Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft: Band 53, Heft 2 Dritte Foge, Band 17, Heft 2 [(Der ganzen Folge Band 53, Heft 2.), Reprint 2022 ed.] 9783112691663


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German Pages 158 [164] Year 1916

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Table of contents :
Inhalt
I. Rechtsphilosophie
II. Rechtsgeschichte
III. Zivilrecht
IV. Zivilprozeß
V. Strafrecht
VI. Nationalökonomie
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Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft: Band 53, Heft 2 Dritte Foge, Band 17, Heft 2 [(Der ganzen Folge Band 53, Heft 2.), Reprint 2022 ed.]
 9783112691663

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Uritische Vierteljahresschrift für

GesetzgebungRechtswissenschaft herausgegeben von

DrDr. K. v. Birkmeqer, A. vqrofs, R. v. Frank, 5. Hellmann, r. Wenger, Professoren der Münchener Iuristenfakultät.

Dritte Folge. Hand XVII, Heft 2. (Der ganzen Lolge Band LIII, Lest 2.)

G l9l5. München, Berlin und Leipzig. 3- Schweitzer Verlag (Arthur 5 eilt er).

Inhalt. I. Rechtsphilosophie.

Seite

S-u-

Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob (Pagel)..........................163

II. Rechtsgeschichte. 1. Planitz,Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalterlichen Recht (Rintelen)..........................181 2. Halldör Hermannsson, The ancient laws of Norway and Iceland (Rintelen) . . . 221 3. Brinkmann, Freiheit und Staatlichkeit in der älteren Deut­ schen Verfassung (Dopsch) . . 223 4. Kühler, Lesebuch des römischen Rechts. 2. Ausl. (Wenger) . . 227 5. Preisigke, Fachwörter des

öffentlichen Verwaltungsdienstes Ägyptens in den griechischen Papyrusurkunden der ptolemäisch-römischenLeit (Wenger) .

227

III. Zivilrecht. 1. Fischbach, Treuhänder und Treuhandgeschäfte (BrinkmannBondi) ......................................... 229 2. Dalcke-Delius, Preußisches Jagdrecht. 6. Aufl. (Dickey . . 246

IV. Zivilprozetz. 1. Skedl, Grundlagen des öster­ reichischen Konkursrechtes (Hell­ mann) ..............................................258

Seite

Sette

Schadensersatzan­ sprüche bei Körperverletzung und Tötung im Zweikampf «Köhler) 263 2. L or e y, Zur Lehre vom groben Unfug (Köhler)...............................267 3. Loeb, Der Versuch (Doerr) . 281 4. Heymann, Territorialitäts-

Prinzip und Distanzdelikt (Kitzinger)................................................... 283

V. Strasrecht. 1. Simon,

VI. Nationalökonomie. Gerlich, Geschichte und Theorie des Kapitalismus (v. ZwiedineckSüdenhorst).................................... 289

Die Einsendung von Rezensionsexemplaren wird an die Verlagsbuchhandlung I. Schweitzer Verlag (Arthur Sellier), München Ottoftr. la erbeten. Separatabzüge aus Zeitschriften sowie Dissertationen finden regelmäßig keine Besprechung. Auch sonst behält es sich die Redaktion vor, nicht zur Besprechung geeignete Bücher zurückzustellen.

Die Herren Referenten tragen für Form und Inhalt ihrer Referate die alleinige Verantwortung. Erwiderungen können nach steter Übung der Zeitschrift nicht ausgenommen werden.

Die Herren Mitarbeiter werden gebeten ihre Manuskripte an jenes Mitglied der Redaktion einzusendeu, von dem sie um daS Referat ersucht worden ist.

Ältere Jahrgänge der KrBSchr. Wir bieten an Bd. 1—52, herausg. von Pözl usw. Mit Vorläufer: Kritische Überschau Bd. 1—6 München 1853-1914. geb. Mk. 180.—. ------- Teilwe 1 se vergriffen. -------

Desgl. Bd. 47-52, München 1907-1914, geh. Mk. 50.—.

München, Gttoftr.I. Schweitzer Sortiment (Arthur Sellier) Buchhandlung, Antiquariat und Mietbücherei.

Zum Seekriegsrecht!

Das internationale Prlsenrechl nach den Beschlüssen der II. Haager Friedens- und der Londoner Seekriegrechts-Konferenz.

Von

Dr. jur. et rer. pol. Otto Hirschmann,

Rechtsanwalt in Nürnberg.

Gr. 8°.

164 S.

Geheftet Mk. 4.50.

Das Werk gibt eine vorzügliche Übersicht über das weite zurzeit noch nicht völlig geklärte Gebiet des Prisenrechts auf Grund der letzten internationalen Konferenzen. J. Schweitzer Verlag (Arthur Sellier) München, Berlin und Leipzig.

I.

Rechtsphilosophie. 1. Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhänge über Kant und Nietzsche. Von Hans Vaihinger. Zweite durchgesehene Auflage. 804 S. Berlin 1913, Reuther & Reichard.

Die neue Erkenntnislehre, welche in diesem Buche nieder­ gelegt und durch alle Gebiete menschlichen Denkens und §an=

deins in überaus anregender Weise mit staunenswerter Gelehr­ samkeit, wahrhaft polyhistorisch durchgeführt ist, beruht auf dem

Gedanken, daß unser Denken berechtigt und genötigt ist, gegen­

über der vollen Wirklichkeit in weitem Umfange mit bewußt falschen (bzw. unvollständigen) Annahmen zu operieren, d. h. zu Fiktionen oder „Als ob"-Ausnahmen (per inde ac, ac si, si

esset usw.) seine Zuflucht zu nehmen, wie dies denn auch tat­ sächlich viel mehr der Fall ist, als man es je bei allem Me­ thodenstreit bisher beachtet hat. Der Versuch, den Ausführungen

des Verfassers, in welchen die wiedergegebene These nachge­ wiesen wird, im einzelnen zu folgen, würde wiederum ein selb­

Die gegenwärtige Besprechung soll

ständiges Buch erfordern.

sich deswegen zunächst vorwiegend auf die Erörterung der Frage

beschränken, ob und wie weit der Verfasser gerade was die Rechtswissenschaft angeht, das Richtige trifft.

Ehe aber das

hiermit bezeichnete Hauptthema dieser Besprechung in Angriff genommen wird, muß es gesagt werden, daß wir es bei dem

Buche Vaihingers mit einem Werk zu tun haben, an dem nie­ mand vorübergehen kann und darf, der sich überhaupt wissen­

schaftlich beschäftigt, ja noch mehr: dieses Werk gehört zu denen,

die nicht nur benutzt und zitiert, sondern auch gelesen und studiert zu werden verdienen.

Und das will bei einem Buche, das über

800 Seiten stark ist, viel sagen. ilrit. Vierteljahresschrift,

r.

Es fließt hier eine in unge-

Feige. Bd. XVII- Heft 2.

11

164

I. Rechtsphilosophie.

ahnten: Maße reiche Quelle der Anregung. Die interessantesten geistigen Zusammenhänge erscheinen in neuem eigentümlichen

Lichte.

Wie der Inhalt des Buches selbst, so interessiert auch

in höchstem Maße seine Entstehungsgeschichte. Sie ist zugleich die Lebensgeschichte seines bedeutenden Verfassers, von einer

besonderen Seite her gesehen.

Was dieser hier selbst in der

Vorrede zur zweiten Auflage mitteilt — in der ersten Auflage hatte er sich aus einem bestimmten Grunde zunächst nur als

Herausgeber bezeichnet — findet eine wichtige Ergänzung durch die in den Kant-Studien XVI (1911) S. 108—115 erfolgte

Selbstanzeige.

Die durch die Philosophie des „Als ob" ge­

zeitigte abgeleitete Literatur *) ist S. VI und VII der Vorrede angeführt. Hinzuzufügen ist für die Jurisprudenz unter anderem

der Aufsatz von Mannheim, die Philosophie des „Als ob" und ihre Bedeutung für das Strafrecht, Monatsschrift für Kriminal­ psychologie und Strafrechtsreform, 11. Jahrgang. Die grund­

legendste Einteilung der Fiktion findet Vaihinger zutreffend darin, daß es echte und S e m i fiktionen gibt.

Während die

ersteren einen Widerspruch in sich selbst enthalten, den man aus praktischen Gründen zunächst begeht, um ihn nachher wieder zu beseitigen, wird bei den letzteren lediglich von der Wirklich­ keit abgewichen.

Die sog. juristischen Fiktionen, wie sie die

Rechtsgeschichte und auch die heutige Gesetzgebung in großer Anzahl aufweist, gehören fast durchgängig zu den Semifiktionen. Eine kritische Stellungnahme vom Standpunkte der systematischen

Rechtswissenschaft würde den in Vaihingers Werk sich verschie­ dentlich findenden Bemerkungen über juristische Fiktionen inso­

fern nicht eigentlich gerecht werden können, als Vaihinger eine Untersuchung nach dieser Richtung hin kaum anstellt. Wir geben daher im folgenden eine kurze Skizze, in der

wir die eigene Anschauung darzulegen versuchen. In diese DarT) Zum Studium dieser Literatur hat der Referent leider keine Zeit

gefunden.

Baihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

165

legung soll das Urteil über die Bemerkungen Vaihingers mit­ eingeflochten werden. Die juristischen Fiktionen beruhen geschichtlich meist darauf, daß man die Entscheidung für einen bisher traditionell nicht aus­

drücklich geregelten Fall von anderen Fällen hernimmt, deren

wesentliche Merkmale sich mit dem des neuen Falles decken.

Das für unwesentlich gehaltene des neuen Falles wird weg­ fingiert. Fehlendes Wesentliches wird hinzufingiert. Tiefer ge­

sehen, liegt hier ein dem Menschen angeborenes Bestreben zu­ grunde, das Neue auf Altes zu bauen, dies aber so, daß man

das Neue nicht offen einzuführen wagt, sondern es als schon

Bestehendes erscheinen lassen möchte.

Tatsächlich kann man

auf diese Weise ganz neuen Bildungen Eingang verschaffen,

indem man nur in einem formalen Sinne konservativ ist. Wissenschaftlich wird ein entsprechendes Verfahren unter Weg­

lassung der fingierenden Form als Analogie geübt. Es beruht auf Vergleichung des zu beurteilenden Tatbestandes mit einem

anderen, für den man die Entscheidung bereits kennt.

Diese

Vergleichung ergibt, daß auf beide Tatbestände ein oberes Kri­

terium zutrifft, welches man bewußt oder unbewußt für wesent­

lich erklärt. Soll dieses Verfahren Anwendung schon bestehen­ den Rechts sein, so beruht es auf der Voraussetzung, daß jenes

Kriterium einen Obersatz bedeutet, der dem geltenden Rechte angehört, wenn er auch nicht dem unmittelbaren Inhalt

des formulierten Gesetzesworts entspricht.

Das wird der Re­

ferent anderen Orts näher auszuführen und zu begründen ver­

suchen.

Auch Vaihinger weist auf die „Verwandtschaft" von

Fiktion und Analogie gelegentlich hin?) Die große geschichtliche Rolle, welche die Fiktionen in der Rechtsentwickelung besonders bei ’) Sehr interessant ist auch die Darlegung über die logische Verwandt­ schaft mathematischer und juristischer Arbeitsweise, welche nach V. den Logikern bisher meist entgangen ist, soweit sie nicht (wie Aristoteles und Baco) ge­ nügende universalistische Schulung und Kenntnis einzelwissenschaftlicher Methode besassen.

Cf. S. 46 ff., 76 ff.

den Römern und in England gespielt haben, wird von Vaihinger im allgemeinen recht zutreffend gewürdigt. Er legt großen Wert auf die Bezeichnung ,actio utilis‘. Die Fiktion bestehe eben in einer Abweichung von der Wahrheit um der Nützlich­ keit willen. Auch auf die (freilich wohl erst Justinianische) Schematisierung der klassischen ,variae causarum figurae1 als Quasikontrakte und Quasidelikte macht Vaihinger aufmerksam. Die berühmte ,fictio legis Corneliae1 und manches andere findet Erwähnung. Ergänzend ist die besonders interessante Fiktion der Geisteskrankheit des lieblosen Testators hinzuzufügen. Sach­ lich bedeutet sie nichts anderes als die Einführung eines sogen, materiellen Noterbrechts. Der übergangene Abkömmling hat die „querela inofficiosi testamenti“, mit welcher er die Nichtig­ keit der Enterbung auf Grund des „color insaniae“ geltend macht. Erwähnt sei ferner der Satz ,confessus pro iudicato est‘. Er wird bekanntlich in dem Institut der ,in iure cessio4 benutzt. Jemand wird zu Unrecht beklagt. Er räumt ein. Dann ist der Kläger im Effekt Berechtigter. Eine besondere Anwen­ dung findet sich, wie man weiß (nicht nur bei den Römern) im Freiheitsprozeß. Die Freilassung des Sklaven wird da­ durch vollzogen, daß seine Freiheit seitens eines ,vindex‘ be­ hauptet und von der Gegenseite zugegeben wird. Auch mag bei dieser Gelegenheit aus dem Recht der Schuldverhältnisse die Gleichstellung der ,compensatio1 mit der ,solutio‘3) nicht unerwähnt bleiben; sodann aber gehört in dieses Kapitel vor allem die acceptilatio in ihrer Funktion als Erlaßvertrag. Man hat deswegen die Akzeptilation nicht unpassend geradezu *) Cf fr. 4 D. qui pot. in pi^n. 20, 4 . . . creditumque pensaverit cum pretio rei venditae dicendum est per in de haberi debere, ac si priori creditori pecunia soluta esset: nec enim interesse, solvent an pensaverit: cet. Die Gleichstellung mit dem ,solutam esse pecuniam* braucht der Jurist hier wegen der Formel der actio hypothecaria, die ja bekanntlich sagt: ,eamque pecuniam neque solutam esse neque eo nomine satisfactum*. Vgl. ferner Noodt ad tit. D. de compens. 16, 2 — opera tom. II — „mutua solutio iuris Interpretatione quasi per brevem manum facta“.

als ,velut imaginaria solutio* charakterisiert (Gaius III 169). Wurde ursprünglich im Falle reeller Zahlung auf die Frage des Stipulationsschuldners ,habesne acceptum* ,acceptum habeo* geantwortet, weil die bloße Tatsache der Zahlung mangels eines contrarius actus nicht ausreichte, um das Schuld­ verhältnis zu einem ,ipso-iure'-Erlöschen zu bringen, so wurde später, auch wenn nicht gezahlt war, mittels der Akzeptilationsstipulation so getan, als ob gezahlt wäre, wenn man das Schuldverhältnis ohne Zahlung zum Untergang bringen wollte. Liegt so in der Tat geschichtlich auf dem Wege zur Rechtsfolge die Fiktion, so liegt auf dem Wege zur Fiktion die Vermutung, welche oft die Tendenz haben wird, in eine „Fiktion" überzu­ gehen. Dies äußert sich nicht selten in der Form der sogen, praesumtio iuris et de iure. Von der einfachen Vermutung, die durch die Lebensverhältnisse gegeben ist und an welche das Recht anknüpft (sogen, praesumtio facti) bis zu der speziellen gesetzlichen Vermutung (praesumtio iuris) gelangen wir zur „Fiktion". So ist es bekannt, daß das gesetzliche Pfandrecht an den Jnvekten und Jllaten des Mieters oder Pächters von praedia urbana, das sich offenbar so gebildet hat, daß in der Regel das Eingebrachte dem Vermieter oder Verpächter vertraglich verpfändet wurde, bis man diesen Vertrag vermutete und schließ­ lich fingierte, von den Römern ausdrücklich auf eine ,tacita conventio* zurückgeführt wird. Und es hat sich noch in den Digesten Justinians als Überschrift des entsprechenden Titels XX, 2 der Satz erhalten: „In quibus causis pignus vel hypotheca tacite contrahitur.“ Bei Neratius, libro primo membranarum heißt es ferner ganz charakteristisch: ,Eo iure utimur ut quae in praedia urbana inducta illata sunt pignori esse credantur, quasi id tacite convenerit: in rusticis praediis contra observatur* (fr. 4 pr. h. t.). Ebenso bei Ulpian, libro septuagesimo tertio ad edictum: ,in praediis urbanis tacite solet conventum accipi,

ut perinde teneantur invecta et illata ac si specialiter con verrisset*. Höchst interessant ist es, daß sich in diesen beiden Stellen die Fiktion einer tacita conventio bereits zur regulativen Idee verflüchtigt hat.^) Es wird der Tatbestand der Ein­ bringung nicht als eine vertragliche Verpfändung aufgefaßt. Man versucht nicht mehr, die Rechtsfolge der Pfandhaftung aus dem Parteiwillen mit aller Gewalt herauszuholen. Man enthält sich der Fiktion stillschweigender Vereinbarung. Es wird eben eine Rechtsfolge konstatiert. Der konstitutive Charakter eines mindestens implicite erklärten Einverständnisses über den Verpfändungserfolg ist entschwunden; von der Hilfe eines auf den Rechtserfolg zielenden, in der Empirie wirklichen Parteiaktes hat man sich emanzipiert; nur als in Wirklichkeit nicht erklärter, aber die Beurteilung der Rechtsfolge erleichternder Maßstab ist der Parteiwille stehen geblieben. Verallgemeinert man diese Betrachtung, so wird man zu der normenwissenschaftlich allein haltbaren Auffassung des Verhältnisses von Parteiakt und Rechtsfolge geführt. Der Parteiakt wird in die ihm gebührende Stellung herabdrückt. Nicht er, sondern die ihm vom Gesetz beigelegte Bedeutung ist die Ursache für die Rechtsfolge, als deren bloße Bedingung (condicio iuris) der Parteiakt nach dem Gesetze erscheint.^) 4) Ähnlich fassen Rousseau und später Kant den „contrat social“ auf, worüber in neuerer Zeit besonders Del Vecchio gehandelt hat. Die Menschen sollen in ihrer Verbundenheit sich so gegeneinander verhalten, als hätten sie einen Vertrag geschlossen. Über die „Fiktion" des ursprünglichen Vertrags findet sich bei V a i h i n g e r manches Lehrreiche, was dort nachgelesen werden mag. Ferner ist hier noch zu erwähnen der Fiktionsgedanke bei der Litiskontestation, dessen Geschichte jetzt von R. Sohm junior in geist­ reicher Weise verfolgt wird. Indes deutet iudicio contrahere so wenig auf einen Vertrag hin wie d elic tum contrahere. Contrahere heißt vielmehr nur: eine obligatorische Wirkung auslösen. 8) Dies ist neben manchem anderen dem Versuch von Rein ach, die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts (Jahrb. f. philos. und phäno-

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

169

Ein interessantes Beispiel dafür, wie der römische Jurist, um eine schwierige Situation zu erklären, zunächst in scharf­

sinniger Weise zur Fiktion greift, um diese Fiktion dann sofort

zu überwinden, bildet fr. 36 D de fideiussoribus et mandatoribus 46, 1.

Der hier von Paulus behandelte Tatbestand

ist folgender: Einer von mehreren Mitbürgen leistet dem Gläu­

biger Zahlung und dieser tritt ihm die Klagen gegen den Hauptschuldner und die übrigen Bürgen ab. Es erhebt sich die

Schwierigkeit: Wie können die Klagen abgetreten werden, da

doch Hauptschuldner und Mitbürgen durch die Befriedigung6) des Gläubigers befreit werden? Diese Schwierigkeit wird durch die Annahme beseitigt, daß hier gewissermaßen ein Verkauf

der Klagen stattfinde, wobei die Schuldsumme lediglich als Kauf­

preis figuriert. Dann aber fährt der Jurist fort: ,et ideo habet actiones quia tenetur ad id ipsum ut praestet actiones.* *

Der oberflächliche Betrachter wird hier sofort geneigt sein, in

diesen Worten eine petitio principii zu erblicken und Justinian

hierfür verantwortlich zu machen.

Scheint es doch als ob der

selbstverständliche Gedanke, von dem die Stelle ausgeht, daß

von der Existenz der Klagen ihre Abtretbarkeit abhängt, hier plötzlich in sein gerades Gegenteil verkehrt würde. Indes glaube ich, daß gerade dieser letzte Satz der Stelle weit entfernt davon

ist, gegen die Gesetze der Logik zu verstoßen.

Vielmehr weist

er eine Betrachtungsart auf, die unserer modernen Erkenntnis

entspricht und die dem Scharfsinn des Paulus alle Ehre macht.

Wenn die Rechtsordnung die Abtretung der Klagen verlangt, so erkennt man hieraus, daß der Abtretungspflichtige trotz

des entgegengesetzten Scheins die Klagen (sc. zum Zwecke der

Abtretung) in Wirklichkeit noch hat.

Das Dogma von der

menologische Forschung, Bd. I. Halle a. d. Saale 1913) entgegenzuhalten. Reinach will — unbeschadet der Bestimmungen des positiven Rechts — ge­ wisse grundlegende Rechtsfolgen mit apriorischer Gewißheit aus der Natur der sozialen Akte ableiten, die den jeweiligen Tatbestand konstituieren. •) Der Jurist sagt ,pereeptio* statt ,solutio‘, was Levy m. E. zu Un­ recht für ein Jnterpolationsindiz erklärt.

Liberation der mehreren Schuldner greift eben der neueren Rechtsentwickelung zufolge nicht mehr durch. Diese Erkenntnis bringt Paulus im letzten Satze der Stelle in prägnanter Weise zum Ausdruck. Er führt damit den Grundgedanken der römi­ schen Juristen zum Siege: ,non ex regula ins sumatur, sed ex iure quod est regula fiat** *(fr. § I D. 50, 17). Hat doch Paulus im sechzehnten Buch seiner ad Plautium 1. XVIII diese methodische Grundregel in der obigen Formulierung selber ausgesprochen. Auch hier zeigt sich also Paulus durchaus als „ein feiner logischer, zuweilen überlogischer Denker"?) Gerade der neuerdings allgemein beanstandete „et ideo"-Satz liefert eine interessante Bestätigung und Rechtfertigung dieses Urteils. Wer gegen den „et ideo**-Satz, wie er hier erklärt wurde, weiterhin disputieren wollte, würde den Vorwurf zweier metho­ discher Vergehen auf sich nehmen müssen, nämlich den der Ver­ wechselung von Real- und Erkenntnisgrund sowie von synthe­ tischen und analytischem Urteil. Realgrund für die Existenz bzw. Aufrechterhaltung der Klagen ist lediglich der objektive Rechts­ wille, das objektive Recht. Der Rechtswille, der die Abtretung der Klagen verlangt, wird, so können wir annehmen, zur Vor­ aussetzung haben, daß der Abtretende die Klagen hat?) Wir erkennen also aus dem Abtretungsverlangen, daß die Klagen be­ stehen geblieben sind. Ein solches Bestehenbleiben ist logisch möglich, da der Satz, daß Forderungen bzw. Klagrechte wegen Forderungen durch Erfüllung erlöschen,s) lediglich auf Rechts­ gebot beruht, also ein synthetisches, nicht aber ein aus dem Begriff der Forderung zu folgerndes analytisches Urteil ist. So ’) Kipp, Geschichte der Quellen des römischen Rechts.

3. Ausl. 1909

S. 138. ’) Ebenso setzt ja im heutigen deutschen Recht der von Gesetzes wegen eintretende Übergang der Forderung voraus, daß sie bestehen bleibt. Daß

§ 362 BGB. viel

zu allgemein gefaßt ist, bemerkt auch von Gierke,

Dauernde Schuldverhältnisse, JheringsJ. Bd. 64 S. 363.

’) Gerade im römischen Recht galt ja mit Rücksicht auf gewisse Vorschriften des strengen Rechts (contrarius actus!) dieser Satz nur in beschränktem Umfange.

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

171

bedarf es denn der Hilfsweise zunächst eingesetzten Fiktion einer, .quodammodo venditio* in Wahrheit gar nicht.

Sie dient

dem Juristen nur als ein konstruktives Hilfsmittel, -das er einen Augenblick in Erwägung zieht, um dann im Schlußsatz

der Stelle sofort zu der richtigen Erkenntnis vorzudringen, daß systematische Rechtswissenschaft die Fiktion gar nicht benötigt. So zeigt sich, daß die Fiktion ein Weg ist, dessen Bedeutung

in der systematischen Rechtswissenschaft im umgekehrten Ver­ hältnis zu seiner historischen und psychologischen Rolle steht?")

Für den Text des Gesetzes hat die Fiktion den Wert einer Formulierung, durch welche sprachliche Schwierigkeiten und lang-' atmige Wiederholungen erspart bleiben.

Wir haben es also

mit einer Breviloquenz zu tun. Die fingierende Formulierung gibt dabei nicht immer das Kriterium wieder, welches für die gesetzgeberische Regelung entscheidend ist. Die „Fiktionsbasis"u)

ist dann lediglich aus Gründen jener Breviloquenz gewählt. Ist beim Ausbleiben des Beklagten im Termin zur mündlichen

Verhandlung, falls der Kläger Versäumnisurteil beantragt, das tatsächliche Vorbringen des Klägers „als zugestanden anzu­

nehmen" (§ 331 Abs. 1 ZPO.), so liegt dem Gesetzgeber und

der Rechtswissenschaft von heute der Gedanke völlig fern, an eine innerliche Verbindung von Nichterscheinen und Zugestehen

zu glauben, in der Art, daß der Nichterscheinende vermutlich zugestehe??) Das Gesetz will vielmehr lediglich, daß die Rechts­

verfolgung möglichst unabhängig von dem guten Willen des

Gegners sei.

Es wird deshalb vermittelst jener fingierenden

,0) Von demselben Gesichtspunkt ausgehend, würdigt Bern Höft (zur Lehre von den Fiktionen 1907 S.-A. aus der E. I. Belker zum 16. August 1907 gewidmeten Festschrift) eine große Reihe von Tatbeständen des deutschen bürgerlichen Rechts. Grundsätzliches bei Bernhöft S. 7. ll) Bekker, System des heutigen Pandektenrechts, Bd.II S. 100. ") Ähnliches läßt sich z. B. bei § 295 ZPO. aus führen. Zu erwähnen sind ferner die Fälle „fingierter" Zustellungen (§§ 175 ff. ZPO.): durch Auf­ gabe zur Post; (88 204 ff. ZPO.): öffentliche Zustellung. Es sind Fälle, in denen das Gesetz von der Zustellung absieht und die sonst von der Zustellung abhängige Rechtsfolge durch andere Akte bedingt sein läßt.

172

I. Rechtsphilosophie.

Formulierung

verordnet,

der

ordnungsmäßig

geladene

Be­

klagte solle im Falle seines Nichterscheinens durch sog. Ver­ säumnisurteil verurteilt werden, wenn die vom Kläger vor­ getragenen Tatsachen eine genügende juristische Grundlage für

die aufgestellte Rechtsbehauptung bilden.

Hierbei werden aber

die zu „unterstellenden" Tatsachen nicht fingiert. Vielmehr soll die Frage, ob diese Tatsachen wirklich gegeben sind, gänzlich un=

entschieden bleiben. Es soll nur darauf ankommen, ob die Klage in sich „schlüssig", d. h. ohne logischen Widerspruch und recht­

lich irrtumsfrei begründet ist. Die Beispiele für derart bloß sprachliche Fiktionen tut Ge­

setzeswort ließen sich häufen.

„Gilt" nach § 892 BGB. der

Inhalt des Grundbuchs zugunsten des redlichen Erwerbers „als

richtig", so wird damit nur die Rechtsfolge angeordnet, daß unter gewissen Bedingungen ein Erwerb von Grundstücksrechten

auf Grund einer Verfügung des Scheinberechtigten stattfinden

soll.

Das Rechtsgesetz braucht nicht zu fingieren.

Es kann

tfeketieren.13) Vaihinger scheidet nicht genügend die Bedeutung, welche die Fiktion für die Römer mit ihrem begrenzten Klagen­

schematismus hatte von derjenigen, die ihr in unserem modernen Gesetzessystem zukommt.

Dieses erheischt die Fiktion keines­

wegs so notwendig wie der Gelehrte glaubt. So war es nicht

glücklich, wenn sich Vaihinger (sein Werk ist ja im wesent­ lichen vor 40 Jahren abgefaßt gewesen) auf den Art. 377 des

alten Handelsgesetzbuchs berief.

Denn hier liegt eben wieder

nur jene Breviloquenz vor, welche soeben erläutert wurde.") 13) Bernhöft, a. a. O. (S. 7); Pagel, Beiträge zur philos. Rechtslehre, Berlin 1914, S. 39—41. Vgl. auch Mannheim, in dem eingangs zitierten Aussatz. S. a. Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft S. 328ff., bes. S. 33>; Bülow, Arch. s. die zivilist. Praxis, Bd. 62S. 69; Beling, DIZ. 1915 S. 129 ff. (handelt von der sog. Exterritorialitätsfiktion). u) Andere Beispiele dieser Art: § 21 Abs. 1 WO., § 5 des Gesetzes über die Abzahlungsgeschäfte, §§ 84, 162, 1319, 1717, 1949 Abs. 2, 1953 Abs. 1 BGB. usw. Es bedarf keiner Erwähnung, daß es etwas anderes ist, „Vater" im Rechtssinne zu sein als im biologischen Sinne. Ebenso gehören im Wasser­ recht zu den „Fischen" auch gewisse Säugetiere. Mobilien (z. B. Schiffe) werden

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

173

Ferner darf es, wie ich in meinen „Beiträgen zur Philo­

sophischen Rechtslehre"15 * *)16 * *bemerkt *** habe, nicht als Fiktion in Anspruch genommen werden, wenn im Gesetz auf einen Zustand abgestellt ist, der unter bestimmten Bedingungen vorhanden

gewesen

sein

würde.

So

ist

eine

Willenserklärung

nach

§ 1191 BGB. wegen Irrtums u. a. nur dann anfechtbar, wenn anzunehmen ist, daß der Erklärende sie bei Kenntnis der

Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht ab­ gegeben haben würde.

Hierher gehört ferner z. B. die Rück­

sichtnahme auf den mutmaßlichen Willen des Geschäftsherrn

bei der sog. negotiorum gestio, der Geschäftsführung ohne Auf­

trag (vgl. § 677 i. f. BGB.). In allen diesen Fällen kommt es auf das Urteil über das Ergebnis einer verständigen Würdi­ gung seitens des Erklärenden, über den mutmaßlichen Willen

des Geschäftsherrn usw. an. Eine Fiktion verständiger Würdi­

gung, des mutmaßlichen Willens usw. findet nicht statt. Das Gesetz schreibt eine solche Fiktion nur in dem Sinne vor, daß

der Beurteiler sich ein Urteil über einen mutmaßlichen Zustand zu bilden hat. Ähnlich liegt es, wenn das Gesetz die „im Ver­

kehr erforderliche Sorgfalt" als Norm hinstellt, wozu Danz noch den „verständigen Normalmenschen"") hinzugefügt hat. Aus dem Gebiete des materiellen Justizrechts bieten die

Lehre von der Vermutung und von der sog. „materiellen Rechts­ kraft" gute Beispiele, an denen sich zeigen läßt, wie die systein gewissen Beziehungen als Immobilien behandelt. Das sind keine Fiktionen, sondern überall nur analogisierende Breviloquenzen. Es werden bestimmte Rechtssätze von einem ausdrücklich geregelten Tatbestand« aus andere Tat­ bestände übertragen. Vgl. auch Müller-Erzbach, Über die Relativität der Begriffe und ihre Begrenzung durch den Zweck des Gesetzes in JheringsJ. 1912 S. 342ff., vgl. S.366ff. S. ferner jetzt Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1914, S. 199 ff., 202. 15) S. 40. 16) Die Danzsche Lehre geht m. E. zu weit. Mehr als eine praesumtio facti kann der Gemeingebrauch nicht schaffen. Eine objektive „Bedeutung" im Danzschen Sinne (vgl. dessen Ausführungen in der DIZ. 1914, S. 841 ff.) mag es geben. Aber das darf nicht zur Vergewaltigung individueller Ver­ hältnisse und zu einem unerträglichen Formalismus führen.

174

I. Rechtsphilosophie.

malische Rechtswissenschaft ein „Als ob" aufzufassen hat. Kraft

der Vermutung verlangt das Gesetz vom Richter, daß er eine Entscheidung auf eine bestimmte Tatsache gründen solle, ohne zu untersuchen, ob diese Tatsache sich wirklich ereignet hat, vor­

ausgesetzt, daß ein Streitteil nicht den Beweis des Gegenteils führt. „Materielle Rechtskraft" bedeutet, daß unter bestimmten Bedingungen nicht anders geurteilt werden darf, als es ohne

Widerspruch mit dem Inhalt einer früheren Entscheidung mög­ lich ist.*17) Wird dieser rechtliche Imperativ in concreto dolos

und materiell rechtswidrig herbeigeführt, so „gilt er als nicht

eingetreten".

D. h. die materielle Rechtskraft eines formell

rechtskräftigen Richterspruchs bleibt aus,.18)

Endlich mag bei dieser Gelegenheit noch auf einige inter­ essante Typen aus dem Bereich der Naturalobligationen hin­

gewiesen sein, bei denen man an Fiktionen denken könnte. Das Verlöbnis verpflichtet (wie ich glaube) nicht zur Eingehung der Ehe, wohl aber zur Beobachtung eines Verhaltens, welches vor­

aussetzt, daß die Parteien die Ehe miteinander eingehen wollen.

Es ist alles so zu halten, als ob die Parteien die Ehe mit­ einander eingehen werden, auch wenn dies nachher nicht der Fall ist.18)

Ferner: ,Qui sciens indebitum solvit, solutum

repetere non potest*. Der Zahlende handelt hier, als ob eine

Obligation vorläge, während dies in Wirklichkeit zunächst nicht

der Fall ist.

Es wird damit m. E. eine Naturalobligation

geschaffen und gleichzeitig erfüllt. Allgemein ist zu sagen: Das spezifisch juristische Moment besteht nicht in etwas Körperweltlichem, sondern in rein nor­

mativen Inhalten.

Die Realität aller Rechtsinhalte ist die

Realität des Gedachten.

Diese Erkenntnis gibt der Rechts-

n) ,Res iudicata pro veritate accipitur/ Eine andere Formulierung ist bekanntlich: ,Res iudicata ius facit inter partes/ 18) Vgl. Pagel/ „Prozessieren wider Treu und Glauben, zugleich ein Beitrag zum Kapitel Schuldnernot und zum Problem der absoluten Rechts­ kraftwirkung" im „Rechtsgang" Bd. II Heft 2, im bes. S. 208 ff., 211 ff. ie) Ähnlich Stammler, Die Lehre vom richtigen Recht, S. 566.

175

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

Wissenschaft sicheren Halt.

M. a. W.: Die Rechtswissenschaft

ist reine Geisteswissenschaft, nicht Naturwissenschaft. der

Logik

und

Logik

Mathematik.

sind normative Wissenschaften.

und

Sie ähnelt

Rechtswissenschaft

Das Wesen dieser sog. prak­

tischen Wissenschaften ist dies, daß sie in reiner Theorie auf­ gehen.

Erst mittelbar finden sie praktische Anwendung, erst

mittelbar werden die Gegenstände der sog. Außenwelt in die

Betrachtung einbezogen, sofern man eben rechtswissenschaftlich (nicht soziologisch) benti.20)

Die Rechtswissenschaft darf alle

Probleme naturphilosophischer Art von sich ablehnen.

Ja, sie

muß dies tun, wenn Jrrgänge vermieden werden sollen. Damit ist die Stellung der systematischen Rechtswissenschaft zum Fik­ tionsproblem

gekennzeichnet.

Gleichzeitig

fällt

auf

manches

Problem, das bisher schier unlösbar schien, neues Licht.

In erster Reihe steht hier der alte Streit um die Realität der Körperschaft. Dieser Streit ist ohne juristischen Ort. Denn

die Rechtssubjektivität muß als spezifisch normative Größe erfaßt werden.

Sie ist dann nichts weiter als eine formale

Bedingung, die durch eine vollständig beinhaltete Rechtsnorm nach der Seite der „aktiven Zuständigkeit" erfordert wird; ihre

materiale Ausfüllung erhält diese Bedingung durch die einzelne Norm selbst.21)

So kann eine körperweltliche Mannigfaltigkeit

zur rechtlichen Einheit werden.

Damit wird der bereits von

Dahn22) für ein beschränktes Gebiet ausgesprochene und auf diesem Gebiet von Gareis22) folgerichtig durchgeführte Gedanke

der relativen juristischen Persönlichkeit zu dem Gedanken von der

Relativität

der Rechtsfähigkeit

überhaupt.

Die

gesamt-

M) Die Rechtswissenschaft ist insofern „nomothetisch", nicht „idiographisch" (Windelband).

Vgl. aber die geistvolle Darlegung Radbruchs (Grund­

züge der Rechtsphilosophie, 1914 S. 204 ff.).

**) Vgl. meine Beiträge, Kap. III. ss) Handelsrechtliche Borträge, 1875 S. 73.

”) S. dessen Darstellung des Handelsgesellschastsrechts (in seinem Lehr­ buch des Handelsrechts).

176

I. Rechtsphilosophie.

händerische Personenmehrheit, das selbständige Sondervermögen,

die noch nicht genehmigte Stiftung, der ,nasciturus*, welcher ,pro iam nato est“, sind typische relative Rechtssubjekte. Jedoch

auch die scheinbar absoluten Rechtssubjekte sind immer nur unter dem

Gesichtspunkt

einer

bestimmten

Rechtsordnung

Rechts­

subjekte. Und auch diese Formulierung ist noch nicht genau. Über die Rechtsfähigkeit entscheidet die einzelne Rechtsordnung

niemals generell.

Vielmehr ist, wie angedeutet, die einzelne

Norm maßgebend. Das dem Vater herauszugebende Kind, die von einem Dritten nicht zu berührende Ehefrau sind vom Stand­ punkt des berechtigten Vaters oder Ehemannes, also nach den

die fremde Einwirkung verbietenden Normen, Rechtsobjekte. Als

aktive Teilnehmer am Rechtsverkehr, also unter dem Gesichts­ punkt anderer Normen, sind sie Rechtssubjekte.

Endlich ist es keine Fiktion, wenn ich ähnlich wie Schuppe

die Geltung alles Rechts auf ein „Bewußtsein überhaupt" grintbe.24) Es bedeutet dies nur, daß den Vorgängen des Lebens,

soweit wir sie rechtlicher Beurteilung unterziehen, unabweisbar ein Allgemeines inncwohnt.

Dieses Allgemeine besteht darin,

daß der Handelnde die (wenn auch noch so relative) Gleich­

setzung eines anderen Wesens mit sich selbst vollzieht.

Hier­

durch erfährt die formale logisch-ethische Grundregel: du sollst den Gleichen in gleicher Lage gleich behandeln, materiale Aus­ füllung. Die positive Gesetzgebung (des Staats usw.) wird von

diesem Standpunkt aus zu einer sekundären Rechtsquelle, die vom Bewußtsein mitgewollt ist.

Es bleibt noch die Aufgabe, zu Vaihinger zurückzukehren und die neue Erkenntnistheorie, die uns hier entgegentritt, mit

wenigen Strichen zu verfolgen, um dann ganz kurz unsere kri­ tische Stellungnahme hinsichtlich des Erkenntnisproblems zu

präzisieren. Es ist eine zweite Revolution der Denkart, der wir gegenüberstehen. Auf Grund der Aufweisung, wie die echte und

semifingierende Methode neben Induktion, Deduktion und Hypo14) S. vorläufig meine Beiträge, Kcip. IV u. V.

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

177

these tritt, wird der Versuch gemacht, Kant durch immanente Kritik fortzubilden und es wird von hieraus der Weg zu Nietzsche gewiesen. In seiner Lehre von den regulativen Ideen habe Kant

selbst der Als Ob-Betrachtung vorgearbeitet. „Ich" und „Ding

an sich" seien nur methodische Hilfsbegriffe, Rechnungsansätze, die Kant bei seiner kritischen Selbstbesinnung zum Beweise, daß ein materiales a priori nicht möglich sei, habe einführen

müssen.

Subjekt und Objekt seien, wie alle Kategorien „ana­

logische Fiktionen", Mittel zur Berechnung der Außenwelt. Die

Wirklichkeit werde nicht im Denken, sondern in der Intuition

erfaßt. Im Denken zerlegen wir die Wirklichkeit, um sie mittels

eines fingierenden Verfahrens verständlich und mitteilbar zu machen. Wenn wir von Ding und Eigenschaft reden, so ist es

in Wirklichkeit ein Empfindungskomplex, z. B. Weiß-Süß, zu dessen Mitteilung wir die Empfindung z. B. des Weißen in ein

unwirkliches „Ding" (z. B. das Stück Zucker) verlegen, um von diesem die zugehörige Empfindung des Süßen als Eigen­

schaft prädizieren zu können. Mit Hilfe der Fiktionen vom Ding und Eigenschaft, Ursache und Wirkung, Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen ermöglichen wir uns in dieser Art eine Orien­

tierung, die auf dem Nutzen beruht, den sie uns bietet, ohne auf objektive Gültigkeit (außerhalb unserer eigenen Organisation) Anspruch machen zu können. Es gibt daher nur eine Wahrheit

für uns, und diese beruht auf dem Nutzen, auf ihrer Förderlich­ keit für die Unterwerfung der Natur unter unsern Lebenszweck.

Das Wahre ist das Nützliche, Lebensfördernde, sich Bewährende. Was uns nicht oder nur in geringem Grade fördert, ist Irrtum.

Auch der Irrtum ist nötig, insoweit und solange er uns fördert. Das weniger Zweckentsprechende muß dem Zweckentsprechenderen

weichen. Ersteres heißt dann Irrtum, letzteres Wahrheit. Vai­ hinger vertritt also die Lehre, die als „Pragmatismus" (James,

Schiller-Oxford) bekannt ist. Allerdings ruhen Vaihingers Dar­ legungen auf tiefer gelegten Fundamenten, deren Ausbreitung

nicht die Aufgabe der vorliegenden Besprechung sein kann. Nicht

178

I. Rechtsphilosophie.

ganz ohne Recht behauptet V. deshalb, daß der „Pragmatismus"

bei ihm nicht in der „korrumpierten Gestalt" auftrete, wie ihn Amerika „auf den Markt gebracht" habe.2^)

Daß eine solche

Lehre für das diskursive Denken notwendigerweise in sich wider­ spruchsvoll ist,26) entgeht dem Verfasser nicht.

Der Als-ob-

Philosoph zieht hieraus die von seinem Standpunkt aus not­ wendige Konsequenz:

Er erkennt im Widerspruch das Prin­

zip des im ständigen Flusse begriffenen Seins „Die ständige

Aufhebung und Wiederherstellung des logischen Gleichgewichts

ist das von Hegel geahnte Prinzip der menschlichen Denk­ bewegung". Hegel

lehrte,

Aber Denken und Wirklichkeit sind nicht, wie

identisch.

Das

Denken

besteht

fortgesetztem Abweichen von der Wirklichkeit.

misch, das Denken statisch.

vielmehr

in

Diese ist dyna­

Es setzt im Wege von Fiktionen

Ruhepunkte, um durch andere Fiktionen ein Gegengewicht zu schaffen und so zur vollen Wirklichkeit zu gelangen.

Durch

diese Methode des doppelten Fehlers können wir mittels des Denkens die Wirklichkeit ergreifen.

So erweisen sich die Fik­

tionen als notwendige unentbehrliche Fiktionen. Unser gesamtes Denken aber stellt sich als ein „Netz von Fiktionen" heraus. Das ist der Sinnier Relativität der Wahrheit, wie sie vom „kritischen" Pragmatismus, Relativismus oder „Perspektivis-

mus" verstanden wird. Es ergeben sich verschiedene Wahrheiten,

die nebeneinander zu Recht bestehen, jede unter der Voraus­ setzung, daß sie auf ein bestimmtes Bezichungssystem gebaut und so unter der Annahme dieses Systems mit einem eigen­

tümlichen Geltungswert ausgestattet ist.

Diese neue „Erkenntnistheorie", welche bereits bei dem scharfsinnigsten und nach Kants eigenem Ausspruch, wie man ") V. betont, das „Als-ob" sei kein einheitliches. Der amerikanische Pragmatismus habe alle Gebiete des menschlichen Denkens und Handelns ineinander gemengt. Demgegenüber muß ein „Kritischer" Pragmatismus, wie V. ausführt, die Beziehungssysteme reinlich scheiden, woraus eine verschiedene Behandlung insbesondere von „Wissen" und „Glauben" folgt. ”) Sie führt zum regressus in Infinitum. Cf. Nelson, Erkenntnis­ problem, 1908; Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie, 1911 S. 14 ff.

179

Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als Ob.

weiß, verständnisvollsten Kantgegner, dem idealistischen Skeptiker Salomon M a i m o n, deutlich angelegt ist, führt in ihren

äußersten Konsequenzen zurück zu Nietzsche, der in dieser Hin­ sicht wiederum als ein Schüler und Fortbildner F. A. Langes

betrachtet werden muß. In der Tat hat Nietzsche die äußersten

Konsequenzen der Als-ob-Philosophie „vorweggenommen" „Ach

nun müssen wir die Unwahrheit umarmen, und der Irrtum wird jetzt zur Lüge, und die Lüge vor uns wird zur Lebensnotwendig­

keit".

So müssen wir den „Willen zum Schein" bewußt be­

jahen.

Der Aufgeklärte fühlt sich darum nicht betrogen, wie

Nietzsche gegen Descartes' Besorgnis betrogen zu werden, her­

vorhebt. An die Stelle der Frage: „wie sind synthetische Urteile a priori möglich", muß nach Nietzsche die andere Frage gesetzt

werden: Warum ist der Glaube an solche Urteile notwendig? In dem „Anhang" über Nietzsche macht Vaihinger des weiteren

interessante Beobachtungen und Schlußfolgerungen über Ent­ wicklungstendenzen und -Möglichkeiten bei Nietzsche, vor allem

hinsichtlich seiner Stellung zur Religion, die vermutlich eine

wesentlich andere geworden wäre, wenn die Entwickelung nicht einen jähen Abbruch erfahren hätte. Aus

dem unerschöpflichen Reichtum des grundlegenden

Vaihingerschen Buches ergibt sich als dauernder Gewinn vor

allem eine Aufklärung in methodischer Hinsicht auch für den, der, wie Res., die neue Lehre als „Erkenntnistheorie" ablehnt.

Ref. weist hier besonders auf die ausgezeichnete Darlegung des Verf. über die Abstracta in Teil II § 12 hin.

Vaihingers Philosophie zeigt eine grundsätzliche Überein­ stimmung mit dem modernen an Laas und Avenarius an­

knüpfenden Positivismus. Der Fehler auch des Vaihingerschen „idealistischen Positivismus" ist es, daß er die Neigung

nicht zu überwinden vermag, die genetische mit der systematischen Frage zu vermischen.

Durch eine Aufhellung des biologisch­

psychogenetischen Zusammenhangs, der zwischen dem Denken und der Wirklichkeit etwa besteht, gewinne ich weder ein Kriterium, Krit. Vierteljahresschrift, g. Folge. Bd. XVII. Heft 2.

12

180

I. Rechtsphilosophie.

durch das ich bie Gültigkeit des Denkens bzw. — in der Sprache

der Philosophie des „Als Ob" — den notwendigen Glauben an seine Gültigkeit stabilieren, Noch ein solches, wodurch ich die Realität der Wirklichkeit erfassen kann.

Es fehlt an einem

Kriterium, das der vollzogenen Doppeldeutung der Gesamt­ wirklichkeit (der Gignomenen) nach der charakteristischen Be­

trachtungsweise bei Th. Ziehen27) als „Empfindung" und Denken (als Empfindungs- und Vorstellungsgignomenen) etwa

zugrunde liegen möchte.

Eine Erkenntnistheorie auf psycho­

logischer, psychophysiologischer, physikalischer Grundlage ist da­ her eine Aufgabe, die prinzipiell von der erkenntniskritischen Untersuchung verschieden ist.

Gerade deshalb, weil ein außer­

halb der Erkenntnis gelegenes Kriterium das Denken niemals

befriedigt, ist ja Erkenntnistheorie nur unter der Voraussetzung

der Gültigkeit des gesuchten Bestimmungsgrundes möglich.^) Durch die vorstehenden kritischen Bemerkungen wird das große

Verdienst der Vaihingerschen Leistung schmälert.

in keiner Weise ge­

Worin dieses Verdienst besteht, war schon gesagt.

Es wird auch, so hofft der Referent, deutlich geworden sein,

wie gerade der Jurist in dem umfassenden Buche Rüstzeug genug vorfindet, das er im Streit um grundlegende Fragen

verwerten kann.

Kapitel für Kapitel werden wir tiefer in die

Werkstatt der Einzelwissenschaften eingeführt.

Wir sehen, wie

diese wirken und schaffen, und gewinnen so neue Freude an unermüdlicher Forschung.

Berlin.

Pagel.

”) Über dessen „Erkenntnistheorie auf psychophysiologischer und physi­ kalischer Grundlage" (Jena 1913); s. v. Kerns Besprechung in der Zeitschrift f. positiv. Philosophie, 1914 S. 146, 147. ”) Aus der neuen Literatur zu diesem Punkte sind zu nennen: L. N e l s o n, Über das sog. Erkenntnisproblem 1908, derselbe. Die Unmöglichkeit der Erkennt­ nistheorie, 1911 (BologneserVortrag); Rehmke, Philosophie als Grundwissen­ schaft, 1910; zu Nelson und Rehmke; W. Moog, Zur Kritik der Erkenntnis­ theorie, Zeitschr. f. Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 149 S. 86 ff; an Nelson und Vaihinger anknüpfend Kohler, Altes und Neues zur Er­ kenntnistheorie, Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 7 Heft 4.

II.

Nechtsgeschichte. 1. Planitz, Hans, Dr. iur., Privatdozent an der Universität ord. Professor an der Universität Frankfurt a. M.s, Die vollstreckung im deutschen mittelalterlichen Recht. Erster Pfändung. 8°. XXVI u. 766 S. Leipzig 1912, Wilhelm 18 Mk.

Leipzig sjetzt Vermögens­ Band: Die Engelmann.

Haftungsrechtliche Untersuchungen waren es, die den Ver­

fasser nach seiner Aussage an die Probleme des Vollstreckungs­

rechtes führten.

Mit einer Darstellung der Vermögensvoll­

streckung, wie sie auf deutschem Boden während des Mittelalters

zur Entwicklung gelangt ist, will Vers, zugleich zur Lösung des Haftungsproblems beitragen.

Sein Werk ist aber vor allem

auch für die Geschichte des Vollstreckungsrechtes selbst von grund­

legender Bedeutung.

Mit gutem Grunde erklärt er, daß eine

ausreichende Arbeit fehle. Vers, gibt uns diese Arbeit in groß­ zügiger Anlage und Ausführung.

Der erste Band sollte die Pfändung als die bei weitem wichtigste Erscheinungsform der mittelalterlichen Vermögens­

vollstreckung zur Darstellung bringen; im zweiten Bande wird

eine Geschichte der Liegenschaftsvollstreckung folgen. Das Haf­ tungsproblem soll erst in einem Schlußteil eine Untersuchung

auf Grund der gewonnenen vollstreckungsgeschichtlichen Ergeb­ nisse finden. Gleichwohl verrät auch der erste Teil Anschauungen des Verfassers in dieser Beziehung. Eine ausführliche Stellung­

nahme zu diesen Fragen müssen auch wir uns Vorbehalten, bis

der Schlußteil des Werkes vorliegt; wir müssen sie nur insofern hier berühren, als der erste Band hiezu Anlaß gibt.

I. 1.

Zwei Tatsachen dürfen wir wohl hervorheben, welche

nach des Verfassers Darstellung die Entwicklung des deutschen 12*

182

II. Rechtsgeschichte.

Pfändungsrechtes

hauptsächlich

kennzeichnen.

Die

außer­

prozessuale Pfändung ist nicht nur der „Urtypus" der Pfändung des älteren Rechtes, sie ist als solcher auch in das Mittelalter

hinein in ununterbrochener Geltung geblieben. Auch im Mittel­ alter ist nicht die Richterpfändung des gerichtlichen Verfahrens

die Grundform der Vollstreckung in die Fahrhabe, die außer­ prozessuale nur eine Umbildung jener; vielmehr ist jene durch

das Eindringen der Pfändung aus der außerprozessualen Pfand­

nahme in das gerichtliche Verfahren erwachsen (S. 372). 2. Die Pfändung des altgermanischen Rechtes hatte aber

nach Planitz ihren Ausgangspunkt im Fehderecht (S. 603). Sie ist — entgegen der neueren Haftungslehre — nicht begründet in einer vertragsmäßigen Vermögenshaftung. Ihren Rechts­

grund bildet allein die fehderechtliche Haftung des schuldneri­

schen Vermögens (S. 14). Die außergerichtliche Pfandnahme ist Selbsthilfe; ihre Ent­

stehung „kann sonach nur" im Fehderecht liegen, in der einer geschlechtsgenossenschaftlich

organisierten

Zeit

entsprechenden

relativen Friedlosigkeit des säumigen Schuldners (S. 8).

Die

Tatsache nun, daß die Pfandnahme im alten Recht eine Hand­ lung der Selbsthilfe war, vermag m. E. an sich über ihren geschicht­

lichen Zusammenhang mit dem Fehderecht nichts auszusagen.

Fehde und „Pfandnahme" sah man bisher als zwei selbständige Formen der Selbsthilfe an. Gewiß konnte es auch im Verlaufe der Fehde zu einer Wegnahme von Sachen aus dem Vermögen

des Gegners und zu deren Vorenthaltung zwecks Erzielung einer

Buße als Lösungsgeld kommend) Die „Pfandnahme" im Sinne unserer Lehre, zum Behufe der Befriedigung des Gläubigers, wie sie in den Quellen neben dem Fehderecht geregelt ist, mochte

gleichwohl ihre selbständige Grundlage im Haftungsrechte haben. Für die gegenteilige Auffassung, daß die Pfandnahme ihren

Grund im Fehderccht gehabt habe, sprechen nach Planitz manche i) Vgl. O. v. Gierke, Schuld und Haftung, S. 35.

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

183

Eigentümlichkeiten, in denen der fehderechtliche Ursprung der Pfandnahme lange Zeit nachgewirkt habe.

3. Verf. geht von der Ansicht aus, daß Verweigerung der Schulderfüllung nach ältestem Rechte das Fehderecht des Gläu­ bigers, die relative Friedlosigkeit des Schuldners zur Folge

gehabt habe.

Das Fehderecht sei allerdings auf die Geltend­

machung der Friedlosigkeit des Vermögens beschränkt worden

(S. 330). Der Gläubiger habe am säumigen Schuldner Rache

geübt, indem er dessen Vermögen durch Vernichtung von Ver­ mögensstücken beschädigt habe (S. 603).

Vergleichen wir mit diesen fehderechtlichen Verhältnissen

die Wirkung der Pfandnahme in ihrer ältesten geschichtlichen Form. Die gläubigerische Reaktion gegen das Schuldnergut hat hier, wie Verf. (S. 604) sagt, „ein völlig anderes Gesicht". Nicht nur kann von einer Racheübung am Schuldnergut —

etwa von befugter unbeschränkter Vernichtung von Gegenständen

des Schuldners — nicht gesprochen werden. Der Gläubiger er­ hält vielmehr nach des Verfassers Ansicht lediglich ein Zurück­

behaltungsrecht, jede weitergehende Befugnis, etwa das Ge­

brauchs- und Nutzungsrecht, ist dem Gläubiger abgesprochen (©. 12 f., 604 f.). „Nicht mehr zu vernichten, sondern nur noch

festzuhalten, nicht mehr Rache, sondern nur noch mittelbarer Erfüllungszwang ist dem 'Gläubiger gestattet" (S. 603). Es könnte sich da freilich die Frage erheben, warum nicht, nachdem die vermutete Racheübung ausgeschaltet war, und da

der Zwang durch Zugriff auf das Vermögen (nicht auch auf die Person) erfolgte, schon sogleich die rechtliche Möglichkeit der Aneignung des bestimmten geschuldeten Gegenstandes oder

von Gegenständen im Werte der Schuld (oder darüber hinaus) aus dem friedlosen Vermögen durch den Gläubiger gegeben war.

Statt dessen mußte sich der Gläubiger, trotz der vom Verf. angenommenen relativen Friedlosigkeit des Gutes, mit Zurück­

behaltung, ohne Nutzung, des Pfandes begnügen und hatte auch

184

II. Rechtsgeschichte.

noch die Gefahr des Pfandes zu tragen (S. 605 f.). Bedenken wir dagegen, daß auch die allgemeine Friedlosigkeit dazu

führte, daß man die Fahrnis zunächst als der unmittelbar be­ leidigten Friedensgenossenschaft, bzw. dem König verfallen be­

handelte und daß man später auch dem Gläubiger Gegenstände

mit sofortiger Übereignung aus dem Vermögen des Schuldners überließ. Auch hier war zunächst der Strasgedanke maßgebend, es kam dann jedoch auf der Grundlage der Friedlosigkeit des Gutes schließlich zu einer unmittelbaren Befriedigung des Gläubi­

gers, sobald man das Vermögen an sich dem Vollstreckungszweck

überhaupt dienstbar machte. Die außcrprozessuale Pfandnahme

hiegegen führte zu einem Anfall des Eigentums am Pfande zu­ gunsten des Gläubigers erst nach bestimmter Frist, und auch

dies

erst

auf

späterer

Entwicklungsstufe.

Wo

eben

nicht

Friedlosigkeit des schuldnerischen Gutes vorlag, gelangte das

Recht erst in allmählicher Entwicklung dazu, den Gläubiger Eigentum an einzelnen Vermögensstücken des Schuldners er­ werben zu lassen, die chm nicht der Schuldner in freiem rechts­

geschäftlichem Verkehr übergeben hatte.

Verf. bringt freilich

die langsame Entwickelung zu unmittelbarer Befriedigung des Gläubigers damit in Zusammenhang, daß „mit wachsendem

Kapitalreichtum das Interesse an der individuellen Leistung sich in das Interesse am Geldwerte der Leistung zu verwandeln be­ gann" (vgl. S. 15 f., 17). Immerhin hätte doch, wenn es sich etwa um die Leistung eines bestimmten Gegenstandes aus dem

Besitze des Schuldners handelte, die (absolute oder aber auch

die vermeintliche relative) Friedlosigkeit die Möglichkeit gebo­ ten, daß der Gläubiger den Gegenstand zu Eigentum nehme, sobald man überhaupt auf das Vermögen des Schuldners griff.

Zudem aber spielten im alten Schuldrechte die Bußschulden wenn nicht ausschließliche, so sicher eine verhältnismäßig bedeutsame

Rolle; die Bußschulden lauteten aber regelmäßig nicht auf indi­

viduelle Leistungen.

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

185

Auch dürfte die beschränkte Wirkung der außerprozessualen Pfandnahme nicht darauf zurückzuführen sein, daß diese etwa

bloß die Schuldbehauptung auf feiten des Gläubigers zur Vor­

aussetzung gehabt hätte; weitere Voraussetzung war wohl, daß die Schuld unleugbar war2) oder wenigstens nicht vom Schuldner

vor den Zeugen, die der Gläubiger der förmlichen Mahnung

beizog, Leugnung erfuhr ^) oder der Schuldner zu rcchtsförmlicher Pfandwehr schritt.

Wohl auf Grund strafrechtlicher Haftung entwickelte sich

übrigens ein Fall außerprozessualer Pfandnahme mit ähnlichen Wirkungen, wie solche die Pfandnahme um gemeine Schulden

hervorrief (Zurückbehaltungsrecht ohne Befugnis des Gebrauches oder der Nutzung): die Viehschüttung und die „Personalpfändung"

wegen Feldschadens. Diese Pfandnahme erfolgte aber in erster

Linie zu Beweiszwecken. Während bei gewöhnlicher Pfandnahme

die Schuld wohl unstreitig bzw. unleugbar sein mußte, sollte bei der Pfändung wegen Feldschadens das „Pfand" die Schuld erst unleugbar machen; schon hieraus erklärt sich jene beschränkte Wirkung der Pfandnahme.

In zweiter Linie verband man

freilich mit dem Zweck der Beweissicherung den der Ersatz­ sicherung.

4.

Die vermutete fehderechtliche Grundlage der Pfand­

nahme erklärt dem Vers, auch, daß im langobardischen Rechte

auch noch die nächsten Gesippen des Schuldners der Pfandnahme

unterlagen (S. 8). Bereits Otto v. Gierke (Schuld und Haftung

S. 41 Anm. 75) brachte jedoch dieses Pfändungsrecht gegen Sippegenossen mit ehemaliger Vermögensgemeinschaft in Zu­ sammenhang.

Auf diese Beziehung

weist insbesondere Ed.

Rothari 247 hin: „Null! liceat alium pro alio pignerare, excepto illo qui gafand esse invenitur, id est coheres parens 2) Im langob. R. seit Liutprand (vgl. Liu. 15 mit Ed. Roth. 366 ; Liu. 8. Wach, Arrestprozeß, S. 5f.). •) Vgl. v. Amira, Recht, 3. Ausl. S. 216. S. allerdings unten S. 218 f.

186

II. Rechtsgeschichte.

proximior, qui illi ad hereditatem, si Casus evenerit, venturus est.“ Die alte Vermögensgemeinschaft wirkt im Wartrecht des nächsten Erben als Aktivum, in dessen Pfändbarkeit für Schulden des künftigen Erblassers als Passivum fort. 5. Bei der Beurteilung der Auffassung des Verfassers müssen wir uns stets vor Augen halten, daß Vers. — mit Rück­ sicht auf die Herleitung der Pfandnahme aus dem Fehderecht nur folgerichtig — die Meinung vertritt: „Der Gläubiger ist mit der Wegnahme von Gegenständen an den Betrag seiner For­ derung ursprünglich nicht gebunden" (S. 11). Und in den Volks­ rechten glaubt er Bestimmungen zu finden, die den die Forde­ rung übersteigenden Wert der genommenen Pfänder „auf ein bestimmtes Maß herabzudrücken suchen". Vers, führt hiezu aus Liutprand 108 die Worte an: „ut sint ipsa pignora in dubblo, quantum debitum ipse est.“ . Dem Edikte Rotharis sei eine derartige „Einschränkung" noch unbekannt gewesen. Das Edikt Rotharis enthält nun keine Bestimmung, die für oder gegen diese Annahme spräche. Wohl aber scheint Liut­ prand 108, wenn man die ganze Satzung im Zusammen­ hang betrachtet, eine andere Deutung der von Planitz benützten Wendung nahczulegen. Zunächst bewilligt Liutprand dem Gläu­ biger, zu „Pfand" genommene Unfreie zur Arbeit heranzuziehen, nachdem sie in den ersten zwölf Tagen nicht ausgelöst wurden.^) Über den Wert, für den zunächst gepfändet werden darf, ist nichts gesagt. Liutprand fährt sodann fort: .„Et super habeat licentiam repignerare usque in secundum vicem, ut sint ipsa pignera in dubblo, quantum devitum ipse est.“ Die zweite Pfandnahme (s. auch Planitz S. 18) hatte also den Zweck, den Wert der Pfänder auf den verdoppelten Schuldbetrag zu er­ höhen. Wir dürfen vielleicht annehmen, daß als Wert der recht­ mäßig zuerst genommenen Pfänder der einfache Schuldbetrag 4) Entsprechende Bestimmung für gepfändete Tiere in Liu. 109; Planitz S. 13 Sinnt. 33.

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalterl. Recht.

187

vorausgesetzt itmr.5) Der Zweck der ganzen Satzung Lmtprands lst Verschärfung 6) des Zwanges gegen den gepfändeten Schuldner.

Löst er das Pfand nicht binnen zwölf Tagen ein, so erhält der

Gläubiger jetzt das Recht, das Pfand für sich zu gebrauchen. Außerdem soll der Gläubiger nochmals Pfänder im Werte der Schuld

nehmen dürfen.

Diese Doppelpfändung

ist zunächst

nicht als unmittelbare Strafe des Schuldnerverzuges gedacht; sie hat den mittelbaren Zwang zu erhöhen, der auf den Schuldner durch Vorenthaltung der gepfändeten Vermögensstücke ausgeübt

werden soll (vgl. Brunner, RG. II 450). Das Bedürfnis, Pfandnahme über den Wert des geschuldeten Betrages zu ge­

statten, lag nahe, wenn der Gläubiger an den genommenen Gegenständen nur ein Zurückbehaltungsrecht erlangte; die bloße

Zurückbehaltung von Werten im Betrage der einfachen Schuld mochte oft wirkungslos geblieben sein.

Liutprands Satzung brachte aber eine noch weiter gehende

Ausgestaltung des Rechtes aus der Pfandnahme.

Löste der

Schuldner die Pfänder in weiteren 30 bzw. 60 Tagen nicht ein, so verlor er sein Eigentum an ihnen. Stufenweise verschärften

sich die Folgen des Verzuges an den genommenen Pfändern. 6) Vgl. Liu. 67 (v. I. 725; Liu. 108 stammt v. I. 729): um un­ zweifelhaft zu machen, daß man in einer cautio nicht eine General Hypothek bestellen wolle, wird geraten hervorzuheben, daß man lediglich das Recht einräumen wolle, bei NichterfüNung Pfänder in jenem Werte zu nehmen, welcher dem Betrag der Forderung zur Zeit der Pfandnahme entsprechen werde. Die Bestimmung ergibt doch wohl zugleich, daß man damals nur an eine Pfandnahme im einfachen Betrage der Schuldsumme als das Regelmäßige dachte. Vgl. hiezu Wach, Arrestprozeß, S. 22, 17f. 6) Dies spricht wohl gegen die Annahme R. Sohms d.J. (Festg. f. Sohm, 1914, S. 321 ff.), daß ursprünglich (und wahrscheinlich noch unter Rothari) der Gläubiger regelmäßig freie Gewalt über das gepfändete Ver­ mögen des Schuldners gehabt habe. Allerdings meint Sohm in seiner sehr anregenden Abhandlung (a. a. O. S. 328 Anm. 3) es habe sich sodann vor Luitprands Satzung wahrscheinlich gewohnheitsrechtlich ein ^offenbar unbefristetes^ Einlösungsrecht des Schuldners (aus tatsächlicher Übung) ausgebildet, eine

mir wenig wahrscheinliche Entwicklung; vgl. oben S. 183 f.; s. auch Brunner, RG. II 450, Planitz S. 12 f.

All diesen Zugeständnissen an den Gläubiger fügt der Ge­ setzgeber schließlich hinzu: Insuper potestatem habeat, qui pigneravit, causam suam per legem agere et procurare.“ Man faßt diese Bestimmung dahin auf, daß nach und trotz dem Anfalle der Pfänder der Gläubiger noch klageweise die Forderung verfolgen konnte/) daß nach dem Anfalle nun noch das Strafverfahren gegen den säumigen Schuldner eingeleitet werden tonnte.8) M. E. ist es wenig wahrscheinlich, daß Liutprand ein solches Verfahren eingcleitet wissen wollte, nachdem der Gläubiger den doppelten Wert der Schuld zu eigen er­ halten. Der Gedankengang des Gesetzgebers war vielleicht folgender: Neben den neuen Zugeständnissen an den Gläubiger (Recht der Nutzung nach 12 Tagen, zweite Pfändung int Schuldwerte, später Verfall des Pfandes), welche bewirken sollten, daß der Gläubiger bald zu seinem Rechte komme, soll es ihm zur Wahl stehen, die Schuld gerichtlich zu klagen, wenn die Pfändung nicht alsbald Erfolg zeitigt und den Schuldner zur Zahlung bewegt?) Das gerichtliche Verfahren war damals int langobardischen Reiche sehr beschleunigt. Nach der (aller­ dings um sechzehn Jahre jüngeren) Anordnung Ratchis' (c. 1) zu schließen, hatte jeder Richter täglich den Parteien zur Ver­ fügung zu stehen.18) Binnen einiger Tage war nach Liutprands Vorschrift regelmäßig die Entscheidung zu fällen.11) So konnte unter Umständen der Gläubiger, „qui pigneravit“,12) nachdem die Pfandnahme sich zunächst erfolglos erwies, hoffen, durch die Einleitung des gerichtlichen Verfahrens noch schneller sein 7) Wach, Arrestprozeß, S. 24. 8) Egger, Vermögenshaftung u. Hypothek, S.394. Planitz S. 18. 9) Dies ist übrigens wohl auch Meiboms Auffassung (Pfandrecht S. 231: „überdies konnte der Gläubiger die Forderung mit Hilfe des Gerichts einziehen, wenn die Pfändung die Zahlung nicht herbeiführte."). 10) Bethmann-Hollweg, Zivilprozeß IV, 363. n) Liutprand 25—27. Bethmann-Hollweg a. a. O., IV, 377 f. 12) Dieses „qui pigneravit“ führt den Gcdankengang auf die Pfand­ nahme selbst zurück.

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalterl. Recht.

189

Ziel zu erreichen als durch Zuwarten bis zum Ablauf der Frist,

nach welcher die Pfänder ihm verfallen würden.

Wir. dürfen

annehmcn, daß im älteren germanischen Rechte der Gläubiger die Wahl hatte zwischen Pfandnahme und dem Achtverfahren.") Liutprand bestimmt nun, daß der Gläubiger, auch wenn er bereits das Pfändungsverfahren begonnen, ohne daß dieses sich

alsbald wirksam erwiesen hätte, nicht die langen Verfallsfristen

abzuwarten braucht, sondern im Wege des Streitverfahrens trachten kann, früher zu seinem Ziel zu gelangen. —

Ausdrückliche Erwähnung der Überwertpfändung in frän­ kischer Zeit finden wir noch in den Leges Burgundionum (19, 6; Planitz S. 535. 1230).

Diese Satzung entspricht bereits der

unter Liutprand erreichten Entwicklungsstufe mit möglichem

Pfandverfall.. Die Pfändung solle in der Weise erfolgen, „ut

tertiam pariern fideiussor amplius tollat, quam summa debiti est“ (auch solle der Gläubiger dem Schuldner die Pfändung

vor Zeugen anzeigen).

Auch diese Stelle ergibt wohl nichts

für die Annahme, daß es sich um Einschränkung ehemals un­ beschränkter Pfändbarkeit handle. Für den Fall, daß der Schuld­

ner innerhalb dreier Monate nach der Pfandnahme die Schuld

nicht beglich, drohte ihm der Verlust der überwertigen Pfänder. So diente auch hier die Überwertpfändung erhöhtem Zwange zur Zahlung.

War das Überwertpfand verfallen, so war es

naheliegend, daß man dies auch als Strafe für den fortgesetzten

Verzug betrachtete. Der Verzug zur Zeit der Pfandnahme hatte hier noch nicht Sühne mit der „tertia pars amplius“ zur Folge; bis zum Pfandverfall, also bis zum Verlauf weiterer drei Monate konnte

der Schuldner die Pfänder „soluto debito“, durch Zahlung der einfachen Schuldsumme lösen.") 13) Bgl. v. Amira, Obl. R. I, 235. Brunner, RG. II,453. u) Ob durch Leistungsverzug nach rechtssörmlicher Mahnung auch im burgundischen Rechte nicht etwa feste Berzugsbußen der Schuld zu-

190

II. Rechtsgeschichte. Ähnlich übrigens etwa, wie die materiellrechtliche Grund­

lage für die Einleitung des Betreibungsverfahrens, bei welchem im Falle des Verzuges der Schuldsumme von selbst gewisse

Beträge zuwachsen, vertragsmäßige Haftung sein kann, so auch

für die Pfandnahme, bei welcher der zu pfändende Betrag in einem bestimmten Verhältnis anwächst, um den Druck auf den Schuldner zu freiwilliger Zahlung zu erhöhen. — Auch in mittelalterlichen Quellen begegnet uns die Über­

wertpfändung, und zwar selten Doppelpfändung, häufiger (na­ mentlich auch in fränkischen Rechtsgebieten) das „Drittpfennigs­ recht" (S. 532 ff.).

Freilich mußte die Pfändbarkeit eines so

wesentlichen Mehrwertes immer mehr abkommen, je bessere Aus­

gestaltung das Vollstreckungsrecht erfuhr und je allgemeiner

und strenger die Auffassung Durchführung fand, daß die Haf­

tung für bürgerliche Schulden ein reines Wertrecht in sich

berge, das dem Gläubiger lediglich die geschuldete Leistung bzw. den Ersatz des gemeinen Wertes der geschuldeten Leistung und

seiner Schädigung zu verschaffen habe.^) Zu solcher Auffassung finden wir Übergänge bald in einer Herabsetzung des pfändbaren

Mehrwertes (Planitz S. 543).

Nach anderen Quellen ver­

schafft die normale Schuldpfändung nur noch den einfachen Schuldbetrag; das Drittpfennigsrecht besteht daneben zugunsten solcher Schulden, bereit Erfüllung auf besondere Beschleunigung

Anspruch hat (S. 544 f.); in diesen Fällen durfte der Gläubiger nach wie vor durch Überwertpfändung größeren Zwang auf den

Schuldner ausüben.

Soweit aber das Drittpfennigsrecht erhalten blieb, schrieb man ihm zum Teil neue Rollen zu.

Verf. schließt aus Wen­

dungen einiger Quellen, daß sie dem Mehrwert den Charakter

wuchsen (vgl. L. Sal. 50), ist uns nicht ausdrücklich überliefert. Die „tertia pars amplius“ steht jedenfalls außerhalb der „summa debiti'1. 15) Daher findet sich das Drittpfennigsrecht vorzugsweise in Quel­ len, in denen der Pfandverfall noch nicht vom Pfandverkauf abgelöst war (Planitz S. 534).

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

191

einer Buße zusprechen wollten, „die dem Schuldner wegen seines Ungehorsams gegen die gläubigerische Mahnung auferlegt wird" (S. 544). Eine der hiezu angeführten Stellen (Groningen Stadtb. 1425, Zus. 15 f. v. I. 1434), die eine ausführlichere Darstellung gibt, spricht nur von einer Brüche (dem zehnten Pfennig), die der Stadt und dem mahnenden Ratmann wegen Ungehorsams gegen die Schuldmahnung fällig wird; und es ist hier ausdrücklich gesagt, daß nach ergebnislosem dreiwöchigen Zuwarten aus der Habe des Schuldners der Betrag der Schuld­ summe „ende daerto den derden pennighe bett,er“ und außer­ dem noch jene Brüche zu pfänden seien, daß aber der Schuldner diese Pfänder binnen acht Tagen einlösen könne „mitter summe vander iechtighcr schult ende mitten broke vanden ty(n)den pennighe“. Durch Zahlung der einfachen Schuldsumme und jener Brüche konnte das Pfand noch gelöst werden. Eine andere Regelung fand diese Frage in Rechtsquellen, welche dem gepfändeten Mehrwert die Bedeutung eines Schadens­ ersatzes zuwiesen (vgl. Planitz S. 545f.): der Mehrwert sollte den Verzugsschaden und die Kosten der Rechtsverfolgung decken. Die Entwicklung läßt sich gut an Drenther Rechtsquellen ver­ folgen, die Planitz (a. a. O.) anführt. In einem Bericht über rechtliche Mißstände (v. I. 1557) wird u. a. getadelt, daß man in Drenthe „keine Unkosten zahle". In einer Handschrift ist hiezu tun Rande vermerkt, man pfände „den 3en penning mer dan de schult“. Diese Meinung, daß der gepfändete Überwert als Kostenersatz aufzufassen sei, fand bald darauf (1572) in einer Rechtsquelle Berücksichtigung (Costumen, ordonnantien § 14). Wie nach dem vorhin erwähnten Stadtrecht von Groningen mußte auch in Drenthe der Auspfändung die „Anpfändung" (s. unten) vorausgehen. Bis zum Beginn der Wegnahme der Pfänder sollte nun, nach der genannten Drenther Rechtsquelle der Schuldner durch Zahlung der einfachen Schuldsumme die

192

II. Rechtsgeschichte.

Pfandnahme abwehren können.

Sobald aber die Pfandnahme

begonnen, sollte eine Lösung der Pfänder — im Gegensatz zur besprochenen (älteren) Groninger Bestimmung — nur mehr

durch Erlegung des anderthalbfachen Schuldbetrages möglich sein; der Gläubiger hatte nunmehr auf den Mehrwert als Er­

satz der Pfändungskosten unbedingt Anspruch. Diese (auch z. B. vom alten Recht der Leges Burgundionum abweichende) Re­

gelung galt wohl auch gemäß einer von Heinrich SOtitteiS16)

mitgeteilten Bestimmung für den Fischkauf in Utrecht. Während

wir sonst in Utrecht dem „Drittpfennigsrecht" begegnen (Pla­ nitz S. 538 Anm. 15), darf der Fischverkäufer (eine jüngere

Verschärfung des Pfändungsrechtes für diesen Fall?) den Schuld­

ner pfänden um die Schuld „ende noch zoe veel ter penen“. Mit dieser Vorstellung der Doppelpfändung als S t r a f e ist, unter­ mischt die des Kosten- und Schadensersatzes. Ein Drittel (vgl.

Friedensgeld) erhält „der bussemeyster . . voer hoer uutp an dinge“.

Auch hier war wohl — entgegen den älteren

Quellen — eine Auslösung der Pfänder nach der „Auspfändung"

nur mehr durch Zahlung des nunmehr fälligen doppelten Betrages der Schuldsumme möglich. —

5. Die besprochenen, vom Verf. durch den fehderechtlichen

Ausgangspunkt der außerprozessualen Pfandnahme erklärten Erscheinungen erbringen m. E. für diese Auffassung keinen

Beweis.

So erscheinen sie mir insbesondere auch kein Beweis

gegen die neuere Lehre zu sein, welche die Befugnis zur außer­ streitigen Pfandnahme mit vertragsmäßiger Haftbarmachung des

Vermögens in Zusammenhang bringen.

Wiewohl Verf. sich

eine eingehende Erörterung der haftungsrechtlichen Fragen für den Schlußteil seines großen Werkes vorbehält, geht er doch

jetzt in einem Kapitel „Die Schuld" (S. 200 ff.) kurz auf diese Frage ein. Nach dem Wortlaut der Quellen erscheine dem alt1G) Rechtsfolgen des Lcistiingsverzngs beim Kaufvertrag nach nieder­ ländischen Quellen des Mittelalters, S. 43 (Deutschrechtl. Beitr., hgg. B e y e r l e, 8 S. 147).

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

193

germanischen Rechte zur Pfandnahme „die Existenz einer Schuld

als erforderlich und genügend".

wie:

Hiezu führt Verf. Belege an

„pro quolibet debito mariti res uxoris pigrieratas

fuerint . . .“ Daß nun die Pfändung „für" eine Schuld er­ folgte, ist selbstverständlich.

schiedenartige

Schulden

Und es konnte natürlich für ver­

gepfändet

werden.

Welche

Voraus­

setzungen aber für die Pfändbarkeit von Schulden gegeben sein

mußten, darüber sagen und wollen solche Stellen nichts aus­

sagen. Andere Stellen, wie z. B. Ed. Roth. 245, könnten aller­ dings, für sich gelesen, den Anschein erwecken, als sei für die Pfändung einfach eine Schuld vorausgesetzt.

Andere Quellen­

stellen zeigen uns nun — hierauf hat schon Wach, Arrestprozeß

S. 12 hingewiesen —, daß das ältere langobardische Recht als regelmäßige

Voraussetzung der

Pfändbarkeit

eine

obligatio

per wadiam et fideiussores verlangt. Der scheinbare Wider­

spruch dieser Tatsache zu Ed. Roth. 245 schien durch die An­ nahme beseitigt, daß diese Wadiation ein regelmäßiges Form­ erfordernis der Schuldverträge darstelle. Forschungen auf Grunb

der neuen Lehre von Schuld und Haftung taten freilich dar, daß die Wadiation in ihrem Wesen Haftungsvertrag sei.

Und

doch wußte Egger, der in der Wadiation die Begründung der Vermögenshaftung sieht, von dieser neuen zur alten Lehre eine

Brücke zu bauen. In Verwertung der Darlegungen Frankens

erklärte er die Darreichung eines Scheinpfands, der Wadia, welche

Vermögenshaftung begründe, als Ausläufer des Realvertrages. Begründete die Wadiation also in erster Linie Haftung, so wurde doch mit ihr auch der Schuldvertrag vollendet. In einem

Exkurs zu meiner Arbeit über Schuldhaft und Einlager glaubte ich die Ansicht vertreten zu können, daß die Wadiation (wie

auch das Treugelöbnis) selbständige Haftungsverträge seien; die

gleiche Auffassung legte Otto v. Gierke eingehend bar.17) Wie

etwa die Setzung vollwertigen Pfandes konnte die Wadiation 17) Schuld und Haftung, insbes. S. 280 ff.

194

II. Rechtsgeschichte.

zur Sicherung schon bestehender — gesetzlicher oder verein­

barter — Schulden vorgenommen werden. Falls wir allerdings

für

ursprüngliche

Zeiten

ausschließliche

Geltung von

Bar­

geschäften annehmen dürfen, werden wir vielleicht doch für die

allmähliche Entwickelung reiner Schuldgeschäfte vermuten dürfen, daß anfänglich für die Schuldbegründung durch Rechtsgeschäft

Stellung vollwertiger Sicherheit oder doch mindestens sinnbild­

liche Haftungsbegründung durch Treugelöbnis bzw. Wadiation erforderlich war. Dies mag erklären, daß Wadiation und Treu­

gelöbnis auch

als Form von Schuldverträgen, insbesondere

solcher, die man nicht durch Pfandsatzung sicherte, gegolten zu haben scheinen, und mag somit der Grund sein, warum sich nicht

eigene Formen des Schuldvertrages auszubilden brauchten, um

denk

Grundsatz

der

Förmlichkeit

der

Verträge

gerecht

zu

werden.^) Doch wollen wir nicht aus dem Rahmen des von uns zu

besprechenden Werkes treten.

Auch Verf. will erst später er­

örtern, „welche schuldbegründenden Vorgänge das altgermanische Recht kannte, inwieweit das haftungsrechtliche Element hinein­

spielte". Nur sei noch mit Rücksicht auf die Ausführungen des

Verf. (S. 201 ff.) erwähnt, daß auch O. v. Gierke wohl mit Recht die Ansicht vertritt, im Mittelalter finde sich bereits auch

gesetzliche Haftung aus Schuldverträgen, ohne Erfordernis ver­

tragsmäßiger Begründung einer Haftung.

Erwähnt sei hier noch, daß die Annahme, die Wadiation habe im älteren Recht die Grundlage des Pfändungsrechtes ge­

bildet, auch die Tatsache gut zu erklären vermag, daß ursprünglich 18) Bei den Realverträgen entstand die Haftung durch die Annahme der von der Gegenseite in Verpflichtungsabsicht gereichten Gabe. Die Vorstellung rein schuldrechtlicher einseitig nicht löslicher Verpflichtung aus Realverträgen entwickelte sich übrigens nur sehr allmählich. Vgl. hiezu jetzt auch K o s ch a k e r in dieser Zeitschrift 52, 3. F. Bd. 16 (1914) S. 431. — Für das Mittelalter dürfen wir wohl weder für die Begründung der Schuld noch der Haftung schlechtweg noch durchgängig das Erfordernis einer bestimmten Form annehmen.

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

195

der Gläubiger nur den Bürgen, und nur der Bürge den Schuldner

pfänden

durfte.

Bei

der Wadiation

hatte

der

Schuldner dem Gläubiger die Wadia überreicht und ihm da­

durch das Pfändungsrecht eingeräumt; der Gläubiger übertrug es aber dem Bürgen.

Mit dieser rechtsförmlichen Übernahme

des Rechtes, den Schuldner für den Gläubiger zu pfänden, war

offenbar — wenigstens für das langobardische Recht der uns bekannten Quellen scheint sich dies zu ergeben — die Begrün­ dung des Pfändungsrechtes des

Bürgen begründet.

Gläubigers gegenüber dem

Schwieriger aber als durch vertragsrecht­

liche Begründung ist das Recht des Gläubigers, den Bürgen und

nur diesen pfänden zu dürfen, erklärbar, wenn man das Pfän­ dungsrecht auf strafbaren Verzug und dadurch bewirkte Fried­

losigkeit des Vermögens des zu Pfändenden zurückführen will;

der Bürge des altdeutschen Rechtes ist nicht Schuldner.^) 6.

Es ist das Hauptverdienst des Werkes Planitz', die

grundlegende Bedeutung der „außerprozessualen Pfandnahme"

als Ausgangspunkt der Vollstreckung in die Fahrnis im deutschen Recht dargetan zu haben. Doch übersieht auch Vers, nicht, daß

auch das Achtverfahren eine Grundlage künftiger Vermögens­ vollstreckung zu bieten vermochte.

Den Ausbau einer Voll­

streckung in das Vermögen auf diesen beiden Grundlagen zu verfolgen, ist der Zweck der vorliegenden Arbeit (S. 20).

II. 1. Der der Einleitung folgende „Erste Teil" des Buches verfolgt „die Entwicklung der Vermögensvollstreckung im sal19) v. Amira, Nordg. OR. 1,150, 155 führt allerdings Fälle an, denen zufolge nicht nur der Schuldner, sondern auch gewisse andere Per­ sonen (Vormund, landboe, bryti) wegen Schuldverzugs in Friedlosigkeit, bzw. Kirchenbann geraten konnten. Es handelt sich um Personen, welche für die Schulden z. T. haften, die aber auch das Vermögen des Schuld­ ners verwalten, „das Geld derselben in Händen haben" und nun infolge Abwesenheit oder Unmündigkeit des Schuldners um Erfüllung der Schuld belangt werden. Krit. B I ert elj a hr cs sch ri ft. 3. Folge. Bd.XVII. HcfiL.

13

196

II. Rechtsgeschichte.

fränkischen Rechte" (S. 21—87). Verf. erörtert da zunächst die

vielbestrittene Bestimmung Lex Salica 50 und deutet sie fol­ gendermaßen. Hatte der Schuldner eine Fides Facta geleistet, so geht der Gläubiger am Zahlungstag mit Zeugen zum Hause des Schuldners und fordert ihn zur Zahlung auf. Diese Mah­

nung ist ein Formalakt des rechtlich geregelten außergerichtlichen Verfahrens; leistet ihm der Schuldner keine Folge, so verfällt er in eine Ungehorsamsbuße von 15 Schillingen.

Kraft einer

Buße in Höhe von 15 Schillingen kann an sich das mit

der Friedloslegung endigende Ungehorsamsverfahren eingeleitet werden. Für unseren Bußfall schließt aber die Lex Salica das

aus.

gewöhnliche Ungehorsamsverfahren zunächst ausdrücklich

Der Gläubiger muß den Schuldner in das Volksgericht vor

den Thungin laden. Leugnet hier der Schuldner die Fides Facta,

so kommt es, wie in jeder anderen Bußsache, zum gerichtlichen Verfahren.

Andernfalls erfolgt zunächst ein Urteil, das die

Bußpflicht des Schuldners ausspricht.

Nach Aufforderung des

Gläubigers spricht sodann der Thungin die feierlichen Worte: „Nextheganthichio ego illum in hoc quod lex salega ait.“ In dem Nextheganthichio sieht Planitz, einer sprach­

lichen Erklärung Grimms folgend, eine Zwangsverstrickung,

die eine Zugriffsmacht des Gläubigers auf das Vermögen des Schuldners zur Folge habe.

Das Nextheganthichio verfüge

eine relative Friedlosigkeit des Gutes nach Volksrecht.

Diese,

nicht mehr das Selbsthilferecht des Gläubigers sei die rechtliche

Grundlage der Pfandnahme (vgl. auch Planitz S. 201).

Die

Lex Salica lasse es aber nicht bei dem in der Friedlosigkeit gipfelnden Ungehorsamsverfahren bewenden; sie habe vielmehr

die außergerichtliche Pfandnahme dem gerichtlichen Verfahren eingegliedert.

Dem Nextheganthichio folgt die Vollstreckung

durch den Gläubiger. Der Gläubiger nimmt zunächst ein Te­ stare vor, einen Formelakt, der darauf abzielt, dem Schuldner

die Verfügung über sein Vermögen zuungunsten des Anspruchs

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

197

des Gläubigers zu verbieten. Ferner muß der Gläubiger noch an demselben Tage den Schuldner vor seinem Hause zur Zahlung

auffordern und gegebenenfalls zum Sonnenuntergang Nicht­

leistung feststellen. Weigert dieser auch jetzt Zahlung, so muß der Gläubiger diese Mahnung „noch dreimal" wiederholen, wo­

durch 9 Schillinge der Hauptschuld anwachsen. Erst dann kann der Gläubiger die Pfändung vornehmen.

2.

Die Richtigkeit dieser Deutung der Lex scheint mir

nun nicht festzustehen. Den Kern der Bestimmung müssen wir

jedenfalls in dem „Nextheganthichio“ durch den Thungin

sehen; das erhellt auch aus einem Kapitular zur Lex Salica, ba§

wir später (S. 202) besprechen werden. Dem Nextheganthichio geht eine rechtsförmliche Mahnung voraus, deren Nichtbeachtung mit einer Buße von 15 Schillingen bedroht ist. Nach Verwirkung

dieser Buße kann nun wohl der Gläubiger das mit der Fried­

loslegung endigende Ungehorsamsverfahren bis zu Ende durch­ führen; dies schließt aber an sich noch nicht aus, daß ihm daneben für die Vollstreckung auch die Pfandnahme im Wege

der Selbsthilfe, wenn auch nun unter neuen Voraussetzungen,

zur Wahl blieb. Planitz glaubt freilich aus der Fassung der

Lex schließen zu müssen, daß dem Gläubiger zunächst nur das eine, von ihm geschilderte Verfahren freistand, welches aus Elementen beider genannten Verfahrensarten zusammengefügt war. Doch scheint mir dieser Schluß nicht zwingend zu sein. Der besprochene Titel der Lex ist überschrieben „De fides factas“

und will das der Betreibung einer Forderung aus einer fides facta eigentümliche Verfahren darstellen. Das in Ächtung endigende Ungehorsamsverfahren, wie es die Verwirkung einer

Buße genannter Höhe stets, ohne Rücksicht auf den Grund der

Buße, nach sich ziehen kann, bleibt außer Betracht?«) 2°) Ähnlich will auch z. B. L. Sal. 50, 3 nicht etwa (wie man zu­ nächst meinen könnte) die außergerichtliche Pfandnahme ausschließen, sondern diese neben dem dort geschilderten Verfahren zur Wahl belassen. 13*

198

II. Nechtsgeschichte.

Planitz meint, das an die erste Mahnung durch den Gläubiger, durch deren Nichtbefolgung der Schuldner eine Buße von 15 Schillingen verwirkte, sich anschließende Verfahren mit dem Nextheganthichio sei „ein Verfahren um Bußschuld, nicht um Schuld" (S. 24). Diese Auffassung scheint mir durch den Wortlaut von L. Sal. 50, 2 nicht gestützt zu werden. L. Sal. 50, 1 schloß mit den Worten: „EI si ei noluerit fidem facta solvere Malb. thalasciasco hoc est solidos XV super debitum quod fidem fecerit culpabilis iudicetur.“ Der Gläubiger klagt also jetzt — so die Meinung mehrerer Schriftsteller — die Buße von 15 Schillingen ein und es ergeht ein entsprechendes Urteil, das mittelbar auch den Bestand bzw. Fortbestand der Hauptschuld unzweifelhaft macht. Nun beginnt L. Sal. 50, 2 folgendermaßen: „Si adhuc noluerit componere, debet eum ad mallum manire,“21) und an dem nun folgenden Gerichts­ tage bittet der Gläubiger um bci5 Nextheganthichio. Die Vor­ ladung zu diesem Gerichtstage erfolgt also nach dieser Auf­ fassung nach Erlassung des Bußurteils (und Ablauf der Er­ füllungsfrist).22) Der Zweck dieses Gerichtstages ist, die Einleitung des Voll­ streckungsverfahrens zu ermöglichen. Der Gläubiger ersucht um das „Nexteganthichio “ gegenüber seinem Schuldner, der ihm 21) Gerade diesen Beginn von L. Sal. 50, 2 führt Planitz (S. 24 Anm. 11) als Stütze seiner Ansicht an. „Componere“ kann sich aber auch auf die Leistung der Hauptschuld beziehen; vgl. L. Sal. 52 „De rem pristita“, wo es abwechselnd mit „reddere (rem praestitam)" verwendet ist; eine selbständige Bußschuld ist hier überhaupt noch nicht verhängt, lediglich durch jede vergebliche Mahnung die Buße von je 3 Schillingen „der Schuld zugewachsen" (vgl. S ch r e u e r, Verbrechenskonkurrenz, S. 229 Anm. 15). Das adhuc in 50, 2 deutet darauf hin, daß es sich um das „componere“ der bereits einmal vergeblich gemahnten Hauptschuld handelt (vgl. „nec tune" componere in L. Sal. 52). In der Heroldschen Handschrift beginnt 50, 2: „Si vero adhuc supradictum debitum solvere noluerit". 22) Vgl. Löning, Vertragsbruch, S.34ff. und insbes. Geffcken, Lex Salica, S. 194.

Planitz, Die Bermögensvollstreckung im deutschen mittelalter!. Recht.

199

„f idem f ecit et debitum debet“, „et nominale debet quäle ei debitum debeat unde ei fidem fecerat“. Das Voll­

streckungsverfahren um fides facta nach L. Sal. 50, 2 erscheint

demnach, wie die altgermanische Pfandnahme, im wesentlichen

als Verfahren um die Hauptschuld2^); die unterdes fällig gewordene Bußschuld steht in zweiter Linie. Die Lex Salica fordert frei­ lich, im Gegensatz zum altgermanischen Recht, gerichtliches Ein­

verständnis mit der Einleitung der Vollstreckung, und der ge­ richtlichen Zustimmung geht nach der erwähnten Auffassung eine

Prüfung des Bestandes bzw. Fortbestandes der Schuld Dor»

au§;23) entsprechend der strafrechtlichen Natur des altdeutschen Str eit verfahrens erfolgt diese Prüfung auf Grund einer Klage um die Buße, die durch Verzug trotz rechtsförmlicher Mahnung

verwirkt worden war. Nach Beendigung dieses Streitverfahrens kann nun der Gläubiger das Vollstreckungsverfahren einleiten. Der Schuldner kann noch etwa einwenden, daß er unterdessen

die Schuld beglichen habe. Für den Fall, daß wir (mit Brunner,

Planitz) annehmen wollen, daß ein besonderer Gerichtstag für

das Bußurteil nicht vorauszugehen brauchte, kann der Schuldner

jetzt die Schuld leugnen, gegebenenfalls das Bußurteil jetzt gesprochen werden.

Auf jeden Fall aber tritt bezüglich des

Nextheganthichio die Bußschuld in den Hintergrund; der Gläu­ biger fordert das Nexteganthichio lediglich unter Berufung

auf die noch nicht eingelöste fides facta. 3. Ist der Bestand der Schuld unleugbar oder nicht ge­

leugnet, so spricht der Thungin nun das Nextheganthichio. Die sprachliche Deutung des „Next(h)cganthichio“ durch

Grimm als Zwangsverstrickung fand von sprachkundiger Seite mehrfach Widerspruch.

Müllenhoff, dessen Auslegung der

22 &) Zu gleichem Ergebnis gelangt insofern auch So hm d. I. (a. a. O. 331 ff.). 28) Auch hierin weist das salfränkische Vollstreckungsrecht zur Zeit Chlodwigs eine Entwicklungsstufe auf, wie sie sonst meist erst im späten Mittelalter (oder noch später) erreicht wurde (vgl. hiezu Planitz S. 44).

200

II. Rechtsgeschichte.

ganzen Formel sachlich Grimms Ansicht immerhin noch nahe­ stand, sah in dem letzten Teile der Wendung eine verbale Form zu *thig(g)en = ahd. diggen, as. thiggian (ex)petere.24) In dieser letzteren Beziehung schloß sich ihm van Helten in seinen Erklärungen „Zu den Malbergischen Glossen" an. Er setzt die Formel als „*nestigan thi thigiu“ an und übersetzt sie: „Ich fordre (zur Zahlung) dich auf als deiner Verbindlichkeit nicht nachkommend."25)2 24) In Waitz, Das alte Recht der salischen Franken S. 290f. Vgl. Kern bei Hessels, Lex Salica, Notes, § 238. 2&) Paul und Braune, Beiträge z. Gesch. d. deutschen Sprache und Literatur, 25,534. S. 464 hatte van Helten eine Erklärung ohne „dich" gegeben. Mit Rücksicht auf das „illum“ als Objekt in der Formel der L. 8a!. müssen wir, falls die nachträgliche Deutung van Heltens richtig ist, an formelhafte Erstarrung der Wendung denken, ähnlich wie sie Th. Siebs bei einem neuen Auslegungsversuch des „Nextiganthichio“ als möglich annimmt. (Festschrift f. Otto Gierke 1911, S. 986ff., zu Herbert Meyer, Zum Ur­ sprung d. Vermögenshaftung). Zu den sprachlichen Einwendungen Siebs' gegen van Heltens Deutung (Schwierigkeiten bezüglich der Endungen), vgl. man van Heltens Ausführungen a. a. O. S. 465, 466. Siebs meint, statt des thiggian *tigön — afries. tigia „zeihen, anklagen" ansetzen zu sollen. Sprachlich ist aber zu bedenken, daß gerade die Handschrift, welche uns die Formel verhältnismäßig wohl am verständlichsten bewahrt hat (Hessels: cod. 1), th im Anlaut aufweist. Zudem läßt aber die Lex Salica das „Nextigan­ thichio“ zweifellos den Thungin aussprechen. Nach der Wendung in Cap. I jur L. Sal. §10 (Hessels Tit. 75, S. 408) könnte dies an sich zweifelhaft sein. Man kannte zu dieser Zeit offenbar wohl noch das Ver­ fahren, aber nicht mehr den alten Wortsinn des Nextiganthichio; daher fügen auch zwei Handschriften der das Nextiganthichio enthaltenden Wendung eine Erläuterung bei: „h. e. accusante“. Während aber, wie gesagt, das Nextiganthichio sicher dem Richter in den Mund zu legen ist — daher die Auslegung des Wortes mit „Anklagen" nicht recht am Platze ist — bezieht sich das „h. e. accusante“ des Kapitulars ebenso unzweifelhaft auf den Gläubiger (s. hierüber noch unten S. 201). Die Endung des Nextiganthichio in diesem Kapitular läßt darauf schließen, daß das Zeitwort dieses (Neben-)Satzes in den überlieferten Handschriften entfallen ist; vgl. van Helten S. 466f. — Seine Deutung des *nestigan stützt va n Helten S. 467 durch die Glosse necthanteo antesalina zu L. Sal. 51; vgl. Planitz S. 34 Anm. 38; vgl. etwa auch die Fassung von L. Sal. 50,2 in Hessels Cod. 3: „nestigante ego illum in hoc teneo, q. 1. Sal. h u

Planitz, Die Vermögensvollstreckung im deutschen mittelalterl. Recht.

201

Nach einer freundlichen Mitteilung meines Kollegen Primus

Lessiak könnte in beut Next(h)eganthichio auch ein an-thingön enthalten sein in der Form an-*thihön (vgl. got. theih-s