Kulinarisches Kino: Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film [1. Aufl.] 9783839422175

Oft spielen Essen und Trinken in Filmen eine subtile Rolle: Vom Zuschauer nahezu unbemerkt, sind sie nur lose mit der Ha

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German Pages 280 Year 2014

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Inhalt
Kulinarisches Kino. Zur Einleitung
KULINARISTIK UND CINEASTIK ALS KULTURELLE LEISTUNGEN
Essen als Nebensache. Über die narrativen Funktionen und Vorzüge von Codes aus dem Bereich der Ernährung im Film
Kochen als Kunst im Kino Eat Drink Man Woman (1994) / Regie: Ang Lee
Essen im Kino, Kino im Essen
Brust? Keule? Spaß? Ernst? Ein einführender Beitrag zu Claude Zidis Brust oder Keule Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi
Von Tricatel ins el Bulli – eine techno cineastische Wegbeschreibung Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi el Bulli – Cooking in Progress (2011) / Regie: Gereon Wetzel
Kulinarische Kommunikation im Kollektiv. Ein gastrocineastisches Essay zu Tampopo Tampopo (1985) / Regie: Jz Itami
ERNÄHRUNG ZWISCHEN VERGESELLUNG UND VERGEMEINSCHAFTUNG
Die Liebe und der Magen. Luhmanns Liebessemantik am Esstisch Bittersüße Schokolade (1992) / Regie: Alfonso Arau
Eine ganz besondere Gewürzmischung Zimt und Koriander (2003) / Regie: Tasso Boulmetis
Die Delikatesse der Delikatessen Babettes Fest (1987) / Regie: Gabriel Axel
Eine Familie und ihre Körper. Essensbezogene Gebrauchsweisen des Körpers in Louis Malles Eine Komödie im Mai Eine Komödie im Mai (1990) / Regie: Louis Malle
Cyber-Apfel, Schoko-Netz und die Macht medialer Fiktionalität VeggieTales – LarryBoy und der böse Apfel. Eine Geschichte über das Nein sagen (2006) / Regie: Tim Hodge
ERNÄHRUNG UND ENTGRENZUNG – DIESSEITS UND JENSEITS DES MENSCHLICHEN
Cinematographische Hedonismuskritik. Entwicklungssoziologische Betrachtungen zu Überfluss und Mangel Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri
Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück? Zu einer Grundsatzfrage des Materialismus Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri
Warum Edward Cullen Diät hält. Zur Domestizierung des Vampirs in aktuellen Medientexten
Kannibalismus und Clownerie im Endzeitszenario Delicatessen (1991) / Regie: Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro
Dunkle Welten – unentrinnbar Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) / Regie: Peter Greenaway
Filmverzeichnis
Autorinnen und Autoren
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Kulinarisches Kino: Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film [1. Aufl.]
 9783839422175

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Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino

Film

Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.)

Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film

Das Buch wurde gedruckt mit Unterstützung von APEK – Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur. APEK-Consult.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Eine Komödie im Mai, Picknick, 1990. Abdruck mit Genehmigung von ALAMONDE FILMDISTRIBUTION OHG Lektorat & Satz: Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2217-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Kulinarisches Kino. Zur Einleitung

Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich und Lars Alberth | 9

KULINARISTIK UND CINEASTIK ALS KULTURELLE L EISTUNGEN Essen als Nebensache. Über die narrativen Funktionen und Vorzüge von Codes aus dem Bereich der Ernährung im Film

Madeline Dahl | 27 Kochen als Kunst im Kino Eat Drink Man Woman (1994) / Regie: Ang Lee

Irene Schütze | 45 Essen im Kino, Kino im Essen

Thomas Struck | 61 Brust? Keule? Spaß? Ernst? Ein einführender Beitrag zu Claude Zidis Brust oder Keule Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi

Susan Groß und Janine Legrand | 71 Von Tricatel ins el Bulli – eine techno - cineastische Wegbeschreibung Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi el Bulli – Cooking in Progress (2011) / Regie: Gereon Wetzel

Thomas Vilgis | 83 Kulinarische Kommunikation im Kollektiv. Ein gastrocineastisches Essay zu Tampopo Tampopo (1985) / Regie: Jnjzǀ Itami

Daniel Kofahl | 99

E RNÄHRUNG ZWISCHEN VERGESELLUNG UND VERGEMEINSCHAFTUNG Die Liebe und der Magen. Luhmanns Liebessemantik am Esstisch Bittersüße Schokolade (1992) / Regie: Alfonso Arau

Gerrit Fröhlich | 119 Eine ganz besondere Gewürzmischung Zimt und Koriander (2003) / Regie: Tasso Boulmetis

Benedikt Jahnke | 135 Die Delikatesse der Delikatessen Babettes Fest (1987) / Regie: Gabriel Axel

Peter Peter | 145 Eine Familie und ihre Körper. Essensbezogene Gebrauchsweisen des Körpers in Louis Malles Eine Komödie im Mai Eine Komödie im Mai (1990) / Regie: Louis Malle

Lars Alberth | 155 Cyber-Apfel, Schoko-Netz und die Macht medialer Fiktionalität . VeggieTales – LarryBoy und der böse Apfel. Eine Geschichte über das Nein sagen (2006) / Regie: Tim Hodge

Nicole M. Wilk | 173

E RNÄHRUNG UND E NTGRENZUNG – D IESSEITS UND JENSEITS DES MENSCHLICHEN Cinematographische Hedonismuskritik. Entwicklungssoziologische Betrachtungen zu Überfluss und Mangel Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri

Judith Ehlert | 191 Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück? Zu einer Grundsatzfrage des Materialismus Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri

Robert Pfaller | 207

Warum Edward Cullen Diät hält. Zur Domestizierung des Vampirs in aktuellen Medientexten

Lea Gerhards | 215 Kannibalismus und Clownerie im Endzeitszenario. Delicatessen (1991) / Regie: Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro

Petra F. Köster | 233 Dunkle Welten – unentrinnbar. Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) / Regie: Peter Greenaway

Christoph Klotter | 249

Filmverzeichnis | 269 Autorinnen und Autoren | 273

Kulinarisches Kino Zur Einleitung D ANIEL K OFAHL, G ERRIT F RÖHLICH UND L ARS A LBERTH „Das Kino ist […] auch eine Widerspiegelung dieser Gesellschaft. Als wahrhaft aufzeichnendes Auge erfasst es Dinge und Menschen nicht nur in ihrer sichtbaren Realität, sondern gehört durch die Geschichten, die es erfindet, und die imaginären Situationen, die es erträumt, zu den subjektiven (d.h. psychologischen und traumähnlichen) Realitäten kollektiven Charakters. Jeder Film, und mag er noch so irreal sein, ist gewissermaßen ein Dokumentarfilm, ein soziales Dokument.“ FRIEDMANN/MORIN 2010 [ZUERST 1952]: 22

Sich dem Kino unter kulinarischen Gesichtspunkten zu nähern fällt zunächst recht leicht – vielleicht allzu leicht. Ess- und Trinkszenen finden sich in nahezu jedem Film, zumeist zwar im Hintergrund der Erzählung platziert, aber dennoch oft unverzichtbar im Hinblick auf die jeweilige narrative Form. Ein romantisches Date an einem hübsch gedeckten Tisch für zwei, eine fröhliche Unterhaltung von Freunden mit Cocktails in einer Bar, eine warme Mahlzeit zu nächtlicher Stunde für den einsamen Cowboy oder auf molekularer Ebene synthetisierte Speisen in einem Raumschiff: Alle diese kulinarischen Momente verweisen auf mehr als

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auf den anthropologisch unverzichtbaren Stoffwechsel realer Menschen, den die fiktiven Figuren doch problemlos ausblenden könnten.1 Erst recht wird man fündig, wenn man sich genuin kulinarischen Geschichten nähern will. Es dürfte schwer sein, jemanden zu finden, der die französischen Klassiker La Grande Bouffe (Das große Fressen [1973])2 oder L’aile ou la cuisse (Brust oder Keule [1976])3 nicht kennt; sie gehören zur popkulturellen Allgemeinbildung der Gegenwart. Zahlreiche weitere Filme, die das Essen und Trinken, die Produktion von Nahrung, gemeinsame Mahlzeiten oder Kneipenbesuche in den Mittelpunkt ihrer Geschichte stellen, sind seitdem produziert worden. Schon allein in Anbetracht dieser Fülle würde es sich lohnen, zu dem Titel des hier vorliegenden Buchs immer gleich den potentiellen Untertitel „Band I“ mitzudenken. Schließlich gibt es auch noch die gerade in jüngerer Zeit zahlreich produzierten Dokumentarfilme wie Super Size Me (2004), We feed the World (2005), Unser täglich Brot (2005) oder Taste the Waste (2011), die versuchen, sich dem in sich selbst sehr differenzierten Phänomen der (hoch-)modernen Ernährung beschreibend zu nähern, wobei auch die ökologische Selbstgefährdung, der sich die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre Organisationsform der metabolischen Selbsterhaltung der Menschheit aussetzt, eine zentrale Rolle spielt. Immer wieder wird in diesen Filmen das Spannungsfeld zwischen Genuss und Ekel, Gesundheit und Krankheit sowie den Errungenschaften und den Folgeproblemen der Ernährungs- und Agroindustrie aufgezeigt. Als Folge dieser Vielfalt in seiner Einheit ist das kulinarische Kino als Archiv dabei unter sozial- und kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zunächst hinsichtlich seiner kulinarischen und auch seiner cineastischen Qualitäten zu bestimmen. Sodann ist zu präzisieren, wie sich die Sozial- und Kulturwissenschaften diesem Archiv theoretisch-methodologisch und methodisch nähern können.

1

Genauso, wie dies in aller Regel auch mit den letzten Verdauungsstufen jedes Ernährungsvorgangs geschieht.

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Vergleiche den Beitrag von Judith Ehlert in diesem Band. Vergleiche den Beitrag von Susan Groß und Janine Legrand sowie den Beitrag von Thomas Vilgis in diesem Band.

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F ILM ALS M EDIUM – K OMMUNIKATION UND I NTERPRETATION Die soziologische Analyse von Filminhalten ist keine außerordentliche Neuheit. Alphons Silbermann argumentierte bereits vor 40 Jahren, dass die Soziologie sich auf den Film als relevantes Medium konzentrierte, weil „der an keinerlei Tradition gebundene Film zu einer Zeit auf[kam], als die empirische Soziologie bereits etabliert war, während das Theatergeschehen mit seiner langen Vergangenheit den Händen der Geistes- und Literaturwissenschaften kaum zu entreißen war“ (Silbermann 1973: 187).

Bis heute etablierte sich damit eine Filmsoziologie, die sich unter weitgehender Abstinenz von konkreten Filmanalysen vor allem mit den Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Filmen respektive mit der sozialen Funktion des Kinos beschäftigte – und zwar quer zu allen theoretischen Zugängen: Auch aktuelle Beiträge zur Filmsoziologie betonen in Anlehnung an Siegfried Kracauer (1985 [zuerst 1960]) das Desiderat, Filme als „Spiegel der Gesellschaft“ zu interpretieren, so Schroer (2007) sowie Heinze et al. (2012). Zu zurückhaltend sei die Soziologie gegenüber den narrativen und ästhetischen Dimensionen des Films als Ausdrucksform der modernen Gesellschaft. Filme sind dabei jedoch nicht einfach als mechanische Abbilder der Realität zu verstehen, sondern liefern ihrerseits Interpretationen. Sie vermitteln über ihre Narrative und Stereotype jeweils eine Weltanschauung – Normen, Vorurteile, Meinungen – und entsprechen damit einem Wissen über die (soziale) Welt (vgl. Friedmann/Morin 2010 [zuerst 1952]: 31). Zudem verhandeln die fiktiven Geschichten in ihren Handlungskonflikten zugleich Wertkonflikte und „[legen] ideale Verhaltensweisen [frei], die wiederum soziale kollektive Ideale vermitteln“ (ebd.: 32). Ähnlich, wie es Luhmann für Literatur formulierte, präsentieren Filme somit eine fiktionale Ordnung, „damit man von da aus die normale, allen bekannte Wirklichkeit betrachten kann, etwa in ihrer Härte und Unausweichlichkeit oder in ihrer Normalität und Langweiligkeit“ (Luhmann 2008: 281). Kurzum: Filme codieren die soziale Welt, sie liefern Interpretationsschemata und Scripts, mit denen soziale Situationen „gelesen“ werden können. Rainer Winter (1992) verweist auf die Funktion des Films, Interpretationen von Wirklichkeit zu liefern. Film sei als Text zu verstehen, „der nicht eine absolute Wirklichkeit richtig abbildet, sondern mittels Zeichen Bedeutungen, oder genauer Anlässe für Bedeutungen, produziert. Bilder und Worte sind keine neut-

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ralen Übermittler einer vorgegebenen Wirklichkeit, wie man in der realistischen Filmästhetik annimmt, sie schaffen vielmehr spezielle Filmwirklichkeiten“ (Winter 1992: 24).

Eine solche Konzeption, die den Film als Text auffasst, das heißt als sich in der Zeit entwickelnde Abfolge von Zeichen, eröffnet für die Interpretation einerseits große Freiräume, unterstellt dem Film jedoch andererseits immer auch einen sozialen Sinn. Dieser mag ohne einen expliziten Beobachter stets noch unbestimmt sein, es gilt aber, ihn ihm Zuge einer Rezeption zu bestimmen (Baecker 2005: 10ff.): „Die Polysemie von Filmen unterstreicht die Plausibilität der semiotischen Grundannahme, dass der Rezipient, wenn er die Filme verstehen will, sie als einen Text lesen muß. Er muß die Zeichen, die er wahrnimmt, unter der Perspektive interpretieren, dass sie von ‚jemandem‘ bewußt ‚gesendet‘ wurden.“ (Winter 1992: 35)

Damit unterschiede sich der Film nicht wesentlich vom Roman, wenn nicht seine spezifische ästhetische Qualität dazu käme: seine Verankerung im bewegten Bild. Gleichzeitig muss in Rechnung gestellt werden, dass das SenderEmpfänger-Modell zur Beschreibung eines sozialen Kommunikationsprozesses, zu denen das Anschauen eines Films ebenso gehört wie das Lesen eines Buchs, trügerisch ist. Es vermittelt den Eindruck, als könne eine Botschaft sozialen Sinns ebenso von einem Sender zu einem Empfänger übertragen werden, wie es für ein Datenpaket in der Informationstechnologie möglich ist. Dem ist zweifellos nicht so. Stattdessen muss schon der Sender entscheiden, in welche Form der Mitteilung er die Informationen codiert, die er für relevant hält. Es ist sofort einsichtig, dass je komplexer, je mannigfaltiger, mutmaßlich auch je „sinnlicher“ – letzteres spielt für das kulinarische Kino eine zentrale Rolle – ein Bewusstseinsinhalt ist, es desto problematischer wird, ihn in einer vermeintlich logisch-direkteinsichtigen Form als Mitteilung darzustellen.4 So kommt auf den Empfänger je-

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Wie schwierig es beispielsweise ist, in Worten oder Bildern auszudrücken, wie etwas schmeckt, etwas riecht, sich etwas anfühlt, weiß wohl jeder, der sich schon einmal daran versucht hat. Sicherlich sieht die Gesellschaft neben der Wissenschaft in der Kunst – ob der „ernsten“ oder der „populären“, ob der Dicht-, Mal- oder Filmkunst oder der Musik – durchaus die Funktion, dies nach bestem Bemühen zu versuchen. Doch zum einen passiert dies nicht „mal eben so“ („Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“ wie es Karl Valentin einmal formulierte). Und zum anderen ist die Nichteindeutigkeit, mit der dies geschieht, längst erkannt und bildet dann wieder auch die (un-

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der sozialen Botschaft – und das heißt auch jeden Leser und jeden Zuschauer – die Aufgabe zu, einen Akt des Verstehens zu leisten, in welchem dem als Mitteilung Beobachteten in Eigenleistung eine Information zugeschrieben werden muss (Luhmann 1987: 193ff.). Diese Unsicherheiten in Bezug auf Mitgeteiltes können, wenn sie denn auf fruchtbarem Boden fallen und Anschlusskommunikationen provozieren, im besten Fall zu Diskursen führen, die gerade aufgrund ihrer fortwährend produzierten Unsicherheiten eine facettenreiche Unabschließbarkeit erzeugen. Eine vormals relativ gefestigte, sich immer wieder durch Rekursion auf Traditionen stabilisierende und dabei möglicherweise gar erstarrte Wirklichkeit wird dabei von emsigen Kommunikationsteilnehmern durch ihre Texte perspektivisch aufgefächert, aber – und das ist ebenso wichtig wie die Demontage – auch neu geordnet. Filme als Texte, die im Zusammenspiel von Produzent und Rezipient ihre Existenz erhalten und Gewicht in der Realität erlangen, sind also vor allem als Projektionsflächen für Informationen zu begreifen, die zum einen Unruhe in scheinbar bekannte Territorien tragen und zum anderen auf mehreren Rezeptionsebenen Konstruktionshilfen anbieten, um neue Interpretationen und Vermessungen der bekannten, aber gelockerten Formen der Realität vorzunehmen. So lässt sich im Anschluss an Jürgen Raab von audiovisuellen Schnittmustern sprechen, durch die Filme typisierte Codierungen zur Verfügung stellen. Diese Schnittmuster funktionieren „als je besondere, für die Sehgemeinschaften charakteristische Wirklichkeitszuwendungen und sie stellen vornehmlich als ‚tacit knowledge‘ die Regelwerke für die soziale Konstruktion medialer Wirklichkeiten bereit: in der filmischen Aufnahme und in der Nachbearbeitung ebenso wie für die Bewertung der Filme durch das Publikum“ (Raab 2008: 307).

sichere) Grundlage für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Werk. Und schließlich sind es nicht zuletzt die Medien (technische ebenso wie semantische) selbst, welche die Intention und das Thema des Senders noch einmal nach eigenen Strukturmerkmalen modellieren – so dass in der Theorie durchaus die Frage gestellt werden darf: „Wurde etwas so gesagt wie es gesagt wurde, weil eine Person es wollte? Oder wurde etwas so gesagt, wie es gesagt wurde, weil es aufgrund medialer Möglichkeiten gesagt und verstanden werden konnte?“ Radikalisiert weitergedacht mündet diese Überlegung bekanntlich im Postulat der nicht existierenden Autorenschaft, im Tod des Autors (Barthes 2000).

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Man kann das (kulinarische) Kino im Anschluss an Fritz Heider und Niklas Luhmann als Medium beschreiben, in dem sich zahlreiche Formen realisieren können, die diesem Medium zwar Gesichter geben, aber nicht seine letztendliche Gestalt offenbaren. Die Formen zeigen durch das, was realisiert wird, was machbar ist und was sonst noch möglich sein könnte, aber vorerst noch in der Potentialität versteckt bleibt (Heider 2005 [1926]; Luhmann 1997: 190ff.). Surreale Food-Films wie Meat Love (1989) und Food (1992) des tschechischen Filmemachers Jan Švankmajer loten die Grenzen des Mediums aus, doch durch ihre effektvollen Störungen werden dieselben Grenzen immer weiter verschoben – man bewegt sich auf den Horizont (oder den Tellerrand) zu, ohne ihm jemals näher zu kommen.

K ULINARISCHES K INO – C ODIERUNGEN UND P RAKTIKEN Einer der Mitbegründer der Kulinaristik, Gerhard Neumann, hat die Bedeutung des Films für die kulinarische Kommunikation anhand seiner Analysen der drei Filme Babettes Fest, Eine Komödie im Mai und Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber vorzüglich exemplarisch herausgearbeitet (Neumann 2008). In seiner Analyse zeigt er, wie eine „dem Thema wesensimmanent[e] Konfliktstruktur: nämlich die Darstellung der Interferenzen zwischen Materialität und Symbolizität der Nahrungsvorgänge und deren Einlagerung in analoge und digitale Medien, in Felder von Bildzeichen und Felder von Sprachzeichen“ (Neumann 2008: 319) gerade durch das spezifische Medium Film besonders deutlich zum Vorschein kommen kann. Durch den Einbezug von nicht-sprachlichen Darstellungen, von nicht-erzählten, sondern nur wahrnehmbaren Unterscheidungen (vgl. Luhmann 1996: 109) verdichten (Spiel-)Filme die erzählten Geschichten. Filme zeigen unter Umständen Ausdrucksverhalten, das sich ansonsten der Selbstbeobachtung weitgehend entziehen würde. Über diese Funktion des Films schrieb Siegfried Kracauer in einem Brief an Erwin Panofsky: „The whole dimension of everyday life with its infinitesimal movements and its multitude of transitory actions could be disclosed nowhere but on the screen. (…) Films illuminate the realm of bagatelles, of little events.“ (Kracauer 1996: 16) Das Gezeigte weist über das Erzählte und Erzählbare hinaus. Gerade dem Alltäglichsten, zu dem die Nahrungsaufnahme gehört, ist im Alltag am schwersten auf die Schliche zu kommen. Was sich normalerweise der (auch wissenschaftlichen) Beobachtung entzieht, wird in der Fiktion deutlicher. Was sich im Alltag durch

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„Unvollständigkeiten, Wortfetzen, zahlreiche Redundanzen und Belanglosigkeiten“ (Lenz 2006: 123) auszeichnet, macht der Film sichtbar und spitzt es zu: „Man ‚sieht‘ Motive an ihren Effekten und kann den Eindruck gewinnen, dass Handlungsintentionen nur ein Teil des Gesamtgeschehens sind und daß der Handelnde selbst nicht voll überblickt, was er tut. Fast unbemerkt wird der Zuschauer dazu gebracht, sich selbst als Beobachter von Beobachtern zu begreifen und ähnliche oder auch andere Einstellungen in sich selbst zu entdecken.“ (Luhmann 1996: 109f.)

Nur mit Unterstützung von audiovisuellen Medien gelingt es, die Trennung von Wort und Mimik in einem gleichzeitigen Akt mitzuteilen. Widersprüche beispielsweise zwischen einer dem rationalen Willen unterliegenden, digitalen Sprache einerseits und sinnlichen, analogen Regungen andererseits können synchron zum Ausdruck gebracht werden – im Roman ist dies immer nur nacheinander möglich.5 Ebenso ermöglicht es der Film, dem Prozess des Kochens, also der kulinarischen Räumlichkeit, auf besondere Art nachzuspüren. Mit Bewegungen vor der Kamera, Kamerafahrten oder geschnittenen Perspektivenwechseln kann der eingeübte Blick für die architektonische Mehrdimensionalität des „Speisenbauens“, wie es Peter Kubelka6 nennt, einmal mehr variiert werden (Kubelka 2007: 14). Diese elementare Beweglichkeit, mit welcher der Film sich somit auch von der Fotografie abgrenzt, birgt zudem innerhalb des Mediums eine Analogie zur Bewegung, die jedem Ernährungsvorgang vorausgeht, sei es in Form der Nahrungssuche oder der Speisenzubereitung (Kubelka 2002: 95f.). Der aktive Zuschauer kann dieser Dynamik folgen oder sich ihr entgegenstellen, von ihr abweichen oder sie kreuzen. Dabei verzahnt sie die materielle Kulinarik mit dem soziokulturellen Sinn und seinen Zeichen. Stoffliches, psychisches und soziales Schmecken, Riechen, Fühlen, Entziffern, Decodieren, Verstehen et cetera leiten

5

So können zwar die Essenden in Babettes Fest beschließen, kein Wort des Lobes für ein vorzügliches Mahl über ihre Lippen kommen zu lassen, doch ihr authentisches Minenspiel verrät den empfundenen Wohlgeschmack der schweigenden Verschwörer sogleich (vgl. Neumann 2008: 304ff. sowie den Beitrag von Peter Peter in diesem Band).

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Der 1934 in Wien geborene Peter Kubelka nimmt in der Geschichte der Symbiose von Kulinaristik und Kino eine besondere Stellung ein. Von 1978 bis 2000 lehrte der Kulinarist und Experimentalfilmemacher als Professor der Klasse für Film und Kochen als Kunstgattung an der Städelschule in Frankfurt am Main.

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eine Fusion ein, in der sich die „schöpferische Kraft“ (ebd.: 96) kristallisiert, welche die Kulinaristik zu einer „bildenden Kunst“ macht (Kubelka 2002). Fraglos kann aber kein Film solitär mit seiner a-gustatorischen Virtualität das einmalige Erleben des realen Verzehrs in seinem spezifischen Formenreichtum reproduzieren, denn „[d]er Mund ist ein Organ, welches noch viel besser als das Auge räumliche Gegebenheiten zu analysieren vermag. […] Der Mund untersucht beispielsweise eine Gabel voll Pasta nicht wie das Auge aus der Distanz. Vielmehr wird die Portion Pasta in der Mundhöhle unmittelbar abgetastet, herumgewälzt, zerkleinert und zermalmt. Die Zunge und der Gaumen messen ab, erfassen die Form und lösen sie auf. Die Pasta ist Architektur für den Mund.“ (Kubelka 2007: 16)

Die Replikation genuiner Gaumenfreuden (oder Gaumengräuel) ist aber auch nicht die Aufgabe des kulinarischen Kinos, und die funktionale Sonderrolle gustatorisch-olfaktorischer Sensorik für das kulinarische Erleben bedeutet auch nicht, dass das kulinarische Kino defizitär wäre. Stattdessen handelt es sich um einen Augenschmaus (Boje 2009: 113), der eigene Geschmacksqualitäten verwirklicht. Bietet das kulinarische Kino auf der einen Seite eine Quelle für audiovisuelle Codes zur Interpretation realitätsnaher Geschmackssituationen,7 lässt es sich daher auf der anderen Seite auch praxeologisch als Korrelat von sozialen Praktiken oder als soziales Artefakt verstehen – oder wie es Howard S. Becker formulierte: „It makes more sense to see those artifacts as the frozen remains of collective action, brought to life whenever someone uses them – as people’s making and reading charts or prose, making and seeing films. We should understand the expression a film as shorthand for the activity of ‚making a film‘ or ‚seeing a film‘.“ (Becker 1985: 15)

Der Film ist ein Dokument zahlreicher Interaktionen – vor und hinter der Kamera, im Kinosaal und im Vorführraum. Um die Codierungen audiovisuell wahrnehmbar zu machen, müssen Netzwerke an doings and sayings realisiert, das heißt über einen expressiven Körperausdruck sichtbar gemacht werden (Schatzki 1996). Gerade dann, wenn es um die ästhetische Dimension des Schmeckens und Genießens von Nahrungsmitteln im Film geht, müssen die Nahrungsmittel ent-

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„Die erzählten Geschichten sind nicht so passiert, sie müssen aber so gestaltet sein, dass sie so hätten passieren können“, schreibt Lenz (2006: 236).

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sprechend zubereitet und auch von den Schauspielern mit ihren Körpern aufgenommen (oder diese körperliche Aufnahme wenigstens simuliert) werden. Das Kulinarische im Film manifestiert sich in audiovisuell codierten Praktiken, das heißt, es entfaltet sich in der Zeit als Trajekt, das sich nicht allein auf die narrative Struktur des Films reduzieren lässt, sondern körperlich inszeniert und in materiellen Trägern und Vermittlern – dabei zuallererst in den Speisen, Getränken und typischen Instrumenten von Zubereitung und Konsum – lokalisiert wird (Schmidt 2012). Das kulinarische Kino lässt sich als darstellender Gebrauch und audiovisuelle Codierung nicht einfach der Nahrungsaufnahme verstehen, sondern spezifischer der ästhetisch-sinnlichen Wahrnehmbarkeit von Essen und Trinken. Es ist ein Kino, das Sinn und Sinnlichkeit des Essens selbst in den Fokus seiner Aufmerksamkeit rückt. Das kulinarische Kino ist ein Geschmacks-Kino, und zwar in seiner ganzen Bandbreite: Erstens arbeitet es die entsprechenden Klassifikationen des Schmeckens und Genießens heraus. Es plausibilisiert und etabliert Kategorien des Schmackhaften und des Ungenießbaren, beispielsweise dass ein Wein „korken“ kann, dass ein Kaffee stark, aber nicht zu stark sein darf, dass Soßen sämig zu sein haben und Zutaten generell frisch. Zweitens präsentiert es die typischen Materialien, das heißt die Zutaten – Früchte, Fleisch, Milchprodukte et cetera, aber auch Öle, Kräuter und Gewürze – und deren Transformation zu schmackhaften Gerichten, wozu allerlei spezielle Instrumente eingesetzt werden: Mörser und Messer, Kochtopf und Kochlöffel, Schürze und Topflappen, Backofen und offener Grill. Drittens muss es auch seinen zentralen Akteuren (zum Beispiel Koch, Gourmand oder Gourmet) eine Bühne bieten und ihre entsprechenden kompetenten kulinarischen Handlungen (Vorbereiten der Zutaten, kontrolliertes Garen, Abschmecken und Anrichten, Degustieren und Probieren und viele mehr) würdigen. Das kulinarische Personal folgt „genau festgelegte[n] Vorschriften“, indem es Zutaten zunächst trennt und zerkleinert, um sie „zu wohl geordneten Formen neu zusammen[zusetzen]“ (Rigotti 2003: 40) und um diese Produkte zu verspeisen. Die kulinarisch geübten Körper werden phänomenologisch nicht nur in ihren „ways of the hand“ (Sudnow 2001) sondern auch in ihren „ways of the mouth and the tounge“ beschrieben. Dazu kommen die entsprechenden Gesten und Mimiken des Genießens: den Mund öffnen, die Augen schließen, das Gesicht langsam von unten nach oben heben, um das Einatmen und damit das Riechen anzuzeigen, die Gabel und das Glas zum Mund führen, sorgfältiges Kauen und Schlucken. Abschließendes Streicheln oder Beklopfen des Bauches. Viertens schließlich werden die mit den kulinarischen Codierungen und Praktiken einhergehenden Relationen thematisiert: Das Servieren ist noch immer Urbild der zur Gemeinsamkeit

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verpflichtenden Gabe (Mauss 1989); aber auch der Gast, der sein Steak well done gebraten möchte, positioniert sich möglicherweise am Rande einer kulinarischen Gemeinschaft,8 während das vom Gault-Millau prämierte feine französische Restaurant oder der Tempel der Molekularküche als Orte des Genusses ebenso diffizil wie exklusiv sind. Im Sinne einer kulinarischen Aufklärung dient das Kino aber auch als Verbreitungsmedium eines besonderen sinnhaft-sinnlichen Wissens, motiviert zur Aufnahme von kulinarischen Kommunikationsprozessen und macht deren praktisches Zustandekommen so wahrscheinlicher (Föls 2003: 7f.).

D IE B EITRÄGE

DES

B ANDES

Auch wenn gesellschafts- und kulturanalytische Fragestellungen im Vordergrund stehen, sollen im Rahmen des vorliegenden Bandes unterschiedliche Perspektiven auf die in Filmen generierten Bilder von Ernährung entwickelt werden. Neben dem eigentlichen Konsum von Nahrungsmitteln – beispielsweise dem genussvollen Essen und seinen sozialen Dimensionen von Vergemeinschaftung – geraten auch die Bedingungen der Nahrungsproduktion und -zubereitung in den Blick, wie sie für die Gegenwart typisch sind. Die methodische Herangehensweise an die Beobachtung und Beschreibung der Filme in diesem Band sollte von Anfang an möglichst ohne allzu strengen Rahmen auskommen. Es geht darum, jene „Pluralität von Perspektiven“ (Winter 1992: 21), die immer schon bei jeder Rezeption eines Films gegeben ist, durch die Zusammenführung von heterogenen Wissenschaftskontexten möglichst effektvoll präsent zu machen. Dabei treten neben Analysen von einzelnen Werken, die sich explizit mit dem weiten Themenkreis des Kulinarischen beschäftigen, auch Beiträge, die sich der Reprä-

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Hiermit soll der Umstand angedeutet sein, dass es möglich ist, sich durch bestimmte kulinarische Vorlieben mal mehr oder mal weniger in eine Gemeinschaft zu integrieren. Ein Essender, der sein Steak vollständig durchgebraten verzehren will, verstößt gegebenenfalls gegen kulturelle Codes, die den Genuss des Steaks an dessen Konsistenz binden: Jetzt hat man das Kobe-Rind schon handmassiert, und dann zerstört der Wunsch des Gastes genau diesen Geschmacksvorteil. Besonders schön zeigt dies auch eine Situation in Bella Martha (2001), in der sich die Köchin Martha dem Wunsch eines Gastes verweigert und ihm die korrekte Zubereitung der foie gras erläutert. Der Gast ist damit schnell aus der kulinarischen Gemeinschaft des Restaurants ausgeschlossen.

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sentation von Essen und Trinken als kulinarische Praktiken über mehrere Filme hinweg widmen. Die Filme selbst werden nicht als geschlossene Kunstwerke betrachtet, die es hermetisch zu deuten gilt. Sie sind vielmehr Prätexte, die „als Vorwand und als Rohmaterial [dienen], das erst in seiner medialen Weiterverarbeitung dann seinen Sinn findet“ (Werner 2010: 13f.). Die „Interpretationsvariabilität“ (Winter 1992: 71), die dadurch gewonnen wird, ermöglicht es, die Filme als Indizien und Indikatoren für die Analyse der Ernährung der (Welt-)Gesellschaft heranzuziehen und den kulturellen Leistungen des Kulinarischen auf verzweigten Wegen nachzuspüren. Der Weg ist das Ziel, und alle Wege führen zur Kulinaristik, obwohl man hier vielleicht eher den Plural als den Singular bemühen sollte und von den Kulinaristiken sprechen muss – also von vielen Wegen, vielen Zielen, vielen Zutaten, vielen Köchen, vielen Speisen, vielen Gängen, vielen Geschmäckern. Dies alles schafft ein komplexes, polykontexturales Forschungsfeld, das durch die „Beobachtung der Unterhaltungskommunikation einer Gesellschaft (…) Rückschlüsse darauf [ermöglicht], was und wie diese Gesellschaft beobachtet, welche Themen sie beschäftigen und vor allem welchen Risiken und Chancen Aktualität zugeschrieben wird.“ (Görke 2006: 200) Die hier behandelten Filme des kulinarischen Kinos bedienen sich der Ernährung unmittelbar oder als Metapher, bieten implizit oder explizit Informationen über jeweils vernünftiges und unvernünftiges Ernährungsverhalten, können Gesellschaft mal beschreiben, mal beeinflussen und werden mit ihren erfundenen Geschichten und erträumten Situationen als soziale Dokumente im Sinne Friedmann und Morins verstanden. Filme werden so in ihrer Art und Weise, kulinarische Praktiken zu thematisieren, als Gesellschaftsbeobachtungen und Gesellschaftsbeschreibungen sichtbar und können als Kommentare zu relevanten sozial- und kulturwissenschaftlichen Konzepten und Fragestellungen aufgefasst werden: Körper- und Selbstkultivierung (zum Beispiel durch essensbezogene Tätigkeiten wie das Kochen, Genießen oder Diät halten), die Herstellung von kollektiven und intimen Beziehungen (zum Beispiel durch die emotionalen Netzwerke, die über die inklusive, familiäre und freundschaftliche oder auch exklusive romantische Tischgemeinschaft geknüpft werden), die Modernisierung und Ökonomisierung von Nahrungsmitteln (zum Beispiel durch die Auswirkungen moderner Gastronomieorganisationen auf den Konsum) oder auch die Grenzen des als vertraut geltenden Sozialen (zum Beispiel über die Thematisierung extremer Lebensmittelknappheit oder von Kannibalismus). Teil I, Kulinaristik und Cineastik als kulturelle Leistungen, versammelt Beiträge, die den Zusammenhang von Essen, Trinken und ihrer filmischen Inszenierung in den Blick nehmen. Sowohl das Kulinarische als auch das Cineastische lassen

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sich als Bereiche spezifischer Sinngebung beschreiben. Im Zentrum stehen dabei die filmischen Funktionen des Kulinarischen respektive die Übersetzungen kulinarischer in cineastische Ästhetiken und umgekehrt. MADELINE DAHL betrachtet Essen und Trinken vor allem als Codes, die zur Entwicklung filmischer Narrative beitragen, indem sie die soziale Situierung der Protagonisten anzeigen oder die Erzählung in einer Alltäglichkeit verankern, die dem Film eine grundsätzliche Verstehbarkeit und Glaubwürdigkeit verleihen – gerade dann, wenn Essen und Trinken nicht explizites Thema von Filmen, sondern Bestandteil der Mise-en-scène ist. IRENE SCHÜTZE widmet sich stattdessen der expliziten Darstellung der Kochkunst in Ang Lees Eat Drink Man Woman und kontrastiert den darin inszenierten Traditionalismus der chinesischen Küche mit dem auf Exotismus und Innovation angelegten Kochen in Tsui Harks The Chinese Feast: Anhand der filmischen Übersetzung der Kochkunst in Filmkunst werden die ästhetischen Konturen chinesischer Film- und Kochkultur imaginiert. Zu zeigen, dass das Filmgewerbe erst noch eine eigene kulinarische Qualität entwickeln musste, ist das Anliegen von THOMAS STRUCK. Er rekonstruiert ebenso biographisch wie historisch geleitet den Stellenwert, den Essen und Trinken im Kino als Ort der Unterhaltung einnimmt, stellt dieser Entwicklung den Aufstieg des Food Films gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass sowohl im Kochen wie im Filmen kulturelle Arbeit am Wirken ist. Die technischen Bedingungen des Essens zwischen vermeintlicher Natürlichkeit, industrieller Nahrungsmittelproduktion und kulinarischem Genießen werden sowohl im Aufsatz von SUSAN GROSS und JANINE LEGRAND als auch im Beitrag von THOMAS VILGIS beleuchtet. Filme, die die Zubereitung von Nahrungsmitteln in den Fokus rücken, nehmen auch Stellung zu der Frage, wie modern und technisiert Ernährung sein darf (oder muss) und wessen Bedürfnisse damit jeweils gestillt werden sollen. Dabei werden die Ambivalenzen zwischen der kritischen Ablehnung industriell gefertigter Nahrung in Louis de Funès Brust oder Keule und der Dokumentation des sublimen Einsatzes gastronomischen High-Techs in der Sterneküche Ferran Adriàs in El Bulli thematisiert. Dass Geschmack als Kennzeichen einer kulinarischen und gustatorischen Ästhetik sowohl kollektiv hergestellt als auch kommuniziert und sozial stabilisiert werden muss, zeigt die Filmanalyse des japanischen Films Tampopo von DANIEL KOFAHL. Er interpretiert den Film zudem als optimistischen Beitrag zu einer Kultur des Genießens und des reflexiven Schmeckens sowie als Kritik an einer isoliert an Gesundheit und metabolischer Funktionalität ausgerichteten Ernährung.

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Die Aufsätze in Teil II, Essen und Trinken zwischen Vergesellung und Vergemeinschaftung, stellen sich der Frage, wie Zubereitung und Konsum von Nahrungsmitteln im Film dazu eingesetzt werden, soziale Beziehungen sichtbar zu machen. GERRIT FRÖHLICH nutzt den Kommunikationsbegriff von Luhmann, um den Zusammenhang von Intimität und Ernährung emotionssoziologisch zu erfassen. Anhand des Liebesfilms Bittersüße Schokolade wird die symbolische Kommunikation von Liebe und Sexualität durch das Kochen und Essen durchleuchtet, mit der sich das Liebespaar zugleich findet und von der weiteren Gesellschaft abgrenzt. Demgegenüber spürt BENEDIKT JAHNKE dem Zusammenhang von Küche und biographischer Entwicklung im Film Zimt und Koriander nach, der die politische Geschichte griechischstämmiger Türken in Istanbul anhand der privaten Geschichte des Protagonisten Fanis erzählt. Die Leidenschaft des Hobbykochs Fanis strukturiert dabei die Beziehungen zu seinen Eltern, zu seiner Jugendliebe und zu seinem Großvater, die ihn im Laufe der Geschichte wieder zurück nach Istanbul führen. Auch in Babettes Fest bildet eine Jugendliebe den Anlass, die integrative Dimension einer Tischgemeinschaft darzustellen. In die religiöse Enge eines pietistischen Pfarrerhaushalts dringen hier die Weltgewandtheit eines Offiziers und die kulinarische Sinnlichkeit einer französischen Exilantin ein. PETER PETER liest dies als Erzählung über die zivilisierende und damit befriedende und befreiende Kraft des kulinarischen Genusses. LARS ALBERTH thematisiert den privaten Raum der Familie im Film Eine Komödie im Mai. Dieser Raum konstituiert sich mittels nahrungsbezogener Gebrauchsweisen des Körpers, die eine geschlechtliche und generationale Ordnung abbilden, die sich darin zeigt, welchen Körpern die Nahrungsproduktion oder Nahrungszubereitung zugemutet und welchen Körpern der Nahrungskonsum gestattet wird. Der Beitrag von NICOLE M. WILK analysiert schließlich den moralischen Aufforderungscharakter der Kinderserie VeggieTales mit den Instrumenten semiotischer Kulturtheorien. Die moralische Codierung von Lebensmitteln dient dazu, entsprechend der religiösen Orientierung der Serienproduzenten eine diätetische, körperpolitische Selbstführung als zentrales Sozialisationsziel zu etablieren. Teil III des Sammelbandes, Ernährung und Entgrenzung – Diesseits und Jenseits des Menschlichen, kehrt die Perspektive grundsätzlich um: Beleuchten die Aufsätze des zweiten Teils Momente sozialer Integration und Strukturierung, fragen

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die fünf Autoren hier nach den im Essen und Trinken eingelagerten Möglichkeiten kultureller Grenzüberschreitungen. Dabei zeigt sich, dass die Darstellungen entgrenzender Ernährung im Film vor allem die Konstitution des Menschlichen problematisieren. Den hedonistischen Konnex von Essen und Sexualität in Das große Fressen kontrastiert JUDITH EHLERT mit den tödlichen Konsequenzen globaler Nahrungsmittelproduktion und Nahrungsdistribution: Massenproduktion und Massenkonsumption, aber auch andauernde Hungerkatastrophen und ökologische Kurzsichtigkeit sind reale Analogien zu einer Konsumhaltung, wie sie vierzig Jahre zuvor in der Todessehnsucht der vier lebensmüden Schlemmer portraitiert wurden. Auch ROBERT PFALLER nimmt Das große Fressen zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Er fragt allerdings stärker nach den kulturellen Bedingungen der zeitgenössichen Kritik am hedonistischen Genuss und kommt zu einer Diagnose der Gegenwart, in der immer stärker Anstoß am Genuss des jeweils Anderen genommen wird. Im Vergleich der Protagonisten des Films mit der Figur der genießenden Raucherin kommt er zu dem Schluss, dass eine materialistische Philosophie nicht an der Angst vor dem Tod in der Zukunft, sondern am guten Leben in der Gegenwart anzusetzen habe. Gegenwärtig wird der Film- und Fernsehmarkt indes vor allem von einem ganz anderen Grenzgänger des Menschlichen heimgesucht: dem Vampir. Für LEA GERHARDS hat sich jedoch das einstmals unheimliche, sich von Menschenblut ernährende und dabei das Opfer aus der menschlichen Gesellschaft herauslösende Monster in eine sympathische Gestalt moralischer Lebens- und Körperführung gewandelt, die ihre innere Natur des unstillbaren Blutdurstes zivilisiert, um Seite an Seite mit den Menschen zu leben. Die letzten beiden Beiträge konzentrieren sich auf die filmische Darstellung des Kannibalismus – des kulinarischen Tabus schlechthin. PETRA F. KÖSTER fragt anhand des französischen Films Delicatessen nach den Möglichkeiten individuellen Handelns angesichts einer apokalyptischen, unmoralischen Welt, in der der menschliche Körper selbst zur Nahrungsquelle anderer geworden ist. CHRISTOPH KLOTTER hingegen wendet die kannibalistische Transgression in Peter Greenaways Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber anthropologisch – als Metapher für die notwendige, jeder Subjektivierung und Identifizierung eigene Einverleibung des Anderen. Er führt den Leser zudem in eine Theorie selbstreferentieller Filmbilder ein, welchen es im analysierten Film gelingt, die fragile Oberfläche des Zivilisatorischen mithilfe kulinarischer Spannungen aufzubrechen.

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Kulinaristik und Cineastik als kulturelle Leistungen

Essen als Nebensache Über die narrativen Funktionen und Vorzüge von Codes aus dem Bereich der Ernährung im Film M ADELINE D AHL „Beurteile die Menschen nicht nach dem, was sie reden, sondern nach dem, was sie tun. Aber wähle zu Deinen Beobachtungen solche Augenblicke, in welchen sie von Dir unbemerkt zu sein glauben. Richte Deine Achtsamkeit auf die kleinen Züge, nicht auf die Haupthandlungen, zu denen jeder sich in seinen Staatsrock steckt. Gib acht auf die Laune, die ein gesunder Mann beim Erwachen vom Schlafe, auf die Stimmung, die er hat, wenn er […] geweckt wird, auf das, was er vorzüglich gern ißt und trinkt […].“ ADOLF KNIGGE, 1788

Wird man nach Essensszenen im Film gefragt, entsinnt man sich zumeist der Filme, in denen die Essensthematik eine hervorgehobene oder sogar Hauptrolle spielt, wie beispielsweise La grande bouffe (Das große Fressen [1973]). Erst im Nachhinein fällt auf, wie oft man den „filmischen Alltag“ übersehen hat, mit seinen kleinen Küchenszenen und beiläufigen Snacks, wie oft Filmfiguren zu Tisch sind und wie oft die guten Sitten und Regeln der Ernährung ausgereizt werden. Im Folgenden soll daher über die Skizzierung hierfür relevanter filmischer Besonderheiten und die Besprechung ausgewählter Szenen der Frage nachgegangen werden, warum vor allem im Spielfilm überhaupt gegessen wird

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und welche Funktion der Bereich der Ernährung für die Narration und damit für den Film als Filmerlebnis erfüllen kann. Film ist ein sich in der Zeit abspielendes audiovisuelles Kunstwerk und damit gleichzeitig in dieser begrenzt. Er zeigt immer nur eine, selbst bei Überlänge selten mehr als vierstündige Episode aus der Entwicklung seiner Welt und dem Leben ihrer Bewohner. Und dennoch bauen die Zuschauer Erwartungen und Vorstellungen auf, versuchen die Lebenslinien und Geschichten nachzuvollziehen und sie in ihrer quasi über den Film hinauswachsenden Gesamtheit zu erfassen. Da die Narration eine der basalsten Ordnungsstrukturen des Spielfilms ist, können mithilfe dieser bestimmte Eigenheiten herausgearbeitet werden. Narrationen besitzen inhärente Strukturen, die vor allem bewirken, dass eine Geschichte eine gewisse Kontinuität aufweist und über einleitende und Überblick verschaffende Momente verfügt. Es muss zudem sichergestellt sein, dass für das Verständnis der Kerngeschichte und deren Sinngebung ausreichend (Hintergrund-) Informationen dargeboten werden, aber auch, dass der Fokus auf das Wesentliche gerichtet wird und nicht durch unnötige Ausschweifungen der rote Faden verloren geht (vgl. bspw. Flick 2009: 228ff.; Bordwell 1989: 26). Eine weitere Besonderheit des Films ist seine denotative Kraft. Metz spricht in diesem Zusammenhang von „short-circuit signs“ (vgl. 1982: 224; 240ff.), womit gemeint ist, dass Signifikant und Signifikat der filmischen Zeichen nahezu identisch sind und daher der Zuschauer mit einem konkreten Image konfrontiert wird. Diese visuelle Direktheit begründet einerseits die denotative Kraft, wodurch auf der Ebene der Kern- oder Grundbedeutung eines Zeichens genau diese direkt vermittelt werden kann, und andererseits auch einen „visuellen Zwang“, denn es muss entschieden werden, was gezeigt wird und auf welche Weise. Monaco macht daher darauf aufmerksam, dass selbst kleinste Details dem Zuschauer ins Auge fallen und hierdurch die ganze Komposition in ihrer Lesart beeinflussen können, ganz gleich, ob der Filmmacher dies intendierte, wahrnahm oder es einfach als zwar überflüssiges, aber auch nicht weiter störendes Element überging (vgl. Monaco 2009: 54). Selbst bei einem derart minimalistischen Szenenaufbau wie in Dogville (2003) konnte kein „in einem Raum“ inszeniert werden, ohne nicht zumindest Entscheidungen über den Bodenbelag und die darauf befindlichen Grundrisse zu treffen. Minimalismus ist nicht gleichbedeutend mit Mangel an Details oder gar mangelhafter Umsetzung. Jedes gezeigte Detail ist Teil der Komposition und trägt Bedeutung. Die Schwierigkeit im Bereich der Mise-en-scène ist folglich eine Gratwanderung auf mehreren Ebenen. Ist die Komposition zu unbedacht oder gar lieblos gestaltet, kann sie den Zuschauer auf Abwege führen, auf dass er den Hauptstrang der Storyline verliert und sein Filmvergnügen in Verdruss übergeht. Filmschaffende, die die-

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sen visuellen Zwang hingegen für sich nutzen und teilweise Szenerien mit vielen bedeutungsschwangeren, fast schon berechnend gewählten und platzierten Details versehen, lassen den Zuschauer zwar befürchten, dass er diese Fülle gar nicht gänzlich erfassen kann, aber zumindest auch erahnen, dass all dies zu tieferem Verständnis beiträgt und regen gerade somit oft zu mehrmaliger Rezeption des Werks an. Neben der denotativen Ebene ist daher die konnotative, das heißt jene der Nebenbedeutungen von Zeichen, deren ungemeine Bandbreite an Assoziationen und Suggestionen, für das Filmverständnis essenziell – besonders in Anbetracht der Fähigkeit des Films, sich so vieler Codes anderer Kunst- und Kulturbereiche zu bedienen (vgl. Metz 1982: 239; allg. Monaco 2009). Nimmt man diese auf den Film wirkenden Einflüsse und die angedeuteten Eigenschaften seiner selbst zusammen, wird deutlich, dass auf dem Weg hin zu einem fertigen Film Verschiebungen und Verkürzungen vorgenommen werden müssen. Manches funktioniert auf dem Papier, lässt sich aber nicht umsetzen oder wirkt einfach nicht, anderes würde zu ausladend oder plakativ wirken. Entscheidend sind also die verwandten Codes und Zeichen, denn Film produziert „mittels Zeichen Bedeutungen, oder genauer Anlässe für Bedeutungen“ (Winter 1992: 24). Das System der Codes kann dabei am einfachsten als loses Regelsystem im Film gedacht werden. Sie stellen sozusagen die Rahmen dar, innerhalb derer die jeweiligen Zeichen zugeordnet und kombiniert sowie die entsprechenden Bedeutungen generiert oder aktualisiert werden. Codes oder allgemein Konventionen der Bedeutungsproduktion dienen folglich als Orientierungsschemata und können somit von allen Seiten – den Zuschauern, den Filmmachern, -kritikern und -theoretikern – als Hilfsschablonen genutzt werden, um sich dem Film als Werk zu nähern (vgl. allg. Monaco 2009; Winter 1992; Metz 1974). Filmisch effektive und effiziente Codes lassen sich dabei exemplarisch anhand der Darstellung und Einbettung von Charakteren erläutern. Allgemein bleibt im Rahmen des Films wenig Zeit für ausufernde Biografiedarlegungen – der weitaus größte Teil wird über Andeutungen und Hinweise vermittelt. Dabei wird gerne auf Zeichen des common sense, des praktischen Bewusstseins oder auf verbreitete kognitive Muster zurückgegriffen, da es sich hierbei um unspezifische, allgemein kulturelle, aber auch distinktive Zeichen beziehungsweise verbreitete Erwartungsgeneratoren handelt, wodurch die Filmrealität verständlich und gleichzeitig plausibel einführbar wird. Unterschiede liegen vor allem in der Allokation und Raffinesse der Zeichen vor. So dienen die so genannten flat characters in ihren einfachsten Ausformungen der Belebung des Settings und existieren aus ihrer handlungstreibenden Zweckdienlichkeit heraus. Solche eindimensionalen Nebenfiguren stellen eher

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Typen oder Klassen von Rollen dar und können mittels prägnanter und plakativer Zeichen ausreichend genau dargestellt werden.1 Auch für die round characters bleibt nur begrenzter Raum und knappe Zeit, selbst hier muss mit Verdichtungen und Akzentuierungen gearbeitet werden. Doch müssen sie authentischer, glaubhafter und lebendiger erscheinen, da sie für die Zuschauer in ihren Handlungen und Motivationen verstehbar sein müssen und auf menschlicher Ebene involvement generieren sollen. Sie müssen rund und vollständig erscheinen, als könnten sie eben wirklich ein Leben über den Tellerrand des Films hinaus führen. Die Art ihrer Darstellung ist also raffinierter, sorgfältiger durchdacht und mehrdimensional; die Zeichen facettenreicher, die Hinweise subtiler. Ihre Integration in das Setting und die Handlung des Films erfolgt somit auf „alltäglichere“ und umfassendere Weise, was eben leicht durch die Andeutung eines Alltags geschehen kann. Der Zuschauer nimmt den Charakter daher auf „natürlichere“ Weise wahr und empfindet ihn als glaubhafter und eben „runder“. Es bedarf also gewisser Hintergrundinformationen bezüglich des sozialen Status, der wahrscheinlichen Bildung, dem gesellschaftlichen Umgang, der geteilten Werte und gelebten Normen, des allgemeinen „Geschmacks“. Was round von flat characters unterscheidet ist folglich eine komplexere Darstellung ihres Habitus und damit verknüpfter sozialer Praxisformen, durch die das Bild einer Figur im Kopf des Zuschauers zu einem runden vervollständigt werden kann. Man erhält einen Eindruck davon, wie die Person „sonst noch so ist“.

„S OMEONE

PASS THE ASPARAGUS , PLEASE !“

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So bietet beispielsweise der Code des Familienessens die Möglichkeit, mittels einer überaus plausiblen Situation der Zusammenführung verschiedener Charaktere – mit dazugehörigen Tischgesprächen und über Darstellung der Art der Speisen, des Servierens, der Tischmanieren, der Ausstattung und vieler weiterer Details – ein ausgereiftes Bild eines Sozialgefüges mitsamt seinen Dynamiken und Entwicklungen zu zeichnen. Die einzelnen Figuren erfahren dadurch nicht nur eine soziale Einbettung, sondern auch eine Vertiefung ihrer Charakterzeichnung.

1

Beispielsweise der namenlose, durch seine Uniform und sein Gewehr eindeutig als Soldat gekennzeichnete Kleindarsteller, der plötzlich aus dem Bild gerissen wird: Er ist weg, die Bedrohung da.

2

Zitat entnommen aus: American Beauty (1999).

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In American Beauty (1999) wird nicht nur die alltägliche Beklemmung und erdrückende Kraft der sozialen Zwänge in der Suburbia stellvertretend durch die dort herrschenden Tischsitten demonstriert, sondern vor allem durch narrative Interpunktion in Form eines Vorher-Nachher-Schemas die Verwandlung des Lester Burnham auf der Ebene seines Habitus und damit auf der seines alltäglichen Lebens dargestellt – einfach indem man ihn zweimal mit seiner Familie beim gemeinsamen Abendessen beobachten kann. Das Esszimmer stellt eine geschlossene, von wenig Licht erfüllte und von vertikalen Linien dominierte Komposition dar. Diese betont zusätzlich den langen Tisch, an dessen Enden sich die Ehepartner gegenübersitzen – die Situation ihrer Ehe, ihre persönliche Distanz, hat sich in ihrem Esszimmer manifestiert. Der Blick auf diesen langen, trennenden Tisch bleibt während der gesamten Szene das dominierende Moment. Die Kamera lässt uns entweder die Familie in ihrer distanzierten Sitzkonstellation inmitten dieses zellenhaften Esszimmers sehen oder präsentiert die Familienmitglieder einzeln in medium close-ups, die in der Form von Schuss/Gegenschuss geschnitten sind. Ein Zusammenkommen scheint nur noch durch die ritualisierte Situation des allabendlichen Familienessens möglich zu sein. Eine wirkliche gegenseitige Interessensbekundung und ein angeregter freundlicher Austausch finden nicht statt, nicht einmal die obligaten Berichte über den eigenen Tag werden gegeben oder gewährt.3 Das an sich schon kurze Tischgespräch stellt eher eine Aneinanderreihung gescheiterter Kommunikationen dar. Auf der Ebene des Tons wird dieses Unbehagen und die „Nicht“-Kommunikation durch ironisch idyllische Musik und das deutliche Geräusch des Bestecks unterstrichen. Die einzige Figur, die sich trotz dieser Atmosphäre noch nicht gänzlich unbehaglich zu fühlen scheint, ist die Mutter Carolyn. Sie sitzt aufrecht und elegant gekleidet, die Gabel locker mit der linken Hand am hinteren Ende gegriffen, den Zeigefinger dezent auf dem Griff abgelegt, um mit den Zinken nach unten zeigend geschickt und in kleinsten Häppchen das Essen aufnehmen zu können. Ihre Spiegelposition im Sinne eines Negativbildes nimmt Lester ein. Er ist in sich zusammengesunken und wirkt durch die hängenden Schultern und mangelnde Körperspannung in seinen an sich adretten Kleidern kleiner und verlorener als er wirklich ist (vgl. Abb. 1). Es ist, als würde das Leben auf ihm lasten, und der Zuschauer weiß zu diesem Zeitpunkt längst, dass er nicht glücklich ist. Er hebt seinen Blick nicht auf Augenhöhe der anderen, kaut fast schon verstohlen vor sich hin und als seine Tochter mit sarkastischem Kommentar den Raum verlässt, sieht er ihr nur

3

Für einen allgemeinen Überblick zur sozialen und sozialisierenden Funktion von Tischgesprächen vgl. Kaufmann (2006) und Keppler (1994).

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machtlos nach. Auf Carolyns daraufhin folgende verbale Attacke hin traut er sich kaum laut zu sprechen oder den Blick zu heben. Doch seine Manieren sind trotz seiner offensichtlichen Verärgerung und Unzufriedenheit am Ende der Szene noch gut genug und zu tief verwurzelt, als dass er darauf verzichten könnte, sich mit der Serviette den Mund abzutupfen, bevor er aufsteht und Jane folgt – mit der Rechtfertigung das Dessert holen zu wollen. Abbildung 1: Dinner bei den Burnhams, vor und nach der Eskalation der familären Krise

Quelle: DVD American Beauty, im Vertrieb von Paramount Home Entertainment

Das hieraus entstehende Familienbild wird im Sinne eines Statusberichts in einer zweiten Essenszene aktualisiert, um die Verwandlung Lesters und damit zusammenhängende Veränderungen des gesamten familiären Gefüges darzustellen. Carolyn hat eine Affäre mit einem Geschäftsrivalen begonnen, Jane einen vermeintlichen Seelenverwandten gefunden und Lester seinen Job gekündigt, eine Abfindung erpresst und sich in eine blutjunge Cheerleader-Freundin seiner Tochter vernarrt. Die Ausgangssituation ist demnach eine andere und das sieht man: das Licht ist härter, der Tisch diesmal mit einem weißen Tuch versehen, der Strauß Rosen aus der ersten Essensszene verschwunden – der Raum ist konturenreicher und damit auch beengender und bedrückender. Lester sitzt mit offe-

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nem Hemd in legerer Pose am Tisch und nimmt einen kräftigen Schluck aus seiner Bierflasche, im Hintergrund ertönt Call Me Irresponsible von Bobby Darin. Carolyn hat den Griff um ihr Besteck auffällig gefestigt und hält sich regelrecht an diesem fest. Der Einstieg in das zweite Familienessen ist damit voll greifbarer Spannung. Als Jane sich nach Verspätung hinzugesellt, bricht auch direkt ein grotesker Schlagabtausch los. Das Besteck wird dabei immer aggressiver als Gestikulationshilfe eingesetzt und die Stimmen werden lauter. Selbst Carolyn fällt es dabei zunehmend schwer, „damenhaft“ zu bleiben. Sie vergisst stellenweise die Etikette und ihre Fassade wird brüchig. Lester hingegen kümmert sich gar nicht mehr um derlei, er beißt kräftig zu, trinkt sein Bier und bedient sich selbstbewusster, großer Gesten. Die Abfolge von Schuss/Gegenschuss auf abwechselnd Carolyn und Lester wird dabei auf entscheidende Weise immer durch eine Einstellung von Jane unterbrochen. Diese kann den Kopf nur noch fassungslos von einem Elternteil zum anderen wenden und folgt so dem über ihren Kopf hinweggeführten Schlagabtausch ganz wie einem Tennismatch. Jane wird damit in die Position eines Zuschauers gerückt, wodurch der eigentliche Zuschauer wiederum ein Gefühl für die Wahrnehmung der Szene aus ihrer Perspektive erhält. Berühmt geworden an dieser Essensszene ist allerdings der anschließende Ausbruch Lesters aus seinem bisherigen Leben, aus den Konventionen und geregelten Bahnen. Als er nämlich nach dreimalig geäußertem Wunsch, die Spargelplatte gereicht zu bekommen, immer noch ignoriert wird, steht er den Stuhl laut zurückschiebend auf, schreitet festen Schrittes an das andere Tischende und nimmt mit unnachahmlich demonstrativer Geste den Spargel selbst an sich. Für einen Moment herrscht Sprachlosigkeit. Der frühere Lester, das heißt jener aus der ersten Essensszene, hätte sich jeder Konfrontation zu entziehen versucht und wäre zu einer derart provokativen Geste gar nicht fähig gewesen. Durch dieses völlig neue Auftreten beginnt Lester offensiv seine Position im familiären Gefüge neu zu verhandeln. Als Carolyn, die in ihrer Anspannung mittlerweile hysterisch wirkt, Lester dennoch ins Wort fällt, ist dieser endgültig auf einem Höhenflug und schmeißt in ruhiger und bestimmter Manier die Spargelplatte gegen die Wand, stützt sich mit breiter Brust auf den Tisch und sagt: „Don’t interrupt me, honey.“ Die Spargelplatte dient hier der symbolischen Inszenierung von Lesters Wandlung. In kristallisierter Form wird seine Unzufriedenheit, sein Zweifeln an seinem Lebensgang, sein Aufbegehren und letztlich sein Entschluss, aus diesem seinem „Käfig“ auszubrechen, in verkürzter Form auf der Ebene des Essalltags nachgezeichnet. Die Verwandlung von einem ordentlich gekämmten, aber schlaff wirkendem Durchschnittsvorstadtbewohner zu einem ungezwungenen und selbstsicher auftretenden Mann, der gegen Konventionen und Regeln rebel-

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liert und seine gesellschaftlichen Rollen in Frage stellt, wird hier durch eine direkte Gegenüberstellung dieser beiden Habitus Lesters und in einem Tellerwurf als totalem Ausbruch kulminierend gerahmt. Würde der bloße Erwerb eines roten Firebirds noch niemanden davon überzeugen, dass hier jemand mit der Midlifecrisis Ernst macht, so schafft dies eine Wandlung, die sich direkt auf den Bereich des familiären und alltäglichen Verhaltens und die dortigen Routinen hindurch auswirkt, sicherlich. Sein Ausbruch aus den mittelständischen Tischsitten und die Neuverhandlung der Familiendynamiken stehen für seine Absage an seinen bisherigen Lebensentwurf, und der Ort der Austragung vermittelt, wie tiefgreifend diese Veränderungen sind. Die paradigmatische (also die gewählten Zeichen und Modi der Habitusdarstellung) und die syntagmatische (die Einbettung der Szenen in den Handlungsverlauf) Konnotation4 verstärken sich hier geschickt gegenseitig und haben als konzentrierte Fassung der Figurenentwicklung essenzielle narrative Funktion für den Film als Gesamtwerk. Die Suburbia als Setting und sozialer Raum wird auch in Edward mit den Scherenhänden (1990) eingesetzt, wenn auch weit überspitzter. Der Film lässt den Zuschauer hier fast schon zum Beobachter eines fingierten breaching experiment werden, durch das der Alltag einer typischen Suburbia-Familie als einengend und absurd vorgeführt wird. Für den scherenbehändeten Sonderling Edward sind nämlich viele der dort herrschenden Regeln nicht selbstverständlich beziehungsweise teilweise auch gar nicht ausführbar. Durch die Skurrilität des Außeralltäglichen und des Nichtverstehens von angenommenem common sense wird der unhinterfragte Alltag als ebenso skurril entlarvt. So wird im gesamten Verlauf immer wieder ein komplettes Besteck für Edward aufgelegt sein, auch wenn er sich dessen offensichtlich gar nicht bedienen kann (vgl. Abb. 2). Darüber hinaus stellt Edward durch sein Verhalten und seine Besonderheiten auch eine Irritation im Gefüge dar und bedroht somit die Selbstverständlichkeit vieler Regeln. Die Gemeinschaft selbst hat auch nur insofern nachhaltiges Interesse an ihm, als es darum geht, ihn entweder soweit einzupassen, dass er keine Bedrohung mehr für das fragile Konstrukt ihrer Lebensweise darstellt, oder ihn eben zu verbannen. Angedeutet wird diese Spannung direkt in der ersten gemeinsamen Essensszene, die hauptsächlich aus der Sicht Edwards gezeigt wird, welche darin besteht, dass riesige Klingen und Scheren in die Szenerie eines Familienessens hineinragen. Außerdem erscheint das Esszimmer eher als kleine graue Zelle ohne sichtbare Ein- oder Ausgänge denn als gemütlicher Ort der Zusammenkunft. Erst als Edward beginnt, sich anzupassen und vor allem, sich nützlich zu

4

Vgl. hierzu allg. Fiske (1990: 58); Monaco (2009: 181ff.).

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machen, erhellt sich der Raum und die Zugänge werden sichtbar. Der Außenseiter selbst wird hier also im Gesamten nicht unbedingt mit einer einladenden oder aus seiner Sicht erstrebenswerten Lebensweise konfrontiert. Abbildung 2: Widrige Mahlzeitensituation

Quelle: DVD Edward mit den Scherenhänden, im Vertrieb von Twentieth Century Fox Home Entertainment

Auch in Drive (2011) wird das Familienessen als funktionale Szenerie verwandt. In einem Film, der weniger durch Worte als mittels seiner Neo-Noir-Ästhetik und Musik erzählt wird, wurde durch die Einbindung der Situation des Familienessens ein ansprechender Weg gefunden, um einerseits die Gefühle zwischen dem namenlosen Driver und seiner jungen, rehäugigen Nachbarin Irene zu verdeutlichen und andererseits die Storyline zu voranzutreiben, da hier mehrere Stränge zusammengetragen werden. Kurz nachdem sich die beiden näher kamen, wird Irenes Mann und Vater ihres Sohnes aus dem Gefängnis entlassen. Als sie alle gemeinsam am Tisch sitzen, sieht man selbst dem Sohn leichtes Unbehagen mit der Situation an. Der Vater versucht über betont lockere und private Anekdoten aus dem gemeinsamen Leben mit Irene das alte Familienbild wiederherzustellen. Besonders gegenüber seinem Rivalen, von dem er zu ahnen scheint, dass dieser gleichzeitig auch seine letzte Hoffnung sein könnte, versucht er, dieses Bild aufzubauen. Dass die beiden Elternteile sich auch hier gegenüber und damit auseinander sitzen, erfährt keine besondere Betonung, wodurch es an sich nicht ungewöhnlich erscheint. Entscheidend an der Konstellation ist vielmehr, dass die neue Bekanntschaft der Mutter zwischen ihnen sitzt und sie bei jedem Satz ihres Mannes verlegen oder verstohlen zu dem Driver hinübersieht. Auf emotionaler Ebene und durch die jüngsten gemeinsamen Unternehmungen bildet dieser zusammen mit ihr und dem Kind eine Art Dreieckskonstellation, die nur noch

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durch den Sohn hin zum Vater geöffnet ist. Die Kommunikation wird daher auch unter Vorwand über den Sohn geführt, beispielsweise indem der Vater ihn fragt, ob er hören wolle, wie seine Eltern sich kennenlernten. Mit seiner Frau ist ein ungezwungenes Tischgespräch, ganz besonders in der Gegenwart des Drivers, einfach nicht mehr möglich. Eine genauere Betrachtung der Kameraführung und der Einstellungen ist hier aufschlussreich. Denn wird der Vater im medium close-up gezeigt, so ist der Sohn im Profil mit im Bild. Wird hingegen der Driver gezeigt, so entweder mittels eines over shoulders aus Irenes Perspektive, so dass ihre beiden Silhouetten sich berühren, oder frontal und alleine. Ist die Kamera auf Irene gerichtet, dann ist sie entweder alleine oder mit ihrem Sohn im Profil zu sehen. Sollte für kurze Zeit ein Teil des einen Ehepartners mit im Bild bei einem medium close-up des anderen sein, dann ist es bloß ein Detail des Arms. Der Sohn zu ihrer Linken ist somit Irenes Brücke zu seinem Vater und ihrem Mann, der Driver zu ihrer Rechten ist eine Trennung von diesem und ihr wahrer Bezugspunkt. Der Ehegatte scheint diese Spannung in der Luft richtig erkannt zu haben und versucht, den nun einmal präsenten „Eindringling“ strategisch auf der „freundschaftlichen“ Ebene zu definieren. Irene hingegen intendierte mit der Einladung des Drivers zu ihren Familienessen seine Anwesenheit fortzuführen und ihn weiterhin zu integrieren. Die Seiten des Tisches beschreiben damit ihre Situation auf emotionaler und lebensweltlicher Ebene und die damit verbundenen Optionen, auch wenn durch die syntagmatische Einbettung der Essenssequenz in den Handlungsverlauf an sich ebenso deutlich gemacht wird, dass die junge, leise Liebe keinen weiteren Weg vor sich hat. Doch die Einfügung des Drivers in das Familienleben unterstreicht auf ruhige und natürliche Weise die Art und Tiefe der Beziehung. Es muss nicht viel geschehen oder explizit gesagt werden: Es reicht, wenn er mit ihr zusammen am Familientisch sitzt.

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FAMILY ’ S ALWAYS BEEN IN MEAT “

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Auf weniger subtilem Weg kann die Essensthematik auch genutzt werden, um gezielt das Milieu eines Charakters darzustellen. In Precious (2009) wird dank der Art der Mahlzeiten kein Zweifel mehr an der sozialen Situation der jungen Protagonistin gelassen. Die jeweiligen Speisen muten fast schon wie eine Verfilmung der entsprechenden Ausführungen in Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede (1987) an: fettig, elastisch, reichlich vorhanden, nicht selten auch von

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Zitat entnommen aus: The Texas Chain Saw Massacre (1974).

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breiiger Konsistenz, ge- bis verkocht und ohne große Mühe serviert. Die in Fett schwimmenden Spiegeleier mit Speck, die Schweinsfüße mit Bohnen und Brei müssen nur vor den Fernseher transportierbar sein – wie sie dabei aussehen, ist Nebensache. Die mit schnellen Schnitten eingefügten close-ups auf die Mahlzeiten stehen hier offensichtlich für die soziale Schicht und sollen die in ihr vorherrschende Lebensweise verdeutlichen. Wenn sich im Laufe der Handlung herausstellt, dass Precious von ihrer Mutter misshandelt wird und von ihrem Vater regelmäßig vergewaltigt wurde, erhält das Essen noch eine weitere konnotative Ebene durch seine syntagmatische Einbindung. Es wird mit dem Ekel und der Gewalt aus Precious’ engstem Umfeld aufgeladen, so wie der Missbrauch wiederum durch die Alltäglichkeit des Kochens und Essens selbst als Routine und Normalität gekennzeichnet: laut brutzelndes Fett und Schweinefüße werden in Szenen sexuellen Missbrauchs geschnitten. Sogar die Dynamik des Habitus als reproduzierendes Prinzip findet sich dargestellt, denn Precious’ Leben wird dominiert von der Härte der unentrinnbaren sozialen Realität, die sie ständig mit neuen Tiefschlägen einholt. Auf der Ebene des Essens wird dies durch ihre eigene An- und Übernahme der Essgewohnheiten symbolisiert, denn sie klaut nicht nur einmal einen ganzen Eimer Chicken Wings, um ihn dann schmatzend, sich verschmierend und die Hände an der Kleidung abwischend zu verspeisen, sondern zeigt auch Unverständnis für die leichteren und obsthaltigen Ernährungsweisen anderer Personen, wie ihrer späteren Lehrerin und einem Krankenpfleger. Sie kennt nicht nur nichts anderes, sie mag mittlerweile auch nichts anderes mehr. Auch hier findet sich also Bourdieus Ausführung in überspitzter Form wieder (vgl. allg. Bourdieu 1987: 277ff.; Müller 1992: 242ff.). Der durch die Mahlzeiten und das Essverhalten symbolisierte Alltag des jungen Mädchens lässt keinen Interpretationsspielraum bezüglich ihrer Herkunft und damit wahrscheinlichen Zukunft. Erst wenn Precious in der zweiten Hälfte des Films versucht, sich aus dieser ihrer Welt zu befreien, sich zu bilden und ihren eigenen Weg zu gehen, endet die Repetition des Motivs des „Unterschichtenessens“: Sie tritt aus der heimischen Küche heraus und lernt neue Speisen (das heißt hier: neue Lebensentwürfe) kennen. Über die Darstellung stark klischeehaften Essverhaltens wird in Precious (2009) folglich eine hoffnungslose Lage als Ausgangssituation gezeichnet, um dann den Versuch des Ausbrechens aus dieser erzählen zu können. Nicht um das Ausbrechen, sondern das Weiterdrehen der Spirale geht es in Natural Born Killers (1994). Hier verfolgt man das medienaffine Killerpärchen Mickey und Mallory Knox bei diversen Gräueltaten, und gerade, wenn man sich fragt, wie solche Gestalten zusammenfinden konnten und woher ihre Freude an sinnloser Gewalt rührt, wird eine Hintergrundgeschichte voll sexuellen Miss-

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brauchs und Traumata angedeutet. Mallorys Familie wird dabei im Stil einer grellen, schlecht produzierten Sitcom inszeniert, in der ein übergewichtiger, arbeitsloser Vater in beflecktem Unterhemd mit Essensresten in den Mundwinkeln und der Bierflasche in ständiger Reichweite unmissverständlich die Unterschicht in klischeehaftester „White Trash“-Manier verkörpert. Der sexuelle Missbrauch und die häusliche Gewalt werden in einem derartigen Kontext natürlich bereitwilliger als wahrscheinlich angenommen, und auch die schiefe Bahn, auf die Mallory gerät, wird so weitaus glaubhafter vorgezeichnet. Der Sprung von dieser Unzivilisiertheit zur Bestialität scheint kein allzu großer mehr zu sein. Die Einbettung der Geschichte Mallorys in diese unappetitliche Essenszene zu Hause ist daher überaus funktional, da sich einerseits dichte Informationen über ihre Erziehung, sozialen Kontakte, wahrscheinliche Bildung und ähnliches andeuten lassen, andererseits über die Inszenierung als Sitcom die Medienversessenheit des Killerpärchens verorten lässt und der Film selbst seine Medienkritik ausführen kann. Die abermalige starke Überzeichnung der ohnehin schon verknappten medialen Stereotypdarstellungen gewisser sozialer Gruppen dient somit sowohl der Charakterzeichnung als auch der Kritik an derartigen Simplifizierungen und Gewaltverharmlosungen bis -verherrlichungen – beides auf für diesen Film typische schnelle und spektakuläre Weise. Doch Speis und Trank finden sich nicht nur in Filmen, die einer ausgereiften Charakterzeichnung bedürfen oder die Figuren und Handlung in glaubhafte, nachvollziehbare Sozialbeziehungen und -dynamiken einbetten wollen. Auch in den eventgetriebenen Handlungen der Horrorfilme werden die Codes der Nahrung und des Essens gerne genutzt. Im Allgemeinen kann in diesem Genre oft auf großflächigere Klischees, Heuristiken und ähnliches zurückgegriffen werden, um eine ausreichend genaue Zeichnung der Figuren, ihrer Beziehungen und Welt zu erreichen. Der Horrorfilm besitzt hier die für Analysen dankbaren „virtues both of familiarity and of simplicity“ (Tudor 1989: vii), ohne dabei jedoch zwingend an Bedeutungsebenen einzubüßen. Die erste Möglichkeit des Einsatzes von Essensszenen im Horrorfilm besteht darin, die Opfer beim Essen zu zeigen. Die Funktion ist eine verkürzte Form obiger Beispiele und schafft kurzfristiges, gerade hinreichendes involvement. In den meisten Fällen ist die Funktion allerdings anders gelagert, denn die Szenen müssen nicht als Teil eines Alltags zur Verfeinerung und Plausibilitätssteigerung der Charaktere und ihrer sozialen Welt dienen, sondern sollen vielmehr die „Realität“ und Art einer Bedrohung charakterisieren und intensivieren. Das Böse selbst wird also zu Tisch gebeten. Die einfachste und anschaulichste Art und Weise ist hier, zu den Grundprinzipien der Nahrung vorzudringen und die menschliche „Nahrungskette“ auszu-

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hebeln, also den Menschen zum Beutetier zu machen. Die Position des jagenden Ungeheuers kann dabei in verschiedenen Abstufungen von alienartigen Kreaturen, die keinerlei menschenähnliche Züge aufweisen, bis hin zu anthropomorphen Geschöpfen eingenommen werden. Hier reicht die Angst von dem gänzlich Fremden und Andersartigen, dem Unbekannten und Unverständlichen demnach bis hin zu dem besonderen Schauer, der sich aus der Ambivalenz von Monster und Mensch ergeben kann. In letzterem Fall ist beispielsweise die mitunter beliebte sexuelle Konnotation der Nahrungsaufnahme eines Vampirs zu nennen, der eben nicht nur als groteskes Monster, sondern ja gerade als galanter Verführer in Menschengestalt aufgebaut werden kann6. Ebenso beliebt ist hier natürlich der Zombie, der als Untoter ebenfalls einmal ein Mensch war und nun zu einer wilden Kreatur verkommen ist, die nur noch „primitivsten“ Trieben folgt. Das Schaurige besteht in Zombiefilmen oft in der Angst, selbst zu einer derartigen wilden, entmenschlichten Existenz werden zu können, die sämtliche intellektuellen Fähigkeiten, alle Ordnung und Zivilisation hinter sich lässt und zwischen Freund und Feind und Mahlzeit keinen Unterschied mehr macht – oder im Kampf gegen diese Bedrohung mitansehen zu müssen, wie die Zivilisation als Maske auch von den Lebenden abfallen kann. Doch das Genre würde sich selbst nicht ernst nehmen, wenn es sich nicht auch eines der größten Tabus unserer „zivilisierten Welt“ bedienen würde, der „totalen Aggression“ (Spiel 1974: 7): Kannibalismus. Es gibt wenige Möglichkeiten, die Perversion und psychopathische Natur einer menschlichen Figur deutlicher und effektvoller dazustellen. Der an sich schon schockierende Akt des Mordes erfährt eine perverse Intensivierung durch die darauffolgende Umfunktionierung des menschlichen Körpers zu einem Nahrungsmittel, denn diese endgültige Entwürdigung durch Einverleibung läuft der christlich-humanistischen Idee des menschlichen Lebens als Zweck an sich gänzlich zuwider. Dem entspricht auch die Verwendung von Fleischerbank und haken als „nützliche“ Requisiten bei den Morden in dem Klassiker The Texas Chain Saw Massacre (1974). Diese Instrumentarien wurden zum Schlachten von Tieren und ihrer Verarbeitung zu Nahrung für den Menschen konstruiert und werden auch hiermit assoziiert. Die Anwendung auf Menschen selbst begründet daher augenblicklich eine entmenschlichende und besonders grausame Konnotationsebene. In solch exaltierter Form bedient sich der Horrorfilm also grundlegendster Tabus der Gesellschaft, um an deren Bruch eine Geschichte des Grauens aufspannen zu können. Durch die extreme Unordnung und die Anomie kann

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Siehe dazu den Beitrag von Gerhards in diesem Band.

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auf simple Weise suspense aufgebaut und mit effektvollen Schockeffekten kombiniert werden. Doch neben dieser gänzlichen Aushebelung des „Normalen“ und „Selbstverständlichen“ kann das zivilisierte Setting des gemeinsamen Essens auch als leicht verständliche Ausgangsbasis genutzt werden, um genau diese zweckentfremden oder zersetzen zu können. Der Film The Texas Chain Saw Massacre (1974) führte nämlich außerdem die kleine Tradition des „Horrorfamilienessens“ ein, also die Darstellung eines psychopathischen, mordenden Familienkollektivs beim gemeinsamen Speisen. Diese Szenerie kann herangezogen werden, um die Familie in ihrer ganzen Bandbreite der Abartigkeit zu zeigen sowie bei der netten, privaten Zusammenkunft auch kleine Nebengeschichten zu erzählen und Handlungsstränge zusammenzuführen. Durch die Verwendung des Codes des Familienessens wird dabei gleichzeitig die Alltäglichkeit und Normalität dieses Wahnsinns im Sinne eines selbstverständlichen und abgeklärten Umgangs mit dem für den Mörder normalen „Tagesgeschäfts“ vorführbar. Die Einbettung der Taten in den Alltag und ihre strukturelle Verfestigung sowohl durch die als auch in der Familie lassen die Bedrohung außerdem mächtiger und unkontrollierbarer erscheinen. Darüber hinaus wird durch die Darstellung einer zwar „unzivilisierten“, aber in sich strukturierten und geschlossenen Gruppe auch das einzelne Glied dieses Gefüges in seiner Gefährlichkeit unterstrichen. Viele Filme griffen dieses Motiv des Horrorfamilienessens wieder auf, wenn auch mit teilweise anderen Akzenten. So wird gerne das Vorführen der mangelnden bis fehlenden Tischmanieren genutzt, um klassische „Hillbilly“- oder „Redneck“-Klischees bedienen zu können. Das Essverhalten wird hier eingesetzt, um über zivilisatorisch degenerierte Verhaltensformen Angst, Ekel und Schrecken zu evozieren. Die Speisen sind breiig oder undefinierbar, das Fleisch blutig oder fettig, es wird mit den Händen zugegriffen und in sich hinein gestopft, mit offenem Mund gegessen, gesprochen und natürlich geschmatzt. Dass man sich dabei befleckt und verschmiert, ist das eine, dass man sich nicht daran stört, das schwerwiegendere andere. Gepaart mit der Abgeschiedenheit des Settings, der Verlorenheit im weiten unbekannten Land wird hier das Unzivilisierte, das Animalische, das Wilde vorgeführt, das Unkontrollierbare, in dessen Kontrolle man besser nicht geraten sollte. Zugespitzt könnte man meinen, dass es sich um eine moderne Variation der Kuriositätenshows handelt. Das Schaurige und Ausgestoßene wird als entfernt und überzeichnet genug vorgeführt, um noch in Ruhe der Schaulust und der Lust am Schauer nachgehen zu können. Durch die Verwendung alltäglicher Codes und der Bindung an sie – ob durch Fehlbefolgung, Missachtung oder gänzliche Umkehr – werden die Abnormitäten aber dennoch als realitätsnah ge-

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nug vorgeführt, um sich zu gruseln. Schaurig schön ist es ja auch, die Decke der Zivilisation vorsichtig anzuheben.

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Wenige Bereiche des menschlichen Lebens scheinen uns so vertraut und wirken daher so selbstverständlich, wie die Thematik des Essens. Oft ist man selbst überrascht, wie unreflektiert man manchmal bezüglich der eigenen Ernährung ist, wie bestimmt von Routinen und Alltag sie sein kann. Man muss gar nicht so weit gehen und sich erst vor Augen führen, welchen Ekel schon fremdartige, kulturell anders bestimmte Zubereitungsweisen und Definitionen von „Schlachtvieh“ auslösen können. Der gesamte Bereich der Ernährung bietet sich als Code für den Film daher auf mehreren Ebenen und in mehrfacher Weise an. Durch eine Darstellung alltäglicher Verhaltensweisen und Gewohnheiten in der Ernährungsweise und ihrer kulturell überformten Bestandteile kann ein derart strukturierter Alltag auch für eine Filmfigur auf tiefgreifende Weise nachgezeichnet werden. Gleichzeitig kann durch den tatsächlichen Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis der Nahrungsaufnahme eine fast schon banale Menschlichkeit und Lebendigkeit erzeugt werden. Diese Attribute können dann einerseits auf Mörder und Monster angewandt werden, um ihnen Kontur zu verleihen oder sogar Mitgefühl zu verschaffen. Oder man bedient sich andererseits der Essensthematik, um die Bedrohung in Abgrenzung zur zivilisierten Welt, zumeist in Form abnormaler, degenerierter Sonderlinge und Ausgestoßener, zu zeigen. In extremen Formen kann sich der Selbstverständlichkeit, mit der die Bereiche der Ernährungsweise wahrgenommen werden, gezielt und auf simple Weise bedient werden, um durch einen totalen Bruch nichts als blanken Ekel und Horror zu erzeugen. Ohnmacht und anomische Gefahr lassen sich auf schaurige Weise am einfachsten erzeugen, wenn der Zivilisierte zum Freiwild ausgerufen wird. Ob handelnde und sich entwickelnde Charaktere, monströse oder andersartige Bedrohungen, im Film werden sie erst lebendig und rund, wenn sie über grobgezeichnete Inszenierungen hinausgehen und der Zuschauer eine Ahnung davon erhält, dass sie bis in die „wirkliche Welt“ hinunterreichen, den Alltag berühren. Wenn im Film etwas nahe geht, dann weil es auf irgendeine Weise tiefer und gedanklich weiter geht. Die Darstellung des Habitus ist hier eine filmisch dankbare Möglichkeit, Figuren und Handlungen Kontur zu verleihen. Die Art

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Zitat von Bertolt Brecht.

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sich zu kleiden, zu gehen, zu speisen und zu sprechen kann auf so einfache Weise mit größter Wirkung variiert werden. Gerade die Codes rund um das weite Feld des Essens bieten dabei die Möglichkeit, informationsreiche und gleichzeitig filmästhetisch ansprechende Szenarien zu entwerfen, die nicht nur auf mehreren Bedeutungsebenen agieren, sondern diese auch auf plausible Weise verbinden können. Durch die Vorführung eines Teils des Alltags wird dieser nicht nur stellvertretend darstellbar, sondern kann auch mit weiteren Komponenten kombiniert werden. Und wem diese Funktion der bloßen Plausibilitätssteigerung und Vervollständigung eines Bildes nicht genügt, der kann hierüber auch die Zivilisation auf den Kopf stellen, so dass vom bekannten, selbstverständlichen Alltag nichts mehr bleibt. Durch die Verbindung von filmisch effizienter und effektiver Einsatzfähigkeit der Essensthematik und der Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit, mit der wir den Habitus im Essverhalten „lesen“ können und auch gewisse zivilisatorische Regelungen diesbezüglich als fixiert annehmen, wird deutlich, dass noch viel im Film gegessen werden wird.

L ITERATUR Bordwell, D. (1989): A Case for Cognitivism. In: iris. Revue de théorie de l’image et du son/A journal of theory on image and sound – Cinema and Cognitive Psychology. No. 9, Spring 1989, S. 11-40. Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilkraft. [Aus dem Franz.; zuerst 1979]. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fiske, J. (1990): Introduction to Communication Studies. [Zuerst 1982]. London, New York: Routledge. Flick, U. (2009): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. [Zuerst 1995]. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch. Kaufmann, J.-C. (2006): Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen. [Aus dem Franz.; zuerst 2005]. Konstanz: UVK. Keppler, A. (1994): Tischgespräche. Über Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Knigge, A. (1788): Über den Umgang mit Menschen. Hannover: Schmidt. Mayring, P. (2002): Einführung in die qualitative Sozialforschung. [Zuerst 1990]. Weinheim: Beltz. Metz, C. (1973): Sprache und Film. [Aus dem Franz.; zuerst 1971]. Frankfurt am Main: Athenäum.

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Kochen als Kunst im Kino Eat Drink Man Woman (1994) / Regie: Ang Lee I RENE S CHÜTZE

Es ist sicherlich nicht von ungefähr, dass eine der aufwändigsten filmischen Inszenierungen von Kochkunst aus dem chinesischen Kulturraum stammt: 1994 präsentierte der taiwanesische Regisseur Ang Lee, der seit 1978 in den USA lebt, den Film Eat Drink Man Woman (Yin shi nan nü, Taiwan/USA). Die chinesische Küchentradition kann auf eine lange, differenzierte Geschichte zurückblicken, die sich bis weit in die Antike zurückverfolgen lässt (vgl. Höllmann 2010). Der kulturelle Raum, der die Volksrepublik China und die Republik China (Taiwan) umfasst, erstreckt sich auf mehr als 9,6 Millionen Quadratkilometern, die geographisch höchst unterschiedlich geprägt sind: Hochgebirge wechseln sich ab mit Hochebenen, Steppen, Wüsten, großen Flusstälern und Küstenregionen. Entsprechend unterschiedlich sind die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel und entsprechend vielseitig die lokalen und regionalen Küchentraditionen. Für Eat Drink Man Woman ließ sich Ang Lee von Lin Huei-Yi beraten, der Schwiegertochter der beliebten taiwanesischen Kochbuchautorin, TV-Köchin und Kochkünstlerin Fu Pei-Mei. Diese verstand sich als Hüterin und Vermittlerin chinesischer Kochtraditionen, nachdem sie als junge Frau in Folge der kommunistischen Machtübernahme vom Festland nach Taiwan emigriert war (KulturSpiegel 2008: 4; Taipei Times 2004: 4). Ihre Schwiegertochter Lin Huei-Yi wählte für Eat Drink Man Woman mehr als 100 Rezepte aus, die nicht nur die Kochkünste Taiwans und des übrigen südlichen Chinas wie etwa die der Regionen Sichuan und Guandong vorführen – letztere auch bekannt als Ursprungsregion der „kantonesischen“ Küche, die im Westen starke Verbreitung gefunden hat. Sie entschied sich für Rezepte aus ganz China – so auch aus den nördlichen und mittleren Provinzen wie etwa der Inneren Mongolei oder aus Shandong (vgl. Rogov 2009). Aus Shanghai stammen zum Beispiel die im Film gezeigten

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„Acht-Juwelen“-Entenküken, aus Nanjing stammen die Fleischbällchen mit sauren Pflaumen, die Peking-Ente kommt aus Beijing, die Kürbis-Ente aus der Region Anhui. Etwa die Hälfte der präsentierten Gerichte ist jedoch kantonesisch, wie ganzer Karpfen in süß-saurer Sauce, gedünstete Krabben mit Ingwer und im Wok gebratenes Rindfleisch mit Brokkoli und Austernsauce. Die im Film präsentierten Speisen, deren Zubereitung viele Stunden in Anspruch nimmt und die von einer mehr als dreitausendjährigen Geschichte der Kochkunst zeugen, geben einen Überblick über die exquisite chinesische Küche.1 Im Folgenden möchte ich kurz den Inhalt des Films referieren, um mich anschließend mit der Frage zu beschäftigen, wie Ang Lee in seinem Film Kochen als künstlerische Tätigkeit inszeniert: Die Hauptfigur in Ang Lees Film, der zwischen Drama und Komödie changiert, ist der verwitwete Meisterkoch Chu (gespielt von Sihung Lung). Sein Arbeitsplatz ist die erste gastronomische Adresse in Taiwans Hauptstadt Taipeh: das berühmte Grand Hotel. Unter Gourmets wurde es als eines der weltweit zehn besten Hotels gehandelt.2 Chiang Kai-shek, der selbst ernannte Präsident der Republik China, eröffnete das Hotel 1952 als mondäne Unterkunft für ausländische Staatsgäste und Delegationen und ließ es in den darauffolgenden Jahrzehnten nach und nach um mehrere Gebäude erweitern. Ang Lees Meisterkoch Chu arbeitet im zentralen Prachtbau, der 1973 errichtet wurde und einem riesigen traditionellen chinesischen Palast nachempfunden ist. Er beherbergt monumentale Bankettsäle sowie riesige Küchen, so dass mehrere tausend Menschen zeitgleich Menus mit bis zu 40 Gängen verspeisen können (vgl. Rogov 2009). Chu ist, so erfährt man im ersten Teil des Films, einer der Chefköche des Grand Hotels. An einem Sonntag ruft man ihn dringend in die Hotelküche: Der Sohn des Gouverneurs feiert Hochzeit, und die teuren Haifischflossen, die man servieren wollte, zerfallen.3 Schnell entscheidet sich Chu, den das Küchenpersonal und die Bedienung trotz hektischen Treibens ehrerbietig willkommen heißen,

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So verwundert es nicht, dass der Sinologe Thomas Höllmann den Film Eat Drink Man Woman den Lesern seiner Kulturgeschichte der chinesischen Küche neben wissenschaftlicher Literatur und schriftlichem Quellenmaterial als Informationsquelle empfiehlt (Höllmann 2010: 8).

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1968 wurde das Grand Hotel vom US Fortune Magazin zu einem der zehn besten Hotels weltweit gekürt.

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Für das Hochzeitsbankett, das Ang Lee in einer Sequenz kurz zeigt, durfte er ein echtes Hochzeitsbankett im Grand Hotel filmen, zu dem der taiwanesische Innenminister geladen war (Comer 1995: 66).

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zur Modifikation des Menus: Die bräunliche Brühe aus fasrigen „falschen Flossen“ soll kurzerhand zu einem traditionellen Hochzeitsgang umgearbeitet werden. Dieser besteht aus Fisch, Hühnchen und Krustentieren. Angerichtet ergeben sie das Bild von „Drache und Phönix“, einem Glücksmotiv. Später zeigt Ang Lee, wie Meisterkoch Wang (Jui Wang), ein alter Freund und Kollege Chus, das fertige Gericht abschmeckt. Denn Chu hat seinen Geschmackssinn verloren. Abgesehen von einer weiteren kurzen Szene, in der das Essen wiederum von Wang abschmeckt wird, ist Chu nicht weiter beim Kochen in der Großküche des Hotels zu sehen. Kochen sieht man Chu fast nur zu Hause – hier entpuppt er sich nicht als nur delegierender Küchenchef, sondern als selbst agierender Kochkünstler (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Kontemplative Kunst: Meister Chu (Sihung Lung) in Ang Lees Eat Drink Man Woman

Quelle: DVD Eat Man Drink Woman, Arthaus Collection Asiatisches Kino

In seinem alten Haus kreiert Chu jedes Wochenende aufwändige traditionelle Menüs mit bis zu zwölf Gängen für seine drei erwachsenen Töchter Jia-Jen (Kuei-Mei Yang), Jia-Chien (Chien-lien Wu) und Jia-Ning (Yu-Wen Wang). Sie wohnen trotz ihrer Berufstätigkeit beziehungsweise ihres Studiums zu Hause und kommen auf Wunsch des Vaters jeden Sonntagabend zusammen, um gemeinsam zu essen. Die üppigen Reste der fürstlichen Mahlzeiten reicht die Familie teils an die alleinerziehende Nachbarin Jin-Rong (Sylvia Chang) und ihre kleine Tochter Shan-Shan (Yu-Chien Tan) weiter. Denn die von Chu kunstvoll angerichteten Speisen werden von seinen Töchtern wenig goutiert. In der Familie gibt es massive Kommunikationsprobleme, die das Essen am Tisch stören. Chu ringt mit sich, wie er seinen Töchtern mitteilen soll, dass er die eine Generation jüngere Jin-Rong liebt und gerne heiraten würde. Die Töchter ihrerseits ringen damit, ob

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und wie sie dem Vater sagen sollen, dass sie gerne ein selbstständiges Leben ohne den Vater führen würden. Ang Lee inszeniert, nicht ohne Komik, wie alle Familienmitglieder nach und nach ihre wahren Wünsche während der Mahlzeiten preisgeben: Die mittlere Tochter, die als Managerin arbeitet, teilt eines Abends abrupt mit, dass sie ausziehen will – ein Ansinnen, das sie dann aber auf Grund der Pleite der Baugesellschaft, bei der sie sich eine Wohnung gekauft hat, und aus Rücksicht auf den Vater um einige Zeit verschieben wird. Die jüngste Tochter, eine Studentin, die in einem Fastfood-Restaurant jobbt, gibt an einem anderen Sonntagabend Vater und Schwestern in dürren Worten zu verstehen, dass sie einen Freund hat, dass sie schwanger ist und dass sie sofort zu ihrem Partner ziehen möchte. Die älteste Tochter, eine keusche Chemielehrerin, die sich zum Christentum bekennt, verliebt sich heimlich in einen Arbeitskollegen und konfrontiert die übrig gebliebene mittlere Schwester und den Vater an einem weiteren Sonntagabend überraschend damit, dass sie soeben geheiratet hat. Und der Vater schließlich schockiert die sonntägliche Tischrunde, zu der er auch die beiden neuen Schwiegersöhne, die Nachbarin Jin-Rong und deren herrische Mutter geladen hat, indem er bekennt, dass er die junge Nachbarin liebt und mit ihr und ihrer kleinen Tochter fortan zusammenleben möchte. Viel ist über die Inszenierung der Mahlzeiten in Eat Drink Man Woman geschrieben worden: über die Sprachlosigkeit, die Dramaturgie der Blicke, die gezeigte Unlust am Essen (Gössele 2007: 78-79; Gössele 2009: 92-95; Qin Hu 2008: 59-60). Ang Lee präsentiert Situationen am Familientisch – und dies tut er nicht nur in Eat Drink Man Woman, sondern auch in Pushing Hands (Tui Shou, 1992), in The Wedding Banquet (Xi yan, 1993), in Sense and Sensibility (1995), in The Ice Storm (1997) und in Brokeback Mountain (2005) –, um bildliche Metaphern zu finden für die Paradoxien von Nähe und Ferne im familiären Miteinander. Eat Drink Man Woman unterscheidet sich jedoch von den genannten Filmen dadurch, dass er der einzige Film ist, in dem die Zubereitung von Speisen in großer Ausführlichkeit gezeigt und minutiös zelebriert wird. Die diversen Handlungsstränge des Films werden rhythmisiert und zusammengeführt durch Szenen in der Küche und im Hof, die das Familienoberhaupt und eine seiner Töchter beim Kochen zeigen. Mit eben diesen Inszenierungen des Kochens befassen sich meine folgenden Ausführungen. Die längste Sequenz, die sich der Zubereitung von Speisen widmet, steht am Anfang des Films. Diese Sequenz ist knapp vier Minuten lang. Sie dient der Exposition Meister Chus und schließt an eine kurze einleitende Episode an, die den dichten, brausenden Verkehr im modernen Taipeh zeigt. Zunächst erscheint Chus altes Haus in Aufsicht, das von einem Hof mit Büschen und Bäumen um-

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geben ist und das ein Gegenbild liefert zum modernen, hektischen Treiben auf der Straße. Ang Lee stellt den Besitzer des Hauses vor, indem er als erstes dessen Hände zeigt, die mit Kraft in einen irdenen Bottich greifen und einen lebenden Karpfen herausholen. In der Exposition präsentiert Lee Gesicht und Körper seiner Hauptfigur nur eingeschränkt. Die ruhig geführte Kamera konzentriert sich fast ausschließlich auf Chus Hände und deren Tätigkeiten. Lee führt in Nahaufnahmen unterschiedlichste Handgriffe der Speisenzubereitung vor, die durch harte Schnitte aneinander montiert sind: Chu schiebt dem Karpfen Stäbchen durchs Maul, um ihn zu töten,4 schuppt ihn gekonnt am Spülstein, reinigt ihn auf einem Brettchen, filetiert ihn auf einem hölzernen Hackblock, wälzt die Filets in einer Wanne mit Mehl, übergießt den Fisch mit einer Kelle heißen Öls, bevor er ihn im Wok frittiert. Nach und nach sieht man, wie Chus Hände schnell und mit äußerst gekonnten Bewegungen auf dem Hackblock Tintenfisch mit dem Messer bearbeiten, dunkles Fleisch, vermutlich Leber, aufschneiden, Chilischoten von ihren Kernen befreien, gegarten, durchwachsenen Speck in Scheiben schneiden, weißen Rettich in feine Stifte zerlegen. Chu frittiert Schweinefleisch, das er zuvor geschmort hatte, im Wok, wäscht grünen Blattkohl unter fließendem Wasser ab, löscht das inzwischen kross gebackene Fleisch in Eiswasser ab, schneidet es in feine Scheiben, um Fleisch und Gemüse sodann in einem Bambuskorb zu dämpfen. Die Folge einiger Arbeitsschritte sind zischende und prasselnde Geräusche. Ab einem bestimmten Zeitpunkt ist die Exposition mit einer heiteren chinesischen Melodie unterlegt, die sich mit den Kochgeräuschen mischt und das geschäftige Treiben Meister Chus musikalisch untermalt und rhythmisiert. Die Musik setzt aus, als Chu, der nun in der Totalen gezeigt wird, in seinen Hof tritt. Die selbstversunkene, meditative Stimmung erfährt durch leise Hammergeräusche aus der Nachbarschaft leichte Irritationen, wird aber nicht aufgelöst. Chu bleibt vor seinem Hühnergehege stehen, hält inne, blickt zum Himmel, tritt an das Gehege heran, beugt sich herab und sucht sich ein Huhn aus. Er betritt mit dem flatternden Tier erneut die Küche. Der Kamerablick fokussiert mehrere Frösche, die auf einem feuchten Stein sitzen. Die Musik setzt wieder ein, Chu führt seinen Arbeitsprozess fort. So unterschiedliche Tätigkeiten wie Ablöschen, Reduzieren, Gießen, Abschöpfen, Entbeinen, Frittieren, Einweichen, Abdecken, Rühren, Salzen, Hacken, Vermengen, Ausrollen, Füllen, Formen et cetera wechseln sich ab. Das alltägliche Vokabular reicht nicht aus, um alle vorge-

4

In einer späteren Sequenz blickt Chu einem Karpfen vor der Schlachtung direkt in die Augen – Teil des Kochrituals, um den Fisch für die Tötung um Verzeihung zu bitten (vgl. Rogov 2009).

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führten Tätigkeiten genau zu beschreiben. Beispielsweise legt Chu am Ende der Sequenz jeweils einen Löffel Fleischfüllung auf ein Stück kreisförmig ausgeschnittenen Teig. Mit dem Daumen der einen Hand drückt er die Füllung in den Teig, so dass sich dieser dehnt, während er mit der anderen Hand den Teig nach oben zieht, um ihn sodann mit einer eleganten Drehbewegung in kleine Falten zu legen, so dass die Füllung fest umschlossen wird. Diese wie alle anderen Handgriffe führt Chu präzise und ohne zu Stocken aus. Sie demonstrieren, dass er von der Schlachtung bis zum Anrichten alle Tätigkeiten der chinesischen Kochkunst gekonnt beherrscht, dass er Fisch, Fleisch und Gemüse variantenreich unter Anwendung unterschiedlichster Garmethoden zu verarbeiten weiß. Chus Mimik beim Kochen zeugt von Konzentration, sein Gesichtsausdruck strahlt bisweilen meditative Selbstvergessenheit aus. Der Koch wirkt, als sei er in Einklang mit sich selbst: Besonders deutlich wird dies, als er gedankenverloren in rhythmischen Bewegungen, dem Takt der Musik folgend, Fleisch kleinhackt. Die Zeit scheint, trotz der vielen Arbeiten, die erledigt werden, stehen zu bleiben. Jean-Claude Kaufmann, der sich als Soziologe mit dem Kochen befasst, hat folgende allgemeine Beobachtung gemacht, die meines Erachtens auch die von Ang Lee inszenierten Handlungen treffend charakterisieren: „Die Selbstvergessenheit bei der Arbeit mit den Händen bringt das höllische Rennen der Zeit zum Stehen. Eine einfache wohl etablierte Routine kann die gleiche Wirkung haben. Dann gibt es keine Diskrepanz zu den Körperbewegungen, weil dabei nicht gedacht wird: Der Küchenchef träumt vor sich hin oder hört Radio. Komplexe Programmierungen sind zwar mühsam, schaffen jedoch ebenfalls Einheit mit der Handlung: Der Chef ist voll und ganz bei der Sache. Ohne die Zeit tatsächlich zu dehnen, wird so ihr schnelles Vergehen aufgehalten.“ (Kaufmann 2006: 252-53)

Dass hier ein Meister der Kochkunst vorgeführt wird, zeigt sich jedoch nicht nur in den routinierten manuellen Fähigkeiten und Tätigkeiten, die quasi von selbst ablaufen, sondern auch in der Darstellung der Vorrichtungen, etwa den unterschiedlichen Feuerstellen, und der Gerätschaften, die sich in der Küche befinden. Besonders eindrucksvoll ist ein langsamer vertikaler Schwenk über eine Küchenwand, an der rund fünfzig Messer, nach Größen und Formen fein säuberlich sortiert, an mehreren Leisten untereinander aufgehängt sind. „Of all the equipment in the kitchen most important and symbolic are knives“, schreibt der Soziologe Gary Alan Fine (1996: 83). Lee muss sich dieser Bedeutung genau bewusst gewesen sein, als er dieses Motiv so ausführlich inszenierte. Aber nicht nur die Küche, auch der Hof Meister Chus ist ganz auf die Zubereitung von Speisen ausgerichtet. Unter einem Dach lagert eine stattliche Anzahl an bauchi-

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gen Bottichen für die Vorratshaltung – Zwiebeln und andere getrocknete Gemüse sind liebevoll an Fäden zum Trocknen aufgehängt. Im Hof steht ein angeheizter Ofen, aus dem Rauch austritt. Chu hat Küche und Hof optimal für seine Bedürfnisse als Koch eingerichtet. Die Exposition führt dem Zuschauer vor Augen, dass Chu durch die Handgriffe des Kochens in eine meditative Stimmung versetzt wird, die ihn von der Welt abschirmt und ihn auf sich selbst zurückwirft. Der Philosoph und Kulturtheoretiker Harald Lemke hat das „Selbstkochen“ als „Machtzugewinn gegenüber der Welt“ (Lemke 2008: 153) bezeichnet, da das Subjekt entscheide, welche Lebensmittel es auswähle und wie es diese durch die Tätigkeit des Kochens in selbst bestimmte Mahlzeiten verwandele, die es dann Anderen vorsetzen könne. Zugleich spricht Lemke vom Kochen als „Inbegriff einer unentfremdeten Lebenspraxis“ (ebd.), da Kochen eine kreative Tätigkeit sei, in der das Geschaffene darauf ausgerichtet sei, vom Schaffenden inkorporiert zu werden und es so mit seinem Schöpfer eine symbiotische Beziehung eingehe. Die Tätigkeit des Kochens bedeutet demnach Selbstbezogenheit, aber in gewisser Weise auch eine Vormachtstellung gegenüber anderen Menschen. Chus Menus sind in der Tat Ausdruck einer Bevormundung – einer Bevormundung, die seinen Töchtern zu schaffen macht. Das unausgesprochene Unbehagen der Töchter ist verständlich. Schließlich dürfen sie an den sonntäglichen Zusammenkünften und am Essen keine Kritik üben, und wenn sie dies wie die mittlere Tochter Jia-Chien doch tun, dann sanktionieren sich die Schwestern untereinander. Denn Kritik insbesondere an der Zubereitung der Speisen würde den Vater, der seinen Geschmackssinn eingebüßt hat, bloßstellen und ihm klarmachen, dass er trotz aller Agilität alt geworden ist. Das eigene, subjektive Geschmacksurteil als Antwort auf die Kochkunst des Vaters bleibt den Töchtern verwehrt. Chu reflektiert seine Machtstellung nicht. Er versteht sein Kochen als selbstverständliche Hinwendung zu den Töchtern. Dies zeigt sich zum Beispiel in jener Szene, als Chu seinen Mitarbeitern in der Hotelküche anbietet, dass sie unangetastete Reste eines Festmahls für ihre Kinder mit nach Hause nehmen können. Auf die Frage eines Mitarbeiters, ob er dieses Essen seinen eigenen Kindern anbieten würde, winkt Chu in seiner Würde getroffen empört ab. Die Erklärung bleibt aus, aber der Grund ist klar: Schließlich hat er die Zutaten nicht selbst nach schärfsten Kriterien ausgewählt, das Essen nicht mit den eigenen Händen für die Kinder sorgfältig zubereitet. Das Essen aus der Hotelküche kann, auch wenn es sicherlich hochwertig ist und gut schmeckt, diesen Kriterien in keiner Weise genügen. Dass Chu sein Kochen für die Familie als Hinwendung versteht, zeigt sich schließlich auch darin, dass er beginnt, für die zukünftige kleine

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Stieftochter ebenfalls aufwändige Menus zuzubereiten, die er ihr sogar in der Schule vorbeibringt. Denn die heimliche Geliebte Jin-Rong ist eine schlechte Köchin, die ihrem Kind bisweilen Geld für die Kantine mitgibt, anstatt selbst Gekochtes für die Mittagspause vorzubereiten. Kochen bedeutet in Eat Drink Man Woman eine Form der Auseinandersetzung und Hierarchisierung innerhalb der Familie: Die älteste Tochter Jia-Jen, die stets sehr ernst wirkt, wird nur beim Spülen gezeigt, die unbefangen wirkende jüngste Tochter Jia-Ning nur als einfache Handlangerin des Vaters oder als Herstellerin billiger Fast Food-Menus. Allein die wesensverwandte mittlere Tochter Jia-Chien, die den Mut aufbringt, an den Speisen des Vaters Kritik zu üben, erlaubt es sich, mit ihm zu konkurrieren und selbst zu kochen. Sie wagt es allerdings zunächst nicht, im Elternhaus zu kochen, sondern weicht in die kleine standardisierte Küche ihres Ex-Freunds Raymond aus. Ihm erzählt sie, dass sie gerne traditionell koche und dass Kochen ihre dominante Kindheitserinnerung sei. Auch Jia-Chien kocht, genau wie der Vater, viel zu viel, als dass es verspeist werden könnte. Ang-Lee zeigt die mittlere Tochter ebenfalls als Meisterin: Ihre Handgriffe erfolgen ebenso präzise und elegant wie die des Vaters. Zum Beispiel wirft sie mit einer gezielten, energischen Handbewegung kleingeschnittene Zwiebeln und Knoblauch in heißes Fett, dass es nur so aufzischt. Auch Jia-Chien stellt komplizierte Speisen her wie zum Beispiel den aus einem buddhistischen Kloster stammenden Tsu-An-Tofu, bei dem Tofu mit eingedickter Hühnerbrühe vermengt und solange gedämpft wird, bis er die Form von Bienenwaben annimmt. Gegen Ende der für Raymond gekochten Mahlzeit serviert Jia-Chien ihrem Ex-Freund in Entenschmalz gedünstete Kaiserschoten und erklärt ihm die philosophische Konzeption des Gerichts: Die Ente stehe für die Empfindung „kalt“. Würde man Zwiebeln in heißem Entenschmalz anbraten, lösten sich die Gegensätze von heiß und kalt auf. Wichtig sei es beim Kochen, genau wie in der Medizin, dass sich ein „Gleichgewicht“ ergebe zwischen „Geschmack, Eigenschaft und Energie“. Das sei ja wie die Prinzipien von Yin und Yang, antwortet der über die Belehrung ein wenig belustigte Raymond, der zugibt, von Kochkunst nichts zu verstehen. Jia-Chien knufft ihn freundschaftlich und fühlt sich offensichtlich nicht ganz ernst genommen. Am Ende des Films, als Chu bereits mit Jin-Rong und Shan-Shan in einem anderen Stadtviertel zusammenlebt, kocht Jia-Chien ein mehrgängiges Menu für ihren Vater in der alten, inzwischen verwaisten Küche des Elternhauses, die nun ihr Reich ist. Auch in dieser Szene zeigt sie sich wieder als routinierte Köchin: insbesondere als sie hauchdünne Pfannkuchen backt und dafür den Teig in der Luft mit kreisenden Bewegungen lockert, um ihn dann mit zwei, drei Tupfern

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auf einem heißen Eisen aufzutragen. In der an diese Kochszene anschließenden Schlusssequenz serviert Jia-Chien dem Vater das Menu. Als Auftakt reicht sie eine Suppe, die Chu zögerlich kritisiert: Sie enthalte zuviel Ingwer. Jia-Chien betont – und hier folgt sie ihrem eigenen Selbstverständnis als eine die Traditionen wahrende Köchin –, dass sie sich genau an das Rezept ihrer Mutter gehalten habe: Die habe gerne Ingwer verwendet, was ihr Vater schon damals abgelehnt habe. Die Erinnerung an den alten, viele Jahre nicht mehr erfahrenen Geschmack wirkt wie ein Wunder auf Meister Chu: hat er doch seinen für immer verloren geglaubten Geschmackssinn zurückgewonnen. Kochen, so zeigt Ang Lee, hat mit der Verlebendigung von Traditionen zu tun. Lees Hauptfigur Meister Chu leidet darunter, dass seine Zeitgenossen die Kulturen der feinen chinesischen Regionalküchen nicht mehr kennen, geschweige denn auseinanderhalten können. Eigentlich wollte er ein Kochbuch schreiben, wie man zu Anfang des Films aus einem Gespräch mit seinem Freund Wang erfährt. Chu verfasst das Buch nicht, obwohl er als „lebendes Kochbuch“ – wie ihn der Manager des Grand Hotel bezeichnet – die Gabe hätte, dem beklagten Kulturverfall entgegenzuwirken. Und so ist auch seine Tochter Jia-Chien allein auf ihre Erinnerungsgabe angewiesen, wenn es ums Kochen geht. Denn Küchentipps erhält sie von ihrem Vater nicht. Jia-Chien verdankt ihre Kochkünste Beobachtungen, die sie in der Kindheit gemacht hat, verrät sie ihrem Ex-Freund Raymond. Damals habe sie viel Zeit in der Restaurantküche verbracht, in der ihr Vater und sein Freund Wang, den sie liebevoll „Onkel“ nennt, arbeiteten. Chu scheint es nicht zu behagen, seine Künste weiterzureichen – vielleicht weil er eventuelle Abweichungen von seinen Gepflogenheiten nicht gutheißen würde oder weil er die Konkurrenz fürchtet. Hinweise darauf gibt es in den Dialogen der Töchter einige: dass er eine kochende Frau an seiner Seite nicht habe dulden können, dass er eine Partnerin brauche, die selbst nicht kochen könne – die er dann in Jin-Rong ja auch findet. Am Schluss ist Chu gerührt, dass seine Tochter ihren eigenen Weg des Kochens gefunden hat: „Meine Tochter“, sagt er anerkennend, als er die mit Ingwer gewürzte Suppe Jia-Chiens zu sich nimmt. Er hat nun verstanden, dass es trotz Traditionen und erlernbarer Fingerfertigkeiten Eigenheiten gibt, die jeden Koch, jede Köchin auszeichnen und dass hierin eine Qualität liegen kann. Ang Lee zelebriert den Koch als Künstler. Er tut dies, indem er sich einerseits sehr realistisch dem Kochen zuwendet. Lee überließ, wie anfangs erwähnt, der Kochexpertin Lin Huei-Yi die Rezeptauswahl und ließ sich von ihr beraten, wie die Handgriffe aussehen, die ein Küchenchef bei der Zubereitung traditioneller chinesischer Speisen ausführt (vgl. Jade Dragon online). Schaut man sich Ausschnitte aus Kochsendungen von Lin Huei-Yis Schwiegermutter Fu Pei-Mei

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an, erkennt man, dass sich Ang Lee an vielen Handgriffen, die die Kochkünstlerin ihren Zuschauerinnen und Zuschauern nahelegte, orientierte – so etwa daran, wie Zutaten wiederholt kraftvoll in eine Schüssel geworfen werden, um sie miteinander zu vermengen.5 Anderseits ist Lees Film unrealistisch. Denn es wäre nur schwer möglich, dass eine einzelne Person binnen eines Tages derart viele komplizierte Gerichte zubereitet wie Meister Chu, der seinen Töchtern sonntagabends bis zu zwölf arbeitsintensive Speisen der feinen chinesischen Küche auftischt. Der Regisseur engagierte drei Meisterköche mit ihren Assistenten, um die entsprechenden Gerichte zu kochen, wobei die Köche die Hände der Schauspieler in einigen Einstellungen doubeln (KulturSpiegel 2008: 4-5). Ang Lee erinnert sich daran, dass beim Filmen jener Sequenz, in der Jia-Chien kunstvoll Pfannkuchen backt, ein Chefkoch und eine Chefköchin anwesend waren plus drei Assistenten. Die Chefköchin doubelte die Hände in jener Einstellung, in der Jia-Chien den Teig auf das heiße Eisen streicht (vgl. Jade Dragon online). Wie aufwändig es war, die Zubereitung der Menus zu filmen, verrät auch folgendes Zitat von Ang Lee: „Aus Sicht der Produktion war das Essen das schwierigste Talent, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Wir hatten drei Weltklasse-Köche, die ‚full-time‘ für den Film arbeiteten, außerdem Spezialisten, die uns bei ganz bestimmten Gerichten zur Seite standen. Man stelle sich vor, man kocht ein Essen, und dabei soll jeder Schritt kameragerecht sein. Gleichzeitig zehn bis zwölf Speisen eindrucksvoll dampfend für eine Acht-SekundenEinstellung hinzubekommen, war für uns eine Herausforderung.“ (KulturSpiegel 2008: 45)

Ang Lee spricht hier zwei Dinge an: Erstens muss möglichst jeder Handgriff im Kochprozess ästhetisch ansprechend sein, um gefilmt zu werden. Zweitens müssen die Gerichte zur gleichen Zeit fertig sein und dabei perfekt aussehen. Beim Filmen der Kochkunst offenbart sich zugleich Ang Lees Filmkunst: Wie er die Zutaten mit ihren Farben und Formen eindrucksvoll in einer bestimmten Umgebung – zum Beispiel auf dem braunen Hackblock – ins Licht setzt und in Nahaufnahmen festhält und wie er unterschiedliche Arbeitsschritte dergestalt in Nahaufnahmen präsentiert, dass die Arbeit der Hände wie leichtgängige Fingerübungen aussehen, ohne aufgesetzt zu wirken; und wie er schließlich die Speisen

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Vergleiche hierzu beispielsweise den Fernsehbeitrag: abc taiwanese food Fu Pei-meis home cooking dishes (Taiwan, OCAC, macroview). Im Internet: http://www.youtube. com/watch?v=XY7KfC8I91k. Abruf: 25.04.2012).

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zu kunstvollen Mustern und Bildern arrangiert. Die Komponenten der Gerichte sind manchmal symmetrisch angeordnet wie persisch beeinflusste chinesische Porzellandekors, manchmal haben sie offene oder asymmetrische Formen, wie sie für die chinesische Malerei charakteristisch sind. Mit ihren Farben und Formen komplettieren die Speisen die Muster der kostbaren Teller und Schalen, auf denen die Gerichte gereicht werden. Die sonntäglichen opulenten Tafeln werden aber nicht aufdringlich ins Bild gesetzt, sondern die Kamera filmt die kunstvoll angerichteten Speisen fast beiläufig. Wie ästhetisch Ang Lee Kochen inszeniert, wird deutlich, wenn man Ang Lees filmische Kochszenen mit Fu Pei-Meis Kochsendungen für das taiwanesische Fernsehen vergleicht.6 Letztere zeigen die Kochkünstlerin Fu Pei-Mei meist in der Halbtotalen, wie sie in einem tristen Kochstudio ihre Zutaten vorstellt und ihre Arbeitsschritte präzise erklärt. Nur hin und wieder zoomt die Kamera halbnah oder nah heran, um einen Kochschritt genauer zu zeigen, oder es erfolgt ein Schnitt auf Bilder einer zweiten Kamera. Die Zutaten werden nicht von ihrer jeweils besten Seite gezeigt, sondern ihr schulischer Wiedererkennungswert steht im Mittelpunkt der Präsentation. Das Aussehen der Zutaten verändert sich während des Verarbeitungsprozesses und hat nicht von Anfang an einen ästhetischen Wert. Hier wird Kochkunst vermittelt, nicht aber Kochen als Kunst ästhetisch inszeniert. Ganz anders verfährt Ang Lee. Auch Lee zeigt nicht nur Bilder, die appetitanregend aussehen. Ja, er präsentiert sogar einige Einstellungen, die auf Unkundige leicht verstörend wirken könnten: Etwa, wenn Chu den Karpfen am Anfang des Films mit dem Messer aufschlitzt, um dessen blutige Innereien zu entfernen. Diese Einstellung ist aber so kurz, dass das heraussickernde Blut nur kurz als roter Farbimpuls sichtbar wird. Lee wendet in der Montage das Prinzip der Ellipse an. Er zeigt immer nur einen oder einige wenige Handgriffe, die die Herstellung eines Gerichts dokumentieren. Dazwischen schneidet er Bilder, die von der Herstellung anderer Gerichte zeugen. Die Auswahl der Bilder erfolgt nach ästhetischen Gesichtspunkten (Farben, Formen, Gesten und sinnliche Eindrücke der Bearbeitung) oder nach inhaltlichen – etwa, wenn Ang Lee Fisch, Meerestiere, Fleisch und Gemüse in der Anfangssequenz als Ausdruck der Bandbreite des Schaffens Meister Chus präsentiert oder wenn er Assoziationen von heiß und kalt, scharf und mild, süß und sauer durch das Zeigen entsprechender Zutaten wachruft.

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Zahlreiche Sendungen sind abrufbar über YouTube unter Eingabe „Fu Pei-Mei cooking“.

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Die Besonderheiten der Inszenierung werden schließlich deutlich, wenn man Eat Drink Man Woman mit einem anderen Film vergleicht, der fast zeitgleich im chinesischen Kulturraum entstanden ist und der ebenfalls Kochkünste vorführt: mit The Chinese Feast (Jin yu man tang, Das Bankett des Kaisers (1995) von Tsui Hark. Tsui lebt seit 1966 in Hongkong und hat wie Ang Lee einen ungehinderten Zugang zu kulturellen Traditionen Chinas. Als Regisseur und Produzent wurde Tsui Hark durch phantastische Wuxia-Filme bekannt. Sein Stil ist stark durch Special effects geprägt. Tsui sei kein Regisseur, der sich der Geschichte verpflichtet fühle oder der die kantonesische Kultur bewahren wolle, so der Filmwissenschaftler David West (West 2006: 179). Dennoch wählte Tsui Hark mit The Chinese Feast ein Thema, das geschichtliche Bedeutung hat: das kaiserliche Qing und Han-Festmahl (auch Mandschu und Han-Festmahl), das Kaiser Kangxi (1654-1722) als zweiter Kaiser der Qing-Dynastie feiern ließ, um die Volksgruppen der Mandschu und der Han miteinander zu versöhnen. Abbildung 2: Kochen als Aktionskunst in Tsui Harks The Chinese Feast

Quelle: DVD Das Bankett des Kaisers, im Vertrieb der SchröderMedia HandelsgmbH

The Chinese Feast ist trotz des geschichtlichen Anknüpfungspunkts eine für ein Massenpublikum inszenierte Komödie mit Anleihen beim Slapstick, beim Wuxia-Film und beim Gangsterfilm. Ein aus dem Gangstermilieu stammender junger, wenig begabter Kochlehrling (Leslie Cheung) unterstützt seinen Chef, der zunächst wenig von dieser Hilfe begeistert ist, ein großes Kochduell zu bestehen. Bei diesem Duell sollen Speisen aus dem Qing und Han-Festmahl nachgekocht werden. Es soll über den künftigen Besitz des Restaurants entscheiden, in dem der junge Mann als Lehrling angetreten ist. Motivation für seine Hilfe ist die Liebe: Der Lehrling hat sich in die Tochter (Anita Yuen) des Chefs verliebt. Diese gibt sich aufmüpfig und versucht, den Vater und das Küchenpersonal

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durch schräge Umgangsformen zu irritieren. Als aber ihr Vater von Wing Wong (Xin Xin Xiong), einem Meisterkoch aus dem chinesischen Mafia-Milieu, bedroht wird, der seine Vormachtstellung als Inhaber von Restaurants in Asien unter dem Label „Super Profis“ ausbauen will, setzt sie alles daran, ihrem Vater beizustehen und engagiert den alkoholabhängigen ehemaligen Kochkünstler Kit (gespielt von Kenny Bee), um das Kochduell um das Qing und Han-Festmahl zu gewinnen. Neben Szenen, in denen die dilettantischen Kochkünste des Lehrlings und der Tochter komödiantisch zelebriert werden, zeigt Tsui Hark drei Kochduelle, in denen er Kochen als Variante der Kampfkunst inszeniert (vgl. Abb. 2). Die Köche wirbeln mit ihren Zutaten durch die Luft, schwingen die Messer wie Schwerter, jonglieren mit Küchenutensilien, vermischen Flüssigkeiten mit tänzerischen Drehbewegungen, hantieren leichthändig mit Feuer, schaffen Skulpturen aus Eis und Tofu in rasantem, irrealem Tempo – so wie Wuxia-Krieger tänzerische Kämpfe vollführen. Den Höhepunkt bildet das Duell um das Qing und HanFestmahl. Tsui Hark betont das Mondäne, Überbordende der kaiserlichen Mahlzeit: Seine Kamera filmt in langen Schwenks über die angerichteten Tische, die wie ornamentale Teppiche aussehen, so reich gedeckt sind sie. Die Kontrahenten müssen an drei Tagen die exotische Hauptspeisen Bärentatze, Elefantenrüssel und Affenhirn interpretierend nachkochen. Beurteilt werden Aroma, Geschmack, Farbe, Idee und Gestaltung, und entsprechend kreativ sind die Rezepte: Etwa, wenn Wing Wong die Tatze eines Eisbären wählt, sie mit Gewürzen kocht und auf einem Nagelbrett traktiert, ihr flüssigen Stickstoff injiziert, damit sie sich durch den so erzeugten Unterdruck bei Hitze mit Störsuppe vollsaugen kann, um sie sodann im Eisschrank schockartig abzukühlen und sie mit zu Blüten drapierten Birnen auf Schnee anzurichten. Tsui Hark lässt die Köche bei der Zubereitung kämpferische Bewegungen vollziehen: Stickstoffdämpfe und Feuerschwaden begleiten die Vorgänge und verbergen geheimnisvoll die tatsächlichen Handgriffe. Tsui Hark inszeniert Kochen als kämpferisches, nach außen gerichtetes Schaukochen. Die Präsentation für andere steht im Vordergrund, nicht die eigentliche Tätigkeit selbst. Während Tsui Hark das Exotische und Erfinderische des Kochens hervorhebt, zeigt Ang Lee in seiner klaren Formensprache das Traditionelle. Denn Thema seines Films ist der Umgang mit den Traditionen: sowohl mit der Tradition des Kochens als auch mit der Familientradition – beide sind miteinander verwoben. Um die Traditionen lebendig zu halten, müssen sie neuen Lebensumständen Rechnung tragen und modifiziert werden. Für die Familie bedeutet das: Die mittlere Tochter Jia-Chien kocht nach Auflösung der Kernfamilie die sonntäglichen Abendessen und setzt das Familienritual für eine Weile fort. Und

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Meister Chu erkennt, dass seine Tochter zwei Traditionslinien des Kochens aufgenommen hat und in sich vereinigt: seine eigene und die der Mutter. Wahrung und Verlebendigung von Traditionen – das ist also Ang Lees Thema. Deshalb präsentiert er seine Hauptfigur Meister Chu weder als kochkünstlerischen Akteur (wie Tsui Hark dies tut) noch als Vermittler von Kochkünsten (wie Fu-Pei Mei in ihren Kochsendungen auftritt), sondern als Künstler im eigentlichen Sinne des chinesischen Kunstverständnisses: als jemanden, wie es der Kunsthistoriker Roger Goepper herausgearbeitet hat, der „die Tradition oder sogar mehrere Traditionslinien in sich aufgenommen hat“, der seine Techniken soweit beherrscht, dass er sie vergessen kann, der sich von der Außenwelt zurückzieht, um seine Gedanken kontemplativ wandern zu lassen (Goepper 2000, 13: 11-16).

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Essen im Kino, Kino im Essen T HOMAS S TRUCK

M AINSTREAMERFAHRUNG Der Bach schwappt über das rundgeschliffene Felsufer eines Bergsees, wie Wein aus einem randvoll gefüllten Glas. Er lässt sich bacchantisch den Berg hinunterfallen und plätschert zielstrebig nach Norden. Der kleine Anfang des Rheins in den Schweizer Alpen hat große Wirkung. Sein Flusssystem versorgt Millionen Menschen, Tiere und Pflanzen in Mitteleuropa mit dem Grundnahrungsmittel Wasser. Der Rhein ist außerdem die wichtigste Verkehrsader Mitteleuropas, mit der sich zuerst von Süden nach Norden und später von Norden nach Süden der kulturelle Mainstream des Abendlands ausbreitete. Für meinen Dokumentarfilm flüssig (2003) fuhr ich mit dem Rad und einer Kamera am Lenker von Rotterdam zur Rheinquelle. Der Film folgte dem Rhein gegen den Strom und begegnete an seinen Ufern und in den Wellen legendären und zeitgenössischen Gestalten und Geschichten. Der Rhein ist wie ein Titan, ein mächtiges und trotzdem sterbliches Wesen, das in den 1990er Jahren fast tot war. Zahlreiche Maßnahmen der Umweltschützer haben die Wasserqualität des Rheins inzwischen verbessert. Aber ob die Natur am Ende über die Industrie siegen wird, bleibt – natürlich – unberechenbar. Das Ende der Geschichte des Rheins ist noch nicht geschrieben.

G ESCHMACKSERFAHRUNG Mein Film spülte mich in die Berlinale, einem Filmfestival, in dem neben Mainstream auch andere Strömungen zu sehen sind. 2001 übernahm Dieter Kosslick die Leitung und holte mich in ein Team, das eine der wichtigsten Neue-

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rungen der Berlinale etablierte, den Berlinale Talent Campus. Hier treffen sich seit 2002 hunderte von jungen Filmemachern aus aller Welt mit etablierten Profis und lernen von- und miteinander, jedes Jahr unter einem anderen Leitmotiv. 2006 hieß es Hunger, Food and Taste. Wir wollten den schillernden Begriff „Geschmack“ aus der Sicht des Kinos und der Gastronomie diskutieren. Abbildung 1: Illustration am Kühlschrank einer spanischen Regisseurin

© Copyright Thomas Struck

Einer der Referenten war der österreichische Filmkünstler Peter Kubelka, der, wie er sagt, in den 1960er Jahren begonnen hat, sich zu „entspezialisieren“. Zwischen 1978 und 1988 lehrte er in Frankfurt an der Städelschule „Film und Kochen als künstlerische Gattung“. Peter Kubelka erzählte in seiner heiteren und tiefsinnigen Betrachtung über das Kochen als Grundlage der Kultur von der „Erschleckung der Welt“. Diese beginnt unmittelbar nach der Geburt in den meisten Fällen an der weiblichen Brust. Schnell erweitert der junge Mensch seinen Aktionsradius, erreicht den Boden und erforscht die Welt weiter mit dem Mund. Hier setzt auch gleich der zivilisatorische Prozess der Eltern ein, die dem Kind immer wieder zu verstehen geben, was Dreck ist, und dass man ihn nicht in den Mund nehmen soll. Die Lehre vom „Das tut man, und das tut man nicht“ zieht sich durch unser ganzes Leben. Ängste, Tabus und Konventionen und natürlich die Lust, sie zu brechen, beruhen auf kindlichen Erfahrungen. Peter Kubelka ist der Überzeu-

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gung, dass das Sauberkeitstraining einen Verdrängungsprozess bewirkt. Aber tief im Innern des olfaktorischen Gedächtnisses wissen wir noch, wie die verbotenen Dinge schmecken, die wir nicht essen können oder sollen, wie Metall, Holz oder Scheiße. So lernt der Mensch zu unterscheiden und nennt sich homo sapiens: weiser und schmeckender Mensch, denn sapere heißt sowohl schmecken als auch wissen. Insofern irrt der Volksmund, denn es ist möglich, Weisheit mit Löffeln zu essen. Abbildung 2: Starkameramann Michael Ballhaus dreht einen Studentenfilm im Slow Food Supermarkt Eataly in Turin

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Die Slow Food-Bewegung stellt das Essen in gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge. Auch Carlo Petrini, der Slow Food Gründer, nahm mit seinen Vizepräsidentinnen Vandana Shiva und Alice Waters am Talent Campus 2006 teil. Wir erkannten, dass es zwischen Slow Food und einem Festival wie der Berlinale Übereinstimmungen und Möglichkeiten gegenseitiger Ergänzungen gibt. Die Erhaltung der kulturellen Diversität ist eins der Ziele des Festivals, und die wiederum ist nicht möglich ohne den Erhalt der biologischen Diversität. So entstand aus der Verbindung von Gastronomie, Ökologie und Film das Kulinarische Kino, das im Rahmen der 57. Berlinale vom 11. bis 15. Februar 2007 zum ersten Mal stattfand.

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Wer heute ins Kino geht, dem wird das Essen aufgedrängt: Eimer mit Popcorn, Tabletts mit Nachos und Käsesauce, zwischendurch Schokolade und alles runtergewaschen mit Cola. Das war nicht immer so. Noch in den 1950er Jahren gab es nur Eisverkäuferinnen in den Lichtspielhäusern und im Dunkeln wurde möglichst diskret mit der Goldfischlitüte geraschelt. Heute sind die Multiplexe Fast Food-Paläste mit angeschlossenem Beamer. Den größeren Teil des Gewinns machen die Kinos schon seit vielen Jahren mit dem Verkauf von Food-Artikeln. Sensible Zuschauer rümpfen die Nase über die olfaktorischen und akustischen Reize des Fast Food, die mit Klimaanlagen und Dolby Surround nicht überlagert werden können. Für die Mehrheit sind diese Gerüche und Geräusche nicht störend, sondern schaffen ein Gemeinschaftsgefühl, ähnlich wie in einem Stall. Das Kino ist im großen Stil zu seinen rummeligen Anfängen in Penny Arcades und Jahrmarktsbuden zurückgekehrt. Auch hier wurde gegessen, getrunken und jede Menge Müll hinterlassen. Die Gewohnheit, während einer Show zu futtern, war schon in Volkstheatern des 19. Jahrhunderts üblich. Damals wurde Obst und Gemüse nicht nur gegessen, sondern bei Nichtgefallen auf die Schauspieler geworfen. Der Name des Film-Portals rottentomatoes.com erinnert an diese archaische Sitte.

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Obwohl ich ein großer Freund der Burleske bin, bekam das erste Kulinarische Kino der Berlinale ein anderes Format: Zuerst zeigen wir einen Film, der im weitesten Sinn etwas mit Essen zu tun hat. Daher finden sich in unserem Programm auch viele Filme mit ökologischen und sozialen Themen. Nach dem Film geht das Publikum in ein temporäres Restaurant. Hier serviert ein Koch dem Publikum ein Essen, das auf den vorher gezeigten Film abgeschmeckt ist. Der Koch versucht die Emotionen des Films mit seinem Gericht zu interpretieren. Der Zuschauer geht von der vertikalen Leinwand im Kino zur horizontalen Leinwand des Tisches im Restaurant. Im Rahmen des Tellers kann er die eben gesehene Geschichte auf einer anderen Ebene genießen. Wir glauben, dass die Besucher durch die Trennung von Film und Essen dem jeweiligen Werk mehr Aufmerksamkeit schenken können.

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Sowohl die Food- als auch die Filmindustrie haben in den letzten Jahrzehnten den Mainstream erheblich verbreitert. Als ich vor etwa 50 Jahren anfing Film zu studieren, ging ich von morgens bis nachts ins Kino. Vier oder fünf verschiedene Filme am Tag zu sehen war nur eine Frage des Fahrplans. Das Angebot war im Vergleich zu heute fantastisch unübersichtlich. Es liefen zur gleichen Zeit Kiss Me Stupid, A Hard Days Night, L'Avventura oder Das Brot der frühen Jahre. Die kulinarische Seite des Lebens war einfach und nicht so exotisch wie heute. Es gab noch viele kleine Läden und Kneipen. Doch die Supermärkte waren auf dem Vormarsch. Heute gibt es zwar weniger Filmproduktionen als vor 50 Jahren, aber wesentlich mehr Abspielmöglichkeiten: Leinwände in Multiplex-Kinos, Screens im Fernseher, Computer und auf dem Handy. Das führt zu einer starken Verschlankung der Auswahlmöglichkeiten. Die kulinarische Situation ist ähnlich, denn es gibt fast immer und überall Möglichkeiten, schnell etwas zu essen. Viele Produkte der Foodindustrie sind jedoch auf der ganzen Welt mehr oder weniger identisch, was zu katastrophalen Auswirkungen auf die Ökosysteme zu Wasser, zu Lande und in der Luft führt. Charlie Chaplin hat für das Kino mit Modern Times zum Thema Industrie mit The Gold Rush über Gier und Wahnsinn Meisterwerke geschaffen. In beiden Filmen gibt es unvergessliche Food-Szenen: die Essmaschine in Modern Times, die Schnürsenkel-Spaghetti und die Huhn-Vision in The Gold Rush.

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Ein Schwarz-Weiß-Film ist nicht wirklich geeignet, Essen appetitlich darzustellen. Das einzige Nahrungsmittel, welches in der Stummfilmzeit eine wichtige Rolle spielte, war die fliegende Torte. Bis zu den 1970er Jahren gab es keinen Spielfilm, in dem Food das Hauptthema war. Essen, trinken, rauchen dienten der Charakterisierung der Figuren und der Situation. Als das Farbfernsehen in den USA ab den 1960er Jahren immer populärer wurde, wurde es auch für die Food Industrie als Werbeplatz interessant. Seit 1970 wurden in der Fiction Factory von Hollywood fast nur noch Farbfilme gedreht. Der erste Spielfilm, in dem Food ein zentrales Thema war, spielte 1972 in dem Land der klassischen cuisine. Der Meister des surrealen Humors, Luis Buñuel, inszenierte die farbige französische, italienische und spanische Koproduktion Le charme discret de la bourgeoisie. Paradoxerweise kommt in dieser

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Komödie niemand dazu, etwas zu essen. 1973 gab es zum ersten Mal auf der Kinoleinwand in Spielfilmlänge etwas zu essen. Marco Ferreri ließ seine Protagonisten in La grande bouffe fressen, bis sie platzten. In Europa und Asien wurden in den folgenden Jahren mehrere erfolgreiche Filme produziert, in denen Food eine zentrale Rolle spielt. In den USA wurde erst 1996 mit Big Night von Campbell Scott und Stanley Tucci ein abendfüllender Film mit Food im Zentrum geschaffen. Ein Food Film ist kein Genre, sondern spielt mit dem Thema Food, das in allen möglichen Genres vorkommen kann, wie in einer Komödie, einem Thriller oder Dokumentarfilm. Die Konflikte der Protagonisten spielen die Haupt- und das Essen eine Nebenrolle, die allerdings sehr wichtig ist. Das Essen ist ein Kitt, der gut funktioniert, weil alle Figuren mit dem Essen in Berührung kommen können. Buñuel thematisiert in Le charme discret de la bourgeoisie den Frust der Bourgeoise. In Ferreris La grande bouffe geht es um Überdruss. In Babette's Gastebud von Gabriel Axel wird eine puritanisch lustfeindliche Moral durch herrliches französisches Essen aufgeweicht und Liebe geweckt. Die Vollkommenheit suchen eine Nudelköchin und ihre Spaghetti-Western-Helden in Tampopo von Jnjzǀ Itami. Bruderliebe wird in Stanley Tuccis und Campbell Scotts Big Night mit einem Omelette besiegelt. Das Spektrum der Food Filme ist in den letzten Jahren durch mehrere große Dokumentarfilme erweitert worden, wie Canned Dreams, Food, Inc. oder We Feed the World. Diese Filme zeigen das wahre Gesicht der Food Industrie, das hinter dem Schleier der Werbung verborgen wird. Bilder mit Fachwerkhäusern und grasendem Vieh gaukeln eine dörfliche Landwirtschaft vor und täuschen über die wahre Herkunft und Herstellung der Lebensmittel hinweg. Die Food Industrie reizt die Papillen über die Pupillen und verwendet in der Werbung gerne die Stars, Stories und Stilistiken des Kinos, insbesondere bei der Zielgruppe der Kinder. Immer wieder kritisieren Politiker wie Michelle Obama oder der New Yorker Bürgermeister Michael Bloomberg die Fast Food Industrie und machen sie speziell für die steigende Zahl der Zuckerkranken verantwortlich. Die Food Industrie befürchtet inzwischen, dass die nachhaltigen Attacken der Verbraucherschützer Erfolg haben werden und zu einer Stigmatisierung der Produkte führen könnten, wie es einst mit der Zigarette geschah. Die Walt Disney Company, die in ihren Fernsehkanälen und Theme Parks konkret mit Fast Food Profit macht, reagierte am 8. Juni 2012 auf die Vorwürfe, verbannte bestimmte Produkte und wirbt jetzt mit einem Label „Good For You – Fun Too“ für Produkte, die weniger süß und fetthaltig sind.

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I M B RENNPUNKT Das Filmgewerbe begann 1895 mit der ersten Filmvorführung der Welt der Brüder Lumière, die auch einen Film über das Essen im Programm hatten. Das 41Sekunden-Werk Répas de bébé zeigt, wie Auguste Lumière seine Tochter füttert. Mit dieser Vorführung schrieben die Brüder Filmgeschichte. Ihre Erfindungen der Perforation, des Projektors und der Filmkamera brachten dem Medium Film den Durchbruch. Zuvor gab es die Fotokamera und die Laterna Magica, in denen durch Linsen die Bilder im Fokus scharf abgebildet wurden. Vor der Erfindung der Linse gab es die Camera obscura, eine dunkle begehbare Kammer mit einem Loch, durch das in zarten Pastellfarben die Welt auf dem Kopf stehend projiziert wurde. Die Linse und die Möglichkeit, mit dem Brennpunkt Feuer zu entfachen, war schon in der Antike bekannt. Das lateinische Wort Focus bedeutet Feuer und heiliger Herd. Die Mythen vom Raub des Feuers durch Prometheus oder auch die Figur des Trickster, über den Claude Lévi-Strauss in Das Rohe und das Gekochte (1971) schrieb, erinnern an die Ambivalenz, die mit dem Feuer verbunden ist. Die Ägypter begannen vor etwa 4500 Jahren Pyramiden zu bauen, die auch der Verehrung des Lichts und des Feuers dienten. Das Wort Pyramide ist mit dem altgriechischen Wort pyr = Feuer verwandt. Eine Pyramide findet sich auch heute noch in horizontaler Form in jedem Lichtspieltheater. Der Lichtstrahl wird durch die Linse des Projektors gebündelt und fällt, durch den Kasch rechteckig beschnitten, als Pyramide auf die Leinwand. Ähnlich wie im Innern der ägyptischen Pyramide Bildfolgen an den Wänden oder auf Mumienbinden Geschichten erzählten, werden auch im heutigen Lichtspieltheater Geschichten durch Bildserien dargestellt. Vor ungefähr 10.000 Jahren begannen die Menschen im Zweistromland sesshaft zu werden und organisierten ihr Leben um die Feuerstellen herum. Sie lernten Getreide anzubauen, Brot zu backen, Bier zu brauen und mit Schriftzeichen zu kommunizieren. Davor gab es eine lange Periode, in der die Menschen sammelnd und jagend umherzogen, nach der Jagd in Höhlen hockten und im Feuerschein Bilder von der Jagd an die Wände malten. Der US-amerikanische Anthropologe Richard Wrangham beschreibt in seinem Buch Feuer fangen die enorme Wirkung, die das Feuer für die Evolution des Menschen hat. Vor über 2 Millionen Jahren entwickelte sich aus der Gattung der Affen der Homo erectus, der Feuer machen konnte. Er konnte Fleisch grillen und brachte mit heißen Steinen Wasser zum Kochen. Ohne das Feuer müssten wir „wie die anderen Tiere leben“, schreibt Wrangham (2009: 15). „Die Nächte wären kalt, finster und gefährlich, und wir müssten hilflos auf den Sonnenauf-

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gang warten. Alles, was wir äßen, wäre roh.“ (ebd.) Und: „Wir Menschen sind die kochenden Affen, Geschöpfe des Feuers.“ (ebd.: 21)

P ARALLELEN ZWISCHEN K OCHEN UND F ILMEN Mit der Zubereitung warmer Mahlzeiten entwickelten sich Organisation, Arbeitsteilung, Gesellschaft, Kommunikation, Sprache und eine Zukunft, schreibt die New Yorker Autorin Ruth Reichl. „Wer Koch wird, lebt nicht länger nur für den Moment. Es bedeutet, dass man voraus denkt. Und diejenigen, die eine Zukunft haben, haben auch eine Vergangenheit.“ (Reichl 2007: 4) Food und Film sind beides Werke auf Zeit. Ein Gefühl für timing ist sowohl beim Kochen einer Nudel als auch beim Erzählen einer Geschichte für das Gelingen unerlässlich. Food und Film bestehen jeweils aus sehr unterschiedlichen Zutaten oder Bestandteilen, haben aber in den Phasen ihrer Entstehung manche Ähnlichkeiten und Parallelen. Vor dem Kochen sucht man eine Idee und ein Gericht. Auch für den Filmemacher steht eine Idee am Anfang. Nach dem Einkauf der Lebensmittel beginnen in der Küche die Vorbereitungen. „Mise en place“ wird die Phase, in der die Zutaten arrangiert werden, genannt. „Mist am Platz“ ist es dann manchmal beim Amateur. „Preproduction“ nennt es der Filmemacher. Jetzt werden das Drehbuch zum Film geschrieben, die Finanzierung geklärt, die Drehorte und die Besetzung gesucht. Wenn alles vorbereitet ist, wird in der Küche Feuer gemacht. Aus der prometheischen Tat wurde mit der Zeit ein schlichter Knopfdruck. Beim Film wird auf den Auslöser der Kamera gedrückt. Die Lichtstrahlen erreichen den Brennpunkt, die Bilder werden aufgezeichnet. Die Realität vor der Kamera wird in eine neue Ebene übersetzt. Ebenso werden auf dem Herd durch Hitze die Rohstoffe verwandelt. Trotz aller physikalisch erklärbaren Vorgänge bewahren die Metamorphosen in Küche und Kamera ihre geheimnisvollen magischen Momente. Nach den Kochvorgängen oder den Dreharbeiten beim Film beginnt eine Phase, in der die Szenen des Films editiert, beziehungsweise die Komponenten der Mahlzeit zusammengefügt werden. In der Küche werden in dieser Etappe Teller angerichtet und die Teller in die Reihenfolge des Menüs gebracht. Beim Essen wie beim Film entsteht Spannung durch Kontraste, wie Süße und Säure, Angst und Hoffnung, hell und dunkel. In der Küche heißt diese Phase schlicht Anrichten, im Film nennt man es Postproduktion. Es folgt die Präsentation. Das Ergebnis der Bemühungen wird serviert, respektive vorgeführt. Jetzt ist es der Service, der dafür sorgt, dass sich das Publikum wohl fühlt, sei es bei einer Weltpremiere oder bei einem Dinner for One.

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Im letzten Akt wird bewertet und verdaut. Nicht immer sind Kritiker so entzückt, wie der gefürchtete Kritiker Ego aus Ratatouille. Das Gemüsegericht versetzt ihn in die Kindheit zurück, und der Film illustriert auf wunderbare Weise eine wichtige Funktion des Essens: To eat is to remember. Zu essen heißt, sich zu erinnern.

M UND -W ERKE Für Brecht und Adorno war „kulinarisch“ im Zusammenhang mit Theater ein abwertendes Attribut. Genuss, so glaubten die Genossen, sei ein verdächtiger Zustand, mit dem Schwelgen im Kitsch nahe verwandt. Für Adorno gehörte alles, was Nahrung ist, nicht in den Bereich der Kunst (siehe Lemke 2007: 24). Das mag theoretisch eine kluge Abgrenzung sein, aber wer würde gerne bei den Adornos essen, wenn die Kunst aus der Küche verbannt wäre? Die Vorstellung, dass Essen ein Kulturgut ist, gewinnt heute wieder Anhänger und manche diskutieren auch die Frage, ob Kochen Kunst sei. Sie erwähnen als Beispiel für Kochkunst die Küche von Ferran Adrià. Doch diese Aufwertung ist in Wirklichkeit eine Abwertung, denn wie meine Großmutter oder meine Frau kocht, ist auch eine Kunst. „Anyone can cook. Jeder kann kochen.“, heißt der zentrale Satz in Ratatouille. Jeder kann auch malen oder musizieren, das begrenzt nicht, sondern belebt und bereichert die Kunst. Jeder kann heute auch filmen. Das ist so einfach oder kompliziert wie kochen. Essen ist niemals nur Essen, sondern weist über sich selbst hinaus. You'll never eat alone. Herkunft und Zubereitung können Geschichten erzählen, wie auch die Menschen, mit denen man isst. Das Essen stimuliert alle Sinne. Doch es muss sich seine Bühne mit einem anderen Protagonisten teilen: Dem Wort. Während beim Essen zuerst Temperaturen und Konsistenzen und danach Geräusche, Geschmäcker und Gerüche über den Mund in den Körper eindringen, kommen aus der Gegenrichtung Worte, die sich im Mund formen. Mit Kollisionen und Analogien im Mundwerk formt sich aus Sprache und Essen eine Kultur der Kommunikation, die vor zwei Millionen Jahren an einem Feuer begann und auf Italienisch cultura orale genannt wird.

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L ITERATUR Lemke, H. (2007): Die Kunst des Essens. Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks. Bielefeld: transcript. Lévi-Strauss, C. (1971): Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Reichl, R. (2007): Why Food Matters. The Tanner Lectures on Human Values. Delivered at Yale University October 26-27, 2005. Salt Lake City: University of Utah Press. Wrangham, R. (2009): „Feuer fangen.“ Wie uns das Kochen zum Menschen machte – eine neue Theorie der menschlichen Evolution. München: DVA.

Brust? Keule? Spaß? Ernst? – Ein einführender Beitrag zu Claude Zidis Brust oder Keule Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi S USAN G ROSS UND J ANINE L EGRAND

Brust oder Keule ist wohl einer der berühmtesten Filme des kulinarischen Kinos. Und obwohl er bereits 1976 in die Kinos kam, hat er von seiner Aktualität kaum etwas eingebüßt. Bei all dem unterhaltsamen französischen Humor, den der Film mitbringt, behandelt er doch eine Thematik, die auch heute noch viele Menschen (und die Medien sowieso) beschäftigt: Wie weit darf die Industrialisierung der Lebensmittelproduktion voranschreiten, bis der gute Geschmack gefährdet ist? Und wie weit hat man es dabei als viel zu nachsichtiger Konsument mit irreführenden Täuschungen zu tun, sozusagen mit einem „kulinarischen Unrecht“, gegen das sich aufzulehnen man die Pflicht hat? Oder sind es bloß massenmedialinszenierte Hysterien? Sind es vielleicht, wie Niklas Luhmann einmal sagte, „Aufregungsschäden“ (Luhmann 1986: 21), bei denen die Ahnungslosigkeit der meisten Menschen in Bezug auf physikalisch-chemisches Wissen ausgenutzt wird, um nostalgische kulinarische Praxen als vermeintlich bessere Alternative zu romantisieren, während sie doch in Wirklichkeit vom technischen Fortschritt längst aufs Altenteil verwiesen gehören? Bevor im nachfolgenden Beitrag der Physiker Thomas Vilgis eine ungewohnte und kontingenzbetonte Perspektive auf die technischen Kochpraktiken in Brust oder Keule eröffnet, soll hier nun – sozusagen als Prolog – zunächst die in der cineastischen Tradition „etablierte“ Lesart auf diesen so oder so unkonventionellen gastrocineastischen Film eingeführt werden. Im Vergleich kann der Le-

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ser dann umso besser die Perspektivenabhängigkeit des Zuschauers und Zuschauens erkennen und somit auch das interpretative und reflexive Potential, welches im kulinarischen Kino steckt – auch in dessen Jahrzehnte alten Klassikern, für die es offensichtlich kein Verfallsdatum gibt.

D AS P ERSONAL Charles Duchemin ist ein bekannter Restaurantkritiker, der von Frankreichs Küchenchefs gleichermaßen geachtet und gefürchtet wird. In seiner Hand liegt das Schicksal der französischen Küche: Mit dem von ihm verfassten Restaurantführer und der in diesem praktizierten Vergabe von Sternen kann er Restaurantbetreiber zu Ruhm und Reichtum verhelfen, sie jedoch auch ruinieren. Zusammen mit seinem Sohn Gérard reist er durchs Land, um noble – oder auch nur vermeintlich noble – Restaurants näher unter die Lupe zu nehmen. Gérard soll, so der Wunsch seines Vaters, ihn eines Tages beerben und wird daher von ihm schon jetzt in die Kunst des guten Geschmacks eingewiesen. Was Duchemin nicht weiß: Gérard hat ganz eigene Vorstellungen was seine Zukunft betrifft und führt ein Doppelleben. Wenn er gerade nicht in den besten Restaurants des Landes speist, tritt er nämlich in einem Wanderzirkus als Clown auf. Mit Fast Food-Ketten und Schnellrestaurants hat Duchemin allerdings ein Problem. Sie sind ihm ein Dorn im Auge. Oder anders gesagt: ein verachteter, chemischer Belag auf der Zunge. Sein größter Feind ist der Großindustrielle Jaqcues Tricatel. Dieser ist der Besitzer mehrerer Fast Food-Restaurants und vertreibt dort synthetisch erzeugte Lebensmittel. Duchemin versucht ihn mit aller Macht bloßzustellen und seine intransparenten Machenschaften aufzudecken. Tricatel selbst ist weiß Gott kein feingeistiger Gourmet. Im Gegenteil: Er ist unkultiviert und ohne Manieren, durch Rücksichtslosigkeit finanziell aufgestiegen und kämpft unentwegt um gesellschaftliche Anerkennung. Doch seine betriebswirtschaftliche Strategie zieht – er gewinnt auf dem umkämpften Gastronomiemarkt zunehmend an Macht und verdrängt mit seinen Schnellrestaurants die kleinen, auf traditionelle Weise kochenden gastronomischen Familienbetriebe. Charles Duchemin will dies mit allen Mitteln verhindern und lockt Tricatel zu einem Geschmacksduell in eine Talkshow. Doch dann geschieht das Unfassbare: In Folge einer Racheaktion eines von Duchemin einst durch eine schlechte Kritik ruinierten Kochs, bei der der Gourmet dazu gezwungen wird, eine schauderhafte Speisenfolge zu essen, werden dessen wertvolle und identitätsbildenden Geschmackssinne lahmgelegt. Wie soll Duchemin nun noch seinen Rivalen schlagen können?

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E SSEN WIE G OTT IN F RANKREICH – D UCHEMIN SAGT D IR , WO ! Zunächst klingt es nach einer wunderbaren Sache: Jedes Jahr frisch herausgegeben, kann man – ob fremd oder einheimisch –, wenn einen der Hunger packt und man ein gutes Lokal sucht, zur Geschmacksbibel Guide Duchemin greifen und sich an ihren Empfehlungen orientieren. Die eigene Entscheidung ist nicht gefragt, eigenen Geschmack gar braucht man nicht. Ganz im Gegenteil: Wer traut sich schon, konträr der Empfehlung eines allmächtigen Restaurantkritikers zu schmecken? Nicht minder verlockend, als die Verantwortung für die Geschmacksnerven abzugeben, scheint der Job des Kritikers selbst. Seine Aufgabe ähnelt derjenigen, die Niklas Luhmann der Werbung zuschreibt: „Zu den wichtigsten latenten Funktionen der Werbung gehört es, Leute ohne Geschmack mit Geschmack zu versorgen. […] Mit ihrer Hilfe kann man sich […] in Bereichen, in denen man über keine eigenen Kriterien verfügt, mit Selektionssicherheit versorgen lassen“ (Luhmann 2004: 89). Somit scheint allen gedient: Es ist perfekt für Leute ohne Geschmack auf Geschmackssuche ebenso wie für all diejenigen, die sich unterwürfig vom Geschmacksurteil der wenigen Multiplikatoren abhängig machen, die mit ihrem – vorgeblich vorzüglichen – Gaumen den Geschmack der Masse prägen. Diese Geschmacksverbreiter gilt es also, wenn man ein Gourmetrestaurant erfolgreich und von harscher Kritik verschont führen möchte, irgendwie zu umgarnen und zu verführen. Einen Hinweis auf die Art und Weise, in der die Konstruktion und das anschließend mediale Versorgen mit Geschmack vonstattengehen könnte,1 liefert bereits die Eingangsszene von Brust oder Keule. Inkognito, als ältere Dame verkleidet, bestellt Louis de Funès alias Charles Duchemin etwas unbeholfen „Gemüse ungekaut“ – eine Spezialität, die wir wohl alle gern goutieren. Zu seinem Pech (und zum noch größeren des Restaurants) wird aber nicht er, sondern ein Herr am Nebentisch für den heimlichen Richter über Gedeih und Verderb gehalten. Offenbar der Qualität der eigenen Küche nicht trauend, wird von Seiten des Restaurants zu diversen Bestechungsversuchen angesetzt. Exquisiteste Speisen und zuvorkommende Bedienung gegenüber dem irrtümlich für den Kritiker ge-

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Vergleiche zur sozialen und kommunikativen Konstruktion von Geschmack, mit besonderem Fokus auf professionelle Restaurantkritiken in deutschsprachigen Zeitungen, auch Kofahl 2010.

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haltenen Gast, führen dazu, dass für den echten Kritiker nichts vom Service übrig bleibt. Ergo greift dieser verzweifelt zur Blumenvase, um wenigstens einen Schluck Wasser zu ergattern. Während am Nebentisch immer mehr zusätzliche Köstlichkeiten aufgefahren werden, wird Duchemin links liegen gelassen und somit zu einer ganz realen Bedrohung für den Ruf und die Existenz des Lokals. Neben dem Restaurant, das Geschmack anbietet und verkauft, und den essenden Gästen, die den Geschmack mit ihren Sinnen erzeugen und abschließend bewerten, ist der Kritiker der Dritte im Bunde, der als mächtige Einflussgröße mitbestimmt, was als Geschmack in Zukunft welche Art von Aufmerksamkeit erhält, und welche Chance auf dem pluralistischen Markt der Geschmäcker damit einhergeht. Inwieweit diese Kritik legitim und vor allem verobjektivierbar ist, ist nicht unumstritten. Wilhelm Busch jedenfalls vertrat einst eine zurückhaltende Position, wenn es um die Aburteilung von Speisegewohnheiten gehen sollte: „Dies für den und das für jenen. Viele Tische sind gedeckt. Keine Zunge soll verhöhnen, Was der andern Zunge schmeckt.“ (Busch o.A.)

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UND GENÜSSLICHE

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Ja, natürlich dreht es sich ums Essen: Essen um seiner selbst willen und als Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Essenden. Dem großen Duchemin ist es ein Anliegen, die hohe kulinarische Kunst gegen deren erklärten Gegner Tricatel und die Ausbreitung seiner Fast Food-Kette zu verteidigen. Duchemin könnte es auch mit Wilhelm Busch halten: „Viele Tische sind gedeckt“, aber so einfach geht das für einen ausgewiesenen Gourmet natürlich nicht mit dem Geschmack: Essen ist eben nicht gleich Essen. Wer will schon mit widerlich gepanschtem Essen Vorlieb nehmen, wenn man auch Wohlschmeckendes bekommen kann? Die große Tradition der französischen Feinschmeckerküche verkehrt sich in dieser Geschmacksmanege allerdings manchmal in ihr Gegenteil, reduziert auf die snobistische Arroganz des Kritikers – wenngleich im Kampf gegen einen wahrlich wenig sympathischen Gegenspieler und auch oft gegen Speisen, die

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wohl jeder gerne aus der Küche verbannt sehen würde.2 In Brust oder Keule wird die Feinschmeckerei auch dadurch versucht zu objektivieren, indem seziert, analysiert, diagnostiziert, chemisch untersucht, Temperaturen gemessen und in Bestandteile zerlegt wird. Damit wird sie befreit von rein körperlichem Genuss, von Sinnlichkeit und purer Lust am Essen. Einmal trägt Monsieur Duchemin zu diesem Zweck ein speziell präpariertes Jackett, gespickt mit Reagenzgläsern, in die mittels Spritze der Inhalt von Gläsern und Proben der Gerichte auf den Tellern abgefüllt werden. Im hauseigenen Laboratorium erfolgt dann die detaillierte Prüfung. Das, was die Essenz der Kochkunst darstellt – nämlich Gerüche, in denen die verschiedenen Aromen sich mischen, Freude am Geschmack der unterschiedlichen Zutaten, Lust, auf der Zunge zergehen zu lassen, was zubereitet wurde –, wird durch eine verstörend penible und reduktionistische Detektivarbeit ergänzt. In solchen Augenblicken ist Duchemin in seiner versessenen Rationalität seinem Antipoden Tricatel in gewisser Weise gar nicht so unähnlich. Abbildung 1: Der Feinschmecker inszeniert sich als Gourmetkoch

Quelle: DVD Brust oder Keule, im Vertrieb von Universum Film GmbH

Wo in anderen Filmen die Lust auf Essen angefacht, das Begehren geweckt und beim Zuschauer ein Mangelgefühl erzeugt wird, das nach Befriedigung lechzt, vergeht dem Gaumen bei der hier gezeigten Schlacht um die richtige und standesgemäße Zubereitung von Brust oder Keule zeitweise der Appetit. Mit voller Absicht selbstverständlich. Und das liegt nicht nur an den widerlichen Erzeug-

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In einer Szene entdeckt Duchemin in einer Restaurantküche Köche, denen nicht nur die Asche der Zigarette, die sie beim Kochen allzu lässig im Mundwinkel hängen haben, in das Essen fällt, sondern der gesamte Glimmstängel. Trotzdem wird „das Produkt“ – von „Essen“ mag man hier kaum mehr reden – serviert.

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nissen der Fabriken von Tricatel. Auch eben jene Überheblichkeit der Gourmettempel und ihrer Klientel stellt eine Zielscheibe des bissigen Spotts Funès’ dar. Neben der inflationären Ausbreitung der Fast Food-Kultur, die hier vorgeführt wird, ist es auch deren Kontrapunkt, der sein Fett wegbekommt: Eine Feinschmeckerei, die sich objektiv gibt, obwohl sie zutiefst subjektiv ist und vor selbstgefälligen Selbstinszenierungen (vgl. Abb. 1) nur so strotzt. Freilich nicht ohne Grund ist man vor allem in Frankreich stolz auf die Haute Cuisine, prägte doch ihr Einfluss die Küche des europäischen Adels. Entstanden im 19. Jahrhundert verkörperte sie die am höchsten entwickelte Speisenkultur. Bereits seit dem 17. Jahrhundert galt in den Adelshäusern Europas jenes als nachahmenswert, was am französischen Hof gekocht und serviert wurde. Die Entstehung öffentlicher Restaurants eröffnete dann auch dem französischen Bürgertum die Möglichkeit, an der gehobenen Kochkunst teilzuhaben. Damit war der Grundstein gelegt für die demokratische Institutionalisierung des sogenannten „guten Geschmacks“, welcher von Pierre Bourdieu unter machtsoziologischer Perspektive auch als der „legitime Geschmack“ klassifiziert wurde, weil er, obwohl prinzipiell allen zugänglich, dennoch der Geschmack der gehobenen Klasse, der „besseren Kreise“, geblieben ist und darüber hinaus auch nicht von Natur aus gegeben ist, sondern unter Einsatz von Zeit und Mühe erlernt werden muss (Bourdieu 1987: 36ff.) (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Sohn und Vater beim Geschmackstraining

Quelle: DVD Brust oder Keule, im Vertrieb von Universum Film GmbH

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War die aufwändige Esskultur bereits in der Antike ein Kriterium des sozialen Status,3 verbreitete sich im weiteren Verlauf eine Art Geltungskonsum, je zugänglicher und öffentlicher sie in ihren modernen Formen wurde. Das Entstehen der Gastronomiekritik und damit einhergehend die Illusion objektivierbarer Bewertungskriterien von Geschmack verstärkte das Bestreben der Restaurantköche, ein bestimmtes, mutmaßlich allgemeingültiges Niveau zu erklimmen. Auch wurde hier eine immer größere Öffentlichkeit dazu eingeladen, nach den Sternen zu greifen. Bereits 1899 untersuchte Thorstein Veblen in seiner „Theorie der feinen Leute“, die mit einer auffälligen, nach außen erkennbaren Demonstrativität einhergehende Konsumbereitschaft. Konsumpräferenzen, so Veblen, folgen eben nicht vor allen praktischen oder genuin individuellen Bedürfnissen, sondern dienen zuallererst einmal der Zurschaustellung von Macht und Reichtum oder stützen die Vorstellung der Selbstinszenierung, die man gerne vermittelt sähe (vgl. Veblen 2011). Die Bewertung eines Restaurants ist also nicht nur wichtig für den Koch. Auch Gäste verlangen nach ihr – und zwar aus a-kulinarischen Motiven: Hier Gast zu sein, lässt den Glanz der Sterne auch auf einen selber strahlen.

V ERGEBENE S ÜNDEN –

SCHNELL UND LECKER „[…] außerdem entspricht es nicht unserer Zeit: Wozu eine komplizierte Küche für privilegierte Leute, die noch komplizierter sind. Sehen Sie, ich ernähre Millionen von Menschen täglich und vielleicht schon morgen werde ich die Bevölkerung der ganzen Welt ernähren und zwar auf ganz einfache, natürliche und gesunde Weise […]“ JAQUES TRICATEL IN BRUST ODER KEULE

Brust oder Keule hält dem Zuschauer bereits 1976 wie ein Spiegel viele seiner Essgewohnheiten vor. Kinderbonbons mit wertvollen Vitaminen, Schokolade mit der Extraportion Milch oder der Joghurt mit der positiven Wirkung – der

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Sucht man nach einem besonders eindrucksvollen Beispiel für den, wenngleich auch überzogenen und wenig elaborierten, Versuch, Distinktion durch Essen und Trinken zu produzieren und hierarchische Positionen zu markieren, so wird man auf unterhaltsame Art und Weise beim Festmahl des Trimalchio im römischen Schelmenroman Satyricon fündig (Petronius 1986).

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Markt des sogenannten Functional-Food boomt. Denn bis heute will der Konsument beim Essen genau drei Dinge: Gesundheit, Genuss und Convenience – schließlich möchte man sich wohlfühlen und gut aussehen, alles ein wenig entspannt angehen und, zumindest im Alltag, auf gar keinen Fall unnötig viel Zeit mit der Zubereitung von Speisen vergeuden. Und wenn zwischendurch wieder einmal mehr als man eigentlich wollte gesnackt worden ist, dann doch bitte wenigstens „gesund naschen“. Da kommt die Idee des britischen Kardiologen Darrel Francis äußerst gelegen: Francis hat vorgeschlagen, dass Fast Food-Ketten ab sofort kostenlos Cholesterinsenker austeilen. Die Pillen sollten direkt neben den Ketchup-Tütchen liegen. Damit das im Eilschritt geführte Leben durch die schmackhaften Kalorienbomben nicht noch kürzer wird, wirft der Gast sich im Anschluss an den Genuss einfach eine Pille ein: Ein Hoch auf die Wissenschaft. Francis und sein Team haben festgestellt, dass Statine das Risiko eines Herzinfarktes ebenso verringern, wie ein Burger es erhöht. Perfekt! Schade nur, dass es auch in der Wissenschaft den einen oder anderen Kritiker gibt, der die gerade gehegte Euphorie in Bezug auf ein von kulinarischen Gesundheitssünden befreites Leben dämpft: Peter Weissberg, Chef der britischen Heart Foundation, merkt an, dass ein erhöhter Cholesterinspiegel eben nicht die einzige Folge fettreicher Schnellkost ist. Ein erhöhter Blutdruck aufgrund des Salzgehalts beispielsweise und Fettleibigkeit aufgrund der großen Kalorienmenge seien weitere Probleme, die etliche der massentauglichen Leibgerichte mit sich bringen (Uhlmann 2010). Aber womöglich hat die Pharmaindustrie auch für dieses Problem bereits eine Lösung. Vielleicht sollte die Diskussion über die Kennzeichnungspflicht per Lebensmittelampel neu aufgerollt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es allerdings nicht mehr nötig, die Nährwerte aufzulisten. Stattdessen wäre es für den Verbraucher lediglich interessant, welche Medikamente er im Anschluss an den genüsslichen, weil sorgenfreien Verzehr einnehmen muss.

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Wer sich einmal genauer mit dem Inhalt der Regale in Lebensmittelmärkten beschäftigt, den kann bisweilen schon das kalte Grausen überkommen: FormFleisch, Schnitzel zum Toasten und Käse, der mit genau diesem nicht wirklich etwas zu tun hat. Doch ist dies nicht ausschließlich ein Problem, welches den Verbraucher erst in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts ereilt hat. Bereits Brust oder Keule hat sich dieses Problems angenommen: Um seinem großen Widersacher eines auszuwischen und ihn im TV-Duell vor laufender Kamera mit Fakten bloßzustellen, schleicht sich Duchemin mit seinem Sohn heimlich in die heiligen

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Hallen des Tricatel ein. Duchemin hat wohl mit vielem gerechnet, aber was er dort vorfindet, übersteigt seine Erwartungen dann doch bei weitem: Auf einem Fließband wird ein Hühnerskelett bereitgelegt, um im Anschluss mit einer breiigen Masse und einer entsprechenden Schablone zu einem Hühnchen geformt zu werden, wie man es durchaus von der Frischetheke kennt. Ein wenig Farbe, und aus dem farblosen Brei wird in null Komma nix ein essbares Plastikhühnchen. In einer anderen Ecke werden Hühner ohne Federn gezüchtet oder gar Fleisch aus Petroleum gewonnen. Alles nur ein Scherz? Leider nicht. Nimmt man den Inhalt einer Tütensuppe einmal genauer unter die Lupe, kommt man zu dem Ergebnis: Mit Suppe hat das Ganze nicht wirklich etwas zu tun. Neben Zusatzstoffen, Geschmacksverstärkern und Aroma hat sich im besten Falle hier und da etwas Gemüse (meistens in Form von Lauch oder Tomatenmark) in die Verpackung geschummelt. Doch der Markt an Instantprodukten wächst weiter: In den Labors arbeiten die Forscher der Lebensmittelriesen unterdessen daran, die Kosten der Produktionen weiter zu drosseln. Milcheiweiß wird durch Pflanzenfett ersetzt und unnatürliche Geschmacksstoffe werden den echten vorgezogen. Doch ohne die entsprechende Nachfrage wäre dieses Angebot nicht möglich. Auch Tricatel weiß, was der Kunde braucht, und als Geschäftsmann hat er nur ein Ziel: Gewinnmaximierung. Obwohl Convenience-Produkte beim Verbraucher kein gutes Image haben, steigt ihre Nachfrage. Warum die wertvolle Zeit in der Küche verbringen, wenn es möglich ist, in wenigen Arbeitsschritten ein schmackhaftes Gericht zuzubereiten? Für den Verbraucher hat in der Trias „Geschmack, Gesundheit, Convenience“ der Aspekt der Bequemlichkeit wohl oftmals doch den höchsten Wert. Das Lesen des Kleingedruckten auf der Verpackung macht dann nur mehr Mühe als nötig.

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Vor diesem Hintergrund bekommt die Tatsache, dass Duchemins Sohn – wie gesagt, ein passionierter Clown – übergangslos aus der Rolle des dummen August in die des allmächtigen Kritikers springt, um Papa zu unterstützen, eine fast subversive Aussagekraft. Der Clown übernimmt hier ein weiteres Mal die Funktion des Beobachters, der auf ironische Weise die Irrationalität der gesellschaftlichen Wirklichkeit ins Groteske überführt. Die französische Küche – Stolz und Teil der Selbstdefinition einer ganzen Nation – wird so schließlich Gegenstand einer urkomischen Narretei. Wenn Gérard – der die Begabung in Sachen Geschmack ja sehr wohl vom Vater geerbt hat – dann noch seinen Clownskollegen losschickt, um sich durch ihn bei der Verkosten im Gourmettempel vertreten zu las-

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sen, ist der Gipfel der Spötterei erreicht. Dass bei all dem Verstecken, Jagen, Entlarven und Heucheln Dreh- und Angelpunkt doch der Geschmack ist, wird auf dramatische Weise klar, als Monsieur Duchemin seinen Geschmackssinn verliert. In aller Öffentlichkeit soll der Vertreter der französischen Küche gegen deren großen Herausforderer antreten. Demonstrativ werden hier die Geschmacksnerven endgültig dem Bereich des Privaten entzogen. Und wieder springt Duchemin Junior ein – zur Ehrenrettung der Grand Nation und natürlich der des Herrn Papa. In diesem Moment ist er weit entfernt von der Rolle des Clowns, dafür ist die Angelegenheit nun zu ernst, gilt es doch zum endgültigen Vernichtungsschlag gegen die Fast Food-Unsitte auszuholen. Wacker schlägt er sich und man hätte es nicht mit einem der größten Komiker Europas zu tun, wenn man nicht insgeheim darauf warten würde, dass nicht nur präzis jedes Gericht erschmeckt wird, sondern auch noch der Kosename des verspeisten Tieres gewusst würde. Aber so weit geht die Persiflage dann doch nicht. Gerade beim Wein allerdings, untrennbar mit dem savoir vivre verbunden, wird es noch einmal gefährlich unsicher für den Kritikersprössling. Angesichts der drohenden Schmach, ausgerechnet in der Königsdisziplin der Gourmets zu versagen, greift Charles Duchemin zum Glas – und kann wieder schmecken. In einem furiosen Finale siegt der gute Geschmack! Ein Nachgeschmack, der einem noch etwas länger zu denken gibt – zumindest, wenn man selbst gerne isst und im gustatorischen Wettstreit vergeblich nach der genießerischen, nur sich selbst dienenden Komponente des Essens sucht. Darum stimmt die „Krönungszeremonie“ des Geschmackskönigs Duchemin letztlich nachdenklich. Auch wenn ein Showdown kaum pointierter sein könnte: Duchemin, in goldenen Brokat gewandet, wird feierlich aufgenommen in die Academie Francaise. Eine größere Ehre kann einem Franzosen nicht zuteilwerden – Vive La France et Bon Appetit!

L ITERATUR Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Busch, W. (o. A.): Geschmackssache. Im Internet: http://www.staff.unimainz.de/pommeren/Gedichte/Busch/Letzt/geschma.htm. Abruf: 22.12.2012. Kofahl, D. (2010): Geschmacksfrage – Zur sozialen Konstruktion von Geschmack. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Luhmann, N. (1986): Die Welt als Wille ohne Vorstellung. Sicherheit und Risiko aus der Sicht der Sozialwissenschaften. In: Die politische Meinung 31, Heft 229, S. 18 – 21.

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Luhmann, N. (2004): Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS Verlag. Petronius (1986 [ca. 14–66 n. Chr.]): Satyricon: Ein römischer Schelmenroman. Leipzig: Reclam. Uhlmann, B. (2010): Pommes mit Pille. Im Internet: http://www.sueddeutsche.de/ wissen/cholesterinsenker-pommes-mit-pille-1.988648. Abruf: 22.10.2012. Veblen, T. (2011 [1899]): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt am Main: Fischer.

Von Tricatel ins el Bulli – eine techno-cineastische Wegbeschreibung Brust oder Keule (1976) / Regie: Claude Zidi el Bulli – Cooking in Progress (2011) / Regie: Gereon Wetzel T HOMAS V ILGIS

E INFÜHRUNG Das kulinarische Kino und Dokumentarfilme im Bereich Essen und Trinken spiegeln auf vielfältige Weise die Entwicklung der Esskultur wider. Ganz gleich, ob es sich dabei um Komödien wie Brust oder Keule von Claude Zidi oder um Dokumentationen über Spitzenköche wie Ferran Adrià oder den Globalisierungsgegner und Lebensmittelproduzenten José Bové, der einen Kampf gegen industrialisiertes und globalisiertes Essen handgreiflich führte, handelt. Nicht zu vergessen Andreas Thurns Taste the waste. Die gänzlich verschiedenen Filme und Themenbereiche scheinen auf den ersten Blick kaum etwas miteinander gemein zu haben, sind allerdings über das Phänomen Essen auf besondere Art und Weise mit einander verknüpft. Sie spiegeln den Wandel der Esskultur auf ganz besondere Art und Weise wider. Gleichzeitig bieten sie eine ganze Reihe Erkenntnisse, die bis in die Küche des Alltags hineinreichen.

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Brust oder Keule (L'aile ou la cuisse von Claude Zidi, 1976) ist vermutlich einer der besten Filme mit dem französischen Komödianten Louis de Funès. Zusammen mit dem Satiriker Coluche (Michel Gérard Joseph Colucci) schufen die beiden zwei konträre Vater-Sohn Figuren im Umfeld der Gastronomie und der Ku-

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linarik. Der Vater, Charles Duchemin, dargestellt von Louis de Funès, hat es sich auf die Fahnen geschrieben, das hohe Kulturgut der französischen Küche buchstäblich mit Messer und Gabel zu verteidigen. Der andere, sein Sohn Gérard, verkörpert vielmehr einen schöngeistigen Typen, für den Essen und die damit verbundene Kultur eher einen geringeren Stellenwert haben, trotz seines „Berufs“ als Restaurantkritiker an der Seite seines Vaters (vgl. Abb. 1). Der Film stellt auf großartige Weise sowohl den überbewertet hohen Stellenwert der französischen Gastronomie als auch die nicht immer leicht zu verstehende Welt der Restaurantkritik auf eine ganz besondere Art dar. Ein zentraler Kernpunkt des Films ist die überzeichnete Darstellung der Industrialisierung der Nahrungsproduktion, die von einem Aufsteiger betrieben wird. Brust oder Keule ist somit der „Krieg“ zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein können. Auf der einen Seite der Gourmet, für den die Kochkunst über alles geht, auf der anderen Jaques Tricatel, der skrupellose, rücksichtslose Industrielle, in dessen Fabrik Lebensmittel auf abenteuerliche Weise hergestellt werden. Diese wenig natürlichen Lebensmittel wandern in Fast Food-Ketten und werden dort zu niedrigen Preisen verkauft – die übrige Gastronomie kann damit nicht mithalten, Restaurants gehen zugrunde. Abbildung 1: Charles Duchemin und sein Sohn Gérard nehmen heimlich Kostproben in der Laborküche von Jaques Tricatel

Quelle: DVD Brust oder Keule, im Vertrieb von Universum Film GmbH

Der Film griff vor mehr als dreißig Jahren eine ganze Reihe Themen auf, die noch heute von großer Bedeutung sind. Nach wie vor geben die Methoden der Restaurantkritik und der Essenstester Anlass zu Diskussionen, wenn die Objektivität zur Sprache kommt (Kofahl 2010), oder gar, wenn wie in vielen Fällen, Existenzen zugrunde gerichtet werden, wie dies im Film sehr überzeichnet dargestellt wird, wenn Monsieur Duchemin mit vorgehaltenem Gewehr gezwungen wird, einen Teller wenig akzeptables Choucroute garni in sich hineinzuschlin-

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gen. Ein Viertel Jahrhundert später, im Februar 2003, richtete der französische Dreisternekoch Bernard Loiseau nach einer drohenden Abwertung in einem Restaurantführer das Gewehr gegen sich selbst (Siebeck 2003). Ein zweiter Themenkomplex des Films, der in diesem Beitrag eine größere Rolle spielen wird, handelt von den Machenschaften der Nahrungsmittelindustrie. Diese steht bei Verbraucherschützern am Pranger, wobei darauf verwiesen wird, dass diese die Verbraucher belügen und Lebensmittel minderer Qualität herstellen würde (Grimm/Ubbenhorst 2007; Bode 2010). Louis de Funès und Coluche verstehen es ausgezeichnet, diese ernsten Themen komödiantisch darzustellen, ohne dass bei aller Heiterkeit deren Brisanz verloren geht. Dies geschieht nicht von ungefähr, denn der Schauspieler und Satiriker Coluche war, im Zusammenhang mit diesem Film wirkt es fast ein wenig kurios, der Gründer der im Jahr 1985 ins Leben gerufenen französischen Initiative „Restos du Coeur“, die bis heute mit großem Erfolg und Medienbegleitung zelebriert wird. Jedes Jahr zur kalten Jahreszeit erhalten Arme und Obdachlose warme Kleidung und freies Essen (restosducoeur.org 2006). Eingeleitet wird die turnusmäßige Öffnung der „Restaurants der Herzen“ jedes Jahr im Herbst in den wichtigsten Fernsehsendern Frankreichs durch eine große Benefizveranstaltung, bei der sich die Stars der französischen Unterhaltungsszene versammeln (lesenfoires.fr 2012). Der Erlös der DVDs und Musik-CDs trägt erheblich zur Finanzierung dieses „Armenspeisungsprogramms“ bei.

I NDUSTRIELLE N AHRUNGSMITTELPRODUKTION Zwar wurde die industrielle Produktion von Lebensmitteln der Firma Tricatel in dem Film Brust oder Keule stark übertrieben dargestellt, der Film will ja unterhalten. Was damals aber vielen Zuschauern wie reine Utopie erschien, ist in vielen Fällen nahe der Realität. Im Film wurde Fischbrei um Fischgräten aus Kunststoff an abenteuerlichen Fließbändern mit einem Rotbarben Presswerkzeug geformt. Um ein vogelgerippeähnliches Gebilde wird aus Düsen unter Druck ein unanständig ausschauender Fleischbrei gespritzt, unter Formglocken zu Hähnchen gepresst und in Färbekammern mittels beweglicher Roboter auf Hähnchenfarbe lackiert. Zwar mögen diese Produktionsformen nach wie vor kaum realisierbar erscheinen, die im Film gezeigte „Backstraße“ ist jedoch längst Wirklichkeit, wenn es sich um industriell gefertigte Brote oder Gebäck handelt (opelka.de 2012). Die in Brust oder Keule dargestellten Techniken wirken heutzutage kaum noch exotisch, die Entwicklung der Lebensmitteltechnologie ermöglicht immer

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neuere und ausgefeiltere Produktionsmethoden, deren Image tatsächlich dem entsetzten Gesicht des Monsieur Duchemin entsprechen. Ob Formschinken, Klebefleisch oder Analogkäse, die „Visionen“ aus Brust oder Keule sind längst Gegenstand der industriellen Lebensmittelproduktion. Die Assoziation mit Lebensmittelbetrug oder gar Gift sind unausweichlich (Bode 2010; Grimm/Ubbenhorst 2007). Obwohl dies natürlich in vielen Fällen Unsinn ist (Vilgis 2010): Kein Mensch stirbt an industriell hergestelltem Analogkäse, er besteht lediglich aus Fett, Protein, Stärke, Wasser und Emulgatoren, wie also viele natürliche Lebensmittel auch. Aus rein analytischer und naturwissenschaftlicher Sicht ist Analogkäse in manchen Anwendungen sogar ein sinnvolles Produkt, denn dieser Kunstkäse hat als Designerprodukt eine ganze Reihe positive physikalische Eigenschaften, die für Fertigpizzen in heißen Öfen unkontrollierter Temperatur ideal sind: Der „Käse“ zerläuft nicht in Fett und Protein, bräunt sanft aufgrund seines kontrollierten Wassergehalts und verbrennt daher kaum, selbst bei hohen Temperaturen. In diesem Sinne ist Analogkäse anderen Käsearten sogar überlegen. Eine generelle Ablehnung von Kunstprodukten wie Analogkäse ist auch aus kultureller Sicht zweifelhaft. Jeder handwerklich hergestellte, unter Können, Achtung und Respekt erzeugte hochwertige Käse wäre auf industriell gefertigten Pizzen fehl am Platz. Allein wegen des Gegensatzes der Herstellung und der anschließenden Malträtierung des Käses unter hohen Temperaturen. Keine Industriepizza lässt sich durch Erzeugerkäse aufwerten – industriell gefertigte Pizza und Analogkäse passen daher bestens zusammen. Dies gilt auch für viele „Biopizzen“, die in (Bio-)Supermarktketten und Discountern zuhauf zu finden sind. Trotz der guten, unter strengen Regeln erzeugten Grundprodukte, von Getreide über Tomaten bis hin zu den unterschiedlichsten Belägen, sind diese auf dem Weg zum Endprodukt häufig hoch verarbeitet und werden teilweise nach den Maßstäben des Monsieur Tricatel hergestellt. Verbraucher dürfen sich nichts vormachen: Auch bei Bioprodukten im Supermarkt spielen die Begriffe wie Lebensmittelsicherheit, Haltbarkeit und shelf-life eine große und wichtige Rolle. Schließlich müssen diese Produkte transportiert und gelagert werden, bis sie nach Tagen, Wochen oder Monaten von gutgläubigen Kunden gekauft werden. Die Haltbarkeit und damit die von Verbrauchern geforderte strenge Lebensmittelsicherheit können eben nur durch moderne technische Methoden sichergestellt werden (siehe etwa Nyati 2000; Wallace et al. 2011). Wie ausgereift die Techniken der Lebensmittelindustrie sein können, zeigt zum Beispiel die Schinkenproduktion. Das Fleisch wird in großen Tumblern bewegt und dabei „massiert“. Diese Tumbler erinnern ein wenig an Betonmischmaschinen, in die das zu behandelnde Fleisch hineingegeben wird und dann für

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einige Zeit unter Vakuum gleichmäßig bewegt wird. Dadurch lockert sich das Binde- und Muskelgewebe, das Fleisch kann daher mehr Wasser einlagern, wird bei Salzzugabe rasch und gleichmäßig gepökelt. Der Schinken beziehungsweise das Fleisch wird zarter (Pietrasik/Shand 2004). Diese Methode funktioniert für alle Fleischarten – wenn physikalische Bedingungen wie Druck, Temperatur und Drehbewegung angepasst werden, zum Beispiel auch für Geflügel (Alvarado/McKee 2007). In vielen Ländern kommen bei Würsten, Schinken oder anderen prozessierten Fleischwaren heutzutage Techniken zum Einsatz, die hierzulande kaum Chancen haben. Schinkenprodukte und Wurst können mit wasserbindenden Molekülen, sogenannten Hydrokolloiden, angereichert werden. Diese Hydrokolloide (siehe zum Beispiel Ternes 2008 sowie Vilgis 2010) sind große wasserbindende Moleküle wie (modifizierte) Stärke, Methylcellulose oder Alginate. Wasserverluste und Wasserbindevermögen der Fleischfasern lassen sich ausgleichen und die Fleischausbeute ist höher. Gleichzeitig wird das „angereicherte“ Fleisch zarter und lässt sich leichter beißen (siehe zum Beispiel Bater et al. 1993). Verzweifelte Versuche, die Schinkenscheiben, egal ob roh oder gekocht, auf Kanapees ohne freie Hand beim Stehempfang zu zerteilen, ließen sich damit verhindern. Natürlich lassen sich diese technisch aufwändigen Verfahren nur in größeren Betrieben, wie etwa in Tricatels Firma in Brust oder Keule, anwenden. Dennoch finden sie sich außerhalb der Industrieproduktion auch an vielen Stellen wieder. Etwa beim „Felsendreschen“ von Tintenfischen mancher Fischer. Große Tintenfische, Kraken und ähnliche Meeresfrüchte werden nach dem Fang an Felswände geschlagen, um das sehr harte Bindegewebe zu lockern. Diese eher krude Methode des „Massierens“ ist aber akzeptiert und als Erfahrungsschatz der Fischer im Mittelmeer kulturell verankert. Jeder der des Öfteren in einfachen Restaurants auf Gummiringe statt Tintenfischtuben beißt, würde sich die vorherige Anwendung dieser Methode der Gewebelockerung herbeiwünschen. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung des Flüssigrauchs (Meier 2011), der, ähnlich des in Brust oder Keule gezeigtem Auftragens der aromatisierten Hähnchenfarbe, in entsprechender Verdünnung auf das Räuchergut gespritzt werden kann. Natürlich lassen sich auch Wiener Würstchen oder dergleichen eintauchen. Räuchern in traditionellen Räucherkammern wäre damit nicht mehr in allen Fällen notwendig, zumal der ursprüngliche Zweck des Räucherns, eine ausgezeichnete Konservierungsmethode, nach und nach in den Hintergrund gerät. Rauch dient in der heutigen Lebensweise eher als Aromatisierung und erfüllt damit die Funktion eines „Würzens“. Das mag vielen Mitgliedern von kulinarischen Bewegungen oder Freunden von Landlustvereinen als Gräuel erscheinen. Dennoch, aus der Sicht der Lebensmittelsicherheit, sind derartige Verfahren mit-

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unter höher einzuschätzen als ein unkontrolliertes Räuchern im Heißrauch, wenn von Ascheteilchen, Teerpartikeln und den als karzinogen eingestuften hochmolekularen polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen das meiste auf dem Räuchergut adsorbiert (Honikel/Jira 2011; Vilgis 2011). Alle Raucharomen lassen sich aber in Öl oder geringfügig in Wasser lösen, wenn vereinfacht gesprochen Holzrauch durch diese Flüssigkeiten geleitet wird. Und genau diese Lösungseigenschaften ermöglichen es, große Moleküle mit gesundheitsschädlichem Potenzial abzufiltern. Flüssigrauch bleibt demzufolge dennoch natürlich erzeugter Rauch, in gewisser Weise „schadstoffbefreit“. Dieses Beispiel zeigt zwar eine praktisch vollkommene Enttraditionalisierung des Handwerks Räuchern, allerdings sind positive Effekte, in diesem Fall sogar aus gesundheitlicher Sicht, durch industrielle Techniken nicht zu leugnen. Der Einzug der Lebensmitteltechnologie in den Alltag ist weiter fortgeschritten, als es sich die Protagonisten von Brust oder Keule jemals hätten träumen lassen. Im Zuge der Globalisierung, der Unterwerfung des Marktes, aber auch der zunehmenden Forderung nach Lebensmittelsicherheit und dem Wunsch eindeutiger Deklaration aller Inhaltsstoffe wurde dies sogar notwendig. Der Kampf dagegen scheint aussichtslos, wie es sich wieder in Frankreich zeigte.

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LA M ALBOUFFE – DER RADIKALE K AMPF DES

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Während die Verteidigung der guten Küche in Brust oder Keule eher humorvoll erzählt wird, gab es Jahre später in Frankreich ein prominentes Beispiel für den realen Kampf gegen die industrialisierte Nahrung. Frankreich ist eines der größten Agrarländer der Europäischen Union. Lebensmittelerzeugung, deren Zubereitung und deren Genuss sind in Frankreich als Kulturgut tief verankert. Gerade Frankreich rühmt sich mit einer Vielfalt der Regionen und Spezialitäten, so dass globalisiertes Essen, wie es in Fast Food-Ketten vertrieben wird, vor allem bei den Bauern und Produzenten auf Widerspruch stößt, etwa bei José Bové (Aries/Terras 2001). „La lutte continue – Der Kampf geht weiter“ waren die ersten Worte des José Bové nach den Gerichtsverhandlungen zur Beweisaufnahme am 1. Juli 2000 in Millau. In dem kleinen Städtchen im Departement Aveyron im Südwesten Frankreichs stand Bové vor Gericht, nachdem er am 12. August 1999 zusammen mit seinen Kumpanen eine sich im Bau befindliche McDonalds Filiale mit bloßen Händen – und bald vor laufenden Kameras – abbrach, als Symbol gegen Einheitsgeschmack und Globalisierung, denn schließlich schmeckt ein Hambur-

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ger in NYC, Berlin-Mitte oder eben in Millau stets gleich. Nach unseren Gesetzen also eine satte Grundlage für eine strafrechtliche Verurteilung. José Bové, der entschiedene Gegner der „neoamerikanischen Globalisierung“, der „Schlechtfresserei“ und vor allem der Genmanipulation von Nahrungsmitteln, soll nach Willen der Staatsanwaltschaft gnädig davon kommen. Zehn Monate Haft, davon neun auf Bewährung wurde gefordert, eher eine symbolische Strafe. Nach den Verhandlungen wurde ein gerade verurteilter, aber fröhlicher José Bové im „Bovémobile“, ein von einem Traktor gezogener Leiterwagen, am Palais de Justice in Millau abgeholt. Zuvor eskalierte zwischen Europa und den USA ein regelrechter Wirtschaftskrieg, denn seit langem möchten die Vereinigten Staaten ihr Rindfleisch nach Europa einführen. Das war der EU-Agrarkommission wegen der in den Vereinigten Staaten zugelassenen Hormonbehandlung der Tiere immer suspekt. Europa blieb den USA stets verschlossen – für Amerika eine völlig aberwitzige Vorstellung. Schließlich sieht die USA in der Globalisierung nichts weiter als einen riesigen Markt, Wettbewerb und vor allem Profit. Nach mehrmaligem Scheitern dieser Versuche kam die US-Regierung kurzerhand auf die glorreiche Idee, die kulinarischen Nationalsymbole der Franzosen, etwa foie gras oder den Rohmilchkäse Roquefort, mit hohen Strafzöllen zu belegen. Das war zu viel für José Bové. Kurzerhand wurde besagte McDonalds Filiale in Millau dem Erdboden gleichgemacht und McDonalds somit zum Symbol einer misslungenen Globalisierung. Der Schutthaufen von Millau wurde zur Metapher der Globalisierungsgegner, wie auch die Person José Bové. Er verkörpert bis heute alles andere als das landläufige Bauernimage: Er hat Charakterstärke, ist hochintelligent, hält seine Reden frei und spricht fließend Englisch. Vor allem aber weiß Bové die Medien zu nutzen. So ist er die zentrale Figur mehrerer Dokumentarfilme, die in Programmkinos und Kulturkanälen ausgestrahlt werden. Vor einigen Jahren wurde José Bové zum Hauptprotagonisten eines französischen Comicbands (Jul 2005). Und auch nach seiner Kandidatur im Jahr 2007 für das Amt des französischen Staatspräsidenten kämpft Bové als Abgeordneter des Europäischen Parlaments für seine Ideen weiter. Trotz des Kampfesmut und der breiten Unterstützung der Bevölkerung gegen die „Schlechtfresserei“ kann der Wandel der Zeit den ansteigenden Konsum globalisierter Produkte und industrialisierter Nahrung kaum aufhalten. Die buchstäblich handgreifliche Verteidigung der französischen Prinzipien und der Werte der Esskultur wurden zwar medienwirksam in Szene gesetzt, um den Stellenwert der Charolaisrinder, des Roquefort und anderer Kulturgüter aufrechtzuerhalten, aber geändert hat sich wenig. Mehr denn je greifen französische Haushalte zu Supermarktprodukten und Convenience Food. Die Hochgastromonie hingegen

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pflegt ihren Stellenwert gemäß den Regeln und Standards, die von Spitzenköchen wie Paul Bocuse, Joel Robuchon, Michel Bras, Alain Ducasse im Sinne von Auguste Escoffier in den letzten fünfzig Jahren weiterentwickelt wurden. Dennoch war währenddessen bereits im südwestlichen Nachbarland, unweit des Departments Aveyron, die nächste Küchenrevolution im Gange, auf die die traditionelle französische Küche Frankreichs bis heute keine Antwort hat.

F ERRAN ADRIÀ – KREATIVER K OPF T RADITION UND M ODERNE

ZWISCHEN

Was in Claude Zidis Brust oder Keule ebenfalls bissig zum Ausdruck gebracht und auf den Arm genommen wird, ist die chauvinistische Meinung, die klassisch französische Küche wäre Weltmaßstab. Transglutaminase, Hydrokolloide oder biotechnologisch erzeugte Binde- oder Geliermittel hatten vor Ferran Adriàs Erfolg in der Restaurantküche nichts zu suchen, außer wenn ohnehin industriell erzeugtes Convenience Food auf den Teller kam. In der Spitzenküche hingegen waren diese Produkte verpönt. Wie kaum ein anderer setzte der spanische Koch Ferran Adrià in seinem Restaurant el Bulli der letzten Dekade auf die Neuinterpretation der Küche und des Handwerks „Kochen“ (vgl. Abb. 2). Abbildung 2: Ferran Adrià ist in seiner Laborküche mit seinem Team auf der Suche nach kulinarischen Innovationen

Quelle: DVD el Bulli – Work in Progress, im Vertrieb von Alive

Was später mit dem unglücklichen Begriff „Molekularküche“ in die Küchengeschichte eingehen wird, war tatsächlich etwas Neues (Weber-Lamberdière 2007; Adrià 2010), das sogar zur neuen Kunstform erklärt wurde (Gohlke 2007). Nicht

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nur was Form, Textur und Art der Gerichte anging. Adrià wagte die Vermählung industrieller und hochtechnischer Methoden mit der Gourmetküche und damit qualitativ hochbewerteten Produkten. Auf den ersten Blick ein bemerkenswert zweifelhafter Schritt, denn kein Koch hatte es bis daher gewagt, Gerichte soweit zu dekonstruieren und mit diesen Methoden zu arbeiten (Jouary 2011). In Frankreich wären diese Entwicklungen vollkommen undenkbar gewesen. Ferran Adrià seinerseits nutzte dazu moderne Labortechniken wie Gefriertrocknung, das Arbeiten mit flüssigem Stickstoff oder den Umgang mit Rotationsverdampfern. Was sich tatsächlich nach Laborküche anhört, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen rasch als dem Geschmack und dessen Intensivierung dienliche Methode. Die Grundidee ist einfach und lag schon in der bisherigen Spitzenküche verborgen. Auch das traditionelle Kochen lebt vom Spiel mit Texturen und Kontrasten. So heben ein paar knackige Nüsse, in einen Salat gestreut oder unter ein sämiges Kartoffelpüree gehoben, die Textur auf einfache aber effektvolle Weise. Krachende Kartoffelchips sind wegen ihrer Textur ein beliebter Snack. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn ähnliche Texturenspiele in der Gastronomie zur Anwendung kommen. Lebensmittel lassen sich durch spezielle Zubereitungschritte, wie beispielsweise Trocknen, Frittieren oder Vereisen, in andere Texturen überführen (Vilgis 2010; Myrvold et al. 2011; Vilgis/Caviezel 2012). Besonders technologische Verfahren wie die Gefriertrocknung hielt mit großem Erfolg Einzug in die Hochgastronomie. Dagegen lässt sich das Trocknen im Ofen oder in einfachen Dörrgeräten sehr leicht zu Hause durchführen. Das Trocknen von meist mit flüssigem Stickstoff vorgefrorenen Lebensmitteln unter Vakuum wiederum dient industriell in allererster Linie der Konservierung. So sind Früchte im Müsli meist gefriergetrocknet und behalten durch dieses Verfahren ihre von Ernährungswissenschaftlern geschätzten Mikronährstoffe. Allerdings intensiviert sich auch der Geschmack unter Erhalt der Aromen, beim Trocknen unter Wärme ist dies nicht immer der Fall. Ferran Adrià zeigte neue Wege, wie diese – altbekannten aber bis dahin lediglich in der Lebensmitteltechnologie angewandten Methoden – sinnlich in den Genusswelten genutzt werden können.

P ARALLELWELTEN : S TERNEMENÜS – S UPERMARKTPRODUKTE Aber auch das Potenzial der Hilfsmittel, die in der Industrie und in Convenienceprodukten vielfältig zur Anwendung kommen (siehe zum Beispiel Ebermann/Elmadfa 2008), führte Adrià in die Welt der Hochgastronomie ein, wie in dem Film el Bulli – Cooking in Progress deutlich zu sehen ist. Gerade

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diese Ideen wurden mit großer Skepsis gesehen, wenn nicht gar verteufelt. Die bunte Welt der „molekularen Küche“ eröffnet sich inzwischen bereits in voller Breite im konventionellen Supermarkt. Kein Joghurt, keine Creme, kein Pudding ohne Verdickungsmittel, Emulgator und Stabilisator. Diese Methoden liegen für industrielle Anwendungen auf der Hand. Natürlich soll jedes Produkt unverwechselbar gleich sein, haltbar sein und zum Beispiel über einen relativ weiten Temperaturbereich ähnliche strukturelle Eigenschaften haben, die ein akzeptables „mouthfeeling“ ausmachen. Egal, ob der Industriepudding aus einem 2 Grad oder 8 Grad Celsius kalten Kühlschrank genommen wird, oder ob er schon seit einer halben Stunde in der 20 Grad Celsius warmen Küche steht, und ein Telefonat dazwischen kommt, die Eigenschaften müssen gleich bleiben. Daher können verschiedene Verdickungsmittel und Geliermittel eingesetzt werden, die in ihrem Zusammenwirken in einem weiten Temperaturbereich für Wohlbefinden auf der Zunge sorgen. Auch bei fettarmen Produkten müssen cremige Eigenschaften durch entsprechende Polysaccharide erzeugt werden (Roller/Jones 1996), denn deren gute Wasserbindung sorgt für das ausgeklügelte Fließverhalten, das der sensiblen Zungen- und Gaumenmechanik Konsistenz und Struktur vorgaukelt, die das Gehirn noch aus fettreicheren Zeiten kennt. Natürlich lassen sich mit Enzymen, wie dem Fleischkleber Transglutaminase, aus Fleischstücken „Formschinken“ oder „Putenformfleisch“ herstellen. Aber mit diesem Enzym lassen sich auch neue kulinarische Formen von Lebensmitteln definieren. Transglutaminase verbindet Proteine an wohldefinierten Stellen (siehe zum Beispiel Vilgis 2009 sowie Vilgis 2010). Dieses „Proteingelieren“ ergibt tatsächlich eine ganze Reihe Möglichkeiten, fernab vom herkömmlichen Gelieren, das immer mit einer Temperaturerhöhung und damit mit einer Geschmacksveränderung einhergeht. So etwa bei Joghurt, dessen frisch säuerliche Geschmackscharakteristik beim Erwärmen weitgehend verloren geht. Mittels Transglutaminasen oder anderen Enzymen lassen sich sehr weiche Joghurtgele erzeugen, wie sonst mit keinem anderen Gelier- oder Bindemittel. Der Begriff Laborküche klingt allerdings nur im deutschen Sprachgebrauch nach Chemie, Gift oder Genfood, nach Hexen- oder Teufelsküche, und der häufige Gebrauch dieses Begriffs führt zur Fehlinterpretation (Zipprick 2010). Dabei wird dieser terminus technicus, der vom aus dem Spanischen und Französischen eher gebräuchlichen „laboratoire“ herrührt, zumeist so verwendet, dass mit der direkten deutschen Übersetzung Aversion und Verunsicherung ausgelöst werden. Selbst Köche, die nicht die geringste Überschneidung mit den Techniken und Produkten der Avantgardeküche aufweisen, bezeichnen ihre Küchen oftmals als „laboratoire“, wie auch Chocolatiers und Patisseriebetriebe, um ihr langwieriges Bemühen, hervorragende Produkte zu schaffen, zu unterstreichen.

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Gerade Patissiers verwenden Stabilisatoren, Emulgatoren, Zuckeraustauschstoffe und Hydrokolloide schon viel länger als es „die Molekularküche“ gibt, ohne dass dies auch nur den geringsten Anstoß zur Folge hatte. In dem Film el Bulli kommt deutlich zum Ausdruck, welche Symbiose von Kochkunst und moderner Kochtechnik in Adriàs „Laboratorien“ notwendig ist, um derartige Kreationen überhaupt sinnlich auf den Tisch zu bringen. Von dem dafür notwendigen Wissen und den Geschmackserinnerungen ganz zu schweigen. Zudem lassen sich die Szenen des Probierens und des Testens nicht schauspielern. Hier sind die Hauptdarsteller ausschließlich Köche und daher auf ihren Geschmack konzentriert. Allein die Abläufe der verschiedenen Kochprozesse zeigen, wie sehr diese Avantgardeküche von der Vielfalt der Produkte, dem saisonalen Angebot aber auch von den Techniken der Dekonstruktion und Rekonstruktion lebt. Trotz der manchmal abenteuerlichen Form der kulinarischen Konstruktionen auf dem Teller stammen diese aus hochwertigen Lebensmitteln, das darf nicht vergessen werden. Freilich ist diese Art zu essen sehr ungewöhnlich und die Form ist vollkommen losgelöst von der klassischen Küche. Oft wird gefragt, ob dies überhaupt eine „gesunde Küche“ sei, was sicher die vollkommen falsche Frage ist. Zum einen ist diese Küche aus frischen Zutaten zubereitet, zum anderen kommen selbstverständlich Gelier- und Bindemittel zum Einsatz, die nicht in jedem Haushalt bekannt sind (allerdings in der vegetarischen und veganen Küche schon). Agar, Xanthan, Gellan, Johannisbrotkernmehl, Carrageen sind natürlich die Mittel der Wahl, wenn die tierische Gelatine nicht infrage kommt. Des Weiteren besitzen diese Hilfsmittel ungewohnte physikalische Eigenschaften, die es zum Beispiel erlauben, heiße und sogar frittierte Gele zu präsentieren. Mit Gelatine undenkbar. Auch lassen sich Mundgefühl oder Fließverhalten exakt steuern. Genau diese physikalischen Eigenschaften ermöglichen auch Kostformen für im Essvermögen eingeschränkte Menschen, etwa bei postoperativ bedingten Essstörungen, bei Schluckbeschwerden oder im Geriatriebereich – also immer dann wenn Nährwert und Essbarkeit ein Optimum erzielen müssen.

Z URÜCK ZUR N ATUR – R EGIONALE K ÜCHEN IN MODERNER I NTERPRETATION „Die Zeit der ‚Molekularküche‘ ist vorbei“ tönt es durch alle Medien. Pure Natur und avantgardistische Naturküchen werden von den Medien propagiert und hoch gelobt. Aber ist die Molekularküche wirklich spurlos an diesem neuen Trend vorbeigegangen? Mitnichten, denn die Techniken und ebenso die Hilfsstoffe sind auch in diesen neuen progressiven Küchen mehr als präsent. Sie bereichern

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Tellerkonstruktionen, erlauben mehrere Texturen nebeneinander und machen es auf neue Art und Weise möglich, mit dem Temperaturkontrast zu spielen. Köche, die diese Methoden nutzen, schaffen es auch weiterhin, spannende Gerichte zu entwickeln. Was die Naturküche (wieder)entdeckt hat, ist der Kontrast roh – gegart. Neu ist dies nicht, aber in Verbindung mit den Erkenntnissen der Molekularküche werden damit ganz neue Spannungsbögen ermöglicht. Ebenso ermöglichte erst eine Berücksichtigung der modernen Techniken und Ideen den regionalen Küchen ein kulinarisch breiteres Spektrum als es klassische „Landküchen“ jemals können werden. Das bedeutet natürlich nicht das Ende der „gutbürgerlichen“ Regionalküche, allerdings lassen sich damit kulinarisch bedeutende Merkmale einer Region auf eine neue Art würdigen – im Gegensatz zum klassischen „Fleisch – Beilage – Sauce – Konzept“ oder dessen vegetarischen Interpretationen, das auch vielen der gezeigten Gerichte in Brust oder Keule zugrunde liegt. Und dies nicht nur in der professionellen Gastronomie, sondern auch in jedem Haushalt, in dem mit Interesse nachhaltig gekocht wird.

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DEN H AUSHALT – TASTE THE WASTE ODER NACHHALTIGE K ÜCHENPRAXIS Im Jahr 2011 feierte Valentin Thurn mit seinem Film taste the waste große Erfolge. Unzählige Tonnen Lebensmittel werden weggeworfen – aus kaum oder nur schwer nachvollziehbaren Gründen. Was taste the waste in erster Linie anprangert, ist eine unglaubliche Lebensmittelverschwendung im großen Maßstab, wobei der Film vor allem die industrielle Lebensmittelproduktion und Vermarktung im Visier hat. Die Konsequenzen, die jeder Einzelne daraus zu ziehen hat, reichen zwar bis in den Haushalt hinein, gehen aber dennoch nicht weit genug. Dass es Unsinn ist, einen Joghurt mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum wegzuwerfen, statt ihn zu essen, oder in Gerichten wiederzuverwerten, ist leicht zu erkennen: Joghurt ist vergorene Milch und damit entsprechend sauer, und Säure ist einer der wesentlichen Faktoren der Lebensmittelsicherheit. Krankmachende Keime können in saurer Umgebung nicht wachsen. Deswegen war die Milchsäuregärung in der Vergangenheit, vor der Zeit der Kühlschränke, eines der wichtigsten Mittel der Lebensmittelkonservierung, beim Sauerkraut ist dies bestens bekannt. Im industriell technologischen (Bio)bereich wird heute nach wie vor davon Gebrauch gemacht, wenn zum Beispiel Gemüsesäfte „milchsauer vergoren“ haltbar gemacht werden. In Verbindung mit den Ideen eines Ferran Adrià und den Methoden der „Molekularküche“ lässt sich jedoch weit darüber hinausgehen, selbst für Haushalte

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bei denen Supermarktprodukte kaum oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Vor allem bei Bioprodukten wird es offensichtlich: Es wird zu viel an Essbarem weggeworfen. Aus den Filmen über Kochkunst lassen sich auf jeden Fall umsetzbare Lehren ziehen. Die Kenntnisse und Erkenntnisse aus der Molekularküche taugen durchaus, um zu einem veränderten und erweiterten Kochspektrum zu kommen – ohne den Respekt vor hochwertigen Lebensmitteln zu verlieren. Insbesondere lässt sich der Gedanke der weitgehenden Verwertung eines Lebensmittels auf kreative Weisen verwirklichen, die es im herkömmlichen Kochspektrum nicht gibt. Auch wenn die Anwendbarkeit der modernen Kochtechniken in den Filmbeiträgen zur Avantgardeküche zunächst gar nicht sichtbar wird. Allerdings lebt die vielzitierte „Großmutterküche“ der Vorkriegszeit bereits so manches vor: Tiere wurden vollständig verwertet, alle Pflanzenteile zum Kochen verwendet. Heutzutage sind Lebensmittel wie Innereien als Folge falscher „Ernährungslehren“ verpönt. Kohlstrünke werden wegen eines vermeintlichen Zuviels an Nitrat oder anderen Schadstoffen weggeworfen. Hochwertiges, schmackhaftes Knochenmark aus den Röhrenknochen der Rinder wird kaum noch verzehrt, obwohl es wegen seines hohen Anteils an mehrfach ungesättigten Omegafettsäuren (Docosahexaensäure) als „gesundes“ Lebensmittel dienen könnte. Erst die Überflussgesellschaft machte möglich, was noch vor 100 Jahren nicht denkbar war: das Ablehnen und Wegwerfen von Lebensmitteln. Ganz abgesehen davon, dass sich ganze Geschmackswelten dadurch verschließen. Es sind daher die kleinen Schritte, die zum kulinarischen Erfolg führen: zum Beispiel hochwertige Bioorangen. Selbstverständlich wird industriell aus den Schalen ätherisches Öl gewonnen, das zum Beispiel in Biosupermärkten vertrieben wird und als Aromastoff für Backwerke oder Süßigkeiten eingesetzt wird. Warum also nicht den Schritt wagen und die heiß gewaschenen Orangenschalen in einem Küchenmixer mit Olivenöl leicht erwärmt zerkleinern, anderntags filtrieren und das stark aromatisierte Olivenöl für verschiede Gerichte, sei es Gemüserohkost, seien es Fleisch- oder Fischgerichte, einsetzen? Damit nicht genug, denn die kleinen Orangenschalentrümmer besitzen immer noch genug Aroma und Bitterstoffe, die in Naturjoghurts, Vinaigretten oder in kleinen Mengen auf gebratenem Geflügel als bestes Kontrast- und Würzmittel fungieren können. Erscheint dies alles als zu aufwändig, so lassen sich die Orangenschalen im Ofen bei 40-50 Grad Celsius über Nacht trocknen und in einem Küchenmixer pulverisieren. Bestes Orangenpulver für Desserts. Ohne waste, dafür mit viel taste. Sicher ist der unappetitliche Fleischbrei, aus Claude Zidis Komödie Brust oder Keule, der mit abenteuerlichen Maschinen Geflügel vortäuschte und dem Darsteller Louis de Funès das blanke Entsetzen ins Gesicht trieb, eine der blei-

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benden Erinnerungen an den Film. Nichtsdestotrotz, heute ist genau dies in jedem Haushalt möglich. Fleischabschnitte, ob frisch, ob als Reste vom Kochen eines Fonds und von den ausgekochten Knochen geschabt, oder gar die glibberige Gelatinemasse vom gekochten Ochsenschwanz, sie lassen sich allesamt durch den Fleischwolf drehen, mit Kräutern und Gewürzen verfeinern und mit einem Schuss bester Rohmilchsahne oder Biojoghurt zu einem glatten fleischartigen Teig verkneten, dessen Aussehen und Konsistenz jenem in Tricatels Produktionshallen sehr nahe kommt. Wird diesem Brei noch das fleischklebende Enzym Transglutaminase, welches heutzutage für jedermann im Gourmetfachhandel zu erwerben ist, daruntergehoben, verfestigt sich nach einiger Zeit dieser Brei zu einem schnittfesten „Formfleisch“, das ohne Schwierigkeiten portionsweise angebraten und schmackhaft serviert werden kann (Vilgis 2010; Vilgis/Caviezel 2012). Es verbleibt die Verwunderung: Ist dies abscheuliche Abfallverwertung? Ist das taste the waste? Ist dies Molekularküche? Berührt dies die Ethik? Oder ist dies gar der gezollte Respekt vor der geschlachteten Kreatur, die sich mit Anwendung dieser Methoden wirklich vollständig, bis auf die Knochen, verwerten und auf kulinarisch hohem Niveau verspeisen lässt? Tatsächlich wird sich, angesichts der wachsenden Weltbevölkerung niemand mehr erlauben können, Proteine wegzuwerfen. Weder im Großen, noch im Kleinen. Der Schritt von Tricatels Fabrikhallen in die eigene handwerkliche Küche ist heutzutage daher weitaus kleiner als 1976, bei der Premiere der nach wie vor köstlichen Komödie Brust oder Keule.

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V ON T RICATEL

INS EL

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Kulinarische Kommunikation im Kollektiv. Ein gastrocineastisches Essay zu Tampopo Tampopo (1985) / Regie: Jnjzǀ Itami D ANIEL K OFAHL

D IE K ARTE ,

BITTE

Tampopo wurde 1985 vom Regisseur Jnjzǀ Itami in Japan gedreht. Es ist eine Geschichte der Geschichten. Das heißt, es gibt in diesem Film eine Vielzahl von verschiedenen Erzählungen, deren zentrale Akteure oft nicht sichtbar miteinander verlinkt sind und deren räumliche Szenerien sich ebenfalls gar nicht beziehungsweise nur höchst zufällig überschneiden. Gemeinsam ist ihnen allerdings, dass sich die Ereignisse im Zentrum und der Peripherie einer japanischen Stadt ereignen. Es gibt jedoch zwei Geschichten, die aus mehreren Episoden bestehen, und deren Faden über die gesamte Dauer des Films hinweg immer wieder aufgenommen und fortgesetzt wird. Insofern darf man von den beiden „zentralen“ Geschichten des Films sprechen. Eine dieser beiden Geschichten – die erotische Romanze zwischen einem Mafiosi und seiner Geliebten – ist von Anfang an eher vage gehalten: Sie ist sehr sinnlich, mit wenigen Redundanzen, mehr visuellemotional denn logisch-kognitiv und ihre narrativen Grenzen sind nicht fest gezogen. Man könnte geradezu von einer fluiden Konsistenz der Story sprechen. Die zweite durchgängig verfolgte Geschichte – nennen wir sie die Nudelsuppengeschichte – ist dagegen sehr viel engmaschiger gestrickt. Hier werden die Charaktere detaillierter herausgearbeitet, die symbolischen Verweise und das Ziel sind klarer, die Grenzen relativ fest gesteckt. Ihre erzählerische Konsistenz weist

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insofern einen höheren Redundanzgehalt1 auf, bei durchaus noch angenehmer Varianz2, die die Grundlage für „Überraschungen“ ist. Es ist gar nicht abwegig oder allzu schwer, beim Ansehen des Films entlang seiner narrativen Struktur, das Gefühl zu bekommen, man verfolge ein kulinarisches Menü. Denn tatsächlich ist Tampopo wie eine reichhaltige Mahlzeit mit zahlreichen Gängen aufgebaut. Dank der Nudelsuppengeschichte gibt es einen klaren, konsistenten gastrocineastischen Faden, der den gesamten Film – respektive: das Menü – über verfolgt wird. Dazu wird im Kristallglas die berauschende und schwer zu fassende Romanze des Mafiosi serviert (und immer wieder nachgeschenkt), die in das Bewusstsein nur so hineinfließen und es auf angenehme Art umnebeln kann. Darüber hinaus finden sich eine ganze Reihe von schmackhaften Erzählbeilagen, liebevoll um die zentrale Geschichte herum arrangiert. Diese Beilagen eröffnen scharenweise Nebenschauplätze und verdienen im Grunde ebenso viel Beachtung wie das filmische Hauptgericht, denn erst sie geben diesem Werk seine ganz besondere Note im Spektrum der kulinarischen Cineastik. Man darf nicht annehmen, auch nur einer der Gänge, die nach und nach aufgetischt werden, würde für sich alleine sättigen. Stattdessen macht jeder Gang, also jede Sequenz, Appetit auf den nächsten, und wie bei einem perfekten Gericht ist es mit dem Essen (und Trinken) alleine nicht getan. Alois Hahn schreibt in seinem Essay Das Glück des Gourmets: „Was die Theologie für das religiöse Erleben, das ist die gastronomische Kommunikation für das wirkliche Geschmacksempfinden“ (Hahn 2004), und genauso ist es auch bei Tampopo. Wer nicht drüber redet, wer die Geschichten nicht reflektiert und somit nicht weiter-

1

Redundanz ist ein Begriff aus der Informationstheorie und bezeichnet einen Überschuss an Informationsmöglichkeiten. Dadurch steigt bei Kenntnis einer bestimmten Information die Erwartbarkeit der nächsten. Dies erzeugt den „Eindruck der Objektivität, der normativen und kognitiven Richtigkeit“ (Luhmann 1987: 238). Kreuzworträtsel beispielsweise lassen sich nur deshalb lösen, weil man von dem Vorhandensein einiger Informationen („Soz_o__gie“) auf andere sinnvolle schließen kann („Soziologie“). Der Redundanzgehalt macht einige Möglichkeiten wahrscheinlicher als andere.

2

Varianz wird hier als Gegenbegriff zur Redundanz verwendet und meint den Grad der Unwahrscheinlichkeit, mit der erwartbare Möglichkeiten sich auch tatsächlich realisieren. Dies erhöht die Lebendigkeit und Spannung eines Operationszusammenhangs. So sind Filme oder Kreuzworträtsel nur deswegen nicht völlig langweilig, weil bis zu einem gewissen Informationsgrad immer mehrere Anschluss- beziehungsweise Lösungsmöglichkeiten in Betracht kommen.

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erzählt, der hat sie verschlungen und badet lediglich in der diffusen Wahrnehmung überbordender Sättigung bis zum nächsten Reiz. Der kulinarische Cineast muss diskutieren, was er gesehen hat, muss zitieren, muss verweben – und bei Tampopo erst recht! Der Film bietet reichlich köstliche Qualitäten – die Frage ist, ob der Zuschauer zum sprachlichen Besteck greifen will, um das cineastische Mahl an seine intellektuellen Geschmacksknospen zweiter Ordnung3 zu führen. Dass über dem Film selbst fortwährend der Schleier des Trashs und der Überzeichnung sowie der unverhohlene Hang zur Parodie liegen, macht ihn zu einem Geheimtipp. Wie ein gutes Restaurant versucht Tampopo seine Gäste gerade nicht durch übertriebene marketingtechnische Glättung oder überladen Ornamentales, sondern durch nur diskret offengelegte Raffinessen zu gewinnen. Lieber gibt sich der Film selbst – wie es Geheimtipps so an sich haben – nach außen hin Anschein und Fassade des zwielichtigen Hinterhoflokals, in dem man dann aber umso überraschender die bestechensten Speisen kredenzt. Diese Ambivalenz zwischen Schein und Sein bildet auch den Kern der Nudelsuppengeschichte, deren Gang im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen wird.

G ESCHMACK UND K ÜCHE UND K OMMUNIKATION

ALS

R ESULTAT

VON

K OLLEKTIV

Den Lastwagenfahrer Goro überkommt in einer verregneten Nacht der Heißhunger auf eine Nudelsuppe. Das Lokal, in dem er landet, ist ein japanisches Nudelsuppenrestaurant4, das zunächst die Atmosphäre einer asiatischen Wild-EastSpelunke verströmt. Die Einrichtung ist farblos und heruntergekommen, die wenigen Gäste sind zweifelhafte, angetrunkene und aggressive Gestalten. Vor der Tür wird ein kleiner Junge von mehreren, ihm körperlich überlegenen Schulkameraden verprügelt. Es ist, wie der Film als Medium selbst, gerade keine elegante Kulturstätte des gastronomischen Lebens. Jede kulinarische Alltagsheuristik

3

Mit zweiter Ordnung ist hier die „Beobachtung der Beobachtungen“ gemeint, die über das einfache Beobachten hinausgeht und Freiheitsgrade der Beschreibung und Bezeichnung mittels getroffener Unterscheidungen in die Sinnproduktion einführt (Baecker 2007: 75ff.).

4

Ein sogenanntes Ramen-ya, von denen es allein in Tokio mehrere tausend, in ganz Japan wohl weit über hunderttausend Stück geben dürfte, und die nach den speziellen Ramen-Nudeln benannt sind.

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würde den Beobachter nach diesen ersten Eindrücken zu dem Ergebnis kommen lassen, dass man hier weder gutes Essen noch kulinarisches Entwicklungspotential finden wird. Es ist, nach den Bildern zu urteilen, die uns die gastronomischen Massenmedien mit ihren Hochglanzformaten Tag für Tag vor Augen halten, lediglich eine von zahllosen gastronomischen Sackgassen. Doch wie so oft täuscht der im Affekt gewonnene erste Eindruck. Denn hinter dem Tresen und an den Töpfen steht die zwar schüchterne und zunächst auch unbeholfene, aber dafür charmante und immens motivierte Köchin Tampopo5. Und da Goro, der dem Zuschauer als typische Figur des Lonely Cowboy mit harter Schale und weichem Herz präsentiert wird, zufällig über einen überdurchschnittlichen kulinarischen Intelligenzquotienten (Dollase 2006) verfügt, entsteht eine knisternde Beziehung, die bald erste gastronomische Funken schlägt. Denn die beiden beschließen, in Tampopos Restaurant die geschmackvollste aller Nudelsuppen zu kochen und aus Tampopo die beste Nudelsuppenköchin der Welt zu machen. Ein schwieriges Unterfangen, das den ganzen Mut und vollen Einsatz der Beteiligten verlangt – bis hin zur mitternächtlichen Spionage in konkurrierenden Restaurants. Alles in diesem Film ordnet sich hin auf das Kraftzentrum des kulinarischen Geschmacks: Wie und wo kann man Wohlschmeckendes finden und es entwickeln? Und wie kann man das, was nicht-wohlschmeckend ist, identifizieren und es aus den Töpfen oder vom Teller ausschließen?6 Der Film geht hier einen ganz besonderen Weg: Um zum Erfolg zu kommen, wird keineswegs auf das Genie eines einzelnen Wunderkochs gesetzt, der mit allen anderen Akteuren überlegenen Sinnesorganen ausgestattet ist und deshalb als Einzelner zum kulinarischen Übermenschen taugt.7 Stattdessen setzt der Film auf die emergente8 Kraft einer größeren sozialen Komposition. Zu Beginn der Ge-

5

Um im Folgenden die Person Tampopo vom Film Tampopo sprachlich unterscheiden zu können, wird der Name der Köchin im Gegensatz zum Filmtitel nicht kursiv geschrieben.

6

Zu einer Ausarbeitung der binären Differenz von wohlschmeckend und nichtwohlschmeckend als inhärenter Binärcodierung eines kulinarischen Kommunikationssystems vgl. Kofahl 2010.

7

Diesen autonomen, individualisierten Super-Koch findet man in vielen anderen Filmen und Geschichten, beispielsweise in Babettes Fest (1987) oder in Ratatouille (2007).

8

Emergenz beschreibt einen Aggregationseffekt, der zu einem neuen, qualitativ verschiedenen Status eines Phänomens führt. Dieser lässt sich nicht allein aus den einzelnen Elementen, aus denen es besteht, linear oder reduktionistisch herleiten. Stattdes-

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schichte um die Köchin Tampopo ist diese Frau eine erfolglose Einzelkämpferin. Sie, die alleinerziehende Witwe, bringt zwar eine bis an ihre Grenzen gehende Kraft und Geduld auf, damit sie ihre mehr als halbgare Nudelsuppenküche betreiben kann, aber diese ist lediglich zum allabendlichen Treffpunkt für geschmacklose Halunken verkommen. Tampopo und der Kontext, in dem sie sich befindet, sind durch ihre individuelle Vereinzelung zu diesem Zeitpunkt dermaßen strukturdeterminiert, dass sie gefangen ist im immer wiederkehrenden Kreislauf festgefahrener Routinen des Alltags. Sie alleine ist nicht in der Lage, eine wie auch immer geartete Evolution der Verhältnisse auszulösen und auf Dauer zu stellen. Erst als Goro eines Abends in ihr Lokal platzt, mit seinen auf der endlosen Straße des Lastwagenfahrerdaseins gesammelten Eindrücken und seinen verhältnismäßig guten Manieren, und die Thekenrunde ganz maskulin mit einer Prügelei – die er verliert9 – sprengt, platzt die verknotete Struktur. Goro muss in Folge der Auseinandersetzung als verletzter und hungriger Reisender, der mit seinen mitgebrachten Moralvorstellungen zunächst mal nichts als Unruhe stiftet, Tampopos Gastfreundschaft in Anspruch nehmen. Er ist, ganz nach Michel Serres, ein Parasit, der von den wohlriechenden Düften des Essens angelockt wird und sich durch seine Rede ohne materielle Gegenleistung an den Tisch schmarotzt. Er ist aber auch der Parasit, der gleichzeitig ein Joker ist (Serres 1987). Dessen Unruhe transportiert die dringend benötigte Abweichung in ein längst zu einem schrillen Pfeifton verkommenen System, welches daraufhin endlich aus seinem erstarrten Dornröschenschlaf erwachen und evolutionieren kann. In der Kommunikation zwischen Tampopo und Goro entsteht eine verbindende Perspektive, die sie beide als Individuen nicht mit hineingebracht haben in ihre nun gemeinsame Konstellation: die Aussicht darauf, die perfekte Nudelsuppe zu kreieren. Aber die Komplexität dieses Kommunikationsduos muss weiter erhöht werden. Zwei Synapsen sind für eine soziale Intelligenz, die sich entwickeln soll, schnell zu wenig. Die beiden machen sich also auf den Weg, ein Netzwerk zu

sen haben die in der Komposition der Elemente sich realisierenden Strukturen einen bedeutenden Anteil an den Eigenschaften des größeren Ganzen (Rönsch et. al. 1995). 9

Auch an einer späteren Stelle im Film, wenn sich Goro wieder einmal prügelt, gewinnt er nicht. Eine beeindruckende Auslegung von Gewalt, die nicht dazu dient, Helden durch Siege zu produzieren, sondern Ausdruck fehlender Sprachoptionen in festgefahrenen sozialen Situationen ist. Körperliche Gewalt dient hier letztlich – und das ist eine subversive, anarchistische Perspektive – dazu, Erregung zu produzieren und Knoten zu lösen, damit es endlich irgendwie weiter gehen kann.

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knüpfen. Es wird ein Kollektiv von Experten zusammengesucht, deren unterschiedliche Blickwinkel auf die Aufgabe „Wie kocht man die wohlschmeckendste Nudelsuppe?“ wie durch ein Prisma – in diesem Fall die Kommunikationsform des Kulinarischen (Kofahl 2010) – gebündelt werden. Heraus kommt ein durch und durch erfreuliches Resultat sozialer Operationen, welches den symbiotischen Mechanismus10 des menschlichen Stoffwechsels auf appetitliche Weise bedient. Vom einfachen Pfeil (aus der „Küche“ auf den „Teller“) geht der Film noch über den Doppelpfeil („Koch“ und „Esser“ treten in einen Dialog) hinaus und zeigt das realistische Pfeilgewitter des Sozialen: Dialoge werden von weiteren Dialogen gekreuzt – transversal, sagittal, frontal, temporal. Tampopo und Goro, der sozusagen die Rolle ihres Personal-Coachs übernimmt und sich ebenso um die Köchin persönlich wie um die erweiterten Grundlagen in der Rolle eines Netzwerkers und Gatekeepers kümmert, stehen bald ein Meister-Gourmet, ein Koch und ein Innenarchitekt zur Seite. Es ist also ein ganzes Team, das mit seinen differenzierten und spezialisierten Fähigkeiten an der Entwicklung des Gerichts, seines Geschmacks, des Lokals und sogar dem Erscheinungsbild der Köchin arbeitet. Kommunikation entpuppt sich als Geflecht, als zeitweise strukturiertes, aber vor allem Ereignisse in der Zeit strukturierendes Hin und Her, das gerade nicht zu chaotischer Lethargie, sondern zu lebendiger Ordnung führt: zum Essen, das gewollt und gekonnt schmeckt, das heißt zur genussvollen, kultivierten Erweiterung des organischen Stoffwechsels. Um in diesem Film noch mehr über die soziale Konstruktion von Geschmack zu erfahren, lohnt es sich, einmal die Umstände, die Goro zu Tampopo führen, genauer zu betrachten: Goro ist mit seinem jungen Beifahrer Gun in ihrem LKW auf der Straße unterwegs. Es schüttet wie aus Kübeln und eigentlich will Goro nur eines: ankommen. Gun liest ihm währenddessen aus einem Buch vor. In dieser Lektüre geht es um eine Nudelsuppenzeremonie. Ein älterer Herr (ein Meister des Nudelsuppenessens) und ein jüngerer Mann (der Schüler des Meisters) sitzen gemeinsam vor ihren Schüsseln, die mit dampfender Nudelsuppe gefüllt sind. Dann erklärt der Meister seinem Schüler detailliert, wie man eine Nudelsuppe zu essen hat. Dabei werden Rituale und Suppe so anschaulich beschrieben, dass Goro, allein durch das Zuhören, Appetit auf eine Nudelsuppe bekommt.

10 Beim Wohlgeschmack handelt es sich um symbiotisches Symbol im Sinne Niklas Luhmanns, welches die „Kommunikation an bewusste und unbewusste Körperlichkeit“ rückbindet (Baecker 2007: 245).

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Goro: „Ich halte jetzt mal an.“ Gun: „Warum? Was ist los?“ Goro: „Nur weil Du so ein blödes Buch vorliest, habe ich jetzt furchtbaren Hunger bekommen.“

Hier wird gezeigt, wie sich über Kommunikation Geschmacksstrukturen fortpflanzen, folglich also eine Geschmackskultur entsteht. Ohne von der Nudelsuppe gehört zu haben, hätte Goro zu diesem Zeitpunkt, wo er eigentlich ein anderes Ziel im Sinn hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch keinen Appetit, keinen Heißhunger, auf sie bekommen. Erst die soziale Operation – und zwar durch das klassische Massenmedium schlechthin: dem Buch – lässt in ihm persönliche Wünsche und Erwartungen entstehen. Bei genauem Hinschauen lüftet sich hier der Nebel, der im alltäglichen Geschehen gemeinhin über der wechselseitigen Durchdringung von Gesellschaft und Individuum liegt. Diese zeigt sich gar an einem vermeintlich so rudimentären und physiologischen Bedürfnis wie der Ernährung, die, wie so manch einer noch immer zu glauben scheint, vor allem der Aufnahme und biochemischen Umwandlung von Stoffen durch einen Organismus dienen soll. Stattdessen wird hier die Umstellung der modernen Gesellschaft von Hunger auf Appetit dargestellt (Kofahl 2010: 26). Goro will nur deshalb essen – und zwar das, was er essen will: eine Nudelsuppe –, weil er sozial erzeugte Lust darauf bekommt. Im späteren Verlauf der Geschichte lassen sich dann weitere sozial erzeugte und im Kommunikationsprozess konkretisierte Anspruchserzeugungen und Anspruchssteigerungen feststellen. Ohne Frage ist beiden, Tampopo und Goro, schnell klar, dass es eine bessere, womöglich eine beste Nudelsuppe geben muss. Aber fürs Erste handelt es sich nur um ein diffuses Bild, das sich der dualen Imagination zu diesem frühen Zeitpunkt anbietet. Erst durch die konkret herausgearbeiteten (weil thematisierten und schließlich vollzogenen) nächsten sozialen Operationen kann dieses Bild und mit ihm die daran gebundenen Ansprüche konkrete Formen annehmen. Am Anfang weiß Tampopo gar nicht, dass man sich die Fragen stellen kann, welches Nudelwasser, welche Nudeln, welche Schnitttechnik man verwenden will. Und auch Goro denkt nicht an die den kulinarischen Genuss beeinflussende Wirkung des Ambientes des Lokals oder an die verzückende Wirkung einer apart herausgeputzten Köchin hinter der Verkaufstheke. Es ist nur wahrscheinlich, dass die beiden nicht darauf kommen, Zutaten zur Zubereitung der Suppe zu verwenden, die ihnen gar nicht bekannt sind. Es müssen im Kollektiv andere Akteure – die freilich ihrerseits wieder mit blinden Flecken ausgestattet sind – weitere Differenzierungen ins Spiel bringen, die dann, nur scheinbar als naheliegende Selbstverständlichkeiten, durch die Kommunikation des Kollektivs dif-

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fundieren. Dies reicht so weit, dass auch die unbeabsichtigte Mitteilungsbereitschaft von Körpern aufgegriffen wird. So macht Goro Tampopo darauf aufmerksam, Mimik und Verhalten der Restaurantgäste genauestens zu beobachten, zu interpretieren und daraus auf deren subjektiven Appetit zu schlussfolgern.11 Die Nudelsuppe selbst ist kein elitäres Gericht der französischen Haute Cuisine, welches zuzubereiten nur Meisterköche in der Lage sind. Die Nudelsuppe steht für eine einfache, aber nahrhafte Mahlzeit, die sich mitunter auch sehr schnell anfertigen lässt. In Japan ist sie als Ramen durchaus ein wichtiger Bestandteil des kulinarischen Alltags, für die „europäische Esskultur“ lässt sie sich jedoch eher im Feld des Fast Food oder Convenience Food wiederfinden. In Tampopo wird dieses Gericht nun nicht direkt aus seiner Einfachheit, aber doch aus seiner für die von der europäischen Esskultur geprägten Zuschauer im Grunde gastronomischen Bedeutungslosigkeit befreit und in ein geschmackvolles und kulinarisch stilvoll zu handhabendes Gericht überführt. Einmal wird sogar der Kommunikationsprozess vor dem Essen zwischen Essendem und Gericht detailliert als Ritual skizziert (vgl. Abb. 1): Schüler: „Fängt man beim Essen besser mit der Suppe oder besser mit den Nudeln an?“ Meister: „Du musst zunächst einmal die ganze Schale betrachten. Ja. Dann musst du die Dämpfe, die aus der Schale aufsteigen, einatmen und dabei das Bild intensiv ansehen. Auf der Oberfläche der Suppe schwimmen viele Ölperlen, verführerisch glänzen die chinesischen Bambussprossen. Inzwischen sind die Algen in der Suppe aufgequollen. In der Mitte der Schale liegen malerisch die geschnittenen Frühlingszwiebeln. Jetzt kommen wir zum Wichtigsten! Denn vor allem sind die drei gebratenen Schweinefleischscheiben, die ruhig in der Suppe schwimmen, die Hauptdarsteller. Also nun, wir beginnen zunächst einmal damit, dass wir mit den Spitzen der Stäbchen die Nudelsuppe berühren, als wollten wir sie zärtlich streicheln.“ Schüler: „Wozu macht man das?“ Meister: „Das ist eine Liebeserklärung an die Nudelsuppe!“ Schüler: „Ah ja!“ Meister: „Als nächstes führen wir die Spitzen der Stäbchen in Richtung des gebratenen Schweinefleischs.“ Schüler: „Oh ja! Wir beginnen also mit dem Schweinefleisch!“ Meister: „Nein! Dieser Prozess dient einzig und allein der Berührung. Wir heben mit den Stäbchen liebevoll das Schweinefleisch hoch und legen es rechts an den Rand der Schale,

11 Zur Mitteilungsbereitschaft von und Informationsgewinnung an Körpern vgl. Hahn 2000.

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so dass es allmählich in die Suppe taucht. Nunmehr kommt das allerwichtigste des gesamten Vorgangs. In diesem Augenblick musst du das Schweinefleisch um Verzeihung bitten, indem du es anblickst und ihm zuflüsterst: Bis bald.“

Abbildung 1: Meditierender Meister und stürmischer Schüler bei der Nudelsuppenzeremonie

Quelle: DVD Tampopo, im Vertrieb von Savoy Film/Sunfilm Entertainment

Hier zeigt sich etwas, das Harald Lemke in Hinsicht auf die buddhologische Zen-Praxis des ‚Reis Essens‘ angemerkt hat, nur gilt es nun für die Nudelsuppe: Wer wissen will, wie Nudelsuppe schmeckt, muss Nudelsuppe essen. Doch wer „wirklich“ wissen will, wie Nudelsuppe schmeckt, muss weit mehr als bloß Nudelsuppe essen (Lemke 2008: 58).12 Es kommt hier darauf an, Praxis und Reflexion der Praxis so zu vereinen und immer weiter zu verfeinern, dass eine richtige Praxis durch eine entsprechend richtige Lehre möglich wird (Lemke 2008: 59). „Keine Ess-Handlung ohne kulinarische Kommunikation“ würde der systemtheoretisch orientierte Ernährungssoziologe hier sagen. Die kulinarische Kommunikation kann denn auch von den Handlungen abstrahieren. Dies ist für einen wahren Gourmet, der sich vom Gourmand (dem „schlemmenden Vielfraß“) unterscheiden muss, ehedem maßgeblich. „Der wahre Gourmet legt längere Pausen

12 Zur Zen-Praxis des ‚Reis Essens’, aber darüber hinaus sehr viel umfangreicher noch auf die japanisch-chinesische Gastrosophie eingehend, Lemke 2008.

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zwischen den Mahlzeiten ein, um nicht durch die pausenlose Wiederholung exquisiter Reize sein Glück zu zerstören. So hält er sich offen für den glücklichen kulinarischen Augenblick, indem er sich durch temporäre Askese auf sie vorbereitet.“ (Hahn 2004: 174) Und diese Pausen zu überbrücken, wird dem Gourmet, der „nicht nur Genießer, sondern auch Kenner“ ist (Hahn 2004: 179), eben gerade durch die sprachliche kulinarische Kommunikation ermöglicht. Eine Szene im Film verdeutlicht dies auf besondere Art: Auf der Suche nach weiteren Einflüssen, mit denen sie ihre Entwicklung voranbringen können, machen sich Tampopo und Goro auf die Suche nach einem großen Gourmet, einem Meister der Feinschmeckerei. Goro weiß, wo er zu finden ist, aber der Zuschauer ist wieder einmal überrascht. Nein, das ist kein Drei-Sterne-Koch in einer edlen italienischen Küche und es ist auch kein snobistischer Restaurantkritiker beim sechsten Gang eines Zehn-Gänge-Menüs, der im Kopf eifrig wohlwollende oder vernichtende Notizen anfertigt. Der Meister der Feinschmeckerei sitzt mittellos inmitten einer Horde Obdachloser auf einer Treppe im Irgendwo und lächelt entspannt. Meister: „Ja alle hier sind ja richtige Kenner und Genießer.“ [Dann wendet er sich einem Mann in der ihn umgebenden Gruppe zu und fordert ihn auf:] „Hör mal, du weißt doch diese Geschichte von dem Wein. Erzähl sie doch mal.“ Mann: „Ja, die vom Medoc Jahrgang 1980 Chateau Poujeaux Lalande meinen Sie?“ Meister: „Natürlich sie!“ Mann: „Äh, meinetwegen. Es erinnern sich vielleicht einige noch daran, dass im Jahre 1980 überall auf der Welt das Wetter ganz besonders schlecht war und auch der Bordeaux einen besonders schlechten Jahrgang hatte. Vor ein paar Tagen bin ich am Restaurant Chat Qui Pêche und habe dort hinterm Haus eine Menge leerer Weinflaschen gefunden. Ich sah mir die Sachen etwas genauer an und stieß auf eine Flasche Medoc Jahrgang 1980 Chateau Poujeaux Lalande. Und das Schönste: in der Flasche waren noch etwa fünf Zentimeter Wein. Ich habe die Flasche mitgenommen und den Wein dann wie es sich gehört, sorgfältig dekantiert. Glaubt mir, obwohl es nur ein Medoc Jahrgang 1980 Chateau Poujeaux Lalande war, war es ein unbeschreiblich guter Wein. Leicht und trocken. Trotzdem ein würziges Bukett. Als er so langsam wie möglich in meine Kehle floss, habe ich ihn sehr genossen. Aaaaaaah…“

In diesem Moment versinken alle seine Zuhörer, die schon vorher gebannt der Geschichte lauschten, in einer schwelgerischen Versenkung und ihre Körpersprache verrät, dass sie den erzählten Geschmack nun ebenso erinnern und nachempfinden, als wären sie dabei gewesen, vielleicht sogar, als würden sie den edlen Tropfen just in diesem Moment ihre trockene Kehle hinunter laufen lassen.

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V ERBOTENE S ÜSSIGKEITEN Tampopo ist deshalb ein so bemerkenswerter Film, weil er die Thematik Kochen und Essen aus einer ebenso kulinarischen wie gustatorischen Perspektive aufgreift. Die Basisreferenz dieses Films führt immer wieder zurück auf den guten Geschmack und dessen unwiderstehliche Anziehungskraft bis hin zum erotischen Verlangen. Dabei lässt sich der Film kein einziges Mal von der persönlichen oder puritanisch-volkswirtschaftlichen Einengung13 allein auf den gesundheitlichen Aspekt von Ernährung korrumpieren. Er lacht dieser zumeist an Nährwerttabellen orientierten und auf – oftmals im (populär-)wissenschaftlichen, imperativen Duktus formulierten – Ernährungstipps fixierten Ernährungslehre sogar ein wenig frech ins kontrollsüchtige Gesicht. Es gibt eine Szene in Tampopo, in der ein Mann mittleren Alters nach einer schmerzhaften, aber nun glücklich überwundenen Zahnbehandlung umgehend genüsslich ein Soft-Eis isst. An sich ist dies schon ein Symbol des Sieges des Genusses gegenüber einer für viele Bereiche der Gesellschaft dominant gewordenen paranoiden Vernunft. Statt mit angsterfüllten Augen dem Süßen abzuschwören und der Hoffnung auf ein karies- und damit schmerzfreies (am liebsten unendliches) Leben durch messianische Erhöhung des Gesunden und Zuckerfreien nachzugeben, ist das erste, was der Mann verzehrt, eine von Zucker und synthetischen Geschmacksverstärkern nur so strotzende Kalorienbombe: ein großes, rosafarbenes Eis! Gedankenversunken schleckt er seine quasi-verbotene Frucht. Da bemerkt er auf einmal, dass er beobachtet wird (vgl. Abb. 2). Ein schüchterner Junge steht etwas abseits und beobachtet voyeuristisch diese süße gustatorische Sünde. Um seinen Hals hängt an einer Kette eine Möhre und ein Schild, auf dem steht: „Wir ernähren unser Kind nur mit Biokost, darum bitten wir unserem Kind keine Süßigkeiten oder ähnliches zu geben. Die Mutter des Kindes.“

Der Eisesser zögert keine Sekunde, bietet dem Kind das Eis an und redet ihm gut zu, nur endlich zuzugreifen: „Willst Du? Hier. Schmeckt gut.“

13 Vgl. hierzu u.a. Klotter 2008 und Zimmer/Klotter 2011.

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Und nach einigen Sekunden des Zweifelns, mit einer höheren, abstrakteren und wohl auch unverständlichen Moral ringend, greift das Kind schließlich nach dem Eis. Abbildung 2: Ein von ökobewegten Vollwertköstlern erzogenes Kind auf einem lustvollen gustatorischen Grenzgang

Quelle: DVD Tampopo, im Vertrieb von Savoy Film / Sunfilm Entertainment

Auch hier ist der konditionierende Beitrag der Kommunikation zur Entwicklung von Geschmack offensichtlich. Der Mann führt das Kind in die kulinarische Freiheit, die fraglos immer auch die Welt des Zwangs zur Entscheidung und der zu verantworteten Fehler ist. Die schriftliche Botschaft der abwesenden Eltern informiert den Verführer über eine bestimmte diätische Position und weckt in dem Mann sodann auch erst recht die Lust, den Jungen mit den Errungenschaften der modernen industriellen Küche bekannt zu machen. Das Kind selbst muss reagieren, wird von der Komplexität der Welt zur Selbstpositionierung gedrängt.

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Es wird zur selbstreferentiellen Entwicklung gezwungen. Dabei muss der Mann die Mitteilung der besorgten Eltern einschätzen und auf die ihn betreffenden, relevanten Informationen hin interpretieren. Welche Sachinformation steckt in dem Text? Welche Relevanz und welche Wichtigkeit misst er diesen zu? Welche Gefahr wird ihn erwarten, wenn er das Verbot bricht? Welche Verantwortung trägt er? Und auch der Junge muss die Mitteilungen des Mannes auf ihre Glaubund Vertrauenswürdigkeit hin bewerten. Genauso wie er einschätzen muss, was ihm das Neuziehen seiner persönlichen diätischen Grenze wohl bringen mag, obwohl er selbstverständlich nur Vermutungen anstellen, nur Erwartungen hegen kann und nicht wirklich weiß, was ihm widerfahren wird. Natürlich ist der Aspekt von „Biokost“, der in dieser Sequenz des Films angesprochen wird, ein sehr spezifischer und auch wieder einmal überspitzter Blick auf die Form der Ernährung, in der auch ökologisch zertifizierte Lebensmittel eine Rolle spielen. Keineswegs ist gesagt, dass man sich mit Biokost immer gesund ernähren muss, ebenso wie es nicht ausgeschlossen ist, auch ohne Biokost gesund zu bleiben. Zudem ist die Ernährung mit Biokost längst nicht immer zwangsläufig genussfeindlich, so wie es das Hinweisschild der Eltern des Jungen suggeriert. In den 1980er Jahren, als Tampopo entstand, mag das vielleicht noch vielfach anders gewesen sein,14 inzwischen aber gibt es nicht nur zahlreiche biozertifizierte Süßigkeiten, es gibt auch eine, wenngleich umstrittene, explizit am Genuss orientierte Ökobewegung, die LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability) (Gertzen 2008), und von manch einem Konsumenten werden Bio-Produkte als geschmacklich besonders hochwertige Lebensmittel verstanden. Aber was das Kind mit seinem Schild versinnbildlicht, dass ist der Paternalismus einer Individuen disziplinierenden Macht. Diese hat in diesem Fall ihren Ausgangspunkt in der Kombination der zunächst einmal überindividuellen Ideen des Gesundheitsdiskurses, des Ernährungsdiskurses und des Diskurses um biologisch erzeugte Vollwertlebensmittel. Diskurse legen in ihrer andauernden Fort-

14 Der Satiriker Wiglaf Droste, der unter anderem mit dem Koch Vincent Kling die Zeitschrift Häuptling Eigener Herd herausgibt, beschreibt in einem kurzen Essay die Bioladenkultur der „alten Schule“ als kompromisslos und pedantisch: „Einkaufen im Bioladen ist wie Konfirmationsunterricht: Man fühlt sich ständig ertappt. Ein Sünder ist man, das kriegt man immer schön reingereicht. Der alternative Protestantismus müffelt nach Geiz und Getreide; seine Protagonisten sind mürrisch, übellaunig, rechthaberisch; geschlechtsneutral aussehende Figuren, die eine Aura derart knieperiger Zugekniffenheit umgibt, gegen die selbst ein Zeuge Jehovas noch Hedonismus und Daseinsfreude verströmt.“ (Droste 2008)

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führung fest, welches Wissen in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielt. Wird es dann schließlich als wahr angenommen, strukturiert es das Denken und Handeln von konkreten Menschen. Dadurch, dass es immer wieder eingeübt und ausgeführt wird, kommt es schließlich dazu, dass das Wissen verkörperlicht wird, es schreibt sich sozusagen in den Körper ein. In der Ernährung wird dies noch auf die Spitze getrieben. Indem Menschen das Essen essen, von dem sie durch kollektiv geteiltes Wissen glauben, dass es die richtige Form der Ernährung sei, stellt ihr Organismus schließlich ein konkretes, materiell-organisches Produkt der Diskurse dar.15 Dabei geht es nie ohne die Macht-Frage: Wer hat die Macht, Ge- und Verbote auszusprechen und sie auf verschiedenste Art und Weise zu untermauern? Eltern haben die Macht, ihre Kinder zu erziehen – und welche Macht erzieht die Eltern? Das Kind in Tampopo, mit seinem Schild, der darauf geschriebenen Botschaft, seinen erst distanzierten Blicken und dann seinem hedonistischen Genuss, verweist auf diesen machtvollen Aspekt der Ernährung. Dass dieses Machtgefüge ausgerechnet durch ein Softeis ins Wanken gerät, ist weniger eine radikale Kritik an einer Ernährung mit Biokost, als vielmehr ein äußerst ironischer Hinweis darauf, wie schnell eine autoritäre Ernährungserziehung jedweder Art durch die Sinnlichkeiten der komplexen Welt untergraben werden kann. Es ist auch ein Plädoyer dafür, Menschen mit ihren Bedürfnissen und Lüsten ernst zu nehmen und kulinarischen Sünden einen angemessenen Stellenwert im alltäglichen Ernährungshandeln zuzugestehen.

E IN PAAR ( NICHT

UNWICHTIGE )

K RÜMEL ZUM S CHLUSS

Dass Tampopo so ausgiebig darauf abstellt, die Zubereitung und den Verzehr der Nudelsuppe auf eine dermaßen detailverliebte Art und Weise zu zeigen, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Japan kein Land mit einer starken gastrosophischen Tradition ist. Zwar gibt es in Japan viele vom Gourmetführer Guide Michelin mit Sternen ausgezeichnete Restaurants, aber es findet sich zum Beispiel kein kulinarisches Äquivalent zur weltweit bekannten japanischen TeeZeremonie. Essen spielt eine eher nachgeordnete Rolle, so dass man vielmehr von einem diätmoralischen Geist sprechen kann, der das Nicht-Essen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rückt (Lemke 2008). Freilich kann man Tampopo als radikale Parodie auf das Zen-Moment des Teetrinkens lesen, aber damit

15 Für eine diskursanalystische Studie über die Diskursivität von gesunder Ernährung vgl. Schritt 2011.

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schöpft man die Möglichkeit der Interpretationen nicht aus. Denn Tampopo ist ein optimistischer Film. Es kommt in ihm nicht zu der von Simmel beschriebenen „Tragödie der Kultur“ (Simmel 1987a), in der es eine solche „Unzahl von Kulturelementen“ (Simmel 1987b) gibt, dass sich das Individuum von ihnen erdrückt fühlt, weil es sie innerlich nicht verarbeiten, nicht begreifen, nicht verwerten kann. Stattdessen sind in Tampopo die objektiven Gebilde der Kultur sinnvoll und gut, der Entfaltung der subjektiven Persönlichkeit sowie dem sozialen Zusammenleben zweckdienlich und müssen „nur“ adäquat – und vor allem: geschmackvoll! – relationiert werden. Geschieht dies, gelangen der objektive Geist des Kochhandwerks und die subjektive Seele des guten Geschmacks in Übereinstimmung zueinander und bringen die Gourmetküche mitsamt der perfekten Mahlzeit zum Vorschein. Das ist natürlich cineastische Fiktion – die eine perfekte Nudelsuppe wird es im „wirklichen“ Leben eher nicht geben. Aber es ist faszinierend, diesen Traum durch den Film mitzuträumen und reizvoll sich dadurch zu überlegen, wie weit man diesen Weg in der außerfilmischen Realität gegebenenfalls gehen könnte. Darüber hinaus trägt der Film auch zu dem bei, was man gemeinhin „kulinarische und gustatorische Bildung“ 16 nennt. Er macht viele Dinge sichtbar und bewusst, welche die Lust am Essen und Trinken steigern können. Etwa hat der Gourmettheoretiker Jürgen Dollase, der unbezweifelbar viel zur Entwicklung der kulinarischen Kommunikation im deutschsprachigen Raum beigetragen hat und noch immer beiträgt, fünf Teilaspekte des Kochens definiert: 1. Produktauswahl, 2. Produktvorbereitung, 3. Aromatisieren, 4. Variation der Aggregatzustände und 5. kulinarische Konstruktion (Dollase 2011). Der Film Tampopo greift alle diese Phasen auf. Phase 1 kann der Zuschauer beobachten, wenn beispielsweise das richtige – das beste – Sodawasser für die Suppe gefunden werden will. Oder wenn die Köchin Tampopo und ihr Mitstreiter eine Mülltonne der Konkurrenz durchforsten, um sich über alle möglichen Zutaten, die überhaupt in Frage kommen, kundig zu machen. Nicht zuletzt aber auch, als die Mitstreiter der Protagonistin ihr einen Schweinekopf präsentieren, der nun ebenfalls in die Suppe gelangen soll – was zunächst einmal zu einem Ohnmachtsanfall bei Tampopo führt.

16 Gelegentlich wird etwas steril und schulmeisterlich von „Ernährungsbildung“ gesprochen, um dann damit gleich wieder die Forderung nach einem Schulfach zu verknüpfen. Es besteht ein berechtigter Zweifel, ob man mehr Lust am bewussten Essen und Trinken wecken kann, wenn man auch bezüglich dieser Tätigkeit endlich Klassenarbeiten schreiben lassen und mit Zensuren drohen darf.

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Einblicke in Phase 2, die Produktvorbereitung, erhält man, wenn es darum geht, zu entscheiden, wann der optimale Zeitpunkt gegeben ist, die Zutaten für die Suppe vorzubereiten – und der ist nicht immer erst dann gekommen, wenn der Gast bereits die Bestellung aufgegeben hat! – oder wie dick das Schweinefleisch geschnitten sein muss. Schließlich erklärt der Gourmetmeister Tampopo und ihrem Team: Meister: „Also, dann wollen wir mit dem ABC der Suppe beginnen. Da Hühner leider leicht schlecht werden, ist es wichtig, dass Sie ein frisches Huhn gleich zubereiten. Da Huhn und Schwein einen ausgeprägten Eigengeruch haben, muss man sie mit heißem Wasser überbrühen und danach noch einmal mit kaltem Wasser abwaschen. – Das wissen Sie sicherlich: Das Gemüse wird auf gar keinen Fall zerkleinert!“

Wie existentiell das Aromatisieren (Phase 3) für den Kochvorgang ist, wird gleich beim ersten Frühstück von Goro und Gun in Tampopos Restaurant aufgegriffen, als die noch unbeholfene Köchin die beiden Gäste nach ihrer Meinung über ihre Nudelsuppe fragt: Goro: „Hmm, wie soll ich’s ausdrücken… wirklich, ich finde sie wirklich ganz anständig, aber… vielleicht ist sie nicht kräftig genug, es fehlt ihr an Würze, an Aroma…“ Gun: „Sie schmeckt scheußlich!“

Phase 4, Variation der Aggregatzustände, kommt – wie so manches in der filmischen Küche – zunächst einmal als missglückte Praxis vor, wenn etwa die Nudeln in noch nicht kochendes Wasser hineingeworfen werden und so freilich pappig oder matschig in der Konsistenz werden; nicht umsonst weiß der Meister darauf hinzuweisen, dass es „das Schwierigste ist, die richtige Temperatur zu halten.“ Der letzte, fünfte Aspekt, die kulinarische Konstruktion, ist nun sozusagen das Thema, welches die Nudelsuppengeschichte begründet. Hier steht die Frage der strukturalistischen Küche (Dollase 2011: 18) im Mittelpunkt, wie „eine Form der kulinarischen Konstruktion [gefunden werden kann], bei der nicht nur alle Elemente eines Gerichts präzise aufeinander bezogen sind, sondern diese auch noch in einer ausgeweiteten sensorischen Sicht“ (Dollase 2011: 18) zueinander stehen. Exemplarisch sei hier auf den anfänglichen Dialog zwischen Meister und Schüler verwiesen, der die kulinarische Thematik der Geschichte quasi aus der Perspektive gustatorischer Dekonstruktion vorwegnimmt, oder die Szene, in der eine Reihe gewichtiger Geschäftsmänner ein exquisites Restaurant besuchen, aber praktisch keiner dieser im ökonomischen Feld so erfolgreichen Herren in

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der Lage ist, aus den angebotenen Speisen auf der Karte, ein schmackhaftes Menü zusammenzustellen. Immerhin einem, dem Ranguntersten, gelingt es dann doch, in Kenntnis der ein oder anderen gustatorischen Regel gepaart mit etwas weltläufiger Erfahrung, ein Menü von aufeinander abgestimmten Elementen zu kreieren, das als Ganzes mehr als die wechselseitige Subtraktion seiner Teile ist. Die Köpfe der düpierten Leithammel platzen fast vor Wut und Scham. Wenn man sich von Tampopo nun also nicht nur berieseln lässt, sondern sich mit aktiver Reflexivität an diese gastrocineastische Verführung heranwagt, so kann man sich in der Zeit, die dieser Film andauert, sehr leicht in den Gedanken verlieben, „dass der Erlebnischarakter des guten Essens enorme Dimensionen annehmen kann, die den Erlebnissen in anderen Fächern in nichts nachstehen“ (Dollase 2011: 28) und einen geschmacklichen Bildungshunger verspüren, der standardisierter (Schul-)Noten gar nicht bedarf.

L ITERATUR Baecker, D. (2007): Form und Formen der Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dollase, J. (2006): Kulinarische Intelligenz. Wiesbaden: Tre Torri. Dollase, J. (2011): Der neue Gourmet und die veränderte Struktur der Kochkunst. In: Schütze, I. (Hrsg.): Über Geschmack lässt sich doch streiten – Zutaten aus Küche, Kunst und Wissenschaft. Berlin: Kulturverlag Kadmos, S. 15-28. Droste, W. (2008): Grün im Gesicht. In: Ders./Kling, V.: Wir schnallen den Gürtel weiter. Eine Essenz aus „Häuptling Eigener Herd“. Leipzig: Reclam Verlag, S. 110-111. Gertzen, A.-C. (2008): Egoistische Konsumguerilla. Die Wahrheit über Lohas. Im Internet: http://www.sueddeutsche.de/leben/2.220/die-wahrheit-ueberlohas-egoistische-konsumguerilla-1.380373. Abruf: 20.11.2012. Hahn, A. (2000): Körper. In: Ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 353-403. Hahn, A. (2004): Das Glück des Gourmets. In: Bellebaum, A./Braun, H. (Hrsg.): Quellen des Glücks – Glück als Lebenskunst. Würzburg: Ergon, S. 163-181. Kirig, A./Wenzel, E. (2009): Lohas: Bewusst grün – alles über die neuen Lebenswelten. München: Redline Verlag. Klotter, C. (2008): Der Krieg gegen Übergewicht: Warum er geführt wird, warum er verloren ist, wie er beendet werden könnte. In: Mitteilungen – Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens 16, S. 2–11.

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Kofahl, D. (2010): Geschmacksfrage. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Lemke, H. (2008): Die Weisheit des Essens. München: Iudicium. Luhmann, N. (1987): Soziale Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rönsch, H.-D./Wienold, H./Lüdtke, H. (1995): Emergenz. In: Fuchs-Heinritz, W./Lautmann, R./Rammstedt, O./Wienold, H. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 164f. Schritt, K. (2011): Ernährung im Kontext von Geschlechterverhältnissen: Analyse zur Diskursivität gesunder Ernährung: Diskursivität von ‚gesunder‘ Ernährung und doing gender im Ernährungsverhalten. Wiesbaden: VS Verlag. Serres, M. (1987): Der Parasit. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Simmel, G. (1987a): Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 116-147. Simmel, G. (1987b): Die Krisis der Kultur. In: Ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 232-236. Zimmer, S./Klotter, C. (2011): Die protestantische Ethik als „Geist“ der Gesundheitsförderung? In: Mitteilungen – Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens 18, S. 2–10.

Ernährung zwischen Vergesellung und Vergemeinschaftung

Die Liebe und der Magen. Luhmanns Liebessemantik am Esstisch Bittersüße Schokolade (1992) / Regie: Alfonso Arau G ERRIT F RÖHLICH „Das Geschenk aus Liebe wird in der größtmöglichen Erregung gesucht, ausgewählt und gekauft – einer Erregung, die so heftig ist, daß sie in die Kategorie der Wollust zu fallen scheint. […] Das Geschenk aus Liebe ist feierlich; von der unersättlichen Metonymie mitgerissen, die das imaginäre Geschehen bestimmt, versetze ich mich ganz hinein.“ ROLAND BARTHES: FRAGMENTE EINER SPRACHE DER LIEBE

Liebe ist auf Zeichen angewiesen. Ähnlich, wie das verliebte Subjekt in Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe (1988: 261) in einem liebevoll ausgewählten Geschenk nicht nur sein Gefühl, sondern sein ganzes Wesen vertreten sieht, so kommt es vor, dass sich in einer redensartlich „mit Liebe gekochten“ Mahlzeit Emotionen widerzuspiegeln scheinen und ähnliche Gefühle auf der anderen Seite hervorgelockt werden sollen. „Leidenschaft sucht die Grenzen des Ich niederzureißen und das eine in das andere aufzuheben“ (Simmel 1999 [zuerst 1908]: 106), und sie bedient sich dabei nicht selten gewisser Rituale – mitunter kulinarischer. Das romantische Abendessen zu zweit, die zum Geschenk gemachten Pralinen oder das gemeinsame „etwas trinken gehen“ dienen als Zeichen für Zuneigung und repräsentieren fest in der Kultur verankerte Umgangsformen. Liebe als Gefühl, das in der verbalen Kommunikation nie ganz greifbar

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zu sein scheint, zeigt sich auch – und vielleicht gerade – im Alltag (vgl. Kaufmann 2005). Der im Jahr 1992 von Alfonso Arau inszenierte Film Bittersüße Schokolade (nach dem gleichnamigen Roman Laura Esquivels) lädt zu einer soziologischen Betrachtung dieser Umgangsformen ein. Die Geschichte um Tita, der eine Heirat bis zum Tode ihrer Mutter verboten ist, die deshalb die Hochzeit ihres Geliebten mit einer anderen mit ansehen (und sogar bekochen) muss, und die so ihre Gefühle kaum anders auszudrücken vermag als in der Zubereitung von Speisen, steckt voller Verweise auf den Themenkomplex von Ernährung und Emotion. Was immer es ist, das Tita beim Kochen fühlt und erlebt – Trauer, Leidenschaft, Ärger –, die Gefühle scheinen sich in Torten, Wachteln und anderen Delikatessen festzusetzen und dort zu überdauern, um sich schließlich beim ersten Bissen auf diejenigen zu übertragen, die in den Genuss dieser Nahrungsmittel kommen. Der vorliegende Beitrag versucht sich vor allem in der Übertragung der Beobachtungen Niklas Luhmanns zur Liebe einerseits und der Beobachtungen Jean-Claude Kaufmanns zum leidenschaftlichen Kochen andererseits auf das weite Feld der Emotionen im Ernährungskontext, wie sie in Bittersüße Schokolade dargestellt werden. Ziel ist es, die vielfältigen kulinarischen Metaphern, durch die die Vermittlung der Emotionen der Protagonistin dargestellt wird, im Hinblick auf ihre Übertragbarkeit auf den Alltag zu untersuchen, in dem es Menschen offenbar auch ohne übersinnliche Kräfte gelingt, durch Zubereitung und Anrichten von Speisen Emotionen auszudrücken und hervorzurufen. Im Zentrum steht dabei die romantische Liebe als „Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.“ (Luhmann 1982: 23) In Bezug auf Liebe sollen also physiologische und psychologische Abläufe weitgehend ausgeblendet werden, und ebenso in Bezug auf Ernährung die sinnliche Wahrnehmung bestimmter Geschmackserlebnisse.1 Stattdessen werden das Auftauchen und die Verwendung von Speisen beziehungsweise Esssituationen in Einklang mit einem bestimmten Kommunikationscode – einer bestimmten „Art zu reden“ (Sommerfeld-Lethen 2008: 55) – betrachtet. Nach einem Exkurs zu Emotionen im allgemeinen steht im Mittelpunkt des Beitrags die Erörterung der Möglich-

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Dabei soll selbstverständlich nicht vergessen werden, dass „kein Kommunikationssystem ganz davon abstrahieren [kann], dass Menschen leiblich beteiligt sind“ (Luhmann 1982: 31) und eine Mitsymbolisierung dieses Körperbezugs in der Semantik erfolgt. Die physiologische Perspektive steht hier allerdings nicht im Vordergrund.

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keiten, sie im speziellen in der Sprache der Kulinarik auszudrücken, sowie deren Veranschaulichung anhand ausgewählter Szenen und Zitate aus dem Film.

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AUS SOZIOLOGISCHER

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ȱ „Wie hab ich das Essen von zuhause vermisst… wenn Du wüsstest. Vor allem die Sahnetörtchen. Revolutionen wären ja gar nicht so übel, wenn man jeden Tag bei seiner Familie essen könnte.“ GERTRUDIS IN BITTERSÜSSE SCHOKOLADE

In der frühgriechischen Tradition wurde der Komplex der Gefühle untrennbar mit der Beobachtung von Körperzuständen verbunden, so dass Gefühle einerseits den Körper überfallen und überwältigen, und sich andererseits auch nur in der Beobachtung des Körpers zeigen können (vgl. Fuchs 2004: 89). Auch wenn im Späteren eine Wandlung dahingehend vonstatten ging, dass Emotionen dem Seeleninnenraum zugeschrieben wurden und so in Differenz zu ihrer Sichtbarkeit am Körper aufgefasst wurden, überdauerte in der Vorstellung eine irgendwie geartete Verbindung auch über einzelne Re-Markierungen der Körperseite hinaus – beispielsweise durch William James, der fragte, was denn vom Gefühl übrigbliebe, würde man sich jeden Bezug von ihm auf den Körper wegdenken (vgl. ebd.: 90). Emotionen bringen die soziale Interaktion zum Stoppen und werfen das Subjekt auf seinen Körper zurück: „Mit Gesichtsröte, Tränen, Schweißtropfen, Wutausbrüchen, Weinen, Lachen, Seufzen usw. tauchen sie gegen unseren Willen auf, durchbrechen die Grenzen unseres Körpers und vermitteln Informationen über unsere inneren Zustände.“ (Flam 2002: 123) Nach wie vor zeigen sich Emotionen häufig eher, als dass sie Inhalt von Kommunikation werden.2 Darüber hinaus werden gewisse am Körper beobachtbare Phänomene, die grundsätzlich der Zuschreibung von Emotionen dienen, auf rein biologische und damit gefühlsneutrale Ursachen zurückgeführt. Die Gesichtsröte beispielsweise kann vom Temperaturwechsel rühren, die Schweißtropfen von allzu scharfer Würze,

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Wenn Körperzustände ihren Weg in die Kommunikation finden, dann vor allem über den Umweg ihrer Wahrnehmung. Für das psychische System sind „alle Körperzustände wahrgenommene Zustände […] und für das Bewußtsein alle wahrgenommenen Zustände bezeichnete, mithin (in letzter Konsequenz: sozial) beobachtete Zustände.“ (Fuchs 2004: 96)

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und die Tränen vom Schneiden der Zwiebel – wie auch die Erzählerin zu Anfang des Films anmerkt: „Das Schlimme beim Zwiebeln hacken ist nicht einfach bloß, dass man anfängt zu weinen, sondern dass man anfängt zu weinen und dann nicht mehr aufhören kann.“ Die Aufnahme bestimmter Lebensmittel führt also bereits infolge rein physiologischer Abläufe zu Reaktionen, die mit emotionalen Zuständen (die sich ihrerseits an mit Sinn belegten Körperreaktionen zeigen) zumindest verwechselt werden können. Vorstellungen einer aphrodisierenden Wirkung bestimmter Substanzen verdanken sich deshalb nicht zuletzt einer Verwechslung zwischen emotional indifferenten Körperreaktionen und solchen, die durch sexuelle Erregung hervorgerufen werden. In vielen Bereichen findet sich die Idee von Kausalketten, die Körper und Geist verbinden – beispielsweise in der Pharmakologie, der biologisch orientierten Psychologie, aber eben auch im Bereich der Ernährung.3 Der Einfluss bestimmter Nahrungsmittel auf die Psyche wird in Bittersüße Schokolade beispielsweise wie folgt beschrieben: „Suppen sind geeignet, jegliche Krankheit körperlicher oder geistiger Art zu heilen. Na ja, Chencha schwor jedenfalls darauf. Und nun konnte auch Tita, die das lange Zeit angezweifelt hatte, nicht mehr umhin, dieser Wahrheit Glauben zu schenken. Denn an dem Tag, an dem sie von der Ochsenschwanzsuppe kostete, fand sie ihren Verstand wieder.“

Auch Liebe geht umgangssprachlich durch den Magen – Liebeskummer wiederum schlägt darauf oder kann durch die richtige Mahlzeit zur richtigen Zeit wenigstens gelindert werden, so wie es die Köchin Nacha Tita an einer Stelle des Films vorschlägt: „Iss, mein Mädchen! Etwas im Magen hilft den Kummer verjagen.“ Das Gefühl als physisch verankertes lässt sich also auf vielfältige Weise mit der Aufnahme von Nahrungsmitteln in Verbindung bringen. Betrachtet man Emotionen von weniger biologischen Ansätzen her und lenkt das Augenmerk damit hin zum Aspekt des Körpers als Ressource, auf die Individuen in emotionsgeladenen Situationen zurückgreifen, so interessiert hier vor allem ihr Beitrag zur – häufig non-verbalen – Strukturierung sozialer Situationen (vgl. Scherke 2009: 65). Durch die Reduzierung möglicher Sinnstiftungen innerhalb zwischenmenschlicher Interaktionen ermöglichen es Emotionen, dass unwahrschein-

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Siehe dazu beispielsweise die Übersicht über Nährstoffe und ihre Auswirkungen auf die Stimmung bei Fehrmann 2002: 126ff.

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liche Kommunikationen wahrscheinlicher werden,4 stellen damit schwer zu hinterfragende Voraussetzungen sozialer Interaktionen dar und ermöglichen dadurch erst alltägliche Abläufe. So führt beispielsweise Freundschaft zur Gewährung bestimmter „Vorschussleistungen“ wie Vertrauen oder Mutterliebe zur Versorgung der Kinder.5 Diese längerfristigen Emotionen, die soziale Strukturen nicht nur beeinflussen oder festigen, sondern darüber hinaus sogar erst hervorbringen, werden im Modell der Ritual Interaction Chains nach Randall Collins vor allem im Rahmen von Ritualen erzeugt. „Hierfür müssen sich mindestens zwei Menschen in unmittelbarer physischer Gegenwart befinden, ihre Aufmerksamkeit auf ein gleiches Objekt oder eine gemeinsame Tätigkeit richten und sich dieser gemeinsamen Ausrichtung schließlich bewusst werden.“ (Scherke 2009: 68) Auch hier finden sich Bezüge zum Bereich der Ernährung. Das gemeinsame Essen ist nicht ohne Grund in allen Kulturen ein fester Bestandteil. Schon Georg Simmel hat darauf hingewiesen, dass Gefühle zwar einerseits individualpsychologische Motive darstellen, diesem höchst-individuellen jedoch andererseits die Fähigkeit zufällt, Individuen miteinander zu verbinden (vgl. Simmel 1999 [zuerst 1908]: 651). Ähnliches gilt für das Ritual der Mahlzeit: Obwohl es

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Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass umgekehrt bestimmte Emotionen selten im luftleeren Raum entstehen, sondern ihrerseits Ergebnis bestimmter Kommunikationen sind. Eine Eigenschaft, die in einem Francois de La Rochefoucauld zugeschriebenen Ausspruch bereits deutlich formuliert wird: „Manche Menschen würden sich nie verlieben, wenn nicht soviel von der Liebe die Rede wäre.“ Dass sich ein bestimmter Code ausdifferenziert hat und nun vorhanden und bekannt zu sein scheint, lädt dazu ein, ihn auch zu benutzen. Oder wie Luhmann an einer Stelle in Die Gesellschaft der Gesellschaft schreibt: „[M]an hat Romane gelesen und weiß, was Liebe ist. Es kommt dann nur noch darauf an, die Person zu finden, an der das Gefühl sich kristallisieren kann.“ (Luhmann 1998: 483)

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Der Zusammenhang zwischen Ernährung und mütterlicher Fürsorge ist in Bittersüße Schokolade ebenfalls ein zentrales Motiv. Nicht nur das Verhältnis zwischen Tita und ihrer eigenen Mutter bietet vielerlei Hinweise in diese Richtung, auch Titas Beziehung zu den Kindern der Familie spricht Bände: „Wenn es etwas gab, das Tita nicht ertragen konnte, dann war es, ein lebloses Wesen vor Hunger weinen zu hören. Sofort verspürte sie den Impuls, dieses Bedürfnis zu stillen. Und da sie es so innig wünschte, geschah das Wunder, dass sie mit ihrer jungfräulichen Brust ihren Neffen ernähren konnte.“ Als das Kind von Tita getrennt wird, stirbt es kurze Zeit später an einer Nahrungsmittelvergiftung. Auch die Küche als ein heimeliger Ort, in dessen Wärme und Geruch sich die Kleinkinder der Familie wohlfühlen, ist ein wiederkehrendes Thema.

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schlechterdings ausgeschlossen ist, dasselbe zu essen, sondern immer nur der Verzehr exklusiver Portionen möglich ist, ist es dennoch das gemeinsame Mahl, dessen unermessliche soziologische Bedeutung in seiner sozialisierenden Kraft liegt. „Wie zu Zeiten der Urgesellschaften entsteht Verwandtschaft immer noch durch das Essen aus einer gemeinsamen Suppenschüssel, dadurch, dass man Tag für Tag die Nahrung miteinander teilt.“ (Kaufmann 2006: 329) Hierbei kommt es weniger auf den Geschmack einer Speise an, als vielmehr auf die Situation, in der sie zu sich genommen wird. Sogar Revolutionen wären eben weniger übel, wenn man jeden Tag bei seiner Familie essen könnte, wie Gertrudis im Film etwas überspitzt feststellt. Überträgt man Collins’ Vorstellung eines „rhythmic entrainment“ (also einer „Ausübung gleicher Verhaltensweisen sowie über physiologische Prozesse entstehendes Einschwingen der Stimmungen der Beteiligten im Rahmen eines erfolgreich ausgeführten Rituals“ [Scherke 2009: 68]) auf gemeinsam eingenommene Mahlzeiten, wie sie in Bittersüße Schokolade an der Tagesordnung sind, so verlieren deren emotionale Wirkungen bereits an Rätselhaftigkeit. Beispiele für mehr oder weniger ritualisierte Esssituationen, die – außerhalb des Films – eine ähnliche „Gleichschaltung“6 von Emotionen bewirken sollen, lassen sich viele finden: sei es der Leichenschmaus, die Hochzeitstafel, das Essen mit Freunden oder eben das gemeinsame Dinner eines Liebespaars. Letzteres wird nun in den folgenden Abschnitten mit Rückgriff auf einen Liebesbegriff beleuchtet, der weniger auf körperliche Reaktionen rekurriert oder auf die erwähnten Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele, sondern in dem Liebe als ein Kommunikationsmedium aufgefasst wird, welches mit Sinneseindrücken und Trieben höchstens mittelbar zusammenhängt.

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Siehe zur Gleichschaltung von Emotionen mittels Kommunikation auch Simon (2004: 122), der als Beispiel unter anderem den gemeinsamen Besuch eines Kinofilms nennt.

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E RNÄHRUNG „Es sah so aus, als habe sich in einem unbegreiflichen, alchemistischen Prozess nicht nur Titas Blut, sondern ihr ganzes Wesen in der Rosenblütensauce, den Wachteln, im Wein und in jedem einzelnen Aroma der Speise aufgelöst. Auf diese Weise drang sie in Pedros Körper ein, wollüstig, wohlriechend, hitzig, und durch und durch sinnlich.“ ERZÄHLERIN IN BITTERSÜSSE SCHOKOLADE

Die Herausbildung von Liebesverhältnissen und Intimbeziehungen bedarf zwar einerseits der Kommunikation, andererseits jedoch stoßen die Beteiligten in der Regel auf „prinzipielle Schranken der Kommunizierbarkeit“ (Luhmann 1982: 154). Diese Inkommunikabilität widerspricht der Vorstellung von Intimität nicht, sondern sie entspricht ihr geradezu, und der Kontext der Ernährung bietet sich für eine Untersuchung der möglichen Kandidaten indirekter Kommunikation an. „Ich fand immer, dass ich zuviel fühle, um es ausdrücken zu können“, entgegnete Schillers Braut auf dessen Heiratsantrag (zitiert nach Fuchs 2004: 89). Da Worte selbst dort, wo sie nicht zur Routine erstarren oder ihre Verwendung sonstige Fallstricke bereithält, per se nicht ausreichen, um wahrgenommene Emotionen zu vermitteln, erfüllt das Kochen hier die Funktion einer „Ersatzsprache der Liebe, die zudem noch nicht nur oder nur wenig als solche begriffen wird“ (Kaufmann 2006: 306). Im Film gebraucht Tita das Kochen als Medium, um ihre Gefühle zu kommunizieren und mit dem unerreichbaren Pedro gleichsam eine Form von Intimität auf Distanz herzustellen. Das Heraufbeschwören von Leidenschaften durch Sinneseindrücke wird von Titas Verehrer John expliziert: „Die Kerzenflamme könnte für uns alles mögliche sein. Eine Melodie oder aber ein Wort, Zärtlichkeit, ein Klang, einfach irgendetwas. Irgendetwas, das den Zündkopf entfacht und dadurch eines der Streichhölzer in Brand setzt.“ Oder eben ein spezifischer Geschmack. Viel interessanter als die Betrachtung jener sensorischen Reize und Sinneseindrücke ist aus einer soziologischen Perspektive jedoch, wie mittels des Gebrauchs bestimmter Nahrungsmittel in Übereinstimmung mit einem Kommunikations- und Verhaltenscode eine Übermittlung von Gefühlen stattfindet. Derart sind die Mahlzeiten, die Tita zubereitet, um ihren Emotionen bewusst oder unbewusst Ausdruck zu verleihen, nicht länger nur Wachteln oder Eintopf, sondern im Sinne Kaufmanns transzendiert (vgl. Kaufmann 2006: 234). Oder in An-

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lehnung an Luhmann (1982: 44) formuliert: Liebe muss an der Zubereitung der Speise ablesbar sein, darf aber zugleich nicht in diesem Ereignis allein bestehen. Wenn Kaufmann (2006: 304) schreibt, dass durch die „Zauberkraft des Kochens […] die Liebe manchmal auf sehr konkrete Weise geformt [wird], zwischen dem Zwiebelschälen und dem Kneten des Teiges mit den Händen“, dann dient das Kochen und sein Ergebnis als diesseitiger Anker für ein weder greifbares noch kommunikables Gefühl. Der Speise wohnt ein Zeichencharakter im Sinne Roland Barthes’ inne, durch den beispielsweise ein Glas Champagner je nach Kontext das erotische Verhältnis zweier Menschen (Rendezvous) markiert, deren Einverständnis (Vertragsabschluss), Freude (bestandene Prüfung) oder Feierlichkeit (Fest) (vgl. Barlösius 1999: 94). Drei Szenen sind es nun, in denen Tita in dieser Weise ihre Gefühle überträgt: an der Hochzeit ihrer Schwester die Trauer auf die Gäste; beim Abendessen ihre erotischen Gefühle auf Pedro, Gertrudis und ihre Mutter sowie schließlich nach dem Streitgespräch mit ihrer Schwester ihren Ärger auf Rosaura. Zentral für den Kontext der Liebeskommunikation ist dabei vor allem die zweite Szene, in der Tita unter Zunahme der von Pedro geschenkten Rosen und in der dadurch ausgelösten Stimmung Wachteln in Rosenblättern für das Abendessen mit der Familie zubereitet (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Die Übertragung von Titas Stimmung auf ihre Familie während des Abendessens

Quelle: DVD Bittersüße Schokolade, im Vertrieb von Ascot Elite

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Diese erregte Gefühlslage, die sich im Film deutlich in der Inszenierung der Zubereitung in der Küche niederschlägt, erfasst beim späteren Dinner unmittelbar die Gäste, welche bereits beim ersten Bissen der mit Liebe zubereiteten Wachteln Anzeichen ähnlicher Stimmung zeigen. Während die Mutter konsterniert Übelkeit bekundet (wenngleich die analoge Kommunikation ihres Körpers anderes verrät), erliegt Gertrudis einer diffusen, an keine Person gebundenen Leidenschaft, einem „überwältigenden Verlangen, so schnell wie möglich an einem nicht näher bestimmten Ort nach etwas Unbekanntem zu suchen.“ Im Falle Pedros gelingt es jedoch, Leidenschaft und sexuelles Verlangen an die Köchin persönlich zu binden. Das Hinausgehen über das Beobachtbare (in diesem Fall: das geschmacklich Erfassbare), um das es in der Kommunikation von amourösen Gefühlen immer gehen muss, führt zu einem Überwinden objektiver Indikatoren für Liebe und zu einer Personalisierung dieser Emotion. „Das Medium bedient sich der Person“ (Luhmann 1982: 28), und zwar in diesem Falle explizit der Köchin Tita. Wo die Übertragung der Gefühle in Bittersüße Schokolade allerdings stets etwas Übernatürliches an sich zu haben scheint, ist es in realen Situationen, in denen diese Magie nicht zur Verfügung steht, bereits die Verwendung eines besonderen symbolischen Codes („Liebe“), der zur Bildung entsprechender Gefühle ermutigt. Die Zubereitung von Speisen in einem bestimmten Kontext also, beispielsweise das Kochen und Anrichten eines romantischen Abendessens, entspricht diesem symbolischen Code und führt in der Realität auch ohne Titas mysteriöse Fähigkeiten zur beabsichtigten „Steigerung der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen“ (Luhmann 1982: 10). Einem Gast, der Titas Speisen lobt, antwortet sie: „Das eigentliche Geheimnis des Rezepts besteht darin: Die Zubereitung muss mit sehr viel Liebe erfolgen.“ Sowohl Zubereitung, Esssituation als auch das Lebensmittel selber lassen sich in diese Welt einbinden.7 Das abstrakte und inkommunikable Gefühl durchzieht also einerseits den Dunst in der Küche, andererseits den Kerzenschein bei Tisch und kondensiert darüber hinaus auch in der Speise selbst, deren Geschmack als Ergebnis der Bemühungen des Kochs vom umworbenen Gast lesbar wird, und zwar in Bezug auf die der Liebe zugrundeliegenden Differenz von 1. Handeln in Bezug auf Eigeninteresse (des Kochs) und 2. Handeln in Bezug auf das Interesse anderer (des Essers). Aus diesem Grunde ist auch das Mahl, das der Koch sich ohnehin zuberei-

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Zur besonderen Rolle der Esssituation und der dabei stattfindenden Gespräche siehe den Beitrag von Junge (2008), der unter Rückgriff auf Luhmanns Konzeption von Liebe den Sketch Das Ei von Loriot analysiert.

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tet hätte (vielleicht sogar aus Hunger!), zur Vermittlung von Liebe und Romantik um einiges weniger geeignet als das, welches rein zu Ehren der Umworbenen veranstaltet wird. Der Frau nur etwas „abzugeben“ mag diese zwar sättigen und ihr Geschmackserlebnisse bescheren, genügt aber wohl kaum den Ansprüchen des Kommunikationsmediums Liebe. Nur im expliziten Bezug auf die geliebte Person lässt es sich auf eine Weise kochen, deren Ergebnis dem Beziehungsaspekt8 zugeordnet werden kann und die es erlaubt, neben dem Dass und dem Wie der Zubereitung und Präsentation sogar noch den Geschmack des Ergebnisses vor dem Hintergrund der Beziehung wahrzunehmen und zu verorten. Isst man zu zweit, ist es nicht mehr möglich, einfach nur irgendwann irgendwas zu essen, jedenfalls nicht, sofern hier die längerfristigen, soziale Strukturen bildenden Emotionen im Sinne Collins entstehen sollen (siehe vorheriger Abschnitt). Die Liebe des Kochs besteht in der Überschreitung seiner Gewohnheiten und Interessen, die unter Umständen sogar noch wiederholt werden müssen, ohne die Merkmale der Wiederholung anzunehmen und so an Würze zu verlieren.9 Die Ersatzsprache muss ihrerseits davor bewahrt werden, zur Routine zu erstarren. Innerhalb von Intimbeziehungen – auch solchen, die in der Entstehung begriffen sind – wird jede Situation „zum Test auf die Frage: handelt er [der Partner, G.F.] so, dass er meine Welt zu Grunde legt?“ (Luhmann 1982: 42) Pedro jedenfalls gelingt diese Zuschreibung offenbar problemlos, so dass er in den Wachteln die Handschrift Titas zu erkennen vermag und entsprechend reagiert – die gemeinsame Geschichte der beiden kommt endgültig in Gang. Diese Erwartungshaltung auf Seiten des Essers ist wichtig, da es nicht leicht ist, „ohne Gegenliebe zu lieben“ (Kaufmann 2006: 232). Der „unbegreifliche, alchemistische Prozess“, der (vor allem) Pedro die Vorstellung erlaubt, dass sich Titas „ganzes Wesen in der Rosenblütensauce, den Wachteln, dem Wein und in jedem einzelnen Aroma der Speise aufgelöst“ habe, ist in Wahrheit nichts anderes als die Illusion einer „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“ (Luhmann 1982: 30), wie in Liebe als Passion an einer Stelle das

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Siehe bezüglich des Beziehungs- und Inhaltsaspekts im allgemeinen Watzlawick (1969: 53ff.), und im speziellen auf die Ernährung und das Kochen bezogen Kaufmann (2006: 308): „Hinter der kleinsten Tomate geht es immer um eine Option bezüglich der Beziehung. Die Wahl, die der Küchenchef trifft, verrät etwas über den Zustand seines emotionalen Engagements.“ (Kaufmann 308)

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Schließlich sind es schon Simmel (1999 [zuerst 1908]: 103f.) zufolge besonders dyadische Beziehungen (Liebe, Freundschaft, Ehe), die besondere Gefahr laufen, durch die Last von Alltag und Trivialität gleichsam „farblos“ zu werden.

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Leitmotiv der Liebe beschrieben wird. Im Falle dieser speziellen Szene zeigt sich dieser internalisierte Weltbezug nicht nur durch den gelungenen Versuch, das Gericht entsprechend der erwarteten Geschmackspräferenzen der Esser zuzubereiten, sondern darüber hinaus besonders durch die Auswahl der Zutaten in direktem Bezug zu Pedro, nämlich durch die Verwendung der von ihm überreichten Rosen. Die Selektion der Zutaten ist es, die für Kaufmann zu den „permanenten Entscheidungen“ des Kochs zählen (Kaufmann 2006: 223), durch die Daniel Miller zufolge „die Liebe beim Einkaufen Gestalt annimmt“ (Miller 1998, zitiert nach Kaufmann 2006: 308) und die sich ebenso in Relation zur „laufende[n] Mitbeachtung des Partners in allen Lebenslagen“ (Luhmann 1982: 25) deuten lassen, in der sich die Liebe zeigt. Dies gilt natürlich vor allem in einer Welt, die eine hinreichend große Vielfalt an Zutaten und kulinarischer Komplexität bietet, so dass der Auswahl ein Sinn zugeschrieben werden kann. All diese Parallelen zwischen romantischer Liebe und Ernährung verweisen nur lose auf den Körper und funktionieren relativ unabhängig von den wie auch immer gearteten Kausalketten, die Körper und Geist verbinden. Sie stellen damit lediglich entfernte Verwandte jener weniger mittelbaren sensorischen Prozesse dar, die beispielsweise Marcel in der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack von Madeleines mit Lindenblütentee zu erleben scheint: „In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.“ (Proust 2000: 63; vgl. zum Aspekt der Lebensmittelsensorik in diesem speziellen Fall Dürrschmid 2006) Solche direkten Ursache-WirkungsZusammenhänge stehen bei dem bis hierhin behandelten Kommunikationscode im Hintergrund. Bei der explizit körperlichen Form der Liebe sieht es da unter Umständen schon anders aus. Dass Kaufmann (2006: 231) zufolge im leidenschaftlichen Kochen „Körper und Geist von einer einzigen Gewissheit ergriffen“ werden, bietet sich geradezu für eine Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Essen und der körperlichen Sexualität an, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen werden wird.

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E RNÄHRUNG „Es war, als hätten sie eine neue Art der Verständigung gefunden, darin war Tita der Sender, Pedro der Empfänger, und Gertrudis die glückliche Nutznießerin jenes wundersamen Geschlechtsaktes, der sich über das Essen vollzog.“ ERZÄHLERIN IN BITTERSÜSSE SCHOKOLADE

Die Verbindungen zwischen Ernährung und Libido werden seit der Antike beschrieben und in unterschiedlichen Kunstgattungen aufgegriffen, beispielsweise im Rahmen der Darstellung antiker Orgien, bei denen Essen, Trinken und Sexualität zusammenfallen (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 151 sowie Grimm 2007: 71) oder auch in einer Vielzahl von moderneren Werken wie 9 ½ Wochen oder Das große Fressen. Dabei reicht diese Verbindung von der Behauptung potenzsteigernder Wirkungen über die symbolträchtige Aufladung bestimmter Formen von Obst und Gemüse10 bis hin zur Analogie von Trennung und Verschmelzung, die sowohl in der Sexualität als auch in der Ernährung eine Rolle spielt (vgl. Prahl/Setzwein 1999: 151f.). Auch in Bittersüße Schokolade bildet dieser Zusammenhang einen zentralen Gegenstand. Der Vorzug der Sexualität im Hinblick auf die beschriebene Inkommunikabilität von Emotionen, den sich in gewisser Weise auch das gemeinsame Dinner zu Eigen macht, ist, dass „in einem Maße, das sonst kaum erreichbar ist, unterstellt werden [kann], dass das eigene Erleben auch das des Partners ist.“ (Luhmann 1982: 33; vgl. auch Luhmann 2008: 46f.) Dort, wo nicht nur gemeinsam am selben Ort gespeist wird, sondern darüber hinaus auch das gleiche auf den Tisch kommt, kann das eigene Geschmackserleben auch dem Partner zugeschrieben werden. Diese Form nonverbaler Kommunikation führt in ein erstes „Schonverständigtsein“, das prinzipiell unhinterfragbar ist. Ähnlich wie Sexualität kann das gemeinsame Erleben geschmacklicher Reize also einen Hintergrund bereithalten, an den spätere Kommunikation entlang des sozialen Codes „Liebe“ anknüpfen kann. Eine Funktion der bereits angeführten Interaktionsrituale, die laut Collins das gemeinsame Erleben institutionalisieren, besteht in der langfristigen und über die Dauer des Rituals hinausreichenden Verstärkung der emotionalen Energie der Beteiligten, womit gemeint ist: „a feeling of confidence, elation, strength, enthu-

10 Siehe dazu beispielsweise Gerlach (2009: 46ff.), die entsprechende Analogien am Beispiel der Kirsche verdeutlicht.

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siasm, and initiative in taking action“ (zit. nach Scherke 2009: 68). Besser kann man die Stimmung der Gäste im Film – allen voran der Schwester – nach dem Verspeisen der Wachteln nicht beschreiben. Gertrudis, die im Rahmen des Versuchs Titas, Pedro ihre Leidenschaft mitzuteilen, gewissermaßen die Rolle des Parasiten im Sinne von Michel Serres’ Kommunikationstheorie (Serres 1987) einnimmt, wird von der für sie unpersonalisierbaren emotionalen Energie in die Arme eines Revolutionärs getrieben und fungiert dafür im späteren Verlauf als Joker (ebenfalls im Sinne Serres’), der die Handlung und die Liebesgeschichte vorantreibt. Das von Tita bereitete Abendessen, an dem zu viele Gäste teilnehmen, um der klassischen Vorstellung zu genügen, „daß Liebe eine Zweierbeziehung ist, die sich als solche aus der Welt ausgrenzt“ (Luhmann 2000: 149), und das die Geometrie der Gefühle damit in eine ordentliche Schieflage bringt, übernimmt im Fall von Gertrudis die Funktion eines Katalysators und gibt ihr genügend Antriebsenergie mit auf den Weg, um sexuell aktiv zu werden und ihre eigene Liebesgeschichte in eine erfolgreiche zu verwandeln. Ein weiterer, im Film angedeuteter Zusammenhang zwischen den Aktivitäten in Schlafzimmer und Küche ist der des technischen Vermögens. Nach einer ersten, eher leidenschaftslosen sexuellen Begegnung der frischen Eheleute Pedro und Rosaura beginnt jene den nächsten Tag mit einem beschwingten ersten Kochversuch. Dieses doppelte erste Mal stößt auf eher verhaltene Resonanz. Auf die Anmerkung der Mutter: „Es war das erste Mal, das Rosaura gekocht hat, und ich finde, dafür war’s nicht schlecht. Was meinen Sie, Pedro?“ antwortet ein ernüchterter Pedro: „Nein, fürs erste Mal war es gar nicht so schlecht…“ In seiner Rolle als „letzter Referenzpunkt für die Liebe“ (Junge 2008: 144) kann der Körper durchaus in den Mittelpunkt rücken. In den grundlegenden Fähigkeiten zur nonverbalen Kommunikation, die einen großen Beitrag zum besagten Schonverständigtsein leisten, auf das die Liebe so sehr angewiesen ist, findet sich die Überschneidung zwischen taktilen Reizen aus dem Bereich der Sexualität einerseits und den hier beschriebenen gustatorischen Reizen andererseits. „[D]ie nichtsprachliche Kommunikation der körperlichen Berührung [hier: des Geschmackssinns, G.F.] bietet einen wichtigen nichtlogischen Interpretationshorizont für sprachliche Mitteilungen; sie bietet die Möglichkeit eines Unterlaufens und Ergänzens der Sprache, einer konkretisierenden Interpretation des gesprochenen Wortes auf das hin, was sich an ihm an Meinungen und Absichten zeigt.“ (Luhmann 1982: 33f.)

Eben jene Ergänzungen der Sprache, auf die Tita in einer Situation, in der ihre Gefühle nicht verbal kommuniziert werden dürfen, zurückgreifen muss, sind es, die erst den Weg für die gemeinsame Liebesgeschichte zwischen Pedro und ihr

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und damit letztlich für die Aufnahme einer dauerhaften körperlichen Beziehung bereiten.

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M ESSAGE „Wenn etwas schwer über die Lippen zu bringen ist, können Hände, die beim Kochen geschäftig sind, Botschaften senden, kann durch die Erregung von Verlangen und den Austausch von Freude kommuniziert werden.“ KAUFMANN 2006: 304

Dort, wo zu viel gefühlt wird, um es in Worten auszudrücken, muss die Darstellung der Gefühle auf anderen Wegen erfolgen. Das Kochen mit Liebe, so lässt sich in Anlehnung an das diesem Beitrag vorangestellte Zitat Roland Barthes’ formulieren, transformiert die „in der größtmöglichen Erregung gesuchten, ausgewählten und gekauften“ Zutaten in ein Ergebnis, das zugleich essbar wie lesbar ist. Lesbar im Hinblick auf den Koch, der sich und sein Wesen zur Gänze hineinversetzt (Barthes), lesbar im Hinblick auf dessen individual-psychologische Motive (Simmel) und lesbar im Hinblick auf eine Internalisierung des Weltbezugs des anderen (Luhmann). In der wundersamen Übertragung der Gefühle, die Tita beim Zubereiten des Essens in der Küche empfindet – mal auf eine Hochzeitsgesellschaft, mal auf den Mann, in den sie unglücklich verliebt ist, mal auf ihre Familie –, findet sich bei aller Übertreibung das berühmtberüchtigte Körnchen Wahrheit. Der Bereich der Ernährung bietet ein weites Feld, Liebe und mit ihr verwandte Emotionen zu kommunizieren, darzustellen und – wo die übersinnliche Hilfe fehlt, die in Bittersüße Schokolade ein beinahe störungsfreies Übertragen zwischen Sender und Empfänger ermöglicht – zu ihrer Übernahme doch wenigstens zu ermutigen. Der Koch kann seinen Gefühlen Ausdruck verleihen, der Gast ebenso. In Interaktionsritualen rund um den Esstisch und die Küche wird ein soziales Umfeld geschaffen für „die angestrengte Beobachtung des anderen auf jedes Zeichen hin, das er (absichtlich oder unabsichtlich) gibt als Hinweis auf eine Möglichkeit, ihm ein Zeichen der Liebe zu geben“ (Luhmann 1982: 44). Wie jede Kommunikation schafft es auch diejenige aus dem Bereich der Ernährung, Informationen zu verdoppeln – im Hinblick auf das, „was sie in der allgemeinen, anonym konstituierten Welt, und das, was sie für Dich, für uns, für unsere Welt bedeuten“ (ebd.: 25). Die Mahlzeit ist mitunter die Botschaft, und sie ermöglicht es der Liebe, sprichwörtlich durch den Magen

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zu gehen. Letztlich bleiben es aber die ebenfalls am Tisch anwesenden Ohren, Augen und Sprachorgane, die den wohl größten Beitrag bei der Herausbildung von Liebesverhältnissen leisten. Bei der Kommunikation von Emotionen im Kontext der Ernährung, also im Kontext eines „sinnlichen“ Geschmackserlebnisses, muss man die folgenden Sätze Niklas Luhmanns (1982: 156) nahezu als eine Art Warnung verstehen: „Es kann […] Sinnerleben geben, das sich nicht kommunizieren läßt, weil die Behauptung einer Differenz von Mitteilung und Information sich in Bezug auf diesen Sinn selbst zerstört. Bildlich gesprochen, kann die Mitteilung nicht kühl bleiben, wenn die Information zu heiß ist.“ Das Umsichgreifen der Flammen, in denen Tita und Pedro schließlich ihr Ende finden, erscheint dann beinahe als logische Konsequenz.

L ITERATUR Barlösius, E. (1999): Soziologie des Essens: eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. Weinheim und München: Juventa. Barthes, R. (1988): Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Dürrschmid, K. (2006): Zur Sensorik von Madeleines und Tee. In: Hagen, K. (Hrsg.): „Ein unerhörtes Glücksgefühl…“ Von der Kunst des Genießens bei Marcel Proust. Beiträge des gleichnamigen Symposions in Hamburg im November 2005. Frankfurt am Main. u.a.: Insel-Verlag. Fehrmann, S. (2002): Die Psyche isst mit. Wie sich Ernährung und Psyche beeinflussen. München: Foitzick. Flam, H. (2002): Soziologie der Emotionen. Konstanz: UVK. Fuchs, P. (2004): Wer hat wozu und wieso überhaupt Gefühle? In: Soziale Systeme 10(1), S. 89-110. Gerlach, A. (2009): Die symbolische Bedeutung der Kirsche. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Uni-Kassel. Im Internet unter: http://www.uni-kassel.de/ fb11/nue/documents/diplom_annika_gerlach.pdf. Grimm, V. (2007): Zum leckerbereiteten Mahl. Geschmack in der Antike. In: Freedman, P.: Essen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 6398. Junge, M. (2008): Mit Loriot zu Luhmanns systemtheoretischer Konzeption von Liebe. In: Niekrenz, Y./Villányi, D. (Hrsg.): Liebeserklärungen. Intimbeziehungen aus soziologischer Perspektive. Wiesbaden: VS Verlag, S. 136-146.

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Eine ganz besondere Gewürzmischung Zimt und Koriander (2003) / Regie: Tasso Boulmetis B ENEDIKT J AHNKE

V ORSPEISE „Die Vorspeisen sind wie der Anfang einer Geschichte, die von einer Reise berichtet. Die verschiedenen Gewürze und Aromen verführen die Sinne und bereiten einen auf das Abenteuer der Reise vor. Damit der Reisende auch heil zurückkommt, ist in dem griechischen Wort für Rückkehr das Wort Essen versteckt.“ ZIMT UND KORIANDER

Wo ist der Koriander? Im gesamten Film wird das Gewürz nicht ein einziges Mal genannt. Auch andere typische Zutaten aus der griechischen Küche sucht man vergeblich. Es wird weder Gyros, Souvlaki noch Bifteki mit Tsatsiki verspeist, noch nicht mal ein Ouzo wird getrunken. Dafür aber gibt es jede Menge Zimt. Zimt ist das zentrale Gewürz des Films, in dem die Geschichte des griechischen Astrophysikers Fanis erzählt wird, der sich nach über 30 Jahren auf die Suche nach seiner Identität begibt. Als Kind aus Istanbul vertrieben, lebt und arbeitet er in der griechischen Hauptstadt Athen, ohne aber jemals seine Heimat vergessen zu können – allem voran seinen Großvater und das Mädchen Saime, die große Liebe aus Kindertagen. Der Duft der Vergangenheit und vor allem der des Zimts hängen ihm sozusagen noch immer in der Nase. Schuld daran ist sein Großvater, der Gewürzhändler in Istanbul war und bei dem er seine ersten Lehrstunden in Sachen Gewürze bekam:

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Goßvater: „Manchmal muss man die falschen Gewürze verwenden, wenn man etwas Bestimmtes erreichen möchte. Nimm etwas anderes als sonst. Kreuzkümmel ist ein wirklich starkes Gewürz. Es sorgt dafür, dass die Leute sich verschließen. Zimt hingegen macht sie weich. Er sorgt dafür, dass die Menschen sich in die Augen sehen.“

Dass es sich hierbei um einen Rezeptvorschlag für die Zubereitung von Hackbällchen handelt, mag allen Kocherfahrenen nicht im ersten Moment in den Sinn kommen, schließlich weiß man doch, dass an Hackbällchen ganz sicher kein Zimt gehört. Aber ebenso gut kann man fragen, was der routinierte Kenner zu Gulasch, abgeschmeckt mit Kardamom und Kreuzkümmel, sagt, so wie es Konrad Geiger, Spitzenkoch aus München, in einem Artikel der Zeitung Die Welt vorschlägt. Er nennt diese untypische Würzkombination „crossover kitchen“ und gehört damit jenem Kreis von Köchen an, die ganz bewusst mit dem Traditionellen zu brechen versuchen, um Neues zu schaffen (Thieme 2009). Gehört der Großvater mit seiner Idee, Zimt in die Hackbällchen zu tun, damit zu den Vordenkern dieses experimentellen, transkulinarischen Küchenstils oder war sein Ziel nicht vielmehr, ein Überraschungsmoment zu kreieren, das die Aufmerksamkeit aller Essenden weckt? Woher weiß man überhaupt, ob ein Gewürz richtig oder fehl am Platz ist und wer entscheidet über die angemessene Verwendung? In Helene Karmasins Buch Die geheimen Botschaften unserer Speisen wird ausgeführt, dass zum richtigen Würzen ein „individuelles Können“ und ein „gemeinsames Wissen“ von Nöten sind (Karmasin 1999: 61). Auf der einen Seite versucht der Koch beziehungsweise die Köchin, den Speisen durch die Kombination der Gewürze eine individuelle Note zu geben. Auf der anderen Seite verfügt jede Küche über „einheitliche Würzstandards“ (ebd.: 61), an die man sich zu halten hat, will man nicht mit der Tradition dieser Küche brechen und sich damit ins Abseits stellen. Das Würzen der Speisen ist somit eine Gratwanderung zwischen Individualität und Anpassung an die Erwartungen der Gesellschaft, zwischen Distinktion und Nachahmung. Die beschriebene Dialektik von Zimt in Fleischbällchen wird im Film mehrmals wieder aufgegriffen. So erhitzt in einer Szene der Geruch des Zimts beim Kochen der Fleischbällchen die Gemüter der Eltern von Fanis derart, dass sie einen heftigen Streit beginnen. Ebenfalls zum Auslöser eines Konflikts wird der Zimt am Ende des Films, als Mustafa, der Ehemann von Saime, den Geschmack von Zimt in den Fleischbällchen wahrnimmt und sofort versteht, dass es sich dabei um einen Verführungsversuch seiner Frau durch Fanis handelt. Als einstiger Spielkamarad Fanis’ und als solcher ein häufiger Gast im Hause des Großvaters, ist er ebenfalls mit der geheimen Botschaft des Zimts vertraut. Als Kind bekam Fanis von seinem Großvater gelehrt, dass Zimt „bitter und süß“ zugleich sei und damit den Frauen gleiche.

E INE GANZ

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Zurück zum Koriander. Warum wählte man Koriander für den Titel dieses Filmes, wo er doch in der Handlung gar keine Rolle spielt? Auch im englischen Titel „A Touch of Spice“ oder im Originaltitel in griechischer Sprache „ȆȠȜȓIJȚțȘ ȀȠȣȗȓȞĮ – Politiki kouzina“ findet Koriander keine Erwähnung. Es scheint fast so, als ob man bei der Übersetzung ins Deutsche nicht gewillt war, viel Aufwand bei der Suche nach einem gleichermaßen passenden wie aussagekräftigen Titel zu betreiben. Vergleicht man ihn nämlich mit dem griechischen Original, dann zeigt sich, dass dort schon im Titel auf die Kernelemente des Films Bezug genommen wird. Je nach Betonung der Silben variiert der Titel zwischen „konstantinopolitanische Küche“ und „politischer Küche“ (Boulmetis 2009). Es geht also in diesem Film um Kochen und um Politik – und ganz besonders um die Verbindung zwischen beidem. Ein Zitat aus dem Film verdeutlicht dies: „Unsere Küche ist eine politische Küche, weil sie von Menschen gepflegt wird, die aus dem Mittelpunkt ihres Lebens herausgerissen und verpflanzt wurden.“ Hinter dieser Aussage steht das Schicksal, das vielen griechischen Staatsbürgern widerfuhr, die in der Türkei lebten und aufgrund der Spannungen zwischen beiden Staaten um die Insel Zypern des Landes verwiesen wurden. Abbildung 1: Eine Küche zum Abschied

Quelle: DVD Zimt und Koriander, im Vetrieb von Alamode Film

Im Jahr 1964 zwang man 12.000 Griechen, die Stadt Istanbul binnen weniger Tage zu verlassen – im Film sind auch Fanis und seine Familie unter ihnen. Mitnehmen dürfen sie nicht viel, nur wenig Handgepäck und Geld im Wert von 22 Dollar (Istanbul Post 2001). Fanis erlaubt man allerdings, darüber hinaus eine kleine, aber dennoch funktionsfähige Spielzeugküche mitzunehmen, die er noch am Bahnhof von seiner Freundin Saime geschenkt bekommt (vgl. Abb. 1). In den Folgejahren entwickelt sich diese Mini-Küche zum einzigen Halt in Fanis neuem Leben in Athen. Sie schafft eine geistige Verbindung zu seiner

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Heimatstadt Istanbul, seinem Großvater und seiner großen Liebe Saime. Verständlicherweise kommt es zu einer heftigen Reaktion des Jungen, als die Eltern versuchen ihm dieses Erinnerungsstück wegzunehmen. Da sie die Essenszubereitung als typische Aufgabe der Frau betrachten, wie es auch heute noch vielfach der Fall ist (Brunner 2007: 24), befürchten Fanis’ Eltern eine Verweiblichung ihres Sohnes. Als die Eltern ihm darüber hinaus noch den Zutritt zur Küche der Familie verweigern, schließt sich Fanis für mehrere Jahre auf der Toilette ein und verlässt diese nur noch, um zur Schule zu gehen. Damit setzt er ein Zeichen, wie es deutlicher nicht sein könnte. Auf der Toilette, dem „Stillen Örtchen“, dem „Abort“, zieht er sich komplett aus dem gesellschaftlichen Leben zurück und demonstriert damit öffentlich, wie einsam er sich schon die ganze Zeit über in seiner neuen Heimat fühlt, die für ihn letztlich nichts weiter als ein Exil bedeutet. In einer derart festgefahrenen Situation ist Diplomatie gefragt. Allerdings nicht so eine, wie sie sein Onkel und seine Eltern anwenden, als sie Fanis durch die Toilettentür hindurch davon zu überzeugen versuchen, dass er Saime doch nun endlich vergessen müsse. Allen dreien fehlt das Fingerspitzengefühl, das einen erfolgreichen Diplomaten auszeichnet. Der Großvater versteht es da deutlich besser, einen Interessenausgleich zwischen verschiedenen Positionen zu schaffen, beispielsweise als er klug die konträren Berufsvorstellungen des jungen Mustafas und die seines Vaters zu einem Ergebnis zusammenführt, das die Interessen beider berücksichtigt. In seinen Überlegungen zur erfolgreichen Diplomatie bezieht der Großvater wiederum das Kochen mit ein: „Wenn ein Diplomat nach Knoblauch riecht, dann stimmt etwas nicht.“ Der Geruch nach Knoblauch passt nicht zum Bild eines Diplomaten, dessen Aufgabe ja gerade darin besteht, im Hintergrund, an dem möglichst reibungslosen Gelingen zwischenstaatlicher Beziehungen, zu arbeiten. Riecht man hingegen stark nach Knoblauch, bekundet dies eine innere Haltung, die nicht an den sensiblen Empfindungen seiner Mitmenschen interessiert ist. Man geht auf Konfrontationskurs und läuft Gefahr, von der Gesellschaft gemieden zu werden (Fansa 2007: 157). In keinem Fall kann dies eine gute Voraussetzung für diplomatische Bemühungen sein.

E INE GANZ

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H AUPTGERICHT „Die Hauptgerichte unserer Küche schlagen eine Brücke zu den Erinnerungen unserer Kindheit. Wenn man sich über den Teller beugt, versinkt man in der großzügigen Gabe der Köchin und man genießt die Reise voller Freude, solange bis man aus dem Traum herausgerissen wird – durch einen Anruf, die Türglocke oder eine Nachricht.“ ZIMT UND KORIANDER

Koriander – noch immer bleibt die Frage nach dem Koriander im Filmtitel unbeantwortet. Wurde er als träumerisch klingender Name eines für das Ohr ebenso bekannten, wie gleichermaßen für den Gaumen im deutschsprachigen Raum noch immer weitestgehend unbekannten Gewürzes gewählt, um den Kinobesucher auf eine Reise in den Orient, in ein Land von 1001 Nacht zu locken? Tatsächlich lassen sich in dem Film viele märchenhafte Elemente entdecken. Die Figur des „weisen Großvaters“, der seinem „unwissenden Enkel“ (Millot 2005) in einer Mischung aus Philosophie und Mystik die Grundzüge des Lebens erklärt, erinnert stark an unsere klassischen Märchen. Auch das Wunderkraut Xamamut1, das in keinem Kräuter- und Gewürzlexikon zu finden ist, lässt sich in das gleiche literarische Genre einordnen, hilft es doch schließlich dabei die „böse“, weil des Kochens nicht fähige Ehefrau in spe des Onkels, loszuwerden. Ein weiterer wichtiger Grundbaustein im Film ist die vom Großvater konstruierte Verbindung zwischen Gastronomie und Astronomie. Er bezieht sich dabei in erster Linie auf die orthografische Parallele, wobei auch inhaltlich mehrere Überschneidungen beider Bereiche festzustellen sind. Gewürze, als bedeutender Bestandteil der Gastronomie, „spielen schon seit jeher eine besondere Rolle in der zeichenhaften Vermittlung von fremden Welten“ (Karmasin 1999: 63). Damit sind die Gewürze nicht allzu weit entfernt von der Astronomie, bei der es bekanntlich auch um die Erforschung fremder Sonnensysteme geht. Bildlich dargestellt wird genau diese Verbindung in der Schlussszene des Filmes, in der Fanis auf dem Dachboden des alten Gewürzladens mit gefundenen Gewürzresten ein Sonnensystem legt, das er im darauf folgenden Moment vom Tisch pustet. Entgegen der Gesetze der Schwerkraft fallen die Gewürze nicht zu Bo-

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Vermutlich ist damit die Heilpflanze Kısa Mahmut (lat. Teucrium polium) gemeint.

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den, sondern umkreisen ihn wie Planeten die Sonne (vgl. Abb. 2). Eine ebenfalls märchenhaft anmutende Inszenierung. Auch in seinen Abschiedsworten am Bahnhof, kurz bevor Fanis in Istanbul mit seinen Eltern in den Zug nach Athen einsteigt, zieht der Großvater einen solchen Vergleich: Großvater: „Denk immer daran, egal wo du gerade bist, schau dir die Sterne am Himmel an, denn da oben, da gibt es viel, was sichtbar ist und auch manches, was unsichtbar ist. Sprich nur von den Dingen, die den Menschen verborgen sind. Du kannst mir glauben, die Leute lieben Geschichten, die von Unsichtbarem handeln. Weißt du, es ist wie beim Essen: Wichtig ist ja nicht, ob man das Salz sieht, sondern nur, ob einem das Essen schmeckt. Sehen muss man es nicht, Hauptsache das Salz ist drin. Darum geht es!“

In diesem Ausspruch des Großvaters stecken nicht nur Worte des Trostes an seinen Enkel, sondern auch eine Prophezeiung. Fanis spätere Karriere als Astrophysiker, der seine Arbeit der Erforschung der Dunklen Materie widmet, wird von seinem Großvater bereits in diesem Moment angedeutet. Gleichzeitig sind sowohl die Sterne am Himmel als auch das Salz in den Speisen als Sinnbild für die Verbundenheit zwischen ihm und seinem Enkel zu deuten. Mag die beiden auch eine große räumliche Distanz trennen, so sehen sie doch stets die gleichen Sterne, wenn auch aus einer unterschiedlichen Perspektive. Können sie sich auch nicht sehen, so spüren sie doch die Anwesenheit des anderen im Geiste. Wie durch den kulinarischen Geschmack, den Fanis durch die Zubereitung ihm bekannter Speisen mit in die neue Heimat nehmen kann, soll auch mit dieser astronomischen Sicherheit im Gepäck Fanis in neuer Umgebung Geschmack an seinem Leben finden. So muss er eben gerade nicht wieder ganz neu anfangen. Ernährung ist in diesem Fall mehr als pure Nahrungsaufnahme. Sie ermöglicht „ein intensives Identifikationserlebnis“ und kann gerade „in der ,Fremde‘ die Gruppenkohäsion intensivieren und Heimatgefühle evozieren“ (Tanner 1997: 475). Ganz deutlich wird das Verhältnis zwischen Gastronomie und Astronomie in der Person Fanis. In ihm vereinen sich beide Elemente. Als angesehener Astrophysiker und talentierter Hobbykoch ist er sozusagen der Prototyp des Sternekochs. Im alltäglichen Sprachgebrauch verstanden als Auszeichnung für Spitzenköche bekommt das Bild des Sternekochs bei Fanis eine neue Bedeutung. So wie er durch geschickte Kombination der Zutaten ausgefallene Speisen kreiert, so versucht er auch aus der „Ursuppe“ des Universums ein Gericht zuzubereiten, was den Menschen „schmeckt“ beziehungsweise welches sie als „wahr“ akzeptieren. Über die Schwierigkeit dieses Unterfangens hat einmal der bedeutende Gastrosoph Brillat-Savarin gesagt: „Die Entdeckung eines neuen Gerichtes be-

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glückt die Menschheit mehr als die Entdeckung eines neuen Gestirnes“ (BrillatSavarin 1979: 16). Abbildung 2: Kosmos und Küche

Quelle: DVD Zimt und Koriander, im Vetrieb von Alamode Film

Koriander – wann verwendet man Koriander in der Küche? Sucht man auf dem Internetportal chefkoch.de unter dem Stichwort „Koriander“ nach Rezepten so bekommt man 3270 Treffer (Stand 26.12.2012). Beim Überfliegen der Ergebnisse fallen einem zum überwiegenden Anteil herzhafte Hauptgerichte ins Auge und nur ganz vereinzelt süße Desserts oder Gebäck. Ein vollkommen gegensätzliches Bild ergibt sich bei erneuter Suche jedoch unter dem Stichwort „Rezepte Zimt“. Hierbei erscheinen fast ausschließlich Nachspeisen und Gebäck. Die Verwendung des Zimts im Film widerspricht demnach dem üblichen Einsatzbereich in unserer Küche. Soll der Koriander vielleicht ebenfalls auf einen Stilbruch hinweisen? Er müsste dazu in Süßspeisen verwendet werden, um den Kontrast zum Zimt in Fleischbällchen zu betonen. Aber auch als etwas Süßes tritt der Koriander im Film nicht in Erscheinung. Als Süßungsmittel wird dann doch lieber auf die herkömmliche Variante, den Zucker, zurückgegriffen. Gleich in der ersten Szene spielt dieser eine entscheidende Rolle. Ein Säugling, wohl der kleine Fanis, wird an die Brust der Mutter angelegt. Das Kind schreit und weigert sich zu trinken. Da wendet die Mutter einen Trick an und streut Zucker über ihre Brust. Angeregt durch die Süße des Zuckers beginnt das Baby genüsslich zu saugen. Kommentiert wird die Szene wie folgt: „Mein Großvater hat immer gesagt, dass in dem griechischen Wort für Träumen auch das Wort Rülpsen versteckt ist. Am Anfang meines Lebens war mir der Unterschied zwischen den Worten egal, da ich sowieso nichts anderes tat als diese beiden Dinge. Jahre später habe ich begriffen, dass er sich auf Essen und Geschichten bezog. Beide werden noch schmackhafter, wenn man sie durch ein Ritual zu etwas Einzigartigem macht.“

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Was für ein Kontrast, der sich da auftut: Auf der einen Seite das sehr intime Bild der mütterlichen Brust und auf der anderen Seite das ins Vulgäre gehörende Wort „Rülpsen“. Das passt eigentlich nicht zusammen, genauso wenig wie Zimt in Hackfleischbällchen oder eben Koriander in Süßspeisen. Zucker über die Brust zu streuen ist heutzutage eine eher unkonventionelle Art, um sein Kind zum Trinken zu animieren. Auf der anderen Seite passt die Verbindung sehr gut zueinander, da „Zucker als ein weibliches Nahrungsmittel“ aufgefasst wird (Karmasin 1999: 45). Der kleine Fanis scheint allerdings nicht wirklich hungrig zu sein, da er sonst wohl auch ohne den Einsatz von Zucker getrunken hätte. Vielmehr zeigt er sich bereits in dieser ersten Szene als Genussmensch, der nicht nur funktionelle Bedürfnisse durch Essen zu befriedigen sucht, sondern auch einen gesteigerten Wert auf die sinnlichen Aspekte des Essens legt. Dass dies mit Hilfe von Zucker verdeutlicht wird, passt nur allzu gut, ist doch gerade der Zucker Sinnbild für Hingabe, Genuss und pure Lust (vgl. Abb. 3). Abbildung 3: Der Griff zum Zucker und zu Hingabe, Genuss und Lust

Quelle: DVD Zimt und Koriander, im Vetrieb von Alamode Film

Um genau diese Lust geht es auch in einer späteren Szene, die deutliche Parallelen zum Anfang aufweist. Als junger Erwachsener schläft Fanis mit einer Frau, wahrscheinlich seiner Freundin, die als Prostituierte in einem Bordell arbeitet. Zärtlich saugt er an ihrer Brust, fast so, als wolle er daraus trinken. Sind es Kindheitserinnerungen, die dadurch geweckt werden sollen oder handelt es sich dabei um das im Zitat erwähnte Ritual, das einen Moment zu etwas Einzigartigem macht? Vor dem Hintergrund der Beziehung des Protagonisten zum Zucker bekommt die Szene, in der der nach Istanbul zurückgekehrte Fanis zusammen mit Saime einen Kuchen für ihre Tochter backt, eine ganz neue Bedeutung. Der aufmerksame Zuschauer erkennt den Zucker aus der Eingangsszene wieder und weiß, womit er in Verbindung zu bringen ist. Tatsächlich ist die Lust der beiden

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BESONDERE

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in dieser Szene deutlich spürbar, und wäre nicht Mustafa dazwischengekommen, wäre sie auch sicher „nach der Party“ (Zitat Saimes aus dem Film) befriedigt worden.

D ESSERT „Das Dessert entspricht in unserer Küche dem, was bei einem Märchen das Ende ist. Der Held hat gelernt zu seinen Gefühlen zu stehen. Er ist seiner Angst und seiner Liebe gegenübergetreten. Das Dessert dämpft die Geräusche, die häufig das Festessen stören.“ ZIMT UND KORIANDER

Das Menü ist nun komplett. Wir haben eine Vorspeise, ein Hauptgericht und ein Dessert – es fehlen nur noch ein paar Worte zum Menü an sich. Der gesamte Film ist wie ein „kulinarisches Menü“ (Köhler 2005) aufgebaut. Untergliedert in die drei typischen Bestandteile eines Menüs – Vorspeise, Hauptgericht und Dessert – wird der Film so auch geografisch und inhaltlich in drei Abschnitte geteilt. Die Vorspeise wird in Istanbul serviert. Der junge Fanis lebt dort zusammen mit seiner Familie, seinem Großvater und natürlich mit Saime. Er ist glücklich mit seinem Leben, mit der Mischung aus kindlichem Spiel und intellektueller Herausforderung. Nach einer Pause folgt das Hauptgericht. Fanis und seine Eltern wurden aus Istanbul vertrieben und leben nun in Athen, weit weg vom Großvater und Saime. Diese Trennung schmerzt Fanis, ihm fehlen Halt und Orientierung im Leben. Anstatt am sozialen Leben teilzunehmen, zieht er sich zurück und konzentriert sich ganz auf das Kochen. Zum Abschluss wird das Dessert serviert. Am Ende des Films kehrt Fanis nach Istanbul zurück. Grund dafür ist in erster Linie der nahende Tod des Großvaters, doch in zweiter Instanz stehen das Wiedersehen mit Saime und die Konfrontation mit der eigenen Kindheit im Mittelpunkt. Auch wenn es für Fanis nicht zum erhofften Happy End kommt, so schafft er es zu guter Letzt doch mit der Vergangenheit abzuschließen und endlich befreit in ein neues Leben zu starten. Dieser eben präsentierte Menüplan deckt sich mit den Erkenntnissen Helene Karmasins, die eine „zyklische Struktur“ in der „Speisenabfolge einer Mahlzeit“ erkannt hat. Ein Menü besteht demzufolge aus einem Anfangszustand, gefolgt von einem dazu konträr angeordneten Zustand, um dann abschließend wieder zum Anfangszustand zurückzukehren (Karmasin 1999: 99). Diesem Zyklus folgend entwickelt sich die Dramaturgie

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der Handlung. Die Vorspeise dient der Einstimmung und soll Appetit auf mehr machen. Die Hauptspeise bildet den Höhepunkt. Sie soll den Zuschauer beeindrucken und zugleich sättigen. Das Dessert schließlich rundet die Handlung ab und erlaubt dem Zuschauer, das Gesehene noch einmal genussvoll Revue passieren zu lassen.

L ITERATUR Boulmetis, T. (2009): A Touch of Spice. Indianapolis: Office of Hellenic Studies. Brillat-Savarin, J. A. (1979): Physiologie des Geschmacks oder Betrachtungen über das höhere Tafelvergnügen [zuerst 1826]. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel Taschenbuch. Brunner, K.-M. (2007): Ernährungspraktiken und nachhaltige Entwicklung – eine Einführung. In: Ders., Jelenko, M./Weiss, W./Astleithner, F. (Hrsg.): Ernährungsalltag im Wandel – Chancen für Nachhaltigkeit. Wien/New York: Springer, S. 1-38. Fansa, M./Katzer, G./Fansa, J. (2007): Chili, Teufelsdreck und Safran – Zur Kulturgeschichte von Gewürzen. Göttingen: die Werkstatt. Istanbul Post (2001): Opfer der Zypernkrise – Die Massenausweisung von Griechen aus Istanbul im Jahr 1964. Im Internet: http://www.istanbulpost.net/ Dossiers/Minderheiten/ausweisung.htm. Abruf: 24.09.2012. Karmasin, H. (1999): Die geheime Botschaft unserer Speisen – Was Essen über uns aussagt. München: Antje Kunstmann. Köhler, M. (2005): Zimt und Koriander. Im Internet: http://www.kino.de/ kinofilm/zimt-und-koriander/81237. Abruf: 23.09.2012. Millot, M. (2005): Leicht und bekömmlich - aber es fehlt an der richtigen Würze – Die Geschichte eines Griechen fad erzählt: „Zimt und Koriander“. Im Internet: http://www.abendblatt.de/kultur-live/kino/article322732/Leicht-undbekoemmlich-aber-es-fehlt-an-der-richtigen-Wuerze.html. Abruf: 23.09.2012. Tanner, J. (1997): Italienische „Makkaroni-Esser“ in der Schweiz. In: Teuteberg, H.-J./Neumann, G./Wierlacher, A. (Hrsg.): Essen und kulturelle Identität. Berlin: Akademie Verlag, S. 473-497. Thieme, A. (2009): Die Crossover-Küche macht kreativ am Herd. Im Internet: http://www.welt.de/lifestyle/article3239003/Die-Crossover-Kueche-machtkreativ-am-Herd.html. Abruf: 23.07.2012.

Die Delikatesse der Delikatessen Babettes Fest (1987) / Regie: Gabriel Axel P ETER P ETER „Möge die Speise den Leib mir erhalten und der Leib mir die Seele hochhalten“ TISCHGEBET DES PROPSTES (BLIXEN 1989: 57)

„Martine, das alles beunruhigt mich ein wenig“, raunt Philippa ihrer Schwester zu. Kein Wunder, denn aus der Perspektive der alternden Predigertöchter, die ihr Leben in einer strohgedeckten Cottage in einem winzigen jütlandischen Dorf an einem Fjord verbracht haben, geschieht Unerhörtes. Ihre französische Haushälterin Babette (vgl. Abb. 1), die vor 12 Jahren als verängstigter bettelarmer Flüchtling zu ihnen gekommen war, lässt auf Ruderbooten Champagner und tropische Früchte, eine lebende Schildkröte und kostbare Delikatessen ins Haus bringen. Der kulinarische Codex der pietistischen Gemeinde, die sich von Trockenfisch und Bierbrotbrei ernährt, ist gestört. Zwar hatten Martine und Philippa dem Wunsch Babettes, zu Ehren des hundertsten Geburtstages ihres verstorbenen Vaters, dessen Portrait mit protestantischer Pfarrerhalskrause höchst präsent in der guten Stube hängt, ein französisches Essen zu geben, zaudernd zugestimmt. Doch jetzt packt sie die Angst. Das Klirren und Klappern der blitzenden Kupfertöpfe, das geheimnisvolle Treiben der französischen Köchin, das Fabelwesen des Schildkrötenmonsters verdichten sich zum Hexensabbat. Die fromme Gemeinschaft wittert „gefährliche Kräfte, die uns ins Unglück stürzen könnten“. Man beschließt nach beruhigenden Gebeten, der Einladung zu folgen, um das Andenken des Patriarchen zu ehren, aber kein Wort über das Essen zu verlieren. Feindliche Ablehnung liegt in der Luft. Doch es kommt anders. Das liegt auch an einem unerwarteten Gast aus der Vergangenheit. „Le general“, hatte Martine bewegt geflüstert, als sie erfuhr, dass

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Lorens Löwenhjelm mit seiner frommen Tante an dem Gastmahl teilnehmen werde. Als junger, leichtsinniger, aber nicht nichtsnutziger Offizier hatte er sie als achtzehnjähriges Mädchen umworben, ohne es je gewagt zu haben, sich der strahlend reinen Pfarrerstochter zu erklären. Schließlich hatte er angesichts der sinnenfeindlichen Betschwesternatmosphäre ihres Vaterhauses resigniert, ihr zum Abschied einen verwirrten Handkuss aufgedrückt und die Leere der gescheiterten Lebensliebe durch eine internationale militärische Karriere, die ihn in die elitärsten Zirkel von Paris führte, zu übertünchen gesucht. Schon optisch setzt die scharlachrot gefütterte blaue Galauniform des schlanken elastischen älteren Herrn einen cineastischen Effekt – ein Exot in der Kate, auf dessen Tischmanieren die verhemmten, in schlichtes schwarzes Tuch gewandeten Dörfler schielen und die Schildkrötensuppe aus der Tasse schlürfen, wenn er es souverän vormacht. Ein Mann von Welt und natürlicher Autorität, der Konversation zu machen weiß, anstatt Bibelzitate auszutauschen, und doch in beiden Welten heimisch ist, einer, der den rechten Tonfall als Mediator für die ängstliche Tischgesellschaft findet. Der Zuschauer spürt, das könnte Babettes Verbündeter sein und seine Präsenz stimmt auch die beiden Jungfern gelöster, lächelnder – sie gedenken ohne Schmerz ihrer gescheiterten Jugendlieben, aber auch der Güte des Herrn. Ein mildes Licht spiegelt ihre gelösten Seelenlage, die sich den erblühenden Gesichtern der ganzen Gesellschaft mitteilt, die alte Rankünen vergisst, Engheiten der Seele auslüftet, verhärtete Herzen löst. Aus fundamentalistischer Sicht paradox: Ein üppiges Gelage wird zum Erleuchtungserlebnis. Am nächsten Morgen wird Babette den beiden Schwestern eine Erklärung machen, die ihr Verhältnis zum Dorf und zu ihren Dienstherrinnen auf eine völlig neue Grundlage stellen wird. Soweit zur Handlung, die auf Tania Blixens (1885-1962) Erzählung Babette’s Feast zurückgeht. Die Dänin, der Ernest Hemingway am liebsten seinen Literatur-Nobelpreis abgetreten hätte, hatte bereits 1985 durch Sydney Pollacks Verfilmung ihres autobiographischen Werks Out of Africa (Afrika – dunkel lockende Welt beziehungsweise Jenseits von Afrika) postumen Weltruhm als „Drehbuchautorin“ erlangt, war auch literarischen Laien zum Begriff geworden. Liest man ihren Babette-Text, der 1950 (ganz zeitgeistig als „Frauenliteratur“) erstmalig im amerikanischen Magazin Ladies’ Home Journal erschien, unter cineastischen Gesichtspunkten, so fällt eine dezidierte Bildhaftigkeit der Szenen auf, die sich immer wieder zu fotogenen Tableaus und frappanten Gegensätzen verdichten. Ein sensibel geschriebenes Kammerstück, das rigide ausgedünnte Handlungsstränge mit miniaturhaft gezeichneten Charakterporträts kombiniert. Blixens Figuren zwingen gerade in ihrer Schweigsamkeit, ja Hemmung, sprachlich zu

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kommunizieren, den Leser zu Spekulationen über ihre seelische Verfasstheit. Philippa mit ihrer engelshaften Stimme teilt nach dem keuschen Opernkuss, den sie als Zerline von ihrem Don Giovanni interpretierenden Musiklehrer bekommt, ihrem Vater lapidar mit, dass sie keinen Gesangsunterricht von dem französischen Startenor Achille Papin mehr wünscht. Gab es da Seelenkämpfe, zerwühlte Kopfkissen, den Traum von der weiten Welt hinter dem Fjord? Das muss sich der Leser ausmalen, ähnlich den scheuen Gedanken der Schwester: „Im Propsthaus bemerkte Martine, daß die Sache tiefer ging, und forschte im Gesicht der Schwester. Einen Augenblick, und der Gedanke macht sie zittern, hatte sie das Gefühl, der fremde Herr, der römisch-katholische, könnte versucht haben, Philippa zu küssen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihre Schwester über etwas in ihrer eigenen Natur überrascht und erschrocken sein könnte.“ (Blixen 1989: 20)

Abbildung 1: Die Schwestern Martine und Philippa mit Babette

Quelle: DVD Babettes Festmahl, im Vertrieb von Concorde Home Entertainment

Eine lockende Herausforderung für Schauspieler, mittels physiognomischer Präsenz psychologische Spannung zu erzeugen, mehr auf mimisches Spiel als auf Dialoge zu setzen. Selbst den engelsreinen Schwestern schwant zuweilen, dass

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die in ihr bescheidenes Pfarrerhaus hineingeschneite Französin, hinreißend interpretiert von der (von Claude Chabrol geschiedenen) Schauspielerin Stéphane Audran, doch ein unbekanntes Wesen voll unterdrückter, schwelender Leidenschaft sein könnte. Den 1918 in Aarhus geborenen Regisseur Gabriel Axel scheint Blixens Sujet schon aus autobiographischen Gründen gereizt zu haben. Lebenslang pendelt er zwischen Frankreich und seiner skandinavischen Heimat hin und her. In Paris aufgewachsen, geht der 18-jährige zunächst zurück nach Kopenhagen. Er engagiert sich als Schauspieler in Pariser Avantgardetheatern und arbeitet zugleich an einer Regisseurskarriere in Dänemark. Erst mit fast 70 Jahren gelingt ihm der internationale Durchbruch. Seine Verfilmung von Babettes Fest erhält 1987 den Oscar als bester ausländischer Film und etabliert sich als Pionier- und Kultmovie des kulinarischen Genres. Gabriel Axel ist hier eine Summa der konträren Mentalitäten seiner beiden Heimatländer gelungen. Abgesehen von dem Eingriff, die Szene von Norwegen nach Jütland zu verlegen, setzt der Regisseur auf Werktreue, ja optische Engführung zum Text. So entsteht der Eindruck, dass die ein Vierteljahrhundert zuvor verschiedene Tania Blixen höchstpersönlich auch das Drehbuch verfasst hätte. Starke, eindringliche Bilder, wie Blixens Auftritt des Generals mit seiner frommen Tante, erheischen geradezu eine filmische Umsetzung: „Frau Löwenhjelm war vor Alter winzig geworden; ihr Gesicht fahl wie Pergament und sehr still. General Löwenhjelm an ihrer Seite, groß, breit, mit frischem Gesicht, in leuchtender Uniform, die Brust mit Orden bedeckt, stolzierte und prunkte wie ein Wappenvogel, ein Goldfasan oder Pfau, in dieser anspruchslosen Gesellschaft von Krähen und Dohlen.“ (Blixen 1989: 50)

Auch Blixens Beschreibung der in ein Speisezimmer verwandelten Pfarrstube liest sich wie die Anweisung für ein Bühnenbild: „Der niedrige Raum mit seinem kahlen Fußboden und dem dürftigen Mobiliar war den Jüngern des Propstes teuer. Draußen hinter seinen Fenstern lag die große Welt. Von hier innen gesehen, war diese große Welt jetzt in ihrem winterlichen Weiß sehr säuberlich rosa, blau und rot von den Hyazinthen mit den Fensterbrettern eingefaßt. Im Sommer aber, wenn die Fenster offenstanden, hatte die große Welt draußen einen etwas anderen, ebenso zarten Rahmen aus weißen Musselinvorhängen.“ (Blixen 1989: 48)

Die Handschrift des sich zurücknehmenden Regisseurs besteht darin, die knappen Bilder Blixens ausmalen, ohne je zu überladen und gerade durch diese opti-

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schen Spannungsbögen eigene Akzente zu setzen. So gewinnt der musikalisch zugespitzte Gegensatz des dandyhaft gekleideten Pariser Tenors Achille Papin, der in einer Kate mit der Pfarrerstochter Philippa ein frivoles Duett singt – Mozarttriller statt Kirchenlieder –, eine schmerzhaft unwirkliche optische Präsenz, wird von der literarischen Notiz zur Szene. Gabriel Axel liebt es, Kontraste und Gegensätze in affizierende Bilder umzusetzen, durch die Stummheit der Bildsprache zu psychologisieren. Die kalte, unwirtlich verschneite Natur oder die lehmigen Dorfwege gewinnen bei ihm eine eigene melancholische Aussagekraft. Eindrucksvolle Bildstrecken gelingen, wenn er die monotone, aber auch adäquate Präsenz der lokalen Nahrung in Szene setzt. Das reicht von der stärkenden Tasse Tee, die man der verzweifelten Emigrantin reicht, und der Armensuppe, die die wohltätigen Jungfern ausgeben, bis zu den weit über den Text hinausreichenden Szenen, in denen Babette einheimische Kräuter sucht, mit den Fischern um Klippfisch feilscht und in schlichten irdenen Töpfen Brotsuppe zu braungrünlichem Brei rührt – noch gibt es keine Noma-Mode luxuriöser nordic cuisine: „Auf Monsieur Papins Behauptung, daß Babette kochen könne, hatten sie kein Zutrauen gesetzt. In Frankreich, das wußten sie, aßen die Leute Frösche. Sie zeigten Babette, wie man Stockfisch und Brotsuppe mit Bier zubereitet: während der Vorführung wurde das Gesicht der Französin völlig ausdruckslos. Binnen einer Woche aber kochte Babette ihren Stockfisch und ihre Brotsuppe mit Bier so tadellos, als wäre sie in Berlevaag geboren und großgeworden.“ (Blixen 1989: 26)

Mit der Optik eines heutigen Slow Food-Fotografen in seiner ästhetischen Kargheit inszeniertes local food kontrastiert mit Küchenszenen, die niederländischen Stillleben gleichen: Überquellende Fruchtkörbe, glitzernde Champagnerkelche, der festlich gedeckte Tisch mit Kristall und gestärkten Servietten, Nahaufnahmen erlesener Delikatessen in betont langsamer Bildführung. Stärker als in der Buchvorlage werden die Speisen zu den Protagonisten des Films. Ja einige von den Finessen scheinen erst durch diese Verfilmung virtuelles Fortleben erlangt zu haben. Bis heute tauschen Blogs eifrig die besten Rezepte für elitäre Klassiker der Grande Cuisine wie cailles en sarcophage oder blinis Demidoff aus. Selten ist die zivilisatorische, gastrosophische Wirkung des Tafelns gelungener umgesetzt worden (vgl. Abb. 2). Dass man ihnen etwas Gutes tut, sie der edelsten Produkte der Schöpfung für würdig hält, entkrampft verhärtete Seelen, macht verhärmte Beter zu aufblühenden Individuen. Das Wunder geschieht: sittliche Veredelung auch der Dumpfen, Ignoranten, Engherzigen durch ein sinnliches Vergnügen, das im Film wie ein religiöses Ritual zelebriert wird – Anspie-

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lungen auf die Zwölferschar des Abendmahls und die Hochzeit von Kana mit dem Wasser in Luxuswein wandelnden Christus fehlen nicht. Abbildung 2: Babettes Festmahl

Quelle: DVD Babettes Fest, im Vertrieb von Concorde Home Entertainment GmbH

Katholisches Kolorit: Axel polarisiert die bunte Üppigkeit und den Élan vital des französischen Festmahls gegen die monochrome Lebenswelt von Babettes neuer protestantischer Heimat. Die Farben sprechen: Hier wird der ambivalente Mentalitätsgegensatz zwischen evangelischer und katholischer Küche thematisiert – schließlich heißen die Schwestern programmatisch nach den Reformatoren Martin Luther und Philipp Melanchthon. Zwar ergibt ein historisch genauerer Blick auf Luther, dass der wohlbeleibte Reformator den Freuden der Tafel durchaus zugeneigt war. Schließlich war er es, der nach gründlichem Bibelstudium die christlichen Speise- und Fastengesetze für ungültiges Menschenwerk erklärt hatte: „Ich ess was ich mag, ich sterb, wann Gott will.“ (Peter 2009: 68) Doch bildete sich bald eine noch von Luther selbst befeuerte protestantische Delikatessenfeindlichkeit heraus: Sunt deliciae quibus ego non delector - Ich lob eyne reyne, gutte, gemeyne hausspeis (ebd.: 74). In einer reformierten Welt, die den Rhythmus von Genießen und Fastenspeisen nicht mehr kennt, in der die Todsünde der Schlemmerei nicht mehr dem Priester gebeichtet werden kann, ist eine mögliche und populäre Konsequenz, dass der einzelne Christ permanent für seine Selbstdisziplinierung beim Essen verantwortlich ist. Kurzum, jedwede Speise

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sollte asketischen Verzichtscharakter aufweisen. Dazu kommt im Gegensatz zum Gourmettypus des katholischen Prälaten noch die familiäre Sparsamkeit der meist kinderreichen Pfarrhäuser, die auch in der Propstfamilie vorgelebt wird. Erhöhte Sorgfalt sollte Babette allenfalls auf die den Armen gespendeten Speisen aufwenden, was sie, anders als von den Schwestern geplant, tatsächlich ins Werk umsetzt. Abbildung 3: Exotische Speisen werden in einer puritanischen Küche zubereitet

Quelle: DVD Babettes Fest, im Vertrieb von Concorde Home Entertainment GmbH

Letzten Endes ist Babettes Fest auch eine religiöse Parabel, die den Erstarrungstendenzen der eifrig ihre Bibelfrömmigkeit vor sich hertragenden Lutheranern die innere Generösität der als Papistin beargwöhnten Köchin gegenüber hält: Babette, die vor den blutigen Verfolgungen der Pariser Kommune, bei der sie Mann und Kind verloren hatte, geflohen war, hat phantastischerweise bei einer Lotterie 10.000 Francs gewonnen. Sie wäre finanziell frei, wieder nach Frankreich zurückzukehren. Warum tut sie es nicht? Warum bewirtet sie mit dem Geld Gäste, die aller Voraussicht nach ihre Leistung kaum zu würdigen wissen? Wie Babette handelt, ist exzentrisch, egozentrisch und demütig zugleich. Sie verwöhnt die, die arm im Geiste, arm in ihrer engen Seele sind, mit den köst-

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lichsten Speisen, die sie zu bietet hat. Hier werden nicht in sagenhafter Verschwendung kulinarische Perlen vor die Säue geworfen, sondern hier wird ein instinktiv christlicher Herzensakt der Güte, ja der Aufopferung vollzogen, der die Sektenmitglieder in ihrer formalpietistischen Frömmigkeit beschämt und doch ehrt. Indem Babette zum hundertsten Geburtstag des Propstes ein Diner kocht (vgl. Abb. 3), erweist sie gleichzeitig dem Patriarchen, seinen Töchtern, aber auch der schlichten Festgemeinde ihre Reverenz. Sie revanchiert sich für die Aufnahme mit einem königlichen Geschenk und lässt nach 12-jähriger (kulinarischer) Selbstverleugnung an diesem Abend erstmals aufblitzen, wer sie wirklich war oder ist. General Löwenhjelm ahnt es bei entbeinten Wachteln im Blätterteig-Sarkophag: Babette war die Starköchin von Paris, um ihre Diners im Café Anglais rissen sich Herzoge und Kokotten, Minister und Künstler. Am nächsten Morgen wird sie stolz ihre Kochkünstlervergangenheit den Schwestern beichten – und für immer bei ihnen bleiben. „Einmal kocht ich noch wie Götter“ – erst durch dieses exorbitante Geschenk, durch diese freiwillige Demutsgeste, das Dorf ihrer singulären Kunst für würdig zu erachten, wird Augenhöhe mit ihren Asylgebern hergestellt, ist die Integration nicht durch devote Anpassung, sondern arroganzfreie Einbringung des eigenen Besten vollzogen. Nach dem stummen Dialog des Essens, nach dieser Selbstoffenbarung (gepaart mit Selbstverleugnung), ist Babette Jütländerin – es war eine Häutung, ihr letzter Blick auf die Vergangenheit. Babettes Fest ist auch Babettes Dank. Das Wagnis ist gelungen, sie ist nicht gedemütigt, nicht blamiert, sie triumphiert auch nicht, sie ist einfach aufgenommen. Die Weite der Welt aufzuzeigen, ohne das Verständnis für die Geborgenheit des Milieus zu verlieren, gehört zu den Stärken dieses subtilen Alterswerks. Natürlich kann die Geschichte auch unter Gender-Aspekten gesehen werden. Schon ihre lutherische Namensgebung zeigt die Unterwerfung Philippas und Martines unter männliche Schemata. Sie leben seelenruhig, ohne sich aufzubäumen, scheinbar ohne nur eine Sekunde zu rebellieren, in dem Mikrokosmos, den ihr Vater bestimmte – und entziehen sich zugleich in unergründbarer Keuschheit dem Liebeswerben ihrer Verehrer, die sie gerade dadurch dominieren. Auch Babette beherrscht diese schweigende Selbstverleugnung, aber dann bricht es doch aus ihr heraus... So steckt der Film wie die Novelle voller scheinbarer Paradoxa, die die Psyche der Protagonisten umso spannender hervortreten lassen. Selten geht ein erotikfreier Film so unter die Haut. Das liegt neben dem entrückten Strahlen und der Aura des Geheimnisvollen auch an der sinnlichen Inszenierung der Speisen, die zum Katalysator einer Initiation, einer Versöhnung, ja eines Wunders werden. Delikatesse statt bloßes Schwelgen in Delikatessen: Babettes Fest ist bei aller Opulenz der gastronomischen Bilder eben kein bloßes

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ästhetisches Food Movie, sondern weist weit über das Speisen hinaus. Mit souverän langsamer Kameraführung orchestriert der dänische Altmeister Tania Blixens Novelle und baut subtil vibrierende psychologische Spannung auf, um bei diesem ökumenischen Festmahl mit scheinbar leichter Hand die universalen Themen Religion, Fremdheit, Integration und Künstlerschaft mehr als nur zu streifen.

L ITERATUR Blixen, T. (1989): Babettes Fest. Aus d. Engl. von W. E. Süskind . Zürich: Manesse Verlag. Neumann, G. (2008): Filmische Darstellungen des Essens. In: Wierlacher, A./Bendix, R. (Hrsg.): Kulinaristik. Forschung-Lehre-Praxis. Berlin: LitVerlag, S. 298-307 Peter, P. (2009): Kulturgeschichte der Deutschen Küche. München: C. H. Beck.

Eine Familie und ihre Körper. Essensbezogene Gebrauchsweisen des  Körpers in Louis Malles Eine Komödie im Mai Eine Komödie im Mai (1990) / Regie: Louis Malle L ARS A LBERTH

N AHRUNG UND G ESELLSCHAFT : E SSENSBEZOGENE G EBRAUCHSWEISEN

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Widmet sich die Soziologie dem Essen, so thematisiert sie es zwangsläufig unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Konstellationen, in die das Essen eingewoben ist. Essen ist dann immer schon mehr als bloß reine physische Nahrungsaufnahme. Der eigentliche Konsum von Nahrungsmitteln ist als Endpunkt nur ein Aspekt eines Prozesses, der auch die Tätigkeiten ihrer Produktion und Zubereitung umfasst. Dieser Prozess ist eine Abfolge von gesellschaftlichen Konstellationen, die sich je durch ein spezifisches Ensemble von Personen und der in ihnen verkörperten Arbeitsteilung auszeichnen. Positionen in diesen Ge-

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Dieser Beitrag ist Doris Bühler-Niederberger gewidmet. Sie hat mich zuallererst auf diesen Film wie auch auf die Mahlzeit als soziologisches Phänomen aufmerksam gemacht. Ihr verdanke ich auch die Erkenntnis, dass die Mahlzeit eine Schlüsselszene familialer Vergesellschaftung darstellt, die sich wesentlich im privaten Raum abspielt, aber zugleich auf den gesellschaftlichen Status der Familienmitglieder zielt. Für die Anforderungen, die durch die Mahlzeit an den Einzelnen herangetragen werden, sowie zum komplexen Arrangement des Privaten und Öffentlichen insbesondere bezogen auf moderne Kindheiten siehe Bühler-Niederberger (2005a).

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fügen bringen dabei auch den gesellschaftlichen Status ihrer Inhaber zum Ausdruck: So zeigt sich der niedrige Status der Kinder, die von den Konstellationen der Nahrungsproduktion und -zubereitung weitestgehend ausgeschlossen sind, in Menge, Preis und Qualität der ihnen zugewiesenen Nahrung (Charles/ Kerr 1987). Aber das Essen ist zugleich auch ein Medium des Gesellschaftlichen: Im Essen bemächtigt es sich des Einzelnen. Die zivilisatorischen Ansprüche der Höflichkeit und Selbstkontrolle, die in der modernen Gesellschaft gelten, übersetzen materielle, politische und ökonomische Verflechtungen in Diätpraktiken: „The civilizing of appetite, if we may call it that, appears to have been partly related to the increasing security, regularity, reliability and variability of food supplies. But just as the civilizing of appetite was entangled with several other strands of the civilizing process including the transformation of table manners, so the improvement of food supplies was only one strand in a complex of developments within the social figuration which together exerted a compelling force over the way people behaved. The increased security of food was made possible by the extension of trade, the progressive division of labour in a growing commercial economy, and also by the process of state-formation and internal pacification“ (Mennell 1991: 141).

Diese Praktiken materialisieren sich in den einzelnen Körpern. Die Individuen inkorporieren diese Ansprüche in ihre Körperbiographien (Hofstadler/Buchinger 2001) und machen sie zu Elementen einer Selbstkonstruktion, von der sie gegenüber anderen und sich selbst Rechenschaft ablegen (Bühler-Niederberger 2005b). So etwa, wenn Essenspraktiken im Rahmen von Diäten neu ausgerichtet werden, um zu einem schlanken, nicht fetten Körper zu gelangen (Monaghan 2008). Obwohl sich an den zielgerichteten Praktiken der Diät solche Verkörperungen deutlich erkennen lassen, ist davon auszugehen, dass sich die gesellschaftlichen Strukturen allen Körpern einschreiben, indem sie die Individuen in allgemeine Modi der Lebensführung (Turner 2008) einbinden: Diese können etwa als Rituale des familiären Alltags (Martin-Fugier 1992), nicht-bewusste Routinen der Ernährung (Crossley 2006), „regulierende Schemata“ der Körpermorphologie (Butler 1997; Sarasin 2001) oder als Formierung eines der Position im sozialen Raum entsprechenden Habitus (Bourdieu 1987, 2001) verstanden werden. Eine Lektüre des Filmes Eine Komödie im Mai (Malle 1989) soll hier dazu dienen, eben jenen Verkörperungen am Essen nachzuspüren. Dabei soll gezeigt werden, dass essensbezogene Gebrauchsweisen des Körpers ein Ausdruck des sozialen Geflechts der Familie und darüber hinaus der gesellschaftlichen Ordnung sind.

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Eine Komödie im Mai ist in erster Linie eine Familiengeschichte: Auf dem Gut der Familie Vieuzac leben Madame, ihr Sohn Milou (selbst schon ein Großvater) und die beiden Bediensteten Léonce und Adèle. Während in Paris die politischen Unruhen des Mai 1968 ihrem Höhepunkt zustreben, verstirbt Madame Vieuzac. Und so reisen die verbliebenen Verwandten zur Beerdigung – nur um festzustellen, dass im benachbarten Dorf die Totengräber streiken und man nun auf dem Hof mit der Leiche festsitzt. Die daraus resultierende Zwangsgemeinschaft dient dem Film nun als Rahmen, um die sozialen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern zu beleuchten: Denn vom Erbe bleibt neben Möbeln und Geschirr im Grunde genommen nur das Haus und der Boden, von dem Milou auch künftig zu leben gedenkt, während die anderen Erben ihren Teil einfordern und zum Verkauf drängen. Der narrative Inhalt fokussiert vor allem die Dynamiken zwischen politischer Öffentlichkeit und Intimität der Familie: Trotz der erzwungenen physischen Abgeschlossenheit der Familie auf dem Hof lösen die Akteure die Strukturen ihrer familiären Ordnung immer weiter auf, bis die vermeintliche Ankunft der Revolutionäre auf dem Land (die Fabrik des Nachbarn Boutelleau wird besetzt) die sich dem Traum einer Kommune hingebende Familie zum Exodus in die umliegenden Wälder zwingt. Diese gemeinsame Zeit der Familie wird maßgeblich durch Szenen gemeinschaftlichen Speisens strukturiert: Ständig wird gekocht, probiert und genascht; man trifft sich zum Morgenkaffee, zur Mittagstafel, zur Weinverkostung oder zum Picknick. Fast alle Figuren werden mit Referenzen auf Nahrungsproduktion, -zubereitung, oder -konsumption vorgestellt: Milou ist bei den Bienenstöcken; Tochter Camille versorgt ihren Vater mit Zucker und Mehl; Bruder Georges und seine Frau Lily werden von der kochenden Camille in Empfang genommen; der Nichte Claire wird zur Begrüßung Kuchen angeboten; der Neffe Pierre-Alain schließlich reist mit Fernfahrer Grimaldi an, der in seinem LKW Tomaten transportiert. Der Plot gewinnt seine Eigenart eben durch das feine Netz des Essens, das sich zwischen den Figuren aufspannt und ihnen dabei einen sichtbaren Platz im sozialen Gefüge zuweist. Erkennbar werden diese Positionen in den essensbezogenen Gebrauchsweisen des Körpers. Sie charakterisieren die zentralen Protagonisten des Films. Darüber hinaus zeigen sie jedoch auch an, wie die Familie als ein soziales Gebilde in die Strukturen der Gesellschaft eingesponnen ist. Frank (1991) schlägt vor, die Gebrauchsweisen des Körpers („body usage“) als Reaktionen auf Handlungsprobleme des Körpers vis á vis anderen Objekten zu konzeptualisieren: „Following Mead, I suggest that the body becomes most conscious of itself when it encounters resistance, which is to say, when it is in use, acting“ (Frank 1991: 51). Seiner Konzeption, nicht aber seiner Typologie

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folgend, werde ich im Folgenden vorschlagen, die Handlungsprobleme, die sich dem Körper im Rahmen des Essens stellen, als Probleme der Nahrungsproduktion, der Nahrungszubereitung und des Nahrungskonsums zu betrachten, um jeweils anhand der Figuren im Film zu zeigen, wie sich durch diese essensbezogenen Gebrauchsweisen des Körpers das familiäre Gefüge in ihren Bezügen zur gesellschaftlichen Ordnung etabliert. Gebrauchsweisen des Körpers – damit sind mehr als nur Körpertechniken gemeint, wie Marcel Mauss sie definierte: „Ich verstehe darunter die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen“ (Mauss 1989: 199). Für Mauss ließen sich die Techniken des Körpers objektiv anhand ihrer unterschiedlichen Morphologie bestimmen. Techniken sind sie deshalb, weil sie zugleich traditionell (das heißt auch tradierbar) und wirksam sein sollen. Unklar blieb bei Mauss die theoretische Funktion von Körpertechniken, das heißt ob sie Grundlage oder ob sie Ausdruck von Gesellschaft darstellen. Wenn stattdessen im Folgenden von Gebrauchsweise oder Körpergebrauch die Rede sein soll, so ist damit gerade auch die Fähigkeit angesprochen, über den Einsatz des Körpers soziale Situationen mit ihren Positionierungen und Differenzierungen anzuzeigen und damit sozial wirksam zu machen. Gebrauchsweisen des Körpers eignet eine Inszenierungskraft – eine Eigenschaft, die gerade im Film besonders gut analysiert werden kann. Robert Gugutzer (2006) begreift diese Inszenierungskraft oder Performanz von Körpern als zentrale Eigenschaft von Körperpraxis, das heißt Körper produzieren Gesellschaft auch und vor allem darüber, dass an ihnen und durch sie Gesellschaft sichtbar wird. Ähnlich formuliert dies Robert Schmidt (2012) mit Bezug auf die Körperlichkeit sozialer Praktiken: „Für die Teilnehmer und Beobachterinnen von Praktiken präsentieren die beteiligten Körper in ihrer visuellen Erscheinung unmittelbar manifesten Sinn. Die skilled bodies sind also immer zugleich Träger visueller Zeichen. Hierbei gehen die fortlaufenden körperlichen Darstellungen überdies mit einer materiellen Formung der sie vollziehenden Körper einher“ (Schmidt 2012: 60).

Der Körper als sichtbarer Zeichenträger des Sozialen ist dann auch primäres Medium des Films, selbst wenn das Kino in den letzten Jahren zunehmend auch die materielle Formung des Körpers visuell einzufangen sucht (sehr eindrücklich etwa „Hunger“ von Steve Macqueen [2008]). Für den Film fungieren Körper dann auch als „materiale Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004), indem die konstitutive Wirksamkeit des Körpergebrauchs gezielt eingesetzt wird.

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N AHRUNGSPRODUKTION

Der Film beginnt mit einer Einstellung, einen Ast zeigend, an dem sich ein Bienenvolk niedergelassen hat. Die Insektenmasse überzieht das Holz und bedeckt Kopf, Gesicht und Kragen von Léonce, der regungslos unter dem Baum verharrt. Um ihn herum schreitet Milou und rezitiert aus einem Buch lateinische Sätze. Im Gegensatz zu seinem Diener trägt er einen Imkerhut mit Netz. Die beiden Männer fangen eines ihrer Bienenvölker wieder ein, die ihnen wohl zur Honiggewinnung dienen. Die Familie erscheint als nicht mehr wirtschaftende Spätform des in Südfrankreich traditionell häufig vertretenen Modells der Stammfamilie, die – gebunden an ein Haus und den Boden – vor allem für sich selbst produziert und vor dem Problem steht, gleichzeitig über genügend Arbeitskräfte zu verfügen und dabei die Anzahl möglicher Erben klein zu halten (Burguière/Lebrun 1997).2 Zum Haus gehören zudem noch Weinstöcke, die allerdings keinen nennenswerten wirtschaftlichen Ertrag abwerfen. Das die Familie nicht mehr von ihrer eigenen landwirtschaftlichen Arbeit zu leben vermag, verdeutlicht die folgende Sequenz aus der Diskussion zwischen Milou, seiner Tochter Camille und seinem Bruder Georges um die Teilung des Erbes: Milou: Aber dieses Haus ist das einzige, was uns noch verbindet. Uns wird’s nicht mehr geben ohne das Haus. Dann sind wir wie die Zigeuner, gehören nirgendwo hin. George: Schau mal Milou, wir lassen Dich ja gerne hier, aber wovon willst Du leben, ohne die Weinfelder? Camille: Du hast doch nie in deinem Leben irgendwas verdient.

Folgt man der Hauptfigur Milou durch den Film, so wird deutlich, dass er sehr wohl über einen arbeitsfähigen Körper verfügt, der sich durch eine enge Beziehung zum Boden auszeichnet. Milou trotzt ihm in einer fast schon einvernehmlich zu nennenden Art seine Schätze ab, indem er seinen ganzen Körper einsetzt. Wie sein Diener Léonce seinen Körper als Sammelpunkt des Bienenvolkes anbietet, so fängt Milou die Flusskrebse für das Abendessen (vgl. Abb. 1), die Krustentiere mit den eigenen Fingern ködernd: bis zum Hals im Wasser stehend

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Dass die Anzahl der Bewohner des Hauses schon einmal größer war, darauf verweisen die Bilder und Reisetrophäen von ›Onkel Albert‹, einem Bruder oder Schwager der verstorbenen Madame Vieuzac, die zum Inventar und Mobiliar des Hauses gehören. Der Verweis auf das Haus als Identität stiftendes Element der Familie ist ebenfalls typisch für die Stammfamilie des ländlichen Frankreich.

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zieht er sie dutzendweise aus dem Wasser. Dabei macht er seiner Enkelin deutlich, dass das mittlerweile verboten, aber eigentlich eine traditionelle und effektive Technik sei. Und als gegen Ende des Films der Industrielle Boutelleau seine giftigen Abwässer in eben jenen Fluss leitet, gerät Milou angesichts der im Wasser treibenden Masse toter Fische in eine Wut, als hätte man ihn selbst verletzt. Abbildung 1: Milou fängt Krebse

Quelle: DVD Eine Komödie im Mai, im Vertrieb von Alamode Film

Dabei ist Milou aber keineswegs ein Landarbeiter. Gerade in der Differenz zu Léonce zeigt sich, dass seine Gebrauchsweisen des Körpers die eines Herren sind: Während der Umsiedelung des Bienenvolkes bricht Milou seine Tätigkeit ab, um rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein. Léonce hingegen muss die Arbeit alleine zu Ende bringen. Und wenn die Familie nachts musiziert, Champagner trinkt und mit den exotischen Trophäen des Onkels Albert ihre Freiheit feiert, wird Léonce noch immer das Grab für Madame ausheben.3 Auch das Dienstmädchen Adèle ist in ihrem Körper ganz und gar Dienerin. Sie zirkuliert

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Léonce erscheint der Geist von Madame Vieuzac, der ihm stumm bei der Arbeit zusieht – ebenfalls eine Inszenierung des Herr-Knecht-Verhältnisses. Die Herrschaft des Hauses über seinen Diener geht über das Leben der Herren hinaus und verpflichtet ihn zur körperlichen Arbeit. Auch Milou erscheint seine Mutter. In der letzten Szene kehrt er allein in das Haus zurück, und findet seine Mutter am Klavier, von dem sie sich erhebt, um mit ihm zu tanzen – eine Umkehrung des Verhältnisses zum Körper, über den nun jenseits einer Arbeitsverpflichtung frei verfügt werden kann.

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zwischen Nahrungsproduktion (man sieht sie auf der Leiter stehend Kirschen pflücken) und Nahrungszubereitung (beim Zurüsten der Kartoffeln) und wird vor allem bei zuarbeitenden Tätigkeiten gezeigt: Sie deckt den Tisch, serviert das Essen, stapelt das geerbte Porzellan. An der gemeinsamen Tafel sitzt sie erst, als der Notar der Familie eröffnet, dass dem Dienstmädchen ein Viertel des Erbes zufällt. Damit wird auch symbolisch die Intimität deutlich, die bereits in Form einer erotischen Beziehung sowohl zu Milou wie auch zu Madame besteht.4 Milou hingegen kann dem Boden seinen Mehrwert abgewinnen, der ihm auch voll zu Gute kommt: Honig, Wein, Fische und Krebse. Dabei ist der Körper Milous aber keineswegs entfremdet und verstümmelt, wie Horkheimer/Adorno (1987) den nur genießenden, nicht arbeitenden Körper in ihrer Auslegung des HerrKnecht-Problems von Hegel interpretierten. Vielmehr ist Milou, der häufig mit nacktem Oberkörper gezeigt wird, nie ganz vom eigenen Boden getrennt. Er gehört viel eher dem Haus und dem Boden, als dass der Boden dem Herrn gehört. Sein Körper ist auf der Schwelle zwischen Naturbeherrschtem und Naturbeherrscher – ein noch nicht ganz zivilisierter Körper. Das zeigt sich schließlich auch in Milous Art zu Essen. Mehrfach befleckt er sich mit den Speisen das Hemd: „Dass das auch immer mir passieren muss“. Und sein Bruder Georges merkt an: „Ich kenne Dich nur bekleckert“. In der Konstellation der spezifischen Gebrauchsweisen des Körpers – dem Einsatz des ganzen Körpers in der Natur, dem relativen Mangel an Körperkontrolle, der unregelmäßigen Einbindung in ein Arbeitsregime und der fehlenden Langsicht in Bezug auf die Möglichkeit der Selbstversorgung durch die eigene Arbeit – wird es Milou daher auch unmöglich, sich als erwachsener Elternteil einer modernen Familie zu etablieren, von dem man mit Elias gesprochen „ein hohes Maß an Voraussicht und Selbstkontrolle verlangen“ (Elias 2006: 7) darf, auch wenn ihm zufällt, was andere für ihn erarbeiten.

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Wenn Milou auch nicht dem modernen Vater entspricht, so entsprechen seine Gebrauchsweisen des Körpers im Ansatz doch dem Modell des „male breadwinner“. Er und sein Diener trotzen draußen der Natur ihre Früchte ab. Die Nah-

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Mit der sexuellen Verfügbarkeit ist eine weitere Gebrauchsweise des Dienerkörpers angesprochen. Vgl. dazu auch Alain Corbin, der vom »Hang zum Küchenpersonal« spricht (1992: 564 ff.).

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rungszubereitung hingegen obliegt weiterhin den Frauen. Der private Raum der Familie ist auch ein weiblicher Raum. Die Historikerin Michelle Perrot verweist darauf, dass gerade auf dem Land die Frauen eine „wirksame soziale Gegenmacht“ darstellten und als „Gelenk zwischen Öffentlichkeit und Privatheit“ fungierten: „Meist waren es die Frauen, die das Geld im Hause verwalteten“ (Perrot 1992: 145). Und erst im 19. Jahrhundert setzt sich in den breiten Schichten des Bürgertums und des städtischen Proletariats jene neue Familienordnung durch, welche die Mutter zur sorgenden Hausfrau, ersten Erzieherin und Verwalterin des privaten Raums macht – und damit ihre Position deutlich verbessert (Donzelot 1980). Im Film wird zwei Frauen diese Rolle zugewiesen, indem sie als Köchinnen inszeniert werden: Madame Vieuzac und Camille. Die beiden Mütter erfüllen diese Rolle jedoch unterschiedlich. Madame Vieuzac, die über den Zwiebeln weint, die sie schneidet, aber ihre stoische Miene beibehält und damit als aufopfernde Mutter und Hausfrau präsentiert wird (sie stirbt schließlich beim Braten der Zwiebeln), steht ihre Enkelin Camille als selbstorientierte Bürgersfrau gegenüber, die ihre Aufgabe methodisch und kühl erfüllt. Während sie ihre Kinder zum Essen an den Küchentisch ruft, versprüht sie Insektizide über Küchenzeile und Spülbecken, in unmittelbarer Nähe zum Essen. Einerseits ist sie für das Essen verantwortlich, kocht die Flusskrebse und backt Kuchen, andererseits wird ihr die Anerkennung als sorgende und aufopferungsvolle Mutter verwehrt – dafür erscheint sie allzu sehr auf den eigenen Vorteil bedacht: Ihr Körper ist zu gepflegt und zu adrett gekleidet, um sich die Hände mit Arbeit schmutzig zu machen. Kaum bedeckt die Küchenschürze das Dekolleté – ja, sie trägt sogar den von ihr aus der Erbmasse entwendeten Smaragdring, während sie die Karotten putzt. Die Bewegungen von Adèle, die neben ihr die Kartoffeln schält und wäscht (vgl. Abb. 2), sind ungleich gröber und vehementer, behandeln die Zutaten als Arbeitszeug, das sie ja für Adèle auch sind. Auch ihre Schürze ist funktional: Sie reicht knapp bis unter den Hals. Camilles ganze Gestik dagegen vermittelt den Eindruck einer großen Selbstbeherrschung. Niemals darf die Fassade der gehobenen Bürgersfrau verloren gehen. Was Milou an Zivilisation mangelt, ist bei Camille übermäßig vorhanden. Im Zusammenbruch dieser Fassade wird jedoch deutlich gemacht, dass diese Haltung auch Nachteile mit sich bringt: „Sie können mich nicht leiden. Niemand kann mich leiden. Ich kümmere mich um alle… ich ich ich mach alles, ich arbeite von morgens bis abends. Ich mach das Essen. Jeder nutzt mich nur aus.“ Damit bringt Camille die fehlende Anerkennung für die von ihr geleistete Hausarbeit auf den Punkt. Die soziale Aufwertung der Frau als Herrin des Privaten wird erkauft um das Schweigen einer Selbstverständlichkeit, mit der diese Arbeiten nun von der Familie bedacht werden. Im Scheitern Camilles, Anerkennung für

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die eigene Arbeit als sorgende Mutter zu erringen, zeigt sich der Anspruch, den die Gesellschaft und mit ihr die Familie an die Position der Mutter stellt. Ihr Körper verrichtet die ihm aufgetragenen Aufgaben zwar rationell und beherrscht, zeigt dafür aber permanent an, dass er stattdessen in repräsentativer Art gebraucht wird, sich also nicht auf diese Tätigkeit reduziert gewusst werden will. Abbildung 2: Adéle und Camille in der Küche

Quelle: DVD Eine Komödie im Mai, im Vertrieb von Alamode Film

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DES

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Der Nahrungsverzehr, also das Essen als Körpertechnologie, variiert bekanntlich kulturell zwischen dem Essen mit der nackten Hand und dem Gebrauch von Werkzeugen. Darüber hinaus dürfen einige selbst essen, anderen traut man dies nicht, nicht mehr oder nur begrenzt zu: zum Beispiel Kindern, Senilen und Behinderten. Selbst dieser vermeintlich individuellste Akt – die körperliche Bewegung, die das Essen zum Mund führt, ist noch sozial überformt. Dennoch scheinen konsumierende Körper auf sich selbst verwiesen. Frank (1991) spricht ihnen deshalb einen monadischen Charakter zu, der gegenüber anderen Körpern ein dissoziatives Verhältnis einnimmt und in seinem Begehren auf sich selbst verwiesen bleibt. Frank nennt das einen „sich spiegelnden Körper“ („mirroring body“; 1991: 61ff.). Demgegenüber ist für die familiäre Mahlzeit gerade aber das assoziierende, verbindende Element von Bedeutung. Dass die Körper gemeinsam an einem runden Tisch zusammen finden, macht gerade den vergemeinschaftenden Gehalt der Mahlzeit aus (Kaufmann 2006; Keppler 1994; MartinFugier 1992; Simmel 1957). Sie konstituiert sich gerade durch die Kopräsenz der

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essenden Körper. Dennoch zeigen sich auch im Film Unterschiede im konsumierenden Gebrauch des Körpers. Als ein Extrem werden die Diener Léonce und Adèle dargestellt, deren Gebrauchsweisen des Körpers den Konsum ausschließen: Die Dienerschaft zeichnet sich durch ihre Absenz von der Tischgemeinschaft aus. Ihre Körper sind arbeitende Körper, die zwischen Nahrungsproduktion und -zubereitung zirkulieren. Ein anderes Extrem bilden die Körper, die nur konsumieren, aber nicht produzieren. Im Film begegnet uns diese Gebrauchsweise in drei Formen. Zum einen im Körper der Kinder, die ja faktisch von der Arbeitssphäre ausgeschlossen sind und deshalb nur als essende Körper erscheinen. Die Darstellung der drei Kinder von Camille (Françoise und die beiden Zwillinge) orientiert sich damit am Muster moderner Kindheit: Dem Ausschluss von der Arbeitssphäre entspricht eine Spielkindheit – die Zwillinge initiieren bei Tisch eine Essensschlacht mit einem Gast. Dem wird gleichzeitig ein Gebrauch des eigenen Körpers des Kindes beim Essen gegenüber gestellt, der von den Erwachsenen beherrscht wird: Camille zerteilt ihren beiden Zwillingssöhnen das Essen in mundgerechte Stücke. Schließlich zeigt sich die Position der Kinder auch darin, dass sie zwar keine spezifische Position in den Prozessen der Nahrungsproduktion und -zubereitung einnehmen, wohl aber über Zugang zu diesen Sphären verfügen. Die Zwillinge halten sich in der Küche auf und helfen Adèle beim Pflücken der Kirschen (vgl. Abb. 3), während die ältere Schwester Françoise ihrem Großvater Milou zum Fangen der Krebse begleitet. Abbildung 3: Die Zwillinge beim Kirschenpflücken

Quelle: DVD Eine Komödie im Mai, im Vertrieb von Alamode Film

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Darin zeigt sich ebenfalls ein Charakteristikum moderner Kindheit: Die Kinder verfügen zwar über keinen spezifischen Raum und tauchen daher immer am falschen Ort auf – dafür ist es ihnen jedoch auch möglich, den Gebrauchsweisen anderer Körper in der Nahrungsproduktion und -zubereitung beizuwohnen. Genau das unterscheidet sie von den anderen Figuren im Film, die als reine Konsumenten auftreten. Den zweiten Typus von Konsumenten bilden jene Familienmitglieder, die von der Arbeit anderer leben. Milous Bruder George wird als städtischer Intellektueller präsentiert, der zwar gerne isst, aber jeglichen Bezug zur Nahrungsproduktion verloren hat: Als die Familie vor den Revolutionären flieht, versucht George vergeblich, mit einer selbst gestellten Falle einen Vogel zu fangen. Stattdessen verletzt er sich seine Hand an der eigenen Konstruktion.5 Während George vorgibt, als Journalist für Le Monde zu arbeiten, übernimmt seine Frau Lily die Rolle der aus der Arbeitssphäre heraus gelösten Hedonistin: Claires Geliebte: Und Sie, Madame, was machen Sie? Lily: Nichts. Georges: Das darfst Du nicht sagen, Lily. Du bist Schauspielerin. Lily: Ich bin Schauspielerin, aber ich tue nichts.

Lily wandert durch die Räume, während sie an einem Cocktail nippt oder folgt Milou zur Verkostung in den Weinkeller. In dieser genussorientierten Gebrauchsweise ihres Körpers ähnelt sie Milou, mit dem sie eine Liaison beginnt. An ihr zeigt sich jene „conspicuous consumption“, von der Veblen (2011 [1899]) sagte, dass sie die gesellschaftlichen Eliten auszeichne: Der zur Schau gestellte Konsum zeigt immer auch an, dass man über freie Zeit verfügt und nicht arbeiten muss – ein begehrenswerter Zustand, aus dem sich die Bewunderung für die Eliten ableiten lässt. Mit eben solcher Bewunderung sagt Milou über Lily: „Eine Frau, die isst, ist etwas Schönes“. Schließlich sind da noch die Gäste, die ihre Körper nur konsumierend gebrauchen: die Geliebte von Milous Nichte Claire, der Fernfahrer Grimaldi und der Notar. Ihnen wird ein Platz an der Tafel zugestanden. Dennoch weist ihnen

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In George verkörpert sich ein weiteres Strukturprinzip moderner Gesellschaften. In seiner Unfähigkeit, sich seiner Hände zu bedienen, ist der Journalist Ausdruck einer Arbeitsteilung, die zwischen Kopf- und Handarbeit unterscheidet (Gramsci 1991 ff.). Er entspricht damit noch am ehesten dem von Horkheimer/Adorno (1987) thematisierten entfremdeten Körper des Herrn.

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der Ausschluss von den Gebrauchsweisen des Körpers jenseits des Konsums auch eine Position außerhalb der Familie zu: Zwar scheint sich ihre Position mit denen der Kinder zu decken, aber im Gegensatz zu diesen ist ihnen selbst die passive Partizipation an Szenen der Produktion und Zubereitung nicht gestattet.6 Auch die Nachbarn, das Industriellenpaar Boutelleau, werden als reine Konsumenten inszeniert. Während bei Lily und ihrem Mann George die Lust am Konsum betont wird, gleicht der Konsum der Boutelleaus einem eifersüchtigen Wachen über die eigenen Vorräte. Als man sich entschließt, zusammen vor den Revolutionären in den Wald zu flüchten, betont Frau Boutelleau, dass sie die als Abendessen gedachte Lammkeule mitgenommen habe: „Es wäre schade drum. Sie ist gut“. Und als das Fleisch während einer Rast von Milou zerteilt wird, bemerkt sie im vorwurfsvollen Ton: „Eine Lammkeule reicht eben für sieben oder acht. Für mehr nicht“. Als die Gruppe schließlich bei heftigstem Regen nach einem Unterschlupf sucht, steckt sie ihrem Mann verstohlen ein Stück Schokolade zu. Hier trägt der Konsum wieder stärker dissoziierenden Charakter und unter den Bedingungen einer Lebensmittelknappheit wird sofort zwischen dem Ehepaar und den anderen unterschieden. Das Essen vergemeinschaftet zwar das Paar, grenzt es aber auch nach außen ab. Diesen rein auf Konsum beschränkten Körpern (Kinder, Verwandtschaft, Gäste) steht Camilles diätetischer Gebrauch des Körpers gegenüber. Obwohl sie vorwiegend für die Nahrungszubereitung zuständig ist, zeigt sie sich in Bezug auf den Verzehr restriktiv. Kaum einmal, dass sie mit Genuss isst, oder dass sie große Mengen verspeist. Stattdessen knabbert sie an einem Keks oder beißt von einer Möhre ab. Konfrontiert mit dem Vorwurf, dass ihr der Tod der Großmutter nicht auf den Magen geschlagen habe, antwortet sie, an ihrem eigenen Nachtisch probierend: „Mein Gott, ich esse so gut wie nichts“. Die fehlende Anerkennung spiegelt sich in einem Konsum, der sich selbst den Genuss versagt, der aber zugleich auf sie als Köchin verweist und die anderen dazu auffordert, ihrer Leistung Rechnung zu tragen: Der selbstgebackene Kuchen wird mit einem „Mmmh, schmeckt mein Kirschkuchen gut“ kommentiert. Auch wenn Camille damit der Frank’schen Konzeption des Konsums als spiegelnde Körper wohl am nächsten

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Der Notar bildet hier eine Ausnahme. Als Spiegelung der Figur von Adèle ist es ihm als Camilles Liebhaber gestattet, an den Konstellationen der Nahrungsproduktion und -zubereitung zu partizipieren: Er geht mit Camille die Eier aus dem Hühnerstall einsammeln und wird auch in der Küche gezeigt. In beiden Situationen versucht er, sich Camille erotisch zu nähern.

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kommt, so ist selbst dieser Konsum nicht monadisch: Camilles Drang zur Betonung der eigenen Leistung verweist auf die notwendige Beziehung zu anderen, über die sich der Selbstbezug im Konsum formt. Gerade weil der essende Körper auf eine reflexive Weise gebraucht wird, macht sich die Position des Individuums innerhalb des familiären und gesellschaftlichen Gefüges sichtbar.

F AZIT – D IE G EBRAUCHSWEISEN UND DIE F AMILIENORDNUNG

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An den essensbezogenen Gebrauchsweisen des Körpers, so meine Ausgangsthese, lässt sich seine soziale Positionierung erschließen. Im Film Eine Komödie im Mai wird der einzelne Körper dabei in zwei verschiedene, aber miteinander verflochtene Register sozialer Ordnung eingeschrieben: in das Register der Gesellschaftsordnung und in das Register der Familienordnung. Das lässt sich noch genauer fassen: Der Körper ist in die Gesellschaftsordnung eingebunden, indem sein Gebrauch durch die Familienordung strukturiert wird. Die Familienordnung zeichnet sich durch ein spezifisches Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit aus. Dabei wird die Grenze zwischen diesen beiden Sphären nicht nur über den Zugang zu mehr oder weniger abgegrenzten Räumen reguliert, sondern gerade auch über den Ein- oder Ausschluss von körperlichen Gebrauchsweisen. Zwei Grenzen werden sichtbar, die den privaten Raum intern differenzieren. Die erste Grenze unterscheidet zwischen dem Haus Vieuzac und seinen Gästen respektive Nachbarn. Letztere werden dadurch sichtbar, weil sie allein als Nahrungskonsumenten in Erscheinung treten und dabei auch nicht als über spezifische Körpergebrauchsweisen verfügend charakterisiert werden (Notar, Claires Geliebte, Grimaldi, das Ehepaar Boutelleau). Innerhalb des Hauses Vieuzac markiert umgekehrt die Möglichkeit, den Körper konsumierend zu gebrauchen, den Unterschied zwischen der Familie und dem Gesinde: Léonce und Adèle. Adèle macht diesen Übergang deutlich, indem ihr als Erbin von Madame Vieuzac nun ebenfalls die Teilhabe am gemeinsamen Essen ermöglicht wird (im Tableau 1 ist sie daher ein zweites Mal und mit einem Asterisk versehen eingetragen). Vom Dienstmädchen wird sie zwar nicht direkt zu einem Familienmitglied, aber sie genießt nun auch das Privileg des Nahrungskonsums. Den Körper in einer konsumierenden Weise zu gebrauchen zieht damit in einer subtrahierenden Logik die Grenze des Hauses (alle, die bloß konsumieren dürfen, gehören nicht zum Haus) und intern ein weiteres Mal, diesmal in einer additiven Logik, die Grenze zwischen Gesinde und Familie (alle, die auch konsumieren dürfen, gehören zur Familie).

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Die Familie Vieuzac verfügt über einen privaten Raum, der das ganze Spektrum essensbezogener Gebrauchsweisen des Körpers abdeckt. Doch auch dieser innere Raum der Familie ist noch einmal strukturiert. Nicht allen Familienmitgliedern stehen die essensbezogenen Gebrauchsweisen des Körpers gleichermaßen zur Verfügung. Ein Teil der Familie bleibt faktisch auf den Nahrungskonsum verwiesen oder wird durch die objektive Unmöglichkeit, Nahrung zu gewinnen oder zu verarbeiten, einer den Gästen und Nachbarn äquivalente Position zugewiesen (Claire, Georges und Lily, Alain-Pierre). Der Unterschied besteht aber nicht zuletzt darin, dass sie durch die Erbansprüche einen Einfluss auf die Nahrung produzierenden Körperpraktiken ausüben, etwa indem Georges und Claire den Verkauf des Guts einfordern oder indem Georges Sohn Alain-Pierre die Idee einer landwirtschaftlichen Kommune vorschlägt. Die Kinder schließlich unterscheiden sich von jenen erwachsenen Familienmitgliedern und den Gästen dadurch, dass sie ihren eigenen Körper zwar nur konsumierend gebrauchen, dabei aber Zugang zu den Sphären der Nahrungsproduktion und Nahrungszubereitung erhalten.

Tableau 1: Die Gebrauchsweisen des Körpers und die familiäre Ordnung der Familie Vieuzac

Quelle: Eigene Darstellung

Die Sphären der Nahrungsproduktion und der Nahrungszubereitung sind schließlich geschlechtlich getrennt. Obwohl Adèle zwar die Kirschen pflückt und damit an der Nahrungsproduktion beteiligt ist, beteiligt sich kein Mann an der Zuberei-

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tung des Essens. Diese Gebrauchsweise des Körpers obliegt den Frauen: Camille, Adèle und Madame Vieuzac. Dabei nimmt die letzte eine besondere Position ein, weil sie im Gegensatz zu Camille bloß beim Kochen gezeigt wird und damit in die Nähe des Gesindes (Léonce und Adèle) rückt: Camilles Ambivalenz zwischen arbeitender Hausfrau und repräsentierender Gattin hingegen verdankt sich dem Gebrauch ihres Körpers als zugleich Nahrung zubereitend und verzehrend, der sich zunehmend in Richtung des Konsums bewegt: Die fehlende Anerkennung als Mutter, Köchin und Hausfrau wird von ihr selbst durch das Kosten der eigenen Speisen kompensiert. Genau umgekehrt gestaltet sich dagegen die Dramatik der Figur des Milou: Sein Nahrung produzierender Körper droht mit dem Verkauf des Hauses verloren zu gehen. Damit aber würde er nicht einmal auf einen konsumierenden Körper reduziert, sondern gänzlich seiner Gebrauchsweisen des Körpers beraubt. Konnte er bisher nicht einmal von der Bewirtschaftung des Bodens ordentlich leben, so lebt er dennoch davon, dass ihm andere das Essen erwirtschaften und zubereiten. Mit der durch die Familienordnung bestimmten Einbindung in die Struktur der essensbezogenen Gebrauchsweisen des Körpers ist es den einzelnen Mitgliedern möglich, ihre gesellschaftliche Position zu beziehen und zu halten. Dabei geht es um mehr als die herrschaftliche, geschlechtliche und generationale Verortung der Figuren, nämlich vor allem um die Möglichkeiten, sich seines Körpers derart zu bedienen, dass durch den Gebrauch des Körpers zugleich sozial verbindende wie das Individuum sichtbar machende Narrative des Selbst generiert werden, anhand denen sich wiederum die Territorien des Öffentlichen und des Privaten kartographieren lassen.

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Cyber-Apfel, Schoko-Netz und die Macht medialer Fiktionalität VeggieTales – LarryBoy und der böse Apfel. Eine Geschichte über das Nein sagen (2009) / Regie: Tim Hodge N ICOLE M. W ILK

In der Abenddämmerung reißen vor einem Candy-Shop zwei Motorrad fahrende Gurken einem Spargelkind den Schokoriegel aus der Hand. Ein Zeuge fordert lauthals, die Polizei zu rufen, woraufhin sich Superheld LarryBoy mit seinen Saugnapfohren von Skyscraper zu Skyscraper hangelt, um das „Gangstergemüse“ zu stellen. Wenig später marschiert ein Apfel durch Downtown Bumblyburg, die Parole „Versuchung“ skandierend und in Liedversen versprechend „Klopf klopf. Wer da? Nur ein süßer kleiner Apfel, ich mach’ Ihre Träume wahr“. Lassen sich das inszenierte Schokobegehren und die Warnung vorm bösen Apfel mit aktuellen ernährungspolitischen Forderungen in Zusammenhang bringen? In allen 17 Folgen der VeggieTales erleben Gemüsefiguren als Sympathieträger komödiantische Abenteuer auf der Folie diverser Spielfilmgenres (Bibelgeschichte, Western, Horrorfilm) und Heldengeschichten (Don Quichotte, Sherlock Holmes, Bat-/Spiderman). Die aus den USA importierte „sinnvolle Fernsehunterhaltung für Kinder im Vorschulalter“ (apologet.de 2012) hat den Anspruch, im Rahmen einer christlichen Lebensorientierung gesunde Ernährung mit viel Obst und Gemüse attraktiv zu machen. Das Medienprodukt der VeggieTales aus 3-D-animierten Abenteuern, Internetauftritt, Lebensmitteln (Wasser), Computerspielen und Songs passt sich in den Wertekanon eines pädagogisierten Ernährungsdispositivs ein, das die „Krise des Gesundheitswesens“ als „Krise des Bildungswesens“ interpretiert: „Angesichts begrenzter Laienkompetenz in der privaten Lebensgestaltung der Menschen – Familien […] sind offensichtlich überfordert, Gesundheitswissen und -können im Umgang mit Essen, Trinken und

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Ernährung zu vermitteln – richten sich Forderungen an eine institutionelle Verantwortung“ (Heindl 2005: 9). Dem beklagten Mangel an „Lebensführungskompetenzen“ wie Ernährungsbewusstsein wird von öffentlicher Seite mit Aufklärungsaktionen begegnet, die über einen „gesünderen Lebensstil mit Spaß und Genuss“ informieren. Kooperationen mit dem Deutschen Gesundheitsfernsehen (dgf-tv.de 2012), der Städtetour Kinderleicht on tour des Bundesernährungsministeriums (talkingfood.de 2012) oder der Aktion Deutschland bewegt sich des ZDF und anderer belegen, dass sich die (Ernährungs-)Moral der Gemüsehelden in die auf Lebensstilfragen ausgeweiteten Programme einpasst. Mehr noch: Das Format gibt ein Beispiel dafür, wie Lebensmittel im Medium Film mit Moralwerten aufgeladen und auf verschiedenen Übertragungswegen (Ikone/Metaphern, Re-Kontextualisierung, Ontosemiologie) in ein System sozialer Geltungswerte eingelassen werden. Dass eine moralisierende Codierung von Lebensmitteln in Gut und Böse eine hergestellte Funktion des filmischen Motivgefüges ist, soll leitende Vermutung der folgenden Darlegungen sein. Der Film LarryBoy und der böse Apfel weist neben den Gemüsehelden zwei weiteren Lebensmitteln einen besonderen semiotischen Status zu: dem Apfel und der Schokolade. An konträren Stellen der Ernährungspyramide angesiedelt gewinnen Apfel und Schokolade mit ihren spezifischen kulturgeschichtlichen Traditionen über Verknüpfungen mit anderen Systemen (Geld, Medien) Zeichenwerte, die in der Subjektwerdung mit ihrer Differenzbildung aus Eigenem und Fremden eine entscheidende Rolle spielen. Die Funktionalisierung dieser Nahrungsmittel als soziale Zeichen enthüllt eine Matrix aus Körper (Schokolade), Wissen (Apfel) und Macht (Medien-Kontrolle).

N AHRUNGSMITTEL

ALS FILMISCHE

Z EICHEN

Um ein im Film personalisiertes oder in der filmischen Äußerungsstruktur als Requisite eingesetztes Nahrungsmittel kultursemiotisch zu fassen, gilt es, die Tradition der Aufspaltung semiologischer Ansätze in solche, die von fixen Zeichensystemen ausgehen (und zu Unrecht de Saussure als Gewährsmann wählen) und solche, die sich pragmatischen Ansätzen verpflichtet fühlen (vgl. Kloepfer 2003: 3191), hinter sich zu lassen. Ob als ikonographische Motive im klassischen Roman oder als Marke mit intertextuellen Werbestrukturen, Lebensmittel haben immer ein pragmatisches Potential, weswegen sie konsumsoziologisch neben anderen Waren als Medien im intersubjektiven Austausch fungieren. Auch wenn Werbung Nahrungsmittel so in Szene setzt, dass sie in komplexen gesellschaftlichen Handlungsprozessen Status, Lifestyle oder individuieren-

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de Werte erzeugen, lohnt es sich, am Zeichenbegriff festzuhalten und den Medienbegriff Kommunikationsinstrumenten wie Schrift, gesprochene Sprache, Bild und Musik vorzubehalten, die der Film umfasst. Kommunikationsinstrumente operieren wiederum mit verschiedenen Zeichensystemen, wobei das sprachliche Zeichenhandeln seine Wirkung unter anderem in architektonischen, gestischen und musikalischen Umgebungen entfaltet. Umgebungselemente, Figuren und ihre Eigenschaften sind oft in verschiedenen Bezügen organisiert und konstituieren durch Sprachhandlungen einen Kontext. Die kultursemiotische Analyse verstanden als Kontextanalyse vermag innerhalb eines Macht-Wissens-Regimes soziale Dispositive und gouvernementale Selbst-Technologien herauszupräparieren. Der von Foucault geprägte Begriff der „Gouvernementalität“ (Foucault 2000) erhebt als neue Form sozialer und politischer Steuerung die autonome Subjektivität zum gesellschaftlichen Leitbild, die wiederum riskante Freiheiten eröffnet: Soziale Gerechtigkeit, als versicherungsmathematische Gerechtigkeit konzipiert (vgl. Schmidt-Semisch 2000: 176), mündet in der staatlichen Erwartung an die Einzelnen, Risiken zu minimieren, woraus permanente Schuldvermutungen erwachsen. Insofern ist der klassischen filmsoziologischen Ansicht zu widersprechen, dass der Film soziale Interessen vertritt in dem Sinne, dass eine verborgene Absicht zutage gefördert werden könnte (vgl. Kracauer 1974: 9). Die Analyse der Dispositive oder Diskursformationen (vgl. Keller 2008: 122ff.) hebt hingegen auf die Verbindungen zwischen Aussagesystemen ab, die bezogen auf den Film in Plot und Montageformen die Aufmerksamkeit steuern, Handlungen organisieren und Sinnbeziehungen aufbauen. Filmanalyse als Kulturanalyse (vgl. Winter 2003) braucht semiotische Konzepte dort, wo verschiedene Zeichentypen aufeinandertreffen (Sprache, Gesten, Architektur, Landschaft, Nahrungsmittel). In filmsemiologischen Studien und einschlägigen Kapiteln werden semiotische Grundbegriffe unterschiedlich eingeführt. „Symbol“ wird oft die metaphorische Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat genannt (zum Beispiel das das Christentum symbolisierende Kreuz), wohingegen es in der linguistisch inspirierten Semiotik, der hier gefolgt wird, der Benennung einer arbiträren Zeichenrelation vorbehalten ist. Anders als in der Literatur haben ikonische Zeichen im Film einen besonderen Anteil an der emotionalisierenden (das heißt dramatisierenden, suggestiven, Lesart steuernden) Wirkung szenischer Texte. „The iconic sign is the most labile; it observes neither the norms of convention nor the physical laws which govern the index, neither thesis nor nomos“ (Wollen 1972: 152). Die Grade der Konventionalisierung ikonischer Zeichen hat Eco in einem Modell abgestuft, das unterschiedliche Arten von Weltwissen in der Rezeption bildlicher Aussagen reklamiert (vgl. Eco 1994: S. 272f.). So nehmen Erwachsene andere ikonische Schichten eines Films wahr

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als Kinder. In Ecos Terminologie erfassen sie auf ikonographischer Ebene zum Beispiel die Windmühlräder als Anspielung an Cervantes’ Don Quichotte, während Kinder rein ikonisch das Funktionieren der Windmühle durch ihre Erfahrungen mit Windrädern rekonstruieren. Zudem kann tropologisch der Kampf gegen das Mühlrad als Zeichen eines aussichtlosen Unterfanges interpretiert werden. Diese bildmetaphorische Umsetzung verbaler Wendungen lässt sich als Spezialfall der Filmsprache fassen, wenngleich die Metapher einer Sprache des Films vielfach problematisiert worden ist (vgl. Kloepfer 2003: 3189; Metz 1972: 57f.). Zwar hebt sie die konstruktive Kraft von Bild, Einstellung und Kameraperspektive hervor. Die Beziehung zwischen gesprochener Sprache und ihren zeichenhaften Umgebungen gerät jedoch aus dem Blick, wenn Umgebungen in isolierte Zeichensysteme zergliedert werden. Die Rolle der syntagmatischen Dimension des Films kann auch ohne Sprachanalogie anhand des konzeptuell bisweilen überstrapazierten Montagebegriffs herauspräpariert werden: Die Montage wird in der Filmsemiotik als narratives Verfahren mithilfe des In-Beziehung-Setzens zweier Einstellungen definiert, so dass Bedeutung über das in den jeweiligen Einstellungen Abgebildete hinaus entsteht (vgl. Borstnar et al. 2008: 147). Diese Bedeutungen unterscheiden sich im Medium Film von Textbedeutungen der Schriftsprache insofern, als die ohne Medienwechsel auskommende Literatur Ereignisse verbal explizieren muss, wohingegen die syntagmatische Organisation des Films Ereignisse durch Schnitte und Szenenfolgen erzeugt, ohne dass Schnitte, Überblenden, Doppelbelichtungen et cetera an sich Sinn haben. Die Sinnhaftigkeit dieser filmspezifischen Mittel kann sprachwissenschaftlich als ersetzte beziehungsweise ergänzte grammatische Äußerungsmodalität beschrieben werden. Hennig (2010) stellt am Beispiel ortsfester schriftlicher Kommunikate heraus, dass verbale Finitheit auf Objekte des umgebenden Raums übertragen werden kann, so dass eine grammatische Kategorie (Finitheit) pragmatisch ausgefüllt wird. Ähnlich könnte der Film beispielsweise die im Konjunktiv ausgedrückte Vagheit eines Sachverhalts durch Montagen demonstrieren. Ein Vorteil dieser pragmatisch ausgedehnten kinematografischen Grammatik (vgl. Metz 1972: 197) ist die Hervorhebung der spezifischen Kontextualisierungsleistung filmischer Zeichen und die Abkehr von der Vorstellung einer additiven Wirkung heterogener Zeichensysteme (vgl. Wulff & Möller 1985), die der Film „irgendwie“ integriert. In Bezug auf Nahrungsmittel als filmische Zeichen ergibt sich folgender Schluss: Kommt Nahrung im Film Zeichenwert zu, ist dieser innerhalb der sprachlichen Zuschreibungs- und Handlungsstruktur in seiner kulturgeschichtlichen Qualität (ikonografische Zeichen) und in Relation zu anderen Objekt-

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Zeichen bestimmbar – ausgehend von der Überlegung, dass Sprache andere Zeichensysteme durch kontextualisierende Zuschreibungen organisiert.

Z USAMMENFASSUNG DES F ILMS UND G ENREBESTIMMUNG : D AS U NHEIMLICHE (C YBERWEBS ) ALS DAS HEIMLICH V ERDRÄNGTE (F IKTIONALITÄT / M ÖGLICHKEITSSINN ) Der Film LarryBoy und der böse Apfel richtet sich an Kinder im Vorschulalter. Er will am Leitfaden christlich-sozialer Werte Kinder für Gemüse begeistern. Die personifizierten Gemüsehelden (Bob Tomate, Larry Gurke, Junior Spargel, Laura Karotte) folgen einer Tendenz zur Realitätsorientierung des Zeichentrickfilms, nach der nicht nur Tiere, sondern auch Dinge mit liebevoll gestalteten Anspielungen an das Allzumenschliche nach dem Vorbild der realen Welt geformt sind. Das Fiktionale reduziert so seine Möglichkeiten auf die Ausgestaltung anthropomorpher Objekte und bringt diese in eine Welt, die wie eine Kopie der Wirklichkeit funktioniert. In der betreffenden Folge erscheint die fiktive Welt als Gegenwelt zur „Welt, wie sie sein soll“, als bedrohliche Realitätskopie der Massenmedien, gezeigt als Netz der Versuchung, das die Welt erster Ordnung durch die Schwächen der Gemüsefiguren projiziert. Paradoxerweise machen gerade diese Schwächen die Charaktere „menschlich“ und sympathisch. Von ihnen leben die zahllosen Gags, die den Horror des Films brechen. Die gerufenen „Geister“ werden verkörpert durch einen weiblichen Apfel mit unter einem Mantel verborgenen Spinnenbeinen, der die Gründerstatue der mit New-York-Kulisse versehenen Stadt eingesponnen hat. Diese soll – das ist das expositive Ereignis des Films – zum 300-jährigen Bestehen der Stadt enthüllt werden. Nachdem die Apfelspinne Wurm Curly in ihre rachsüchtigen Eroberungspläne eingeweiht hat, bringt sie Bürgermeisterin Blaubeere, Reporterin Petunia Rhabarber und Superheld LarryBoy alias Larry Gurke ihren Lastern gemäß (Eitelkeit, Spielsucht, Schwäche für Schokolade) in Versuchung. Zu diesem Zweck spinnen ihre Metallbeine ein Netz, in dem wie auf einem Bildschirm ein Märchenschloss mit Kleidern (Abb. 1), ein Videospiel und ein Schokoladenmuseum mit Kakaofluss erscheinen, in den der etwas tollpatschige Superheld sogleich eintaucht und damit sein Trainingsprogramm über den Haufen wirft, das ihm sein Coach Alfred Spargel zum Ausgleich seiner Schokoladenexzesse verordnet hat. Kurz zuvor hatte dieser in der Historischen Gesellschaft auf einer Filmspule über Bumblyburgs Geschichte den entscheidenden Hinweis auf den Täter erhalten: Die Nichte des Apfels, der einst von Stadtgründer Obediah Bumbly aus

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Bumblyburg vertrieben wurde, weil er die Bürger in sein Spaßhaus lockte, war es, die die Statue eingesponnen hat. LarryBoy gelingt es, den mit Spinnenweben vor seiner Lieblingsshow gefesselten Spargelfreund und anschließend Bürgermeisterin und Reporterin zu befreien. Alle versammeln sich zum großen Showdown auf dem zentralen Platz. Mit verlängerten Beinen hat die Apfelspinne inzwischen einen riesigen Ballon mit der Aufschrift „Apply’s Funhouse 2“ aufgeblasen, der die Bürger mit Rummelplatzangeboten zu fesseln droht. Alle helfen mit, die Eroberung der Stadt durch den Spaßbuden-Apfel zu stoppen. Larry schießt ihn am Ende ins All. Rockende Maiskolben beschließen den Film mit einer Hommage auf den Superhelden. Kurz vorm letzten Angriff auf den Apfel trägt der Superheld die Lehre des Films vor. Seine pathetische Scheidung der sozialen und kulinarischen Welt in Gut und Böse setzt voraus, dass er sich auf die Seite der kollektivierten Guten schlägt: LARRYBOY: Niemand von uns ist stark genug, um allein der Versuchung zu widerstehen. Zeit fürs Apfelpflücken. Hör genau zu, böser Apfel: Das Spiel ist aus. Böser Apfel, du bist von Grund auf schlecht.

Die antagonistische Rolle der Apfelspinne („böse“, „von Grund auf schlecht“) lohnt eine Betrachtung der genrifizierenden Kriterien des Horrorfilms. In GenreZuschreibungen kommen ganz unterschiedliche Kriterien zum Tragen. Klassifiziert man die Folge als Kinderfilm, ist die Zielgruppenausrichtung mit ihrem pädagogischen und gesundheitspolitischen Anspruch maßgeblich. Die eindimensionale Figurenzeichnung und die Gender-Codierung wären Belege dafür, dass das vorliegende Filmbeispiel eher gegenläufig zu den Trends des Kinderfilms wirkt (vgl. Metzdorf 2011). Der diagnostizierte Wandel der Geschlechterrollenmuster zu mutigen, aktiven Mädchen in den Hauptrollen wird durch einen Rückfall in Geschlechterklischees konterkariert (männlicher Held, eitle Bürgermeisterin, verführerische Apfel-Dame). Auch neue Kindheitsbilder mit kindlichen Innensichten und einer Abkehr vom auktorialen Erzähler werden nicht favorisiert. Im Unterschied dazu hebt das Genre Zeichentrickfilm auf die technische, von der Handlung unabhängige Filmdimension ab. Mit ihr knüpft der Film an eine Tradition an, wie sie in den Anfängen von Kracauer als „Wendung zum realistischen Stil“ (Kracauer 1974: 59) am Beispiel von Disneys Dumbo beschrieben worden ist. In die Figurengestaltung fließen Vermenschlichungen von Objekten (Autos, Gemüse et cetera) ein, die in der Realität nachgebildeten Räumen handeln statt wie Mickey Mouse den physikalischen Gesetzen zu trotzen. Auch wenn die VeggieTales-Folge Elemente des Abenteuer- (dominante Heldenfigur im Batman-Outfit) und Fantasyfilms (Gemüsegesellschaft) aufweist, ist die Ein-

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stufung als klassischer Horrorfilm, in dem den Protagonisten die Wiederherstellung der Ordnung durch das Zurückdrängen des Monsters gelingt (vgl. Borstnar et al. 2008 67), kultursemiotisch relevant. Denn das, was die Ordnung bedroht, ist ein konstruiertes Ängstigendes, das als Einbruch in die Normalität mit filmischen Mitteln emotionalisiert wird: das grenzüberschreitende Ereignis der Einwicklung des Stadtgründers mit Spinnenweben, die dämonische Hybris aus Frucht und Tier, die die Handlungslähmung des im Schokoladensumpf gefangenen Superhelden verursacht, und nicht zuletzt die begleitende musikalische Gefahrensuggestion. Abbildung 1: Bürgermeisterin Blaubeere wird ins virtuelle Märchenschloss im Spinnennetz entführt

Quelle: LIFEHOUSE Medien Projekt & Marketing GmbH & Co. KG

Die wiederholte Bedrohung (die Nichte des Apfels nimmt Rache) hat psychoanalytisch mindestens zwei Konstitutionsmomente des Unheimlichen: 1. Das Unheimliche ist das Heimlich-Heimische, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist. Freud bezeichnet das Präfix „un-“ als „Marke der Verdrängung“ (Freud 2000: 267). Die Vorstellung, die filmdiegetisch der Verdrängung unterliegt, besteht aus einer Kombination mehrerer Filmelemente: der Projektionskraft der Spinne durch ihren Ring, der wasserähnlichen Oberfläche der Cyberwelten und dem „Netz der Schokoladen-Versuchung“. Sie liegt grob ausgedrückt im Medialen, einem Zentralmotiv des Films, das viele

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Schlüsselszenen rahmt (durch Fernseher, Kameras, Übertragungsleinwände, LarryBoy als Drehfigur). Der Film entwickelt damit indirekt eine Theorie seiner eigenen Kommunikationsbedingungen. Diese Selbstthematisierung des Medialen im Medialen führt zu einer paradoxen Situation, da das gezeigte Mediale (die begehbaren künstlichen Welten, das Märchenschloss, das Computerspiel, das Schokoladenmuseum) denselben Verdrängungen unterliegt wie die Rahmenhandlung. Inhalt des Verdrängten ist somit eine Leistung des Medialen selbst: sein Fiktionalitätspotential, seine Möglichkeit, künstliche Welten zu erschaffen und Verfremdungseffekte zu nutzen, wie sie in Träumen, in der Phantasie oder in unbewussten Prozessen vorkommen. Zwar schöpfen die VeggieTales ihren phantastischen Spielraum dadurch aus, dass sie Gemüse zum Leben erwecken oder ihren Helden mit ausfahrbaren Pümpelohren ausstatten. Doch die Handlungsmodalitäten der Figuren werden von einer Gesinnung abhängig gemacht, die den Gesetzmäßigkeiten menschlicher Körper folgt. Das freie Erfinden, Experimentieren, die Grenzerweiterung und das konsequenzfreie Probehandeln werden dagegen als Falle entworfen, die das Böse (der Apfel mit seinen kulturhistorischen Insignien der Erkenntnis) in Form kontrollierender Netze mit Anspielungen an das World Wide Web aufstellt: CURLY: Oh, diese Erfindung des Word Wide Web finde ich wunderbar. Hochtechnologisch. APFEL: Zur Zeit ist es lediglich mein bumblyburgweites Netz. Aber hab Geduld. Zuerst Bumblyburg, dann die Welt. CURLY: Gut, was hast du da am Start? Lebende Laserstrahlen, magnetische Netze, eine ganze Armee radioaktiver Roboterspinnen? APFEL: Du Wurm. Das ist nicht die Art, wie ich vorgehe. Ich bin die Versuchung. Ich werde locken und erobern. CURLY: Ach so, verstehe. Clever durchdacht.

Mit der drohenden Cybermoralmacht erweist sich das Unheimliche (die projizierten Cyberwebs) als das heimlich Verdrängte (die Macht ihrer Fiktionalität/ ihr Möglichkeitssinn). 2. In der Wiederholung des Gleichartigen erkennt Freud die Quelle des unheimlichen Gefühls. Es belegt den vom Todestrieb abgeleiteten, über das Lustprinzip regierenden Wiederholungszwang (vgl. Freud 2000: 259ff.). Die Wiederholung wird mit einem offenen Ende über den Film hinaus fortgesetzt: Das Schlussbild zur Feier Bumblyburgs zoomt weg und erscheint im Bildschirm, den ein Spinnenbein ausschaltet (Kontrolle).

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Schlussendlich zeigt sich die Genrefolie auch für pädagogische Ziele funktional. Die visualisierte Angst kann als erwünschter ansozialisierter Horror erkannt werden, der die für den Horror typische Begegnung mit dem Fremden (vgl. Faulstich 2008: 42) auf verschiedenen Ebenen thematisiert: Körperpolitisch (hybride Apfelspinne wie Zombies, Katzenfrauen, Halbwesen, Werwölfe, Killerpuppen), historisch (zwei Gruppen, die kurz nach der Ankunft im unbekannten Land in Konflikt geraten) und psychosozial in Form der Entäußerung von Begierden und Ängsten (Medienangst). Als abgespaltenes Konstrukt des Eigenen offenbart das Fremde die gesellschaftlichen Forderungen an jenen Körper, der die Medien bedient. Sein Kontrollausfall und seine Blockaden sind Teil der Notwendigkeit, sich gemeinschaftlich zu verbünden. Der Untertitel Geschichte über das Neinsagen führt ex negativo zu den unterstellten Vergemeinschaftungsbedingungen: Weil der Verzicht von Zeit zu Zeit misslingt (Ja gesagt wird), sind Menschen aufeinander angewiesen. Sündigung wird so zur conditio sine qua non der ethisch legitimierten Gemeinschaft stilisiert.

D ER C YBER -APFEL IN DER G ESCHICHTE B UMBLYBURGS – Z WISCHEN G EMÜSE -E DEN UND M EDIEN -H ÖLLE Die Apfel-Chimäre, die in die friedliche Welt eindringt, kommt aus einer Vergangenheit, die darauf gegründet ist, dass moralische Gebote der Herrschaft des Lustprinzips („Applys Spaßbude“) Einhalt geboten haben (Zensur/Über-Ich). Vor 300 Jahren führte die furchtlose Seegurke Obediah Bumbly eine kleine Gruppe „tapferen Gemüses“ von Bord der Colyflower, um sich in der Wildnis der neuen Welt anzusiedeln. Doch unter ihnen befand sich Kontrahent Ephraim Apply. Eine alte Filmrolle informiert Alfred Spargel über die einstige Bedrohung durch den von Apply geführten „Spiel- und Spaßsaloon“. Die Argumente erinnern an eine Kulturkritik der Massenmedien (Spaßgesellschaft zerstört soziales Engagement et cetera): FILM: Sein Plan war es, die Menschen durch pausenlosen Spaß zu versklaven. Nur durch die rechtzeitige Ankunft von Obediah Bumbly wurde die kleine Gemeinde vor dem Ruin bewahrt.

Die Eroberungsgeschichte Bumblyburgs nimmt Anleihen bei der identitätsbildenden Entdeckung Amerikas (Freiheitsstatue, Kolonisierungskonflikte). Der historische Stoff ist Grundlage für ein eigenständiges (Sub-)Genre des Eroberungsfilms („Conquest of Paradise“), das mit seinen Konstruktionen vom guten

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und bösen Wilden einen christlichen Dualismus inszeniert, der seine ideologischen Wurzeln in einer zweigeteilten Welt aus Paradies und Hölle hat (vgl. Kirste 2002: S. 321). Dass auch die Verführung in Bumblyburg auf die christliche Metaphorik des Sündenfalls anspielt, ist durch den ikonografischen Einsatz des Apfels, insbesondere des weiblichen, evident. In der Urszene des Sündenfalls beißen die von der Schlange verführten ersten Menschen in den Apfel vom Baum der Erkenntnis und müssen fortan Schuld und Scham ertragen. Geheilt wird der Sündenfall durch das christliche Ritual der Eucharistie, dem Essen und Trinken von Brot und Wein als Realzeichen von Fleisch und Blut Christi. Durch die Schlüsselfunktion dieser Trias aus Paradies, Sündenfall und Erlösung durch Eucharistie (Apfelbiss und Abendmahl) sind Nahrung und Subjektwerdung des zivilisierten Menschen kulturhistorisch verbunden: „Die Frage nach der Funktion des Essens ist damit zugleich eine Frage nach der Problemgeschichte des ‚Subjekts‘ und seines sozialen Begriffes geworden“ (Neumann 1993b: 438). Die sozialisierende Kraft des Essens leitet sich aus der Geschichte seiner semiotischen Urform ab: der Oblate. Im Essen vom Fleisch und Blut Gottes verschmelzen sema (Oblate) und soma (Leib) und bringen die Heilsordnung der christlichen Kultur hervor (vgl. Neumann 1997). Dass die kulinarische Vergemeinschaftungskraft prekär geworden ist (vgl. Wilk 2010), zeigt exemplarisch die Inszenierung der körperlichen und sozialen Desintegration des Helden nach übermäßigem Schokoladengenuss. Er fühlt sich elend, braucht ein Fitnessprogramm und lässt sich von seinem in Gelächter ausbrechenden Spargeltrainer belehren: „Scheuen Sie Schokolade! […] Lieber scheuen als bereuen.“ Auch wenn die Mittel der Verführung und die Zeichen der Erlösung im Medienzeitalter ihre Koordinaten geändert haben, ruft der Film die alttestamentarische Matrix von Sünde und Versuchung auf. Die Urszene der Verführung wird in eine Verführung durch das zweckfreie Spiel überführt – in der biblischen Erkenntnismetaphorik: in Wissenssorten (zum Beispiel Körperwissen), die mit ihren „Auswüchsen“ an Kontingenz und Vagheit der Vernunft mit ihren präzisen naturwissenschaftlichen Wissensformen gegenüberstehen. Die Apfelspinne führt als Schrecknis die mediale Netzwelt vor: In ihr potenzieren sich irdische Sünden (Gefallsucht, Videospiele und Schokoladengenuss) zum Alptraum des ewigen Paradieses. Die Verführung im Medium ist die Deckvorstellung zur entkörpernden Verführung durch Medien (kontrastiv besitzt die biblische Szene einen Verkörperungseffekt), deren kreatives Fiktionalitätspotential ebenso geleugnet wird wie die Fähigkeit des Körpers, Sättigung und Nährstoffbedarf ohne kognitive Gegensteuerung zu regulieren.

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G EFANGEN IM N ETZ DER (S CHOKOLADEN -)V ERSUCHUNG – S CHOKOLADE UND DIE R OLLE DES M EDIALEN Dem ersten Auftritt des Helden gilt in der Regel besonderes Interesse. Seine Heldentat, den Dieben den geraubten Schokoriegel „Choc D-Lux“ abzunehmen, vollbringt er jedoch auf Umwegen. Zuerst nimmt ihm der Schal eines der Diebe die Sicht, dann verheddert er sich in den Schnüren, mit denen er die Pümpelohren ausfährt, und baumelt kopfüber vor der verdutzten Reporterin. Als Held mit Schwächen zeigt er sich auch in der Folgeszene. Auf der Fahrt zu Alfred Spargel landet eines seiner Pralinenpapierchen auf der Warnanzeige, die das Anbringen einer Wanze durch den äpflischen Komplizen-Wurm registriert. LarryBoys Sympathie lebt von seiner Unbeholfenheit. Jeder Lacher bietet dem Zuschauer Gelegenheit, verdrängte Unzulänglichkeiten zugunsten eines heroischen Gesamtselbstbilds zu ignorieren. Der kultursemiotische Wert der Schokolade wird neben dem Namen des Riegels und Larrys Äußerung bei der Rückgabe an den Spargeljungen („Immer dran denken, Kleiner. Mit großartiger Schokolade trägt man eine große Verantwortung.“) insbesondere in folgendem Dialog markiert: ALFRED: Äh, was essen Sie da? LARRYBOY (räuspert sich): Ein altes Sprichwort: Wer den Schokoletti nicht ehrt, ist der Schokolade nicht wert. ALFRED: Es waren Pfennige. LARRYBOY: Nee, die Schachtel hier hat mich zehn Mäuse gekostet, ist aber jeden Pfennig wert. ALFRED: Sie wissen doch, was passiert, wenn Sie zu viel Schokolade essen. LARRYBOY: Ist nur’n bisschen Schokolade, Alfred.

Schokolade gewinnt den Status von Geld, das Hörisch zufolge zum funktionalen Äquivalent von Brot und Wein der Eucharistie geworden ist. Nicht mehr das theologisch-realistische Sakrament stiftet den Zusammenhang zwischen Sein und Sinn und macht Sein sinnvoll durch Jesu Tod. Das in der Postmoderne zu großen Teilen substanzlos gewordene Geld stiftet die kulturelle Verbindung von Sein und Sinn im Tausch (vgl. Hörisch 1992: 26). Auf dieser semiotischen Stufe verharrt jedoch im Film das Zeichen Schokolade nicht. Es wandelt sich zum potenzierten Zeichen im Medium: Die im Apfel-Spinnennetz projizierte Schokoladenlandschaft hält LarryBoy gefangen. Sein Sprung in den Schokoladenfluss und die erzitternde Oberfläche der Netze gewinnen wie auch die feurigen Verführungssalven der Apply-Nichte libidinöse Züge:

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APFEL: Schmecken, schmecken, Lippen lecken, sieh nur all die Schokoecken, wie sich dann Kakaobohnen recken, gierig Schokolust erwecken, Schokowecken und in Säcken, ich werd’ die Opfer niederstrecken. Worauf warten Sie? Wagen Sie den Sprung.

Parallel wird das Objekt der Begierde (Schokolade) von der Apfelspinne in einem ironisierenden Angriff auf rationalisierende Gesundheitsaufklärung entsublimiert: APFEL: Wissen Sie, was ich ganz großartig finden würde? Ein riesiges Museum für Schokolade. Verstehen Sie? Wo man alles über Schokolade erfährt. (Springt von Ecke zu Ecke und spannt ein Spinnennetz auf.) LARRY: Wunderschöne Schokolade. APFEL: Natürlich würde man keine essen müssen, wenn man nicht wollte. Aber was man da alles erfahren würde. Etwas über Schokolade zu lernen, ist Teil jedes Trainingsprogramms. LARRY: Ein Museum. Das wäre so lehrreich für alle.

Abbildung 2: Die Apfelspinne fordert LarryBoy im „Schokoladenraum“ zum Knospengenuss auf

Quelle: LIFEHOUSE Medien Projekt & Marketing GmbH & Co. KG

Was die Schokoladenwelt so „unheimlich“ reizvoll macht, ist ihr Präsentationsmodus: die Netzprojektion. Žižek lehrt am Beispiel eines Tintenfischs aus

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Cousteaus TV-Serie Wunder des Meeres, wie es sich mit dem libidinösen Objekt jenseits seines Mediums (Wasser) verhält: Was von dem gigantischen Fisch, der sich in ozeanischer Tiefe mit erschaudernder Grazie bewegt, übrig bleibt, sobald man ihn aus dem Wasser zieht, sei ein Ekel erregender hilfloser Klumpen Schleim. „Die sublime Qualität des Objekts gehört nicht zu dessen innerer Natur, sie ist ein Effekt des Ortes, den das Objekt im Raum des Phantasmas einnimmt“ (Žižek 2002: 174). Nicht das realistisch gestaltete Cyber-Kakao-Schlaraffenland ist Gegenstand einer verdrängten Vorstellung, das sublime Objekt konstituiert sich erst in der medialen Architektur. Die Netzräume Märchenschloss (Abb. 1), Videospiel und Schokoladenmuseum (Abb. 2), die die herkömmlichen Raumordnungen sprengen, können als der mit Zeichen der Verdrängung versehene Horror leiblich-sozialer Desintegration identifiziert werden. Der mediale Raum, im Film auch als Quelle des Grauens zu „verorten“ (vgl. Pabst 2008: 375), nimmt in Hörischs Ontosemiologie den dritten Platz in der Reihe der Leitmedien der christlich-abendländischen Kultur ein (Abendmahl, Geld und TV/Internet). Mit dem Signum des Realen versehen visualisiert das Spinnennetz den Horror, der entsteht, wenn die Gestaltungsmöglichkeiten eines Mediums nicht aktiv genutzt, sondern geleugnet werden. Das zum Realen gewordene Mediale (erster Ordnung) bringt sein eigenes Verdrängtes hervor (Spinnennetzwelten). Die körperliche Medialität, die einst in der Oblatensemiose Sinn und Sein verband, wird mitentwertet (Überessen). Korrelationen von Sein und Sinn als kultursemiotische Voraussetzung für (Inter-)Subjektivität durch Körperpraktiken werden im Zuschnitt des Films weniger im schizoiden Nonsens aufgelöst, wie Hörisch befürchtet, sie werden durch die Leugnung des Fiktionalen auf eine Gegenwelt reduziert, die mit ihrer protestantischen Ernährungsmoral (gute und böse Nahrungsmittel) gouvernementale Körperpraktiken ansozialisiert (Exzess als Konstrukt der Medien). Wenn der gefeierte Superheld in der Schlussszene die Kontrolle über die Stadt, und das bedeutet stellvertretend über sich und seinen Körper, zurückgewinnt, muss er dies mit Angst und kathartischem Maßhalten bezahlen. „Hilfe“, ruft LarryBoy, als die Bürgermeisterin nach der Denkmalenthüllung die fünfstöckige „300-Pfund-Schokoladen-Geburtstagstorte“ der Stadtgründung präsentiert. Doch Alfred Spargel verspricht ihm ein „klitzekleines Stück“.

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Ernährung und Entgrenzung – Diesseits und Jenseits des Menschlichen

Cinematographische Hedonismuskritik. Entwicklungssoziologische Betrachtungen zu Überfluss und Mangel Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri J UDITH E HLERT

In dem Filmklassiker Das große Fressen treffen sich vier alte Freunde zum „gastronomischen Seminar“ (00:16:28) in einer alten Pariser Stadtvilla. Ziel des Treffens ist es, sich nicht nur kulinarisch zu verwöhnen, sondern sich – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Tode zu fressen, um dem sinnentleerten Dasein in Zeiten des Überflusses ein Ende zu setzen. Dazu laden sich die vier Männer Huren zu ihren Diensten ein. Philippe (gespielt von Philippe Noiret), dem das Anwesen gehört, ist Jurist und hegt eine Begierde nach matronenhaften Frauen. Der Pilot Marcello (Marcello Mastroianni) ist ein Autoliebhaber und unbändiger Frauenheld. Fernsehproduzent Michel (Michel Piccoli) hat eine Vorliebe für Ballett, welche seine im Film unterschwellig skizzierte bisexuelle Neigung repräsentieren soll. Der vierte im Bunde – Ugo (Ugo Tognazzi) – zeichnet sich durch seine exzessive Leidenschaft für das Kochen selbst aus. Die Lehrerin Andrea aus der benachbarten Schule wird ebenfalls zur Gespielin der Männer und Teil des morbiden Ensembles. Die totale Aufhebung der menschlichen Triebregulierung – und damit das exzessive Nachgeben von Fressgier und Sexualtrieb – führen letztendlich zum dramatischen Freitod aller vier Protagonisten. Anhand der dargestellten Protagonisten versteht es der italienische Regisseur Marco Ferreri meisterlich, sein sozialkritisches Oeuvre aus dem Jahre 1973 in Szene zu setzen. Marco Ferreri verfasst seine Gesellschaftskritik vor dem Hintergrund des Aufschwungs der Nachkriegsjahre und der europäischen Wirtschaftswunder der Industrialisierung. Hedonismus steht im Zentrum des Skripts. Körperlichen Begierden, Lust und Genuss wird durch das Nachgeben des Sexu-

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altriebes und durch prätentiös zelebriertes Essen, welches in ein regelrechtes Fressen ausartet, gefrönt. Der Film stellt Völlerei, Besäufnis und Sexualität als menschliche Grenzerfahrungen dar. Die Triebmodellierung durch den Prozess der Zivilisation (Elias 1997), das heißt soziale Kodierungen und Normierungen bezüglich der Nahrungsaufnahme und der Sexualität, wird ausgehebelt. Damit greift der Autor Exzess und Mäßigung als dominante Konzepte sowohl kulinarischer als auch erotischer Diskurse auf (Prahl/Setzwein 1999: 143ff.) und überzeichnet darin das Essen, eine der ältesten Sozialformen menschlicher Existenz (Setzwein 2004), als perversen Akt gesellschaftlichen Übermaßes. Die stetige und übermäßige Befriedigung des Verlangens führt zu einer Umkehr der Wertschätzung: Die Nahrungsaufnahme, als physiologische Notwendigkeit und als Symbol und Akt menschlicher Sozialität, verkommt zur reinen Fressgier und letztendlich zu einer Selbstvernichtungswaffe. Das Genussmittel Essen wird zu einer Droge, welche in hemmungsloser Überfülle schließlich zum Freitod der Filmcharaktere durch Essen führt. Das große Fressen präsentiert dem Zuschauer damit eine sozialpsychologische Analyse der materiellen und emotionalen Übersättigung menschlichen Daseins in der gesellschaftlichen Moderne, die zum Verlust der Lebensfreude durch Überdruss führt. In seiner Diskussion bezieht sich auch der folgende Beitrag auf Essen im Spannungsverhältnis von Genuss und Überfluss. Jedoch schließt er noch eine weitere Komponente in dieses Spannungsverhältnis mit ein, nämlich den Hunger. Dieses zusätzliche Element öffnet Ferreris vornehmlich eurozentrische Gesellschaftskritik für eine der drängendsten globalen Gesellschaftsfragen der heutigen Zeit: Wie ernähren wir die Welt in Zukunft? Anhand einer entwicklungssoziologischen Perspektive, welche unter anderem das Verhältnis von Industriegesellschaften und sogenannten „Entwicklungsländern“ untersucht, soll Ferreris Werk aus seiner Zeit und seinem geographischen Gesellschaftsbezug herausgelöst und auf globaler Ebene als äußerst relevant diskutiert werden. Es drängt sich in dieser Betrachtungsweise die Frage auf, wie es sich mit dem wachsenden Ungleichgewicht von grenzenlosem Konsum einerseits und gleichzeitigem Mangel andererseits in der Welt verhält. Im Folgenden sei daher die globale Dynamik von Überfluss und Mangel, von Fettsucht und Hunger ins Zentrum der Diskussion gerückt. Die zunächst im Film dargestellte Leidenschaft für gutes Essen und dessen Zelebrierens endet darin, dass die Protagonisten regelrecht in sich „hineinstopfen“ und dabei jeglichen Gusto verlieren. Im Zuge fortschreitenden ökonomischen Wachstums und agroindustrieller Produktionsweise in der westlichen Welt nimmt die Wertschätzung landwirtschaftlicher Erzeugnisse graduell ab. Gusto verkommt zu „ganz schnell, gut und günstig“. In diesem Zusammenhang beschreibt Sezgin (2011) die Mas-

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senproduktion von High-Tech-Hühnern und Designer-Kühen eindrücklich als den Abgrund der globalen Fleischproduktion einer „Frankenstein-Industrie“. Dieser Welt des Übermaßes steht die Bedrohung der Ernährungssicherheit weiter Teile des globalen Südens gegenüber. In Anlehnung daran wird der folgende Buchbeitrag die Ernährung(-sweisen) der heutigen Weltgesellschaft unter dem Gesichtspunkt globaler Machtverhältnisse und struktureller Gewalt thematisieren. Im Überdruss des Überflusses – der Hauptaussage des Films Das große Fressen – liegen dazu der Stein des Anstoßes und die Brisanz und Aktualität dieses Filmklassikers. In der Gegenüberstellung des von Ferreri gezeichneten Übermaßes und des Mangels am Notwendigen in der Welt liegt die folgende entwicklungspolitische Lesart dieses Filmklassikers.

„D U STIRBST NICHT , WENN D U NICHT ISST “: Ü BERMASS UND H UNGER ALS VERQUER INSZENIERTE V ERHÄLTNISMÄSSIGKEIT Das Ziel der Freunde, sich zu Tode zu fressen, um dem gelangweilten Dasein endlich ein gemeinsames Ende zu setzen, kommt im Verlauf der Geschichte durch groteske Aktionen zur Umsetzung. Zu Beginn ihres Treffens jedoch geht es zunächst noch um den Genuss, um das stilvolle und gesellschaftliche Mahl – um Essen als die sozio-kulturelle Ressource einer Tischgemeinschaft. „Das Fest kann beginnen“ (00:19:37) rufen sie aus, nachdem die LKW-große Ladung ihrer Bestellung von Frischgeschlachtetem, frisch erlegtem und tiefgefrorenem Wild, Obst und Gemüse im Speiseraum verstaut ist. Der alte Herr, der seit jeher auf das Haus achtgibt, wenn es nicht von seinem Besitzer bewohnt wird, traut seinen Augen kaum beim Anblick der üppigen Bestellung. Geprägt durch die Jahre des Krieges kann er eine Bemerkung beim Verlassen des Hauses und der Gesellschaft der vier Freunde nicht unterdrücken: „Mein Gott was haben die für Fleisch! Wie damals vor dem Krieg“ (00:21:36). Geprägt durch die Erfahrung des Mangels während des Krieges ist er von dem angelieferten Luxus überwältigt. Am ersten Abend ihres Wiedersehens im Pariser Stadthaus bereiten die Freunde das Abendessen gemeinsam zu und genießen zusammen. Im ethnomethodologischen Sinne stellen sie auf diese Weise die perfekte soziale Ordnung einer Tischgemeinschaft her (vgl. Garfinkel 1967; Garfinkel/Warfield-Rawls 2006):

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„Zudem werden aus den für essbar befundenen ‚Naturalien‘ erst durch kulturell festgelegte Formen der Auslese, Verarbeitung (Putzen, Schälen, Schneiden etc.) und Zubereitung (Kochen, Braten, Räuchern etc.) Nahrungsmittel. Und erst in ihrer Komposition werden einzelne Nahrungsmittel zu Speisen, welche – in bestimmter Reihenfolge und in institutionell geregeltem Rahmen genossen – wiederum erst die Mahlzeit konstituieren, die für die menschliche Nahrungsaufnahme charakteristisch ist. Dazu gehört auch das universale Phänomen der Tischgemeinschaft und das sozial normierte Verhalten beim Essen und Trinken, für das in jeder menschlichen Gesellschaft benennbare Sitten, Gebräuche und Konventionen bestehen“ (Setzwein 2004: 19; vgl. auch Dämann/Lemke 2008).

Was zu Beginn ihres Aufenthaltes jedoch noch genüsslich zelebriert wird und gesittet vonstattengeht, erfährt im Folgenden einen extremen Wendepunkt. Im Verlauf der Geschichte geht es nicht mehr um die kultivierte Tischgemeinschaft, sondern um die bloße Steigerung und das Ausreizen der Steigerungsfähigkeit menschlicher, rein physiologischer Nahrungsaufnahme. Das Sättigungsgefühl wird bekämpft und schließlich ausgeschaltet. Essen bekommt einen kompetitiven Charakter: „alles frisst auf mein Kommando“. Sie schlürfen Austern um die Wette und sind „bereit zum letzten Sprint“ des Herunterschlingens (00:23:10). In nur 15 Sekunden hat der schnellste unter den vier Männern „alles drin“, alle Austern in rasanter Geschwindigkeit verzehrt. Mit der Zunahme an kalorischer und quantitativer Opulenz („zum 2. Frühstück ein Tässchen Schokolade öffnet so richtig den Magen“) verliert sich selbst noch diese anfängliche Sportivität. Im Laufe der folgenden gemeinsamen Tage in der Villa wird die menschliche Triebregulierung vollends ausgeschaltet und erliegt der völligen Schamlosigkeit. Das große Fressen präsentiert die konsequente Überwindung der inneren und äußeren Zwänge des Menschen und den absoluten Verlust jeglicher Schamgrenzen. Der Film entwickelt eindrücklich den Prozess der De-Zivilisation. Während Norbert Elias (1997) in seiner sozio-historischen Theorie des Zivilisationsprozesses unter anderem auf die Benutzung von Messer und Gabel als klassische Distanzierungsmechanismen des Menschen von seiner Nahrung eingeht, überwinden die Protagonisten jegliche Form der Normierung des Essverhaltens. Die Gruppe kocht nicht mehr gemeinsam, wie noch zu Beginn ihres Aufenthaltes, als die akribische Speisenzubereitung auch der Herstellung von Sozialität diente. Die Essenszubereitung verfolgt lediglich den Zweck der puren Bedürfnisbefriedigung einer entgleisten Fressgier. Eine der Huren, die in den ersten Tagen zur Villa bestellt wurde, erzählt, dass sie sich scheußlich fühle und die ganze Nacht ob der Fressorgie „gekotzt“ hätte. Sie fragt, ob die Freunde sich jedes Wochenende „einschließen würden, um zu fressen“ und kommentiert die morbiden Aktionen im Haus folgendermaßen: „Ich finde Euch widerlich, grotesk und dekadent.

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Warum esst ihr so viel? Habt ihr so viel Hunger? So viel frisst nicht mal ein primitives Tier!“ (00:57:15) Diese Aussage ist unter anderem auf eine Situation zu beziehen, in der es zu einer regelrechten Zwangsernährung kommt. Einer der vier Männer klagt über starke Bauchkrämpfe, weil er sich ‚überfressen‘ hat. Während einer der Freunde den Bauch des erkrankten Freundes massiert, füttern ihn die anderen löffelweise von einem überdimensional angerichteten Berg Kartoffelbrei (vgl. Abb.1). Abbildung 1: Kartoffelbrei bis zum Exitus

Quelle: DVD Das große Fressen, im Vertrieb von Arthaus / Roissy

Der Leidende wird von seinen Kameraden eindringlich ermuntert weiter zu essen, denn schließlich: „Du stirbst nicht, wenn Du nicht isst“ (01:00:59). In der entwicklungspolitischen Betrachtungsweise generiert diese Szene durch die Aussage „Du stirbst nicht, wenn Du nicht isst“ eine der Schlüsselszenen des Films. Fortwährendes Essen wird unter den Freunden zu einer zwanghaften Aktivität, die zur Erlösung durch den Tod führen soll. Auch als ein weiterer Freund nach einer Herzattacke im Begriff ist zu sterben, wird er von den zwei Übriggebliebenen bis zum letzten Atemzug gefüttert. Im Hinblick darauf, dass Ernährung und Nahrungsaufnahme im konventionellen Sinne als lebenserhaltend und lebenserfüllend, ja geradezu als Synonym für das Leben an sich gelten, wirkt die dargestellte Ausuferungen des zwanghaften Essens und der regelrechten Zwangsernährung geradezu verstörend auf den Zuschauer. Hier wird der Überfluss zur Vernichtungswaffe. Vor dem Hintergrund des weltweit wachsenden Hungers wirkt diese pointierte Darstellung daher wie pure Blasphemie und

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trifft damit doch gerade den kritischen Kern globaler Missstände (vgl. Graphik 1). Graphik 1: Statistik des weltweiten Hungers

Quelle: © Welthungerhilfe

Im Jahr 2012 hungerten Schätzungen zufolge rund 926 Millionen Menschen, das heißt 13,8 Prozent der Weltbevölkerung (Edition Le Monde diplomatique 2011: 50). Jedes Jahr sterben weltweit etwa 20 Millionen Menschen an den Folgen von Unterernährung (Nuscheler 2004: 252). Die eingangs gestellte Frage „Wie ernähren wir die Welt in Zukunft?“ assoziiert dabei in erster Linie einen quantitativen Mangel. Im Kontext eindrücklicher Nachrichtenbilder von Hungerkatastrophen in Afrika scheint die weltweite Nahrungsmittelproduktion für die prognostizierte Bevölkerungszahl von circa 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050 (UNFPA 2011) nicht ausreichend zu sein. Dahingegen jedoch ist Hunger derweil und zum ersten Mal in der Geschichte kein Symptom einer unzureichenden weltweiten Nahrungsmittelproduktion, denn niemals zuvor stand weltweit so viel Essen pro Kopf zur Verfügung wie heute. Trotz der negativen sozialen Folgen und solcher für die Umwelt hat die Grüne Revolution zu einer enormen landwirtschaftlichen Produktionssteigerung beigetragen. Und doch bleibt der Hungertod weltweit eine der häufigsten Todesursache. Während circa alle 3,6 Sekunden ein Mensch an Unterernährung stirbt (UN Millennium Project 2012), leidet gleichzeitig eine vergleichbar große Anzahl an Menschen unter starker Fettleibigkeit (Anderson 2005: 209ff.; D’Aluisio 2008: 10). Infolge dessen lässt sich ableiten, dass Hunger und Unterernährung

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heute nicht auf einen generellen Mangel an Nahrungsmitteln in der Welt zurückzuführen sind. Vielmehr besteht die Problematik in der angemessenen Lagerung und, vor allem, der globalen Verteilung. Der Zugang zu Nahrung basiert auf zunehmender sozialer Ungleichheit (Choplin et al. 2009: 15; Rosset 2011), und dies nicht nur zwischen dem reichen Norden und dem verarmten Süden, sondern zunehmend in intra-regionaler Perspektive. Niedrige Einkommen führen dazu, dass arme Menschen keine kaufkräftige Nachfrage entwickeln, während Händler dorthin gehen, wo sie bessere Preise für ihr Warenangebot erzielen können. Dieses Phänomen beschrieb Amartya Sen (1981) bereits in seiner Studie über Armut und Hunger anhand der Fallbeispiele Bangladesch und Äthiopien. Später, im Rahmen seines sogenannten Entitlement-Ansatzes zeigte Sen den kausalen Zusammenhang von Hungersnöten und nicht-demokratischen Regimen. Demgemäß ist das weltweit anerkannte Recht auf Nahrung, welches bereits im Jahr 1948 als Teil der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verabschiedet wurde, in seiner Durchsetzung stark an funktionierende demokratische Systeme gebunden (Sen 2005). Weiterhin werden Hunger und Ernährung durch die internationale Agrarpolitik und deren Subventionen und Importbestimmungen stark beeinflusst. Finanzspekulationen auf Rohstoff- und Agrarmärkten tragen zur Unkalkulierbarkeit und Explosion der Lebensmittelpreise bei (vgl. Schumann 2011). Hinzu kommt die Konversion von Ackerland zu monokulturellen Anbauflächen für Agrarkraftstoffe und Biosprit durch ausländische Geldinvestoren. Das sogenannte „Land Grabbing“, das heißt die Landnahme von ausländischen Investoren auf dem afrikanischen Kontinent wird derzeit als Neokolonialismus des globalen Zeitalters diskutiert (von Braun/Meinzen-Dick 2009; von Oppeln/Schneider 2009). Kleinbauern verlieren ihr Land aufgrund dieser Entwicklungen und der für viele Landwirte untragbaren Inputkosten für Saatgut, Pestizide und Düngemittel (vgl. Meyns 2009): „Global gesehen sind gegenwärtig mehr als die Hälfte aller aktiven Menschen in der Landwirtschaft tätig. Auf Grund der Rahmenbedingungen – v.a. der unfairen Importkonkurrenz von billigen Lebensmitteln aus Industrieländern, die unterhalb der tatsächlichen Produktionskosten verkauft werden – verlieren täglich tausende von Bauern und Bäuerinnen ihr Land und ihr Lebensumfeld und sind gezwungen, in die Slums der Millionenstädte zu ziehen, ohne dort eine Beschäftigungsalternative für ein würdiges Leben zu finden. Diese Landflucht bedeutet auch eine Abnahme lokal produzierter Lebensmittel und führt dazu, dass heute zwei Drittel der Entwicklungsländer mehr Nahrungsmittel importieren als exportieren“ (Choplin et al. 2011: 16).

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Hinzu kommen Naturkatastrophen sowie Gewalt- und Konfliktsituationen, die weitere außerökonomische Faktoren darstellen und sich auf die lokale und regionale Ernährungssituation in Form von hohen Ernteausfällen et cetera negativ auswirken können (vgl. Meyns 2009). Vor dem Hintergrund dieser aufgezeigten Wirkungsfaktoren zeigt sich Hunger als ein zum großen Teil strukturell bedingtes (Dauer-)Phänomen der globalen Ernährungswirtschaft und weniger als ein Ausnahmezustand: „Hunger, den die Mehrheit der Menschheit nur noch vom Hörensagen kennt, wird von der Weltöffentlichkeit meistens nur wahrgenommen, wenn die Medien über besonders dramatische Hungersnöte berichten und Hilfsorganisationen mit möglichst schockierenden Bildern um Spenden werben. Das eigentliche Hungerproblem ist aber kein spektakulärer Ausnahmezustand, sondern ein wenig Aufsehen erregender Dauerzustand, an den sich auch die Menschen und Regierungen in den chronischen Hungerländern gewöhnt haben“ (Nuscheler 2004: 253).

Im Film wird Indien zum beispielhaften Konterfei eines solchen ‚Hungerlandes‘. Als einer der Freunde, der von starken Bauchkrämpfe geplagt wird (siehe oben), sich zunächst verweigert weiter zu essen, reden die Freunde ihm gut zu: „Stell Dir mal vor, Du wärst ein kleiner Inder. Irgendwo in Bombay. Ein kleiner hungriger Bursche. Du hast viel Hunger. Also Du bist klein, Du hast Hunger und was machst Du, wenn Du Hunger hast? Du isst. Also iss!“ (01:00:22). Diese Filmszene ist die einzige, die die Thematik von Übermaß und Hunger in Form einer Gegenüberstellung des reichen Westens und der hungerleidenden Dritten Welt aufnimmt. Die Botschaft globaler Missstände, die über die Grenzen einer internen Gesellschaftskritik des Westens hinausweist, wird dem Zuschauer in dieser Szene auf eine sehr subtile Weise vermittelt. Der vorliegende Beitrag will gerade diese unterschwellig transportierten Filmaussagen hinsichtlich ihrer globalen Gesellschaftskritik herausarbeiten

„H ÖR AUF ZU ESSEN , SONST STIRBST D U “: M ASSENPRODUKTION , M ASSENKONSUM UND IHRE PATHOLOGISCHEN T ENDENZEN IN GLOBALER P ERSPEKTIVE Den Startschuss des frivolen Zusammentreffens der Freunde bildet die opulente Lebensmittellieferung per LKW. Das Essen des gastronomischen Seminars wird geliefert und damit kommt der Überfluss direkt ins Haus. Der Lieferant stellt ho-

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heitsvoll und fast schon anmutig die Qualität der gelieferten Lebensmittel heraus, indem er immer wieder auf romantisierende Art und Weise die Verbundenheit des geschossenen Tieres mit der ursprünglichen Natur herausstellt. Die Männlichkeit und Natürlichkeit des Jagens und Erlegens wird hier auf subtile Art und Weise der modernen Logistik der Lebensmittelversorgung gegenübergestellt (00:17:28): „Ein Wildschwein in freier Natur geschossen, eignet sich für die subtilsten Marinaden. Direkt aus der Natur, das ist noch gut. Zwei sanftäugige Rehe äußerst superbe. Ihr kurzes Fell umgeben vom Duft des Waldes […] Fünf unschuldige Osterlämmchen, im zartesten Alter, sie grasten auf einer Meeresstrandwiese […]“.

Als einer der Männer bemerkt, dass das geschossene Wild ja tiefgefroren sei, begegnet ihm darauf sein Freund, der neben ihm steht und die Lieferung bestaunt: „Na und, dann bin ich [meinetwegen] auch für den Fortschritt, wenn’s ums Fressen geht“. Interessant in dieser Szene ist das Zusammenspiel der nostalgischen Untermalung und der darin mitschwingenden Sehnsucht nach Qualität und Naturbelassenheit des Fleisches und der Erkenntnis der Vorzüge des Fortschritts. Das Einfrieren der Ware ermöglicht zwar eine lange Lagerung, symbolisiert jedoch auch einen Schritt der Distanzierung des Menschen zu seiner Nahrung. Im Zuge der weiteren Modernisierung der Lebensmittelindustrie wird dieser Prozess der Distanzierung für das Mensch-Tier-Verhältnis zum Charakteristikum per excellence. Die „Ernährungsrevolution“ (Prahl/Setzwein 1999: 181) seit dem 19. Jahrhundert setzte das moderne Prinzip der Rationalisierung um und trieb dadurch den Distanzierungsprozess voran: „Gemäß den modernen Prinzipien von Rationalisierung, Standardisierung und Zentralisierung entwickelte sich die Nahrungserzeugung schließlich zu einer Massenproduktion durch großtechnische Anlagen, deren Waren in immer größer werdenden Einkaufszentren per Selbstbedienung feilgeboten wurden. Die Entdeckung neuer und die Verfeinerung traditioneller Konservierungsmethoden sorgten außerdem für eine Entkopplung des Verzehrs von saisonalen und regionalen Begrenzungen. Derart ‚entzeitlichte‘ Nahrungsmittel ermöglichten eine durch Kontinuität gekennzeichnete Konsumlage: Alles ist jederzeit zu haben in den entwickelten Industriegesellschaften […]“ (ebd.).

Die Lebensbereiche des Essens und Trinkens erfahren ebenfalls eine zunehmende Verwissenschaftlichung. Wie alle anderen Bereiche der modernen Gesellschaft verläuft auch für den Bereich der Ernährung – als der ureigenste Bereich der Mensch-Umwelt Beziehungen – eine Entzauberung der Welt im Sinne Max

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Webers (1995 [1919]). „Ein Bratenfond ist in der Küche das wichtigste“ (00:27:15). Während die Protagonisten des Films noch in der Lage sind, ohne künstliche Zusatzstoffe eine Soße herzustellen, und den dazu benötigten Fond geradezu als das „Fundament einer guten Küche“ loben, ist ein weiteres Symptom der Entfremdung des Menschen zu seinem Nahrungsmittel darin zu erkennen, dass immer mehr Menschen verlernen, selbst zu kochen oder die Saisonalität bestimmter Gemüse- und Obstsorten einzuordnen. Das komplexe globale Logistik- und Transportsystem macht diese Enträumlichung des Konsums erst möglich. Die dem Rationalisierungsprozess der Lebensmittelherstellung erwachsene Kultur des convenient foods, der demographische Wandel sowie die Veränderung gesellschaftlicher Lebensweisen tragen ihren Teil zu dieser Entwicklung bei. Die künstliche Kreation von Aromaprofilen konditioniert die menschlichen Geschmackssinne beziehungsweise lässt diese verkümmern. Im Besonderen die Intensivtierhaltung ermöglicht den weltweiten Massenkonsum von billig produziertem Fleisch. In Relation zu steigenden Einkommen und Lebensstandards nimmt auch der Konsum von Milch, Fleisch und Eiern zu. So hat sich von 1963 bis 1999 der Fleischverzehr in den Entwicklungsländern mehr als verdoppelt (Sezgin 2011). Unter Berücksichtigung globaler Nachhaltigkeit fordert Haerlin (2011: 109) eine Abkehr von der „‚western diet‘, dem gesundheitlich und ökologisch schädlichen Konsum vor allem tierischer Produkte, der bisher als unvermeidliches Symptom steigenden Wohlstandes gilt“. Francis R. Kaufmanns Diagnose der amerikanischen „Diabesity“ könnte sich zu einer globalen Volkskrankheit entwickeln. Als Folge der Wohlstandsgesellschaft kommt es zu einer weltweiten Epidemie der Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In Mexiko beispielsweise stieg die Zahl an Übergewichtigen in den letzten 20 Jahren von weniger als 10 Prozent auf über 65 Prozent an (D’Aluisio 2008: 10; 128). Im Zuge der Globalisierung der Ernährungsindustrie schwappt die „Errungenschaft“ des raffinierten Zuckers über Europa hinaus und beeinflusst heute die Ernährungsgewohnheiten sowie das Geschmacks- und Verbraucherverhalten weltweit (vgl. Mintz 1985). Einer der vier Protagonisten führt dem Zuschauer das absurde Ausmaß der Entwicklung der Zuckerindustrie in einer Filmszene vor. Als einer der Männer ein Rezept vorließt, stöhnt er auf und erwidert angewidert: „Ich flehe Dich an, mir wird schlecht bei so viel Zucker“ (01:18:35). „Hör auf zu essen, sonst stirbst Du“ (01:50:53) äußert einmal Andrea, die Lehrerin, die zu der Gruppe als sexuelle und kulinarische Gespielin hinzugestoßen war. Sie sagt dies zu einem der zwei noch lebenden Freunde, als auch dieser im Begriff ist, sich durch rigoroses Fressen umzubringen um somit seinen in den Tod vorangegangenen Freunden zu folgen und dem gemeinsamen Schwur des

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„kulinarischen Seminars“ treu zu bleiben. Das Zitat fängt die gesellschaftliche Erkrankung am Massenkonsum sinnbildlich wunderbar ein. Während es zu Beginn noch hieß „Du stirbst nicht, wenn Du nicht isst“ verdeutlicht auch diese Aussage eine weitere Variante des zunehmend pathologischen Verhältnisses des Menschen zur Nahrungsaufnahme und zum Körper, welches sich heute beispielsweise gesellschaftlich in einer Vielzahl von Essstörungen manifestiert (Prahl/Setzwein 1999: 89ff.).

G UTES E SSEN : EINE F RAGE DES R ESPEKTS , DER N ACHHALTIGKEIT UND DES POLITISCHEN W ILLENS Die zwei eindringlichsten Szenen des Films spielen in beeindruckender Weise auf den heute stets hochaktuellen Diskurs der globalen Nachhaltigkeit an. Die Nachhaltigkeitsdebatte trat zum ersten Mal 1987 auf die entwicklungspolitische Agenda, als der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung verabschiedet wurde. Dieser kritisierte das dominante ökonomische Wachstumsparadigma, indem es auf die ökologischen Grenzen eines solchen Wachstums und Entwicklungsmodells sowie auf die prekären Folgen für die zukünftigen Generationen hinwies. Die spätere UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro stellt einen Meilenstein in der globalen Umweltpolitik dar. Mit der Agenda 21 wurde ein Aktionsprogramm für das „Jahrhundert der Ökologie“ vorgelegt, welches sich an dem Leitbild einer globalen nachhaltigen Entwicklung ausrichten sollte (Nuscheler 2004: 382ff.). Der Diskurs nachhaltiger Entwicklung betont den respektvollen Umgang des Menschen mit natürlichen Ressourcen und seiner sozialen Umwelt. Ferreri schafft es, diese Prinzipien noch einmal meisterlich provokativ zu hinterfragen: In der ersten der zwei Szenen platzt die Rohrleitung der Toilette und es treten Fäkalien und Abwasser ins Haus. Die Symbolik dieser Szene spiegelt die Konsequenzen eines „aufgestauten“ und unbändigen Genussdranges wider: Im übertragenen Sinne geht es um den Müll, den die Konsumgesellschaft massenweise produziert und dessen Entsorgung zu einer globalen Problematik heranwächst. Im weiteren Sinne lässt sich die Szene auf die nicht-abbaubaren chemischsynthetischen Dünge- und Spritzmittel übertragen, die in der Massenproduktion zum Einsatz kommen und als externalisierte Kosten Grund- und Oberflächenwasser nachhaltig verschmutzen. Letztendlich geht es um die ethische und sozioökologische Nachhaltigkeit des modernen Lebensstils. Ein zweites Sinnbild der Verschwendung und des despektierlichen Umgangs mit Nahrungsmitteln und der natürlichen Umwelt wird in einer Szene gegen En-

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de des Films kreiert. Als nur noch einer der Freunde sowie die Gespielin am Leben sind, kommt eine weitere LKW-Ladung mit Frischfleisch an. Auf die Frage des Lieferanten, wo er die Lebensmittel hinbringen soll, entgegnen die zwei: „Legen Sie es irgendwo in den Garten“ (01:59). Zunächst schaut der Lieferant ungläubig und folgt dann doch der Prämisse „Der Kunde ist König“. Die Absurdität der Szene mündet in einer auf den Garten gerichteten Kameraeinstellung. Überall über den Sträuchern und im Garten liegen Schweinehälften und Wild verteilt. Hunde scharen sich darum (siehe Abb. 2). Während die Freunde zu Beginn ihres Aufenthaltes die erste Lebensmittelladung noch respektvoll in der Speisekammer verstauten, kommt in dieser abschließenden Szene des Films das gesamte Ausmaß an menschlicher Gleichgültigkeit und Respektlosigkeit zur Geltung. Abbildung 2: Zu viel des Besten. Das Fleisch geht vor die Hunde

Quelle: DVD Das große Fressen, im Vertrieb von Arthaus / Roissy

Heute, rund 30 Jahre nach dem Abdrehen dieser Szene, ist ein Bewusstseinswandel zu konstatieren. Nach Jahrzehnten der industriellen Massenproduktion treten alternative Lebensweisen, wie Vegetarismus und Veganismus, verstärkt in Erscheinung und Konsumentinnen und Konsumenten der Biowelle sowie die internationale Slow Food Bewegung und andere umweltorientierte NichtRegierungsorganisationen distanzieren sich von dem Mainstream des „ganz schnell, gut und günstig“. Während sich westliche Gesellschaften wiederum dem Luxusproblem gegenübersehen, sich aus den gesteigerten Möglichkeiten differenzierter Lebensstile einen auszuwählen, geht es in weiten Teilen der Welt je-

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doch immer noch um existentiellere Fragestellungen. Die Bekämpfung von extremer Armut und Hunger ist das erste von insgesamt acht MillenniumEntwicklungszielen der Vereinten Nationen, die eine Reihe von sozialen Verbesserungen für Menschen weltweit vorsehen (UN 2011). Das Erreichen des Ziels, den Anteil der Menschen, die weltweit unter Hunger leiden, bis zum Jahr 2015 zu halbieren, gilt mittlerweile gemeinhin als gescheitert. Im Hinblick auf die Bewältigung dieser globalen Problemstellung wird ein Umdenken der Agrar- und Ernährungspolitiken der Industriegesellschaften gefördert – und zwar von der (passiven) Ernährungssicherheit hin zur Umsetzung des Paradigmas der (aktiven) Ernährungssouveränität. Das Konzept der Ernährungssicherheit wurde von der Organisation für Landwirtschaft und Ernährung der Vereinten Nationen geprägt und meint den „physischen und wirtschaftlichen Zugang zu Nahrungsmitteln in angemessener Menge für alle Mitglieder des Haushaltes, ohne dass das Risiko besteht, dass dieser Zugang verloren geht“ (Hönicke 2007: 6). Das Konzept der Ernährungssicherheit bezieht sich also hauptsächlich auf den eher statisch gedachten Zugang zu Lebensmitteln. Dazu versteht sich das aktuelle Paradigma der Entwicklungssouveränität, das von La Via Campesina, einem weltweiten Zusammenschluss von Kleinbauern- und Landarbeiterorganisationen, 1996 ins Leben gerufen wurde, als ein soziopolitisches Gegenstück: „Es geht nicht bloß darum, dass Menschen Zugang zu Nahrung haben, sondern wie, in welcher Art und Weise, unter welchen Bedingungen dieser Zugang geschieht. Hier setzt das Konzept der Ernährungssouveränität an, in dem danach gefragt wird, wo die Nahrungsmittel herkommen, wer sie produziert und unter welchen Bedingungen sie hergestellt werden. Das Konzept ist in seiner Entwicklung auch als ‚Gegen-Konzept‘ zur Ernährungssicherheit zu verstehen, da unter dem Begriff Ernährungssicherheit auch Programme und Maßnahmen fallen können, die sich negativ auf Kleinbauern und die ländlichen Armen auswirken können“ (ebd.: 7).

Entwicklungssouveränität betont die Agency-Funktion und die gesellschaftliche Teilhabe ländlicher Akteure und bewusster Konsumenten und damit deren Möglichkeit, Einfluss auf die sie betreffenden Politiken nehmen zu können. Was der Film in seiner Konsumkritik der westlichen Moderne wunderbar abdeckt, bleibt hinsichtlich der globalen strukturellen Zusammenhänge für die Produktionsseite von Essen und Nahrungsmitteln noch recht unterbelichtet. Der Beitrag hat daher versucht, diesen Nexus von Konsum und Produktion auch als ein Spannungsverhältnis von Übermaß und Mangel im „Schatten der Globalisierung“ aufzuzeigen. Es geht nicht mehr nur um die Linderung der Symptome des

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Hungers. Mit Bezug auf die weiter oben dargestellten strukturellen Zusammenhänge globaler Agrar- und Ernährungspolitiken, schließt eine gerechtere und nachhaltigere Nord-Süd-Politik in erster Linie den Verzicht beziehungsweise einen maßvolleren Lebensstil westlicher Gesellschaften mit ein. In dieser entwicklungskritischen Lesart ist Das große Fressen – der Skandal-Kultfilm der 70er Jahre – aktueller denn je!

L ITERATUR Anderson, E. N. (2005): Everyone Eats. Understanding Food and Culture. New York/London: New York University Press. Choplin, G./Strickner, A./Trouvé, A. (Hrsg.) (2011): Ernährungssouveränität. Für eine andere Agrar- und Lebensmittelpolitik in Europa. Wien: Mandelbaum. D’Aluisio, F. (2008): What the World Eats. Berkeley: Tricycle Press. Dämann, I./Lemke, H. (Hrsg.) (2008): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld: transcript. Edition Le Monde diplomatique (2011): Cola, Reis & Heuschrecken. Welternährung im 21. Jahrhundert. Berlin: taz Verlag. Elias, N. (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Garfinkel, H. (1967): Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs/NJ: Prentice Hall. Garfinkel, H./Warfield Rawls, A. (2006): Seeing Sociologically: The Routine Grounds of Social Action. Boulder/CO: Paradigm Publishers. Haerlin, B. (2011): Genug statt mehr. In: Edition Le Monde diplomatique, Nr. 10, S. 108-111. Mintz, S.W. (1985): Sweetness and Power: The Place of Sugar in Modern History. New York: Viking Penguin. Nuscheler, F. (2004): Entwicklungspolitik. Lern- und Arbeitsbuch. Bonn: Dietz. Prahl, H.-W./Setzwein, M. (1999): Soziologie der Ernährung. Opladen: Leske und Budrich. Rosset, P. (2011): Preventing Hunger: Change Economic Policy. In: Nature, Volume 479, Issue 7374, S. 472-473. Schumann, H. (2011): Sie spielen mit dem Essen der Anderen. In: Edition Le Monde diplomatique, Nr. 10, S. 8-13. Sen, A. (2005): Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München: DTV.

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Setzwein, M. (2004): Ernährung – Körper – Geschlecht. Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext. Wiesbaden: VS Verlag. Sezgin, H. (2011): Die Frankenstein-Industrie. In: Edition Le Monde diplomatique, Nr. 10, S. 32-37. UN – United Nations (2011): The Millennium Development Goals Report 2011. Addendum to the 2011 MDG Report. MDG Goal 1. Im Internet: http:// unstats.un.org/unsd/mdg/Resources/Static/Products/Progress2011/Addendum _G1.pdf. Abruf: 30.12.2012. UN Millennium Project (o.J.): Fast Facts: The Faces of Poverty. Im Internet: http://www.unmillenniumproject.org/documents/UNMP-FastFacts-E.pdf. Abruf: 30.10.2012. UNFPA – United Nations Population Fund (2011): Population Dynamics in the Least developed Countries: Challenges and Opportunities for Development and Poverty reduction. Im Internet: http://www.unfpa.org/webdav/site/global/ shared/documents/publications/2011/CP51265.pdf. Abruf: 30.10.2012. Von Braun, J./Meinzen-Dick, R. S. (2009): „Land grabbing“ by foreign investors in developing countries: Risks and opportunities. Washington DC: International Food Policy Research Institute. Von Oppeln, C./Schneider, R. (2009): Land Grabbing: Den Armen wird der Boden unter den Füßen weggezogen. In: Brennpunkt, 8. Bonn: Deutsche Welthungerhilfe. Weber, M. (1995): Wissenschaft als Beruf. [Zuerst 1919]. Ditzingen: Reclam.

Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück? Zu einer Grundsatzfrage des Materialismus1 Das große Fressen (1973) / Regie: Marco Ferreri R OBERT P FALLER

1. Eine der typischen Lektionen materialistischer Philosophie besteht in der Ernüchterung ihrer Zuhörer. So sagt Epiktet dem verängstigten Schiffsreisenden: „Du hast Furcht vor dem Sturm. Als ob du das ganze Meer schlucken solltest. Zwei Liter Wasser genügen, dich ertrinken zu lassen.“ (Alain 1982: 160). Dasselbe könnte man auch in Bezug auf die Genüsse formulieren. So würde Epiktet dem heutigen Badetouristen wohl zurufen: „Du suchst ein fernes Meer auf. Dabei würde jeder mittlere Teich ausreichen, um dich als Schwimmer zu überfordern. In Wahrheit genügt eine winzige Lache, damit du ganz froh wirst.“ Davon ausgehend, könnte man zu dem Eindruck gelangen, dass der Materialismus als Philosophie des lohnenden Lebens eine Lehre der Bescheidenheit in Bezug auf die Genüsse darstelle. Brot, etwas Fisch, ein Stück Käse – das sind die recht überschaubaren Superlative Epikurs, wenn er über die Güter spricht, die das Leben lebenswert machen. Und dabei sind gerade die „Freuden des Bauches“ für ihn doch sogar die entscheidenden aller Freuden. Denn, wie er

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Es handelt sich bei diesem Beitrag um einen genehmigten Nachdruck von: Pfaller, R. (2012): Geht es um Leben und Tod oder nur um das kleine Glück? In: Ders.: Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere. Frankfurt am Main: S.Fischer, S. 165-171.

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schreibt: „Ursprung und Wurzel alles Guten ist die Lust des Bauches, auch das Weise und Überfliegende bezieht sich nur auf diese.“ (Epikur, zit. nach Hossenfelder 1996: 192)

2. Das Auffälligste an Marco Ferreris epikureischem Film Das große Fressen von 1973 ist wohl der Umstand, dass er heute unmöglich gedreht werden könnte. Irgendetwas an ihm scheint sich dem Geschmack der Gegenwart grundsätzlich zu versperren. Freilich war der Film auch damals ein Skandal, aber es ist ein Unterschied, ob eine Zeit auf etwas Skandalöses neugierig ist und es sich ansieht, oder aber es gar nicht erst in ihren Blick geraten lässt. Vier Männer suchen in diesem Film einen abgelegenen Ort auf – eine Villa, die zwar mitten in der Stadt liegt, aber von der man doch schwer wegzukommen scheint. Man isst dort die feinsten Speisen in enormen Mengen. Nachdem mehrere Prostituierte, die zu Beginn dabei waren und noch Spaß an der Sache hatten, die Gesellschaft angeekelt verlassen haben, bleibt der kulinarischen Quadriga allein die schöne, üppige Lehrerin, die mit ihren Schülern am Vormittag die Linde Boileaus im Garten der Villa besichtigt hatte und die dann, ohne Schüler, überraschend der Einladung zum Abendessen gefolgt ist. Es ist nicht leicht zu sagen, woran die Gegenwartskultur so sehr Anstoß nehmen würde: An dem exzessiven Genuss der Protagonisten von exquisiten Speisen, die unter anderem Filippo Tommaso Marinettis Kochbuch der futuristischen Küche entstammen? An der drastisch gezeigten Art, wie das Eingenommene wieder zum Vorschein kommt? An dem Umstand, dass die vier Männer sich, wie erst langsam deutlich wird, mit Absicht zu Tode fressen? Oder an der Art, wie sie sich in dieser Ausnahmesituation zu einer eigenartigen, archaischen oder utopischen Gemeinschaft zusammenschließen, in der alles geteilt wird – sogar, wenn auch nicht ganz ohne Spannungen, die Liebe der ihnen verbliebenen Frau (ganz so übrigens, wie die antiken Philosophen der meisten Schulen dies für eine ideale Gesellschaft gefordert hatten)? (siehe dazu Hossenfelder 1996: 23; 157)

3. Klarerweise lässt Ferreris Film viele Lesarten zu; er kann vieles sein: eine Kritik an der Dekadenz der Konsumgesellschaft, die sich sinnlos zu Tode frisst, anstatt irgendetwas Nachhaltiges zu verfolgen; eine melancholische, tieftraurige Parabel

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darüber, dass das Leben und die Fähigkeit zum Genuss Grenzen haben; oder eine Vorführung der Tatsache, dass ein genussorientiertes Leben ohne jede Transzendenz eben zum jämmerlichsten Scheitern verurteilt ist. Die Stärke des Films mag darin liegen, dass er eine dichte, mehrdeutige Botschaft entfaltet, die auch solche Gedanken zulässt und nahelegt. Freilich lässt keine dieser Lektüren einen Grund erkennen, weshalb man diesen Film gerne und fasziniert betrachtet; ja weshalb manche (darunter ich selbst) ihn zu ihren Lieblingsfilmen zählen. Vielleicht ist die entscheidende Lesart diejenige, die erklären kann, wieso unsere Gegenwart mit diesem Film nichts anfangen kann. Einer der Skandale des Films besteht nämlich in einer philosophischen Behauptung: der These, dass Menschen ihre Neigungen so sehr kultivieren können, dass sie dafür sogar bereit sind, den Tod in Kauf zu nehmen. Immanuel Kant hatte dies bekanntlich für unmöglich gehalten. Keine Neigung, kein Laster, so Kant, sei stark genug, um auch beim Anblick eines Galgens unwiderstehlich zu bleiben. Nur der Pflichtgedanke vermöge dies. Erst Jacques Lacan hatte, geschult am Marquis de Sade, Kant in diesem Punkt widersprochen: Die Schauplätze der Handlungen und Erörterungen Sades seien typische Orte des Philosophierens, vergleichbar der Akademie Platons, dem Lyzeum des Aristoteles oder der Stoa Poikile des Zenon (sowie auch, wie wir hinzufügen können, dem Garten Epikurs). Dementsprechend werde auch in Sades Boudoirs die Probe auf einen philosophischen Gedanken gemacht – eben den, dass Menschen in der Lage sind, sinnliche Neigungen stärker auf sich wirken zu lassen als ihre Todesfurcht (siehe dazu Lacan 1963: 135; 152ff.).

4. Warum könnte gerade dieser Gedanke dasjenige sein, was unserer Gegenwart am unverständlichsten ist? – Wohl deshalb, weil wir ein Problem mit dem Genuss haben. Eigene Lust scheint uns schwer zugänglich; die Lust der Anderen aber verfolgen wir mit Argwohn, wenn nicht gar mit neidischer Wut. Und weniges erscheint uns so anstößig und hassenswert wie ein Anderer, der in seinem Genuss den Tod nicht zu fürchten scheint. Die Raucherin, die sich an dem erfreut, was man vor langer Zeit einen honest smoke nannte,2 kommt uns heute ähnlich unbegreiflich vor wie Das große Fressen.

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Ich bin Stian Grøgaard dankbar für diese Formulierung und ein schönes Gespräch über verwandte Fragen.

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5. Zwischen unserem Verhältnis zum Genuss und unserem Verhältnis zum Tod besteht ein inniger Zusammenhang. Die von Stendhal in Erinnerung gerufene Zeile aus Alexander Popes Essay on Man, „For which we bear to live or dare to die“ (siehe Stendhal o. J.: 33; Pope o. J.), bringt das treffend zum Ausdruck. Das, wofür wir leben, ist auch dasjenige, wofür wir zu sterben bereit sind. Darum sind die Philosophien des Genusses zugleich auch Philosophien, welche die Todesfurcht in Grenzen halten. Epikur bemerkte, dass wir den Tod nicht zu fürchten brauchen: Denn dort, wo wir sind, ist er nicht, und dort, wo er ist, sind wir nicht (siehe Epikur 2005: 73). Könnte es nicht sein, dass wir die Raucherin deshalb so hassen? Nicht, weil sie, wie wir meinen, unsere Gesundheit gefährdet, sondern vor allem, weil sie uns in ihrer Unbekümmertheit dem Tod gegenüber vor Augen führt, wie ängstlich wir selbst diesbezüglich sind? Sie verhält sich großzügig, nicht nur, indem sie uns eine Zigarette anbietet, sondern auch, indem sie mit ihrem Leben so umgeht, als ob man sich um den Tod nicht kümmern müsste.

6. Um einem verbreiteten Missverständnis zu entgehen: Nicht die Frage, ob Menschen rauchen oder nicht, ist wichtig für die Philosophie (das kann sie, ebenso wie der Staat, getrost den Einzelnen sowie deren Übereinkünften überlassen), sondern vielmehr die Frage, was aus Menschen wird, die ihre politische Energie darauf verwenden, staatliche Rauchverbote in öffentlichen Räumen durchzusetzen. Sie wollen, dass niemand mehr dort rauchen darf, denn das könnte schädlich, ja tödlich sein. Gut, aber wie werden solche Menschen sich verhalten, wenn es einmal nötig sein sollte, zu kämpfen? (Und könnte dies, nach dem Ende des „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ in den privilegierten Regionen, nicht schon längst nötig sein?) Was für eine Ethik folgt aus solcher Besorgtheit? Würden solche Menschen zum Beispiel fähig sein, so zu handeln wie viele Freiwillige aus ganz Europa und Übersee, die 1936 nach Spanien gingen, um die Republik gegen General Francos putschende faschistische Truppen zu verteidigen? 3 Kann dergleichen nicht auch ungesund, ja mitunter tödlich sein?

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Als Dokument dieser Haltung siehe Kruse 1998; vgl. auch Parin 1991.

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7. Bertolt Brecht hat in seinem Gedicht Resolution der Kommunarden die entscheidende Formel für die materialistische Liebe zum Leben entwickelt. Er lässt die Revolutionäre sagen: „In Erwägung dass ihr uns dann eben / Mit Gewehren und Kanonen droht / Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben / Mehr zu fürchten als den Tod.“ (Brecht 2007: 289) Dies ist die politische Bedeutung von Epikurs schlauen Argumenten gegen die Todesfurcht. Wir müssen uns darum kümmern, wo wir sind – um das Leben also; und wir müssen alles dagegen unternehmen, dass dieses Leben ein schlechtes ist. Dass wir dabei umkommen können, ist wenig bedeutend, denn dann landen wir schließlich nur dort, wo wir ohnehin nicht sind.

8. Genau das ist es, wovon Das große Fressen handelt, und was unserer Gegenwart so unverständlich geworden ist. Wir fürchten heute nämlich den Tod weitaus mehr als schlechtes Leben; wir lassen uns, wenn es nötig ist, widerstandslos bis auf die Socken filzen, und wir lassen die Geheimdienste gerne unsere E-Mails lesen, wenn auch nur die entfernteste Aussicht besteht, dass wir dafür nicht von irgendwelchen Irren gebombt werden. Das große Fressen zeigt Menschen, die anders sind als wir. Sie fürchten den Tod weniger als schlechtes Leben. Freilich kann der Film nicht anders, als das, was möglich ist, auch als wirklich darzustellen. Darum müssen die Helden sterben. So, wie der Traum, nach Siegmund Freuds Erkenntnis, keine Wunschform kennt, keinen „Optativ“ („O möchte doch …“), sondern vielmehr das, was wir uns wünschen, immer in der Wirklichkeitsform (im Indikativ Präsens) darstellen muss (siehe dazu Freud 1989 [1900]: 510f.; 525), kann auch der Film nicht anders, als das, wozu die Helden bereit sind, in Gestalt dessen zu zeigen, was sie wirklich tun. Um die Bedingung ihrer Lust am Leben zu erkennen, müssen wir die Helden des großen Fressens sterben sehen.

9. Wenn wir gelernt haben, Filme zu lesen, oder wenn wir Epikureer sind, brauchen wir darüber nicht allzu traurig zu sein. Wir können vielmehr versuchen, Schlüsse zu ziehen: Denn nun können wir begreifen, was es mit der epikureischen Be-

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scheidenheit an sich hat. Sie besagt: Man muss von Todesfurcht frei sein, um sich mit wenigem zufrieden geben zu können. Die Bescheidenheit ist eine Folge der Gelassenheit dem Tod gegenüber. Nur in dieser Reihenfolge lassen sich die epikureischen Thesen begreifen: Erst (1.) muss man alles (das Leben) wollen, und das heißt: den Tod nicht fürchten. Dann (2.) kann man gelassen sich an vergleichsweise kleinen Dingen erfreuen. So ist Epikurs Satz zu verstehen: „Nichts ist ausreichend für den, dem das Ausreichende zu wenig ist.“ (Epikur: 2005: 95) Wenn wir uns tapfer die Frage stellen, ob das, was vor dem Tod stattfindet, wert ist, ein Leben genannt zu werden, dann genügen uns schon relativ kleine Dinge als Beweise dafür, dass das Leben sich lohnt. Wenn wir aber dieser Frage ausweichen, dann wird nichts uns im Leben genügen. Wir werden, wie Blaise Pascal bemerkte, immer größere Attraktionen und grelle Reize benötigen, um uns vom Gedanken an den Tod abzulenken, der uns unerträglich scheint (siehe Pascal 1997: 94ff.). Eine Spirale kommerzieller Bedürfnissteigerung und eine abrupte Zunahme bürokratischer Lebensverwaltung und -gängelung werden uns als willkommene Hilfsmittel dienen, um uns in der Fiktion einer gleichsam »innerweltlichen Unsterblichkeit « zu wiegen. Wenn wir zu unserem Vergnügen solche riesige Dinge tun, und wenn wir immer brav alle Verbote befolgen, dann wird uns doch nie etwas passieren, oder? Die Raucherin, deren Sinnbild diesen Text begleitet hat, macht es anders. Sie scheut nicht den Gedanken, dass das Leben ein Ende hat. Sie fände es nur schlimm, wenn davor nicht jene kleinen Dinge Platz hätten, die dafür sorgen, dass es überhaupt ein Leben gibt.

L ITERATUR Alain (1982): Die Pflicht glücklich zu sein. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Brecht, B. (2007): Die Gedichte. Hg. v. Jan Knopf. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Epikur (2005): Briefe. Sprüche. Werkfragmente. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Hans-Wolfgang Krautz. Stuttgart: Reclam. Freud, S. (1989): Die Traumdeutung, Studienausgabe, Bd. II. [Zuerst 1900]. Frankfurt am Main: Fischer.

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Hossenfelder, M. (1996): Antike Glückslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis. Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen. Stuttgart: Kröner. Kruse, F. (1998): Schieß gut, aber freu dich nicht! Östereicherinnen und Östereicher im Spanischen Bürgerkrieg 1936-1939. Insbruck: Haymon-Verlag. Lacan, J. (1991): Kant mit Sade. [Zuerst 1963]. In: Ders.: Schriften, Bd. II. 3. Aufl. Weinheim, Berlin: Quadriga, S. 133–164. Parin, P. (1991): Es ist Krieg, und wir gehen hin. Bei den jugoslawischen Partisanen. Berlin: Rowohlt. Pascal, B. (1997): Gedanken über die Religion und einige andere Themen. Stuttgart: Reclam. Pope, A. (o. J.): Essay on Man: Im Internet: http://poetry.eserver.org/essay-onman/epistle-iv.txt. Abruf: 15.11.2012. Stendhal (o. J.): Über die Liebe. München: Goldmann.

Warum Edward Cullen Diät hält Zur Domestizierung des Vampirs in aktuellen Medientexten L EA G ERHARDS Bella: „I know what you are.“ Edward: „Say it. Out loud. Say it!“ Bella: „Vampire.“ Edward: „Are you afraid?“ Bella: „No.“ Edward: „Then ask me the most basic question: What do we eat?“ TWILIGHT

Der oben zitierte Dialog ist Teil einer zentralen Szene in Twilight, der 2008 erschienenen filmischen Adaption des gleichnamigen Romans von Stephenie Meyer. Twilight erzählt die Geschichte der Protagonistin und HighschoolSchülerin Bella Swan, die sich Hals über Kopf in ihren mysteriösen Mitschüler Edward Cullen verliebt. Durch vermeintlich unerklärliche Begebenheiten stutzig geworden, kommt Bella Edwards Geheimnis auf die Spur: Er ist ein Vampir – und damit im Rahmen des fantastischen Twilight-Universums ein Wesen, das durch seine Position in der „natürlichen“ Nahrungskette Bellas Sicherheit und letztendlich ihr Leben bedroht. Zu Bellas Glück jedoch handelt es sich bei ihrem Liebhaber um einen Vampir „on a special diet“, der aus ethischen Gründen auf menschliches Blut verzichtet und sich deshalb als „Vegetarier“ bezeichnet. Twilight, der Film, liefert etliche Verweise auf den Bereich der vampirischen, aber auch der menschlichen Ernährung, was ihn zu einem relevanten und aufschlussreichen Untersuchungsgegenstand im Rahmen des Projekts Kulinarisches Kino macht.

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Vampire faszinieren uns seit Jahrhunderten, doch haben sie gerade in jüngerer Zeit einen festen und prominenten Platz in der Literatur und der medialen Darstellung erobert. Seit seinem Einzug in die Literatur des 18. Jahrhunderts (vgl. Ames 2010: 37) haben sich die Eigenschaften und Charakterzüge des Vampirs vielfach gewandelt. Die literarische und filmische Figur des untoten Wiedergängers funktioniert als äußerst flexible Metapher für Alterität und kann demnach unterschiedliche kulturelle, gesellschaftliche sowie politische Bedeutungen in verschiedenen Kontexten erlangen (vgl. Gordon u. Hollinger 1997: 2). So kann der Vampir als Projektionsfläche für kulturelle Aspekte gelten. Variation ergibt sich auch daraus, dass das Vampirmotiv Genre- und Mediengrenzen überschritten hat (vgl. Ames 2010: 37). Vampire okkupieren einen komplexen populärkulturellen Bereich, der von Literatur, Film und Fernsehen über Comics, Musik und Radio bis zu den kuriosesten Gebrauchsgegenständen reicht. Mit der Vampirfigur vertraut ist das Publikum von heute weniger durch Werke der Literatur, sondern vor allem durch Film und Fernsehen (vgl. Abbott 2007: 1). Dabei ist auffällig, dass trotz aller Variation, die die Figur im Laufe des 19., 20. und 21. Jahrhunderts erfahren hat, bis heute ein zentrales Charakteristikum des Vampirs bleibt, was Mary Pharr als sein „essential nutritional need“ (1999: 93) bezeichnet: sein nicht unterdrückbarer Durst nach menschlichem Blut. Wie der vorliegende Beitrag aufzuzeigen versucht, stehen dieser Aspekt des Blutdursts sowie speziell das Bemühen um dessen Unterdrückung im Vordergrund gegenwärtiger Vampirerzählungen. Sally Miller weist bereits 2003 darauf hin, eines der erstaunlichsten Merkmale kontemporärer Vampirfiktion sei die Abneigung des Vampirs, sich seiner „Natur“ gemäß zu ernähren (vgl. 2003: 53). Sie bezieht sich dabei unter anderem auf Anne Rices Roman Interview with the Vampire (1976) und die Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer (The WB und UPN, 1997–2003). Populäre Beispiele jüngeren Datums für diesen Trend sind die vier Filme der Twilight-Saga (Summit Entertainment, 2008–), Twilight, New Moon, Eclipse und Breaking Dawn (Part I), und die Fernsehserien True Blood (HBO, 2008–), The Vampire Diaries (The CW, 2009–) und Being Human (BBC Three, 2009–)1, auf die hier Bezug genommen werden soll.2 Der Entwicklung des Vampirmotivs in Richtung eines „sympathischen“ Vampirs, der sich dem

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Ein amerikanisches Remake der ersten Staffel der Serie wurde Anfang 2011 auf SyFy ausgestrahlt. Dieses kann allerdings an dieser Stelle aus Platzgründen nicht mit einbezogen werden.

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Anführen könnte man zusätzlich einige Buchserien, wie etwa Mari Mancusis Blood Coven-Reihe (2006–).

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Beißen und Töten von Menschen verweigert, soll im Folgenden nachgegangen werden. Alternative Ernährungsweisen, um die sich die Vampircharaktere in den genannten Filmen und TV-Serien bemühen, sind zahlreich: Möglich ist das Ausweichen auf Tierblut (Twilight, The Vampire Diaries), das Bezirzen3 und „Anzapfen“ von Menschen anstelle des Tötens (True Blood, The Vampire Diaries), radikaler Blut-Entzug, der Genuss von Blutkonserven aus dem Krankenhaus und das Trinken von Vampirblut. Des Weiteren soll gefragt werden, in welchem Zusammenhang der Verzicht auf vampirische Ernährung im Rahmen dieser populärkulturellen Produktionen auf der einen Seite und die zeitgenössische Konsumkultur auf der anderen Seite mit moderner Identitätsarbeit am Körper stehen. Fabio Parasecoli argumentiert in seiner Monografie Bite Me. Food in Popular Culture: „Food influences our lives as a relevant marker of power, cultural capital, class, gender, ethnic, and religious identities“ (2008: 2). Phänomene in populärkulturellen Texten können laut Parasecoli interessante Aspekte unserer Beziehungen zum Körper, zum Vorgang des Essens und zur Nahrungsaufnahme offen legen (vgl. ebd.). Einem ähnlichen Gedankengang folgend schreibt Sarah Sceats: „[…] food and eating are essential to self-identity and are instrumental in the definition of family, class, ethnicity. […] encoded in appetite, taste, ritual and ingestive etiquettes are unwritten rules and meanings“ (2000: 1). Im Folgenden soll zunächst ein Überblick über die Entwicklung des Vampirmotivs hin zum „sympathischen“ Blutsauger gegeben werden. Unter Berücksichtigung dreier zentraler Aspekte dieser Entwicklung werden anschließend die eingangs genannten aktuell populären Vampirfilme und -serien genauer beleuchtet werden. Im letzten Teil des Beitrags erfolgt eine Bezugnahme auf konsumkulturelle Körperdiskurse, in deren Umfeld sich die Medientexte einordnen lassen.

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Vampire in True Blood verfügen über die übernatürliche Gabe, Menschen „bezirzen“, das heißt hypnotisieren und ihre Gedanken und Handlungen steuern zu können; im Original wird dieser Vorgang „glamouring“ genannt. Vergleichbare Fähigkeiten werden in The Vampire Diaries als „Manipulation“ beziehungsweise „(mind) compulsion“ bezeichnet.

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SYMPATHISCHEN

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Die Verschiebung und Veränderung von Genre-Konventionen, was die populärkulturelle Figur des Vampirs angeht, ist im wissenschaftlichen Kontext vielfach behandelt und diskutiert worden. Zum Motiv des „neuen“ Vampirs, wie es sich in den oben genannten aktuellen Texten manifestiert, ist eine Reihe von Publikationen erschienen.4 Beobachten lässt sich im 20. und 21. Jahrhundert die Tendenz, den Vampir als „sympathisch“ darzustellen (vgl. Recht 2011: 87). Wie dieser Beitrag argumentieren will, kann die Suche des zeitgenössischen Vampirs nach Ernährungsalternativen sowie sein Ringen um Selbstbeherrschung im Rahmen dieser Entwicklung verortet werden. Einer der ersten populären Vertreter des sympathischen Vampirtyps ist Barnabas Collins, der Star der amerikanischen gothic Daily Soap Dark Shadows aus den 1960ern (vgl. Badley 1996: 105). Obgleich Züge des reflektierten, durch Blutdurst gepeinigten Vampirs bereits in John William Polidoris The Vampyre (1819) und James Malcolm Rymers Varney the Vampire (1845-47) auszumachen sind (vgl. Recht 2011: 87 f.), rückt der Aspekt der Auseinandersetzung mit der eigenen Vampirnatur, die auf Seiten des Publikums Sympathie für den vampirischen Protagonisten hervorruft, in Dark Shadows (ABC, 1966-71) in den Vordergrund.5 Großen Einfluss übte der Charakter des sympathischen Barnabas Collins auf die Darstellung des Vampirs Louis in Anne Rices Interview with the Vampire aus, ebenso wie auf Angel und Spike, die beiden zentralen männlichen Vampirfiguren der Fernsehserie Buffy the Vampire Slayer (vgl. Recht 2011: 88). In der Tat gilt Kultautorin Rice laut Badley als die „Mutter“ des neuen Vampirtyps sowie des florierenden Subgenres, welches sich um diese Figur rankt (vgl. 1996: 111). Vampir Louis verschreibt sich im Roman einem moralischen Kodex, der ihm gebietet, sich von Tieren anstatt von Menschenblut zu ernähren. Damit kann er als eine Art Paradebeispiel für den neuen Vampirtyp gelten. Tötet der sympathische Vampir den-

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Zu nennen sind unter anderem Veröffentlichungen von Linda Badley (1996), Sandra Tomc (1996), Jules Zanger (1997), Milly Williamson (2003), Stacey Abbott (2007) und Marcus Recht (2011).

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Laut Milly Williamson besitzt die Figur des sympathischen Vampirs großes Identifikationspotenzial für Fans, weil sie dazu instrumentalisiert werden kann, sozialen Dilemmas und Ungerechtigkeiten Ausdruck zu verleihen. Barnabas’ Pathos ergibt sich daraus, dass er seinen Vampirismus als Zeichen von Schuld missinterpretiert, obwohl er eigentlich unschuldig ist; er hat die verurteilende Sichtweise der Gesellschaft internalisiert (vgl. Williamson 2007: n.pag.).

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noch einen Menschen, „[…] so findet ein moralisches Abwägen statt oder der Blutsauger leidet danach zumindest unter seinen begangenen Taten“ (Recht 2011: 89). Grundsätzlich lässt sich die Entwicklung des Vampirmotivs hin zum sympathischen Vampir als ein Prozess der Domestizierung beschreiben (vgl. Tomc 1996: 441; vgl. Miller 2003: 53; vgl. Williamson 2003: 101), der sich immer auch gerade in seinem veränderten Ernährungshandeln manifestiert. Jules Zanger hat diese Evolution der Figur zum gezähmten Vampir ausführlich untersucht; seine Beobachtungen sollen hier als Leitfaden dienen. Aus legalen, kommerziellen, dramatischen wie ästhetischen Gründen kommt es im Laufe der 1980er und 90er Jahre zu einer Differenzierung des „neuen“ Vampirtyps von dem „alten“, für den Zanger exemplarisch Stokers Dracula anführt (vgl. ebd.: 18). Über die wesentlichen motivischen Verschiebungen schreibt Zanger: „Taken together, these shifts […] demythologize the vampire“ (ebd.: 19).

„G UTE “ UND „ BÖSE “ V AMPIRE – G EGEN DEN B LUTDURST Eine wichtige Veränderung der literarischen und filmischen Vampirfigur betrifft laut Zanger den metaphysischen und religiösen Status des Blutsaugers (vgl. 1997: 18). Während Dracula in Stokers Roman als Anti-Christ und Verkörperung des Bösen inszeniert wird, ist der neue Vampir nicht mehr Instrument eines kosmischen Konflikts zwischen Gott und Satan. Seine Taten sind stattdessen Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit und Verfassung. Auf diese Weise ist die Figur nicht mehr als inhärent böse festgeschrieben; die Existenz von „guten“ wie „bösen“ Vampiren wird möglich (vgl. ebd.: 18 f.). Tatsächlich scheint der Konflikt zwischen „guten“ und „bösen“ Vampiren ein wiederkehrendes Element zeitgenössischer Vampirfiktion zu sein. Dabei spielt (unter anderem) das Essverhalten eine zentrale Rolle für die Charakterbildung der Vampirfiguren sowie für deren Einordnung in jenes binäre Muster von „gut“ und „böse“. Exemplarisch lässt sich diese Entwicklung an der Twilight-Saga illustrieren. Die Cullen-Familie genießt aufgrund ihres selbst gewählten „vegetarischen“ und familiären Lebensstils eine besondere Stellung innerhalb des Vampirgeschlechts. Edward erläutert: „My family, we’re different from others of our kind. We only hunt animals. We’ve learned to control our thirst“. Die Gegenspieler der Cullens sind im ersten Film drei nomadisch lebende Vampire, die – zunächst unwissentlich – im Territorium der guten Vampire Menschen überfallen und umbringen. Laurent, James und Victoria stellen nicht zuletzt auch eine Bedrohung für Bellas

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Leben dar; in James’ Augen ist sie nichts als ein „Snack“. Weitere Vertreter der Kategorie „böser Vampire“ sind die Volturi, eine Art königliche Herrscherfamilie, die als Älteste in der Vampirwelt große Autorität besitzen und im Rahmen ihrer Funktion als Hüter der Vampirgesetze mitunter grausame Urteile vollstrecken. Edward berichtet in New Moon, was ihnen fehle, sei „[…] respect for human life, of course“. Wie alle vampirischen Kontrahenten der Cullens in der Twilight-Saga, ernährt sich das Herrschergeschlecht von menschlichem Blut. Doch auch (oder gerade) die Mitglieder der guten Vampirfamilie sind nicht gegen Selbstzweifel gefeit. In Breaking Dawn (Part I) gesteht Edward seiner zukünftigen Braut Bella, dass er in jungen Jahren vom Weg der Rechtschaffenheit abkam und beschreibt die Gründe für seinen darauf folgenden individuellen Entschluss, nunmehr ausschließlich Tiere als Nahrungsquelle zu nutzen: „A few years after Carlisle created me, I rebelled against him. I resented him for curbing my appetite. And so for a while, I went off on my own. I wanted to know how it felt to hunt, to taste human blood. All the men I killed were monsters, and so was I. […] I looked into their eyes as they died, and I saw who I was and what I was capable of.“

Bella bewundert die moralische Stärke und Selbstbeherrschung ihres Verlobten und bezeichnet ihn als „[…] someone capable of courage and sacrifice“. Durch ihre Worte wird deutlich, welch positive Bedeutung vampirischem „Vegetarismus“ und Selbstdisziplin in der Twilight-Reihe zukommt. Bemerkenswert ist, dass Bella in der Twilight-Filmversion (im Unterschied zum Roman) ebenfalls Vegetarierin zu sein scheint. In Restaurants bestellt sie den Gemüseburger, Pilzravioli und Spinatsalat, rät ihrem Vater, aus gesundheitlichen Gründen weniger Steaks zu sich zu nehmen, knabbert an Sellerie und unterhält sich mit Edward an der schuleigenen Salatbar. Nicht länger ausschließlich die Verkörperung des satanischen Bösen, ist der Vampir des „neuen“ sympathischen Typs durch subjektive Erfahrungen motiviert und handelt seinem individuellen Charakter nach. Seine moralische Stärke und Gutmütigkeit zeigen sich in Form seines modifizierten Essverhaltens sowie seiner Gebundenheit an einen Ort, an dem er dauerhaft lebt.

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ALS SOZIALES

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An dieser Stelle kommen zwei weitere Punkte zum Tragen, auf die Zanger in seinem Vergleich des alten und neuen Vampirtyps zu sprechen kommt. Dabei geht es um die Einbindung des Vampirs in Beziehungsgefüge auf zwischen-

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menschlicher, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene. Zum einen ist der sympathische Vampir kein Eigenbrötler: Während Stokers Vampir in Dracula (1897) als Einzelner agiert, hat sich der Vampir des neuen Typus zum Gemeinschaftswesen gemausert. Er lebt im Zusammenschluss mit anderen Vampiren und/oder Menschen, zu denen er familiäre, freundschaftliche und Liebesbeziehungen unterhält (vgl. Zanger 1997: 18). In der Twilight-Saga gestaltet sich dies folgendermaßen: Edward Cullen mag unter seinen Mitschülern als Einzelgänger auftreten, ist jedoch Mitglied einer siebenköpfigen Vampirfamilie, die aus „Vater“, „Mutter“ und mehreren „Adoptivkindern“ besteht, wobei letztere innerhalb der Familie wiederum Liebespaare bilden. Familie ist eines der Leitmotive der Filme wie der Bücher, auf denen sie basieren: „[T]he series is […] concerned with the contemporary American nuclear family, and a woman’s role within that family. Identity, in the series, occurs within the context of group identity, particularly family“ (Silver 2010: n.pag.). Anna Silver betont den Status der Cullens als sesshaften, familiär organisierten Zusammenschluss, der sie von anderen Vampiren des Twilight-Universums, wie zum Beispiel dem Volturi-Zirkel, unterscheidet und der zweifellos positiv konnotiert ist (ebd.: n.pag.). Die Mitglieder der Vampirfamilie gehen am liebsten gemeinsam auf die Jagd nach Berglöwen; gegenüber ihren Mitschülern deklarieren Edward und seine Geschwister ihre der Ernährung dienenden Ausflüge als familiäre Campingtrips oder Wanderungen. Auf diese Weise wird das Bluttrinken zu einer gemeinschaftlichen, familiären Angelegenheit – die vampirische Version einer „Familienmahlzeit“. Einen ähnlichen Fokus auf Beziehungskonstellationen legen die Vampire Diaries, die sich um die zwei Vampirbrüder Stefan und Damon Salvatore und deren romantische Dreiecksbeziehung zu einer menschlichen Highschool-Schülerin drehen. Die britische TV-Serie Being Human wiederum zeigt die Bemühungen dreier übernatürlicher Wesen, ein normales, vermeintlich „menschliches“ Leben zu führen: Ein Vampir, ein Werwolf und ein Geist leben zusammen in einer Wohngemeinschaft und entwickeln im Laufe der Serie eine enge Freundschaft zueinander. Zum anderen kommen dem Blutsauger, einhergehend mit dem Verlust seines religiösen Status, auch weitere folkloristische Eigenschaften abhanden, die Dracula noch eindeutig als magisches und damit „anderes“ Wesen markierten, ihn entsprechend erkennbar machten und ihm so die mühelose Eingliederung in die menschliche Gesellschaft verwehrten. Zanger nennt als Beispiel die Mutabilität der Figur, also ihre Fähigkeit, sich in Tiere wie Fledermäuse, Wölfe und Insekten, oder etwa in Nebel zu verwandeln (vgl. 1997: 19). In der Tat spielt diese Verwandlungsfähigkeit des Vampirs in keinem der hier betrachteten Medientex-

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te eine Rolle.6 Was außerdem in der Regel wenig Wirkung zeigt, sind „traditionelle“ Abwehrmaßnahmen gegen Vampire wie Kruzifixe und Weihwasser (vgl. ebd.), was deutlich mit der im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen Säkularisierung des Vampirs zusammenhängt. Obwohl Vampire in Being Human teilweise empfindlich auf religiöse Symbole reagieren, tritt hier eine andere bemerkenswerte Fähigkeit des neuen Vampirs zutage: Mitchell, der vampirische Protagonist der Serie, kann sich, vom Sonnenlicht unbehelligt, tagsüber im Freien aufhalten. Dies ermöglicht ihm sowohl den sozialen Umgang mit seinen Nachbarn und Mitmenschen als auch die Übernahme eines Nebenjobs, mit dessen Hilfe er ganz alltäglich seine Miete bezahlt. Auch die Cullens sind respektierte Bürger von Forks; Carlisle wird aufgrund seines Arztberufs besonders geschätzt. Da die Sonne Vampiren auch im Twilight-Universum nichts anhaben kann, sondern deren bleiche Haut allenfalls zum Glitzern bringt, können die Cullens Ausbildungen und Berufe ergreifen. Von der akademischen Laufbahn der einzelnen Familienmitglieder zeugt die Ansammlung von Doktorhüten im Flur der Cullens. Als Bella ihre Verblüffung über das offene und lichtdurchflutete Haus der Familie kundtut, fragt Edward amüsiert: „What did you expect? Coffins and dungeons and moats?“ (siehe Abbildung 1). Mit einem Augenzwinkern distanziert sich der Film auf diese Weise von „traditionellen“ Vampirerzählungen und deren Mythologie.

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MODERNE AMERIKANISCHE

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VON NEBENAN

Stacey Abbott spricht in ihrer Untersuchung der filmischen Vampirfigur von einer „violent usurpation of a traditional vampire by a modern one“ (2007: 4), einem Prozess, in dem der alte, eine archaische und barbarische Vergangenheit repräsentierende Vampir durch den neuen, modernen und „zivilisierten“ Vampir ersetzt wird (vgl. ebd.: 2 f.). In der Tat werden die Cullens in der Twilight-Saga als moderne, junge und nach der aktuellen Mode gekleidete Vampire dargestellt.

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Miller bemerkt hierzu: “One of the biggest modifications of the vampire myth in contemporary fiction is the ‘density’ of the vampiric body. No longer able to transform or transcend its corporeal presence, the vampiric body has become a body that has ceased to exist, yet cannot die” (2003: 56). Ihrer Meinung nach manifestiert sich in der Figur des durch seinen Blutdurst eingeschränkten Vampirs das nie zu befriedigende kulturelle Begehren, frei vom Körper zu sein (vgl. ebd.: 56).

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Abbildung 1: Familie Cullen bei Essensvorbereitungen in ihrer modernen Küche

Quelle: DVD Twilight, im Vertrieb von Concorde

Wie erwähnt, bewohnen sie ein elegantes Haus im amerikanischen Forks, fahren teure Autos und sind an zeitgenössischer Musik, Literatur und Technologie interessiert. Abbott bemerkt: „[R]ather than acting in opposition to modernity, the vampire has come to embody the experience of it“ (ebd.: 5). Der moderne Vampir ist ihrer Argumentation nach nicht mehr mit vergangener Zeit verbunden, sondern fest in seiner neuzeitlichen Umgebung, also an einem Ort, verankert (vgl. ebd.: 3). Dazu führt Evangelia Kindinger aus, dass der Vampir traditionellerweise als „deterritorialized“ (2011: 2) repräsentiert worden sei. Fortwährend auf der Suche nach menschlicher Beute, war er ein Wesen in ständiger Bewegung: „The traditional vampire is a nomad, an uprooted figure: uprooted from both life and home“ (ebd.: 12). In jüngeren Vampirgeschichten hingegen scheint der Vampir in bestimmten amerikanischen Regionen verwurzelt (vgl. ebd.: 2), wie im Falle von Twilight in Forks, Washington, bei The Vampire Diaries in Mystic Falls, Virginia, und bei True Blood in Bon Temps, Louisiana. Nicht länger auf der Jagd nach zu tötender menschlicher Beute, wird Sesshaftigkeit ein Merkmal seiner „Zivilisiertheit“. Im Gegensatz zu Dracula, der nicht durch staatliche oder nationale Grenzen eingeschränkt war (vgl. ebd.: 12), zeigt sich die territoriale Verankerung der Twilight’schen Vampirfamilie vor allem darin, dass für die Cullens eine Reihe von Grenzen existieren, an deren Wahrung sie interessiert sind. Einerseits handelt es sich hierbei um Grenzen, die ihren Wohn- und Lebensraum innerhalb des Vampirgeschlechts zu ihrer eigenen Sicherheit abstecken. Die Cullens sind darauf angewiesen, ihr Vampirdasein vor der Bevölkerung in Forks zu verbergen; daher stellt es für sie ein Problem dar, als Laurent, James und Victoria in Twilight in der unmittelbaren Umgebung auf Menschenjagd gehen.

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Carlisle: „I’m afraid your hunting activities have caused something of a mess for us.“ Laurent: „We didn’t realize the territory had been claimed.“ Carlisle: „Yes, well, we maintain a permanent residence nearby.“ Laurent: „Really? Well, we won’t be a problem anymore. We were just passing through.“

Andererseits sind die Cullens in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit durch bestimmte Grenzen eingeschränkt, die im Rahmen eines Abkommens mit den Werwölfen des Twilight-Universums festgelegt wurden. Laut dieses Vertrags darf die Vampirfamilie das Reservat des Quileute-Stammes unter keinen Umständen betreten; die Überschreitung dieser Grenzen würde die Konsequenz eines Krieges zwischen den übernatürlichen Wesen nach sich ziehen. Kindinger stellt heraus: „In Twilight, the regionalization of vampires serves to Americanize and thus tame them. […] [R]egionalism roots the vampire in concrete places and cultures“ (ebd.: 18 f.). Auf diese Weise verknüpft sie den Prozess der Regionalisierung der Vampirfigur mit dem der Domestizierung (vgl. ebd.: 12). An dieser Stelle lässt sich der Kreis um die Darstellung des neuen Vampirtyps schließen, denn Zanger bestätigt, seine Beobachtungen zusammenfassend: „[…] the new vampire […] does not come to us like Dracula from some mysterious foreign clime, preferably Eastern, but is resolutely American […]. This new, demystified vampire might well be our next door neighbor, as Dracula, by origin, appearance, caste, and speech, could never pretend to be“ (1997: 19). „Since when do vampires like baseball?“, fragt Bella in Twilight. Edward schmunzelt: „Well…it’s the American pastime!“ Als Vorzeige-Amerikaner und angesehene Mitbürger sind die Cullens in die Gesellschaft integriert. Ein wesentlicher Aspekt ihrer Zähmung und „Zivilisierung“ ist dabei der Verzicht auf menschliches Blut und der Rückgriff auf Ernährungsalternativen in Form von Tierblut. Besonders anschaulich wird der Zusammenhang von Integration und Domestizierung in True Blood präsentiert. Der Titel der Serie bezieht sich auf das Getränk „Tru Blood“ – dahinter verbirgt sich ein von japanischen Wissenschaftlern entwickeltes synthetisches Blut, das in der True Blood-Welt neuerdings in gewöhnlichen Supermärkten und Bars erhältlich ist. Das Getränk wird als alternative Nahrungsquelle für Vampire vermarktet: Es ist in verschiedenen Geschmacksrichtungen beziehungsweise Blutgruppen erhältlich und die dazugehörige Marketingkampagne verspricht die komplette Befriedigung des vampirischen Nahrungsbedarfs. Mit der Erfindung des synthetischen Bluts haben sich die Vampire, die bislang unentdeckt am Rande der Gesellschaft lebten, der menschlichen Weltbevölkerung zu erkennen gegeben und setzen sich nun für vampirische Bürgerrechte ein. Nan Flanagan, die offizielle Sprecherin der „American Vampire League“, plädiert in Fernsehtalkshows

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wiederholt für die Durchsetzung des „Vampire Rights Amendment“: „Now that the Japanese have perfected synthetic blood […], there is no reason for anyone to fear us. I can assure you that every member of our community is now drinking synthetic blood. That’s why we decided to make our existence known. We just want to be part of mainstream society“ (Strange Love, Ep. 01x01). Alltägliche Praktiken wie das Einkaufen von „Lebensmitteln“ im Supermarkt lösen die Vampire aus ihrem Außenseitertum heraus und lassen sie weniger monströs erscheinen. Da dank „Tru Blood“ ihr Überleben theoretisch auch ohne das Beißen von Menschen gesichert ist, strebt der (offizielle) Großteil der Vampire nach einer friedlichen Koexistenz mit den Menschen sowie nach Gleichberechtigung und Integration in die menschliche Mehrheitsgesellschaft – ein Prozess, der in der Serie mainstreaming genannt wird.

D ER „ ZIVILISIERTE “ V AMPIRKÖRPER ZWISCHEN K ONSUM UND ASKESE „I don’t want to be a monster. My family, we think of ourselves as vegetarians, right, because we only survive on the blood of animals. But it’s like a human only living on tofu. It keeps you strong but you’re never fully satisfied.“ EDWARD IN TWILIGHT

Die Integration in die menschliche Gesellschaft und die damit verbundenen Privilegien fordern einen hohen Preis von der Cullen-Familie, nämlich das Hinterfragen ihrer Vampirnatur und den Willen, ihre biologischen Instinkte zu unterdrücken. Miller weist darauf hin, die ablehnende Haltung des Vampirs gegenüber dem Beißen von Menschen sei dabei „[f]requently framed as an act of conscience“ (2003: 53). Analog beschreibt Zanger die Implikationen, die sich auf erzähltechnischer Ebene durch die oben geschilderten Verschiebungen für die Darstellung der Vampirfigur ergeben. Die neue gemeinschaftliche Rolle des Vampirs, so Zanger, erlaube der Figur einen höheren Grad an sozialer Komplexität (vgl. 1997: 21f.). Der Vampir ist humaner, also „menschlicher“ geworden, denn er wird von menschlichen Gefühlen und Motivationen angetrieben: Er liebt, bereut, zweifelt, reflektiert über sich selbst, erlebt innere Konflikte und das Hin- und Hergerissen-Sein zwischen widersprüchlichen (körperlichen) Impulsen (vgl. ebd.: 22). Zanger betont die große Relevanz dieser charakterlichen Komplexität des neuen Vampirs: „Here, in this new capacity for self-examination, for

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self-judgment, even for self-loathing, appears the most significant aspect of the new vampire“ (ebd.: 22). Hier geht es um eine philosophische Schlüsselfrage, die seit Descartes wiederholt in verschiedenen Disziplinen wie der Philosophie, der Politik- und Kulturwissenschaft aufgegriffen wurde, nämlich die Frage nach der Beziehung von Geist und Körper (vgl. Edgar 1999: 44). Aufschlussreich erscheint an dieser Stelle ein Blick auf Vorstellungen über dieses Verhältnis in postmoderner Konsumkultur, in deren Rahmen die oben angeführten populärkulturellen VampirProduktionen entstanden sind. Wie Mike Featherstone herausgearbeitet hat, hat sich innerhalb besagter Konsumkultur ein neues Verhältnis zwischen Körper und Selbst entwickelt (vgl. 1991: 187). In seinem Aufsatz The Body in Consumer Culture betont Featherstone die „[…] significance of appearance and bodily preservation within late capitalist society“ (ebd.: 170). Im Kontext der Konsumkultur seien Individuen dazu aufgefordert, Strategien zur Eindämmung körperlichen „Verfalls“ anzuwenden, während der Körper gleichzeitig als „vehicle of […] self-expression“ (ebd.: 170) gelte – so der Autor. Wichtig ist dabei zunächst, dass es Individuen sind, die in der Konsumkultur die Verantwortung für ihre Gesundheit, ihre körperliche Figur und ihr Aussehen übernehmen (vgl. ebd: 183). Werbung erinnert den Einzelnen und die Einzelne stetig daran, dass Selbstverbesserung in allen Aspekten des Lebens möglich und notwendig sei (vgl. ebd.: 172). Hieraus ergibt sich „[…] for ascribed bodily qualities to become regarded as plastic – with effort and ‚body work‘ individuals are persuaded that they can achieve a certain desired appearance“ (ebd.: 178). Auf der einen Seite gilt das Arbeiten am Körper in diesem Sinne als Form des Selbstausdrucks und der Selbstverwirklichung (vgl. Fraser u. Greco 2005: 28). Je näher der Körper dabei dem durch die Werbeindustrie und vor allem durch Hollywood-Filme verbreiteten Idealbild von Jugend, Gesundheit, Fitness und Schönheit kommt, desto größer scheint sein Wert (vgl. Featherstone 1991: 177; 179). Auf der anderen Seite beschreiben Mariam Fraser und Monica Greco diesen Prozess der Optimierung des eigenen Körpers als „[…] a disciplining force, placing even greater burdens on individuals“ (2005: 28). Der Begriff der „body maintenance“ (Featherstone 1991: 182) verweist auf die Metapher der Maschine, die auf den Körper übertragen wird: Gleich Autos oder anderen Konsumgütern bedürfen Körper in dieser Vorstellung der Instandhaltung, der regelmäßigen Pflege und Aufmerksamkeit, um maximale Leistungsfähigkeit zu erhalten (vgl. ebd.: 182). Hierbei assistieren „Experten“ wie Therapeuten und Fitnesstrainer, aber auch Rat gebende Rubriken in Zeitschriften und Fernsehsendungen (vgl. ebd.: 191f.). Institutionen wie diese ermahnen paradoxerweise gleichzeitig zum Schlanksein und zum Konsum, also zur unmittelbaren Befriedigung des Appetits (vgl. Sceats

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2000: 66). Dabei steht der konsumkulturelle Kult um den schlanken, straffen Körper in Opposition zu allem, was als „fat and uncontained“ (ebd.: 90) definiert ist: „[…] fatness in contemporary western culture is regarded as generally disgusting; studies have suggested that fat people are stigmatized, held to be somehow morally responsible for their condition“ (ebd.: 90). Sceats behandelt in ihrer Monografie den Zusammenhang zwischen solchen kulturellen Vorstellungen und Essstörungen speziell bei Frauen (vgl. ebd.: 64f.). Die Disziplinierung des Körpers erfolgt also nicht nur auf dem Wege des Fitness-Trainings und der Körperpflege, sondern manifestiert sich gerade auch in einem besonderen Essverhalten. Featherstone betont das ungeheuer große Angebot an „dietary, slimming, exercise and cosmetic body-maintenance products“ (1991: 170), das produziert, vermarktet und verkauft wird, und Bryan S. Turner vermutet eine „‚elective affinity‘ between dietary management and the rise of capitalism“ (1991: 164). Festzuhalten ist: „[…] body maintenance in order to look good merges with the stylised images of looking good while maintaining the body“ (Featherstone 1991: 184). In dieser Logik werden Fitness und Schlankheit nicht nur mit Energie und Vitalität assoziiert, sondern auch mit einer positiven Persönlichkeit: Menschen, die diszipliniert an ihrem Körper arbeiten, gelten als attraktiv und sozial akzeptabel (vgl. ebd.: 183). Umgekehrt kann eine Vernachlässigung der körperlichen Erscheinung als Anzeichen von Faulheit, niedrigem Selbstwertgefühl oder sogar moralischem Scheitern interpretiert werden (vgl. ebd.: 186). Zusammengefasst resultiert hieraus die Idee, dass die äußerliche Erscheinung und die Präsentation des Körpers eines Menschen Ausdruck seiner Identität seien (vgl. ebd.: 189). Dieser zentrale Aspekt der Konsumkultur scheint in der Figur des neuen, sympathischen Vampirs greifbar zu werden. In der Tat schreibt Badley über Anne Rices Vampirromanserie: „In the Vampire Chronicles, the body provides the structural principle for the self, shaping character, and forming identity or soul“ (1996: 119). Die Verwandtschaft von Rices Vampirfiguren mit aktuellen Blutsaugern spricht dafür, dass heute ähnliche Vorstellungen eine Rolle spielen. Wie die Schauerromane des 18. und 19. Jahrhunderts, zeichnen sich auch kontemporäre Vampirerzählungen durch das Potenzial aus, verdeckte gesellschaftliche Ängste zu repräsentieren und schwer artikulierbare Wünsche zur Sprache zu bringen (vgl. Williamson 2003: 105). Laut Badley artikulieren aktuelle Horrorproduktionen postmoderne gesellschaftliche Ängste, die sich auf den Themenkomplex Identität und den Körper beziehen: „[…] confusion about the self as it relates to the body is at the center of many of our present uncertainties“ (1996: 8). Der Vampir ist nicht nur eine Figur, die durch ihre übermenschliche Kraft und ihre übernatürliche sexuelle Anziehungskraft für Körperlichkeit steht. Auf-

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grund ihrer Unsterblichkeit verkörpert sie auch ewige Jugend, Schönheit und Gesundheit; Attribute, die in der Konsumkultur im Mittelpunkt stehen. Zum Beispiel fallen die Cullens in Forks durch ihren Sinn für teure Markenprodukte wie Mode, ihre model-artige Grazie und ihren harten, festen Körper auf. Die Twilight-Vampirfamilie mag somit einer Wunschvorstellung entsprechen, nach der die menschliche Protagonistin Bella wie auch das Publikum der Saga streben. Gleichzeitig kann argumentiert werden, dass der „neue“ Vampir einen Aspekt der Konsumkultur repräsentiert, der auf einen individuellen asketischen Körper und somit auf die ständige maßhaltende Arbeit an der eigenen Persönlichkeit verweist. Williamson hält fest: „The sympathetic vampire, so popular on American television, is a creature troubled by its ontology; it is a being at odds with its vampiric body and the urges that this body generates“ (2007: n.pag.). Dabei ist es eben dieses Ringen mit dem eigenen Körper, welches das wesentliche Identifikationspotenzial für die Zuschauenden bietet und welches den großen Sympathiefaktor des Vampirs ausmacht (vgl. ebd.: n.pag.). Auffällig ist, dass alle der hier erwähnten sympathischen Vampirfiguren, also Twilights Edward Cullen, Vampire Diaries’ Stefan Salvatore und Being Humans John Mitchell, auf eine Vergangenheit zurückblicken, in der sie ihren biologischen Impulsen freien Lauf gelassen haben, was jeweils mit dem Verlust von Kontrolle sowie mit Brutalität und Kriminalität verbunden ist. Stefan Salvatore zum Beispiel macht im Laufe der ersten drei Vampire Diaries-Staffeln eine turbulente Entwicklung durch. So mutiert er vom gutmütigen älteren Bruder auf Tierblut-Diät zum kaltherzigen ripper, seinem tödlichen Alter Ego aus vergangenen Zeiten. Der Umschwung geschieht, weil er von Bösewicht Klaus dazu erpresst wird, eine so große Menge an Blutkonserven mit menschlichem Blut zu trinken, dass er die Kontrolle über sich selbst verliert. Klaus zwingt ihn dazu, seiner Vampirnatur nachzugeben und sein Zuhause hinter sich zu lassen: „You can either remain here […] or you can embrace what you truly are“ (As I Lay Dying, Ep. 02x22). Nachdem er eine Weile als blutrünstiger Killer durch das Land gestreift ist, kehrt Stefan nach Mystic Falls zurück. Er ist nun willens, sich zu zügeln und auf diese Weise seine Freundin Elena zurückzugewinnen, deren Zuneigung er durch sein Verhalten verspielt zu haben scheint; sein Plan: „[…] get her back, fighting my bloodlust, trying to gain control of my life again […]“ (Heart of Darkness, Ep. 03x19). Sein Bruder Damon ist zuversichtlich: „Before you know it, you’ll be the king of moderation!“ (1912, Ep. 03x16). Das Geschehene reflektierend, sind sowohl Stefan, Edward als auch Mitchell erschüttert über ihre eigenen Taten, setzen sich mit ihrem Gewissen auseinander und haben beschlossen, sich charakterlich wie moralisch zu bessern – und zwar durch die Domestizierung ihrer ernährungsspezifischen Veranlagungen. Die

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enorme mentale Kraftanstrengung, die die Durchsetzung dieses Entschlusses erfordert, wird in allen Texten betont. Mitchells Mitbewohner hebt bewundernd dessen singuläre Selbstbeherrschung hervor: „I’d forgotten what they were like, the others. They’re predators. Every inch of them is just hunger and fury. The energy it must take him, every minute, not to be like that…“ (Flotsam and Jetsam, Ep. 01x01). Edwards Vampirvater Carlisle ist in der Twilight-Saga der Meister der Selbstdisziplinierung, ein gutmütiger Vampir, der seinesgleichen sucht: Bella: „How do you do it?“ Carlisle: „Years and years of practice.“ Bella: „Did you ever think of just doing it the easy way?“ Carlisle: „No. I knew who I wanted to be. I wanted to help people. It brings me happiness, even if I am damned regardless.“ (Twilight: New Moon)

Interessant ist, dass sich das moralische, sanftmütige Innere der sympathischen Vampircharaktere in Twilight nicht nur im übertragenen Sinne in Form ihrer Tierblut-Ernährung zeigt, sondern auch tatsächlich auf dem Körper der einzelnen Familienmitglieder festgeschrieben ist und sich dort ablesen lässt. Während bösartige Vampire in der Saga über rote Augen verfügen, die auf ihren Durst nach menschlichem Blut verweisen, haben die Cullens goldfarbene Augen, wenn sie gesättigt sind (Abbildung 2). Der Körper als Ausdruck des Selbst kann hier wörtlich genommen werden. Die Tatsache allerdings, dass die Augenfarbe der Mitglieder der Vampirfamilie sich drastisch verdunkelt, sobald sie hungrig sind, weist darauf hin, dass die Arbeit an der Unterdrückung ihrer „natürlichen“ körperlichen Impulse niemals beendet sein wird. Die Auseinandersetzung mit dem vampirischen Blutdurst in aktuellen Medientexten manifestiert sich als ewig währender, nie lösbarer Konflikt zwischen Geist und Körper: „[…] the vampire can never be entirely free of its hunger and the conflicts surrounding it; […] what is found in these [texts] is a [sic] merely a domestication, and not an eradication of appetite“ (Miller 2003: 53). Der zeitgemäße sympathische Vampir ist eine domestizierte, „zivilisierte“ und insgesamt regelrecht „menschliche“ Figur. Wesentliche Aspekte seiner Zähmung sind die Unterdrückung seines Appetits auf menschliches Blut und das Auftreiben von Ernährungsalternativen. Damit zusammenhängend scheint der Blutsauger an bestimmten Orten beheimatet und somit sesshaft, da er auf die Jagd und Verfolgung seiner Beute verzichtet.

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Abbildung 2: Edward Cullen vor und nach der Berglöwenjagd

Quelle: DVD Twilight, im Vertrieb von Concorde

Obwohl er an diesen Orten in verschiedenartige Beziehungsgefüge eingebunden und in die Gesellschaft integriert ist, bleibt er letztendlich jedoch seiner Vampirnatur verpflichtet. Vampirischer Blutdurst wird in den angesprochenen Medientexten als biologischer Impuls dargestellt (vgl. ebd.: 56), den es zu hinterfragen und einzuschränken gilt. Hier rücken Vorstellungen von ernährungsphysiologischer Askese als Ausdruck von Charakterstärke und Moral ins Scheinwerferlicht. Damit ist die Vampirfigur wie geschaffen für die Verhandlung von konsumkulturellen Diskursen um die Relation von Körper und Selbst.

L ITERATUR Abbott, S. (2007): Celluloid Vampires: Life After Death in the Modern World. Austin, TX: University of Texas Press. Ames, M. (2010): Twilight Follows Tradition: Analyzing ‚Biting‘ Critiques of Vampire Narratives for Their Portrayals of Gender and Sexuality. In: Click, M./Stevens Aubrey, J./Behm-Morawitz, E. (Hrsg.): Bitten by Twilight.

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Kannibalismus und Clownerie im Endzeitszenario Delicatessen (1991) / Regie: Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro P ETRA F. K ÖSTER

D AS E NDE

AM

ANFANG

Die Welt liegt in Trümmern. Ein Großteil der Gebäude ist zerstört. Es herrscht ein postapokalyptisches Chaos. Tiere sind so gut wie ausgestorben und auf den Feldern wächst wohl schon lange nichts mehr. Den Himmel verdunkelt eine schmuddelige Wolkenschicht. Unter diesen Bedingungen hat sich die Menschheit aufgeteilt in oberirdisch lebende Kannibalen und in die vegetarisch lebenden Troglodisten, die in der unterirdischen Welt des weitverzweigten Netzes der Kanalisation hausen. Dies ist das Endzeitszenario, in das die Zuschauer von Delicatessen eintauchen. Dabei handelt es sich um eine Art komischen Horrorfilm, der 1991 von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro gedreht wurde. Der vorliegende Beitrag gibt zum einen eine Einführung in diese düstergroteske Endzeit, die sich eben auch konkret kulinarisch manifestiert. Ferner fragt er anhand des Films nach dem Verhältnis von Struktur und Handlung: den Rahmenbedingungen, die durch das Endzeitszenario vorgegeben werden auf der einen Seite und der Entscheidung für oder gegen die Grenzüberschreitung hin zum Kannibalismus auf der anderen.

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Z USAMMEN LEBEN – ALLEINE

STERBEN

In einem der mehr oder weniger intakten Häuser hat sich eine skurrile Hausgemeinschaft eingerichtet. Ein Metzger (Monsieur Clapets) und seine erwachsene Tochter (Julie), das Ehepaar Aurore und Georges Interligator, ein Ehepaar mit zwei kleinen Söhnen und deren Großmutter (Familie Tapioca), zwei Handwerker (die Brüder Kube), ein kauziger Frosch- und Schneckenliebhaber sowie die Geliebte des Metzgers (Mlle Plusse) leben zusammen unter einem Dach. Eines Tages meldet sich auf eine Anzeige hin ein arbeitsloser Artist (Louison) für die Stelle des Hausmeisters. Als Lohn soll er Kost und Logis erhalten. Doch Monsieur Clapets, der auch der Besitzer des Hauses ist, stellt ihn aufgrund seiner hageren Statur nur zögernd ein. Der Grund dafür liegt schlichtweg darin, dass Clapets nur deswegen regelmäßig neue Hausmeister sucht, weil er diese nach einer Weile tötet und ihr Fleisch der Stammbewohnerschaft des Hauses zum Verzehr verkauft. Da jene für diese besondere Speise kräftig zahlen müssen, gelingt es ihm, sich auf diese Weise ungemein zu bereichern und zahlreiche Säcke mit Linsen und Mais anzuhäufen, die in dieser vom Hunger geprägten Welt als nicht verzehrbare Währung gelten. Abgesehen von Julie, der Tochter des Metzgers, hat niemand im Haus moralische Bedenken angesichts dieser makabren Handlungspraxis, zumal die Hausbewohner laut einer hausinternen Vereinbarung normalerweise nicht selbst zu den Opfern des Metzgers werden dürfen. Allein dem Metzger kommen durch die anhaltende Kritik seiner geliebten Tochter gegen Ende des Films scheinbar leise Zweifel an der Richtigkeit seines Handelns, die, wenn sie denn überhaupt je ernst gemeint sein sollten, allerdings schnell wieder verfliegen. Trotz aller Bedenken: Clapets stellt Louison schließlich ein. Doch während der wirre Alltag im Haus seinen Lauf nimmt, verliebt sich ausgerechnet Julie schon bald in Louison. Mehrmals versucht sie ihn vor der Gefahr zu warnen, in der er sich befindet – jedoch ohne Erfolg. Immer kommt irgendetwas dazwischen. Louison wiederum erzählt Julie von seinem ehemaligen Kompagnon, dem Affen Mr. Livingston, um den er seit jener Nacht trauert, in der dieser von einem hungrigen Mob verspeist wurde und Louison schließlich die Stelle als Hausmeister annahm. Nachdem Julie vergeblich bei ihrem Vater, dem Metzger, um Gnade für den Artisten bittet, beschließt sie, sich an die Troglodisten in der Kanalisation zu wenden. Die Troglodisten essen nicht nur kein Fleisch und leben unter der Erde. Sie sind wortwörtlich eine militante Vegetarier-Untergrundorganisation, die von Julie nun beauftragt wird, Louison zu entführen, um ihn so dem Zugriff ihres Vaters zu entziehen. Im Gegenzug bietet sie dessen Reichtümer – die Getreide- und Linsensäcke in seinem Keller – als Bezahlung an.

K ANNIBALISMUS UND C LOWNERIE IM E NDZEITSZENARIO

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In einer für den Spannungsbogen des Films zentralen Nacht, in der sowohl der Metzger den Artisten töten als auch die Untergrundbewegung diesen entführen will, kommt es zu einigen eskalierenden Verirrungen: Die Troglodisten entführen aus Versehen die Geliebte des Metzgers. Julie wiederum stellt sich offen auf die Seite von Louison und damit gegen ihren Vater, der wiederum den Clown mit Hilfe der restlichen Hausgemeinschaft jagt und sich, bei dem Versuch ihn zu töten, schließlich selbst umbringt. Ungeklärt bleibt, wie es nach dieser verhängnisvollen Nacht, in der das halbe Haus zerstört wird, weitergehen könnte. Julie und der Artist musizieren in der letzten Szene auf dem Dach, während die beiden Söhne der Tapiocas ein paar Meter weiter im Hintergrund mit einem riesigen Schöpflöffel und einem ebenso großen Schneebesen so tun, als musizierten sie ebenfalls. Das Schöne und das Spiel werden also als Möglichkeit in der Fiktion weiter aufrechterhalten, da die Alternative angesichts einer hoffnungslosen Situation nur in Resignation und Verzweiflung bestehen würde. Wie es weitergeht, bleibt, wie gesagt, der Fantasie des Zuschauers überlassen, wobei im Laufe des Films durchaus angedeutet wird, dass es in dieser Welt keine Zukunft gibt und die Menschen dies nur nicht sehen wollen (so zumindest Monsieur Clapets zum Postboten). Die rabenschwarze Komödie selbst übernimmt eine Reihe von Motiven aus dem Bereich von Zirkus und Artistik: Louison probt seine Nummern, Julie dagegen den Ablauf ihrer Verabredung mit ihm wie eine Filmszene. Der Soundtrack greift Motive aus der Zirkusmusik auf. Die Menschen aus dem Untergrund wiederum wirken wie eine Clownstruppe. Sogar für den Überfall auf die Schwiegermutter des Familienvaters, die als Ersatz für ausgebliebene Mietzahlungen eines Nachts unters Messer soll, gibt es eine Art „Drehbuch“. Schrille Farben und „Overacting“, also übertriebenes und überzogenes Spiel, tragen das ihre zu diesem Eindruck bei. Nur durch diese Art der Darstellung ist es machbar, dass der Verzehr von Menschen auf bizarre Weise komisch erscheint.

H UNGERKANNIBALISMUS

UND FRAGILE

N ORMALITÄT

Der Mangel an Nahrungsmitteln ist in Delicatessen das zentrale und alles bestimmende Thema. Dabei erhält das Essen gerade dadurch soziale Relevanz1,

1

Soziale Relevanz erhält etwas, wenn es kommunikative Anschlussmöglichkeiten erzeugt. Das heißt, dass es innerhalb eines sozialen Prozesses bedeutsam ist und kommunikativ aufgegriffen wird. Essen kann somit als ein „nichtmenschliche[r] Akteur“

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dass es nicht vorhanden ist. Gäbe es ausreichend davon, wären die Menschen wohl auch nicht dazu übergegangen, Menschen zu essen. Die Relevanz des Mangels von Nahrung wird paradoxerweise wiederum gerade in den Szenen sichtbar, in denen Nahrung verzehrt wird: Wenn der Schneckenliebhaber seine Schnecken isst oder wenn die Hausbewohner in der Schlange stehen, um Fleisch zu kaufen. Beide Szenen repräsentieren eine Ernährungspraxis, die in unserer Erfahrungswelt nicht üblich ist, denn der Schneckenliebhaber bereitet die Schnecken nicht zu, wie es üblich wäre, wenn sie als Delikatesse verspeist würden. Stattdessen verzehrt er sie roh in der feuchten, dreckigen Umgebung, in der er mit ihnen lebt. Und auch der Fleischverkauf in der Metzgerei hebt sich von der uns gewohnten Normalität ab, weil das vertriebene Fleisch von Menschen stammt. Die einzige Szene, in der in einem uns vertrauten Kontext als soziale Veranstaltung gegessen wird, ist die, in der Julie und der Clown sich treffen, um gemeinsam Kekse zu essen. Es ist ihre erste Verabredung. Julie hat ihn eingeladen als Dank dafür, dass er ihr beim Erhalt eines Päckchens, welches eben diese Kekse enthielt, geholfen hat, es gegen die räuberischen Begehrlichkeiten anderer Hausbewohner zu verteidigen. Es gibt Tee, einen sorgfältig gedeckten Tisch, die Konventionen einer gemeinsamen Mahlzeit werden eingehalten. Dies ist eine der Szenen, in denen deutlich wird, dass die beiden die Normalität im Film repräsentieren. Weil in der zerstörten Welt nichts mehr wachsen kann, sind Linsen, Mais und andere Getreide buchstäblich Gold wert und werden als kostbare Währung eingesetzt. Aber anstatt sich ihrer zum naheliegenden Zwecke der Ernährung zu bedienen, hortet der Metzger sie säckeweise in seinem Keller und verbringt die Abende damit, sie zu wiegen und zu zählen. Das Getreide im Haus ist nicht Nahrungs-, sondern Zahlungsmittel und damit nicht länger Grundlage des Überlebens. Es ist zum symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium (Luhmann 1998: 316ff.) des Austauschs von Gütern und Dienstleistungen geworden, völlig isoliert von seinem kulinarischen Potential. Keiner der Akteure der Hausgemeinschaft stellt in Frage, ob diese Verwendung sinnvoll ist, obwohl durch das Aussterben der Tiere auch Fleisch (selbst der Ratten) eine ebenfalls von der Erschöpfung bedrohte Ressource darstellt. Einzig die Troglodisten ernähren sich

(Belliger/Krieger 2006: 15) begriffen werden. In Delicatessen erzeugt meist das Fehlen von Nahrung kommunikative Anschlüsse. Ihre Bedeutsamkeit innerhalb der Gesellschaft wird durch ihr materielles Nicht-Vorhandensein gesteigert, denn die Notwendigkeit der Nahrungsbeschaffung fließt zwangsläufig regelmäßig in die Kommunikation ein.

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von Getreide. Diese begreifen sich selbst allerdings als Widerstandsbewegung und beschimpfen die „Oberirdischen“ als „Fleischgemästete“, während sie selbst von diesen ebenfalls verachtet werden.2 In Delicatessen wird nicht von einzelnen – vielleicht als „krank“ eingestuften – Abweichlern Menschenfleisch gegessen, wie es beispielsweise in der Filmreihe um Hannibal Lecter3 (USA 1986; USA 1991; USA/GB/I 2001; USA 2002; UK/CZ/F/I 2007), basierend auf den Romanen von Thomas Harris, der Fall ist, sondern von der breiten, Normalität konstituierenden Mehrheit: der Gruppe der Hausbewohner und darüber hinaus – so erklärt es der Metzger gegenüber seiner Geliebten – von einer Vielzahl von Menschen, die außerhalb des Hauses wohnen. Des Weiteren töten und essen diese Menschen nicht aus politischen Motiven, wie es beispielsweise in dem Film Eat the Rich (GB 1987) geschieht. Ebenfalls nicht vergleichbar ist das Thema von Delicatessen mit dem Film Dänische Delikatessen (DK 2003), in dem Menschen getötet und in einer Metzgerei verkauft werden. Im letzten Beispiel plagen sich die Akteure mit erheblichen Gewissensbissen, während die Konsumenten nicht einmal ahnen, dass sie zu Kannibalen gemacht werden.4 Außerhalb des Hauses, so warnt Clapets seine Geliebte, würde durch das Ziehen von Losen bestimmt, welcher Mensch oder wessen Schenkel als nächstes

2

Diese Feindschaft zwischen Fleischessern und Vegetariern im Film hat eine reale Entsprechung: Wie sich an Barahals Text The cruel vegetarian (1946) verdeutlichen lässt, gibt es zum Teil beträchtliche Einwände gegen Menschen, die den Verzehr von Fleisch verweigern. So vertritt Barahal die Überzeugung, Vegetarismus sei in der Regel Ausdruck einer zutiefst sadistischen Persönlichkeit und diese Ernährungspraxis ein Umgang mit daraus entstehenden ambivalenten Gefühlen: „Generally speaking, however, most of the followers of this cult, particularly those who exploit the humanitarian angle, are basically cruel and unnecessarily malicious.“ (ebd.: 12)

3

Eine Besonderheit an Lecter ist, dass es sich um einen gebildeten, ausgesprochen intelligenten Menschen handelt, der in jeder Hinsicht das Prinzip gehobener Kultiviertheit verkörpert. Historisch gesehen hatte die Zuschreibung des Kannibalismus auch eine Abgrenzungsfunktion gegenüber „wilden“ oder „unzivilisierten“ Menschen oder als solchen beobachteten, fremden Kulturen. Somit ist Kannibalismus Sinnbild des monströsen Anderen, was in der Figur des Lecter zum Teil durchbrochen wird (Fulda/Pape 2001: 9).

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Zum Thema Kannibalismus gibt es auch einen literaturwissenschaftlichen Diskurs, der eine vielfältige und umfangreiche literarische Verarbeitung dieses Themas aufzeigt (vgl. beispielsweise Keck 1999; Fulda/Pape 2001).

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verspeist werden solle. Während also Getreidesorten so gut wie gar nicht als Nahrung betrachtet werden (sondern, wenn man spitzfindig ist, wie gesagt als spezifisches akulinarisches Kommunikationsmedium), ist dies im Falle der menschlichen Körper beinahe selbstverständlich der Fall. Diese übertriebene Verzerrung des gewöhnlichen Blicks des Zuschauers hilft dabei, das Phantastische und Fiktive des Films wahrzunehmen, die Brutalität zu ertragen und darüber hinaus diese als witzig und lustig zu empfinden.5 Die Besonderheit bei Delicatessen besteht darin, dass Kannibalismus sich in ein ansonsten normales Leben einfügt, in dem alle anderen Tabus sehr wohl bestehen bleiben. Der Metzger inszeniert sich einerseits als eine Art moralischer Vorstand der Schutzgemeinschaft, während er andererseits offensichtlich auch Lust am Töten und der persönlichen Bereicherung empfindet. Das Haus und seine Bewohner orientieren sich in ihrem Handeln an diesem Vorstand, was im Film in einer skurrilen Sequenz verdeutlicht wird, in der sämtliche Mieter ihre Arbeiten im Takt des Geschlechtsakts des Metzgers und des quietschenden Bettes, auf dem dieser vollzogen wird, verrichten. Der Froschliebhaber ist das einzige Mitglied der Hausgemeinschaft, welches sich nicht von Menschenfleisch ernährt. Doch auch er ernährt sich von seinen „Mitbewohnern“ und verspeist die Frösche und Schnecken, mit denen er zusammenlebt. Er bewohnt den Keller des Hauses, der knöcheltief unter Wasser steht und in dem die Frösche herumspringen, während Schnecken über seine Möbel und Wände kriechen. Interessanterweise stellt das Verspeisen von Schnecken und Fröschen aber für niemanden sonst eine Ernährungsoption dar und somit werden auch keine Anstrengungen unternommen, die Produktion und den Verzehr dieser Tiere zu kultivieren. Stattdessen sind alle anderen Bewohner nahezu vollständig bedenkenlos Teil des hausinternen Paktes. Dies wird noch einmal an folgendem Beispiel deutlich: Der Familienvater kann seine Miete nicht bezahlen und lässt sich daher darauf ein, seine Schwiegermutter nachts in den Hausflur zu locken, wo sie dem Metzger zum Opfer fallen soll. Er willigt ein, obwohl normalerweise die Vereinbarung gilt, dass Hausbewohner nicht getötet werden. Der Metzger will mit dem Geschrei der Schwiegermutter vor allem aber den Clown in den Flur locken und ihn töten. Dieser allerdings schläft tief und fest, weil Julie ihm, um ihn vor den nächtlichen Gefahren zu schützen, einen

5

Dabei kann in Frage gestellt werden, ob derart drastische Darstellungen (wie die Darstellung von Kannibalismus) legitim sind. Kracauer (2005: 109f.) stellt die Übertreibung allerdings als Mittel heraus, um ein Bewusstsein für bestimmte Dinge zu schaffen.

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starken Schlaftee gegeben hat, von dem er – gemäß ihrer Anweisung – jeden Abend trinkt. Stattdessen erscheint Robert Kube, einer der Handwerker, weil er denkt, es handele sich bei der Schreienden um Aurore, für die er romantische Gefühle hegt. Doch er kann nichts ausrichten. Im Gegenteil: Die Schwiegermutter wird getötet und Kube verliert im unübersichtlichen Durcheinander der Nacht mittels eines Fleischerbeils ein Bein. Dafür entschuldigt sich der Metzger und Robert verzeiht ihm. Das Töten eines Menschen sowie die Amputation eines Beins erfordern also nur eine einfache Entschuldigung, damit die Tat verziehen wird. Und selbst der Verzehr des Fleisches eines bekannten und geliebten Menschen führt nicht zu Reue oder gesellschaftlicher Ausgrenzung. Auch dies unterscheidet die Welt im Film deutlich von der, in der wir leben und in der eine aufwändige Rehabilitation nötig wäre, um nach kannibalistischen Handlungen wieder Teil der Gesellschaft werden zu können (Röckelein 1996: 12). Abbildung 1: Monsieur Clapets verkauft das Fleisch der in der Nacht zuvor getöteten Großmutter an die Hausgemeinschaft

Quelle: DVD Delicatessen, im Vertrieb von Arthaus / Studio-Canal

Am nächsten Morgen gibt es jedenfalls wieder Fleisch im Angebot der Metzgerei, und Madame Tapioca kauft bewusst ein Stück ihrer eigenen Mutter (zwar unter Tränen, aber um sich zu verabschieden6) und der Handwerker ein Stück

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Eine Form des Kannibalismus, die Röckelein beschreibt, ist die des Kannibalismus als Trauerarbeit (Röckelein 1996: 15). Doch will die Tochter auf diese Weise zwar von ihrer Mutter Abschied nehmen, allerdings hätte sie das Fleisch auch gegessen, wenn es von einem anderen Menschen gestammt hätte. Hier wird also eine Mischform von

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seines eigenen Beines (vgl. Abb. 1). Er verzehrt also einen Teil von sich selbst. Dem Metzger werden keine Vorwürfe gemacht, das Leben im Haus nimmt seinen gewohnten Gang. Die Hausgemeinschaft ist eine verschworene Gruppe, die Mitglieder sind aufeinander angewiesen und sehen sich alle als Gewinner dieses Verbundes. So stehen nach diesem tragischen „Unfall“ die Hausbewohner in einer für den Betrachter sehr alltäglich wirkenden Szene in der Metzgerei an und jeder bekommt sein Stück Fleisch so, wie er es am liebsten hat. Gerade das ritualisierte Verteilen von Fleisch befördert bekanntlich das Gruppengefühl (Barlösius 2011: 13), in diesem Fall jedoch offensichtlich unabhängig von seiner Beschaffenheit. Die Schuld des Metzgers, die er durch den Mord auf sich geladen hat, wird durch den gemeinsamen Verzehr die Schuld aller Beteiligten und die Tat zugleich zur Normalität, weil sie in einen quasi normalen Verkauf von Lebensmitteln und deren Verzehr übergeht. Die reine Konsumierbarkeit der Ware legitimiert ihre Herkunft. Im Zusammenhang mit Essverboten verweist Eva Barlösius (2011) auf die Tatsache, dass Gesellschaften, die sich ausschließlich von dem Fleisch pflanzenfressender Tiere ernähren, dies als symbolische Kulturleistung verstehen, weil das Ausüben tödlicher Gewalt nur unter bestimmten, sozial kontrollierten Bedingungen, beziehungsweise mit bestimmten Rechtfertigungen, erlaubt ist und ansonsten „das Prinzip des Nicht-Tötens gilt“ (ebd.: 104). Im Film kann man sich selbst innerhalb der Hausgemeinschaft unter bestimmten Bedingungen darauf einigen, dass Angehörige der eigenen Art verzehrt werden. Solange ein „geregelter Nachschub“ von außen gesichert war, konnte die damit einhergehende Gefahr ausgeblendet werden. So hat man sich zwar darauf verständigt, dass eigentlich nur die als Hausmeister eingestellten Leute getötet werden. Die Kosten für den existentiellen moralischen Überbau wurden gewissermaßen externalisiert. Doch wird unter den veränderten Umständen, dass die Tapiocas ihre Miete nicht bezahlen können, kurzerhand die Großmutter der Familien „freigegeben“. Dies erfolgt auch mit der Begründung, dass diese bereits sehr alt sei. Es werden also immer wieder unterschiedliche Bewertungen des menschlichen Lebens entworfen, die zwischen legitimen Hausbewohnern und zum Verzehr freigegebenen Menschen zu unterscheiden ermöglichen sollen. Dass die ursprüngliche Grenze zwischen im Haus lebenden Personen und solchen, die nicht

Hungerkannibalismus und rituellem Kannibalismus dargestellt. Die Kategorisierungen verschiedener Kannibalismusformen ist im ethnologischen Diskurs aber ebenso umstritten wie das tatsächliche Vorhandensein ritueller Kannibalismuspraktiken, wie sie beispielsweise von Volhard (1939) beschrieben wurden (ebd.: 15).

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im Haus wohnen, nun um ein Reglement ergänzt wird, das zwischen Menschen unterschiedlichen Alters differenziert, verdeutlicht den Einzug einer moralischen Krise in die vormals geschlossene Haus- und Mahlgemeinschaft. Dieser gelingt es nun nicht mehr, das monströse Handeln und die bedenklichen Strukturen außerhalb der immer schon fragilen Mauern ihres Hauses zu verbannen.

K EKSE , F RÖSCHE , M ENSCHENFLEISCH ? Rein physiologisch wäre gegen Kannibalismus (zumindest aus Sicht des Kannibalen) kaum etwas einzuwenden. Es ist allein eine moralische Differenzierung, die diese Ernährungspraxis zu einem Tabubruch macht. Soziologisch muss also die Unterscheidung zwischen Essbarem und Nicht-Essbarem anhand der Frage diskutiert werden, wann die Form des Essens, beziehungsweise die Art und Weise, wie wir uns ernähren, naturgegeben und wann sie soziokulturell gestaltet ist. Denn auf der einen Seite ist es notwendig, dass Menschen essen um zu überleben, auf der anderen Seite spielen kulturelle Bedingungen eine Rolle bei der Frage, was, wie und wie viel wir essen und wie wir das Essen zubereiten und verzehren. Da der Mensch als Omnivorer grundsätzlich alles essen kann, muss er Entscheidungen bezüglich der Art des Essens fällen. Doch was geschieht, wenn die Auswahl derart beschränkt ist – und sei es nur durch diskriminierende Strukturen – wie in Delicatessen? In dieser Zukunftsversion existieren noch immer mehrere potentielle Nahrungsmittel: verschiedene Getreidesorten, Frösche und Schnecken, Luxuslebensmittel wie die begehrten Kekse – und eben Menschenfleisch. Bis auf die Frösche und Schnecken handelt es sich um Ressourcen, die sich in diesem Szenario unweigerlich immer weiter verringern, denn es wächst kein Getreide mehr und ohne Nahrung werden die Menschen früher oder später ebenfalls aussterben. Während Fernsehstationen, Postwesen, Gesetzgebung und Exekutive weiterhin funktionieren,7 wurde das Tabu des Menschenfressens aufgehoben. Der Clown ahnt nichts von dem Komplott gegen ihn und spricht weiter zu Julie vom Guten im Menschen. Trotz der Trauer um seinen Affen verzeiht er de-

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Dieses Weiterbestehen von gesellschaftlichen Strukturen wird deutlich, als Hausbewohner versuchen, Julies Päckchen mit Keksen zu stehlen, der Postbote eine Waffe zieht und beginnt Paragraphen zu zitieren, die ihn berechtigen, die Auslieferung notfalls mit Waffengewalt durchzusetzen. Die kulturelle Ordnung wird also in manchen Bereichen mit drastischen Mitteln aufrechterhalten.

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nen, die diesen verspeist haben, und macht äußere Umstände für ihr Verhalten verantwortlich: „Niemand ist von Grund auf schlecht. Es liegt an den Umständen, oder daran, dass man nicht weiß, dass man sich irrt.“ Allein der Mangel sei es, der die Verantwortung für das schlechte Verhalten der Menschen trage, die im Grunde „anständig“ seien. Seine Ausführungen über Moral und Schuld stehen allerdings in einem doppelten Kontext und werfen die Frage auf, inwiefern sich der Verzehr eines dressierten Affen, der im Zirkus regelmäßig in die Rolle eines Menschen schlüpft, von dem Verzehr eines Menschen unterscheidet. Daran schließt sich unmittelbar die unterschiedliche Wertigkeit von Menschen und Tieren an und damit das Hinterfragen dieser Bewertung. 8 Louison ist der Naive, der sich als Hausmeister mit Reparaturen des maroden Hauses beschäftigt, Artistennummern probt, den Jungen Kunststücke mit Seifenblasen vorführt und Julies Cellospiel mit einer singenden Säge begleitet. Er selbst erhält sich also das Gute und Schöne, das moralisch hoch Bewertete; und das, obwohl er unter denselben Bedingungen lebt wie seine Mitmenschen. Durch ihn wird noch einmal in besonderer Weise sichtbar, wie ungewöhnlich, wie jenseits des Vertrauten die anderen Menschen im Film handeln. Als Clown und Chaosexistenz (und damit als etwas von Ordnung und Struktur unabhängigem [Faulstich 1998: 59]) ist Louison jene Figur, die anders ist, und gerade dadurch in der anormalen Normalität von Delicatessen die uns bekannte Normalität repräsentiert. Der Clown im Film wohnt zwar im Haus, gehört aber nicht zur Hausgemeinschaft (ähnlich dem Joker im Kartenspiel). Es bleibt offen, was er isst, und wie er es schafft zu überleben. Tatsächlich scheint das Thema „Essen“ für ihn nicht so wichtig zu sein wie für die anderen, wohingegen er sich leidenschaftlich mit seiner Artistenkunst beschäftigt. Julie wählt eine alternative Ernährungsweise, indem sie sich – wie die Troglodisten – weigert, Fleisch zu verzehren. Im Falle des Clowns wird dies gar nicht thematisiert. Er weiß nichts von dem Pakt innerhalb der Hausgemeinschaft und ist nicht Teil davon. Die einzige Szene, in der er überhaupt isst, ist die, in der er sich mit Julie trifft, um mit ihr Kekse zu essen und Tee zu trinken (Abb. 2). Essen erfüllt an dieser Stelle allerdings vor allem den (sozialen) Zweck, ein Treffen zu begründen und sich unterhalten zu können und nicht den, sich zu ernähren. Der Artist steht, was zu seiner Rolle als Sonderwesen passt, scheinbar außerhalb des Zwanges, essen zu müssen, der für alle anderen Menschen selbstverständlich und handlungsleitend ist. Er bleibt den ganzen Film über eine kuli-

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Zur Abgrenzung von Mensch und Tier über das Kannibalismustabu siehe auch Baudy (1999: 224).

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narische Leerstelle, die zu füllen – zu „füttern“ – Aufgabe des Zuschauers ist: Womit könnte, womit dürfte sich Louison ernähren? Abbildung 2: Julie und Louison bei ungewöhnlich gewöhnlichem Tee und Gebäck

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Anhand dieses Beispiels lässt sich das Problem des Verhältnisses von Struktur und Handlung insofern diskutieren, als dass es die Frage beinhaltet, ob das menschliche Handeln durch die (gesellschaftlichen) Rahmenbedingungen determiniert ist. Handlungsentscheidungen werden einerseits immer im Kontext von Strukturen gefällt und tragen andererseits zur Strukturbildung bei. Handlungsleitende Regeln werden erst durch das Handeln selbst gebildet und variiert (Holtgrewe 2006: 15). Geht man davon aus, dass der Mensch mehr oder weniger frei darüber entscheiden kann, was er tut, trägt er allerdings auch die Verantwortung für sein Handeln und die daraus entstehenden Konsequenzen. Der Zusammenhang von Handlung und Struktur wirft also Fragen nach der Fähigkeit zu moralischem Handeln auf: Gibt es schlechte Menschen oder schlechtes Handeln? Oder ist das Handeln durch die Umstände determiniert, wodurch der Mensch zum Spielball wird, so wie es Louison in Bezug auf die Geschehnisse behauptet, die seinem Affen widerfahren sind? Werden als absolut gültig geltende moralische Richtschnüre verhandelbar angesichts des unmittelbaren Bevorstehens des Endes allen Seins, weil daraus Alternativlosigkeit erwächst? Gibt es ohne Zukunft also kein richtig und kein falsch? Und beweisen der Clown und Julie sowie die Unter-

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grundbewegung nicht das Gegenteil, dass es nämlich immer alternative Handlungsmöglichkeiten gibt und das Fehlen von Zukunft die Verantwortlichkeit für das eigene Handeln in der Gegenwart nicht in Frage stellt? Hier erscheint es angebracht, den Begriff der Kontingenz ins Spiel zu bringen: Kontingenz bezeichnet einen Raum von Möglichkeiten, der Entscheidungen erfordert (vgl. Ortmann 2009). Der Kontingenztheorie zufolge gibt es immer eine Vielzahl von Entscheidungsmöglichkeiten. Wenn etwas auf die eine Weise getan werden kann, kann es auch auf eine andere Weise oder etwas ganz anderes getan oder gelassen werden.9 Betrachten wir Handeln als etwas, was innerhalb eines solchen Möglichkeitsraumes stattfindet, also kontingent ist, dann ist der Einzelne für sein Handeln verantwortlich, weil er sich für oder gegen Handlungen entscheiden kann (vgl. Ortmann 2004). Im Falle des Films hätte die Hausgemeinschaft beispielsweise die Möglichkeit, sich von dem Getreide im Keller des Metzgers zu ernähren oder – zumindest theoretisch – gar nichts zu essen und so den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Auch bleibt unklar, warum sich nicht alle Bewohner von Fröschen und Schnecken ernähren, so wie es für den Nachbarn im Keller zu funktionieren scheint. Das Vorhandensein von Entscheidungsräumen – oder Kontingenz – kann aber gleichzeitig auch eine Entscheidung unmöglich machen (Luhmann 1987: 47). Denn das Fehlen von Einschränkungen oder Kriterien für Entscheidungen kann geradezu lähmend wirken und verhindern, dass überhaupt eine Entscheidung getroffen wird. Wenn eine Entscheidung gefällt wurde, schränkt dies jedoch die weiteren Entscheidungen ein und vereinfacht die zukünftigen Entscheidungen. Die Entscheidung, in dem Haus zu leben und sich den Gepflogenheiten unterzuordnen, schränkt die Möglichkeiten Julies ein, ihren moralischen Vorstellen gerecht zu werden.10 Diese Einschränkung von

9

Wenn im Alltag oder in der Politik die Rede ist von dem Fehlen einer Wahl oder von „Alternativlosigkeit“, handelt es sich um eine Vereinfachung, die alltagspraktisch plausibel erscheint. Machttheoretisch handelt es sich allerdings immer um eine gewissermaßen freiwillige Unterordnung, da der Preis für eine Gegenwehr zu hoch erscheint (Simmel 1958: 102). In Bezug auf den diskutierten Fall im Film hat eine Weigerung, Menschen zu verspeisen, möglicherweise zur Konsequenz, dass man nicht lange überleben wird. Dennoch gibt es auch in diesem Fall – zumindest für einen von außen betrachtenden Beobachter – eine Entscheidungsmöglichkeit.

10 In Julies Fall bleibt es allerdings unklar, ob sie sich jemals entschieden hat, in der Gemeinschaft zu leben. Eventuell ist sie auch als kleines Kind mit ihrem Vater oder sind ihre Eltern vor ihrer Geburt in das Haus gezogen. Sie hat sich allerdings nie dafür

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Kontingenz im Hinblick auf Ernährungspraxen, die normalerweise durch das Tabu, Menschenfleisch zu verzehren, entsteht, fällt weg, während für die Bewohner des Hauses der Verzehr von Getreide aufgrund seines Wertes als Währung weitestgehend ausgeschlossen wird. Die Hausbewohner sowie andere Bewohner der Endzeitwelt nehmen also andere Alternativen (und somit Schließungen von Handlungsmöglichkeiten) wahr als beispielsweise die Troglodisten, die sich entscheiden, fleischlos und von Getreide – aber somit auch von der Substanz – zu leben. Dass eine Entscheidung für den Verzehr von Menschenfleisch gefällt wird, obwohl das moralisch höchst bedenklich und anhand der Alternativen, die man bei genauerem Hinsehen entdeckt, kaum logisch nachvollziehbar ist, kann mit Luhmann als mögliches „Verfehlen der günstigsten Formung“ (siehe oben) interpretiert werden. Die Hausgemeinschaft ist eine „Überlebensgemeinschaft“ von aufeinander angewiesenen Menschen, die trotz ihrer Verschiedenartigkeit nicht zuletzt aus existenzieller Not zusammenbleiben (so zeigt es das Beispiel der Geliebten des Metzgers, die glaubt, außerhalb des Hauses sterben zu müssen). Die Kuriosität des Films besteht somit auch im Verlauf der Grenze, die zwischen Essen und Nicht-Essen gezogen wird, und somit der Entscheidung darüber, was Lebensmittel ist, und was nicht.

AUSKLANG Delicatessen ist eine Komödie über ein hungriges Ende der Menschheit. Der Film stellt eine Normalität dar, die von der unsrigen in radikaler Art abweicht und ihr zugleich gerade genug ähnelt, dass wir unsere Lebenswelt mit der dort dargestellten vergleichen können und die Abweichungen dadurch in besonderer Weise hervortreten. Die Figuren reagieren mit ihren individuellen Handlungen auf unterschiedlichste Weise auf die strukturelle Nahrungsknappheit und die Hausgemeinschaft bildet eine besondere Form einer Mahl- und Schutzgemeinschaft, nämlich eine, die sich von ihresgleichen ernährt. Die Entscheidungen für unterschiedliche Grenzziehungen zwischen Nahrungsmitteln und allem, was kein Nahrungsmittel ist, wird dabei zum brodelnden Konflikt. Über die Figur des Clowns wird die Frage gestellt, ob der einzelne Mensch für seine Handlungen doch noch verantwortlich ist, oder ob er durch die Bedingungen, in denen er lebt,

entschieden auszuziehen. Dies kann als Entscheidung für die Hausgemeinschaft gedeutet werden.

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zu eben diesen Handlungen gezwungen wird und damit nicht entscheidet, sondern bloß reagiert und tut, was zwingend notwendig ist. Über die Figur des Clowns greift der Film das Thema des Zusammenhangs von Struktur und Handlung auf. Und dann sieht man: Es ist der Kontext, welcher der Ernährungspraxis der Figuren einen ganz eigenen, skurrilen Sinn verleiht.

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K ANNIBALISMUS UND C LOWNERIE IM E NDZEITSZENARIO

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Dunkle Welten – unentrinnbar Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989) / Regie: Peter Greenaway C HRISTOPH K LOTTER

S CHRIFT – B ILD Im Vergleich zur Schrift zählt im Abendland das Bild nicht. Im Hebräischen Testament besteht ein Bilderverbot bezüglich Gott, weil ein Bild die Möglichkeit mit sich bringt, den nun sichtbar gewordenen Gott durch irgendwelche Handlungen manipulieren zu wollen, ihn gleichsam in seiner Hand zu haben. Bildverbot steht so für das Verbot magischen Handelns. Der bilderlose Gott macht klar, in welchem unendlichen Abstand er zu dem Menschen steht (Brumlik 1994). Der Ikonoklasmus setzt sich fort mit Platon, der die Bilder als trügerisch entlarvt. Bilder enthüllen keine Wahrheit, sie sind der Wahrheitsfindung abträglich (ebd.). Heidegger lehnt das (Welt-)Bild ab und möchte zurück zur Poesie (Mitchell 2008). Das Bild, das vermeintlich die Welt abbildet, muss dem von der Gnosis durchtränkten 20. Jahrhundert (Bolz 1989; Brumlik 1994) ein Graus sein, weil es im Prinzip die materielle Welt affirmiert. Der Gnostiker, der dieser Welt entfliehen will, wird durch die Bilder in dieser Welt gehalten. Schlummernd und schlafend vergisst er die Botschaft des Deus absconditus. Wenn Bilder im Abendland tendenziell wertlos und billig oder gefährlich sind, dann wird das Filmbild im Vergleich zum gemalten tendenziell negativer bewertet. Ein Cranach, ein da Vinci, ein Picasso können noch als echte Künstler durchgehen. Aber ein Hitchcock, ein Coppola, ein Ridley Scott schaffen doch nur Filmbilder, um die Kassen der Studios und Filmverleiher zu füllen. Sie ma-

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chen ohnehin als „director“ nur Auftragsarbeiten für Hollywood. Sie wollen letztlich die Massen nur unterhalten. Unterhaltung ist per se billig. Auch wenn dies Vorurteile sind, die wohl eher frühere Generationen betreffen, so hält sich vermutlich dieser Vorbehalt gegenüber dem Filmbild anteilig. Das Picasso-Museum zieht die kleine Elite an. Blade Runner von Ridley Scott läuft am Dienstagabend bei einem deutschen Privatsender um 20.15 Uhr. Das Filmbild ist alltäglich und prinzipiell jederzeit verfügbar. Um einen echten Cy Twombly zu sehen, muss in Deutschland dagegen nach München gefahren werden. Das gemalte Bild beansprucht seine Dignität über seine Qualität als wahres Original. Das Filmbild hingegen ist definitionsgemäß das im Prinzip unendlich technisch reproduzierbare (Benjamin 1991 [1935/36]). Das Smartphone und etwa das iPad garantieren die allgegenwärtige Verfügbarkeit der Filmbilder. Sie sind so selbstverständlich wie die Luft, die geatmet wird, geworden. Der Primat der Schrift gegenüber dem Bild erweist sich daran, dass jedes Bild einen Titel haben muss, und sei es, das im Museum neben einem Bild nur steht: „Ohne Titel“. Das hat nicht nur mit der Einordenbarkeit eines Bildes zu tun, die zum Beispiel dazu dient zu wissen, dass ein Gespräch sich um dasselbe Bild („Die Geburt der Venus“) entfaltet. Es hat auch damit zu tun, dass anscheinend jedes Bild beschriftet werden muss. Zu Beginn eines Films wird in der Regel der Titel eingeblendet. Der Titel lenkt die Interpretation, er macht klar, worauf wir als Zuschauer achten müssen. Er ebnet den Weg, um den (vermeintlichen) Sinn eines Filmes begreifen zu können. Die Schrift gibt vor, wie das Bild zu verstehen ist. Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber – dieser Titel gibt sich nicht populär. Dieser Titel signalisiert, dass wir keinen Harry Potter, keinen Herr der Ringe oder keinen Krieg der Sterne sehen werden. Er ist sperrig und zugleich archaisch, weil er vier Elemente enthält: „Vier gilt seit Urzeiten als Ausdruck der Ganzheit, Vollständigkeit, Totalität.“ (Jacobi 1991: 25) Dies schreibt eine Schülerin C. G. Jungs. Jung, der „arische“ Schüler Freuds, hat die Bedeutung, die Freud der Sexualität zugewiesen hat, massiv angezweifelt. Aber gerade der Filmtitel Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber veranlasst, die sexuelle Konnotation der Totalität zur Kenntnis zu nehmen: eine Frau, drei Männer, die im Sinne Freuds die psychosexuellen Phasen repräsentieren, die orale der Koch, die anale der Dieb, die genitale der Liebhaber. Genital bedeutet auch: einen Verstand zu haben und zu lesen. Der Liebhaber ist Buchhändler. Der Dieb liest nicht.

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SEHEN

Schon ist nur beim Besehen des Titels, ohne auch nur ein Bild wahrgenommen oder rezipiert zu haben, die totale Interpretation gelungen. Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber handelt von einer Totalität. Und nun? Was will uns das lehren? Diese (eventuell voreilige und unnütze) Interpretation folgt dem, was Hörisch (1988) als Buchtitel Die Wut des Verstehens genannt hatte. Jedem Ereignis muss Sinn unterlegt werden. Das hermeneutische Zeitalter, das 20. Jahrhundert (Greisch 1993), forciert die Suche nach dem nicht offenkundigen Sinn. Es kann nie das gemeint sein, was da wörtlich steht oder was als Bild konstruiert ist, sondern es muss sich etwas Tieferes oder Höheres dahinter verbergen. Nur der Eingeweihte, der erfahrene Deuter, vermag anhand gewisser Spuren und Indizien den tieferen Sinn zu erkennen, aus dem Sichtbaren das Unsichtbare heraus zu destillieren. Einen gewissen Trost spendet in diesem Zusammenhang Heidegger (1986 [1927]). Verstehen sei nicht beliebig, geschweige denn subjektiv beliebig. Das Sein selbst präfiguriere und fordere das Verstehen. „Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her. Der Sinn von Sein muss uns daher schon in gewisser Weise verfügbar sein. Angedeutet wurde: wir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis. Aus ihm heraus erwächst die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die Tendenz zu dessen Begriff.“ (ebd.: 5)

Es ist der Kulturbürger, der mit der Wut des Verstehens das Objekt der Interpretation annektiert und in gewisser Weise vernichtet, weil es nicht das sein darf, was es zeigt. Interpretieren ist dann wie essen: einverleiben und umformen. Filme sehen, kann auch anders vonstattengehen. Der Nichtkulturbürger findet einen Film „super“, mit „klasse Schauspieler“, „wahnsinniger action“. Der Film ist dann einfach „total toll“. Der technisch orientierte Zuschauer goutiert die Schnitttechnik, der Filmfan kann unaufgefordert alle Filme von Peter Greenaway, dem Regisseur von Der Koch …, aufzählen, ebenso die Filme, in denen Helen Mirren mitgespielt hat. Der Detektiv fahndet nach den eklatanten Fehlern bei den Drehaufnahmen und dem Schnitt. Der eben erwähnte Hermeneut fahndet auch: nach dem Sinn des Films. Dabei kann er einen Film von einem Buch nicht unterscheiden oder aber er nimmt wahr, dass Film ein anderes Medium ist als die Schrift. Dazu eine Anmerkung: Vor einigen Jahrzehnten war die Schar deutscher Filmkritiker in zwei Lager aufgeteilt; diejenigen, die Filme wie einen geschriebenen Text behandelten, die anderen, die sich auf die Bildsprache des Films konzentrierten, um damit darauf hinzuweisen, dass ein Film ein anderes Medium ist als ein Buch. Wolf Donner gehörte zu der ersten Fraktion. Seine Filmkritiken

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endeten gerne mit einem Satz wie: „Ein Film über das Leben und den Tod, über Liebe und Hass, über Verzweiflung und Mitleid.“ Dieser Satz wäre auch jederzeit auf fast jeden Roman anwendbar. Nichts deutet darauf hin, dass Wolf Donner im Kino gesessen haben muss, dass er laufende Bilder angeschaut hat, 24 in der Sekunde. Die andere Fraktion bildeten Filmkritiker wie H. C. Blumenberg, Karsten Witte, Norbert Jochum oder Norbert Grob. Für diese war das Medium Film das entscheidende am Film und nicht (nur) seine so genannten Inhalte. Sie waren so eher Semiologen als Hermeneuten. Mit unserem Alltagsverstand schauen wir Filme in der Art an, als würden sie etwas abbilden, vor allem aber Realität abbilden, als wären Filme Dokumentationen des Lebens. Aber ein Bild funktioniert nicht wie ein Abbild, nicht so, wie uns in der Erfahrung die Dinge erscheinen, sondern als ein Sachverhalt mit einer spezifischen Dramaturgie (Brandt 1999). Hierzu ein Beispiel: An der HS Fulda existiert das Café Chaos als ein Kulturcafé, das jedes Semester eine Filmreihe zeigt. Im Wintersemester 2009/10 wurde der Film Berlin Calling vorgeführt, die Geschichte eines DJs aus Berlin, der aufgrund von exzessivem Drogenkonsum psychotisch wird, in die Klinik kommt, alles verliert, was er hat, um sich dann letztlich doch wieder hoch zu rappeln und erfolgreich wird wie nie zuvor, also eine typische Hollywood-Story von „the rise and fall and rise“. Nach dem Film waren sich die Studierenden schnell darüber einig, dass der Film Berlin so zeigt, wie Berlin ist. Der Film beschreibe eine typische Berliner Biografie. Mit Brandt (1999) lässt sich hingegen sagen: Berlin Calling ist kein Abbild typischer Berliner Wirklichkeit sondern eine Inszenierung, eventuell ein Werbefilm für Berlin, um alle Jugendlichen dieser Welt nach Berlin zu locken, deren Eltern in weit geringerem Umfang nach Berlin gepilgert sind, um Christiane F.s Schicksal am Bahnhof Zoo aus aller nächster Nähe betrachten zu können, um sich an ihrem geschundenen Leib delektieren zu können. Filme zeigen keine Realität, sie sind konstruiert und im Sinne Luhmanns selbstreferentiell: „Man muss zugegeben: Was in den Medien programmlich […] geboten wird, bezieht sich vor allem auf sich selbst, gerade indem es eine `Welt´ abzubilden behauptet.“ (Hagen 1999: 135) Und: „Es ist nämlich niemand und nichts anwesend in der ‚Realität‘ der Massenmedien, auch nicht, streng genommen, sie selbst.“ (ebd.: 135) Und: „Massenmedien sind […] Systeme der Beobachtung von Beobachtern, Systeme der Rückkopplung von selbst- und fremdreferentiellen Prozessen.“ (ebd.: 139) Die Hälfte der Gäste einer Talkshow sind TV-Stars, die andere Hälfte Politiker und andere Berühmtheiten, die von einer Talkshow zur anderen ziehen. Die Fernsehkamera zeigt einen Fernsehjournalisten, der in Tripolis über den Krieg aus Libyen berichtet. Die Fernsehkamera beobachtet die Beobachter. Die TV-

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Kochshow verweist nur auf sich selbst, sie fängt keine Realität ein, sie hat keinen pädagogischen Auftrag, sie will allein Quote. Sie bezieht sich höchstens auf eine imaginäre Vergangenheit, in der das Essen noch auf richtige Weise zubereitet wurde – vor dem Convenience-Zeitalter, vor dem Einsatz der Mikrowelle. Wenn bisweilen die Rede davon ist, dass Der Koch … eine Kritik am Neoliberalismus Maggy Thatchers impliziert, dann ist damit der verzweifelte Versuch unternommen, diesen Film an irgendeine Realität anzudocken, ihn gar zu einem kritischen, wenn nicht gar linken Film zu stilisieren – ein weiteres Beispiel dafür, dass die Hermeneutik wie ein Sog funktioniert. Niemand entkommt ihr. Aber was soll dieser Film mit einer Kritik an Neoliberalismus zu tun haben? Ein Film, der eine Diebesbande in einem Restaurant zeigt, eine Frau, die den Anführer der Diebe, ihren Mann, ständig korrigiert, weil er nicht die entsprechenden Manieren und Kenntnisse hat, einen brutalen Dieb, der unablässig redet und sich als Kulturmensch positionieren will, eine Küche (vgl. Abb. 1), in der unentwegt gekocht wird, Liebesszenen zwischen der Frau des Diebes und ihrem Liebhaber, ein Koch, der das Liebespaar deckt. Was ist daran eine Kritik am Neoliberalismus? Die Wut des Verstehens überbrückt jeglichen Hiatus. Abbildung 1: Verschwörer in der alchemistisch anmutenden Küche des Le Hollandais

Quelle: DVD Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, im Vertrieb von Universal

Naheliegenderweise könnte es sein, das Selbstreferentielle unter die Lupe zu nehmen, inwieweit also Der Koch … (aus dem Jahr 1989) auf andere Filme wie Das große Fressen (1973 von Marco Ferreri) verweist, einen Film, dem unterstellt werden könnte, dass er um Fressen, Verdauen, Sex und Tod kreist, kurzum um Dekadenz und Perversion. Oder es ließe sich Bezug nehmen auf Claude Faraldos Themroc, ebenfalls aus dem Jahre 1973, der als Teil anarchistischer Befreiung Kannibalismus zeigt, welcher ebenfalls in Der Koch … auftaucht. Um

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hier dem „Filmfan“ (siehe weiter oben) genügend Raum zu geben: Sowohl in Das große Fressen als auch in Themroc spielt Michel Piccoli mit. Ist das nicht unglaublich? Nicht minder einfach wäre es das Selbstreferentielle auf andere Medien auszuweiten. Bestimmte Bildkompositionen in Der Koch … sind wie ein Triptychon aufgebaut, wie eines von Francis Bacon, in dem Folter und Fragmentierung die gezeigten menschlichen Körper zerreißen. Möglich wäre auch auszusagen, dass Greenaway in seinem Film eine Theateraufführung reproduziert oder imitiert – mit einer Bühne, die im Wesentlichen aus Hof, Küche, Restaurant und Toilette besteht. Ganz selten werden andere Orte gefilmt – auch hier eine quaternäre Struktur, eine Wechselbühne, die sich allerdings nicht dreht, sondern von einer horizontalen Kamerafahrt immer und immer wieder durchfahren wird – wie eine Endoskopie, eine Kamera, die den anus mundi erkundet. Diese Kamera durchdringt die Räume, keine Wand und keine Tür hält sie ab, das ist die souveräne Macht der Kamera, die Grenzen nicht kennt, die selbstredend auch in anderen Filmen demonstriert wird, aber nicht in der aufmerksamkeitsheischenden permanenten Wiederholung und damit in dieser Impertinenz. Der Dieb glaubt, Macht zu besitzen und Menschen schinden zu können, er glaubt es nur, denn die wahre Macht liegt bei der Kamera, die mühelos und transversal die Räume überwindet. Wenn ein Zeitbezug hergestellt werden könnte, dann verweist Greenaway auf die Macht der Medien in unserem Zeitalter. Es ist die überwältigende Gewalt des Bildes, des Films, es sind die manipulatorischen Techniken der Massenmedien im 20. Jahrhundert, die die Gewalt der so genannten Perversionen reproduzieren und erweitern (siehe weiter unten). Der Machtkampf zwischen Christian Wulff, dem ehemaligen Bundespräsidenten der BRD, und der Presse war ein Ringen um die souveräne Macht: Wer wäre mächtiger? Der Bundespräsident oder die Medien? Es sollte sich herausstellen, dass die Medien nicht die vierte, sondern die erste Macht darstellen oder sein wollen.

E SSEN

IM

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Selten steht das Essen im Zentrum des Films. Üblicherweise stellt das Essen eine Signatur von Lebensstilen dar und versucht bestimmte Situationen mit zu definieren. Der männliche Kumpel kommt zur Tür rein, öffnet den Kühlschrank, entnimmt ein Bier, öffnet die Büchse oder die Flasche, trinkt und beginnt zu reden. Das Paar im noblen Restaurant trinkt selbstredend Wein, um sich auf die Liebesnacht vorzubereiten. Weintrinken symbolisiert sexuelles Begehren. In Nanny Diaries (2007) repräsentiert Tofu und insgesamt militant gesundes Essen

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die Mentalität der gesellschaftlichen Elite, die starr an ihren Kodices festhält, während das ungesunde Essen für traditionelle mütterliche emotionale Wärme steht. Das ungesunde Essen, das ist Amerika, das hält Amerika zusammen, die Burger, die Süßigkeiten, die Softdrinks. Ein von Sinnsuche getriebener Hermeneut würde den Film Der Koch … als eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen der menschlichen Gattung zu verstehen versuchen. Der Mensch steht so stets in einem Konflikt zwischen Natur und Kultur. Er möchte ein Kulturwesen sein, er möchte sich vom Tier abgrenzen und er scheitert stets. Der Dieb möchte sich als Gourmet präsentieren und hat keine Ahnung von guter Küche, immer wieder gleitet er ab in Fäkalsprache, er ist von analen Themen besessen. Seine kultivierte Frau hat ihn womöglich geheiratet, um an ihn das Tierische delegieren zu können, um ihn wegen seines primitiven Charakters verachten zu können. Sie wusste, wer er ist. Überall lauert in diesem Film menschliche Gewalt und Grausamkeit. Als Rache zwingt sie den Dieb, ihren Mann, nachdem er ihren Liebhaber getötet hatte, dessen gebratenen Körper zu essen. Sie wird selbst grausam, allerdings fühlt sie sich im Recht, gewalttätig zu sein. Nichtsdestotrotz: Die Oberfläche zivilisatorischer Leistungen ist mehr als brüchig. Die Gäste des noblen Restaurants nehmen die rohe Diebesbande nicht wahr. Sie verleugnen deren Existenz, um sich so zivilisiert zu wähnen. Der immer noch von Sinnsuche getriebene Hermeneut würde sich die Frage stellen: Warum nimmt sich Greenaway das Essen als paradigmatisches Thema des Menschseins vor und nicht die Sexualität? Die Antwort ist relativ einfach. Nur im Essen zeigt sich heute die brüchige Balance zwischen Natur und Kultur. Die Sexualität hat sich im Sinne Foucaults (1977) verwissenschaftlicht und damit auch biologisiert. Wir schlagen die Sexualität der reinen Natur zu. Auf diesem Feld sollen und dürfen wir Tier sein. Der provokante Untertitel eines Buches aus dem Jahr 1975 (Maskulin – Feminin von Albus et al.), Die Sexualität ist das Unnatürlichste von der Welt, würde heute noch weniger akzeptiert werden als damals. Die Sexualität hat die ars erotica abgelöst – eine Kunst, die die körperliche Liebe mit vielen anderen Tätigkeiten wie zum Beispiel gutes Essen verbindet (Foucault 1977). Für diese steht paradigmatisch Giacomo Casanova. In der zwölfbändigen Geschichte meines Lebens (1985 [1789]) beschreibt Casanova, wie er über Wochen und Monate das Liebesabenteuer vorbereitet, wie er ein Haus anmietet, es einrichtet, einen Koch einstellt, schönes Porzellan kauft, Probekochen lässt, sich selbst gut ankleidet. All dies ist für ihn Voraussetzung für eine gelingende Liebesnacht, also das Gegenteil von einem sogenannten „Quickie“ oder einen One-Night-Stand. Casanova steht für Frustrationstoleranz und für die Kunst der Vorbereitung. Erst das Warten macht Lust. Essen und körperli-

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che Liebe sind dabei gleichsam untrennbar verbunden. Greenaway hätte das Spannungsverhältnis von Natur und Kultur hinsichtlich der körperlichen Liebe am Beispiel Casanova veranschaulichen, nicht aber auf die heutige Zeit beziehen können.

E INE G ESCHICHTE

ERZÄHLEN

Der aufmerksame Leser dieses Textes wird bislang überwiegend einen Mangel feststellen. Er oder sie weiß noch gar nicht richtig, worum es in dem Film Der Koch … geht. Er vermisst die Story. Aber eine Inhaltsangabe verfehlt den Film in gewisser Weise, weil dieselbe Kurzfassung auch über ein Buch erzählt werden könnte. Trotzdem verlangt der Leser danach: Was passiert im Film? Welche Geschichte wird erzählt? Schließlich gibt es ein Drehbuch. Jemand hat es geschrieben. Das Drehbuch ist die Grundlage des Films. Filme sind bebilderte Drehbücher. Schon wieder wird die Dominanz der Schrift scheinbar offenkundig, gäbe es nicht auch den „Production Designer“ und den Kameramann. Warum beschreiben wir nicht Bilder, Kadrierungen oder Kamerafahrten? Hat es zu tun mit dem Ikonoklasmus? Fehlt uns die Sprache für die Bilder? Akzeptieren wir Bilder nur als Transportmittel von Sprache? Sind Bilder Signifikante und die Sprache das Signifikat? Für den Autor dieses Textes besteht die intellektuelle Lust darin, einen Film zu thematisieren, aber möglichst wenig seine „Geschichte“ zu erzählen, beziehungsweise erst nach und nach, damit der Leser nicht nach der Inhaltsangabe das Gefühl hat, den Film zu kennen. Das, was ein Film „erzählt“, ist eben nicht nur das Drehbuch.

D ER K UNSTFILM Wir rätseln. Warum „erzählt“ Greenaway uns diese „Geschichte“? Wenn wir Jäger des verlorenen Schatzes sehen, dann wissen wir, wir wollen spannend unterhalten werden, wenn wir Frühstück bei Tiffany schauen, wollen wir berührt werden. Dann wollen wir an einer großen Liebe teilhaben. Zu dem Film Der Koch ... fehlen die üblichen Rezeptionsmuster. Wir wissen nicht, woran wir sind, außer dass es sich um einen „Kunst“-Film handelt, einen Film für das gehobene Publikum, für ein kunstsinniges Publikum, das primär nicht auf Bedürfnisbefriedigung aus ist. Weder werden aggressive Impulse befriedigt wie im Actionfilm, noch libidinöse wie im Liebesfilm, noch suchen wir den Thrill oder die Angstlust wie bei einem Horrorfilm. Der „Kunst“-Film als Derivat der Avantgarde-

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Kultur verzichtet systematisch auf imaginäre Triebbefriedigung. Er soll auch keine Herzensangelegenheit sein. Wir sind beim Sehen des Der Koch … höchstens degoutiert. Also wird doch eine Gefühlsebene angesprochen: die des Ekels, des Abscheus, des Entsetzens. Es läuft einem nicht das Wasser im Munde zusammen, im Gegenteil. Der Film rankt sich, wie es ein Hermeneut formulieren würde, vordergründig um das Essen, aber eigentlich geht es um die Ausscheidungen, genauer: Essen wird unentwegt zubereitet und zum Tisch getragen, aber der Dieb spricht die ganze Zeit über anale Themen. Der Kunstfilm basiert wie jede Kunst und Kreativität auf der Sublimierung analer Triebimpulse. Exkremente, Geld und Produktivität bilden die Reihung. Das Höchste und das Niedrigste hängen intim zusammen. Selbstreferentiell veranschaulicht Der Koch … exemplarisch die Produktionsbedingungen der Kunst insgesamt. Das Schöne ist nur das Gegenbild zum Dreck. Die wunderbaren Kostüme von Jean Paul Gaultier in diesem Film können nicht verhindern, dass der Ekel obsiegt. Der Schmutz gewinnt immer, nur wollen wir das nicht wissen. Endlich haben wir die oder eine zentrale Botschaft des Films: Das Kulturelle, das Hohe, das Schöne und das Gute – sie sind nur hauchdünner Firnis über der Dunkelheit der Exkremente.

D ER V ERWEIS

UND DAS

V ERLIES

Wenn von Ausscheidungen die Rede ist, wenn das Anale im Vordergrund steht, dann fällt einem unweigerlich Die 120 Tage von Sodom (1975) ein, der letzte Film von Pier Paolo Pasolini, der alsbald nach Fertigstellung des Films ermordet worden ist. In diesem Film schmieren sich Menschen mit Kot ein und erleben das als lustvoll. Kurze Zeit später schlägt die Lust in genussvolles Morden um. Das „Drehbuch“, die Erzählung zum Film Die 120 Tage von Sodom, stammt von Marquis de Sade, geschrieben 1785 in der Bastille (vergleiche Giese in einem Vorwort zu dieser Erzählung 1972: 34). Imaginierter „Drehort“ von de Sade ist Silling, ein Schloss im Schwarzwald – kaum zu erreichen, nicht mehr verlassbar. Ein Gefängnis, wie das, in dem Sade saß, als er schrieb, wie das Restaurant im Der Koch …, das während des ganzen Films fast nie verlassen wird, wie das Kino, in dem der gebannte Zuschauer sitzt und sich ekelt und vermutlich nicht eher das Kino verlässt, bis der Vorhang fällt. Ein Biograph von de Sade, Lever (1995), stellt, wie es für seinen Berufsstand unumgänglich ist, biographische Bezüge her. Der 5-jährige de Sade muss für einige Zeit in dem düsteren und furchterregenden Schloss Saumane wohnen.

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„Sades Welt der Lüste ist stets auch eine Kerkerwelt. Am Eindrucksvollsten für den Besucher (von Saumane; A. d. A.) sind jedoch die aus dem 13. Jahrhundert stammenden Kellerräume und unterirdischen Geheimgänge, in denen sich zahlreiche Verliese ohne Frischluft und Tageslicht befinden. Am Boden liegen noch die Ketten derer, die hier ohne Hoffnung auf eine Rückkehr ins Leben vergessen wurden. Als idealer Folterkeller, von dem aus kein Schrei an die Außenwelt zu dringen vermag, weckt er Vorstellungen von endloser, einsamer, beklemmender Kerkerhaft.“ (Lever 1995: 67f.)

Sade nennt diese Kellerräume „Eingeweide“ (ebd.: 68). Die Kunst des Kinos besteht darin, so überwältigend zu sein, so sehr den Zuschauer zu manipulieren, dass er quasi freiwillig den Kinoraum, diese besondere Art der dunklen Eingeweide, nicht verlässt, nicht verlassen will, bis das Licht angeht, und er wieder raus gespült wird. Die Ketten des Folterkellers werden im Kino ersetzt durch das in den Bann ziehen. Der Film Der Koch … ist eigentlich so abstoßend, dass sich niemand freiwillig diesen Film ansehen dürfte, zumindest nicht bis zum Ende. Aber der Zuschauer verharrt bei der Qual, die er ansehen muss. Greenaway zeigt damit, wie Kino im Allgemeinen funktioniert.

F RANKREICH

VERSUS

E NGLAND

Der Koch … ist ein englischer Film. Engländer ernähren sich einfach und eher primitiv, die Franzosen dagegen sind Gourmets – so das übliche Vorurteil. In diesem Film werden, um sich als vornehmer Kulturbürger zu erweisen, natürlich vornehmlich französische Gerichte kredenzt. Das edle und feine französische Essen wird eingerahmt und verdorben durch die Unkenntnis und die rohen analen Kommentare des Diebes. Dieses Paradox weist ein wenig in Richtung von Dekadenz: Verfall der Sitten, Maßlosigkeit und Grausamkeit. Der natürlich und bescheiden gebliebene Engländer, der einfache Kost bevorzugt, wird ausgespielt gegen den in Luxus, im Exzess schwelgenden Franzosen. Der Koch … zeigt einen sich den Anschein geben wollenden kultivierten und dennoch grausamen Dieb, eine kultivierte und sich brutal rächende Ehefrau und operiert zudem implizit mit einem relativ primitiven Freund-Feind-Verhältnis: Frankreich versus England. Anleihe genommen wird am Urbild abendländischer Dekadenz, dem spätrömischen Reich. Sueton (zitiert nach Heckmann 1979) beschreibt den Kaiser Vitellius: „Und wie denn Üppigkeit und Grausamkeit seine Hauptlaster waren […] eine Unmäßigkeit, die ihm leicht wurde, weil er sich gewöhnt hatte, regelmäßig Brechmittel zu nehmen.“ (ebd.: 51) Sein Bruder veranstaltet ihm zu

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Ehren ein Mahl, „bei dem zweitausend der seltensten Fische und siebentausend der kostbarsten Vögel auf die Tafel kamen.“ (ebd.: 51) Von diesem Freund-Feind-Verhältnis bleibt wie üblich die Wissenschaft nicht unberührt. Der englische Autor Menell (1988) zieht über den Franzosen Lévi-Strauss her: „Wer skeptisch ist, darf wohl vermuten, dass Lévi-Strauss hier bloß die der traditionellen französischen Ansicht, ein Engländer ernähre sich von gekochten Huhn und schlinge es mit Früchtebrot und Portwein herunter, in komplizierter Sprache Ausdruck verleiht.“ (ebd.: 24) Und: „Der unvoreingenommene Leser betrachtet das kulinarische Dreieck (ein Konzept von Lévi-Strauss; A. d. A.) wohl eher als Nonsens.“ (ebd.: 25) Menell schreibt gegen das französische Kochimperium an, versucht es aber zu verstehen: „Ein Ergebnis der französischen Hegemonie zeigt sich in den Kochbüchern des 19. Jahrhunderts. Die großen französischen Chefköche hatten praktisch ein Monopol der Handbücher für den Berufskoch.“ (ebd.: 182) Armes England! Gut, dass diesem Frankreich Dekadenz unterstellt werden kann. Diese imperiale Küche „scheint um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Phase der Entartung und des Verfalls durchgemacht zu haben.“ (ebd.:182) Da haben wir es: Wo Hochkultur ist, da ist die Entartung nicht weit. Daher ist es wohl besser, einfach und bescheiden zu bleiben, wie die Engländer. Gott segne sie! Es ist Greenaway nicht zu unterstellen, dass er mit französischfeindlichen Elementen arbeite. Vielmehr geht es wohl eher darum, Machtverhältnisse zu verdoppeln: Die Figur des Diebs übt Gewalt aus und der Film wendet sich gegen das dekadente Frankreich und weckt vermeintlich Ressentiments. Der Film imitiert den schäbigen Dieb. Eventuell ist es auch umgekehrt. Interessanterweise ist der Dieb Engländer und der Koch Franzose. Der Vertreter von Kultur und Dekadenz, der Koch, muss sich selbst die Hände nicht schmutzig machen. Er induziert nur Gewalt. Er manipuliert – wie auch der Film vermeintlich Ressentiments gegen Ausländer schürt, aber doch nur „sagen“ will, dass „Film“ ein hervorragendes Mittel der Manipulation darstellt, ohne dessen bezichtigt zu werden.

P ERVERSION

UND

F ILM

Der Film ist eine Manipulationsmaschine. „Folglich scheinen uns Überraschung und Befremden […] zwei der gemäßigsten Verfahren zu sein, durch die das kinematographische Bild die Sensibilität der Zuschauer herausfordern kann. Sie bahnen sozusagen den Weg zu einer ganzen Aggressionsskala von

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wachsender Intensität und sehr unterschiedlicher Art, denen gegenüber der Cineast in der Lage (und im Recht) ist, sich dem zu widmen, was man auf Englisch captive audience, das Mitgehen des Publikums nennt. Diese unbestreitbare Macht, von den Cineasten stillschweigend seit den Anfängen des Kinos anerkannt (die Leute zogen instinktiv den Kopf ein, als der Zug von Lumière in den Bahnhof einfuhr …“ (Burch 1972: 39f.)

Lumières Zug rollt noch immer in Variationen über die Köpfe der Zuschauer im Kinoraum hinweg und eigentlich mitten durch die Köpfe. Kino möchte überwältigen, möchte erschlagen, möchte einnehmen. Captive audience lässt sich auch übersetzen mit ausgeliefertes oder gefesseltes Publikum und nicht so harmlos wie mitgehendes Publikum. Das Kino, das keine Gewalt ausübt, ist ein schwaches Kino. In Der Koch … hat niemand im Publikum Angst, von einem Zug überrollt zu werden, aber vermutlich wird etlichen von ihnen der Appetit vergehen, oder es besteht die Angst, Gewalt zu erfahren oder gebraten zu werden. Dieser Film löst Ekel und Abscheu aus. So wie die Perversion bei denen, die davon ausgehen, nicht hinreichend pervers zu sein. In einem Geleitwort zu einem Buch über Perversionen reiht Racamier (1999) einen Term des Schreckens nach dem anderen: „dessen Atmosphäre schwer zu ertragen ist“ (ebd.: 15), „wie befremdlich eine Welt“ (ebd.), „denn die Perversion ruft Entsetzen und sogar Abscheu hervor.“ (ebd.) Racamier definiert Perversion über Folgendes: „um jeweils über den anderen und auf dessen Kosten zu existieren“ (ebd.: 16). Der Perverse ist parasitär, er hält seine Existenz aufrecht, indem er den anderen ausnimmt und zerstört. Es ist somit klar, dass der von Racamier verwendete Begriff Perversion nichts mit dem zu tun hat, was früher, etwa zu Zeiten Freuds, unter Perversion verstanden wurde. Perversion meint heute nicht sexuelle Abweichung, sondern die Bereitschaft und Lust, den anderen zu eliminieren. „Denn die perversen Manöver bleiben völlig unverständlich, solange man sie am Maßstab der Liebe, der Sympathie, der gegenseitigen Achtung und zwischenmenschlicher Rücksichtnahme zu messen versucht. Sie lassen sich nur mit den Begriffen des Hasses, der Nichtanerkennung und der Abwertung begreifen. Man stößt dort auf eine eisige, eiserne Welt aus Taktik und Verachtung.“ (ebd.: 17)

Es ist offenkundig: So wie der Perverse nährt sich auch der Film von seinem Publikum. Ohne dieses ist er ein möglicherweise teurer Flop. Aber der Film will unterhalten und in der Regel nicht zerstören, er arbeitet jedoch wie die Perversion mit einer Vielzahl an Überwältigungstechniken: rasante, von dem menschlichen Auge nicht mehr nachvollziehbaren Schnitte, atemberaubende Kamerafahr-

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ten, Tricktechnik, 3D und so weiter. Der Film ist „reich an komplexen und zugleich präzisen Manipulationen“ (ebd.: 16), aber er will nur beeindrucken, in den Bann ziehen. Der Film ist das „als ob“ der Perversion, er sagt zu seinem Publikum: „Wenn Du nicht im Kino wärest, müsstest Du all die Qual selbst erleiden, die Deine Filmhelden für Euch erleiden, so wie Jesus für Dich Leiden und Tod auf sich genommen hat.“ Der Film steht in der Tradition christlicher Dramaturgie in einer nachchristlichen Zeit.

S CHLIMME L IEBSCHAFTEN Das Zeitalter der Liebe beginnt vermutlich mit dem christlichen agape-Begriff. Individualisierte Liebe ist mit der Moderne und insbesondere mit der Romantik verbunden (Klotter/Beckenbach 2012). Racamiers (siehe oben) Maßstäbe der Liebe und der Sympathie rühren aus der Moderne. Es sind keine universalen, über alle Zeiten geltende Maßstäbe, sondern die unserer Zeit. Der Koch … knüpft an die vormoderne Zeit an, an den Barock, für Foucault das klassische Zeitalter. Zu diesem gehört als dessen Abgesang der Briefroman von Chloderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften (1782), in Filmsprache übersetzt von Stephen Frears 1988 mit dem gleichnamigen Titel, in die Jetztzeit (New York) übernommen von Robert Kumble 1999 mit dem Titel Eiskalte Engel. Laclos Briefroman rankt sich um die Liebe als Intrige, um die Kunst, aus der Liebschaft als Sieger hervorzugehen und koste dies die Reputation oder das Leben des anderen. In unseren Augen wäre dies perverses Handeln. So schnell können sich Maßstäbe verschieben. Es reichen 200 Jahre, um sich wie Racamier dem Anschein nach einem tugendhaften Leben nicht nur zu verschreiben, sondern um sich als vollkommen moralisch integres Wesen zu begreifen. Im Verdammen der Perversion offenbart sich der wahre und gute Mensch. Das Missgeschick der Tugend (de Sade) erweist sich als Glückfall für moralische Seligsprechung. Greenaway (wir suchen immer noch nach der zentralen Message) torpediert mit Der Koch … die Idee der Höherentwicklung der menschlichen Gattung zum Reinen und zum Guten (zum Schönen und Guten im Sinne des platonischen Sokrates) mit dem insistierenden Verweis auf die niedrigen und brutalen Impulse im Menschen, eventuell im Sinne anthropologischer Grundkonstanten, auf jeden Fall auf die Barbareien des 20. Jahrhunderts (Hitler, Stalin). Kants Idee des rational gesteuerten und moralisch integren Menschen ist anteilig gescheitert. Dass dieses Scheitern so schmerzhaft ist und so grauenhaft, davon zeugen die Bilder des Der Koch …. De Sade muss an die Seite von Kant gestellt werden.

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„I NHALT “ Der Film, über den hier geschrieben wird, hat einen linearen Zeitverlauf. Die Speisekarten, die gezeigt werden, sind mit den jeweiligen Wochentagen beschriftet. Die Kamera durchquert die Räume in einer horizontalen Fahrt. Wer die Toilette betritt, hat weiße Kleider an, wer speist, ist rot gewandet. Alles muss seine Ordnung haben, würde de Sade dazu sagen. Nichts muss systematischer betrieben werden als der Genozid, hätten die Nazis gesagt. Fast am Beginn des Films öffnen zwei rot Gekleidete (Lakaien? Kellner?) zwei große Türen, als ginge ein Vorhang auf. Wir sind mitten im Theater oder im Kino. So weit, so ordentlich. Dann kommen die vielen Abers: Aber in welcher Zeit? Die überdimensionierten Türen, die im Film zu sehen sind, verweisen auf expressionistische Filme der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Filmmusik orientiert sich an Barockmusik. Das große Bild im Speisesaal zeigt Männer in Halskrausen, also Renaissance-Zeit. Die große französische Kochkunst wurde nach der Französischen Revolution entwickelt: 18. Jahrhundert. Das Polizei-Auto ist ein Citroen BX: 20. Jahrhundert. Die Küche könnte die von Primitiven sein, aber auch die an eine Manufaktur aus dem 17. Jahrhundert angegliederte. Lineare Zeit steht unverbunden dem Zeit-Chaos gegenüber. Der Film versucht, den Zuschauer verrückt zu machen. Der Film attackiert die Denkfunktion. Der Film beginnt nicht mit dem großen Essgelage, sondern damit, wie der Dieb einen nackten Mann mit Kot beschmiert. Dieser muss vom Kot auch essen. Der Dieb, Albert Spica, zählt parallel zu diesem Tun edle französische Gerichte auf. Die Ausscheidungen kommen vor dem Essen. Der Film verkehrt die Dinge: Perversion. Essen und Kot sind im Grunde dasselbe. Spica doziert über seine Georgie – eine Abkürzung ihres Namens Georgina, die sie hasst –, dass das Unanständige so nah neben dem Anständigen ist, dass es fast dasselbe ist: Vagina und Anus sind im Grunde identisch. Der Dieb hat seine eigene primitive Kloakentheorie über das weibliche Geschlecht. Georgina erzählt ihrem toten Liebhaber, der mit den Buchseiten seines Lieblingsbuches über die Französische Revolution erstickt worden ist (er musste sie aufessen), dass ihr Mann, der Dieb, sie schlägt und sie mit Gegenständen wie einem Löffel oder einer Eisenbahn penetriert. Der Dieb selbst ist impotent, beziehungsweise würde sein Geschlecht nie in die Nähe der weiblichen Kloake bringen (zu unsauber). Der Dieb kontrolliert ihre Toilettengänge, herrscht sie an, ob sie sich die Hände gewaschen hätte, befürchtet, über die Toilettenbrille schreckliche Krankheiten zu bekommen. Ja, jemand, den er kenne, habe sich auf der Toilette nichtsahnend mit Säure den Hintern verätzt. Von der weiblichen Kloake geht die gleiche Gefahr aus. Die Einheit

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von Essen und Ausscheidung zeigt der Film auch dadurch, dass auf der Toilette wunderbar angerichtete Speisetische stehen. Albert Spica demonstriert seine Macht nicht nur mit körperlicher Gewalt, er spricht unentwegt, er doziert, auch über gesunde Ernährung. Souveränität bedeutet, die ganze Zeit zu sprechen (Spica gleich Speaker). Das Liebespaar beginnt erst dann untereinander zu sprechen, als der Dieb den Liebhaber an seinen Tisch geholt und angesprochen hat. Der Liebhaber erzählt ihr dann von einem Film und seinem Hauptdarsteller. Der Film sei nur so lange interessant gewesen, wie der Protagonist noch nicht gesprochen habe. Das Liebespaar, das beginnt zu sprechen, hat sich bereits verloren. Bald wird der Liebhaber getötet sein. Liebe gibt es nur im präverbalen Zustand, in der Symbiose mit der Mutter. Das erste Wort beginnt das enge und eigentlich untrennbare Band aufzulösen. Der Liebhaber spricht zu ihr. Sie spricht zu ihm, selbst als er schon tot ist. Albert Spica spricht unentwegt zu niemandem. Ohne Adressat. Er redet, um die Leere zu übertönen, die in und außerhalb von ihm ist. Der Koch sagt zu ihm, er solle bei seinem Jackett einen Knopf zumachen, damit er seine innere Leere nicht so spüre. Der Dieb widerspricht nicht. Der Dieb ist psychisch nicht zu Ende geboren. Er hat sich von seiner Mutter nicht separiert – eine Mutter, die für ihn eine tödliche Gefahr dargestellt hat. Georgie repräsentiert für ihn nicht seine Mutter, sie ist konkretistisch seine Mutter (Der Dieb: „Eine Kuh hat große Titten wie meine Georgie“), auf deren Anwesenheit er nicht verzichten kann. Wie das Essen Aufnehmen und Zerstören ist, so muss er seine Frau mit Gegenständen, Vagina und Anus penetrierend, zerstören und hoffen, dass sie seine Attacken überlebt. Der Dieb kann zwischen sich und der Umwelt nicht unterscheiden. Er projiziert unentwegt Eigenes auf andere. Seine Georgie, das lässt er durchblicken, habe ihn in die Welt der Sexualität eingeführt. Sie ist die Schmutzige, er natürlich nicht, obwohl er Sätze sagt wie: „Ich zeige Dir, wie man ihn (den Hintern) abwischt.“ Der Liebhaber, Michael, ist für ihn ein Jude. Juden sind die, die Handel treiben und mit Geld wuchern. Aber der Dieb ist ein Dieb. Zu Georgina sagt er: „Du bist ja wie ein Kerl.“ Das heißt: Du bist so wie ich. Der Koch … ironisiert das Verhältnis von Realität und Fiktion, von Faktum und „als ob“. Der Liebhaber sagt, als er sich enttäuscht über den Hauptdarsteller eines Films äußert, weil dieser mit Reden angefangen habe, dass es zwischen ihm und Georgina nicht so sei wie im Film. Er beweist, dass er zwischen Film und Realität unterscheiden kann. Der Dieb, der seinem nächsten „Mitarbeiter“ befohlen hat, den Hodensack des Liebhabers abzubeißen, sagt, er habe dies nur metaphorisch gemeint. Indem dieser Film die Akteure entsprechend ihrer Umge-

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bung einfärbt (weiß auf der Toilette, et cetera), macht er darauf aufmerksam, dass der Film ein Film ist und keine Realität abbildet.

K ANNIBALISMUS Der Koch ... verweist nicht auf Das Schweigen der Lämmer (Jonathan Demme). Wenn, dann umgekehrt. Letzterer ist aus dem Jahr 1991. Der Roman zu diesem Film stammt aus dem Jahr 1988 (Thomas Harris). Das, was die beiden Filme verbindet, ist die Darstellung des Kannibalismus. Hannibal Lecter heißt der distinguierte Kannibale aus dem Demme-Film (Fulda 2001). Er ist der Leser (Lektor), der Dieb der Sprecher. Der Dieb liest nie ein Buch. Kann er lesen? Der Dieb versucht nur, kultiviert zu sein. Lecter ist es. Spica droht zunächst nur damit, den Liebhaber zu verzehren. Freiwillig tut er das nicht. Lecter ist dagegen Kannibale aus Leidenschaft. Kannibalismus ist in dieser Version weit davon entfernt, primitiv und barbarisch zu sein. Ein echter Kannibale ist ein Connaisseur, ein wissender Gourmet, ein entschlossener und forscher Wissenschaftler, der sich von moralischen Vorurteilen befreit, der die Natur durchdringt und beherrscht und sie sich letztlich einverleibt – als Triumph der Naturaneignung. Lecter gehört zur Moderne, der Dieb zum Barock. Spica bleibt ein jämmerlicher Dilettant von gestern, der eine Strafe verdient. Georgina, seine Frau, zwingt ihn mit vorgehaltener Waffe dazu, ein Teil des gebratenen Liebhabers zu verzehren. Sie fordert ihn auf, sein Genital zu essen (vgl. Abb. 2). In der ersten Sexszene in dem Koch-Film nimmt Georgina als erste Handlung diesen in den Mund. Nun soll ihn ihr Mann gebraten oral aufnehmen, er, der sie immer gesucht hat, wenn sie Sex mit dem Liebhaber hatte, der aufgrund seines Unvermögens nur an dem Sex teilhaben kann, den sie mit einem anderen hat. Georgina weiß, dass ihr Mann, der Dieb, im Grunde gerne das Genital eines anderen Mannes mit seinem Mund aufgenommen hätte. Der Dieb stiehlt in gewisser Weise seiner Frau ihren Sex und wird nicht müde, Homosexualität zu diskriminieren, weil er sich seiner Begierden so sehr schämt. Ein echter moderner Wissenschaftler würde sich weder wegen seines Schwulseins schämen noch wegen seiner kannibalistischen Aktivitäten. Lecter ist die zu Ende gedachte Moderne, Spica ein Trottel aus einem Mantel und Degen-Theaterstück. Als unzeitgemäße Figur verweist der Dieb auf eine Epoche, die Jetztzeit, die ihn nicht mehr akzeptiert. Er ist sexuell inhibiert und als Wissenschaftler ein Cretin und für beides schämt er sich – was für ein überholtes und überflüssiges Gefühl! Greenaway inszeniert seinen Film, indem er die Kritik von Horkheimer und Adorno (1997 [1944/47]) an der Dialektik der Aufklärung aufnimmt: Aufklärung verach-

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tet die eigene Vergangenheit, sieht sich im strahlenden Licht der Vernunft und fällt dennoch in den Mythos zurück. Wenn Lemke (2010) die rationalistische Philosophie mit ihrer Idee des autonomen Subjekts kritisiert und reklamiert, dass wir mit dem Essen immer das Andere zu uns nehmen („Ich bin ich und doch ein Anderer“, Lemke 2010: 47), dann wird dies am Kannibalismus besonders deutlich: einen Menschen wie mich selbst einverleiben, der dennoch anders ist als ich. Der andere Mensch ist mir nicht so fern wie ein Huhn oder ein Maiskolben, aber genau seine Nähe erschüttert meine Identität. Der Maiskolben ist mir so fern, dass ich hoffe, ihn assimilieren zu können, ihn verstoffwechseln zu können: Aus dem Fremden soll so das Eigene werden. Beim Kannibalismus wird diese Hoffnung erschüttert: Was, wenn ich durch das Essen eines Anderen der Andere werde? Die echte Moderne im Sinne des Demme-Films verlangt diese Flexibilität in der Identitätsbildung, und wenn das Arbeitsleben dies nicht vollbringt, dann sollen die Drogen nachhelfen. Der arme Dieb, und wir beginnen ihn zu bedauern, ist noch nicht so weit. Er ringt um die Idee des autonomen Subjekts und bleibt so unendlich und vergeblich bemüht. Abbildung 2: Albert Spica – Dieb, Tyrann, Kannibale, Dilettant

Quelle: DVD Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, im Vertrieb von Universal

Der Zuschauer und die Zuschauerin akzeptieren und befürworten, dass Georgina ihren Mann erschießt, dieses impotente, perverse und brutale Schwein. Der Dieb, dieser Trottel, begeht ein Verbrechen, den Kannibalismus, unfreiwillig. Dennoch darf ihn Georgina dafür verachten und nennt ihn einen Kannibalen. Wir alle verachten den Kannibalismus so stark, weil wir alle damit zu tun haben: „Das Kind verzehrt aber seine eigene Mutter, indem es an ihrer Brust saugt; es saugt in der Milch das Blut, das Wesen der Mutter ... in sich auf; es ist, was es isst und isst, was es ist, ist also Anthropophag.“ Dies schreibt der Philosoph Ludwig Feuer-

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bach (zitiert nach Boehme 2010: 152). Im Sinne Freuds verdrängen wir dies (fast) alle. Wir wollen auch nicht wissen, dass Essen stets an Zerstörung gebunden ist. Die aufgenommene Nahrung, ob vom Tier oder von der Pflanze, muss zerkleinert werden. Ohne oralsadistische Impulse müssten wir verhungern. „Die Beziehung zu dem zu zerstörenden Objekt ist zweideutig: Jeder Trieb mit seiner doppelten Verwurzelung setzt zugleich den Wunsch zu zerstören und den in sich aufnehmen voraus.“ (Harrus-Revidi, zitiert nach Boehme 2010: 148) Die Beziehung zum Aufgenommenen ist zudem stets ambivalent. Es wird begrüßt und es wird gehasst. Introspektionen und Identifikationen sind immer ambivalent. Kannibalismus steht dafür prototypisch und paradigmatisch und spitzt diesen unlösbaren Konflikt zwischen den Strebungen nach Verbindung/Anerkennung und Vernichtung zu. Georginas Aufnahme des Genitals ihres Liebhabers in ihren Mund und ihre Aufforderung an ihren Mann, selbiges gebraten zu essen, sind die zwei Seiten dieses Konflikts. Indem wir den Kannibalismus verdammen, müssen wir unsere eigenen kannibalistischen Impulse projizieren: „Kannibalen sind demnach die anderen, Fremden – kulturell und sozial untergeordnet –, von denen eine Bedrohung ausgehen kann, da ihre kulturellen und rituellen Gebräuche unverstanden und damit furchterregend bleiben. Das als unmenschlich geltende Verbrechen rechtfertigt die Verfolgung, Unterwerfung, Ausbeutung und Ausrottung dieser primitiven Rassen durch die zivilisierten Eroberer.“ (Burwick 2001: 242)

Der Film Der Koch ... nichtet diese Projektion – durch die Figur Georgina, die so ist, wie wir sein wollen: kultiviert, gebildet, belesen. Aber sie ist mit einem Unhold verheiratet, und wir damit auch. Der Kannibale oder die Kannibalin liegt mit mir in einem Bett. Und wenn ich ihn oder sie töte, dann werde ich selbst zum Kannibalen.

L ITERATUR Albus, A. et al. (1975): Maskulin – Feminin. Die Sexualität ist das Unnatürlichste von der Welt. München: Rogner & Bernhard. Benjamin, W. (1991). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. [Zuerst 1935/36]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 1-2. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 431-470. Boehme, T. C. (2010): Nutrimentalpathologien des Alltags. In: Wilk, N. M. (Hrsg.): Esswelten. Frankfurt am Main: Peter Lang, S.143-158. Bolz, N. (1989): Auszug aus der entzauberten Welt. München: Fink.

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Brandt, R. (1999): Die Wirklichkeit des Bildes. München: Hanser. Brumlik, M. (1994): Die Gnostiker. Frankfurt am Main: Eichborn. Burch, N. (1972): Strukturen der Aggression. In: Witte, K. (Hrsg.): Theorie des Kinos. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 39-54. Burwick, R. (2001): „Wenn er fett ist, so will ich ihn essen“. Anthropophagische Familien- und Geschlechterverhältnisse im Märchen der Romantik. In: Fulda, D./Pape, W. (Hrsg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg: Rombach Verlag, S.241-258. Casanova, G. (1985): Geschichte meines Lebens. Band 1 – 12. [Zuerst 1789]. Frankfurt am Main: Propyläen Verlag. Foucault, M. (1977): Sexualität und Wahrheit. Band 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fulda, D. (2001): Einleitung: Unbehagen in der Kultur, Behagen an der Unkultur. In: Fulda, D./Pape, W. (Hrsg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg: Rombach Verlag, S. 7-50. Giese, H. (1972). Vorwort zu Die 120 Tage von Sodom. In: de Sade, D.A.F.: Die 120 Tage von Sodom. Frankfurt am Main: Fischer. Greisch, J. (1993): Hermeneutik und Metaphysik. München: Fink. Hagen, W. (1999): Zur medialen Genealogie der Elektrizität. In: Marsch, R./Werber, N. (Hrsg.): Kommunikation Medien Macht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 133-173. Heckmann, H. (1979): Die Freude des Essens. München: Hanser. Heidegger, M. (1986): Sein und Zeit. [Zuerst 1927]. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.. Hörisch, J. (1988): Die Wut des Verstehens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, M./Adorno, Th. W. (1997): Dialektik der Aufklärung. [Zuerst 1944/47]. Gesammelte Schriften 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hurni, M./Stoll, G: (1999). Der Hass auf die Liebe – Die Logik perverser Paarbeziehungen. Gießen: Psychosozial-Verlag. Jacobi, J. (1991): Die Psychologie von C. G. Jung. Wiesbaden: Fischer. Klotter, C./Beckenbach, N. (2012): Romantik und Gewalt. Wiesbaden: VS Verlag. Lemke, H. (2010): Anderes-Selbst-Verkörpern. Bausteine einer gastrosophischen Anthropologie und Subjekttheorie. In: Wilk, N.M. (Hrsg.): Esswelten. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 43-58. Lever, M. (1995): Marquis de Sade – Die Biographie. Wien, München: Europaverlag. Mennell, St. (1988): Die Kultivierung des Appetits. Frankfurt am Main: Athenäum.

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Mitchell, W.J.T. (2008): Bildtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Racamier, P.-C. (1999): Geleitwort. In: Hurni, M./Stoll, G. (1999): Der Hass auf die Liebe. Die Logik perverser Paarbeziehungen. Gießen: PsychosozialVerlag, S. 15-21. Sade, de D.A.F. (1972): Die 120 Tage von Sodom. [Zuerst 1785/1909]. Frankfurt am Main: Fischer.

Filmverzeichnis

9 ½ Wochen (1986): USA, Regie: Adrian Lyne, Producers Sale Organization [Orig.: Nine ½ Weeks]. American Beauty (1999): USA, Regie: Sam Mendes, Dreamworks SKG. Babettes Fest (1987): DN, Regie: Gabriel Axel, Panorama Film A/S [Orig.: Babettes gæstebud]. Being Human (2011): CA, Regie: Paolo Barzman et al, Muse Entertainment Enterprises. Bella Martha (2001): D/I/A/CH, Regie: Sandra Nettelbeck, Arte. Berlin Calling (2008): D, Regie: Hannes Stöhr, Sabotage Films GmbH. Big Night – Nacht der Genüsse (1996): USA, Regie. Campbell Scott, Stanley Tucci, Rysher Entertainment [Orig.: Big Night]. Bittersüße Schokolade (1993): ME, Regie: Alfonso Arau, Arau Films Internacional [Orig.: Como agua para chocolate]. Breaking Dawn – Bis(s) zum Ende der Nacht: Teil I (2011): USA, Regie: Bill Condon, Sommit Entertainment [Orig.: The Twilight Saga: Breaking Dawn – Part 1]. Brokeback Mountain (2005): USA/CA, Regie: Ang Lee, Focus Features. Brust oder Keule (1976): FR, Regie: Claude Zidi, Les Films Christian Fechner [Orig.: L’aile ou la cuisse]. Buffy – Im Bann der Dämonen (1997-2003): USA, Regie: Joss Whedon u.a., Mutant Enemy [Orig.: Buffy the Vampire Slayer]. Canned Dreams (2012): IR/NO/PO/FR/FIN, Regie: Katja Gauriloff, Al Jazeera English u.a. [Orig.: Säilöttyjä unelmia]. Dänische Delikatessen – Darf’s ein bisschen mehr sein? (2003): DN, Regie: Anders Thomas Jensen, Det Dankse Filmstudie [Orig.: De grønne slagtere]. Das große Fressen (1973): FR/I, Regie: Marco Ferreri, Films 66 [Orig.: La grande bouffe].

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Das Schweigen der Lämmer (1991): USA, Regie: Jonathan Demme, Strong Heart/Demme Production [Orig.: The Silence of the Lambs]. Delicatessen (1991): FR, Regie: Marc Caro, Jan Pierre Jeunet, Constellation u.a. Der diskrete Charme der Bourgeosie (1972), FR, Regie: Luis Buñel, Dean Film [Orig.: La charme discret de la bourgeoisie]. Der Eissturm (1997): USA, Regie: Ang Lee, Fox Searchlight [Orig.: The Ice Storm]. Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber (1989): FR/UK, Regie: Peter Greenaway, Allarts Cook u.a. [The Cook the Thief His Wife & Her Lover]. Die 120 Tage von Sodom (1976): IT/FR, Regie: Pier Paolo Pasolini, Produzioni Europee Associati, Les Productions Artistes Associés [Orig.: Salò o le 120 giornate di Sodomia]. Dogville (2003): DN/SW/UK/FR/D/NDL/NO/FIN/IT, Regie: Lars von Trier, Zentropa. Drive (2011): USA, Regie: Nicolas Winding Refn, Bold Films u.a. Eat Drink, Man Woman (1994): Taiwan/USA, Regie: Ang Lee, Ang Lee Productions [Orig.: Yin Shi Nan Nü]. Eat the rich (1987): UK, Regie: Peter Richardson. Channel Four Films u.a. Eclipse – Bis(s) zum Abendrot (2010): USA, Regie: David Slade, Summit Entertainment [Orig.: The Twilight Saga: Eclipse]. Edward mit den Scherenhänden (1990): USA, Regie: Tim Burton, Twentieth Century Fox Film Corporation [Orig.: Edward Scissorhands]. Eine Komödie im Mai (1990): FR/IT, Regie: Louis Malle, Nouvelles Éditions de Films [Orig.: Milou en mai] Eiskalte Engel (1999): USA, Regie: Roger Kumble, Columbia Pictures Corporation [Orig.: Cruel Intentions]. El Bulli: Cooking in Process (2011): D, Regie: Gereon Wetzel, if… Productions. Flüssig – A River Movie (2003): D, Regie: Thomas Struck, Filmtank Hamburg. Food – Das kleine Fressen (1992): Tschecheslowakei/UK, Regie: Jan Svankmajer, keine Produktionsangaben [Orig.: Jídlo]. Food, Inc. – Was essen wir wirklich? (2008): USA, Regie: Robert Kenner, Magnolia Pictures [Orig.: Food, Inc.]. Gefährliche Liebschaften (1988): USA/UK, Regie: Stephen Frears, Lorimar Film Entertainment [Orig.: Dangerous Liaisons]. Hannibal (2001): UK/USA, Regie: Ridley Scott, Metro-Goldwyn-Mayer. Hannibal Rising – Wie alles begann (2007): UK/Tschechische Republik/FR/IT, Regie: Peter Webber, Young Hannibal Productions [Orig.: Hannibal Rising]. Jenseits von Afrika (1985): USA, Regie: Sydney Pollack, Mirage Enterprises [Orig.: Out of Africa].

F ILMVERZEICHNIS

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Meat Love (1989): UK/USA/D, Regie: Jan Svankmajer, Koninck Studios. Modern Times (1936): USA, Regie: Charles Chaplin, Charles Chaplin Productions. Nanny Diaries (2007): USA, Regie: Shari Springer Berman, Robert Pulcini, The Weinstein Company. Natural Born Killers (1994): USA, Regie: Oliver Stone, Warner Bros. Pictures. New Moon – Bis(s) zurMittagsstunde (2009): USA, Regie: Chris Weitz, Temple Hill Entertainment [Orig.: The Twilight Saga – New Moon]. Precious – Das Leben ist kostbar (2009): USA, Regie: Lee Daniels, Lionsgate [Orig.: Precious]. Pushing Hands (1992): Taiwan, Regie: Ang Lee, Ang Lee Productions [Orig.: Tui shou]. Ratatouille (2007): USA, Regie: Brad Bird, Jan Pinkava, Pixar Animation Studios. Répas de bébé (1895): FR, Regie: Louis Lumière, Lumière. Roter Drache (2002): USA/D, Regie: Brett Ratner, Universal Pictures [Orig.: Red Dragon]. Sense and Sensibility (1995): USA/UK, Regie: Ang Lee, Columbia Pictures Corporation. Super Size Me (2004): USA, Regie: Morgan Spurlock, Kathbur Pictures. Tampopo (1985): JP, Regie: Jûzô Itami, Itami Productions. Taste the Waste (2010): D, Regie: Valentin Thurn, Schnittstelle Film und Video. The Chinese Feast/ Das Bankett des Kaisers (1995): Hong Kong, Regie: Hark Tsui, Film Workshop [Orig.: Jin yu man tang]. The Gold Rush (1925): USA, Regie: Charles Chaplin, Charles Chaplin Productions. The Texas Chain Saw Massacre (1974): USA, Regie: Tobe Hooper, Vortex. The Vampire Diaries (2009): USA, Regie: Marco Siega u.a., Alloy Entertainment. The Wedding Banquet/ Das Hochzeitsbankett (1993): Taiwan/USA, Regie: Ang Lee, Ang Lee Productions [Orig.: Xi yan]. Themroc (1973): FR, Regie: Claude Faraldo, Filmanthrope. True Blood (2008): USA, Regie: Alan Ball u.a., Your Face Goes Here Entertainment. Twilight – Bis(s) zum Morgengrauen (2008): USA, Regie: Cathrine Hardwicke, Summit Entertainment [Orig.: Twilight]. Unser täglich Brot (2005): D/AU, Regie: Nikolaus Geyrhalter, Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion.

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VeggieTales: Larry-Boy und der böse Apfel. Eine Geschichte über das Neinsagen (2006): USA, Regie: Tim Hodge, Big Idea Productions [Orig.: VeggieTales: Larry-Boy and the Bad Apple]. We feed the World – Essen global (2005): AU, Regie: Erwin Wagenhofer, Carinthia. Zimt und Koriander (2003): GR/TRK, Regie: Tassos Boulmetis, Village Roadshow Productions [Org.: Politiki kouzina].

Autorinnen und Autoren

Lars Alberth, Dipl.-Sozialwissenschaftler, ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bergischen Universität Wuppertal; z.Zt. promoviert er über die Fabrikation europäischer Kultur. Arbeitsschwerpunkte sind die Körper- und Kultursoziologie sowie die Soziologie der Kindheit. E-Mail: [email protected]. Madeline Dahl, Dipl.-Soziologin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Film- und Fernsehanalyse, sowie der Konversationsanalyse. E-Mail: [email protected] Dr. Judith Ehlert ist Soziologin und promovierte am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn zum Thema lokales Wissen im Kontext von Hochwasser und Agrarwandel im Mekong Delta, Vietnam. Sie verfügt über intensive Feldforschungserfahrung in Südostasien und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZEF. Ihre thematischen Schwerpunkte sind u.a. Zivilgesellschaft, (lokales) Umweltwissen und sozio-kulturelle Ernährungsdynamiken in Ländern des Südens. Dabei interessiert sie sich im Besonderen für kulinarische Arenen als mehr oder minder subtile Aushandlungsräume soziokulturellen Wandels. E-Mail: [email protected] Gerrit Fröhlich, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Soziologie der Universität Trier am Lehrstuhl für Konsum- und Kommunikationsforschung. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Emotionssoziologie. E-Mail: [email protected] Lea Gerhards promoviert zum Thema „Gender and Sexuality in ‚Urban Fantasy‘: The Postfeminist Agenda of Contemporary Vampire Romances“ am De-

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partment of British, North American, and Anglophone Literatures and Cultures der Universität des Saarlandes. Sie hat Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte in Trier studiert. Ihre Forschungsinteressen umfassen u.a. amerikanische Populärkultur und Gender Studies. E-Mail: [email protected] Susan Groß, Dipl.-Soz., studierte in Hamburg Soziologie, Psychologie und Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit den Schwerpunkten Massenmedien und Kommunikation sowie Theorien des Sozialen Handelns. Seit 1997 arbeitet sie in verschiedenen Funktionen in der Kinobranche u.a. als Pressereferentin sowie als freie Autorin. E-Mail: [email protected] Benedikt Jahnke ist Agrarwissenschaftler B.A. und seit 2012 Masterstudent an der Georg August Universität Göttingen, Studienschwerpunkt Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus, und studentische Hilfskraft im Arbeitsbereich Soziologie Ländlicher Räume. Thema seiner Bachelorarbeit war die „Analyse eines argentinischen Bauernmarktes“. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Christoph Klotter, (Psych. Psychotherapeut), Professur für Ernährungspsychologie und Gesundheitsförderung an der HS Fulda, Vizepräsident der HS Fulda. Buchv.: „Einführung Ernährungspsychologie“ (2007), „Warum wir es nicht schaffen, gesund zu bleiben“ (2009), „Gesunde Lebensführung“ (2011) von H.-W. Hoefert und Ch. Klotter, „Romantik und Gewalt“ (2012) von Ch. Klotter und N. Beckenbach. E-Mail: [email protected] Daniel Kofahl, Dipl.-Soziologe, leitet das „Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur“ (APEK) und ist Mitglied des Internationalen Arbeitskreises für Kulturforschung des Essens und der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Er forscht unter anderem zu kulturwissenschaftlichen Fragen der Ernährung und zur Soziologie des Kulinarischen. Buchv.: „Geschmacksfrage. Zur sozialen Konstruktion des Kulinarischen“ (2010, Kulturverlag Kadmos). E-Mail: [email protected] Petra F. Köster ist Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und promoviert zum Thema „Kompetenzentwicklung und organisationale Veränderung in innovationsintensiven Branchen, am Beispiel von Festivalveranstaltern“. Sie hat Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt berufliche und betriebliche Weiterbildung an der Universität Trier studiert. Ihre Forschungsinteressen umfassen

A UTORINNEN UND A UTOREN

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ethnographische Organisationsforschung, informelle, nicht-intendiertes Lernen und autopoietische Prozesse. E-Mail: [email protected] Janine Legrand, M.Sc, studierte Ökotrophologie an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Danach absolvierte sie ein Volontariat bei Radio Hamburg. Seit 2008 ist sie als freie Journalistin und als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der CinemaxX AG tätig. E-Mail: [email protected] Dr. Peter Peter verfasst Restaurantkritiken für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und lehrt als Dozent am Gastrosophie-Zentrum der Universität Salzburg. 2012 erhielt er den Preis des Kulinaristik Forums. Er veröffentlichte Kulturgeschichten der Italienischen und Deutschen Küche (beide C. H. Beck) und entwirft kulinarische Reisen. Kontakt: www.pietropietro.de Prof. Dr. Robert Pfaller ist Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. 2007 ausgezeichnet mit dem Preis „The Missing Link“ des Psychoanalytischen Seminars Zürich. Veröffentlichungen u. a.: „Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere“ (Frankfurt/M.: Fischer, 2012); „Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie“ (Frankfurt/M.: Fischer, 2011). E-Mail: [email protected] Dr. Irene Schütze ist seit 2011 Vertretungsprofessorin für Kunsttheorie an der Kunsthochschule Mainz der JGU. Publikationen zum Thema: (Hrsg.) (2010/11): „Über Geschmack lässt sich doch streiten. Zutaten aus Küche, Kunst und Wissenschaft“. Berlin: Kulturverlag Kadmos, sowie „Leonardo da Vincis »Abendmahl als Bildzitat«“, in: Escher, A./Koebner, Th. (Hrsg.) (2009): „Ist man, was man isst? Essensrituale im Film“. München: edition text & kritik, S. 206-222. EMail: [email protected] Thomas Struck, Filmemacher, drehte in den 1960er Jahren Experimental- und Dokumentarfilme, zeichnete in den 1980er Jahren Animationsfilme, koproduzierte in den 1990er Jahren ein Bühnenmusical und drehte einen Musikfilm in New York. Sein gastronomisches Interesse erforschte er mit einem Film über Mosel-Riesling. Seit 2007 ist er Leiter des Kulinarischen Kino der Berlinale. EMail: [email protected] Prof. Dr. Thomas A. Vilgis erforscht am Max-Planck-Instituts für Polymerforschung in Mainz die Physik und Chemie von Lebensmitteln. Vilgis ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik, des Internationalen Arbeitskreis zur

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Kulturforschung des Essens und Mitherausgeber der Zeitschrift „Journal Culinaire – Kultur und Wissenschaft des Essens“. Er ist Autor zahlreicher Bücher zu gastrophysikalischen Themen. E-Mail: [email protected] Jun.-Prof. Dr. Nicole M. Wilk, Juniorprofessorin für Germanistische Sprachwissenschaft an der Universität Paderborn, Forschungsarbeiten zu psychoanalytischen und poststrukturalistischen Medien- und Schrifttheorien, zur sprachlichen Konstruktion von Körperbildern, zur Kultursemiotik des Essens und zu Schrift im städtischen Raum. Ausgewählte Publikation: (2010): Esswelten. Über den Funktionswandel der täglichen Kost. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang. E-Mail: [email protected]

Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5

Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2

Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Juni 2013, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Film Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6

Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2

Michael Wedel Filmgeschichte als Krisengeschichte Schnitte und Spuren durch den deutschen Film 2010, 464 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1546-3

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Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway

Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit

2012, 402 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2123-5

2010, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4

Nicole Colin, Franziska Schössler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder 2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1

Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema April 2013, ca. 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0

Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch Mai 2013, ca. 340 Seiten, kart., ca. 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5

Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) Cremaster Anatomies Medienkonvergenz bei Matthew Barney Juni 2013, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2132-7

Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino Mai 2013, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9

Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms 2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3

Elisabeth Scherer Spuk der Frauenseele Weibliche Geister im japanischen Film und ihre kulturhistorischen Ursprünge 2011, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1525-8

Annette Simonis Intermediales Spiel im Film Ästhetische Erfahrung zwischen Schrift, Bild und Musik 2010, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1520-3

Tina Welke Tatort Deutsche Einheit Ostdeutsche Identitätsinszenierung im »Tatort« des MDR 2012, 402 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2018-4

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Birgit Wagner, Christina Lutter, Helmut Lethen (Hg.)

Übersetzungen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2012

2012, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2178-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 12 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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