeit von recht stolzem Aussehen. Die hervorstechende Bedeutung der Einrichtung für die Stadt beweist schon der Standort - mitten auf dem Rathausplatz. Ähnlich einzigartig war auch 11

Johansen, Mühlen: Deutsch und Undeutsch (Anm. 4), S. 108-110; vgl. auch Ernst Gierlich: Reval 1621 bis 1645. Von der Eroberung Livlands durch Gustav Adolf bis zum Frieden von Brömsebro.- Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1991, S. 283-285; Arno Weinmann: Reval 1646 bis 1672. Vom Frieden von Brömsebro bis zum Beginn der selbständigen Regierung Karls XL- Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1991, S. 40. 12 Rasmus Kangropool: Rae kiviraidurite-müürseppmeistrite osast Tallinna vanema arhitektuuri kujunemisloos kuni umbes aastani 1650.- In: Kunstiteadus, kunstikriitika. Artiklite kogumik 5 (1983), S. 118-133.

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die Architektur des Hauses: Sie zeigte ein bisher in der Stadt unbekanntes Walmdach und eine symmetrische Fassadengliederung. Bekannt ist, daß wenigstens die Errichtung der Dachkonstruktion der städtische Baumeister Siverdt Kock leitete.13 Als wichtigste architektonische Details sind aber die an der Fassade befindlichen Stuckreliefs, Tondos, anzusehen, die verschieden gekleidete Männer- und Frauengestalten mit vielerlei Kopfbedeckungen zeigten; es dürfte sich um Darstellungen von Stadtbürger-Typen handeln.14 Auf diese Weise stand die Fassade der Waage in der Tradition der sogenannten ars memoria, wie es nach Vorbildern der antiken Rhetorik die Theoretiker der Renaissance - als erster und gewichtigster Leon Battista Alberti15 - in Traktaten behandelten. Nach ihren Ansichten hatte die Fassade etwas über den > Inhalt Konzeption < zu öffnen. Die Revaler Waage, bei der neben den Fassadenreliefs auch weitere Kunstwerke > redeten Außenwelt< über eigene Prinzipien mitteilen wollten: ihre Treue zum damals herrschenden schwedischen Königspaar, Sigismund Wasa und Anna, ihre Freundschaft mit den wichtigsten Handelspartnern, den 13

Rasmus Kangropool: Tallinna Raekoda.- Tallinn: Kunst 1982, S. 31. Helmi Üprus: Renessanss. Arhitektuur ja raidkivi.- In: Eesti kunsti ajalugu. I. köide.- Tallinn: Kunst 1975, S. 87-88. 15 Siehe: Sigrid Uhle-Wettler: Kunsttheorie und Fassadenmalerei (1450-1750).Alfter: VDb. Verlag 1994. 16 Sten Karling: Arent Passer, Lisand Tallinna kunstiajaloole.- In: Vana Tallinn 3 (1938), S. 28-47; vgl. auch Helmi Üprus: Mustpeade hoone.- Tallinn: Eesti Raamat 1972; Juhan Maiste: The House of the Brotherhood of Blackheads.Tallinn: Kunst 1995. 14

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Hansestädten Lübeck, Danzig, Bergen und Brügge, deren Wappen an einem Zwischengürtel direkt über den Bildnissen des Königspaars angebracht sind. Die Reliefs zwischen den Fenstern des Saalgeschosses stellen gewappnete und ihre Streitrosse anspornende Ritter dar, was wohl auf die Haupttugend der Schwarzenhäupter, die Ritterlichkeit, hinweisen soll. Weiterhin sieht man Justitia und Pax, die Rechtsprechung und den Frieden, als die wichtigsten Voraussetzungen und Tugenden des Kaufmannsgewerbes. Die Fassade wird im Giebelfeld vom Salvator mundi, dem stehenden Christus mit Zepter und Reichsapfel als Symbol für die alles überragende Herrschaft Christi und das evangelische Glaubensbekenntnis, gekrönt. In dieser Art war die Fassade des Schwarzenhäupterhauses augenscheinlich rhetorisch gestaltet und den Zeitgenossen wohl allgemein verständlich. Als mögliche Vorbilder Passers für den Entwurf des Hauses hat man gewöhnlich auf die Niederlande, das Land seiner Herkunft, verwiesen, besonders auf das von Cornells Floris gestaltete Antwerpener Rathaus.17 Entsprechende Formbeziehungen sind in der Tat anzuerkennen (vgl. Abb. 3). Bei der Erörterung der öffentlichen Bauten des 16. bis 17. Jahrhunderts in der Revaler Unterstadt kommt man nicht umhin, von den Kirchen zu sprechen, in welchen sich die Bürger wenigstens einmal in der Woche beim Gottesdienst trafen. Bereits 1524 wurde der sogenannte Gotteskasten der Stadt angelegt und die erste evangelische Kirchenordnung eingeführt. Am 14. September 1524 gab es einen Bildersturm, der im allgemeinen unter Kontrolle gehalten werden konnte; von den Kircheneinrichtungen wurde nicht viel vernichtet, ausgenommen in der Dominikanerkirche St. Katharinen, die 1525 verwüstet wurde. In den anderen erhaltenen Kirchen, vier an der Zahl, entstand bald die Notwendigkeit, die katholischen Räumlichkeiten der evangelischen Gemeindekirche anzupassen. Daher begannen die Kirchen seit der Mitte des Jahrhunderts, entsprechendes Inventar zu bestellen: Altäre, Kanzeln, Gestühl, Orgelemporen. Sie alle waren notwendig, damit sich die Gemeinde auf die neue Art des Gottesdiensts - die Predigt des Pastors, das gemeinsame Gebet, den gemeinsamen Gesang, auf das heilige Abendmahl vor den Augen aller - konzentrieren konnte.18 Die neue Einrichtung der Kirche diente natürlich der Umsetzung der neuen evangelischen Glaubensinhalte und war funktionell durch die Liturgie vorgegeben. Dabei stellte sich auch der Donator eines konkreten Gegenstands vor, der diesen für die Kirche bezahlte. Es war üblich, daß der Schenkende auf dem Gegenstand der Spende auch sein eigenes > Zeichen < hinterließ.

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Maiste: The House of the Brotherhood of Blackheads (Anm. 16), S. 64. Vgl. Krista Kodres: Rootsiaegne koguduskirik Eestis.- In: Kunstiteaduslikke uurimusi. Studies on Art and Architecture 8 (1995), S. 52-90.

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Eine der ersten Bestellungen solcher Art im 16. Jahrhundert wurde in der reichsten Gemeinde in Reval, in der deutschen Gemeinde der St. Nikolaikirche (Niguliste) gemacht. 1556/57 wurde dort das Gestühl sowohl für die Ratsherren als auch für die weiblichen und männlichen Gemeindemitglieder angeschafft.19 Das ikonographische Programm des Ratsherrengestühls wurde wohl mit dem Magistrat abgesprochen. Die Seitenlehnen der Ratsherrenbänke waren reichhaltig geschnitzt und mit figürlichen Darstellungen versehen: auf der einen Seite waren Adam, der Baum der Erkenntnis, sowie David und schließlich Eva zu sehen, auf der anderen ein Mann und eine weibliche Figur, Johannes der Täufer und Moses. An den Banklehnen im Mittelschiff wurden Petrus und Paulus abgebildet. Von Interesse ist das Nebeneinander der handelnden Personen: an der Ratsherrenbank stehen Personen aus dem Alten und dem Neuen Testament zusammen, ebenso die Männer- und die Frauenfigur mit gekreuzten Händen auf der Brust und einem Obstkorb auf dem Kopf. Sten Karling hat angenommen, daß es sich bei den letzteren um die aus der Antike bekannten >Kannephoren< handelt, die in den Prozessionen Opferkörbe über den Köpfen getragen haben. Doch Kannephoren waren nur Frauen, so daß es sich hier in der Nikolaikirche wohl eher um Grotesken handelt, die in Vorlagen ebenfalls oft mit (Blumenkörben auf dem Kopf dargestellt wurden. Wenn man annimmt, daß von den Ratsbänken eine allgemeine Konzeption in Bildern erwartet wurde, bleiben die beiden Grotesken unverständlich und fremd. Es ist möglich, daß sie später an der Bank angebracht wurden, als Petrus und Paulus als Hauptapostel von der Ratsbank ins Mittelschiff umgestellt wurden, um die dortigen Bankreihen einzuleiten. Dafür spricht auch, daß bei Petrus und Paulus die Einrahmung mit den anderen identisch ist, die Einfassung der Tafel mit den Grotesken sich aber sowohl von der Ratsbank als auch von den Männer- und Frauenbänken unterscheidet. Also hat die Ratsherrenbank anfangs eine religiöse Botschaft mit den wichtigsten Gestalten des Alten und Neuen Testaments dargestellt. Die Ausschmückung des Ratsgestühls entsprach somit dem typischen ikonographischen Schema der Renaissance,20 vermischt waren christliche und weltliche Symbole (Medaillonporträts), die den tugendhaften, das heißt gottgefälligen Lebenswandel hervorhoben. Den Vorrang der Ratsherren vor den übrigen Bürgern demonstrierte neben dem repräsentativen Aussehen des Gestühls dessen ursprüngliche Aufstellung im Kir19

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Die Ausstattung der St. Nikolaikirche wurde 1944 komplett vernichtet. Alle Angaben vgl. Sten Karling: Holzschnitzerei und Tischlerkunst der Renaissance und des Barocks in Estland.- Dorpat: Öpetatud Eesti Selts 1943 (= Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft; 34), S. 27-34. Vgl. Erwin Panofsky: Iconography and Iconology. An Introduction to the Study of Renaissance.- In: Meaning in the Visual Arts.- New York: Garden City 1955, S. 26-41 u.ö.

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chenraum: Auf dem Plan der Nikolaikirche von 1691, angefertigt vom Mathematiklehrer des hiesigen Gymnasiums, Julius Woltemate, ist gut zu erkennen, daß es vom liturgischen Standpunkt her an der günstigsten Stelle, dem »Brennpunkt« der Kirche,21 befindlich war - direkt vor der Kanzel am Pfeiler des Langhauses,22 von wo aus man den Pastor am besten sehen und hören konnte. Die Schwarzenhäupter, die auch ihre eigenen Bänke in der Kirche hatten, saßen den Worten des Pastors ebenfalls näher als die gewöhnlichen Gemeindemitglieder. Somit war ihre öffentliche Stellung auch in der Kirche veranschaulicht. Die räumlich visualisierte Hierarchie, hervorgehoben von der Oberschicht des Bürgertums mit ihrem Gestühl und den Epitaphien in der Nikolaikirche, wiederholte sich in allen Revaler Kirchen.23 Im 17. Jahrhundert exponierten die Bürger und Adligen sich so massiv in den Kirchen, daß die Pastoren sich über derartige Eitelkeit direkt beklagten.24 Im 16. Jahrhundert verbreitete sich das Bestreben, in der Kirche oder in einer angebauten Kapelle nach dem Ableben einen Raum fur sich zu bekommen. Kapellen waren im Mittelalter von der Kirche nur für Heilige, gekrönte Häupter oder Gottes Stellvertreter auf Erden errichtet worden. Nun aber verlangten auch würdige und vor allem wohlhabende Laienmitglieder der Gemeinde solches für sich. Die Kirche besaß auch ein Interesse hieran, denn sie konnte damit Geld einnehmen. Die Nikolaikirche war in der Revaler Unterstadt die reichste an solchen Anbauten, dort richtete man von 1671 bis 1673 eine große Begräbniskapelle für den Landrat Gustav Adolf Clodt und im neuen Nordvorhaus eine fur den schwedischen Adligen Bogislaus von Rosen ein. Es handelte sich um Personen, die nicht auf dem Domberg, dem Sitz der Adligen, sondern in der Unterstadt residiert hatten. Schließlich halten wir uns beim Revaler Rathaus, dem Sitz der Stadtverwaltung, auf. Es wurde in heutiger Gestalt bereits im späten Mittelalter (1402-04) errichtet; seine innere Struktur spiegelt die damalige Organisation der städtischen Leitung wider: Es gab einen großen Saal, einen kleinen, den sogenannten Ratssaal, und die noch kleinere Stadtkanzlei, die Kämmerei, einen soliden Weinkeller und wohl auch einen 21

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Anna Nilsen: Kyrkorummets brännpunkt. Gränsen mellan kor och länghus i den svenska landkyrkan. Frln romantik tili nygotik.- Stockholm: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akad. 1991, S. 104. Karling: Holzschnitzerei und Tischlerkunst (Anm. 19), S. 27. Kodres: Rootsiaegne koguduskirik Eestis (Anm. 18), S. 71; vgl. auch Krista Kodres: Organized Space. The First Centuries of Estonian Protestand Church Architecture.- In: The Church as a Context for Visual Arts. Publication of the Department of Practical Theologie.- Helsinki: University of Helsinki 1996, S. 238-250. Gottfried Hansen: Die Kirchen und ehemaligen Klöster Revals.- Reval: Kluge 1885, S. 35.

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Warensaal. Schon in dem großen Raum vor dem Ratssaal, dem vorhus oder Bürgersaal,25 ließ der Magistrat, der im Ratssaal tagte, sich ermahnen: Über der Eingangstür zum Ratssaal befindet sich eine Tafel mit der lateinischen Inschrift Im Jahre 1651. Ratsherr, wer du auch seist, das Rathaus zwecks einer Amtshandlung betretend, wirf vor dieser Tür alle Erregungen des privaten Lebens von dir: Zorn, Unrecht, Fehde, Freundschaft, Schmeichelei, der Allgemeinheit unterwirf deine Person und deine Sorgen, denn so, wie du gegen die anderen gerecht oder ungerecht bist, so wirst du auch vor dem Gericht Gottes stehen.

Zur Gerechtigkeit und an die Verantwortung vor Gott sollten in gleichem Maße die seit 1547 an den Wänden des Ratssaals hängenden, aus dem niederländischen Enghien bestellten sieben Gobelinteppiche mahnen. Sie zeigen Episoden aus dem Leben König Salomos, der die Gerechtigkeit verkörperte. 1667 wurden die mahnenden Kunstwerke des Ratssaals erweitert, als man vom Lübecker Meister Johann Aken Bilder bestellte, die erneut in mancher Hinsicht mit König Salomo verbunden waren. Auf den acht Leinwandgemälden sind folgende Szenen zu sehen: >Das Gericht Salomos Christus vor Pilatus Die Königin von Saba vor Salomo Christus mit dem Zinsgroschen Herodias mit dem Haupt Johannis des TäufersSimson und DelilahSusanna vor Gericht< und Christus und die Ehebrecherin Alter Thomas < (1530) und einem ihn stärkenden Löwen (1661) als Fahnenhalter an der Spitze, die von der Wachsamkeit des Rates und aller Bürger kündeten.

Das Wohnhaus - Blick von außen Das Wohnhaus der Revaler war zu Beginn der Neuzeit in der Regel aus Kalkstein der Region errichtet; das Auffuhren von Holzbauten wurde schon 1433 verboten. Mit seiner schmalen Vorderfassade (7-11 m) und dem hohen Giebel stand es direkt an der Straße. Der dazugehörige Hof hinter dem Haus war manchmal bis zu 100 Meter tief und besaß eine Umzäunung, die auch als Begrenzung diente.28 Zum 15. Jahrhundert war in der Stadt eine Wohnhausfassade typisch geworden, bei der dem symmetrisch oder asymmetrisch angebrachten Eingang ein Beischlag vorgelagert war, die Tür umrahmte ein spitzbogiges Stufenportal aus Haustein, daneben befanden sich ein oder zwei rechteckige Fenster, ebenfalls in Hausteinrahmen. Neben der hohen Giebelfront stand meist ein niedriger Torbau mit der Hofdurchfahrt. Das erste, zweite und manchmal auch das dritte Geschoß wurden von hausteinumrahmten Öffnungen mit Holzlukenverschluß markiert: die Verbindungen zu den Lagerräumen, in welchen die aufzubewahrenden Güter mit Hilfe eines dicht unter dem Giebel hervorragenden Winschbalkens hinauf- oder herabbefördert wurden. Dem Stadtbürger der Neuzeit war diese mittelalterliche Fassade von seinen Vorfahren überliefert worden, und er hatte mehrere Möglichkeiten, sie zu modernisieren. Es ist zu sehen, daß für die zeitgemäße Umwand27 28

Kangropool: Tallinna Raekoda (Anm. 13), S. 35. Helmi Üprus: Die Architektur der Altstadt Tallinns und ihre Abhängigkeit von der mittelalterlichen sozialen Struktur.- In: Hansische Studien III. Bürgertum, Handelskapital, Städtebünde. Hrsg. von Konrad Fritze u. a.- Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 1975, S. 2 5 2 - 2 6 4 .

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lung des Hauses neben pragmatischen Anlässen (Auswechseln verrotteter Konstruktionen und Details) auch repräsentative Gründe als Hintergedanken bestehen konnten. In Reval durften nur Bürger der Stadt ein Haus bauen oder besitzen. Natürlich war nicht jeder Bürger auch Hausbesitzer, viele waren Mieter, wie die ärmeren Handwerker, in der Regel auch die sogenannten Literaten. Ein großes Problem für den Rat waren in der gesamten dargestellten Periode die Adligen, denen als Nichtbürgern kein Recht auf Hausbesitz in der Unterstadt zukam, die sich jedoch heimlich, auf den Namen eines Bürgers, ein Haus kauften.29 Eine Ursache dieser feindlichen Gesinnung der Stadt bestand darin, daß Adelige als Nichtbürger der Stadt keine Steuern zahlten. 1654 besaßen Adlige bereits 38 Häuser in der Stadt, und erst ab 1662 wurden diese Bauten von der Jurisdiktion des Magistrats befreit.30 Über die Gesamtzahl der Häuser gibt es Archivangaben seit dem 17. Jahrhundert. Nach Angaben der Munsterrolle von 1688 standen in der Unterstadt 673 Bauten.31 Laut der > Spezifikation der Menschen, Häuser und des Getreides < von 1711 umfaßte die Stadt 369 > große und kleine Steinhäuser Schirm < im Renaissance-, manieristischen oder Barockstil vorgebaut. Das Volumen des Bauwerks wurde manchmal überhaupt nicht verändert, oder der Bau wurde in die Tiefe des Hofs vergrößert, wie beim vorangehenden Typus. Einige niederländische Architekturforscher haben diesen Typus >vernakulär< genannt, um auf die starken Beziehungen zum mittelalterlichen Giebelhaus zu verweisen.35 Der dritte Typus in Reval im 17. und 18. Jahrhundert war das Stadtpalais, das durch Zusammenschluß mehrerer benachbarter Grundstücke entstand und einen modernen, mit der Seite zur Straße gekehrten Bautenkomplex darstellte. Das Vorbild in der Architektur war dabei der Palladianismus gewesen, die Schöpfung des großen italienischen Architekten des 16. Jahrhunderts Andrea Palladio. Und schließlich der letzte Typus: Der wenig begüterte Hausbesitzer modernisierte überhaupt nicht, das alte Diele-Dornse-Haus mit zwei oder mehr Räumen und der bisherigen Fassade blieb erhalten; die oberen Geschosse wurden als Lagerräume benutzt. In Reval überwogen im besagten Zeitraum der Anzahl nach die zwei ersten Typen und die hanseatisch-gotischen Wohnhäuser alten Aussehens, Stadtpalais waren zwar vorhanden, doch relativ selten (vgl. Abb. 4).

35

William Kuyper: Dutch classicist architecture. A survey of Dutch architecture, gardens and Anglo-Dutch architectural relations from 1625 to 1700.- Delft: Delft Univ. Press 1980, S. 5.

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Die modernisierte Gotik Ein erstes Mittel zur Modernisierung des Äußeren eines mittelalterlichen Wohnhauses im 16. Jahrhundert war die Aufführung eines Beischlags vor der Haupttür. Obwohl ein spätmittelalterliches Architekturmotiv, bedeutete das Hinzufügen eines Beischlags die Öffnung des bisher festungsartig geschlossenen alten Bauwerks zur Stadt hin und gibt somit auch einen Hinweis auf eine völlig neue Beziehung zum Wohnhaus. Den in allen Städten an der Ostsee verbreiteten Beischlag betrachtet man auch als eine reduzierte Art der italienischen Freitreppe mit Balkon, die in dieser Gestalt noch beispielsweise in Danzig (Gdansk) erkennbar ist.36 Die Beischläge in den norddeutschen Städten und auch in Reval waren aber in der Regel zurückhaltender, es handelte sich um eine auf Straßenniveau oder auch höher errichtete Treppenplattform vor dem Eingang mit Steinbänken an beiden Seiten. Im 15. bis 18. Jahrhundert schmückten diese Treppe Beischlagsteine - zur Straße hin gekehrte, reliefverzierte Steinplatten. Sie funktionierten als eine Art Visitenkarte des Hausbesitzers, denn in der Regel trugen sie das Hauszeichen und andere bildliche Darstellungen mit einem bestimmten religiösen oder moralisierenden Inhalt, auch mit echten Bibelzitaten, wie es in Reval besonders nach der Reformation sehr verbreitet war.37 Die frühe Form des Beischlags, der sogenannte > Reifenbeischlag aufgepappt < wurde. Gleichzeitig begann man Beischläge auch mit modernerer Gesamtform, so etwa mit Voluten, in Auftrag zu geben; neben gehauenen Beischlägen fanden sich auch bemalte. Obwohl es schon im 17. Jahrhundert in Reval Leute gab, die sich darüber beklagten, daß die Beischläge dem Verkehr auf den Straßen hinderlich seien, kam es zu deren Verbot erst 1825 bis 1833. Überraschenderweise fanden sich in Reval - im Gegensatz zu Narva und Pernau - kaum geschnitzte bzw. skulptierte Steinportale, sonst Lieblingsmotive der Architektur zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Ein derartiges Portal war für die Häuser des 16. und 17. Jahrhunderts geradezu vorgeschrieben, es gab sowohl antikische (Serlio, Vignola) als auch manieristische (Vredeman de Vries, Dietterlin) Vorlageblätter.38 Der einzige Beleg für ein derartiges schlichtes Portal an einem Bürgerhaus in Reval ist am Haus Venestraße 6 (Russ-Straße) zu finden. Daneben bieten die Fassaden der Revaler Wohnhäuser Beispiele der 36 37 38

Helmi Üprus: Tallinna etikukivid.- Tallinn: Valgus 1971, S. 9. Ebd., S. 31. Erik Forssman: Säule und Ornament. Studien zum Problem des Manierismus in den nordischen Säulenbüchern und Vorlageblättern des 16. und 17. Jahrhunderts.· Stockholm: Almqvist & Wiksell 1956, S. 32ff.

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Anwendung der bekannten Architekturmotive und Dekordetails sozusagen pars pro toto, indem man nur einen Teil, eine Andeutung ausführte. Beim Portalmotiv nutzte man zum Beispiel nur das Frontonmotiv - den Dreieck- oder Volutenfronton. Diese sind immer auch >Visitenkarten < und tragen auf dem Frontonfeld das Wappen oder die Initialen des Hauseigentümers. Anstelle des Portals konnte auch die Tür eine repräsentative Funktion besitzen, sie auszuwechseln war in der gotischen Fassade relativ unkompliziert. Ausdrucksvolle Beispiele von mit Schnitzereien reich verzierten Türen aus dem 17. Jahrhundert, die in das alte gotische Stufenportal gesetzt wurden, sind in Reval bisher zweimal zu finden: an der Pikk-Straße (Langstraße) 71 und der Suur-Karja-Straße (Karristraße) 2. In beiden Fällen ist die Komposition völlig gleich. Oberhalb des vom gotischen Portal diktierten spitzbogigen Lünettenfeldes befinden sich in symmetrischer Anordnung zwei Wappen - dasjenige des Hausbesitzers und der Familie seiner Gattin. Die unteren Türpaneele haben beide je vier Tafeln, die oberen in reich geschnitzter Umrahmung. In der Suur-Karja Str. 2 finden wir auf zwei Tafeln der Tür (geschnitzt um 1665) die Gestalten zweier Evangelisten und römischer Krieger. Sie verweisen wohl auf die Eigenschaften, die vom Hausbesitzer Christian Drenteln und seiner Frau Elisabeth Römer geschätzt wurden (vgl. Abb. 5). Reduzierte Varianten der geschilderten Türen mit prinzipiell gleicher Komposition, jedoch ohne oder mit minimalen Schnitzereien, sind in Reval an den Fassaden von Wohnhäusern des 17. Jahrhunderts noch anderweitig anzutreffen. Das Auswechseln der Tür gegen eine modernere war noch im 18. Jahrhundert verbreitet. Der Wandel der Mode aber ließ dann schon Türen neuen Typs bestellen - mit barock geschwungener Lichtöffnung und mit Tafeltahmen, die kommodenartig nach außen gewölbt waren. Ein verbreiteter Modus zur Modernisierung der gotischen Hausfassade war das > Abbrechen < des Satteldachs, wobei der zur Straße gekehrte hohe dreieckige Giebel ein neues Aussehen bekam. Der > abgebrochene < Giebel des Halbwalm- oder Pultdachs verlieh der Fassade eine neue horizontale Dimension, was stärker dem nach Renaissance-Harmonie strebenden Architekturvorstellungen entsprach. Wann exakt die ersten solchen Dächer gebaut wurden, ist wiederum schwer festzustellen; wie bereits oben erwähnt, könnte das Dach der Stadtwaage eines der ersten seiner Art sein. Bei den Dächern des 16. bis 18. Jahrhunderts darf aber ebenso die >Nachgotik< nicht vergessen werden. Es gibt in Reval Beispiele dafür, daß durchaus gotische Giebelfassaden auch noch im Zeitalter der Aufklärung gebaut wurden. Zum Beispiel ließ der aus Lübeck eingewanderte Kaufmann Hueck in den 1720er Jahren bei der bedeutenden Erweiterung seines Hauses in der Lai-Straße (Breitstraße) 29 ein gotisches Satteldach mit hohem Giebel aufsetzen, worunter die alte mittelalterliche Hausfas-

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sade, der neue Flügel und auch die bisher auf die Straße stoßende separate Kapelle Platz fanden.39 Ab dem 16. Jahrhundert verbreitete sich neben den schon genannten modernen Fassadendetails noch ein weiteres, das mit seiner Form erneut auf die Antike verweist. Gemeint sind die auf die Spitze der hohen steilen Giebel gestellten Giebelsteine mit der Wetterfahne. Erstere besaßen manchmal die Form eines antiken Tempels oder glichen winzigen Imitationen der Renaissance-Volutenfrontons. Auch Löwenfiguren waren oft Motive des Windfahnenträgers, wohl als allgemeine Zeichen der Stärke und Wachsamkeit der Besitzer. Ein weiterer Blickfang der Fassadenverzierung war ein geschnitztes und bemaltes Giebelkarnies aus Holz, angebracht unter dem Dachgiebel, ein Brauch, dessen Wurzeln in der frühen Fachwerkarchitektur zu suchen sind. Die Verwendung polychromen Holzes bei der Fassadengestaltung noch im 17. Jahrhundert verweist auch darauf, daß man den bedeutend moderneren Stuck in Reval noch nicht herstellen konnte oder wollte; Stuck zeigte sich erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts an den Fassaden und in der Innengestaltung. Dennoch spielten neben architektonischen Mitteln neue Sujetbilder und Porträts an den alten Wohnhausfassaden eine wichtige Rolle. Sie waren entweder auf Holz oder Stein gemalt, auch gab es polychrome Reliefs. Die unmittelbaren Beweggründe zur Auftragserteilung sind natürlich schwer rekonstruierbar. Warum bestellte der Besitzer des Hauses Niguliste-Straße (Nikolaistraße) 1 um 1550 für die Fassade Darstellungen bereits evangelischen Inhalts: Gottvater, Christus und die Evangelisten?40 Warum tat der Eigentümer des Hauses Raekoja-Platz (Rathausplatz) 3 im Jahre 1596 dasselbe? An den Fassaden der Revaler Wohnhäuser finden wir neben religiösen Darstellungen auch Porträtmedaillons, die wohl von Königstreue zeugen; Gustav II. Adolf von Schweden scheint dabei in besonderer Gunst gestanden zu haben (u. a. Vene-Straße 10, Raekoja 10).

Renaissance- und manieristische Fassade Auch im Fall, daß ein Revaler Bürger beschloß, die Fassade seines Wohnhauses merklich zu modernisieren, setzte ihm die Enge seines Grundstückes Grenzen. Hauptobjekt der Gestaltung verblieb der Giebel, dazu begann man, die Fassade symmetrisch und horizontal auszurichten, 39

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Helmi Üprus: Keskaegne elamu Lai 29. Hoone ehitusajalooline ülevaade.- Tallinn 1972 (Manuskript im Archiv des Staatl. Denkmalpflegeamts, P-1446). Mai Lumiste: Maal, puuskulptuur ja -nikerdus ning tarbekunst.- In: Eesti kunsti ajalugu kahes köites. I köide. Eesti kunst köige varasemast ajast kuni 19. saj. keskpaigani.- Tallinn: Kunst 1975, S. 93-104, hier S. 97. (Vgl. auch Abb. 6).

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bei den Details und Verzierungen kamen Formen und Motive der beliebten all 'antica auf. Der internationale flämische Stil41 verbreitete sich von England bis zum Baltikum und gelangte nach Reval mit dem Schwarzenhäupterhaus. Zwar vermochte Arent Passer wegen der Enge des Grundstücks nicht die modernste Lösung zu geben, bei der der Frontgiebel lediglich als Ziergiebel gedient hätte, und das Dach dahinter parallel zur Straße verlaufen wäre - im Haus der Schwarzenhäupter stimmen Dach und Giebellinie wie bei einem gotischen Giebelhaus überein. Weitere Wohnhäuser Revals im > flämischen Stil < sind uns nur aus der Literatur bekannt, zwei sind auch aufgrund der Straßenfluchtzeichnungen von 1825 zu vermuten (Pikk-Straße 3 und eine 1944 zerstörte Hausfassade in der Haiju-Straße 3; beide wurden jedoch schon im 19. Jahrhundert gänzlich umgebaut). Ein Haus im > flämischen Stil< bestellte sich 1631 der schwedische Generalgouverneur Jacob de la Gardie. Neben dem aus Kurland stammenden Baumeister Zacharias Hoffmann wirkte bei der Gestaltung des Hauses auch Arent Passer mit, der die Giebelfiguren zu hauen hatte, so daß hinsichtlich des Charakters der Fassade keine Zweifel bleiben.42 Die geringe Zahl der Fassaden im nordischen Renaissanceund Manierismusstil in Reval ist offenbar wohl wieder durch die seinerzeit ungünstigen Verhältnisse zu erklären - im letzten Viertel des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts mangelte es in Estland sowohl an politischer Stabilität als auch an Geld. Als sich die Verhältnisse besserten, war die Zeit der Hausteine mit vielen > Bildern < und der Giebel mit Voluten schon vorbei.

Die Stadtpalais Die Zeit der Errichtung städtischer Wohnbauten neuen Typs in Reval fallt nach bisherigen Angaben in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im neuen Wohnhaus war die mittelalterliche Werkstattfunktion von den Wohnbedürfhissen völlig ausgeschlossen, in der architektonischen Lösung konzentrierte man sich auf zwei spezifische Aspekte: das bequeme Wohnen und die Repräsentation des eigenen Status'. Folglich besaß das Stadtpalais seinen spezifischen Inhalt, für dessen Äußerung zu Beginn der Neuzeit eine entsprechende architektonische Form bereits entstand. Als Prototyp galt die im italienischen Quattrocento entstandene Residenz städtischer Patrizier, der Palazzo.43 Eine in den Ostseeländern seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts verbreitete Variante des Stadtpalais' 41

42 43

Kuyper: Dutch classicist architecture (Anm. 35), S. 4. Die zweite Bezeichnung hierfür lautet >vernakulär< (vgl. Anm. 35). Karling: Arent Passer (Anm. 16), S. 44. Vgl. etwa Horst Büttner, Günter Meissner: Bürgerhäuser in Europa.- Leipzig: Edition Leipzig 1980, S. 120-214.

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war der sogenannte Palladio-Typus. Dessen architektonisches Hauptmerkmal war die streng symmetrische Fassade, deren Geschosse Säulen oder Pilaster gliederten; am Dachrand zog sich eine Balustrade hin. Eine andere Variante zeigte eine Fassade mit dreieckigem Fronton, der von Kolossalsäulen bzw. -pilastern, durch zwei oder drei Geschosse reichend, getragen wurde. Auf diese Weise erinnerte die Repräsentationsseite des Bauwerks an einen Tempel der Antike.44 In den Städten an der Ostsee war die Verbreitung des Palladianismus im 17. und 18. Jahrhundert wiederum mit den Niederlanden verbunden, vor allem mit dem Amsterdamer Philips Vingboons (1608-1671) und seinem Projektbuch Afbeeldsels der voornaemste Gebouwen (1647). In der Revaler Unterstadt können mehrere palladionistische Stadtpalais genannt werden. Die Häuser Pikkstraße 28, Laistraße 17, Venestraße 25 und Raekoja 10 gehören dabei zum sogenannten Mauritshuistyp, bei dem die Fassade einen dreieckigen Giebel und durch zwei Stockwerke reichende Kolossalpilaster zeigt.45 Das im Frontonfeld des Giebels angebrachte Wappen des Eigentümers belegt, daß man es wie zuvor für wichtig erachtete, sich auch nach außen vorzustellen - die Fassade hatte mitzuteilen, wem das Haus gehörte. Bei den Stadtpalais in der Revaler Unterstadt sticht ins Auge, daß sie durchweg im Auftrag adliger Hausbesitzer errichtet wurden. Erst im 18. Jahrhundert > verirrten < sich einzelne Bürgerliche in diese Gesellschaft. Inwieweit man daraus folgern kann, daß in der Unterstadt zwei Architekturstile herrschten - der modernere des Adels und der konservativere des Bürgertums - , bleibt letztendlich fraglich. Eine Konfrontation zwischen dem alteingesessenen Kaufmannsstand und den von auswärts stammenden schwedischen und deutschen Adeligen könnte vielleicht der soziale Hintergrund möglicher Reibungen in Reval sein. Wie vorhin bereits angedeutet, suchten die Adeligen sich den städtischen Steuern zu entziehen. Eine gewisse interpretatorische Stütze für die Behauptung, daß der Architekturstil auch Träger der Identität einer bestimmten sozialen Schicht sein konnte, ergibt sich aus Angaben, die Narva betreffen. Der schwedische Bürgermeister dieser Stadt, Per Larsson Alebeck Örneclou, äußerte sich schon 1640 in seinen Briefen abschätzig über die Narvaer Kaufleute, sie täten alles stillos, im Geist des alten Lübeck, ohne jegli-

44

Erik Forssman: Palladio. Eine neue Architektur aus dem Geist der Antike.- In: Palladio. Werk und Wirkung. Hrsg. von Erik Forssman.- Freiburg i.Br.: Rombach 1997, S. 37-83, hier S. 47. 45 Karling: Tallinn under Svenska tiden (Anm. 33), S. 122-125.

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chen Schick.46 Einige Forscher haben den Palladianismus des 17. Jahrhunderts geradezu als den > Reichsstil < Schwedens bezeichnet.47

Der Hausraum Nach dem Ausklang des Mittelalters hat man die Revaler Häuser treffend > Erweiterungshäuser < genannt,48 mit dem Hinweis darauf, daß das Raumprogramm des bisherigen Hauses den Bedürfnissen des Eigentümers mit voranschreitender Zeit immer weniger entsprach und er auf jegliche Weise es zu erweitern versuchte. Wie schon erwähnt, war dies auf verschiedene Arten möglich: Das Nebengebäude an der Straße, sei es ein Speicher oder ein Wohnbau, wurde für Wohnzwecke umgestaltet oder ausgebaut. Man konnte entlang der Grundstücksgrenze an der Hofseite des Hauses zusätzliche Kammern bauen, gewissermaßen konnten innere Reserven eingesetzt werden, indem bisherige Lagerräume bewohnbar gemacht oder größere Zimmer aufgeteilt wurden. Durch eine derartige Neuorganisation wurde das bisherige sogenannte Diele-Dornse-System bedeutend vielseitiger und das Raumprogramm differenzierter, auch wenn sich die Gesamtfläche nicht wesentlich vergrößerte. Die Nachlaßinventare der Revaler Bürger geben oft Einblicke in das Raumprogramm eines Eigentümers zu jenem Augenblick, als dieser verstorben war und der Ratssekretär kam, um den Nachlaß zu verzeichnen.49 Im folgenden befassen wir uns zunächst mit den Räumlichkeiten in einem Revaler Wohnhaus, um später zu den Repräsentationsräumen zu kommen. Laut den Inventaren gab es im Revaler Wohnhaus folgende Räume: >Vorhaus Haus< Es handelt sich um den Vorraum, die mittelalterliche > Diele Dornsedörnsedorntze< Diese Raumbezeichnung kommt in den Inventaren nur bis zum Ende des ersten Viertels im 17. Jahrhundert vor und zwar meistens parallel zum Wort > Stube Stube < Erstmalig kommt diese Raumbezeichnung im Inventar Eiert von Kampens 1604 vor,55 und nach und nach verdrängt sie (wie in Deutschland56) den bisherigen Namen > Dornse große Stube < und die > kleine Stube obere Stube Kammer Beykammer< In den Inventaren stehen beide Bezeichnungen, dazu auch Präzisierungen: »Im hause zur beyden Seiten off einer Kammer« (1604)57, »Grote Kamer«, »Achterkammer«,58 »im Hause beikamer«,59 »Upp den Kamer« (1565).60 Im 17. Jahrhundert kommen noch vor > StubenkammerOben auffm Stubenkammer Kammer über der kleinen Stube erste beikammer und andere beikammer Hierarchie < knapp unter der Stube stand, sicherlich jedoch auch zum Wohnen bestimmt war. Eine deutsche Studie ist der Ansicht, daß die Kammer bereits beheizbar war61, und dies bestätigt sich auch aus den Revaler Inventaren: 1652 stand im Haus Gerken Elkers »auff der anderen beikammer [...] eine newe Kachelofen«,62 und da in den Kammern wiederholt Betten genannt werden, liegt es auf der Hand, daß man dort Wärme vorfand. Im 18. Jahrhundert erschienen in den Inventaren die neuen Bezeichnungen >Sahl beykammer< oder > Saalkammer AntechambrenKam-

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TLA 230 [1], B.t. 7, S. 27. Ebd., B.t. 1,S. 430 p. 59 Ebd., A.e., S. 41 p. 60 Ebd. 61 Andreas Eiynck: Häuser, Speicher, Gaden. Städtische Bauweise und Wohnformen in Steinfurt und im nordwestlichen Münsterland vor 1650.- Bonn: Habelt 1991 (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen; 19), S. 93. 62 TLA 230 [1], B.t. 10, S. 229. 63 Ebd., B.t. 171, S. 26-27 58

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mer< des Wohnhauses in Reval zu gelten, daß alle Räume, die weder Stube noch Küche waren, so genannt wurden.64 >Schlaffkamer Schlaffhause < Erstmalig wird der > Schlafraum < oder das >Schlaphusse< 1586 als gesonderter Raum im Hause Jasper Reyers genannt; darin befanden sich »2 Ruhen, 2 peltzdecken, 3 bunte deck, 2 kisten, 1 messingplate, 1 tafeil«.65 Im 17. Jahrhundert kommt das Schlafzimmer in den Inventaren jedoch recht selten vor, besonders im Vergleich mit der > Kammer < oder > Nebenkammer Küche< Im 17. Jahrhundert war die Küche ein Abschnitt des Vorhauses und hieß »bey der Küchen im Vorhaus« (1688).69 In den Revaler Inventaren des 16. Jahrhunderts kommt diese Bezeichnung überhaupt nicht vor. Die erste Erwähnung der Küche als selbständiger Raum stammt von 1639, und zwar im sechs Räume umfassenden Haus des Ratsbeamten Johann Müller. In der Küche gab es »1 grosse brandtruhte und ander küchengereht«.70 Unter den Raumbezeichnungen des 18. Jahrhunderts gibt es bereits eine Saalküche im Zusammenhang mit dem Saal im ersten Stock.71 Eine Küche in der Art, wie sie 1625 im Haus des Gerichtsschreibers und Notars der norddeutschen Stadt Steinfurt vorhanden war, gab es in Reval offenbar noch nicht - in der Küche jenes Gerhard Hubertus standen ein

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Hans-Georg Griep: Kleine Kunstgeschichte des deutschen Bürgerhauses.Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1985, S. 270. 65 TLA 230 [1], B.t. 3, S. 71p. 66 Eiynck: Häuser, Speicher, Gaden (Anm. 61), S. 105. 67 TLA 230 [1], B.t. 7, S. 27. 68 Fred Kaspar: Bauen und Wohnen in einer alten Hansestadt. Zur Nutzung der Wohnbauten zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Stadt Lemgo.- Münster: Aschendorff 1985 (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen; 9), S. 203. 69 TLA 230 [1], B.t. 12, S. 64. 70 Ebd., B.t. 10, S. 213. 71 Ebd., B.t. 17 ΙΠ, S. 8.

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Paar Arbeitstische, ein ausziehbarer Tisch, eine Bank, ein Speiseschrank und ein »Schranckbett«.72 In den Revaler Inventaren sind lediglich Küchenschränke und -regale enthalten. > Sahl Saal < Diese Benennung trug in Reval 1625 zum ersten Mal ein großer Raum im Haus des Kaufmanns Friedrich Krüdener.73 Leider wurde das Inventar erst aufgestellt, als das Haus nach dem Tod des Besitzers bereits ausgeräumt war, so daß über die Einrichtung nichts bekannt ist. Der bereits genannte Generalgouverneur Estlands Jacob de la Gardie ließ den Baumeister Zacharias Hoffmann auch einen Saal für sein neues Haus entwerfen. Im 17. Jahrhundert werden Säle kaum genannt, erst im 18. Jahrhundert wird diese Bezeichnung eines Raums von den Ratsschreibern häufiger benutzt. Es hat den Anschein, daß wie in den norddeutschen (Klein-) Städten74 so auch in Reval diese frühen Säle nicht das gesamte erste Stockwerk einnahmen, wenigstens nicht vor dem 18. Jahrhundert, als der Saal eindeutig zum festlichsten Raum des Hauses des wohlhabenden Bürgers wurde.

Die Repräsentationsräume Die bis heute erhaltene kunsthistorische Substanz vom Beginn der Neuzeit in Reval wie auch das ergänzende dokumentarische Material bezeugen die Bereitschaft der Stadtbürger, Kunst in Auftrag zu geben und schöne Gegenstände zu erwerben. Von dem Bedürfnis der Menschen jener Zeit, sich zu behaupten, zeugt auch, daß man aus nichtigsten Gründen Gerichtsverfahren veranlaßte, um sein Recht zu beweisen, wobei speziell darauf geachtet wurde, daß jeder seine Position gemäß seinem Stande kannte.75 Und seinen Stand demonstrierte man auch mit Hilfe seines Besitzes. Über die Kleiderordnung hinaus gab es wohl keine normative Regelung der häuslichen Einrichtung des Stadtbürgers, doch aufgrund der erhaltenen Angaben ist es eindeutig, daß die Häuser der begüterten Kaufleute in der Gestaltung und Einrichtung einander ähnlich waren. »Besitz-

72 73 74

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Eiynck: Häuser, Speicher, Gaden (Anm. 61), S. 104. TLA 230 [1], B.t. 9, S. 104. Fred Kaspar: Bürgerhaus, halbes Haus und Behausung. Kleinstädtisches Bauen und Wohnen im territorialen Grenzraum - das Beispiel Werne an der Lippe.In: Beiträge zum städtischen Bauen und Wohnen in Nordwestdeutschland. Hrsg. von Günter Wiegelmann, Fred Kaspar.- Münster: Coppenrath 1988, S. 201-292. Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Anm. 2) S. 11 lf.

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freude am Kunstgut«76 - bei Bestellung und Erwerb von Kunst war vor allem der > Besitz < von Bedeutung, in dem gleichzeitig der Ausdruck einer gewissen korporativen Identitätsnotwendigkeit zu sehen ist. Mit Hilfe des eigenen Hauses stellte man sich selbst und seine Familie als Träger eines bestimmten Status' vor.77 Daher dienten einige Räume nicht nur einfach als Wohnraum, sondern auch der Repräsentation. Wie bereits erwähnt, handelte es sich um den Vorraum und die Stube. Zu dieser Behauptung verleiten sowohl die in diesen Räumen vorgefundene reiche Innengestaltung als auch die in den Inventaren aufgezählten Möbel. Das kunsthistorische Dokumentationsmaterial aus dem 17. Jahrhundert ist dabei recht gewichtig, aus dem 16. Jahrhundert dagegen recht knapp. Nachfolgend wird versucht, diese unterschiedlichen Angaben zusammenzufassen, eine Übersicht der hauptsächlichen Gestaltungsmittel in den Revaler Wohnhäusern zu geben und diese mit einigen markanten Beispielen zu illustrieren. Dabei wird gleichfalls versucht, die bei der Einrichtung am meisten verbreiteten Repräsentationsgegenstände zu bestimmen. Bei der Vorstellung der Gestaltung von Repräsentationsräumen ist zunächst zu erwähnen, daß in den Revaler Wohnhäusern allein aus dem 16. bis 18. Jahrhundert 60 bemalte Decken gefunden werden konnten. Die Analyse der Malereien beweist,78 daß diese Art der Verzierung des eigenen Domizils im 17. Jahrhundert eine so allgemeine Verbreitung fand, daß sie sogar in die Wohnräume mittelbegüterter Handwerker und Gymnasiallehrer gelangte. Die weite Verbreitung brachte ihrerseits eine Differenzierung mit sich: Mit dem ausgehenden 17. Jahrhundert ist festzustellen, daß neben einfachen Ornamentmalereien auch Bilddarstellungen mit Sujet in Auftrag gegeben wurden, die natürlich bedeutend teurer waren und das Prestige steigerten. Im 18. Jahrhundert hob sich der wohlhabende Hausbesitzer von den anderen schon allein dadurch ab, daß er für die Zimmerdecke einen Leinwandplafond bestellte. Die Raummalereien am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren sämt76

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Heinrich Kramm: Studien über die Oberschichten der mitteldeutschen Städte im 16. Jahrhundert. Sachsen, Thüringen, Anhalt.- Köln, Wien: Böhlau 1981 (= Mitteldeutsche Forschungen; 87), S. 447. Vgl. etwa Svetlana Alpers: The Art of Describing. Dutch Art in the seventeenth Century.- London: Penguin Books 1989, S. XXIV. Die Verfasserin dieses Beitrags hat seit 1985 in mehreren Aufsätzen über die bemalten Decken der Tallinner Bürgerhäuser geschrieben. In deutscher Sprache sind erschienen: Innenraumgestaltung von Tallinner Bürgerhäusern.- In: Kunst und Architektur im Baltikum in der Schwedenzeit und andere Studien zur baltischen Kunstgeschichte. Hrsg. von Aleksander Loit und Lars Olof Larssen.- Stockholm: Almquist & Wiksell 1993 (= Acta Universitatis Stockholmiensis, Studia Baltica Stockholmiensia; 12), S. 167-187; Repräsentativ, wohnlich, ansehnlich. Die Tallinner Bürgerhäuser im 17. und 18. Jahrhundert.In: Konsthistoriska Studier 13 (1993), S. 7 - 2 5 .

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lieh schlicht ornamental. In allgemein verbreiteter Art ließ man die Balkendecken des Vorhauses und der Stube(n) mit einem sich wiederholenden Mustermotiv verzieren, dessen Charakter sich im Laufe des Jahrhunderts entsprechend der internationalen Mode wandelte. Die Mauresken/Arabesken vom Jahrhundertbeginn wurden in den 40er und 50er Jahren des 17. Jahrhunderts von Ohrmuscheln und Knorpelwerk abgelöst, wohl in den 70er und 80er Jahren trat an deren Stelle das Akanthusmotiv. Keine der erhaltenen Deckenmalereien ist signiert oder datiert. Für all diese Muster haben die Revaler Künstler intensive Farbtöne verwendet, wie sie für den Manierismus und den Barock kennzeichnend waren. In einigen Fällen gab es ergänzende Wandmalereien, bei denen gleichfalls ein Schema bestand: Auf die verputzte Wand wurde ein sogenanntes hängendes Gardinenmotiv gemalt. Es imitierte in ansprechender Weise einen drapierten Stoff, möglicherweise bemalt mit Blumen. Am Ende des 17. Jahrhunderts unterschieden sich einige Malereien von den allgemein verbreiteten Mustern an den Balkendecken durch stärkere > Modernität Mobilia < geben eine recht gute Vorstellung von den Wohnungseinrichtungen der Bürger

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Dieses Portal, dessen Reste zur Zeit im Stadtmuseum aufbewahrt werden, wurde in einem bereits publizierten Artikel der Verfasserin grundlegend behandelt: Krista Kodres: Der wohlhabende Bürger und sein Künstler sowie gegenseitige Ambitionen. (An Beispielen aus Tallinn vom Ende des 17. Jahrhunderts).- In: Sten Karling and Baltic Art History. Sten Karling und Kunstgeschichte im Ostseeraum. Hrsg. von Krista Kodres.- Tallinn: Eesti Kunstiacad. 1999 (= Estonian Academy of Arts, Proceedings 6), S. 149-176, hier S. 156162. Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Anm. 2), S. 187.

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aus unterschiedlichen sozialen Stellungen. 81 Wir wenden uns hier wiederum dem Mobiliar in den Repräsentationsräumen eines begüterten Kaufmanns zu. Da es viele Gegenstände gab, deren Standorte aufgrund des Texts nicht feststellbar sind, können die Räume hier nicht vollständig und exakt geschildert werden. Zum Glück waren die Schreiber der Inventare jedoch stellenweise recht genau. 1639 wurde in der Diele (»in dem Haus auff der deele«) des Ratsherrn Johann Müller folgendes Gut registriert: 82 - Oben an der boden Eine grosse messings Crohne, mit 20 Armen 10 unten und 10 oben - 18 grosse auf der borte im Hauss herumb messings becken getreben arbeite, - 25 grosse zinnern schissel oder plate, - 144 zinnern Tellern, am borte herumb gesetzet, - 4 hiessige und messings armen, - 2 messings platen, eine mit Einer die andere mit 2 Rahmen, - 34 grosse Zinnern Kannen mit beuchen, - 9 zinnern salzier getriben arbeit, - 7 kleine schlecht salzier, - 2 messings leuchter, Eine mit 2, die andere mit röhren, - 4 Conterfeyen, halblebensgrosse, 1 der seel Vater, - 1 seiner seel Mutter, 1 seiner seel bruder, - 1 der frau mutter. »In der kleine Stube worne im Hause zur lincken Handt« des Johann Müller gab es folgende Gegenstände: - Ein höltzern ausziehend Tisch mit 4 Posten eingelegt, - 4 roete Lederne Lange poster auff den bencken, - 6 stül mit golden Leder beschlagen, - 1 grosser Lehnestuel mit Brünnen Lacken und gelben messingen nageln beschlag, - 1 gross Zinnen Handfass, beim Ofen in dass panehl werck mit ein gefasst, - 1 schapp mit 2 auff schlagenden Thüren Brün in Brün vermahlt vollen kleine schubküsten mit dem Alphabeth bezeignet, - 2 spitze und 1 hoch wendische Glassen. »In der rechten Stuben« gab es: - Eine Groosse messings Crohne von 16 Armen, unten 8 und oben achte, - 18 mittelmessige Kannen, - 18 Zinnern Paten mittelmessig, - 49 Zinnern Tellern am borte, 81

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Als Analyse von Möbeln der Tallinner Bürger im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Kodres: Elamuinterjöörist ja seile sisustusest Tallinnas 17.-18. sajandil.- In: Vana Tallinn 2 (1992), S. 51-79. TLA 230 [I], B.t. 10, S. 212-215.

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Ein gross Spiegel mit schwartz Ebenholtz eingefasst, 1 messings Handfass, Ein vierkantig steinern Tisch und 4 Höltzerne gedreyte pfeiler 3 lederne gemeine benckstühle, Eine Schenck Schappen.

1671 wurde der Besitz des Kaufmanns Jürgen Schade verzeichnet.83 Sein Haus befand sich ganz in der Stadtmitte, in der Mungastraße, ein großer Garten war vorhanden. Schade besaß auch viele Goldsachen und Schmuck; um sie zu schätzen, mußte der Goldschmied Wilhelm Hildebrandt eigens herbeigerufen werden. In Schades Vorhaus gab es »Eine längliche gemeine Trencker Tisch nebenst einem dazu gehörigen Sehdell Bancke, ein Schlaffbancke, ein Kleider stehend Schap mit einem Schloss«. Mit Gemälden war das Vorhaus geradezu übersät, hauptsächlich handelte es sich um Porträts, beginnend mit Königen und endend mit Schade selbst, seinen Verwandten und Standesgenossen, den Stadtpatriziern: Caroli Gustavi, Hedwigs Eleonora (Königin), des itzigen jungen königs Caroli, des alten Wachtmeisters, des. Sehl. Defuncti, dessen Sehl, frauen, sehl. frau Margaretha Röhnen Lorenz Jehrens Eheliebsten, besagten Lorenz Jehrenz, Hinrich Blanckenhagens, Hinrich Hercassels, Hinrich Röhnens, Samuel Hoyes, Jacob Husings, Herman Schadens, Jürgen Schadens des sehl. Schadens verstört). Sohns Johannis, noch eine Landschaft in einem länglichen breiten Rahmen.

Die Stube Schades tat sich gleichfalls durch repräsentative Einrichtung hervor. An der Decke hing ein großer zweiarmiger Messingkronleuchter, dort stand ein Tisch der fuss von feuren Holtz und der Bladt thüren wobey eine unverschlossene Schaublade [...]; ein Schlafbancke unter den fenstern beym Tische nebenst denen daran gemachten Kisten [...]; eine kleine ledige verschlossene Geldbancke bey der Stuben Thür, noch eine kleine vorn zerbrochene Bancke beim Ofen.

1680 wurde der Nachlaß des Bürgermeisters Michael Paulsen inventarisiert.84 Natürlich handelte es sich um einen wohlhabenden Mann; er besaß direkt am Rathausplatz zwei steinerne Wohnhäuser, dazu auf dem gleichen Grundstück zwei weitere Steinbauten. In der Diele des Wohnhauses werden Bilder genannt, die größtenteils schwedische Könige darstellten: Gustav Wasa, Erik, Johan und Karl XI., dazu hingen an den Wänden ein Bildnis des Gouverneurs Jacob de la Gardie, des Hausbesitzers und dessen Ehefrau sowie neun weitere Gemälde; alle >Contrafaits< 83 84

Ebd., B.t. 121, S. 93-119. Ebd., B.t. 13, S. 10-12.

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hatten schwarze Rahmen. Weiterhin stand im Vorhaus ein großer Schrank. In der Stube Paulsens gab es eine grosse Mesings Kronen, Ein grosser Spiegel mit schwartz Rahmen, eine kleine Messings Krohne, ein messing Handfass, Unsere allerg. Könings und Herrn Conterfait im Schwartzen Rahmen, Ein Steinern Tisch mit Eichen Füsse, zwei blaue Weinkrusse mit silbern deckein und fussen.

Als die Schreiber ihre Arbeit nach einigen Monaten fortsetzten, registrierten sie die Gegenstände leider nicht mehr nach Räumen, doch wurden dann ein Spinett, ein kleines Heimklavier und ein Schreibpult verzeichnet. Schließlich bringe ich noch einige Beispiele für Repräsentationsräume am Ende des 17. Jahrhunderts, obwohl es damals leider immer seltener vorkam, daß die Einrichtung nach Räumen und in entsprechender Verbindung aufgezeichnet wurde. Die Ratsschreiber zogen eher eine Registrierung nach der Art >an Messing an Werkzeug < usw. vor.85 1685 befanden sich in der Stube des verstorbenen Bürgermeisters Georg Witte in seinem Haus in der Viru-Straße (Lehmstraße) - wiederum eine der wichtigsten Straßen des alten Reval - zwei große Eichentische mit ausziehbarer Platte, ein »gemeine« Tisch mit Eichenplatte, zwölf »mit jufft bezogene«, also mit Jutepolstern versehene Stühle, zwei gepolsterte Bänke und ein Schrank.86 Im Haus des Ratsherrn Johann Höppener am Rathausplatz gab es zum Zeitpunkt der Inventarisierung neben einem noch vorhandenen schönen Innenportal und einem Vitrinenschrank in der Stube hinter dem Vorhaus nur noch »ein Nussbaum Contor mit kleinen Schachteln vorinnen nichtes« und »auff den Saal über den Wohnstube« waren »3 grosse und 1 kleine Conterfait« vorhanden.87 Zusammenfassend kann über die Einrichtung der Repräsentationsräume des Revaler Stadtpatriziers gefolgert werden, daß sie zweifellos dazu diente, die politische Treue des Eigentümers zu beweisen und seinen Stand zu repräsentieren. Als Ausdruck dieser Bestrebungen hingen die Paradeporträts - der schwedischen Könige wie auch des eigenen Geschlechts - stets im Vorhaus, also im ersten vom Gast begehbaren Raum. Somit diente der Vorraum wie auch die Hausfassade im direkten Sinn als eine Art Visitenkarte. Im Vorhaus stand auch ein großer Schrank, der in den Inventaren manchmal > holländischer Schapp< genannt wird und oft auf den Gemälden Jan Vermeers oder Pieter de Hoochs zu finden ist. Er war bekanntermaßen merklich höher als der menschliche Wuchs und sollte wohl auch Ehrfurcht vor dem Hausherrn und seinem Vermögen 85

Kennzeichnete ein derartiges Klassifizierungsbestreben die herannahende Aufklärung? 86 Ebd., S. 75-85. 87 Ebd., S. 203-210.

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erzeugen. Die Nennung weiterer Möbelstücke in Verbindung mit dem Vorhaus verweist darauf, daß dort auch Trinkgelage stattfinden konnten. Rufen wir uns die weitere Gestaltung des Vorhauses vor Augen: die bemalte Decke, das geschnitzte Hausteinportal, durch welches man ins Obergeschoß gelangte, seit Ende des 17. Jahrhunderts immer öfter auch eine Paradetreppe mit gedrechselten Balustern, die in den ersten Stock führte. Die Einrichtung der Stube des wohlhabenden Revaler Bürgers verweist gleichfalls auf Repräsentationsbestrebungen. Als erstes sticht ins Auge, daß speziell seit dem Ende des 17. Jahrhunderts das Bett aus der Stube beinahe überall verschwunden war; in der Regel stand es in der Kammer bzw. in den Kammern. Die Stube wurde natürlich geheizt, dort stand unzweifelhaft ein Ofen, manchmal auch ein Kamin. Die wichtigsten Möbelstücke in der Stube waren Tische, Stühle und Bänke; an der Decke hing stets ein mächtiger Leuchter, an den Wänden oft ein Spiegel und Bilder. Vitrinenschränke, die in den Inventaren in Verbindung mit den Trinkgläsern und in einem Fall mit einem >Schenck Schap< genannt werden und in einigen Wohnhäusern noch heute zu sehen sind, verweisen darauf, daß die Stube auch als Gästezimmer benutzt werden konnte. Das in den Inventaren genannte Porzellan (vorwiegend aus Delft) war hinter den verglasten Schranktüren schön zur Schau gestellt. In der Stube wurde offenbar auch musiziert. Dort konnten die in mehreren Inventaren genannte > Stubenuhr < und auch ein Schreibpult stehen, was dafür spricht, daß der Raum dem Hausherrn als Arbeitskabinett dienen konnte. Bei der relativ geringen Anzahl der Möbel in der Stube ist wiederum an die darüber hinaus recht vielfältige Gestaltung zu denken: Auch hier waren Decke und manchmal auch Wände mit Malereien verziert bzw. zur Gänze bedeckt; die Nische des zwei-, zuweilen auch dreigeteilten Fensters hoben Malereien an den Leibungen und am Sturz hervor, zusätzlich konnte eine behauene und bemalte prächtige Säule als Zierde dienen. Oft zeigte die Tür eine Ausschmückung, indem auf die Tafeln ein Akanthusmuster gemalt war, oder es gab ein viel prächtigeres behauenes Steinportal. Diese Schilderung ist noch um Textilien zu ergänzen: Im 17. Jahrhundert wurden Fenstergardinen noch nicht genannt, wohl aber Bettvorhänge; damaligem Brauch entsprechend gab es jedoch Tischtücher.88 Ihre farbige Note fugten bunte Kissen und Polsterbezüge hinzu. Beim Vergleich der Wohnungseinrichtung des wohlhabenden Revaler Bürgers mit derjenigen der viel erforschten Patrizierwohnungen in den deutschen Städten oder mit den Interieurdarstellungen der niederländischen Genremaler stellt sich eine große Ähnlichkeit heraus, wie nicht

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Vgl. etwa Peter Thornton: Seventeenth Century interior Decoration in England, France and Holland.- New Haven, London: Yale University Press 1981, S. 241.

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anders zu vermuten war. Da die Möbelstücke der Revaler aus dem 16. und 17. Jahrhundert in höchst geringer Zahl bis heute erhalten sind, können die Vergleiche nicht zu Ende gefuhrt werden. Neben der Anzahl der Einrichtungsgegenstände würden gerade der Wert des Materials, die Form der Verzierungen und der Aufwand fur die Anfertigung am besten den Reichtum des Hausstands und das Modebewußtsein der Eigentümer widerspiegeln. Bemerkenswert ist, daß die aus dem Französischen stammenden Bezeichnungen der Möbelstücke aus der Zeit Ludwigs XIV., wie etwa > Commode Gueridon Canape Contoire < und >Konsoltisch öffnete < sich das mittelalterliche öffentliche Gebäude ebenso wie das Wohnhaus in Reval durch Beischläge, Paradetreppen und große Fenster. Alle Bauwerke wurden auch als > Bilderträger < im Sinne der ars memoria benutzt, die Bestandteile der Innen- und Außengestaltung sollten > sprechend < sein, sie waren gewissermaßen szenographische, den Inhalt des Hauses öffnende bildliche Inszenierungen. Diese Rhetorik des Hauses war von großer Bedeutung, und die > Sprache bediente FortitudoLivland< gestaltete sich nach dem Zusammenbruch des Ordensstaates Alt-Livland als territorial-administrative Einheit und umfaßte nun den nördlich der Düna von Letten bewohnten Teil und den südlichen Teil des heutigen Estlands, in dem schon damals Esten lebten. Seit 1561 war dieses Livland Bestandteil des Großfürstentums Litauen, doch nach der Union von Lublin 1569 wurde es Teil des vereinigten polnischlitauischen Königreichs, der sogenannten >RzeczpospolitaInflantia< oder > Herzogtum Überdüna Brückenmeisters< eingeführt;15 am 15. Mai 1640 wurde Michael Weis auf Befehl der Königin Christina zum Generalbrückenmeister ernannt.16 Seine erste Aufgabe war die Aufstellung einer detaillierten und präzisen Beschreibung der Straßensituation Livlands mit dem Hinweis auf die für den technischen Zustand und die Instandhaltung der einzelnen Strecken verantwortlichen Landgüter.17 Gleichzeitig wurden auch die technischen Straßenbaubedingungen vorgeschrieben: Landstraßen müssen elf Ellen breit sein, an sumpfigen Stellen muß zu beiden Seiten ein zwei Ellen breiter und anderthalb Ellen tiefer Graben angelegt sein. Der Grundbau der Brücken18 soll aus Holzstämmen bestehen, darauf Reisig, eine Erdschicht und darüber Sand und Steinschotter. Damit stürzende Bäume nicht die Reisenden gefährden, müssen Bäume zu beiden Seiten der Straße in einer Entfernung von 7 Ellen abgeholzt werden. Brücken über Wasserläufe sind aus starken Tragbalken und Brettern zu bauen und nicht aus Zweigen und Stroh wie früher. Wenn einer der Gutsherren nicht die Weisungen des Brükkenmeisters befolgt und die ihm zustehende Straßenstrecke nicht instandsetzt, ist im Landgericht gegen ihn ein Verfahren einzuleiten, und wenn erforderlich - auch im Hofgericht. 19

Zur Prüfung des Straßenzustandes wurden besondere Straßenrevisionen organisiert. Die Prüfung führten vom König eingesetzte Revidenten aufgrund vorher ausgearbeiteter Vorschriften aus. Die Hauptaufgabe der Revisionen war die Festlegung der Länge der zu betreuenden Straßenstrecke und der Brücken je nach der Größe des Landbesitzes der einzelnen Gutsherren, wie auch die Kontrolle über die Ausführung der vorgeschriebenen Arbeiten. Schon am 7. Juni 1654 wurde dem Revidenten Jonas Fabrizius in der ausgearbeiteten Revisionsanweisung vorgeschrieben, daß er die zu prüfenden Wegstrecken und Brücken auch zu vermessen und in eine Karte einzutragen hat, der eine »Specification« beizufu14

LVVA, Best. 7349, Reg. 1, Akte 27, S. 136. Ebd., Reg. 2, Akte 32, S. 51. 16 Ebd., Reg. 1, Akte 30, S. 209. 17 Ebd. 18 Im 17. Jahrhundert wurden auch befestigte Wege über sumpfige Stellen als Brücken bezeichnet. 19 LVVA, Best. 7349, Reg. 1, Akte 30, S. 209. 15

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gen ist, wieviel und welche Wegstrecken jedem einzelnen Gut zur Betreuung zustehen. Diese Karte ist in zwei Exemplaren anzufertigen, von denen eines beim Landgericht dem > Hakenrichter Krug< ist dem niederdeutschen > kroch < entnommen, und bezeichnet eine Verkaufsstelle alkoholischer Getränke. 30 Arveds Svabe (Hrsg.): Die älteste schwedische Landrevision Livlands (1601).Riga: [o.V.] 1933 (Sonderabzug aus: Latvijas Universitates Raksti: Tautsaimaimniecibas un tiesibu zinatnu fakultates serija 2; 3, S. 337-596. 31 Gotthard Welling (* 11.09.1579, f 08.10.1656), Sohn des Syndikus Dr. Gotthard Welling; siehe: Heinrich Julius Böthführ: Die Rigische Rathslinie von 1226 bis 1876. 2., vollständig umgearbeitete Auflage.- Riga, Moskau, Odessa: Deubner 1877, S. 165. 32 LVVA, Best. 673, Reg. 1, Akte 1045, S. 5-7. 33 Es könnte die Kirche zu Katlekaln gewesen sein, die sich in einer Entfernung von etwa 10 Kilometer vom Zentrum Rigas befindet. 29

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Pärsla

PStersone

kaufen. Am nächsten Tage erreichten die Reisenden nach Überqueren des Flüßchens Misa um die Mittagszeit den Ort Eckau.34 Hier wurde vom mitgenommenen Proviant zu Mittag gegessen, aber Heu und Hafer für die Pferde konnte man vor Ort kaufen. Am Abend desselben Tages kamen sie in Bauske an.35 Zum Übernachten wurde ein Nachtlager eingerichtet. Von den örtlichen Bauern konnte man einige Lebensmittel und Getränke, wie auch Heu und Hafer für die Pferde kaufen. Um den Mittag des 24. September erreichten sie Pozwol (lit. Pasvalys). Nach einer kleinen Mahlzeit und etwas Erholung wurden am Nachmittag noch anderthalb Meilen zurückgelegt, bevor es schon Abend wurde und man sich für eine Übernachtung entscheiden mußte. Dazu wurde wieder ein Nachtlager eingerichtet. Am nächsten Tage waren der längste Halt und die Mittagspause im Ort Sobozce (lit. Subacius), Übernachtung fanden sie hingegen in einem Wirtshaus mit Pferdestall. Am 26. September fuhren sie ohne Aufenthalt bis Onixti (lit. AnykSciai). Doch hier mußten sie länger verweilen, denn die Pferde mußten sich erholen und gefüttert werden; auch mußte ein Pferd beschlagen werden; darüber hinaus wurden auch die Lebensmittelbestände ergänzt. Bis zum Abend erreichten die Reisenden Bulnik (lit. Balninkai), wo sie zum Übernachten wieder ein Lager einrichteten. Um den Mittag des 27. September war Goidroice (lit. Giedraiöiai) und abends Podbroze (lit. Paberze) erreicht; übernachtet wurde im selbst eingerichteten Nachtlager. Am sechsten Tage, dem 28. September, erreichten die Reisenden Wilna (lit. Vilnius). Einer der ersten Initiatoren der Gestaltung des sogenannten >Postkrugnetzes< war der Generalgouverneur Johann Skytte, der in seinem Rundschreiben an die Landrichter vom 21. Mai 1630 den Bau von Krügen mit Ställen an den größeren Wegen in einer Entfernung von je drei Meilen anregte, die übrigen aber sollten liquidiert werden.36 Diese Bauten sollten zwei Aufgaben erfüllen: erstens sollten sie als Pferdetauschpunkte dienen; zweitens sollten hier Räume zur Übernachtung und Lebensmittelreserven für die Reisenden bereitstehen. Somit würde der Reisevorgang bedeutend vereinfacht - man müßte fortan keine Lebensmittel mehr auf den Weg mitnehmen, und der Pferdeaustausch würde die Reisegeschwindigkeit wesentlich erhöhen. Doch der Prozeß des Baues und die Einrichtung der Postkrüge ging sehr langsam vonstatten. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts dienten sie hauptsächlich für den Pferdeaustausch der Postboten. Die grundlegende Funktion bestimmte der Befehl Skyttes vom 20. Dezember 1630, der besagte, daß an den Hauptstraßen nach jeweils drei Meilen Postkrüge sein sollten, wo vier von den örtlichen Bauern zur Verfügung gestellte Pferde ständig bereitzustehen hatten. 34 35 36

Der Ort Eckau ist etwa 40 Kilometer von Riga entfernt. Die Stadt Bauske ist von Riga 65 Kilometer entfernt. LVVA, Best. 7349, Reg. 1, Akte 28, S. 6 - 8 .

Die Bedeutung des livländischen

Postwesens

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Falls der beauftragte Bauer nicht erschienen ist, oder wenn er auf den königlichen Postboten wartend betrunken ist, hat er zwei Thlr Alb. fur jeden verspäteten Tag zu bezahlen. Falls die königliche Post öfters verkehrt oder im Paß des Reisenden vermerkt ist, daß er mehr als vier Pferde bedarf, sind die zu ergänzenden Pferde vom örtlichen Gutsherrn gegen Bezahlung zu liefern. Jedes Gouvernement erhält zur Sicherung des königlichen Postverkehrs eine bestimmte Geldsumme. Über die Verwendung dieses Geldes hat der Gouverneur jedes Vierteljahr dem Buchhalter des Generalgouverneurs einzureichen. 37

Die Bürgermeister und Stadträte hatten dafür zu sorgen, daß die Reisenden für billiges Entgelt von Ort zu Ort befördert und die königlichen Postboten ohne Verzögerung und kostenlos bis zur nächsten Pferdetauschstelle gebracht würden. Schon sehr bald darauf, im Januar 1631, berief sich der Rigaer Rat38 auf die Verordnung und meldete dem Generalgouverneur seine Bereitschaft, am Schloß drei bis vier Pferde zur Sicherung des königlichen Postverkehrs von Riga bis Neuermühlen bereitzuhalten, doch erwartete die Stadt dafür vom schwedischen König 30000 Thlr. Alb. In der Vorschrift des Rigaer Postmeisters Jacob Becker vom Jahre 1632 werden als Verkehrsknotenpunkte nur Städte angeführt, in welchen man Postsendungen erhalten und abliefern konnte. Doch auch zum Funktionieren dieses Systems waren auf den Strecken Riga-WolmarDorpat und Riga-Mitau-Memel Krüge bzw. Pferdetauschstellen unumgänglich. Ein Jahr später beauftragte Königin Christina die Gouverneure, dafür Sorge zu tragen, daß an den Hauptstraßen nach je eineinhalb bis zwei Meilen Krüge eingerichtet werden. In dieser Verordnung wurde auch betont, daß den Reisenden in den Krügen für gewisses Entgelt Pferde, Unterhalt und Übernachtung angeboten werden sollten. Im Jahre 1639, als Livland in die staatliche Postorganisation Schwedens einverleibt wurde, waren für die Strecke von Riga nach Dorpat schon elf Pferdetauschstellen bzw. Krüge mit Pferdeställen vorgesehen: In Riga sollten stets zwei Pferde bereitstehen; Hr. Wachtmeisters Krug in Neuermühlen; der Krug an den Fähren der Fr. Hilchensche (Hilchensfähr); Ludwig Grafens Grafen Krug (Engelhardshof); Fr. Selbenderlschen Brassel Krug (Roop); zum Stallmeister des Hr. Reichskanzlers Krug (Lenzenhof); Hr. Reichskanzlers Krug in Wolmar; S. Excell. H. Reichskanzler gehörenden Hönelß Krug oder im Winter bis zum frey Bauren Brentz (Stackein); H. Wrangeis Krug in Walk; Piaers Kubbias Krug (Teilitz); H. Clas Flemming Krug bei Ringen, und schließlich Dorpat. Vier Krüge waren an der Straße von Dorpat bis Narva einzurichten: Wrangeis Krug (Eksi); Hr. Hinrich Flemming Krug (Waimastvere, hier sollen bis zur weiteren Anordnung vier Pferde bereitstehen); Johann 37 38

Ebd., Best. 7363, Reg. 5, Akte 8, S. 434-436. Ebd., Best. 673, Reg. 1, Akte 1227, S. 317.

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Parsla

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Fockens Krug (Fockenhof), und schließlich Narva. Hier sollten stets zwei Pferde bereitstehen. Die Entfernungen zwischen diesen Punkten betrugen zwischen anderthalb und sechs Meilen.39 Doch noch immer mangelte es an Krügen, und noch auf dem Landtage im Januar 1646 verlautete die Meinung, daß zur Schande Livlands die fremden Reisenden sich mit viel Unbequemlichkeiten abfinden und nicht selten den Bedarf an Lebensmitteln mit sich bringen müßten. Man sollte nach dem Muster anderer Länder an den Straßen und in Ortschaften Gasthäuser einrichten. Auf diese Vorwürfe antwortete Generalgouverneurs Erik Gustavsson Stenbock, daß die Gasthäuser in den Ortschaften sich in zufriedenstellendem Zustande befänden und auch die Zahl der Krüge und Pferdeställe an den Straßen ausreichend sei. Auf dem Landtag im März desselben Jahres erhielt die Stadt Riga Vorwürfe über den Mangel an Gaststätten. Bürgermeister Melchior Fuchs wandte im Namen der Stadt dagegen ein, daß es in Riga genügend Gaststätten gäbe, eher seien es zu wenig Gäste. Das russische Gasthaus in der Vorstadt sei so eingerichtet, daß es die Reisenden gut aufnehmen könnte, doch das Unglück liege darin, daß die Gäste nicht gerne zahlen wollten, deshalb könne der Gastwirt nicht jeden Gast einzeln bedienen.40 In der Tat gab es im 17. Jahrhundert in Riga kein Gasthaus, das zur Verfugung des weiten Publikums stand. Das russische Gasthaus oder > Moskauer Haus< ist in Urkunden schon 1642 erwähnt, doch gemäß den Ratsverfügungen aus den Jahren 1659 und 1663 durfte es einzig und allein von russischen Kaufleuten benutzt werden. Denselben Charakter trug auch das sogenannte > Judenhaus Livländische Sammlung Sangweise in Diskant-Noten < und einem anderen die Bezeichnung des Silbenmaßes beigefugt sein, [...].16 Im Kommentar zu der >Livländischen Sammlung < merkt er dann zu den Personen an: Eine sichere Verteilung der beschriebenen vier Handschriften auf Herders [...] erwähnte geistliche Helfer - Baumann - Wenden, eventuell Bergmann - Arrasch und vielleicht noch andere - wäre, soweit nicht einfache Lohnschreiber in Frage kommen, durch vorerst noch unausführbare Handschriften-, Sprachund Orthographievergleiche möglich; [...].17 Arbusows Forschungsarbeit war durch Materialmangel erschwert. Er besaß keine Ausgabe der Volksliedersammlung von Gustav Bergmann und hatte auch keine Möglichkeit, die Handschriften der in Livland tätigen Pfarrer zu vergleichen, wie er selbst anmerkt. Aber auch heute noch ist diese Frage nicht vollständig geklärt, weil viele Handschriften nicht verfügbar sind und keine wissenschaftlichen Studien auf diesem Gebiet betrieben wurden.

13

Nämlich bei »>den Lettern in Livland« kommentiert richtig H. Lambel, K. 76, III 2, S. 190 (Anm.) [nach Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 139 (Anm. 37)]. 14 »Solchen alten lettischen Gesang« interpretiert Kurt Stavenhagen; vgl. ders.: Herder in Riga. Rede, gehalten zum Festaktus des Herderinstitutes am 4. September 1922.- Riga: Löffler 1925 (= Abhandlungen des Herder-Instituts zu Riga, 1/1). 15 Herder: Werke in zehn Bänden (Anm. 9), S. 457-458. 16 Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 167. 17 Ebd., S. 188.

Die Sammlung von Volksliedern im lettischen Livland

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Wie kam es aber zu einer Sammeltätigkeit, die so weitreichende Folgen für die europäische Ethnologie hatte? Sein erstmals 1767 formulierter und 1773 wiederholter Aufruf zur Sammlung von Volksliedern wurde zum Beispiel vom jungen Goethe befolgt, aber von August Ludwig von Schlözer und Friedrich Nicolai nicht ernst genommen. In die fur den Druck vorbereitete Sammlung der Alten Volkslieder hat Herder nur die Gesänge aus Friedrich Christian Webers Verändertem Rußland aufgenommen, »vielleicht die schlechteste Probe, die gegeben werden konnte«, wie Herder selbst bemerkt.18 Erst 1777 kam es zu einer umfangreicheren Sammeltätigkeit in Livland; vor allem die deutschen Pastoren waren es, die sich damit beschäftigten. Herder kannte die Situation vor Ort, und in bezug auf seine Idee, Volkslieder zu sammeln, schreibt er im Vorwort zum vierten Buch der Alten Volkslieder. Der Rand der ganzen Ostsee zum Theil besteht aus Völkern deren Geschichte gewiß noch aufgeklärter ist, als ihre Naturgeschichte, die wahre Kunde ihrer Sprache und Denkart: Wenden, Slaven, Alt-Preussen, Litthauer, Letten, Esthen, bis zurück an die Friesen sogar - man halte sie gegen die Nationen, die wir mehr kennen, Isländer insonderheit, wer wird auf Proben ihrer Denkart und Sprache gerechnet, nur vergleichen? Und doch leben überall Geistliche, denen es Beruf ist, ihre Sprache, Sitten, Denkart, alte Vorurteile und Gebräuche zu studieren!19

Mit Blick auf die livländischen Pastoren fährt Herder fort: Deren viele sie auch gewiß studiert haben: die davon auch manches in der dritten Person reden: >sie haben Gesänge! sie haben so sonderbare Vorstellungen u.s.w.Alte Stender< bezeichnet wird, gedacht. In die erste Auflage seiner Lettischen Grammatik (1761) 21 hatte er zehn »alte Nationalliederchens« der Bauern mit der deutschen Übersetzung aufgenommen und die Texte mit einem sachkundigen Kommentar versehen. Mit Hilfe von Stenders Grammatik haben mehrere 18

Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Bd. XXV. Hrsg. von Bernhard Suphan. Poetische Werke, hrsg. von Carl Redlich.- Berlin: Weidmann 1885, S. 91. Friedrich Christian Weber: Das veränderte Russland. Teil Ι-ΠΙ.- Frankfurt/M., Leipzig: Förster 1738; Hannover: Förster 1739-40 (Nachdruck: Hildesheim: Olms 1992). 19 Herder: Werke in zehn Bänden (Anm. 9), S. 61 -62. 20 Ebd., S. 62. 21 Gotthard Friedrich Stender: Neue vollständigere Lettische Grammatik nebst einem hinlänglichen Lexico wie auch einigen Gedichten.- Braunschweig: Fürstliches großes Waisenhaus 1761.

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folkloristisch interessierte Personen im Baltikum wie auch im Ausland eine Vorstellung vom lettischen Volkslied gewinnen können, darunter auch Goethe, der diesen Umstand in seinem Tagebuch notiert hat.22 In der Person Stenders besitzt die lettische Literaturgeschichte einen Vertreter der Aufklärung, dessen Verdienste fur die Herausbildung der lettischen Literatursprache sehr groß sind. Zugleich ist anzumerken, daß Stenders Rolle als >Popularisator< der lettischen Volkslieder nur aus der historischen Perspektive zu sehen ist.23 Hinsichtlich der lettischen Volkslieder war er anderer Meinung als Herder. Der spezifische dichterische Wert und Inhalt des lettischen Volkslieds blieb für ihn unverständlich. Heinrich Schaudinn schreibt in seinem Buch Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhunderts darüber: Stender stand freilich dem Inhalt des Volksliedes noch recht voreingenommen gegenüber und hatte kein Verständnis für seinen dichterischen Wert. Immerhin bedeutete es sehr viel, daß er es ganz klar als das beste Mittel erkannt hatte, in den »Genius« der lettischen Sprache einzudringen. Er bemerkte außerdem sehr wohl die Spuren der Mythologie, die im Volkslied zu finden waren und es als volkskundliche Quelle von teilweise hohem Alter auszeichneten 2 4

Zwar erblickt BerzinS in Stender eine »größere Autorität«25 im Hinblick auf dessen Kenntnis der formalen Seite der lettischen Volkslieder, bei Herder sieht er aber einen anderen Vorteil: »[...] er hat das feine Ohr, das die Seele des Volks erhört.«26 Obwohl Stender die Volkslieder viel besser kannte als die anderen deutschen Pastoren im Baltikum, war seine Einstellung der abwertenden Meinung anderer ähnlich. Das Hauptargument gegen die Volkslieder war beständig der »Kulturmangel und die Frechheit.«27 Viele Forscher erklären diese Haltung unter anderem dadurch, daß die deutschen Pastoren meistens am Johannisabend sowie bei den Hochzeiten und >Talken < die Lieder hörten. Sehr viele Lieder, die zu diesen Anlässen gesungen wurden, waren die >Besingens-Lieder< (apdziedäsanäs) mit einem witzigen und nicht selten auch boshaften Charakter. Die aufklärerische Tendenz im Wirken Stenders äußert sich unter anderem in seinen volkserzieherischen Bestrebungen. So ließ er die Bauern 22

23 24

25 26

27

Vgl. Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 143. Vgl. Johansons: Latvijas kultüras vgsture (Anm. 7), S. 408. Heinrich Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volkstum des 18. Jahrhunderts.- München: Reinhardt 1937 (= Schriften der Deutschen Akademie; 29) (Nachdruck: Hannover-Döhren: Hirschheydt 1975), S. 132. Berzinä: Atraktä tautas dzeja (Anm. 5), S. 115. Ebd. Meine Übersetzung, B.P., das lettische Original lautet: »[...] vinam ir smalkä auss, kas tautas dzejä sadzird tautas dvgseli.« Vgl. Johansons: Latvijas kultüras vesture (Anm. 7), S. 409.

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anstelle ihrer lettischen Volkslieder seine selbstverfaßten Gesänge singen, weil er die Volksdichtung als minderwertig betrachtete. In der zweiten Auflage der Lettischen Grammatik (1783)28 vergleicht er die Volkslieder »mit den bardischen Liedern der uralten Deutschen in ihrer ersten Rohigkeit.«29 Schaudinn folgert daraus: »[...] so war er vielleicht schon mit den Gedanken Herders bekannt geworden, ohne allerdings von dessen Geist tiefer berührt zu werden.«30 Auch Herder kannte die erste Auflage der Grammatik von Stender, da er sie dem jungen Goethe in Straßburg empfohlen hatte. Es wäre denkbar, daß Herder mit der Absicht, in die Volksliederausgabe auch lettische Texte aufzunehmen, sich auf Stenders Buch berufen oder auch Stender persönlich um Hilfe gebeten hat. Wahrscheinlich waren aber die Ansichten dieser beiden für die lettische Kultur so wichtigen Männer über die Volksdichtung zu verschieden, so daß es zu keiner Zusammenarbeit kam, was »aus der Perspektive der lettischen Kulturgeschichte sehr zu bedauern ist«.31 Mit der Bitte, lettische Volkslieder an ihn zu schicken, hat sich Herder nicht an Stender gewandt. In dem Kommentar zu estnischen Liedern berichtet Herder, daß er viele estnische und auch lettische Lieder vom Autor der Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland, dem Pastor August Wilhelm Hupel (1737-1819) erhalten habe. Zur Zeit ist es nur zum Teil möglich, den Weg der lettischen Lieder zu Herder nach Deutschland aufgrund des erhaltenen Briefwechsels und anderer Materialien (Volksliederausgaben, Handschriftenvergleiche) nachzuvollziehen. Vor Oktober 1777 bat Herder den im estländischen Oberpahlen wirkenden Hupel, ihm lettische und estnische Lieder zu schicken. In demselben Jahr gab Hupel bei Hartknoch in Riga den zweiten Band seiner Topographischen Nachrichten von Lief- und Ehstland32 heraus, worin er auch ausführlich über die estnischen und lettischen Volkslieder berichtet. Im Nachtrag (S. 160) wurden zwei estnische und ein lettisches Nationallied mit Noten veröffentlicht. Hupel war 1737 in Buttelstedt bei Weimar geboren, hatte seit 1748 das Weimarer Gymnasium, seit 1754 die Universität Jena besucht und kam im September 1757 nach Riga. Er wurde Hofmeister in Livland, offenbar im lettischen Sprachgebiet, dann 1760 Pastor zu Ecks bei Dorpat 28

29 30

31 32

Gotthard Friedrich Stender: Lettische Grammatik. 2. Aufl., von dem Verfasser selbst verb., verm, und von neuem umgearbeitet.- Mitau: Steffenhagen 1783. Vgl. Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (Anm. 24), S. 132. Ebd. Bei Herder heißt es u. a.: »nach den Barden, die Karl der Große sammlete«, was eine Verbindung zu der Äußerung von Stender nahelegt. Herder: Werke in zehn Bänden (Anm. 9), S. 15. Johansons: Latvijas kultüras vesture (Anm. 7), S. 419. Topographische Nachrichten von Lief- und Ehstland. Gesammelt und hrsg. durch August Wilhelm Hupel. Band II.- Riga: Hartknoch 1777. Der erste Band erschien 1774.

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(estn. Tartu) in Estland und 1763 zu Oberpahlen, wo er, nachdem er 1776 einen Ruf nach Riga abgelehnt hatte, bis 1804 amtieren sollte. Gestorben ist er im Jahre 1819.33 Für Herder beschaffte Hupel acht estnische Lieder. Weil er aber nicht in Lettland tätig war, konnte er keine lettischen Lieder auftreiben. Hupel wandte sich in dieser Angelegenheit an einen Freund in Riga, Jakob Benjamin Fischer (1731-1793), aus dessen 1778 bei Hartknoch in Riga erschienenem Buch Naturgeschichte von Liefland er im zweiten Band seiner Topographischen Nachrichten (S. 428-541) Auszüge vorab publizierte. Jakob Benjamin Fischer war 1731 in Riga geboren, hatte nach dem Besuch des Rigaer Lyzeums 1756-58 in Kopenhagen Naturgeschichte und 1761 Zoologie und Botanik in Uppsala studiert. Anschließend war er bis 1768 Apotheker in Riga, dann seit 1770 Buchhalter des dortigen Waisenhauses.34 Fischer hatte einen großen Bekanntenkreis, daher bat Hupel ihn und den Verleger Hartknoch am 17. Oktober 1777 - letzteren auch erneut am 1. Dezember 1777 - um »etliche Volkslieder der Letten, die sie bei ihren Festen, Hochzeiten usw. unter sich singen«. Da Hupel die Einstellung der Pastoren zu den im Volke gesungenen Liedern gut kannte, schrieb er in seinem Brief an Fischer: Wenn Pastores es für Sünde halten sollten, solche Lieder mitzuteilen, so finden Sie wohl andere, die dazu geneigt sind. Je witziger die Lieder, desto besser; die meisten sind doch einfaltig.35

Dabei hatte Hupel landische und kleinstädtische deutsche Pastoren im Auge und besonders erwogen, ob nicht der fleißige Propst Baumann unter seinen Sammlungen wohl eine lettische Volksliedersammlung haben sollte, oder der Pastor Bergmann.36

Fischer bat den Propst Heinrich Baumann (1716-1790) 37 in Wenden (lett. CSsis), den Pfarrer Gustav Bergmann (1749-1814) in Arrasch (lett. 33

Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bearb. von Friedrich von Recke und Karl Eduard Napiersky. Bd. I-IV.- Mitau: Steffenhagen 1827-32, Bd. Π (1829), S. 363-369; vgl. auch Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 167. 34 Nach Recke/Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon (Anm. 33), S. 568-569 und Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 167. 35 Nach Angaben von Heinrihs Strods befinden sich die Briefe im Historischen Staatsarchiv Lettlands (LVVA) in Riga, F. 4038, apr. 2, 1. 262; vgl. Strods: Herders un latviesu tautasdziesma (Anm. 10). 36 Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 167.

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ÄraiSi) und wahrscheinlich auch den Pfarrer Christoph Harder (17471818) in Papendorf (lett. Rubene), ihm lettische Volkslieder zuzuschikken. Der Briefwechsel zwischen Jakob Benjamin Fischer und Heinrich Baumann ist glücklicherweise erhalten geblieben, so daß diese Vorgänge verfolgt werden können. Am 31. Oktober 1777 bekam Fischer von Baumann einige Volkslieder mit folgenden Worten zugeschickt: Hier folgen, Herzensfreund, einige lettische Poesien. Glauben Sie wohl, liebster Freund! Daß von solchen Poesien niemals je etwas gehöret. Den 30. cujus, da dero geehrtes (vom 17.10) erhielt und meinen Hausleuten von den verlangten Liedern etwas äußerte, wurden sie alle begeistert und kamen in enthusiasmo, so daß sie kaum mäßigen konnte. Daß was hie folget, ist also der Anfang, künftig ein mehreres. Sie werden doch manches finden, so kaum von Letten zu vermuten.38

Heinrich Schaudinn bemerkt mit Recht, daß aus den Worten Baumanns die revolutionären Folgen herauszuhören sind, die Herder mit seinem Aufruf zum Sammeln von Volksliedern auch im lettischen Livland ausgelöst hat. Propst Heinrich Baumann war in Deutsch-Krottingen (lit. Kretinga) bei Memel (lit. Klaipeda) geboren und in Libau (lett. Liepäja) zur Schule gegangen, hatte in Jena studiert und war seit 1760 Pfarrer in Wenden. Er besaß eine beachtliche Sammlung von lettischen und deutschbaltischen Büchern und Dokumenten, aber an das Sammeln von Volksliedern hatte er bis dahin nicht gedacht.39 Wie ein Brief an Fischer vom 13. März 1778, also bereits nach Beendigung der Volksliedersammlung, zeigt, war Baumann - wie auch dem überwiegenden Teil der deutschen Pastoren — nicht bekannt, was Herder mit den Volksliedern anfangen wollte: Melden Sie mir doch, liebster Freund! was will Herr Generalsuperintendent Herder - sein wohlgetroffenes Bildnis als eines ehemaligen liefl. Gelehrten liegt unter meinen livonicis - mit unsern lettischen Volksliedern machen? Der große Mann! das ist mir noch ein rechtes Rätsel, so aufzulösen nicht imstande bin. 40 37

Heinrihs Strods gibt den Namen als >J. Baumann < an; diese Angabe ist aber falsch. Wahrscheinlich hat er Heinrich Baumann mit dessen bekannterem Bruder Joachim Baumann (1712-1759) verwechselt, welcher Herzoglich-Kurländischer Superintendent in Mitau war. Vgl. Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 168. 38 Zit. nach Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 169. 39 Vgl. Sväbe: Käda mäcTtäja dzTve (Anm. 8), S. 162. 40 Zitiert nach Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 169.

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Entgegen den Vermutungen Hupeis hatte der seinerzeit wohlbekannte Sammler Heinrich Baumann kein einziges lettisches Volkslied in seinem Vorrat. Wie viele Pfarrer dem Aufklärer Stender folgend, hielt er ein Interesse am Volkslied wohl für Albernheit oder sogar Sünde. Dies bezeugt nachdrücklich, wie neu und ungewöhnlich Herders Unternehmung zu seiner Zeit war. Am 1. Dezember 1777 schrieb Hupel wieder an Hartknoch und Fischer und bat, die Texte schneller kommen zu lassen; dabei teilte er Hartknoch mit, daß die Lieder für Herder bestimmt seien.41 Arbusow merkt dazu an, Fischer habe »mit der Weiterleitung des Empfangenen [der lettischen Volkslieder] getrödelt«.42 Herder bat am 4. Januar 1778 Hartknoch, Hupel an seine Bitte zu erinnern. Dieser bedankte sich am 6. Februar 1778 bei Jakob Benjamin Fischer für die zugeschickten Lieder und versprach, Herder über die Dienste Fischers zu informieren. Am 21. Februar teilte Hupel Fischer mit, daß er die lettischen Volkslieder »nach Deutschland an Herrn Generalsuperintendenten befördert« habe.43 Möglicherweise geschah dies mit Hilfe Hartknochs, wie schon Arbusow vermutet hat. Es ist anzunehmen, daß Herder die Volkslieder im Januar oder Februar 1778 bekommen hat.44 Ein Zeugnis hierfür ist ein von Herder an Heinrich Christian Boie geschriebener Brief vom 11. April 1778, in dem es heißt: »Ich habe eben gestern einen trefflichen Vorrath Esthnischer und Lettischer Lieder erhalten.«45 Ob in dieser Sendung sämtliche Herder zugeschickten lettischen Texte enthalten waren, ist nicht festzustellen. Da lediglich die Korrespondenz mit dem Propst Heinrich Baumann bekannt ist, sind die anderen Volksliedersammler nur schwer genauer zu bestimmen, so daß die Frage, von wem Herder welcher Text für die > Livländische Sammlung < zugeschickt wurde, bis jetzt größtenteils ungeklärt geblieben ist. Arbusow nennt in seinen Untersuchungen noch Gustav Bergmann und einen gewissen Nessler als weitere mögliche Sammler. Dabei stützt er sich auf folgende Vermutung: Da in Herders handschriftlichem lettischen Liederschatz aus Livland mehrere Hände festzustellen sind, haben, abgesehen von der Frage etwaiger Abschreiber, noch andere Korrespondenten neben dem Wendenschen Propst mitgehol-

41

Vgl. Strods: Herders un latviesu tautasdziesma (Anm. 10), S. 151. Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 169. 43 Vgl. ebd. 44 Vgl. Strods: Herders un latvieäu tautasdziesma (Anm. 10), S. 151. Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 170, meint jedoch, daß es nicht eher als im Mai geschehen konnte. 45 Herder: Briefe (Anm. 10), Bd. IV, S. 45. 42

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fen, wobei auf die Wolmar-Wendensche Gegend hinweisende lettische Mundart der Texte an Baumann wie Bergmann und Nessler denken läßt. 46 Gustav Bergmann war mit Fischer befreundet, der gelegentlich während des Sommers im Pastorat Arrasch zu Gast war. Sväbe nennt in seiner Monographie über Gustav Bergmann in bezug auf die uns interessierende Frage einige Argumente, die zu beachten sind: Par labu Sai hipotezei runä an tas, ka Herdera 45. dziesmä ir pieminetas Jaunvaisulu mäjas, kas atradäs Veismanu pagastä pie CSsTm, Äraiäu draudze. Bet pret Bergmam kä tautasdziesmu uzrakstltäju äai laika savukärt runä tas, ka ap 1775. gadu sacer6tä darbä >Von den Latten < autoram nav savu tautä noklausltu latvieäu tradiciju: tautas dziesmu paraugus vinä aizguvis no Stendera Latvieäu gramatikas (1761) un mlklas no Joh. J6k. Hardera 1764. gada raksta. Täpat Sai apcer&jumä Bergmanim nav sava sprieduma par latvieSu seno pogziju, un vinä atkärto tikai Hardera domas. Bet neko vgrä nemamu B. neprata pateikt an 1807. gadä, izdodot pirmo Zingu kräjumu. Tomer Baumana gadljums räda, ka arT B. varSja steigä uzrakstlt vairäkas dziesmas pat tad, ja vinä par täm agräk nebütu interesgjies. 47 (Für diese Hypothese spricht auch die Tatsache, daß in dem 45. Lied aus Herders Sammlung der Bauemhof Jaunvaisuli erwähnt ist, der sich im Kreis Weißenstein bei Wenden im Pastorat Arrasch befindet. Gegen Bergmann als Volksliederlieferanten zu dieser Zeit spricht die Tatsache, daß es in seiner um 1775 geschriebenen Arbeit >Von den Lätten< keine von dem Autor selbst gehörten und aufgezeichneten lettischen Traditionen gibt: die Beispiele für Volkslieder hat er der Lettischen Grammatik (1761) von Stender und den Rätseln von Johann Jakob Harder aus dem Jahre 1764 entnommen. In diesem Aufsatz hat Bergmann zudem keine eigene Meinung über die alte lettische Poesie, und er wiederholt die Gedanken von Harder. Nichts Beachtenswertes konnte Bergmann aber auch im Jahre 1807 bei der Herausgabe der ersten Sammlung seiner Sinngedichte sagen. Doch der Fall von Baumann zeigt, daß auch Bergmann in Eile einige Lieder aufschreiben konnte, wenngleich er sich früher dafür nicht interessiert hat). Die Beteiligung Bergmanns an der Sammlung von Volksliedern belegen die beiden von ihm herausgegebenen Anthologien: Erste Sammlung acht lettischer Sinngedichte (Ruien 1807) und Zweite Sammlung lettischer Sinn- und Stegreifsgedichte (Ruien 1808). Nach Meinung einiger Forscher hätten sie eigentlich > Singgedichte < heißen sollen. Die zwei in einer nur geringen Auflage auf der Handpresse von Bergmann in einer Scheune gedruckten Bücher gelten als erste folkloristisch kompetente Sammlung lettischer Volkslieder. Nach Bgrzinä wiederholen sich 21 Lieder aus der >Livländischen Sammlung < Herders fast genau in 46 47

Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 173. Sväbe: Käda mäcTtäja dzlve (Anm. 8), S. 165-166. Die folgende Übersetzung von mir, B.P.

Beate

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Paskevica

derselben Reihenfolge in Bergmanns Sammlung von 1807,48 wie die folgende, nach Nummern geordnete Aufstellung zeigt: Herder

Bergmann

Herder

Bergmann

24 25 30 31 32 33 34 36 37 38 39

197 198 200 199 202 201 203 205 204 206 208

40 42 59 61 62 63 66 67 68 70

209 210 211 213 212 214 215 216 196 217

§väbe hat eine Photokopie der Handschrift des zwölften Liedes aus der >Livländischen Sammlung < von Herder mit den in Arrasch in lettischer Sprache aufgeschriebenen Predigten von Gustav Bergmann verglichen, die früher in der Bibliothek der Lettisch-Literärischen Gesellschaft (Latviesu draugu biedribas) aufbewahrt wurden, und festgestellt, daß der lettisch und deutsch geschriebene Text des zwölften Liedes von Bergmanns Hand stammt. Daher folgert er: »Der zweite Lieferant der Lieder für Fischer war also mit der größtmöglichen Sicherheit der Pfarrer aus Arrasch.«49 Nach Angaben von Sväbe hat Bergmann selbst für seine Sammlung nur sechs Lieder aufgeschrieben, die anderen Texte waren ihm am 24. August 1806 vom Pfarrer aus Papendorf, Christoph Harder, einem Bruder des Johann Jakob Harder, nach Ruien (lett. Rüjiena) zugeschickt worden. Diese Sendung enthielt neben den von Harder eigenhändig aufgeschriebenen Liedern auch Stücke von der Hand des Pfarrer aus Serben (lett. Dzerbene), Karl Johann Grass.50 Die schon zu Lebzeiten Bergmanns zur bibliographischen Rarität gewordene Sammlung acht lettischer Sinngedichte war für Arbusow, wie bereits oben bemerkt wurde, nicht zugänglich, ebenso nicht der handschriftliche Text einer Predigt von Bergmann. Da eine Reprintausgabe

48 49

50

Nach Sväbe: Käda mäcltäja dzlve (Anm. 8), S. 166-167. Ebd. Der lettische Originaltext lautet: »Tätad otrs dziesmu iesfltTtäjs Fiäeram ar vislieläko paticamlbu bija Äraisu mäcTtäjs.« Nach Sväbe: Käda mäcltäja dzTve (Anm. 8), S. 166.

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dieser Sammlung mit Kommentar von Haralds Biezais vorliegt, war es mir nun möglich, die Angaben von Sväbe zu überprüfen.51 Zu der ähnlichen Reihenfolge in der Sammlung von Bergmann und in der > Livländischen Sammlung < Herders meint Arbusow: Hier liegt also eine beim Sammeln entstandene Gruppe, die freilich nicht nachweisbar aus Wenden und von Baumann stammt, aber doch auf einen bestimmten Sammler zurückgehen muss, der dann auch Bergmann gewesen sein kann.52 Nicht ausgeschlossen ist aber auch die andere von Arbusow erwogene Möglichkeit in bezug auf die Ähnlichkeit der beiden Sammlungen. Bergmann kann freilich ebensogut auch eine seit 1777 in Wenden oder Wolmar zurückbehaltene oder erst selbst genommene Abschrift einer damals für Herder veranstalteten fremden Sammlung später in sein Büchlein vom Jahre 1807 aufgenommen haben.53 Über die Anregungen zu Bergmanns Sammlung und von deren historischer Bedeutung wird noch die Rede sein. Als Beschaffer der bis 1933 bezeugten lediglich 17 lettischen Lieder galt vor dem Bekanntwerden von Hupeis und Baumanns diesbezüglichen Briefangaben der >alte Kandidat < Nessler. Hartknoch schrieb an Herder am 14. Februar 1778: Hupel wird nächste Post Volkslieder schicken, das sind Esthnische; aber wo kriege ich Lettische? nun, der alte Candidat Nessler will dafür sorgen, aber der ist langsam.54 Im März 1778 antwortete Herder: Wenn Hupel und der Candidat, mein ehemaliger Tischgenosse, was auftreiben, gut oder schlecht, so lassen Sies mir bald zukommen.55

51

Haralds Biezais: Die erste Sammlung der lettischen Volkslieder von Gustav Bergmann, mit einer historischen Einleitung über die Ausgaben der lettischen Volkslieder.- Uppsala: Senatne 1961; ders. (Hrsg.): Die zweite Sammlung der lettischen Volkslieder von Gustav Bergmann.- Uppsala: Almqvist & Wikseil 1967 (= Religionshistoriska Institutionen (Uppsala, Univ.), Skrifter; 3). 52 Arbusow: Herder und die Begründung der Volksliedforschung (Anm. 2), S. 174. 53 Ebd. 54 Von und an Herder. Ungedruckte Briefe aus Herders Nachlaß. Hrsg. von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. Bd I-III.- Leipzig: Dyk'sche Buchhandlung 1861, Bd. II, S. 63 und S. 82. 55 Herder: Briefe (Anm. 10), Bd. IV, S. 42, 10-12.

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Zur Person Nesslers gibt es bis jetzt nur wenige Hinweise. Entweder er selbst oder ein Verwandter namens Chr. G. Nessler (auch Nesseler) war seit 1760 Hauslehrer auf dem Gutshof Rutzky (lett. Rucka) bei Wenden. In dieser Zeit traf er sich wahrscheinlich mit Heinrich Baumann aus Wenden. Die Frage, wo Nessler sich im Jahre 1778 aufgehalten und ob er sich jemals für das lettische Volkslied interessiert hat, läßt sich derzeit nicht beantworten. Es gibt bis jetzt auch keinen Beweis dafür, daß Nessler an Hartknoch Volkslieder geschickt und letzterer diese dann seinerseits an Herder weitergegeben hat. Sväbe glaubt nicht daran: Wenn es geschehen wäre, dann würde Herder bestimmt in seiner Volksliederausgabe Dank nicht nur für Hupel aussprechen, sondern auch für seinen Mäzen und Herausgeber Hartknoch.56

Auch Schaudinn ist dieser Ansicht: Dieser etwas mysteriöse alte Kandidat soll nun also (nach der Ansicht Carl Redlichs in einer Anmerkung zu Herders Werken, Bd. XXV, S. 679) die Lieder besorgt haben. Hieran hält auch L. Bgrzinä, Atraktä tautas dzeja, a. a. O., S. 37f., noch fest, zumal die Originale der lettischen Lieder, die Herder veröffentlichte, aus der Wendenschen Gegend stammen, wo Neßler auf einem Gute als >Hofmeister< lebte. Schon A. Wegner, a. a. O., S. 33, bemerkte jedoch, daß Neßler versagt haben muß, da Herder, als er seinen Dank zu übermitteln bat, nur von Hupel sprach (Brief an Hartknoch, vom 4. X.). Mag nun Neßler noch Lieder besorgt haben oder nicht, Briefe aus dem Besitz der G. f. G. u. Α., Riga (Mscr. 196 u. 262) zeigen jedenfalls, daß Hupel nicht nur estnische, sondern auch lettische Lieder und zwar aus dem Wendenschen ftir Herder beschafft hat.57

Die neueren Untersuchungen zu diesem Thema weisen noch zwei Persönlichkeiten auf, die zu den Helfern Herders gezählt werden könnten, und zwar die schon oben erwähnten Christoph Harder (1747-1818) und Karl Johann Grass (1720-1796). Christoph Harder war der jüngere Bruder des Johann Jakob Harder, der 1772 Rektor der Domschule in Riga wurde, zuvor aber in Sunzel (lett. Suntazi) als Pfarrer tätig war. Im selben Jahr, in dem Johann Jakob Harder nach Riga berufen wurde, erhielt Christoph Harder eine Stelle als Pfarrer in Papendorf, wo er dann 45 Jahre seines Lebens verbrachte. Zu seiner Zeit war er einer der besten Kenner der lettischen Sprache im lettischen Livland und hatte Volkslieder und Volkssagen aufgezeichnet. Auch stand er im Briefwechsel mit Gustav Bergmann, wovon sein Brief an diesen nach Salisburg (lett. Mazsalaca) vom 5. Januar 1783 zeugt.

56 57

Sväbe: Käda mäcTtäja dzlve (Anm. 8), S. 165. Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit (Anm. 24), S. 165-166, Anm. 113.

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Daraus ist ersichtlich, daß beide Pfarrer die lettischen Überlieferungen gesammelt und sich miteinander ausgetauscht haben. 58 Es besteht kein Zweifel, daß Fischer mit dem Rektor Johann Jakob Harder gut bekannt war und daher wußte, daß sich dessen Bruder in Papendorf für das lettische Volksgut interessierte. »Es ist also gut möglich«, schlußfolgert Sväbe, »daß Fischer auch Christoph Harder gebeten hat, ihm einige Volkslieder zuzuschicken.«59 Arbusow konnte von den 79 Liedern aus Herders Nachlaß nur 15 identifizieren. Zehn von diesen Liedern sind in Wolmar (lett. Valmiera) aufgezeichnet worden, weshalb die Vermutung naheliegt, daß sie von Martin Gottlieb Agapetus Loder (1739-1806), dem Pfarrer zu Wolmar, besorgt wurden. Diese Annahme hat sich aber als falsch erwiesen, weil Gustav Bergmann im Vorwort der ersten Sammlung seiner Sinngedichte erklärt, er habe die unter der Chiffre »Wr« bezeichneten Texte von dem Pfarrer Christoph Harder aus Papendorf bekommen. In der oben angeführten Tabelle haben sie die Nummern 197, 198, 199, 200, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 212, 215 und 217. Aber auch der Pietist Karl Johann Grass hat lettische Volkslieder gesammelt. Wenigstens ein Lied von Grass ist in der Sammlung von Bergmann (Nr. 211) und in Herders >Livländischer Sammlung < (Nr. 59) anzutreffen. Es ist anzunehmen, daß die Sammlung von Grass ziemlich umfangreich war. Wie aus einem Brief vom 17. Januar 1797 an Garlieb Helwig Merkel hervorgeht, hat der Sohn von Karl Johann Grass, der Maler Karl Gotthard Grass (1767-1814), einen Teil der Volksliedersammlung seines Vaters in die Schweiz mitgenommen, um dort eine deutsche Übersetzung anzufertigen. 60 Eine solche ist jedoch nicht bekannt geworden. Die Quellen des lettischen Liedermaterials in Herders Sammlungen sind mit Ausnahme von Heinrich Baumanns und Gustav Bergmanns direkter Beteiligung noch nicht sicher identifizierbar, da zu diesem Zweck eine wissenschaftliche Handschriftenüberprüfung gemacht werden müßte, die im Rahmen dieser Untersuchung nicht zu bewältigen war.

58 59 60

Vgl. §väbe: Käda mäcTtäja dzTve (Anm. 8), S. 167. Ebd., S. 167-168. Nach Sväbe: Käda mäcTtäja dzlve (Anm. 8).

Siret Rutiku

Über die Rolle des deutschen Kirchenliedes in der estnischen Kulturgeschichte

Es ist allgemein bekannt, daß die deutsche Sprache und Kultur einen äußerst großen Einfluß auf die estnische Sprache und Kultur ausgeübt haben, wobei ohne Zweifel die Reformation eine der stärksten Einflußquellen war. Dies ist bereits in der geschichts-, literatur- und religionswissenschaftlichen Forschung behandelt worden. In Vergessenheit geraten ist jedoch die Tatsache, daß eben das Kirchenlied eines der mächtigsten Werkzeuge war, mit dessen Hilfe sich die Reformation auch in Estland Bahn brach. Das deutsche evangelische Kirchenlied stellt als solches einen noch wenig erforschten Bereich der deutsch-estnischen Kulturkontakte dar. Der Einfluß des deutschen Kirchenliedes und seiner Übersetzungen auf die gesamte estnische Sprache und Kultur ist noch weitgehend unerforscht. Schon die Popularität und Verbreitung dieser Lieder lassen einen solchen Einfluß vermuten. Ein Blick in das estnische Gesangbuch zeigt bereits, daß der Anfang des estnischen Kirchenliedes in der Übersetzung des deutschen Kirchenliedes wurzelt. Aber auch als Übersetzung aus dem Deutschen ist die Bedeutung des estnischen Kirchenliedes auf die Gesamtentwicklung in Estland kaum zu überschätzen. Mit der Übersetzung der deutschen Kirchenlieder ins Estnische hat eine jahrhundertelange Beeinflussung des estnischen Kirchenliedes sowie der estnischen Dichtung durch das deutsche Kirchenlied ihren Anfang genommen. Die (Übersetzungs-)Geschichte des estnischen Kirchenliedes läßt sich in drei große Perioden einteilen: 1. Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum ersten einheitlichen estnischen Gesangbuch (1899/1900).1 2. 1900 bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges (1939). In der Anfangszeit der sowjetischen Okkupation fand praktisch keine Entwicklung des Kirchenliedes statt, die alten Lieder wurden unverändert weiter tradiert. 1

Als Erscheinungsjahr des sogenannten >Neuen Gesangbuches< wird in der Literatur 1899 oder 1900 angegeben. Die Handschrift wurde 1899 in die Druckerei gegeben, das Buch erschien jedoch erst 1900. Daher wird es im Folgenden als > Gesangbuch von 1900< angeführt.

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3. Von den ersten Vorbereitungen fur das neue Gesangbuch (1956) bis zum neuen Gesangbuch (1991). In der vorliegenden Abhandlung wird nur die erste, für die Entwicklung der estnischen Sprache und Kultur besonders einflußreiche Periode betrachtet. Es kann hierbei keinesfalls Vollständigkeit, weder bei der Ausschöpfung der Quellen noch bei der Berücksichtigung aller Einflußgebiete, angestrebt werden; dafür bedarf es einer viel umfangreicheren Untersuchung. Im folgenden wird vielmehr der Versuch unternommen, in der Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenliedes in Estland einige > Höhepunkte < zu beleuchten, die die enorme Wirkung des Kirchenliedes auf die Entwicklung der estnischen Sprache und Literatur aufzeigen. Mit dem Beginn der Christianisierung Estlands im 13. Jahrhundert (die bekannterweise von Deutschland ausging) nahm auch die Entwicklung der estnischen Schriftsprache ihren Anfang. Beim Großteil der ersten auf estnisch verfaßten Schriften handelt es sich um religiöse Texte (Gebetstexte, Taufformeln etc.). Missionare und Geistliche erkannten schon früh, daß der Erfolg der Christianisierung ohne Kenntnisse in der Landessprache sehr gering bleiben würde. Die von der lateinischkatholischen Kirche ausgegangene Schwertmission hielt jedoch lange an ihren starren Positionen fest (Taufe nicht erst nach der Verkündigung, sondern nach dem Motto >Taufe oder Tod Saufen < sah,4 nun mit immer mehr Begeisterung in der Kirche mitsang, obwohl ihm die eigentliche Bedeutung der Erneuerungen unverständlich blieb.5 Das Volk konnte die einfachsten Gebetstexte nicht auswendig lernen, wohl aber die - oft wesentlich längeren und komplizierteren - Kirchenliedtexte. Die Popularität der volksnahen evangelischen Kirchenlieder ist als wirksames Mittel, das der Reformation auch in Estland zum Erfolg verhalf, bis heute unterschätzt geblieben. Ebenso wie es in Deutschland für den evangelischen Gottesdienst fast keine brauchbaren Kirchenlieder gab und diese im Prinzip erst von Luther und seinen Freunden und Mitarbeitern geschaffen wurden, so mußten auch in Estland estnische Kirchenlieder von jemandem geschaffen werden. Die estnischen Pastoren, von denen die meisten deutscher Herkunft - also auch deutschsprachig - waren, machten sich gleich an die Arbeit; der schnellste und wohl auch der einfachste Weg war, deutsche, in Reformationskämpfen schon bewährte Luther-Lieder ins Estnische zu übersetzen. Die Geschichte des estnischen evangelischen Kirchenliedes reicht damit bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts zurück, als in den - vor allem an den Bedürfnissen der Geistlichen orientierten - kirchlichen Handbüchern bzw. Handschriften auch estnischsprachige Lieder veröffentlicht wurden, von denen jedoch kein Beispiel erhalten ist.6 Doch diese ersten estnischen Kirchenlieder, Übersetzungen deutscher Lieder durch Deutsche ohne ausreichende Kenntnisse der estnischen Sprache, waren vermutlich teils unbeholfene, teils sogar unverständliche Prosatexte. Die früheste Quelle, in der estnische Kirchenliedtexte oder wenigstens Teile von ihnen überliefert sind, stammt vom Anfang des 17. Jahrhunderts: Es handelt sich um die 39 Predigten des Diakons Georg Müller (ca. 1575-1608) an der Heilig-Geist-Gemeinde in Reval (estn. Tallinn). Soosaar: Kolme sajandi eest värsistatud Lauluraamatus.- In: EELK Aastaraamat (1956), S. S. 49-74, hier S. 60. 4 Vgl. Rüssow: Chronica (Anm. 2), S. 42: »[...] vnde alse de Buren/ [...]/ by groten Hupen heranquemen, hebben se dar stracks angefangen tho supen vnde tho schwelgen [...].« 5 Martin Lipp: Kodumaa kiriku ja hariduse lugu.- Jurjew: Laakmann 1895, S. 8. 6 So wird im allgemeinen vermutet, daß es handschriftliche Sammlungen der geistlichen (evangelischen) Lieder auf estnisch schon um 1560 gegeben hat. Dabei darf nicht übersehen werden, daß wohl auch katholische Geistliche (zum Beispiel Jesuiten und Dominikaner) etwa zur selben Zeit Kirchenlieder ins Estnische übersetzt haben, insbesondere in die südestnische Sprache (Dorpat war lange der nördlichste Stützpunkt des Katholizismus in Livland). Diese Versuche dürften aber ohne besonderen Einfluß geblieben sein, da die Gegenreformation in Est- und Livland keinen Zugang zum Volk gefunden hatte.

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In diesen Predigten, die im Zeitraum von 1600 bis 1606 gehalten wurden, behandelt Müller auch die aus dem Deutschen übersetzten estnischsprachigen Kirchenlieder.7 Diese > Lieder < verdienen eine solche Bezeichnung jedoch kaum, da sie ohne Vers und Reim und daher praktisch unsingbar waren. Darüber hinaus waren sie auch sprachlich so mangelhaft, daß ihr Sinn für die estnische Gemeinde meist unverständlich geblieben sein wird. Dies befurchtet auch Müller, wenn er schreibt, daß die Gemeinde selbst wohl nicht wisse, was sie singt.8 Damit wurde aber auch zweifelhaft, ob der theologische Inhalt und Zweck dieser Lieder vermittelt werden konnte. Müller beschreibt das Erschrecken mancher des Estnischen kundiger Pastoren, die die Gemeinde singen hörten, denn sie hätten nicht verstanden, ob das Gesungene im Einklang mit dem Wort Gottes oder gar dagegen sei.9 Daß die Esten diese Lieder offensichtlich trotzdem gern gesungen haben, zeugt abermals von ihrer Sangeslust. Die Arbeit an und mit der estnischen Sprache wurde unter anderem durch die Tatsache erschwert, daß das estnische Sprachgebiet in zwei Provinzen - Estland und Livland - geteilt war, wobei in Estland der nordestnische Dialekt, in Livland aber der südestnische Dialekt gesprochen wurde. Die Unterschiede zwischen diesen Dialekten waren zum Teil äußerst groß; sie wurden durch die miteinander konkurrierenden Machtansprüche der Provinzen noch verschärft. Ein Resultat dieser Machtkämpfe war, daß im Jahre 1632 die ersten estnischen Bücher in zwei verschiedenen estnischen Sprachen erschienen - im nord- und im südestnischen Dialekt. In Riga erschienen in diesem Jahr drei estnischsprachige Bücher: der Catechismus Herrn D. Martini Lutheri in sechs Hauptstücke verfasset und die Evangelia und Episteln auff alle Sonntage durchs gantze Jahr von Joachim Rossihnius (ca. 1600 - ca. 1646) sowie das Hand- und Hauszbuch für das Fürstenthumb Esthen in Liffland von Heinrich Stahl (um 1600-1657). Während Rossihnius auf dem Titelblatt des Catechismus betont, daß dieser »In Estonischefr] Dörptische[r] Sprache«, also im südestnischen Dialekt verfaßt wurde, ist das Handund Hauszbuch von Stahl im nordestnischen (Revaler) Dialekt geschrieben. Der Einfluß des Stahlschen Handbuches auf die weitere Entwicklung der estnischen Schriftsprache wurde dadurch unterstützt, daß Stahl bald darauf (1637) unter dem Titel Anführung zu der Esthnischen Sprach die erste systematische Grammatik der estnischen Sprache mit einem 7

Wilhelm Reiman: Neununddreißig Estnische Predigten von Georg Müller aus den Jahren 1600-1606.- Dorpat: [o.V.] 1891 (= Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat; 15). In diesen Predigten verweist Georg Müller wohl auf eine damals schon existierende Sammlung geistlicher Lieder, von der aber sonst keine Nachrichten überliefert sind. 8 Ebd., S. 108; vgl. Masing, Soosaar: Kolme sajandi eest (Anm. 3), S. 53. 9 Ebd., S. 109.

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kleinen Glossar herausgab, die für lange Zeit die Schreibweise des Estnischen bestimmte. Als zweiter Teil des Hand- und Hauszbuches für das Fürstenthumb Esthen in Liffland von Heinrich Stahl erschien in Reval 1637 das erste überlieferte estnischsprachige gedruckte Gesangbuch im nordestnischen Dialekt. Mit diesem Buch beginnt nach heutigem Forschungsstand der Druck estnischsprachiger Bücher in Estland und zugleich auch die mühevolle Geschichte der Übersetzung, Dichtung und Korrektur der estnischen Kirchenlieder. Diese entwickelten sich in enger Verbindung mit der Geschichte der estnischen Sprache immer weiter, hatten auch an den Machtkämpfen zwischen der nord- und südestnischen Sprache sowie zwischen den verschiedenen Orthographieparteien Anteil, ja spielten dabei oft sogar eine maßgebliche Rolle. Das Stahlsche Gesangbuch enthielt 144 Lieder, die sämtlich zu den damals allgemein bekannten deutschen Kirchenliedern gehörten. Unter den Autoren war Luther mit der größten Anzahl von Liedern (32) vertreten, ferner sind etwa Paul Speratus, Elisabeth Kreuziger, Philipp Nicolai, Bartholomäus Ringwaldt und Nikolaus Decius zu erwähnen. Angegeben sind die Namen von zwölf Übersetzern, sämtlich Pastoren. Auch in diesem Gesangbuch waren die Lieder einfache Prosaübersetzungen, ohne Vers und Reim, in miserablem Estnisch, was das Singen dieser Texte fast unmöglich machte und heftige Kritik wie auch scharfe Vorwürfe hervorrief. Es fragt sich, warum Stahl, der als in Reval geborener Deutscher die estnische Sprache offensichtlich relativ gut beherrschte, diese Sprache in seinen Werken in der Weise verdeutschen wollte, daß sie letzten Endes weder für Deutsche noch für Esten verständlich war. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens sprach Stahl den in Reval unter Deutschen (und nach ihrem Vorbild sogar unter den estnischen Stadtbewohnern) verbreiteten Einwandererjargon, der sehr stark von (nieder-)deutschen Einflüssen geprägt war. Zweitens schätzte Stahl - wie die Mehrheit der damals in Estland lebenden Deutschen - die estnische Sprache, die ja praktisch bis in das 19. Jahrhundert hinein eine Leibeigenen- bzw. Bauernsprache war, nicht sehr hoch; er hielt sie für derb und unreguliert, zum Ausdruck komplizierterer Gedanken und > höherer < Ideen ungeeignet. Drittens hielt Stahl es daher wohl für > unanständig < und scheute sich, das Wort Gottes in dieser > derben < Sprache auszudrücken, so daß er bewußt versuchte, das Estnische dem > feineren < Deutschen so weit wie möglich anzugleichen. So sind die Vorwürfe gegen Stahl, er habe absichtlich die estnische Sprache verdeutscht und entstellt, durchaus berechtigt.10 Stahl stand jedoch mit seiner Haltung zur estnischen Sprache 10

Zum Beispiel Eduard Ahrens: Johann Hornung, der Schöpfer unserer Ehstnischen Kirchensprache.- Reval: Kluge 1845, S. 3-5.

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und seinem Vorsatz der > Sprachreinigung < nicht allein da; viele deutsche Geistliche dachten ähnlich.11 Jedenfalls erwies sich die Kritik am Stahlschen Gesangbuch als fruchtbar, denn sie setzte eine sehr eifrige Arbeit an estnischen Kirchenliedern in Bewegung, wovon die geradezu massenhafte Herausgabe unterschiedlicher Gesangbücher im Laufe der folgenden Jahrhunderte zeugt. Als Folge der Kritik am Stahlschen Gesangbuch wurde im Jahre 1656 auf Anordnung des Bischofs von Estland, Joachim Jhering (ca. 15801657), eine neue, vermehrte und verbesserte Auflage von Stahls Handund Hausbuch veranstaltet. Als ein Teil des neuen, von Abraham Winckler (1606-1657), Pastor der Revaler Domkirche, herausgegebenen Hand-, Hausz- und Kirchen-Buches erschien 1656 das estnischsprachige Gesangbuch mit 241 gereimten Liedern. Für die estnische Kulturgeschichte bedeutete dieses Gesangbuch eine entscheidende Wende: Von nun an begann der Endreim in das estnischsprachige Lied einzudringen. Die Lieder waren überarbeitet und in Reimform gebracht worden von dem Pastor der Heilig-Geist-Kirche in Reval, Georg Salemann (15971657), der als einer der schärfsten Kritiker des Gesangbuches von Stahl galt, von Martin Gilaeus (1610 -1686), dem Pastor der Revaler Domkirche und späteren Pastor in Keinis (estn. Käina), von Heinrich Göseken (1612-1681), dem Pastor zu Goldenbeck (estn. Kullamaa) und Propst der Wiek (estn. Läänemaa), sowie vom ehemaligen Professor für Griechisch am Revaler Gymnasium, Reiner Brockmann (1609-1647), der später Propst von Wierland (estn. Virumaa) und Pastor in Tristfer (estn. Kadrina) war. Brockmann starb jedoch vor dem Erscheinen des Buches, deshalb sind als Verfasser der Übersetzungen nur die drei anderen auf dem Titelblatt genannt. In ihrer Vorrede zum Gesangbuch versichern die Verfasser, der Gemeinde keinen neuen Glauben aufzwingen, sondern den alten nur vertrauter machen zu wollen. Sie gestehen, daß die Reime noch nicht vollkommen seien, geben dabei aber zu bedenken, daß es mit den ersten deutschen gereimten Liedern auch nicht besser ausgesehen habe.12 Dieser Vergleich zeugt erstens davon, wie hoch die Bedeutung der estnischsprachigen Lieder eingeschätzt wurde; zweitens kann man hier zum ersten Mal beobachten, daß die estnische Sprache für reim- und versfahig erklärt wird. Dem hohen Selbstverständnis der Verfasser entspricht auch das dem Gesangbuch vorangestellte Ehrengedicht von 11

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Vgl. Johann Heinrich Rosenplänter: Wer die Lieder in dem ehstnischen Gesangbuche übersetzet und gedichtet hat?- In: Beiträge zur genaueren Kenntniss der ehstnischen Sprache (1827), Heft XVIII, S. 12: Stahl habe die Handschrift seines Handbuches dem Revaler Stadtministerium vorgelegt mit der Bitte, in diesem alles zu korrigieren, was zu bemängeln sei. Als Antwort habe er erhalten, daß das Ministerium in diesem Buch nichts zu bemängeln habe. Ebenso hätten alle Pastoren, an die sich Stahl mit der ähnlichen Bitte gewandt habe, der Stahlschen Sprech- und Schreibweise ihre völlige Zustimmung gegeben. Ebd., S. 25-26.

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Matthaeus Willebrand, Pastor an der St. Nikolai-Kirche in Reval, in dem den Verbesserern der Stahlschen Lieder eine geradezu revolutionäre Wichtigkeit beigemessen wird: Wie viel die Heidenschaft dem Christentum muß weichen, So viel ein höh'res Lob könnt ihr hiedurch erreichen, Ihr Herren, die ihr euch der armen Eesten-Schaar Die vor in ihrer Sprach' an Reimen fruchtlos war, Mit eurem Fleiß erbaut, und bringt so viel Gesänge In richt'ge Art und Form, die sonst bald in der Länge Sich allzu weit erstreckt, izt an der Kürze krank, Daher sie mancher oft mit Widerwillen sang.13

Daß dieses Lob der Übersetzer nicht unberechtigt war, zeigt die Tatsache, daß manche Übersetzungen (mit kleinen Korrekturen) bis heute gültig sind, wie beispielsweise einige von Heinrich Göseken übersetzte Lieder, etwa Herr Christ, der einig Gotts Sohn von Elizabeth Kreuziger (Nr. 84 im estnischen Kirchengesangbuch [EstKG]). Die Popularität und Verbreitung dieses Buches zeigt sich deutlich darin, daß es innerhalb eines halben Jahrhunderts in mehreren Neuauflagen (insgesamt ca. 20 000 Exemplare) herausgegeben wurde. Ende des 17. Jahrhunderts begannen die Pastoren, auch selbst Kirchenlieder auf estnisch zu dichten, was wiederum zeigt, daß sich das Estnische in den Augen der Deutschen als eine dichtungsfahige Sprache zu behaupten begann. Bereits in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts sind die Anfange der estnischsprachigen, weltlichen Kunstlyrik zu suchen. Die Gelegenheitsschriften aus dieser Zeit enthalten Gratulationen in Gedichtform in verschiedenen Sprachen, darunter auch das Estnische. Teils handelt es sich um Übersetzungen der Kirchenlieder, teils um Originaldichtungen weltlichen Inhalts. Die estnische Sprache schien in dieser Zeit langsam das Ansehen einer Kultursprache zu erwerben, sie wurde zum Objekt von Interesse und Beschäftigung. Als Anreger und Vorbild gilt der deutsche Dichter Paul Fleming (1609-1640), der in den Jahren 1635-36 und 1639 in Reval lebte. Um Fleming bildete sich ein kleiner Kreis von Dichtern, zu dem viele Geistliche gehörten, wie zum Beispiel die bekannten Übersetzer der Kirchenlieder Georg Salemann und Reiner Brockmann. Letzterer schrieb als Professor für Griechisch am Revaler Gymnasium das erste estnische Alexandrinergedicht und setzte in bekannter Opitz-Paraphrase programmatisch hinzu: »Andre mögn ein anders treiben, ich hab wollen Ehstnisch schreiben. [,..].«14 In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß um die Mitte des 17. 13

Ebd., S. 24-25; vgl. auch Masing, Soosaar: Kolme sajandi eest (Anm. 3), S. 63-64. 14 Zitiert nach Mihkel Kampmaa: Eesti kirjandusloo peajooned. 4. Auflage.- Tartu: Eesti Kirjanduse Selts 1938, S. 151.

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Jahrhunderts die neuen Ideen von Martin Opitz (Buch von der Deutschen Poeterey, 1624) nach Est- und Livland gelangten, wozu Fleming offensichtlich einiges beigetragen hatte. Die Dichter des Fleming-Kreises sahen im Dichten auf estnisch wohl nur ein gesellschaftliches Spiel, denn das Estnische galt ja immer noch als eine exotische, mit den poetischen Regeln schwer zu vereinbarende Sprache. Die > Dichter < konnten aber ihre Meisterschaft zeigen, indem sie diese schwierige Sprache in Versform zwangen. Wie oben schon angedeutet, gab es neben Gelegenheitsgedichten zu verschiedenen Anlässen auch Kirchenliedübersetzungen. Dabei bestand zwischen der Gelegenheitsdichtung und der Übersetzung deutscher Kirchenlieder durchaus eine Wechselwirkung: Die Notwendigkeit der Verbesserung der Kirchenliedübersetzungen hat die deutschen Pastoren angeregt, sich mit der estnischen Sprache enger zu beschäftigen und diese in Versform zu bringen. Dies hat sie zu den spielerischen Versuchen der Gelegenheitsgedichte auf estnisch geführt. Diese Gedichte waren nicht so fest an ein deutsches Original gebunden wie die Kirchenlieder, so waren sie oft sprachlich viel korrekter, verständlicher und innovativer. Die Erfahrung, daß sich das Estnische doch gut für die Dichtung eignete, haben die Pastoren aber wiederum in ihren weiteren Kirchenliedübersetzungen angewandt, wodurch das sprachliche Niveau dieser Übersetzungen wesentlich verbessert wurde und sie endlich singbar waren.15 Im 17. Jahrhundert dauerten die Auseinandersetzungen um den nordund den südestnischen Dialekt an. Besonders stark kamen diese Machtkämpfe auf den Bibelkonferenzen (1686-1687) zum Vorschein. Auf ihnen wurde erörtert, in welcher Schreibweise die estnische Bibel herausgegeben werden sollte. Der südestnische Dialekt bekam mit dem Erscheinen des Großen Katechismus von Martin Luther (1684), des Gesangbuchs (Wastne Tarto Mah Keele Laulo Rahmat 1685) und des Neuen Testaments im südestnischen Dialekt (1686) für eine Zeitlang einen großen Vorsprung. Mit dem Erscheinen dieses Gesangbuches begann der Einfluß des Endreims auch im südestnischen Dialekt. Dabei muß für die estnische Sprachgeschichte noch zweierlei hervorgehoben werden: Erstens fehlen in diesem Gesangbuch zum ersten Mal die deutschen Paralleltexte; die deutschen Überschriften sind nur im Register angegeben. Zweitens ist ein großer Fortschritt für die estnische Orthographie zu beobachten, indem die für das Estnische fremden Schriftzeichen weggelassen wurden.16 1693 gab Johann Hornung (ca. 1660-1715) eine estnische Grammatik (Grammatica Esthonica) heraus, die in der Geschichte und Entwicklung 15

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Vgl. auch ebd., S. 151 ff.; Eesti raamat 1525-1975. Ajalooline ülevaade [Zusammenfassung: Estnisches Buch 1525-1975. Historische Übersicht], Hrsg. von Voldemar Miller u. a. (Autorenkollektiv).- Tallinn: Valgus 1978, S. 45. Vgl. Miller: Eesti raamat (Anm. 15), S. 40.

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der estnischen Schriftsprache von herausragender Bedeutung ist. In dieser Grammatik wurde zum ersten Mal das System der estnischen Sprache richtig erkannt und anhand volkstümlicher Beipiele erläutert.17 Im Jahre 1694 erschien das > Gesangbuch in der Landessprache < (Ma Kele Laulo Ramat) von Johann Hornung mit 117 Liedern im nordestnischen Dialekt; bei der Übertragung der Lieder setzte er seine theoretischen Erkenntnisse aus der Grammatik in die Praxis um. Dieses auch als »Altes Gesangbuch« bekannte Werk, diente - obwohl immer wieder redigiert und verbessert - etwa zwei Jahrhunderte dem estnischen Gemeindegesang und wurde erst 1900 durch das »Neue Gesangbuch« ersetzt. Dies zeugt von der besonderen Qualität des Buches, die unter anderem sicherlich auch durch die volksgemäße und den Esten verständlichen Sprache erreicht wurde. Mehrere Liederübersetzungen aus diesem Gesangbuch sind bis zum heutigen Tag praktisch unverändert geblieben, wie zum Beispiel »Vom Himmel hoch [...]« von Martin Luther (EstKG Nr. 22) und »Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn« von Georg Grünwald (EstKG Nr. 71). Der Sprachforscher Eduard Ahrens hielt dieses Gesangbuch für die bedeutendste und wirkungsvollste Arbeit, die je in estnischer Sprache erschienen ist.18 Erst mit der Übersetzung der gesamten Bibel in den nordestnischen Dialekt (1739) wurde dieser endgültig zur Grundlage der estnischen Schriftsprache. Nun konnten sich die Theologen einem anderen, überraschend schwierigen Problem zuwenden, das eigentlich von den ersten Kreuzrittern und Missionaren her bis in das 19. Jahrhundert hinein aktuell geblieben war, nämlich dem Fortbestehen der heidnischen Bräuche und des estnischen heidnischen Volksliedes. So schreibt Friedrich Christian Weber noch im Jahre 1721: Wie ich unterwegens in der Erndte-Zeit die Schnitter im Felde antraf, (Sensen brauchen und kennen sie nicht) hörete ich allenthalben ein wüstes Gesänge, welches diese Leute bey ihrer Arbeit trieben, und vernahm von einem Prediger, daß es noch alte Heidnische Lieder ohne Reimen wären, die man ihnen nicht abgewöhnen könte, wiewol man doch noch gerade auch die Esthische Sprache in eine Reim-Kunst zu bringen sich bemühete, und schon viele Evangelische Gesänge in Esthische Verse gesetzet hätten.19

Dieser Bericht vermittelt den Eindruck, als ob die ganze mühevolle Arbeit an und mit den Kirchenliedern eine vergebene Mühe gewesen wäre. Es scheint, als ob die Esten in ihrer berühmten Hartnäckigkeit die jahrhundertelangen »Kultivierungs- und Christianisierungsversuche« ledig17

Vgl. Kampmaa: Eesti kirjandusloo peajooned (Anm. 14), S. 162. Ahrens: Johann Hornung (Anm. 10); vgl. Martin Lipp: Kodumaa kiriku ja hariduse lugu. 2. raamat.- Juijew: Schnakenburg 1898, S. 27. 19 Friedrich Christian Weber: Das Veränderte Rußland.- Frankfurt: Foerster 1721, S. 70, zitiert nach Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 81. 18

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lieh über sich ergehen ließen. Den Inhalt der Predigt verstanden sie oft gar nicht; die Kirchenlieder sangen sie im Gottesdienst wohl gerne mit und benutzten sie, wenn sie sich von ihnen Hilfe erhofften;20 ansonsten pflegten sie jedoch ihre heidnischen Bräuche und Lieder weiter. Dieser wenn auch begründete Eindruck stimmt jedoch nicht ganz. Obwohl man ein jahrhundertelanges Nebeneinander von christlichem und heidnischem Glauben bei den Esten konstatieren kann, ist das Eindringen der christlichen Elemente in den heidnischen Glauben der Esten schon sehr früh festzustellen.21 Den Einfluß der Reformation beschreibt der estnische Theologe und Volksliedforscher Jakob Hurt (1839-1906) im Zusammenhang mit den Totenliedern des Volkes: In Livland seien diese Totenlieder zweifelsohne durch den Geist des Protestantismus und durch die schönen Totenlieder der evangelischen Kirche aus dem Leben des Volkes verschwunden. Nur in der Gegend von Pleskau (estn. Pihkva) im Südosten Estlands, deren Einwohner keine geistlichen Lieder in ihrer Sprache hätten und die russischen oder alt-slawischen Lieder ihrer russisch-orthodoxen Konfession nicht verstünden, seien ihre alten Totenlieder erhalten geblieben.22 Es herrscht allgemein die Ansicht, daß die Esten erst mit dem Wirken der Pietisten und Herrnhuter richtig christianisiert worden seien, wobei die heidnischen Elemente ihrer alten Mythologie von der Kirche nie ganz ausgerottet wurden. Was der Kirche und der Mehrheit der Theologen nicht gelungen ist, gelang also den seit 1729 sehr aktiv in Estland wirkenden Herrnhutern und Pietisten: Die estnischen Bauern, die sowohl unter dem Joch der Gutsbesitzer und Fremdherrscher als auch der weitgehend korrumpierten Geistlichkeit litten, sahen durch die volksnahen, einfachen und hilfsbereiten Herrnhuter eine Erleichterung in ihrem Elend. Die Herrnhuter steigerten das Selbstbewußtsein der (immer noch in Leibeigenschaft lebenden) Bauern, indem sie diese als Gemeindeglieder am Leben und an der Organisation der Gemeinde aktiv und gleichberechtigt beteiligten, auch

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So sind Berichte von Hexenprozessen überliefert, in denen geschildert wird, daß die angeklagten Esten in vielen Fällen mit dem Aufsagen von Kirchenliedern der Strafe zu entgehen hofften. Teilweise glaubte das Volk an die magische Kraft der Kirchenlieder. Vgl. Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 293. Mihkel Veske beschreibt, wie christliche Elemente in die heidnischen Volkslieder eingeschoben wurden. Vgl. Dr. Mihkel Veske ettekanne öpetatud eesti seltsi aastakoosolekul 1875. a. ühest eesti rahvalaulikust.- In: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft (1875), S. 17-25. Vgl. Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 236. Jakob Hurt: Köne eesti vanavara korjamisest muinasaja uurijate kongressil Riias augustikuus 1896. Vgl. Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 217.

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bauten sie Gebetshäuser und Schulen.23 Mit der Förderung des Alphabetismus unter dem Volk machten die Herrnhuter erstens die Bibellektüre,24 zweitens auch die Lektüre der von ihnen sehr eifrig verbreiteten Erbauungs- und Andachtsliteratur in einem bisher nie dagewesenen Umfang möglich.25 Damit erzielten sie auch Erfolge im Kampf gegen die von ihnen verpönten Volksbräuche und -lieder. Die Herrnhuter gaben selbst Gesangbücher heraus, wie zum Beispiel 1741 das Gesangbuch von Johann Christian Quandt mit 21 Liedern (kein Exemplar erhalten), 1791 die von Jakob Marrasch herausgegebenen Waimolikkud Laulud Jummala, meie Önnistegija kiituseks im nordestnischen Dialekt oder das von Heinrich Andreas Erxleben im südestnischen Dialekt herausgegebene Mönne vastse Waimolikko laulo.26 Viele Herrnhuterlieder wurden auch handschriftlich verbreitet. So wurden die herrnhutischen und pietistischen Kirchenlieder unter den Esten schnell beliebt und drangen auch vielfach in andere Gesangbücher ein. Bedenkt man die große Autorität der Herrnhuter unter den Esten und die schnelle Verbreitung ihrer Kirchenlieder unter dem Volk, dann wird klar, warum der herrnhutische Kampf gegen das estnische Volkslied so rasch Früchte trug. Die verheerenden Folgen der Herrnhuter-Bewegung für die Volkspoesie kamen in der durch die Romantik eingeleiteten Volksliedforschung zum Vorschein. Viele spätere Volkskundler konstatieren die lähmende Wirkung des Pietismus und der Herrnhuter auf die estnische Volkspoesie, wie etwa die großen estnischen Sammler und Pfleger der Volkslieder Friedrich Robert Faehlmann (1789-1850), Jakob Hurt (1839-1906) und speziell Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803-1882), der mit dem 23

Es muß leider festgestellt werden, daß trotz der mit der Reformation einsetzenden Bemühungen, in Est- und Livland ein Schulsystem für die Landbevölkerung aufzubauen, eine Schulbildung in vielen Gegenden praktisch nicht erreichbar war. Auch wurden die Bauern an der Teilnahme am Schulunterricht von den Gutsbesitzern gehindert, weil diese durch die Bildung ihrer Leibeigenen Unruhen befürchteten. 24 Die Herausgabe der Gesamtbibel in estnischer Sprache geschah ebenso mit Unterstützung der Herrnhuter. Vgl. Kampmaa: Eesti kirjandusloo peajooned (Anm. 14), S. 170. 25 So konstatiert Mihkel Kampmaa, daß im Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus, wo der Glaube überall nachgelassen habe, in Estland und Livland die geistliche Literatur und Kirchenlieddichtung eben dank der Herrnhuter aufblühte. Vgl. ders.: Eesti wanem ilukiijandus. Üleminek waimuliku kiijanduse walitsusest Eesti algupärasele rahwuslikule ilukiijandusele.- Tartu: Sööt 1908, S. 14. 26 Jakob Marrasch: Waimolikkud Laulud Jummala, meie Önnistegija kiituseks ja Ma-rahwa önnistusse kaswatamiseks ülles pandud [Geistliche Lieder zum Lob Gottes, unseres Heilands].- Riga: [o.V.] 1791; Heinrich Andreas Erxleben: Mönne vastse Waimolikko laulo, esiärrälikkult kottun, ütsinda, ehk muidega koon ollen luggeda nink laulda [Einige neue geistliche Lieder].- Barbi: [o.V.] 1802.

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Volksepos Kalevipoeg und der Sammlung der alten estnischen Märchen und Legenden Eesti rahva ennemuistsed jutud den Grundstein fur die Entstehung der estnischen Nationalliteratur legte. Sie bedauerten, daß das Volksschaffen durch die Tätigkeit der Herrnhuter entweder ausgerottet wurde oder daß das Volk aus Angst vor kirchlicher Strafe ihre Lieder den Volkskundlern nicht preisgab.27 So schreibt Hurt über die Schwierigkeiten beim Sammeln und Aufschreiben der Volkslieder: Außer einigen äußeren Faktoren wurde die Arbeit insbesondere durch zwei Tatsachen erschwert: an einigen Orten durch einen merkwürdigen engstirnigen Pietismus, der alle alten Lieder, Märchen, Bräuche und Sitten, insbesondere den alten Volksglauben für Sünde hält und - schon von vorneherein erbarmungslos verurteilend - diese mit der Bezeichnung >Werk Satans < brandmarkt; anderenorts wiederum durch die fehlende Bildung und durch einen engen geistigen Blickkreis allgemein, wenn nicht verstanden wurde, daß das gesuchte Material, was ja nichts Anderes sei als ein >alter Quatsch ungehobelten < Volksliedern festhalten, obwohl sie doch zu Besserem fähig sind, drückt Georg Julius Schultz-Bertram aus: Die Ursache der Monotonie und Tonarmut des Ehstenlauls [das heißt Estengesangs] scheint mir [...] in der jämmerlichen Konstruktion der Ur-Kantele zu suchen zu sein, und nicht etwa im Bau des ehstnischen Kehlkopfs. Daß dieser etwas abweichen mag vom europäischen, ist wahrscheinlich, - die Verschiedenheit der Sprachorgane ist bestimmt konstatiert [sie!], - aber die Ehsten singen alle deutschen Choräle und Motetten von Händel und Bach ganz perfekt, also ist an ihren einfachen Melodien sehr wahrscheinlich der Tischler schuld. 30

Eine ähnlich abwertende Haltung den estnischen Volksliedern gegenüber äußert auch August Wilhelm Hupel (1737-1819): Alle sind reimlos, strotzen aber von poetischen Freiheiten; [...] - Man hat auch Lieder mit Reimen; aber eben diese beweisen, daß sie von einem deutschen Verfasser herrühren. [...] Gemeiniglich ist ihre Sangweise nur zu trochäischen Versen passend; doch haben nicht alle Gegenden hierin einerlei Geschmack. Daß aber die estnische Sprache auch zu andern Versarten hinlängliche Biegsamkeit habe, beweisen die Kirchengesänge, welche sämtlich nach den deutschen Melodien übersetzt sind [...].31

Pastor Hupel war ein eifriger Sammler der Volkspoesie, konnte jedoch keinen richtigen Zugang zu ihr finden. Besonders störte ihn die archaische Sprache der Volkslieder, die er für unnatürlich hielt. Er hat einige estnische Volkslieder mit deutschen Übersetzungen an Johann Gottfried Herder gesandt, der insgesamt acht von ihnen veröffentlichte. Die beiden zitierten Aussagen zeigen, daß die estnische Sprache an sich als literaturfähig galt, die Volkspoesie jedoch - trotz der gleichzeitigen Verbreitung der romantischen Ideen - für minderwertig gehalten wurde. Durch die Romantik war zwar das Interesse an Volkspoesie erweckt worden, doch die in Estland und Livland tätigen Deutschen konnten noch lange Zeit den alten estnischen alliterierenden Vers nicht anerkennen; die estnischen Volkslieder wurden immer mit den an deutschen Vorbildern orientierten Kirchenliedern verglichen. Trotz des Durchbruchs der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist eine Begeiste30

31

Dr. Bertram [= Georg Julius Schultz]: Baltische Skizzen oder Fünfzig Jahre zurück. Zweites Bändchen. 2., vermehrte Auflage.- Berlin: Duncker 1857, S. 33-34; zitiert nach Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 167-168. Ehstnische Sprachlehre für die beyden Hauptdialekte, den revalschen und dörptschen, nebst einem vollständigen ehstnischen Wörterbuche. Hrsg. von August Wilhelm Hupel. Zweyte durchgängig verbesserte und vermehrte Auflage.· Mitau: Steffenhagen 1818, S. 145-146; zitiert nach Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 94-95.

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Siret Rutiku

rung für die estnische Volkspoesie doch mehr bei den gelegentlichen Gästen und flüchtigen Besuchern Estlands und Livlands zu beobachten; die ansässigen Deutschen hingegen versuchten weiter, die estnische Volkspoesie zu > kultivieren Ehstnische litterarische Gesellschaft < gegründet, deren Ziel es war, die estnische Sprache und Literatur zu erforschen und ihre Kenntnis unter den deutschen Gebildeten zu verbreiten. Der erste Lyriktheoretiker und Begründer der estnischen Poetik war Luces Mitarbeiter in der Gesellschaft und Amtsnachfolger in Pyha, Peter Heinrich von Frey. In seinen Abhandlungen über die estnische Lyrik vermerkt Frey, der auch selbst deutsche weltliche Lyrik ins Estnische übersetzte, daß - im Unterschied zu der bisher geläufigen Meinung der Deutschen - die Esten lyrisch sehr begabt seien. Durch die Förderung der estnischsprachigen geistlichen Lyrik könne man den Geist der Esten bilden und so manchen Mann von den Kneipenvergnügungen fernhalten.34 Hier trifft man den unter Theologen immer mehr verbreiteten Gedanken, die estnische weltliche Literatur müsse gefördert werden. Darüber hinaus gelangte die estnische Volkspoesie zur Anerkennung: Arnold Friedrich Johann Knüpffer empfahl als erster das Vorbild des alten estnischen alliterierenden Verses sogar für die estnischen Kirchenlieder.35 Durch die Abschaffung der Leibeigenschaft in Estland (1816) und Livland (1819) wurde die Grundlage für eine schnelle Verbreitung der Schulbildung unter den Esten geschaffen. Zum ersten Mal konnten die Esten - obwohl zunächst nur auf deutsch oder russisch - eine Universitätsausbildung anstreben. Mit den ersten estnischen Gelehrten begann in den 60er Jahren des 19. Jahrhunders in Estland die sogenannte >Zeit des 32 33 34 35

Kampmaa: Eesti wanem ilukirjandus (Anm. 25), S. 11. Vgl. ders.: Eesti kirjandusloo peajooned (Anm. 14), S. 183. Vgl. ebd., S. 181-182. Vgl. Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 330.

Über die Rolle des deutschen

Kirchenliedes

259

nationalen Erwachens fremden< deutschen Kirchenlieder immer noch das große Vorbild für die in estnischer Sprache Dichtenden waren; anhand dieses Vorbildes wurde die literarische Qualität der neueren, auch weltlichen Dichtungen beurteilt. Viele deutsche Kirchenlieder waren aber dem Volk in übersetzter Gestalt so eigen geworden, daß sie gar nicht mehr als > fremd < empfunden wurden. Viele der Kirchenlieder waren geradezu zu Volksliedern geworden, deren deutscher Ursprung dem Volk nicht mehr bewußt war. Die Versuche, einige dieser Lieder in ihrer Sprachgestalt zu korrigieren bzw. zu modernisieren, stießen in den Gemeinden auf einen heftigen Widerstand,36 und erst recht war nicht daran zu denken, diese 36

Vgl. Siret Rutiku: Zur Problematik der Übersetzung von deutschen Kirchenliedern ins Estnische.- Handschrift, Lehrstuhl für deutsche Philologie, Universität Tartu 1995, S. 83-84.

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Siret Rutiku

Lieder völlig durch neuere zu ersetzen. Doch gegen solche Tendenzen wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Kampf eröffnet; alle bedeutenden estnischen Sprach- und Literaturforscher setzen sich für die Erhaltung und Förderung der ursprünglichen estnischen Volkspoesie ein. Zum Problem der Kirchenlieder und der Fremdeinflüsse in der estnischen Sprache und Literatur hat sich besonders Friedrich Reinhold Kreutzwald ausfuhrlich geäußert. Zu seinen Übersetzungen deutscher Gedichte ins Estnische schreibt er: In unserer Sprache sind keine leeren Anhängsel am Ende der Verse geschaffen, wie in der Sprache der Deutschen und mancher anderen Völker, die Reim genannt werden. Wenn unsere Sprache so etwas auf die Welt bringt, ist das immer ein Stiefkind, und deshalb eine halbe Sache, die Fesseln anlegt. Von ganzem Herzen muß man diese Blindheit bereuen, die die eigenartige natürliche Schönheit unserer Volkslieder nicht erkennen kann, sondern die Wortanhängsel für das Höchste in einem Lied hält und deshalb ein fremdes Joch über seine Hörner zieht? 37 Daß er, wie eigentlich auch alle anderen Sprachpfleger, nicht so sehr gegen die deutschen Kirchenlieder, sondern nur für die Pflege der alten estnischen Formen ist, zeigt seine folgende Aussage: Diese Lieder [Volkslieder] sind das Eigentum des Volkes und besitzen eine andere Form als diejenigen, die aus einer fremden Sprache übernommen oder nach dem Vorbild einer fremden Sprache gemacht worden sind. Sie sehen selbst, daß es hier nirgendwo Wortanhängsel am Versende gibt wie in deutschen, russischen und mancher anderer Völker Liedern oder wie in unserem Kirchengesangbuch, das nach deutscher Liedart gemacht ist. [...] Bis heute ist von den Esten nichts so berühmt geworden wie ihre Volkslieder. Aber alles hat seine Zeit, sagt schon der weise Salomo. Sprichst du mit Gott, es sei in der Kirche oder zu Hause, beim Abend-, Morgen- oder Tischgebet, dann singe aus dem Gesangbuch Dank und Lob dem Herren im Himmel. Und wie schön sind diese Klänge, wenn schon am Sonnabend ein Kirchenlied von hellen Mädchenstimmen gesungen wird, die den Sonntag vorkündigen und unsere Seele auf den werten Tag vorbereiten. Aber wenn du am Arbeitstag auf der Wiese oder im Walde bei der Arbeit bist, die Schönheit des Frühlings und des Sommers dein Herz bewegt, dann singe deine eigenen Volkslieder, die dir auch von Gott gegeben sind, wie dem Vöglein im Busch. 38 Rreutzwald fordert also, daß die Kirchenlieder auf den Kirchen- und Frömmigkeitsbereich beschränkt werden müßten. Die großen Änderungen in der sich von der Fremdherrschaft verselbständigenden estnischen Gesellschaft wurden durch den gesamteuropäischen Säkularisierungs37

38

Friedrich Reinhold Kreutzwald: Angervaksad.- Tartu: Laakmann 1861; zitiert nach Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 165. Ders.: Sippelgas. Zweiter Teil.- Tartu: Laakmann 1861, S. 23-33; zitiert nach Laugaste: Eesti rahvaluuleteaduse ajalugu (Anm. 3), S. 156-158.

Über die Rolle des deutschen

Kirchenliedes

261

prozeß mitgeprägt. Seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gehen das estnische evangelische Kirchenlied und die estnischsprachige weltliche Literatur getrennte Wege. Zusammenfassend kann man über die Rolle des deutschen evangelischen Kirchenliedes in der estnischen Sprach- und Kulturgeschichte Folgendes feststellen: 1. Die Geschichte des estnischsprachigen Buchdruckes beginnt mit der Reformation, wobei die evangelischen Gesangbücher zu den ersten estnischsprachigen Büchern gehören. 2. In der Anfangsperiode der estnischen Schriftsprache hatte weder die katholische noch die evangelische Kirche das Ziel, die estnische Schriftsprache bewußt zu fördern, sondern es ging vor allem um die Bekehrung der Ungläubigen bzw. der dem Irrglauben Verfallenen zum richtigen Glauben; dafür waren die evangelischen Kirchenlieder am besten geeignet. Erst viel später entstand aus der estnischsprachigen geistlichen Literatur heraus eine gewollte Entwicklung und Pflege der estnischen Schriftsprache.39 Trotzdem stellt die frühere estnischsprachige geistliche Literatur die Grundlage dar, auf der sich, obwohl langsam und mühevoll, der Alphabetismus unter den Esten zu verbreiten begann. 3. Die Reformation in Estland und Livland, ursprünglich nur auf die Verbreitung des evangelischen Glaubens gerichtet, erreichte dort einen weit breiteren Resonanzboden und leitete umfangreiche gesellschaftliche, sprach- und kulturgeschichtliche Prozesse ein, die von den unter den Esten immer beliebteren Kirchenliedern begleitet wurden. 4. Seit den Anfangen der estnischsprachigen Literatur bis in die jüngste Vergangenheit hinein haben die evangelisch-lutherischen Geistlichen die Herausbildung und Pflege der estnischen Schriftsprache und Literatur betrieben. Selbstverständlich kümmerten sie sich vor allem um jenen Sprach- und Literaturbereich, der dem Gottesdienst, der Frömmigkeit und der Erbauung diente - das heißt vor allem um das evangelische Kirchenlied. Deshalb kann man bis zum 19. Jahrhundert eigentlich nur von der estnischsprachigen geistlichen Literatur reden.40 5. Am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts sind aus der Feder derselben deutschen Pastoren, die das estnischsprachige Kirchenlied geschaffen hatten, die ersten Versuche der weltlichen Dichtung in estnischer Sprache entstanden; diese Pastoren blieben für lange Zeit praktisch die einzigen Förderer der estnischsprachigen schöngeistigen Literatur. Mihkel Kampmaa schlägt deshalb vor, diese Periode als 39

40

Vgl. Jüri Kivimäe: Luterliku reformatsiooni kultuurimöjud Eestis XVI sajandil.- In: Religiooni ja ateismi ajaloost Eestis. 3. [osa]. Artiklite kogumik. Hrsg. von Jüri Kivimäe.- Tallinn: Eesti raamat 1987, S. 44. Vgl. Kampmaa: Eesti wanem ilukirjandus (Anm. 25), S. 11.

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estnische »schöngeistige Literatur unter der Pflege der Pastoren« zu bezeichnen.41 6. So kann man behaupten, daß die Anfänge der modernen estnischen Kunstlyrik nicht in der alten estnischen Volkspoesie und in ihren Formen, sondern in der europäischen Tradition der Lyrik, insbesondere in der deutschen Kirchenlieddichtung wurzeln. Dadurch ist in der estnischen Literaturgeschichte das interessante Phänomen entstanden, daß im Laufe von ca. drei Jahrhunderten Vertreter einer fremden Sprache die estnische Schriftsprache und die estnischsprachige Literatur gründeten und pflegten. Deshalb kann man diesen Zeitraum nicht zur eigentlichen estnischen Literaturgeschichte, sondern eher zur estnischen Sprach- und Kulturgeschichte zählen.42 7. Daß es sich bei diesen > fremden Sprachpflegern < um Pastoren handelte, muß in diesem Zusammenhang zwar hervorgehoben werden, ist jedoch auch in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte kein unbekanntes Phänomen. Die oft umstrittenen und mißachteten Leistungen und Verdienste dieser Pastoren kann man mit den Worten von Uku Masing gebührend würdigen; er schreibt über die Verbesserer des Stahlschen Gesangbuches: Meiner Meinung nach ist es nicht richtig und menschlich, die Arbeit dieser Menschen zu ignorieren, um so mehr dieser Ersten. Auch diese Pastoren hätten faulenzen können und sich nicht mit dem Dichten in einer fremden Sprache abplagen müssen, was ihnen unter den Zeitgenossen weniger Ruhm als Neid einbrachte. Sie machten diese Lieder wirklich nur dafür, daß das Volk die Möglichkeit hätte, in einer verständlichen und schönen Sprache Gott zu loben und dadurch sich von den vielen Nöten zu retten: vom Krieg, von der Pest und vom schweren Leben. 43

8. Die Einflüsse des deutschen evangelischen Kirchenliedes reichen in vielen Bereichen bis in die Gegenwart. Es wäre eine höchst reizende Aufgabe, diesen Spuren zu folgen. Es sei hierbei nur ein Beispiel wohl das markanteste - gebracht: Das neueste estnische Kirchengesangbuch aus dem Jahre 1991 enthält 484 Kirchenlieder von rund 250 Autoren. Von diesen 484 Liedern sind 241 Übersetzungen aus dem Deutschen, von den Autoren sind etwa 140 Deutsche.44

41 42 43 44

Ebd., S. 12. Vgl. Kampmaa: Eesti kiijandusloo peajooned (Anm. 14), S. 132-133. Masing, Soosaar: Kolme sajandi eest (Anm. 3), S. 72. Rutiku: Zur Problematik der Übersetzung (Anm. 35), S. 29.

LITERARISCHE PORTRÄTS

Karsten Brüggemann

Die Chronica der Prouintz Lyfflandt von Balthasar Rüssow Ein lutherischer Pastor als politischer Chronist

Das alte Reval war, so weit wir es heute beurteilen können, arm an literarischen Erzeugnissen säkularen Inhalts. Abgesehen von einem Fragment einer dänischen Chronik und den kurzen Aufzeichnungen des Ratsherrn Jürgen Gellinckhusen ist nichts dergleichen erhalten geblieben.1 Erst der lutherische Pastor der Revaler Heiliggeist- (estn. Pühavaimu-) Gemeinde, Balthasar Rüssow (ca. 1535-1600), schrieb im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts mit seiner Chronica der Prouintz Lyfflandt vor allem auch eine erste Geschichte seiner Heimatstadt. Hierin berichtet er einleitend in groben Zügen von der Christianisierung Livlands, konzentriert sich bald jedoch auf die Geschicke > seines < Jahrhunderts. Reval ist dabei stets der Bezugsrahmen seiner Erzählung, hier erlebte er Geschichte, und es sind immer wieder die Esten der Unter- und der Vorstadt, deren Stadtgemeinde er als Pastor über dreißig Jahre lang vorstand, denen seine Sympathie gilt. Sein Buch ist darüber hinaus eine Chronik des Untergangs der altlivländischen Konföderation im 1558 beginnenden Livländischen Krieg, den der in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts geborene Rüssow mit eigenen Augen erlebt hat.2 Sein Werk ist damit auf der einen Seite eine wertvolle Quelle zur Alltagsund Sozialgeschichte Revals und seiner estnischen Bewohner vor allem in der Zeit des Livländischen Krieges. Auf der anderen Seite stellt es eine machtvolle Predigt des Pastors dar, der seine Leser auffordert, die moralischen Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen dem in historischen Dimensionen denkenden Prediger und dem lutherischen Chronisten bezieht dieses Buch auch für eine heutige Leserschaft seinen Reiz.

1

Paul Johansen, Heinz von zur Mühlen: Deutsch und undeutsch im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Reval.- Köln, Wien: Böhlau 1973 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 15), S. 83. 2 Zum Leben Rüssows vgl. Paul Johansen: Balthasar Rüssow als Humanist und Geschichtsschreiber. Aus dem Nachlaß ergänzt und hrsg. von Heinz von zur Mühlen.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996 (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; 14); zum ungewissen Geburtsjahr ebd., S. 132-135.

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Karsten

Brüggemann

Wegen der ausführlichen und packenden Berichte über das Schicksal Revals während der zwei Belagerungen durch die russischen Truppen Ivans IV. Groznyj 1570 und 1577, aber auch aufgrund der herzhaften Schilderungen livländischen Alltags in der Friedenszeit, die sich zu ein e m breughelschen Sittengemälde jener Zeit summieren, wurde die Chronica zu einem »Bestseller jener Zeit«. 3 A l s die erste, 1578 in Rostock gedruckte Auflage schnell vergriffen war, 4 entschied sich Rüss o w s Verleger Augustin Ferber für einen nur unwesentlich veränderten Nachdruck unter d e m vielversprechenden Titel Nye Lyfflendische Chronica.5 U m R ü s s o w s Einverständnis bemühte er sich erst gar nicht, so daß C. E. Napiersky 1848 die zweite Auflage mit Recht als »buchhändlerische Speculation« abqualifizierte. 6 Erst 1584 erschien dann die Chronica R ü s s o w s »Thom andern mal«, wie es im Titel extra betont wird, überarbeitet »dorch den Autorem süluest« und bis zum Jahre 1583 ergänzt. 7 Trotz der drei Auflagen beklagte Friedrich Gadebusch im 18. 3

Arved von Taube: Der Untergang der livländischen Selbständigkeit. Die livländische Chronistik des 16. Jahrhunderts.- In: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Im Auftrage der Baltischen Historischen Kommission unter Mitwirkung von Michael Garleff, Jürgen von Hehn, Wilhelm Lenz hrsg. von Georg von Rauch.- Köln, Wien: Böhlau 1986 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 20), S. 21 -41, hier S. 30. 4 Chronica der Prouintz Lyfflandt/ darinne vormeldet werdt: Wo datsüluige Landt ersten gefunden/ vnde thom Christendome gebracht ys: Wol de ersten Regenten des Landes gewesen sint; Van dem ersten Meister Düdesches Ordens in Lyfflandt/ beth yp den lesten/ vnde van eines ydtliken Daden: Wat sick in der vorderanderinge der Lyfflendeschen Stende/ vnde na der tydt/ beth in dat negeste 1577. Jar/ vor seltzame vnde wünderlike gescheffte im Lande thogedragen hebbben nütte vnde angeneme tho lesende. Korth vnde loffwerdich beschreuen/ Dörch Balthasar Rüssouwen Reualiensem.- Rostock: Gedrücket dörch Augustin Ferber Anno M.D.LXXVIII. 5 Nye Lyfflendische Chronica vam anfanck des Christendoems in Lyfflandt, beth vp disses Jar Christi 1578. Darin sonderlick Wat sick twisschen dem Muscowiter vnde Lyfflendern, de negesten twintich Jar, her aneinander thogetragen: Trüwlich beschreuen ist, durch Balthasar Russowen Reualiensem. Thom andermal Gedrücket, vnde mit etliken Historien vormehret.- Rostock: Gedrücket durch Augustinum Ferber Anno M.D.LXXVIII. 6 So C. E. von Napiersky in seinem Vorwort zur Neuedition der Chronica - In: Scriptores rerum Livonicarum, Bd. II.- Riga, Leipzig: Frantzen's VerlagsComtoir 1848, S. XII. 7 Chronica der Prouintz Lyfflandt/ darinne vermeldet werdt: Wo dath süluige Landt ersten gefunden/ vnde thom Christendome gebracht ys: Wol de ersten Regenten des Landes gewesen sind: van dem ersten Meyster Düdeschen Ordens in Lyfflandt/ beth vp den lesten/ vnde van eines ydtliken Daden. Wat sick in der voranderinge der Lyfflendisehen Stende/ vnd na der tydt/ beth in dat negeste 1583. Jar/ vor seltzame vnd wünderlike Gescheffte im Lande tho gedragen hebben: nütte vnde angenehme tho lesende korth vnd loffwerdich beschreuen. Dorch Balthasar Russowen Reualiensem. Thom andern mal mith allem flyte

Die »Chronica der Prouintz Lyfflandt«

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Jahrhundert, wie selten die Chronica mittlerweile sei, 8 und es blieb dem an der >Tradition< interessierten 19. Jahrhundert vorbehalten, sie wiederzuentdecken. Die Grundlage hierfür lieferte Eduard Pabst, der 1849 eine Übersetzung aus dem »Plattdeutschen« erstellte. 9 Und heute? Mehr als dreißig Jahre sind vergangen seit der seinerzeit als Sensation empfundenen Behauptung Paul Johansens, Balthasar Russow stamme von einem estnischen Fuhrmann ab. 10 Der Hamburger Mediävist hinterließ nach seinem frühen Tod im Jahre 1965 ein umfangreiches, aber unvollendet gebliebenes Manuskript einer Biographie des Chronisten und Pastoren, in der er seine Überzeugung von der estnischen Abkunft Rüssows zu beweisen suchte. In dem jetzt von Heinz von zur Mühlen publizierten Text nimmt die mit so viel Spannung erwartete Beweisführung, nach der Rüssow tatsächlich > undeutscher < Herkunft gewesen sei, jedoch nicht einmal zehn Seiten ein. 11 Ohne hier näher auf

auersehen, corrigeret, vorbetert, vnd mith velen Historien vormehret dorch den Autoren süluest. Gedrücket tho Bart, in der Förstliken Drückereye, Dorch Andream Seitnern 1584. Neuedition in: Scriptores rerum Livonicarum. Sammlung der wichtigsten Chroniken und Geschichtsdenkmale von Liv-, Ehst- und Kurland in genauem Wiederabdrucke der besten, gedruckten, aber selten gewordenen Ausgaben, Bd. II.- Riga, Leipzig: Frantzen's Verlags-Comtoir 1848, S. 1 194. Diese Edition diente als Vorlage fur den fotomechanischen Nachdruck, Hannover-Döhren: Hirschheydt 1967, aus dem hier zitiert wird. Ein inhaltlicher Vergleich der beiden Ausgaben von 1578 und 1584 in gedrängter Form bei Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 221 -227. 8 Friedrich Gadebusch: Abhandlung von Livländischen Geschichtschreibern.Riga: Hartknoch 1772, S. 41. Bereits Christian Kelch hatte beklagt, wie rar Rüssows Buch geworden sei. Arthur Vööbus: Notes on the Chronicle of Balthasar Russow and its Author.- In: Yearbook of the Estonian Learned Society in America 5 (1968-75), S. 87-98, hier S. 89. Zu Kelch vgl. Gottfried Etzold: Die Geschichtsschreibung der polnisch-schwedischen Zeit.- In: Rauch: Geschichte (Anm. 3), S. 43-62, hier S. 56-60. 9 Balthasar Rüssows Livländische Chronik. Aus dem Plattdeutschen übertragen und mit kurzen Anmerkungen versehen durch Eduard Pabst.- Reval: Koppelson 1845. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 260-273; Karsten Brüggemann: Russen in Livland. Überlegungen zum > Rußlandbild < Balthasar Rüssows anhand seiner »Chronica der Prouintz Lyfflandt« (1584).In: Zwischen Lübeck und Novgorod. Wirtschaft, Politik und Kultur im Ostseeraum vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Norbert Angermann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ortwin Pelc und Gertrud Pickhan.- Lüneburg: Institut Nordostdeutsches Kulturwerk 1996, S. 249-268, hier S. 250-255. 10 Erstmals in: Paul Johansen: Kronist Balthasar Rüssowi päritolu ja miljöö [Herkunft und Milieu des Chronisten B. R.].- In: Tulimuld. Eesti kiijanduse ja kultuuri ajakiri 15 (1964), S. 252-260; zur estnischen Debatte um Rüssows Abstammung vgl. Brüggemann: Russen in Livland (Anm. 9), S. 252-255. 11 Johansen: Rüssow (Anm. 2); vgl. Karsten Brüggemann: Vom wahren Leben des Balthasar Rüssow.- In: estonia (1997), H. 2, S. 54-57; Jüri Kivimäe: Uuri-

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Karsten Brüggemann

Johansens beeindruckende Indizienkette eingehen zu wollen, sei der Hinweis gestattet, daß es sich eben um eine solche handelt: Ein endgültiger Beweis für Rüssows bäuerliche Abstammung dürfte nach Lage der Dinge kaum noch zu entdecken sein. Die Bedeutung von Johansens These darf zudem nicht auf die für das 16. Jahrhundert wenig aussagekräftige Formel: Rüssow war Este! zugespitzt werden. Trotzdem hat Johansen die dem 19. Jahrhundert verhaftete axiomatische Feststellung der an nationalen Kategorien lebhaft interessierten deutschbaltischen Forschung: die Chronica ist auf deutsch verfaßt, ergo ist ihr Autor Deutscher,12 grundsätzlich erschüttert. Wichtiger noch für die Rüssow-Renaissance am Ende unseres Jahrhunderts war es, daß die Vorstellung von Rüssows estnischer Herkunft als Inspiration für den wundervollen, in viele Sprachen übersetzten Roman von Jaan Kross über Das Leben des Balthasar Rüssow diente.13 Aus dem predigenden Literaten zwischen drei Pestepidemien und drei Frauen wurde dank Kross ein Star der Literatur, den man sich auch gut als strahlenden Helden auf der Leinwand vorstellen kann. Der Chronist wurde - vor allem auch in Estland - weniger durch sein Werk als vielmehr aufgrund seiner von Johansen und Kross postulierten Nationalität populär. Dank seines sozialen Aufstiegs innerhalb der deutsch-geprägten Hierarchie der späteren estnischen Hauptstadt wurde er zu einem Beispiel für das gesellschaftliche Potential des estnischen Volkes, mithin zu einer Art nationaler Symbolfigur. Deutlich zum Ausdruck kam dies zunächst vor allem in der exilestnischen Publizistik. Rüssow wurde hier zu einem geistigen Führer der Esten stilisiert, zu einem Sozialrevolutionär, »who gave the whole of his life to his people«. Dieser hagiographischen Darstellung von Arthur Vööbus, in der Rüssow als »flesh of the flesh of his people« zu einem treuen Seelenhirten seines Volks erklärt wurde,14 ist mit Johansen entgegenzuhalten, daß Rüssow als der studierte Sohn eines freien Stadtesten »sich bedeutend vornehmer [fühlte] im Vergleich zu den leibeigenen estnischen Bauern«.15 Angesichts

mus Balthasar Russowist ja tema kroonikast [Eine Arbeit über B. R. und seine Chronik].- In: Keel ja Kiijandus 42 (1999), S. 285-289. 12 Vgl. zum Beispiel Theodor Schiemann: Balthasar Russow.- In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hrsg. durch die Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, 2., unveränderte Aufl.- Berlin: Duncker & Humblot 1967-70, Bd. XXX (1970), S. 15-16. Schiemann behauptete hier, Rüssow sei »Sohn des Kaufmanns Simon R.« gewesen. 13 Jaan Kross: Kolme katku vahel [Zwischen drei Pestseuchen]. Bd. I-IV.- Tallinn: Eesti Raamat 1969-80; deutsch als: Das Leben des Balthasar Rüssow. Historischer Roman. Bd. I-III.- Berlin: Ruetten & Loening 1986; dass, [in einem Bd.].- München: Hanser 1995. 14 Vööbus: Notes (Anm. 8), S. 95-96. 15 Johansen: Kronist (Anm. 10), S. 258; vgl. ders.: Rüssow (Anm. 2), S. 244.

Die »Chronica der Prouintz

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dieser unsinnigen Auseinandersetzung mit Begriffen, deren Inhalt nicht einfach auf das 16. Jahrhundert zu übertragen ist, muß William Urban zugestimmt werden, der in einem Artikel über The Nationality of Balthasar Russow resümierte, daß Rüssow nach unserem Verständnis in erster Linie als »Reval patriot« angesehen werden müsse.16 Und dies mit Recht. Rüssow hatte seiner Heimatstadt einiges zu verdanken. Sein sozialer Aufstieg war, nimmt man seine einfache Abkunft als Fuhrmannssohn aus der Revaler Vorstadt Fischermey für bare Münze, in der Tat beeindruckend: Seine dritte Frau, Anna Bade, die er 1593 ehelichte, war Tochter eines Kaufmanns der Großen Gilde und Nichte des Revaler Bürgermeisters Heinrich von Lohn.17 Damit gehörte er zweifellos zur städtischen Oberschicht. Weitgehende Assimilation in die deutsche Kultur war hierfür Voraussetzung; ein Prozeß, für den die Quellen tatsächlich nur wenige Beispiele liefern.18 Eine Ausnahme stellen hier einige estnische Geistliche dar, die von der Institution der »Armen Scholjungen« profitierten. Durch Stiftungen und öffentliche Mittel sollte hiermit seit Mitte des 16. Jahrhunderts fur die Ausbildung von estnischen Predigern gesorgt werden. Der Revaler Rat wollte damit elternlose Kinder von der Straße holen, da die »sittlichen Zustände unter der undeutschen Jugend immer bedenklicher« geworden waren.19 Die hiermit erhaltene Schulbildung - und das Erlernen der deutschen und lateinischen Sprache - war Voraussetzung für eine Hochschulausbildung in Deutschland selbst. Der Ausbruch des Livländischen Krieges 1558 machte diese Bemühungen freilich zunichte. Für Rüssow kam diese Art Stipendium ohnehin zu spät, wie er in der Chronica beklagte.20 Er mußte mit anderen Mitteln sein Studium am Stettiner Pädagogium finanzieren. Nach Stettin hatte ihn der Konrektor der Revaler Stadtschule und spätere Pastor der St. Olai-Gemeinde, Bartholomäus Frölinck, vermittelt. Dieser war mit dem Rektor des 1543/44 gegründeten fürstlichen Pädagogiums, Magister Matthäus Wolff, bekannt.21 In Stettin studierte Rüssow drei Jahre lang, von Weihnachten 1558 bis Januar 1562, klassische Sprachen und Theologie, mußte jedoch, da infolge des ausgebrochenen Livländischen Krieges das Lehrgeld aus Reval das Pädagogium nicht erreichte, Stettin verlassen. Über Wittenberg und Bremen kam er 1563 wieder in seine Heimatstadt zu16

William Urban: The Nationality of Balthasar Russow.- In: Journal of Baltic Studies 12 (1981), S. 160-172, hier S. 170; Brüggemann: Russen in Livland (Anm. 9), S. 253. 17 Johansen: Kronist (Anm. 10) 257; ders.: Rüssow (Anm. 2) S. 189-190. 18 Johansen, zur Mühlen: Deutsch (Anm. 1), S. 412. 19 Ebd., S. 357-360, zu den »Armen Scholjungen«, Zitat S. 358; vgl. Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 113-114. 20 Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. Ilia / S. 5. 21 Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 154-155.

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rück.22 Dort wurde er, trotz des nicht abgeschlossenen Studiums, im März oder November 1563 zum Pastor an der St. Olaikirche ordiniert. Nach Frölincks Tod im Jahre 1559 hat sich dessen Nachfolger, der Superintendent Johannes Robertus von Geldern, des Schützlings seines Vorgängers angenommen und verhalf ihm zu dem Amt eines Hilfspredigers an der Heiliggeistkirche. Rüssow war dann schließlich von 1567 bis zu seinem Tode im Jahre 1600 Hauptpastor der estnischen Heiliggeist-Gemeinde. Damit wurde er geistlicher Hirte vor allem derjenigen städtischen Esten, die aus dem Arbeitsleben der Hansestadt nicht mehr wegzudenken waren. Hierzu zählten Angehörige des Transportgewerbes wie zum Beispiel Fuhrleute, Bierträger, Böttcher und Packer wie auch Mitglieder der kleinen Zünfte der Maurer und Steinhauer, Zimmerleute und Pelzschneider. Trotzdem beließ dieses Amt Rüssow dem Rang und dem Gehalt nach stets unter den Pastoren der deutschen Gemeinden. Er konnte zwar durchaus Senior der Priesterschaft werden, nicht aber Superintendent. Auf der anderen Seite war das Heiliggeist-Pastorat ein frühes Zentrum estnischer Schriftkultur, da nach der Reformation von hier aus Bemühungen ausgingen, geistliche Schriften zu übersetzen, um sie den Esten zugänglich zu machen.23 Rüssows Privatleben wurde zum äußeren Zeichen seines sozialen Aufstiegs. 1571 heiratete er zum ersten Mal. Angetraut wurde ihm die Tochter eines wohlhabenden deutschen Kürschnermeisters, Hans von Gandersen. Allerdings wurde Rüssow nur wenige Monate nach seiner Heirat von seinem Schwiegervater vor Gericht bezichtigt, seine finanziellen Zusagen aus dem Mitgiftvertrag nicht erfüllt zu haben. Nach Ansicht Johansens ginge es zu weit, hieraus zu schließen, daß es Rüssow, dem armen Fuhrmannssohn, bei dieser Heirat nur »auf Geld und Gut« angekommen sei; mit Sicherheit dürfte er sich jedoch um wirtschaftliche Absicherung bemüht haben.24 1580 starb Rüssows Frau wie auch zwei der fünf Kinder an der in der Stadt grassierenden Pest. Zwei Jahre später heiratete der Pastor erneut, diesmal die Tochter seines Protektors, des 1570 verstorbenen Superintendenten von Geldern. Johansen zufolge

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Ebd., S. 154-168. Zum Aufenthalt in Bremen vgl. auch Paul Johansen: Die Legende von der Aufsegelung Livlands durch Bremer Kaufleute.- In: Europa und Übersee. Festschrift für Egmont Zechlin. Hrsg. von Otto Brunner, Dietrich Gerhardt.- Hamburg: Verl. Hans-Bredow-Inst. 1961, S. 42-68, hier S. 58-60. Allgemein zur Heiliggeist-Gemeinde Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 104-111. Ebd., S. 188-189, stellt von zur Mühlen die Hypothese auf, Rüssow sei an der Übersetzung eines Katechismus ins Estnische beteiligt gewesen, die sein Protektor Superintendent von Geldern angeregt habe. Vgl. Jüri Kivimäe: Teated senitundmatu eestikeelse katekismuse kohta Liivi söja ajast [Nachrichten über einen bislang unbekannten estnischsprachigen Katechismus aus der Zeit des Livländischen Krieges].- In: Keel ja Kirjandus 36 (1993), S. 388-398. Alle biographischen Angaben nach Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 169-178.

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dürfte es sich dabei um ein »selbstverständliches Hineinwachsen der jungen Magdalena in den mutterlosen Haushalt« des Pastoren gehandelt haben, da Rüssow mit ihr schon viele Jahre bekannt war und ihr Bruder zeitweise nach dem Tod des Vaters Aufnahme bei der Familie Rüssow gefunden hatte.25 Nachdem auch Magdalena 1590 gestorben war, ging der Pastor 1593 seine bereits erwähnte dritte Ehe mit der Bürgermeisternichte Anna Bade ein. Es ist schwer zu sagen, ob allein aufgrund der Tatsache der Einheirat in höhere Gesellschaftsschichten und der Beteiligung an mancherlei Erbschaftsprozessen Rüssow vorgeworfen werden kann, er sei übermäßig an materiellem Reichtum interessiert gewesen.26 Die gleichfalls überlieferten häufigen Bittschriften der Revaler Pastorenschaft um höhere Entlohnung, aber auch Rüssows langjährige Beschäftigung mit der zunächst brotlosen Chronica scheinen eher in eine andere Richtung zu weisen. Immerhin dürfte zumindest die dritte Auflage der Chronica ihrem Autoren etwas Geld eingebracht haben. Nach Schiemann war der Umsatz »ein sehr beträchtlicher«.27 Doch bleibt vieles in Rüssows Leben trotz Johansens und von zur Mühlens Einfühlungsvermögen - Kross' schöpferische Inspiration hilft hier nicht weiter - unklar. Es ist an der Zeit, zu seinem Werk zurückzukehren. Ein estnischer Rüssow ohne seine Chronica wäre auch für jede nationalinspirierte Interpretation wertlos. Wird Rüssows Popularität heutzutage hauptsächlich durch die These seiner estnischen Herkunft belebt, so bietet seine Chronica hingegen den Beleg, wie wenig nationale Kategorien für ihn selbst von Bedeutung waren. Im Gegensatz zur einhelligen Meinung der Forschung war er beispielsweise nicht russophob.28 Er war Revaler Patriot und Pazifist, geprägt von tief verinnerlichten christlich-moralischen Wertvorstellungen. Die Rolle des Menschen in der Geschichte war in dem Weltverständnis des lutherischen Pastoren zu gering, um säkularen Kategorisierungen prägende Bedeutungen zuzugestehen: Gott war allmächtig. Der »Moscowiter«, der Livland mit einem verheerenden Krieg überzog, war als integraler Bestandteil dieses Weltbilds »Strafrute Gades des Allmechtigen«,29 ja er wurde selbst von der göttlichen »gerechten« Strafe 25

Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 182-183. Otto Freymuth: Zur Biographie Balthasar Rüssows.- In: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft (1921/22), S. 89-128. 27 Schiemann: Balthasar Russow (Anm. 12), S. 16. 28 Zu diesem Ergebnis vgl. ausfuhrlich Brüggemann: Russen in Livland (Anm. 9); dieses Urteil bestätigte jüngst Martin Linde: Das »christlich Gesprech« des Tilman Brakel. Untersuchungen zum Weltbild und Geschichtsverständnis eines livländischen Predigers des 16. Jahrhunderts.- München: Osteuropa-Institut 1998 (= Osteuropa-Institut München; Mitteilungen Nr. 26), S. 53, Anm. 243. 29 Die Vernichtung Livlands sei »nicht des Muscowiters, sundern Gades des Allmechtigen werck [...]«. Vgl. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. IV a / S. 6. 26

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in Form tatarischer Überfälle heimgesucht.30 Grausamkeiten verübten nicht nur russische Heere in Livland, sondern alle beteiligten Truppen. Auch die Schweden, seit 1561 die Herren in Reval, nahm Rüssow von diesem Verdikt nicht aus. Sein Resümee war, daß warliken tho der tydt Lyfflandt van sinen eigenen Landeslüden, Düdeschen vnde Vndüdeschen, so wol alse van anderen frembden Nationen, so reyn gefeget worden, dat an velen enden wedder Vehe noch Minschen gebleuen sint, ane wat de Rüssen vnde Tatem noch gedan hebben den gantzen Krych auer.31

Im Krieg, unter dem vor allem, wie es die Chronica immer wieder beklagt, die Bauern zu leiden haben, werden alle Menschen zu »Bestien«. Daher galt Rüssows eigentliche Anklage nicht den fremden Heeren oder ihren Anfuhrern, die ja nur ihre exekutive Rolle als Gottes »Strafrute« erfüllten. Den Grund für Gottes Zorn erblickte der Prediger Rüssow in erster Linie im eigenen Land. Ein Land, dem die »Frame vnd truwe Auericheit« fehle, so betonte Rüssow gleich zu Beginn seiner Chronica, dürfe sich der Ungnade Gottes gewiß sein.32 Scharf geht er in der Chronica mit dem vom Adel vorgelebten unchristlichen Leben in der langen Friedensperiode in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ins Gericht. Je länger dieser Friede dauerte, desto sicherer hätten sich die Livländer gefühlt und desto ärger sei es mit »leddigganck, hoffart, pracht vnde prael, wollust, vnmetige schwelgerye vnde vntucht, vnder den Regenten so wol alse vnder den Vnderdanen« geworden. Von der Kritik, sich »Concubinen« gehalten zu haben, wird weder die hohe noch die niedere, weder die katholische noch die evangelische Geistlichkeit ausgenommen. Aufgrund dieser von der Obrigkeit vorgeführten Sünde sei dem Volk solch ein Leben nicht mehr als Schande erschienen und es hätte es »ane yenige schuwe« kopiert. Nie habe man gehört, so Rüssow, daß »Horerye vnde Ehebrock van den Ordensheren, Bisschöppen edder van dem Adel« bestraft worden seien.33 Diese Ausführungen, die Ausdruck von Rüssows pastoralem Zorn über die Verfehlungen des für das Volk verantwortlichen Adels sind, bieten dem heutigen, an den Lebensverhältnissen im mittelalterlichen Livland interessierten Historiker dankbaren Stoff. Doch wird man dem sonst so genauen Chronisten Rüssow hier einige verallgemeinernde Hyperbeln zugestehen müssen, entsprechen die vorgestellten Handlungsweisen des Adels doch sehr dem allgemeinen christlichen Sündenkanon. Für den 30

31 32 33

Ebd., Bl. 77a / S. 83. Die Tartaren steckten 1571 Moskau in Brand. Rüssows Kommentar: Hier sei »dem Muscowiter« das zurückgezahlt worden, »wat he dem armen Lyfflande [...] den Winter auer thouorne gedahn hadde«. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 122a / S. 142. Ebd., Bl. I a / S . 3. Ebd., Bl. 28a-28b / S. 39.

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Lutheraner Rüssow ist aber festzustellen, daß seine Kritik an der Verantwortungslosigkeit der eigentlich beispielgebenden Oberschicht nicht nur von einem christlich-moralischen, sondern auch einem politischhistorischen Standpunkt aus vorgebracht wird. Sein Spott gipfelt in der Beschreibung einer 1558, zur Zeit des Einfalls der russischen Truppen abgehaltenen Hochzeit in Reval, auf der »de gantze Adel vth allen Estisschen Landen« anwesend gewesen sei. Noch während der Feierlichkeiten habe die Festgesellschaft »böse tydinge vam Rüssen« erfahren. Daraufhin sei die Freude zwar in große Betroffenheit umgeschlagen, die Hochzeit jedoch nach altem Brauch fortgesetzt worden. Was das hieß, weiß der Leser der vorhergegangenen Abschnitte über das verschwenderische Leben in Livland vor dem Krieg. Laster zieht Hoffart nach sich. Und 1558 folgte die gerechte Strafe auf dem Fuß. Rüssow hatte angesichts der seiner Auffassung nach selbstverschuldeten Katastrophe nur noch Häme für die livländische Elite übrig: Die Adligen wären alle »geweidige Krygers im supende« gewesen. Betrunken wie sie waren, wären sie in derselben Nacht vor Tannenbäumen und Büschen geflohen, die sie für heranstürmende russische Soldaten gehalten hätten.34 Diese Tendenz der Kritik am Adel verbindet Rüssow etwa mit seinem Zeitgenossen Tilman Brakel, dem Verfasser des theologischen Traktats des Christlich Gesprech. Auch Brakel übte heftige Kritik an der livländischen Führungsschicht, die ihrer Vorbildfunktion, nach Gottes Regeln zu leben, nicht nachgekommen sei. Aufgrund dieser Mißachtung der dem Adel von Gott auferlegten moralischen Führungsrolle sei auch das sündige Leben der Bauern und einfachen Gemeindemitglieder, ja ihre Unkenntnis in der christlichen Lehre, erst hervorgerufen worden. Der Adel dürfe sich jetzt nicht darüber wundern, wenn Gottes Strafe um so fürchterlicher ausfalle und schließlich im Untergang der hergebrachten Ordnung resultierte.35 Brakel fehlte jedoch der politische Ansatz Russows und die aus dem täglichen Umgang mit der Unterschicht gewonnenen Sicht auf die weltlichen Probleme seiner Schäfchen. Wie sehr Rüssows Methode, weltliche Geschichte mit theologischer Interpretation zu verbinden - und nicht, wie üblich, die theologische Argumentation mit historischen Geschehnissen zu belegen - , ins Kreuzfeuer der zeitgenössischen Kritik geraten ist, zeigt die Vorrede zum vierten Teil der Chronica, mit der Rüssow 1584 die dritte Auflage bereicherte. Hier setzte er sich mit Opponenten auseinander, die mit dem Vorwurf, »wat hebben de Predigers mith weltlicken Historien sick thobekümmern«, sein Selbstverständnis als lutherischer Geistlicher herausgefordert hatten. Diese Leute würden nur 34 35

Ebd., Bl. 4 1 a / S. 53. Zu Brakel vgl. ausfuhrlich Linde: Gesprech (Anm. 28).

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ehren groten vnuorstandt ahn dach geuen, vnde nicht weeten wath eines Predigers Ampt sei, Nömliken de Wunderdaden, Straffe vnde gnade Gades nicht alleyne Mündtlik, besöndern ock Schriftlik manck dem Volcke thouerkündigen.36

Rüssow tat genau dies in seiner Chronica mit der Wortgewalt eines erfahrenen Predigers, der sich dessen bewußt ist, daß seine Gemeinde mit komplexen theologischen Interpretationen überfordert ist. So nutzte er, anders als Brakel, gerade die weltliche Alltagsgeschichte, um seine Lehre zu verbreiten. Menschen spielen in seiner Darstellung oft die Hauptrolle. Ihre Taten und Erlebnisse dienen nicht als abstrakte Exempel, sie haben einen eigenen Wert als individuelle Geschichte der jeweiligen Person, auch wenn sie meist ungenannt bleiben. Der protestantische Prediger hatte Interesse für seine Schäfchen. Und der Chronist schrieb »echt lutherisch in der Umgangssprache des Volkes«.37 So ist Rüssow nicht daran gelegen, mit lateinischen Sprüchen zu glänzen oder allgemeinhistorische Daten zu häufen; er beschränkt sich zumeist auf Zitate und Informationen aus dem Alten Testament.38 Zudem wird die livländische Geschichte bei Rüssow nicht in dem Maße in die christliche Eschatologie eingeordnet, wie es in mittelalterlichen Weltchroniken üblich war. Anstelle einer an der Bibel orientierten >Völkertafel < und des heilsgeschichtlichen > Überbaus < nach typologischem Denkmuster beschränkte sich Rüssow einleitend auf eine Beschreibung Livlands, wie es die Missionare an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert vorgefunden haben mochten. Der zentrale Bezugspunkt der mittelalterlichen Geschichtsauffassung, die Geburt Christi, mit der der Heilzeitstand sub lege von sub gratia abgelöst wurde,39 spielte bei Rüssow keine entscheidende Rolle, bescherte doch erst die Christianisierung Livlands durch bremische und lübeckische Missionare an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert den zuvor in der »grüwliken düsternisse der affgöderye« lebenden Einheimischen das heilsame Licht Göttlicher Erkenntnis.40 Anstelle der komplexen klassisch-antiken Lehre der aufeinander36

Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 107b / S. 127. Johansen: Kronist (Anm. 10), S. 252. Taube nennt Rüssow einen »begnadeten Erzähler«.- In: Taube: Untergang (Anm. 3), S. 30; für Urban war er »the most important writer of his era« (Urban: Nationality (Anm. 16), S. 160), der, laut Vööbus, in einem »colloquial, racy, brisk and captivating« Stil geschrieben habe (Vööbus: Notes (Anm. 8), S. 87). Auch Schiemann weist ihm »unter den niederdeutschen Schriftstellern [...] eine hervorragende Stellung« zu (Schiemann: Balthasar Russow (Anm. 12), S. 16). 38 Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 160. 39 Friedrich Ohly: Typologie als Denkform der Geschichtsschreibung.- In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn.- Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 22-63, hier S. 26. 40 Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl IVb / S. 7; Johansen: Rüssow (Anm. 2), S. 237-238. 37

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folgenden vier Weltreiche, denen das Gottesreich folgen sollte, verließ sich Rüssow darauf, seinen Lesern die christliche Heilsgeschichte »im Gewände der eigenen Vergangenheit und Gegenwart« mit dem strafenden und segnenden Gottvater als höchste Exekutivinstanz vorzuführen.41 Der Erfolg gab ihm und seiner, wie er selbst schrieb, »schlichten und eintfoldigen« Chronik recht.42 In einem Beitrag zur literarischen Qualität der Chronica schrieb Peter Auksi, Rüssows Gefühl für die Ironie der Geschichte und sein »somber sense of absurdity« hätten dem Werk eine intellektuelle Komplexität verliehen, die es davor bewahrt habe, allzu durchsichtig zu moralisieren.43 Hinter Auksis »intellektueller Komplexität« dürfte sich in nicht unerheblichem Maße gerade auch das persönliche, äußerst produktive Spannungsverhältnis zwischen dem lutherischen Pastoren und dem für alles Weltliche sensiblen Chronisten Rüssow verbergen. Hier liegt in der Tat das Erfolgsgeheimnis Rüssows, der Grund, warum auch einer heutigen Leserschaft die Lektüre Freude macht. Die theologische Textebene bildet die Folie des chronistisch Erzählten. Für die allseits bestätigte Aussagekraft der Chronica als Werk der Historiographie für die Zeit des Livländischen Krieges44 ist Rüssows christliche Überzeugung sogar die Voraussetzung. Seine Ausgewogenheit in der Darstellung - das Fehlen eindeutiger politischer oder gar ethnischer Feindbilder - gründet auf der Überzeugung, daß vor Gott alle Menschen gleich seien. Der politische Chronist Rüssow sucht, anders als der Prediger Rüssow, nach der Welt immanenten Erklärungen fur die Abläufe der Ereignisse. Er beläßt es nicht bei dem Hinweis auf Göttliche Fügung, sondern hat ein Gespür für historische Zusammenhänge. Deutlich wird dies anhand seiner Erläuterungen zum Sieg der Ordenstruppen Wolter von Plettenbergs über die zahlenmäßig weit überlegenen Streitkräfte des Moskauer Großfürsten Ivan III. 1502.45 Zwar war das die Zeitgenossen überraschende Ereignis für den Pastoren Rüssow »wahrhafftigen ein wunderwerck vnde Mirakel Gades«, doch findet der Chronist Rüssow

41

Ebd., S. 216, 236. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. Vb / S. 8; B1 107a. 43 Peter Auksi: Henry of Livonia and Balthasar Russow. The Chronicler as Literary Artist.- In: Journal ofBaltic Studies 6 (1975), S. 107-119, hier S. 114. Offenbar hat Auksi Rüssows Chronica nur in der von Dagmar und Hermann Stock besorgten estnischen Übersetzung (Balthasar Russow: Livimaa Kroonika.- Stockholm: Kiijastus Vaba Eesti 1967; Faksimile: Tallinn: Hotger 1993) rezipiert. Ebd., S. 119. Die Würdigung der Chronica aus der Sicht eine/r/s Expert/in/en für mittelniederdeutsche Sprache steht meines Wissens noch aus. 44 Andreas Kappeler: Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Rußlandbildes.- Bern, Frankfurt/M.: Lang 1972 (= Geist und Werk der Zeiten; 33), S. 52-53, 71. 45 Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 23a-24a / S. 33-34. 42

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durchaus einleuchtende Gründe dafür, daß die Russen geschlagen werden konnten. So habe Plettenberg »tho synem gelücke« zwei Soldaten des Gegners gefangennehmen können, die genauestens Auskunft über Stärke, Dislozierung und Strategie des Moskauer Heeres gaben. Mit diesem Wissen auf seiner Seite habe der Meister schließlich ohne größere eigene Verluste die Russen überraschen können. Der Chronist stellt zudem fest, daß es mit dem Kampfgeist der russischen Truppen in dem Moment nicht so weit her sei, »wor ein klein ernst wedder se vorhanden ys«. Den weiteren historischen Kontext bemüht er, wenn er darüber räsonniert, weshalb der Großfürst sich nach dieser Niederlage so schnell auf einen für Livland so günstigen Frieden eingelassen habe: Ivan III. habe schlicht zu viele Feinde um sich herum gehabt und »andere Lande mehr besöken« wollen; schließlich seien zu dieser Zeit weder Astrachan' noch Kazan' oder gar Polock in Moskauer Hand gewesen. Auch wenn heutige Historiker über diese simple Erklärung schmunzeln mögen, ist Rüssow um säkulare Erklärungen der historischen Ereignisse bemüht. Sein Selbstverständnis als Chronist beschränkt sich nicht auf die Aneinanderreihung livlandrelevanter Geschehnisse als Kette göttlicher Gnadenerweisungen, sondern führt ihn dazu, sich ernsthaft über historische Kausalitäten Gedanken zu machen. Ebenso verfährt er mit der einschneidendsten Zäsur livländischer Geschichte im 16. Jahrhundert, dem Kriegsausbruch 1558. In einem eigenen Abschnitt läßt er ausfuhrlich Ivan IV. Groznyj zu Wort kommen, der seinen Überfall, wie bekannt, mit ausgebliebenen livländischen Tributzahlungen begründete.46 Selbstverständlich ist Ivan Groznyj auf der theologischen Ebene die »Strafrute« Gottes mit nur geringem Handlungsspielraum, so daß es eigentlich keiner weiteren Motivsuche bedürfte. Aber Rüssow ist offensichtlich nicht daran gelegen, seinem Publikum die in vielen Flugschriften der Zeit bemühte persönliche Grausamkeit des Moskauer Großfürsten als gleichsam säkulare Erklärung für dessen Angriff auf Livland zu präsentieren. Interessanterweise sieht Rüssow in ihm nicht unbedingt den Vertreter einer primär heidnischen, ungläubigen Macht und gesteht dem Herrscher und seinem Volk durchaus das Attribut »christlich« zu: Auch die Russen würden »in der nodt [...] Godt bidden, dath se vor eren Hern salich steruen mögen«.47 In der Chronica wird der > Schreckliche < Ivan IV. durch die kommentarlose Wiedergabe der großfürstlichen Interpretation des eigenen Vorgehens als Potentat mit höchsteigenen Interessen dargestellt, sein Verhalten somit in einen subjektiv rationalen Kontext eingebettet.48 Rüssows Be46 47

48

Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 45a / S. 57. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 85a / S. 102; Brüggemann: Russen in Livland (Anm. 9), S. 261-262. Dies soll nicht heißen, daß Rüssow ein besonderer Freund des Zaren Ivan IV. gewesen sei, im Gegenteil. Seiner persönlichen Anwesenheit am Kriegsschau-

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mühungen, historische Ereignisse mit dem gesunden Menschenverstand seiner Gemeindemitglieder nachvollziehbar erscheinen zu lassen, sind unverkennbar. So ergänzen sich theologische und historische Erklärungen vortrefflich. Auch der >Muscowiter< ist »middel vnde Wercktüch Gades des Allmechtigen«, hat aber dafür höchst eigene Motive. Das Zitieren einer historischen Quelle - wie in diesem Falle der Note Ivans IV. - ist bei Rüssow aber auch Attribut einer Hinwendung zur Geschichte als Ereignis, zu einer Geschichte von Individuen. In vielen mehr oder weniger bedeutsamen Episoden wird dieses Interesse des Chronisten an persönlichen Motiven deutlich. Und Rüssow läßt es sich nicht nehmen, über diese persönlichen Motive seiner Protagonisten sogar zu spekulieren. So läßt er in seine Schilderung des Aufstandes des russischen Rittmeisters Reinhold von Rosen in Dorpat Überlegungen einfließen, ob nicht möglicherweise dessen persönlicher Ehrgeiz Schuld am Scheitern trage: »he hefft [...] den rhom alleine hebben willen«.49 Linde macht in Zusammenhang mit dieser Episode den Unterschied zwischen Brakel und Rüssow deutlich.50 Während ersterer ohne Rücksicht auf historische Zusammenhänge Elemente verschiedener Ereignisse in seine theologische Interpretation einfließen läßt, schildert der Revaler Chronist zunächst die Fakten, bevor er sich um eine Erklärung bemüht; diese muß, wie gesehen, nicht unbedingt theologischer Art sein. Schon die Tatsache, daß Rüssow die Beteiligten in diesem Fall beim Namen nennt und sich nicht wie Brakel auf die Angabe von deren Funktion beschränkt, verweist auf seine gänzlich andere Absicht. Er stellt den historischen Menschen in seiner Lebenswelt in den Mittelpunkt, ohne dabei freilich Zweifel an der übergeordneten theologischen Deutung aufkommen zu lassen. Hier greifen chronistisches Interesse und seelsorgerische Verpflichtung ineinander. Zwar darf man in Rüssow keinen Sozialrevolutionär in Vööbus' Sinne vermuten, doch nutzte er seine Chronica durchaus, um auf die in seinen Augen unhaltbare Lage der estnischen Unterschichten, aus denen sich seine Gemeinde ja zusammensetzte, aufmerksam zu machen. Hierbei nimmt, wie nicht anders zu erwarten, der Aspekt der Versorgung < der Esten mit Pastoren die erste Stelle ein. Hierin darf jedoch - um dies in Parenthese einzufügen - nicht unbedingt ein entscheidender Hinweis auf die estnische Herkunft des Pastoren gesehen werden. Die Unterweisung der Unterschichten im christlichen Glauben kam in Rüssows Sicht einer Garantie des sozialen Friedens gleich. Heftig geht er daher mit der Ausbildungssituation für junge Geistliche ins Gericht,

49 50

platz schreibt der Chronist die Eskalation der Gewalt zu. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 105b / S. 125; Brüggemann: Russen in Livland (Anm. 9), S. 267. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 78a / S. 96. Linde: Gesprech (Anm. 28), S. 74.

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wobei autobiographische Elemente unverkennbar eingeflossen sind. Da »der Kercken vnde Scholen [...] nicht groth geachtet« worden sei, standen »vele Kercken binnen Landes [...] wöste vnde gantz vorfallen« und waren »mit Pastoren vnuersorget«.51 Und wenn sich doch ein Prediger für die Esten gefunden hätte, sei es »gemeintlick ein Vthlender« gewesen, der in »der Vndüdeschen sprake vnerfaren« war. Hierin sah Russow schließlich einen der Gründe dafür, daß die estnischen Bauern »allewege vth der Kercken gebleuen [seien], vnde sick tho der Lodderye gewennet« hätten.52 Lobend erwähnt er einzig »etlike vam Adel«, die auf ihren Höfen »in betrachtinge erer armen Buren Selen Heil vnde salicheit« auf eigene Kosten Pastoren in estnischer Sprache predigen ließen.53 Den Mißstand, daß es in Livland keine höhere Schule gab, konnten diese lokalen Maßnahmen allerdings auch nicht ändern, und Rüssow wußte aus eigener Erfahrung, wie kostspielig es war, im Ausland zu studieren. Daher mußte es ihm als Vertreter der Revaler Elite vor allem auch in Hinblick auf die politische und soziale Stabilität der Stadt ein Anliegen sein, für eine Verbesserung dieser Situation einzutreten. Russows möglicher estnischer Hintergrund dürfte in dieser Hinsicht angesichts seiner fortgeschrittenen Assimilation in die deutsche Oberschicht von geringerem Einfluß gewesen sein. Aber es gibt in der Tat wenig Zeugnisse aus der Revaler Vergangenheit, in denen den Esten derartig viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, wie in Rüssows Chronica. Rüssows Interesse für die Esten seiner Gemeinde wird auch aufgrund seiner Anteilnahme am Schicksal der vor allem von Fischern bewohnten Revaler Vorstadt Fischermay deutlich.54 So berichtet er, daß 1570 die »auer twe hundert Waninge« der Fischermay von den Revalern selbst niedergebrannt worden waren, um den heranrückenden russischen Truppen Ivans IV. keine Deckung bzw. Nahrung zu gewähren. Besonders trifft ihn natürlich die Zerstörung der Kirche, die erst 1544 errichtet worden war und 1571 »wowol ane noedt« von den Revalern niedergebrannt wurde.55 Vier Jahre später, die »Waninge« mögen gerade wieder aufgebaut worden sein, klagt Rüssow erneut, die Revaler »deden sick groten schaden ane nodt«, da sie die Vorgärten, Scheunen, »dartho aller Fischerlüde waningen« abbrachen bzw. in Hast niederbrannten.56 Doch wollen auch diese Passagen nicht so recht in das Bild eines eifrigen Streiters für die national unterdrückten Esten passen. Erneut geht es ihm 51

Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. Hb-IIIa / S. 5. Ebd., Bl. 32b / S. 44. 53 Ebd., Bl. 34b / S. 46. 54 Zur Fischermay vgl. Johansen, zur Mühlen: Deutsch (Anm. 1), S. 127-139. Die Fischermay gehörte zu Rüssows Heiliggeist-Gemeinde (ebd., S. 134). 55 Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 75a-75b / S. 91-92; Johansen, zur Mühlen: Deutsch (Anm. 1), S. 137. 56 Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 89a / S. 106. 52

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in erster Linie darum, daß die »Reueischen« sich mit ihren Handlungen selbst schaden: Das Wohl seiner Heimatstadt geht ihm über alles. Ähnliches gilt für Rüssows Schilderungen der Teilnahme der Esten an den Kampfhandlungen. Als es 1576 einem Trupp von »50 Loßdryuers van Undüdeschen« gelang, den vor der Stadt lagernden tatarischen Einheiten Ivans IV. einige Pferde zu rauben, erfährt der Leser aus einer Nebenbemerkung, daß »de meysten van en [...] ere leuetage nicht eines Perdes here gewesen« seien. Hieran schließt Rüssow keine Klage über die Besitzverhältnisse an, sondern folgert nur, daß die Lostreiber bei größerer Erfahrung mit Pferden zum Wohle der belagerten Stadt womöglich alle tatarischen Reittiere hätten rauben können. Seine Beobachtung, daß angesichts des Erfolges der estnischen Lostreiber sich einige Deutsche zu einem ähnlichen Streich herausgefordert sahen, bestätigt zumindest eine gewisse Sensibilität für das deutsch-estnische Zusammenleben.57 Populärster estnischer Kriegsheld Revals ist zweifellos dank der Chronica - Ivo Schenckenberg respektive »Hanibal«, »eines Müntemeisters sön van Reuel«, der mit 400 harrischen Bauern in Rüssows Worten nichts so sehr begehrte wie »alle dage vnd nacht mit den Rüssen tho schermützelen«. Geradezu liebevoll und mit mehr als nur unterschwelliger Sympathie ist Rüssows Schilderung des Einsatzes von Schenckenbergs Trupp zum Schutz der Häuser vor Feuerbällen: Do sint de Kerls gantz lustich geworden, vnde hebben sick mit den Fürbällen dach vnde nacht geyaget, gelick alse de Knaben mit den Küselen vp der Straten, dat manniger, de bedröuet vnde trurich was, sich darauer erquicken vnde lachen möste.58

Dieses Lob für die irregulären estnischen Truppen forderte den Anspruch der Deutschen auf das Gewaltmonopol heraus und dürfte dementsprechend kritisch aufgenommen worden sein. Auch Rüssow berichtet, daß es »von wegen des Buren Kryges [...] eine scharpe Disputation« in Reval gegeben habe.59 Das Geheimnis dieses Trupps lag für Rüssow in erster Linie darin, daß Schenckenberg »syn bürisch krygesvolck [...] na düdescher ordeninge vnde gebruke affgerichtet« hatte. Aus dieser Episode läßt sich zumindest eine große Akzeptanz der Esten in weiten Kreisen der Einwohnerschaft herauslesen, so lange ihre Aktivitäten im Interesse der Stadt lagen.60 Andererseits scheinen sich die harrischen 57 58 59 60

Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 94a / S. 112. Ebd., Bl. 9 7 b / S . 116. Ebd., Bl. 122a- 122b / S. 142-143. Als die unmittelbare Gefahr für Reval vorbei war, konzentrierten sich die Bauernkrieger mit ihren Aktionen auf die eigenen Leute und begannen, die feindlichen Truppen zu ignorieren. Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 122b-123a / S. 142-143; Urban: Nationality (Anm. 16), S. 166-167.

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Bauern Schenckenbergs angesichts des gemeinsamen Feindes problemlos mit der Sache Revals - und damit mit Rüssows Credo - identifiziert zu haben. Ungeachtet dessen war die Annäherung der Stände, die sich als Ergebnis des Krieges, aus sozialer und wirtschaftlicher Not ergeben hatte, für Rüssow in moralischer Hinsicht eine Katastrophe. Besonders erregte ihn beispielsweise, daß junge Adelige nun unter einem Bauern hätten dienen müssen, den sie »in der guden tydt, so ehren werdt nicht geachtet hebben, dat se by em sitten edder gahn scholden«, daß »etlicke Junckfrouwen vam Adel vnde Börgers Döchter van vörnemsten Geschlechtern« aus drängender Not die Heirat mit »veel geringeren« eingegangen seien und daß »etlicke Frouwens vam Adel« sich nun plötzlich mit Arbeiten hätten abgeben müssen, die »ere Megede in der guden tydt sick wol vor entsehen hadden«.61 Wären nationale oder gar sozialrevolutionäre Kriterien Rüssows primäre Intentionen gewesen, hätte er diesem Angleichungsprozeß sicher etwas Positives abzugewinnen gewußt. So sieht er in erster Linie die Erschütterung für die alte Ordnung, die der Krieg mit sich brachte. Eine Zerrüttung der sozialen Verhältnisse, die er nur zu dem Zweck thematisiert, um erneut die »Nakömelinge« zu warnen: Damit sich dies nicht wiederhole, dürften die christlichen Lehren nicht vergessen werden. Und so sehr der Krieg im Rahmen von Pastor Rüssows Weltbild »gerecht« und daher zu rechtfertigen war, lehnt sich der Chronist an manchen Stellen gegen den Pastoren auf. Der Krieg schadet der Verbreitung der christlichen Lehre und beläßt das Volk in seiner traditionellen heidnischen Vorstellungswelt. Mehr noch, er schadet den Menschen ganz allgemein, in ihm werden nicht nur die Russen zu »Bestien«, und der Chronist beklagt hilflos das massenhafte Leid. Helfen kann nur ein Gebet - und, dies das Anliegen der Chronica, eine bessere Lebensführung der Menschen, vor allem der Obrigkeit. Genau hierzu mahnen auch die Alltagshistörchen, mit denen Rüssow seinen Text >würzt Bonbons < verstanden werden, sondern in erster Linie als moralischer Zeigefinger des Predigers von der Kanzel: so nicht! Diese Trennung in den Chronisten und den Prediger darf jedoch nicht absolut gesetzt werden. Der oberste Richter der Menschen ist immer »Gad der Allmechtige«, der letztlich auch dem Geschichtsschreiber die Feder führt. Die Geschichte ist so eingerichtet, wie es Gott beliebt: Niemand darf vergessen, wer der alleinige »nothelper« ist.62 Gottes Gnade ist die Rückversicherung der > gerechten < Geschichte wie des > gerechten < Kriegs, dies zeigt das Schicksal Revals. Die Rolle der Stadt ist zentral, was ein weiterer eminent politischer Aspekt der Chronica verdeutlicht. Ihre dritte Auflage von 1584 ist eine zielgerichtet positive 61 62

Rüssow: Chronica (Anm. 7), Bl. 123a- 123b / S. 143-144. Ebd., Bl. 9 5 b / S . 114.

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Darstellung der Politik Revals während des Livländischen Krieges. Der Pastor als Chronist schrieb Regionalgeschichte mit dem Anspruch, ihren Ablauf nicht nur nach theologischen, sondern auch nach weltlichen Maßstäben zu legitimieren. Die 1583 verfaßte Vorrede zum vierten Chronikteil, der dem Magistrat Revals gewidmet ist, läßt die tiefe Bindung Russows zu seiner »leven Landstadt« ahnen. Reval wird hier zur »Muer vnde Vorborch« der Christenheit an der Ostsee erklärt, die zu einer »thoflucht vnde trost aller vndergedruckeden, Elenden vnde trostlosen in Lyfflandt« geworden sei.63 Nach Rüssows Interpretation war es ein Beweis für die Gnade Gottes, daß Reval Standfestigkeit bewies und dem Aggressor trotzte: Weder Ivan Groznyjs Truppen noch die Pest konnten die Stadt zur Aufgabe zwingen. Da nur eine gute Obrigkeit sich der göttlichen Fürsorge sicher sein konnte, hatte somit der Revaler Rat die Widmung der Vorrede >verdientLiterarisches Leben in Reval 1600-1657 Erfassung und Erschließung von personalem Gelegenheitsschrifttum < unter der Leitung von Klaus Garber angelegt ist, fand sich in der Akademischen Bibliothek Lettlands in Riga (Latvijas AkadSmiskä Biblioteka) ein anonymer Einblattdruck, erschienen im Dezember 1635 bei Christoph Reusner in Reval. Das darauf zu findende DanckLied begrüßt die nach glücklich überstandenem Schiffbruch in Reval eintreffenden holsteinischen Gesandten Crusius und Brüggemann und ist unter Fortlassung der letzten beiden Strophen in Lappenbergs Ausgabe von Paul Flemings Deutschen Gedichten im vierten Buch der Oden unter der Nummer 31 (S. 368-369) abgedruckt. Offensichtlich übernahm Lappenberg den Text aus den Teütschen Poemata [1646], wo er zum ersten Mal wieder abgedruckt wurde, denn der Erstdruck war ihm nicht bekannt. Auch bei Dünnhaupt fehlt er.1 Zweifellos ist es der Anonymität des Erstdruckes zuzuschreiben, daß er bis heute keine Beachtung gefunden hat.2 Erst durch die nunmehr in Angriff genommene systematische Erforschung der Revaler Literatur jener Zeit konnte daher dieser textkritisch äußerst wertvolle Druck entdeckt und aus seiner bibliothekarischen Grabesruhe zu neuem Leben er1

Paul Flemings Deutsche Gedichte. Hrsg. von J. M. Lappenberg. Band I-II.Stuttgart: Litterarischer Verein 1865 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 82/83). Die Bibliographie ebd., Bd. II, S. 835-850. - D. Paul Flemings Teütsche Poemata.- Lübeck [1646] (Nachdruck: Hildesheim: Olms 1969). Hier abgedruckt als Oden IV, 33 (S. 457-458). Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Zweiter Teil: Breckling-Francisci.- Stuttgart: Hiersemann 1990 (= Hiersemanns Bibliographische Handbücher; 9/Π), darin die Fleming-Bibliographie auf S. 1490-1513. 2 Aus diesem Grund auch nicht erwähnt bei Klaus Garber: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch.- In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff.- Amsterdam: Rodopi 1988 (= Chloe; 7), S. 255-308.

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weckt werden. Wie so viele seiner Artgenossen der lange vernachlässigten > Gelegenheitspoesie < war er bis zu seiner Entdeckung nicht inventarisiert und folglich auch in den Katalogen der Bibliothek nicht nachweisbar.3 War der glückhafte Fund dieses Druckes schon aus diesem Grunde für den Forscher kaum möglich, so trug auch die lange Jahrzehnte über währende Geringschätzung der Gelegenheitsdichtung durch die Literaturwissenschaft ihren Teil dazu bei, daß dieser Druck nicht die notwendige Aufmerksamkeit erhielt.4 Das Plakat im Format 33,5 χ 26 cm liegt als einzelnes Blatt vor und enthält leider keine Hinweise auf Provenienzen. Lediglich ein Stempel der besitzenden Bibliothek ist zu erkennen, die Rückseite ist leer. Der Text des gesamten Druckes wird eingerahmt von einer Zierleiste aus Röschen, die unten zweifach gedruckt ist und damit dem Einblattdruck eine optisch eindeutige Ausrichtung durch den gewissermaßen > beschwerten < Fuß gibt. Der Titel ist zentriert als Kopftitel gesetzt und wird mit einem waagerechten Strich von dem eigentlichen Text getrennt. Der folgende Text des Liedes, der abwechselnd vom Chor der Sirenen und vom Chor der Satyren gesprochen (bzw. gesungen) wird, ist zweispaltig gesetzt und wird wiederum durch eine senkrechte Zierleiste aus Röschen voneinander getrennt. Unter einem waagerechten Strich findet das Impressum seinen Platz (vgl. Abb. 14). [Kopftitel:] Charis\ Oder| Danck=Lied| gegen Gott den Allerhöchsten/| An die Edlen/ Vhesten/ Großachtbarn vnd Wolfürnehmen Herren| H. Philipp Krusen/| der Rechten Licentiaten, vnd| H. Otto Brugheman/| Beyden Fürstl: Holsteinischen Hochbetrawten Rähten/ vnd der zeit hochansehnlichen| Abgesandten an den Großfürsten in der Moskaw vnd König in Persien/| Als dieselbten nach erlittenen hochschädlichen/ doch GOTT sey danck gnädigen Schiffbruch auff Hocheland/ vnd von| dannen in Revall nebenst jhrem gantzen Comitate/ wol angelanget. |

3

Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Akademischen Bibliothek in Riga, insbesondere Herrn Valdis Mazulis, danke ich herzlich für ihre freundliche Unterstützung! 4 Dazu ausführlich Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik.- Stuttgart: Metzler 1977. Die altlivländische Kasualpoesie wurde von Theodor von Riekhoff: Livländische Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert.- In: Baltische Monatsschrift 55 (1903), S. 255-276, noch mit den alten Negativurteilen charakterisiert, obwohl er eine kulturgeschichtliche Annäherung versuchte an dieses angeblich »unausrottbare Unkraut, das alle dichterischen Blüten zu überwuchern drohte« (S. 255): »Mag die ästhetische Kritik sich mit Recht voller Nichtachtung von diesem Zweige der Poesie abwenden, uns weht aus den vergilbten Blättern doch ein Hauch des alten livländischen Seins und Wesens entgegen; [...].« (S. 276).

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[Text:]

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Chor der Sirenen. Ο Himmel/ dieser danck ist dein/ Daß du hast mitten in den nöhten/ Die manchen nur mit dencken tödten/ Bey Vnglück heissen glücke seyn. Daß/ ob gleich ist das Schiff ertruncken/ Doch Gut vnd Seelen nicht versuncken. Chor der Satyren. Wer sind diese? Wer kömpt her Vber das erzürnte Meer? Vnd was hören wir vor Stimmen/ Dort/ wo Gut vnd Menschen schwimmen? Chor der Sirenen. Wir sindts/ wir Schwestern auff der Flut. Wir sind mit recht erfrewt auff heute/ Von wegen dieser grossen Leute/ Die noch behalten Geist vnd Gut. Von Hollstein her vnd jhnen kommet/ Was Euch vnd ewern Nachbarn frommet.

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Chor der Satyren. Sie sindts/ die auch diese Last/ Tragen wegen vnsrer Rast. Wir mit vnserm Satyrissen Wollen gleichsfals sie begrüssen.

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Chor der Sirenen. Ihr/ die Ihr vnsre Schwestern seyd Auff Caspis jhren frembden Wellen/ Laßt alles sich zu Glücke stellen/ Verbietet allen Sturm vnd Leid/ Auff daß sie vom Bahuverstrande Mit besserm muhte gehn zu Lande.

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Chor der Satyren. Wol sey jhnen! Wol allein/ Weil Pan vnser Herr wird sein. Weil wir in den Püschen leben/ Sol sie Hochland hoch erheben.

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Chor der Sirenen. Wir weichen nicht/ wir bleiben hier/ Wir warten hier mit dem verlangen/ Biß daß sie wird das Land empfangen/ Das jhrer wartet mit begier. Biß daß wir in die künde kommen/ Das Kunde sie hab' auffgenommen. Beyde Chöre Der Sirenen vnd Satyren, zugleiche. Jauchtzt jhr Wellen! Schreyt jhr Klüffte/ Rufft jhr abgeheilten Lüffte: Lange lebe dieses Paar! Vnd des Paares gantze Schaar!

[Impressum:] Revall/| Druckts Christoff Reusner. M. DC. XXXV. Im Decemb. | VARIANTEN: 5 Titel: Als die Fürstl. Holst. Gesandten nach| erlittenem Schiffbruche auff Hoheland| angekommen. | m. de. xxxv. den November. | TP Als die Fürstl. Holsteinischen Gesandten nach erlit-| tenem Schiffbruche auf Hoheland angekommen.| MDCXXXV, den 9. November. | L Z. 2 Himmel/ Ε Himmel TP Himmel, L danck Ε Danck TP Dank L 3 Daß Ε daß TP, L nöthen Ε Nöthen TP Nöten L 4 Die Ε die TP, L dencken Ε dencken TP Denken L tödten E, TP töten L 5

Verglichen wurde der vorliegende Erstdruck (E) mit dem Abdruck in Flemings Teütsche Poemata (Anm. 1) (TP) und bei Lappenberg: Paul Flemings Deutsche Gedichte (Anm. 1) (L). Da Lappenberg die alte Virgel (/) grundsätzlich durch ein Komma ersetzt, wird eine Veränderung der Interpunktion nur angezeigt, wenn ein qualitativer Wechsel vorliegt. Die im Erstdruck vorhandene Schreibung in Antiqua bei romanischen Namen wird mit Kursive wiedergegeben. Sie fallt bei den Chorüberschriften (Sirenen bzw. Satyren) in TP und L komplett weg und wurde daher nicht einzeln vermerkt. Ebenfalls nicht einzeln vermerkt wurde die in TP bereits konsequent durchgeführte Veränderung der im Erstdruck für den anlautenden Vokal u gesetzten Graphie bzw. zu bzw. . Die nur bei TP auftretende Verdoppelung des >m< durch den Überstrich mußte aus technischen Gründen mit Unterstreichung gekennzeichnet werden.

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Bey Ε bey TP bei L Vnglück Ε Unglück TP Unglück' L heissen Ε, TP heißen L glücke Ε Glücke TP, L seyn. E, TP sein, L Daß Ε Diß/ TP diß, L ob gleich E, TP obgleich L ertruncken E, TP ertrunken L Doch Ε doch TP, L versuncken. E, TP versunken! L kömpt Ε kömt TP kömmt L Vber Ε über TP, L vor Ε fur TP, L Stimmen/ E, TP Stimmen L Dort/ Ε dort TP dort, L schwimmen Ε schwimen TP schwimmen L sindts Ε sinds TP, L auff E, TP auf L recht E, TP Recht L erfrewt Ε erfreut TP, L auff E, TP auf L heute/ E, TP heute L Von Ε von TP, L grossen Ε großen TP, L Die Ε die TP, L HollsteinE, TP H o l s t e i n L her Ε her/ TP her L jhnen Ε ihnen TP, L Was Ε was TP, L Euch Ε euch TP, L ewern Ε euren TP, L frommet Ε fromet TP frommet L sindts Ε sinds TP, L Last/ E, TP Last L Tragen Ε tragen TP, L vnserm Ε unsern TP, L Satyrissen Ε Satyrissen TP, L Wollen Ε wollen TP, L gleichsfals Ε gleichsfalls TP, L begrüssen E, TP begrüßen L die Ihr £ die ihr ΓΡ, L seyd E, TP seid L Auff Ε auff TP auf L Caspis Ε Kaspis TP K a s p i s L

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jhren Ε ihren TP, L frembden Ε fremden TP, L 28 Laßt Ε laßt TP, L alles E, TP Alles L stellen/ Ε stellen; TP stellen, L 29 Verbietet Ε verbietet TP, L Leid/ Ε Leid. TP Leid, L 30 Auff E, TP auf L BahuverstrandeΕBahuver=strande 7 P B a k u v e r s t r a n d e L 6 31 Mit Ε mit TP, L muhte Ε Muhte TP Mute L Lande. E, TP Lande! L 33 jhnen Ε ihnen TP, L 34 Weil Ε weil TP, L seyn. E, TP sein! L 36 Sol Ε soll TP, L Hochland E, TP H o c h l a n d L erheben. E, TP erheben! L Z. 3 7 - 5 0 fehlen in TP und L

I. D a s Ereignis: E i n S c h i f f g e h t unter Auf ihrer Reise nach Moskau und Persien gelangte die von Philipp Crusius und Otto Brüggemann geführte holsteinische Gesandtschaft über Riga und Dorpat am 3. Januar 1634 nach Narva. 7 Paul Fleming wurde

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Lappenberg: Paul Flemings Deutsche Gedichte (Anm. 1) weist in den Anmerkungen (S. 751) daraufhin, daß seine Konjektur im Gegensatz zu allen Ausgaben steht und verweist zugleich auf PW. IV, 47: »Als die Holsteinische Gesellschaft von Astrachan abschiffte.« (10.10.1636), wo es in Vers 55-56 heißt: »[...] Wir kommen auf Bachu,| auf Derbent, auf Gilan und wo wir denken zu.« 7 Grundlegend zur Gesandtschaftsreise immer Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse.- Schleswig: Holwein 1656 (Nachdruck: Tübingen: Niemeyer 1971) und das im Nachdruck enthaltene umfangreiche Nachwort von Dieter Lohmeier. Daneben auch Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg.- Leipzig: Reclam 1989 (= Reclams Universal-Bibliothek; 1316); Friedrich Kochwasser: Die holsteinische Gesandtschaftsreise 1633/1639.- In: Mitteilungen des Instituts für Auslandsbeziehungen 10 (1960), S. 246-255; J. Boubrig: Einige Erlebnisse der Schleswig-Gottorpschen Gesandtschaft nach Persien auf ihrer Fahrt nach Reval im Jahre 1635.- In: Das Inland 23 (1858), Sp. 529-533; Albert Bornemann: Paul Fleming. (Veranlassung zu seiner Reise. Seine Gelegenheitsdichtung).- Programm Stettin 1899; Michail P. Alekseev: Ein deutscher Dichter im Novgorod des 17. Jahrhunderts.- In: ders.: Zur Geschichte russisch-europäischer Literaturtradition. Aufsätze aus vier Jahrhunderten.-

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von hier bereits am 28. Februar mit einem Teil der Gesandtschaft nach Novgorod vorausgeschickt, während man auf eine schwedische Gesandtschaft wartete. Weil die Verpflegung in Narva nicht mehr gewährleistet werden konnte, mußten die Holsteiner vom 3. April bis zum 15. Mai nach Reval ausweichen und kamen auf diese Weise erstmals mit jener Stadt in Berührung, die in der Geschichte der Gesandtschaftsreise eine zentrale Stellung einnehmen sollte. Von hier ging die Reise dann zunächst zum russischen Zaren Michael Fedrowitz in Moskau, um die Genehmigung zur Durchreise zu erhalten. Am 24. Dezember 1634 verließ die Gesandtschaft Moskau, jedoch mußte nach dem Willen des Zaren erst die Bestätigung der Vereinbarung durch den holsteinischen Herzog Friedrich III. eingeholt werden. So reisten Crusius und Brüggemann mit einem Teil der Gesandtschaft aus dem am 10. Januar 1635 erreichten Reval zurück nach Gottorf, während etwa zwei Drittel des >ComitatsMuscowitischen vnd Persischen Reise< von Adam Olearius und Paul Fleming.- In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 8. bis 13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hrsg. von Xenja von Ertzdorff unter Mitarb. von Rudolf Schulz.- Amsterdam: Rodopi 2000 (= Chloe; 31), S. 315-344.

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im Abfuhren desselben angewendet/ etwas verfangen wolte. Da wurde abermahl ein groß Geschrey gemachet und geruffen/ daß/ wer sein Leben erretten wolte/ auffstehen/ und sich oben auffs Schiff begeben solte/ es wäre grosse Not verhanden: Und Hesse sich alles zu einem gefährlichen Schiffbruche an. Wie uns da abermahl zu muhte war/ ist leicht zuerachten. Man ließ zwar das Ancker wieder fallen/ aber das Schiff war schon allzunahe an den Strand/ ohngefehr biß 30. Faden/ getrieben. Das Schiffboet ward in eyl aus= und die Gesandten zu erst ans Land gesetzet/ hemach unser etliche. Mitlerweile erreichte das Schiff die grossen Steine/ deren der gantze Strand voll lag/ und stieß auff dieselbe mit grossem Ungestüm und Krachen/ daß die übrigen im Schiff vermeyneten/ es würde dasselbe alsobald in kleinen stücken zerscheitert/ und sie alle ersäuffet werden. [...] Und eben umb dieser Ursachen willen/ wurden unser etliche aus dem Boete ins Wasser biß an die Hüfften gesetzet/ daß wir zwischen den Steinen vollend heraus waden musten. In dem ich im Wasser stund/ und des Gesandten Brüggemanns Schattul/ so von kostbaren Sachen ziemlich schwer/ zugleich mit ausgeworffen ward/ und die Wellen dasselbe wieder Seewerts ziehen wollten/ ergriff ich solches/ wiewol wegen einer newlich ausgestandenen grossen Kranckheit mit schwachen Händen/ Unser Medicus aber erhaschte mich wiederumb beym Rocke/ und ward also eins von dem andern aus den Wellen/ welche offte über uns hinschlugen/ ans Land gezogen. Als das Schiffsvolck sähe/ daß das Schiff nicht länger zu erhalten war/ löseten sie das Ancker=Tau/ in hoffnung das Schiff wurde näher ans Land gesetzet/ und also von den Wellen nicht mehr erhaben und auff den Grund gestossen werden: Halff aber nichts/ weil der Sturm zu hefftig/ sondern nachdem es eine gantze Stunde auff den Steinen gearbeitet hatte/ zerbrach es/ und sanck zu Grunde. Die andern Völcker wurden gleichwol zuvor noch außgesetzet. 8 S o war die Gesandtschaft auf der Insel gestrandet und k a m zunächst in einigen Fischerhütten unter. A m 13. N o v e m b e r konnte Johann Christoph v o n Uchteritz mit e i n e m inzwischen angelangten finnischen B o o t nach Reval vorausgeschickt werden, u m die Nachricht v o n der Rettung z u überbringen, denn man glaubte dort bereits, das S c h i f f sei >mit Mann und Maus< untergegangen. D i e Gesandten mit den übrigen Schiffbrüchig e n folgten erst a m 17. N o v e m b e r und begaben sich zunächst nach Kunda, auf den H o f des Revaler Ratsherrn und späteren Schwiegervaters v o n Crusius und Olearius, Johann Möller. Hier verbrachte man drei Wochen, da fast alle nach der ausgestandenen N o t reihum erkrankten. Und weil/ wegen etlicher durch den Schiffbruch verdorbener köstlichen Sachen ergentzung/ in einer Stadt zu seyn uns bequemer fallen wolte/ haben wir uns nach der Stadt Reval erhoben/ seynd auch den andern Decembris allda glücklich angelanget. 9 D i e Ankunft in der Stadt, der Anlaß zu d e m vorliegenden Gedicht, muß also auf den zweiten Dezember datiert werden. D a Lappenberg den Text 8 9

Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung (Anm. 7), S. 76. Ebd., S. 81.

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nur aus den Teütschen Poemata [1646] kannte, mußte ihm entgehen, daß dieses Lied auf die Ankunft der Gesandten in Reval und nicht auf der Insel Hoheland geschrieben war. Die in den Teütschen Poemata zu findende Datierung auf den November 1635 ergänzte Lappenberg zwar richtig nach Olearius um das Tagesdatum, den 9. November,10 doch erst die Urfassung gewährt nun Einblick in den tatsächlichen Zusammenhang, der auch den Text in einem anderen Licht erscheinen läßt. Dieses Gedicht war nicht allein ein Produkt der Empfindung Flemings bei der Nachricht von der Errettung der Gesandten (diese Kunde hätte ihn ja außerdem auch wesentlich später erreicht!), sondern es wurde ganz konkret auf die Ankunft der Schiffbrüchigen in Reval geschrieben. Damit ist es ein Gelegenheitsgedicht im klassischen Sinne. Ob es Teil einer Begrüßungsfeierlichkeit gewesen ist, wie auch Lappenberg annimmt,11 kann heute nicht mehr mit Sicherheit gesagt werden, aber es ist doch anzunehmen, denn der Charakter des Textes als Wechselgesang scheint zumindest eine öffentliche Aufführung nahezulegen, und von Olearius wissen wir, daß die Stadt Reval die Zurückkehrenden gebührend gefeiert hat: Was unser zur See ausgestandenes Unglück für ein hertzliches Mitleyden bey der gantzen Stadt erwecket hatte/ ist aus der grossen Frewde und Frohlocken/ so sie nicht allein bey Ankunfft des voraus geschickten Johann Christoff von Uchteritz/ sondern auch hernach mit Dancksagung in den Kirchen/ und öffentlichen actibus gratulatoriis im Gymnasio zu erkennen gegeben/ genugsamb abzunehmen gewesen. 12

Die Bedeutung der Nachricht von der Errettung kann man kaum überschätzen, denn die in Reval Wartenden trugen sich, wie Olearius berichtet, bereits mit Überlegungen und neuen Plänen für die Zukunft - wähnte man doch nicht nur das Schiff mit den Gesandten gesunken, sondern auch das ganze Unternehmen damit geplatzt. Von daher muß die Überraschung und Freude überwältigend gewesen sein. Vermutlich bewirkte die den Revalern bereits vor Augen stehende Auflösung der Gesandtschaft auch die spätere enge Bindung vieler Gesandtschaftsteilnehmer an die Stadt durch Heirat oder Anstellung, denn was lag näher, als sich hier im friedlichen Estland, wo man so freundliche Aufnahme fand, weitab der Schauplätze des >Teutschen Krieges Sirenen christianisierte < Darbietung der bei Odysseus noch sehr blutrünstigen Sirenen. Eine oberflächlich naheliegende Deutung der Sirenen als > schlichte Meergöttinnen < greift an dieser Stelle zu kurz, denn das zeitgenössische Bedeutungsfeld war auch und gerade von den negativen Konnotationen Verführung, Laster, trügerischer Schein und todbringende Begierde geprägt.14 Freilich treten diese im Gedicht gegenüber den ursächlichen Eigenschaften (Schönheit und betörender Gesang) in den Hintergrund. Die Satyren, hier wie in der römischen Dichtung üblich als Gefährten des Pan mit den Faunen identifiziert15 und in den Büschen Hochlands le13

Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. 2., durchgesehene Auflage.- Tübingen, Basel: Francke 1993 (= UTB; 1732). Die Form der > Satyren (-Strophe hat bei Frank Nr. 4.45 bzw. mit Wechsel der Kadenz Nr. 4.51. 14 Vgl. Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. von Arthur Henkel und Albrecht Schöne.- Stuttgart: Metzler 1967, Sp. 1697-1699. 15 In der antiken Mythologie allgemein als niedere Feld- und Waldgottheiten angesehen, gibt es zahlreiche Bedeutungsnuancen. Vgl. E. Kuhnert: Satyros und Silenos.- In: Ausfuhrliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Hrsg. von W. H. Roscher. Bd. IV.- Leipzig: Teubner 1909-15, Sp. 444531, sowie als komprimierten Überblick den Artikel »Silenos und Satyros« von A. Hartmann in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung [...], hrsg. von Wilhelm Kroll und Karl Mittelhaus. Zweite Reihe, fünfter Halbband.- München: Druckenmüller 1927, Sp. 35-53. - Benjamin Hederich: Gründliches mythologisches Lexikon.- Leipzig: Gleditsch 1770 sagt von ihnen: »Sie waren Götter der Wälder, Berge und Fei-

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bend, haben die Stimmen der Sirenen gehört und fragen, wer dort sei. Daraufhin geben die Sirenen sich zu erkennen und erklären ihre Freude über die Rettung dieser bedeutenden Menschen, die dem Lande Gutes bringen. Weil die Satyren - verstanden als Bewohner dieser Landstriche - geruht haben oder noch immer ruhen, nehmen die Schiffbrüchigen in den Augen der Satyren »diese Last«, die Reise mit allen Unannehmlichkeiten und Gefahren, auf sich. Vielleicht darf man diese Aussage handelspolitisch interpretieren, denn in Reval beklagte man seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einen steten Niedergang des Fernhandels, der die wirtschaftliche Grundlage der Stadt bildete.16 Daher wurde die handelspolitische Initiative des Holstein-Gottorfschen Herzogs gewiß begrüßt, denn sie hatte unter anderem zum Ziel, den Fernhandel mit Persien über Estland zu fuhren.17 Die Satyren reihen sich dann mit ihrem bzw. ihren »Satyrissen« zur Begrüßung ein. - Der in den Ausgaben nunmehr feststellbare Unterschied bezüglich des grammatischen Geschlechts verlangt nach Erklärung. Lappenberg deutet die »Satyrissen« als weibliche Satyren und merkt gleichzeitig an, daß die Antike solche nicht kannte.18 Diese Interpretation liegt nahe, wenn man die Satyren als Bewohner dieser Landstriche, ja als Revaler deutet. »Satyrissen« ist jedoch nur bei Fleming in diesem Gedicht zu finden; es handelt sich also sicherlich um eine Erfindung Flemings. Der nun vorliegende Erstdruck präsentiert allerdings ein anderes grammatisches Geschlecht und zeigt durch die Antiqua/FrakturUnterscheidung die vermeintlich weibliche Plural-Endung (-ssen) als deutsche Endung eines romanischen Stammes. In dieser Erscheinungsform liegt es nahe, »Satyrissen« als Tätigkeit zu deuten: Die lustige

der, allein von dermaßen unkeuscher und geiler Art, daß sich weder Nymphe, noch ander Frauenvolk, sicher vor ihnen durfte sehen lassen.« (Sp. 2170). 16 Will man diese Interpretation weiter treiben, dann wäre die Deutung der Satyren speziell als Land- und Feldbewohner, also als (estnische) Bauern, anzunehmen. Da diese jedoch in Leibeigenschaft zu ihren Grundherren standen, trifft der Vorwurf der >Rast< zweifelsohne auch die überwiegend adeligen Gutsherren, denn diese - und nicht die estnischen Bauern - waren es, die den Handel aktiv gestalten konnten. Freilich saßen die Großkaufleute als Bürger in der Stadt, so daß auch deren Verantwortung für Handel und Wirtschaft nicht geleugnet werden kann. Insofern erscheint eine Deutung der Satyren als > Bewohner Estlands < schlüssiger. 17 Vgl. Arnold Soom: Die Politik Schwedens bezüglich des russischen Transithandels über die estnischen Städte in den Jahren 1636-1656.- Tartu: Öpetatud Eesti Selts 1940 (= Commentationes Litterarum Societatis Esthonicae; 32) sowie ders.: Der Handel Revals im 17. Jahrhundert.- Wiesbaden: Harrassowitz 1969. 18 Lappenberg: Paul Flemings Deutsche Gedichte (Anm. 1) S. 751. Auch in Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften und in Grimms Deutschem Wörterbuch nicht nachgewiesen!

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Schar der Satyren verübt Streiche und dergleichen unnütze, aber heitere Heldentaten19 - hier also zur Begrüßung der Gäste. Da der Text keine weiteren Hinweise liefert, muß diese Frage wohl letzten Endes unentschieden bleiben. Ob die Veränderung vom Erstdruck zum Abdruck in den Teütschen Poemata [1646] beabsichtigt war und von wem sie stammt, ist leider nicht mehr ohne weiteres zu klären. Das in allen folgenden Abdrucken erscheinende »unsern Satyrissen« folgt offensichtlich jedenfalls dem Abdruck in den Teütschen Poemata ohne Kenntnis des Erstdrucks. In der folgenden Strophe bitten die Sirenen ihre Schwestern im Kaspischen Meer, die Reisenden auf der Weiterfahrt nach Persien zu beschützen, damit diese am Strand von Bakuje (am Kaspischen Meer) wohlbehalten an Land gehen können. Die Satyren wünschen >WohIGedancken über die ZeitHertrauft< wiedergegeben. - Caspar Hertranft stammte aus Zittau und wurde gemeinsam mit Fleming, allerdings für das Fach Jura, in Leiden am 29.10.1639 immatrikuliert; auch wohnten sie beide bei »Joufvr. de Vries«. Ihm ist das dritte Buch der Manes Glogeriani gewidmet, und von ihm stammen die lateinischen Verse unter Flemings Kupferporträt, das erstmals mit den TP ausgeliefert wurde. Vgl. Lappenberg: Paul Flemings Deutsche Gedichte (Anm. 1), S. 892. Die bisher ausführlichsten Informationen über Hertranft, der in den einschlägigen biographischen Lexika fehlt, bei Entner: Paul Fleming (Anm. 7), S. 527-530. 31 Bomemann: Die Überlieferung (Anm. 24), S. 15. 32 Ebd., S. 17.

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Belege kritisiert, so bemühte Bornemann sich hauptsächlich, die Kritikpunkte Lappenbergs zu widerlegen und von den Abdrucken direkt auf das Manuskript Flemings zu schließen.33 Aus der Vorrede der Teütschen Poemata ist jedoch nur bekannt, daß Fleming sich bemühte, seine Gedichte »so viel Er derselben noch bey sich gehabt/ aus dem ersten Concept ins reine zu schreiben/ ufi in eine gewisse Ordnung zu fassen/ [...]«, um sie schließlich drucken zu lassen.34 Für die Ausgabe wird dann lediglich festgehalten, daß mit ihr »nunmehr alle deß Sei. D. Flemingij verhandene Deutsche Poemata, wie Sie/ derselbe ordentlich disponieret, [...]« an die Öffentlichkeit gegeben werden.35 Lediglich die Anordnung der Texte ist also unbestreitbar von Fleming selbst, darüber hinaus kann man davon ausgehen, daß der Dichter einen großen Teil seiner Gedichte im Manuskript für die Edition vorbereitet hatte; aber gar die ganze Edition, also alle Gedichte? Das ist kaum vorstellbar, denn Fleming dichtete ja unermüdlich bis zu seinem Tode und mußte in Leiden auch seine medizinische Doktorarbeit verfassen. Gewiß trafen nach dem Bekanntwerden von Flemings Tod auch noch die einst verschenkten und bereits fur die Edition angeforderten Gedichte ein. Schließlich aber bleibt doch die Frage, wer den Weg vom Manuskript zum Druck begleitet hat und auf welche Weise er dies tat. Wie zu sehen ist, mangelt es an einer systematischen Untersuchung der Teütschen Poemata, die uns genauere Aufschlüsse über den Charakter der Edition insgesamt liefern könnte. Erst ein umfassender Vergleich der Erstdrucke mit dem Abdruck in den Teütschen Poemata kann uns weiterhelfen bei der entscheidenden Frage, ob Fleming die - wie man am vorliegenden Beispiel sieht - nicht unerheblichen Veränderungen am Text selbst vorgenommen hat. Glücklicherweise besitzen wir mit der Wolfenbütteler Handschrift eine von Fleming selbst gestaltete Editionsvorlage für die lateinischen Gedichte.36 Die dort anzutreffenden Grund33

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Marian R. Sperberg-McQueen ist völlig zuzustimmen, daß Bornemanns Ausfuhrungen »at times consist more of heat than of light«; dies.: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History.- Chapel Hill, London: University of North Carolina Press 1990 (= Studies in the Germanic Languages and Literatures; 110), S. 7. Flemings Teütsche Poemata (Anm. 1), Vorrede Bl. )(6v. Ebd., Vorrede Bl. )(7r. HAB Wolfenbüttel, Sign. 234 Gud. lat. - Die eindeutig als Druckvorlage gedachte Handschrift ist nicht von Fleming selbst, sondern von Abschreibern geschrieben, jedoch allem Anschein nach vom Autor korrigiert worden. Vgl. Paul Flemings lateinische Gedichte. Hrsg. von J. M. Lappenberg.- Stuttgart: Litterarischer Verein 1863 (= Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 73), S. 4 7 6 - 4 8 0 sowie jetzt einschlägig: Heinz Entner: Die Paul-FlemingWerkhandschrift der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel.- In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 17 (1990), S. 73-82. Eine eigenhändige Gedichtsammlung von Fleming befindet sich in Zwickau: Marian R. Sperberg-

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sätze und Eigenarten mit der Editionsweise in den Teütschen Poemata zu vergleichen, würde ebenfalls sehr aufschlußreich sein. Solange solche Untersuchungen nicht durchgeführt wurden, kann die Textgestalt des Erstdruckes nur als gleichberechtigte Fassung neben diejenige in den Teütschen Poemata [1646] gestellt werden, und dieser Befund ließe sich gewiß für viele weitere Gedichte Flemings in ähnlicher Weise konstatieren.37 Hier zeigt sich exemplarisch, welche Arbeit in Verbindung mit der immer wieder geforderten neuen Ausgabe von Flemings Gedichten zu tun ist und welch reiche Erkenntnisse dadurch zu erwarten sind. Die im Rahmen einer solchen Ausgabe anzustellenden Textvergleiche sind gleichzeitig die Grundlage für wichtige Fortschritte in der Kenntnis Paul Flemings, dem unbestritten größten deutschen Barocklyriker. Viele Einzelstudien sind seit Lappenbergs Ausgabe erschienen, die immer wieder die Unzulänglichkeiten der vorhandenen Editionen und damit auch der Interpretationen vor Augen geführt haben. Dabei liefert fast jeder neue Beitrag Ergänzungen oder Korrekturen zur Ausgabe Lappenbergs; der Forscher sieht sich einer kaum zu bewältigenden Masse von wichtigen Einzelinformationen gegenüber und droht ständig, schon Geleistetes erneut zu leisten oder zu übersehen. Eine unzulängliche Textkritik aber entzieht jeder Interpretation die Basis oder stellt sie zumindest infrage. Deshalb ist es höchste Zeit, nun endlich, fast 140 Jahre nach den Lappenbergschen Ausgaben, eine modernen Ansprüchen genügende historisch-kritische Gesamtausgabe von Flemings Werken zu beginnen.

McQueen: An autograph Manuscript of early Poems by Paul Fleming in the Ratsschulbibliothek in Zwickau.- In: Humanistica Lovaniensia 42 (1993), S. 402-450. 37 Vgl. etwa die Darbietung von Lesarten bei Garber: Paul Fleming in Riga (Anm. 2). Marian R. Sperberg-McQueen verglich in: Neues zu Paul Fleming. Bio-bibliographische Miszellen.- In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 174-183, und in: Paul Fleming. Α Report on a newly-found Poem and Imprints in Zwickau and Wroclaw.- In: Michigan Germanic Studies 12 (1986), S. 105-132, die Erstdrucke mit der Textgestalt in Lappenbergs Ausgabe und beendete ihren Aufsatz von 1986 bereits mit dem Wunsch nach einer neuen, modernen Ansprüchen gerechtwerdenden Edition der Werke Flemings (ebd., S. 128-129), den auch Klaus Garber: Paul Fleming in Riga (Anm. 2) S. 296 formulierte.

Klaus Garber

Das Erbe Opitzens im hohen Norden Paul Flemings Revaler Pastoralgedicht*

Flemings anspruchsloses kleines pastorales Stück, 1635 in Reval gedruckt und alsbald in Leipzig nachgedruckt, ist verfaßt zur Hochzeit des Professors für griechische Sprache am Gymnasium in Reval, Reiner Brockmann, und seiner Braut Dorothea Temme. Es handelt sich also um ein Epithalamium. Nur fünf Jahre nach Opitzens Schäferei von der Nymphe Hercinie liegt damit in der von Opitz begründeten prosimetrischen Form auch im Baltikum eine den Hochzeitern huldigende Prosaekloge mit eingelegten Versen vor. Der Typus selbst wird in Riga Nachfolge finden; der Flemingsche Erstling bleibt aber natürlich ein einzig dastehendes Juwel - und das nicht nur im Baltikum. Noch bevor das Werk selbst einsetzt, steht in Gestalt eines Sonetts eine »Zuschrifft An Braut und Bräutigamb«. (Bl. Alv) Ihr korrespondiert ein schlichtes sechstrophiges Lied zum Ausklang, nochmals mit den Wünschen für die Hochzeiter (Bl. C2r): Die Adressaten haben das erste und das letzte Wort, denn es handelt sich ja um ein Gelegenheitsgedicht. Entsprechend ist es die Aufgabe des einleitenden Gedichts, eine Gemeinschaft herzustellen zwischen den Hochzeitern und dem Dichter. Der vom Musengott Begünstigte weiß sich im Bunde mit »Dem Volcke/ wie Jhr seyd«. Volk, plebs - das ist gerade das Gegenteil vom Gelehrtentum des Hochzeiters, der vornehmen Abstammung der Braut. Der Dichter weiß natürlich um diese Spannung und kostet sie aus. Sie aber kehrt alsbald im Poetologischen wieder: Der Dichter schenkt den Hochzeitern »nichts hohes«, sondern Niederes, dem stilus humilis Verpflichtetes, eben Pastorales, nach der Rota Vergilii auf der untersten Skala der Gattungs-Hierarchie Angesiedeltes, das in Wahrheit doch reich des Kunstvollen, Gediegenen, Hintergründigen ist. Dem anspruchslosen Schäferdichter ist bewußt, daß er das Höchste, weil Dauerhafte zu spenden vermag: den poetischen Wunsch, der Flüchtigkeit des Tages enthoben, Memoria stiftend über die Zeiten hinweg; Gold, unvergängliches Gold spinnen die Parzen für die Liebenden - statt gewöhnlicher Seide. Im Zeichen Hymens hebt der Brauttanz an, und der Dichter ist nicht mehr als dessen Dolmetscher. Er ist es, der das hohe Lied des Findens, des ehelichen, des elterlichen Glücks singt. Und nicht anders zu Ende,

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nun in womöglich noch schlichteren Vierzeilern. Erneut ist der Musen Chor zur Stelle, um seine Stimme zu Ehren des Paares zu erheben, Zeit und Liebe gegeneinander stellend, das stets sich Wandelnde gegen das Unverbrüchliche. Die Sonne selbst möchte teilhaben am Glück der Liebenden, wo doch diese nichts mehr ersehnen als ihren Untergang. Sie werden Phöbus überwinden, Mann und Frau sein, bevor er sich erneut erhebt. Liebstes Paar/ seyd vnbetrübt. Liebt doch/ wie jhr habt geliebt. Seyd doch ewer/ wie ihr seyd/ Vnd verschmertzt den neid der zeit. (Bl. C2r)

Es ist die Sprache Paul Flemings, wie sie nur ihm zu Gebote stand: schlicht in der großen Tradition der Leipziger Liedkultur, sparsam im Einsatz der poetischen Mittel, einfallsreich in der inventio und doch nie gesucht, überspitzt, finessenreich; die Botschaft der Treue erscheint dezent poetisch umspielt. Der Dichter weiß sich im Vollbesitz seines Könnens und kann sich eben deshalb um so leichter zurücknehmen; der demonstrativ klassizistische Gestus Opitzens, des Lehrers, ist zu einem natürlichen von größter Anspruchslosigkeit fortentwickelt; nach dem illustren Vorgänger bedarf es nicht mehr des Herzeigens der Kunst. Dann setzt mit der Zeitangabe - Frühling, April - und der Ortsangabe - die Koppel vor den Toren der Stadt mit dem Blick auf die Ostseebucht - die Erzählung in Prosa ein; eben deshalb >Prosaekloge< ungeachtet der mannigfachen Verseinlagen. Pastorale Anlaßdichtung im Stile der Hercinie ist Ich-Erzählung; der eben noch Dichtende erscheint nun einsam und gedankenverloren im Freien. Pastorale Natur ist Stätte des Sinnens, des Erinnerns, des sich selbst Findens. Das ist die Chance der Gattung, daß sie Individualität zu ihrem Recht kommen läßt, so bei Sannazaro, so bei Opitz, so bei Fleming und eben allen, die die Gattung authentisch fortschreiben. Ein einzelnes und zugleich doch ein ständisches, der Korporation der Gelehrten zugehöriges Ich artikuliert sich. Der Lebensweg dieser Generation ist vom Krieg gezeichnet - auch das ein Grund für die immer wieder erfolgende Wahl der Gattung, war sie doch inmitten der römischen Bürgerkriege geboren worden. Wann wird der Dichter »zue den lieben meinigen« zurückkehren können, die er »voller kriegs=vnruhe vnd betrübnüß vor zweyen jähren verlassen muste«? Zwar »wie die sage gehet/ so hat der versöhnte Gott mein Meissen mit friedensaugen gnädiglich wieder angesehen/ aber die meinen müssen noch vnglückseelig seyn/ in dem/ daß sie solch seyn groß glücke leiblich nicht anschawen mögen.« (Bl. A2r) Ob deutlich wird, wie der Vergilsche Archetypos immer noch vorstellungslenkend gegenwärtig ist? Ein Gott hat dem Tityrus der ersten Ekloge Muße, Schutz, Frieden bereitet, während Meliboeus Krieg, Vertreibung, Entwurzelung der Existenz erleidet. Aus

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dem Vergilschen Gott Augustus wird in der humanistischen Bukolik der nachantiken Zeit der christliche - und wie es bei Fleming heißt: »versöhnte« - Gott. Sein Werk ist der Dresdener Akkord, der Separatfriedensschluß Sachsens mit dem Kaiser, der die Lage der Protestanten zumal im benachbarten Schlesien endgültig hoffnungslos werden ließ und auf den hier natürlich im Jahre 1635 angespielt wird. So ist die große Politik in der Pastorale präsent. Fleming macht da keine Ausnahme. Und doch ist auffällig, daß er es bei dem Anklang bewenden läßt. Die Gattung soll ihr Intimes, Privates, Zwiesprachehaftes wahren. Ihrer Aufgipfelung zum Organon von Politik und Regentenpanegyrik und Fürstenspiegel schiebt er alsbald einen Riegel vor. Sogleich ist das Thema der Reise erreicht, schon bei Opitz, der 1630 vor seiner Paris-Mission stand, lebhaft umkreist und nun bei Fleming auf seine Teilnahme an der Gottorfer Gesandtschaftsreise nach Rußland und Persien bezogen. So wie der versöhnte Gott Frieden über das geplagte Sachsen gebracht hat, so entriß ihn »ein geneigter verhängnüß« der Kriegsgefahr in der Heimat und vergönnte ihm vor zwei Jahren das Entweichen im Rahmen »dieser löblichen vnd der gantzen Christenheit ersprießlichen Reise«. (Bl. A2r) Die Pastorale ist ihrer Vergilschen Anlage gemäß auf Entdeckung und Stiftung von Sinn hin angelegt - was ihre christliche Adaptation ungemein begünstigte. Den eigenen Lebensweg nicht anders als den Gang der Geschichte noch einmal Gottes Ratschluß anheimgestellt zu wissen, ist unveräußerlicher Ausgangspunkt und unbezweifeltes Ziel des Dichter-Schäfers, der da ermutigt von seinem großen Vorgänger ins Freie aufgebrochen ist, »allda ich meine gedancken außlassen/ vnd jhnen desto mehr vnd freyer nachhengen köndte.« (Bl. A2r) Es macht den großen Reiz der von Opitz der deutschen Literatur gewonnenen prosimetrischen Gattung aus, daß sie die nämlichen Gegenstände in Prosa und Vers parallel zu behandeln gestattet. So gleitet die Erinnerung an die Gesandtschaftsreise zwanglos hinüber zur poetischen Feier der Freunde, denen Fleming auf ihr begegnete. Wo sie die rühmlichen, dem öffentlichen Wohl dienenden, der Christenheit zugute kommenden Taten vollbringen, da sorgt der Dichter für Verewigung im poetischen Wort, erinnernd, deutend, den Chiffren einer sinnvoll lenkenden Gottheit nachsinnend: HERR/ wer er auch wird seyn/ der etwas auff wird schreiben/ Das biß zum ende hin der grawen Zeit kan bleiben/ Das seinen Tod verlacht/ der wird auch zeigen an/ Was diß sey für ein werck/ das jtzo wird gethan/ Vnd wie/ und wer es thut. [...] (Bl. A2v)

Das ist natürlich Olearius, der da schon an seinem Werk der Persianischen Reißbeschreibung arbeitet. Einem zweiten Barclay gleich wird er die Gesandtschaftsreise läutern zum Epos in der modernen, d. h. in Pro-

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sa gefaßten Form. Aber selbstverständlich nimmt auch der vor den Toren Revals sich ergehende Dichter auf seine pastoral bescheidene, in Wahrheit episch komplementäre Weise an dem Memorialwerk teil. Er hat den Geburtstag des Gesandten Brüggemann im fernen Moskau zum Anlaß für ein großes Reisegedicht genommen, und die Rückkehr an die äußerste Grenze des deutschen Sprachraums im hohen Nordosten bietet ihm nun Gelegenheit, sein Poem eingebettet in die offene Form der Schäferei bei Christoph Reusner unter die Presse zu geben; noch im gleichen Jahr wird es auch im Herzen des alten deutschen Sprachraums, wird es auch im heimatlichen Sachsen in einem Druck von Gregor Ritzsch in Leipzig zu lesen sein. Und wenn es Auftrag des episch-heroischen Geschichtsgedichts der Moderne seit Barclay ist, den »lauf der Sachen« zu ergründen, so steht sein pastoral-poetisches Panegyrikon unter dem Stern des bukolischen Archegeten, dem es gelang, die Trias von Ekloge, Lehrgedicht und Epos zu formen, dahinter nicht zurück. Im Namen des Gottes auf Delos, im Namen Apollos tritt er erneut an, um die Namen zu verewigen, die das rühmliche Gesandtschaftswerk vollfuhren: Zuvörderst den des Gottorfer Herzogs Friedrich selbst, auf dessen und seiner Räte Betreiben die kühne und aufsehenerregende Unternehmung überhaupt in Gang gesetzt wurde und nun seinen Namen hinausträgt in die ferne Welt: Der thewre FRIEDRICH liebt den witz der klugen Räthe/ Macht seine Cimbern froh, erbawet newe Städte. Vermehrt sein reiches Land, lässt einer andern weit Durch euch sein hertze sehn, hat alles heimgestellt Jn ewer weises thun. [...] (Bl. A2v)

So erhebt sich die Brockmann-Schäferei einen Moment lang zum Preis des weisen Fürsten, dessen Größe nach humanistischem Verständnis darin besteht, seinen gelehrten Beamten sich anzuvertrauen und ihnen den Spielraum zu gewähren, dessen sie bedürfen, um das Gedeihen des Landes zu befördern. Sie, die Ergebenen des Herzogs und zugleich die Freunde des Dichters, sind es, die die fernen Länder dem Herzogtum erschließen, im Handel freundschaftlich verknüpfen und überdies einen missionarischen Auftrag gleich mit erfüllen. Wie der Vergilsche Hirt das Augusteische Friedenswerk, so umwirkt der in Reval rastende Dichter das Gottorfer Gesandtschafts-Abenteuer mit Gold, auf daß es würdig werde, sich der Nachwelt ins Gedächtnis einzuschreiben. Das ist es, was er als Bruder des Epikers im pastoralen > Understatement < in die Waagschale zu werfen und seinem Gönner zu bedeuten hat. So nimmt der Frühling, in dem die Hochzeit statthat, für einen Moment lang unter dem Zauberstab des musenbegabten Dichters noch einmal die Züge der Vergilschen aetas aurea zum Zeichen dafür an, daß der Herzog und sei-

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ne Getreuen Großes bewirkten in der Geschichte, würdig des preisenden und Erinnerung stiftenden Wortes. Fleming wäre aber auch als pastoraler nicht der mit Sinn fur Maß und Decorum begabte Dichter, wenn er nicht alsbald in den intim-amikalen Bezirk zurücklenkte. Nach dem Absingen des Geburtstagsliedes, der Einlage eines der bezaubernden Flemingschen Liebeslieder, das uns hier nicht beschäftigen kann, ist es gemäß pastoraler Übereinkunft in der Gattung Prosaekloge an der Zeit, aus dem Status des einsamen Raisonnements herüberzuwechseln in den Raum der Geselligkeit. Und so treten nach dem Gedenken der Reisebegleiter nun neben ihnen die Revaler Freunde in die pastorale Szenerie ein. Sie hält uns mehr noch als der zeitgenössische Brief in unvertretbarer und nur schwer erschöpfbarer Form das Bild humanistisch inspirierter Freundschaft im Bilde über die Zeiten hinweg fest und sollte uns gerade deshalb teuer bleiben. Venator, Nüßler, Buchner waren es bei Opitz, also müssen es auch bei Fleming Dreie sein, die sich zu Scherz und geistreicher Unterhaltung, Spiel und Gesang mit dem Gaste aus dem fernen Sachsen vereinen - deutsch-estnische Begegnung im Anblick der Ostseegestade zu einer Zeit, in der die Koine der humanistischen Formkultur die Konsistenz von Sprache, Erfahrung, Verstehen gewährleistet. Polus, zehn Jahre älter als Fleming, bereits gekrönter Dichter, aus Merseburg nach Reval gelangt und nun am Gymnasium als Professor für Poesie wirkend, tritt als erster hervor. Von der Liebe singend, wird der Dichter Fleming von dem Freund genau wie bei Opitz überrascht und schalkhaft seiner Verstrickung überführt. Warum diese immer wieder bemühte Konstellation? Zum Erweis und zur Erinnerung daran, daß man sich in der anspruchslosen Gattung der Pastorale bewegt, daß man auch diesem Thema Anmutiges und Geistreiches abzugewinnen vermag, schließlich, um unversehens zu anderem, bedeutenderem herüberwechseln zu können. Die junge deutsche Kunstdichtung bedarf aus dem Munde eines jeden ihrer Jünger der immer wiederholten Versicherung, daß sie nicht Lebensausdruck, sondern Kunstübung sein will, begabt mit hintergründigem Sinn auch und gerade in Liebesdingen. »Die Liebe ist das Sardinische Gewächse/ welches den Leuten mit lachen heimhilfft«, an welchem sie alsbald zu sterben pflegen, so heißt es. (Bl. A4v) Sie vertritt den Bereich der Natur, und deshalb ist sie willkommenes Objekt der Demonstration, was der einfallsreiche Dichter aus ihr zu machen versteht - wohlgemerkt im Epithalamium, das dafür wie keine Gattung sonst prädestiniert ist. Liebesdiskurs und Hochzeitswunsch gehören zusammen; was im Gespräch der Freunde offen bleibt oder gar gegeißelt wird - der amor crudelis et infidelis - findet im Hochzeitscarmen seinen überzeugenden Gegenpart. Viel rascher als bei Opitz gleitet das Gespräch zum nächsten Thema. Es ist uns in seinem Sinn nicht mehr voll verständlich. Auch Fleming

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macht von der Lizenz der Gattung Gebrauch, in rätselhafter Andeutung zu sprechen, den zeitgenössischen Hörer und Leser im Auge, der sich einen Reim auf die Anspielung zu machen weiß. Auch dieser momentane Verzicht auf repraesentatio, auf Funktionalisierung eines jeden einzelnen Motivs, gehört zur niederen Gattung mit ihrer Verpflichtung auf die flüchtige Gelegenheit und macht sie eben deshalb doppelt liebenswert. Polus ist mißgestimmt, fühlt sich von Neid und übler Nachrede verfolgt. Warum? Wir wissen es nicht - oder wenigstens zunächst nicht - und können fürs Erste nur den textinternen Sinn nachvollziehen, denn natürlich bleibt der Verweis auf Seneca, der Aufruf, mit dem Mißgeschick mannhaft fertig zu werden, aus dem Munde des Freundes nicht aus. Dann aber führt uns der Dichter doch auf die Spur. Auch das große Rom sei nicht an einem Tag gebaut worden, und da sollte es mit dem Gymnasium anders sein? Ewer Gymnasium welches jetzo noch in den ersten Jahren ist/ wird dermaleins auch zu seiner Mandheit kommen. Wer sind sie/ die Euch vnd ewren Fleiß verkleinern? Vnverständige/ mit Löwenheuten verkapte Midasbrüder. (Bl. Blr)

Wir wissen um die Schwierigkeiten, das Gymnasium in Reval zu installieren. Bürgerschaft, Geistlichkeit, ländlicher Adel und Gelehrtenschaft mußten befriedigt und die divergierenden Interessen ausgeglichen werden. 1631 war es gegründet worden, und Gründungsrektor Evenius zielte von Anfang an auf ein großes akademisches Gymnasium; das aber überschritt die Kräfte der Stadt, und so wäre es gleich nach der Gründung beinahe wieder eingegangen. Der Versuch des Rats, das eben errichtete Institut zu einer Partikularschule zurückzustutzen - »weil das Wort Gymnasium vielerhand Unwehsen und nur Hoffahrt verursachet«, indem »die Collegen stracks hohe professores, die Knaben aber academici sein wollen« - konnte zwar verhindert werden und hätte der Stadt selbst nur zum Nachteil gereicht. Als langwieriger und schwieriger aber erwiesen sich die Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit vor Ort. Ludwig Dunte, Diakon der Olaikirche und Inspektor der Partikularschulen, suchte bei dem neuen Rektor des Gymnasiums Vulpius das Examinationsrecht für den Katecheten in den Räumen der Schule durchzusetzen, obgleich die Predigten doch in der Olaikirche abgehalten wurden. Vulpius wehrte sich gegen den Einbruch der Kirche in den gymnasialen Raum, suchte sich der Hilfe des Adels zu versichern und mußte doch klein beigeben, weil der Rat unerbittlich blieb. So war das Gymnasium offensichtlich von den konfessionellen Querelen verschont, konnte sich von dem Einfluß der lutherischen Geistlichkeit jedoch nicht freimachen. Daß es hier auch um sehr weltliche Dinge, nämlich um soziale Prestigeund Statusfragen ging, belegt der gleich nach Gründung des Gymnasiums im Jahr 1633 einsetzende Rangstreit zwischen den Geistlichen und

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Professoren, der sich über Jahrzehnte hinzog und manche Analogien zu den Rangstreitigkeiten zwischen den Doktoren und dem Patriziat in den alten Reichsstädten aufweist. Die ursprünglich vom Rat vorgesehene Gleichstellung von Professoren und Geistlichen bei feierlichen Gelegenheiten wurde hartnäckig vom geistlichen Ministerium attackiert, ohne daß uns das hier beschäftigen könnte. Uns müssen die literarischen Konsequenzen der Angelegenheit interessieren. Indem uns der Dichter den so prekären Wirkungsraum seiner Freunde in Reval vergegenwärtigt, uns teilhaben läßt an den Sorgen der Freunde, die da immer noch berühren, gelten sie doch dem Gelingen des von Menschenhand Begonnenen zu jeder Stunde, weiß er sich selbst aufgerufen zum Trost - und wie sollte dieser überzeugender Ausdruck finden als im Gedicht, das den Weg zurück weist ins Allgemeine? Neid ist nur bey hohen Sachen/ Vnd die nicht gemeine sind/ Hierein setzt er seinen Rachen Des Gelücks Gefert' vnd Kind/ Steigt vnd feilt mit seinem Rade/ Wenn es Zorn braucht oder Gnade. Grosse Dannen/ hohe Fichten Die bestürmt des Nordwinds Zorn/ Der doch nichts dran auß kan richten/ Keine hat kein Haar verlohrn. Wer der Tugend an wil siegen/ Pfleget allzeit zu erliegen. [•••] Diß mein redliches Gewissen Ist mir Zeuge gnug fur mich. Wes ich allzeit mich beflissen/ Wissen zweye: Gott vnd ich. Welcher alles wil verfechten/ Der muß heut vnd allzeit rechten. (Bl. Blr-v)

Weit sind wir fortgelangt von den Sorgen des Polus. Der Dichter waltet seines Amtes, lehrend, tradierten Sinn bekräftigend in die Festgemeinschaft, in den kommunalen Verband hereinzusprechen. Das ist immer ein Akt von doppelter Wirkung. Natürlich geht es gewiß zuerst um das Gesagte. Und kaum einer vermochte wie Fleming in Dingen rechten Verhaltens ein so schlichtes, einprägsames, von allen Schlacken der Überlieferung, des Zweifels, des Zanks gereinigtes, über die Zeiten hinweg bedenkenswertes Wort zu finden. Zugleich aber wirkt er mit an dem Auftrag, den Opitz seinen Getreuen eingeschärft hatte, nämlich unter Beweis zu stellen, daß die neue Kunst dem christlichen Zeugnis nicht widerstreite, sondern auch in ihrem antiken Gewände mit ihm koinzidiere, der Dichter also befugt sei, in die Öffentlichkeit zu treten, weil er

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Weisheit zu spenden, eine sittigende Botschaft zu übermitteln habe. Insofern darf das Gedicht auch als eine Antwort an jene gelesen werden, die da dem jungen Gymnasium seinen Bildungsauftrag in der Stadt streitig machen. Es legt Zeugnis davon ab, was vermittelt über die Alten an Bleibendem in den Fächern der Grammatik, der Rhetorik, der Poetik zu erlernen sei, sehr wohl dazu angetan, auch und gerade Frömmigkeit zu befördern, gewiß aber nicht orthodoxe Spitzfindigkeit. Nimmt es Wunder, daß Fleming das nicht weniger als 18 Strophen umfassende Gedicht genutzt hat, um einen neuerlichen Szenenwechsel durchzuführen? Olearius und Pömer, die beiden Freunde aus der Gesandtschaft, denen Flemings tiefe Zuneigung und Verehrung galt und die er immer wieder bedichtete, stoßen hinzu, und nun erst ist das Quartett genau wie bei Opitz zusammen. Überschwenglich ist die Freude unter den Vieren über das Wiedersehen, und der Pastorale ist es vorbehalten, diesem fast schon festlichen Treiben der Freunde Ausdruck zu verleihen. Wie aber sollte das anders geschehen als durch Necken und Scherz, Disputation und vor allem Poesie? Bitter beklagt sich Pömer, so lange brieflich nichts von dem in Reval zurückgebliebenen Freund gehört zu haben, der aber antwortet flugs mit einem Poem und erhält, ausdrücklich als »Bruder« apostrophiert, einen warmen Händedruck als Dank, ist er doch ein »liebhaber« der Poesie des Freundes. (Bl. B2r) Es hält den Widerpart zu dem soeben erklungenen ernsten Lied in seiner Aufforderung, die Zeit, das Glück zu ergreifen und sich unbeschwert den geselligen Freuden unter den Freunden hinzugeben: Folge/ Bruder/ was zu üben Wir/ vnd Zeit/ vnd Himmel heisst. Mein/ wer wolte den doch lieben/ Der sich stets der Lust entreisst? Denn ists zeit/ daß wir vns grämen / Wenn wir vnsers glücks vns schämen. [...] GOtt weiß/ was wir morgen machen. Heute laß vns lustig seyn. Trawren/ froh seyn/ weinen/ lachen/ Ziehn bald bey vns auß/ bald ein. Wol dem/ welcher ist vergnüget/ Wie sich seyn verhängnüß fuget. (Bl. B2r)

Nichts von jenem überhitzten vanzto-Pathos, das da den Aufruf zum Genießen der Freuden des Tages so häufig entwertet. Die Zeit des Beisammenseins der Freunde will ergriffen sein, sie trägt ihre Würde und ihren Wert in sich, und der Pastorale ist es überantwortet, dieses humanistische Verständnis des Lebens innerhalb der Bürgergemeinde zu bekräftigen, um Beifall zu werben für die unschuldigen Freuden nicht anders als für die Chancen, die da mit dem gelehrten Treiben im Umkreis

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des Gymnasiums Einzug auch im Norden halten. Von Opitz kommend würde man erwarten, die Viere nun in umständliche gelehrte Erörterungen sich verwickeln zu sehen. Fleming will es anders. Die gebrechliche junge Form soll entlastet werden von allzu schwerer Fracht und dienstbar sein dem einen, das ihr Auftrag und ihre Mission war seit jenen urdenklichen Zeiten des Stesichoros - dem Gesang. So steuert Fleming entschieden auf die Mitte, die Gelegenheit, zu. Aber wie auch dies! Keine Grotten ä la Sannazaro oder Opitz; keine Tempel oder Schlösser ä la Lope de Vega oder Montemayor; auch hier Anpassung des Huldigungsszenarios an das pastorale Ambiente. In diesem Sinne bringt Fleming ein eigenes, nur ihm zugehöriges Muster mit in den Norden. Eben hat Pömer dem Dichter für sein Lied gedankt, » als wir vor vns in dem püschlein ein liebliches gethöne allerhand süsser Instrumenten/ doch von fernen/ erhöreten«. (Bl. B2v) Kein Vorwerk, kein Landgut im Livländischen und insbesondere im langen Winter, da man sich nicht mit Musik die Zeit verschönerte. Wie aber ein so anmutiger Klang im hohen Norden, hart an die Barbarei grenzend und weit, weit entfernt vom Parnaß der Musen? Die Frage ist noch nicht gestellt, und schon ist der Sänger in Reval, ist Polus aufgebracht zur Stelle. »Sey doch nicht so hönisch/ antworttete Polus/ auf das gute Liefland/ welches/ were es ohne die fast in die hundert jhare mit jhren Nachtbarn geführte vnerhörte Kriege/ vnserm Deutschlande an Künsten/ Reichthumb vnd Gerüchte nicht weichen solte.« (Bl. B2v) Und wie steht es jetzt mit Deutschland inmitten des Krieges, und wie vor allem mit dem fernen Rußland, in das der Dichter erneut im Begriffe ist zu ziehen? Da also klingt denn doch für einen Moment ein bedeutendes Thema an, schimmert der humanistische Wettstreit der Nationen in Kunst und Wissenschaft durch. Keine Region, die nicht auf den Einzug des Humanismus eine neue Ära datierte. Wir stehen in den frühen dreißiger Jahren inmitten dieses Anbruchs in Reval. So ist es auch ein dezentes Selbstlob, das sich die gymnasialen Professoren mit ihrem illustren Freund in der Schäferei spenden, ist sie doch selbst das schönste Siegel auf den in Reval und Livland eingetretenen Wandel. Und Rußland? Olearius ist es vorbehalten zu formulieren: Daß auch in der Barbarey Alles nicht barbarisch sey. (Bl. B3r)

Lange vor dem späten 18. Jahrhundert, vor Herder und den Seinen, sorgen diese humanistisch inspirierten Reisenden für ein neues, abschattiertes ausgewogenes Rußlandbild in ihrer Heimat, auch auf diesem Felde wie auf jedem anderen der Aufklärung vorarbeitend. Und schließlich und endlich: Wie süß wird die Rückkehr ins Vaterland sein, das sich aus der Ferne doppelt verlockend ausnimmt. So hat auch das die Zeit be-

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herrschende Thema der Fremde und der Nähe seinen genuinen Ort in der Pastorale und wird dem Hörer und Leser, nur eben angetippt, zum weiteren Nachsinnen überantwortet. Wie weit ist dieser humanistische Wettstreit entfernt von dem nationalen Pathos, das zu Ende des 18. Jahrhunderts im Gefolge der Französischen Revolution sich artikulieren und das 19. Jahrhundert vergiften sollte. Noch einmal: Statt monumentaler Prunkbauten zur Ehrung, die sich in der Pastorale immer als Fremdkörper ausnehmen, bei Fleming nur die holde Musik. Näher tretend löst sich das Rätsel. Es waren die neun Musen selbst, die da zu Ehren Brockmanns musizierten. Fort sind sie beim Auftauchen der Freunde, aber in schönster goldener Schrift haben sie auf hölzernen Tafeln an den Pflaumenbäumen ihre poetischen Ergüsse hinterlassen. Alexandriner, Vierheber, Fünfheber wechseln miteinander, selbst Daktylen, von Opitz noch nicht verwendet, sind schon darunter; das erste Wort hat Clio, das letzte Polyhymnia: Die schöne Temmin freyt/ vnd Brocmann wird jhr mann. Ihr Götter/ seht diß werck mit gnadenaugen an. [...] Seyd tausent mahl gegrüst/ vnd tausentmahl gesegnet/ Jhr beyde/ denen nichts als Glück' vnd Heyl begegnet! (Bl. B3r-v)

Wohin man schaut - es ist immer das gleiche Bild. Ohne jede selbstverliebte Gebärde steht das Gedicht ganz im Zeichen des geliebten Paares, dem der Glück- wie der Segenswunsch gleich innig und schlicht zugesprochen erscheint. Und erst nachdem derart die Musen das Wort hatten, nehmen es nun die Freunde. In der Stadt wird schon gefeiert, unbändig ist der Wunsch, unter den Hochzeitern und Freunden zu sein. Bevor man aber aufbricht, verabschiedet man sich geziemend von dem durch die Musen geweihten Raum, den »Oreaden vnd Hamadryaden/ als einheimische Nimfen« Referenz erweisend (Bl. B3v) - eine pastorale Gattungsreminiszenz gewiß, aber eben doch auch eine Verbeugung vor den heidnischen niederen Gottheiten, um das Publikum daheim an das unschuldige Spiel zu gewöhnen und zu erziehen zu ästhetischer Kultur inmitten der herben protestantischen Welt. Und dann bricht die Liebe zu und die Verehrung gegenüber dem Bräutigam sich Bahn, der da als Professor des Griechischen am Revaler Gymnasium wirkt. Ich liebe/ redete Olearius weiter/ den Breutigam als meinen Bruder. Ich nichts weniger/ sagte ich. Er ist der erste von den gelehrten/ der bey vnserer ankunfft nach mir gefraget/ vnd mit dem ich gute freundschafft gemacht. Zu dessen Zeugniß ich jhm bey vberreichung seines Stammbuchs nachfolgendes zu Latein drein schriebe: So viel Athen vnd Rom an weißheit schönes hat/ So viel hat beydes dir gegeben in der that.

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Ο du der Musen zier/ vnd lust der Charitinnen/ Den jeder lieben muß/ der liebe kan beginnen. Jch ehre deinen geist/ vnd wundre mich der kunst. Doch übertrifft sie zwey der freundschafft wehrte gunst. Jch weiß nicht/ was ich vor vnd nach an dir soll lieben. Diß weiß ich/ du bist mir gantz in den sinn geschrieben. (Bl. B3v-B4r)

So zieht sich durch die Pastorale in immer neuen Wendungen der Ausdruck redlicher unverbrüchlicher Freundschaft, noch über Wissen und Können rangierend, wie er die Gattung adelt. Erfüllung aber findet sie in der Sprache der Liebe, einleitend als tödliches Gift gegeißelt, nun angesichts der beiden Liebenden ihr anderes, ihr wahres Angesicht offenbarend. Zunächst hat der Bräutigam selbst das Wort, so fingiert der Dichter zumindest, der ihm da womöglich seine Feder und Stimme leiht: So komm/ vnd laß mich werden innen Der schönen frewde süssen frucht. Schatz/ deiner recht geniessen können/ Jst einig/ was mein hertze sucht. (Bl. B4r)

Wer immer von den beiden da sprach, es ist die eine gleiche Sprache schlichten Einverständnisses der Herzen, weit entfernt vom spielerischen Exerzitium in einer nur um sich selbst kreisenden Sprache. Und dann wird der Bräutigam sogar noch als zünftiger Petrarkist eingeführt, einen Diamanten, ein Armband, die Halsperlen der Geliebten bedichtend. Ein Band mit Liebesgedichten des Hochzeiters sei dem Dichter da in die Hände gefallen, er brauche nur zu zitieren, leicht beschämt ob des Vertrauensbruches. Bey Übersendung eines Confects. Cupido schickt euch diß/jhr schönste der Jungfrawen/ Auß seiner Mutter schoß/ vmb fast nur anzuschawen. Er weiß/ daß ewer Mund sich über diß erstreckt/ Für dem der zucker auch wie bittrer wermuth schmeckt. (Bl. B4v)

Die Liebe in der Fa9on des Petrarkismus, eine reine Kunstwelt, erschaffen und gepflegt zum poetischen Exerzitium und nur innerhalb dieser Grenzen gültig, ist das genaue Gegenbild zur ehelichen Liebe und zu ihrer Feier im Gedicht; dort das dialektische concetto, hier die Gebärde innigen Zugehörens - auch diesen Gegensatz dem heranzubildenden Publikum dezent zu bedeuten, ist Aufgabe des erfahrenen kunstsinnigen Dichters. Doch ist es erlaubt, noch einen Schritt weiter zu gehen? An der Olai-Kirche, so wird uns nun erzählt, begegnete Polus jüngst dem Hochzeiter, und da verlor der Arme ein Brieflein. »Das werden gewiß geistliche Sachen seyn/ fieng Olearius an/ weil es an einem geistlichen orte von so einer geistlichen person verschüttet/ vnd einer gleichen stan-

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des auffgenommen worden.« (Bl. Clr) Herzliches Lachen, denn natürlich kommt ein Gedicht zutage, betitelt »Wie er wolle geküsset seyn.« Ob auch Herr Pastor Dunte in das Lachen eingestimmt hätte? Mögen die gestrengen Herren verstehen lernen, daß das fromme Leben eines, das freie Spiel der Kunst ein anderes ist und beides sehr wohl zueinander paßt. Zum Schlüsse haben die Viere jeder ein Gedicht frei. Ob Olearius, Pömer, Polus selbst zur Feder gegriffen haben, ob Fleming das poetische Geschäft für sie verrichtete, letztlich tut es nicht viel; vermocht hätten sie es alle. Alle drei sind mit dem anspruchsvolleren Sonett zur Stelle; nur Fleming verbleibt beim Lied, den Abstand, den Unterschied des Ranges im Spiel mit den Gattungen auf das Dezenteste bedeutend und auf den Kopf stellend. Sprächen wir literaturgeschichtlich, so wäre vielleicht zu sagen, daß sich alle drei Sonette nicht über den Opitzschen Horizont erheben, und Olearius weist denn auch sogleich darauf hin, daß wohl zu hören sei, bei wem man da in die Schule gegangen sei. Es ist auf Polus gemünzt und gilt doch für alle Dreie. Nur Flemings kleines Lied bleibt unkommentiert. Liebstes Paar/ seyd vnbetrübt. Liebt doch/ wie jhr habt geliebt. Seyd doch ewer/ wie ihr seyd/ Vnd verschmertzt den neid der zeit. (Bl. C2r)

Diese Sprache ist erst mit Fleming in die deutsche Literatur gekommen, die von einem Dezennium zum anderen so unerhört rasche und eigentlich nicht recht faßbare Fortschritte machte. Von hier führt der eine Weg zu Dach und seinen Freunden im Norden, der andere zu den Nürnbergern im Zeichen des Südens, bei denen die Sprache alles vermag, die Kunst ihr huldigt, indem sie sich selbst zu feiern gestattet. Es war der Wunsch des Exegeten, en passant den einen oder anderen Wink im Blick auf die Besonderheiten der Flemingschen Pastorale zu geben. Durch den Rückbezug auf die Opitzsche Hercinie darf sie in diese Tradition gestellt werden. Deren Geist, deren Ethos, deren Bestimmung, wenn so gesprochen werden darf, erfüllte sie auf das schönste und gelungenste in diesem Jahrhundert, wie hoffentlich ein wenig deutlich geworden ist. Bleiben die Fragen am Schluß. Der Dichter, in Kontakt mit dem heimischen literarischen Leben, importierte ein junges Gewächs in der ihm eigenen Manier in das ferne Reval. Initiierte er hier eine Tradition, so wie sie in der Opitzschen Manier in Hamburg, in Leipzig, allem voran in Nürnberg begründet wurde, oder blieb es bei dem einen Mal? Wir wissen es bislang nicht definitiv, möglich aber ist es schon, daß niemand mit dem verehrten Dichter in dieser Form konkurrieren wollte. Dann wäre seine Einzigartigkeit auf andere Weise wieder evident. Noch

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entscheidender aber: Hat es in den fremden Sprachkreis herüberzuwirken vermocht, dürfen wir hoffen, ein estnisches, ein lettisches, ein litauisches Gegenstück kennenzulernen, so wie Brockmann den eben bei Opitz und Fleming erlernten lyrischen Ton nicht nur im Deutschen, sondern alsbald auch im Estnischen probierte - und andere nach ihm in Reval, Riga, Dorpat? Dann erst würde sich der Kreislauf schließen, der Austausch zwischen den nationalen Idiomen in die Koine der humanistischen Kultur Europas münden. Wir warten gespannt auf das Votum der Experten. Wie immer jedoch ihre Antwort lautet - daß unser kleines Stück das Bewußtsein gestärkt hat, allerorten auf dem verheißungsvollen Weg einer gereinigten Poesie zu sein, das ferne Reval auch mit ihm ein wenig näher an die literarischen Zentren rückte, mit und durch die schäferliche Erzählung Kunde von einem Erblühen der Künste an der Peripherie gegeben wurde, ist gewiß. Diese Rolle aber verbleibt ihm über die Zeiten hinweg. Dank ihm wissen wir mehr über das Reval der frühen dreißiger Jahre nach Installation von Gymnasium und Druckerei. Ist es schon nicht wenig, wenn es derart mitwirkt an der Stiftung von Erinnerung, von geschichtlicher Kultur, so dürfte das eine oder andere Gedicht aus dem kleinen Zyklus gute Chancen haben, gelesen und gehört, bedacht und vielleicht gar beherzigt zu werden, so lange das Interesse an den Anfängen der deutschen Kunstdichtung und damit an der Geschichte der deutschen Literatur lebendig bleibt. Nur daran mitzuwirken, so gut es von Fall zu Fall geht, war Aufgabe auch dieses kleinen improvisierten Beitrags unter dem Stern eines großen Dichters des deutschen 17. Jahrhunderts.

* Die Schäferei Flemings findet in den ungezählten, fast immer mit den gleichen Ergebnissen daherkommenden Arbeiten zur Gottorfer Gesandtschaftsreise mit dem Intermezzo in Reval und der dort sich entspinnenden Liebe Flemings zu den Niehusen-Töchtern stets Erwähnung. Sie sollen hier nicht Revue passieren. Das Informativste in dem Nachwort Dieter Lohmeiers zu dem Reprint von Adam Olearius: Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, Schleswig 1656.- Tübingen: Niemeyer 1971 (= Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock; 21). Vgl. auch Michail P. Alekseev: Ein deutscher Dichter im Novgorod des 17. Jahrhunderts.- In: ders.: Zur Geschichte russischeuropäischer Literatur-Traditionen. Aufsätze aus vier Jahrzehnten.- Berlin: Rütten & Loening 1974 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft; 35), S. 32-60, 349-361 (zu der russischen Erstfassung vgl. die weiterfuhrende Anzeige von Dietrich Gerhardt: Paul Fleming und Rußland.- In: Germanoslavica 4 (1936), S. 310-317); jetzt auch: Hans-Georg Kemper: »Denkt, dass in der Barbarei/ Alles nicht barbarisch sei!« Zur >Muscowitischen vnd Persischen Reise< von Adam Olearius und Paul Fleming.- In: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise- und Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 8. bis 13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hrsg. von Xenja von Ertzdorff unter Mitarb. von Rudolf Schulz.- Amsterdam: Rodopi 2000

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(=Chloe; 31), S. 315-344; speziell zu Reval: F. Amelung: Der Dichter Paul Fleming und seine Beziehungen zu Reval.- In: Baltische Monatsschrift 28 (1891), S. 361-390, sowie umfassend im biographischen Rahmen Heinz Entner: Lust und Liebe, Liebe und Leid: Reval 1635.- In: ders.: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg.- Leipzig: Reclam 1989 (= Reclams Universal-Bibliothek; 1316), S. 381-446. - Eklatanter Mangel herrscht im Gegensatz zur reichen biographischen Literatur an wirklich einläßlichen Studien zu dem reizvollen kleinen Text Flemings selbst. Das Werk stand im Schatten des lyrischen Schaffens von Fleming. Es teilt so das Schicksal der meisten Stücke, die dem Opitzschen Vorbild folgen und in großer Zahl erhalten sind. Eine Geschichte der sog. >Prosaekloge< steht aus. Alle maßgeblichen Ausprägungen wird man in dem der deutschen Schäferdichtung des 17. Jahrhunderts gewidmeten Teil des Arkadienbuchs des Verfassers ausgelegt finden, das nach langer Zeit aus gegebenem Anlaß wieder Erwähnung finden darf. Die weit über hundert Titel allein dieses Zweigs der bukolischen Literatur des 17. Jahrhunderts findet man verzeichnet in der derzeit mit Unterstützung der DFG zum Abschluß gebrachten Bibliographie der deutschsprachigen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts, deren Bearbeitung in den Händen von Kai Bremer und Veronika Marschall (beide Osnabrück) liegt. - Zum Flemingschen Gattungsbeitrag selbst ist vor allem zu verweisen auf das Kapitel »Baltic Pastoral: Flemings >Schäferei< for Reiner Brocmann (1635)«.- In: Marian SperbergMcQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History.Chapel Hill, London: The University of North Carolina Press 1990 (= University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literatures; 110), S. 78-132, mit den Anmerkungen, S. 197-206. Sperberg-McQueen bietet einen Überblick über die pastorale Produktion zwischen dem Erscheinen der Opitzschen Schaefferey von der Nimfen Hercinie (1630) und dem 1635 publizierten Flemingschen Text, rekapituliert den um die Gesandtschaftsreise sich gruppierenden biographischen Kontext, stellt einen eingehenden Vergleich zwischen dem Opitzschen Vorbild und der Flemingschen Adaptation an, gipfelnd in einem Abschnitt »Flemings Epithalamium as a Critique of Opitz's Depiction of Love«, und schließt mit einer vor allem über Johann Hermann Schein vermittelten Darstellung der schon von Pyritz und Alewyn ins Zentrum gerückten Frage nach Herkunft und Eigenart von Flemings >Treue (-Konzeption im Rahmen seiner Liebesdichtung und speziell seines pastoralen Epithalamiums. Eine Auseinandersetzung mit dieser bislang zweifellos wichtigsten forscherlichen Äußerung zu dem Flemingschen Text verbietet sich im vorgegebenen Rahmen. Vgl. auch die Charakteristik des Stückes bei Entner, S. 399ff. Der Revaler Erstdruck, der lange als verschollen galt und auch Lappenberg unbekannt war, konnte 1979 in der Ratsschulbibliothek Zwickau und 1984 in der Akademiebibliothek zu Tallinn eingesehen werden. Vgl. Klaus Garber: Kleine Barockreise durch die DDR und Polen.- In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 7 (1980) S. 2 - 1 0 und 50-62; ders.: Paul Fleming in Riga. Die wiederentdeckten Gedichte aus der Sammlung Gadebusch.- In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans-Gert Roloff.- Amsterdam: Rodopi 1988 (= Chloe; 7), S. 255-308. Marian Sperberg-McQueen gebührt das Verdienst, diesen Revaler Erstdruck mit dem bei Lappenberg aus dem Leipziger Nachdruck und den in die Teütschen Poemata von 1646 eingegangenen Gedichten verglichen und eine Liste der teilweise erheblichen Abweichungen vor allem

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im Blick auf die postume Lyrik-Sammlung Flemings hergestellt zu haben. Vgl. Sperberg-McQueen: Neues zu Paul Fleming. Bio-bibliographische Miszellen.In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 173-183, hier S. 177ff. Die dankenswerterweise in die kleine Auswahl der Deutschen Gedichte von Volker Meid aufgenommene Schäferei (Stuttgart 1986, Reclams Universalbibliothek; 2455) wird nach dem Leipziger Nachdruck dargeboten, der sich u. a. in Berlin (derzeit Krakau) und in der Sammlung Faber du Faur erhalten hat. Wir zitieren aus dem Revaler Erstdruck in dem Exemplar der Estnischen Akademischen Bibliothek Tallinn, das uns schon 1984 von Kyra Robert in einer filmischen Reproduktion zur Verfugung gestellt wurde. Dieser großen Forscherin des deutsch-estnischen Frühdrucks und der Revaler Bibliotheksgeschichte verdanken wir die einläßlichsten Untersuchungen zu Fleming in Reval und insbesondere zu seiner Bibliothek sowie den heute in Tallinn noch nachweisbaren Stücken. Vgl. vor allem von Robert: Der Büchernachlaß Paul Flemings in der Bibliothek der estnischen Akademie der Wissenschaften.- In: Daphnis 22 (1993), S. 27-39. Dieser Beitrag steht in estnischer Version (mit deutscher Zusammenfassung) auch in der wichtigen Sammlung der buch- und bibliotheksgeschichtlichen Arbeiten der Verfasserin: Kyra Robert: Raamatutel on oma saatus. Kiijutisi aastaist 19691990.- Tallinn: Eesti Teaduste Akadeemia Raamatukogu 1991. Wiederabdruck mit vorzüglicher deutscher Übersetzung von Medea Jerser in dem schönen Ausstellungskatalog anläßlich der 450-Jahr-Feier der Gründung der Revaler OlaiBibliothek: Bibliotheca Revaliensis Ad D. Olai.- Tallinn: Eesti Akadeemiline Raamatukogu, Tallinna Linnaarhiiv 2002, S. 55-61. - Der Hochzeiter Brockmann, von 1634 bis 1639 Professor für Griechisch am jüngst gegründeten Gymnasium, ist soeben durch eine wundervolle Ausgabe seines schmalen Werkes geehrt worden worden: Reiner Brockmann: Teosed / Reiner Brockmann's Werke. Koostanud ja toimetanud Endel Priidel.- Tartu: llmamaa 2000. Die auch mit den erhaltenen Briefen Brockmanns ausgestattete Ausgabe enthält eine komplette Bibliographie der (spärlichen) wissenschaftlichen Literatur, so daß sich Wiederholungen an dieser Stelle erübrigen. Die Braut Dorothea Temme war die Tochter des ehemaligen Pfarrers an der Kirche zu St. Nicolai in Reval, Magister Johann Temmius. Vgl. H. R. Paucker: Ehstlands Geistlichkeit in Geordneter Zeit- und Reihefolge.- Reval: Lindfors Erben 1848 (Reprint: Hannover-Döhren 1968), S. 364. - Das Zitat auf Seite 6 aus Ernst Gierlich: Reval 1621 bis 1645. Von der Eroberung Li viands durch Gustav Adolf bis zum Frieden von Brömsebro.- Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 1991 (= Historische Forschungen), S. 360.

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Reiner Brockmann und die Anfange der estnischen Kunstpoesie

Obwohl das Gedicht Carmen Alexandrinum Esthonicum ad leges Opitij poeticas compositum von Reiner Brockmann (1637) als das erste in estnischer Sprache geschriebene Gedicht bisher am Anfang jeder Anthologie der estnischen Poesie reproduziert wurde und sicherlich auch in Zukunft reproduziert werden wird,1 ist die Bedeutung Brockmanns für die Geschichte der estnischen und überhaupt der in Estland geschaffenen Poesie noch nicht befriedigend erläutert worden. Daß bis jetzt eine skeptische Einstellung gegenüber Brockmanns Schaffen als > spitzfindige Exerzitien eines zufalligen Ausländers < vorherrscht, ist bereits daraus ersichtlich, daß das 360ste Jubiläum der estnischen Kunstpoesie im Jahre 1997 mit keinem Wort, weder in den estnischen Massenmedien noch in der Fachliteratur, erwähnt wurde. Man kann vermuten, daß der Grund einer solchen Haltung einerseits zu enge Kriterien bei der Definition der »estnischen Literatur< sind, welche die dem Späthumanismus eigene Flexibilität beim Zusammenbringen der Nationen bzw. der Volkssprache und der Literatur nicht in Betracht ziehen; andererseits kennen selbst die Spezialisten der älteren estnischen Literaturgeschichte Brockmanns Werk nur unzureichend, weil seine hinterlassenen Schriften aus Mangel an Neudrucken bisher schwer zugänglich gewesen sind. Im Verlag >Ilmamaa< in Tartu ist nun eine umfangreiche Ausgabe der erhaltenen Werke von Reiner Brockmann erschienen, die seine Gedichte in den vier Sprachen Latein, Griechisch, Deutsch und Estnisch, seine Übersetzungen der Kirchenlieder ins Estnische, den Traktat Discursus valedictorius, [...] de natura et constitutione historiae und eine Auswahl seiner Briefe auf Latein und Deutsch im Faksimile enthält. Die Texte von Brockmann werden von einem gründlichen Kommentarteil in estnischer Sprache begleitet, dem auch vier längere Beiträge angehören: Ein1

Das Gedicht erschien in der Hochzeitsschrift: Glückwünschung/ Dem Ehrnvesten vnd Achtbahrn Herrn Hans von Höveln/ Eltisten der Schwartzen Häupter/ Bräutgam/ Als er mit der Ehr- vnd Tugendtreichen Jungfrawen Margaretha/ Dess Ehrenvesten/ Achtbarn vnd Vomemen Herrn Jürgen Stahls/ Eltisten der grossen Gilde vnd berühmten Kauffmanns in Revall/ eheliche Tochter Braut/ Hochzeit hielte/ Zugefallen von guten Freunden auss dem GYMNASIO geschrieben. ANNO XXXVII. den XX. Nov.- Reval: Reusners Witwe 1637, Bl. ):(3v-):(4r.

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leitung zu den Brocmanniana von Endel Priidel, dem Herausgeber des Buches, Curriculum vitae von Kaja Telschow, Über die lateinische, griechische und deutsche Dichtung von Reiner Brockmann von Maiju Lepajöe sowie Reiner Brockmanns Sprachusus in den estnischsprachigen Gelegenheitsliedern von Aino Valmet. Die Ausgabe ist mit deutschen und englischen Zusammenfassungen versehen. Es ist zu hoffen, daß dieses Buch hilft, die Rolle Brockmanns in der Kulturgeschichte Estlands genauer zu bestimmen und das Bild des äußerst dynamischen literarischen Lebens im europäischen Späthumanismus mit einem kleinen, beinahe unmerklichen Detail zu vervollständigen. 2

1. D i e P o e s i e in E s t l a n d v o r R e i n e r B r o c k m a n n u n d z u s e i n e r Z e i t Selbstverständlich wurde die estnische Kunstpoesie nicht im Vakuum geboren. Es gibt reichhaltige Zeugnisse über dichterische Aktivitäten auf Mittelniederdeutsch in Alt-Livland aus d e m 13. bis 16. Jahrhundert, auch sind einige Texte erhalten. Als eine der hervorragendsten Leistungen verdient das Schach-Buch aus dem 14. Jahrhundert von Meister Stephan aus Dorpat (estn. Tartu) genannt zu werden. Auch Spruchdichtung war verbreitet. 3 Aus der Periode bis zur Reformation sind geistliche Dich-

2

Reiner Brockmann: Teosed. Reiner Brockmanns Werke. Hrsg. von Endel Priidel.· Tartu: Ilmamaa 2000. Für deutsche Leser konnte der Name von Reiner Brockmann doch nicht völlig unbekannt sein. Klaus Garber hat ihn eingeführt im: Literatur Lexikon. Hrsg. von Walther Killy. Bd. I-XV.- Gütersloh, München: Bertelsmann 1989-1993, Bd. II (1989), S. 243. Mehrfach genannt wird Brockmann in der Monographie von Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg.- Leipzig: Reclam 1989. In Osnabrück entstand eine Magisterarbeit über Brockmann: Martin Klöker: Reiner Brockmann und der Revaler Dichter- und Gelehrtenkreis im frühen 17. Jahrhundert.Osnabrück 1993. Bemerkenswert ist die Rolle von Brockmann im Roman von Uwe Berger: Das Verhängnis oder die Liebe des Paul Fleming.- Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1983. In englischer Sprache sind zwei Aufsätze über Brockmann zu finden: Marju Lepajöe: Reiner Brockmann. Α Neo-Latin or an Estonian Poet?- In: Acta Conventus Neo-Latini Hafniensis. Proceedings of the Eighth International Congress of Neo-Latin Studies. Copenhagen 12 August to 17 August 1991. Hrsg. von Rhoda Schnur.- Binghamton, New York: Medieval & Renaissance Texts and Studies 1994 (= Medieval & Renaissance Texts and Studies; 120), S. 597-606; dies.: Latin Poetry in Seventeenth-Century Estonia.- In: Mare Balticum - Mare Nostrum. Latin in the Countries of the Baltic Sea (1500-1800). Hrsg. von Outi Merisalo, Raija Sarasti-Wilenius.- Helsinki: Acad. Scientiarum Fennicae 1994 (= Annales Academiae Scientiarum Fennicae, ser. B; 274), S. 87-96.

3

Grundriß einer Geschichte der baltischen Dichtung. Hrsg. von Arthur Behrsing.- Leipzig: Fernau 1928, S. 7-11; Karl Kurt Klein: Literaturgeschichte des

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tung (Andreas Rnopken, Burkhard Waldis), Liebesgedichte und Satiren auf Mittelnieder- und Mittelhochdeutsch erhalten. 4 Spuren einer Dichtung auf Latein unter den livländischen Lehrern, der Geistlichkeit und anderen Gelehrten können mindestens aus dem 16. Jahrhundert gefunden werden. 5 Metrisch ist diese Poesie ebenso abwechslungsreich und vielseitig wie die Dichtung des 17. Jahrhunderts. Unter den v o m Humanismus inspirierten Autoren, deren fruchtbarste in Riga tätig waren, gab es auch originelle Dichter, wie zum Beispiel Daniel Hermann, Basilius Plinius, den oben schon genannten Andreas Knopken oder Rötger Becker. 6 Es gibt Belege, daß Schulkomödien nach Terenz und Plautus in Livland ebenso beliebt waren wie in Deutschland. 7 Bekannt ist auch, daß einige humanistisch gesinnte Dichter aus anderen Ländern in Livland verweilten. Einzelne handschriftliche Gedichte von Johannes Lorichius aus Hadamar v o m Jahre 1554, die an seinem Freund Hieronymus Thennerus gerichtet sind, wurden im 19. Jahrhundert publiziert. 8 Der Einfluß der von Konrad Celtis gegründeten >Sodalitas baltica< reichte auch bis zum Ostufer der Ostsee. 9 Leider ist festzustellen, daß die in Est- und Livland geschriebene lateinische DichDeutschtums im Ausland. Neu hrsg. mit einer Bibliographie (1945-1978) von Alexander Ritter.- Hildesheim, New York: Olms 1979, S. 10 -15. 4 Theodor Schiemann: Altlivländische Dichtungen.- In: Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands 13 (1886), S. 493-512; Theodor von Riekhoff: Lyrische Dichtungen Altlivlands.- In: Jahresbericht der Felliner litterarischen Gesellschaft für das Jahr 1888 (1889), S. 73-84; ders., Niederdeutsche Dichtungen Altlivlands.- In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 31 (1905), S. 44-57; Behrsing: Grundriß (Anm. 3), S. 11-20; Lutz Mackensen: Mittelniederdeutsche Dichtung im Baltikum.- In: Niederdeutsche Welt 11 (1936), Η. 1, S. 5 - 7 ; Klein: Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland (Anm. 3), S. 32-42. 5 Theodor von Riekhoff: Studien der Literatur Altlivlands.- In: Baltische Monatsschrift 38 (1891), Η. 1; S. 47-70, hier S. 55; ders.: Livländische Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert.- In: Baltische Monatsschrift 55 (1903), S. 255-276, hierS. 257. 6 Ders.: Mag. Rötger Becker. Rutgerus Pistorius, ein livländischer Humanist.In: Jahresbericht der Felliner litterarischen Gesellschaft für das Jahr 1888 (1889), S. 59-72; ders.: Studien der Literatur Altlivlands (Anm. 5); Arnold Spekke: Alt-Riga im Lichte eines humanistischen Lobgedichts vom Jahre 1595 (Bas. Plinius, Encomium Rigae).- Riga: Häcker 1927. - An dieser Stelle sind noch zu nennen: Henricus Montanus (Heinrich von Berg [Bergen?]) aus Ösel, der eine Oratio de laudibus Livoniae (Rostock 1557) geschrieben hat, und Anselmus Tragus (Boccius, Bock) mit seiner Querela de miserrima Livoniensium clade (1562). 7 Riekhoff: Studien der Literatur Altlivlands (Anm. 5), S. 68. 8 Schiemann: Altlivländische Dichtungen (Anm. 4), S. 498-500; Theodor von Riekhoff: Aus dem Revaler Stadtarchiv.- In: Jahresbericht der Felliner litterarischen Gesellschaft für das Jahr 1888 (1989), S. 85-91. 'Riekhoff: Studien der Literatur Altlivlands (Anm. 5), S. 51.

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tung abgesehen von wenigen Ausnahmen in Form von Handschriften unbeachtet in den Archiven verblieben ist. Dieser Dichtung wurde nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt, weil man bisher bei der Erforschung der Literaturgeschichte Estlands lediglich die volkssprachlichen Texte (estnisch und deutsch) beachtete.10 Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts war vermutlich eine günstige Zeit für die Dichtung in Est- und Livland,11 denn die Kriege, die das Land während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ohne Pause verwüstet hatten, wurden nun beendet. Wie es charakteristisch fur diese Zeit war, wurde die Gelegenheitsdichtung überwiegend in lateinischer Sprache gepflegt. Als sozial-poetisches Phänomen erschien diese Dichtung in ihrer reinsten Form 25 Jahre lang im 17. Jahrhundert. Diese Periode begann Anfang der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts, als das Gymnasium in Reval (estn. Tallinn) und die Universität in Dorpat (Academia Gustaviana) mit ihren jeweiligen Druckereien gegründet wurden. Schon im Jahre 1656, als die Universität ihre Tätigkeit wegen des Krieges unterbrechen mußte, kam diese Blütezeit zu ihrem Ende. Nach der Wiedereröffnung der Universität im Jahre 1690 wurde die Gelegenheitsdichtung zwar fortgesetzt, doch präsentierte diese sich nun bereits stark verändert. Es wurde die Meinung vertreten, daß insbesondere der Aufenthalt von Paul Fleming, dem größten deutschen Barockdichter, in Reval in den Jahren 1635-1636 von größter Bedeutung für die Geburt der Gelegenheitsdichtung in Estland war.12 Dieser Meinung ist nicht ohne weiteres zuzustimmen, denn die Pflege der Gelegenheitsdichtung beruht auf einer viel weiter gefaßten sozial-kulturellen Perspektive. Verschiedene Gründe, unter denen vorrangig der Dreißigjährige Krieg zu nennen ist, haben viele deutsche Gelehrte nach Livland gefuhrt. Die neugegründete Universität in Dorpat zog Studenten und Gelehrte nicht nur aus Est-, Livund Kurland, sondern vor allem auch aus Schweden an. Vor dem Hintergrund der engen Verflechtung verschiedener akademischer Kulturen im zeitgenössischen Europa war die Gelegenheitsdichtung eine natürliche Erscheinung, wie auch das selbstverständliche Nebeneinander von latei10

Vgl. Otto Alexander Webermann: Zum Problem der Gelegenheitsdichtung.- In: Estonian poetry and language. Studies in honor of Ants Oras. Hrsg. von Viktor Köressaar, Aleksis Rannit.- Stockholm: Vaba Eesti 1965, S. 218-233. 11 Klein: Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland (Anm. 3), S. 59-66. 12 Vgl. Villem Alttoa, Aino Valmet: 17. sajandi ja 18. sajandi alguse eestikeelne juhuluule.- Tallinn: Eesti Raamat 1973, S. 11. Auch Herbert Salu betont den Einfluß von Paul Fleming: Herbert Salu: Zur Entwicklung des estnischen Kirchenliedes im 17. Jahrhundert.- In: Apophoreta Tartuensia. Acta universitati Tartuensi (Dorpatensi) ad diem restitutionis Kai. Dec. MCMXIX nunc tricesimum celebrandum a professoribus discipulisque eorum in exilio dedicata.Stockholm: Societas Litterarum Estonica in Svecia 1949, S. 79-87, hier S. 81; ders.: Svensktidens estniska bröllopsdiktning.- In: Svio-Estonica 14, NF 5 (1958), S. 53-86.

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nischen, griechischen und hebräischen Gedichten in den ersten akademischen Drucken. In der Gelegenheitsdichtung Est- und Livlands, d. h. auf dem Boden des heutigen Estlands, sind zwei große Gruppen zu unterscheiden: akademische Gelegenheitsdichtung in Dorpat und städtische Gelegenheitsdichtung in Reval.

Akademische Gelegenheitsdichtung in Dorpat Die akademische Gelegenheitsdichtung in Dorpat, die sich auf feierliche Ereignisse im akademischen Leben konzentrierte, bildet in quantitativer Hinsicht den größten Teil der in Estland geschriebenen Gelegenheitsdichtung. Aus der Zeit von 1632 bis 1656 sind bis jetzt 880 Drucke aus der Universitätsdruckerei bekannt;13 jährlich wurden zwischen 20 und 50 Titel gedruckt. Die Disputationen bilden dabei 59 % (ca. 520 Titel), Orationen 25 % (ca. 220), Bücher von einheimischen Autoren und Nachdrucke ausländischer Autoren 2 %, Gelegenheitsdrucke (Gratulationen, Programme, Parentationen usw.) schließlich 14 % (ca. 120). Es ist nicht genau bekannt, wie viele von diesen Drucken erhalten sind, da sie in Bibliotheken verschiedener Länder aufbewahrt werden und erst zum Teil aufgefunden werden konnten. Die meisten Drucke konnten bisher in der Königlichen Bibliothek in Stockholm und in der Universitätsbibliothek Uppsala gefunden werden, doch auch in anderen schwedischen Bibliotheken, in der Universitätsbibliothek Helsinki, in verschiedenen Bibliotheken Tallinns und Rigas sowie St. Petersburgs und an manchen weiteren Orten sind Dorpater Schriften zu finden. Eine Bibliographie der Dorpater Drucke des betreffenden Zeitraums konnte nun an der Universitätsbibliothek Tartu von Ene Jaanson fertiggestellt werden; freilich ist mit Ergänzungen in Zukunft zu rechnen.14 Die größte Anzahl von Gelegenheitsgedichten ist bei den Orationen zu finden, deren Drucke jeweils zwei bis drei, manchmal auch vier Gra13

Ene Jaanson: Tartu Universitets tryckeri 1631-1710.- In: Den estniska boken genom seklerna. Bokhistoriska uppsatser. Hrsg. von Endel Annus und Esko Häkli.- Helsingfors: Helsingfors Universitetsbibliotek 1995 (= Publications of the Helsinki University Library; 57), S. 9 - 3 0 , hier S. 15. 14 Ene-Lille Jaanson: Tartu Ülikooli trükikoda 1632-1710. Ajalugu ja trükiste bibliograafia. Druckerei der Universität Dorpat 1632-1710. Geschichte und Bibliographie der Druckschriften.- Tartu: Tartu Ülikooli Raamatukogu 2000. Die früheren Bibliographien sind unvollständig. Die Bibliographie von Matti A. Sainio verzeichnet nicht die in Dorpat erschienenen Bücher, Programme, Gelegenheitsdrucke usw. und gibt nicht den Standort der registrierten Drucke an. Vgl. Matti A. Sainio: Dissertationen und Orationen der Universität Dorpat 1632-1656.- Uppsala: Fören for sv. undervisningshistoria 1978 (= Ärsböcker i svensk undervisningshistoria; 141).

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tulationsgedichte enthalten. Die Gesamtzahl der Gedichte in allen (uns bekannten) Orationen liegt zwischen 500 und 600. Zu diesen sind noch die Gelegenheitsdrucke für akademische Gedenktage hinzuzufügen, die meistens einen Umfang von einem Druckbogen hatten und - abgesehen von Programmen - bis zu zehn kürzere oder auch längere Dichtungen in Hexametern enthalten. Die Disputationen liefern nur eine unwesentliche Ergänzung, meistenteils gibt es keine angefügten Gedichte oder nur ein einziges von einem Landsmann des Disputanten. Die Gesamtzahl der akademischen Gelegenheitsgedichte liegt also bei ca. 1700.15 Der überwiegende Teil der akademischen Gelegenheitsdichtung ist natürlich auf Latein verfaßt, wobei 90 % der Autoren dem elegischen Distichon den Vorzug gegeben haben, doch sind auch griechische und hebräische Gedichte nicht selten. Es scheint, daß beinahe sämtliche Mitglieder der Academia Gustaviana gedichtet haben, weil die meisten Autoren mit einem Gedicht anläßlich der Oration von einem Freund oder Landsmann vertreten sind. Besonders zahlreich repräsentiert sind unter den Autoren die Schweden, von denen wiederum die meisten aus Smäland stammen. Das entspricht auch dem Bestand der Studenten: in dieser Zeitperiode hatte man 1016 Studenten in die Academia Gustaviana aufgenommen, von denen die Schweden beinahe die Hälfte (477) ausmachten; ein Drittel von den Schweden war eben gebürtig aus Smäland.16 Unter den Autoren ist auch ein dauerhaft bestehender Kreis zu bemerken, der sich in den Gelegenheitsschriften manchmal »die Musen am Embach« (Musae ad Embeccam) nannte. Zu diesem Kreis gehörten vermutlich Andreas Virginius (der erste Theologieprofessor), Laurentius Ludenius (Professor für Rhetorik und Poetik, später der zweite Juraprofessor), Johannes Erici Stregnensis (Professor für Astronomie und Physik, während einiger Jahre auch Juraprofessor), Johannes Georgii Gezelius (Professor für Hebräisch und Griechisch), Petrus Caroli Undenius und andere. Diese Namen kommen unter den Gedichten öfter vor, doch ist nicht sicher, ob es sich um einen festen Verein handelt, da hier nahezu alle tatkräftigeren Professoren der Universität genannt sind. Als unübertrefflich produktiv ist Laurentius Ludenius (Lorenz Luden, 1592-1654) aus der Menge der Autoren herausgehoben, der als Hauptvertreter der akademischen Gelegenheitsdichtung in Dorpat gelten kann.17 Ludenius hatte den akademischen Grad eines Doktors beider Rechte (iu15

Freundliche Auskunft von Frau mag. Kristi Viiding, die eine Dissertation über die Gelegenheitsdichtung an der Academia Gustaviana vorbereitet. 16 Tartu ülikooli ajalugu. Kolmes köites 1632-1982. Bd. I: 1632-1798. Hrsg. von Helmut Piirimäe.- Tallinn: Valgus 1982, S. 65. 17 Zu Laurentius Ludenius vgl. Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Bd. Ι-ΙΠ.- Riga: Hartknoch 1777, Bd. Π, S. 203-204; Johann Friedrich von Recke, Karl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland.-Mitau: Steffenhagen 1827-32, Bd. 111(1831), S. 119-131.

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ris utriusque doctor) in Greifswald erworben, wo er auch eine Geographia und ein Lehrbuch für militärische Ingenieurwissenschaft veröffentlicht hatte. Als Professor für Rhetorik und Poetik in Dorpat publizierte er mehr als 230 Untersuchungen und präsidierte bei etwa 100 Disputationen; dabei erstreckte sich der weite Themenkreis von Rhetorik über Anatomie des Menschen bis zur Theorie der Meteore und Sterne. Am Ende fast aller Orationen finden wir von Ludenius ein Gratulationsgedicht, meistens ein zweizeiliges Anagramm im elegischen Distichon. Sechs Jahre in Folge ließ Ludenius in Drucken für verschiedene akademische Gedenktage zwei bereits publizierte Seiten der Dedikationsgedichte an König Gustav II. Adolf und Königin Christina immer wieder reproduzieren: das sechszeilige Anagramm an Gustav Adolf und die vier- und sechszeiligen Anagramme mit einem elegischen Distichon an Christina. Auch die längsten epischen Gelegenheitsgedichte stammen von Ludenius: alljährliche Parentationen auf Gustav Adolf und Orationen in Versen auf den Geburtstag von Königin Christina. Unter den in Dorpat erhaltenen Drucken gibt es mindestens fünf Parentationen auf Gustav Adolf und zwei Versreden an Christina aus der Zeit von 1643 bis 1649, insgesamt etwa 3000 Verse. Ein so reichhaltiges Werk gibt es im Dorpat des 17. Jahrhunderts kein zweites Mal.

Die städtische Gelegenheitsdichtung in Reval Von der Revaler Gelegenheitsdichtung sind überwiegend Hochzeitsgedichte erhalten. Im Gegensatz zu der akademischen Dichtung sind die Hochzeitslieder verhältnismäßig vollständig in Estland bewahrt worden. Zwar sind einzelne Drucke auf verschiedene Bibliotheken verstreut, doch gibt es im Stadtarchiv Tallinn (estn. Tallinna Linnaarhivi) zwei Konvolute mit dem Titel »Vota nuptialia« - 84 Drucke aus den Jahren 16371644, die einer Zählung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zufolge insgesamt etwa 350 Hochzeitsgedichte enthielten.18 Obwohl es auch vor der Ankunft Paul Flemings in Reval im Jahre 1635 schon Gedichte in den Drucken aus dem Revaler Gymnasium gab, übte dessen dynamische Natur ohne Zweifel einen inspirierenden Einfluß aus; Fleming selbst schuf den besten Teil seiner Poesie in Estland.19 18

Α. H. Neus: Die Poesie des Inlandes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.In: Das Inland 10 (1845), Nr. 46, Sp. 789-798, hier Sp. 795. 19 Friedrich Amelung: Der Dichter Paul Fleming und seine Beziehungen zu Reval.- In: Baltische Monatsschrift 28 (1881), S. 361-390; Klaus Garber: Paul Fleming in Riga.- In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff.- Amsterdam: Rodopi 1988 (= Chloe; 7), S. 255-308; Entner: Paul Fleming (Anm. 2), S. 381 -446.

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Es bildete sich eine Schäfergesellschaft in der Stadt Reval, wozu außer Brockmann und Fleming auch Timotheus Polus, der Professor für Poetik, Heinrich Arninck, der Professor für Rhetorik, und der Mathematiker Gebhard Himsel gehörten. Timotheus Polus war neben Brockmann der produktivste Dichter in Reval;20 die hier gepflegte Poesie war sowohl metrisch als auch sprachlich vielseitig. War in Dorpat die akademische Dichtung größtenteils auf Latein geschrieben, so waren in der Revaler Gelegenheitsdichtung Latein und Deutsch gleich stark vertreten; darüber hinaus gibt es auch Gedichte auf Estnisch, Griechisch und Schwedisch. Obwohl die akademische Dichtung in Dorpat in quantitativer Hinsicht umfangreicher ist als die städtische Gelegenheitsdichtung in Reval, und obwohl der Kreis von Autoren in Dorpat unvergleichlich größer ist, muß die dortige Dichtung im Hinblick auf Metrik und Motive als einseitiger, routinemäßiger und ohne auffällige Individualität bezeichnet werden. Daß in Reval metrisch nuancenreiche Dichtung gepflegt wurde, ist beispielsweise am Discursus valedictorius (1639) zu sehen, den Brockmann im Gymnasium aus Anlaß seines Abschieds von Reval vortrug und dem im Druck Gratulationsgedichte von seinen Freunden, darunter auch Paul Fleming, beigegeben sind: Die 15 Gedichte sind in zehn verschiedenen Versmaßen gestaltet.

2. Kurze Übersicht über Reiner Brockmanns Lebenslauf 21 Reiner Brockmann (Brocmann, latinisiert Reinerus Brocmannus) wurde am 28. April 1609 im Herzogtum Mecklenburg in der Stadt Schwan geboren. Sein gleichnamiger Vater war dort Pfarrer, die Mutter Margaretha eine Tochter des dortigen Pfarrers Zacharias Scheffters. Nach dem Besuch der Stadtschule in Rostock und der Gymnasien in Wismar und Hamburg studierte Brockmann Theologie an der Universität Rostock. 1634 wurde er Professor für Griechisch am Revaler Gymnasium, wo er später auch Geschichte, Latein und Theologie unterrichtete. Im Druck 20

21

Eine eingehende Darstellung dieser Schäfergesellschaft stammt von Kaja Altof: Reiner Brockmann Tallinnas ja Lasnamäe lamburid.- In: Looming 11 (1987), S. 1556-1562. Die gründlichste Quelle für Brockmanns Biographie ist seine Leichenpredigt »Der Gerechten Tod« (Reval 1648), das in je einem Exemplar in der Akademischen Bibliothek Estlands (Baltica 1-5443, Nr. 28) und in der Universitätsbibliothek Tartu (RA A-5062, Nr. 38) erhalten ist. Die vom Diakon Andreas Sandhagen zusammengestellte Schrift enthält die Leichenpredigt, den Lebenslauf (»Vita defuncti«) und zwei Trauergedichte an den verstorbenen Brockmann. Die Biographie wurde am gründlichsten von Kaja Altof-Telschow untersucht (vgl. Anm. 19). Daneben vgl. Gadebusch: Livländische Bibliothek (Anm. 16), Bd. I, S. 128 und Recke/Napiersky: Allgemeines Schriftstellerund Gelehrten-Lexikon (Anm. 16), Bd. I, S. 267-268.

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der Gymnasialdruckerei erschienen auch 1634 die ersten lateinischen und deutschen Gedichte von ihm in einer Gelegenheitsschrift.22 Von Januar 1635 bis April 1636 hielt sich Paul Fleming in Reval auf. Mit der durch den Legationssekretär Adam Olearius hervorragend dokumentierten Gesandtschaft des Herzogs Friedrich III. von Holstein-Gottorf, die unter Leitung von Philipp Crusius und Otto Brüggemann nach Moskau und Persien führte, war Fleming auf der Durchreise am 10. Januar 1635 in die Stadt gelangt. Aufgrund verschiedener Probleme war ein Teil der Gesandtschaft gezwungen, längere Zeit in Reval zu verweilen, so daß Brockmann und Fleming Freunde werden konnten; auch andere Lehrkräfte des Gymnasiums wurden mit dem deutschen Dichter bekannt. Es wurde eine literarische »Schäfergesellschaft« gegründet, die Ausflüge und gesellige Abende veranstaltete, gemeinsam musizierte und - selbstverständlich - auch dichtete. Viele Gedichte aus dieser Zeit wurden durch die Druckerei des Gymnasiums veröffentlicht. An der Hochzeit von Reiner Brockmann und Dorothea Temme am 20. April 1635 nahm wahrscheinlich die ganze Schäfergesellschaft teil. Zu diesem Anlaß veröffentlichte Paul Fleming eine umfangreiche Hochzeitsschrift,23 eine Schäferei nach dem Vorbild von Martin Opitzens Schäfferey von der Nimfen Hercinie (1630): mehrere Gedichte werden eingebettet in eine novellenhafte Rahmenerzählung, in der das Brautpaar und andere Mitglieder der Schäfergesellschaft als handelnde Personen auftreten. Fleming verliebte sich in Elsabe Niehusen, die mittlere Tochter des ansässigen Kaufmanns Heinrich Niehusen und hoffte auf eine Heirat, doch die Beziehung zerbrach während Flemings mehrjähriger Reise; sie heiratete am 12. Juni 1637 einen anderen. Im Jahre 1639 trafen Brockmann und Fleming wieder zusammen, als Fleming gemeinsam mit der Gesandtschaft auf der Rückreise aus Persien erneut nach Reval kam und sich hier schon bald mit Anna Niehusen, der jüngsten Tochter jenes Kaufmanns verlobte. Seit 1637 befaßte Reiner Brockmann sich intensiv mit der estnischen Sprache. Im Herbst des Jahres veröffentlichte er sein erstes estnisches 22

23

Acclamationes votivae, Quibus ILLUSTRI ET GENEROSO DOMINO Dn. PHILIPPO ä Scheidingh/ Domino in Schedwy & Amöö/ Regni Sueciae Senatori, per Esthoniam Gubernatori, & Reg. Svec. Majestatis ad Magnum Principem Moschoviae p.t. Magno LEGATO, Domino & Mecoenati nostro gratioso, Cum ipse felici rerum successu & foedere cum Ruthenis innovato, salvus & mcolumis rediret in Esthoniam, Gratulabamur GYMNASü REVALIENSIS PROFES SORES. ANNO SChelDIngVs sVeDVs renoVaVIt foeDera RVssI. & SVeDIs & MosChls paX noVa Visa fVIt.- Reval: Reusner 1634. Brockmanns Gedichte sind darin auf Bl. A3v-A4r zu finden. Pauli Flemings Gedichte Auff des Ehrnvesten vnd Wolgelarten Herrn Reinen Brocmans/ der Griechischen Sprache Professorn am Gymnasio zu Revall/ Vnd der Erbarn/ Viel Ehren vnd Tugendreichen Jungfrawen Dorotheen Temme/ Hochzeit.- Reval: Reusner 1635.

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Gedicht Carmen Alexandrinum Esthonicum ad leges Opitij poeticas compositum. Ebenso finden sich in dem von Heinrich Stahl 1637 herausgegebenen Gesangbuch zwei von Brockmann ins Estnische übersetzte Kirchenlieder, von denen eines auf einem ebenfalls abgedruckten deutschen Original von Brockmann beruht. Es handelt sich bei diesen estnischen Texten jedoch um Prosaübertragungen, wie es in dem gesamten Gesangbuch der Fall ist. 1639 verzichtete Brockmann auf sein Amt als Professor am Gymnasium und wurde Pfarrer zu St. Katharinen in Tristfer (estn. Kadrina) in der Propstei Wierland (estn. Virumaa). Ab 1642 war er zusätzlich Assessor des Konsistoriums und 1643 auch Probst von Wierland. In Tristfer widmete er sich der Arbeit an der estnischen Kirchenliteratur, war Mitglied der Kommission für die Übersetzung des Neuen Testaments und übersetzte Kirchenlieder. Offensichtlich galt Brockmann damals als einer der besten Kenner der estnischen Sprache, denn zu ihm nach Tristfer wurden Theologiestudenten geschickt, um die estnische Sprache zu erlernen. Als Pfarrer führte Brockmann in seinem Kirchspiel Lokalvisitationen durch, als Probst auch klassische Visitationen in ganz Wierland. Aus dieser Periode stammen viele Briefe an den Bischof Estlands, Joachim Jhering, die ein Bild seiner Tätigkeit als Pfarrer geben und in denen er auch ethische und sakramentale Probleme in seiner Gemeinde, die Beziehung der anderen wierländischen Pfarrer zu ihren Gemeinden sowie theologische Texte und Auffassungen behandelt. Am 29. November 1647 starb Reiner Brockmann in Tristfer; in der Marienkapelle der Revaler St. Olai-Kirche wurde er am 14. Januar 1648 beigesetzt.

3. Die Dichtung von Reiner Brockmann Der literarische Nachlaß von Reiner Brockmann ist nicht umfangreich: er umfaßt 45 Gedichte (insgesamt 1167 Verse), davon 3 auf Griechisch, 21 auf Latein, 16 auf Deutsch und 5 auf Estnisch. Neben diesen Originaldichtungen hat Brockmann auch 24 Kirchenlieder ins Estnische übersetzt, zwei darunter in Zusammenarbeit mit Martin Giläus. Beim Abschied aus seinem Amt als Professor für Griechisch am Revaler Gymnasium im Jahre 1639 hat er die lateinische Rede Discursus Valedictorius, [...] de natura et constitutione historiae gehalten. Aus der Zeit von 1639 bis 1646, die er in Tristfer als Pfarrer angestellt war, sind 29 Briefe von ihm einschließlich der Berichte über Kirchenvisitationen erhalten. Der häufigste Adressat ist Bischof Joachim Jhering (19 Briefe), an Paul Fleming sind 2 Briefe erhalten. Einer der vielen Gründe dafür, daß dieses relativ schmale aber wertvolle Erbe bisher nicht zusammengetragen und in einer Neuausgabe ver-

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öffentlicht werden konnte, ist in der Streuung der noch vorhandenen Drucke auf viele Bibliotheken in verschiedenen Ländern zu sehen. Auch heute, über zehn Jahre seit dem Beginn der Nachforschungen über Brockmanns Texte, ist es noch keineswegs sicher, daß in dem zusammengestellten Werk tatsächlich alles enthalten ist, was Brockmann hinterlassen hat. Brockmanns Dichtungen, die im folgenden eingehender betrachtet werden sollen, sind Gelegenheitsgedichte. Ihr Inhalt ist von einem konkreten Ereignis (Hochzeit, Beerdigung, Reise, Erscheinung eines Buches usw.) und ihre Form vom Kanon der zeitgenössischen Gelegenheitsdichtung bestimmt. Insofern müssen Brockmanns Gedichte als einheitliches Ganzes, als ein Gesamtphänomen betrachtet werden, obwohl die Gedichte in vier verschiedenen Sprachen geschrieben sind.24 Bekannt sind 14 Hochzeitsgedichte (Epithalamia), 5 Trauergedichte (Epicedien/Epitaphien), 10 Reisegeleit-Gedichte (Propemptica) sowie 15 Gratulations- und Dedikationsgedichte von Brockmann. Es ist nicht eindeutig zu bestimmen, in welchem Maße die Wahl der Sprache vom Typus des Gedichts abhängig ist. Sicher ist nur, daß alle estnischen Gedichte Hochzeitslieder sind. Doch sind darüber hinaus folgende Beobachtungen zu machen: 1) Die Wahl der Sprache steht in Verbindung mit der Metrik und dem Versmaß. Brockmann benutzt in lateinischen und griechischen Gedichten am häufigsten das elegische Distichon, in Einzelfällen auch jambische Verse, die hipponakteische Strophe und die Versform des anakreontischen Liedes. In seinen deutschsprachigen Gedichten stützt er sich auf die Poetik von Martin Opitz. Er schreibt vorwiegend Sonette und Heldenlieder in Alexandrinern, dabei dominiert auch in den Sonetten als Versmaß der Alexandriner mit männlicher und weiblicher Kadenz. 2) Einige Verfahren zur formalen Gestaltung sind mit der Sprache verbunden. Zum Beispiel kommen Anagramme bei Brockmann mit Ausnahme eines deutschsprachigen Sonetts an Heinrich Stahl ausschließlich in den lateinischen Gedichten vor. 3) Einige inhaltliche Komponenten sind mit der Sprache verbunden. Sowohl in lateinischen als auch in estnischen und deutschen Hochzeitsliedern stehen Frömmigkeit und Frivolität Seite an Seite. Doch bleibt das religiöse Element in den lateinischen Liedern sozusagen rein, es wird nicht entweiht, sondern bleibt sublim und panegyrisch. Dagegen ist in

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So beginnt Johann Wischmann seine Poetik mit den Worten »Die Natur und Constitution der Dicht-Kunst ist in der Griechischen/ Lateinischen/ Deutschen und Lettischen Sprache gemein [...].« Johann Wischmann: Der Unteutsche Opitz. Oder Kurtze Anleitung zur Lettischen Dicht-Kunst.- Riga: Nöller 1697, S. 1. Dieses Werk ist die einzige erhaltene Poetik des 17. Jahrhunderts aus Estund Livland.

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estnischen und deutschen Liedern auch Gott der Herr ein leichtsinniger und vergnügungssüchtiger Hochzeitsgast. Trotz des letzten Beispiels kann doch festgestellt werden, daß die inhaltlichen Komponenten und die Topik in Brockmanns Dichtung in wesentlichen Zügen unverändert bleiben. Seine Gedichte haben immer ein und dasselbe ideelle Zentrum: die ewige und göttliche Tugend, welche zusammen mit der häufig erscheinenden Sonnen-, Licht- und Himmelsmetaphorik und der Allgegenwart von Phoibus Apollon dem literarischen Werk eine sehr lichte und strahlende Stimmung verleihen. Als Beispiel möge hier ein Sonett dienen, das Brockmann auf Flemings Namenstag am 25. Januar 1636 anfertigte: DU mein Fleming Föbus Sohn/ und du Meister Deutscher Lieder/ Deine Sonne scheinet wieder und erfordert süßen Thon/ Welchen du gesungen schon/ da du lägest noch ein Müder in der schwachen Wiegen nieder/ und verdientest ewgen Lohn. Diesen hast du längst bekommen/ da dich Föbus auffgenommen in der hohen Sterne Schaar/ und den Krantz von Amaranthen dir geschenckt als sein Bekandten ümm dein wolverdientes Haar.25

Wie die gedanklich klare Dichtung von Reiner Brockmann immer eine Hauptidee besitzt, so beruht auch die Komposition seiner Gedichte immer auf ein und demselben Schema par praemium labori, das zum Beispiel folgendermaßen verwendet werden kann: das Gedicht beginnt mit der Beschreibung der Tugenden des Adressaten und seiner decora bzw. seiner Taten, sowohl direkt als auch über Vergleiche, die in der Regel der antiken Mythologie entstammen. Die dignitas wird durch die Beschreibung der Tugenden bestätigt. Im folgenden wird darauf hingewiesen, daß der Adressat selbstverständlich schon jetzt sehr berühmt ist (notus, insignis); schließlich wird der verdiente gute Lohn im Himmel vorhergesagt. Fast in jedem Gedicht, besonders oft jedoch in den Beerdigungsliedern, erscheint das Adjektiv meritus bzw. eines seiner Synonyme, dem eine direkte Wendung an Gott, diese Vorhersage möge in Erfüllung gehen, folgen kann. 25

Das Gedicht, das erstmals in: Paul Flemings Teütsche Poemata.- Lübeck: Jauch [1646] auf S. 237 gedruckt wurde, trägt die Überschrift »Sonnet Η. M. Paulo Fleming P. L. seinem vertrauten Freunde/ als derselbe seinen NahmensTag den xxv. Jenner m. de. xxxvj in Revall beginge/ geschrieben von Reinero Brocmanno Grases Linguas ibidem Profess.«

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Literarische Vorbilder von Reiner Brockmann Reiner Brockmann gehört zu den wenigen neulateinischen estnischen Autoren, für die eine engere Beziehung des literarischen Werkes zu einem römischen Autor nachgewiesen werden kann. Eine Parodie auf Horaz' Carmina 1.6 unter dem Titel PARODIA OD& SEXT/E HORATIAN/E qua exstat lib. I. Carminum. Ad Dn. OTTHONEM BRUGGEMANNUM schrieb Brockmann 1635.26 Horaz formuliert in seinem Agrippa gewidmeten Lied, daß den wackeren Kriegern, den Heldentaten und großen Leiden andere in einer edlen Versform huldigen mögen; in seinen leichten Liedern würden jedoch nur mit Frauen Schlachten geführt. Auch Brockmann verkündet, daß er der Aufgabe nicht gewachsen sei, die beschwerliche Persienreise von Otto Brüggemann und den anderen Gesandtschaftsteilnehmern zu besingen, viel eher seien die Taten der Schuljungen im lebensfrohen Gymnasium von Reval sein Thema. Es kommen bei Brockmann noch weitere Gedichte vor, die auf diesem bei Horaz häufig erscheinenden Motiv > andere mögen anders tun< aufgebaut sind. Unter anderem beruht auf diesem Motiv das Gedicht Lectori Carminis Esthonici aus dem Jahre 1637, das zu einem Manifest des Dichtens in estnischer Sprache geworden ist: ANdre mögn ein anders treiben; Ich hab wollen Esthnisch schreiben. Ehstnisch redet man im Lande/ Esthnisch redet man am Strande/ Esthnisch redt man in der Mauren/ Esthnisch reden auch die Bauren/ Ehstnisch reden Edelleute/ Die Gelährten gleichfals heute. Esthnisch reden auch die Damen/ Esthnisch, die auß Teutschland kamen. Esthnisch reden jung1 und alte. Sieh/ was man von Esthnisch halte? Esthnisch man in Kirchen höret/ Da GOtt selber Esthnisch lehret. Auch die klugen Pierinnen Jetz das Esthnisch lieb gewinnen.

26

ΣΥΓΧΑΡΜΑΤΑ, QVIBUS Illustrißimi PRINCIPIS ac Domini, Dni. FRIDERICI, Heredis Norwegiae, Ducis Sleswigiae & Holsatias &c. Consiliarios & ad Magnum Ducem Moscoviae Regemque Persiae p.t. LEGATOS, VER.OS Magnifisentißimos, Amplißimos Consultißimosque Dn. PHILIPPUM CRUSIUM J.U.L. & Dn. OTTHONEM BRUGGHEMANNUM, Musarum Mecoenates colendos, Cum ex Rußia Revaliam negotijs felicißime expeditis, cum nobili comitatu. 10. Januarij anni hujus MDCXXXV. redirent, prosequebantur Gymnasij REVALIENSIS Professores.- Reval: Reusner 1635, Bl. A4r-A4v.

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Ich hab wollen Esthnisch schreiben; Andre mögn ein anders treiben.27

Auch Brockmanns Gratulationsgedicht an den estländischen Gouverneur Philipp von Scheiding aus dem Jahre 1634 weist bezüglich der Topik Ähnlichkeiten mit Horaz' Carmina IV.5 auf: CLarior hascce suo die cur surrexerit ortu Pras reliquis lastä voce canenda dies? Scilicet oeeubuit quasi sol, abeunte SCHEDINGO: Nunc, illo, rursus, sol, redeunte, redit. Desine mirari; qui curat coelica, coelum Huic rursus merito jure favere potest.28

Es ist auch behauptet worden, daß Reiner Brockmann von Catull beeinflußt sei,29 doch in Bezug auf die Motivik der Gedichte scheint diese Behauptung nicht hinreichend fundiert zu sein. Allerdings bevorzugen beide die hipponakteische Strophe und den Hendekasyllabus. Die Horazischen Metren kommen bei Brockmann abgesehen von einer Ausnahme (alkäische Strophen in der obengenannten Parodie) nicht vor. Häufig wurde die Frage gestellt, welche Rolle Paul Fleming für die Entwicklung von Reiner Brockmanns Dichtung spielte, und es wurde sogar behauptet, daß dieser die Tradition der Gelegenheitsdichtung nach Reval gebracht habe.30 In diesem Zusammenhang ist folgendes zu beachten: Reiner Brockmann hatte schon vor der Begegnung mit Paul Fleming Gedichte geschrieben. Dies bezeugt zum Beispiel das angeführte Gedicht auf Philipp von Scheiding aus dem Jahre 1634 in einer in Reval gedruckten Sammelschrift.31 Auch war Brockmann in dem einen Jahr, das Fleming von 1635 bis 1636 in Reval verbrachte, keineswegs deutlich produktiver, wenn man von den veröffentlichten Arbeiten ausgeht. Darüber hinaus ist es äußerst wahrscheinlich, daß er die Poetik von Martin Opitz schon zuvor kannte. Eine Reihe von Gedichten widmete Reiner Brockmann seinem Freund Paul Fleming.32 Charakteristisch für seinen Ton in diesen Gedichten sind 27 28 29

30 31 32

Glückwünschung (Anm. 1), Bl. ):(4r-):(4v. Acclamationes votivas (Anm. 21), Bl. A4r. Herbert Salu: Rootsiaegne pulmaluule. Eesti kunstluule algus.- In: ders.: Tuul üle mere ja muid lühiuurimusi eesti kiijandusest.- Stockholm: Vaba Eesti 1965, S. 143-187, hier S. 177; ders., Kauged rannad ja oma saar. Esseid eesti kiijandusest.· Stockholm: Vaba Eesti 1970, S. 33. Vgl. die Literaturhinweise in Anmerkung 12. Acclamationes votivae (Anm. 21). Paul Fleming: Deutsche Gedichte. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg. Bd. Ι-Π.- Stuttgart: Litterarischer Verein 1865 (= Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart; 83), Bd. II, S. 590 und 600-601.

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die folgenden Verse, in denen Brockmann neidlos die dichterische Überlegenheit des Freundes anerkennt: Wolan! ich folge dir gemählich auch von fernen. Biß man mich auch mit dir sieht unter hohen Sternen/ [...].33

Auch Fleming hat Brockmann Gedichte gewidmet, von denen uns heute sieben bekannt sind. 34 Außerdem schrieb er zur Hochzeit von Brockmann die schon erwähnte große Schäferei, die das umfangreichste Werk seiner Revaler Periode ist und die in seinem ganzen Schaffen eine einzigartige Stellung einnimmt.35

4. Reiner Brockmanns Einfluß auf die estnische Poesie Ein 1817 von Heinrich Rosenplänter publiziertes estnisches Volkslied, 36 sehr wahrscheinlich eine Adaptation der Oda Esthonica Jambico-Trochaica von Reiner Brockmann, allerdings im volkstümlicheren rein trochäischen Versmaß,37 stellt den einzigen direkt nachweisbaren Einfluß von Brockmanns Dichtung auf die estnische Literatur dar. Brockmanns Pflege der Poesie in estnischer Sprache wirkte jedoch inspirierend auf die estnische Dichtung: Er zeigte, daß es notwendig und möglich ist, auf Estnisch zu dichten, und schuf die ersten beispielhaften Gedichte. Auf diese Weise trug er zur Bildung eines günstigen Klimas für estnische Poesie bei. 38 Die poetische Aktivität von Brockmann inspirierte darüber 33

Verse 13 und 14 aus: »Reinerus Brocmann Bittet Herrn M. Paulum Fleming/ P.L.C. ümm Mittheilung seiner Deutzschen Poetischen Sachen/ mit folgendem Sonnette/ geschrieben in Revall/ den jx. February m. de. xxxvj.«, abgedruckt in: Paul Flemings Teütsche Poemata (Anm. 24) S. 263. Vgl. auch Herbert Salu: Eesti vanem kirjandus.- Roma: Maarjamaa 1974 (= Maarjamaa Books; 3), S. 41. 34 Paul Fleming: Lateinische Gedichte. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg.Stuttgart: Litterarischer Verein 1863 (= Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart; 73), S. 64, 78, 80, 84, 99, 326 und 330. 35 Pauli Flemings Gedichte (Anm. 22). 36 Beiträge zur genauem Kenntniß der ehstnischen Sprache (1817), H. 7, S. 71. 37 Α. H. Neus: Ueber die poetischen Versuche der Deutschen in der Ehstnischen Sprache.- In: Das Inland 5 (1840), Nr. 35 (28. Aug. 1840), Sp. 545-550. 38 Hierbei muß erwähnt werden, daß die 30er und 40er Jahre des 17. Jahrhunderts eine aktive Phase der Erschaffung von estnischsprachiger Kirchenliteratur waren. In den Jahren 1632-38 veröffentlichte der Revaler Dompastor Heinrich Stahl das Hand- und Hauszbuch für das Fürstenthumb Esthen in Liefland (in 4 Teilen), das u. a. den Katechismus von Martin Luther, ein Gesangbuch und ein Gebetbuch enthält. In dieser Zeit wurden auch Vorbereitungen getroffen zur Übersetzung des Alten und Neuen Testaments sowohl in den nordestnischen als auch in den südestnischen Dialekt. Im Jahre 1637 erschien die erste Gram-

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hinaus die Zeitgenossen; der größte Teil der estnischen Hochzeitslieder des 17. Jahrhunderts wurde eben zu dieser Zeit geschrieben. Weiterhin ist festzustellen, daß Brockmann auf die Form der estnischen Poesie einwirkte. Durch ihn wurden die Themen und der Stil der Barockpoesie in die estnischen Dichtung eingeführt, die später dann von anderen aufgenommen wurden. Brockmann hat als erster vom akzentuierenden Versmaß mit Endreim im nordestnischen Dialekt Gebrauch gemacht.39 Diese Versform verschwand fortan nicht mehr und wird auch heutzutage in der estnischen Poesie verwendet. Diese metrische Form wurde durch die Kirchenlied-Übersetzungen den estnischen Kirchenliedern eingepflanzt, die erstmals im Neu Estnischen Gesangbuch von 1656 erschienen. Das Gesangbuch war von vier Übersetzern zusammengestellt worden, darunter auch Reiner Brockmann, der 23 Übersetzungen angefertigt hatte. Bei den früheren Übersetzungen der Kirchenlieder im ersten estnischen Gesangbuch, das 1637 als zweiter Teil von Heinrich Stahls Hand- und Hauszbuch40 erschienen war, hatte es sich noch, wie oben bemerkt, um Prosaübersetzungen gehandelt, die nicht singbar waren. Die neuen, akzentuierenden Übersetzungen mit Endreim dagegen waren zum Singen sehr gut geeignet, so daß das Neu Estnische Gesangbuch äußerst populär wurde und allein während des 18. Jahrhunderts in 27 Neudrucken erschien.41 Man kann sagen, daß sich das neue Gesangbuch zu einem Teil der estnischen Volkskultur entwickelte, und die an jedem Sonntag gesungenen akzentuierenden Kirchenlieder allmählich das alte alliterierende Volkslied verdrängten. Hieraus entstand die mächtige Tradition des geistlichen Volksliedes in Estland, die

matik des nordestnischen Dialekts (auf Deutsch) von Heinrich Stahl, im Jahre 1648 die erste Grammatik des südestnischen Dialekts (auf Latein) von dem Pfarrer Johannes Gutslaff. Gelegenheitsdichtung und Kirchenlied-Übersetzungen wurden von ein und denselben Personen gepflegt. Vgl. Webermann: Zum Problem der Gelegenheitsdichtung (Anm. 10). - Dies spiegelt sich auch in den Gelegenheitsdrucken wider, wo weltliche Dichtungen und Übersetzungen von Kirchenliedern nebeneinander stehen. 39 Es gibt Belege, daß auch das heute nicht mehr nachweisbare katholische Handbuch Institutiones esthonicae von Wilhelm Buccius, einem Jesuiten in Dorpat, gereimte Kirchenlieder in südestnischem Dialekt enthielt. Das Buch wurde 1622 oder 1623 in Braunsberg veröffentlicht. Vgl. Erna Siirak: Eestikeelse salmi ajaloost XVII sajandil.- In: Keel ja Kirjandus 11 (1962), S. 688-692, hier S. 690. Die Herausgeber des Neu Estnischen Gesangbuchs Vorinnen die Kirchen Gesänge Sei. Hn. Lutheri (1656) nennen Buccius im Vorwort als ihr Vorbild. 40 Vgl. Anm. 37 sowie die Beiträge von Piret Lotman und Raimo Raag im vorliegenden Sammelband. 41 Uku Masing, Albert Soosaar: Kolme sajandi eest värsistatud lauluraamatust.In: Eesti Evangeeliumi Luteriusu Kiriku Aastaraamat (1956), S. 49-74, hier S. 50.

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nun also - aufgrund der indirekten Einwirkung von Reiner Brockmann seit Jahrhunderten fortwirkt. Zusammenfassend ist zu sagen, daß Brockmanns theoretische Basis für seine Dichtung, speziell seine Gelegenheitsdichtung, gegenüber allen anderen Qualitäten so umfassend und weit ist, daß mit seinem Werk die Literatur zu einer die sprachlichen Grenzen überschreitenden Erscheinung wird. So ist es auch nicht möglich, die Frage zu beantworten, welcher Nation - der deutschen oder der estnischen - Reiner Brockmann als Dichter eigentlich zuzuordnen ist, und in welcher Anthologie seine Gedichte veröffentlicht werden sollten.42

42

Vgl. dazu auch: Lepajöe: Reiner Brockmann. Α Neo-Latin or an Estonian Poet? (Anm. 2).

Raimo Raag

Henricus Stahell: Geistlicher und Sprachkodifizierer in Estland

Nachdem Altlivland durch den Angriff der Truppen Iwans IV. (des Schrecklichen) zusammengebrochen war und die Stadt Reval (estn. Tallinn) sich mit den Ritterschaften der Landschaften Harrien, Wierland und Jerwen (estn. Haiju, Viru, Järva) im Jahre 1561 der schwedische Krone unterworfen hatte, konnte Schweden die größten Teile der estnischen und lettischen Gebiete seinem Dominium Maris Baltici schrittweise eingliedern. Durch wiederholte Kriege mit Rußland, Dänemark und PolenLitauen, die insgesamt ein gutes Menschenalter dauerten, verteidigte Schweden seine Eroberungen mit Erfolg. Es erhob sich natürlich schon früh die Frage, welche Position die neugegliederten Gebiete im Reich einnehmen sollten. Nach Meinung der Könige Erik XIV., Johann III. und Karl IX. sollten die baltischen Provinzen inkorporiert, das heißt dem übrigen Reich gleichgestellt werden, während in erster Linie die Ritterschaften in Estland und Livland und auch der schwedische Hochadel die Meinung vertraten, daß eine Nivellierung unnötig sei und die diesbezüglichen Gebiete möglichst große Selbständigkeit genießen sollten.1 Aber erst nachdem Gustav Adolf um das Jahr 1626 die schwedischen Eroberungen gesichert hatte, konnte eine zielbewußte Arbeit für den Wiederaufbau der verwüsteten baltischen Landesteile beginnen. Eine Kommission wurde 1626 eingesetzt, die die Probleme Estlands, Livlands und Ingermanlands lösen und die Voraussetzungen für eine Neugestaltung untersuchen sollte. Im Juli des nächsten Jahres traf die Kommission zusammen mit dem Bischof von Västeräs, Johannes Rudbeckius, dem die schulischen und kirchlichen Fragen anvertraut waren, in Estland ein. Dem Bischof waren weitgehende Befugnisse erteilt worden. Er sollte einen Superintendenten als Leiter der Kirche sowie ein Konsistorium ernennen, das Land in Propsteien einteilen, eine Kirchenordnung einfuhren, die an die vorhandene Kirchenordnung

1

Jerker Rosen: Statsledning och provinspolitik under Sveriges stormaktstid: en författningshistorisk skiss.- In: Scandia. Tidskrift för historisk forskning 17 (1946), S. 224-270; Jaak Naber: Motsättningarnas Narva. Statlig svenskhetspolitik och tyskt lokalvälde i ett statsreglerat samhälle. 1581-1704.- Uppsala: Historiska Institutionen 1995 (= Opuscula Historica Upsaliensia; 15), S. 17, 37-41,43.

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Schwedens anknüpfte, und außerdem versuchen, den Zehnten als ökonomische Basis der Kirche wiedereinzuführen.2 Bischof Rudbeckius hatte schon 1614-15 als Hofprediger Gustav Adolfs den Feldzug gegen Rußland mitgemacht und konnte deshalb als ein Mann gelten, der mit den Verhältnissen im Nordbaltikum vertraut war. In religiösen Fragen war er orthodoxer Lutheraner. Für die Armen hegte er Mitleid. Unerschrocken beschuldigte er den Adel wegen seiner Neigung zu luxuriösem Leben, während die niedrigen Schichten der Bevölkerung unterdrückt wurden.3 Um sich von der Lage der Dinge innerhalb der Kirche in Estland vorerst einmal ein Bild zu machen, berief der Bischof die Pastoren Estlands nebst zumindest vier Mitgliedern jeder Gemeinde des Herzogtums zu einer Synode in Reval ein. Die meisten Landprediger, aber nur wenige Bauern, fanden sich ein. Es stellte sich heraus, daß die Kirche sich in einem elenden Zustand befand. Als eine Folge des Krieges lagen manche Kirchengebäude völlig in Trümmern, andere waren im Winter voller Schnee oder wurden von den Pastoren als Vorratshäuser und Lagerräume benutzt. Hilfsgeistliche gab es überhaupt keine, und die Arbeit als Küster wurde oft von einem estnischen Bauern verrichtet. Durch Probepredigten wurde festgestellt, daß die Geistlichen des Herzogtums hinsichtlich ihrer Bildung eine äußerst heterogene Schar darstellten. Manche Prediger waren gute und gelehrte Männer, doch erhielten andere das Urteil »schwach« oder »gedankenlos«. Ein bedeutender Anteil war völlig ungebildet. Ein allgemein verbreiteter Mangel war die Unkenntnis des Estnischen, Muttersprache der weit überwiegenden Anzahl der Einwohner des Herzogtums. Es fehlte an Hilfsmitteln zur Erlernung dieser Sprache, und gedruckte Agenden oder geistliche Literatur in estnischer Sprache glänzten mit Abwesenheit. Nicht wenige Pastoren wurden als unsittlich und dem Trunk ergeben charakterisiert. Und wenn sich schon die Geistlichkeit auf einem so niedrigen Niveau befand, konnte die Landbevölkerung kaum höher stehen. Nach Aussage der Prediger waren die estnischen Bauern in völlige heidnische Dunkelheit verfallen, die zu Verwilderung und mora-

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Alvin Isberg: Kyrkoförvaltningsproblem i Estland 1561-1700.- Uppsala 1970 (= Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Historico-Ecclesiastica Upsaliensia; 16), S. 59, 6 2 - 6 3 ; Jerker Rosen: De baltiska provinserna.- In: Den svenska Historien. Bd. VI: Drottning Kristina, Vetenskap och kultur blomstrar.- Stockholm: Bonniers 1978, S. 181. Rosen: De baltiska provinserna (Anm. 2), S. 181. Zur Biographie von J. Rudbeckius siehe S[ven] G[unnard]: Rudbeckius, Johannes Johannis.- In: Svenska man och kvinnor. Biografisk uppslagsbok. Bd. VI.- Stockholm: Bonniers 1949, S. 3 8 7 - 3 8 9 und die dort angeführte Literatur.

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lischer Zerrüttung gefuhrt hatte.4 Bischof Rudbeckius kümmerte sich auch um den Mangel an Schulen für die Predigerausbildung in den baltischen Gebieten. Eine Behebung dieses Mangels bedeutete allerdings, daß man sich zunächst noch auf eingewanderte Pfarrer aus Deutschland oder Finnland verlassen mußte.5 Folglich war die Aufgabe, die Bischof Rudbeckius zu lösen versuchte, keineswegs einfach. Loyale, gelehrte und des Estnischen mächtige Gehilfen hatte er dringend nötig, aber dergleichen Leute waren damals im Herzogtum Estland, wie aus der obigen Schilderung hervorgegangen sein dürfte, nicht leicht zu finden, doch gab es etliche davon. Am 24. August 1627 setzte der Bischof sechs Pröpste ein. Sie sollten ein vorläufiges Konsistorium bilden und unter anderem durch jährliche Visitationen bestrebt sein, das geistliche Niveau der Pastoren zu heben, 6 das heißt dieselben Aufgaben erfüllen, die im übrigen schwedischen Reich dem örtlichen Bischof oblagen. Einer der Pfarrer, die Bischof Rudbeckius als Propst einsetzte, war der junge Henricus Stahl(ius, Stahlen oder Stahell).7 Zur Zeit der Ernennung war der etwa 27jährige Stahell gleichzeitig Pastor zu St. Petri (estn. Peetri) und St. Matthäi (estn. Madise) im Kreis Jerwen, etwa 60 km südöstlich von Reval. Stahell scheint für die beabsichtigte Aufbauarbeit und Neugestaltung in Estland hervorragend geeignet gewesen zu sein: geboren in Reval, Estnisch sprechend 4

Fredrik Westling: Biskop Johannes Rudbecks visitation i Estland 1627.- In: Handlingar rörande prestmötet i Hernösand den 1, 2 och 3 juli 1890.- Hernösand: Hernösands-Postens tryckeri-aktiebolag 1891, S. 22-25. 5 Alvin Isberg: Kyrkoförvaltningsproblem i Estland (Anm. 2), S. 70. 6 Die auf der Synode gefaßten Beschlüsse ergeben sich aus dem Tagebuch des Martin Aschaneus, der der Synode als Sekretär der Kommission beiwohnte. Vgl. Schwedisches Reichsarchiv (Stockholm), Livonica II: 621, 15-23. Eine ins reine geschriebene Version der Beschlüsse findet sich an anderer Stelle in der Livonica-Sammlung wieder: ebd., Livonica II: 32, »Beslut Pää thet Estiske Prestemötet, som är hällit i Räffle Uti Juli och Augusto Anno Domini 1627«. 7 Die Nachwelt, besonders in Estland, kennt ihn meist als »Heinrich Stahl«. Selbst schrieb er aber (als Unterschrift seiner zahlreichen Briefe) seinen Namen am häufigsten »Mfagister] Henricus Stahell«. Seine gedruckten Schriften tragen durchgängig die dativische Form »Von Mfagister] Henrico Stahlen«, die den Nominativ »Henricus Stahl(e)« ergeben dürfte. Um mich seinem eigenen Willen und Gebrauch anzuschließen, werde ich die Tradition aufgeben und fortan die Namensform »Henricus Stahell« verwenden. - Schon Jakob Hurt erwähnt, daß Stahell selbst seinen Namen »Stahell« schrieb. Vgl. Jakob Hurt: Mag. Heinrich Stahl. Ein Beitrag zur Kenntniß estländischer Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts.- Dorpat [1865], Manuskript im Estnischen Literaturmuseum in Tartu, fond 45, J. Hurda kogu, Μ 14:3, S. 65. - Gustav Suits nennt ihn »Henrik Stahel«. Vgl. Gustav Suits: Henrik Stahels svenskspräkiga katekes.- In: Svio-Estonica 10, NF 1 (1951), S. 154-168. - Ich danke Herrn Mihkel Volt im Literaturmuseum in Tartu fur das Herbeischaffen einer Kopie des Manuskripts von Hurt.

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und an den Universitäten Rostock, Greifswald und Wittenberg ausgebildet, Magister der Philosophie in Wittenberg am 24. September 1622.

Henricus Stahell in der Historiographie Das Leben und Wirken Henricus Stahells ist in der wissenschaftlichen Literatur verhältnismäßig gut beleuchtet, auch wenn unser Wissen immer noch viele Lücken aufweist. Es ist zum Beispiel zu bedauern, daß wir nicht einmal sein Geburtsjahr, geschweige denn das Geburtsdatum, kennen, sondern uns mit einer Mutmaßung (um 1600) - wenn auch sicherlich der Wahrheit nahekommend - zufriedengeben müssen. Die bisherige Behandlung des Themas liefert auch, wie die folgende Darstellung bekundet, nicht wenige Proben von Übersehen, Vergeßlichkeit und sogar reinen Mißverständnissen von seiten der Gelehrten, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Über Henricus Stahell befindet sich ungedrucktes archivalisches Material im Estnischen Historischen Zentralarchiv und in der Universitätsbibliothek in Tartu, im Stadtarchiv Tallinn, im Schwedischen Reichsarchiv und in der Königlichen Bibliothek in Stockholm, dazu in der Universitätsbibliothek in Uppsala sowie im Finnischen Staatsarchiv in Helsinki. Dieses Material kann als verhältnismäßig reichhaltig bezeichnet werden und ist der Forschung großenteils auch schon lange bekannt, obwohl es in allen Einzelheiten noch nicht erschöpfend genutzt ist. Möglicherweise sind zusätzliche Archivalien zum Thema Stahell auch in anderen als den genannten Institutionen vorhanden, vor allem in Rostock, Wittenberg und Greifswald, aber bisher hatte ich noch nicht Gelegenheit, dies an Ort und Stelle zu überprüfen. Gedruckte biographische Angaben über Henricus Stahell sind schon in seinen eigenen Werken zu finden, in erster Linie im Vorwort des dritten Teils seines vierteiligen Kirchenhandbuches,8 aber auch in den Dedikationen, Einleitungen und Vorworten seiner unvollendeten Postille,9 in 8

Henricus Stahein: Hand vnd Hauszbuches Für die Pfarherren/ vnd Hauszväter Ehstnischen Fürstenthumbs Erster Theil.- Riga: Gerhard Schröder 1632; ders.: Hand- vnd Hauszbuches Für die Pfarherren vnd Hauszväter Esthnischen Fürstenthumbs Ander Theil.- Reval: Christoff Reusner d.Ä./ Gymnasij Typogr. 1637; ders.: Hand- und Hauszbuches Für die Pfarherren und Hausz-Väter Esthnischen Fürstenthumbs Dritter Theil.- Reval: Chr. Reusners Sei. Nachgelassener Widwen Drückerey 1638; ders.: Hand- vnd Hauszbuches Für die Pfarherren vnd Hausz-Väter Esthnischen Fürstenthumbs Vierdter vnd Letzter Theil.Reval: Chr. Reusners Sei. Nachgelassener Widwen Drückerey 1638. 'Henricus Stahein: Leyen Spiegel. Darinnen kürtzlich gezeiget wird/ wie ein einfaltiger Christ Die Fest- vnd Sontägliche Evangelia in einer Lehr vnd heiligen Leben ihm zu nutze machen kan.- Reval: Heinrich Westphal 1641; ders.: Leyen-Spiegels [...] Sommer-Theil.- Reval: Heinrich Westphal 1649. - Ein

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seiner Anführung zur nordestnischen Sprache,10 im schwedischen Katechismus,11 in den Orationen und Synodalschriften.12 Die erste Darstellung Stahells aus der Feder eines anderen Autors erschien in der Chronik von Christian Kelch, wo der Verfasser kurz über die Stufen der kirchlichen Karriere Stahells berichtet und ihn wegen seiner »nutzbaren Anleitung« des Estnischen, der Postille und des Kirchenhandbuchs rühmt.13 Zeitlich folgt dann das Vorwort des nordestnischen Neuen Testaments, das 1715 in Reval erschien. 14 Daraufhin scheint Stahell in fast totale Vergessenheit geraten zu sein. Die einzige Erwähnung geschah 1752 in einem Verzeichnis der Bischöfe und Superintendenten Schwedens, wo sein Name und Geburtsort, das Datum der Ernennung zum Superintendenten, das (falsche) Todesjahr sowie sein Ruhm erwähnt werden.15 Erst um 1800 begegnen uns Nachrichten über das Leben und Wirken Henricus Stahells wieder etwas häufiger in der Literatur. Die Hauptdaten seines Lebenslaufes, seine estnische Grammatik und das vierbändige Hand- und Hausbuch werden 1796 in einer Predigermatrikel Estlands erwähnt.16 Fast zwanzig Jahre später teilte der auf Ösel (estn. Saaremaa) wohnende Arzt und Kreisschulinspektor Johann Wilhelm Ludwig von Luce dem Leserkreis der ersten estnischen sprachwissenschaftlichen Zeitschrift mit, daß ihm ein Exemplar eines estnischen Kirchenhandbuchs

Luxusexemplar des Leyen Spiegels mit einem Samteinband, das für die Königin bestimmt war, ist in den Sammlungen der Königlichen Bibliothek in Stockholm vorhanden. 10 Anführung zu der Esthnischen Sprach/ auff Wolgemeinten Rath/ vnd Bittliches Ersuchen/ publiciret von M. Henrico Stahlen.- Reval: Chr. Reusner der älter MDCXXXVII [1637], 11 Henricus Stahein: Förnufftennes Miölk. För the Narviske/ Ingermanlandske/ och Allentackiske Kyrckior upsat.- Reval: Heinrich Westphal 1644. 12 13 Kleinschriften von Stahl sind in der Königlichen Bibliothek in Stockholm und im Schwedischen Reichsarchiv in Stockholm vorhanden. Dazu kommen seine zwei Disputationen im Literaturmuseum in Tartu. 13 Christian Kelch: Liefländische Historia Oder Kurtze Beschreibung der D e n k würdigsten Kriegs- und Friedens-Geschichte Esth- Lief- und Lettlands.- Revall: Johann Wehner 1695, S. 560. 14 Meie Issanda JEsusse Kristusse Uus Testament Ehk Jummala Ue Sädusse Sanna mis Pärrast Issanda JEsusse Kristusse Sündmist pühhast Ewangelistist ja Apostlist on ülleskirjotud/ ja nüüd Ma kelel üllespantud Tallinnas.- Tallinnas: Johan Kristow Prendeken 1715. 15 Andr[eas] Rhyzelius: Episcoposcopias Sviogothicas, Eller Then SweaGöthiska Stichts- och Biskops-Chrönikons Sednare Del.- Linköping: Gabriel Biörkegren 1752, S. 60. 16 Gustav Carlblom: Prediger-Matricul Ehstlands und der Stadt Reval.- [Reval]: Iversen und Fehmer 1794, S. 7, 26, 38, 47.

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von Μ. Henrico Stahlen gehöre.17 Diese Erwähnung erfolgte anläßlich einer Diskussion in der Zeitschrift über ältere estnische Drucke und darüber, welche estnischen Bücher im Auftrag von Königin Christina von Schweden erschienen seien. Johann Wilhelm Ludwig von Luce berichtete kurz vom Inhalt des »gewiß sehr nützlichen und unentbehrlichen« Werkes und stellte noch fest: »doch ist's sobald vergessen«. Betreffs der Sprache begnügte er sich mit der allgemein gehaltenen Feststellung, daß sie von der damaligen »nicht blos in der Orthographie, sondern in andern wesentlichen Dingen verschieden« sei.18 Weitere Auskünfte über Stahell und tiefer schürfende Darstellungen seiner Werke ließen danach nicht lange auf sich warten. Nur wenige Jahre später erschien eine kurze Analyse der Sprache im LeyenSpiegel, die vorzugsweise dem Wortschatz gewidmet war.19 Bald wurde auch das erste und bisher einzige Buch, das Stahells estnischen Sprachgebrauch in seiner Gesamtheit ausfuhrlich darlegt, veröffentlicht.20 Es folgten kurz gehaltene Lebensberichte in verschiedenen biographischen Handbüchern21 sowie in der ersten estnischen Literaturgeschichte.22 Im Jahre 1865 wurde Stahell Gegenstand einer akademischen Abhandlung, die Jakob Hurt der theologischen Fakulät der Universität Dorpat vorlegte.23 In dieser Dissertation werden die Tätigkeit Stahells und seine Werke nicht nur aus theologischer Perspektive gründlich betrachtet, sondern auch sprachlich in aller Kürze dargestellt. Außerdem porträtiert der Autor in seiner Abhandlung das Leben Stahells ziemlich 17

[Johann Wilhelm Ludwig] von Luce: Ueber Stahl's Hand- und Hausbuch.- In: Beiträge zur genauem Kenntniß der ehstnischen Sprache 4(1815), S. 96-99. 18 Ebd., S. 98-99. 19 J[acob Johann Anton] Hirschhausen: Bemerkungen über Stahl's deutsch-ehstnische Postille.- In: Beiträge zur genauem Kenntniß der ehstnischen Sprache 12(1818), S. 77-87. 20 Wilhelm Friedrich Steingrüber: Bemerkungen, die ehstnische Sprache in beiden Hauptdialekten betreffend, veranlaßt durch M. Heinrich Stahls Schriften, und dem das Ehstnische liebenden Publikum übergeben.- Dorpat: Schünmann 1827. - Ich danke Frau Maret Klaus in der Akademischen Bibliothek in Tallinn für das Herbeischaffen von einer Kopie des seltenen Buches von Steingrüber. 21 Johann Friedrich von Recke, Karl Eduard Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bd. I-IV.- Mitau: Steffenhagen 1827-32, Bd. IV (1832), S. 257-260; H[ugo] Rfichard] Paucker: Ehstlands Geistlichkeit in geordneter Zeit- und Reihefolge.- Reval: Lindfors Erben 1849, S. 23, 42, 45, 47, 55-56, 182, 220, 232-233; Matth[ias] Akiander: Bidrag tili kännedom om Evangelisk-lutherska Församlingame i Ingermanlands Stift.- Helsingfors: Frenckell 1865, S. 61 -62, 66. 22 [Dietrich Heinrich] Jürgenson: Kurze Geschichte der ehstnischen Literatur.In: Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat 1 (1846), S. 46-49. 23 Hurt: Mag. Heinrich Stahl (Anm. 7).

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eingehend, so daß zu bedauern ist, daß diese Schrift nie im Druck erschien. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde auch eine Zusammenstellung der Revaler Ratsfamilien veröffentlicht, die eine Stammtafel der Familie Stah(el)l einschließt.24 Um 1900 erreichte das eben erwachte Interesse fur Henricus Stahell auch Schweden. In zwei kirchenhistorischen Darstellungen über Ingermanland während der schwedischen Herrschaft wurde unter anderem die Tätigkeit Stahells als Superintendent in Narva vor allem auf Grund von Material im schwedischen Reichsarchiv eingehend und kritisch beleuchtet.25 Ebenfalls gründlich, doch weniger kritisch, wurde Stahells Tätigkeit vor der Ernennung zum Superintendenten Ingermanlands (finn. Inkeri) und des Kreises Alientacken (estn. Alutaguse) dargestellt.26 In Estland brachte die sich herausbildende estnische gebildete Schicht den Namen Stahells in mehreren Schreiben zum Bewußtsein, meist in literaturgeschichtlichen Übersichten27 und am gründlichsten durch Martin Lipp.28 In Verbindung mit einer historischen Übersicht über die Bestrebungen der Bibelübersetzung ins Estnische wurden die Leistungen Stahells als Bahnbrecher hervorgehoben.29 Bemerkungen zu seiner Sprache werden immer häufiger und detaillierter; nach Jaan Jögever sind die in Estnisch verfaßten Werke von Stahell durch gute Kenntnisse des Estnischen und einen reichen Wortschatz gekennzeichnet, wenn Stahell auch gewisser besonderer Sprachzüge nicht mächtig ist.30 Die Entdeckung und Herausgabe eines umfangreichen estnischen Manuskripts aus den Jahren 1600-1606 erweckte die Frage, ob die Werke Stahells bloß Plagiate sei-

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Eugen von Nottbeck: Siegel aus dem Revaler Rathsarchiv nebst Sammlung von Wappen der Revaler Rathsfamilien.- Lübeck: Rahtgens 1880. 25 Carl Öhlander: Bidrag tili kännedom om Ingermanlands historia och förvaltning. I: 1617-1645.- Uppsala: Harald Wretmans tryckeri 1898; ders.: Om den svenska kyrkoreformationen uti Ingermanland: ett bidrag tili svenska kyrkans historia ären 1617-1704.- Uppsala: Almqvist & Wikseil 1900. 26 Fr[edrik] Westling: Biskop Rudbecks visitation i Estland (Anm. 4), S. 18-37; ders.: Estlands kyrka 1571-1644. Anteckningar.- In: Kyrkohistorisk ärsskrift 21 (1920-21), S. 185-229. 27 Kfarl] A[ugust] Hermann: Eesti kirjanduse ajalugu esimesest algusest meie ajani.- Jurjev: Hermann 1898, S. 32, 48; Tönu Sander: T. Sander'i Eesti kirjanduse ajalugu. II: Kunstluule, Eesti kunstkirjanduse algusest kuni Hornungini.- Jurjev: Sööt 1901; Mihkel Kampmann: Eesti kirjanduseloo peajooned, I.Tallinn: Schiffer 1912, S. 163-179. 28 M[artin] Lipp: Heinrich Stahl.- In: Tähtsad mehed VI. Hrsg. von Matthias Johann Eisen.- Tartu: Schnakenburg 1884, S. 4 0 - 8 3 . 29 W[ihelm] Reiman: Eesti Piibli ümberpanemise lugu. Meie Piibli 150-aastase juubeli mälestuseks. Teine trükk.- Tartu: Hermann 1890, S. 24-29. 30 Ders.: Paar sammu keele-ja kiijanduse-ajaloosse.- In: Eesti Kiijandus 4 (1909), S. 201-207; Jaan Jögever: Materjalid Eesti kiijakeele ajaloo jaoks.- In: Eesti Kirjandus 9 (1914), S. 68-70, 185-186.

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en. 31 Charakteristisch fur manche estnische Autoren, die sich über Stahell äußerten, ist eine mehr oder weniger ausgesprochene kritische Haltung gegenüber seiner Person selbst und seinem v o m Deutschen geprägten Estnisch. D i e s e Einstellung war wohl ein Resultat des nationalistisch motivierten Bedürfnisses, sich v o m Deutschtum zu distanzieren. In der Zwischenkriegszeit figuriert Henricus Stahell in der historischen Literatur, welche die religiöse Bekehrung und die kirchlichen Verhältnisse in Estland vor 1710 oder die Geschichte der Stadt Narva behandelt, 32 in sprachwissenschaftlichen oder folkloristischen Darstellungen, 3 3 in kirchenhistorischen Arbeiten 34 und biographischen Nachschlagewerken. 3 5 Der zweifellos wichtigste Beitrag über Stahell gibt unter anderem neue Auskünfte über seine Studienzeit an deutschen Universitäten, vor allem veranlaßt durch den Fund von Briefen Stahells an den Rat der Stadt R e v a l . 3 6 Obwohl Stahell oft erwähnt oder eingehender analysiert wird, kommt es jedoch zu keinen tiefschürfenden Einzeluntersuchungen über ihn oder seine Werke.

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Wilhelm Reiman: Neununddreißig Estnische Predigten von Georg Müller aus den Jahren 1600-1606.- Dorpat: Schnakenburg 1891 (= Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft zu Dorpat; 15); K[arl] Leetberg: On Stahl plagiaator?- In: Eesti Postimehe Teaduse erilisa (1904-05), S. 23-24, 27-28. 32 J[ohan] M[agnus] Salenius: Virolaisten käännytyksestä ja uskontoasioista vuoteen 1710.- In: Historiallinen Arkisto ΧΧΧΠ: 4 (1924); Sten Karling: Narva. Eine baugeschichtliche Untersuchung, Stockholm: Wahlström & Widstrand 1936; Afrnold] Soom: Ivangorod als selbständige Stadt 1617-1649.- In: Sitzungsberichte der Gelehrten Estnischen Gesellschaft 1935 (1937), S. 215-315. 33 A[lbert] Saaberk [= Andrus Saareste]: Vokaalidevahelise dentaalse spirandi vasted vanemas Pöhja-Eesti kirjakeeles.- In: Eesti Kirjandus 14 (1920), S. 290-296, 333-341; Mfatthias] Jfohann] Eisen: Stahl, kurat ja kalev.- In: Eesti Keel 4 (1925), S. 35-39; Aflbert] S[aares]te: Veel kord kalev Stahlil.- In: Eesti Keel 4 (1925), S. 137; Karl Mihkla: Eesti vormi- ja tuletusöpetuse ülevaade (1637 kuni 1927).- In: Eesti Kirjandus 21 (1927), S. 446-451. 34 Hjalmar Holmquist: Svenska kyrkan under Gustav II Adolf 1611-1632.- In: Hjalmar Holmquist, Hilding Pleijel: Svenska kyrkans histona. Bd. IV.- Stockholm: Svenska kyrkans diakonistyrelses bokförlag 1938, S. 438-447. 35 Georg Adelheim: Die Genealogie der alten Familien Revals von Heinrich Laurenty, Küster an St. Olai, f 1692. Ein Beitrag zur Personenkunde Revals.- Reval: Wassermann 1925; Georg Adelheim: Revaler Ahnentafeln. Eine Fortsetzung der Laurenty'sehen »Genealogie der alten Familien Revals«.- Reval: Wassermann 1935; A[mo] Rfafael] C[ederberg] & A[ndrus] Sfaareste]: Stahl (Stahel, Stahlius), Heinrich.- In: Eesti biograafiline leksikon. Hrsg. von A. R. Cederberg.- Tartu: Loodus 1926-29 (= Akadeemilise Ajaloo-Seltsi toimetused; 2), S. 490-492. 36 Hellmuth Weiss: Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie Mag. Heinrich Stahls.- In: Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft 30 (1938), S. 816-823.

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Während des Zweiten Weltkriegs erschien in Uppsala die schwedische Nationalbibliographie des 17. Jahrhunderts, die auch Stahells schwedischen Katechismus und vier von ihm auf schwedisch abgefaßte Rundschreiben an die Pastoren Ingermanlands verzeichnete. 37 Die Existenz des schwedischen Katechismus von Stahell in der Universitätsbibliothek Uppsala wurde bald danach der estnischen Forschung, ohne Hinweis auf die erwähnte Bibliographie, unterbreitet. 38 Zu gleicher Zeit wurden Angaben publiziert, die darauf deuteten, daß Stahell eine in estnischer Sprache gedruckte konkurrierende Postille hatte konfiszieren lassen, um die Publikation seines LeyenSpiegels zu sichern. 39 Die Sprachforscher nahmen die nordestnische Grammatik und das Vokabular von Stahell, seine sprachliche Tätigkeit, seinen estnischen Sprachgebrauch und die von ihm benutzten deutschen Lehnwörter unter die Lupe. 40 In Übersichtswerken über die estnische Literatur wurde gebührende Aufmerksamkeit auf Stahell und sein Wirken gelenkt, sowohl innerhalb als auch außerhalb Estlands. 41 Auch in kirchenhistorischen Untersuchungen, die Estland oder Ingermanland im 17. Jahrhundert behandelten, steht er als eine Zentralfigur da. 42 Es erschienen auch einige recht kurze biographische Artikel oder Notizen über ihn. 43

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Isak Collijn: Sveriges bibliografi, 1600-talet. Bidrag till en bibliografisk förteckning. Bd. Π: R-Ö, Tillägg och rättelser.- Uppsala: Svenska Litteratursällskapet 1944. 38 Gustav Suits: Henrik Stahels svenskspräkiga katekes (Anm. 7), S. 154-168. 39 Herbert Salu: Förbjuden estnisk litteratur under svensktiden.- In: Svio-Estonica 10, NF 1 (1951), S. 169-203. 40 Arnold Kask: Ülevaade eesti leksikograafiast 1917. aastani.- In: Keele ja Kirjanduse Instituudi uurimused I (1956), S. 140-169; ders.: Heinrich Stahli ja tema järglaste keeletarvitusest.- In: ders.: Eesti kirjakeele murdelise tausta kujunemisest.- Tartu: Tartu Riiklik Ülikool 1962, S. 8-12; George Kurman: The Development of Written Estonian.- The Hague: Mouton & Co. 1968 (= Indiana University Publications, Uralic and Altaic Series; 90), S. 5-7; Arnold Kask: Heinrich Stahli keelelisest tegevusest.- In: ders., Eesti kirjakeele ajaloost, I.Tartu: Tartu Riiklik Ülikool 1970, S. 38-47; Paul Ariste: Saksa laensönad Heinrich Stahli eesti keeles.- In: Emakeele Seltsi aastaraamat 9 (1963), S. 85119. 41 Herbert Salu: Eesti vanem kirjandus.- Vadstena: Törvik 1953 (= Iseseisvusaste kirjavara; 8), S. 20-23; dass., zweite, erweiterte Auflage.- Rooma: Maarjamaa 1974 (= Maaijamaa Taskuraamat; 3); Gustav Suits: Eesti kiijanduslugu, I köide. Algusest kuni ärkamisaja löpuni.- Lund: Eesti Kirjanike Kooperatiiv 1954, S. 21-27; E[rna] Siirak: H. Stahl.- In: Eesti kiijanduse ajalugu. I. köide. Esimestest algetest XIX sajandi 40-ndate aastateni. Toimetanud A[arne] Vinkel.Tallinn. Eesti Raamat 1965, S. 127-131. 42 Johan Köpp: Kirik ja rahvas. Sugemeid eesti rahva vaimse palge kujunemise teelt.- Lund: Eesti Vaimulik Raamat 1959; Alvin Isberg: Kyrkoförvaltningsproblem i Estland 1561-1700.- Uppsala: Almqvist & Wiksell [in Komm.] 1970 (= Acta Universitatis Upsaliensis, Acta Historico-Ecclesiastica Upsaliensia;

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Da sich die gedruckten Werke Stahells zu ausgesprochenen Raritäten entwickelt hatten, wurde seine nordestnische Grammatik in den 1970er Jahren als Faksimile sogar zweimal und fast gleichzeitig sowohl in Italien als auch in Deutschland der Forschung zugänglich gemacht. Beide Ausgaben enthalten einen Kommentar des jeweiligen Herausgebers, der die wichtigsten Ergebnisse der damaligen Forschung zu Stahells Grammatik und seiner Tätigkeit darstellt; der Kommentar in der deutschen Ausgabe ist der ausführlichere und auch breiter angelegte. Die italienische Ausgabe wandte sich einem kulturbewußten (exil)estnischen Publikum zu, während die deutsche Auflage in erster Linie für die internationale Sprachforschung bestimmt war.44 Stetig befanden sich Stahells estnische Texte im Blickpunkt der estnischen Sprachforscher.45 In einem buchhistorischen Beitrag wurde behauptet, daß Stahell durch seine Ehe mit Dorothea Eckholt die Gelegenheit bekommen habe, den handschriftlichen Nachlaß von Georg Müller in seinen Schriften zu verwerten.46 Ferner ergibt sich aus einer Bibliographie über gedruckte Dissertationen und Orationen der Universität Dorpat 1632-1656, welche dieser Schriften Henricus Stahell gewidmet wurden.47 In den beiden letzten Jahrzehnten erschienen mehrere wichtige Beiträge zur Biographie Henricus Stahells. Es wurde auch versucht, sein Leben und Wirken zusammenzufassen und seine Tätigkeit in einen breiteren Zusammenhang zu stellen.48 Speziell der biographische Artikel von 16); ders.: Svensk segregations- och konversionspolitik i Ingermanland 161 ΤΙ 704.- Uppsala: [o.V.] 1973 (= Acta Universitatis Upsalensis, Acta HistoricoEcclesiastica Upsaliensia; 23). 43 Zum Beispiel von I[ngemar] G[lemme]: Stahl, Henrik.- In: Svenska män och kvinnor. Biografisk uppslagsbok. Bd. VII.- Stockholm: Bonniers 1954, S. 178; Erna Siirak: Stahl (Stahel, Stahlius), Heinrich.- In: Eesti kirjanduse biograafiline leksikon. Hrsg. von Efndel] Nirk & E[ndel] Sögel.- Tallinn: Eesti Raamat 1975, S. 365. 44 Anführung zu der Esthnischen Sprach/ auff Wolgemeinten Rath/ vnd Bittliches Ersuchen/ publiciret von M. Henrico Stahlen, Revall M.DC.XXXVII [1637]. [Hrsg. von Vello Salo].- Rooma: Maarjamaa 1974 (= Maarjamaa Taskuraamat; 4); Die estnischen Grammatiken des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Harald Haarmann. Bd. I: Heinrich Stahl, Anfuhrung zu der Esthnischen Sprach (1637). Johann Gutslaff, Observationes Grammaticae circa linguam Esthonicam (1648).Hamburg: Buske 1976 (= Fenno-Ugrica; 2). 45 Arnold Kask: Leksikaalse informatsiooni ulatusest eesti sönaraamatuis.- In: Emakeele Seltsi aastaraamat 22 (1977), S. 15-27. 46 Hans Treumann: Molleriana. Isikuloolist Georg Mülleri kohta.- In: ders.: Vanemast raamatukultuuriloost.- Tallinn: Eesti Raamat 1977, S. 38-43, S. 42. 47 Matti A. Sainio: Dissertationen und Orationen der Universität Dorpat 16321656.- Stockholm: [o.V.] 1978 (= Arsböcker i svensk undervisningshistoria; 141). 48 Heinz von zur Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Gestalten und Generationen eines Ratsgeschlechts.- Köln, Wien: Böhlau 1985 (= Quellen und

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Kyösti Väänänen ist aufgrund seiner Vollständigkeit und Nüchternheit als besonders verdienstvoll zu bezeichnen. 4 9 In einer schulhistorischen Darstellung wurde die Tätigkeit Stahells ziemlich eingehend beleuchtet. 50 Einige biographische Berichtigungen wurden in einer populärwissenschaftlichen estnischen Zeitschrift publiziert; die Berichtigung wurde vorgenommen, weil vor allem Eugen von Nottbecks Werk zu Siegeln im Revaler Ratsarchiv aus dem Jahr 1880 in der bisherigen Forschung nicht in Betracht gezogen worden war. 51 Historiker, die sich mit der Geschichte Estlands, Livlands oder Ingermanlands befaßten, hatten natürlich ebenfalls Anlaß, Stahell zu erwähnen, 52 und auch in der buchgeschichtlichen Literatur figurieren stets die Titel der Werke von Stahell, 53 wie auch in estnischen Enzyklopädien, biographischen Nachschlagewerken 5 4 und kirchengeschichtlichen Darstellungen. 55 Die prinzipiell bedeutsame

Studien zur baltischen Geschichte; 6) S. 82, 84-96, 99-102; Huno Rätsep: Heinrich Stahli grammatika oma aja peeglis.- In: Eesti NSV Teaduste Akadeemia korrespondentliikme Arnold Kase 85. sünnipäevale pühendatud kirjakeele ajaloo päev 350 aastat eesti grammatikakirjandust 10. oktoobril 1987 kell 11 TRÜ aulas.- Tartu: Tartu Riiklik Ülikool 1987, S. 5-7; ders.: Heinrich Stahli keeleöpetus oma aja peeglis.- In: Keel ja Kirjandus 30 (1987), S. 709-715. 49 Kyösti Väänänen: Herdaminne for Ingermanland, I: Lutherska stiftsstyrelsen, församlingarnas prästerskap och skollärare i Ingermanland under svenska tiden.- Helsingfors: Svenska litteratursällskapet i Finland 1987 (= Skrifter utgivna av Svenska litteratursällskapet i Finland; 538), S. 278-280. 50 E[ndel] Laul: Eesti kooli ajalugu. 1. köide: 13. sajandist 1860. aastateni.- Tallinn: Valgus 1989. 51 Vgl. Anm. 24. - Liivi Aarma: Heinrich Stahl - esimene suurem eesti kiijamees.In: Horisont 10 (1990), S. 22-25. 52 Erik Amburger: Ingermanland. Eine junge Provinz Russlands im Wirkungsbereich der Residenz und Weltstadt St. Petersburg-Leningrad. Bd. Ι-Π.- Köln, Wien: Böhlau 1980 (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas; 13), S. 420, 1008; Kari Tarkiainen: Se vanha vainooja. Käsitykset itäisestä naapurista Iivana Julmasta Pietari Suureen.- Helsinki, Jyväskylä: Suomen Historiallinen Seura 1986 (= Historiallisia tutkimuksia; 132), S. 244; Jaak Naber: Motsättningarnas Narva (Anm. 1). 53 Kyra Robert: Raamatutel on oma saatus. Kirjutisi aastaist 1969-1990.- Tallinn: Eesti Teaduste Akadeemia Raamatukogu 1991; dies.: Boktryckarna i Tallinn pä 1600-talet.- In: Den estniska boken genom seklerna. Bokhistoriska uppsatser. Hrsg. von Endel Annus u. Esko Häkli.- Helsingfors: Helsingfors universitetsbibliotek 1995 (= Heisingin yliopiston kirjaston julkaisuja; 57), S. 31 -52; Elna Hansson: Heinrich Stahli »Leyen Spiegel'i« haruldane eksemplar, TÜRi haruldasi raamatuid.- In: Raamatukogu (1997), H. 4, S. 27-29. 54 Erna Siirak: Stahl, Heinrich.- In: Eesti kiijarahva leksikon. Hrsg. von Oskar Kraus.- Tallinn: Eesti Raamat 1995, S. 546-547. 55 Artur Vööbus: Studies in the History of the Estonian People, with Reference to Aspects of social Conditions, in particular, the religious and spiritual Life and educational Pursuit. ΙΠ.- Stockholm: ETSE 1974 (= Papers of the Estonian Theological Society in Exile; 26), S. 10, 19, 52-56, 59, 61, 64; Konrad Veem:

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Wahrnehmung, daß die Tätigkeit Stahells und seines K o l l e g e n Georgius Mancelius i m lettischen Raum v o n der damaligen schwedischen Bildungspolitik ausging, wurde in einer ideengeschichtlichen Dissertation festgestellt. 5 6 Der in estnischer Literatur über Stahell häufig vorgebrachte Vorwurf, daß seine Werke bloß Kompilationen seien, wurde in einem Beitrag über seinen schwedischen Katechismus als anachronistisch zurückgewiesen, da Kompilation eine damals gebräuchliche Methode war. 57 Im selben Artikel wurde auch die wahrscheinliche Inspirationsquelle des s c h w e d i s c h e n Katechismus v o n Stahell genannt, da es gelungen war, diese festzustellen. A u c h wurde behauptet, daß sein Katechismus in schwedischer Sprache geschrieben w o r d e n war, u m ins Russische übertragen z u werden und dadurch die Konversion der griechisch-katholischen B e v ö l k e r u n g in Ingermanland z u fördern. Stets wurden verschiedene A s p e k t e des Estnischen i m Werke Stahells beleuchtet. 5 8 D i e gängige Vermutung, daß Stahells in estnischer Sprache geschriebene Texte durch Kompilation entstanden waren, wurde überprüft und erwies sich als richtig. 5 9

Eesti vaba rahvakirik. Dokumentatsioon ja leksikon.- Stockholm: Eesti Vaimulik Raamat 1988, S. 34. 56 Jänis Kreslinä: Dominus narrabit in scriptura populorum. Α Study of Early Seventeenth-Century Lutheran Teaching on Preaching and the »Lettische langgewünschte Postill« of Georgius Mancelius.- Wiesbaden: Harrassowitz 1992 (= Wolfenbütteler Forschungen; 54) (zugl. Diss. phil. Stockholm 1989). 57 Piret Lotman: Veel kord Heinrich Stahli Ingerimaal kirjutatud katekismusest.In: Keel ja kiijandus (1995), S. 541-547; dies.: In Estland und im Ingermanland geschriebene Katechismen von Heinrich Stahl.- In: dies. (Hrsg.): Kirik ja kirjasöna Läänemere regioonis 17. sajandil. The church and written word in the Baltic Sea region in the 17 th century. Kirche und Schrifttum der Ostseeländer im 17. Jahrhundert.- Tallinn: Eesti Rahvusraamatukogu 1998 (= Acta Bibliothecae Nationalis Estnoniae (ABNE), Veröffentlichungen der Estnischen Nationalbibliothek, 7), S. 134-154. 58 Raimo Raag: A Comprehensive Estonian-Swedish Dictionary in Preparation and its Place in Estonian Lexicology.- In: Karl Hyldgaard-Jensen, Viggo Hjornager Pedersen (Hrsgg.): Symposium on Lexicology May 7 - 9 , 1992 at the Unversity of Copenhagen.- Tübingen: Niemeyer 1994 (= Lexicographica, Series Maior; 57), S. 241-249; Külli Habicht: «s-liitelised abstraktsed nimisönad eesti vanimais sönaraamatuis.- In: Läänemere rahvaste kirjakeelte ajaloost. Hrsg. von Jaak Peebo.- Tartu: Tartu Ülikool 1995 (= Eesti keele öppetooli toimetised; 1), S. 15-26; Valve-Liivi Kingisepp: Heinrich Stahli saksa-eesti sönastiku tölkevasteist.- In: Läänemere rahvaste kiijakeelte ajaloost. Hrsg. von Jaak Peebo.- Tartu: Tartu Ülikool 1995 (= Eesti keele öppetooli toimetised; 1), S. 4 0 - 4 7 ; Kristiina Ross: Kohakäänded Georg Mülleri ja Heinrich Stahli eesti keeles.- In: Pühendusteos Huno Rätsepale.- Tartu: Tartu Ülikool 1997 (= Tartu Ülikooli eesti keele öppetooli toimetised; 7), S. 184-201. 59

Kristiina Ross: Translation of Psalms by Georg Müller and Heinrich Stahl.- In: Lotman: Kirche und Schrifttum der Ostseeländer (Anm. 57), S. 106-133.

Henricus Stahell

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Wer war Henricus Stahell? Seiner eigenen Aussage nach wurde Henricus Stahell in Reval als Sohn des Kaufmannes und Meisters der Großen Gilde Hinrich Stahl geboren.60 Seine Mutter war Margaretha zur Mühlen,61 deren Ehe mit Hinrich Stahl um 1597 geschlossen worden war.62 Folglich hatte Henricus Stahell mütterlicherseits direkte verwandtschaftliche Beziehungen zu einem der hervorragendsten Magistratsgeschlechter Revals. In der modernen Stahell-Forschung wird wiederholt behauptet, daß die Eltern Stahells im September 1603 an der Pest verstorben seien, das heißt, als ihr Sohn nur einige Jahre alt war, und daß das Waisenkind deshalb von seinen Verwandten und Freunden des Elternhauses erzogen worden sei.63 Die angebliche Verwaisung wird sogar als Ursache gewisser negativer Charakterzüge, die ihm zugeschrieben werden, vorgeschützt.64 Die Angaben über seine Verwaisung beruhen aber auf einem Mißverständnis, das zuletzt seinen Grund darin hat, daß zu dieser Zeit in Reval mehrere Personen des gleichen Namens lebten. Derjenige Hinrich Stahl, der mit seiner Gattin 1603 in Reval an der Pest starb, war nicht der Vater, sondern der Großvater unseres Henricus Stahell. Der Vater verschied erst 1632, während die Mutter Stahells schon früher, vermutlich spätestens 1615, gestorben war; jedenfalls verheiratete sich der Vater 1616 zum zweiten Mal, und zwar mit der Witwe Gertrud von der Lippe, geb. Schmidt.65 Henricus Stahell legte das »erste Fundament« zu seinen Studien »in den Schulen zu Reval« und wurde auch »ein gantzes Jahr frey erhalten/ nach aller Notturfft versorget/ vnd privatim getrewlich informiret« von Henricus Vestring(ius), dem Pastor zu St. Olai (estn. Oleviste) in Reval und späterem Superintendenten der Stadt.66 Weil es in seiner Heimat

60

Stahlen: Hand- und Hauszbuches Dritter Teil (Anm. 8), S. [V-VI]. Nottbeck: Siegel aus dem Revaler Rathsarchiv (Anm. 24), S. 62; Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Anm. 48), S. 85. 62 Ebd., S. 82. 63 Weiss: Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie (Anm. 36), S. 816; Rätsep: Heinrich Stahli keeleöpetus oma aja peeglis (Anm. 48), S. 710. 64 Ebd., S. 710. - Die negativen Charakterzüge Stahells werden meines Wissens erstmals von Carl Öhlander erwähnt: Öhlander: Bidrag tili kännedom om Ingermanlands historia och forvaltning (Anm. 25), S. 179. 65 Nottbeck: Siegel aus dem Revaler Rathsarchiv (Anm. 24), S. 56, 62; Mühlen: Reval vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Anm. 48), S. 85, 99; Aarma: Heinrich Stahl - esimene suurem eesti kirjamees (Anm. 51), S. 23-24. 66 Stahlen: Hand- und Hauszbuches Dritter Teil (Anm. 8), S. [V], - Zur Biographie Vestrings siehe: Recke/Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon (Anm. 21), Bd. IV, S. 427; Paucker: Ehstlands Geistlichkeit (Anm. 21), S. 144. 61

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keine Universität gab, b e z o g Stahell ab Juni 1617 Rostock, 6 7 w o er i m Juni 1619 an der philosophischen Fakultät disputierte. 6 8 A b d e m 19. N o vember 1621 studierte er in Wittenberg, 6 9 und zuletzt, ab 1. Mai 1622, in Greifswald. 7 0 In Wittenberg besuchte er, w i e er selbst in e i n e m Brief an den Rat in R e v a l berichtet, V o r l e s u n g e n der lutherischen T h e o l o g e n Balduin, Meisner, Hunnius und Martini 71 und legte a m 24. September 1622 die Magisterprüfung ab, und zwar in Philosophie und nicht Theologie, 7 2 w i e manchmal behauptet wird. 7 3 Der Grund für die offenbar falsche Annahme, daß Stahell theologisch disputierte, dürfte s o w o h l das Thema seiner Dissertation sein (inwiefern man den M o s k o w i t e r zu den Christen zählen könne oder nicht) w i e auch die Tatsache, die sich aus d e m Titelblatt seiner Disputationsschrift ergibt, daß die Disputation in A n w e s e n h e i t des T h e o l o g e n Balthasar Meisner stattfand. Zur Finanzierung seines Studiums gewährte die Stadt Reval Stahell, w i e er selbst i m Vorwort des dritten T e i l s s e i n e s Kirchenhandbuches dankend angibt, ein Stipendium. 7 4 Einzelheiten betreffs dieses Stipendiu m s g e h e n aus e i n e m B r i e f Stahells hervor, der in Wittenberg am 67

Adolph Hofmeister: Die Matrikel der Universität Rostock. Bd. ΠΙ: Ost. 1611 — Mich. 1694.- Rostock: Nusser 1895, S. 26. 68 Weiss: Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie (Anm. 36), S. 817. Der volle Titel seiner Dissertation lautet: »D. Τ. Ο. M. F. A. Partis propriae disputatio logica secunda de demonstrationis medio, cui coronidis loco doctrinae de defmitione divisione et methodo subjungitur. Quam permissu et suffragio amplissimae Facultatis Philosophicae in Academia Rostochiensi, Praeside M. Johanne Olthoff tuebitur Henricus Stahlius Revaliensis. Habebitur disputatio horis et loco consuetis. Rostochi Typis exscripsit Joachimus Pedanus, anno MDCXDt«. 69 Bernhard Weissenborn: Album Academiae Vitebergensis. Jüngere Reihe, Teil 1 (1602-1660), Textband.- Magdeburg: Selbstverlag der Historischen Kommission 1934 (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und des Freistaates Anhalt, Neue Reihe; 14), S. 261, Fußnote 1. 70 Ernst Friedlaender: Universität Greifswald, Bd. I.- Leipzig: Hirzel 1893 (= Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven, Aeltere UniversitätsMatrikeln; 2) S. 459. 71 Stadtarchiv Tallinn, fond 230, nimistu 1, säilik B.o. 34. - Die betreffenden Lehrer Stahells waren allem Anschein nach Friedrich Balduin (* 1575, t 1627), Nikolaus Hunnius (* 1585, f 1643), Jakob Martini (* 1570, f 1649) und Balthasar Meisner (* 1587, t 1626). 72 Weissenborn: Album Academiae Vitebergensis (Anm. 69), S. 261, Fußnote 1. - Liivi Aarma behauptet, daß Stahell erst zu Beginn des Jahres 1623 Magister wurde, doch hat sich diese Angabe nicht bestätigt. Vgl. Aarma: Heinrich Stahl - esimene suurem eesti kirjamees (Anm. 51), S. 25. 73 Zum Beispiel Weiss: Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie (Anm. 36), S. 818; Siirak: Stahl, Heinrich (Anm. 41), S. 546-547. - Daß Stahell wirklich Magister der Philosophie wurde, ergibt sich aus: Weissenborn: Album Academiae Vitebergensis (Anm. 69), S. 261, Fußnote 1. 74 Stahlen: Hand- und Hauszbuches Dritter Theil (Anm. 8), S. [V],

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9. April 1622 datiert und an den Rat in Reval gerichtet ist: das Stipendium betrug 50 Taler, galt für drei Jahre und wurde ihm erstmals 1621 ausgezahlt.75 Damit war aber dieses Stipendium nur für die letzten drei seiner Studienjahre (1621-1623), als er in Wittenberg und Greifswald studierte. Es erhebt sich noch die Frage, woher Stahell die Mittel für die ersten (gut vier) Studienjahre in Rostock (von Juni 1617 bis November 1621) nahm. Da er aus einer der vornehmsten Familien Revals stammte, konnte er vermutlich mit gewisser Unterstützung des Vaterhauses rechnen, aber diese war offenbar nicht ausreichend. Später, im Vorwort seiner nordestnischen Sprachlehre, bekundet Stahell seinen Dank an den ehemaligen Bürgermeister Revals, Georg (Jürgen) von Lohn. Denn [...] hab ich nicht allein seiner mächtigen beförderung beym Hochweisen Raht zu Revall in erlangung eines dreyjahrigen stipendij, sondern auch milten freygebigkeit/ da ich zu Rostock eine geraume Zeit einen freyen Tisch und Stube bey Ihm gehabt. 76

Nachdem Henricus Stahell in Wittenberg den Magistergrad erworben hatte, kehrte er nach Rostock zurück (am 25. März 1623) und wurde, wie oben erwähnt, auch in Greifswald immatrikuliert. Da er aber keine Verlängerung seines Stipendiums erhielt, begab er sich im gleichen Jahr nach Hause und wurde für zwei vereinigte Landesgemeinden im Kreis Jerwen (St. Petri und St. Matthäi) ordiniert. Im nächsten Jahr, am 12. Februar 1624, verheiratete er sich mit Dorothea Eckholt (Eichholtz; getauft am 11. September 1594), die aus einer der Ratsfamilien Revals stammte.77 Einige Jahre später fand die Visitation des Bischofs Rudbeckius in Estland statt, wobei dem Bischof der junge, Estnisch sprechende Pfarrer Magister Henricus Stahell auffiel. Damit begann der rasche Aufstieg Stahells.

Der rechte Mann zum rechten Zeitpunkt am rechten Platz Schon zwei Jahre nach seiner Ernennung zum Propst in Jerwen im Jahre 1629 wurde Stahell auch zum Assessor des estländischen Landeskonsistoriums ernannt - die Stadtkirche Revals und die Landeskirche bildeten 75

Stadtarchiv Tallinn, fond 230, nimistu 1, säilik B.o. 34. - Auf diesen Brief Stahells weist erstmalig Hellmuth Weiss hin: Weiss: Beiträge zum Studiengang und zur Bibliographie (Anm. 36), S. 817-818. 76 Stahlen: Anfuhrung zu der Esthnischen Sprach (Anm. 10), S. [IV-V]. - Dem Schwiegersohn des verstorbenen Bürgermeisters, Hermann Witte, wurde die Schrift u. a. gewidmet. 77 Ebd., S. 13; Adelheim: Revaler Ahnentafeln (Anm. 35), S. 302; Treumann: Molleriana (Anm. 46), S. 42.

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damals zwei getrennte Institutionen. 1633 zog er nach St. Katharinen (estn. Kadrina) in Wierland, um dort das Amt als Pastor und Propst des Kreises Wierland und Allentacken zu bekleiden, jedoch mit Beibehaltung der Präpositur in Jerwen. Drei Jahre später, 1636, wurde er Assessor im Revaler Konsistorium.78 Als die Frage hinsichtlich der Ernennung eines Superintendenten der Kirche im Herzogtum Estland noch einmal in Stockholm aktuell wurde und der Regentschaftsrat für Christina, die unmündige Tochter des verstorbenen Gustav Adolf, im Juni 1637 die schwedische Geistlichkeit aufforderte, zwei oder drei Kandidaten für diesen Posten vorzuschlagen, fand sich der Name Henricus Stahell unter den zehn (sie!) Personen, die die Geistlichkeit in Vorschlag brachte.79 Statt des ursprünglich vom Regentschaftsrat zum Superintendenten Estlands ernannten Dompropstes in Abo (finn. Turku), Eskil Petraeus, wurde der Pastor der östlichen Gemeinde der Stadt Nyköping im Kreis Södermanland, Magister Joachim Jhering, eingesetzt. Nachdem Jhering zu Beginn des nächsten Jahres zum Superintendenten für Estland geweiht worden war, wurde Henricus Stahell auf Wunsch Jherings zum Oberpastor am Dom und zum Dompropst, das heißt Propst über Ost- und West-Harrien, ernannt.80 Auch dieses Amt sollte Stahell nur für kurze Zeit bekleiden. Schon drei Jahre später, mit königlicher Bestallung vom 16. Juli 1641, wurde er zum Superintendenten Ingermanlands und Allentackens mit Sitz in Narva ernannt. Nach dieser Ernennung wurde er wahrscheinlich auch in den Adelsstand erhoben und erwarb vermutlich in diesem Zusammenhang zwei Güter, eines in Ingermanland (Neßnowa/Niisnova nördlich von Kotly/Kattila) und eines in Allentacken (Kallina/Kalina südlich von Jewe/Jöhvi). 81 Einerseits dürfte es nicht zufällig sein, daß der Superintendent von Ingermanland und Allentacken eine Verleihung in jedem Distrikt erhielt, dessen geistliche Leitung ihm anvertraut war. Die Verleihungen können andererseits

78

79 80

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Im Gesamtvorwort seines Hand- und Hauszbuches, das am 20. Januar 1637 datiert und von »Superintendens, Praepositi, vnd Pastores der Christlichen Kirchen im Fürstenthumb Esthen« unterzeichnet ist, wird er als »Pastor zu S. Catherinen/ Probste in Wirrland vnd Jerwen/ vnd des Königl. Consistorij Assessor« erwähnt. Siehe auch Recke/Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon (Anm. 21), Bd. IV, S. 257. Westling: Estlands kyrka 1571 -1644 (Anm. 26), S. 213. Ebd., S. 214. - Die diesbezügliche Bitte Jherings, die an den Regentschaftsrat gerichtet und am 23. Mai 1638 datiert ist, befindet sich im Schwedischen Reichsarchiv (Stockholm), Livonica Π: 32, Skrivelser frän Revals biskop och konsistorium 1584-1672. Seit seiner Ernennung zum Superintendenten wird er dann und wann mit dem Titel »Hereditario in Kallina & Neßnowa« erwähnt (siehe zum Beispiel Anm. 85).

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aber auch die Lösung des schwierigen Problems der Versorgung des Superintendenten Stahell von Seiten der Staatsleitung sein. 82 Seine restlichen Lebensjahre sollte Henricus Stahell in Narva verleben. In dieser Stadt starb schon am 17. Mai 1646 seine Gemahlin Dorothea. 83 Nach deren Tode heiratete er Anna Sommer, Tochter eines Ratsherrn in Narva. 84 Die zweite Gattin Stahells verstarb am 20. Juni 1655, 85 woraufhin Henricus Stahell zum dritten Mal den Bund der Ehe schloß, frühestens wohl im darauffolgenden Jahr. Die dritte Gemahlin Stahells war Anna Torwigge, eine Tochter des Sekretärs der Gouvernementsregierung und ehemaligen Schloßschreibers in Narva, Torsten Torwigge. 8 6 Diese Ehe sollte aber nicht lange währen. Anfang Juni 1656 attackierten russische Truppen Ingermanland, Estland und Livland, und im Sommer des nächsten Jahres brach in Narva die Pest aus. Unter der reichen Ernte, die diese Epidemie in Narva hielt, befand sich auch der Superintendent Stahell, der am 7. Juni 1657 verschied, nebst seinem gleichnamigen Sohn. Erst am 13. August wurden Vater und Sohn beerdigt. 87

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Dies wird in der Literatur als Problem erwähnt: Akiander: Bidrag tili kännedom om Evangelisk-lutherska Församlingarne (Anm. 21), S. 61. 83 Adelheim: Revaler Ahnentafeln (Anm. 35), S. 302. 84 Jener Hinrich Stahl, der sich 1643 mit Margareta Stra(h)lborn verheiratete und den Huno Rätsep mit gewissen Zweifeln für unseren Henricus Stahell hielt, [Rätsep: Heinrich Stahli keeleöpetus oma aja peeglis (Anm. 48), S. 711], ist faktisch der gleichnamige Enkel seines Großonkels. Vgl. Nottbeck: Siegel aus dem Revaler Rathsarchiv (Anm. 24), S. 62. Anderenfalls würde der Kirchenleiter Stahell sich einer Doppelehe schuldig gemacht haben, da ja seine erste Gemahlin Dorothea erst drei Jahre später (1646) starb (siehe Anm. 83). 85 Mindestens zwei Trostschriften an den Superintendenten Stahell anläßlich des Hinscheidens seiner Gattin Anna Sommer wurden in Dorpat/Tartu 1655 bei Johann Vogel gedruckt, eine in lateinischer, die andere in deutscher Sprache: Ultimus Honor exeqiis, Quas Nobilißimae & Matronam decentibus virtutibus conspicuas DNE. ANN/E Sommer/ premature, beatissime hujus vitae usuram defunctae, Conjugi suas dilectissimae; XX. Junii Narvas Livonorum terra gremio demandandas, Maxime Reverendus, Nobiliß, Preclarißimus DN. M. HENRICUS STAHEL/ Haered. in Neßnowa & Kallina/ per Ingriam & Alentakiam Superintendens, [...] Dorpati Livonorum, Typis exscriptus a Johanne Vogelio, Reg. Acad. Typ. Anno M.DC.LV; Klag- und Trost-Schrifft An den WolEhrwürdigen/ GroßAchtbaren und Hochgelarten Hr. M. HENRICUM Stahein/ auff Neßnowa und Kallina Erbgesessen/ wolverordnetem Superintendenten des Fürstenthums Ingermanland/ sampt Narva und Alletacken/ über das unverhoffte doch seelige Abscheiden der WolEdlen und HochEhren-Tugendreichen/ nunmehr in GOtt seeligruhenden Frauen Fr. Anna Sommerin/ seiner weyland hertzgeliebten HausEhren. [...] Gedruckt in Dorpat durch Johann Vögeln/ der Königl. Acad. Buchdrucker/ 1655. 86

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Gustaf Eigenstierna: Den introducerade svenska adelns ättartavlor med tillägg och rättelser. Bd. VIII.- Stockholm: Norstedt & Söner 1934, S. 332. Ebd.

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Die offensichtlich schnelle Karriere, die Henricus Stahell machte, beruhte sicherlich darauf, daß er der rechte Mann war, der zum rechten Zeitpunkt am rechten Platz zur Hand war. In diesem Lande, das durch die langwierigen Kriege schwere Schäden erlitten hatte, mangelte es an loyalen und kompetenten Leuten, und nicht zuletzt an Predigern. Der Revaler Bischof Joachim Jhering charakterisierte Stahell 1637 in einem Schreiben an die Königliche Majestät bzw. den Regentschaftsrat als »einen Mann voller Eifer, hochbegabt, gelehrt, auch mit der estnischen Sprache vertraut«.88 Auch später teilt Bischof Jhering dem Regentschaftsrat in Stockholm Lob über Stahell mit: Er kennt die Zustände der ganzen Diözese, strebt unverdrossen fur das Beste der Gemeinde Gottes, ist treuer gegen die schwedische Krone als andere Estländer und Revalsche zu sein pflegen, und wäre der Mann nicht, weiß ich, daß ich anfangs sehr wenige Früchte meines Amts hätte. 89

Damit ergibt sich, daß die schwedischen Behörden in Stahell gerade den Mann sahen, den sie sich als Mitarbeiter wünschten. Ein wichtiger, für Stahell sprechender Umstand war seine Kenntnis der estnischen Sprache. Solche Kenntnisse waren von den schwedischen Behörden ständig begehrt. Schon König Johann III. befahl 1588 seinem Statthalter in Estland, Gustav Baner, dafür zu sorgen, daß der Bischof und sein Stellvertreter nur solche deutschen Pfarrer und Schullehrer anstellen sollten, die dem König einen Treueid leisteten und auch des Estnischen mächtig waren.90 Auch spätere Regenten Schwedens lenkten wiederholt die Aufmerksamkeit darauf, daß lokale Beamte Estnisch beherrschen müßten.91 Die Ansicht, daß die Annäherung Stahells an einflußreiche schwedische Kreise nur durch seinen Karrierismus bedingt gewesen sei und daß diese erfolgte, als Stahell in St. Katharinen als Pfarrer (und Propst) tätig war,92 also zwischen 1633 und 1638, muß differenziert werden. Seine Wahl mußte Stahell sicherlich schon früher treffen, spätestens im Sommer 1627 in Verbindung mit der Visitation des Bischofs Rudbeckius. Seine Loyalität gegenüber dem Staat, dessen Untertan er war, galt dem damaligen Zeitgeist gemäß, dem Regenten persönlich - zuerst Gustav Adolf, ab 1632 dem Regentschaftsrat unter der Leitung von Axel Oxenstierna, dann Königin Christina und zuletzt Karl X. - und hatte ihren Grund eher in seiner Pflichttreue und seinem Eifer. Dies sind Eigen-

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Schwedisches Reichsarchiv (Stockholm), Livonica II: 32, Skrivelser frän Revals biskop och konsistorium 1584-1672; meine Übersetzung. Zit. nach Westling: Estlands kyrka 1571-1644 (Anm. 26), S. 218; meine Übersetzung. Ebd., S. 190; Naber: Motsättningarnas Narva (Anm. 1), S. 20. Ebd. Suits: Henrik Stahels svensksprikiga katekes (Anm. 7), S. 168.

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schaften Stahells, die von Superintendent Jhering, das heißt einem Zeitgenossen, erwähnt werden, und daher wohl als einigermaßen zutreffend gelten müssen. Durch den Wechsel auf dem schwedischen Thron kam es zu Veränderungen in der schwedischen Politik gegenüber den Ostseeprovinzen. Dies wirkte sich natürlich auch auf Stahell aus. Seine Staatstreue brachte ihn der Oxenstiernaschen Partei nahe, was auf verschiedene Weise zum Ausdruck kam. Sowohl in seinen Briefen an den Reichskanzler Axel Oxenstierna als auch im Vorwort der zweiten Kontinuation im Winterteil der Postille LeyenSpiegel (1641) erwähnt Stahell ausdrücklich den Reichskanzler als seinen besonderen Gönner. Vielleicht ist es auch kein Zufall, daß ein Sohn Stahells den Vornamen Axel trug.93 Nach dem Tode König Gustavs Adolf in November 1632 leitete Axel Oxenstierna den Regentschaftsrat für Christina, die unmündige Thronerbin. Während zehn Jahren war er der wahre Herrscher Schwedens: von 1634 (dem Jahr, als die Wahlen zum Regentschaftsrat abgehalten wurden) bis 1644 (dem Jahr der Thronbesteigung Königin Christinas). In Oxenstierna suchte und fand der staatstreue Stahell Rückhalt. Dies dürfte vielleicht nicht ganz unproblematisch gewesen sein, da der Reichskanzler, selbst hochadlig, im allgemeinen als Leiter des Regentschaftsrats eine andersartige Politik empfahl als die, die Gustav Adolf und besonders Karl IX. gefuhrt hatten. Hinsichtlich der Ostseeprovinzen zog Karl IX. eine Politik vor, welche die Provinzen dem Mutterland ebenbürtig machen sollte, während der Kanzler eine Politik förderte, die möglichst große Autonomie für die Ostseeprovinzen gestattete.94 Der Kanzler trug auch dazu bei, die Privilegien des Adels zu bestätigen und ihren Grundbesitz zu erweitern. Selbst hatte er 1622 das Bistum Wenden (lett. Cesis) in Livland als Schenkung bekommen.95 Der Reichskanzler und der schwedische Hochadel hatten damit in dieser Frage eigene Interessen wahrzunehmen. > Nolens volens< wurde Stahell mit dieser Adelspartei verbunden. Als Geistlicher dürfte Stahell aber beispielsweise die Bestrebung der Königspartei, den Zehnten als ökonomische Basis fur die Existenz der Kirche wiedereinzuführen, als positiv bewertet haben, während die Adelspartei solche Versuche kategorisch ablehnte. Ein bekannter Fürsprecher für die »königliche« Haltung war vor allem der Generalgou-

93

Ich vermute, daß der Gefreite Axel Stahl ein Sohn des Superintendenten ist. Axel Stahl hat einen Brief hinterlassen, der in Neßnowa, dem ingermanländischen Gut des Superintendenten Stahell, am 19. Januar 1675 datiert ist: Schwedisches Reichsarchiv (Stockholm), Ericsbergssamlingen, Autografsamlingen. 94 Naber: Motsättningarnas Narva (Anm. 1), S. 41 - 42. 95 Ragnar Liljedahl: Svensk förvaltning i Livland 1617-1634. Akademisk avhandling.- Uppsala: Almqvist & Wiksell 1933, S. 44; Edgars Dunsdorfs: The Livonian Estates of Axel Oxenstierna.- Stockholm: Almqvist & Wiksell 1981.

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verneur Livlands, Johan Skytte, der sich aber zur Zeit des Regentschaftsrates schwerlich behaupten konnte. Die Loyalität Stahells gegenüber der schwedischen Staatsgewalt wurde auch in äußeren, sprachlichen Umständen deutlich. Als treuer und redlicher hoher Beamter und Untertan Schwedens, schon ein Mann in den mittleren Jahren, fand er sich veranlaßt, Schwedisch zu lernen und zu praktizieren. Ab 1643 beginnt er, seine Briefe an den Reichskanzler und die Königliche Majestät fast ausnahmslos in schwedischer und nicht, wie vorher, in (meist) deutscher oder (selten) lateinischer Sprache abzufassen. Damit kam Stahell auch einer Aufforderung der Krone nach, die beispielsweise durch die schriftlichen Instruktionen der neuen Gouverneure der Osteeprovinzen in Worte gefaßt wurde, daß die jährlichen Tätigkeitsberichte, die nach Stockholm gesandt werden sollten, auf Schwedisch abgefaßt werden müßten.96 Ferner publizierte Stahell 1644 seinen kleinen schwedischsprachigen Katechismus, Förnufftennes Miölk. Die Beherrschung der schwedischen Sprache in diesem Katechismus soll nach Gustav Suits besser sein, als es sich anhand der estnischsprachigen Werke Stahells für das Estnische sagen läßt.97 Im Hinblick auf die Tatsache, daß Stahell mit dem Estnischen im mehrsprachigen Reval eigentlich von klein auf vertraut gewesen sein dürfte, kommt eine so negative Beurteilung vielleicht etwas unerwartet. Aber es soll nicht davon abgesehen werden, daß das gute Schwedisch Stahells wohl darauf beruhen kann, daß er vor der Drucklegung seines schwedischen Katechismus den Text von einem gebürtigen Schweden im Narvaer Konsistorium oder in der Gouvernementskanzlei korrigieren ließ. In bezug auf das Schriftestnische dagegen war er ein - oder sogar der - Pionier und galt selbst als normgebend. Ein weiterer Umstand, der auch von Stahells schwedischer Orientierung zeugt und in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden soll, ist, daß Torsten Bengtsson Torwigge, der Vater der dritten Gattin Stahells, zu der Zeit, als Stahell das Amt als Superintendent in Narva antrat, Schloßschreiber in derselben Stadt war. Anna Torstensdotter Torwigge, die dritte Gattin Stahells, war also eine Schwedin. 96 97

Naber: Motsättningarnas Narva (Anm. 1), S. 44. Suits: Henrik Stahels svensksprlkiga katekes (Anm. 7), S. 167. - Im allgemeinen äußerten sich die estnischen Forscher über Stahells Estnischkenntnisse sehr kritisch. Einige Beispiele: »die Tätigkeit Stahls bezeichnet den Sturz des Schriftestnischen zum bisher tiefsten Stand« - Salu: Förbjuden estnisk litteratur under svensktiden (Anm. 39), S. 171; »Stahl zeigt [...] kein Verständnis fur die eigenartige Struktur des Estnischen« - Kask: Eesti kirjakeele ajaloost (Anm. 40), S. 40; »Es wimmelt von groben Sprachfehlern in seinen Werken, teils weil ihm die Volkssprache wenig bekannt war, teils wegen fehlerhaften Theoretisierens« - Rätsep: Heinrich Stahli keeleöpetus oma aja peeglis (Anm. 48), S. 714. Positiver sind Jögever: Materjalid Eesti kirjakeele ajaloo jaoks (Anm. 30), S. 68-70, und Haarmann: Kommentar.- In: ders.: Die estnischen Grammatiken des 17. Jahrhunderts (Anm. 44), S. 9-37.

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Die schriftstellerische Tätigkeit Stahells Um den Mangel an passenden Predigern im Lande zu beseitigen, mußten solche aus dem Ausland angeworben werden, denn an höheren Schulen in Est- und Livland fehlte es noch. Die ausländischen Pastoren, die in die schwedischen Ostseeprovinzen übersiedelten, hatten aber keine Estnischkenntnisse, außerdem mangelte es an Hilfsmitteln fur das Erlernen dieser Sprache. Folglich richtete Henricus Stahell seine Aufmerksamkeit auf die Zusammenstellung und Veröffentlichung von zweisprachigen (deutsch-estnischen) religiösen Handbüchern. Im Vorwort zum ersten Teil seines Hand- und Hausbuches gab er sogar eine programmatische Erklärung ab: Es sol aber der guthertzige Leser nach diesem [Werk] zu erwarten haben ein Gesangbuch/ die gewöhnlichen Evangelien/ vnd Episteln/ eine kurtze Eintfaltige Leyen Postil/ vber die Son- vnd Festtage Evangelien vnd Episteln/ wie auch vber die Historia des bittern Leidens Christi/ darinnen Textus mit einer kleinen Summa/ mit dem vomehmesten lehren/ kräfftigsten Trösten/ vnd einem kurtzen Gebete erklähret wird. 98

Zielbewußt und energisch ging er an die Verwirklichung seines Programms. Als sein Hauptwerk gilt eben das vierteilige Hand- und Hauszbuch. Der erste Teil, aus dem das obige Zitat stammt, wurde in Riga von Gerhard Schröder gedruckt, dem damals einzigen Drucker im nordbaltischen Raum, während die folgenden Bände aus der neugegründeten Druckerei (1633) des Deutsch-Stockholmers Christoph Reusner des Älteren in Reval stammten. Der erste Teil enthält den kleinen Katechismus Martin Luthers sowie Mustertexte fur die Beichte. Der zweite Teil ist ein Gesangbuch mit 142 deutschen Kirchenliedern, die ins Estnische nur inhaltlich übersetzt sind - offenbar dienten die Übersetzungen nur dem Zweck, dem Leser Auskunft in estnischer Sprache über den Inhalt der Lieder zu geben, die aber nicht in Estnisch gesungen werden sollten. Einigen Liedern sind sogar Noten hinzugefugt. Viele Lieder hatte Stahell allerdings nicht selbst übertragen, sondern von Kollegen zugesandt erhalten." Der dritte Teil des Stahellschen Hand- und Hausbuches umfaßt Episteln, die Leidensgeschichte Christi und die Evangelien. Der vierte und letzte Teil enthält 14 Psalmen Davids aus dem Alten Testament, Gebete, Empfehlungen mit estnischen Mustertexten für das Annehmen solcher Gemeindeglieder, die an Schwermut, Verzagtheit oder einer Krankheit litten, eine Sünde begangen hatten, im Sterben lagen oder zum Tode verurteilt waren; außerdem wurden Vorschläge fur Predigttexte bei Taufen und Beerdigungen gegeben. 98 99

Stahel: Hand- und Hauszbuches Erster Teil (Anm. 8), S. [11 -12], Ders.: Hand- und Hauszbuches Ander Theil (Anm. 8), S. [5].

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Insgesamt beinhaltet das Kirchenhandbuch rund 800 gedruckte Seiten. Der deutsche und estnische Text ist in zwei parallelen Spalten angeordnet, anscheinend um Pastoren, die mit dem Estnischen nicht gut vertraut waren, das Vorlesen direkt aus dem Buch zu ermöglichen. Die ersten Teile stellte Stahell fertig, als er in St. Matthaei und St. Petri in Jerwen tätig war; der letzte Teil folgte, nachdem er nach St. Katharinen im Kreis Wierland übergesiedelt war. Wie aus den jeweiligen Titelblättern ersichtlich ist, trug er die Publikationskosten für die drei ersten Teile des Werkes selbst. Um die Zeit, als Stahell sein Kirchenhandbuch schon beendet hatte, und kurz bevor er zum Superintendenten in Narva ernannt wurde, hatte Simon Blankenhagen (1589-1640), Pfarrer zum Heiligen Geist in Reval, eine nordestnische Postille veröffentlicht. Bald nach deren Veröffentlichung segnete aber Blankenhagen das Zeitliche. 100 Da Henricus Stahell allem Anschein nach im besten Zuge gewesen war, selbst eine estnische Postille zusammenzustellen (ich verweise auf seine oben zitierte programmatische Erklärung), gelang es ihm, die Konfiszierung der Blankenhagenschen Postille zu erwirken und die gedruckten Exemplare vernichten zu lassen. Dies geschah möglicherweise zur Zeit seines Aufenthaltes in Stockholm 1641, wohin er im Zusammenhang mit der Ernennung zum Superintendenten berufen wurde, und mit der Hilfe von Bischof Joachim Jhering. Stahell konnte daraufhin seine eigene Postille zu Ende fuhren und bald im Druck erscheinen lassen. 101 Sein LeyenSpiegel, der die schönste Leistung der Revaler Druckerei des ganzen 17. Jahrhunderts sein soll,102 wurde 1641 (Winterteil) und 1649 (Sommerteil) in Reval im Folio-Format herausgegeben. Möglicherweise war Stahell bei der Eliminierung der konkurrierenden Postille von Blankenhagen deshalb erfolgreich, weil sein Buch auf Kosten der Königlichen Majestät gedruckt wurde und er aus diesem Grunde behaupten konnte, daß seine Postille als von der Königin beauftragt zu sehen sei. In der gedruckten Dedikation an Königin Christina schreibt er: Vnd dann Endlich/ weil diese Arbeit Ew. Königl. Mayst. eigentlich zugehöret/ nicht nur darumb/ daß unter Ew. Königl. Mayst. Schutz und Schirm/ von Ew. Königl. Mayst. armen Vnterthanen und Diener/ Ew. Königli. Mayst. Vntersassen zu nutz und gute dieselbe verfertiget; Sondern auch dahero/ daß Ew. Königl. Mayst. diese Arbeit gleichsam an Sich/ und zwar gar thewr/ erkaufft/ in dem Ew. Königh. Mayst. die Kosten/ so auff edir- und publicirung dieser Arbeit gehen/ allergnädigst und mildest mir geschencket und verehret haben.103 100

Uus Testament (Anm. 14), S. [6]. Näheres über die Konfiszierung der Postille Blankenhagens bei Salu: Förbjuden estnisk litteratur under svensktiden (Anm. 39), S. 170-174; Suits: Henrik Stahels svenskspräkiga katekes (Anm. 7), S. 158. 102 Robert: Boktryckarna i Tallinn pä 1600-talet (Anm. 53), S. 37. 103 Stahein: Leyen Spiegel (Anm. 9), S. [Va]. 101

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Mitten, in der Arbeit an seinem Hand- und Hausbuch hielt Stahell es fur nötig, die Verwirklichung seines Programms zu unterbrechen, um ein dringend notwendiges kleines Werk zu schreiben und herauszugeben. Es handelt sich um seine Anführung zu der Esthnischen Sprach, die im Jahre 1637 »in Verlegung des Authoris« erschien. Dies ist das erste estnische Buch in seiner Art. Die Sprachlehre mit nur 33 Seiten ist im wahrsten Sinne des Wortes nur eine Einfuhrung (»Anführung«), genau wie der Titel in Aussicht stellt. Die restlichen 100 Seiten des Buches umfassen ein Wörterbuch, in dem - falls meine Zählung stimmt - 2351 deutsche Stichwörter mit 3090 nordestnischen Entsprechungen versehen sind.104 Im Vorwort schreibt Stahell, daß es ihm zwar niemahlen in den sinn gekommen/ diese oder sonst eine andere/ anfuhrung zu verfertigen/ und durch den Truck zu publiciren: Nichtesdestoweniger aber/ weil ich von vielen guthertzigen Herren vnd Freunden wolmeinend so Schrifft- so mündtlich darumb angelanget/ hab ich mich dazu endtlich bereden lassen/ vnd bey vielfaltiger ordinari vnd extraordinari Arbeit/ diese jetzige/ wie sie für Augen/ in kurtzer frist entworffen/ vnd dem Trücker übergeben/ nicht zweiffeiend/ es werde damit etlichen/ vnd sonderlich denen/ die die Sprache nicht wissen/ vnd beliebung dazu tragen/ gedienet werden. Gott wolle seinen Segen dazu verleyhen. 105

Aus einer allgemeinen Perspektive stellt sich bei der Anführung von Stahell als besonders erwähnenswert dar, daß sie auf Deutsch und nicht auf Lateinisch abgefaßt wurde. Die Grammatiken, die damals über zentraloder nordeuropäische Sprachen geschrieben wurden, waren in lateinischer Sprache abgefaßt: die polnische Grammatik von Piotr Statorius (1568), die deutschen Sprachlehren von Albert Oelinger, Laurentius Albertus (beide 1573) und Johannes Clajus (1578), die englische Grammatik von Paul Greaves (1594), die lettische von Johann Georg Rehehuusen (1644), die dänische von Erik Pontoppidan (1646, erst später gedruckt), die finnische von Eskil Petraeus (1649) und die schwedische von Ericus Aurivillus (1684, erschien zu einem späteren Zeitpunkt). Auch Daniel Klein, der die erste Grammatik über das Litauische verfaßte, veröffent104

Raag: A Comprehensive Estonian-Swedish Dictionary (Anm. 58), S. 243. Dies ist gewiß nur eine Kleinigkeit, aber die Angaben über den Umfang des Wörterbuchs von Stahell wechseln: estnische Entsprechungen zu 2000 deutschen Wörtern (Kask: Ülevaade eesti leksikograafiast 1917. aastani (Anm. 40), S. 141; ders.: Eesti kirjakeele ajalugu (Anm. 40), S. 41); 2000 deutsche Wörter und 1500 [sie!] estnische Entsprechungen (Rätsep: Heinrich Stahli grammatika oma aja peeglis (Anm. 48), S. 7) und: etwa 2380 deutsche und mehr als 3200 estnische Wörter (Valve-Liivi Kingisepp: Heinrich Stahli saksa-eesti sönastiku tölkevasteist (Anm. 47), S. 40). 105 Stahlen: Anfuhrung zu der Esthnischen Sprach (Anm. 10), S. [IV]. - Auch mit dem Untertitel wird betont, daß die Grammatik auf die Initiative anderer Personen hin entstanden war.

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lichte zuerst eine lateinische Version (1653) und im folgenden Jahr eine deutsche. Erst erheblich später, während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, geschah im nördlichen Zentral- und Nordeuropa der Durchbruch nichtlateinischer Grammatiken: mit dem Grammatikbuch von Justus Georg Schottel (1663) bekam das Deutsche seine erste auf deutsch verfaßte Beschreibung, später auch das Dänische durch Peder Syv (1685, dänisch abgefaßt) und in demselben Jahr das Lettische durch Henricus Adolphus (auf deutsch). Durch die Entscheidung, seine nordestnische Grammatik in deutscher anstatt in lateinischer Sprache zu schreiben, wurde Stahell Pionier der volkssprachlichen Grammatikliteratur in Europa.106 Daß sich Stahell um die Mitte der 1630er Jahre dazu entschloß, seine nordestnische Grammatik in deutscher Sprache abzufassen, dürfte auf dem Kalkül beruhen, daß die mutmaßlichen Leser sicherlich Kenntnisse im Deutschen, aber keine im Lateinischen hatten.107 In Estland und Livland war, wie schon erwähnt, die Bildungsstufe selbst unter der Geistlichkeit zu Anfang der schwedischen Herrschaft manchmal nicht gar zu hoch. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht auch notwendig, darauf hinzuweisen, daß Heinrich Göseken (1612-1681), Pfarrer in Westestland und Verfasser der nächsten publizierten nordestnischen Grammatik (1660), ebenfalls Deutsch bevorzugte, während der Pfarrer Johann Gutslaff (Geburtsjahr unbekannt, fl657) in der Gemeinde Urvaste in Nordlivland der Lateintradition folgte, als er die erste süd-estnische Sprachlehre abfaßte (erschienen 1648). Im Vorwort des nordestnischen Neuen Testaments von 1715 wird schließlich noch ein gedrucktes Werk von Stahell erwähnt, das »kurze und einfaltige Fragen die Grund-Stücke des Christenthums betreffend« enthält und 1630 gedruckt worden sein soll.108 Dieses Buch ist der Nachwelt aber nicht überliefert. Die mutmaßliche frühere Existenz dieses Werkes wird in der Literatur über Stahell mit Hinweis auf die Aussage im oben erwähnten Vorwort des Neuen Testaments wiederholt als Tatsache erwähnt. Meines Wissens hat nur der estnische Theologe, Sprachwissenschaftler und Folklorist Jakob Hurt zu seiner Zeit die tatsächliche Existenz des Titels in Zweifel gezogen. Spätere Forscher übergingen dagegen die Ansicht Hurts mit Stillschweigen, vielleicht aus dem Grund, weil Hurts Äußerungen nur handschriftlich in Tartu zugänglich sind. Das Argument, das Hurt gegen die Existenz des Buches vorbringt, ist, daß diese Schrift nur vom Verfasser des erwähnten Vorworts genannt

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Die erste Grammatik der estnischen Sprache, die auch auf Estnisch geschrieben war, ließ noch sehr lange auf sich warten: Mihkel Weske: Eesti keele healte öpetus ja kirjutuse wiis.- Tartu: Schnakenburg 1879. 107 Rätsep: Heinrich Stahli keeleöpetus (Anm. 48), S. 712. 108 Uus Testament (Anm. 14), S. [6].

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wird (spätere Gelehrte wie Recke und Napiersky109 und Dietrich Heinrich Jürgenson110 greifen sämtlich auf das Neue Testament von 1715 zurück), während Christian Kelch (1657-1710) den Titel in seinem Bericht über die Schriften von Stahell nicht aufnimmt. Stahell selbst bringt nirgends in seinen Schriften ein solches Werk zur Sprache, während seine übrigen Schriften oft und mit ihrem Titel erwähnt werden.111 Hurt vermutet, daß sich die Verfasser der Vorrede des Neuen Testaments »eine Ungenauigkeit« zuschulden kommen lassen haben. Auch sei unter den »kurtzen und einfältigen Fragen die Grundstücke des Christenthums betreffend« »nichts Anderes zu verstehen als der erste Theil des Stahlischen Hand- und Hausbuches.«, Hurt weist ferner darauf hin, daß die Verfasser der Vorrede des Neuen Testaments »sonst noch Manges sich zu Schulden kommen lassen haben«.112 Ich neige zu der Ansicht, daß Hurt recht hatte. Es ist nicht schwer, »Ungenauigkeiten« in der Vorrede des Neuen Testaments zu entdecken. Schon über Stahell wird zum Beispiel behauptet, daß er »anfanglich Pastor zu St. Matthaei, Johannis und Mariae Magdalenae in Jerwen« gewesen sei.113 Wie sich aber aus der obigen Lebensbeschreibung ergibt, waren seine ersten Arbeitsstätten die vereinigten Gemeinden St. Matthäi und St. Petri.114 Ferner ist zu bemerken, daß Stahell niemals selbst, nicht einmal in seiner programmatischen Erklärung im Vorwort zum ersten Teil seines Kirchenhandbuchs (1632), eine früher gedruckte, von ihm zusammengestellte estnische Schrift erwähnt, obwohl dort, wenn überhaupt, die rechte Gelegenheit dafür gewesen wäre. Die Anzahl von Texten und Drucken, die vor Henricus Stahell auf Estnisch geschrieben wurden, ist nicht sehr groß, jedoch auch nicht unerheblich, obwohl die Umbrüche in der gesellschaftlichen Entwicklung im Nordbaltikum zur Folge gehabt haben, daß bisher nur ein einziges vollständiges Exemplar eines früheren Buches mit estnischem Text - die katholische Agenda Parva (Brvnsbergae, 1622) - vorhanden ist. Somit wurde Henricus Stahell durch seine umfangreichen deutsch-estnischen Kirchenbücher der Begründer des Schriftestnischen.

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Recke/Napiersky: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon (Anm. 21), S. 258. 110 Jürgenson: Kurze Geschichte der ehstnischen Literatur (Anm. 22), S. 47. 111 Hurt: Mag. Heinrich Stahl (Anm. 7), S. 75. 112 Ebd., S. 76. 1,3 Uus Testament (Anm. 14), S. [6], 114 Dies geht beispielsweise aus dem Titelblatt des ersten Teils seines Hand- vnd Hauszbuches hervor.

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Sprachliche Auswirkungen Die schriftstellerische Tätigkeit, die Henricus Stahell als Geistlicher in Estland ausübte, um die kirchlichen Zustände seiner Heimat zu verbessern, kam auch in rein sprachlichen Leistungen zum Ausdruck, auch wenn das Sprachliche für ihn selbst sicherlich nur ein Nebeneffekt war. Die sprachliche Form, die Stahell seinen estnischen Texten gab, wurde allgemein - allerdings nicht konsequent - von damaligen und späteren Schriftstellern zum Muster genommen. Erst knapp vor dem Ende des 17. Jahrhunderts wurde die Orthographie, die Stahell eingeführt hatte, zum ersten Mal reformiert. Damit hatten auch die beiden regionalen Varianten des Schriftestnischen, das Nord- oder Reval-Estnische und das Süd(ost)- oder Dorpat-Estnische einen festen Grund erhalten, der nicht nur quantitativ wachsen, sondern auch qualitativ weiterentwickelt und modernisiert werden konnte. Eine durchgreifende Modernisierung der Orthographie wurde um 1870 vorgenommen, jedoch ändert dies nichts an der Tatsache, daß es Stahell war, der den Grund gelegt hatte. Obwohl die nordestnische Standardvarietät im Laufe der Zeit gründlich umgestaltet wurde, greift das gegenwärtige Standardestnische auf das Nordestnische in den von Henricus Stahell aufgestellten Regeln zurück. Somit kann Stahell als Begründer des Standard-Estnischen gelten. Durch seine nordestnische Grammatik und das von ihm zusammengestellte Vokabular wurde Stahell ferner noch ein Bahnbrecher der nichtlateinischen Grammatiktradition in Europa und der erste estnische Lexikograph, so daß ihm ein beachtlicher Nachruhm vergönnt ist.

Piret Lotman

Heinrich Stahls LeyenSpiegel Eine jahrhundertelang schweigende Predigtsammlung

An den Arbeiten von Heinrich Stahl (ca. 1600-1657) fuhrt bei der Erforschung der estnische Kulturgeschichte kein Weg vorbei. Sein LeyenSpiegel (1641-1649), dessen Einfluß auf die Entwicklung der estnischen Schriftsprache bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachtet und bewertet wurde, ist die erste estnischsprachige gedruckte Predigtsammlung. Eine gründliche Analyse des literarischen Nachlasses von Heinrich Stahl, die auch seine theologischen Anschauungen in Betracht zieht, findet sich in der handschriftlichen Magisterarbeit von Jakob Hurt.1 Die nationalromantischen Forscher äußerten sich zu der estnischen Sprache von Stahl kritisch, aber zugleich pietätvoll und dankbar für die von Stahl übernommene Mission.2 Die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts gefundenen und publizierten Predigten des Pfarrers Georg Müller von der Revaler Heiliggeistkirche vom Anfang des 17. Jahrhunderts waren in der Folge fur die Bewertung sowohl des Inhalts als auch der estnischen Sprache des LeyenSpiegels maßgebend. Wilhelm Reiman, der die Predigten Müllers herausgab, kam zu dem Schluß, dieser - und nicht Stahl - habe die Tradition der Bibelübersetzung in die estnische Sprache begründet.3 Reiman befand, daß Stahl den Ruf als Begründer der estnischen Schriftsprache nicht verdient habe: seine Rolle beschränke sich auf das Sammeln der früheren Manuskripte, die er dann unter seinem Namen publiziert habe.4 Bei dem auf die Sprache konzentrierten Vergleich der Predigtsammlungen gelangte die Forschung zu dem Stand1

Jakob Hurt: Mag. Heinrich Stahl. Ein Beitrag zur Kenntniss ehstländischer Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts.- Magisterarbeit 1866 (Manuskript, Eesti Kiijandusmuuseum [Estnisches Literaturmuseum] Tartu, Signatur: KKO, f. 45, m. 14:3). 2 Martin Lipp: Tähtsad mehed [Wichtige Männer] VI.- Tartu: Schnakenburg 1884, S. 40-83. 3 Neununddreißig Estnische Predigten von Georg Müller aus den Jahren 16001606. Mit einem Vorwort von Wilhelm Reiman hrsg. von der Gelehrten Estnischen Gesellschaft bei der Universität Tartu.- Dorpat: Laakmann 1891 (= Verhandlungen der Gelehrten Estnischen Gesellschaft; 15), S. XXXIV-XXXV. 4 Vgl. Wilhelm Reiman: Eesti Piibli ümberpanemise lugu [Geschichte der Estnischen Bibelübersetzung]. Meie Piibli 150-aastase juubeli mälestuseks.- Tartu: Hermann 1890, S. 88-91.

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punkt, daß Stahls Ausdrucksfähigkeit noch ungenügender sei als die von Müller.5 Obwohl Reiman in seiner Untersuchung die Leistungen von Heinrich Stahl bei der religiösen Bildung des Volkes positiv hervorhob, wurde der Autor der ersten gedruckten Predigtsammlung seither für einen Plagiator gehalten.6 Hans Treumann, der diesen Gedanken noch weiterentwickelte, fand Berührungspunkte im Lebenslauf der beiden Autoren der Predigtsammlungen: Im Jahre 1624 heiratete Heinrich Stahl eine Verwandte Georg Müllers, Dorothea Eickholt, deren Vater Ebert Eickholt wahrscheinlich Müllers Manuskripte besaß. Treumann folgert daraus, daß diese Ehe eine Brücke war, über die Müllers Texte an Stahl gelangten, so daß estnischsprachige Texte aus Müllers Manuskripten in den Büchern von Stahl wortwörtlich wiederholt werden konnten.7 Im Gegensatz zu den geistlichen Literaten des 19. Jahrhunderts haben die humanistischen Wissenschaftler der Republik Estland in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Stahls missionarische Tätigkeit nicht bewertet. Und auch Stahls unvollkommene estnische Sprache warf einen Schatten auf den Inhalt der Texte. Die Kirchenhistoriker aber beschränkten sich in ihren Forschungen nur auf die Erwähnung des schriftlichen Nachlasses von Stahl.8 Im Jahre 1951 hat der estnische Exilschriftsteller Herbert Salu, der in Stockholm die Protokolle des schwedischen Reichsrates erforschte, eine Entdeckung gemacht, die auf Heinrich Stahls dürftige Reputation vernichtend wirkte. Er fand heraus, daß man direkt vor dem Erscheinen des LeyenSpiegels auf Vorschlag des damaligen Bischofs von Estland, Joachim Jhering, eine soeben erschienene Predigtsammlung, die Postilla Esthonica des Pfarrers Simon Blankenhagen von der Revaler Heiliggeistkirche vernichtet hat.9 Herbert Salu schlußfolgerte, daß Stahls In5

Karl August Hermann: Eesti kiijanduse ajalugu esimesest algusest meie ajani.Juijew: Laakmann 1898, S. 32. 6 K[arl] Leetberg: On Stahl plagiaator? [Kann Stahl ein Plagiator sein?].- In: Eesti Postimehe Teaduste eralisa (1904), S. 23-24 und 27-28. 7 Hans Treumann: Vanemast raamatukultuuriloost [Über die frühere Buchkultur].Tallinn: Eesti Ramaat 1977, S. 42. 8 Olaf Sild: Eesti kirikulugu [Estnische Kirchengeschichte]. Vanimast ajast olevikuni.- Tartu: Akadeemiline Kooperatiiv 1938, S. 172; Hendrik Sepp: Usupuhastus ja Eesti kiijakeel ja kirjanikud [Die Reformation und die estnische Schriftsprache und die Schriftsteller].- In: Usupuhastus eestlaste maal [Die Reformation in Estland] 1524-1924. Usupuhastuse juubeli kiijanduslise kommisjoni wäljaanne usupuhastuse tuleku 400 - a. mälestuspäewaks.- Tartu: Bergmann 1924, S. 211-219, hier S. 218. 9 Eestikeelne raamat 1525-1850 / Estnisches Buch 1525-1850. Toimetanud / Redigiert von Endel Annus.- Tallinn: Eesti Akadeemiline Raamatukogu 2000 (= Eesti retrospektiivne rahvusbibliograafia / Estnische Retrospektive Nationalbibliographie; I), S. 74.

Heinrich Stahls

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trigen der Grund für die Vernichtung des Buches von Blankenhagen waren. Das von Stahl Geschriebene hält Salu für Arbeiten seiner unbekannten Amtsgenossen, die der ehrgeizige und ehrlose Geistliche unter seinem Namen habe drucken lassen. Außerdem ist das sprachliche Niveau dieser Arbeiten für Salu das kümmerlichste in der estnischen Sprachgeschichte überhaupt.10 Salus Forschungsrichtung wurde von Uku Masing weitergeführt, der auf Basis einer linguistischen Analyse ebenfalls zu der Meinung gelangte, daß Stahls LeyenSpiegel »ein großartig zusammengestohlenes Werk« sei.11 Obwohl die Anschuldigung von Herbert Salu nicht ausreichend durch Argumente gestützt wird, ist sie gleichwohl interessant und paßt zu dem vorhandenen Diskurs. Die spätere, auf Archivquellen basierende Annahme Liivi Aarmas, die Postilla Esthonica Blankenhagens sei ein Opfer des Machtkampfes zwischen dem Bischof und der Stadt Reval geworden, hat sich in der Forschung nicht durchsetzten können und den Schatten, der auf Stahls Ansehen geworfen wurde, nicht beseitigt.12 Im Jahre 1998 befaßte sich mit Leino Pahtma ein Historiker der jüngeren Generation wieder mit Stahls möglicher > Unehrlichkeit < und stärkte eher Herbert Salus Position.13 In dem 1953 im Exil erschienenen Werk Eesti vanem kirjandus von Herbert Salu werden Heinrich Stahls Druckschriften, darunter auch der LeyenSpiegel, nur flüchtig berührt.14 In dem Werk Eesti kirjanduslugu aus demselben Jahr umschreibt Gustav Suits, der als erster Schriftsteller den Inhalt der beiden Predigtsammlungen einander gegenübergestellt hatte, das Weltbild Stahls folgendermaßen: Stahli maailm on kohutavalt täis kuradeid ja meie kange kirikumees on väsimatus vöitluses kavala kiusaja moonutuskunstidega. Vöhikuile raskepärases teoloogiliste arutluste peeglduses pole Stahli kuradikujutlused küll nii meeleliselt ilmekad ja värvikad kui Müllen palavas möttekujutluses, aga seda jäijekindla10

Herbert Salu: Förbjuden estnisk litteratur under svensktiden.- In: Svio Estonica 10, NF 1 (1951), S. 169-203, hier S. 171-172. 11 Uku Masing: Somnium umbrae.- In: ders.: Eesti vanema kiijakeele lood [Geschichte der älteren estnischen Schriftsprache].- Tartu: Ilmamaa 1999, S. 138240, hier S. 238. 12 Liivi Aarma: Tsensuurja kirjasöna Eestis 16.-17. sajandil [Zensur und Schrifttum in Estland im 16.-17. Jahrhundert].- In: Uurimusi tsensuurist / Papers on Censorship. Hrsg. von Piret Lotman.- Tallinn: Eesti Rahvusraamatukogu 1995 (= Eesti Rahvusraamatukogu toimetised; 4), S. 2 4 - 2 7 . 13 Leino Pahtma: Heinrich Stahli »Käsi- ja koduraamatust« [Zusammenfassung: Über das »Hand- vnd Hausbuch« von Heinrich Stahl].- In: Rootsi suurriigist Vene impeeriumisse [Aus dem schwedischen Großstaat ins russische Imperium]. Artiklid. Hrsg. von Leino Pahtma, Heiina Tamman.- Tartu: Eesti Ajalooarhiiv 1998 (= Eesti Ajalooarhiivi toimetised, 1406-0760; 3 (10)), S. 57-90. 14 Herbert Salu: Eesti vanem kiijandus [Die frühe estnische Literatur].- Stockholm: Törvik 1953, S. 2 0 - 2 1 .

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malt vihane on Stahl näiteks öigest usust eksitavaile tarkadele ja pörguriigi petvaile lausujaile. (Stahls Welt ist furchtbar mit Teufeln erfüllt und unser > starker Kirchenmann < kämpft einen gerechten Kampf mit der Verstellungskunst des schlauen Verfuhrers. Für einen Laien sind Stahls Vorstellungen vom Teufel in der Widerspiegelung der ziemlich schweren theologischen Diskussionen in der sinnlichen Deutung nicht so sprechend und farbenprächtig wie in Müllers Gedankenbild. Aber Stahl ist konsequent böse, z.B. auf die Weisen, die die Gläubigen vom richtigen Glauben in die Irre führen, und auf die betrügerischen Beschwörer des Höllenreiches.) 15 Erst in den letzten Jahrzehnten haben die Forscher ein stärkeres Interesse für Stahls Lebenslauf und seine Werke entwickelt. Liivi Aarma stellte bei familiengeschichtlichen Studien fest, daß er nicht als W a i s e aufw u c h s , w i e n o c h Hellmuth W e i s s vorausgesetzt hatte. 1 6 Leino Pahtma hat s o w o h l in seiner Magisterarbeit als auch in anderen Arbeiten die n e u e n biographischen A n g a b e n z u Heinrich Stahls Jugend- und Lehrjahren herangezogen. 1 7 D e m LeyenSpiegel sind in seiner Magisterarbeit f ü n f Seiten g e w i d m e t , auf denen er eine Z u s a m m e n f a s s u n g v o n Stahls Predigtsammlung bietet. D i e s e fünf Seiten m a c h e n uns z u g l e i c h bekannt mit den z e i t g e n ö s s i s c h e n U m s t ä n d e n , unter w e l c h e n Heinrich Stahls Predigtsammlung geschrieben wurde. Hinsichtlich des Inhalts der Predigten hebt Pahtma insbesondere den K a m p f mit den dunklen Kräften hervor, auf den auch schon die frühere Forschung ihre Aufmerksamkeit gerichtet hatte: Leyen Spiegeiis köneldakse nöiaprotsessidest, vöitlusest kuradiga ja veel säilinud katoliikluse jäänustega. [...] Oma vaateilt oli Stahl 17. sajandi tüüpiline kiriklane, kellele kdik, alates tuulipasast ja haigustest ning löpetades rahavamedistiiniga, tundus nöidumise ja kuradi kätetööna. (Im LeyenSpiegel spricht man von den Hexenprozessen, vom Kampf mit den Teufeln und mit den Überresten des Katholizismus. [....] Seinen Anschauungen nach war Heinrich Stahl ein typischer > kirchlicher Mann< des 17. Jahrhunderts, fur den alles, von der Windhose und den Krankheiten an bis zur Volksmedizin eine Hexerei und Arbeit des Teufels ist.) 18 15

Gustav Suits: Eesti kiijanduslugu. I köide [Estnische Literaturgeschichte].Lund: Eesti Kiijanike Kooperatiiv 1953, S. 22. 16 Liivi Aarma: Heinrich Stahl - esimene suurem Eesti kiijamees [Heinrich Stahl - der erste große estnische Literat].- In: Horisont (1990), H. 10, S. 22-26. 17 Leino Pahtma: Täpsustusi ja täiendusi Heinrich Stahli noorus-ja öpinguaastaisse [Zusammenfassung: Präzisionen und Ergänzungen zu Jugend- und Studienjahren von Heinrich Stahl].- In: Kultuuriloolised ekskursid.- Tartu: Eesti Ajalooarhiiv 2000 (= Eesti Ajalooarhiivi toimetised, 1406-0760; 6 (13)), S. 5 - 1 9 . 18 Leino Pahtma: Heinrich Stahl 17. sajandi 1. poole Eesti-ja Ingerimaa kiriku-ja kirjandusloos [Heinrich Stahl in der Kirchen- und Literaturgeschichte Estlands

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In diesen auf den Inhalt des LeyenSpiegels bezogenen Ausführungen spiegelt sich eher die Lebensauffassung und Zeit des Autors als Stahls Gedankenwelt. Erfolgreicher war dagegen die sprachliche Analyse der ersten estnischen Predigtsammlungen. Kristiina Ross, die über Georg Müllers und Heinrich Stahls Texte vergleichend forschte, kommt zu dem Ergebnis, daß insgesamt ihre estnischen Idiolekte dem Deutschen sehr nahe stehen, gleichwohl jedoch in den deutschen Spracheigentümlichkeiten der estnischen Sprache von Müller und Stahl Unterschiede zu finden sind. Eine wichtige Rolle spielen dabei Eigenart und Stil der beiden Autoren; Müllers Texte wirken natürlicher und besser. Er zaubert mit seiner Intimität, der Konkretheit und mit interessanten Vergleichen, demgegenüber wirken Stahls stoische Abstraktion und Dialektik relativ langweilig.19 Diese Bewertung wird auch durch die Charakteristik von Stahls Persönlichkeit gestützt, die Uku Masing anhand der vergleichenden Sprachanalyse der beiden Autoren entworfen hat: Stahl oli kaunis ülbe sakslane, kellest ehk tema kaasaegsed suguvennad töesti ei osanud paremini eesti keelt; Müller oli üks vaene alatu mats vöi kadakas, kes vahel jäi hätta oma keelega niisamuti, nagu jäänuks tollal (ja veel XIX sajandilgi) iga saksakeelse hariduse saanud eestlane. (Stahl ist ein hochmütiger Deutscher, dessen zeitgenössische Landsleute wahrscheinlich gar nicht besser Estnisch gesprochen haben. Müller aber war ein armer niedriger Bauer oder Halbdeutscher, der mit der estnischen Sprache in Not war, wie andere Esten dieser Zeit (und noch im 19. Jahrhundert), die eine deutschsprachige Ausbildung erhalten hatten.)20

Vergleicht man Heinrich Stahls Postille mit Georg Müllers erhaltenen Predigten oberflächlich, ist begreiflich, daß Stahl mit Müllers Predigten bekannt gewesen sein muß, denn es gibt ähnliche sprachliche Ausdrücke bei den Bibeltexten. Jedoch beschränken sich darauf eigentlich die Ähnlichkeiten dieser beiden Predigtsammlungen. Von den 39 vorhandenen Predigten Müllers handeln 20 von bekannten Kirchengesängen, die übrigen 19, darunter eine Advents- und zwei Weihnachtspredigten, basieren auf konkreten Bibelsprüchen.21 Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Weihnachtspredigten der beiden Autoren zu vergleichen. Müllers Predigten sind einfach und kurz, und Ingermanlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts].- Tartu: Magistritöö, Tartu Ülikool, Üldajaloo öppetool 1998, S. 81-85. 19 Kristiina Ross: Kas eesti kiijakeel vöinuks kujuneda teistsuguseks.- In: Mis on see ise: tekst, tagapöhi, isikupära [Was ist das Selbst an sich: Text, Hintergrund, Individualität].- Tallinn: Eesti Teaduste Akadeemia Underi ja Tuglase Kiijanduskeskus 1999, S. 9 - 3 1 , hier S. 13. 20 Masing: Somnium umbrae (Anm. 11), S. 149. 21 Neununddreißig Estnische Predigten (Anm. 3), S. XXXIII-XXXIV.

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und er benutzt wiederholt die gleichen Metaphern. Das Lieblingsmotiv in seinen Weihnachtspredigten ist die Verbindung der Geburt Christi mit der Geschichte von der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. In mehreren Predigten kommt Christus als der Zertreter des Schlangenkopfes vor. Dieses Motiv des Alten Testaments, das sich auch bei Martin Luther findet, hat Stahl jedoch nicht verwendet. Müller hat versucht, seine Predigten aufzugliedern, ist dabei jedoch nicht sehr konsequent gewesen. Seine Texte sind fur das Herz des Zuhörers bestimmt: »Ah, Du trauriges und armes Herz [...]«. Die Predigten sind hell, voller Trost und Freude: der Prediger teilt mit den Zuhörern seine besten Emotionen.22 Wie die anderen Texte von Stahl appellieren auch seine Predigten an den Intellekt der Zuhörer. Jakob Hurt, der zu Stahls pastoraltheologischen Standpunkten geforscht hat, betont dessen didaktische Lebensauffassung. In erster Linie sei der Prediger ein Lehrer. Wer sein Leben dem Lehren widmen wolle, müsse schon von früher Jugend an fleißig lernen. Eltern und Obrigkeit seien verantwortlich dafür, daß die Jugend in Gottesfurcht lernt, denn der Teufel sei zufrieden, wenn alle Schulen ausgerottet würden. Wer sich dem Lehramt widmen wolle, müsse zuerst die Heilige Schrift kennenlernen und dazu die freien Künste und Sprachen erwerben. Der Prediger müsse sich gut in der Bibel auskennen, besonders in den Büchern von Moses und den Propheten sowie in den Apostelbriefen. Gründlich, klar und gottselig soll die Predigt sein. Ein gottesfürchtiger Prediger spreche nicht zu seinem eigenen Ruhm, sondern zur Ehre Gottes. Darum solle die Rede deutlich, einfach und begreiflich sein, nicht aber hochtrabend, prächtig und stolzierend.23 Heinrich Stahl hat seine Postille nach dem Vorbild Martin Luthers geschrieben: Die Predigten des Kirchenjahres sind in zwei Teile - Winter und Sommer - gegliedert, und jede Predigt wird vom Tagestext des Evangeliums eingeleitet. Eine ausfuhrliche Beschreibung des ersten Teils des LeyenSpiegels finden wir schon im dritten Teil der Livländischen Bibliothek von Friedrich Konrad Gadebusch.24 Der zweite, sogenannte Sommerteil erschien erst acht Jahre nach dem Winterteil und wurde nicht beendet; er enthält lediglich zehn Predigten. Das gesamte Werk zählt in fortlaufender Seitenzahl, die Zwischentitel und Dedikationen nicht eingerechnet, 727 Seiten.25

22 23 24

25

Ebd., S. 39-74. Hurt: Heinrich Stahl (Anm. 1), S. 205-211. Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Band I-IIL- Riga: Hartknoch 1777, Bd. III, S. 194-196. J.[acob Johann Anton von] Hirschhausen: Bemerkungen über Stahl's deutschehstnische Postille.- In: Beiträge zur genauem Kenntniss der ehstnischen Sprache 12(1818), S. 77-87.

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Stahls LeyenSpiegel ist aber nicht nur im Kontext der baltischen Länder und als Beispiel einer frühen estnischen Predigtsammlung von Interesse. Im protestantischen Kulturraum entstand gegen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts mit der sprunghaften Zunahme von Predigtsammlungen eine neue Literaturtradition.26 Ernst Rehermann, der die protestantischen Predigtsammlungen dieser Periode erforschte, teilt sie in vier große Gruppen, von denen die populärste die Sammlungen für Sonn- und Feiertage umfaßte. Fast ebenso zahlreich und bedeutend waren die auf Psalmen und Sprüchen aus dem Alten Testament basierenden Predigtsammlungen.27 Georg Müllers Predigten gehören nach dieser Gliederung eher zu der zweiten Gruppe. Der Titel von Stahls Predigtsammlung, LeyenSpiegel, ist mehrdeutig und gibt einen Hinweis auf Bildung und Lebensauffassung des Autors. Der Spiegel war schon von der Antike her als literarisches Motiv bekannt und wurde dann in der mittelalterlichen Theologie weiterentwikkelt. Gegenwärtige Ereignisse spiegeln sich in der Geschichte, deren Quelle und Lehrbuch die Heilige Schrift ist. In den Predigtsammlungen versteht man gleichzeitig vom Ende des 16. Jahrhunderts an Geschichte als einen Spiegel, der die Vorzüge widerspiegelt.28 Die Predigtsammlungen haben also die Funktion eines Beichtspiegels. Martin Geier, ein einflußreicher protestantischer Prediger des 17. Jahrhunderts, drückte dies so aus: Die Exempel sind der Spiegel/ daraus ich meine eigene actiones und derer Wohl- oder Ubelstand/ so gut erkennen kann/ als wenn ich mein Gesichte oder Kleidung in einem stählenen Spiegel sonsten abnehmen wolte. 29

Im mittelalterlichen Europa waren Königs- oder Fürstenspiegel populär, die der augustinischen Vorstellung vom gerechten König (rex iustus), der das Gottesreich auf der Erde verwirklicht, folgen.30 Anfang des 17. Jahrhunderts erschienen Regenten-Spiegel von zwei einflußreichen Predigern des deutschen Kulturraumes. Im Jahre 1605 erschien in Leipzig der Regenten-Spiegel von Polycarp Leyser d.Ä, in dem dieser die kirchliche Beziehung als Garantie für die Moral der Gesellschaft betrachtet. 26

27

28 29 30

Jänis Kreslinä: Dominus narrabit in scriptura populorum. Α Study of Early Seventeenth-century Lutheran Teaching on Preaching and the Lettische Langgewünschte Postill of Georgius Mancelius.- Wiesbaden: Harrassowitz 1992 (= Wolfenbiitteler Forschungen; 54), S. 14. Ernst Heinrich Rehermann: Das Predigtexempel bei protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts.- Göttingen: Schwartz 1977 (= Schriften zur niederdeutschen Volkskunde; 8), S. 46. Ebd., S. 78. Ebd., S. 63. Sten Lindroth: Svensk lärdomshistoria. Medeltiden. Reformationstiden.- Stockholm: Norstedt 1975, S. 98-99.

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Die christliche Obrigkeit solle nicht nur das äußere Wohl ihrer Untertanen, sondern auch ihr Seelenheil befördern. Die soziale Harmonie der Drei-Stände-Lehre, derzufolge jeder Stand seine ihm zugewiesene besondere Verantwortung vor Gott hat und die das Wohl des Ganzen garantieren soll, ist nicht nur das Ideal Leysers, sondern des ganzen älteren Luthertums.31 Dieselben Ideen äußerte auch Johann Arndt, der populäre Predigtautor des 16. Jahrhunderts: [...] es kann ein ungetrewer und ungehorsamer Unterthan/ der seiner von Gott vorgesetzten Obrigkeit nicht von Hertzen hold ist/ und dieselbe liebt hat/ nimmermehr ein gut Gewissen haben/ denn Gottes Wort/ Ordnung und Befehl bindet das Gewissen. 32

Die Verantwortung der Obrigkeit für die Seelenbetreuung der Untertanen ist in den Werken von Heinrich Stahl immer ein wichtiges Thema. Wie der Katechismus war auch Stahls Predigtsammlung für die Geistlichen und die deutsche Einwohnerschaft des Gebietes bestimmt und mußte daher allen voran für diese begreiflich sein. Die Aufgabe des Autors war auch deswegen kompliziert, weil es keine estnischen religiösen Glaubenstermini gab und die Esten keine Erfahrung im adäquaten Verständnis der biblischen Begebenheiten hatten. Die Predigten sollten daher die Anfangsgründe für das Verstehen von biblischen Ereignissen geben, diese Kenntnisse mit den Lebenserfahrungen der Hörer verbinden und somit deren Welterkenntnis beeinflussen. Ein besonderes Gewicht verlieh den Predigten der Umstand, daß sie als Druckwerke veröffentlicht wurden. So war schon vor der Reformation in Lübeck auch eine Spiegel der Leyen benannte Postille erschienen. Eine gedruckte Predigt kann man besser begreifen, aber die Hauptsache ist, daß man den gedruckten Text in einem kleinen Kreis von Hörern vorlesen kann; auch wird der Text durch den Druck noch eindrucksvoller.33 Die Predigten des LeyenSpiegels folgen strengen Kompositionsregeln: jede Predigt wird von einem Text aus dem Evangeliums des Tages eingeführt, ihm folgt eine erklärende »Summa dieses Evangelij«. Ebenso wie die ganze Predigt, ist auch jeder Teil logisch gegliedert. Die Lehre des Evangeliumtextes wird den Zuhörern unter dem Titel »Lehre aus diesem Evangelio« in weiterer numerischer Unterteilung nahegebracht. Unter der > Lehre < verstand man Gesetze, die Gott dem Volk gegeben 31

32 33

Wolfgang Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik in Lutherischen Regentpredigten des früheren 17. Jahrhunderts.- In: Daphnis 10 (1981), Η. 1, S. 113-140, hierS. 122-123. Ebd., S. 115. Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien.- Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 161.

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hat, damit sie nach seinem Willen ihn ehren und ihm dienen mögen.34 Der Lehre folgt - gleichfalls mit weiterer Unterteilung - der »Trost aus diesem Evangelio«. Der christliche Trost, der auch im schriftlichen Nachlaß von Martin Luther eine besondere Stelle einnahm,35 geht von der Heiligen Schrift aus: die Person, welche getröstet wird, ist eine gläubige, die in der Gnade Gottes steht und der man beim Kreuz Christi zusichert, daß sie von Gott, solange sie ihm mit wahrem Glauben anhänge, nicht verlassen werde. Heinrich Stahls Predigten schließen jeweils mit einem Tagesgebet, das durch die Worte »Lasset uns beten« eingeleitet wird. Im Gegensatz zu den emotionalen und unmittelbaren Predigten Müllers sind die Predigten von Stahl didaktisch und methodisch. Der Zuhörer wird schrittweise und planmäßig zur Hauptsache, zum sittlichen Kern der Predigt gefuhrt. Jakob Hurt charakterisiert die Schriften von Stahl als analytische Texte, in denen alle Gedanken bis in die Einzelheiten verfolgt werden. Die Erklärungen der Heiligen Schrift sind einzelne Beobachtungen der wichtigsten Passagen des Textes. Der Ton der Predigten ist ganz einfach und verständlich, und die Texte sind weit entfernt von aller Künstlichkeit: es werden viele Bibelzitate, Sprüche und Symbole gebraucht. Stahls Predigten entsprechen laut Hurt seinen eigenen Kriterien auch in bezug auf den pastoralen Aspekt, und das selbstgesteckte Ziel hat Stahl mit seinen Predigten durchaus erfüllt.36 Da Jakob Hurts Magisterarbeit leider, wie schon erwähnt, nicht publiziert wurde, wurden diese Standpunkte von der Forschung bisher kaum wahrgenommen und auch nicht weiterentwickelt. Stahls Predigten sind lang und wortreich. In ihnen zeichnet er ein christliches Weltbild für das > heidnische < Volk und lehrt, wie man in dieser Welt leben soll. Zu diesem Zweck benutzt er viele Wörter, so daß seine Texte relativ schwer verständlich und kompliziert sind, wie in der Forschung konstatiert wurde. Die Sprache des Autors ist hintersinnig, gleichwohl ist seine Botschaft deutlich, einfach und sehr logisch. Der zweite Mythos, der die Rezeption von Stahls Werk begleitet hat, ist der seines angeblich schlechten Charakters, den man auch auf seine Pastoraltheologie zurückführte. Denn Stahl war der Meinung, daß der Prediger nicht nur das Recht, sondern die Pflicht habe, die weltliche Obrigkeit für ihre ungebührlichen Taten zu strafen. Ein Ratsherr, der die Frechheit besitze, auf die Kanzel zu treten, sei ins Rathaus zurückzuschicken. Die Obrigkeit habe kein Recht, dem Prediger Inhalt, Stil oder

34

35 36

Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. I-LXIV, Suppl.-Bd. I-IV.- Halle, Leipzig: Zedier 1732-54, Bd. XVI (1737), Sp. 1497-1498. Ebd., Bd. XLV (1745), Sp. 1181-1201. Hurt: Heinrich Stahl (Anm. 1), S. 317-323.

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Länge seiner Predigten vorzuschreiben. 37 So gaben etwa die Konflikte zwischen Heinrich Stahl und der deutschen Bürgerschaft Narvas mehrfach Anlaß zur Abfassung von Klageschriften, denn man erlaubte ihm, nicht mehr als lediglich eine Stunde am Tag zu predigen. Die zeitbedingten Übertreibungen in den Klageschriften haben Heinrich Stahls Person schon über drei Jahrhunderte charakterisiert. Die Vorwürfe in der estnischen Literaturgeschichte, Stahl habe seine Predigten nicht selbst verfaßt, wirken anachronistisch, denn Predigten des 17. Jahrhunderts waren im wesentlich kompilativ und beruhten auf den theologischen Autoritäten. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden sie als selbständige literarische Schöpfungen behandelt. 38 Jenseits der estnischen Literaturgeschichte ist Heinrich Stahls LeyenSpiegel auch im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Predigtsammlungen zu betrachten. Stahls Predigten sind hinsichtlich des Aufbaus und zum Teil auch inhaltlich den finnischsprachigen Predigten von Ericus Erici ähnlich, die im Jahre 1625 als Postille erschienen. Erici gliedert das Gebet des Tages in zwei oder drei Abschnitte, und die Erklärung der Abschnitte wird in Unterabteilungen dargeboten, die nochmals geteilt sind. Wie Stahl gibt auch Erici die Thesen punktweise und befolgt damit dieselbe Logik der Lehre. 39 Ericus Erici studierte in den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts an der Rostocker Universität. Seine Evangelienpostille erschien in Stockholm in den Jahren 1621 -1625 in zwei Teilen und umfaßt 2200 Seiten. Erici und Stahl sind miteinander nicht nur durch ein Studium in Rostock verbunden, Ähnlichkeiten sind auch hinsichtlich der Ziele und des regionalgeschichtlichen literarischen Hintergrundes der beiden Geistlichen zu finden. Nach Erkki Kouri war Finnland im 17. Jahrhundert mit Blick auf die Predigtliteratur eine deutsche Kulturprovinz. Wie Stahls Postille hatte auch Ericis Werk ein doppeltes Ziel: zum einen war sie als Hilfestellung bei der Predigt gedacht und zum anderen als Grundlage für die häusliche Andacht. Die Postille war zum Vortrag für ein großes Publikum bestimmt. Die Hörer waren nicht nur Pfarrherren, sondern auch Diakone, auch Adelige und Beamte folgten allmählich, ebenso Bürger und sogar Bauern. Wie Kouri aufzeigt, waren Ericis Predigten nicht nur zur geistlichen, sondern generell zur geistigen Bildung der Leser vorgesehen; sie boten den finnischen Lesern humanistisches und teilweise 37 38

39

Ebd., S. 211-215. Erkki Kouri: Historiankiijoitus, poliitikka, uskonto. / Historiography, politics, religion.- Jyväskylä: Jyväskylän Yliopisto 1990 (= Studia Historica Jyväskyläensia; 42), S. 509. Ericus Erici: Postilla. Näköispainos [Faksimile]. Hrsg. von Matti Parvio.- Helsinki: Suomalaisen Kiijallisuuden Seura 1988 (Nachdruck der Ausgabe Stockholm: Reusner 1621) (= Suomalaisen Kirjallisuuden Seuran toimituksia, 03551768; 487), S. 33-60.

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auch naturwissenschaftliches Wissen an. Hier tritt die pädagogische und didaktische Intention am deutlichsten zutage: die Postille von Ericus Erici sollte der Leserschaft ein adäquates Instrument zur Pflege, Entwicklung und Vertiefung des religiösen Lebens sowohl in der Gemeinde als auch im privaten Bereich zur Verfügung stellen. An zahlreichen Beispielen zeigt Kouri auf, daß die Predigtsammlung von Erici nicht aus der skandinavischen, sondern aus der deutschen evangelischen Predigtliteratur hervorging. Als grundlegende Quelle nennt er das in den Jahren 1613-14 in Leipzig erschienene Werk Evangeliorum anniversariorum des Nathaniel Tilesius.40 Der deutsche lutherische Theologe Nathanael Tilesius (1565-1616) ist Autor von vielen sehr populären Predigtsammlungen, die mehrfach in erneuerten Abdrucken herausgegeben wurden.41 Es ist zu vermuten, daß Heinrich Stahl mit den Arbeiten von Tilesius bekannt war. Ein Vergleich der Weihnachtspredigten von Stahl und Georg Müller mit jenen von Tilesius bietet sich an, da alle auf denselben Evangelientexten beruhen.42 Wie bei Stahl liegt auch bei Erici der ersten Weihnachtspredigt das zweite Kapitel des Evangeliums von Lukas zugrunde. Die Erklärung des Tagesgebetes ist in zwei Kapitel aufgeteilt, wobei das erste Kapitel bei Stahl und Erici nach demselben Schema aufgebaut ist. Es werden die Geburtszeit, der Geburtsort und die Herkunft Christi geschildert. Im Unterschied zu Erici macht Stahl keinen Exkurs in die Geschichte und Geographie Roms, was durch das gebildetere Publikum Ericis zu erklären ist. Stahl ist didaktisch, aber er beschränkt sich auf die religiöse Lehre. Seine Lehre aus diesem Evangelium ist einfach und deutlich: Christus ist der wahrhafte Messias und Gott; wir müssen unserer Obrigkeit treu und der Herrschaft gehorsam sein und Gott danken. Fast wörtlich fällt die Lehre aus der Predigt des zweiten Weihnachtstages von Stahl zusammen mit derjenigen des ersten Weihnachtstages bei Tilesius. Die Ausführungen von Tilesius sind aber - im Gegensatz zu Stahl emotional und zeigen Ähnlichkeiten mit dem zweiten Kapitel der Weihnachtspredigt von Erici. Der Grundton der genannten wie auch der anderen Weihnachtspredigten von Tilesius erinnert jedoch überraschend an die Predigten von Müller.43 In den Predigten von Tilesius ist ein didaktischer Kern auszumachen, der in der späteren Predigttradition weiterentwickelt wurde, doch die 40 41

42 43

Kouri: Historiankiijoitus (Anm. 38), S. 506-507. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten-Lexicon [...]. Bd. I-IV.Leipzig: Gleditsch 1750-51, Bd. IV, Sp. 1200. Nathanael Tilesius: Andächtige Weynacht-Predigten.- Breslau [o.J.]. Vgl. Heinrich Stahl: LeyenSpiegel.- Reval: Westphal 1641-49, S. 58-98; Tilesius: Weynacht-Predigten (Anm. 42), S. 302-373; Erici: Postilla (Anm. 39), S. 136-175.

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Predigten sind unmittelbar und voller Freude, so daß selbst der heutige Leser von ihnen angesprochen wird: Fürchtet euch nicht. Laß die Traurigkeit aus deinem Herzen/ und thue das Übel von deinem Leibe. Mache dich selbst nicht traurig und plage dich nicht selbst mit deinem eigene Gedanken. Denn ein frölich Herz ist des Menschen Leben/ thue dir guts und tröste dein Herß/ und treibe Traurigkeit ferne von dir. Den Traurigkeit tödet viel Leute und dienet doch nirgend zu t···]· 44

Das Zitat erinnert sehr an den freundlichen Grundton der Predigten von Müller, den die estnische Literaturtradition als persönliche Eigenschaft des Autors konstatierte. Müller und Tilesius benutzen beide in ihren Predigten oft Psalmenreihen, und es ließen sich noch weitere Ähnlichkeiten aufzeigen. Selbstverständlich kann man nicht aufgrund eines so geringen und zufälligen Vergleichsmaterials weitreichende Schlußfolgerungen ziehen. Es ist wenig wahrscheinlich, daß Stahl die Postille von Ericus Erici gekannt hat; Georg Müller waren die Predigten von Nathanael Tilesius gewiß unbekannt, da sie erst später im Druck erschienen. Vermutlich liegen den estnischsprachigen Predigten von Stahl und Müller jedoch andere zeitgenössische lutherische Texte des deutschen Kulturraumes zugrunde. Die ersten überlieferten estnischsprachigen Predigten sind voneinander durch einen Zeitraum von vierzig Jahren sowie durch unterschiedliche Bildungswege und Lebenserfahrungen der Autoren getrennt. Die estnische historische Forschung hat sich bisher zu sehr auf die Eigenschaften der Personen konzentriert und dem geistlichen Hintergrund wie auch den möglichen Quellen der Predigten zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es ist jedoch unumgänglich, die Werke im Kontext der zeitgenössischen deutschen lutherischen Predigtliteratur zu betrachten. Heinrich Stahls LeyenSpiegel ist als ein literarisches Werk, das die lutherischen Ideen des 17. Jahrhunderts in Estland vermittelt hat, noch kaum erforscht.

44

Tilesius: Weynacht-Predigten (Anm. 42), S. 305-307.

Lea Köiv

Johannes Gutslaffs Kurtzer

Bericht

Eine typische und einzigartige Erscheinung im estländischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts

Das 17. Jahrhundert, die Zeit der schwedischen Herrschaft, war für Estland in mehreren Lebensbereichen von umwälzender Bedeutung. Auf geistigem Gebiet spielte die 1632 gegründete Dorpater (Tartuer) Universität eine wichtige Rolle. Moderne Ideen aus Westeuropa gelangten in die hiesigen gelehrten Kreise. Die staatliche Politik zur Sicherung der Position der protestantischen Kirche hat gleichzeitig zur Verbreitung der Volksbildung, zur Entwicklung des Schrifttums und des Druckwesens beigetragen. Die Tradition des baltischen Druckwesens reicht bis in das 16. Jahrhundert zurück; im estnischen Gebiet sind die ersten Druckereien jedoch erst in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts entstanden.1 Damit eröffneten sich im Vergleich zu früher bessere Möglichkeiten für die Drucklegung der Texte örtlicher Herkunft. Bis dahin hatte man diese entweder in Riga oder in verschiedenen Orten Deutschlands drucken lassen. Ein Großteil der Autoren war mit der akademischen Umwelt verbunden, die sich bei den zwei neugegründeten Lehranstalten, dem Revaler Gymnasium und der Dorpater Universität, bildete. Dies alles trug zu einer Vermehrung und Kontinuität des Schrifttums bei, das speziell von Estland und Livland handelte und zugleich die hier vorherrschende geistige Prägung repräsentierte. Der heutige Stand des Wissens über das Schrifttum des 17. Jahrhunderts ist zu differenzieren. Recht ausfuhrlich ist das Werk der Buchdrukker jener Zeit untersucht worden, so daß ein gutes statistisches Bild über die in Estland erschienenen Drucke vorliegt. Die Produktion wurde in hohem Maße dadurch geprägt, daß die Revaler Druckerei an das Gymnasium, die Dorpater an die Universität angeschlossen war. Die Dorpater Universitätsdruckerei publizierte in der Tat vorwiegend Schriften der Universität. Die Revaler Drucke waren vielfältiger, denn außer dem 1

In Riga wurde die Druckerei 1588 gegründet; in Dorpat bestand seit 1631 die Druckerei der um ein Jahr später gegründeten Academia Gustaviana; die Druckerei beim Revaler Gymnasium wurde 1633 angelegt. Am Ende des 17. Jahrhunderts gab es auch in Narva eine Druckerei, die aber insgesamt nur 15 bis 20 Gelegenheitsdrucke publiziert hat.

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Lea Κδίν

Gymnasium traten auch die schwedischen Regierungsbehörden, der Revaler Rat sowie die Estländische Ritterschaft als Auftraggeber auf. Unter den Druckschriften des 17. Jahrhunderts im estnischen Gebiet sind die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der Dorpater Universitätsdruckerei am zahlreichsten, wobei es sich in erster Linie um Disputationen und Orationen der Lehrer und Studenten handelt. A u f der anderen Seite wurden relativ viele praktisch ausgerichtete Schriften religiösen Inhalts veröffentlicht - verschiedene Handbücher für Geistliche und für > Hausväter < sowie Predigten und Gesangbücher. Unter den Handbüchern sind die hauptsächlich in der Revaler Druckerei hergestellten Hand- und Hausbücher mit Paralleltexten jeweils in deutscher und estnischer Sprache als besonders umfangreich herauszuheben. Eine kleine, jedoch wertvolle Sondergruppe bilden die ersten Grammatiken und Wörterbücher des Estnischen. Die sogenannte > Schöne Literatur < ist mit Ausgaben der estnisch-, deutsch- und lateinischsprachigen Gelegenheitsdichtung aus der Revaler Druckerei vertreten. 2

2

Grundlegende Untersuchungen über die Druckereien in Riga, Dorpat und Reval: Arend Buchholz: Geschichte der Buchdruckerkunst in Riga 1588-1888. Festschrift der Buchdrucker Rigas zur Erinnerung an die vor 300 Jahren erfolgte Einfuhrung der Buchdruckerkunst in Riga.- Riga: Müller 1890, S. 1574; Friedrich Puksov: Tartu ja Tartu-Pärnu rootsiaegse ülikooli trükikoda. Die Universitätsbuchdruckerei in Dorpat und Pernau zur schwedischen Zeit.- Tartu: Akadeemilise Kirjandusühingu kirjastus 1932 (= Akadeemilise Kirjandusühingu toimetised / Publikationen der Akademischen Literarischen Vereinigung; 9); neuere Übersichten: Kyra Robert: Tallinna 17. sajandi trükised [Die Revaler Drucke des 17. Jahrhunderts].- In: Kyra Robert: Raamatutel on oma saatus. Kirjutisi aastaist 1969-1990 [Die Bücher haben ihr eigenes Schicksal. Aufsätze aus den Jahren 1969-1990].- Tallinn: Eesti Teaduste Akadeemia Raamatukogu 1991, S. 5-19; Kyra Robert: Boktryckarna i Tallinn ρέ 1600talet.- In: Den estniska boken genom seklerna. Bokhistoriska uppsatser. Hrsg. von Endel Annus und Esko Häkli.- Helsingfors: Helsingfors universitetsbibliotek 1995, (= Heisingin yliopiston kirjaston julkaisuja/Helsingfors universitetsbiblioteks skrifter/Publications of the Helsinki University Library; 57), S. 31 51; Kyra Robert: Christoph Reusner der Ältere. Revals Erstdrucker im 17. Jahrhundert.- In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders und Thomas Eismann. Bd. Ι-Π.- Tübingen: Niemeyer 1998 (= Frühe Neuzeit; 39), Bd. II, S. 814-821; Ene-Lille Jaanson: Tartu Ülikooli trükikoda 1632-1710. Ajalugu ja trükiste bibliograafia. Druckerei der Universität Dorpat 16321710. Geschichte und Bibliographie der Druckschriften.- Tartu: Tartu Ülikooli Raamatukogu 2000; Ojar Sander: Nicolaus Mollyn, der erste Rigaer Drucker. Sein Schaffen in Riga von 1588 bis 1625.- In: ebd., S. 786-799; Meta Taube: Die Arbeiten des Rigaer Buchdruckers Gerhard Schröder (1625-1657).- In: ebd., S. 801-812; Matti A. Sainio: Dissertationen und Orationen der Universität Dorpat 1632-1656.- Stockholm: [o.V.] 1978 (= Arsböcker i Svensk undervisnigshistoria; 141).

Johannes Gutslaffs »Kurtzer Bericht v.

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Was den Inhalt des Schrifttums des 17. Jahrhunderts anbetrifft, so macht sich bei den heutigen estnischen Forschern offensichtlich noch eine gewisse Scheu vor der für die Texte jener Zeit kennzeichnenden lutherischen Dogmatik spürbar. Wohl damit ist die Tatsache zu erklären, daß mehrere Themen, die zum Grenzgebiet zwischen der Geschichtsund der Sprachwissenschaft, der Folkloristik und der Theologie gehören, nur wenig beachtet werden. Forschungen zur Predigtliteratur, die international immer mehr Beachtung findet, sind in der estnischen Historiographie so gut wie gar nicht vorhanden. 3 So ist ein Teil des literarischen Erbes des 17. Jahrhunderts, insbesondere Schriften religiöser Ausrichtung, in letzter Zeit weitgehend übersehen worden, wobei auch manche, viel erforschte Texte immer wieder nur unter bestimmten Gesichtspunkten betrachtet wurden. Dies gilt auch für das im Jahre 1644 erschienene Buch Kurtzer Bericht und Vnterricht Von der Falsch-heilig genandten Bäche in Lieffland WöhhandaA, das in der baltischen geschichtswissenschaftlichen, volks3

Dieser Bereich ist lediglich gestreift worden: Lüsi Tohver: Lääne-Euroopa kajastusi Georg Mülleri jutlustes [Widerspiegelungen von Westeuropa in den Predigten Georg Müllers].- In: Eesti Kiijandus 1 (1935), S. 6 - 2 4 ; Uku Masing. Somnium umbrae.- In: Vanema kiijakeele lood [Die Geschichten über die ältere estnische Schriftsprache], Hrsg. von Anti Lääts.- Tartu: Ilmamaa 1999, S. 135-239; Piret Lotman: In Estland und im Ingermanland geschriebene Katechismen von Heinrich Stahl.- In: Kirik ja kirjasöna Läänemere regioonis 17. sajandil. The church and written word in the Baltic Sea region in the 17th century. Kirche und Schrifttum der Ostseeländer im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Piret Lotman.- Tallinn: Eesti Rahvusraamatukogu 1998 (= Acta Bibliothecae Nationalis Estoniae [ABNE]; 7), S. 134-154; vgl. auch den Aufsatz von Piret Lotmann im vorliegenden Sammelband. Die an der Universität Tartu fertiggestellte Magisterarbeit von Leino Pahtma, eine ausführliche Abhandlung über das Leben und Werk des estländischen Postille-Schreibers Heinrich Stahl, sollte noch mit einer gesonderten Darstellung des literarischen Nachlasses von Stahl ergänzt werden. Vgl. Leino Pahtma: Heinrich Stahl 17. sajandi 1. poole Eesti- ja Ingerimaa kiriku- ja kirjandusloos. [Heinrich Stahl in der Kirchenund Literaturgeschichte Estlands und Ingermanlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts].- Tartu: Magistritöö, Tartu Ülikool, Üldajaloo öppetool 1998. Anhaltspunkte für die Untersuchung dieser Themen in Estland geben: Jänis Kreslins: Dominus narrabit in scriptura populorum. Α Study of Early Seventeenth-century Lutheran Teaching on Preaching and the Lettische Langgewünschte Postill of Georgius Mancelius.- Wiesbaden: Harrassowitz 1992 (= Wolfenbütteler Forschungen; 54); Pentti Laasonen: Johannes Gezelius vanhempi ja suomalainen täysortodoksia.- Helsinki: Suomen Kirkkohistoriallinen Seura 1977 (= Suomen Kirkkohistoriallisen Seuran Toimituksia; 103).

4

Kurtzer Bericht vnd Vnterricht Von der Falsch-heilig genandten Bäche in Lieffland Wöhhanda. Daraus die Vnchristliche Abbrennunge der Sommerpahlschen Mühlen geschehen ist. Aus Christlichem Eyfer/ wegen des Vnchristlichen vnd heydnischen Aberglaubens gegeben Von Johanne Gutslaff/ Pomer. Pastom zu Vrbs in Lieffland. Gedruckt zu Dorpt in Lieffland/ bey Johan Vögeln/ der Kö-

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Lea Κδίν

kundlichen und sprachwissenschaftlichen Literatur gut bekannt ist. Es sei hier zunächst eine kurze Übersicht über den Inhalt des Buches gegeben und auf die Aspekte verwiesen, aufgrund derer es früher Beachtung gefunden hat. Zunächst sollen jedoch einige Worte über den Autor verloren werden, dessen Biographie der estnische Historiker Arvo Tering ausfuhrlich untersucht hat.5 Johannes Gutslaff war in den Jahren 1641 -1656 Pastor der Gemeinde Urbs (Urvaste), die sich im südöstlichen Teil Estlands befindet. Er stammte aus Deutschland, genauer aus Pommern und hatte an der Greifswalder und der Leipziger Universität studiert. Spätestens 1639 kam er nach Estland, denn im Mai dieses Jahres wurde er an der Academia Gustaviana immatrikuliert. Schon im nächsten Jahr disputierte er und trat spätestens 1641 das Pfarramt zu Urbs an. Wegen der Kriegsereignisse verließ Gutslaff im Jahre 1656 seine Gemeinde und begab sich nach Reval, wo er im darauffolgenden Jahre an der Pest starb. Außer dem Kurtzen Bericht hat Gutslaff später eine Grammatik der südestnischen Sprache verfaßt und veröffentlicht6 sowie das Alte Testament ins Südestnische übersetzt.7 Darüber hinaus sind von ihm auch einige Trauergedichte, darunter ein estnischsprachiges, erhalten geblieben.8 So steht Gutslaff hinsichtlich seiner kulturellen Wirkung und seiner Werke in einer Reihe mit den hiesigen Pastoren und Gelehrten des 17. Jahrhunderts wie zum Beispiel Heinrich Stahl, dem Verfasser eines Hand- und Hausbuches (1632-39) und der ersten Grammatik der estnischen Sprache, Heinrich Göseken, dem Übersetzer der Bibel und Autor

nigl. Vniversität Buchdrucker/ im Jahr 1644. - Der Kurtze Bericht ist eine der wenigen von der Druckerei der Academia Gustaviana veröffentlichten Schriften, deren Verfasser nicht zur Universität gehörte. Vgl. Arvo Tering: Lisandusi ja täpsustusi Johannes Gutslaffi kohta [Ergänzungen und Präzisierungen über Johannes Gutslaff].- In: Keel ja Kiijandus 1 (1979), S. 26-30, hier S. 29. 5 Tering: Lisandusi ja täpsustusi (Anm. 4). 6 Johannes Gutslaff: Observationes grammaticae circa linguam esthonicam [...].Dorpat: Johannes Vogel 1648. Neue Ausgabe und Übersetzung ins Estnische in: Johannes Gutslaff: Observationes grammaticae circa linguam esthonicam. Grammatilisi vaatlusi eesti keelest, Tölkinud ja väljaande koostanud Marju Lepajöe [Grammatische Betrachtungen über die estnische Sprache. Übersetzt und zusammengestellt von Marju Lepajöe].- Tartu: Tartu Ülikool 1998 (= Tartu Ülikooli eesti keele öppetooli toimetised [Veröffentlichungen des Lehrstuhls für estnische Sprache bei der Universität Tartu]; 10), S. 12-246. 7 Johannes Gutslaff wurde als Verfasser des vom Literaturmuseum der Estnischen Akademie der Wissenschaften verwahrten Manuskripts lange in Frage gestellt. Auch dieses Problem ist von Tering geklärt worden: Arvo Tering: Lisandusi ja täpsustusi (Anm. 4), S. 29-30. 8 Villem Alttoa, Aino Valmet: 17. sajandi ja 18. sajandi alguse eestikeelne juhuluule [Die (estnischen) Gelegenheitsgedichte des 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts].- Tallinn: Eesti Raamat 1973, S. 51-52.

Johannes Gutslajfs η Kurtzer Bericht«

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eines deutsch-estnischen Wörterbuches, sowie Johann Forselius, der über die volkstümlichen Bräuche der Esten berichtete. Kurz nachdem sich Gutslaff in Urbs niedergelassen hatte, brach ein ernsthafter Streit zwischen dem Gutsbesitzer Hans Ohm zu Sommerpahlen (Sömerpalu) und den örtlichen Bauern aus. Durch häufige Fröste und Regen war es in zwei aufeinander folgenden Jahren zur Mißernte gekommen. Die Bauern schrieben die Schuld jedoch der Wassermühle zu, die der Gutsbesitzer kurz zuvor am Fluß Vohandu erbaut hatte. Nach dem Glauben der Bauern war der Fluß heilig, und jede Störung des Wasserlaufs sollte schlechtes Wetter verursachen. Der Konflikt führte dazu, daß die Mühle im Sommer 1642 durch die Bauern zerstört wurde. Zur Bestrafung der Aufsässigen wurde Militär herbeigeholt. Durch diesen Konflikt sah sich Johannes Gutslaff als pastor loci veranlaßt, den Kurtzeit Bericht über das Ereignis und dessen Ursachen zu verfassen. 9 Diese Schrift ist heute eine Rarität. Schon im 18. und 19. Jahrhundert wurde immer wieder auf die Seltenheit des Buches verwiesen. 1 0 A m Anfang des 20. Jahrhunderts waren nur drei Exemplare bekannt, die in den 9

Sowohl über das Niederbrennen der Mühle als auch über die dem Brand vorangegangenen Ereignisse berichtet Gutslaff im vierten Kapitel seines Traktats Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 29-42: »Von Erbawung vnd Verbrennung der Sommerpahlischen Mühlen«. 10 Zum Beispiel ist es Friedrich Konrad Gadebusch nicht gelungen, sich ein Exemplar zu beschaffen. Bei der Beschreibung des Buches bzw. dessen Inhalts war er lediglich auf Berichte und Vermutungen angewiesen. Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek. Bd. I-III.- Riga: Hartknoch 1777, Bd. I, S. 472. Fast alle früheren Forscher merken an, daß sie das Buch nur durch irgendeinen glücklichen Zufall einsehen konnten. 1884 schreibt der estnische Folklorist Mihkel Veske: »Dies ist ein berühmtes, in wissenschaftlichen Büchern alter Zeit oft erwähntes Buch, zugleich aber ein sehr seltenes Buch. In Tartu habe ich vergeblich nach ihm gesucht, und habe auch nicht erfahren, wo es es noch gibt oder ob es überhaupt noch zu bekommen ist. Endlich bin ich auf die Spur gekommen, daß von ihm ein Exemplar in Tallinn, in der Bibliothek der Estländischen Literarischen Gesellschaft verwahrt wird, und ein zweites in der Universitätsbibliothek Göttingen in Deutschland.« vgl. Mihkel Veske: Vanad ohvrikohad.- In: Oma Maa. Teaduste ja juttude ajakiri 1 (1884), S. 13-16, 40-43; hier S. 13-14. Im 17. Jahrhundert gehörte ein Exemplar der Bibliothek der St. Olaikirche. »Verzeichnüs derer Bücher, so von der alten Revalschen Bibliothec, sent Ao. 1552. überblieben, und ietzo, in S. Olai Kirche, annoch vorhanden sind.« Manuskript in der Estnischen Akademischen Bibliothek (V 48053). Aus den Revaler Inventarverzeichnissen des 17. Jahrhunderts geht hervor, daß das Buch auch in einigen Privatbibliotheken vorhanden war: Im Nachlaßinventar von Melchert Kamp und seiner Frau vom Jahre 1658 wird es mit dem Titel »Vnterricht von der Bäche Wöhhanda in 8vo« angegeben. (Tallinner Stadtarchiv [TLA], Bestand [B.] 230, Verzeichnis [Verz. 1], Nummer [Nr.] Bt 11, Blatt [Bl.] 97); im NachlaßVerzeichnis (1665-1686) von Cornelius Murrer als »Gutslaf, Bericht von ein Bach« angegeben (TLA, B. 166, Verz. 1, Nr. 462, Bl. 45).

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Lea Köiv

Universitätsbibliotheken von Helsinki und Göttingen sowie in der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft in Reval verwahrt wurden. Das letztgenannte Exemplar ging um 1918 verloren, 11 doch im Jahre 1935 gelang es dem Stadtarchiv Tallinn, ein Exemplar v o m Kurtzen Bericht zu erwerben. So ist in Estland auch heutzutage - soweit bekannt - nur ein Exemplar vorhanden, welches im Tallinner Stadtarchiv verwahrt wird. 1 2 Der Bericht von Gutslaff gilt bis heute als die einzige Quelle über den Vorfall von 1642 in Sommerpahlen - es sind keine weiteren Dokumente zu dieser Episode bekannt. Er ist eine der wenigen veröffentlichten zeitgenössischen Studien über die Weltanschauung der estnischen Bauern im 17. Jahrhundert. Einen besonderen Wert hat das im Buch aufgeführte estnischsprachige Donnergebet, das Gutslaff v o n einem als »Donnerpfaffe«

11

Valik Eesti kiijakeele vanemaid mälestisi. Välja andnud Albert Saareste ja Arno Raphael Cederberg. Vihk 1. [Eine Auswahl von älteren Zeugnissen der estnischen Schriftsprache. Hrsg. von A. Saareste und A. R. Cederberg. Η. 1].Tartu: Akadeemilise Emakeele Seltsi kirjastus 1927 (= Akadeemilise Emakeele Seltsi toimetised [Veröffentlichungen der Akademischen Gesellschaft für Estnische Sprache]; 16), S. 99; Eesti Biograafiline Leksikon [Estnisches Biographisches Lexikon], Tartu: Loodus 1926-29, S. 115. 12 Der Kurtze Bericht wird heute im Bestand des Revaler Ratsarchivs aufbewahrt: TLA, B. 230, Verz. 1, Nr. Htr. 35; im Gesamtverzeichnis der Handbibliothek des Stadtarchivs Tallinn von 1930-1937 steht der nachfolgende, den Kurtzen Bericht betreffende Vermerk: »Gekauft am 9. Dezember 1935 von Herrn O. Moeller für 12 Kronen«; siehe auch: Übersicht über die Tätigkeit der Stadtverwaltung Tallinn von 1935/36, X aastakäik [10. Jahrgang] (1936), S. 85. Möglicherweise handelte es sich beim Verkäufer um Otto Moeller, den Architekten und Sohn des ehemaligen Archivars der Öselschen Ritterschaft, von dem der Estnische Archivrat im Jahr 1933 mehrere, im Laufe der Zeit in den estnischen Archiven und Bibliotheken gestohlene Archivalien beschlagnahmte. (Eesti Riigiarhiiv/Estnisches Staatsarchiv, B. 1014, Verz. 1, Nr. 81, Bl. 1 -2, 25). Es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich bei dem Kurtzen Bericht, den das Stadtarchiv von O. Moeller kaufte, um dasselbe Exemplar handelte, das früher der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft gehört hatte. Über die Aufbewahrungsorte dieses raren Buches geben einige Veröffentlichungen irreführende Auskünfte. Zum Beispiel schreibt Johan Kopp im Jahre 1959, daß sich ein Exemplar in der Bibliothek der Estländischen Literärischen Gesellschaft befindet. Vgl. Johan Kopp: Kirik ja rahvas. Sugemeid eesti rahva vaimse palge kujunemise teelt. [Die Kirche und das Volk. Vom geistigen Werdegang des estnischen Volkes].- Lund: Eesti Vaimulik Raamat 1959. Noch in der zweiten Hälfte der 70er Jahre war man der Meinung, daß in Estland kein einziges Exemplar vom Kurtzen Bericht erhalten geblieben sei. Vgl. Heidur Niit: Kadunud ja jälle leitud [Verschwunden und wieder aufgefunden].· In: Keel ja kirjandus 11 (1981), S. 683. - Laut Nachrichten von Velio Helk wird ein Exemplar auch in der Dänischen Königlichen Bibliothek aufbewahrt: Vello Helk: Estica-trükiseid Kopenhaagenis ja mujal [Estica-Drucke in Kopenhagen und anderswo].- In: Tuna 2000 (2), S. 61-71, hier S. 69.

Johannes Gutslaffs »Kurtzer Bericht«

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bekannten Bauern aufgeschrieben hat. 13 Dieses ist, soweit bekannt, die älteste Aufzeichnung eines Donnergebets aus dem Gebiet Estlands. Außerdem werden von Gutslaff zahlreiche estnische Orts- und Personennamen sowie vereinzelte Sätze in estnischer Sprache festgehalten. 14 Die oben erwähnten, man kann sagen, allgemein bekannten Aspekte stehen, wohl unterschiedlich akzentuiert, in allen dem Kurtzen Bericht gewidmeten Abhandlungen im Vordergrund. Die früheren Autoren sind am meisten für den sozusagen historischen Kern interessiert gewesen die Beschreibung des Aberglaubens und das dadurch verursachte Ereignis. 15 Später, mit dem Aufstieg des estnischen Nationalbewußtseins und der estnischen Forschung sind die im Buch aufgeführten estnischsprachigen Ausdrücke sowie das Donnergebet als sprachliche und religionsgeschichtliche Denkmäler von besonderem Wert beachtet worden. Seit dem Anfang unseres Jahrhunderts ist das Gebet wiederholt neu publiziert und veröffentlicht worden. 16 Außerdem wurden im Kurtzen Bericht An13

Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 362-363. Ebd. S. 18-23, 34, 258, 262. Dazu siehe Näheres: Lea Köiv: Haruldane eesti keel haruldases trükises [Rares Estnisch in einer raren Druckschrift].- In: Raamatukogu 2 (1995), S. 11 -13. 15 So wunderte man sich: »Welche Blindheit, welche Greuel!«- In: Christian Friedrich Scherwinzky: Etwas über die Ehsten besonders über ihren Aberglauben.- Leipzig: im Schwickertschen Verlage 1788, S. 41; und man fand, daß die Esten, im Vergleich zu anderen europäischen Völkern, die nach und nach zum Christentum übergetreten sind, am längsten am Aberglauben ihrer Verfahren festhielten.- In: ders.: Eine Mühle, die Ursache von Misswachs und Aufruhr. Aus der Geschichte des Ehstnischen Aberglaubens.- In: Karl Gottlob Sonntag: Das Russische Reich, oder Merkwürdigkeiten aus der Geschichte, Geographie und Naturkunde aller der Länder, die jetzt zur Russischen Monarchie gehören. Bd. I-II.- Riga: Hartknoch 1792, Bd. II (1792), S. 129-137, hier S. 129. Herman Kellgren schätzt die Beschreibung der Flußverehrung hoch ein als wertvolles Vergleichsmaterial bei der Erforschung der Religionsgeschichte anderer finnisch-ugrischer Völker. Vgl. Herman Kellgren: Om den heliga bäcken Wöhhanda i Liefland.- In: Suomi 1849 (1850), Nr. 10, S. 79-92, S. 80. Mihkel Veske schreibt: »Wir bekommen hier ein festes Zeugnis dafür, wie mächtig der heidnische Glaube noch vor 240 Jahren war, wie er Menschen zu einem großen Verbrechen treiben konnte, wie nach dieser vollbrachten bösen Tat die abergläubischen Gedanken noch weiterlebten, obwohl es deutlich zu sehen war, daß die Säuberung des Flusses das schlechte Wetter nicht verbessert hatte! Darüber hinaus erhalten wir hier einige wichtige Nachrichten über den alten Glauben. Wir haben gesehen, was ein heiliger Hain war und wie er als heilig verehrt wurde.«- In: Veske: Vanad ohvrikohad (Anm. 10), S. 42. Auf Gutslaff geht auch die Beschreibung der Flußverehrung im bekannten Nachschlagewerk über die deutsche Mythologie zurück: Jacob Grimm: Deutsche Mythologie. Bd. I-II. Zweite Ausgabe.- Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung 1844, Bd. I, S. 565. 14

16

Kivid ja Killud [Steine und Splitter], Zusammengetragen von Villem Reiman.Tartu: Postimees 1907, Erster Teil (= Eesti Kiijanduse Seltsi toimetused [Ver-

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haltspunkte für die Präzisierung der biographischen Daten Gutslaffs gefunden. 17 Einhellig wird Gutslaffs Gewissenhaftigkeit bei der Widerlegung des Aberglaubens anerkannt. Man hat festgestellt, daß die seelische Erziehung der estnischen Bauern ihm sehr am Herzen lag. 18 Die Verfasserin des vorliegenden Beitrages hat ihrerseits darauf hingewiesen, daß das Buch, das in der Forschung bereits seit Jahrhunderten als Quelle über den Volksglauben der Esten bewertet worden ist, darüber hinaus interessante Einblicke in die geistige Welt der Deutschen jener Zeit gewährt. Sie hat auch einige Beobachtungen über die Darstellungsweise Gutslaffs im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Autoren angestellt. 19 Also ist der Kurtze Bericht einerseits schon häufig und relativ ausfuhrlich behandelt worden und kann daher schon als besonderes Phänomen unter den Druckschriften des 17. Jahrhunderts gelten. 20 Jedoch wür-

handlungen der Gesellschaft fur Estnische Literatur]; 1), S. 8-9; Jaan Ruus: Pikkeri palve [Donnergebet].- In: Eesti Kirjandus (1914), S. 17-20; Tönu Sander: Eesti kiijanduse lugu [Geschichte der estnischen Literatur], Bd Ι-Π.- Tartu: Roht 1918, Bd. Π, S. 53; Matthias Johann Eisen: Eesti mütoloogia [Estnische Mythologie], Tartu: Bergmann 1919, S. 181; Valik Eesti kirjakeele vanemaid mälestisi (Anm. 11), S. 99; Eesti kirjanduse ajalugu viies köites [Geschichte der estnischen Literatur in fünf Bänden].- Tallinn: Eesti Raamat 1965, Bd. I, S. 139; Sulev Vahtre, Helmut Piirimäe: Meie kaugem minevik [Unsere ältere Vergangenheit].-Tallinn: Valgus 1983, S. 196-197. 17 Tering: Lisandusi ja täpsustusi (Anm. 4), S. 29. 18 Scherwinzky: Etwas über die Ehsten (Anm. 15), S. 27. »Aus Gutslaffs Werk kann man sehen, daß er ein guter und gerechter Mensch, für seine Zeit ein kluger Mann war. Zu den Bauern war er freundlich, und es scheint, daß diese viel Vertrauen zu ihm hatten. Der Bauer Wihtla Jürgen aus Erastwere vertraut ihm ein heidnisches Gebet an. Er erteilt ihnen keine rauhen, bösen Worte, sie tun ihm leid, weil sie noch ungebildet, dumm sind; seinen eigenen Stand und andere Stände ermahnt er aber an mehreren Stellen mit strengen, scharfen Worten.« Veske: Vanad ohvrikohad (Anm. 10), S. 14. »Gutslaff war kein gestrenger lutherischer Strafprediger, sondern vielmehr ein geduldiger Erklärer, dessen Aufrichtigkeit, Ernst und Interesse an der Weltanschauung der Bauern u. a. durch die Aufzeichnung und Veröffentlichung des Donnergebets zum Ausdruck kommt, denn selbst die mündliche Wiedergabe heidnischer Worte war aus der Sicht des orthodoxen Luthertums in jener Zeit eine Sünde.« Vgl. Tartu Ülikooli ajalugu 1632-1982 [Geschichte der Universität Tartu 1632-1982]. Hrsg. von Helmut Piirimäe. Bd. Ι-ΠΙ.- Tallinn: Eesti Raamat, Valgus 1982, Bd. I, S. 260. 19

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Lea Köiv: Einblick in die livländische geistige Welt des 17. Jahrhunderts: Johannes Gutslaff. Kurtzer Bericht vnd Vnterricht von der Falsch-heilig genandten Bäche in Liefflandt Wöhhanda [...].- In: Lotman: Kirik ja kiijasöna Läänemere regioonis 17. sajandil (Anm. 3), S. 85-105. Außer den obenerwähnten ist noch zu nennen: Lauri Vahtre: Töestisündinud lugu pühast jöest [Eine wahrhaftige Geschichte vom heiligen Fluß].- In: linGua Plus 3 (1990), [nicht paginiert]. Die Novelle der finnisch-estnischen Schriftstellerin Aino Kallas: Die Rache des Heiligen Flusses. Pyhän Joen kosto.- Hei-

Johannes Gutslaffs »Kurtzer

Bericht«

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de eine weitere Betrachtung des Buches unter einigen zuvor angedeuteten Gesichtspunkten zu einer tieferen und systematischeren Kenntnis desselben beitragen und zugleich das Gesamtbild vom Schrifttum des 17. Jahrhunderts erweitern. Aus diesem Grund soll im folgenden versucht werden, den Kurtzen Bericht in den Kontext seiner Zeit einzuordnen. Dabei sollen sowohl die für das Zeitalter typischen Momente als auch Besonderheiten, durch welche sich Gutslaffs Werk von anderen zeitgenössischen Schriften abhebt, festgestellt werden. Zunächst sei auf den Inhalt des Buches eingegangen. Der Pastor Gutslaff hat seine Schrift Von der Falsch-heilig genandten Bäche in Lieffland Wöhhanda laut seiner eigenen Aussage »Aus Christlichem Eyfer/ wegen des Vnchristlichen vnd Heydnischen Aberglaubens« verfaßt.21 Recht kurz, nur auf dreizehn Seiten, berichtet er über die Brandstiftung der Sommerpahlenschen Mühle sowie die diesem Vorfall vorangegangenen Ereignisse. Das eigentliche Ziel des Buches ist, den Aberglauben bloßzulegen, die Anhänger des falschen Glaubens zu belehren und zum richtigen Christentum zu bekehren sowie »allen Ständen« Hilfe zur Bekämpfung des Aberglaubens zu leisten. Darumb wil einem jeden wahren Christen obligen vnd gebühren/ sich nach seinem Stande solchem schändlichen Aberglauben mit Ernste zuwider setzen/ welches ich mit lehren vnd vnterrichten/ straffen vnd warnen/ dräwen vnd trösten/ schriftlich vnd mündlich/ meinem Lehrstande nach muß verrichten.22

Zu Beginn stellt Gutslaff seinem Leser den »Feind« - den Aberglauben in der Umgebung des Vöhandu-Flusses - ausführlich vor. Zu diesem Zweck beschreibt er genau die Lage des Flusses, indem er die einzelnen Haushalte sowie die Gewässer nennt, die Berührung mit dem Fluß haben. Er weiß zu berichten, daß der Fluß in den Peipussee (Peipsi järv) mündet und in Rußland angeblich weiter bis zur Stadt Pleskau (Pihkva, Pskov) fließt, anderen Angaben zufolge jedoch bis nach Narva. Der Fluß sei reich an Fisch, biete aber auch günstige Möglichkeiten für den Bau von Wassermühlen und sei zum Rudern und Baden gut geeignet.23 Um der Flußverehrung nachzugehen, ließ sich Gutslaff durch estnische Bauern über die Bräuche und Ansichten unterrichten, die mit dem Fluß zusammenhängen. Er hörte von ihnen mehrere Geschichten, die von der Heiligkeit des Flusses zeugen sollten. So erfuhr er unter anderem, daß man aus dem Hain, der die Quelle des Flusses umgibt, keinen einzigen Zweig brechen dürfe; daß die Quelle jedes Jahr gereinigt werden müsse

21 22 23

sinki: Otava 1930 (estn.: Tartu 1931), ist ebenfalls von Gutslaffs Erzählung inspiriert worden. Siehe den ausführlichen Titel des Buches (Anm. 4). Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 11. Ebd., S. 19-24.

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und dies »biß zur Ankunfft König Caroli seligen Andenkens aus Schweden/ nachher Dörpat/ [...]« geschehen sei. Der Wasserlauf dürfe auf keinerlei Weise gestört werden, deshalb sei es auch nicht erlaubt, Mühlen zu bauen. Falls man gegen diese Regeln verstoße, breche ein Unwetter los.24 In früheren Zeiten seien insgesamt mindestens fünf Mühlen wegen Gefahrdung des heiligen Flusses vernichtet worden.25 Die Vorfahren der Einheimischen hätten am Fluß mit einem entsprechenden Ritual das Wetter vorhergesagt und sogar günstiges Wetter »bestellt«; man habe in älteren Zeiten sogar Kinder dem Fluß geopfert.26 Noch gegenwärtig, das heißt zu Gutslaffs Zeiten, pflege man dem Donnergott am Fluß Opfer zu bringen, wozu es ein besonderes Donnergebet gäbe.27 Somit gelte der Fluß bei den Bauern als ein heiliges Gewässer und werde mancherorts sogar als der »Heilige Fluß« bezeichnet.28 Über den Ursprung der Flußverehrung behaupteten die Bauern, daß es ihr alter Glaube sei »Se om meye vana Vsk/ [...]«29; so rede das Volk »Ninda se rahwgas köneleb«30, und daß die Eltern es ihnen beigebracht hätten »[...]/ ninda need Wannambat meile opnut ommat«.31 Außerdem werde Gott von den Bauern mit der Flußverehrung in Zusammenhang gebracht: Er habe böses Wetter geschickt, da er sich über die Schändung des Flusses ärgerte.32 Gutslaff muß feststellen, daß der Aberglaube dank des Unwetters stark zugenommen habe und außer den Bauern auch Deutsche, unter anderen manche Angehörige der höheren Stände, ja sogar Pastoren in seinen Bann gezogen habe. solch Geschrei hat gantz Lieffland erfüllet gehabt/ also daß von Riga an biß Narva/ Reval/ Pernaw/ etc. der Lettische Bawr über die Schwäti Vbbe/ der Ehstnische Bawr aber über die Pöha Jogge geruffen hat. Vnd nicht alleine hat diß Aergemisse den Bawrsman berühret/ sondern hat auch viele der Teutschen bethören/ vnd zwar des gemeinen Mannes den mehrerntheil/ auch etzliche im hohen Stande vnnd Ansehen: Schande ist es daß ich bekennen muß/ daß auch Pastores, die der Gemeine Christi mit heilsamer Lehre vorstehen sollen/ sich nicht geschewet haben/ diesen schändlichen Paganismum zu defendieren.33

24 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 6, 11-14, 19-29, 257-258,269. Ebd., S. 278-283. Ebd., S. 24-28, 209-210, 212. Ebd., S. 362-364. Ebd., S. 17, 19, 27. Ebd., S. 266. Ebd., S. 258. Ebd., S. 266. Ebd., S. 129, 377. Ebd., S. 17-18. Sogar die Russen - das Nachbarvolk- die als besonders abergläubisch gelten, wunderten sich über die Ausbreitung des Heidentums bei den Esten. Ebd., S. 382-383.

Johannes Gutslaffs »Kurtzer

Bericht«

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Viele von ihnen hätten früher kaum etwas über den Fluß gewußt, jedoch seien sie nunmehr noch eifrigere Anhänger des nichtigen Aberglaubens als selbst manche Bauern.34 Dies habe wiederum das Ansehen des falschen Glaubens bei den Bauern weiter erhöht.35 Im Anschluß an die Vorstellung des > Hauptprotagonisten < seiner Schrift setzt sich Gutslaff mit den eigentlichen Ursachen der ungünstigen Witterung auseinander. Er macht klar, daß das Wetter jeweils von der Lage der Gestirne und ihrer gegenseitigen Wirkung bestimmt wird. Wie alles in der Welt, so hängt aber auch das jeweilige Wetter vom Willen Gottes ab.36 Letztendlich entscheidet Gott, ob er die von den Himmelskörpern verursachten Auswirkungen, die zum Unwetter fuhren können, abwendet oder nicht.37 Gutslaff gibt zu, daß eine der Ursachen für das schlechte Wetter tatsächlich beim Fluß Vöhandu steckt: Die Flußverehrung ist ja an sich bereits ein schwerer Verstoß gegen das erste Gebot.38 Obwohl Gott einen solchen Aberglauben sicher nicht dulden könne, ist das laut Gutslaff doch nicht der einzige Grund für die göttliche Strafe.39 Auch die Israeliten wurden nicht nur wegen der Sünden Davids, sondern vielmehr wegen ihrer eigenen Laster von der Pest betroffen.40 Gutslaff entfernt sich im folgenden nach und nach vom Thema der Flußverehrung. Er wendet seine Aufmerksamkeit einem allgemeinen Problem zu, indem er sich über die Trägheit und Fahrlässigkeit der Esten wie auch Deutschen in Sachen des christlichen Glaubens und der Kirche beschwert. Sein Augenmerk gilt dabei der Position des Pastors in der Gesellschaft sowie dem problematischen Verhältnis zwischen den Geistlichen und den weltlichen Herren. Den letzteren wirft er vor, daß sie ihr Patronatsrecht bei der Wahl der Pastoren mißbräuchten und sich um das materielle Wohl der Kirche nicht ausreichend kümmerten.41 Auf der anderen Seite bleibt auch die Geistlichkeit von seiner Kritik nicht verschont, da »im Geistlichen Stande Lehrer vnd Prediger so kalt vnd nachlässig sind gewesen bey diesem blinden Volke in lehren vnd predigen/ [,..]«.42 Gutslaff klagt, daß er, wohin er seinen Blick auch richten würde, überall auf Verletzungen der zehn Gebote stoße. Für die Aufzeichnung aller Übel gäbe es in einem Buch nicht genügend Platz.43 Er hält fest,

34

Ebd, S. 356. Ebd., S. 284-287. 36 Ebd., S. 301; 240-244. 37 Ebd., S. 304. 38 Ebd., S. 172, 381. 39 Ebd., S. 183-184. 40 Ebd., S. 183-184, 191-192. 41 Ebd., S. 179-182. 42 Ebd., S. 178. 43 Ebd., S. 333-345; 381-384; »Wenn ich nun wolte alle Sünden die heutiges Tages hin vnd her im schwänge gehen/ beschreiben/ wie sie begangen werden: 35

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daß »ein jeder in seinem Stande an diesem Aberglauben der Bawren schuldig« ist. Das alles habe dazu beigetragen, daß »die armen Bawren keine rechte gründliche Vnterrichtunge von Christlichen Glauben haben können vnd bleiben dahero in diesem ihrem Heydenthumb«.44 So habe der »Wegen defectibus aller Stände« aufgebrachte Gott keinen Grund gehabt, das vom Saturn und Jupiter bewirkte kalte Wetter abzuwenden.45 Jedoch hängt mit dem Fluß Vöhandu noch etwas Gefährliches zusammen, was die Entstehung und das Anhalten des schlechten Wetters mit begünstigt hat. Es ist derjenige, den das Wort Gottes wie folgt beschreibt: er sey ein Fürste der in der Lufft herrsche: Ein Fürst vnd Gewaltiger/ nemblich ein Herre der Welt/ der in der Finsternisse dieser Welt herrschet: Ein starcker Gewapneter/ der seinen Pallast vewahret.46

Schon im ersten Kapitel beginnt Gutslaff mit der Zerlegung der Fragen, wie der »Teuffei Gottes Intention bey dessen Wercken« widerstrebe, welches auch geschehe »bey diesem Aberglauben«: So were sie [Vöhandu] zu allerhand Mühlwercken sehre bequeme/ wenn nicht der leidige Teuffei solchen Nutz vnd Gebrauch dieser Bäche den accolis oder Anwohnenden mißgönnete/ dahero er ihnen hat eingebildet/ daß alsdenn flugs Vngewitter entstehe/ wenn diese Bäche werde mit Mühlen/ fischwehren oder dergleichen verpfahlet oder verunreiniget.47

Die Bauern meinten, daß der Teufel vielleicht im Fluß wohnte: Einmal während eines Krieges sei aus dem Fluß ein Jüngling gestiegen, der einen blauen und einen gelben Strumpf anhatte, worauf die verfeindeten Truppen, die bis dahin stillstanden, aufeinander prallten.48 Derselbe Teufel werde von den Bauern jetzt als Urheber des launischen Wetters verdächtigt. Unter Berufung auf die Heilige Schrift weist Gutslaff nach, daß der Teufel unmöglich im Fluß Vöhandu wohnen kann, denn Gott habe ihm die Hölle als Wohnsitz zugewiesen.49 Ebenso wird von Gutslaff die Be-

44 45 46 47

48 49

So würde solches ein sonderbahres Buch werden/ vnd würde diß Büchlein gar zu weitleufftig machen.« Ebd., S. 333-334. Deshalb beabsichtige er, in Zukunft sogar einen gesonderten Traktat zu diesem Thema zu schreiben. Ebd., S. 182. Ebd., S. 180-181, 182. Ebd., S. 182, 347-348. Ebd., S. 216. Ebd., Register der Capittel vnd der Sachen/ die in diesem Büchlein vorlauffen, S. 23-24. Ebd., S. 28, 115 und 173. Ebd., S. 199-200.

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Bericht«

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fürchtung der Einheimischen widerlegt, daß der Teufel im Fluß »sein Werck« habe. Den Teufel ziehe ein kaltes lebloses Gewässer gar nicht an; er fühle sich zum Menschengeschlecht hingezogen.50 Besonders leicht würden dem Netz seiner »Lügen« »Vngläubige, Schwachgläubige, die da im Glauben schläfferisch oder nachlässig sind«, verfallen.51 Eben der Teufel pflanze in Menschen den Aberglauben an. Besonders erfolgreich sei er in dieser Sache in den Zeiten des Heidentums gewesen, als er im griechischen Delphi sogar eine eigene »hohe Schule« unterhalten habe. Aus näherer Vergangenheit erinnert Gutslaff an die bekannte Geschichte vom Vertrag zwischen Doktor Faustus und dem Teufel.52 Jetzt wolle sich der Teufel durchsetzen, indem er den Menschen den Aberglauben einflößt und dazu mehrere »Lügen« über den Fluß Vöhandu einsetzt.53 Bei der Bedrängung der Menschen, unter anderem bei ihrer > Beladung < mit der Flußverehrung werde der Teufel durch den Neid getrieben, den er dem Menschen als von Gott besonders Begünstigtem gegenüber sowie Gott dem Allmächtigen gegenüber spürt. Er sei bestrebt, die Menschen der von Gott gegebenen Vorteile, wie zum Beispiel des günstigen Mühlengewässers Vöhandu, zu berauben. Ebenfalls versuche er, Gottes Ansehen bei den Menschen zu verderben, indem er den falschen Eindruck erweckt, daß das Wetter nicht von Gott, sondern von dem Fluß oder der Mühle oder von ihm selbst bestimmt wird.54 Jedoch handelt der Teufel samt seinem irdischen »Gesindlein (Zauberer, Zauberhexen, Beschwerer, Banntuchmacher, Hartmacher)«55 - nur mit Gottes Genehmigung und darf den ihm gesetzten Rahmen nicht überschreiten.56 Auch zur Änderung des Wetters habe Gott dem Teufel gewisse Möglichkeiten eingeräumt, so daß er mit göttlicher Zustimmung ein irgendwo vorhandenes kaltes Wetter an einen anderen Ort > transportieren < kann. Andererseits könne er bei den Menschen den Anschein von einem Wetter er-

50

Ebd., S. 201,213. Ebd., S. 219. 52 Ebd., S. 206-207. 53 Ebd., S. 11-15. Gutslaff führt diese »Lügen« an: Das ungünstige Wetter sei die Folge des Mühlenbaues, der den Fluß verunreinigt und seinen Wasserlauf gestört habe; vor etlichen Jahren sei an derselben Stelle auch eine Mühle gewesen, die ebenfalls von den Bauern zerstört worden sei, worauf das schöne Wetter wiederkehrte; die Mühle von Hans Ohm liefere viel mehr Mehl als die anderen Mühlen - dies sei ein Zeichen von der Besonderheit der Mühle; nach der Zerstörung der Ohmschen Mühle sei der Fluß mit der Absicht wieder verunreinigt worden - deshalb werde auch das Wetter nicht besser. Also vermittelt Gutslaff Meinungen der Einheimischen zu den Gründen für das Anhalten des schlechten Wetters auch nach dem Niederbrennen der Mühle. 54 Ebd., S. 371-378. 55 Ebd., S. 207. 56 Ebd., S. 215, 217-219. 51

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wecken - den falschen Regen hervorrufen oder ähnliches.57 Er sei aber nie in der Lage, selbst Wetter zu gestalten: So wie der Fluß Vöhandu und andere Schöpfungen Gottes, könne der Teufel nichts vollbringen, wofür Gott selbst zuständig ist.58 Durch das harte Wetter und die Herausforderung der Menschen durch den Teufel wolle Gott erreichen, daß die Menschen daraus eine Lehre ziehen und sich bessern; die bereits Frommen würden die gerechte göttliche Strafe erkennen und in ihrem Glauben noch fester werden; die Unschlüssigen würde dieser Prüfstein letztendlich entweder auf die richtige oder aber die falsche Bahn bringen.59 Deswegen empfiehlt Gutslaff, anstatt den Schildbürgern (»Die Herren von Schilde«) gleich, die das Licht im Sack ins Zimmer zu tragen suchen, die Mühle und Hans Ohm anzugreifen, besser das Augenmerk auf die wahren Ursachen des bösen Wetters, und zwar auf den Aberglauben und die teuflische Verfuhrung, zu richten.60 Um diese wahren Ursachen zu beseitigen, mahnt er jeden zur Buße: man soll nicht den Fluß oder die Quelle reinigen, sondern sich selbst. Es wird Gotte nicht gedienet mit eusserlicher Reinigunge vnseres eigenen Leibes/ welcher doch ein Tempel Gottes ist. [...] Vielweniger wird ihme gedienet mit der Reinigunge dieser nichtigen leblosen Bäche. Ist nun vnser Hertze reine/ so ist vns auch alles rein/ vnd also ist vns auch diese Bäche rein/ wenn sie schon so sehre verstawet würde/ daß das Wasser seinen lauff nicht haben könte. Ist aber vnser Hertze nicht rein: So ist vns auch diese Bäche nicht reine/ vnd wenn es auch müglich were/ daß sie mit einem Haaren Siebe durchgezogen vnd gereiniget were/ also/ daß auch kein Sandeskörlein darin zu sehen/ vnd das Wasser klärer als ein Christall were. Darumb saget Paulus. Den Vnreinen/ vnd Vngläubigen ist nichtes rein.61

Nur diejenigen, die Buße getan haben, halte Gott des guten Wetters würdig.62 Gutslaff prüft sorgfältig, was man aus der heiligen Schrift über den Fluß Vöhandu und die Einstellung der Menschen zu dem Fluß herauslesen kann. Er findet, daß das Wort Gottes nicht verbietet, die Gewässer im Interesse der Menschen anzuwenden. Im Gegenteil, der Bau von Mühlen ist eine Gott gefällige Tat, denn der Mensch ist berufen und auserwählt worden, das von Gott Geschaffene zu verwalten.

57 58 59 60 61 62

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

246-247. 239, 245. 225-229. 174. 167, 169-170. 347.

Johannes Gutslaffs »Kurtzer Bericht«

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Nun hat aber der liebe Gott nirgends in seinem Worte nicht verboten auff dieselbe Bäche Mühlen vnd Fischwehren zu bawen/ [...].63 Mehret euch/ vnd füllet die Erden/ vnd machet sie euch vnterthan/ vnd herrschet über Fische im Meer/ vnd über Vogel vnter Himmel/ vnd über alles Thier das auff Erden kreucht.64

Allen Gewässern der Welt ist ja jeweils ein bestimmter Zweck gegeben worden. Selbst das Tote Meer, wo es keine Fische gibt, ist doch irgendwie nützlich. Es würde Gott eben verärgern, wenn man seine Anweisungen nicht befolgt, zum Beispiel auf den Bau der Mühle verzichtet.65 Außerdem pflegt Gott laut der Bibel die Menschen vor einer seinem Willen widersprechenden Tat durch verschiedene Zeichen und Omen zu warnen. Bestimmt wäre es bei der Mühle in Sommerpahlen nicht anders gewesen; eine Warnung ist aber im gegebenen Falle unterblieben.66 Nach dem »Buch der Weisheit« kann der Fluß Vöhandu also keineswegs als ein einzigartiger, geschweige denn heiliger Fluß angesehen werden. So gedencket auch dessen die gantze H. Schrifft/ vielweniger die Heiligen Zehen Gebote/ weder explicite noch implicite mit keinem einzigen Buchstaben/ es kan vnd mag auch zu keinem vnter den heiligen Zehen Geboten gezogen werden/ ohne daß es eine Abgöttereye/ vnd also wieder das erste Gebot Gottes ist/ sich auff diese Bäche etwas zu bawen fürchten/ [...] Derohalben ist es kein schändliches vnbilliges noch vnrechtes Werck/ eine Mühle auff die Wöhhanda bauen. Vnd also hat auch die Bäche nicht mit der That Gott bewogen/ diß Land der Mühle halber böse Wetter zuschicken.67

Hätte Gott tatsächlich ein Gewässer auszeichnen wollen, so wäre seine Wahl wohl eher auf ein Gewässer des heiligen Landes - das Rote Meer, den Fluß Jordan oder aber den See Genezareth oder den Teich Bethesda - gefallen.68 Somit läßt schon die Heilige Schrift, die höchste Autorität des 17. Jahrhunderts, nicht bezweifeln, daß der Fluß Vöhandu keinen Einfluß auf die Witterung nehmen kann. Folglich gilt dies auch fur den betreffenden Fall. Ungeachtet dessen hält Gutslaff es für notwendig, zur Verstärkung seiner Argumentation noch die gesunde Vernunft, die menschliche Erfahrung sowie die Logik heranzuziehen. Solches hat man nicht alleine aus Sprüchen heiliger Schrifft zuersehen [...], sondern es bezeuget solches auch die Vernunfft nebest der Erfahrunge [...].

63 64 65 66 67 68

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

97-98. 105. 103. 109-112. 120-121. 113-114.

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So muß man hierinne die gebürliche Mittel an die Hand nehmen/ dadurch man die Warheit oder die Vnwarheit in einem jeden dinge erfahren kan/ vnd also muß man besehen/ ob die Leute/ die diß reden/ die Warheit reden oder nicht. Dieselben Mittel sind aber diese: Der Augenschein/ die Vemunfft/ vnd eine richtige Folge oder Schluß in einem Syllogismo. 69

Dazu ermutigt ihn wiederum die Bibel, der zu entnehmen ist, daß Gott dem Menschen »eine vernünffitige Seele [gegeben hat], [...] also dass der Mensch auch verborgene natürliche Sachen kan erforschen vnd erkennen lernen«.70 Indem Gutslaff auf die schwachen Stellen bei der Flußverehrung hinweist, regt er die Menschen, die in der Umgebung des Flusses wohnen, zum Nachdenken über ihre eigenen unmittelbaren Erfahrungen im Zusammenhang mit diesem Gewässer an.71 Er selbst sei mehrmals durch den Fluß geritten, habe seinen Pferd ebenda getränkt sowie die von den Abergläubischen gefangenen Fische gegessen, ohne daß er dabei etwas Böses erlebt hätte.72 Wäre der Fluß die Ursache des schlechten Wetters, müßte das Wetter seit jeher schlecht gewesen sein, und zwar seit es den Fluß gibt. Wäre das schlechte Wetter auf die Verunreinigung des Flusses und die Störung seines Wasserlaufes zurückzufuhren, müßte das schlechte Wetter seit 20 Jahren andauern, seit der Zeit, als der Fluß zum letzten Mal gereinigt wurde. Warum klagen die Menschen nur über das Wetter der zwei letzten Jahre? Es sei schon immer vorgekommen, daß Schutt, Reisig oder ähnliches in den Fluß fallt oder ein Pferd oder ein Ochse sich da entleert. Dabei hätte kaum jemand gedacht, daß solche Sachen böses Wetter hervorrufen können. Gutslaff erwähnt das außerordentlich ungünstige Wetter von 1601, das Mißernte und Hungersnot zur Folge hatte. Er erinnert daran, daß es damals keine Mühle in Sommerpahlen gab. Niemand habe jenes Mal den Fluß für den Urheber des Übels gehalten. Ebenso habe es »irgend vor drey hundert vnnd dreysig« Jahren, in drei aufeinanderfolgenden Jahren strengen Frost gegeben (»wie Baltzer Russow meldet in andern theil seiner Lieffländischen Chroniken«).73 Das habe eigene Gründe gehabt, ebenso wie das schlechte Wetter in Pommern, Gutslaffs Heimat, im Jahre 1632.74 Wenn bereits der kleine Fluß Vöhandu das Wetter beeinflußt, so kann man fragen, warum die anderen Gewässer der Welt es nicht tun? Selbst wenn das schlechte Wetter vom Vöhandu hergerührt hätte, kann es sich unmöglich auf diejenigen Gebiete ausgedehnt haben, die zum Fluß gegen den Wind gelegen waren. Au-

69 70 71 72 73 74

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

302, S. 259 57. 235, 270. 261-263. 186, 275. 277.

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ßerdem könne der kleine Fluß kaum Regen und Kälte auf einem so großen Territorium verursachen. Falls die Sommerpahische Mühle das Wetter ändern kann, sollte dasselbe auch für andere Mühlen und sonstige Bauten gelten, die am Fluß liegen. So etwas sei aber nicht bekannt. Niemand greife zum Beispiel die Brücken an. Die Brücke als im Vergleich zur Mühle kleinerer Bau könnte ja kleinere Änderungen des Wetters bewirken.75 Gutslaff erinnert noch daran, daß es vor dem Brand der Mühle auch schöne Tage gegeben habe, sogar eine ganze Woche lang. Nach dem Niederbrennen der Mühle sei das Wetter wider Erwarten gar nicht besser geworden.76 Die Strafe der Natur bzw. des Schöpfers für den Mühlenbau hätte eigentlich nur die Beteiligten betreffen müssen - den Hans Ohm sowie die Erbauer der Mühle. Nun suchte aber die Katastrophe alle in Livland heim und befiel außerdem Schweden, Finnland und Rußland, wo kaum jemand von dem Fluß Vöhandu und der Mühle gehört hatte. Man darf einem angeblich alten Glauben nicht trauen, wenn die eigenen Augen das Gegenteil sehen. Der Alten ihre Glaube vnd Lehre/ können nicht wahr machen/ was wir vor sichtbahren Augen vnwahr befinden. Nun sehen wir es ja mit sichtbaren Augen/ daß die Wöhhanda alles leidet/ was andere Wasser leiden/ vnd giebet kein einiges Merckzeichen/ daß sie etwas nicht leiden wolle. 77

Mit Hilfe der Astrologie und den Kalendern von David Herlicius78 und Laurentius Eichstadius79 zeigt Gutslaff auf den Tag genau die Zusammenhänge zwischen der Bewegung der Gestirne und der Witterung von 1641 bis 1642.80 Die wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten für den Fluß Vöhandu auch im allgemeinen: wenn er tatsächlich zum Wetterwechsel beigetragen hätte, wäre dies den Gelehrten längst aufgefallen, und sie hätten sich mit dem Phänomen auseinandergesetzt. Da der Fluß aber bei Gelehrten keine Beachtung gefunden hat, sind die Erfindungen des ungebildeten bäuerlichen Verstandes nach Gutslaffs Meinung unangebracht.

75

Ebd., S. 260. Ebd., S. 57. 77 Ebd., S. 266. 78 David Herlicius - ein zu seiner Zeit berühmter Medicus, Astronomus, Historicus und Poet (geb. 1557), studierte in Wittenberg, Leipzig und Rostock; wirkte lange Zeit in Stargard, starb dort im Jahre 1630. Vgl. Grosses Vollständiges Universal Lexicon, Aller Wissenschaften und Künste, [...]. Bd. I-XXXIII.Halle, Leipzig: Zedier 1732-51, Bd. XII (1735), Sp. 1700-1701. 79 Laurentius Eichstadius - Stadtphysicus in Stettin, starb im Jahre 1660.Grosses Vollständiges Universal Lexicon (Anm. 78), Bd. VIII (1734), S. 471. 80 Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 319-328. 76

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Dass aber die Lieffländische Bäche Wöhhanda solte böses Wetter wircken/ wenn eine Mühle darauff erbawet wird: Dasselbe hat bisshero noch kein Menschlicher Witz vnd Verstand erkennen können/ wird auch von demselben nimmermehr gut geheissen oder bestettiget werden. Der Bawren verstand der dieses vorgibt/ ist nicht ein rechtmessiger Verstand/ sondern ein Gebrechen des Verstandes/ der dasselbe vorgiebt/ was er noch nie recht erforschet hat: Darumb muss man denselben alhie nicht ansehen/ sondern der Gelarten vnd der Naturkündiger Gezeugniss oder Erkäntnisse suchen. Was also gelarte vnd verstendige Leute verstehen vnd wissen/ oder erforschet daß ist in der Natur dem Verstände offenbahr/ vnd ein solches ist auch dieses/ daß keine Bäche von Natur wegen einiger Mühlen könne böse Wetter machen. 81 U m ganz sicher z u sein, betrachtet Gutslaff auch das Verhältnis z w i schen d e m Teufel und d e m Fluß unter l o g i s c h e n Gesichtspunkten. Obgleich bereits aus der heiligen Schrift hervorgeht, daß Gott d e m Teufel die Hölle als Wohnsitz z u g e w i e s e n hat, erklärt Gutslaff es n o c h mit Hilfe der Logik: so ist der Teuffei ein geist/ der da vnvergenglich ist/ nicht stirbet/ oder kein Ende nimpt: Darumb muß er auch einen vnvergenglichen Orth zu derselben/ Wohnunge vnd derselbe Orth nehme endlich seiner Natur nach ein Ende: Wor wolte doch denn der arme Teuffei bleiben? 82 Er erwägt sogar die Möglichkeit, daß der Teufel wirklich i m Fluß w o h nen sollte, w i e manche Bauern es glauben: Wenn nun der Teuffei in derselben seine eigendliche Wohnunge hette: Wo würde er denn bleiben am Jüngsten Tage? [...] Gott der Herre aber wird dem Teuffei nicht eine newe Wohnunge schaffen/ ohne die die er ihme schon zubereitet hat/ [...] Darumb so würde der Teuffei gantz ohne Wohnunge bleiben welches die Versehunge Gottes des Schöpffers nicht zugibt. 83 U m die A n g s t vor d e m Teufel zu widerlegen, appelliert er unter anderem auch an die menschliche Erfahrung: Denn es wird bey dieser Bäche gäntzlich kein sonderbahres Werck des Teuffels gespüret. Es ist auch nimmer bey Menschen dencken etwas sondernbahres bei dieser Bäche gemercket worden. Man hat auch keinen Nachricht/ daß in alten Zeiten etwas sich dabey solte zugetragen haben. 84

81 82 83 84

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

59, 61-62. 202. 202-203. 209.

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Gutslaff findet auch, daß der Teufel diesmal keine Möglichkeit gehabt habe, das schlechte Wetter von einer anderen Stelle nach Livland zu bringen. Wo hätte er denn ein solches Wetter finden können: das Wetter der nördlichen Territorien hätte nicht ausgereicht, um Livland, Finnland, Schweden und Teile Rußlands zu versorgen. In Ägypten oder Indien kommt kaltes Wetter aber nicht vor, wie »Diodorus Siculus schreibet«. Weiter südlich käme der Südpol in Frage; er liege aber 1870 Meilen von Livland entfernt und auf dieser langen Strecke hätte sich das Wetter längst erwärmt.85 Und warum sollte Gott einen derart umständlichen und langen Weg wählen, wenn er das Wetter vor Ort entstehen lassen kann? Meistens gelingt es Gutslaff in seinem Buch, die von ihm aufgegriffenen Themen, zumindest scheinbar, ziemlich selbstsicher bis zum Ende rational und logisch zu behandeln. Manchmal macht aber auch er selbst Zugeständnisse an den Aberglauben. So führt er den Abergläubischen zum Vergleich die Volksweisheit vor, laut welcher man bei Vollmond kein Wintergetreide säen darf, weil die Saat dann verfaulen würde. Er empfiehlt zwar, die Richtigkeit dieser Regel noch zu überprüfen, scheint aber selber an diese zu glauben, da es sich um ein Wissen handelt, das auf langer Erfahrung beruht. Den Gegnern der Mühle wirft er dagegen vor, daß sie willens seien, auf Grund eines Einzelfalles eine Regel zu verhängen.86 Diese Äußerungen Gutslaffs erwecken den Eindruck, als wäre ein durch die Mühle verursachter Wetterwechsel unter gewissen Bedingungen doch möglich. Bei einigen Fällen verzichtet Gutslaff aus Mangel an eigenen Erfahrungen auf Urteile. Zum Beispiel hat er gehört, daß der Teufel, der sich irgendwo in Mähren in den Bergen versteckt, die Wanderer mit Regen plage, sobald sie auf ihn schimpfen. Während er sonst die Grenzen des teuflischen Handelns bei den Wetterwechseln kennt, verhält er sich zu den Fähigkeiten eines »fremden« Teufels recht unsicher und tolerant: »Ob diß nun eine wahrhafftige Historia/ oder eine Lügen sey/ mügen die wissen die der Orter gewesen seyn.«87 Eine gewisse Inkonsequenz seiner Einstellungen wird eben bei den Begebenheiten deutlich, die sich seinem > Augenschein < entziehen. Zum Beispiel erzählt er, es soll in Deutschland auch ein Wasser sein, welches nicht vertragen könne/ dass etwas hinein geworffen werde/ sondern habe alssbald ein geprassel vnnd ein grosses geräusche in sich. Die Deutschen Abergläubigen sagen/ diss sey Wasser darinne Pilatus solle ersoffen seyn.88

Seine Meinung über dieses fremde Wasser lautet: 85

Ebd., Ebd., 87 Ebd., 88 Ebd., 86

S. S. S. S.

252-254. 49-52. 231. 288.

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Wiewol ich noch nimmermehr in Deutschlandt von einem solchen Wasser gehöret habe/ vielweniger einigen Menschen angetroffen der dieses selbst gesehen oder erfahren solte haben: So wil ich es doch lassen wahr seyn/ und wil es mit glauben/ dass ein solches an seinem Orthe geschehe. 89 Über den heimatlichen Fluß Vöhandu hat er dagegen ein festes Urteil: in dieser Bäche/ in der Wöhhanda ist Pilatus nicht ersoffen: Darumb kan solches und dergleichen an der Wöhhanda nicht geschehen/ als an jenem Wasser geschiehet. 90 Nachdem Gutslaff Bibelstellen, seine eigenen logischen Konstruktionen sowie auf menschlicher Erfahrung beruhende Argumente, wie oben beschrieben, zusammengeflochten hat, um die Flußverehrung möglichst ausführlich zu widerlegen, schließt er seine Schrift voller Hoffnung ab: Der liebe Gott gebe seine Gnade/ daß es das Ende erreichen möge/ dahin es meinentwegen ist angesehen: Daß nemblich Gottes Reiche dadurch erbawet/ vnnd des Teuffels Reiche bey vns gäntzlich zerstöret werde. Amen.91 Das Thema, mit dem sich Gutslaff befaßt, gilt im livländischen Kontext jener Zeit als recht alltäglich: Mit dem Aberglauben oder der »Abgötterey« der örtlichen Bauern wurden wohl alle hiesigen Geistlichen konfrontiert. Außer Gutslaff haben noch manche seiner Zeit- und Amtsgenossen ausfuhrliche Schriften zu dem selben Problem verfaßt und veröffentlicht. 92 Neben dem Aberglauben spiegeln sich im Kurtzen Be89

Ebd., S. 289. Ebd. 91 Ebd., S. 407. 92 Die bedeutendsten Schriften des 17. Jh., die vom Aberglauben in Est- und Livland handeln: Neun Außerlesen vnd Wolgegründete Hexen Predigt/ Darinnen der Terminus Magias oder Zauberey nach den Logicalischen terminis richtig vnd kürtzlich auß Gottes Wort/ vnd andern Schribenten vnd Historien erkläret vnd außgefuhret worden/ [...] Durch M. Hermannum Samsonium [...].- Riga: Schröder 1626; Wiederlegunge Der Abgötterey vnd nichtigen Aberglaubens/ so vorzeiten auß der heydnischen Abgötterey in diesem Lande entsprossen/ vnd bißhero in gebrauche blieben. [...] Auch Deß Abergläubigen Mißbrauchs der H. Schrifft/ [...] Einfaltigen vnd guthertzigen Christen zur nachricht/ auch zur vermeidunge vnd abschew solches Aberglaubens einfältiglich gestellet/ Von Pavlo Einhorn/ [...].- Riga: Schröder 1627; Reformatio Gentis Letticae in Ducatu Curlandiae. Ein Christlicher Vnterricht, Wie man die Letten oder Vnteutschen im Fürstenthumb Churland vnd Semgallen von ihrer alten Heydnischen Abgötterey vnd Aberglauben zum rechten Gottesdienst, wahrer Gottesfurcht, vnd ernster meidung alles Heydnischen Gottlosen wesens, bringen müge. [...] Durch Pavlvm Einhorn.- Riga: Schröder 1636 (Neudruck in: Scriptores rerum Livonicarum, Sammlung der wichtigsten Chroniken und Geschichtsdenkmale von Liv-, Ehst- und Kurland. [...] Zweiter Band.- Riga, Leipzig: Eduard Frant90

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rieht aber auch andere damals aktuelle Fragen wider: die religiöse und moralische Disziplin bei den verschiedenen Bevölkerungsschichten, Mängel des kirchlichen Systems etc. 93 Gutslaff geht zwar von den konkreten lokalen Erfahrungen aus, seine Darstellung schließt aber an eine für die lutherische Diskussion des 17. Jahrhunderts bedeutende Frage an - das Verhältnis zwischen dem Weltlichen und Geistlichen sowie die Rolle der beiden in der Gesellschaft. 9 4 Charakteristisch für das Zeitalter sind in Gutslaffs Werk die Kritik der Sündhaftigkeit sowie eine hingebungsvolle Analyse der Sünden. 95 Die Gegenüberstellung der Sünden und der Ursachen der Witterung im Kurtzen Bericht entspricht ebenfalls der damals allgemein gültigen Konzeption. 96 Die Lasterhaftigkeit der Menschen soll

zen's Verlags-Comptoir 1848, S. 605-638; Historia Lettica. Das ist Beschreibung der lettischen Nation [...] Durch Paulum Einhorn/ [...], In Verlegung Jacobi Sternbachs [...]. Gedruckt durch Johann Vögeln/ der Königl. Acad. Buchdrucker, im Jahr 1649. Eine Schrift von Johann Forselius, dem Pastor zu St. Matthias in Harrien (Harju-Madise in Haijumaa) ist von Johann Wolfgang Boeder, dem Pastor zu Kusal (Kuusalu) publiziert worden: Der Einfaltigen Ehsten Abergläubische Gebräuche, Weisen und Gewohnheiten. [...] von Johanne Wolffgango Boeclero, [...].- Reval: Brendeken [o.J.]. (ND in: Scriptores rerum Livonicarum (s.o.) S. 665-680; Vom alten Volksglauben berichtet auch Georgius Mancelius. Siehe: Jänis KrSslinS: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 207-209. 93 Vgl. zum Beispiel Paul Baerent: Notizen zur Geschichte und Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts.- In: Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Russlands aus dem Jahre 1907.- Riga: Häcker 1908, S. 87-98, hier S. 89ff. Das Verhältnis zwischen dem Volksglauben und dem Christentum im 17. Jahrhundert spiegelt sich farbig in den Visitationsprotokollen wieder, die im Historischen Archiv Estlands, im Schwedischen Reichsarchiv sowie in der Abteilung für Handschriften und rare Bücher der Universitätsbibliothek Tartu verwahrt werden. Sie werden übersichtlich referiert in: Johan Kopp: Kirik ja rahvas (Anm. 10); Uku Masing: Saksa vaimulike ja aadli vahekorrast Eestis XVII sajandil [Über das Verhältnis zwischen den deutschen Geistlichen und dem Adel in Estland im 17. Jahrhundert].- In: EELK(1983),S. 23-31. 94 Vgl. zum Beispiel Wolfgang Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik in lutherischen Regentenpredigten des frühen 17. Jahrhunderts.- In: Daphnis 10 (1981), Η. 1, S. 113-140; Jänis Kreslinä: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 176-180, 189ff. 95 Vgl. zum Beispiel Kr6slin§: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 204-206; Samson: Neun Außerlesen vnd Wohlgegründete Hexen Predigt (Anm. 92), »Die Neunde vnd letzte Predigt von dem Hexen wesen«. 96 Mit der Lasterhaftigkeit der Menschen bzw. der Gesellschaft wurde auch die Hungersnot von 1602 in Livland erklärt. Siehe: Warhafftige [...], wol niemaln erhörte Newe Zeitung. Von dem grossen Hunger, so sich im 1602. Jar, Nur allein im Fürstenthumb Semgaln, [...], in Lyfflande zugetragen, [...] Durch Friderichen Engelken.- Königsberg: Osterbergers Witwe 1603 (ND in: Scriptores rerum Livonicarum (Anm. 92), S. 657-664, hier S. 659-660.

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Gott dazu bewogen haben, auch ernsthafte Naturkatastrophen, zum Beispiel Erdbeben, zu entfesseln. Kometen, Sonnenfinsternisse und ähnliche Naturphänomene wurden als göttliche Omen gedeutet.97 Die Himmelskörper galten an sich als göttliche Zeichen. Dementsprechend maß man allen Erscheinungen, welche mit ihnen zusammenhingen, hohe Bedeutung zu.98 Die astrologischen und meteorologischen Erläuterungen des Kurtzen Berichts spiegeln den damaligen allgemeinen Wissensstand wider.99 Erwartungsgemäß kommt Gutslaff, wenn er den Ursachen der Flußverehrung und der allgemeinen Sündhaftigkeit nachgeht, zum damals einzig möglichen Schluß: Es sind die Ränke des Teufels. Da die ganze Welt als Schlachtfeld zwischen Ordnung und Anarchie, das heißt zwischen Gott und Teufel dargelegt wurde,100 konnte keine weltanschauliche Gedankenführung den Teufel umgehen. Im konstruktiven Teil des Kurtzen Berichts bietet Gutslaff ebenfalls bekannte traditionelle Mittel zur Bekämpfung des Aberglaubens und des Teufels an: Am wirksamsten sind eine auf die Frömmigkeit und Gottesfurcht gezielte »Reform« jedes einzelnen Menschen101 sowie die damit verbundene Harmonie aller Gesellschaftsschichten und ihre kollektive Verantwortung.102 Nichts Ungewöhnliches ist auch der Aberglaube, der in Gutslaffs Schrift in seinen eigenen Äußerungen hier und da zum Vorschein kommt: Zum Beispiel spiegeln sich Volksweisheiten auch in zeitgenössischen landwirtschaftlichen Handbüchern wider, die den Ackerbau betreffen.103

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Chr. A. Berkholz: M. Hermann Samson: Rigascher Oberpastor. Superintendent von Livland. Eine kirchliche Skizze aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.- Riga: Götschels Buchhandlung 1856, S. 146-149; Laasonen: Johannes Gezelius vanhempi ja suomalainen täysortodoksia (Anm. 3), S. 463 und 465. 98 Vgl. zum Beispiel Erkki Kouri: Der Einfluss der deutschen Gebrauchsliteratur in Finnland im 17. Jahrhundert: Die Vorlagen von Ericus Ericis Postille.- In: ders.: Historiakiijoitus, politiikka, uskonto.- Jyväskylä: Jyväskylän Yliopisto 1990 (= Studia Historica Jyväskyläensia; 42), S. 505-518, hier S. 512. 99 Vgl. Tartu Ülikooli ajalugu (Anm. 18), Bd. I, S. 225; Laasonen: Johannes Gezelius vanhempi ja suomalainen täysortodoksia (Anm. 3), S. 463-465. 100 Vgl. zum Beispiel Kröslinä: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 173, 175-176, 183-184 und 189. 101 Ebd., S. 172 und 199-212. Vgl. auch Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik in lutherischen Regentenpredigten (Anm. 94), S. 137. 102 Die Betonung der sogenannten Dreiständeharmonie und der kollektiven Verantwortung ist fur die Lehren jener Zeit sehr typisch. Dazu vgl. Kouri: Der Einfluß der deutschen Gebrauchsliteratur (Anm. 98), S. 514; Kreslinä: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 176-180; Sommer: Obrigkeits- und Sozialkritik in lutherischen Regentenpredigten (Anm. 94), S. 123. 103 Taube: Die Arbeiten des Rigaer Buchdruckers Gerhard Schröder (1625-1657) (Anm. 2), S. 808.

Johannes Gutslaffs »Kurtzer Bericht«.

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Im Kampf gegen den Aberglauben und den Teufel zieht Gutslaff, gleich den anderen lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts, die Bibel als höchste Autorität zur Hilfe.104 Die meisten Zitate sowie ein großer Teil des Materials zur Veranschaulichung der Argumente stammen aus der heiligen Schrift. Zur theoretischen Ausrüstung Gutslaffs gehören ferner, ganz im Sinne der zeitgenössischen Ausbildung, die »großen Heiden«.105 Die im Buch aufgeführten Exempel für die Beziehungen des Teufels zu den Weissagern wie auch das Faust-Motiv zählen zur Klassik der dämonologischen Literatur.106 Flüchtig wird im Kurtzen Bericht auch die wichtigste theologische Kontroverse jener Zeit angesprochen: Gutslaff bezeichnet die Berichte der Katholiken über ihre Verdienste um die Bekehrung der hiesigen Heiden zum Christentum als Verdrehungen der »papistischen Lügner« und meint, daß sein Kurtzer Bericht, in dem das Überleben des heidnischen Glaubens dokumentiert wird, den »Papisten« den Mund schließen sollte.107 Das Problem des Katholizismus war für den Autor des Kurtzen Berichts aber nicht akut, so daß er keinen Anlaß hatte, von sich aus eine diesbezügliche Polemik zu eröffnen.108 Gutslaff selbst nennt seine umfangreiche Abhandlung über die Flußverehrung »Tractätlein«. Auf der anderen Seite kann der Kurtze Bericht auch nach den Kriterien der damaligen Predigtliteratur betrachtet werden. Auch in Details wendet Gutslaff traditionelle Mittel an: Um die Aussagekraft des Textes zu erhöhen, bedient er sich der Frage-undAntwort-Form sowie der Antithese. Zu demselben Zweck dienen die für die zeitgenössische Polemik kennzeichnenden kategorischen Beurteilungen, wenn es um verwerfliche Dinge geht.109 Die im Schrifttum des 17. 104

Auch bei Gutslaff gilt die Beurteilung von J. Kräslinä: »Scripture is not just a book of dogma, but also a book about the world. By quoting extensively, the preacher not only provides scriptural proof for the locus under discussion, but at the same time demonstrates that the world view which he is sharing with his listeners can be extracted from a careful reading of Scripture.« (KreslinS: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 172). 105 Er weist zum Beispiel auf Diodor, Hesiod, Vergil und andere hin. 106 Vgl. Samson: Neun Außerlesen vnd Wohlgegründete Hexen Predigt (Anm. 92), »Die Erste Hexen Predigt«, »Die Ander Hexenpredigt«. 107 Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 16-17. 108 J. Kröslins bemerkt, daß die theologische Polemik, die in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts besonders heftig wurde, für den einfachen Gläubigen keine große Bedeutung hatte. Wie der kurländische Superintendent G. Mancelius in seiner Lettischen Postille ist auch Gutslaff vor allem über die allgemeine unchristliche Führung der Bauern besorgt. Vgl. KrSslinä: Dominus narrabit (Anm. 3), S. 196. 109 Zum Beispiel »nichtiges Aberglauben, teuffelisches Werck, gröbere Fantaseye vnd nichtigere Einbildunge«, »vngereimtes ding, vngereimte vnd erlogen Pfratzen, vngereimte thorheit«, »verdechtige vnd vntüchtige Zeugen«, »vngezweiffeltes offenbahres Heydnisch Werck«. Kurtzer Bericht (Anm. 4) S. 72, 265, 279 und 364.

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Jahrhunderts überaus beliebten farbenprächtigen Vergleiche und markigen Metaphern sind im Kurtzen Bericht nicht allzu häufig, jedoch begegnen hier einige zutreffende und zugleich bekannt anmutende Ausdrücke. Wie feine angenehme fette Braten sind ihme/ dem Teuffei/ die die aus den Christen also fanget vnd verblendet. - Ich muß mich wahrlich verwundern/ daß diese Vhrsachen bey den Abergläubigen in ihrem Vnverstande etzliche Zentner schwer geachtet werden: Die doch nicht ein halbes Quintlein wegen/ [...]. - Diese Antwort were auff der Abergläubigen ihrer Seiten mit keinem Golde zu bezahlen.110

Aufgrund dieser Charakteristiken kann der Kurtze Bericht den vielen pädagogisch-religiösen Schriften des 17. Jahrhunderts zugeordnet werden, die alle im Grunde genommen auf ein- und dasselbe Schema zurückzufuhren sind. Jedoch birgt der oben beschriebene konventionelle Rahmen des Kurtzen Berichts mehrere Besonderheiten in sich, die vor dem allgemeinen Hintergrund des damaligen Schrifttums auffallen und besondere Beachtung verdienen. Bereits das Ereignis, das den Anlaß zum Buch gegeben hat, gibt zu denken - das Niederbrennen einer Mühle durch Bauern. Ohne dem spektakulären Vorfall die Bedeutung absprechen zu wollen, muß festgestellt werden, daß diese Bedeutung doch eine lokale war: In einem kleinen Ort spielte sich ein Interessenkonflikt zwischen den örtlichen Bauern und dem örtlichen Gutsbesitzer ab. Nur besonders wichtige politische Ereignisse, Schlachten etc. wurden in jener Zeit, zumindest in Est- und Livland, in gesonderten Druckschriften behandelt. In der Tat muß die Krise in Sommerpahlen laut Gutslaff sehr ernst gewesen sein.111 Dafür spricht auch die Tatsache, daß der Besitzer der Mühle, Hans Ohm, an der Veröffentlichung so stark interessiert war, daß er die beträchtlichen Unkosten für die Herausgabe der umfangreichen Schrift übernommen hat.112 Noch zwei Jahre nach dem Konflikt sagt er dramatisch, daß sein Leben auf dem Sommerpahischen Gute nicht mehr gesichert und auch seine neue Mühle gefährdet sei. So verbleibet dennoch heutiges Tages der Rumor vnd dass Geplärre so bald als ein wenig widerwertig Wetter entstehet/ dass meine Mühle nach dem ich sie wieder auffzubawen angefangen/ dessen eine Vrsache sey. Darumb sie sich dann auch wol dürffen vernehmen lassen/ dass dieselbe nicht alleine wiede110

Kurtzer Bericht (Anm. 4) S. 366-367 und 257. Dasselbe Quentlein-ZentnerMotiv wird zum Beispiel auch von H. Samson benutzt: »ein Quentlein Gunst hat ihm mehr gegolten, denn ein Centner Gerechtigkeit.« Berkholz: M. Hermann Samson (Anm. 97), S. 164. 111 Siehe das in Anm. 34 nachgewiesene Zitat. 112 Kurtzer Bericht (Anm. 4), Vorrede.

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rumb solle verstöret/ sondern auch ich selbst nebest meinem armen Weib vnd Kindern jämmerlich ermordet werden. Ob es sich nun schon anlassen möchte/ als hette ich mich an solchen Rumor vnd Geschrey nicht zu kehren. So stehet mir die schon verübete Gewalt vnd Abbrennunge der vorigen Mühle vor Augen. Es beweget mich auch nicht wenig/ dass viele Leute/ dieses wegen sehr widerliche discursen führen/ auch theils mit mir armen Manne selbst gefuhret haben, dadurch ich destomehr bestürtzet vnd durch das gemein Geschrey in grosse Furcht gesetzet werde. 113 Daß die Befürchtungen des Gutsbesitzers begründet waren, wird auch von Gutslaff bestätigt. Er bemerkt, daß die Aergemisse dieses Aberglaubens so sehre groß geworden, dass in wehrendem unzeitigem Gewitter jederman seiner Sünden vergessen und nur über diese Mühle geschryen hat. 114 U m so mehr muß man darüber staunen, daß dieser ernsthafte Vorfall in anderen Quellen nicht erwähnt wird. Also gibt es keine Möglichkeit, das von Gutslaff Aufgezeichnete vergleichend aus anderer Perspektive zu betrachten. 115 Immerhin muß das Niederbrennen der Mühle von Hans Ohm ein für die estländischen Verhältnisse außerordentlicher Anlaß zu einem Buch gewesen sein.

113

Ebd. Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 17. 115 Leider sind die Dokumente des Dorpater Landgerichts (Eesti Ajalooarhiiv/ Estnisches Historisches Archiv (EAA), B. 914) aus dieser Zeit nicht erhalten geblieben. Zu den Kompetenzen des Landgerichts gehörten die von den Bauern begangenen Delikte. Überraschenderweise ist auch im Visitationsprotokoll der Gemeinde Urbs vom 01.01.1643 von Vöhandu keine Rede, obwohl die Frage nach den Erscheinungsformen des Aberglaubens dort ausdrücklich gestellt wird. EAA, B. 1187, Verz.l, Nr. 54, S. 38. Auch die überwiegend im Schwedischen Reichsarchiv, unter Livonica II verwahrten Archivalien, die sich auf die in diesem Zusammenhang wichtigen Personen (Hans Ohm, Johannes Gutslaff) beziehen, geben keine Auskunft über die dramatischen Vorfalle von 1642. In den Archivquellen findet man aber einige Informationen, die Gutslaffs Beschreibung vom Fluß Vöhandu und dessen Umgebung ergänzen. Eine Beschreibung der Besitzungen des Gutes Sommerpahlen begegnet in den Akten der livländischen Landrevision von 1638. Liivimaa 1638. a. maarevisjon. Eesti asustusala I, kaguosa [Livländische Landrevision von 1638, Estnisches Siedlungsgebiet I, südöstlicher Teil].- Tartu: ENSV Riigi Keskarhiiv 1941, (= ENSV Riigi Keskarhiivi Tartu Osakonna Toimetused; 1 (7)), S. 146-150. Im selben Dokument werden die Namen von den Bauern und Bauernhöfen angeführt, welche auch in Gutslaffs Buch vorkommen. Ebd., S. 47 und 151. Im Lettischen Historischen Archiv wird ein Inventarverzeichnis von Sommerpahlen aus dem Jahre 1644 aufbewahrt. Es gibt einen detaillierten Überblick über das Eigentum des Gutsbesitzers Hans Ohm. Latvijas Valsts Vestures ArhTvs (Lettisches Historisches Archiv), Riga, B. 109, Verz. 2, Nr. 447, Bl. 13ff. 114

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Obwohl das Buch von einer lokalen Episode veranlaßt wurde, ist sein Hauptthema - der Aberglaube - von größerer, allgemeiner Bedeutung. Während andere Autoren jener Zeit - Hermann Samson, Paul Einhorn, Johann Forselius - den Aberglauben breiter, in seinen verschiedensten Erscheinungsformen umreißen,116 konzentriert sich Gutslaff auf einen Sonderfall desselben und streift andere nur kurz. Dabei behandelt er sein Thema auf besondere Weise. Er begnügt sich nicht damit, den Aberglauben und dessen Verbreitung zu registrieren, sondern geht beharrlich dem Ursprung der Flußverehrung und ihren verschiedenen Ausdrucksformen in Vergangenheit und Gegenwart nach. Er vertieft sich in die Gedankenwelt der Abergläubischen und vermittelt ihre Ansichten. Er hält es für notwendig, die Überzeugungen der Bauern kennenzulernen, um die Wurzeln des Aberglaubens herauszufinden. Bei der Widerlegung des Aberglaubens setzt er sich zum Ziel, auff alles Einbringen der Widersprecher richtig antworten/ vnd denn weiter was ein jeder frommer Christ von diesem Aberglauben halten/ auch von dem Vngewitter wissen sol/ nach meiner Wenigkeit hinzusetzen.117

Er tritt in eine bemerkenswert ausführliche Diskussion des lokalen Aberglaubens ein. Obgleich die Flußverehrung auch für Gutslaff ein »nichtiges, teuffelisches Werck« etc. ist, behandelt er sie als ein ebenbürtiges Gegenüber, dessen Argumente ernst zu nehmen sind. Um möglichst gründlich zu sein und dem Gedankengang des Lesers vorauszugehen, setzt er außer den Exempeln aus dem alltäglichen Leben alle möglichen Gegenargumente ein (»Sie mögen aber vielleicht sagen [...], Weiter mag man alhie sagen [...], Alhie möchte man vieleicht sagen [...]«). Bei der Betrachtung der Gründe der Flußverehrung gibt Gutslaff die Erklärungen der Bauern wieder und erwägt diese sorgfältig. Der Genauigkeit wegen werden sie an mehreren Stellen als estnischsprachige Zitate gebracht. Oft nennt er die Bauern, seine Gesprächspartner, mit den Namen (»Sulpapaap, Kihtzike Tihdt, Wichtla Jürgen, Lettuiske Michel«). Der obenerwähnte Paul Einhorn gibt dagegen nur seine kurzen Urteile bekannt: Es mag aber davon gehalten werden was da will/ so ists ein stück eines Heydnischen Aberglaubens/ [...]; Es ist aber an sich ein böser Aberglaube/ so der Teuffei dem Menschen eingebildet/ [...].' 18

116

Siehe Anm. 92. Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 44. 118 Einhorn: Wiederlegunge Der Abgötterey vnd nichtigen Aberglaubens (Anm. 92), S. 6, 16. 117

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Einhorns Einstellung zur Sache kommt im folgenden Zitat klar zum Ausdruck: Was sie [die Letten] eigendlich fur Feste gehabt, vnd wie sie die begangen, davon hat man jetzt keinen eigendlichen nachricht vnd ist nur gut, das man von denselben nichts wissen mag, denn es ist besser von solchem Teuffeiischen Wesen nichts wissen, alss desselben eigendlichen Nachricht haben. 119 Für die Wurzeln des Aberglaubens interessiert er sich meistens dann, wenn er der Meinung ist, daß dieser aus der Antike übernommen wurde. Er gibt zwar zu, daß die eine oder andere Überzeugung in seiner Heimat Kurland weit verbreitet ist, geht aber nicht auf den lokalen Glauben, sondern den der Antike ein. 120 Dasselbe ist auch für Hermann Samson kennzeichnend, der zwar die Zauberei und Magie in Livland analysieren will, tatsächlich aber mehr die aus der klassischen Literatur bekannten Geschichten der Antike sowie der »Zeit des Papsttums« wiedererzählt. Die Aufzeichnungen von Johann Wolfgang B o e d e r (bzw. von Johann Forselius) über die Sitten und Bräuche der Esten gehen über den Rahmen von Beschreibungen nicht hinaus. 121 Wenn man vor diesem Hintergrund noch die Meinung berücksichtigt, daß alleine die Wiederholung eines heidnischen Donnergebets in jener Zeit als große Sünde galt, 122 erscheint Gutslaffs unmittelbarer Kontakt mit dem Aberglauben nach damaligen Auffassungen sogar als verwerflich. Auf jeden Fall ist ein solches Verhalten nicht üblich gewesen. 1 2 3

119

Einhorn: Reformatio Gentis Letticae (Anm. 92), S. 622. Siehe zum Beispiel: »Von Seelen Speisen«.- In: Einhorn: Wiederlegunge Der Abgötterey vnd nichtigen Aberglaubens (Anm. 92), S. 38-39, und ebd.: »Der Ander Theil. Wieder den abergläubige Mißbrauch der Heiligen Schrift«.- Riga: Schröder 1627, S. 8-9. 121 Vgl. Scriptores rerum Livonicarum (Anm. 92), S. 68 (Anhang zu J.W. Boeder, Der Einfältigen Ehsten [von Friedrich Robert Faehlmann]): »der Verfasser erschöpft aber seinen Gegenstand keinesweges, sondern bleibt nur bey der Oberfläche und die Augen fallenden Gegenständen stehn.« 122 Vahtre: Töestisündinud lugu pühast jöest (Anm. 20); Tartu Ülikooli ajalugu (Anm. 18), Bd. I, S. 260. 123 Die Rezeption Gutslaffs ist neulich durch die Grammatik-Forscherin Marju Lepajöe ergänzt worden. Hauptsächlich in Anlehnung an die Untersuchungen von Vivian Salmon über Irland und Nordamerika betrachtet sie Gutslaff als Missionar, der gleichzeitig als Sprachforscher fungierte, und sieht seine Tätigkeit als praktische Missionslinguistik< in Estland. Auch geistliche Sprachforscher in anderen Ländern erlaubten sich gewisse Freiheiten hinsichtlich der Regeln des religiösen Lebens, wenn es um die Beschreibung des heidnischen Glaubens ging. Einem Missionär wurde zu diesem Zweck so manches erlaubt, was bei einem Pastor in der Heimat, im Mutterlande, als Todsünde gegolten hätte. Vgl. Marju Lepajöe: Johannes Gutslaffi >Grammatilised vaatlusedArsenal < des lutherischen Schrifttums. Obwohl Gutslaff in seinen Erörterungen ab und zu abschweift bzw. weite Exkurse vornimmt, kehrt er immer wieder zu seinem Hauptziel zurück: Die Haltlosigkeit eben desjenigen Aberglaubens, der in seinem heimatlichen Kirchspiel Unheil angerichtet hat, muß nachgewiesen werden. Dabei nimmt er vor allem Rücksicht auf die lokalen Verhältnisse und setzt Argumente ein, die eben in dieser Umwelt ihre Wirkung zeigen. Mit dem Empirismus, der ihm eigen ist, steht sein tiefer Respekt vor den Wissenschaften, ganz besonders vor der Naturwissenschaft, sowie vor der menschlichen Vernunft im Einklang. Sie werden von ihm gelobt: Denn woher kommen alle die schönen philosophischen disciplinen als aus dem Verstände des Menschen: Wer kan ohne Verwunderunge betrachten/ wie doch die Philosophi erstlich so ferne haben können gelangen/ dass sie die doctrinam Sphaericam oder Himmelslauff/ die Astronomiam, Astrologiam, Geometriam, vnd andere Mathematische disciplinen haben hervor gebracht/ vnd zu solcher Gewissheit gelanget seyn? Ich geschweige nun der grossen vnd wunderbahren subtilität in Metaphisicis. Ja man kann sich ja nicht ersättigen/ wenn man die lustigen vnd anmutigen Schrifften der Naturkündiger/ die den Lauff/ Vhrsprung und alles wesen aller natürlichen Dinge beschrieben haben/ anfanget zu lesen. Solches alles hat der Menschliche Verstand erforschet und erkant. 128

Aus dem Buch gewinnt man den Eindruck, daß Gutslaffs Meinung nach nicht nur die schlechte Kenntnis der Bibel, sondern vielmehr das allgemeine Unwissen der Menschen dazu führt, daß sie die Wetterwechsel und deren Ursachen nicht richtig verstehen. Nur mit dieser Ansicht des Verfassers ist zu erklären, daß er die Zusammenhänge zwischen der Witterung und der Lage der Himmelskörper außerordentlich gründlich darlegt, wobei er Angaben der sogenannten meteorologischen Astrologie und konkrete Beispiele zur Hilfe zieht. Ohne Zweifel entspricht dies der humanistischen Haltung, die fur jenes Zeitalter allgemein kennzeichnend war, zeugt aber wohl auch von der fortschrittlichen Gesinnung Gutslaffs: Man hat die Astrologie sogar als weltliche Religion des 17. Jahrhunderts bezeichnet.129 Obwohl jene Zeit als Periode des Durchbruches der von l27

Kouri: Der Einfluß der deutschen Gebrauchsliteratur (Anm. 98), S. 511. Kurtzer Bericht (Anm. 4), S. 58-59. 129 Kouri: Der Einfluß der deutschen Gebrauchsliteratur (Anm. 98), S. 512. 128

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der T h e o l o g i e unabhängigen Wissenschaft angesehen werden kann, war die Begeisterung für sogenannte freie Wissenschaften bei w e i t e m keine Selbstverständlichkeit. Im Unterschied zu Gutslaff halten z u m Beispiel w e d e r S a m s o n n o c h Einhorn es für notwendig, das Wort Gottes mit Errungenschaften der modernen Wissenschaft in B e z i e h u n g zu bringen. 1 3 0 In den Hexenpredigten Samsons begegnet sogar eine recht skeptische Einstellung z u den Kalendern. Denn was sie zum fundament vnnd grund legen solcher Propheceyung/ das nemlich ein jeder Stern seine besondere krafft vnd wirckung habe/ dasselbe ist sehr zweiffelhafftig/ vnd findet sich davon in heiliger Schrifft kein Buchstab: Wie auch die berühmste Philosoph! davon nichts wissen wollen. [...] Was aber das Gewitter anlanget/ da gaffe in keinem Calender nach 1 3 1 D i e Betrachtung des Teufels in Gutslaffs Werk soll ebenso gesondert h e r v o r g e h o b e n werden. In der Geschichtsliteratur werden g e w ö h n l i c h die Schriften v o n Einhorn und S a m s o n als herausragende livländische d ä m o n o l o g i s c h e Werke genannt, die an europäische akademische Darstellungen dieser Art anknüpfen und zugleich Auskunft über den hiesi130

Über Einhorn wird befunden, daß er theologisch hoch gebildet sei, kenne sich aber in den sogenannten freien Wissenschaften kaum aus. »Die Heilige Schrift und die Logik leiten ihn so ausschliesslich, dass ihm alles feststehend Wahrheit ist, was sie nicht verwerfen und er sich gar nicht darum bekümmert, ob es neben den Naturgesetzen bestehen könne, durch die Erfahrung bestätigt werde oder bei sorgfaltiger Prüfung als Fabel erscheine. [...] Auch die bessern Quellen der einheimischen Geschichte, und diese selbst, scheinen ihm ziemlich fremd gewesen zu sein. Wenigstens zeigt er große Unsicherheit auf diesem Gebiete.« Theodor Kallmeyer: Paul Einhorn und seine Schriften über die Letten.- In: Scriptores rerum Livonicarum (Anm. 92), S. 653-656, S. 654. Paul Johansen meint zum Beispiel, daß es in der Historia Lettica nur eine Stelle gibt, die auf Russow hindeutet, vermutlich habe sich Einhorn jedoch auch dort auf irgendeine sekundäre Quelle gestützt. Vgl. Paul Johansen: Balthasar Russow als Humanist und Geschichtsschreiber. Aus dem Nachlaß ergänzt und herausgegeben von Heinz von zur Mühlen.- Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1996 (= Quellen und Studien zur Baltischen Geschichte; 14), S. 265. Auf die Naturwissenschaftler deutet Einhorn meistens folgendermaßen hin: »Denn/ gleich wie das Thier/ welchs Chamaeleon genant wird/ seine färben offt vnd vielfaltig verändern sol/ wie die Physici vnd Naturkündiger lehren [...]«; »Vnd machet er es wie die Crocodilen: Welche/ wie die Naturkündiger melden: Wann sie einen Menschen/ oder vnvernünfftig Thier anfressen/ vorhin lauffen alß löhen sie/ biß sie ihn in dem er nachläuffet vmbbringen.« »Vom Läwen melden zwar die Physici vnd Naturkündiger/ das er vor dem rauschen der Räder am Wagen vnd vor der Hanen krehen fliehe vnd lauffe.« Einhorn: Wiederlegunge Der Abgötterey vnd nichtigen Aberglaubens (Anm. 92), Der Ander Theil, S. 34, 37 und 43.

131

Samson: Neun Außerlesen und Wolgegründete Hexen Predigt (Anm. 92), Die Achte Predigt von der Zauberey/ [...]. Erster Theil.

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gen lokalen Volksglauben geben.132 Zu diesen zwei sollte als dritter bestimmt Gutslaff mit seinem Kurtzen Bericht gezählt werden. Auch Gutslaff geht bei seiner Analyse von der damals gültigen akademischen Auffassung vom Wesen des Teufels aus, im Unterschied zu den zwei anderen ist seine Auslegung jedoch eng mit der lokalen Materie verbunden (der Fluß Vöhandu, die Flußverehrung, die Bewohner der Gegend). Indem Gutslaff sich direkt mit der Beziehung des Teufels zum Fluß Vöhandu auseinandersetzt, stellt er zugleich allgemeine Betrachtungen über die Beziehungen Gottes, des Teufels und der Menschheit zueinander an. Es ist naheliegend, daß das Teufelsbild Gutslaffs nicht von den gelehrten Auffassungen des 17. Jahrhunderts abweicht und der Teufel von Vöhandu sich gut in die allgemeine Teufels-Konzeption einfugt. So zeigt der Kurtze Bericht, wie die offizielle Theorie über den Teufel in bezug auf die konkreten Verhältnisse angewendet werden konnte. Die empirische Betrachtungsweise Gutslaffs wird, zumindest teilweise, durch den konkreten, fest umrissenen Stoff bedingt, den er behandelt - ein Fluß von lokaler Bedeutung und ein Vorfall, zu dem derselbe Fluß den Anlaß gibt. Der Seelenhirte vor Ort muß ja nach dem Gutsbesitzer Hans Ohm durch den wuchernden Aberglauben besonders hart betroffen gewesen sein. Das mag Gutslaff dazu bewogen haben, das geistige Leben seiner Gemeinde sorgfaltig zu untersuchen. Ein ähnliches Engagement entwickelte er aber auch bei seinen übrigen Aktivitäten. So verlangte die Übersetzung des Alten Testaments aus der Originalsprache ins Estnische bestimmt nicht nur gute philologische Ausbildung, sondern auch Gründlichkeit und Ausdauer.133 Mit seiner estnischen Grammatik gilt Gutslaff als der erste ernstzunehmende Theoretiker der estnischen Sprache.134 Auch bei diesem Werk kamen ihm seine Intuition sowie direkte Kontakte mit estnischen Bauern zugute.135 Sein einziges überliefertes estnischsprachiges Gedicht trägt deutliche Merkmale der Erlebnisdichtung, was bei der estnischsprachigen Lyrik des 17. Jahrhunderts sonst 132

In diesem Zusammenhang sind Einhorns Widerlegunge Der Abgötterey (Anm. 92) und Samsons Neun Außerlesen vnd Wolgegründete Hexen Predigt (Anm. 92) erwähnt worden. Ülo Valk: Eesti rahvausu kuradi-kujutelm kristliku demonoloogia ja rahvusvahelise folkloori kontekstis: ilmumiskujud [Das TeufelsBild des estnischen Volksglaubens im Kontext der christlichen Dämonologie und der internationalen Folklore: Erscheinungsformen].- Diss. phil. Tartu 1994, S. 12. 133 Tering: Lisandusi ja täpsustusi (Anm. 4), S. 30. Lepajöe weist daraufhin, daß die Übersetzungen direkt aus dem Hebräischen und Aramäischen nicht alleine als Zeugnisse von Gutslaffs Begabung und Interesse für Sprachen anzusehen sind: Bei Bibelübersetzungen war die Wahl der Ausgangssprache um die Mitte des 17. Jahrhunderts Gegenstand einer heftigen Polemik. Vgl. Lepajöe: Johannes Gutslaffi >Grammatilised vaatlused< (Anm. 123), S. 307. 134 Lepajöe: 350 aastat Johannes Gutslaffi grammatikat (Anm. 123), S. 370. 135 Dies.: Johannes Gutslaffi >Grammatilised vaatlused< (Anm. 123), S. 305.

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selten ist. Es enthält zwar traditionsgemäß Betrachtungen zur Überlegenheit des Göttlichen dem Menschlichen gegenüber, daneben kommen aber auch Motive des irdischen Lebens zur Geltung. Ein realistisches Genrebild wird für den bedeutendsten Teil des Gedichts gehalten.136 Also scheint es, daß Gründlichkeit, Empirismus und Lebensnähe zu den Wesenszügen Gutslaffs gehörten. Zusammenfassend kann man feststellen, daß Johannes Gutslaffs Kurtzer Bericht tiefere und vielfältigere Einblicke in das geistige Leben Estlands im 17. Jahrhundert ermöglicht als die anderen bekannten estländischen Druckschriften jener Zeit. Auf den Kurtzen Bericht als einen einzigartigen Vermittler der Überzeugungen des estnischen Bauern wurde man bereits im 18. Jahrhundert aufmerksam. Seitdem hat man Gutslaffs Traktat eben unter diesem Gesichtspunkt beachtet. Wenn man den Kurtzen Bericht jedoch im Ganzen betrachtet, gewinnt er im Gesamtbild des Schrifttums des 17. Jahrhunderts weiter an Bedeutung. Einerseits gilt er als Beispiel für eine Schrift, die sich korrekt an die Schreibmethode und die lutherische Lehre jener Zeit hält. Auf der anderen Seite bietet der Kurtze Bericht trotz seines orthodoxen Rahmens wohl mehr selbständige Gedanken, als es bei religiös und pädagogisch ausgerichteten estländischen Schriften des 17. Jahrhunderts sonst üblich ist.

l36

Alttoa, Valmet: 17. sajandi ja 18. sajandi alguse eestikeelne juhuluule (Anm. 8), S. 14; Villem Alttoa: Uusi laule ja luuletajaid XVII sajandist [Neue Lieder und Dichter aus dem 17. Jh.].- In: Keel ja Kirjandus (1967), H. 10, S. 599602, hier S. 602.

V O N DER AUFKLÄRUNG ZUM NATIONALEN ERWACHEN IM SPIEGEL DER GELEHRTENGESCHICHTE

Roger Bartlett

Johann Georg Eisen als Kritiker der livländischen Verhältnisse

Johann Georg Eisen verbrachte fast dreißig Jahre, von 1745 bis 1775, als lutherischer Pastor in Torma am Peipussee im estnischen Livland. Wie viele Pastoren, die im 18. Jahrhundert in livländischen Kirchspielen amtierten, war er ein Einwanderer aus Deutschland, gebürtig aus Franken, wo seine Vorfahren ebenfalls Prediger waren. Während seiner Zeit in Torma wurde er nicht nur als Pastor und Theologe aktiv, sondern entwickelte auch eine rege Tätigkeit unter seinen bäuerlichen Eingemeindeten im Bereich der medizinischen Vorsorge, der Landwirtschaft und des Gartenbaus. Er wurde gleichzeitig zu einem konsequenten Kritiker der leibeigenschaftlichen Verhältnisse in Livland und in Großrußland; um 1750 begann er, an seinem großen Werk zu schreiben: Beweis, daß diejenige Verfassung des Bauern, wenn selbiger seinem Herrn als ein Eigentümer von seinem Bauernhof Untertan ist, der einzige Grund sei, worauf alle mögliche Glückseligkeit eines Staates gebauet werden kann. Mit dieser Schrift, die erst jüngst veröffentlicht wurde und als Manuskript erhalten ist, wurde er zum ersten richtigen Vorkämpfer der Bauernfreiheit im ganzen russischen Reich.1 Ein paar Jahre lang hatte Eisen Grund zu hoffen, daß seine Ideen verwirklicht werden könnten. Im Jahre 1763 wurde er von der neuen Zarin Katharina II. in der unweit liegenden Reichshauptstadt empfangen, und seine Pläne hinsichtlich der Leibeigenschaft wurden wohlwollend aufgenommen. Aus nicht ganz klaren Gründen ist aber nichts daraus geworden, und es gelang Eisen nur auf dem Papier, seinen Ideen Ausdruck zu geben. Mit seinem Beweis beabsichtigte Eisen, eine systematische Darstellung seiner Ideen über Staatswirtschaft und gesellschaftliche Beziehun-

1

Eisens größere Werke erschienen zu seinen Lebzeiten nicht im Druck. Im Jahre 1934 veröffentlichte der lettische Wissenschaftler Marlers Stepermanis eine Auswahl in lettischer Sprache. 1998 wurden die bedeutendsten Schriften und viele Briefe Eisens im deutschen Original veröffentlicht: Johann Georg Eisen (1717-1779). Ausgewählte Schriften. Deutsche Volksaufklärung und Leibeigenschaft im Russischen Reich. Hrsg. von Roger Bartlett und Erich Donnert.Marburg: Herder-Institut 1998 (= Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas; 2).

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gen vorzulegen: für ihn galt als axiomatisch, daß Freiheit und Eigentum unter allen Umständen zu Reichtum und Wohlstand eines Staates fuhren würden. Diese allgemeingültigen, theoretischen Argumente wollte er aber am konkreten Beispiel von Est- und Livland beweisen. So wurde sein Beweis, wie auch die nachfolgenden Schriften, zu einer Erörterung der Verhältnisse im russischen Baltikum. Die Grundsätze, auf denen Eisen seine Weltanschauung und seine Gesellschaftstheorie aufbaute, hatte er sich in Deutschland zur Zeit seiner Universitätsstudien zu eigen gemacht. In Jena 1737 immatrikuliert, hatte er sich durch Theologiestudien auf das Predigtamt vorbereitet, zugleich aber auch mit Medizin, Kräuterkunde, Mathematik, Physik und Kameralwissenschaften befaßt. Ideengeschichtlich ist Eisen im politisch-ökonomischen Bereich als Spätkameralist einzuordnen. Die Kameralwissenschafit darf man als einen Zweig der Staatslehre des Merkantilismus beschreiben, der sich mit guter >Polizei< im Sinne des 18. Jahrhunderts (also der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung und der Wohlfahrt - Gesundheitswesen, Wirtschaft etc.) und mit der Verwaltungsproblematik auf Staatsebene beschäftigte: wie konnte man am zweckmäßigsten die >Kammer gemeinnützige Aufklärung < und die >Volksaufklärung< genannt und für Deutschland definiert hat:8 ein praktisches und tatkräftiges aufklärerisches Denken, das sich einerseits in den gängigen Theorien gut auskannte, andererseits über das Theoretische hinaus zum Praktischen vorstoßen wollte, um so dem gemeinen Mann, besonders auf dem Lande, in seinem Alltagsleben behilflich zu 4

Ebd., § 5. Ebd., §§ 9-10. 6 Ebd., S. 495. 7 Ebd., »Lehrbegriff«, § 16. 8 Holger Böning: Gemeinnützig-ökonomische Aufklärung und Volksaufklärung. Bemerkungen zum Selbstverständnis und zur Wirkung der praktisch-populären Aufklärung im deutschsprachigen Raum.- In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hrsg. von Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach.Hamburg: Meiners 1992 (= Studien zum 18. Jahrhundert; 14), S. 214-248; Holger Böning und Reinhard Siegert: Volksaufklärung. Ein biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum. Von den Anfängen bis 1850. Bd. I-IV.- Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann-Holzboog 1990-2001, Bd. I: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. 5

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sein und ihn > aufzuklären Nation < benutzt, ohne es allerdings auf irgendeine einzelne Ethnie oder Völkerschaft anzuwenden. Weiter treibt Eisen seinen Vergleich mit anderen Ländern nicht, sondern sucht die Ursachen der Hinfälligkeit Livlands in der leibeigenschaftlichen Verfassung: Der ganze erste Abschnitt ist dem eher theoretischen Beweis dieser Hypothese gewidmet. Für ihn steht außer Frage, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft nicht nur den Bauern, sondern allen Gesellschaftsschichten, darunter auch den Gutsherren, höchst vorteilhaft wäre. Im zweiten und dritten Abschnitt kommt er auf die livländischen Verhältnisse zu sprechen. Die hier gegebene Beschreibung gilt eben der Leibeigenschaft, wie sie sich in Livland (und zwar insbesondere unter dem estnischen Teil der Bevölkerung) gestaltet hatte, und ihren Folgen einerseits fur die bäuerliche Bevölkerung, andererseits für die Landwirtschaft und die wirtschaftliche und soziale Struktur des Landes. Im zweiten Abschnitt gibt Eisen beredtes Zeugnis von dem Unheil, den die Leibeigenschaft durch die Versklavung der Menschen an deren persönlichem Charakter stifte. Die Untugenden der Esten und Letten, die manche Erbherren als genetisches Erbe verdammten, fand er durchweg in ihrem leibeigenen Status gegründet. Der Bauer, der weder Anteil noch Interesse am Wohl des Landgutes haben könne, besitze keinen Antrieb, für den Herrn oder auch für sich ehrlich und viel zu arbeiten; er arbeite meistens schlecht oder faulenze. Er habe keine Ursache zum Sparen, weil das Ersparte jederzeit weggenommen oder zu nichts Dauerhaftem gebraucht werden könne; erspartes oder erhandeltes Geld wie auch noch nicht verkauftes Getreide gehe auch schnell in der Schenke verloren. Eisen bemerkte bei einer anderen Gelegenheit, daß jene Gutsherren, die Gutsschenken unterhielten, auch auf diese Weise Vorteil und Einkommen von ihren Erbleuten herauspreßten. Wenn aber ein Bauer Vieh oder Ernte verloren habe, machte er sich auch keine großen Sorgen, müßte doch der Herr ihn dann vor dem Hungertod retten. Weil ehrliche Arbei-

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ter im Lande nicht zu haben wären, würden sogar Ausländer schnell von der vorherrschenden Moral korrumpiert. Ein tüchtiger reichsdeutscher Handwerker oder Diener würde in kurzer Zeit ebenso unzuverlässig und faul wie die Einheimischen, dazu auch hochnäsig und arrogant. Wenn sich Leibeigene verläßlich und gewissenhaft zeigten, erlangten sie damit meistens nur größere Bürden und Schwierigkeiten: Die Herrschaft oder Gutsverwaltung suche immer nach zuverlässigem dienstbaren Personal, nach Dienstboten oder Arbeitsaufsehern, die dann im großen Hause unter dem strengen Auge des Erbherrns oder der Erbherrin sofortiger Strafe ausgesetzt wären oder im Gut für gestohlene Waren oder die schlechten Arbeitsleistungen ihrer Mitbauem verantwortlich gemacht würden. Der Leibeigene gebe sich meistens unterwürfig und äußerlich respektvoll vor dem Herrn, wäre aber hinterlistig, wann immer möglich ungehorsam und jederzeit zum Diebstahl des Gutseigentums bereit. Da seine Vergehen wie auch sein Ungenügen den Ansprüchen der Herrschaft gegenüber immer hart gestraft würden, meistens sogar korporativ, habe er, so Eisen, keinen richtigen Sinn für die eigene menschliche Würde, auch keine richtige Scham. Diese Bemerkungen über das Wesen und die Lebensart des Leibeigenen in Livland decken sich mit den Äußerungen von reformgesinnten Beobachtern in andern Teilen Europas, wie sich ebenso die konservative Sichtweise vieler deutschbaltischer Edelleute auf die > tierische Halbmenschheit< der bäuerlichen Bevölkerung in ähnlichen Stereotypen europaweit bezeugen läßt.12 Eisens Beschreibung beruhte jedoch auch auf seinen eigenen täglichen Erlebnissen. Einerseits hatte er eine eigene Pastoratswirtschaft mit Leibeigenen, deren Laster ihm aus eigener Erfahrung bekannt waren, und trat hier als Gutsherr auf; andererseits mußte der Pastor berufsmäßig eine Mittlerfunktion zwischen Volk und Herrschaft ausüben, wobei für den außerhalb der livländischen Verhältnisse erzogenen Volksaufklärer die Leiden des Volkes klar zu erkennen waren. In bewegten Worten schrieb Eisen in der Einleitung zu seiner späteren Schrift Der Philanthrop·. Die Verfassung und überhaupt die Umstände, die einen Menschen umgeben, die bestimmen den Charakter. Sollten wir, du und ich, heute aufhören, für unsere eigene Ehre, Vergnügen und Nutzen zu leben, und morgen anfangen müssen, unsere inneren Triebe zu unterdrücken und zu eines andern Menschen, der weiter kein Recht an unsere Person hat, als das ihm die Gewalt gibt, Ehre, Vergnügen und Nutzen da zu sein: wie würd' es mit unserm Charakter aussehen? Insonderheit wenn wir nicht von Natur dumm sind, um das uns widerfahrene Unrecht nicht in seiner Stärke zu empfinden? Würden wir nicht alles hervorsuchen, womit wir uns entschädigen könnten? Wenn ein Pythagoras, ein Sokrates,

12

Vgl. Jerome Blum: The End of the Old Order in Rural Europe.- Princeton: Princeton Univ. Press 1978.

Johann Georg Eisen als Kritiker der livländischen

Verhältnisse

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Plato, Aristoteles, Cicero, Seneka, Juvenal, ein Luther, Newton, Thomasius, Bayle, Descartes, Leibniz, Wolf u. d. gl., die nun die verehrungswürdigen Lehrer des Menschengeschlechtes sind, deine Erbbauern gewesen wären: wie würden dir die nicht das Leben sauer gemacht haben? Der Bauer, der Schelm, der Juvenal, mit seinen spitzigen Ausdrücken, dem muß man den Kützel vertreiben, etc. Und was würdest Du mit Voltairen anfangen? Den würdest du gar wegschenken, wer ihn nur nehmen wollte: denn er würde dir allzuviel zu schaffen machen.13

In seiner Einstellung dem gemeinen Volke gegenüber gab Eisen ebenfalls seine aufklärerisch-rationale und kirchliche Bildung zu erkennen. Er zeigte überhaupt kein Verständnis für die Gebräuche des estnischen Bauerntums, wenn diese sich nicht mit den protestantischen Tugenden von Nüchternheit, Sparsamkeit, Sittsamkeit etc. deckten. So brandmarkte er die Hochzeitsgebräuche der Esten als unerträglich verschwenderisch, ohne - soweit zu sehen ist - den Wert wahrzunehmen, der diesen in der Struktur und Artikulation der bäuerlichen persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungen zukam. Für bäuerliche religiöse Traditionen und Aberglauben war er ebenfalls nicht aufgeschlossen, und als ein Befürworter der Pockenimpfung, dieser großen Neuigkeit der Heilkunst des 18. Jahrhunderts, war er bereit, die Gutsherrengewalt anzuwenden, um unverständige Bauernmütter zwangsweise zur Impfung ihrer Kinder zu bewegen. In der Praxis verhielt er sich den Bauern gegenüber streng und ziemlich herrisch; die Ohrfeigen, die er austeilte, konnten aber ebensogut der eigenen Tochter wie seinen Gutsknechten gelten,14 und sowohl seine Arbeit in der Gemeinde zu Torma als auch seine stete schriftliche Befürwortung des Menschseins und der Menschenrechte der Bauern lassen auf eine grundsätzlich positive Einschätzung der menschlichen Würde der estnischen bäuerlichen Bevölkerung schließen. Wenn Eisen sich den allgemeineren Verhältnissen Livlands zuwandte, fand er ebenfalls weitverbreitete Defekte, die er wiederum der Leibeigenschaft zuschrieb. Der Bauer, der nur Knecht und kein Eigentümer war, konnte nach Eisens Meinung unmöglich seine Produktion und seinen wirtschaftlichen Erfolg maximieren. Ebenso war der Gutsherr, der allein an seine Gutswirtschaft dachte und seinen untertänigen Bauern keine Eigenständigkeit gewährte, eigentlich funktional ein Bauer, weil er für alles - Vieh, Arbeitskräfte, Landbau usw. - selbst sorgen mußte. Insofern die Gutsherren auch Handwerker hielten und ihre Güter praktisch selbständig zu machen trachteten, usurpierten sie gleichfalls die Rolle des Bürgertums. Für Eisen waren das gravierende Verstöße gegen die echte Verfassung des Landes, die zur Folge hatten, daß Ackerbau und Landwirtschaft nur notdürftig geführt werden konnten, und auch 13 14

Bartlett, Donnert: Johann Georg Eisen (Anm. 1), S. 490. Ebd., S. 100.

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das Bürgertum nicht richtig florierte. Wie aus den Artikeln § 30 bis § 40 des Beweises hervorgeht, machte er die Leibeigenschaft auch für andere Mißstände der livländischen Gesellschaftsordnung verantwortlich. Für bürgerliche Professionen biete Livland kein zuverlässiges Auskommen;15 sekundäre und höhere Bildung könne sich nicht erfolgreich entfalten (so sehr die lutherische Kirche auch die Lesefähigkeit der Bevölkerung zu religiösen Zwecken beförderte);16 das Stadt- und Handelsleben werde von den ländlichen Verhältnissen stark beeinträchtigt, dem Land fehle es daher auch an Kapital und an Manufakturen.17 Unter diesen Bedingungen wachse die Bevölkerung kaum: eine scharf treffende Kritik, denn einerseits hatte sich die livländische Bevölkerung noch immer nicht richtig von den Verheerungen des Nordischen Krieges am Anfang des Jahrhunderts erholt, andererseits war Bevölkerungswachstum als Prinzip der politischen Ökonomie in ganz Europa, auch bei der russischen Zarin Katharina II., große Mode. Aus all diesen Gründen, so Eisen, schmälere die Leibeigenschaft direkt die Einkünfte der Krone, womit ein weiteres Grundanliegen der Kameralwissenschaft genannt wurde; bei Mißwuchs drohe durch die leibeigene Wirtschaft sogar Hungersnot, da sich Vorräte schwerlich ansammeln ließen und andere Lebens- und Reichtumsquellen unterentwickelt seien.18 Für Eisen waren diese kritischen Feststellungen jedoch nur der erste Schritt: Vom Wort wollte er zur Tat schreiten und war jederzeit bereit, mit praktischen Vorschlägen aufzutreten. Seine Pläne hinsichtlich der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Beförderung der Landwirtschaft sind schon erwähnt worden. Des weiteren entwickelte er Projekte, wie aus kleinen Flecken neue Städte zu gestalten wären, um das Städtewesen zu fördern, und wie der Handel zu beleben sei. Die Städte im Livland des 18. Jahrhunderts waren mit Ausnahme der großen Seestädte tatsächlich relativ unterentwickelt, und Eisens Kritik an diesem Mangel entsprach zu jener Zeit ebenfalls den Anliegen der russischen Reichsregierung. Alle Vorschläge Eisens zielten nicht nur auf eine moralische Verbesserung des gesellschaftlichen Lebens, sondern ebenfalls auf praktische Verbesserungen und die Hebung der Staatswirtschaft: für ihn als guten Kameralisten mußte das Staatseinkommen an erster Stelle stehen. Jedoch sind seine praktischen Pläne weniger überzeugend als seine Kritik, und mit seinen Versuchen, dem Staat zu einer echten Blüte zu verhelfen, war Eisen bei dem > Projektemachen < gelandet. Das Projektieren oder Projektemachen, die Aufstellung von mechanisch-rationalistischen Plänen ohne festen Bezug zu ihrer Durchführ15

Ebd., Ebd., 17 Ebd., 18 Ebd., 16

»Beweis« (S. 123-218), § 31. § 32. §§ 33-35. § § 3 7 und 40.

Johann Georg Eisen als Kritiker der Inländischen

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barkeit, war im Europa des 18. Jahrhunderts eine weit verbreitete Erscheinung. Katharina II. selbst hat den Typus des Projektemachers in ihrem Theaterstück Der Namenstag der Frau Vorchalkina (1772) satirisch dargestellt: Ihr Projektor, ein bankrotter Kaufmann, der doch bestens wissen und allen erzählen will, wie das »Staatsinteresse« zu bewahren sei, heißt Nekopeikov (> Ohnepfennig von Schwarzenberg < in den russischen Militärdienst einschreiben (ebd., S. 3). Vgl. Angelika GailTt-Mikelsone: Jänis Georgs Eizens un 18. gadusimtena latvju zemnieka raksturojums [J. G. Eisen und der Charakter des lettischen Bauern im 18. Jahrhundert].- In: IzglTtibas Ministrijas MenSsrakts (1926), Nr. 2, S. 136-148; Bürgerlicher Siebmacher. Hrsg. von Gustav Adelbert Seyler. Bd. I-XIL- Nürnberg: Bauer und Raspe 1925 (unter dem Stichwort >Eisen Historisches Gedächtnis < und > Geschichtskultur < fuhrt in das für Historiker unsichere Gebiet der Kulturwissenschaften, in denen das Phänomen > Gedächtnis < - angeregt durch die Arbeiten Jan und Aleida Assmanns - seit mehr als einem Jahrzehnt ein enormes Anwachsen der Forschungsliteratur bewirkt hat. Ohne sich in den Feinheiten der Unterscheidungen zwischen > kollektivem und kulturellem Gedächtnis memoire < und >histoire< zu verlieren, soll der folgende Aufsatz untersuchen, inwieweit es in der Reflexionsarbeit eines Historikers und Juristen des 18. Jahrhunderts darum geht, die Wissenschaftlichkeit des historischen Denkens und Darstellens auch dort beizubehalten, wo beide aus unverkennbar lebenspraktischen Orientierungsbedürfnissen resultieren und wie das konsequente Bemühen um eine historische Methode das Umschlagen von Subjektivität in reine Willkür verhindert. Der Begriff > Geschichtskultur < wird hierbei im Sinne von Jörn Rüsen als »Fundamentalkategorie dafür, den Sitz des historischen Denkens im Leben zu bestimmen« verstanden,2 womit eine enge, unauflösbare Verbindung von Theorie und Praxis betont wird und eine Erweiterung der historischen Sachkompetenz in den Bereich des praktischen Gebrauchs historischen Wissens hinein erfolgt. Zu untersuchen sein werden im folgenden die theoretischen Bedingungen von Gadebuschs historischem Erzählen, die Abhängigkeit des Formenwandels der Geschichtsschreibung in Livland von dem Wandel der politischen Lage während der Regierungszeit Katharinas II. und die pragmatischen Aspekte, die Gadebusch mit seiner Geschichtsschreibung

1

Leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages, der anläßlich des 53. Baltischen Historikertreffens in Göttingen vom 17. bis 18. Juni 2000 gehalten wurde. 2 Jörn Rüsen: Geschichtskultur als Forschungsproblem.- In: Geschichtskultur. Hrsg. von Klaus Fröhlich, Heinrich Theodor Grütter und Jörn Rüsen.- Pfaffenweiler: Centaurus 1992 (= Jahrbuch für Geschichtsdidaktik; 3), S. 39.

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in einer Zeit tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Umbrüche verfolgt. Zuerst jedoch ein Überblick über die Gadebusch-Rezeption: Während die älteren deutschbaltischen Historiker Gadebuschs Ausarbeitungen und Materialien noch relativ ausführlich würdigten und nutzten - so ist der Titel dieses Aufsatzes dem Historiker Julius Eckardt entlehnt3 - bietet die jüngere Forschung selten mehr als pauschal gehaltene Hinweise auf sein umfangreiches Werk und greift in den meisten Fällen auf Hubertus Neuschäffers Klassifizierung Gadebuschs als »bedeutendes Sprachrohr der Aufklärung« zurück4 und versucht, seine Stellung zur Aufklärung an dem Verhältnis von aufklärerischer Rationalität auf der einen und vom Pietismus geformte Anklänge an die Gefuhlskultur des 18. Jahrhunderts auf der anderen Seite zu bestimmen. Die Beschäftigung mit den Livländischen Jahrbüchern zeigt aber, daß man mit Hinweisen auf eine Zugehörigkeit zur Aufklärung Gadebuschs Persönlichkeit nicht vollständig erfassen kann, auch wenn nicht zu übersehen ist, welche Bedeutung aufklärerische Theorien in seinem Verfassungs- und Geschichtsdenken haben. Die jüngste ausfuhrlichere Würdigung der Schriften Gadebuschs findet sich bei Klaus Garber im Zusammenhang mit einer Gedichtsammlung des Barockdichters Paul Fleming, der 1633 mit einer Delegation des Herzogs Friedrich III. von Holstein-Gottorf nach Moskau reiste und in Riga und Dorpat Station machte.5 In seiner Livländischen Bibliothek verweist Gadebusch auf einige in seinem Besitz befindliche Schriften, eine Werkausgabe und einzelne Gedichte Flemings, was Klaus Garber in die Lage versetzte, bislang unbekannte Gedichte Flemings in Riga nachzuweisen.6 Interesse der historischen Forschung fand auch die sogenannte »Briefsammlung Gadebusch«, die im Original im Lettischen Historischen Staatsarchiv in Riga und in Form von Mikrofilmen und als Papierkopie im Herder-Institut in Marburg zu finden ist. Sie enthält in der von Gadebusch eigenhändig zusammengestellten Ordnung über 1400 Briefe und 3

Julius Eckardt: Zur Geschichte der Stadt Dorpat.- In: ders.: Baltische und russische Culturstudien aus zwei Jahrhunderten.- Leipzig: Dunker und Humblot 1869, S. 24-62, hier S. 55. 4 Vgl. Hubertus Neuschäffer: Die Zeit der Aufklärung und ihre Bedeutung in den Baltischen Provinzen.- In: Deutsche im Nordosten Europas. Hrsg. von Hans Rothe.- Köln, Wien: Böhlau 1991 (= Studien zum Deutschtum im Osten; 22), S. 187-211, hier S. 198. 5 Vgl. Klaus Garber: Paul Fleming in Riga.- In: Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza und Hans Gert Roloff.- Amsterdam: Rodopi 1988, S. 255308. 6 Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Bd. Ι-ΙΠ.- Riga: Hartknoch 1777, hier Bd. I, S. 354-362.

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Schriftstücke aus den Jahren 1749 bis 1783 von rund 250 Korrespondenzpartnern - leider keine Briefe von Gadebusch. 1994 wurde sie nach ihrem Gehalt für die Geistesgeschichte der Stadt Königsberg untersucht,7 1998 erfolgte in der Reihe der »Sammlungen des Herder-Instituts zur Ostmitteleuropa-Forschung« eine Neubearbeitung des bis dahin nur als Manuskript vorliegenden Regestenbandes von 1916.®

2. Kurzbiographie Gadebuschs und sein Nachlaß Gadebusch entstammte einer bekannten pommerschen Familie und wurde 1719 in Altenfähren auf der Insel Rügen geboren. Seine erste schulische Bildung erhielt er in Stralsund, 1734 bis 1737 war er Schüler des berühmten Akademischen Gymnasiums in Hamburg, das seine Absolventen mit philosophischen, historischen und philologischen Studien auf einen Universitätsbesuch vorbereitete. Angeregt von seinem Lehrer Michael Richey kam er mit der von 1724 bis 1748 wirkenden ersten Hamburgischen > Patriotischen Gesellschaft < in Verbindung, die sich den Ideen einer bürgerlichen Gemeinnützigkeit und der aufklärerischen Tugendlehre verschrieben hatte und seit 1724 die Wochenschrift Der Patriot herausgab, in der Veröffentlichungen zu politischen, allgemeinwissenschaftlichen und schöngeistigen Themen erschienen. 1738 wurde Gadebusch an der juristischen Fakultät Greifswald immatrikuliert und nahm dort neben juristischen auch historische Studien auf, verließ die Universität bereits im September desselben Jahres, um nach eigenen Angaben seine Studien in Königsberg fortzusetzen, wo er jedoch erst zum Sommersemester des folgenden Jahres immatrikuliert wurde. In der Zwischenzeit war er bei einer nicht näher bestimmbaren Danziger Kaufmannsfamilie Hauslehrer geworden und begleitete deren Sohn an die Königsberger Universität. Da sich keine weiteren Belege über universitäre Bemühungen und - im Gegensatz zur Greifswalder Zeit - auch keine Hinweise auf akademische Lehrer finden lassen, ist es wahrscheinlich, daß Gadebusch es bei der Immatrikulation belassen, sich als Gesellschafter junger Adliger betätigt und an seiner 1755 in Dorpat durch Brand vernichteten Reichshistorie gearbeitet hat. Bei seinem zweiten Königsberger Aufenthalt in den Jahren 1744 bis 1748 war er als Hofmei7

Vgl. Peter Wörster: Bezüge auf Königsberg in einer baltischen Briefsammlung des 18. Jahrhunderts.- In: Königsberg. Beiträge zu einem besonderen Kapitel der deutschen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Joseph Kohnen.- Frankfurt: Lang 1994, S. 55-64. 8 Briefe an den livländischen Historiographen Friedrich Konrad Gadebusch (1719 -1788). Regesten. Bearb. von Friedrich von Keußler, hrsg. von Christina Kupffer und Peter Wörster.- Marburg: Herder-Institut 1998 (= Sammlungen des Herder-Instituts zur Ostmitteleuropa-Forschung; 5).

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ster der studierenden Söhne der Familie von der Goltz und der baltischen Familie von Vietinghoff in der Stadt. Hofmeisterstellen wurden gewöhnlich auf Empfehlungen der Professoren oder per Mundpropaganda vermittelt, und so erhielt auch Gadebusch in Königsberg eine weitere Hofmeisterstelle angeboten. Wie er in der Livländischen Bibliothek schreibt, [...] wurde er ersuchet, fur die beyden Söhne des Landgerichtsassessoren von Rosenkampf [...] einen Hofmeister vorzuschlagen. Er that es. Man gab ihm zu verstehen, daß man ihn selbst gemeinet hätte.9

Leider läßt sich nicht klären, auf wen sich das »Man« bezieht: einen Universitätsangehörigen oder einen Beauftragten des Landgerichtsassessors Reinhold Johann von Rosenkampff. Als Hauslehrer der Rosenkampffs kam Gadebusch 1748 auf deren Gut Kersel (estn. Kaarepere) bei Dorpat und wurde bereits zwei Jahre später Notar am Dorpater Ordnungsgericht. Seine Arbeit fur den Rat der Stadt begann er 1755 als Advokat, im August 1764 wurde er als Sekretär in die vom Generalgouverneur Georg von Browne gebildete Kommission zur Schlichtung der Querelen innerhalb des Rates sowie zwischen Rat und Bürgerschaft berufen. Diese Streitigkeiten waren aus dem Wunsch des Justizbürgermeisters Johann Jacob Sahmen nach Berufung eines zweiten Bürgermeisters hervorgegangen; man konnte sich im Rat weder über den Wahlmodus noch über einen geeigneten Kandidaten einigen, weswegen es mehrfach zu Handgreiflichkeiten innerhalb des Rathauses gekommen war. Die Bürgerschaft war verärgert über das rigorose Vorgehen des Rates: 1764 entrollte ein Maurer während eines Besuches der Zarin Katharina II. ein Transparent, auf dem er sich in einem Spottgedicht über die Züchtigung eines ungehorsamen Bürgers durch den Rat beklagte. Die Kommission legte nach mehr als einjähriger Arbeit einen sogenannten > Bürgervergleich < vor, der - auf den Privilegien der schwedischen Königin Christina beruhend - Fragen der Stadtverwaltung regelte und Rat und Bürgerschaft dazu aufforderte, in Frieden und zum Wohle der Stadt zusammenzuarbeiten. Durch seine Arbeit für die Schlichtungskommission hatte sich Gadebusch - wie er, ohne deutlicher zu werden, in seinem autobiographischen Paragraphen der Livländischen Bibliothek andeutet Feinde innerhalb des Rates geschaffen, und so kam ein Angebot des Livländischen Hofgerichts, Sekretär des Landgerichts auf der Insel Oesel (estn. Saarema) zu werden, gerade recht. Er sagte zu, war schon im Begriff, Dorpat zu verlassen, wurde aber dann durch eine nicht näher bezeichnete Krankheit am Aufbruch gehindert und blieb schließlich weiterhin als Notar und Advokat in Dorpat. Die Wogen glätteten sich in den folgenden Jahren, und so wurde er 1766 als Syndikus des Rates an die Spitze der Verwaltung und Justiz berufen. Im Sommer 1767 reiste Gade9

Gadebusch: Livländische Bibliothek (Anm. 6), Bd. I, S. 382.

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busch nach langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Rat und Gilden über seine finanzielle Ausstattung als Deputierter der Stadt zu der von Zarin Katharina II. einberufenen Kommission zur Verfertigung eines neuen Gesetzbuches nach Moskau. Obwohl ihm fehlende Russischkenntnisse eine aktive Mitarbeit in den Vollversammlungen erschwerten und er auf die Übersetzungen anderer Teilnehmer angewiesen war, wie aus mehreren Eintragungen in seinem »Deputationsjournal« deutlich wird, wurde er in zwei Spezialkommissionen gewählt: Mitte September in die Justiz- und Ende des Monats in die Güterkommission. Das Desinteresse der Stadt Dorpat an der Erarbeitung neuer allgemeiner Gesetze für das Russische Reich und die fehlenden finanziellen Mittel bewirkten, daß Rat und Bürgerschaft den Deputierten drängten, nach erfolgter Übergabe der »Desideria und petita« der Stadt möglichst rasch sein Mandat entweder dem Deputierten der Stadt Riga, Johann Christoph Schwartz, oder einem in Moskau ansässigen Stellvertreter zu übergeben.10 Gadebusch wählte den aus Dorpat stammenden Moskauer Professor Jakob Johann Ursinus und kehrte Mitte November zurück. 1771 wurde er zum Justizbürgermeister der Stadt Dorpat gewählt und hatte so das höchste Verwaltungsamt erlangt, das ihm als Nichtadligem offen stand. Bis zur Einführung der Statthalterschaftsorganisationen 1783 blieb er in diesem Amt und war maßgeblich an dem wirtschaftlichen Aufschwung beteiligt, der nach dem katastrophalen Stadtbrand von 1775 einsetzte. Neben seinen Tätigkeiten als Jurist verfaßte Gadebusch zahlreiche Werke, von denen nur ein Teil gedruckt vorliegt: so zum Beispiel die Abhandlung von Livländischen Geschichtschreibern, die 1771 bei Hartknoch in Riga erschien. In der deutschbaltischen Forschung wird sie als »erste gediegene Einfuhrung in die livländische Historiographie« bezeichnet,11 ohne deren Existenz das Allgemeine Schriftsteller- und GelehrtenLexikon von Recke und Napiersky nicht zustande gekommen wäre.12 Sie enthält - chronologisch fortschreitend - 87 Kurzbiographien von Historikern, »welche entweder ihren Ursprung in Livland genommen, oder

10

Vgl. Desideria und petita so das publicum überhaupt angehen und welche der Hochverordneten Gesez-Commission zu unterlegen die Bürgerschaft gebeten.In: Instruction für den Herren Deputirten der Stadt Dorpat, was derselbe bey der, in der Hauptstadt Moscau niedergesetzten Höchstverordneten Gesez-Commission wahrzunehmen hat. (Estnisches Historisches Archiv Tartu, fond [Bestand] 995, nimestu [Register] 1, säiliku [Akte] 189, Bl. 15v-19v. 11 Garber: Paul Fleming in Riga (Anm. 5), S. 269. 12 Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland. Bearb. von Johann Friedrich v. Recke und Karl Eduard Napiersky. Bd. I-IV.-Mitau: Steffenhagen 1827-1832.

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darinn gelebet, oder davon gehandelt haben«, und eine je nach Quellenlage ausführlichere oder knappere Beschreibung ihrer Schriften.13 1777 folgte die dreibändige Livländische Bibliothek, die als erstes Schriftstellerlexikon der Ostseeprovinzen in alphabetischer Ordnung rund 550 Personen erfaßt, die auf unterschiedlichste Weise mit Livland in Verbindung standen. Das umfangreichste gedruckte Werk sind die Livländischen Jahrbücher, die in den Jahren 1779 bis 1783 in neun Bänden wiederum bei Hartknoch erschienen. In ihnen hatte sich Gadebusch die Aufgabe gestellt - losgelöst von der reinen Personengeschichte - die Geschichte Livlands von 1030 bis 1761 in vollem Umfange kritisch aufzuarbeiten.14 Als spätestes Werk erschienen 1779 und 1785 die zwei Bände Versuche in der livländischen Geschichtskunde und Rechtsgelehrsamkeit, in denen Gadebusch neben vier eigenen Essays biographischen und juristischen Inhalts auch zwei von seinem Rigaer Amtskollegen Johann Christoph Schwartz, einen von dem Sekretär der livländischen Ritterschaft Erich Johann von Meck und zwei von dem Pastor in Narva Friedrich Ludolph Trefurt abdruckte. Einen Überblick über den vollständigen Bestand des Nachlasses sowohl der eigenen Manuskripte als auch der umfangreichen Büchersammlung bieten das von dem Odenpähschen Pastor Johann Martin Hehn für eine Auktion angefertigte Verzeichniß der Bücher und Münzen15 sowie der Auktionskatalog.16 Auf einer Auktion im Jahr 1796 wurde der Nachlaß Gadebusch entgegen dem ursprünglichen Plan Hehns geteilt, so daß sich seine Spuren in der Folge nur schwer verfolgen lassen. Heute befinden sich Teile im Estnischen Historischen Archiv (Eesti Ajalooarhiiv) in Tartu, im Lettischen Historischen Staatsarchiv (Latvijas Valsts Vestures Archivs) in Riga und auch in den Beständen der ehemaligen Adelsbibliothek Zamojski in der Biblioteka Narodowa in Warschau. Als verloren muß bis heute die Geschichte des livländischen Adels gelten, in der Gadebusch chronologisch geordnet Materialien zu 172 Familien aus den livländischen Matrikeln zusammengestellt hatte. Über den Fortgang die13

Friedrich Konrad Gadebusch: Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern.- Riga: Hartknoch 1772, das Zitat § 2, S. 4. 14 Friedrich Konrad Gadebusch: Livländische Jahrbücher. Bd. I-IV.- Riga: Hartknoch 1780-1783. 15 Johann Martin Hehn: Verzeichniß der Bücher und Münzen des Justizbürgermeisters der kaiserlichen Stadt Dorpat, Herrn Friedrich Konrad Gadebusch.Dorpat: Grenzius 1789. 16 Verzeichnis der Bücher des weyland Justizbürgermeisters zu Dorpat Herrn Friedrich Konrad Gadebusch welche nebst denen im Anhange angezeigten am [ ] Januar des 1796sten Jahres zu Riga öffentlich den Meistbietenden verkauft werden sollen.- Riga: Julius Conrad Daniel Müller 1795. Ein Exemplar konnte jetzt in der Lettischen Akademischen Bibliothek, Riga, Sign. Dl/11-1, R8310 gefunden werden. [Mikrofilmkopie im Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Osnabrück].

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ser Arbeit, die ihn vornehmlich nach seinem Rückzug von den Amtspflichten beschäftigte, informiert sein Briefwechsel mit dem livländischen Geschichtssammler und Schulmann Johann Christoph Brotze. Weiterhin fertigte Gadebusch - auf der allgemeinen Editionswelle zu Beginn des 18. Jahrhunderts schwimmend - Abschriften ihm wichtig erscheinender Landesgesetze an, sammelte Nachrichten über die evangelischen Prediger im Kreis Dorpat und die Geschichte des Bistums Dorpat und hielt in vier Sammlungen Nachrichten aus der > Gelehrtengeschichte < fest, die er aus zeitgenössischen Zeitungen oder neuester Literatur entnahm.

3. »Die Hauptregel glücklicher Städte, das wahre Beste des gemeinen Wesens«: 1 7 Recht und Alltagspolitik im livländischen Ständestaat Sowohl bei der praktischen Arbeit als Jurist in der städtischen Verwaltung als auch bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit orientiert sich Gadebusch an dem Leitstern einer - sehr weitgespannten - Gesellschaftsrelevanz seines Tuns, zusammengefaßt in der häufig wiederkehrenden Wendung des »gemeinen Besten« oder »gemeinen Nutzen«. Das geistige Band, das seine partikularen Bestrebungen auf beiden Gebieten vereinheitlicht, ist der Patriotismus in seiner zeitgenössischen Bedeutung als eine dem Gemeinwohl durch Altruismus, Rechtschaffenheit und Wohlwollen dienende Grundhaltung, mit der der »aufgeklärte« Verwaltungsmann innerständische Konflikte vermeiden wollte. So verwendet Gadebusch den Aspekt des Gemeinnutzes nicht nur zum Lob der Herrschenden oder als Beweggrund für ihr Handeln, sondern ähnlich wie die Autoren der kameralistischen Wohlfahrtslehre als Rechtfertigungsgrund ihrer Tätigkeiten, und er betrachtet ihn als Schranke staatlicher Eingriffsbefugnisse. Gadebuschs politisches Ideal für Livland ist der zentral von einer Staatsraison bestimmte, ständisch gegliederte Wohlfahrtsstaat, der die Bedeutung des historischen Rechtszusammenhanges für eventuelle Gesetzgebungsvorhaben der Gegenwart anerkennt und dessen normative Leitlinie die Wohlordnung des Gemeinwesens ist. Die Wahrung des gemeinen Wohls erfordert in seinem Verständnis die Erhaltung und maßvolle Erneuerung der überlieferten Ständeordnung, in der jeder Untertan in seinem Stande verbleiben und von der Landesherrschaft gesichert werden soll. Der »Staat Livland« erscheint nicht als politische Größe oder als ein soziales Konstrukt, das durch Existenz inmitten anderer Staaten und durch geschichtliche Bedingtheit noch anderen Gesetzen

17

Friedrich Konrad Gadebusch: Nachricht von Wiedererbauung des Rathauses zu Dörpat und von der Feyerlichkeit, womit der Grundstein am zweyten Brachmonats 1782 geleget worden.- Riga: [Hartknoch] 1782, S. 9.

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unterworfen ist als denen, die für den einzelnen aus der Sittenlehre entspringen, sondern als Rahmen der Summe aller Rechte und Privilegien der livländischen Ständegesellschaft. In dem Zusammenspiel von Regierung und Landständen, bei dem den Landesherren eine koordinierende Funktion zukommt, sieht Gadebusch einen Ausgleich von Freiheit und Ordnung. Die Auseinandersetzungen zwischen den Landständen und ihre Haltung der jeweiligen Regierung gegenüber bilden die politische Grunderfahrung Gadebuschs, und so zeigen die Jahrbücher, daß das Ideal des Zusammenspiels von landesherrlichem Schutz und ständischer Mitregierung durch eine Harmonisierung unterschiedlicher politischer Rechte stets neu erkämpft werden muß. Seine eigenen praktischen Bemühungen als Deputierter der Stadt Dorpat richtet er allesamt auf die Erhaltung des auf Privilegien beruhenden rechtlichen Zustandes der Provinzen aus, was endgültig durch die Ausdehnung der Statthalterschaftsverfassung auf Livland 1783 zunichte gemacht wurde, so daß ein Rückzug von den Ämtern als zwingende Konsequenz erschien. In seinen historiographischen Werken entwickelt Gadebusch ein ausgeprägt ständisches, wenn auch keineswegs unkritisches Geschichtsbild, in dem besonders den Adligen die alten Topoi - unter diesen ihre spezifische Fähigkeit zu patriotischer Bewährung - zugeschrieben werden. Als ein an die Seite des Adels getretener Stadtbürger wirbt er für den Abstand zwischen den Ständen und wandelt den Gedanken der christlichen Ständelehre ab, nach dem alle Menschen untereinander ungleich, vor Gott jedoch gleich geschaffen sind. Dies erreicht er durch eine Verschiebung des Vergleichspunktes: von der Betonung der Gleichheit vor Gott weg zur > Gleichwertigkeit < der verschiedenen Stände im Staatswesen. Beeinflußt von Johann Georg Eisens sogenanntem >Kameralsystem Patrioten< des 18. Jahrhunderts als ebenso wichtige Aufgabe historischer Forschung wie eine öffentliche Diskussion der Ergebnisse betrachtet. Der Gedanke, möglichst viele Daten zur Landesgeschichte veröffentlichen zu müssen, um nachfolgenden Historikern eine Arbeitsgrundlage zu liefern, bestimmt sowohl die gedruckten Schriften als auch die umfangreichen handschriftlichen Materialsammlungen und fuhrt zu der vielfach beklagten Weitschweifigkeit Gadebuschs. Sie wurde bereits an seiner ersten Publikation - der Abhandlung von Livländischen Geschichtschreibern - in Friedrich Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek von dem Halleschen Historiker Matthias Christian Sprengel geübt,

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Friedrich Konrad Gadebusch: Brief an Erich Johann von Meck vom Oktober 1770. (Autograph, Lettisches Historisches Staatsarchiv Riga, fonds [Bestand] 4011, apraksts [Register] 2, lieta [Akte] 1537, Bl. lOr. Vgl. Brief Erich Johann von Mecks an Friedrich Konrad Gadebusch.- In: Briefe an den livländischen Historiographen Friedrich Konrad Gadebusch, Bd. I, Nr. 254. (Autograph, Lettisches Historisches Staatsarchiv Riga, fonds 4038, apraksts 2, lieta 1681). Gadebusch: Brief an Erich Johann von Meck vom Oktober 1770. (Autograph) (Anm. 20), Bl. lOv.

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der Gadebuschs Unvermögen zur Reduktion des aufgefundenen Materials scharf kritisiert, ihn aber mit der Kritik zu weiteren, verbesserten Publikationen anregen wollte.23 Sprengel wirft Gadebusch neben einer unerträglichen Weitschweifigkeit vor, seine Arbeit auf einer zu schmalen Materialbasis veröffentlicht und keine befriedigenden Methoden für Auswahl, Kritik und Darstellung des Materials gewählt zu haben. Gadebusch, der sich bereits in der Hoffnung auf gelehrte Unterstützung seiner Zeitgenossen bei der Beschaffung von Material enttäuscht gesehen hatte, reagierte äußerst empfindlich auf die Beanstandungen. Da sich Sprengel über das Verfasserkürzel »Sch.« hinaus nicht zu erkennen gab, die Rezension aber von einer fundierten Kenntnis der livländischen Landesgeschichte zeugt, verfiel Gadebusch auf die Vermutung, sie müsse von dem Pastor August Wilhelm Hupel verfaßt worden sein. Im Vorwort seiner nächsten Publikation - der Livländischen Bibliothek - ließ er eine zweigeteilte Replik folgen. Er wirft dem Verfasser einen »schulmeisterlichen Ton« und »bittere Tadelsucht« vor und verweist auf den »Mangel an einheimischen Geschichtschreibern«,24 der es unumgänglich mache, auch ungesicherte Daten aufzunehmen und die eigene Unsicherheit anzugeben, wie er es in der Abhandlung mehrfach getan hatte mit Zusätzen wie: »Weiter kenne ich ihn nicht.« zu dem im 16. Jahrhundert lebenden Dorpater Domprediger Philipp Olmen25 oder dem Hinweis auf die Sekundärliteratur: »Lambert Kämmerling. Diesen führet Neustädt an, jedoch meldet er nicht, was er geschrieben habe.«26 Gadebusch betont, er habe viele Leute um Nachrichten gebeten, sie aber nur selten erhalten, und so möge der Rezensent in strittigen Fragen seinerseits Nachweise des Gegenteils erbringen. Der zweite Teil der Vorrede läßt deutlich werden, daß Gadebusch tatsächlich Hupel für den Verfasser der Rezension hielt, da er Bezug auf eine seiner Schriften nimmt und diese im Gegenzug kritisiert. Im Blick auf die Nationalstaaten Westeuropas gab es für Gadebusch eine Vielzahl von Gründen, die Geschichte Livlands von dem frühen 13. Jahrhundert als dem Beginn der deutschen Besiedelung an zu betrachten, um zu fragen, ob es nicht als eine mit den Worten Werner Conzes »ständisch präsente Nation« oder gar als Staat verstanden werden könne. Die Beschränkung auf den kleinen Bereich der russischen Ost23

[Matthias Christian Sprengel]: Rezension »Abhandlung von Livländischen Geschichtschreibern«.- In: Allgemeine Deutsche Bibliothek 19 (1773), S. 627637. 24 Gadebusch: Livländische Bibliothek (Anm. 6), Vorrede, S. 7, 6 und 9. 25 Ders.: Abhandlung (Anm. 13), §15, S. 17. 26 Ebd., §19, S. 21; gemeint ist: Franz Nyenstädt's, weiland rigischen Bürgermeisters und königlichen Burggrafen, Livländische Chronik, nebst dessen Handbuch. Hrsg. von Gustav Tielemann.- Riga, Leipzig: Frantzen 1839 (= Monumenta Livoniae Antiquae; 2), S. 1 -128.

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seeprovinzen und in den Jahrbüchern zunehmend auf Dorpat erweist sich als Bereicherung, da hier trotz wechselnder Herrschaften eine relativ ungebrochene Beziehung zu den ältesten Grundlagen der sozialen Struktur vorhanden war. Vor diesem Hintergrund der noch geltenden und zu seiner Zeit nur »verdunkelten« Verfassung Li viands treten Gadebuschs aus der Kritik erwachsene Neuerungen der Geschichtswissenschaft hervor.

4.2. »Dem Vaterlande dienen« - Nützliches Wissen für Zeitgenossen In seinem Brief an Meck fahrt Gadebusch, nachdem er auf die Notwendigkeit der Öffentlichkeit fachlicher Diskussion hingewiesen hat, folgendermaßen fort: Der Vorsatz, den Ew. Hochwohlgeboren gefaßt haben, ist überaus lobenswürdig, und unsern Landesleuten höchst zuträglich. Eine solche Sammlung wird diejenigen in Stand setzen, die einige Bemühung anwenden wollen, weit richtiger, als bisher, von den Angelegenheiten des Landes zu urtheilen. Man wird das Wort, Privilegien, nicht mehr, als einen leeren Schall, aussprechen hören. 27

Der zweite Schritt, den die Landeshistoriker nach der Edition einer breiten Quellenbasis zu gehen haben, ist demnach deren geschickte Ausschöpfung, die aus einem Orientierungsbedürfnis der Gegenwart und dem Wunsch, die bestehenden sozialen Verhältnisse zu legitimieren, hervorgeht. Hierbei transformiert sich die Forderung nach nützlichem Wissen zur Forderung nach politisch nützlichem und wirksamem Wissen. So will Gadebusch im Bewußtsein einer politisch-sozialen Verantwortlichkeit mit seinen juristischen Schriften das Interesse für Landesverordnungen und Privilegien wecken und über wichtige Landesangelegenheiten informieren. In den historiographischen Werken ist er bestrebt, einen auf der ursprünglich deutschen Besiedelung des Landes gründenden Begriff eines Vaterlandes zu entwickeln, mit dem sich die Provinzen gegenüber den unifizierenden Tendenzen der Zarin Katharina II. absichern könnten. Hervorgehoben werden muß, daß Gadebusch die auf Privilegien beruhende livländische Verfassung nicht allein gegen eine Fremdregierung von außen, sondern auch gegen einen Umsturz von innen verteidigen will. In dem Glauben an die Geschichte als ein wirksames soziales Instrument und unter Behauptung der sozialen Funktion von Kritik und Wissenschaft ist fur den Historiker Gadebusch von Interesse, 27

Gadebusch: Brief an Erich Johann von Meck vom Oktober 1770. (Anm. 20), Bl. lOv.

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wie der Staat nach und nach eingerichtet worden, was für Regeln man erwählet, denselben zu befestigen, oder zu untergraben, was zum Glück und Unglück des Landes, der verschiedenen Einwohner, der Stände, der einzelnen Glieder, zum Wachsthum und zur Abnahme beygetragen, was der Handel und die damit verknüpften Fabriken und Manufackturen für einen Gang genommen, und wie die Einwohner so oft ihr eigenes Verderben befördert haben, durch die Uneinigkeit und die daraus entspringenden innerlichen Unruhen, welche oft in blutige Kriege ausgeschlagen sind.28

Mit diesem Programm konstatiert er die historisch gewachsene Einheit der Provinzen Livland und Estland und kündigt für die Jahrbücher eine genetisch orientierte Erzählweise an, die die aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen von historischen Fakten zeigt, um darzustellen, wie die gegenwärtigen Zustände sich aus den früheren entwickelt haben. Die Geschichte des Landes wird als mehr oder minder vernünftige Weiterentwicklung der frühesten - durch Bischof Albert geschaffenen - Anlagen als »natürliche« Geschichte verstanden. Sein Interesse an der Geschichte Livlands konzentriert Gadebusch in drei Komplexen: 1. in der landesgeschichtlichen Orientierung, die die Gesamtheit des kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens umfaßt 2. in zeitgeschichtlichen Fragestellungen 3. in einer - mit dem zeitfremden Etikett »anthropologisch« zu bezeichnenden - menschheitsgeschichtlichen Ausrichtung. Alle drei haben das Ziel der Vergegenwärtigung und Schaffung einer geschichtlichen, perspektivischen Identität der »Livländer«, die sich mit den bewegten Bildern individueller Lebensläufe in einem festen Rahmen hält, der eine scharfe Abgrenzung von der Geschichte des Russischen Reiches ermöglichen soll. Politische und gesellschaftliche Werte der Vergangenheit werden auf diesem Weg zu einem integrierenden Bestandteil der Gegenwart und zum Maßstab einer besseren Zukunft. Der praktische Aspekt von Gadebuschs Geschichtsschreibung, der sie zu einer Form der sozialen Interaktion zwischen Historiker und Publikum macht, verdeutlicht sich in der Betonung des Vorbildhaften in der historischen Überlieferung in den Jahrbüchern und den biographischen Schriften, in denen unter Verwendung eines wiederkehrenden Formelkataloges praktisches tugendhaftes - patriotisches - Verhalten geschildert wird. Patriotismus konnte sich auf die Heimatstadt oder auf den Staat, in dem der »Patriot« lebte, ebenso allgemein auf eine bestimmte soziale Gruppe richten. Gadebuschs »Patriotismus« manifestiert sich in seinem 28

Gadebusch: Livländische Jahrbücher (Anm. 14), Bd. I, Τ. 1, unpaginiertes Vorwort [9. Seite],

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Engagement für die Wiederherstellung und Erneuerung der geschichtlichen, auf Privilegien beruhenden Verfassung Livlands im Hinblick auf die in ihr wohnenden Möglichkeiten und die Kontinuität der Entwicklung der rechtlichen Institutionen, damit jeder Stand die ihm nach den konkreten historischen Gesetzen zustehenden Rechte und Freiheiten ohne Einschränkungen genießen könne.

5. »Das Joch des Beweises«: Der Jurist als Historiker In seinen historischen Schriften knüpft Gadebusch an die Leitvorstellungen einer humanistisch-rhetorischen Geschichtsschreibung an und entwickelt diese mit den Methoden eines Juristen weiter, nach denen die rechte Auslegung Einsicht in Entstehung und Geschichte der Gesetze erfordert. Die Auswahl und Darbietung des Materials in den Jahrbüchern erfolgt in bewußter Übereinstimmung mit der juristischen und der gelehrten Methode der Geschichtsschreibung: jedes Werk muß auf Quellen gründen. Beeinflußt von dem rechtstheoretischen Argument der »Communis opinio« verläßt Gadebusch sich in seinen früheren Arbeiten noch häufig auf eine bestimmte herrschende Meinung, die er nahezu als wissenschaftliches Argument anfuhrt, das schon als solches die Richtigkeit des behaupteten Satzes wahrscheinlich, wenn auch nicht gewiß, macht. In den Jahrbüchern fällt eine kritische Haltung der »gemeinen Meinung« gegenüber auf. An deren Stelle tritt die Anführung eines »Augenzeugen« oder »Zeitgenossen« des betreffenden Ereignisses, dessen Schilderungen die höchste Wahrscheinlichkeit beanspruchen können, wie Gadebusch im Zusammenhang mit den Schilderungen des Kreuzzugs Bischof Bertholds gegen die Liven 1198 deutlich macht: Bey diesem deutlichen Zeugnis unseres Heinrichs [von Lettland, Chronicon Livoniae, 1223-1226, C. K.], eines Zeitgenossen, fallen alle übrigen Zeugnisse und Meynungen hinweg, welchen zufolge der Todestag oder die Regierungsjahre dieses Bischofs anders bestimmet werden. 29

Zeitgenossenschaft wird so zum Synonym für Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit, das historische Faktum erscheint in einer Art naivem Realismus nicht als logisch strukturiertes Gebilde, sondern als einfache Tatsache, die konstatiert, nicht aber analysiert werden kann. In den Jahrbüchern wird deutlich, daß Gadebusch bemüht ist, eine auf den Grundsätzen der Deduktion aufbauende Beweismethode als einzig zulässige Weise wissenschaftlicher Deutung zu deklarieren und eindimensionale Kausalerklärungen als Form historischer Analyse zu suchen. Zur Grundlage der Erklärungsmodelle wird das Aufdecken der Ursache29

Ebd., Bd. I., Τ. 1, § 14, S. 28-29. [Anm. p].

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Wirkung-Beziehung, die historisches Geschehen »erhellt«. Ein Ereignis »erklären« heißt somit: nachweisen, wieso es notwendigerweise eintreten mußte. Auch kuriose und zufällige Begebenheiten lassen sich durch Erfahrung mit einer Scheinkausalität begründen, in der Dinge verknüpft werden, die in unserem Verständnis nichts miteinander zu tun haben. Gadebuschs stetes Suchen nach Begründungen verdeutlicht seine Auffassung von Geschichte als gesetzmäßigem Prozeß. In kleinen Segmenten ahnt er einige Aspekte von größeren geschichtlichen Zusammenhängen, ein übergreifender, sich entwickelnder Gesamtzusammenhang historischer Ereignisse steht ihm nicht vor Augen, und so ist er nicht in der Lage, Hypothesen an die Geschichte heranzutragen. Vielmehr liegt für ihn in der Hypothesenbildung die Gefahr, mit einem der betrachteten Zeit fremden Wissen unbeweisbare Annahmen zu konstruieren, »ohne sich in diese Zeit hinein zu denken«.30 »Geschichte« ist für Gadebusch keine ausschließlich literarische Veranstaltung, die eine sittliche Funktion zu erfüllen hat, sondern wird zu einem Unternehmen, in dem die Geltungsansprüche der erarbeiteten Erkenntnisse argumentativ erläutert werden müssen. Als Verfechter dieses Verständnisses versucht er, sich gegen Historiker abzugrenzen, die mit Prinzipien und Hypothesen an die Geschichte herantreten und den Gang der Geschichte im Sinne ihrer Vorgaben verändern oder gar verfälschen. Dies wirft er zum Beispiel Voltaire vor, der als Schriftsteller bezeichnet wird, der »mehr nach witzigen Einfällen haschet, als historische Wahrheiten aufsuchet.«31 Ziel und Zweck der Geschichtsschreibung versteht Gadebusch pragmatisch, indem er als Jurist durch die Bekanntmachung der Geschichte des eigenen Landes belehren und dadurch Nutzen stiften will. So wird das gesammelte Erfahrungswissen nach pragmatisch gewählten Gesichtspunkten geordnet und mit Gegenwartsproblemen verknüpft.

6. Der Beginn der wissenschaftlichen Landesgeschichtsschreibung: Gadebuschs Themen und die livländischen Chroniken Die Themen des Historikers Gadebusch ergeben sich aus dem Sinn, den er der Geschichte Livlands unterlegt: Der Beginn der Landesgeschichte fällt mit der >Aufsegelung< des Landes durch deutsche Kaufleute zusammen, frühere Siedlungen und Handelsbeziehungen werden nicht berücksichtigt. Als Gründer eines livländischen - sprich: deutschen »Staates« und der Stadt Riga sowie Stifter des Livländischen Ordens wird der aus Bremen stammende Bischof Albert de Bekeshovede als hervorragende Persönlichkeit des Mittelalters dargestellt, der die Grund30 31

Ebd., Bd. I , Τ. 1, § 96, S. 308 [Anm. x], Ebd., Bd. ΠΙ, T. 3, § 107, S. 128 [Anm. c].

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läge fur die Entwicklung der rechtlichen und sozialen Strukturen des Landes legte. Gadebusch folgt hierbei in weiten Teilen seinen historiographischen Vorgängern, die eine Begründung der deutschen Herrschaft in Livland geben wollten, wie ansatzweise bei Heinrich von Lettland um 1225, in voller Entfaltung dann bei den livländischen Humanisten Augustin Eucaedius 1564, Tilmann Bredenbach 1564, Balthasar Rüssow 1578 und Tilman Brakel 1579 zu Tage tritt, bei denen erst durch die Ankunft der Deutschen der »Staat« in Livland emporgebracht wird. Die älteste Chronik, die Gadebusch für seine Jahrbücher heranzieht, ist Heinrich von Lettlands Chronicon Livoniae, mit dem die Tradition der deutschbaltischen Geschichtsschreibung begründet wurde und das noch heute eine wichtige Quelle für die mittelalterliche Geschichte der baltischen Völker darstellt.32 Eher sporadisch nutzt er die ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammende sogenannte Ältere Livländische Reimchronik, die in mittelhochdeutschen Versen vermutlich von einem Deutschordensritter abgefaßt wurde und von der >Aufsegelung< des Landes bis zur endgültigen Bezwingung der Semgaller - eines baltischen, lettisch sprechenden Volksstammes im Stromgebiet der Kurländischen Aa - im Jahr 1290 reicht.33 Bei den Geschichtsschreibern des 15. Jahrhunderts fand Gadebusch keine Beschränkung auf die äußeren Konflikte des Landes; sie wandten sich den inneren Auseinandersetzungen - wie dem Machtkampf zwischen dem Livländischen Orden und dem Erzbistum Riga - zu. In dieser Zeit entstanden auch die ersten städtischen Chroniken, deren Fragmente Gadebusch in den Archiven der Städte Riga und Dorpat fand. Den Chroniken aus dem 16. Jahrhundert, die thematisch viel aus der früheren Literatur übernehmen, ist gemeinsam, daß sie auf die existentielle Bedrohung Bezug nehmen, der das Land durch die Angriffe des Zaren Ivan IV. Wassiljewitsch - Ivan des Schrecklichen (> Grosny gemeinen Meinung Recke/Napiersky< im Hinblick auf wichtige Elemente in der Anlage und Auswahl der zu nennenden Namen und Biographien sowie zahlreicher Einzeldaten entschieden und grundlegend zugute gekommen. Es wird ständig auf ihn Bezug genommen, auch wenn im Vorwort nicht ausdrücklich auf dieses Vorbild hingewiesen wird. In der grundlegenden Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung, herausgegeben von Georg von Rauch (19041991) im Jahr 1986, ist hingegen von Heinrich Bosse sen. (1907-1996) in wünschenswerter Deutlichkeit auf die erheblichen Verdienste der Herausgeber des Allgemeinen Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikons für die flächendeckende livländische Geschichtsschreibung hingewiesen worden. Bosse zitiert aus dem Nekrolog auf Karl Eduard Napiersky, verfaßt vom Bibliothekar und Publizisten Georg Berkholz (1817-1886), veröffentlicht in den Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehstund Kurlands 1868'. Der damals etwa dreißigjährige Pastor Napiersky habe im Jahr 1823 vier Forderungen zur Erschließung der baltischen

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Georg Berkholz: Gedächtnisrede auf Carl Eduard Napiersky (1864).- In: Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands 11 (1868), S. 269-286.

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Landesgeschichte erhoben, die praktisch den Kreis des eigenen späteren Wirkens umrissen hätten: 1. ein möglichst vollständiges Schriftstellerlexikon. 2. die Herausgabe oder den Neudruck der alten Landeschroniken. 3. eine Publikation aller auf Alt-Livland bezüglichen Urkunden des Königsberger Ordensarchivs und 4. eine Regestenerfassung aller im Lande ruhenden Urkundenschätze.2 U m all die genannten Aufgaben hat sich der Landgemeindepastor und historische Autodidakt Napiersky (seit 1823 Staatsrat und damit nach der Rangtabelle adelig, w o v o n er zu Lebzeiten allerdings kaum Gebrauch machte) in einer so überzeugenden Weise gekümmert, daß ihm die Albertina in Königsberg im Jahr 1832, also im Alter von nur 39 Jahren, die Ehrendoktorwürde verlieh. 3 In Eduard Winkelmanns Bibliotheca Livoniae Historica aus dem Jahr 1878 sind ca. 100 Titel aus seiner Produktion genannt, kürzere Aufsätze wie dicke Bücher. 4 Zu Recht wird bei Bosse 5 erwähnt, daß Napiersky mit seinem Chronologischen Conspekt der lettischen Literatur aus dem Jahr 1831 mehr noch als Recke völliges Neuland erschlossen habe, wobei ihm seine guten lettischen Sprachkenntnisse zugute kamen, 6 nach Berkholz »ein bleibendes Denkmal dessen, was die protestantischen Prediger deutscher Nation fur die Bildung des Lettenvolkes zu tun verstanden haben«, und doch mehr, auch ein erster, auf Vollständigkeit bedachter Nachweis des bis dahin bekannten lettischen Schrifttums. 7 Eine 2

Vgl. Heinrich Bosse: Geschichtsschreibung des baltischen Biedermeier.- In: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Hrsg. von Georg von Rauch [u. a.].- Köln, Wien: Böhlau 1986 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart; 20), S. 103 -119, Zitat S. 110. 3 Zu Karl Eduard Napiersky (gelegentlich auch Carl, doch überwiegt das Κ klar), vgl. Deutschbaltisches Biographischen Lexikon. Hrsg. von Wilhelm Lenz.Köln [u. a.]: Böhlau 1970, [im folgenden: DBBL], S. 540-541. Seit 1823 war er Staatsrat und damit adelig nach der Rangtabelle. Das >von< scheint er zu Lebzeiten allerdings kaum gebraucht zu haben. DBBL verwendet das C in Karl, im Recke/Napiersky und in eigenen Werken heißt es Karl. Wir entscheiden uns danach für Karl. 4 Eduard Winkelmann: Bibliotheca Livoniae historica. Systematisches Verzeichnis der Quellen und Hilfsmittel zur Geschichte Estlands, Livlands und Kurlands. 2., verb. u. sehr verm. Aufl.- Berlin: Weidmann 1878 (Nachdruck: Hildesheim: Olms 1969), Zusammenfassung der verschiedenen Titel auf S. 584 (Recke) und S. 578-579 (Napiersky). 5 Bosse: Geschichtsschreibung des baltischen Biedermeier (Anm. 2), S. 111. 6 Chronologischer Conspect der lettischen Literatur von 1587 bis 1830 mit theilweiser Benutzung von Dr. K. G. Sonntag's handschriftlich hinterlassenen Notizen zur lett. Literatur von 1700 bis 1825.- Mitau: [o.V.] 1831. Zwei Fortsetzungen dieses Werkes erschienen 1844 in Riga und 1858 in Mitau. 7 Berkholz: Gedächtnisrede auf Carl Eduard Napiersky (Anm. 1), S. 273.

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vergleichbare Darstellung der estnischsprachigen Literatur und der übrigen Sprachzeugnisse gibt es aus dieser Zeit m.W. nicht. Es soll hier nicht darum gehen, die Editionen und Werke Reckes und Napierskys einzeln zu erfassen und zu charakterisieren. Gerade die Editionen und lexikalischen Werke könnten letztlich nur im Vergleich mit damals bereits existierenden anderen deutschsprachigen Urkundenbänden und Lexika in ihrer Qualität gerecht gewürdigt werden. Hier kommt es vielmehr nur darauf an, am Beispiel des Allgemeinen Schriftstellerund Gelehrten-Lexikons und seiner Entstehung herauszuarbeiten, wie Recke und Napiersky aus dem Lebenszusammenhang in Mitau bzw. im Pastorat Neu-Pebalg im lettischen Teil Livlands heraus ihre weitgesteckten wissenschaftlichen Ziele neben einer vollen Berufstätigkeit und im Angesicht einer wachsenden öffentlichen Meinung und Vereinstätigkeit erreichen konnten. Zwei Funde aus der Akademiebibliothek bzw. dem Historischen Staatsarchiv in Riga vermitteln besondere Einsichten über die Arbeitsverfahren, die Recke und Napiersky angewandt haben: zum einen befindet sich in der Akademiebibliothek ein um eigene handschriftliche Zusätze erheblich erweitertes gedrucktes Manuskript von Napiersky, das den Titel Fortgesetzte Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern, ein literar-historischer und bibliographischer Versuch trägt und im März 1823 der > Kurländischen Gesellschaft fur Literatur und Kunst < von ihrem neu hinzugewählten Mitglied Napiersky vorgelegt worden ist, gedruckt bei Steffenhagen in Mitau 1824.8 Der Titel knüpft unmittelbar an das Werk des Dorpater Bürgermeisters Friedrich Konrad Gadebusch aus dem Jahr 1772 Abhandlung von Livländischen Geschichtschreibern an, das Johann Friedrich Hartknoch in Riga verlegte. Dieses Werk von 1823/24 ist in bisherigen Arbeiten über livländische Geschichtsliteratur weitgehend übersehen worden und stellt doch wesentlich mehr dar als eine Etappe zum Recke/Napiersky von 1827-1832.

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Darunter steht: »von Karl Eduard Napiersky, Prediger von Neu-Pebalg in Livland, ordentlichem Mitgliede der kurl. Gesellschaft für Literatur und Kunst. Der kurl. Gesellschaft für Literatur und Kunst vorgelegt im März 1823. Mitau: J. F. Steffenhagen und Sohn 1824.« Den ersten Teil des umständlichen Titels hat Napiersky handschriftlich umgewandelt in: »Von livländischen Geschichtsschreibern, Fortsetzung der Abhandlung F. K. Gadebusch's von denselben«. Ob an eine Neuauflage unter dem neuen Titel gedacht war, konnte nicht geklärt werden. Gadebusch hat zwei besonders wichtige Titel zur Geschichtsschreibung veröffentlicht: Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern [!].Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1772 (270 S.) und Livländische Bibliothek nach alphabetischer Ordnung. Theil I-III.- Riga: Johann Friedrich Hartknoch 1777. Das letztgenannte Werk umfaßt 1212 Seiten.

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Zum anderen konnten der Nachlaß von Karl Eduard Napiersky und einzelne Fonds mit Hinweisen auf Johann Friedrich von Recke im Historischen Staatsarchiv durchgearbeitet werden. Sie vermitteln eine Vorstellung von der Arbeitsweise, den Zielsetzungen und den Schwierigkeiten, mit denen die Herausgeber des Schriftstellerlexikons fertig zu werden hatten.9

1. Als beide Herausgeber des Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikons im Jahr 1823 ihre persönliche Korrespondenz begannen, ohne sich von Angesicht zu Angesicht zu kennen, stand Johann Friedrich von Recke bereits am Ende seiner beruflichen Laufbahn und war 59 Jahre alt.10 Einwandfrei kann nunmehr nachgewiesen werden, daß Recke der Erfinder des Titels Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon war. Nach den Revaler Nachrichten vom 15. März 1815 wollte er, aufbauend auf den Werken von Friedrich Konrad Gadebusch (1719-1788) und den Nachträgen und Ergänzungen dazu in den Werken von August Wilhelm Hupel (1737-1819) und Johann Christoph Schwartz (1722-1804), die lexikalische Arbeit weiterfuhren, zu einem Ganzen verarbeitet, mit Berichtigungen, Ergänzungen und Fortsetzungen bis auf die neueste Zeit. Die biographischen Notizen werden freilich nicht die zuweilen nur zu ausfuhrliche Weitläufigkeit Gadebuschs haben, aber auch nicht die Kürze des Meuselschen gelehrten Deutschlands, sondern eine Mittelstraße halten, ungefähr wie Meusels Lexikon der seit 1750 verstorbenen Schriftsteller.11

Ausdrücklich wird darauf verwiesen, daß Recke von Anfang an mit Zuschriften von »Freunden der Literatur « rechne, »wenn sie auch nur eine einzelne Katheder-Abhandlung, eine Predigt, oder einen Journalaufsatz in Druck gegeben haben«. Ein kurzer Lebenslauf und ein vollständiges Verzeichnis der Schriften »mit Angabe des Druckortes, des Jahres und Formats« sollten Recke oder in Livland dem Generalsuperintendenten Karl Gottlob Sonntag (1765-1827) sowie in Dorpat dem Gouvernementsschulrat August Albanus (1765-1839) oder dem Beständigen Sekretär der Livländischen Gemeinnützigen und Ökonomischen Societät, 9

Zum Nachlaß Napierskys vgl. Fond 5759, Findbuch 2, Aktennummer 387 (5759, 2, 387) im Historischen Staatsarchiv Lettlands in Riga (Latvijas valsts vestures arhTvs [LVVA]). 10 Über Johann Friedrich von Recke vgl. DBBL, S. 611 -612. 11 Vgl. Revaler Nachrichten vom 15. März 1815, S. 258-259. (Freundliche Mitteilung von Henning von Wietinghausen).

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Andreas von Löwis of Menar (1777-1839), übersandt werden. Als mögliche Anlaufstelle genannt wird auch bereits der Student der Rechtswissenschaft, Woldemar von Ditmar (1794-1826), der später ein regelmäßiger Mitarbeiter wurde.12 Wie Karl Otto Schlau (1920-2001) in seinem ausgezeichneten Buch über Mitau im 19. Jahrhundert herausgearbeitet hat, war Recke der Sohn eines Kaufmanns und Bürgermeisters aus alteingesessener Mitauer Familie und hieß ursprünglich Johann Reck. Er hatte in den Jahren 1779 bis 1781 die 1775 gegründete akademische Lehranstalt >Academia Petrina< besucht und 1781-84 in Göttingen Jura und Geisteswissenschaften vor allem bei August Ludwig von Schlözer (1735-1809) und dem Altphilologen Christian Gottlob Heyne (1729-1812) studiert.13 Eine verwaltungsjuristische Tätigkeit und Laufbahn in Mitau Schloß sich an, u. a. als Mitredakteur der Kurländischen Bauernverordnung von 1817, die die persönliche Bauernbefreiung bei gleichzeitiger Beibehaltung des Systems der Fron- oder Arbeitspacht zum Ziel hatte. Im Jahr 1818 hat er bei der Aufhebung des piltenschen Landesstaats mitgewirkt.14 Zuletzt war er stellvertretender Vizegouverneur von Kurland, wurde aber wegen der lange Zeit unentdeckt gebliebenen Defraudation eines Untergebenen 1826 aus dem aktiven Dienst entlassen, erst nach einigen Jahren rehabilitiert und, wie es zeitgenössisch so schön hieß, wegen »ausgedienter Jahre« schließlich in Ehren pensioniert.15 Recke erhielt in Anerkennung seiner Verdienste um die Wissenschaft die Ehrendoktorwürde der Georgia Augusta im Jahr 1834 und war, als ältester Student dieser Universität, Deputierter der Kurländischen Ge12

Vgl. ebd. - Zu Hupel und Schwartz vgl. DBBL, S. 349 bzw. 712-713, zu den übrigen genannten Mitarbeitern vgl. ebenfalls DBBL. 13 DBBL und Karl Otto Schlau: Mitau im 19. Jahrhundert.- Wedemark-Elze: Hirschheydt 1995 (= Beiträge zur baltischen Geschichte; 15), bes. S. 281 -282. Ergänzend: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hrsg. von Hartmut Boockmann und Hermann Wellenreuther.- Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (= Göttinger Universitätsschriften, Serie A; 2). Zur Universitätsgeschichte auch Boockmanns posthum erschienenes Werk: Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität.- Berlin: Siedler 1999, bes. S. 174-183. 14 DBBL und Anonym [Henning von Wietinghausen]: Das Herzogtum. Das Stift Pilten.- In: Kurland und seine Ritterschaft. Hrsg. von der Kurländischen Ritterschaft. Bildteil von Georg von Krusenstjern.- Pfaffenhofen/Ilm: Ludwig 1971, S. 6-26, 26-36. 15 Vgl. Gedächtnisfeier Johann Friedrichs von Recke in der öffentlichen Versammlung der kurländischen Gesellschaft fur Literatur und Kunst am 19. December 1846. Mit Reckes Bildniß in Steindruck.- Mitau: [o.V.] 1847, S. 3 - 1 9 , (LVVA, Fond 4011, 1, 4578 (58-68)) sowie Das achtzigjährige Geburtstagsfest des Herrn Staatsraths und Ritters Dr. Joh. Friedrich v. Recke in Mitau.- In: Das Inland 9 (1844), No. 30, S. 472-476 (LVVA, ebd.).

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sellschaft für Literatur und Kunst bei der Einhundert-Jahr-Feier der Universität 1837 in Göttingen, wo er von König Ernst August von Hannover, geboren 1771, persönlich besonders geehrt wurde. Ernst August ließ ihn vor allen Gästen und Ehrengästen persönlich zu sich rufen und erinnerte sich im kurzen Gespräch besonders an George Baron Fölkersahm (1766-1848), den Vater des Bauernreformers Hamilcar Baron Fölkersahm (1811-1856). Mit ihm hatte er gemeinsam in Göttingen Ende der 1780er Jahre juristische Vorlesungen belegt.16 Von wesentlich größerer Bedeutung als sein Verwaltungsdienst war für die Zeitgenossen in Mitau wie für die Nachwelt allerdings Reckes ehrenamtliche Tätigkeit als Direktor der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst und Begründer und Direktor des Kurländischen Provinzialmuseums.17 Die Collectanea des Provinzialmuseums umfaßten verschiedene Haushalts- und Wirtschaftsgeräte sowie ein Herbarium mit 7000 Arten, das den Anfang einer naturwissenschaftlichen Sammlung bildete. Dem Münzkabinett des Provinzialmuseums hat Recke seine ganze Sammlung kurländischer Münzen geschenkt, über die er in Köhnes Zeitschrift für Münz-, Siegel- und Wappenkunde im sechsten Jahrgang berichtet hat (S. 1 -27). Eine Portraitsammlung, u. a. mit Bildnissen sämtlicher kurländischen Herzöge, kam hinzu. Das Archiv des Museums enthielt schließlich die gesamte Manuskriptensammlung aus der Feder Reckes sowie seit 1833 als Depositum der Kurländischen Ritterschaft in 15 Bänden die abschriftliche Urkundensammlung aus dem Königsberger Ordensarchiv, die zwischen 1809 und 1816 auf Kosten der Ritterschaften unter Leitung von Dr. Ernst Hennig (1771 -1815) angelegt worden war. Im Nekrolog, den Napiersky für den verstorbenen Freund im dritten Band der Sendungen der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst 1847 abdrucken ließ, wird ein Tugendkatalog aufgestellt. Damit sollte klargestellt werden, daß Recke andere, mit ihm eng befreundete Privatgelehrte seiner Zeit jeweils unbedingt in allen genannten Eigenschaften überragte, indem er sie alle in sich verkörperte: den »gelehrten« Professor für Naturgeschichte und Physik und zeitweiligen Prorektor an der >Academia Petrina< und zugleich praktizierenden Arzt, Johann Wilhelm Groschke (1760-1828), den »scharfsinnigen« Historiker am 16

Vgl. DBBL, S. 220-221. Zum anschaulichen Bericht Reckes über die 100-JahrFeier in Göttingen: Gedächtnisfeier fur Recke (Anm. 15), Anm. 42, S. 15-17. 17 Wilhelm Schlau (1886-1978), Ehrenmitglied der Baltischen Historischen Kommission seit 1953 und Vater des bereits erwähnten Karl Otto Schlau, war selbst noch Mitglied der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst in Mitau und 1921-1936 deren Präsident. Seine Publikation, Die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst und das Kurländische Provinzialmuseum.In: Baltische Hefte 14 (1968), S. 5-107, ist neben den erwähnten Nachrufen und Festberichten auch für das Folgende grundlegend.

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Gymnasium Illustre in Mitau, den aus Königsberg gebürtigen Karl Wilhelm Cruse (1765-1834), den »geselligen« Mitauer Bankier Johann Friedrich (von) Berner (1757-1824), den »milden« Friedrich von Adelung (1768-1843), zeitweilig Titularrat der Statthalterschaftsregierung in Mitau, den »beweglichen« Christoph von Schlözer (1774-1832), Professor der Staatswirtschaft in Moskau, später in Bonn, und Sohn des berühmten Göttinger Professors August Ludwig von Schlözer, den »eifrigen« Georg Friedrich von Sahlfeldt (1769-1817), zeitweilig Professor für Beredsamkeit am Gymnasium Illustre und später Oberhofgerichtsadvokat in Mitau und Prokureur in St. Petersburg, weiterhin den »fleißigen« Carl Friedrich Watson (1777-1826), Pastor zu Lesten in Kurland und engagierter Mitarbeiter in der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst und in der >Literärisch-praktischen Bürgerverbindung < in Riga, sowie schließlich den »unermüdeten« Prediger, Lehrer, Archivar und Professor der Geschichte, vornehmlich in Königsberg, Ernst Hennig (1771-1815). 18 Mit den Genannten verband Recke eine innige persönliche Beziehung oder Brieffreundschaft. In seinen Wöchentlichen Unterhaltungen für Liebhaber deutscher Lektüre in Rußland, die Recke zwischen 1805 und 1807 und dann noch einmal 1808 herausgab, einer Wochenschrift, die gleichermaßen in »unseren Provinzen« wie auch in der Hauptstadt des Reiches, St. Petersburg, Anklang fand, habe er ein Forum für die vaterländische Literatur geschaffen, wobei mit >vaterländisch < hier in erster Linie auf Kurland Bezug genommen wird. Zwei kurländische Landprediger hätten u. a. in dieser Wochenschrift über den damaligen Modephilosophen Schelling gestritten. Im übrigen habe Recke allerdings »das Bittere und Unanständige gelehrter Klopffechtereien« zu verhüten gewußt. Abgebrochen wurde diese Zeitschrift durch den französischen Krieg, denn »Inter arma silent musae«. 1812 und nochmals 1814 habe Recke das später auch nach ihm benannte Schriftstellerlexikon angeregt. Es sei jedoch erst zustandegekommen, als sich in Livland ein entsprechender Partner - nämlich Napiersky selbst - gefunden habe. Gerade im Hinblick auf die »akademischen Klopffechtereien« ist es reizvoll, Napierskys Rückblick von 1847 auf die gemeinsame Tätigkeit

18

Auch für das Folgende Napierskys Nachruf auf den verstorbenen Freund: Gedächtnisfeier (Anm. 15), S. 5 - 1 9 , Zitate S. 9 - 1 0 . Zu den einzelnen Lebensläufen: DBBL und Recke/Napiersky. Ernst Hennig war maßgeblich beschäftigt mit den Abschriften der in Königsberg im Geheimen Ordensarchiv befindlichen, Livland, Estland und Kurland betreffenden Urkunden, die auf Kosten der Ritterschaften, insbesondere der Kurländischen Ritterschaft, dort getätigt wurden, vgl. auch Recke/Napiersky II (1829), S. 232.

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seit 1823 mit der Korrespondenz der beiden Herausgeber seit demselben Jahr 1823 zu vergleichen. Es war der Anschluß eines gleicher Bestrebung hingegebenen Freundes in der Nachbarprovinz Livland, welcher Recken bestimmte, seinen lange genährten und vorbereiteten Plan nun auch wirklich in Ausführung zu bringen. Die Theilung der Arbeit geschah in der Art, daß der eine die Artikel der Kurländer und diejenigen Ausländer, welche hier oder über unsere Zustände geschrieben, der andere die der Liv- und Ehstländer, zur Bearbeitung übernahm, so jedoch, daß einer dem andern das ihm vorräthige und zugängliche Material mittheilte. Das gemeinschaftliche Arbeiten, die gegenseitige Unterstützung, das bei der ernsten Beschäftigung sich immer fester schlingende Band der Freundschaft, die vielfache Berührung mit auswärtigen Gelehrten, die Uneigennützigkeit und Ausdauer des Verlegers - Steffenhagen - Alles vereinigte sich, um Recken die Arbeit immer angenehmer zu machen. 19

De facto ist diese Kooperation nicht ganz frei von Irritationen gewesen, wie aus der Korrespondenz zwischen Napiersky und Recke hervorgeht.20 Der Abstand war am Anfang naturgemäß recht groß. Der fast dreißig Jahre jüngere Napiersky redete Recke brieflich zunächst mit »Herr Staatsrath und Ritter« oder »Hochverehrter Gönner« an. Ihm hatte er die Aufnahme in die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst im Jahr 1823 zu verdanken. Recke war ihr Begründer und seit 1827 Beständiger Sekretär dieser 1815 gegründeten Mitauer Gesellschaft; er war es, der Napierskys bereits erwähnte Publikation Fortgesetzte Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern als Entree fur die Aufnahme zum ordentlichen Mitglied 1823 annahm. Daß Napiersky sie der Kurländischen Gesellschaft vorlegte, wurde im übrigen auf dem Titelblatt ausdrücklich vermerkt.21 In einem Brief an Recke vom 12. Juni 1823 geht Napiersky nur knapp auf seine personen- und sachorientierte chronologische Darstellung der neueren Bemühungen um die Geschichte der livländischen Geschichtsliteratur seit dem 13. Jahrhundert ein, beginnend mit Dietleb von Alnpeke, Der Riterlichen meister und Bruder zu Liefland geschieht

19 20

21

Alle Zitate: Gedächtnisfeier (Anm. 15), S. 13-14. Das Folgende beruht, wenn nicht anders bezeichnet, auf Archivrecherchen in Riga im Historischen Staatsarchiv (LVVA), vgl. Nachlaß Napiersky, Fond 5759, 2, 387. Ebd., Briefe Napierskys an Recke vom 12. und 23. Juni 1823. Die genannte, 175 Seiten lange bei Steffenhagen in Mitau gedruckte Schrift Napierskys, die dem Verf. mit handschriftlichen Zusätzen des Autors vorliegt, bedarf einer eigenen Würdigung, die sich Verf. an anderer Stelle vorbehält.

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[...], herausgegeben von Liborius Bergmann 1817.22 Nach seiner Aufnahme bittet Napiersky seinen Mentor Recke in einem Brief vom 23. Juli 1823 um ein Vorwort für die Drucklegung des Werkes bei Steffenhagen und Sohn in Mitau; Recke möge doch bitte nicht aus Bescheidenheit ablehnen. Diesen Gefallen hat Recke dem jungen Autodidakten jedoch nicht getan, so daß Napiersky selbst ein kurzes Vorwort verfassen mußte, in dem er knapp auf den Fleiß und die Verdienste Gadebuschs in seinem Werk von 1772, der Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern, aber auch auf Lücken verwies, die für Livland, soweit möglich aber auch für Estland und Kurland, zu schließen seien. Ziel der Darstellung sei nicht die Überarbeitung der »Nachrichten über alle gedruckten und handschriftlichen Hilfsmittel zur Geschichte der ehemaligen hiesigen Ordensländer«, wie Friedrich Konrad Gadebusch dies fünfzig Jahre zuvor versucht habe; Napiersky wolle vielmehr vor allem den »Zuwachs« an Literatur über »die Geschichtskunde dieser Provinzen« näher untersuchen und dabei, Gadebusch ergänzend, mögliche Vollständigkeit und Genauigkeit erreichen. Ziel ist die Erfassung des neueren Schrifttums über die livländische Geschichtsliteratur; erst in zweiter Linie geht es um kurze inhaltliche Charakteristiken und knappe biographische Angaben zu neu hinzugekommenen Autoren. Mit diesem Konzept stand er nicht weit entfernt von Reckes Vorstellungen von 1815. Seine Einteilung ist jedoch in der Anlage nach Paragraphen Gadebusch nachempfunden, in der Durchführung allerdings knapper angelegt und ganz eigenständig. Im ersten Teil (Paragraph 1 23, S. 1-60) will er Schriftsteller berücksichtigen, »die das Ganze oder größere Teile der livländischen Geschichte bearbeitet haben«. Dabei werden eine Reihe von Autoren und Werken genannt, die in der Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung von 1986 nur knapp genannt wurden.23 Im zweiten Teil (Paragraph 24-32, S. 61-161) geht es um » Schriften, die einzelne Theile unserer Geschichte und ihre Hülfswissenschaften betreffen«, also um Zeitschriften (S. 61-74), Werke zur Gesetzeskunde der Ostseeprovinzen (S. 74-89), Topographie (S. 89101), Alterthumskunde (S. 101-116), Inländische Literargeschichte (S. 116-131), Kirchen- und Predigergeschichte (S. 132-136), Adelsgeschichte (S. 136-139), Biographien (S. 139-149) sowie um Vermischte historische Schriften (S. 149-152). Ein Schlußwort (S. 152-160) sowie

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Pastor Liborius Bergmann (1754-1823, seit 1787 >von Bergmann eingeklemmt < und überholt erschien. Das trifft insofern nicht zu, als Napiersky hier eine Fülle von Charakterisierungen vornimmt, die sich im Recke/Napiersky offenbar unter dem Einfluß von Johann Friedrich von Recke so nicht wiederfinden. Das prominenteste Beispiel ist Garlieb Merkel (1769-1850). Bei seiner Aufnahme in die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst mißfielen Napiersky besonders zwei weitere Mitglieder, die vor ihm aufgenommen worden waren, nämlich der Schwiegersohn des Landrats Carl Otto von Löwenstern (1755-1833) und ehemalige Gesandte des bayerischen Kurfürsten und späteren Königs Max Josef in St. Petersburg, Graf Francis Gabriel de Bray (1765-1832) - sowie Garlieb Merkel (1769-1850). 24 In einem Brief vom 18. Oktober 1823 teilte Napiersky dem in Mitau lebenden Recke aus Neu-Pebalg mit, daß ihm Graf de Bray und Merkel »Empfindlichkeit« bereiteten: Ich muß gestehen, daß diese bei mir sehr groß ist; nach den lauten und öffentlichen Schmähungen von Merkel und de Bray über den livländischen Predigerstand muß man es ja für eine Schande fast halten, diesem Stand anzugehören, wen nicht das eigene Gewissen erhöbe. Vor den Leuten hat man aber nun den Flecken weg; daher halte ich es für Pflicht, dass man sich freimüthig dagegen äußern müsse; denn es liegt bei de Brays Verfahren gar viel Boshaftes und Hämisches versteckt, und ich kann die Quellen gut errathen, wo er den Predigerhaß her hat.

Dies kann wohl nur als Anspielung auf Merkel und seine Veröffentlichungen seit den Letten verstanden werden. Am 28. Mai 1824 äußerte sich Napiersky brieflich wieder über Merkel, der ganz offensichtlich Napierskys gerade erschienenes Buch Fortgesetzte Abhandlung von livländischen Geschichtschreibern in einer 24

Über de Bray vgl. Bosse: Geschichtsschreibung des baltischen Biedermeier (Anm. 2), S. 105; Manfred Hellmann: Karl Gottlob Sonntag und der Gesandte Bayerns in St. Petersburg, Graf F. G. de Bray.- In: Reval und die baltischen Länder. Festschrift für Hellmuth Weiss zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen von Hehn und Csaba Jänos Kenez.- Marburg/Lahn: Herder-Institut 1980, S. 459-471, sowie Manfred Hellmann: Ein bayerischer Diplomat als Geschichtsschreiber Livlands.- München: Bayerische Akademie der Wiss. 1978 (= Bayerische Akademie der Wiss., Sitzungsberichte, philosophisch-historische Klasse; 3).

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vom Verfasser noch nicht gefundenen Rezension - möglicherweise im Zuschauer, da auf die nicht-literarische Richtung des Blattes verwiesen wird - verrissen hatte. Karl Wilhelm Cruses Anzeige seines Werkes habe ihm am meisten zugesagt, Karl Gottlob Sonntags - seines Freundes Hinweis habe ihm dagegen gar nicht gefallen. Ms. [Merkels] Gebelle hat mich ganz ruhig gelassen. Ich habe ihn angegriffen, und er hat sich auf seine Weise vertheidigt.

Ein Tadel aus Merkels Feder, so schreibt Napiersky, gilt ja unter uns so viel wie ungangbare Münze. Fast glaube ich nicht zu irren, wenn ich mir vorstelle, daß mein Buch ihn bewogen hat, der Litteratur wieder in seinem doch eigentlich fur einen ganz andern Zweck und andere Zirkel berechneten Blatt mehr Aufmerksamkeit zu widmen, aber macht sich dabey lächerlich und verächtlich ζ. B. durch seine Vergleichung mit Lessing und seine Schmeicheley gegen Morgenstern. Doch genug! Schon habe ich zu viel über diesen unbedeutenden Gegenstand gesagt.

In der Tat hatte Napiersky in seiner Fortgesetzten Abhandlung von Inländischen Geschichtschreibern den gesamten Paragraphen 21 Garlieb Merkel gewidmet und sich keineswegs freundlich über ihn geäußert. »Der Verfasser hat es besonders mit dem ursprünglichen Zustande der hiesigen Landbewohner zu tun«, schrieb er über Merkels Buch Die Vorzeit Livlands, ein Denkmal des Pfaffen- und Rittergeistes von 1798. Mit besonderer Zurückhaltung weist er auf Merkels bekannte Titelvignette hin, die »den von zwey Schlangen umwundenen und mit ihnen kämpfenden Laokoon« darstellt. Die umschlingenden Schlangen symbolisieren deutlich die livländische Ritterschaft und Geistlichkeit. Das Gesamturteil über Merkel als Wissenschaftler fällt wenig schmeichelhaft aus: der »privatisirende Gelehrte«, Merkel, habe kein Verhältnis zur historischen Wahrheit: »Sein bekanntes Buch: Die Letten [...] kann wohl schwerlich unter der Rubrik historische Schriften aufgeführt werden«. Ausnahmsweise zustimmend zitiert er de Bray mit seinem Essai critique III, 323: »Ce livre est moins un plaidoyer pour les paysans qu'un factum contre la noblesse« - »et contre le clerge, muß man hinzufugen«, setzt Napiersky hinzu und bezieht sich auf Merkels Selbstdarstellung in dessen Zeitschrift für Literatur und Kunst von 1811 mit allen Anzeichen innerer Ablehnung: Merkel habe sich selbst der »Parteylichkeit« bezichtigt und für sich angeführt, daß er nicht Geschichte geschrieben habe, sondern, »um die Stimme des Publicums für gewisse Reformen zu gewinnen«:25 »Der alte ehrwürdige Schlözer, der wohl über nordische Ge25

Vgl. Karl Eduard Napiersky: Fortgesetzte Abhandlung von livländischen Geschichtschreibem (Anm. 8), S. 49-53, Zitate S. 49 und 51.

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schichte ein Wort mitreden konnte, hat es [Merkels Letten] einen Roman genannt«.26 An de Brays Schrift Memoire de la Livonie von 1813 sowie an dessen schon erwähntem Essai critique sur l'histoire de la Livonie von 1817 hat er vor allem die Invektiven gegen die livländische Geistlichkeit im Visier, die durch Übernahmen aus Merkels Letten untermauert werden sollten und dadurch in Frage stellten, ob »mit der einem Historiker geziemenden Würde« geurteilt worden sei.27 Merkel selbst hat rückblickend herausgearbeitet, daß er namentlich in Livland bei Angehörigen der Ritterschaft und in der Geistlichkeit wegen seiner Kritik an beiden Gruppen seit den Letten von 1797 jede Chance auf Zustimmung verloren habe.28 Seine Geschichte meiner ließändischen Zeitschriften, verfaßt im Jahr 1840, ist voller Galle gegen seine Gegner in Livland, besonders gegen Napiersky und den Herausgeber der Dörptschen Jahrbücher, Friedrich Georg von Bunge (1802-1897); an beiden wird kein gutes Haar gelassen. Der Herausgeber dieser späten Abhandlung Merkels, der Historiker und langjährige Mitarbeiter der Baltischen Monatsschrift, Heinrich Diederichs (1840-1914), führt im Jahr 1898 rückblickend die ganze Polemik Merkels auf dessen »gehässige Animosität«, »maßlose Eitelkeit« und »unglaubliche Selbstüberhebung« zurück (S. 189), mit der der »stets nur Journalist« Gewesene (S. 185) tief »in wisenschaftlicher Beziehung« unter diesen beiden Gegnern, Bunge und Napiersky, gestanden habe. Merkels Chiffre »A.D. - tz«, über deren Identität nicht lange gerätselt wurde, sei in Riga mit dem Bonmot »Alter dummer Witz« lächerlich gemacht worden. Heinrich Diederichs übersieht jedoch, daß Merkels Herabsetzung von Gegnern durchaus Methode hatte. Er polarisierte Feinde und Freunde. Napiersky, der »Pedant« und Protege des als pietistisch und damit antiaufklärerisch eingeschätzten Dorpater Rektors Gustav von Ewers (1781 1830) in den 1820er Jahren, der ihm, dem Landpfarrer, die Zensur aller periodischen Zeitschriften Livlands zugeschoben habe, sei nichts als ein Schmeichler gewesen: »wir waren Feinde, sobald wir aufeinander trafen« (S. 297). Nicht besser wird Bunge beurteilt. Er habe sich sehr bemüht, Gelehrte aus St. Petersburg fur seine Dörptschen Jahrbücher von 26

27 28

Ebd., S. 51 (mit handschriftlichen Einschüben Napierskys). Immerhin macht die Auseinandersetzung mit Merkels Schriften Die Vorzeit Livlands (1798), Die Letten (2. Aufl., 1800), und Die freyen Letten und Ehsten (1820) deutlich, daß Napiersky bemüht ist, den Inhalt korrekt wiederzugeben und auch abgelegene Rezensionen aufzusuchen, (vgl. ebenda). Über Franz Gabriel Graf de Bray ebd., Paragraph 22, S. 54-58, Zitat S. 57. Vgl. Garlieb Merkel: Die Geschichte meiner liefländisehen Zeitschriften. Hrsg. von Heinrich Diederichs (1840-1914).- In: Baltische Monatsschrift 45 (1898), S. 185 -210 und 281-303. (Freundliche Mitteilung von Hans Graubner, Göttingen).

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Merkels Provinzialblatt abzuwerben. Mancher gute Artikel sei zu Bunge gewandert, aber »seine eignen Arbeiten starrten von trockener Professoren-Majestät« (S. 300). Zusammen mit Bunge habe Napiersky als Zensor und Mitherausgeber der Wochenzeitung Das Inland (erschienen 1836-1863) zugleich - ein Skandal, gegen den Merkel aus Stolz nichts unternommen habe - seinem Provinzialblatt seit 1827 andauernd Konkurrenz gemacht und dabei ständige Verdächtigungen gegen den Herausgeber Merkel ausgestreut (S. 301). Recke hingegen hat Merkel wie den um Vermittlung bemühten Karl Gottlob Sonntag, ja auch den Generalgouverneuer Marquis Filipp Osip. Paulucci (1779-1849), zu seinen Freunden rechnen können. In einem undatierten Brief Reckes an Napiersky findet sich wohl aus dem Jahr 1828 eine sehr deutliche Verteidigung Merkels.29 Über Merkel, diesen ausgezeichneten Schriftsteller, will Recke nichts Unwahres gelten lassen. Vielmehr bedauert er ausdrücklich, daß Merkel kein Kurländer sei: Uebrigens würde ich ihn mit Freude unter meine Landsleute aufnehmen, denn mir scheint es, daß auch wir Curländer ihm viel zu danken haben. Er war und bleibt der erste, der die Sache der Leibeigenschaft der Bauern anregte, die durch des Monarchen Gerechtigkeit ein so erwünschtes Ende nahm.

Napiersky antwortete am 1. August 1828 nicht weniger deutlich: Gegen Dr. Merkel nehmen Sie mehr Rücksichten als der Mann verdient; ich will indeß nicht sagen, was er verdient. Sie würden anders über ihn denken, wenn Sie ein Livländer wären. Wir dürfen uns zu seiner Landsmannschaft keineswegs gratulieren.

Der Streit um die Person Garlieb Merkel trennte die beiden Herausgeber des entstehenden Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikons nicht, zeigt aber deutlich, daß Recke der Partei der Aufklärer und der Reformer näher stand als Napiersky, für den Konfessionstreue und Besinnung auf überkommene Werte der oberste Maßstab waren. 2. Im übrigen zeigt die Korrespondenz, wie mühsam die Zusammenarbeit über die Grenze zwischen Livland und Kurland hinweg zeitweise wegen postalischer Schwierigkeiten, aber auch wegen vielfältiger sonstiger Hindernisse gewesen sein muß: »Habe es im geschäftigen Stadtleben 29

Nachlaß Napiersky, LVVA, 5759, 2, 387. Auch für das Folgende.

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stets mit Störungen von 1000 Narren zu thun«, schrieb Recke keineswegs > milde Gymnasium academicum< (seit 1804 Gymn. illustre)]: Gelegenheitsreden von Kur- und Liefländischen Predigern.- Königsberg: Unzer 1809, schließlich Johann Heinrich Rosenplänter [Geistlicher und Sprachforscher]: Beyträge zur genauen Kenntnis der ehstnischen Sprache. Heft 1-20.- Pemau: Rosenplänter; Reval Bornwasser 1813-1832). Mit Ausnahme von Rosenplänter sind alle Genannten bereits bei Napiersky: Fortgesetzte Abhandlung (Anm. 8) erwähnt, alle finden sich auch im Recke/Napiersky, sowie - mit Ausnahme von Kaffka - im DBBL.

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müsse man »ganz durchgehen«, was wohl heißt, daß man eine Kontrolle der Darstellung im Detail nicht umgehen könne. Er werde wohl hinfahren müssen. Napiersky hoffe, daß das einfache Auftreten des Landpredigers den Mitauer Grandsigneur Recke nicht irre gemacht habe. »Wir sind sehr weit voneinander, doch nur dem Räume nach«. Diese harmonisierende Bewertung der bisherigen Zusammenarbeit trotz aller altersmäßigen, sozialen und weltanschaulichen Unterschiede kann Recke nicht unbedingt teilen. Vielmehr versucht er ständig, seinen Partner zu sachlichen und textlichen Straffungen anzuregen. Der Tag der Ordination sei bei Predigern überflüssig anzugeben; estnische und lettische Titel sollten nur deutsch angegeben werden (wonach sich Napiersky erfreulicherweise nicht gerichtet hat), Buchformate seien jedoch zu nennen.34 Als es schon um die letzten Bände geht, am 13. April 1828, schreibt Recke, daß er »alle Auswüchse unbarmherzig weggeschnitten« habe; er könne es kaum übers Herz bringen, Napiersky wiederholt daran zu erinnern, daß das Werk nicht zu dick werden dürfe: »Auch bei Ihren Artikeln im Buchstaben R habe ich der Verschiedensten nicht geschont und manchen ganz verwiesen. Wie konnten Sie einem gewissen Dr. Reinfeldt eine ganze Seite gönnen?« - er kriegt tatsächlich nur vier Zeilen »Was können wohl die kleinsten Lebensumstände eines solchen Mannes interessieren?«, fragt Recke streng. Im übrigen müsse der Artikel >Heinrich 3 Adolphi< verbessert werden, »da der gute Mann, geboren 1683, doch wohl nicht schon 1691 in Leipzig wird disputiert haben«. 35 Napiersky versucht sich zu wehren; er sei nicht empfindlich, aber er könne Recke von »einer gewissen Willkürlichkeit« bei Streichungen nicht freisprechen. Er würde »nicht ganz grundlos« urteilen, schreibt er am 30. April 1829 an Recke: »Ich bitte Sie, mir das eine kleine Aime zu gönnen, das mühsam Zusammengesuchte, das diesem oder jenem unserer Leser nicht ganz gleichgültig seyn dürfte, doch nicht so ohne Weiteres von der Hand zu werfen«. Manches sei doch nicht »Spreu«, »und nicht mit dem Vorwurf der Mikrologie zu beschweren«. Napiersky kämpfte auch um einzelne Namen: Salzmann könne Platz beanspruchen, da er mit einer Dissertation über Livland promoviert worden sei. Geholfen haben diese Einwände nicht. Ein promovierter Salzmann ist ins Lexikon nicht aufgenommen worden und auch bei Winkelmann nicht nachweisbar. Allerdings kommt gelegentlich auch Kritik an fehlender Gründlichkeit: »Morgensterns Biographie ist im 3. Band besonders gegen anderes Gesindel gerechnet sehr mager ausgefallen: nicht einmal seiner gelehrten Reisen wird mit einem Worte erwähnt. Läßt sich nach34 35

Recke an Napiersky vom 7. April 1824. Der Fehler bleibt stehen, vgl. Recke/Napiersky I (1827), S. 13.

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holen?« Napiersky antwortet knapp, aber einsichtig und ergeben, daß er den Artikel Karl Simon Morgenstern (1770-1852), des bedeutenden Dorpater Altphilologen, habe ausbauen lassen.36 Napiersky antwortet überhaupt niemals beleidigt, sondern immer mit Äußerungen der Zuneigung und > umarmt < Recke brieflich zunehmend herzlicher. 1829 zog er endlich nach Riga und wurde Direktor des Gouvernementsgymnasiums. Er habe auf dem Land in der Gefahr gestanden, der Hypochondrie und Schwermut zu verfallen, und freue sich über alle positiven Stimmen über die bereits erschienenen beiden Bände: »Ihnen gebührt die Anerkennung, das Ihrem Vaterland gegeben zu haben mein Theil war nur das der Beyhülfe«. 37 Der Druck der folgenden Bände müsse allerdings schneller erfolgen. Recke antwortet schließlich recht gnädig: Napiersky solle ihn bald besuchen »mit einer überraschenden Umarmung«. 38 Hierin drückt sich die Freude darüber aus, daß das vierbändige Werk 1832 zum Abschluß gekommen ist, allerdings noch ohne die »Nachträge und Fortsetzungen« des fünften Bandes (1859/61), den Recke nicht mehr erlebt hat. Zu Beginn der dreißiger Jahre arbeitet Napiersky intensiv an Band III, erschienen 1831, sowie gleichzeitig am Conspectus der lettischen Literatur, der 1832 erscheint und hier in seiner Komplexität und Qualität nicht gewürdigt werden kann. Seine erhebliche Arbeitskraft in diesen Jahren spiegelt sich im Briefwechsel wider. Insgesamt konnten etwa sechzig Briefe vornehmlich aus dem Nachlaß Napierskys durchgesehen werden. Sie zeigen im Innenverhältnis eine deutliche persönliche Überlegenheit Reckes, der die Richtung bestimmte und maßgeblich dafür verantwortlich war, daß niemand außer den beiden Herausgebern Einfluß auf die Gestaltung der Bände erhielt, auch nicht der Verleger Steffenhagen, der in den Augen Reckes eine ausschließlich dienende Funktion einzunehmen hatte.39

36

37 38 39

Reckes Brief vom 12. April 1829, Napierskys Antwort vom 30. April 1829. Der Artikel Morgenstern ist ausgesprochen umfangreich geworden, vgl. Recke/Napiersky III (1831), S. 247-265. Er wurde offenbar von Karl Eduard Raupach (1793 -1882), einem Theologen und Literaten, verfaßt. Über diesen vgl. DBBL, S. 608-609. Napiersky schreibt am 7. November 1829 nicht ohne Schadenfreude, daß Raupachs Artikel über Morgenstern lang sei: »Sie erhalten von ihm mehr als Ihnen lieb sein wird«. Brief Napierskys an Recke vom 7. Oktober 1829. Brief Reckes an Napiersky vom 20. November 1832. Bereits brieflich an Napiersky am 17. Dezember 1823: Steffenhagen habe dabei »nichts mitzureden«.

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Von Vereinsgründungen als einer institutionellen Basis für die Organisation von Gelehrsamkeit hielt Recke zunächst wenig.40 Als Napiersky ihm unter dem 6. Februar 1830 mitteilt, daß in Riga an eine »Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde« gedacht werde, die »Arbeiten« liefern, »Sammlungen« zustande bringen und »Ueberreste früherer Zeiten vor dem Untergange [...] sichern« solle und 1834 dann schließlich auch gegründet wurde, ist Recke wenig erbaut. »Viele Köche verderben die Suppe«; es gäbe nur wenige Gelehrte; »gut wäre allerdings die Bekanntmachung im Staube liegender Urkunden«.41 Am 27. Januar 1833 teilt Recke mit, daß die Behauptung ihn geniere, die Initiative zur Gründung der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde in Riga sei von ihm ausgegangen. »Gesellschaften werden nur dann wohlthätig wirken, wenn Ein [sie!] fester und thätiger Wille dabey vorwaltet und den Uebrigen die Richtung giebt«. An diesem Punkt dürfte Napiersky seinem wesentlich älteren Partner und Freund nicht zugestimmt haben. Er hat vielmehr auf Vereine und Vereinsgründungen besonders stark gesetzt und aktiv in Vorständen mitgearbeitet. Wie aus dem erläuternden Text eines Anonymus zum Kupferstich Napierskys im Rigaschen Almanach von 1871 hervorgeht, wurde er 1827 Mitbegründer der >Lettisch-Literärischen Gesellschaft < und 1834 faktisch der Begründer der > Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde < (GGuA) zu Riga. Im Rigaschen Almanach wird er als die »eigentliche Seele des Vereins« bezeichnet, »der durch seine Sammlungen sowie durch die Herausgabe einer der Provinzialgeschichte gewidmeten Zeitschrift sich wohl verdient gemacht hat«. Gemeint sind die Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands, deren Redaktor Napiersky seit dem Erscheinen des ersten Bandes 1840 gewesen ist; er wird zwischen 1836 und 1837 Schatzmeister, 1853-60 Präsident der Gesellschaft fur Geschichte und Alterthumskunde und sammelt, hier ähnlich wie Recke, Korrespondierende Mitgliedschaften außerhalb Rigas: 1843 wird er Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, 1842 der Gelehrten Estnischen Gesellschaft in Dorpat, schließlich Ehrenmitglied

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41

Zum Thema >Vereine < wird unter Leitung von Jörg Hackmann und von der Baltischen Historischen Kommission in Zusammenarbeit mit einzelnen Wissenschaftlern ein größeres Projekt geplant. Bisher grundlegend: Hellmuth Weiss: Die historischen Gesellschaften.- In: Rauch: Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung (Anm. 2), S. 121 -139. Brief an Napiersky vom 4. März 1830.

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der Lettisch-Literärischen und 1849 der Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde in Riga.42 Auch für Recke wurde seine Mitgliedschaft in Vereinen immer bedeutsamer. Das zeigt sich deutlich an der Feier seines 80. Geburtstages, der am 20. Juli / 1. August 1844 in Mitau in Räumen des Kurländischen Provinzialmuseums feierlich begangen wurde.43 Wissenschaftliche Vereine standen als Gratulanten im Mittelpunkt. »Zahlreiche Ehrungen erfreuten den Jubelgreis und rührten ihn bis zu Thränen«, heißt es in dem Bericht des Inland. Ein mit Blumen umkränztes, gemaltes Brustbild des ansehnlichen Jubilars wurde dem verdienstvollen Literaten überreicht. Oberlehrer Dr. Christian Ludwig (genannt Louis) Schläger (1811 -1852) trug ein lateinisches Gedicht vor, das »alle Anwesenden sichtbar ergriff«.44 Ein vom Gymnasiallehrer Ernst August Pfingsten (1806-1856) 45 gedichtetes Lobgedicht »Was sich bewegt im Reich der Geister, Vor Deinem Blick liegts da [...]« wurde von einem Chor vorgetragen mit dem Refrain: »Laetus in praesens animus quod ultra est curare oderit«. Die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst hatte ihrem Gründer am Vorabend der Festlichkeiten ein Ehrenständchen gebracht. Dem Ehrenmitglied der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde - seit 1836 - überbrachte Napiersky den »treuen Abdruck eines der historischen Aktenstücke [...] des einst in Livland herrschenden Deutschen Ordens«, gedruckt in der Müllerschen Buchdruckerei. Der Vizegouverneuer von Kurland und sein Stellvertreter sowie der Bürgermeister von Mitau, Franz von Zuccalmaglio (1800-1873), waren ebenso anwesend wie der Stellvertretende Landesbevollmächtigte der Kurländischen Ritterschaft und Kreismarschall von Tuckum, Carl von Vietinghoff-Lambert (1785-1853). Zur Verabschiedung von Karl Eduard Napiersky aus dem Schuldienst am 20. Februar 1850 in Riga wurde aus Anlaß eines Abschiedsmahles ebenfalls das ganze Rigaer wissenschaftliche und kulturelle Vereinsleben aktiviert und das unerläßliche Lobgedicht vorgetragen, aus dem nur vier Zeilen zitiert seien: Klug und wacker, ein Pilot, Wach in allen Fällen, 42

Vgl. den anonymen Nachruf in: Rigascher Almanach für 1871, S. I-VI, das Zitat S. IV, sowie DBBL. 43 Vgl. den Bericht in der Wochenzeitung Das Inland 9 (1844), Nr. 30, Sp. 472476. 44 Ebd. - Zu Schläger vgl. Wilhelm Räder: Die Lehrkräfte an den deutschen Schulen Kurlands 1805-1860. Hrsg. von Erik Amburger.- Lüneburg: Nordostdt. Kulturwerk 1991 (= Beiträge zur Schulgeschichte; 3) (= Schriften der Baltischen Historischen Kommission; 3), Nr. 260, S. 59. 45 Zu Pfingsten ebd., Nr. 228, S. 54.

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Steuert er in Nächten hin und im Morgenhellen

Auch hier wird also in erster Linie auf Fleiß, Initiative und Ausdauer abgehoben. Napiersky habe dafür gesorgt, daß das Schifflein - gemeint ist gewiß die flächendeckende Sammlung und Edition von Quellen und Literatur in den Ostseeprovinzen - nicht zerschellt sei. Die Vereine, insbesondere die Gesellschaft für Geschichte und Alterthumskunde von 1834, boten ihm während seiner Zeit als Schuldirektor und Zensor in Riga, also nach 1830, die finanzielle Grundlage für die Herausgabe von Übersichtsdarstellungen und Quellenwerken, von denen nur die wichtigsten genannt seien: die bereits erwähnte Übersicht Chronologischer Conspectus der lettischen Literatur, erschienen 1832, der Index corporis historico-diplomatici Livoniae, Estoniae et Curoniae (2 Teile, 1833-35), Beiträge zur Geschichte der Kirchen und Prediger in Livland (4 Hefte, 1843 - 52), schließlich die Monumenta Livoniae antiquae (5 Bde., 1835-47) und die Scriptores rerum Livonicarum (2 Bde., 1848-53). 46 Eine recht lakonische Gesamtwürdigung der Persönlichkeit von Karl Eduard Napiersky gibt der damalige Mitdirektor der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der russischen Ostseeprovinzen, Georg Berkholz, in seinem Nachruf von 1868 in den Mitteilungen aus der Geschichte Liv-, Ehst- und Kurlands, herausgegeben von der GGuA:47 Gefehlt habe ihm »die Anlage oder die Vorbildung für das Verständnis der Rechts- und Verfassungsgeschichte, also, so zu sagen des innersten Pulsschlags im Staatskörper«;48 und am Schluß heißt es: »Sie [die Persönlichkeit Napierskys] war phantasielos aber klar und fest, ihrer Grenzen sich bewußt und das innerhalb derselben ihr eigenthümliche Gebiet mit Sicherheit beherrschend«.49 Damit sollte wohl ausgedrückt werden, daß sich Napiersky aus Mangel an Fähigkeit zur historischen Analyse und Interpretation bewußt im wesentlichen auf das organisierte und erfolgreiche Sammeln und Edieren beschränkt habe. In der Tat sind seine Einleitungen, etwa die wenigen Seiten, die er zu seinem Werk von 1823 über die livländischen Geschichtsschreiber formuliert, eine Ode auf Fleiß und Genauigkeit; nur so könne ein Raum wie Estland, Livland und Kurland im Hinblick auf Quellen und Literatur erstmals bis an die damalige Gegenwart heranreichend vollständig vermessen werden. 46

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Vgl. DBBL, S. 540-541 mit Angaben weiterführender Literatur unter Angabe der übrigen Nachrufe, die Napiersky erhalten hat. Berkholz: Gedächtnisrede auf Carl Eduard Napiersky (Anm. 1). Ebd., S. 282, vgl. auch Bosse: Geschichtsschreibung des baltischen Biedermeier (Anm. 2), S. 111, Anm. 52. Nachruf im Rigaschen Almanach für 1871 (Anm. 42), S. VI.

Johann Friedrich von Recke und Karl Eduard von Napiersky

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Die Einleitung zum Allgemeinen Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon, d. h. zum ersten Band von 1827, verfaßte Recke. Was jemand wie Jürgen Kocka heute »mental mapping« nennt, gehört auch schon zu den Zielsetzungen von Recke und Napiersky.50 Das Werk soll »das Ganze der schriftstellerischen Bestrebungen in den deutschen Ostseeprovinzen Rußlands« umfassen.51 Ausdrücklich wird auf die wachsende wissenschaftliche und schriftstellerische Produktion seit Wiedergründung der Universität Dorpat im Jahr 1802 verwiesen. Gadebuschs Anstrengungen lägen 50 Jahre zurück und seien zudem mangelhaft und unvollkommen. Reckes flott geschriebene Einleitung zum Allgemeinen Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon gibt einen eindrucksvollen Katalog der Quellen: nicht bloß alle gedruckten Quellen [...] die allgemeinen Sammlungen des Auslandes, einzelne Lebensbeschreibungen, Nekrologe, Leichenpredigten, Begräbniß- und Promotionsprogramme, alte rigasche Kalender, welche in ihren Anhängen oft über Todestage Auskunft geben, u. dgl. mehr; sondern auch handschriftliche, ζ. B. Kirchenbücher, Stamm- und Ahnentafeln, Personalien, die ehedem bey Sterbefällen von den Kanzeln verlesen wurden, Dienstlisten, archivalische Nachrichten, Selbstbiographien, die bey manchen Familien aufbewahrt werden. 52

Bei den Schriftenverzeichnissen hätten sie auf Vollständigkeit und Genauigkeit besonderen Wert gelegt und danach gestrebt, die Titel »aus Autopsie zu berichten«.53 Deutsche Texte werden nicht als wichtiger angesehen als lettische oder estnische; vielmehr gibt es keinerlei Berührungsängste mit Titeln in lettischer und estnischer Sprache. Ulrich Ernst Zimmermanns Versuch einer Geschichte der lettischen Literatur von 1812 reiche nicht mehr aus, und über die estnische Literatur »giebt es bis jetzt eigentlich nichts«.54 In einem Brief vom 27. Januar an Napiersky bezeichnet Recke das Lettisch in der Zeitung Latweeschu Avizes (Lettische Nachrichten, in alter Orthographie) als »exquisit schlecht«.55 Unterschiedliche Sprachen werden als positives Kennzeichen der Regi50

Vgl. Jürgen Kocka: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas.- In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000), S. 159-174, Zitat S. 164. 51 Vgl. Recke/Napiersky I (1827), S. V. Die gesamte Einleitung, S. V-XIV, ist unterzeichnet von Recke und Napiersky. In einem Brief vom 9. Oktober 1825 bittet Napiersky Recke bereits um die römisch zu paginierende Einleitung. Die Antwort ist nicht auffindbar, doch legen innere Merkmale die alleinige Autorschaft Reckes jedenfalls in den wesentlichen Teilen nahe. 52 Ebd., S. VIII. 53 Ebd. 54 Ebd., S. VIII-IX. Über Zimmermann vgl. DBBL, S. 898, sowie Recke/Napiersky IV (1832), S. 597. 55 Vgl. Nachlaß Napiersky (wie Anm. 9).

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on angesehen. Es geht um die flächendeckende Erfassung der gesamten Literatur, um eine Überwindung der Mängel beim verdienstvollen Werk Gadebuschs und um die Ergänzung der dort fehlenden Titel in allen Landessprachen und auch in zahlreichen Fremdsprachen, einschließlich russischer Titel, die sich im Recke /Napiersky reichlich wiederfinden. Belege und weiterführende Literatur, auch Quellen, werden unter fast jedem Artikel angegeben. Schließlich werden namentlich die Personen genannt, die als Mitarbeiter der Gesamtunternehmung bezeichnet werden können. Sie werden nach Regionen getrennt aufgezählt, insgesamt elf Namen aus Livland und Ösel, vier aus Estland, dreizehn aus Kurland, zwei aus St. Petersburg und zwei »aus der Fremde«.56 Eine wissenschaftliche Einordnung des Recke/Napiersky ist nur im Vergleich mit anderen zeitgenössischen Lexika im Detail möglich, der an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Nach dem Erscheinen des Recke /Napiersky bedurften weitere lexikalische Vorhaben oder große Editionen wie die genannten und zahlreiche weitere, zumeist eines stabilen institutionellen Rückhalts in den wissenschaftlichen und kulturellen Vereinen. Editionen förderten die Vereine und wurden durch Vereine gefördert. Doch es besteht kein Zweifel: Recke und Napiersky haben rund fünfzig Jahre nach Gadebusch weitgehend aus eigener Initiative die baltische Geschichtsforschung im selbst gewählten Rahmen auf eine solide Basis gestellt.

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Recke/Napiersky I (1827), S. X - X I I , Zitat S. ΧΠ.

Ülle Sihver

Konzeptionen des >Nationalen Erwachens < Der persönliche Beitrag von Johann Voldemar Jannsen, Johann Köhler, Carl Robert Jakobson und Jakob Hurt zur estnischen Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gestalteten sich die Lebensverhältnisse des estnischen Bauernvolkes - bedingt sowohl durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung als auch durch die fortschrittlichere Gesetzgebung im Russischen Zarenreich - in einer Weise, die dem Volk die Möglichkeit zur Bildung einer eigenständigen Nation eröffnete. Für weite Teile der bäuerlichen Bevölkerungsschichten wurde höhere Bildung erreichbar. Dies ermöglichte eine aktive Teilnahme an der Führung des öffentlichen Lebens in Estland, woraus in der Folge das Streben nach nationaler Eigenständigkeit resultierte. Das Land war damals aufgeteilt zwischen den zwei Großmächten Deutschland und Rußland; zum einen war das Gebiet des heutigen Estlands im 19. Jahrhundert eine Provinz des Zarenreiches, zum anderen lebten neben dem estnischen Volk die Deutschbalten, die im wesentlichen die ständische Herrschaft ausübten. Ohne das notwendige Entwicklungsniveau erreicht zu haben, wurde das estnische Volk von der Großmachtpolitik mitgerissen. Die führenden Personen in der Bewegung des > Nationalen Erwachens < stellten sich die Nationwerdung des estnischen Volkes entweder in einer Zusammenarbeit mit den Deutschbalten vor, wobei die Oberhoheit des russischen Zaren grundsätzlich anerkannt werden sollte, oder in einer Zurückdrängung des deutschbaltischen Einflusses bei einer konsequenten Hinwendung zum russischen Reich. Auf diese Weise entstanden zwei gegeneinander gerichtete Parteien mit grundsätzlich verschiedenen Konzeptionen zum Verlauf des Nationalen Erwachens, von welchen die eine von russischer und die andere von deutscher Seite verfolgt wurde. Die Existenz dieser beiden gegensätzlichen Parteien verhinderte, daß das estnische Volk ohne die Beschränkungen der Fremdherrschaft durch eine schrittweise Entwicklung zu einer eigenen politischen Identität finden konnte. Zum Nationalen Erwachen des estnischen Volkes haben deutschbaltische Estophile einen wesentlichen Beitrag durch die Förderung der estnischen Sprache und Folklore geleistet. Unter ihnen befanden sich auch

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die Folkloristen Alexander Heinrich Neus (1795-1876), Gustav Heinrich Schüdlöffel (1798-1859) und Georg Julius Schultz-Bertram (18081875), die um die Mitte des 19. Jahrhunderts an der Zusammenstellung und Präsentation des estnischen Kunstepos Kalevipoeg von Friedrich Reinhold Kreutzwald (1803-1882) beteiligt waren.1 Der Sprachforscher Eduard Ahrens (1803-1863) reformierte die estnische Grammatik, und die publizistische Tätigkeit von Nikolaus Friedrich Russow (1828-1906) bereitete die Entstehung des estnischen Journalismus vor, der dann mit regelmäßigen Veröffentlichungen durch Johann Voldemar Jannsen seinen Anfang nahm.2 Kreutzwald und Friedrich Robert Fählmann (17981850) begannen von estnischer Seite her eine allgemeinbildende Tätigkeit, die den Weg zum estnischen Nationalen Erwachen bahnte und die Verwirklichung der nationalen Ideen der nachkommenden fuhrenden Persönlichkeiten Jannsen, Jakobson, Hurt und Köhler sowie Lydia Koidula (1843-1886) und anderer ermöglichte. Im Jahre 1819 wurde Johann Voldemar Jannsen geboren, 1839 Jakob Hurt und 1841 Carl Robert Jakobson, die als estnische Protagonisten die Nationwerdung ihres Volkes zu gestalten begannen. Von ihnen wurde die gemeinsame Idee von einem estnischen Volk ausgesprochen, das im Gegensatz zur früheren Auffassung als leibeigenes einheimisches Sklavenvolk nun als eine starke und vitale Erscheinung betrachtet wurde. So bemühte sich beispielsweise Jakob Hurt (1839-1906), die Einsicht zu befördern, daß kein Fremder an der nationalen Entwicklung des estnischen Volkes interessiert sein konnte. Allerdings ermöglichte der Mangel an politischer Erfahrung auf seiten der fuhrenden Persönlichkeiten in Estland es dem russischen Zaren, diese zu beeinflussen, was die Durchführung des Russifizierungsprozesses in den Ostseeprovinzen ab 1893 erleichterte. Johann Voldemar Jannsen (1819-1913) wußte die deutsche Kultur zu schätzen und erwartete von den Deutschen im Baltikum Verständnis und Unterstützung bei der Entwicklung der Esten zu einer Nation. Die Deutschbalten hatten eine verhältnismäßig selbständige Position inne. Folglich war es nach Jannsens Auffassung für die Esten höchst vorteilhaft und nutzbringend, die Deutschbalten als Vorbild zu betrachten; auf deren Stärke konnte man sich stützen, um die estnische Kultur, Schrift und Gesinnung auszubilden. Er glaubte an die Erhaltung des estnischen Volkes als einer Nation und arbeitete sein ganzes Leben lang für diese Überzeugung. Dabei trat Jannsen vor allem als Literat in Erscheinung, dessen Ziel nicht so sehr ein zukünftiges selbständiges Estland, sondern vielmehr ein harmonisch zu gestaltendes Leben war, in dem gebildete 1

Eesti kirjanduse biograafiline leksikon. Hrsg. von E. Nirk und E. Sögel.- Tallinn: Eesti Raamat 1975, S. 250, 343 und 346. 2 Mihkel Kampmaa: Eesti kirjanduseloo peajooned. Bd. I-IV.- Tallinn: Pihlaka 1913, Bd. II, S. 8 - 1 1 und 16-19.

Konzeptionen des >Nationalen Erwachens
Verdeutschung< bedeutete.5 Jannsen war der Ansicht, daß es in den Ostseeprovinzen das estnische Volk und neben ihm die Deutschbalten gebe, den Akzent legte er aber auf die Esten. Die Tatsache der Existenz der Deutschen im baltischen Raum und ihre Koexistenz mit den Esten waren für Jannsen annehmbar und völlig akzeptabel - im Gegensatz zur russischen Sprache und Kultur, die ihm als völlig fremd erschien. Mit seiner schwärmerischen Konzeption von einer allseitigen Hilfsbereitschaft des deutschen Geistes auf estnischem Boden behandelte Jannsen das estnische Volk jedoch als ein Objekt, dessen Entwicklung perspektivisch gesehen unter dem Einfluß höher entwickelter Kräfte lag, ob nun Gott, russischer Kaiser oder Deutschbalten, nicht aber im Volk selbst. Wenn Jannsen sich in seinen Theorien verirrte, dann war es bei seiner Suche nach Kraftquellen für den Aufbau der estnischen Nation. Die christliche Weltanschauung Jannsens ließ es nicht zu, Esten und Deutschbalten zu einer offenen Konfrontation aufzurufen, da ihm als Herausgeber einer Zeitung die Wirkung solcher Methoden sicher bewußt war und er auf keinen Fall beabsichtigte, die instabile Position der sich 3

Anton Jürgenstein: Johann Woldemar Jannseni elust. ΙΠ. J. W. Jannsen Tartus.- In: Eesti Kirjandus 11 (1916), S. 139. 4 Ebd., S. 137. Estnische Zitate werden im folgenden jeweils auch in einer deutschen Übersetzung von der Verfasserin [Ü. S.] präsentiert. 5 Heinrich Rosenthal: Jannseni hingeelust ja tundeilmast.- In: Eesti Kirjandus 11 (1916), S. 189.

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erst entwickelnden Nation zwischen russischer und deutscher Macht noch mehr zu gefährden. Im Jahre 1871 schrieb Jannsen: Igaiiks kasvagu oma peenra peal, aga rahuga ühes aedas ja ühe vaiju all. (Jedermann möge auf seinem eigenen Beet wachsen, doch ruhig in einem gemeinsamen Garten und unter einem gemeinsamen Schutz.)6

Damit wandte er sich gegen die Verdeutschung der Esten. Er wollte mittels seiner literarischen und publizistischen Tätigkeit sowie mit der Herausgabe der Zeitungen Ρerno Postimees (Pemauer Postbote) und Eesti Postimees (Estnischer Postbote)7 das Seelenleben und das Weltbild des estnischen Volkes beeinflussen. Von 1845 bis 1860 verfaßte Jannsen 1003 geistliche Lieder, die wegen ihrer Volkstümlichkeit von deutschen Pastoren getadelt wurden, im Volk dagegen sehr populär waren.8 Vor ihm hatte es noch keinen estnischen Literaten gegeben, der sich dem estnischen literarischen Leben gewidmet hätte. Jannsen war ein »singender Dichter« und verfaßte über 500 estnische Chorlieder, zahllose Gedichte wie auch über 150 lehrreiche Erzählungen als Übersetzungen und Adaptationen aus dem Deutschen.9 Sein Beitrag zur literarischen Bildung des Volkes war sehr weitreichend. Ende der 1870er Jahre mußte Jannsen allerdings erleben, daß seine Tätigkeit in der nationalen Bewegung heftig kritisiert wurde, vor allem in der von Carl Robert Jakobson herausgegeben Zeitung Sakala.10 In St. Petersburg bildete sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine unter dem Namen >St. Petersburger Patrioten < bekannt gewordene Gruppe von Intellektuellen, die aus verschiedenen Gründen mit dem Baltikum verbunden waren und zur Nationwerdung des estnischen Volkes beitragen wollten. Ihr gehörten unter der Führung von Johann Köhler (1826-1899), dem Künstler der Zarenfamilie, der Leibarzt des Zaren, Philipp Jakob Karell (1806-1886), der Pädagoge Friedrich Dankmann (1825-?), der Agronom Jacob Johnson (1806-1865), der bereits erwähnte Publizist Nikolaus Friedrich Russow, der Staatsbeamte Aleksander Juijev (7-1878), der Pastor Reinhold Taubenheim (1795-1865), der Künstler Johann Rudolf Berendhoff (1827-1873) sowie die Ärzte Friedrich Enghoff (1829- ?) und Gustav Hirsch (1828-1907) an.11 6

Mihkel Kampmaa: J. W. Jannsen kui ilukiijanik.- In: Eesti Kirjandus 3 (1908), S. 191. 7 Eesti Nöukogude Entsüklopeedia [ENE]. Bd. I-IV.- Tallinn: Valgus 1985-89, Bd. IV (1989), S. 73. 8 Kampmaa: J. W. Jannsen kui ilukirjanik (Anm. 6), S. 190. 9 Ebd., S. 194-196. 10 Jürgenstein: Johann Woldemar Jannseni elust (Anm. 3), S. 140. 11 Väike Köleri sönastik. Hrsg. von Anu Alias und Tiina Abel.- Tallinn: Eesti Kunstimuuseum 2001, S. 108-110.

Konzeptionen des >Nationalen Erwachens
Estnischen Alexanderschule < zu gründen, in der auf estnisch unterrichtet werden sollte; sie wurde 1888 jedoch als russischsprachige Schule eröffnet. 16 Zweimal verschaffte Köhler Jakobson die Erlaubnis zur Herausgabe der estnischen Zeitung Sakala, zuerst im Jahre 1878 und nach dem Verbot der Zeitung erneut im Jahre 1880. 17 Mit der Gründung von Sakala erhielt Jakobson 12

Alfred Waga: Johann Köler.- Tartu: Loodus 1931, S. 2 2 - 2 3 . Mart Pukits: Johann Köler.- In: Eesti rahvuslikud suurmehed. Bd. I—II.- Tallinn: Κ. K. Ü. Kooli-kooperatiiv 1936, Bd. Π, S. 279. 14 Waga: Johann Köler (Anm. 12), S. 41. 15 Eesti Entsüklopeedia [EE]. Bd. V - X . - Tallinn: Eesti Entsüklopeediakirjastus 1990-99, Bd. VII (1994), S. 167. 16 ENE (Anm. 7), Bd. II (1987), S. 208. 17 Waga: Johann Köler (Anm. 12), S. 42. 13

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eine direkte Möglichkeit, seine ideologischen Gegner, z u denen er unter anderen auch Jarnsen und Hurt zählte, öffentlich anzugreifen, wodurch die fuhrenden Personen innerhalb der estnischen N a t i o n a l b e w e g u n g entz w e i t wurden. Köhler glaubte, durch seine aktive Unterstützung des estnischen Bauernvolkes d e m Zaren zu dienen, wurde j e d o c h v o n der russischen Großmachtpolitik ausgenutzt, da es sich als u n m ö g l i c h erwies, z u m Wohl des Heimatlandes aus der Ferne effektiv beizutragen. Anläßlich der Ersetzung des deutschen Generalgouverneurs der baltischen Provinzen, Baron W i l h e l m Lieven, durch den russischen Grafen Petr S u v a l o v i m Jahre 1864 schrieb Köhler am 10. Januar 1865 an Hurt: Vöib loota, et niiüd see kuni hirmuvalitsuseni moonutatud vöimuvalitsus eestlaste üle inimlikuma, vabameelse valitsuse ees taganeb, nagu seda meie inimsöbraline keiser juba ammugi teistes riigi kubermangudes maksma on pannud. (Es ist zu hoffen, daß sich nun die bis zu einer Schreckensherrschaft ausgeartete Gewaltherrschaft über die Esten vor einer humanen und freisinnigen Regierung zurückzieht, wie unser menschenfreundlicher Kaiser es schon längst in anderen Gouvernements in Kraft gesetzt hat.) 18 In seiner russischsprachigen Autobiographie führte Köhler i m Anschluß hieran seine Position weiter aus: Kunagi ei tegelnud ma möttega, kas eestlased kauges tulevikus peaksid säilitama oma rahvuse. Kuid mulle oli selge, et polnud mingit möistliku pöhjendust neid muuta sakslasteks, sest sajandeid kestnud ebaloomulikud vahekorrad lahutasid igaveseks röhutuid j a nende röhujaid. Venemaa, näis mulle, oleks juba oma huvide pärast pidanud püüdma sinna poole, et Baltimaade päriselanikud, kes moodustasid rahvastiku enamuse, säilitaksid oma keele j a rahvusliku omapära, sest see kövendaks nende sidet kodumaaga (Venemaaga) ja moodustaks tammi kallaletungide vastu läänest. (Ich habe mich nie mit dem Gedanken beschäftigt, ob die Esten in femer Zukunft sich als eine Nation bewahren müßten. Es war mir aber klar, daß es keinen vernünftigen Grund gab, sie zu verdeutschen, nachdem jahrhundertelang unnatürliche Verhältnisse das Volk für immer von seinen Unterdrückern getrennt hatten. Rußland, so schien es mir, hätte schon aus eigenem Interesse die Bewahrung von Sprache und nationaler Eigentümlichkeit eingeborener Völker im Baltikum, die die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, unterstützen müssen, weil das ihre Beziehung zur Heimat (Rußland) hätte verstärken und Schutz gegen Angriffe aus dem Westen hätte bieten können.) 19

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Professor J. Köleri ja H. Hurti kiijavahetus.- In: Eesti Kirjandus 6 (1911), S. 134. Pukits: Johann Köler (Anm. 13), S. 280.

Konzeptionen des Nationalen

Erwachens
heilige Vorhaben < der Petersburger in der Entwicklung der nationalen Idee der Esten, entwickelte aber seine eigene Auffassung von den Entwicklungsgründen, Richtlinien und Zielen des estnischen Volkes. Er arbeitete mit Köhler auf dem Gebiet der estnischen Sprache und der historischen Forschung zusammen27 und leistete einen großen Beitrag in der estnischen Folklore, wozu ihn unter anderem die von Alexander Heinrich Neus in den Jahren 1850-1852 veröffentlichte Sammlung estnischer Volkslieder angeregt hat.28 Auch setzte er sich für die Gründung der estnischsprachigen Alexanderschule ein,29 äußerte sich jedoch weder in bezug auf die Deutschbalten noch in bezug auf eine russische Oberherrschaft, sondern stützte sich auf die geistige Stärke seines eigenen Volkes und förderte es als Vertreter der estnischer Öffentlichkeit auf kirchlicher, kultureller, historischer und politischer Ebene. Köhler mußte einsehen, daß sich Hurt nicht in die Rolle eines Kämpfers für die Interessen der russischen Großmacht fügte. Zum Nachdenken über die Zweckmäßigkeit seines Weges, vom russischen Standpunkt aus für eine verbesserte Stellung der Esten zu kämpfen, hat ihn diese Erkenntnis aber nicht bewegen können. In den Kreis der St. Petersburger Patrioten wurde 1864 als jüngstes Mitglied der damals 23jährige Carl Robert Jakobson aufgenommen. Jakobson verbrachte sieben Jahre (1864-1871) in unmittelbarer Nähe von Köhler und begann unter seinem Einfluß, die Sprache und die Art des 25

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Dr. J. Hurt'i ja professor J. Köhleri kirjavahetus.- In: Eesti Kirjandus 5(1910), S. 454. Professor J. Köleri ja J. Hurti kiijavahetus (Anm. 18), S. 100-102 und 133. Kampmann: Eesti kiijanduseloo peajooned (Anm. 2), Bd. II, S. 103. Ebd., S. 102. Professor J. Köhleri ja J. Hurti kirjavahetus (Anm. 18), S. 27-28, 136-137, 142-143 und 186-187.

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Nationalen Erwachens
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