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German Pages 322 [324] Year 1982
Carl Braun Kritische Theorie versus Kritizismus
W] DE G
Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft in Verbindung mit Ingeborg Heidemann herausgegeben von Gerhard Funke und Joachim Kopper 115
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1983
Carl Braun
Kritische Theorie versus Kritizismus Zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos
Walter de Gruyter · Berlin · New York
1983
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Braun, Carl : Kritische Theorie versus Kritizismus : zur Kant-Kritik Theodor W. Adornos / Carl Braun. Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Kantstudien : Erg.-H.; 115) ISBN 3-11-009541-6 NE: Kantstudien / Ergänzungshefte
Copyright 1982 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung— J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 — Printed in Germany — Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
MEINEN ELTERN
VORWORT Die vorliegende Arbeit ist im Herbst 1981 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen worden. Meinem akademischen Lehrer Professor Dr. W. Ritzel f ü h l e ich mich in besonderer Weise für die Anregung und Betreuung dieser Arbeit zu Dank verp f l i c h t e t . Professor Dr. P. Baumanns möchte ich für die kenntnisreiche und kritische E i n f ü h r u n g in die Philosophie des Deutschen I d e a l i s m u s und die langjährige Teilnahme an seinen Seminaren danken, Professor Dr. Fr. Borden für seine Anregungen und die Übernahme des Korreferats. Den Professoren Dr. G. Funke und Dr. J. Kopper gilt mein Dank für die Aufnahme dieser Arbeit in die Kant-Studien, Professor Dr. H. Wenzel für das großzügige Entgegenkommen des Verlages Walter de Gruyter, ohne das die Arbeit nicht hätte erscheinen können. N i c h t zuletzt möchte ich Herrn H.-G. Küppers, Frau I. Luckenbach, Herrn K. Niemann und Frau I. Schumacher für ihre bereitwillige H i l f e bei der Ers t e l l u n g des Typoskripts, Herrn H. Grenzhäuser für das Schreiben der Druckvorlage danken.
Bonn, im September 1982
Carl Braun
INHALTSVERZEICHNIS 1
EINLEITUNG
1
2
DAS VERHÄLTNIS VON BESONDEREM UND ALLGEMEINEM
5
2.1 2.2 2.3
Der systematisch philosophische Aspekt Der geschichtsphilosophische Grund Die Losung der Problematik: Das Prinzip der "negativen Dialektik" Absetzung der negativen von der positiven Dialektik. Zur Hegelkri ti k Adornos Positive Konkretisierung der negativen Dialektik: Ihre Hauptkategorien Das Verhältnis der negativen Dialektik zur Kunst Das doppelte Scheitern der negativen Dialektik Das Problem der Negativität Das Problem der Dialektik Zusammenfassung der Überlegungen. Adornos Stellung zu Kant und Hegel
2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.4.1 2.3.4.2 2.4
6 11 25 28 36 42 47 47 54 61
3
ADORNOS KRITIK DER ERKENNTNISTHEORIE KANTS
3.1 3.2 3.3
Der ontologische Interpretationsansatz Adornos 67 Die Kantische Fragestellung 70 Unmittelbare Folgen des ontologischen Interpretationsansatzes (Problem des Dinges an sich und der Affektion) ... 73 Die Kantischen Dualismen 76 Dualismus von Form und Inhalt 76 Dualismus von Rezeptivitä't und Spontaneität 81 Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand 85 Die Transzendentale Ästhetik 85 Allgemeine Einwände 86 Die einzelnen Raum- und Zeitargumente 95 Adornos Entwicklungsversuch einer Raum- und Zeitlehre 100 Die Analytik der Begriffe 100 Allgemeines (Kategorien, Synthesis) 101 Die metaphysische und die transzendentale Deduktion 104
3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.3.1 3.4.3.1.1 3.4.3.1.2 3.4.3.1.3 3.4.3.2 3.4.3.2.1 3.4.3.2.2
65
X 3.4.4 3.4.4.1 3.4.4.2 3.5 3.6 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.2.1 4.1.2.2 4.1.2.3 4.1.3 4.1.3.1 4.1.3.2 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.2.1 4.2.2.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1
Inhaltsverzeichnis Die Kantischen Vermittlungsversuche nach Adorno Die Lehre von der Apprehension Die Lehre vom Schematismus Die Transzendentale D i a l e k t i k Zusammenfassung der Überlegungen und die Bedeutung der Subjektstheorie
115 115 118 121
ADORNOS KRITIK DER ETHIK KANTS Vorwurf der Repressiv!tat Ethik als Herrschaftsinstrument Repressivität des Moralprinzips (Unfreiheit der Sinnlichkeit) Darstellung Herleitung Fehler Kausalität und Gesetzlichkeit (Unfreiheit der Freiheit) Freiheit und Kausalität Freiheit als Autonomie Weitere Aspekte: Glück, Mitleid, repressive Ausdrücke, "Strafbedürfnis" Vorwurf der I r r a t i o n a l i t ä t Irrationalität der Begründung Irrationalität der Konsequenzen Das Verhältnis der Vernunft zu ihrem Gegenstand Das Fatum des i n t e l l i g i b l e n Charakters Vorwurf der Abstraktion Aspekte der Abstraktion Die Psychologisierung und Soziologisierung der kritischen Ethik Zusammenfassung der Überlegungen und die Bedeutung der Subjektstheorie
129 130 130
ADORNOS KRITIK DER SUBJEKTSTHEORIE KANTS Das transzendentale Selbstbewußtseinsprinzip Deutung des "ich denke" , K r i t i k des "ich denke": Das Problem von Konstituens und Konstitutum Das noumenale Selbst Die Bestimmung des noumenalen Selbst
124
133 134 135 137 143 143 145 147 154 154 160 160 166 172 172 176 182 187 189 189 210 225 225
Inhaltsverzeichnis
XI
5.2.2 5.3
Die subjektstheoretischen Dualismen Zusammenfassung der Überlegungen
228 237
6 6.1
ADORNOS SUBJEKTSTHEORIE Kritische Rekonstruktion
239 240
6.1.1
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt: Die Prä'ponderanz des Objekts
240
6.1.2 6.1.2.1 6.1.2.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3
Die innere Struktur des Subjekts: Das Problem der Identität 259 Darlegung des Reduktionismus 259 Das Scheitern des Reduktionismus 260 Konsequenzen 274 Die geltungstheoretische Problematik 274 Das Problem von Theorie und Praxis 277 Zusammenfassung der Überlegungen 287
7
ERGEBNIS
291
LITERATURVERZEICHNIS
293
NAMENVERZEICHNIS
309
1
EINLEITUNG
Waren in den fünfziger Jahren Namen wie Adorno, Horkheimer, Marcuse und mit ihnen der Begriff einer "Kritischen Theorie" weitgehend unbekannt, so änderte sich dieses B i l d in den sechziger Jahren grundlegend: Die Kritische Theorie eroberte das Forum der Öffentlichkeit und stand vielfach im Brennpunkt heftiger gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Auch wenn sich die Diskussion um die Frankfurter Schule a l l m ä h l i c h versachlicht hat, scheinen Namen wie Adorno noch immer von der selbständigen Anstrengung des Begriffs zu befreien: F ä l l i g e Begründungen werden nicht selten durch Zitate aus seinem umfangreichen Werk ersetzt. Auch begnügt sich die in den letzten Jahren erschienene V i e l z a h l philosophischer Arbeiten über Adorno zumeist mit einer Darstellung seiner Konzeption und der Problematisierung einzelner Punkte. Eine grundsätzliche K r i t i k seiner Theorie steht noch aus. Wie Th. Baumeister in einem neueren Literaturbericht feststellt, ist Adornos "Defizit an theoretischer Artikulation" auch dadurch verursacht, daß er " ( . . . ) die Geschichte der Philosophie weitgehend nur als Beweisstück für seine Katastrophentheorie der Geschichte der Rationalität benutzt und sich somit den Zugang zu den Artikulationsmöglichkeiten versperrt, die in der Ge2 schichte des Denkens entwickelt worden s i n d . " Diese Beobachtung soll im folgenden konkretisiert werden: Insbesondere die Philosophie Kants wird sich als geeignet erweisen, die inneren Schwierigkeiten der Konzeption Adornos zu überwinden. Derart ist eine Analyse des Verhältnisses von Kritischer Theorie und Kritizismus von zentraler systematischer Bedeutung.
Generalanmerkung Die Zahlen in Klammern hinter dem Namen des Autors bezeichnen den jeweiligen Titel des zitierten Werkes und beziehen sich auf das entsprechend aufgeschlüsselte Literaturverzeichnis. Die 'Kritik der reinen Vernunft' wird nach den Originalausgaben 1781 (A) und 1787 (B) zitiert. Kants übrige Schriften werden nach der Akademieausgabe gezählt. Dabei wird der Text der Weischedel-Ausgabe zugrundegelegt. 1 Über die historische Entstehung des Namens kritische Theorie vgl. SohnRethel ( 2 6 8 ) , S. 132. Zum Zusammenhang des zugrundeliegenden Kritikbegriffs mit Marxens 'Kritik der politischen Ökonomie' vgl. Dubiel ( 5 1 ) , S. 78 f. Zur Absetzung der kritischen Theorie von der traditionellen Theorie vgl. Horkheimer ( 1 2 3 ) und dazu Theunissen ( 2 7 6 ) , S. 4 - 12. 2 Baumeister ( 2 5 ) , S. 25
2
Einleitung
Die Arbeit geht in fünf Schritten vor, denen sich jeweils eine These zuordnen läßt: 1. These: Das Grundproblem Adornos (Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem)wirft sowohl von seiner geschichtstheoretischen Begründung als auch von seiner vorgeschlagenen Lösung her die Frage nach dem Subjekt auf. Dies führt auf die Betrachtung der Kantkritik Adornos. 2. These: Die Überprüfung der K r i t i k Adornos an der Kantischen Erkenntnistheorie zeigt, daß seine Einwände dem Anspruch einer immanenten Kritik nicht genügen und eine Entscheidung zwischen beiden Positionen eine Klärung der Subjektstheorie verlangt. 3. These: Adornos Kritik der Kantischen Ethik ist ebenfalls nicht immanent und setzt eine von Kant abweichende Subjektstheorie voraus. 4. These: Die Einwände gegen die systematisch zentrale Subjektstheorie Kants beruhen auf ontologischen Mißverständnissen. Durch diesen Nachweis wird die Möglichkeit der Kantischen Konzeption sichergestellt. 5. These: Die alternative Subjektstheorie Adornos scheitert nicht nur an immanenten Schwierigkeiten, sondern auch an ihren weiteren Konsequenzen. Derart wird indirekt die Notwendigkeit einer transzendental philosophischen Subjektskonzeption dargelegt. 3 Im folgenden ist es uns nicht um die Person Adornos und ihre Erfahrungen zu t u n , sondern ausschließlich um die von ihm vertretene Theorie und deren Stichhaltigkeit. Der mögliche Vorwurf, hier werde versucht, mit inadäquaten, sogenannten "konsequenzlogischen" Mitteln den Gehalt der Theorie Adornos zu erschließen, vergißt dessen Anspruch, unmittelbare Erfahrungen durch immanente K r i t i k und damit Stringenz explikativ zu verifizieren. Auch wenn "Philosophie wesentlich nicht referierbar' sein mag, so müssen doch ihre Argumente referierbar sein - und um diese wird es gehen. Grundsätzlich verfehlt wäre es daher, unserer K r i t i k etwa mit dem lediglich peinlich berührenden Hinweis auf Adornos "Sensibilität ( . . . ) , die die Grobheit demonstriert, an der sie
3 Zur Person Adornos vgl. Haselberg (94); Pettazzi (217) 4 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 29, 39 - 42, 52, 55. Nach Adorno bildet die Intuition "kein(en) einfachen Gegensatz zur Logik". Vielmehr " ( . . . ) verhalten die Intuitionen die Vernunft dazu, auf sich selbst als bloße Reflexionsform von Willkür zu reflektieren, um der Willkür ein Ende zu bereiten." [Adorno ( 1 4 ) , S. 54]. Nicht die Intuition selbst ist zu überprüfen - dies verbietet sich definitionsgemäß -, sondern nur die von ihr initiierte Reflexion. 5 Adorno ( 7 ) , S. 44
Einleitung
3
leidet" , begegnen zu w o l l e n . Die Person Adornos kann nur dann gebührend geachtet werden, wenn seine Theorie ernstgenommen wird. Dies wird im folgenden geschehen. Auch ist es nicht die Unkenntnis der von Adorno bezeichneten drohenden Gefahren für den Wert und die Freiheit des einzelnen in einer von anonymen Machtapparaten beherrschten Welt, sondern gerade deren Kenntnis, die zu einer Auseinandersetzung mit seiner Philosophie nötigt. Dieses Unternehmen wird dadurch erschwert, daß wir auf keine überzeugend ausgeführte Alternative hinzuweisen vermögen. In diesem Sinne verharren wir nicht anders als Adorno in der Negativitä't. Auch wenn wir die Kritische Theorie mit dem K r i t i z i s m u s kontrastieren und einen grundsätzlichen Reflexionsvorsprung Kants vor Adorno erblicken, sind ebenso gegen eine vorbehaltlose Übernahme der Kantischen Konzeption Bedenken geltend zu machen. Dennoch dürfte zu erkennen sein, daß das kritische Werk Kants auch zur Lösung gegenwärtiger Problemstellungen als Grundlage dienen k a n n .
6 Schweppenhäuser ( 2 6 5 ) , S. 97
2
DAS VERHÄLTNIS VON BESONDEREM UND ALLGEMEINEM
Eine Darstellung der Philosophie Adornos ist mit einem nahezu unlösbaren Problem konfrontiert,weil sich diese Theorie e x p l i z i t und auch in ihrer p publizierten Form, dem Essay , einer jedweden Systematik entzieht. Die Vielzahl der Einzelanalysen ist zu keinem überschaubaren System zusammengefügt worden, von dem her ihr jeweiliger Stellenwert eindeutig bestimmbar wäre. Insofern mutet jede Behauptung, den zentralen Gedanken erfaßt zu haben, zunächst w i l l k ü r l i c h an. Eine Entscheidung kann sich nur im Nachhinein legitimieren, indem der von ihr herausgestellte Kernpunkt sich als geeignet erweist, die Einzelanalysen sinnvoll zu integrieren. Unter diesem Vorbehalt kann das Hauptanliegen Adornos als das Problem der Individualität und Freiheit des Einzelnen bestimmt wenden.Dieser Kerngedanke zieht sich durch nahezu a l l e philosophischen, ästhetischen, pädagogischen, soziologischen, psychologischen und geschichtstheoretisehen Schriften. Am bekanntesten ist dieses Problem unter Begriffen wie "Kulturindustrie", "verwaltete Welt", "verdinglichtes Bewußtsein" u.a. Diese Gedankenkomplexe sind jedoch nur Phänomene einer tieferliegenden Problematik, die unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem auf ihren abstraktesten Ausdruck gebracht werden kann . Obwohl sich dieses Problem in wechselnden Gestalten in die verschiedenen angegebenen Dimensionen erstreckt und die Kritische Theorie entgegen der ursprünglichen Bedeutung von "kritisch" gerade die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaftszweigen aufheben w i l l , soll im folgenden der philosophische Aspekt im Vordergrund stehen. Diese auf den ersten Blick inadäquate Vorgehensweise ist deshalb berechtigt, weil nur so - wie sich zeigen wird - die genuin philosophischen Probleme angemessen beurteilt werden können. Bestimmte Fragestellungen der Philosophie können in ihrer grundlegenden Bedeutung aus der z.B. soziologischen oder psychologischen Perspektive nicht erfaßt werden.
1 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 31 - 38 2 Vgl. Adorno ( 8 ) , S. 9 - 33. Vgl. auch Kudszus (164), S. 29 f. 3 So auch z.B. Oehler ( 2 1 0 ) , S. 151 und Tichy. Dabei ist das Problem von Besonderem und Allgemeinem eng mit dem von Subjekt und Objekt verknüpft. Vgl. Tichy ( 2 7 7 ) , S. 29. Vgl. zu Tichy die Kritik von Baumeister ( 2 5 ) , S. 2 - 5.
2.1
Der systematisch philosophische Aspekt
Das Bemühen Adornos geht dahin, in der heutigen "verwalteten" und vielfach szientistisch ausgerichteten Welt die (menschliche und d i n g l i c h e ) Individualität zu retten, sie vor der drohenden Mediatisierung zum numerierten Befehlsempfänger bzw. Exemplar eines Allgemeinen zu bewahren. Der Hauptangriffspunkt
Adornos l i e g t in der Vorherrschaft
des
begrifflichen
Denkens, des Begriffs qua conceptus communis . Der Begriff und mit ihm die von Aristoteles geprägte herrschende Logik subsumierten das Besondere unter das Allgemeine mittels allgemeiner Bestimmungen (genus proximum, differentia specifica). Dadurch werde das I n d i v i d u e l l e in dem, was es gerade zum I n d i v i duellen mache, das I n d i v i d u e l l e als I n d i v i d u e l l e s e l i m i n i e r t , weil das schlechthin Besondere und Einmalige tlurch allgemeine Bestimmungen nicht adäquat ausgedrückt werden könne: "Befriedigt schiebt b e g r i f f l i c h e Ordnung sich vor das, was Denken begreifen w.ill. 8 Ideengeschichtlich betrachtet verweist dieses zentrale Motiv auf die lebensphilosophischen Einflüsse im Denken Adornos: Schon Nietzsche, sein großer Gewährsmann in Fragen der P h i l o s o p h i e , stellt fest, daß der (im Interesse der Selbsterhaltung gebildete) Begriff auf dem "übersehen des I n d i v i d u e l len und W i r k l i c h e n " 9 beruht. Verbindungen lassen sich auch zum Neukantianismus der Südwestdeutschen Schule ziehen, die angesichts des Problems der Ind i v i d u a l i t ä t die "Bevorzugung der nomothetischen Denkformen" kritisch ex4 Der Begriff "verwaltete Welt" wurde von Adorno und Horkheimer geprägt. Vgl. Adorno ( 4 ) , S. 67 5 Der Begriff der Individualität wird von Adorno durchaus mehrdeutig gebraucht: Zum einen soll er eine "geistige Reflexionsform"[Adorno ( 7 ) , S. 358]bezeichnen, zum anderen spricht Adorno auch von einer "individuellen Sache"[Adorno ( 7 ) , S. 164}.Vgl. auch Kap. 2 . 4 . 4 . 1 . 6 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 38 7 Der Unterschied von Allgemeinbegriff und Inbegriff wird von Adorno nicht thematisiert. Die Denkform des Inbegriffs widerspricht dem von ihm behaupteten Ineins von Denken, Identifizieren und Begriff [vgl. Adorno ( 7 ) , S. 151] und bietet so die Möglichkeit, eine alternative Denkform zu entwickeln, die den Schwierigkeiten einer "negativen Dialektik" entgeht. Zur Theoiie des Inbegriffs vgl. Ritzel ( 2 3 4 ) , S. 139 - 153; ( 2 3 0 ) , S. 173-181. 8 Adorno ( 7 ) , S. 17 9 Nietzsche ( 2 0 8 ) , S. 313. Zum Verhältnis Adorno - Nietzsche vgl. Pütz ( 2 2 0 ) ; ( 2 2 1 ) , S. 15 f f . ; Bolz ( 3 5 ) ; Schmidt ( 2 5 4 ) , S. 6 7 2 . 10 Windelband ( 2 8 7 ) , S. 366
Der systematisch philosophische Aspekt
7
poniert und sich bemüht, die "Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" zu ziehen. Die Herrschaft des B e g r i f f l i c h e n zeigt sich nach Adorno näher sowohl in dem rationalistischen (Spinoza) und positivistischen Glauben an den besonderen Wert von Definitionen 1 1 als auch in der bei Descartes 12 anhebenden Quantifizierungstendenz der Neuzeit , die das I n d i v i d u e l l e zum bloß Zählbaren degradiere: "Der A u f k l ä r u n g wird zum Schein, was in Zahlen, zuletzt in der E i n s , nicht aufgeht" 1 4 . Dennoch verbleibe immer ein Rest, der sich der Subsumtion unter das Allgemeine wesensmäßig entziehe. Das I n d i v i d u e l l e ist für Adorno in Aufnahme eines säkularisierten Topos (der gewöhnlich der mittelalterlichen Philosophie 4r 4c zugeschrieben wird ) das " I n d i v i d u u m ineffabile" . Dieses sei zwar auch ein Allgemeines und nicht ohne das Allgemeine bestimmbar - hier setzt Adornos Kritik der Romantik 18 an -, aber entscheidend sei, daß es ebenso mehr als das sei. Dieses "Mehr", das sich aus dem Blickwinkel des sogenannten "Konsequenzdenkens' als "quantite negligeable" darstelle, verdiene besondere Aufmerksamkeit. Da dieses nicht unter den Begriff Subsumierbare nicht mit dem Allgemeinen identifizierbar sei, nennt Adorno es vorwiegend das "Nichtidentische" 21 . Er bezeichnet es auch als das "Metalogische"22 , weil es sich dem Zugriff der vorherrschenden Logik entziehe. Unter ästhetischem Aspekt zeigt sich nach Adorno dieser Gegensatz zwischen nicht begreifbarer Besonderheit und begreifend-begriffliehen Allgemeinen im "Rätselcharakter" 23 der Kunst. Näher wird 11 In seiner Skepsis gegenüber Definitionen steht Adorno in einer Linie mit so unterschiedlichen Denkern wie Kant [ ( 1 4 7 ) , B 755 - 760; ( 1 5 4 ) , S. 281 - 284], Hegel [ ( 1 0 3 ) , Bd. II, S. 513] und Nietzsche [ ( 2 0 9 ) , S. 820]. Zu Adornos Stellung zum Problem der Definition vgl. ( 7 ) , S. 164; ( 1 0 ) , S. 9 - 12; ( 1 0 ) , S. 20 - 29; ( 1 3 ) , S. 54 - 70. 12 Vgl. Descartes ( 4 3 ) , Bd. VI, S. 10; ( 4 4 ) , Bd. II, S. 6 13 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 53 f 14 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 24 15 Zur Problematik dieser Zuordnung vgl. Oeing-Hanhoff ( 2 1 1 ) , S. 309 16 Adorno ( 7 ) , S. 148. Vgl. auch die zentrale Bedeutung der These ("Individuum est ineffabile.") für Dilthey. Vgl. Dilthey ( 4 7 ) , S. 330 17 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 175; ( 7 ) , S. 199 f; ( 3 ) , S. 113 18 Hier folgt Adorno der Romantikkritik Hegels. Vgl. jedoch auch zu Adornos Affinität zur Frühromantik: Hörisch (118). 19 Adorno ( 1 0 ) , S. 184 20 Adorno ( 7 ) , S. 20 21 Adorno ( 7 ) , S. 164 22 Adorno ( 7 ) , S. 162 23 Adorno ( 1 ) , S. 182
8
Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
das "Naturschöne" als die "Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität" 24 bestimmt. Das Prinzip des Begriffs erblickt Adorno ähnlich Nietzsche, der vom "Gleichsetzen des Nichtgleichen" 25 spricht, in der Identität. Diese sei die "Urform oc von Ideologie" . Das "Identifikationsprinzip" habe "sein gesellschaftliches Modell" - hier ist an die Unterscheidung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert zu erinnern, die bei Marx eine zentrale Rolle spielt - am "Tausch" 27 . Der Begriff identifiziere (subsumierej das Besondere mit dem Allgemeinen (unter das Allgemeine), er abstrahiere vom jeweils Besonderen. Das Identitätsdenken - für Adorno p r i n z i p i e l l idealistisch 28 - sei zur Selbstbesinnung anzuhalten 29 , auf daß es seine abstrakte Negation des schlechthin I n d i v i d u e l l e n erkenne und diesem sein Recht widerfahren lasse. Erst dadurch werde "Versöhnung" möglich, die bisher der unreflektierte Herrschaftsanspruch des begrifflich-identifizierenden Denkens vereitelt habe. Allerdings könne die Identifikation nicht restlos überwunden werden: Die Selbstreflexion " ( . . . ) vermag das Identitätsprinzip noch zu durchschauen, nicht aber kann ohne Identifikation gedacht werden, jede Bestimmung ist Identifikation." "Denken heißt Identifizieren." Solcherart sei die Philosophie mit der paradoxen Anstrengung konfrontiert, " ( . . . ) über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen." 32 Die Philosophie wird damit zur "Sisyphusarbeit" 33 und ihr Ziel verflüchtigt sich zur Utopie: "Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begrifflose mit Begriffen a u f z u t u n , ohne es ihnen gleichzumachen." 34 24 Adorno ( 1 ) , S. 114. Zur Stellung des Naturschönen in der Ästhetik Adornos vgl. Baumeister/Kulenkampff ( 2 6 ) , S. 84 - 96; Figal ( 6 7 ) . Vgl. zu Figal: Baumeister ( 2 5 ) , S. 9 - 14. 25 Nietzsche ( 2 0 8 ) , S. 313 26 Adorno ( 7 ) , S. 151. Gegen Adorno zu Wenden ist die Tatsache, daß allenfalls eine falsche Identität ideologisch ist. 27 Adorno ( 7 ) , S. 149. Vgl. ( 1 2 ) , S. 209. Zur Bedeutung des Tauschprinzips bei Adorno vgl. Rath ( 2 2 3 ) , S. 52 - 57. 28 Adorno ( 1 1 ) , S. 80 f. Diese Terminologie ist insofern verwirrend, als derart auch der Materialismus idealistisch sein kann [vgl. Adorno ( 1 1 ) , S. 85]. Der wahre Materialismus jedoch - so Adorno - " ( . . . ) präsentiert dem Geist die Rechnung, indem er ihn seiner eigenen Naturwüchsigkeit überführt und schließlich den Ursprung des Geistes und noch in seiner äußersten Sublimierungen (!) in der Lebensnot sucht."[Adorno ( 1 1 ) , S. 173] 29 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 16; ( 7 ) , S. 41; ( 7 ) , S. 156 u.ö. 30 Adorno ( 7 ) , S. 152. Vgl. ( 1 4 ) , S. 336 31 Adorno ( 7 ) , S. 17 32 Adorno ( 7 ) , S. 27. Diese These hält Adorno gegen Wittgensteins Satz: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." [Wittgenstein ( 2 8 8 ) , S. 132][Vgl. Adorno ( 1 0 ) , S. 55 f; ( 1 1 ) , S. 183]. 33 Adorno ( 1 ) , S. 382 34 Adorno ( 7 ) , S. 21. Vgl. ( 7 ) , S. 66, 153; ( 1 0 ) , S. 56
Der systematisch philosophische Aspekt
9
Bevor Adornos Lösungsvorschlag dieser Paradoxie in der Idee einer "negativen D i a l e k t i k " skizziert werden kann, muß ihrem Grund nachgefragt werden. Dabei ist zunächst zu klären, welcher Art die Ursache dafür ist, daß auch durch Selbstbesinnung der dem Besonderen gegenüber repressive Charakter des Denkens nur bedingt aufgehoben werden kann. Die zugrundeliegende Vorstellung Adornos kann auf folgenden Syllogismus gebracht werden: Maior: "Denken heißt Identifizieren." Minor: Das Identifizieren ist eine Negation des I n d i v i d u e l l e n , weil sein Mittel, der Begriff, dem "unterdrückenden Prinzip" gleichzusetzen ist. Conclusio: Denken ist eine Negation des I n d i v i d u e l l e n . Indessen ist der maior insofern problematisch, als der Begriff des identifizierens äquivok ist:Identifizieren kann zum einen heißen: "etwas mit etwas identifizieren", das Besondere mit dem Allgemeinen, dem B e g r i f f » i d e n t i f i z i e ren, so daß jenes hinter diesem verschwindet, das I n d i v i d u e l l e nicht anerkannt wird. In diesem Sinne versteht Adorno den Begriff des Identifizierens: "Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen w i l l . " Identifizieren kann aber zum anderen bedeuten:"etwas als etwas identifizieren." In diesem Falle verdeckt das Allgemeine nicht das Besondere, es bedarf nicht der von Adorno geforderten Leistung des Enthüll ens. Das Individuelle wird nicht auf ein bloßes Exemplar des Allgemeinen reduziert. Daraus folgt, daß begriffliches Bestimmen nicht eo ipso schlecht identifizierend ist und das I n d i v i d u e l l e negiert. Vielmehr ist es wesentlich in das Belieben des Denkenden gestellt, inwieweit dieser das Besondere neben dem Allgemeinen gelten läßt. Dies konvergiert mit der Erkenntnis H. Rickerts, der auf der Grundlage der Differenzierung zwischen einem naturwissenschaftlich-generalisierenden und einem geschieht!ich-individualisierenden Verfahren der Begriffsbildung feststellt:"Beziehe ich also eine i n d i v i d u e l l e Wirkl i c h k e i t auf einen allgemeinen Wert, so wird sie dadurch nicht zum cattungsexempiar eines allgemeinen Begriffs, sondern sie bleibt in ihrer Individualität bedeutsam als i n d i v i d u e l l e r Träger eines i n d i v i d u e l l e n Sinngebildes.'
35 Adorno ( 7 ) , S. 57 36 Rickert ( 2 2 5 ) , S. 97. Vgl. auch die weiterführenden Überlegungen zum Beg r i f f des Identifizierens (von etwas als etwas) bei Strawson ( 2 7 4 ) , bes. S. 17 - 37. Kritik an Strawson übt Tugendhat ( 2 7 9 ) , S. 391 - 425.
10
Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Die von Adorno verwischte Differenz aber zwischen der Identifikation von etwas mit etwas und der Identifikation von etwas als etwas reduziert nicht nur das individualisierende Verfahren auf das generalisierende, sondern bezeichnet auch genau den Unterschied zwischen einer logischen Notwendigkeit und einer (im weitesten Sinne) psychologischen Nötigung. Da der Versuch, die Unterdrückung des Besonderen als logisch notwendig aus dem Begriff des allgemeinbegrifflichen Denkens abzuleiten, scheitert, muß Adorno auf psychologische Vorstellungen ausweichen. Von hierher wird seine Geschichtstheorie für das Problem des Allgemeinen und Besonderen systematisch bedeutsam.
2.2
Der geschichtsphilosophische Grund
1. Die Entwicklung der Geschichtskonzeption der Kritischen Theorie ist als Versuch einer neuen Deutung der geschichtlichen Entwicklung angesichts der Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu lesen. Folgt die frühe Kritische Theorie weitgehend dem orthodox marxistischen Geschichtsverständnis, so erweist sich dieses bald als revisionsbedürftig : Die Erfahrungen von Faschismus, Stalinismus und amerikanischer K u l t u r i n d u s t r i e als Ausdruck einer drohenden "Entoo Wicklung zur totalen Integration" , einer "falsche(n) Identität von Allgemeinem und Besonderem" 39 , lassen sich nicht mehr a l l e i n mit den Marxschen Kategorien angemessen fassen. In dieser Situation wächst den Vertretern der K r i tischen Theorie die Aufgabe zu, ihre Position als kritische neu zu definieren. Erstmals wird dies in umfassender Weise von Horkheimer und Adorno im Rahmen einer Deutung der abendländischen Geschichte mit dem Grundgedanken einer "Dialektik der Aufklärung" (wobei Aufklärung "nicht bloß als geistesgeschichtl i c h sondern real" , d . h . umfassend als okzidentale Rationalisierung verstanden w i r d ) , einer D i a l e k t i k von Naturunterdrückung und Naturverfallenheit versucht. 41 Dieser Idee zufolge ist " ( . . . ) die Katastrophe der Gegenwart nichts anderes ( . . . ) als die Erscheinung der innersten Beschaffenheit der bisherigen Geschichte, ihr katastrophischer Kern." Als Ursprung der Geschichte vermutet Adorno - Kant würde ergänzen: "auf den Flügeln der Einbildungskraft"43 - irgendeine "irrationale Katastrophe in den Anfängen" , die in "archaischen W i l l k ü r a k t e n der Machtergreifung" bestehe. Hierdurch breche der Mensch den Bann der Natur, schwinge sich zur Herrschaft über die Natur a u f . Subjektivität und Macht seien f o l g l i c h eng mit37 Zur Entwicklung der GeschiehtsvorStellung der frühen Kritischen Theorie vgl. Geyer (78), S. 62 f; Theunissen ( 2 7 6 ) , S. 14 f; Düver ( 5 2 ) , S. 32. 38 Adorno ( 2 ) , S. 10 39 Adorno ( 2 ) , S. 141. Vgl. auch Horkheimer ( 1 2 4 ) , S. 119 40 Adorno ( 2 ) , S. 14. Vgl. ( 2 ) , S. 63 41 Dieses Motiv läßt sich zurückverfolgen bis zu Adornoa Arbeit über Kierkegaard. Vgl. Adorno ( 3 ) , S. 156, 221, 262 42 Kaiser (134), S. 93 43 Kant (150), S. 109 f 44 Adorno ( 7 ) , S. 317 45 Adorno ( 7 ) , S. 315. Vgl. ( 2 ) , S. 69
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einander verbunden: "Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen." Derart aber verändere sich entgegen dem ersten Anschein nichts: Vor und nach dem "Erwachen des Subjekts" herrsche das Machtprinzip. Natur sei nicht w i r k l i c h überwunden, sondern setze sich gleichsam - Adorno scheint den Gedanken einer "List der Vernunft" in den einer List der Natur zu wenden - hinter dem Rücken der Subjekte durch: "So führt Zivilisation als auf ihr letztes Ergebnis auf die furchtbare Natur zurück." Auch sei noch " ( . . . ) die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt." 4 8 Geschichte ist damit für Adorno nicht vernünftig: Sie sei noch Vor- oder "Naturgeschichte" . Gegen ihre "Vergottung" bei Hegel , Marx und Engels setzt er die These, Geschichte sei der Prozeß "von der Steinschleuder zur 46 47 48 49
Adorno ( 2 ) , S. 25 Adorno ( 2 ) , S. 134. Vgl. ( 2 ) , S. 254 Adorno ( 2 ) , S. 291 Adorno ( 7 ) , S. 347 u.ö. Zum Begriff der "Naturgeschichte" vgl. Düver ( 5 2 ) , S. 161 - 167. 50 Für Hegel gilt, " ( . . . ) daß die Vernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftig augegangen sei." [Hegel (101), S. 20] Die philosophische Betrachtung der Weltgeschichte sei "eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes", die die "Aussöhnung" des denkenden Geistes mit dem Negativen anstrebe (a.a.O., S. 28). Inhaltlich bestimmt Hegel die Weltgeschichte als "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (a.a.O., S. 3 2 ) . Adorno hingegen erblickt eine fortschreitende Liquidierung menschlicher Freiheit. 51 Wie Hegel deutet Marx mittels seiner Konzeption einer notwendigen Aufhebung der antagonistischen Klassengesellschaft Geschichte ebenfalls positiv. Nicht nur diese Teleologie, sondern auch die Marxsche Identifizierung der Adressaten einer revolutionären Theorie und seine Bestimmung der Ursache der geschichtlichen Übel sind Adorno fragwürdig geworden: Richtete sich Marxens Kritik noch gegen bestimmte Formen der Eigentumsordnung, so greifen Adorno und Horkheimer die gesamte abendländische Vernunfttradition an [Vgl. dazu Wellmer ( 2 8 5 ) , S. 138]. Noch Marx habe " ( . . . ) das Programm absoluter Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches, unterschrieben." [Adorno ( 7 ) , S. 242] Damit bestehe die "zentrale Differenz von Marx und Adorno" in der "These von der Dominanz der Herrschaft über den Tauschprozeß" [Schmucker (256), S. 58], d.h. in der Rückbindung ökonomischer Klassenverhältnisse an metaökonomische Herrschaftsverhältnisse. "Vor dem historischen Materialismus liegt die Kritik der instrumenteilen Vernunft und der sich mit ihr bildenden repressiven Identitätsformen des Subjekts." [Habermeier ( 9 1 ) , S. 181] Fragwürdig ist für Adorno auch die "These, alle Geschichte sei die von Klassenkämpfen." [Adorno ( 1 ) , S. 378] Vgl. zur Kritik der "Dialektik der Aufklärung 1 an der Marxßchen GeSchichtskonzeption auch Lindner/Lüdke ( 1 7 4 ) , S. 19 f, 128 ff; Lüdke ( 1 7 7 ) , S. 138 ff. Vom Standpunkt des orthodoxen Marxismus allerdings stellt sich "Horkheimers
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Megabombe", eine "permanente Katastrophe" 52 a) Unter formalem Gesichtspunkt ist diese Geschichtsdeutung so lange unzul ä n g l i c h , wie kein Kriterium für R a t i o n a l i t ä t bzw. Irrationalität expliziert wird. Auch ist die einzige Alternative zu einer "Vergottung" der Geschichte nicht ihre Verteufelung. Fruchtbar erscheint hier immer noch die Konzeption Kants, Geschichte und die "Tendenz zum continuierenden Fortschritt des Menschengeschlechts zum Besseren" unter "eine moralisch-praktische Vernunftco idee" zu stellen. Dadurch wird sowohl die Gefahr vermieden, eine metaphysisch teleologische E i n h e i t der Geschichte 54 zu postulieren, als auch wird ein s i n n v o l l e r Bezugsrahmen gegeben, auf den hin das geschichtliche Material rekonstruktiv geordnet werden kann. b) Die erkenntniskritisch nicht abgesicherte, abstrakt-einseitige These Adornos steht sodann inhaltlich mit einer zweiten These in einem Spannungsv e r h ä l t n i s , wenn er durch die erreichte "Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität" die Möglichkeit gewährleistet sieht, " ( . . . ) alles Elend dauernd abzuschaffen." c) Die Vereinigung beider Thesen f ü h r t konsequenterweise zu der Verwendung zweier Fortschrittsbegriffe: "Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten,
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und Adornos Geschichtskonzeption" als ein "Regress, ein Rückfall in vormarxistische, idealistische Geschichtstheorien" [Jopke ( 1 3 3 ) , S. 52] dar. Bemerkenswert ist die Affinität zwischen Adornos und Heideggers Geschichtsdeutung: vgl. Rohrmoser ( 2 3 8 ) , S. 37 - 44; Gedö ( 7 6 ) , S. 14 f. Vgl. zum Verhältnis Heidegger - Adorno die großangelegte Arbeit von H. Horchen ( 1 9 7 ) . Horchen weist detailliert nach, daß " ( . . . ) Adornos Verwendung der Zitate (Heideggers, B.) nicht als faire Wiedergabe einer fremden Meinung und als sachgerechte Auseinandersetzung mit ihr hingenommen werden kann. " (197, S. 133) "Die Verblendung seiner Polemik, die Unhaltbarkeit zahlreicher Textdeutungen ist unverkennbar" (197, S. 2 8 4 ) . Bei der "Frage nach den Motiven" der Verweigerung eines echten Dialogs sei "Adornos verdrängte Bindung an Heidegger, als das vermutlich entscheidende" zu nennen. Adorno ( 7 ) , S. 314 f. Vgl. ( 2 ) , S. 253 f; ( 5 ) , S. 620; ( 1 0 ) , S. 170. Hier unterscheidet sich Adornos Geschichtskonzeption auch wesentlich von dem metaphysischen Entwurf Blochs,der eine dem Subjektiv-Utopischen korrespondierende Tendenz des Objektiv-Realen geltend macht [vgl. Bloch ( 3 3 ) , S. 224 - 257]. Zu Adornos Kritik an Bloch vgl. Adorno ( 8 ) , S. 233- 250. Kant ( 1 4 4 ) , S. 611. Über methodologische Verwandtschaft der Geschichtsphilosophie bei Kant und Adorno vgl. Düver ( 5 2 ) , S. 159 f. In der Ablehnung einer solchen teleologischen Einheit konvergiert Adorno mit der strukturalistischen Kritik der Geschichtsphilosophie (Althusser, M. Foucault). Zu den Beziehungen zwischen Adorno und dem Strukturalismus vgl. Bauch ( 1 9 ) , bes. S. 95 u. 100. Adorno ( 2 ) , S. 14 Adorno ( 2 ) , S. 56
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auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit innewird und der Herrschaft E i n h a l t gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fortschritt ereigne sich dort, wo er endet." d) Dieser paradoxen Theoriero eines Fortschritts nach bzw. vor dem Fortschritt, eines dialektischen (?)Charakters des Verhältnisses von Fortschritt und Rückschritt (Stagnation) korrespondiert ein doppelter Naturbegriff: Die (subjektslose) N a t u r , der sich nach Adorno die Vernunft entringt, ist eine andere als die (schon Subjekte voraussetzende) Naturwüchsigkeit, in die sie münden oder in der sie gar verbleiben soll. Läßt sich Adornos D i a l e k t i k von Natur und Geschichte an dieser Stelle als begriffliche Ungenauigkeit auflösen (die durch die These sich selbst negierender Subjekte zusätzlich verwirrt w i r d ) , so a f f i z i e r t dies auch das Verhältnis von Fortschritt und Rückschritt: Ist "Natur" doppeldeutig, dann können Fortschritt und Rückschritt nicht in einer Dimension liegen, sondern sie müssen spezifisch bestimmt werden. Die Herausarbeitung zweier Ebenen würde die Zwangsläufigkeit aufheben, der bisherige Fortschritt der Menschheit sei z u g l e i c h ein Rückschritt 6 (bzw. eine Stagnation), die menschliche Geschichte setze "die bewußtlose der Natur" 6 1 fort. Die Geschichtskonzeption Adornos/rpverlangt derart aufgrund immanenter Schwierigkeiten nach einer Revision. Indessen ist nicht nur der unmittelbare Umschlag von Geschichte in Naturgeschichte, von Fortschritt in Regression in der von Adorno exponierten Form 57 Adorno ( 5 ) , S. 625 58 Adorno ( 5 ) , S. 627 59 Beachtet man den von Adorno selbst unkenntlich gemachten Doppelsinn von "Natur" nicht, dann ergeben sich Mißverständnisse. So meint z.B. U. Sonnemann, daß die Vernunft " ( . . . ) noch zu wenig sie selber (ist), solange sie sich mißversteht als Herrschaft über Naturwüchsigkeit" [Sonnemann (269) , S. 135]. Vielmehr ist nach Adorno die Vernunft gerade dann nicht bloß partikular, sondern verwirklicht, wenn sie ihre Naturwüchsigkeit beherrscht, nicht mehr naturwüchsig ist. Vgl. zu den Äquivokationen des Naturbegriffs Rath ( 2 2 3 ) , S. 118 60 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 53 61 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 348 f 62 Diese Revision ist inzwischen von Habermas in Angriff genommen worden. Ist nach Adorno die "Naturverfallenheit des Menschen heute" nicht "vom gesellschaftlichen Fortschritt (...) abzulösen" [Adorno ( 2 ) , S. 14], "besteht" Naturverfallenheit "in der Naturbeherrschung" [Adorno ( 2 ) , S. 57], so schränkt Habermas auf der Grundlage der Differenzierung zwischen Arbeit und Interaktion diese These derart ein, daß die Produktivkräfte als Ausdruck der technischen Herrschaft über Natur nicht " ( . . . ) unter allen Umständen ein Potential der Befreiung zu sein und emanzipatorische Bewegungen auszulösen (scheinen)" [Habermas (88), S. 92].
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revisionsbedürftig. Zugleich ist es problematisch, ob die Geschichtskonzeption das systematisch von ihr Verlangte leistet,zu begründen weshalb die beg r i f f l i c h e Identifikation das Nichtidentische e l i m i n i e r t . Um hierüber Klarheit zu gewinnen, muß die Geschichtstheorie näher betrachtet werden. 2. Die Deutung des bisherigen Geschichtsverlaufs steht bei Adorno unter der zentralen Kategorie der Selbsterhaltung. Dieses besonders für die Philosophie der Neuzeit wichtige P r i n z i p - Spinoza etwa erblickt in ihm "die erste und einzige Grundlage der Tugend" - wird als konstitutiv für das Verständnis der bisherigen Geschichte überhaupt betrachtet: Es sei "wahrhaft Naturgesetz alles Lebendigen." Des näheren lassen sich bei Adorno zwei Formen der Selbsterhaltung festmachen, die als mlmetische und usurpatorische Naturbewältigung gekennzeichnet werden können. Diesen zwei Formen lassen sich zwei (allerdings zeitlich nicht eindeutig bestimmbare) Phasen der Geschichte zuordnen: Erste phase: In der ersten Zeit, in der das erwachte Subjekt noch schwach ist, könne es sich nicht offen gegen die übermächtige Natur zur Wehr setzen. Deshalb müsse es sich dieser angleichen. So ist der "erste Schritt zur Kongo stituierung des Subjekts" für Adorno das "mimetische Verhalten" : "Nur die bewußt gehandhabte Anpassung an die Natur bringt diese unter die Gewalt des physisch Schwächeren." Dieses auf Nietzsche verweisende Schema einer "Anähnelung an den Naturzustand als Mittel der Naturbeherrschung" sei in der Odyssee - dem "Grundtext der europäischen Z i v i l i s a t i o n " 72 - im Abenteuer des Odysseus mit Polyphem 63 64 65 66 67
68 69 70 71 72
Vgl. Baumeister/Kulenkampff (26) , S. 80 Vgl. Blumenberg ( 3 4 ) Spinoza ( 2 7 1 ) , Teil IV, 22. Lehrsatz, Folgesatz, S. 103 Adorno ( 7 ) , S. 342 Diese Unterscheidung zwischen einer mimetischen und usurpatorischen Form von Selbsterhaltung wird dadurch unkenntlich gemacht, daß Adorno die usurpatorische ebenfalls als mimetische nachzuweisen versucht. Allerdings verlangt dies die Einführung eines zweiten Mimesisbegriffs [vg'l; Adorno (2) , S. 75 f ], so daß der sachliche Ertrag dieses Versuchs nicht inefir einsichtig ist. Es ist keineswegs so, daß sich "Mimesie ale die individuelle Selbsterhaltung" lediglich - wie Zenk meint - "zu ihrer rationalen Form, der gesellschaftlichen Herrschaft gesteigert" [Zenk (.290), S. 93; Hervorhebung, B.] hat. Scheible ( 2 4 5 ) , S. 103 Adorno ( 2 ) , S. 75 Nietzsche ( 2 0 4 ) , S. 999 Adorno ( 2 ) , S. 87 Adorno ( 2 ) , S. 63
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dargestellt. Der "tolpatschige Riese",in dessen Höhle Odysseus mit seinen Gefährten eingesperrt ist, repräsentiere "einen Bewußtseinsstand, dem noch keine feste Identität sich auskristallisiert hat". Indem nun Odysseus sich Niemand nenne, mache er sich Polyphem gleich, der noch "kein Selbst" sei, und könne so entkommen: "In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht,und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe." Jedoch -sei "seine Selbstbehauptung l...), wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung. Damit gerät das Selbst in eben den zwanghaften Zirkel des Naturzusammenhanges, dem es durch Angleichung zu entrinnen trachtet." zweite Phase: Wichtiger für das systematische Ausgangsproblem aber ist die usurpatorische Phase. Mit dem Erstarken des Subjekts ändere sich die Form seiner Selbsterhaltung: "Zivilisation hat anstelle der organischen Anschmiegung ans Andere, anstelle des eigentlich mimetischen Verhaltens, (...) schließlich (...) die rationale Praxis, die Arbeit gesetzt." "Natur soll nicht mehr durch Angleichung beeinflußt, sondern durch Arbeit beherrscht werden." Neben der Arbeit dient nach Adorno als Mittel der Naturbeherrschung wesentlich das begriffliche Denken: Das Denken sei "Organ der Herrschaft", der Begriff ein " i d e e l l e ( s ) Werkzeug" 7 8 . Mit H i l f e der Vernunft, dem Prinzip menschlicher Herrschaft und a l s ihr "Instrument" allererst "entstanden" 79 , bestimme das Subjekt nach der Regel der Identität die Welt auf sich und seinen Herrschaftswillen h i n , es mache das dem Begriff Andere dem Begriff homogen: "Was anders wäre, wird gleichgemacht." 80 Des näheren lassen sich drei systematische Aspekte unterscheiden, die von Adorno zusammengedacht werden: Aspekt a) Das b e g r i f f l i c h e Denken erkenne nicht, daß die äußere Natur wesentlich ein Nichtidentisches sei, das nicht restlos unter das Identitätsprinzip subsumiert werden könne. Das Andere des Denkens verliere für dasselbe den Charakter des Anderen, dieser erscheine bedeutungslos. "Was die Herrschaft des Identitätsprinzips am Nichtidentischen toleriert, ist seinerseits vermittelt vom Identitätszwang, schaler Rest, nachdem die Identifizierung ihr 73 74 75 76 77 78 79 80
Vgl. Odyssee, 9. Gesang Adorno (2) S. 86 Adorno (2) S. 87 Adorno ( 2 ) S. 205 Adorno (2) S. 35 Adorno (2) S. 57 f Adorno (5) S. 775. Vgl. Adorno (2) S. 28
( 2 ) , S. 125
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Stück sich weggeschnitten hat." 81 Die fortschreitenden Erfolge der Naturwissenschaften hinsichtlich technischer Machbarkeit und Auflösung von Qualität in Quantität 82 unterstützten diese herrschaftliche Tendenz 83 , die schließlich irrational werde, weil der (nur mimetisch zu erfassende) "Halt an der Bestimmtheit der Objekte" 84 verlorengehe. Enthalte die "Welt der Magie" noch 85 "Unterschiede" und verfahre sie nach dem Prinzip der "Verwandtschaft" , so werden jene von der modernen Wissenschaft vollkommen getilgt und dieses werde durch das Prinzip des Zeichens ersetzt. Die Dominanz des Identitätsprinzips, die Abstraktion des begrifflichen Denkens vom Nichtidentischen und damit nach Adorno potentiell Neuen bedinge, daß die Welt auf ein "gigantisches n/· analytisches Urteil" reduziert werde. Dies finde in der Philosophie Hegels seinen Ausdruck. 87 Aspekt b) Die Problematik werde dadurch verschärft, daß nicht nur die nicht menschliche Natur, sondern auch die Menschen dem Identitätsprinzip unterworfen würden: "Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit." 88 "Die B l i n d h e i t der Herrschaft der äußeren Natur, die nicht danach fragt, was dieser angetan wird, geht über auf die Organisation als Beherrschung von Menschen, und es schwindet das Bewußtsein dafür, daß die Objekte der Organisation selber Menschen, also identisch mit den vorgefallen chen Subjekten der Organisation sind, die sie zusammenfaßt." Der Mitmensch wird unter den Begriff subsumiert, als unverwechselbares Individuum l i q u i QQ diert. Der einzelne werde gleich-gültig , bloßes Mittel sowohl des Begriffs als auch des mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Allgemeinen. Er sei nicht 81 Adorno ( 7 ) , S. 340 82 Adorno ( 2 ) , S. 53 83 Wesentlich differenzierter als Adorno betrachtet Th. Litt die Beherrschung der Natur: "Von dem Willen zur 'Beherrschung 1 ist nämlich zu sagen, daß er genau in dem Maße der Verwerflichkeit ermangelt, wie die jeweils in Betracht kommende Seinsstufe der Berechnung Raum gibt und demnach zur Beherrschung einlädt" [Litt (176), S. 117], 84 Adorno ( 5 ) , S. 776 85 Adorno ( 2 ) , S. 26 f 86 Adorno ( 2 ) , S. 44 87 Vgl. Adorno ( 1 1 ) , S. 72 88 Adorno ( 2 ) , S. 130. Vgl. auch Horkheimer (124),S. 104. Zu Recht hebt Arnason hervor, daß "der Zusammenhang zwischen Naturbeherrschung und Klassenherrschaft außerordentlich verkürzt" [Arnason ( 1 7 ) , S. 116] ist und in dieser Form nicht überzeugen kann. Vgl. auch die These Guzzonis, " ( . . . ) daß der Grundsatz der Selbsterhaltung zugleich für den Einen selbst und für den Anderen - also keineswegs notwendig gegen alle Anderen - formuliert werden kann." [Guzzoni ( 8 4 ) , S. 342, Anm. 27] 89 Adorno ( 1 2 ) , S. 445. Vgl. ( 1 0 ) , S. 157; ( 1 1 ) , S. 37 90 Adorno ( 7 ) , S. 355
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mehr Zweck an sich. Dadurch aber entstehe eine absurde Situation: "Da (...) der Produktionsapparat nur um der Menschen w i l l e n da sein soll und zu seinem Zweck deren Befreiung, nämlich von überflüssiger Arbeit hat, so wohnt dem Verfall von Individualität zugleich ein Widerspruchsvolles, wahrhaft Absurdes inne." Die Individuen seien " ( . . . ) zu bloßen Ausführungsorganen des Allgemeinen relegiert" 92 . Diese Mediatisierung der Menschen bedinge ihre Entfremdung untereinander: "Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes werden die Beziehungen der Menschen selber verhext" 93 Aspekt c) Entscheidend sei jedoch, daß der einzelne nicht nur die nichtiden tische Natur vergewaltige und von anderen beherrscht werde, sondern daß er sich selbstt um zu herrschen, einer neuen Knechtschaft unterwerfen müsse. Er :h ddas stelle "den Primat der Identität auch gegen sich selbst" 94 her. Da auch 1 Subjekt wesentlich Natur, d . h . ein Nichtidentisches und "Zerstreute(s)M.9S sei, müsse der sich über die Natur aufschwingende Mensch sich selbst Gewalt antun. Um die äußer-menschliche Natur zu beherrschen, müsse die innermenschliche Natur, das eigene Selbst unterdrückt werden. Die "Geschichte der Zivilisation" ist für Adorno derart,unter Rückgriff auf die Freudsche Deutung der Kultur als aufbauend auf einem "Triebverzicht" ,die "Geschichte der Entsagung" . Diese Erkenntnis sei ebenfalls schon in der Odyssee dichterisch gestaltet - so z.B. in der Erzählung von den Lotophagen und dem Verbot, die Lotosfrüchte zu essen. 99 Durch die Entsagung trete eine Entfremdung "jedes einzelnen zu sich" ein: "Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden." Die durch Selbstbeherrschung im Interesse der Selbsterhaltung bedingte Selbstentfremdung manifestiere sich besonders im n e u z e i t l i c h gebrochenen "Verhältnis zum Körper", 102 in seiner Behandlung als " ( . . . ) Ding, das man besitzen kann" . Die Natur 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102
Adorno ( 8 ) , S. 592 Adorno ( 7 ) , S. 336 Adorno ( 2 ) , S. 45 Adorno ( 7 ) , S. 151 Adorno (11), S. 257 Vgl. Adorno ( 1 1 ) , S. 28, 157. Vgl. auch Horkheimer ( 1 2 4 ) , S. 94 Freud ( 7 2 ) , S. 227 Adorno ( 2 ) , S. 73. Vgl. ( 2 ) , S. 163 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 76, 81 ff Adorno ( 2 ) , S. 45. Vgl. auch ( 2 ) , S. 177 Adorno ( 2 ) , S. 47 Adorno ( 2 ) , S. 265
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räche sich jedoch dafür, " ( · · · ) daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat." Ähnlich der Freudschen Gedankenfigur einer Wiederkehr des Verdrängten deutet Adorno dann Erscheinungen wie Auschwitz als "Rebellion der Natur" über Freud wesentlich hinaus geht jedoch die entscheidende Wendung, daß " ( . . . ) mit der Verleugnung der Natur im Menschen (...) nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig (wird). In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig" . Das Selbst werde so das Mittel der Erhaltung des eigentlichen Mittels der Erhaltung. 1 0 7 Herrschaft werde zum "Selbstzweck" und verhindere auf diese Weise das Entwerfen vernünftiger Zwecke, d.h. solcher Zwecke, die im Dienste der "Versöhnung" stehen. Hier allerdings versagt Adornos Versuch, seine Theorie der abendländischen Geschichte an der Odyssee, die s.E. " ( . . . ) insgesamt Zeugnis ab(legt) von der D i a l e k t i k der Aufklärung" 109 , der "Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos" , zu exemplifizieren: Odysseus verliert trotz der von ihm geleisteten Selbstbeschränkung (Unterdrückung der inwendigen Natur) sein Ziel nicht aus den Augen, in die Heimat zu Penelope zurückzukehren. Die Verselbständigung der Mittel, wie sie sich paradigmatisch in der modernen Bürokratie niederschlage, ist indessen für Adorno keine bloße "(...) Entartungserscheinung, wie es dem bürgerlichen Selbstverständnis benagt. Die "Beherrschung innerer und äußerer Natur" 11? bedeute zugleich die Sub-
103 Adorno ( 2 ) , S. 266 104 Freud ( 7 2 ) , S. 217. "Die Phylogenese europäischer Geschichte konstruiert Adorno als 'Wiederkehr des Verdrängten 1 ." [Wohlfahrt (289), S. 316] 105 Adorno ( 2 ) , S. 269 106 Adorno ( 2 ) , S. 73. Voraussetzung dieser These ist die Deutung der "Natur im Subjekt als Ursprung der konkreten Zweck- und Zielsetzungen des Lebens und Handelns überhaupt und gleichzeitig als deren Zielpunkt selbst" [Schwarz (261), S. 450]. Ist jedoch die Natur dar Ursprung von Zwecksetzungen, dann ist Vernunft auf instrumenteile Vernunft verkürzt. 107 Adorno ( 7 ) , S. 342 108 Adorno ( 2 ) , S. 124. Vgl. ( 2 ) , S. 73 109 Adorno ( 2 ) , S. 61 110 Adorno ( 2 ) , S. 63 111 Adorno ( 5 ) , S. 776 112 Adorno ( 1 2 ) , S. 235. Vgl. ( 7 ) , S. 314
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jektslosigkeit der Geschichte. In Anlehnung an Marx bezeichnet Adorno den gesamten bisherigen Geschichtsverlauf als vorgeschichtlich , da sein angeblicher Fortschritt unter den statischen Kategorien "Herrschaft, Unfreiheit, Leiden" und "Allgegenwart der Katastrophe" stehe. Derart sei auch die gängige "Antithesis von Natur und Geschichte" nur teilweise richtig: Wahr sei sie, " ( . . . ) soweit sie ausspricht, was dem Naturmoment widerfuhr; falsch, soweit sie die Verdeckung der Naturwüchsigkeit der Geschichte durch sie selber vermöge ihrer begrifflichen Nachkonstruktion apologetisch wiederholt." Die praktizierte "Unterdrückung der Natur zu menschlichen Zwecken" sei selber nur "ein bloßes Naturverhältnis" 118 . Es reproduziere sich ledig119 l i e h der"ausweglose Bann der Tierwelt" . Da Adorno die Ursache dieser fatalen Entwicklung (genauer: Stagnation) darin erblickt, daß der Mensch sich als selbst ein Stück Natur verleugne - dies pervertiere das Ziel der Selbsterhaltung -, fordert er auch nicht in erster Linie eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern ein "Eingedenken der Natur im Subjekt" 120 . Erst dann könne an die Stelle von Herrschaft, die notwendig Knechtschaft sei, "Versöhnung" treten. 3. Die skizzierte Geschichtstheorie Adornos soll nicht im einzelnen diskutiert werden. Nur zwei Punkte seien kritisch angemerkt: a) Zunächst ist zu fragen, inwieweit die bei der systematischen Betrachtung des Problems vom Allgemeinen und Besonderen aufgeworfene Frage beantwortet wird, weshalb das Individuelle notwendig eliminiert wird. Da dies nicht im begrifflichen Denken selbst, dem Mittel der Herrschaft,begründet ist, muß die Ursache in einer falschen Anwendung des Begriffs gesucht werden. Die einzelnen dargestellten Aspekte können zugunsten des Problems ausgeklammert werden, weshalb der einzelne im Interesse seiner Selbsterhaltung alles Nichtidentische 113 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 15; ( 1 2 ) , S. 237 114 Vgl. Marx ( 1 9 2 ) , S. 9. In gleicher Weise verweist Adornos Deutung der Geschichte als Naturgeschichte auf Marx [vgl. Marx (188), Bd. I, S. 15 u. 23; (189), S. 72]. Allerdings ist die Unterscheidung von Geschichte und Vorgeschichte nicht auf Marx zurückzuführen, wie Th. Mirbach irrtümlich [vgl. Mirbach (195), S. 47] meint, sondern auf Hegel [vgl. Hegel (101), S . 8 2 £ f ] . 115 Vgl. Adorno ( 1 2 ) , S. 374 u. 233 116 Adorno (12) , S. 234 1J7 Adorno ( 7 ) , S. 351 118 Adorno ( 7 ) , S. 181 119 Adorno ( 1 2 ) , S. 349. Vgl. Adorno ( 1 2 ) , S. 96 120 Adorno ( 2 ) , S. 58. Vgl. ( 2 ) , S. 292. Vgl. kritisch dazu Schmucker (256), S. 66
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dem identifizierenden Herrschaftsprinzip unterwerfen miß. Dabei ist es nicht hinreichend, pauschal auf eine Bedrohung des Subjekts durch das Nichtidentische hinzuweisen. Dies könnte a l l e n f a l l s einsichtig machen, daß einiges Nichtidentische eliminiert wird, nicht aber, daß das Subjekt einem totalen Herrschaftszwang unterworfen ist. Die hierfür von Adorno gegebene Begründung zielt darauf, daß sich das Subjekt vom Nichtidentischen bedroht fühlt. Sein Erklärungsprinzip ist eine "Angst des Menschen" 121 - und zwar nicht die Furcht vor konkreten Geschehnissen, sondern die nicht weiter abgeleitete, "(...) das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich 1 22 und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktivität" . Da jedoch das Prinzip der Selbsterhaltung als solches, der bloße Widerstand dagegen, die bezeichnete "Grenze aufzuheben", der reine Wunsch des Sich-vonder-Natur-witeröcheidens nicht eine Unterdrückung der Natur, des Nichtidenti123 sehen, impliziert , postuliert Adorno eine "radikal gewordene, mythische Angst" vor jeglichem Unbekannten, eine "Dauerpanik angesichts des Todes", 125 die nur "durch dessen Verdrängung" zu beschwichtigen sei. Natur als Gegenbegriff der Vernunft verflüchtigt sich damit zum schlechtin Unbestimmten und 126 Unbestimmbaren überhaupt. Geschichtsphilosophie wird zu einer abstrakten "Theorie der unbewältigten Endlichkeit, der unverwundenen Todesangst" Entsprechend dieser Psychologisierung ist es für Adorno eine Art krankhaf1 28 1 ?Q ter "Wunschtraum der Jahrtausende", "grenzenlos Natur zu beherrschen" . Er spricht zwar von einem "unentrinnbaren Zwang zur gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur" und bindet damit die Naturbeherrschung an die rationale Kategorie des Oberlebenskampfes der menschlichen Gattung zurück, jedoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die behauptete Unentrinnbarbarkeit des Zwanges (nicht die Notwendigkeit, überhaupt Herrschaft auszuüben) 121 Adorno ( 2 ) , S. 31 122 Adorno (2) , S. 51 123 Da Guzzoni dies übersieht, indem sie im Anschluß an Überlegrungen Adornos die identifizierende Form von Selbsterhaltung zur einzig möglichen Selbsterhaltung aufwertet, kann sie irrtümlich eine "Negation des Prinzips der Selbäterhaltung selbst" [Guzzoni (84), S. 332] fordern. Durch diesen Reduktionismus aber stellt sich ihr konsequenterweise nicht explizit die Frage, weshalb Selbsterhaltung notwendig mit Herrschaft verbunden ist. 124 Adorno (2) , S. 32 125 Adorno ( 7 ) , S. 363 126 Vgl. Adorno ( 1 ) , S. 113 u. Baumeister/Kulenkampff ( 2 6 ) , S. 84 127 Baumeister/Kulenkampff ( 2 6 ) , S. 97. Vgl. ( 2 6 ) , S. 8l ff 128 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 174 129 Adorno (2) , S. 285 130 Adorno ( 2 ) , S. 52. Vgl. ( 2 ) , S. 49
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
mit einem psychologischen Wahnsystem begründet wird. Diesem psychologischen Erklärungsprinzip entspricht Adornos Lösungsvorschlag: eine Art Therapie der Menschheit durch den Therapeuten der Kritischen Theorie. Aktives gesellschaftsbezogenes Handeln wird demgegenüber sekundär. Angesichts der logischen Tatsache aber, daß mit der Abstraktheit des Erklärungsprinzips sein Erklärüngswert umgekehrt proportional abnimmt, erklärt der geschichtsphilosophische Ansatz Adornos alles und das heißt nichts: Wenn sowohl die "Ticketmentalität überhaupt" als auch der Faschismus im allgemei132 nen als auch die "Demütigung des Häftlings im Konzentrationslager" 133 im besonderen auf eine - vermittelt über den Gedanken des kompensierenden Herrschaftszwanges - "radikal gewordene, mythische Angst" oder eine "Rebellion der verpönten Natur" zurückgeführt werden, dann wird nichts erklärt. Die Geschichtstheorie Adornos verfällt selbst der von ihr angeprangerten Identifizierung. Sie scheitert damit an der Aufgabe, den Grund des schlecht identifizierenden Denkens aufzuhellen. b) Zudem wirft die Geschichtsdeutung das Problem der ihr zugrundeliegenden subjektstheoretischen Konzeption a u f . Adornos Absicht ist es, die Geschichte O/l als Naturgeschichte nachzuweisen, in ihr den "Bann der Tierwelt" aufzudekken. Der kritische Impetus seines Denkens setzt gerade voraus, daß es noch kein menschliches Subjekt gibt. Die "Emanzipation der Gesellschaft von der Vorherrschaft der Produktionsverhältnisse" strebe allererst "die reale Her135 Stellung des Subjekts, welche die Verhältnisse bislang verhindert haben" , an. Dabei weist B. W i l l m s zu Recht auf die "antihumane, ja terroristische Komponente" derartiger Formulierungen "vom 'erst herzustellenden Menschen" 1 h i n , ihre Affinität "mit den utopischen Zukunftsvisionen vom technisch manipulierten Menschen" 136 . Jedoch ist davon vorerst abzusehen. Auch ist die sich aufdrängende Frage später zu beantworten, ob diese und ähnliche Wendungen bloße Formulierungsschwächen das Autors sind, der von der Philosophie eine "idiosynkratische Genauigkeit in der Wahl der Worte" fordert, oder möglicherweise durch 131 132 133 134 135 136 137
Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Willms Adorno
( 2 ) , S. 233 ( 2 ) , S. 265 ( 2 ) , S. 269 ( 1 2 ) , S. 349 ( 1 ) , S. 178 (286), S. 73 ( 7 ) , S. 58
Der geschichtsphilosophische Grund
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eine bestimmte subjektstheoretische Konzeption bedingt sind. Zunächst wichtiger und systematisch bedeutsamer ist die Auflösung der paradoxen These, daß die Selbstbehauptung des menschlichen Subjekts seine Selbstnegation bedeute - und zwar in der Form sowohl der mimetischen als auch der usurpatorischen Selbsterhaltung. Zusammengefaßt wird dies Paradoxon in der Behauptung, daß " ( . . . ) a l l e in ihrem Selbst eingesperrt sind und dadurch abgesperrt noch von ihrem Selbst." 138 Diese These wirft nicht weniger als drei subjektstheoretische Fragen auf: aa) Was ist das "Selbst", in dem "alle" "eingesperrt" sind ? bb) Was ist das "Selbst", von dem "alle" "abgesperrt" sind ? cc) Wer aber sind die "alle", die in irgendeinem "Selbst eingesperrt" sind und zugleich von irgendeinem logisch notwendig anderen "Selbst" "abgesperrt" sind und die sich wiederum logisch notwendig von beiden "Selbsten" als ein drittes "Selbst" unterscheiden müssen ? Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, inwiefern die Geschichte sinnvoll als Naturgeschichte gedeutet werden kann. Zugleich verweist die sich hier ankündigende Problematik auf eine Theoriedimension, die außerhalb der Grenzen der von Adorno praktizierten Betrachtungsweise liegt. Die bisherige Gedankenbewegung kann wie folgt rekapituliert werden: Das Hauptanliegen Adornos geht auf eine Rettung der Individualität und Freiheit des einzelnen. Dieses Problem kann unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses vom Besonderen und Allgemeinen auf seinen abstraktesten Ausdruck gebracht werden. Der Hauptangriffspunkt liegt dabei in der Vorherrschaft des allgemeinbegrifflichen Denkens, da dieses mittels des Identitätsprinzips das Individuelle eliminiere. Der Grund für diese Liquidierung und für das Implikat einer Deutung der philosophischen Aufgabe als paradox ist jedoch nicht - wie Adorno darzulegen sucht - logisch-systematischer, sondern psychologisch-geschichtstheoretischer Natur. Die geschichtsphilosophische Konzeption kreist um den Gedanken einer "Dialektik der Aufklärung": Geschichte soll als Naturgeschichte, Fortschritt als Regression dechiffriert werden. Diese Idee ist aber sowohl in formaler (fehlendes Kriterium für Rationalität bzw. Irrationalität; Aufstellen einer abstrakten Alternative) als auch inhaltlicher (zwei Fortschritts- und Naturbegriffe) Hinsicht unzulänglich. Des näheren versucht Adorno im Rückgriff auf psychologische Vorstellungen die abendländische Geschichte unter der Kategorie der Selbsterhaltung zu begreifen. 138 Adorno ( 7 ) , S. 293
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Selbsterhaltung nehme entweder die Form der mimetischen (1. Phase) oder usurpatorischen (2. Phase) Naturbewältigung an. In beiden Fällen jedoch gelinge es dem Menschen nicht, den Naturzusammenhang, den "Bann der Tierwelt" zu brechen. Das Herrschaftsmittel der usurpatorischen Form der Selbsterhaltung sei das begriffliche Denken, das das Nichtidentische gleichmache. Die Frage indessen, weshalb der Mensch dem Zwang einer totalen Identifizierung des Nichtidentischen unterworfen sei, führt lediglich auf das abstrakte Erklärungsprinzip einer "radikal gewordenen, mythischen Angst". Damit bleibt die vom systematischen Aspekt her formulierte Frage nach dem Grund der psychologischen Nötigung einer begrifflichen Eliminierung des Nichtidentischen unbeantwortet. Zugleich wirft die Geschichtsphilosophie das neue Problem der zugrundeliegenden subjektstheoretischen Konzeption auf. Von hierher rückt nun die Philosophie Kants als des Begründers eines transzendentalen außerempirischen Subjektsbegriffs in das Zentrum des systematischen Interesses. Mit der Philosophie Kants wird in einem Adornos Kritik derselben thematisch. Bevor jedoch dieser Problemkomplex erörtert werden kann, ist Adornos Vorschlag zur Lösung des Problems des Allgemeinen und Besonderen in der Idee einer "negativen Dialektik" zu prüfen.
2.3
Die Lösung der Problematik: Das Prinzip der "negativen D i a l e k t i k "
Adorno w i l l nicht nur auf das Nichtidentische in seiner Differenz vom Allgemeinen hinweisen, sondern dasselbe auch fassen, um so den Zustand der "Versöhnung" herbeizuführen. Zielt der Begriff der "Versöhnung" bei Hegel noch auf eine Vollendung der Herrschaft des Subjektiven in der begrifflichen Durchdringung des Objektiven, auf eine Vernichtung des Äußerlichen und Fremden des Bewußtseins durch das Erkennen 139 , so bestimmt Adorno "Versöhnung" entsprechend seiner Deutung der bisherigen Geschichte und des begrifflichen Identitätsprinzips als Oberwindung von Herrschaft, als ein "Miteinander des Verschiedenen" . Auch meint "Versöhnung" nicht nur - so noch die frühe Kritische Theorie - einen idealen zwischenmenschlichen Zustand, etwa im Sinne einer Aufhebung ökonomisch determinierter Klassenantagonismen in einer rational organisierten klassenlosen Gesellschaft -, sondern bezieht die Natur wesentlich mit ein. Sei nämlich in der bisherigen Geschichte die Natur unterdrückt worden und sei Geschichte gerade deshalb (?) noch Naturgeschichte,so sei eine Versöhnung mit der Natur erforderlich, damit dadurch (?) Geschichte im eigentlichen Sinne beginne. Das angestrebte "Phantasma" der Vernunft sei die "Versöhnung von Geist und Natur" . Dies sei ein Stand, " ( . . . ) der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte." "Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des heterogenen wie des eigenen." 143 Dabei weigert sich Adorno, diesen "versöhnte(n) Zustand" - er spricht von ihm vorwiegend nur im Konjunktiv - konkret zu bestimmen, ihn "auszumalen" oder "auszupinseln" 145 . 139 140 141 142 143 144 145
Vgl. Hegel (101), S. 391 Adorno (7) S. 153 Adorno (7) S. 228 Adorno (7) S. 228 Adorno (7) S. 192 Adorno (7) S. 207 Adorno (10), S. 195. Bemerkenswert ist, daß Adorno im Zustand der "Versöhnung" offensichtlich an die "Möglichkeit einer Abschaffung des Todes" [Adorno ( 7 ) , S. 505; vgl. ( 7 ) , S. 361 f.] denkt. Dies entspricht der von ihm angegebenen Ursache einer bisher fehlenden Versöhnung einer unbe-
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Aufkömmende Bedenken etwa derart, daß nicht ein "Auspinseln", sondern nur eine konsistente Bestimmung verlangt sei, werden mit dem alttestamentlichen Theologoumenon beschwichtigt: "Solche Bilderlosigkeit konvergiert mit dem theologischen Bilderverbot." Dieser Transzendierung von Kritischer Theorie, die sich ursprünglich als kritische Gesellschaftstheorie verstand,147 zu theologischen Vorstellungen - man denke auch an Adornos theologische Deutung der Kunst 148 und an den späten Horkheimer 149 - entspricht die ideengeschichtliche Herkunft des Motivs einer "Versöhnung von Geist und Natur". Das ursprünglich biblische Motiv eines Falls der Natur und ihrer Erlösung 150 beeinflußte über den schwäbischen Pietismus die Philosophie Schellings. Es findet sich beim frühen Marx wieder, der in den 'Pariser Manuskripten 1 (1844) den kommunistischen Endzustand als "vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur", als "wahre Ressurrektion der Natur" charakterisiert. Auch wenn Marx in der Entwicklung seines Denkens diese Vorstellung fallen läßt und im 'Kapital 1 (1867) erkennt, daß das "wahre Reich der Freiheit" nicht das "Reich der Notwendigkeit" aufheben, sondern "nur" auf diesem "(...) als seiner Basis aufblühen kann" 1 ?, wird das ursprüngliche Motiv von unorthodoxen Marxisten wie Benjamin und Bloch erneuert. Von hierher findet die dann später von Habermas als "grundlos" verworfene "Idee der universalen Versöh* nung" Eingang in die Konzeption der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos. Jedoch nicht nur diese Idee und die Weigerung ihrer Bestimmung lassen sich lediglich in theologischen Kategorien fassen. Gleiches gilt für den von Adorno und Horkheimer formulierten Zweifel, ob die Vernunft den naturgeschicht-
146 147 148 149 150 151 152 153 154 155
156
wältigten Todesangst, die durch einen identifizierenden Herrschaftszwang kompensiert werde. Vgl. auch Scheible ( 2 4 5 ) , S. 116 Adorno ( 7 ) , S. 207. Vgl. ( 2 ) , S. 40. Vgl. dazu auch Jay ( 1 3 2 ) , S. 79 f Vgl. Horkheimer ( 1 2 2 ) , S. 163 Vgl. Adorno ( 1 ) , S. 17. Zum Verhältnis von Kunst und Theologie bei Adorno vgl. Rohrmoser ( 2 3 9 ) , S. 13 f. Vgl. Horkheimer ( 1 2 0 ) , S. 56 f f . , 60 f f . , 67 f f . , 77, 88 f.; ( 1 2 4 ) , S. 229 - 233. Vgl. zu Horkheimers Theologierezeption Geyer ( 7 8 ) , S. 70 - 82. Vgl. Gen. 3, 17; Jesaja 11, 6 - 9; Offb. 21, 1; 2 Petr. 3, 13; Rom. 8, 21 f Marx (190), S. 538 Marx (188), Bd. III, S. 828 Vgl. Benjamin ( 3 1 ) , S. 256 f. Vgl. Bloch ( 3 3 ) , S. 327 Habermas ( 8 9 ) , S. 197. Vgl. Habermas ( 8 7 ) , S. 45. Vgl. auch Lüdke, der in dieser Idee zu Recht eine "fragwürdige Radikalität" [Lüdke ( 1 7 7 ) , S. 147] entdeckt. Vgl. zu dieser Motiventwicklung auch Habermas (88), S. 54
Die Lösung der Problematik: "negative Dialektik"
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liehen Bann der universalen Herrschaft von sich aus brechen kann: "Das erste Aufleuchten der Vernunft, das in solchem Trieb (nach Ausdruck und Licht, B.) sich meldet und im erinnernden Denken des Menschen widerscheint, trifft auch am glücklichsten Tage seinen unaufhebbaren Widerspruch: das Verhängnis, das Vernunft allein nicht wenden kann." Wird damit die Aufhebung der geschichtlichen Verstrickung auf das Prinzip der Gnade verwiesen, so entspricht dem die Bindung von Philosophie und Erkenntnis an den Gedanken der Erlösung: "Philosophie (...) wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint" 158 . Aber auch wenn die Kritische Theorie derart in der Bestimmung ihres Zieles, der "Versöhnung", auf zum Teil mystische Vorstellungen ausweicht, die den Rahmen möglicher philosophischer Argumentation sprengen, versucht Adorno die Erfüllung des Eschatons an Rationalität als (wenn auch nicht hinreichende, so doch) notwendige Bedingung zu knüpfen. Dies festgehaltene Moment von Rationalität, das die Aufklärung vor ihrer Selbstzerstörung bewahren soll, ist wesentlich das der geforderten Selbstbesinnung 159 . Ihr Prinzip ist die negative Dialektik, die Adorno als Alternative zur herrschenden Denkmethode des begrifflichen Identifizierens zu entwickeln sucht. Zielt diese auf die Identität ab, so soll jene auf die Nichtidentität gehen: "Insgeheim ist Nichtidentität das Telos der Identifikation, das an ihr zu Rettende, der Fehler des traditionellen Denkens, daß es die Identität für sein Ziel hält." Bemüht sich dieses, die Positivität (positive Deckung von zu Begreifendem und Begriff) zu erlangen, so will Adorno gerade die Negativität (Differenz von zu Begreifendem und Begriff) herausstellen. Die eigentliche Aufgabe der Erkenntnis sei es, " ( . . . ) der Inadäquanz von Gedanke und Sache nachzugehen, sie an der Sache zu erfahren." Begriffsgeschichtlich gesehen übernimmt Adorno den Ausdruck "negative Dialektik" von Hegel, der so die Dialektikkonzeption des überwiegenden Teils der 1 fi? platonischen Dialoge charakterisiert. Negativ ist nach Hegel diese Dialek157 158 159 160 161 162
Adorno ( 2 ) , S. 256 Adorno ( 6 ) , Aphorismus Nr. 153 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 13, 15, 57 ff Adorno ( 7 ) , S. 152 Adorno ( 7 ) , S. 156 Vgl. Hegel (100), Bd. II, S. 69
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem 163
tik, weil sie nicht wie die "wahrhafte" oder "spekulative" Dialektik "(...) die Vereinigung der Gegensätze auf(zeigt), die sich vernichtet haben", sondern "oft bloß räsonierend, von einzelnen Gesichtspunkten ausgehend" ist: "Oft hat sie nur ein negatives Resultat, oft ist sie ohne Resultat." "Zwecke, Vorstellungen, Meinungen oder Individuen werden verwirrt, um Bedürfnis nach Erkenntnis zu erwecken. Dies läßt uns unbefriedigt, weil die Konfusion das Letzte ist. Konkrete Vorstellungen, nicht reine Gedanken werden behandelt." 1 6 5 Damit charakterisiert Hegel treffend das Wesentliche der "negativen Dialektik" Adornos. Nur - und das ist entscheidend - wendet dieser die einzelnen Bewertungen in ihr Gegenteil: Aus der "Vereinigung der Gegensätze" wird die Idealisierung realer Antagonismen, das fehlende oder "negative Resultat" wird zur Offenheit für das Nichtidentische, die "Konfusion" wird zum Aufbrechen eingefahrener Denkschemata. Im folgenden ist 1. Adornos Dialektikkonzeption negativ von der Hegels abzusetzen, 2. die negative Dialektik positiv zu bestimmen, 3. ihr Verhältnis zur Kunst zu klären und 4. ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. 2.3.1
Absetzung der negativen von der positiven Dialektik. Zur Hegelkritik Adornos
1. Die von Adorno entwickelte negative D i a l e k t i k ist von der positiven oder spekulativen Dialektik Hegels zu unterscheiden, indem sie zwar "(...) eine Aufbewahrung des Widerspruchs im Resultat, nicht aber die Erhöhung des Resultats zur Aufhebung bejahen kann." Die Kritik an Hegel - für Adorno ein "Identitätsphilosoph" - und damit die Rückwendung der positiven Dialektik zu einer negativen erklärt Adorno aus seiner intention, das Nichtidentische freizusetzen. Einerseits sei Hegel (besonders in den Frühschriften) "dicht bis ans Bewußtsein vom negativen Wesen der von ihm ausgeführten dialektischen 1fifi Logik" gelangt und habe das sogenannte starre Reflexions- und Verstandes163 164 165 166 167
Hegel (100), Bd. II, S. 62 Hegel (100), Bd. II, S. 65 Hegel ( 1 0 0 ) , Bd. II, S. 69 Müller-Strömsdörfer (198), S. 81 Adorno ( 1 3 ) , S. 161. Adornos SelbstVerständnis in seinem Verhältnis zu Hegel wird von Schweppenhäuser (264) reproduziert. Zur unterschiedlichen kritischen Rezeption Hegels durch die Vertreter der Kritischen Theorie vgl. Schmidt ( 2 5 5 ) . Vgl. zu Adornos Kritik der Hegeischen Dialektik auch Düver ( 5 2 ) , S. 63 - 71 168 Adorno ( 7 ) , S. 159
Absetzung der negativen von der positiven Dialektik
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denken eines Kant überwunden, indem er auf die (Selbst-)Bewegung des Begriffs abgehoben habe. Andererseits aber habe er am Schluß wieder das Nichtidentische liquidiert, weil er das eigentliche Interesse der Philosophie verkannt habe: "Philosophie hat ( . . . ) ihr wahres Interesse dort, wo Hegel, einig mit der Tradition, sein Desinteresse bekundete, was seit Platon als vergänglich und unerheblich abgefertigt wurde und worauf Hegel das Etikett der faulen Existenz klebte." 169 Zum einen sei es ein Verdienst Hegels, das Ungenügen des Begriffs erahnt zu haben, dessen Unfähigkeit, das zu Begreifende adäquat zu erfassen, folglich das Obersichhinausweisen des einzelnen Begriffs (und Urteils) zutreffend gekennzeichnet zu haben. Zum anderen jedoch sei Hegel "parteiisch für die Einheit" ge esen und habe die Nicht171 identität bloß als "Leiden" gedeutet. Seine Absicht, eine Philosophie des Absoluten zu entwickeln, habe ihn um seine ursprüngliche Einsicht betrogen. "Am Schluß ist das Hegeische Denken (...) trotz all seiner Widerstände gegen die Verdinglichung und Verabsolutierung von einzelnen Bestimmungen ein abschlußhaftes Denken und kommt darauf hinaus, daß der absolute Geist, der bei ihm die metaphysische Substanz ist, eben sich doch enthüllt als eine gigantische Projektion der ab17? soluten Immanenz." Seine berechtigte Kritik an der Positivität sei im Grunde dadurch aufgehoben worden, daß er von der Positivität des Absoluten ausgegangen sei. "Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit der Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens, das formale Prinzip auf seine reinste Form gebracht." 173 Durch diesen Fehler, dessen höchster Ausdruck sich im Prinzip der Totalität manifestiere, gewinne bei Hegel "das antidialektische Prinzip die Oberh a n d " . Finde der Begriff bei Hegel auf dem Gang zur Vollendung der Idee an keiner Systemstelle seine Ruhe,werde er immer weiter über sich hinausgetrieben,so erlange er im sich selbst wissenden Geist seinen Stillstand.Das Ganze sei in sich bewegt,negativ,als Ganzes aber auch absolute Ruhe.positiv. 1 7 5 169 Adorno ( 7 ) , S. 19 f 170 Adorno ( 7 ) , S. 160 171 Adorno (13), S. 162.Gegen Hegel macht Adorno geltend:"Das Differenzierte erscheint so lange divergent,dissonant,negativ,wie das Bewußtsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muß:solange es,was nicht mit ihm identisch ist,an seinem Totalitätsanspruch miBt."[Adorno ( 7 ) , S. 17] 172 Adorno (13), S. 164. Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 41 173 Adorno ( 7 ) , S. 161 174 Adorno ( 7 ) , S. 161 175 Vgl. Adorno (14), S. 375
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Die Vollendung der Hegeischen Philosophie zum geschlossen-einheitlichen Vernunftsystem hat nach Adorno Auswirkungen auf das Nichtidentische: Das (nichtbegriffliche) Besondere werde auf die (begriffliche) Besonderheit reduziert. 1 7 6 Indem Adorno entgegen Hegel den Gedanken der Synthesis, einer Aufhebung der Gegensätze verabschiedet, gewinnt das Moment des Widerspruchs eine zentrale Funktion: nämlich "nicht bloß als Durchgangseiement zur Synthesis bejahenden Dialektik" . Damit rückt Adorno zugleich in die Nähe Kierkegaards und seiner antisystematischen Konzeption des Paradoxon, wie dieser sie in 178 ethischer Hinsicht paradigmatisch an der Gestalt Abrahams entwickelt hat. Er unterscheidet sich jedoch von dem "religiösen Schriftsteller" wesentlich dadurch, daß er den Sprung des credo qua absurdum verweigert. 2. Im engen Zusammenhang mit der nach Adorno verfehlten Intention der Philosophie Hegels ist der Vorwurf einer ungenügenden Einsicht in das Wesen des Begriffs zu sehen. Den Begriff charakterisiere ein Doppeltes, das sich kon179 trär zueinander verhalte: a) die Beziehung auf ein Nichtbegriffliches : "Denken widerspräche schon seinem eigenen Begriff ohne Gedachtes und dies Gedachte deutet vorweg auf Seiendes, wie es vom absoluten Denken doch erst gesetzt werden soll." 1 8 0 b) die Tendenz, " ( . . . ) als abstrakte Einheit der 181 unter ihm befaßten Onta vom Ontisehen sich zu entfernen." Hegel habe das zweite Moment auf Kosten des ersten einseitig akzentuiert: "Die Wissenschaft von der Logik ist ihrerseits abstrakt im einfachsten Sinn; die Reduktion auf die allgemeinen Begriffe merzt vorweg schon deren Widerspiel aus, jenes Konkrete, das die idealistische D i a l e k t i k in sich zu tragen 1 ß? und zu entfalten rühmt." Dies zeige sich näher darin, daß Hegel " ( . . . ) auf das Verhältnis des Begriffs zu seinem I n h a l t , dem Nichtbegrifflichen,
176 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 175, 322, 328 177 Müller-Strömsdörfer (198), S. 104 178 Vgl. Kierkegaard (160), S. 29; (160), S. 61. Vgl. zur Nähe Adornos zu Kierkegaard: Müller-Strömsdörfer (198), S. 104 f. 179 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 24 180 Adorno ( 7 ) , S. 139 181 Adorno ( 7 ) , S. 24 182 Adorno ( 7 ) , S. 49. Gegen Adorno ist einzuwenden, daß Hegels Logik in der Tat zunächst abstrakt ist, wie er selbst geltend macht [vgl. Hegel ( 9 6 ) , Bd. I, S. 67, § 19], und gerade deshalb des von ihm geforderten Fortgangs bedarf: "Erst aus der tieferen Kenntnis der anderen Wissenschaften erhebt sich für den subjektiven Geist das Logische als ein nicht nur abstraktes
Absetzung der negativen von der positiven Dialektik
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selber nur allgemein reflektiert" habe, so daß sein Beweis zugunsten der 183 "Absolutheit des Begriffs" zirkulär sei. Dieser Vorwurf einer Abstraktion vom Nichtidentischen führt auf den Einwand, Hegel handhabe Dialektik als 4 n Ift^ bloße "Methode" , obwohl er dies - wie Adorno - von sich zurückweist. Aufgrund der mangelnden Berücksichtigung des Wesens des Begriffs, seiner Selbsttranszendenz auf Nichtbegriffliches h i n , habe Hegel den Begriff (das Allgemeine, die Einheit) als Ziel der Erkenntnis postuliert und es nicht 1ftfi "beim Begriffslosen, Einzelnen und Besonderen" angesetzt. Der Begriff jedoch - so Adorno - " ( . . . ) bildet kein positives Telos, in dem Erkenntnis sich stillte." 1R7 Deshalb müsse sich Dialektik auf ihren falschen "Immanenzzusammenhang" besinnen. Andernfalls " ( . . . ) bliebe Kants Rechtsanspruch gegen Hegel unverjährt. Solche Dialektik ist negativ. Ihre Idee nennt die Differenz von Hegel." 188 Das "Scharnier negativer D i a l e k t i k " liege darin, die Richtung 189 der Begrifflichkeit auf sich selbst von sich dem Nichtidentischen zuzuwenden. Dabei sei nur die Richtung des Begriffs zu ändern, auf den Begriff selbst aber nicht zu verzichten: Die bloß "intuitive Verhaltensweise" 190 Bergsons sei - hier rezipiert Adorno die Bergson-Kritik Diltheys 191 unzulänglich. Die Kritik Adornos, Hegel habe das selbsttranszendente Wesen des Begriffs verkannt, kristallisiert sich in seiner Wendung gegen die Idee einer "Identi1Q9 tat von Identität und Nichtidentität" i y i aus. Indessen beruht diese Kritik offensichtlich auf einer problematischen Prämisse: der Reduktion des spekulativen Begriffs auf den abstrakten Allgemeinbegriff. Erst so wird es möglich, als Erkenntnisziel entweder das "Begriffslose, Einzelne und Besondere" oder alternativ den Begriff, das Allgemeine zu bestimmen und dies dann kritisch gegen Hegel zu wenden. Diese Voraussetzung widerstreitet jedoch Hegels Begriff des Begriffs 1Q3 : 183 184 185 186 187 188 189 190 191 192 193
Allgemeines, sondern als das den Reichtum des Besondern in sich fassende Allgemeine." [Hegel (103), Bd. I, S. 54] Adorno ( 7 ) , S. 49. Vgl. auch ( 7 ) , S. 19 Adorno ( 7 ) , S. 148 Vgl. Hegel (103), Bd. l, S. 48 f.; (96), Bd. III, S. 392, § 243 Adorno ( 7 ) , S. 20 Adorno ( 7 ) , S. 57 Adorno ( 7 ) , S. 145 Adorno ( 7 ) , S. 24 Adorno ( 7 ) , S. 20. Vgl. Adorno (14), S. 54 Vgl. Cüppers ( 4 1 ) , S. 97 ff. Adorno ( 7 ) , S. 19 Vgl. dazu Hegel (103), Bd. II, S. 245 - 301. Vgl. zur Unterscheidung
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Ausdrücklich warnt er davor, das "bloß Gemeinschaftliche" der abstrakten Begriffe, die er nicht anders als Adorno als "bloße Schemen und Schatten" charakterisiert, mit dem "wahrhaft Allgemeinen" des spekulativen Begriffs zu ver194 zurechnet. wechseln - ein Irrtum, den Hegel dem "Standpunkt des Gefühls" Das, was Adorno als Begriffsloses dem Begriff kontrastiert, das Einzelne und Besondere, ist genau das, was Hegels spekulativer Begriff als konkret Allgemeines (zumindest dem Anspruch nach) umfaßt und in der unendlichen Bewegung des Systems zu erfüllen sucht. Die Vorstellungen aber, die Adorno ausschließlich als Begriffe versteht, sind für Hegel "(...) Abstraktionen, die vom Begriffe nur das Moment der A l l gemeinheit nehmen und die Besonderheit und Einzelheit weglassen, so nicht an ihnen entwickelt sind und damit gerade vom Begriff abstrahieren." Anders ausgedrückt: Nur indem Adorno die Idee einer Identität der Identität und Nichtidentität auf die einer Identität der Nichtidentität verkürzt, kann er überhaupt sinnvoll die "Nichtidentität von Besonderem und Begriff" betonen, die Idee einer Nichtidentität der Identität und Nichtidentität konzipieren. Diese Idee läßt Adorno das wahre Erkennen als ein Enthüllen deuten. Indessen g i l t , was Ritzel kritisch darlegt: "Das Erkennen als ein Enthüllen - so stellte es die Aufklärung dar; der durch Kant initiierten philosophischen Bewegung ergab sich, daß es mit der Enthüllung nicht getan ist: das Enthüllte muß ins rechte Licht gerückt werden, ins Licht der Idee. Nichts charakterisiert Adorno besser, als daß er 1 s mit der E n t h ü l l u n g gut sein läßt und der 1Q7 Idee entraten w i l l " ' . 3. Die Festschreibung eines enthüllenden Erkennens in Absetzung zur Konzeption eines systematisch bestimmenden Erkennens impliziert Adornos Kritik an der Systemidee. Diese Kritik verweist auf Einflüsse Kierkegaards und Nietz198 sches, der in dem " W i l l e ( n ) zum System" einen "Mangel an Rechtschaffenheit" erblickt. zwischen dem spekulativen Begriff und dem abstrakten Allgemeinbegriff: Hegel (96), Bd. I, S. 53, § 9. Da Adorno diese Differenz verkennt, ist sein Vergleich zwischen Gesellschaft und Geist falschi "Der Vergleich von Gesellschaft und Geist, wie ihn Hegel versteht, ist problematisch, weil die Allgemeinheit des Geistes seinem Begriff nach konkret sein soll" [Tichy ( 2 7 7 ) , S. 46]. 194 Hegel ( 9 6 ) , Bd. I, S. 312 195 Hegel ( 9 6 ) , Bd. I, S. 315 196 Adorno ( 7 ) , S. 149
197 Ritzel ( 2 3 6 ) , S. 261 198 Nietzsche (204), S. 946. Vgl. dazu Adorno (14), S. 181 f, S. 35 f
Absetzung der negativen von der positiven Dialektik
33
Die negative Dialektik w i l l das Besondere nicht mit dem Allgemeinen identifizieren, sondern "die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen" 1QQ entfalten. Die Dialektik, die als Ausdruck ihrer Selbsttranszendenz und Berücksichtigung des Nichtidentischen wesentlich durch das Moment des Widerspruchs gekennzeichnet sei , solle nicht wie bei Hegel positiv werden, indem sie das Negative im Begriff der Totalität aufhebe und damit der abstrakten Vernunft w i l l f ä h r i g sei: "Das Negierte ist negativ, bis es verging. Das trennt uns entscheidend von Hegel. Den dialektischen Widerspruch, Ausdruck des unauflöslich Nichtidentischen, wiederum durch Identität glätten heißt soviel wie ignorieren, was er besagt, in reines Konsequenzdenken sich zurückbegeben." 201 Eine solche Glättung habe in der Aufstellung philosophischer Systeme statt, denen Adorno eine "Logik des Zerfalls" 202 entgegensetzt. Die Hegeische Bestimmung des Wahren als des Ganzen203 sei zu korrigieren: "Das Ganze ist das Unwahre." 204 Da das "Telos der Philosophie" 2 0 5 das Nichtidentische sei, widerstreite diese dem Anspruch des Systems. Eine Analyse hat zwischen a) Adornos Einwänden, b) der Konsequenz einer Ablehnung des Systemgedankens und c) seiner mangelnden Konsistenz im Denken Adornos zu unterscheiden. a) Des näheren ist zwischen zwei Einwänden Adornos zu differenzieren: aa) Die Divergenz von wahrer Philosophie und System ergebe sich aus seinem 206 antinomischen Charakter und "notwendigen Widersinn". Dieser bestehe in der Unvereinbarkeit von "System und Dynamik" 207 , der "Antinomie von Totalität und 199 Adorno ( 7 ) , S. 18 200 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 17 201 Adorno ( 7 ) , S. 162. Vgl. ( 7 ) , S. 145. Beyer erkennt hier zu Recht eine auch Marx zuwiderlaufende Dialektikkonzeption Adornos [vgl. Beyer ( 3 2 ) , S. 175]. Vgl. auch Clemenz (39), S. 189 f. Zur Marxschen Dialektikkonzeption besonders in Absetzung zur Hegeischen vgl. Lenk (169). 202 Adorno ( 7 ) , S. 148 203 Vgl. Hegel (98), S. 24 204 Adorno ( 6 ) , Aphorismus Nr. 29. Vgl. ( 7 ) , S. 145; (13), S. 270; (14), S. 324 f. Schwerlich handelt es sich hier um einen "Fortschritt der Erkenntnis" [Grenz (80), S. 133], wie Grenz meint, beruht doch dieser "Fortschritt" auf der Umdeutung des Wahren als des Ganzen in die des Ganzen (Grenz: "der gesellschaftlichen Praxis") als des Wahren. Ahnlich auch Willms (286), S. 71 f . Lindner bezieht Adornos These vom unwahren Ganzen nicht nur auf Hegel, sondern auch auf Lukäcs [vgl. Lindner (173), S. 282]. Fetscher hingegen sieht mit dieser These " ( . . . ) den Gegensatz Marx - Hegel auf den prägnanten Begriff gebracht." [Fetscher (59), S. 259] Vgl. auch Liebrucks (171). 205 Adorno ( 7 ) , S. 31 206 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 32 207 Adorno ( 7 ) , S. 38
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Unendlichkeit" 2 0 8 , d.h. tatsächlich geschlossen so wird es, sei es noch endlich, statisch. (...)
Offenheit für das Nichtidentische: "Soll das System sein, nichts außerhalb seines Bannkreises dulden, so dynamisch konzipiert, als positive Unendlichkeit 209 Geschlossene Systeme müssen (...) fertig sein."
Dieser Argumentation liegt indessen eine Verzerrung des systemgedankens zugrunde: Zunächst ist an das von H. Rickert konzipierte "Ideal eines offenen Systems" zu erinnern, "(...) das noch Platz für wissenschaftliche Erga'nzungen und Vervollständigungen läßt." ?10 Auch bedeutet die von Hegel prätendierte Geschlossenheit seines Systems nicht, daß es die unendliche Fülle des Besonderen in sich entfaltet haben müßte, diesem gegenüber ^erschlossen wäre. Hegels Anspruch einer Vollständigkeit seines Systems beschränkt sich auf die der wesentlichen Prinzipien. Daneben räumt er sehr wohl - was Adorno leugnet 211 - ein begrifflich nicht ableitbares Zufälliges und Besonderes ein und faßt es systematisch als "Ohnmacht der Natur"712 . Zu erinnern ist hier an die Krugsche Schreibfeder. Das Ansinnen, "(...) von dem Begriffe zu verlangen, er solle dergleichen Zufälligkeiten begreifen - und, wie es genannt worden, konstruieren, deduzieren" , lehnt Hegel allerdings ab. Der überzogenen Systemvorstellung Adornos entspricht aufs genaueste, daß er in den Fällen, in denen er das Nichtidentische berücksichtigt vermeint, ein eigentliches System leugnen muß. In diesem Sinne spricht er der Kanti?15 sehen Philosophie nur bedingt systematischen Charakter zu. Gleichfalls sieht er sich dazu genötigt, bei Marx den Entwurf eines Systems zu leugnen, diesem einen "ironischen und gebrochenen Charakter" Zlß zu attestieren. bb) Dem zweiten Einwand Adornos zufolge wird das Nichtidentische durch die Konstituierung eines Systems l i q u i d i e r t , weil dieses nur für allgemeine BeStimmungen ausreiche, "virtuell alle qualitativen Bestimmungen" 217 negiere, das Besondere "in seinen allgemeineren Oberbegriff" 218 verflüchtige. 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218
Adorno ( 7 ) , S. 37 Adorno ( 7 ) , S. 37 f Rickert (226), S. 54 Vgl. Adorno (12), S. 289 Hegel ( 9 6 ) , Bd. II, S. 34 f, § 250. Zum Problem des Zufalls in der Hegelschen Philosophie vgl. Henrich ( 1 1 2 ) , bes. S. 159 Vgl. Hegel ( 1 0 2 ) , S. 194 - 197; (96), Bd. 11, S. 35 Anm., § 250 Hegel (96), Bd. II, S. 35, § 250 Vgl. Adorno (13), S. 228 f Adorno (11), S. 264 Adorno ( 7 ) , S. 32 Adorno ( 7 ) , S. 39
Absetzung der negativen von der positiven Dialektik
35
Dieses Argument kann jedoch mit nicht weniger Recht in sein Gegenteil verkehrt werden: Gerade weil die Einheit des Systems zunächst nur auf allgemeine Bestimmungen ( P r i n z i p i e n ) bezogen ist, läßt es das Nichtidentische frei, fordert dies geradezu. So verlangt nach Kant die Ableitung der "Mannigfaltigkeit" der Dinge von den "Grundeigenschaften",deren systematische Einheit er postuliert,eine "neh219 rare Bestimmung" . Von hierher fordert er weiter ein "Gesetz der Spezifikation", um die "Einfalt" des Systems durch seine "Ausbreitung" regulativ zu ergänzen. Dieses Prinzip legt dem Verstande a u f , " ( . . . ) unter jeder Art, die uns vorkommt, Unterarten, und zu jeder Verschiedenheit kleinere Verschiedenheiten zu suchen." ?20 Adornos Forderung nach einer Berücksichtigung des Besonderen ist also in der Kantischen Systemidee, die von Hegel weiterentwikkelt wird, positiv aufgehoben. Die Einwände treffen damit nicht den Systemgedanken, sondern lediglich seine Karikatur. Nicht im System selbst liegt es begründet, wenn es die "(...) 221 Darstellungsform einer Totalität, der nichts extern bleibt" , wird, sondern a l l e n f a l l s im überzogenen Anspruch eines verblendeten Systematikers, dem Hegel (entsprechend dem Kantischen "Gesetz der Spezifikation") durch die Be222 Stimmung der Idee als "wesentlich Prozeß" vorzubeugen sucht. b) Die Konsequenz der Ablehnung des Systemgedankens besteht darin, daß ohne Anstrengung zum System der dem Nichtidentischen zukommende Wahrheitswert nicht ausgemacht werden kann. Das jeweils Besondere besitzt immer nur einen relativen Mahrheitswert, der außer mit Blick auf das Ganze, die Idee, nicht angemessen beurteilt werden kann. 223 Ohne Beziehung auf die entweder regulativ (Kant) oder konstitutiv (Hegel) gedeutete Idee verharrt das Nichtidentische nicht nur in Zufälligkeit, sondern in absoluter Zufälligkeit: Es bleibt tendenziell qualitätslos und damit nichtig, weil seine Qualitäten nicht ausreichend bestimmt werden können. Mit Kants Worten: Die Verstandeserkenntnis 904. bleibt derart "bloß ein zufälliges Aggregat" und ermangelt eines "probiersteinfs; der Wahrheit der Regeln"
225
.
Der skizzierten Gefahr scheint Adorno vorzubeugen, indem er den Systemge219 220 221 222 223 224 225
Kant ( 1 4 7 ) , B 680 Kant ( 1 4 7 ) , B 683 Adorno ( 7 ) , S. 35 Hegel (96), Bd. III, S. 372, § 215. Vgl. (103), Bd. II, Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 860 Kant ( 1 4 7 ) , B 673 Kant ( 1 4 7 ) , B 675
S. 267 f
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
danken durch die Konzeption eines "Ensemble von Modellanalysen" ersetzt: "Die Forderung nach Verbindlichkeit ohne System ist die nach Denkmodellen. (...) Das Modell t r i f f t das Spezifische, ohne es in seinen allgemeineren opc Oberbegriff zu verflüchtigen." Indessen verzerrt dieser Einwand nicht nur den Systemgedanken und auch verschiebt er nicht nur das dargelegte Problem (zu einer Kontingenz des Modells), sondern er bestätigt gerade unsere Überlegungen: die positive Aufhebung des Adornoschen Interesses in der von Kant ausgehenden Bewegung: Die Forderung, das "Spezifische" im "Modell" zu treffen, wird (bis in die Wortwahl hinein) durch Kants "Gesetz der Spezifikation" erfüllt und durch die Prinzipien der ?27 "Homogenität" und "Kontinuität" im Rahmen einer Systemidee erweitert. c) Mit der Ablehnung des Systemgedankens aber unvereinbar ist es, wenn Adorno z.B. dem Mathematiker vorwirft, "sein 'Sachgebiet 1 als Moment des ppQ Ganzen" nicht zu bestimmen. Ist das Wahre also doch das Ganze l Die Zurückweisung des Systemgedankens ist also nicht nur a) unzulänglich begründet und b) in ihrer Konsequenz problematisch, sondern auch c) im Denken Adornos inkonsistent. Damit ist nun das Prinzip der negativen Dialektik ex negative bestimmt worden, indem es hinsichtlich 1. der Intention von Philosophie, 2. der Deutung des Wesens des Begriffs und 3. der Stellung zum System von der spekulativen Dialektik Hegels abgesetzt worden ist. Im folgenden ist das alternative Denkmittel Adornos positiv zu konkretisieren. 2.3.2
Positive Konkretisierung der negativen Dialektik: Ihre Hauptkategorien
Die negative D i a l e k t i k soll "die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen" 229 entfalten. Zur Kennzeichnung des alternativen Denkverfahrens verwendet Adorno die Begriffe Konstellation, Mimesis, Ausdruck, Darstellung u.a., die als Kategorien der negativen Dialektik betrachtet werden können. Zunächst sind diese Kategorien zu erläutern. Im Anschluß ist Adornos Forderung nach einem "Mehr an Subjekt" 230 zu prüfen, weil dieses 226 227 228 229 230
Adorno ( 7 ) , S. 39 Kant (147), B 686 Adorno ( 1 4 ) , S. 62 Adorno ( 7 ) , S. 18 Adorno ( 7 ) , S. 50
Positive Konkretisierung der negativen D i a l e k t i k
37
Theorem die Kategorien und ihr problematisches Verhältnis zueinander Begründen sol 1. 1. Wie oben dargelegt soll im Erkenntnisvollzug keineswegs auf Begriffe verzichtet werden; nur gelte es, sie anders zu verwenden. Die herrschende Logik bemühe sich, mittels eines identifizierend-subsumierenden Verfahrens, das dem des Stufengangs vergleichbar sei, das Nichtidentische zu erkennen. Dieser Konstruktionsvorgang sei durch den einer "Konstellation" abzulösen, in der das " ( . . . ) einigende Moment überlebt, ohne Negation der Negation, doch auch ohne der Abstraktion als oberstem Prinzip sich zu überantworten" 231 . Die Konstellation, hinsichtlich derer sich Adorno mit Kierkegaard einig pop weiß , sei der Versuch, " ( . . . ) durch die Versammlung von Begriffen um den gesuchten auszudrücken, worauf er geht, anstatt ihn für operative Zwecke zu umreißen." Daher werde der Konstellation das Darstellungsmoment wesentlich: Die "Darstellung" diene " ( . . . ) der Intention des Begriffs, das Gemeinte ?1 ganz auszudrücken." Sie sei der Idee der Philosophie "immanent" . Kritisch zu fragen ist jedoch, ob nicht das Zentrum der Konstellation schon begrifflich fixiert sein muß, da andernfalls dem Verfahren ein Auswahlprinzip fehlt. Muß ich nicht schon einen Begriff von der auszudrückenden Sache haben, um die adäquaten Begriffe mittels der Konstellation angemessen um dieselbe zentrieren zu können ? 236 Das fehlende Auswahlprinzip wird bei Adorno durch das "mimetische Moment" vertreten, einer von ihm nur vage bestimmten "Wahlverwandtschaft von Erkennendem und Erkanntem"237 . Mimesis, dieses aller Philosophie, aber nicht nur ihr wesentliche "ästhetische Moment" 238,sei das subjektive Vermögen, auf die Sache (nicht den Begriff der Sache) zu reagieren. In der menschheitsgeschicht lieh vorherrschend gewordenen "Konzeption rationaler Erkenntnis" sei dieses 231 Adorno ( 7 ) , S. 62, 164 232 Vgl. Adorno ( 3 ) , S. 132. Vgl. zum Begriff der Konstellation auch Rath (223), S. 97 - 102 233 Adorno ( 7 ) , S. 168. Vgl. ( 1 4 ) , S. 342; (10), S. 55 234 Adorno ( 7 ) , S. 164. Vgl. auch (10), S. 56, 63. Vgl. zur Problematik dieser These Düver ( 5 2 ) , S. 108 ff 235 Adorno ( 7 ) , S. 29. Vgl. auch ( 5 ) , S. 606 236 Ritzel (236), S. 257 237 Adorno ( 7 ) , S. 55. Zum Verhältnis von Adornos Mimesis-Begriff zum traditionellen vgl. Bubner (36), S. 124. Zu Adornos ästhetischem Mimesis-Begriff in Absetzung zu Lukäcs vgl. Kliche (161), S. 234 - 243. Zum Doppelcharakter von Adornos Mimesis-Bestimmung als einerseits "Anschmiegung", andererseits "Instrument der Beherrschung der Objekte" vgl. Lüdke C178), S. 426 238 Adorno ( 7 ) , S. 26
38
Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Vermögen auf ein bloßes "Tasten nach jener Konkordanz" zurückgedrängt worden: "Wäre dies Moment gänzlich getilgt, so würde ( . . . ) die losgelassene ( d . h . von der Sache losgelassene, B.) Rationalität irrational" 239 und Erkenntnis durch den "absolut" vollzogenen "Bruch von Subjekt und Objekt (...) unmöglich" . Um dieser Gefahr zu begegnen, sei das verschüttete mimetische Vermögen zu reaktivieren. Dabei stellt Adorno durchaus in Rechnung, daß so der Erkenntnis ein nicht auszutilgendes Moment an "Zufälligkeit" eigen werde. Weit davon entfernt, dies verbannen zu wollen, erblickt er in ihm "das kritische Moment" 242 , das die Philosophie gegen die Vorherrschaft partikularer Vernunft im Szientismus und sog. positivistischen Wissenschaftsbetrieb erneuern müsse. Das von Adorno im "Gegensatz zum üblichen Wissenschaftsideal" geforderte "Mehr an Subjekt" 243 (Mimesis, "unmittelbare Erfahrung") bedarf seines Erachtens aber auch des komplementären Moments: Erkenntnismäßige Differenziertheit werde erst durch die beiden Komponenten des subjektiv-mimetischen Reaktionsvermögens und des objektiv-logischen "Organ(s) fürs Verhältnis von Genus, Species und differentia specifica" 244 erreicht. Mittels der Mimesis bemüht sich Adorno dem Anspruch des Besonderen zu genügen, mittels der logischen Begrifflichkeit dem des Allgemeinen. Diesem Verhältnis entspricht die für die Philosophie geforderte Synthese von subjektivem "Ausdruck" und objektiver "Stringenz" . Durch die Verabsolutierung des Ausdrucksmoments gleite das Denken in bloße "Weltanschauung" ab, durch die ausschließliche Orientierung an dem Ideal von Stringenz entarte es - dies konvergiert mit der Auffassung Heideggers - zur positivistischen "Wissenschaft". Ausdruck und Stringenz " ( . . . ) bedürfen einander, keines ist ohne das andere" 248 . 239 240 241 242 243 244 245 246 247
248
Adorno ( 7 ) , S. 55. Vgl. ( D , S. 489 Adorno ( 1 4 ) , S. 148 Anm. Adorno ( 7 ) , S. 55 Adorno ( 7 ) , S. 55 Adorno ( 7 ) , S. 50. Vgl. ( 7 ) , S. 54, 57, 173, 189; (10), S. 82 Adorno ( 7 ) , S. 55. Vgl. (10), S. 91 £. Zur Spaltung des Bewußtseins in mimetische und begriffliche Tätigkeit vgl. Adorno (10), S. 81 Adorno ( 7 ) , S. 29 Adorno ( 7 ) , S. 29. Vgl. ( 1 0 ) , S. 92, 118 - 121 Vgl. Heidegger (106), S. 133. Vgl. zur unterschiedlichen Motivation der konvergierenden Wissenschaftskritik bei Adorno und Heidegger: Horchen (197), S. 518. Vgl. zur Kritik der "Behauptung der Wissenschaft als der einzig möglichen Erkenntnisform" auch Horkheimer (119), S. 86 - 89. Adorno ( 7 ) , S. 29. Andererseits kennt Adorno auch den Begriff einer "emphatische (n) Wissenschaft?1 [Adorno ( 1 2 ) , S. 299], der nicht unter sein
Positive Konkretisierung der negativen Dialektik
39
Der Versuch Adornos indessen, seine Idee von Philosophie vor ihrer Auflösung in Weltanschauung zu bewahren, kann schwerlich beanspruchen, ernsthaft diskutiert zu werden: Bemüht sich Dilthey noch, den Relativismus der Weltanschauungen in einer als "Philosophie der Philosophie" konzipierten "Weltanschauungslehre" 249 zu überwinden, so hat Adorno den Ausweg bei der Hand, der Weltanschauung die Forderung nach "Stringenz" als Moment zur Seite zu stellen, damit jene keine mehr sei. Weiterhin ist nicht nur zu fragen, wie Mimesis und Logik, Subjektivität und Objektivität, Ausdruck und Stringenz in ihrem Zusammenspiel zu denken sind, sondern insbesondere, weshalb philosophische Stringenz nach Ausdruck verlangen soll. 2. Den Versuch, diese Frage zu beantworten und damit seine Idee von eigentlicher Philosophie zu begründen, stellt Adornos Theorem eines geforderten "Mehr an Subjekt" bzw. die Kritik der "Residualtheorie der Wahrheit"
250
dar.
a) Ein "Mehr an Subjekt" verlangt Adorno insbesondere für die Philosophie, die er nicht allein in einen "Gegensatz zu den positiven", sondern "auch zu 251 den Geisteswissenschaften" rückt. Der These, daß die Philosophie nicht "der Wissenschaft angeglichen" 252 werden dürfe, entspricht die einer anderen Stellung des Subjekts in ihr als "in den objektivierten und objektivierenden Einzelwissenschaften" 253 . Das mimetische Ausdrucksmoment in seiner implizierten "Affinität zur Kunst" werde konstitutiv. Hinter dem Ausdruck stehe der "Ausdrucksdrang des Subjekts", den Adorno näher bestimmt als "(...) Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen"
256
255
, um " ( . . . ) den Schmerz in das Medium
des Begriffs zu übersetzen." Dabei handle es sich jedoch nicht um ein "Leiden" an bloß individuell persönlichen Problemen. Vielmehr sei das, was das Subjekt " ( . . . ) als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, (...) objektiv vermittelt." 257 Stehe also hinter dem "Ausdruck" der "Ausdrucksdrang", so antworte dieser wiederum objektiven Verhältnissen, die der abstrakt be-
249 250 251 252 253 254 255 256 257
sein Verdikt fällt. M. Puder greift in seinem Buch 'Kant. Stringenz und Ausdruck' das Motiv der Einheit von Stringenz und Ausdruck auf und belegt dadurch unfreiwillig, wohin der Versuch führt, auf Kosten des polemisch verworfenen "Stringenzideals" [Puder ( 2 1 9 ) , S. 11] dem Ausdrucksdrang stattzugeben. Vgl. Dilthey (50) Adorno ( 1 2 ) , S. 211 u.ö. Adorno ( 1 0 ) , S. 80 Adorno ( 7 ) , S. 29 Adorno (10), S. 82 Adorno (10), S. 87 Adorno ( 7 ) , S. 29 Adorno ( 1 0 ) , S. 83 Adorno ( 7 ) , S. 29
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
grifflichen Erkenntnis nicht zugänglich seien: "Leiden, auf den Begriff ge258 . Von hierher wird dann für Adorbracht, bleibt stumm und konsequenzlos" no die Kunst zum "Bewußtsein von Nöten" 259 Die K r i t i k der "Residualtheorie der Wahrheit" hat nun die systematische Funktion, das Ausdrucksmoment erkenntniskritisch abzusichern. Die Argumentation läßt sich wie folgt rekonstruieren: Aufgrund ihrer Unangemessenheit an das nichtidentische besondere Objekt implizierten die vom Subjekt verwendeten allgemeinen Begriffe eine Versubjektivierung der Erkenntnis: Das Objekt in seiner qualitativen Totalität werde durch die quantifizierenden Begriffe verstellt. Es sei gerade auf die "subjektiven Reaktionsweisen"260 , das mimetisch-unbegriffliche Verhalten angewiesen, denn: "Sich dem Objekt überlassen", es nicht durch Begriffe zurichten, "(...) ist soviel wie dessen qualitativen Momenten gerecht werden." 261 Demnach seien Kunstwerke "weniger subjektiv als die diskursive Erkenntnis" und zwar gerade "durch die Freiheit des OCO Subjekts in ihnen." Diesen Überlegungen aber widerspreche "(...) jener Residualbegriff der Wahrheit, den alle bürgerliche Philosophie, mit Ausnahme von Hegel und Nietzsche, gemeinsam hat. Wahrheit erscheint diesem Denken als das, was 'übrig bleibt', nachdem man (...) das weggelassen hat, was schließlich in der Vulgärsprache dem dem Positivistnus überantworteten Wissen263 schaft die 'subjektiven Faktoren 1 heißt." Gerade auch "im Bereich der sogenannten Gesellschaftswissenschaften" bedürfe eine fruchtbare Erkenntnis nicht der "Ausschaltung des Subjekts", sondern "dessen höchster Anstrengung", "all seine(r) Innervationen und Erfahrungen" . Die an dem "Residualbegriff" von Wahrheit ausgerichtete Erkenntnis sei nämlich subjektiv, weil das zu seiner adäquaten Erkenntnis auf das ganze Subjekt angewiesene Objekt nur partiell erfaßt werde. "In schroffem Gegensatz zum üblichen Wissenschaftsideal" verlange deshalb "die Objektivität dialektischer Erkenntnis nicht eines Wenipc C ger sondern eines Mehr an Subjekt" . Durch diese Aktualisierung des ganzen Subjekts zur Aufnahme des Objekts in seiner qualitativen Totalität arbeite 266 das "erfahrene Subjekt" darauf hin, in dem Objekt "zu verschwinden" . 258 Adorno ( 1 ) , S. 35 259 Adorno (1), S. 35. Vgl. zu diesem Topoe des "Bewußtseins von Nöten", den Adorno irrtümlich Hegel zuspricht: Trabant (278). 260 Adorno ( 7 ) , S. 57 261 Adorno ( 7 ) , S. 53 262 Adorno ( 1 ) , S. 191 263 Adorno ( 1 4 ) , S. 76 f 264 Adorno (14), S. 256. Vgl. ( 1 2 ) , S. 211 265 Adorno ( 7 ) , S. 50. Vgl. ( 7 ) , S. 172 £ 266 Adorno ( 7 ) , S. 189 f
Positive Konkretisierung der negativen Dialektik
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Der Kern der Argumentation kann auf folgenden Syllogismus reduziert werden: Maior: Minor:
Erkenntnis strebt Objektivität an. Die Objektivität wird durch die diskursive Erkenntnis aufgrund ihrer subjektiven Begriffe verstellt. Conclusio: Objektive Erkenntnis verlangt die Oberwindung der diskursiven Erkenntnis.
b) Die Argumentation stellt offensichtlich eine quaternio terminorum dar, weil die Begriffe objektiv bzw. subjektiv äquivok sind: Ein "Mehr an Subjekt" kann zwar unter Umständen das Objekt umfassender aufnehmen als es dem quantifizierenden Verfahren einer rein begrifflichen und abstrahierenden, an allgemeinen Gesetzen interessierten Erkenntnis möglich ist. Jedoch ist eine Erkenntnis noch nicht dann wahrer, wenn quantitativ mehr Objektives erfaßt wird, sondern sie kann erst wahr genannt werden, wenn das Objektive auch objektiv erfaßt wird. Dem steht aber das geforderte "Mehr an Subjekt" dann entgegen, wenn das Subjektive bloß subjektiv ist. Die K r i t i k der "Residualtheorie" verwechselt also eine Erkenntnis das Objektiven mit einer objektiven Erkenntnis, eine ontologische mit einer geltungstheoretischen Frage.
Motivgeschichtlich betrachtet verweist diese irrtümliche Kritik der "Residualtheorie" auf Nietzsches Theorie des perspektivischen Erkennens: "(...) und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen (...) wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird /*fi7 unser 'Begriff dieser Sache, unsere Objektivität 1 sein." Das sachlich zugrundeliegende Problem konkretisiert Dilthey dann im Rahmen einer Begründung der Geisteswissenschaften zu der Frage, ob und wie "(...) das Verständnis des Singulären zur Allgemeingültigkeit erhoben werden kann" 268 . Dieses Problem indessen umgeht Adorno durch die Ausnutzung einer doppelten Äquivokation. Damit reduziert sich seine K r i t i k der "Residualtheorie" auf den Appell, bei der Feststellung objektiver Gültigkeit nicht zu vergessen, daß das Objekt nicht in den Aussagen aufgeht, die mit streng objektiver Gültigkeit getroffen werden können. Dies ist jedoch (genauso wie das Problem vom Allgemeinen und Besonderen) weniger ein Problem der Philosophie als der Psychologie. Entsprechend argumentiert Adorno teilweise psychologist!seh: Die Ver-
267 Nietzsche ,(209), S. 861 268 Dilthey (47), S. 317
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
treter des als bürgerlich (?) und positivistisch (?) verworfenen Wissenschaftsideals wendeten sich gegen das "Mehr an Subjekt", weil das dadurch geforderte Moment "philosophischer Erfahrung" das "Vorrecht" einiger weniger "Individuen" sei; sie argumentierten, es "(...) als Bedingung von Erkenntnis zu verlangen, sei elitär und undemokratisch." 26Q Indessen geht es lediglich darum, die Auffassung eines Mehrs an Objektivem (durch ein "Mehr an Subjekt") nicht mit der objektiveren Auffassung dieses Objektiven zu verwechseln, die qualitative Gültigkeit der Erkenntnis nicht an der Quantität des Rezipierten zu messen. Zudem erliegt Adorno im Gegenzug der Gefahr, ein neues einseitiges Wahrheitsideal aufzurichten, wenn er als "Bedingung aller Wahrheit" das mit dem "Ausdrucksdrang des Subjekts" verbundene "Bedürfnis" bestimmt, " ( . . . ) Leiden 270 beredt werden zu lassen." Wendet man aber ein, Adorno fordere doch ebenso "Stringenz", das fragliche Bedürfnis sei nur "Bedingung aller Wahrheit", so ändert dies nichts an der Tatsache, daß das Ausdrucksmoment erkenntniskritisch nicht abgesichert ist. Vielmehr bestätigt der Hinweis auf die Notwendigkeit von Stringenz, daß der subjektive Ausdruck nur nach Maßgabe derselben Geltung beanspruchen kann solange Adorno nicht überzeugend nachzuweisen vermag, inwiefern die Stringenz nach dem Ausdrucksmoment verlangt. Diese Überlegungen berühren notwendig die oben angedeutete These Adornos ?71 einer "Affinität der Philosophie zur K u n s t 1 " ' . 2.3.3
Das Verhältnis von negativer Dialektik zur Kunst
Die Bestimmung wahrer philosophischer Erkenntnis als Mimesis, Stringenz und Ausdruck, führt auf die These Verhältnisses von Philosophie und Kunst. Des näheren zwischen 1. dem Verweisungscharakter von Philosophie Kunst auf Philosophie und 3. ihrem Wechsel Verhältnis
Einheit von Begriff und eines dialektischen ist zu unterscheiden auf Kunst, 2. dem von selbst.
1. Da nach Adorno Philosophie - wobei nun der traditionelle und nicht der geforderte, mit der Kunst in ihrem Wahrheitsgehalt konvergierende 272 - Be269 270 271 272
Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) , Vgl. Adorno
S. 50 f S. 29.(Hervorhebung B.) S. 26. Vgl. ( 1 0 ) , S. 87 ( 1 ) , S. 197; ( 1 ) , S. 507.
Vgl.
auch Grenz (81), S. 120 f.
Das Verhältnis der negativen D i a l e k t i k zur Kunst
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griff von Philosophie zugrundegelegt wird - "nur Begriffe zur Verfügung hat" und insofern an einer "idealistischen Vorentscheidung" 273 leidet, bedarf sie der Korrektur. Diese Aufgabe f a l l e der Kunst zu: "Kunst berichtigt die begriffliche Erkenntnis, weil sie, abgespalten, vollbringt, was jene von der unbildlichen Subjekt-Objekt-Relation vergebens erwartet: daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt. Jene Leistung vertagt sie nicht ins Unendliche. Sie verlangt sie ihrer eigenen Endlichkeit ab, um den Preis ihrer Scheinhaftigkeit." 2 7 4 Im Gegensatz zur erkennend-begrifflichen Herrschaft ergreife die Kunst in der Funktion "bewußtloser Geschichtsschreibung", als "Anamnesis des UnterlegeO7C nen, Verdrängten, vielleicht Möglichen" die "Partei für die unterdrückte 276 Natur" - und zwar sowohl für die in- als auch auswendige. Dies sei möglich, weil sich die Kunst im Unterschied zur bisherigen Geschichte qua Naturgeschichte "von den Zwecken der Selbsterhaltung" ?77 lossage. Schlage Aufklärung durch ihre einseitig selbstvergessene Ausrichtung am begrifflich faßbaren Allgemeinen "in Mythologie zurück" ?7R , so halte Kunst "der Aufklärung (genauer: ihrer Intention, B.) die T r e u 279 e " . Dabei wirke sie zwar nicht unmittelbar praktisch, wohl aber mittelbar, indem sie an das nicht mit dem Begriff pon Identifizierbare erinnere. Kunst diene derart dem Telos der "Versöhnung", und zwar - hier weist sich Adorno als Vertreter der Moderne aus - durch die 281 "unversöhnliche Absage an den Schein von Versöhnung" im Bestehenden. Ist die Philosophie in ihrer traditionellen Konzeption wesentlich auf Stringenz verpflichtet, so erblickt Adorno im "Ausdruck" ein wesentliches ooo "Moment von Kunst", das "qualitativ dem Begriff konträr" sei. Kunst ist ?R3 für ihn in Umdeutung der Kantischen Bestimmung des Schönen ( a l s eines ?fi4 "ohne Begriff allgemein" Gefallenden) begrifflose Erkenntnis. Der sich nicht a b b i l d l i c h , sondern "mimetisch" 2R5 verhaltende Ausdruck offenbare die 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285
Adorno (1) , S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno (1), S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno ( 2 ) , S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno ( 1 ) , S. Adorno ( 1 ) , S. Vgl. dazu Zenk Kant (148), S. Adorno ( 1 ) , S.
382 173 384 428. Vgl. ( 1 ) , S. 198 103 16 130 359 f 55 170 ( 2 9 0 ) , S. 100 f 219 169
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
"Unwahrheit des gesellschaftlichen Zustandes" 2. Diene die Kunst derart als Korrektiv der Philosophie (insofern diese als rein begrifflich-identifizierende Erkenntnisform verstanden wird), so sei umgekehrt die Kunst auch auf die Philosophie angewiesen: "Jedes Kunstwerk bedarf, um ganz erfahren werden zu können, des Gedankens und damit der Philosophie, die nichts anderes ist als der Gedanke, der sich nicht abbremsen läßt." 287 Eine "volle Erfahrung" sei erst dann gegeben, wenn sie nicht nur das fehlbare "Moment" des "ErlebnisUes)" beinhalte, sondern auch mit dem "Urteil über das urteilslose Werk" abschließe, zu dem "Entscheidung" und "Begriff" gehörten. 288 Das Verstehen künstlerischer Produkte sei "eins mit Kritik": "Die Fähigkeit des Verstehens" sei "(...) keine andere als die, wahr und falsch (...) zu unterscheiden, wie sehr auch diese Unterscheidung abwei000 chen muß vom Verfahren der gewöhnlichen Logik." Die Differenz zu diesem liege darin, daß nicht "unter den abstrakten Begriff" subsumiert werde. Die Ästhetik sei vielmehr an solche Begriffe gebunden, " ( . . . ) deren Telos das Be290 sondere ist." Dies verweist genau auf die konstellative Methode einer sogenannten wahren, am Nichtidentischen interessierten Philosophie. 3. Philosophie und Kunst seien derart wechselseitig aufeinander angewiesen. Beide zielten zwar auf das Nichtidentische, jedoch von verschiedenen, für sich genommen einseitigen und daher ergänzungsbedürftigen Seiten: die Philosophie mittels Begriff und Stringenz, die Kunst mittels Mimesis und Ausdruck. Beide stimmten a l s o " ( . . . ) nicht in Form oder gestaltendem Verfahren, sondern in ei291 ner Verhaltensweise, welche Pseudomorphose verbietet" , überein. Philosophie und Kunst erreichten jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern nur in gemeinsamer Anstrengung ihr Ziel. Dabei bringe die eine Seite genau das der anderen zur Erfüllung der Aufgabe abgehende Moment ein - denn: "Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Er292 kenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables." Das heißt: Zufolge ihrer bewußt angewendeten Begrifflichkeit sei der Philosophie das Wahre "unverhüllt", zugleich aber habe "sie es nicht", weil es 286 Adorno ( 1 ) , S. 353 287 Adorno (1) , S. 391. Vgl. ( 1 ) , S. 113 288 Adorno ( 1 ) , S. 364. Vgl. auch den Versuch, verschiedene "Stufen der ästhetischen Erfahrung" herauszuarbeiten: Fontaine (69), S. 5 5 - 6 3 289 Adorno ( 1 ) , S. 391 290 Adorno ( 1 ) , S. 521 291 Adorno ( 7 ) , S. 26 292 Adorno ( 1 ) , S. 191. Vgl. auch ( 1 ) , S. 87. Zur wechselseitigen Angewieeenheit von Kunst und Philosophie vgl. auch Scheible (245), S. 102 ff
Das Verhältnis der negativen Dialektik zur Kunst
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ihr entgleite, insofern die begriffliche Bestimmung einseitig identifizierend sei. Demgegenüber habe die Kunst zwar aufgrund ihrer Begriffslosigkeit 2Q3 als "fortlebende Mimesis" das "Wahre", aber eben "als ein ihr Inkommensurables", weil sie es nicht bestimmen könne, so daß es ihr verhüllt sei: Sie sei lediglich "bewußtlose Geschichtsschreibung" 294 . Damit steht entsprechend des (irrtümlich) konstruierten Paradoxons der Philosophie, "(...) über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen" 295 , die Kunst vor der von Adorno wie folgt bezeichneten Schwierigkeit: "In ihrer Bewegung auf Wahrheit hin bedürfen die Kunstwerke eben des Begriffs, den sie um ihrer Wahrheit willen von sich fernhalten." 296 Zusammengefaßt bedeutet dies: Kunst und Philosophie treffen sich in ihrer Bemühung um das Nichtidentische (konvergieren in ihrem Wahrheitsgehalt), schließen sich aber notwendig aus (weil sie sich konträrer Methoden bedienen), sind jedoch auch aufeinander angewiesen (weil jede Methode für sich einseitig ist). Diese Konzeption ist indessen (abgesehen von der problematischen Deutung begrifflicher Erkenntnis) in dreierlei Hinsicht fragwürdig: a) Die erste Schwierigkeit deckt sich mit der oben bezeichneten in Adornos Idee einer wahren Philosophie, der das "ästhetische Moment" 297 wesentlich sei: Wenn aa) die Idee einer wahren Philosophie aufgrund ihrer divergierenden Momente problematisch ist, und bb) diese Momente sich auf Kunst und Philosophie (in ihrem traditionellen Begriff) beziehen lassen, dann ist cc) die geforderte Einheit von Kunst und Philosophie ebenfalls fragwürdig. Das Problem, wie die Einheit von Mimesis und Begriff, Ausdruck und Stringenz in der Idee einer wahren Philosophie zu denken ist, bezeichnet also genau die Schwierigkeit im Verhältnis von Kunst und Philosophie. b) Das Problem aber, weshalb die Forderung nach Stringenz die nach Ausdruck impliziert, ist dem parallel, weshalb Philosophie auf Kunst angewiesen ist. Auch hier steht die Kritik der "Residualtheorie der Wahrheit" im
293 294 295 296 297
Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno
(1), (1), (7), (1), (7),
S. S. S. S. S.
86 384 (Hervorhebung B . ) . Vgl. ( 1 ) , S. 272 27 201. Vgl. ( 1 ) , S. 521 26
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Zentrum der Argumentation, wenn Adorno feststellt: Die Philosophie bedürfe gerade um ihrer Objektivität w i l l e n der Kunst, weil die "Kunstwerke (...), durch die Freiheit des Subjekts in ihnen, weniger subjektiv als die diskursive Erkenntnis" 298 seien. Das Argument gegen die Deutung der "Objektivität von Kunstwerken" als "Residualbestimmung" und zugunsten des "betrachtende(n) Subjekt(s), in seiner Fehlbarkeit und Schwäche", ist keineswegs "durchschlagend", wie vorgegeben wird: " ( . . . ) sonst wäre der Kunstfremde, der Banause, der als beziehungslose tabula rasa das Kunstwerk auf sich wirken läßt, der Qualifizierteste es zu verstehen und zu beurteilen; der Unmusikalischste der beste Kritiker von Musik." 2 9 9 Keiner dürfte bestreiten, daß das Verstehen von Kunstwerken ein ausgebildetes subjektives Sensorium erfordert, daß ohne dieses "keine Objektivität sichtbar" wird. Indessen geht es gar nicht darum: Entscheidend ist nicht, daß "Objektivität sichtbar" wird, sondern daß sie objektiv "sichtbar" wird. c) Zum dritten ist Adornos Konzeption aporetisah: Wenn die Kunstwerke "weniger subjektiv als die diskursive Erkenntnis sind", Theorie in diesem Sinne ästhetisch werden muß, dann widerspricht diese These ihrer eigenen Voraussetzung - ist es doch nicht die Kunst, sondern die Theorie, die diese These aufstellt und für sie objektive Wahrheit beansprucht. R. Bubner formuliert das Dilemma wie folgt: "Die Philosophie verbirgt vor sich selber, daß sie es war, deren Interpretationsleistung Kunst erst in den Rang der Gleichberech3 1 tigung erhob." g i Dieses systematische Problem läßt sich auf die geistesgeschichtliche Bewegung des deutschen Idealismus projizieren und bezeichnet 3D? dann den Fortschritt Hegels gegenüber Sehe!ling , dem Theoretiker der Romantik. Die Kritische Theorie Adornos fordert zwar nachdrücklich die Selbstbesinnung; indessen fehlt ihr die Besinnung auf ihre eigenen Voraussetzungen. Zur positiven Konkretisierung der Kategorien der negativen D i a l e k t i k ist zusammenfassend festzuhalten: Adorno konzipiert seine alternative Denkmethode wesentlich als Einheit von Ausdruck und Stringenz, Mimesis und Begriff vermittels der Idee der Konstellation. Dieser fehlt jedoch nicht nur ein Auswahlprinzip, sondern es bleibt auch offen, wie die Einheit der divergierenden Momente zu denken ist. Die Frage, weshalb die Forderung nach Stringenz 298 299 300 301 302
Adorno ( 1 ) , S. 191 Adorno ( 1 ) , S. 260 f Adorno ( 1 ) , S. 261 Bubner (36) , S. 133 Über die Beziehung Adornos zu Schelling vgl. Figal (67), S. 99 ff
Das Problem der Negativität
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die nach Ausdruck impliziert, versucht Adorno durch die Kritik der "Residualtheorie der Wahrheit" zu begründen. Das zentrale Argument enthüllt sich jedoch als quaternio terminorum, die durch eine doppelte Äquivokation verdeckt ist. Dieser problematischen Bestimmung der Kategorien der negativen Dialektik entspricht die behauptete Affinität wahrer Philosophie zur Kunst: Weder kann Adorno zeigen, wie der Fluchtpunkt einer ästhetisch-philosophischen Einheit zu denken ist, noch kann er überzeugend begründen, weshalb die Philosophie im Interesse ihrer Objektivität der Kunst bedarf. Zudem verstrickt er sich in eine Aporie, die die mangelnde Selbstbesinnung seiner Idee einer "Kritischen Theorie" belegt. 2.3.4
Das doppelte Scheitern der negativen Dialektik
Nach dieser kritischen Darstellung der Kategorien der negativen Dialektik und ihrer Beziehung zur Kunst muß das Prinzip salbst betrachtet werden. Die negative Dialektik wolle das erfassen, was außerhalb des Begriffs liege, sie sei folglich, obwohl (auch) Bewegung des Begriffs,dieselbe transzendierend. Wesentliches Konstitutionsmoment der negativen Dialektik sei also ihre Selbsttranszendenz. Reduziere sich Dialektik wie bei Hegel auf die bloße Selbstbewegung des Begriffs und entarte sie auf diese Weise zur bloßen Methode , so sei negative Dialektik mehr: nämlich auch eine reale Kategorie. Dialektik soll einerseits keine bloße Methode sein, d.h. sich nicht nur im Denken abspielen, sondern über es hinausgehen, weil Denken immer Denken von etwas sei; andererseits soll sie aber keine bloß reale Kategorie sein, da Widersprüchlichkeit als Wesenszug von Dialektik eine Reflexionskategorie, also an das Denken gebunden sei. Paradox formuliert: Adornos Begriff der negativen Dialektik ist kein Begriff. Bei einer kritischen Betrachtung d'ieses alternativen Denkmittels ist zwischen seinen beiden Bestandteilen: Negativität und Dialektik zu unterscheiden. 2.3.4.1 Das Problem der Negativität Die Bestimmung Adornos, Dialektik sei keine bloße Methode, bezeichnet .den Ansatzpunkt für die Herausarbeitung einer prinzipiellen Verlegenheit seiner Theorie: die fehlende Legitimation der Negativität der negativen D i a l e k t i k , 303 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 148 304 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 148.
Vgl.
(11), S. -215. Dialektik ist nach Adorno
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
d.h. ihr Unvermögen, Individualität (Nichtidentität) als Wert zu begründen. Die Kritische Theorie Adornos beansprucht,Selbstbesinnung des begrifflichen Denkens zu sein. Erst die negative Dialektik werde der Tatsache gerecht, daß Denken immer auch Denken von etwas sei, daß es im Wesen des Begriffs liege, auf Nichtidentisches gerichtet zu sein: "Denken widerspräche schon seinem eigenen Begriff ohne G e d a c h t e s " . "In Wahrheit gehen alle Begriffe, auch die philosophischen, auf Nichtbegriffliches" . Aufgrund dieser Selbsttranszendenz des Begriffs kann Adorno schreiben: "Als er selbst ist er gar nicht nur er selbst." 307 Diese Begriffstheorie ist aber schon im Ansatz fragwürdig, weil nicht Begriffe auf Nichtbegriffliches "gehen", sondern vielmehr das erkennende Subjekt sich mittels Begriffen auf Nichtbegriffliches bezieht. Diese Unterschlagung des Subjekts ist allerdings von Adorno insofern konsequent, als er die Existenz von Subjektivität leugnet. Ebenfalls ist diese Theorie mehrfach problematisch, wenn Adorno über die Konstruktion eines immanenten Widerspruchs des abstrakt Allgemeinen das Besondere und Nichtidentische indirekt zu begründen versucht 30fi : "Indem der Begriff sich als mit sich unidentisch und in sich bewegt erfährt, führt er, nicht länger bloß er selber, auf sein nach Hegelscher Terminologie Anderes, ohne es aufzusaugen."309 Durch die Selbstreflexion seines Widerparts soll also das Besondere vor der Eliminierung bewahrt werden. Diese These, die an Hegels Herr-und-Knecht-Problematik erinnert, beruht auf mehreren, nicht offen gelegten Prämissen: 1. Zunächst ist vorausgesetzt, daß der Begriff, die Identität, zur eigenen Bedingung seiner Möglichkeit des ihm Anderen notwendig bedarf. In diesem Sinne formuliert Adorno einen Widerspruch der abstrakten Identität: "Identitätsdenken war die Geschichte hindurch ein Tödliches, das alles Verschlingende. (...) Die Identität jedoch, die mit nichts mehr identisch wäre als mit sich selber, vernichtet sich selbst; geht sie gar nicht mehr auf ein Anderes, ist
305 306 307 308 309
weder ein methodisches noch ein ontologisches Prinzip: vgl. Adorno (14), S. 258. Vgl. auch die Kritik Müller-Strömdörfera: "Adornos Dialektik will keine Methodologie und keine Ontologie sein und zahlt dafür den Preis, beides zu sein." [Müller-Strömsdröfer (198), S. 100] Adorno ( 7 ) , S. 139. Vgl. (11), S. 139 Adorno ( 7 ) , S. 23. Vgl. ( 5 ) , S. 466 Adorno ( 7 ) , S. 159 Eine Reproduktion des "Widerspruchs" des abstrakt Allgemeinen findet sich bei Tichy ( 2 7 7 ) , S. 77 - 83. Adorno ( 7 ) , S. 159
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sie nicht Identität von etwas, so ist sie, wie Hegel durchschaute, überhaupt nicht." 3 1 0 Die Folgerung ist voreilig: Wenn a) Identität immer Identität von etwas ist, und b) die Identität das ihr Andere liquidiert hat, sie nur noch mit sich selbst identisch ist, kann man c) nicht schließen, daß sie sich selbst vollkommen vernichtet: Sie gibt sich nur als Identität auf und verändert sich q u a l i t a t i v , aber sie ist dann nicht "überhaupt nicht". Auch dies hat Hegel durchschaut. Entsprechendes g i l t für die Argumentation h i n s i c h t l i c h einer Selbstvernichtung des abstrakt Allgemeinen: "Das Allgemeine, von welchem das Besondere wie von einem Folterinstrument zusammengepreßt wird, bis es zersplittert, arbeitet gegen sich selbst, weil es seine Substanz hat am Leben des Besonderen; 311 ohne es sinkt es zur abstrakten, getrennten und tilgbaren Form herab." Diese These ist insofern nicht überzeugend, als durch die Unterdrückung des Besonderen zwar das Allgemeine gegen sich selbst arbeiten mag, aber nur gegen sich als Allgemeines. Solcherart sinkt es auch nicht zur "tilgbaren Form herab", weil es, wenn es den Charakter des Allgemeinen, ebenso den der Form aufgibt, und dies wiederum - was entscheidend ist - nicht, weil es als bloße Form nichtig wird, sondern weil es selbst zum Inhalt geworden ist. Durch die Liquidierung des Besonderen sinkt das Allgemeine nicht zum bloß Allgemeinen, Nichtigen herab, sondern es wird zum Absoluten, und durch diese Steigerung verliert es den Charakter des Nur-Allgemeinen. Das Allgemeine bedarf des Besonderen lediglich, soweit es ein Nur-All gemeines ist und noch nicht total geworden ist. Dies hat Anwendung auf die Problematik des Begriffs: Angenommen der Begriff erkennt seinen Verweisungscharakter, weil er nur als Begreifender sinnvoll gedacht werden kann, so bedeutet das zwar, daß er eines Nichtbegrifflichen bedarf, aber nicht, daß er dieses als Anderes und von ihm Verschiedenes achten muß. Der Begriff ist auf das Andere angewiesen, da er andernfalls leer wäre; aber er ist nicht auf das Andere als Anderes angewie310 Adorno ( 7 ) , S. 506 311 Adorno ( 7 ) , S. 339. Zufolge F. W. Schmidt i.st " ( . . . ) diese Dialektik ( . . . ) an den sich bekämpfenden Machtapparaten des Faschismus gewonnen, einer Totalität, die in der Tat mit den Individuen ihre eigene Existenz zerstörte." [Schmidt (255), S. 61] Dabei bezeichnet er genau die von uns abstrakt herausgestellte Problematik im Konkreten: So wie das Allgemeine sich durch seine absolute Steigerung nur als Allgemeines negiert, indem es total wird, so gilt im gesellschaftlichen Bereich: "Inzwischen hat der Kapitalismus gelernt, das 'Besondere' so zu traktieren, daß diesem seine Verwertung als Karriere erscheint." (ebd.)
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
sen. Das heißt: Das Andere muß außer den unter dem Begriff subsumierten Eigenschaften nicht noch weitere Qualitäten besitzen und erst recht nicht vom Begriff in diesen anerkannt werden. Bedarf der Begriff als ein Allgemeines eines Nichtbegrifflichen, so muß dieses nicht als nicht-subsumierbares Besonderes qualifiziert sein. Kann der Begriff vielmehr das Nichtbegriffliche vollkommen "aufsaugen", so erreicht er seine Vollendung, weil er in diesem Falle angemessen ist. Aus dem Verweisungscharakter des Begriffs folgt lediglich, daß das Verwiesene nichtbegrifflich sein muß. Die Selbsterkenntnis des Begriffs als eines notwendig Verweisenden impliziert also nicht, daß er auf sein Anderes führt, " ( . . . ) ohne es aufzusaugen" , insofern dies heißen soll, daß das Andere als ein Besonderes in seinen nicht-subsumierbaren Eigenschaften berücksichtigt wird. Der Versuch, das Nichtidentische indirekt mittels einer Analyse des Begriffscharakters zu legitimieren, scheitert also an der fehlenden Unterscheidung zwischen Nichtbegrifflichem und Besonderem Nichtbegriffl icheai. Die Ursache für diesen Fehler ist vermutlich in einer sprachlichen Ungenauigkeit zu sehen. Der Begriff fordert ein Nichtbegriffliches (maior), der Begriff ist das Allgemeine (minor), also fordert das Allgemeine das Nicht-Allgemeine, d.h. das Besondere (conclusio). Der Irrtum liegt im minor: Der Begriff ist nicht das Allgemeine - dies wäre eine unzulässige Verdinglichung -, sondern er ist allgemein. Der Träger einer Eigenschaft ist nicht mit der Eigenschaft selbst zu verwechseln. Ähnliches g i l t für folgende These: "Das Verwiesensein von Identität auf Nichtidentisches (...) ist der Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie." "Identität" steht hier für Allgemeinbegriff, "Nichtidentisches" für Nichtbegriffliches. Solange man streng bei diesen Deutungen bleibt, ist gegen die These nichts einzuwenden - nur: Sie erreicht ihr Beweisziel nicht. Unter der Hand jedoch wird der ursprünglich rein negativ konzipierte Begriff des Nichtidentischen qua Nichtidentifizierbaren (Besonderen) umgedeutet. Nur durch diese Begriffsverschiebung kann es zu einem "Einspruch gegen a l l e Identitätsphilosophie" kommen. Zufolge der ersten Bedeutung des Nichtidentischen bedarf der Begriff eines mit ihm Nicht-Identischen. Das heißt aber nicht, daß das Nichtidentische in dieser Bedeutung noch andere Merkmale besitzen muß außer dem, nichtbegrifflich (nicht-identisch = nicht mit dem Begriff identisch) zu sein. Hieraus folgt jedoch kein Argument gegen die Identitäts312 Adorno ( 7 ) , S. 159 313 Adorno ( 7 ) , S. 126 f
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Philosophie. Ein solches fordert vielmehr, daß das Nicht-Identische zugleich ein Besonderes und Nichtidentifizierbares ist. Erst jetzt scheitert die Identitätsphilosophie insofern, als die Subsumtion (Identifikation) nicht vollkommen sein kann. (Genau genommen verlangt das Beweisziel noch einen weiteren Schritt: Aus dem Scheitern der Identitätsphilosophie resultiert nicht zugleich seine Berechtigung, die notwendig wäre, um dasselbe als "Einspruch gegen alle Identitätsphilosophie" zu deuten.) Als erstes Ergebnis ist festzuhalten: Der Versuch, Nichtidentität durch die Konstruktion eines immanenten Widerspruch des abstrakt Allgemeinen, durch den Hinweis auf das Wesen des Begriffs zu begründen, setzt Nichtbegriffliches und besonderes Nichtbegriffliches gleich. Verdeckt wird dies durch die Ausnutzung verschiedener Äquivokationen. 2. Zugunsten der intendierten Legitimation des Nichtidentischen muß ein zweiter nicht gedeckter Schritt vollzogen werden: Es soll nicht nur die Notwendigkeit eines besonderen Nichtbegrifflichen, sondern seine notwendige Realität bewiesen werden. Wenn im Begriff des Denkens ein Gedachtes involviert ist, heißt das nicht zugleich, daß das Gedachte auch real sein muß. Diese Differenz verkennt Adorno: "Denken widerspräche schon seinem eigenen Begriff ohne Gedachtes und dies Gedachte deutet vorweg auf Seiendes, wie es vom absoluten Denken doch erst gesetzt werden soll." Nehmen wir als Gedachtes einen Kentauren, so folgt daraus nicht, daß er auf einen seienden Kentauren verweist. Zu erinnern ist hier auch an Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises. 3. Des weiteren: Angenommen, der Begriff verweise wesensmäßig auf ein besonderes Nichtbegriffliches und dieses müsse notwendig auf Seiendes deuten, so heißt das immer noch nicht, daß das Nichtidentische auch anerkannt werden soll. Aus der Analyse des Faktischen (Wesen des Begriffs bzw. Widerspruch des abstrakt Allgemeinen) kann unmöglich ein Sollensanspruch und ein Wertpostulat herausdestilliert werden. Die scheinbar so einfache Antwort auf die Frage, weshalb der Begriff und das Abstrakt-Allgemeine ihr Anderes nicht eliminieren sollen - weil sie des Anderen bedürfen, um selbst zu sein -, verschiebt lediglich das Problem. Denn nun muß nach der Rechtfertigung des Begriffs und Abstrakt-Allgemeinen gefragt werden, um die Sollensdimension einzuholen. 314 Adorno ( 7 ) , S. 139. Vgl. (8), S. 17
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
4. Adornos Schwierigkeiten spitzen sich damit auf ein Paradoxon zu: Ursprünglich sollte das Recht des Besonderen und Individuellen begründet werden. Nun aber zeigt sich, daß in Adornos Argumentation der Begriff, das A l l gemeine, legitimiert ist und deshalb auch das Nichtbegriffliche, Besondere, Individualität ist also bei Adorno - wenn überhaupt - nur als Mittel des Allgemeinen gerechtfertigt. Dies verweist auf die Legitimationsfrage seiner Philosophie: Wie begründet sie - will sie nicht in einen irrationalen Intuitionismus münden - die Forderung, das Nichtidentische gelten zu lassen? Dieses Sollen, diese verlangte Umkehr der Richtung des Begriffs (und analog des gesellschaftlichen Abstrakt-Allgemeinen) läßt sich nicht aus der bloßen Erkenntnis der Unterdrückung des Metalogischen ableiten, so wie aus einem Scheitern der Identitätsphilosophie nicht folgt, daß sie nicht sein soll. Der Versuch, die Dimension des Seins zu der des Sollens zu erhöhen, der zudem das Individuelle mediatisiert, ist die Kehrseite dessen, daß für Adorno a l l e moralischen Bestimmungen (der idealistischen Ethik) aus der " ( . . . ) Materie herausgepreßt" 316 sind. 5. Die Ursache für diesen Fehler ist in der Auflösung von Geltung in Genesis, des quid iuris in das quid facti zu suchen. Und dieser Reduktion (derzufolge Bewußtsein auf "abgezweigte Triebenergie 1 317 zurückgeführt wird) liegt eine schon im Ansatz verfehlte Subjektstheorie zugrunde, die Sich als Empirisierung und Naturalisierung des gesamten Subjekts, als Negation transzendental begründeter überempirischer Subjektivität umreißen läßt. Die Objektivierung des Subjekts ("Präponderanz des Objekts") involviert den naturalistisehen Fehlschluß 318 , aus der bloßen Tatsache des Nichtidentischen und Individuellen bzw. ihrer abstrakten Negation die Forderung ihrer Berücksichtigung bzw. einer Umkehr der Begriffsrichtung "abzuleiten". Individualität ist im Rahmen der Philosophie Adornos nicht begründbar, weil ihre Fundierung in einer angemessenen Subjektstheorie fehlt. Damit wird zugleich der Sollensanspruch h i n f ä l l i g : Die Forderung nach Negativität der als alternatives Denkmittel vorgeschlagenen negativen Dialektik fällt in eich zusammen. 6. Dies hat Konsequenzen für die Begründungsstruktur der Adornoschen Theorie: Die Legitimationsproblematik impliziert eine petitio
313 316 317 318
Adorno ( 7 ) , S. 126 Adorno ( 7 ) , S. 214 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 262 Vgl. Moore (196), bes. S. 82 ff.
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Adorno w i l l die Individualität retten, aber - und das ist bezeichnend für die •51Q von ihm geforderte "reductio hominis" - nicht nur die der Menschen,sondern auch die der Dinge. So spricht er an einigen Stellen nicht nur jenen, sondern auch diesen I n d i v i d u a l i t ä t zu320 - ganz im Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassung, für die das Ding nur ein Besonderes, jedoch kein Individuelles ist: Dem entspricht aufs genaueste Adornos Forderung nach einer "Liebe zu den Dingen» 321 . Entscheidend ist allerdings seine Begründung: Eine Mediatisierung der Dinge sei deshalb abzulehnen, weil eine solche "(...) Humanität abtragen half." 3?? Die Ausweitung des Begriffs der Liebe kann nur unter der Voraussetzung einer prinzipiellen Wesensgleichheit von Mensch und Natur überzeugen. Eine solche nimmt Adorno in der Tat an: Der Mensch sei wesentlich Natur, ihr Verhältnis opo zueinander sei das der "Affinität" . Das Geistige und die Vernunft seien lediglich "modifiziert leibhafter Impuls" . Derart ist für Adorno eine Unterdrückung der nicht-menschlichen Natur der der menschlichen äquivalent und hängt mit dieser eng zusammen. Die Verstrickung dieser Konzeption wird evident: Die Forderung, auch den Dingen ihre Besonderheit oder gar Individualität zu belassen, sie nicht mit dem Begriff zu identifizieren (sie nicht nur nach dem abstrakten Tauschwert zu bemessen), legitimiert sich (- f a l l s überhaupt -) letztlich aus dem Wert der Menschlichen Individualität und der Affinität zwischen Natur und Mensch. Die menschliche Individualität aber kann Adorno aufgrund der naturalistischen Deutung des Menschen, der behaupteten fatalen, weil ursprünglich totalen Affinität nicht begründen. Das jedoch bedeutet - und hier schließt sich die petitio principii -, daß der Wert der dinglichen Besonderheit schon vorausgesetzt ist. Als Grund müßte sich das menschliche Subjekt in spezifischer Weise von den Dingen unterscheiden, denn Begründendes und Begründetes dürfen nicht zu3?5 sammenfallen. Die Identifizierung des Menschen mit der Natur läßt jedoch kein Begründungsverhältnis aufkommen. Der Zielpunkt einer grundsätzlichen Kritik an Adorno kristallisiert sich damit heraus: der Mangel einer überzeugenden Subjektstheorie. 319 320 321 322 323 324 325
Adorno ( 7 ) , S. 187 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 164 Adorno ( 7 ) , S. 191 Adorno ( 7 ) , S. 192 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 266 f Adorno ( 7 ) , S. 202 Vgl. Hegel (103), Bd. II, S. 102 - 109
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Als Ergebnis der Überlegungen zur Negativität der negativen Dialektik ist festzuhalten: Die Schwierigkeiten Adornos, die Negativität des alternativen Denkmittels zu legitimieren, kulminieren ungeachtet mehrerer argumentativ nicht gedeckter Schritte in dem Paradoxon, Besonderheit und Individualität mediatisieren zu müssen. Dies Paradoxon kristallisiert sich in einer zirkulären Begründungsstruktur aus. Von hierher rückt abermals die Philosophie Kants als des Begründers eines transzendentalen, empirisch nicht faßbaren Subjektsbegriffs in das Zentrum des systematischen Interesses. 2.3.4.2 Das Problem der Dialektik Bevor das Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritizismus erläutert werden kann, ist die zweite Komponente der negativen Dialektik zu prüfen: ihr dialektischer Charakter. Dabei ist zu unterscheiden zwischen 1. Adornos Dialektikverstandnis, 2. seiner Begründung des dialektischen Wesens der alternativen Denkweise und 3. ihrer Konsequenz. 1. Der Dialektikkonzeption sowohl Hegels als auch Adornos ist der Charakter des Widerspruchs, d . h . die Oberwindung des formallogischen Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch, gemeinsam. Ist für Aristoteles das Widerspruchsprinzip (- "daß dasselbe demselben nicht zugleich und in derselben Hinsicht [...] zukommen und nicht zukommen kann" -) das "sicherste unter allen PrinOOC zipien" und ist es noch für Kant "ein allgemeines, obzwar negatives Kriterium aller Wahrheit" 327 , so erblickt Hegel hingegen im Widerspruch "die •39Q rein formale Erscheinung des Absoluten" : "Er ist ( . . . ) nicht bloß als eine Abnormität zu nehmen, die nur hier und da vorkäme, sondern ist das Negative in seiner wesenhaften Bestimmung, das P r i n z i p aller Selbstbewegung, die in nichts weiter besteht als in einer Darstellung desselben." 329 Dialektik hat sich nach Hegel zwar an das principium contradictionis zu halten, darf es aber nicht verabsolutieren. Vielmehr muß sie es in der dialektischen Bewegung der bestimmten Negation positiv aufheben. Der Widerspruch ist für Hegel die "Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit" , so daß er ihn nicht bloß wie Aristoteles und Kant logisch-kontradiktorisch, sondern auch real326 Aristoteles ( 1 6 ) , IV, 3. 1005 b 19 f. Vgl. ( 1 6 ) , IV, 6. 1011 b 13 f 327 Kant ( 1 4 7 ) , B 190 328 Hegel ( 9 5 ) , S. 41 329 Hegel (103), Bd. II, S. 76 330 Hegel (103), Bd. I, S. 35 - 56 331 Hegel (103), Bd. II, S. 75
Das Problem der Dialektik
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332 konträr faßt. Die Grenze zwischen Widersprüchen einerseits und Gegensätzen, Antagonismen etc. andererseits wird damit verwischt.
Die Begriffskonfusion setzt sich vielfach im dialektischen Materialismus fort. So etwa wenn Marx "Gegensatz" und "Widerspruch" entweder vollkommen synonym verwendet oder diesen als einen "gesteigerte(n)" Gegensatz ver335 steht und derart "Widersprüche" der kapitalistischen Produktionsweise diagnostiziert. Entsprechend g i l t als Methode zur Oberwindung von Widersprüchen nicht nur die logische Analyse, sondern auch die gesellschaftliche Systemveränderung. Engeis geht dann in seinem 'Antidühring' so weit, den Gegensatz oder Widerstreit, d.h. "den dialektischen Widerspruch ausdrücklich als logische Kontradiktion" zu formulieren. Nietzsche schließlich bringt einen neuen Aspekt in die Problematik ein. Er sieht in der Logik kein "Kriterium der Wahrheit", sondern lediglich ein Mittel "zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also, ' p r i n z i p i e l l ' , zu einer nützlichen Fälschung}" 337 . Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch wird demnach als "imperativ über das, was als wahr gelten soll", dechiffriert und als ein Herrschaftsmittel bestimmt, als ein "Mittel zur Setzung und Zu• 330 rechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen aoil." Das Dialektikverständnis Adornos nun, der die Undefinierbarkeit seiner Dialektik geradezu zu ihrem definiens erhebt 339 , versammelt die oben bezeichneten Motive. Wie Hegel will Adorno die "Gültigkeit der formalen Logik" nicht einfach bestreiten oder schlicht " ( . . . ) den Satz vom Widerspruch ausstreichen." Allerdings sei das principium contradictionis nicht zu verabsolutieren. Gleich Marx nimmt er eine "Widersprüchlichkeit" 342 der objektiven Verhältnisse an und betrachtet - hierin ähnlich Engels - den logischen Wi-
332 Vgl. zur Kritik der Hegeischen Fassung des Widerspruchs Patzig (216) , S. 1698. 333 Marx (188), Bd. I, S. 128 334 Marx (188), Bd. I, S. 152. Vgl. auch z.B. (190), S. 533 333 Marx (188), Bd. I, S. 526 336 Simon-Schäfer (266), S. 75 337 Nietzsche (201), S. 726 338 Nietzsche (201), S. 537 f 339 Adorno ( 1 2 ) , S. 288 340 Adorno ( 7 ) , S. 50 341 Adorno (14), S. 309 342 Adorno ( 1 2 ) , S. 297
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
derspruch als angemessenen Ausdruck von "realen Antagonismen" . Folglich darf man nach Adorno "logische Widersprüche" in Sözialwissenschaften "(...) nicht als bloße Inkonzinnitäten des wissenschaftlichen Denkens wegschaffen, 344 wo sie doch nur durch Veränderung der Realität beseitigt werden könnten." Entsprechend sei die These vom "Vorrang" der Logik und ihres zentralen Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch das "Kernstück der positivistischen oder (...) szientistisehen Auffassung von jeglicher Wissenschaft". Die dialektische Position hingegen vertrete die "kritische SeTbstreflexion des Primats der L o g i k " . In der Nachfolge Nietzsches schließlich glaubt er die ausschließliche Geltung der logischen Gesetze in "dem Zwangscharakter der Selbsterhaltung" begründet. Die verabsolutierte Logik sei "Ideologie" , ihre "Unangreifbarkeit" d e r "vergeistigt gesellschaftliche B a n n " . 2. Systematisch interessanter als Adornos recht unbestimmtes Verständnis von D i a l e k t i k ist seine Begründung des dialektischen Charakters der negativen Dialektik. Er kritisiert a) den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch, b) den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. a) Hegeis Auffassung zufolge verwickelt sich der bloß reflektierende und trennende Verstand in E r f ü l l u n g seiner unendlichen Aufgabe aufgrund seiner Endlichkeit zwangsläufig in Widersprüche. Durch die "Einsicht von dem notwen3 digen widerstreite der Bestimmungen des Verstandes mit sich selbst" , d.h. indem der Verstand sich das "Gesetz der Selbstzerstörung" gibt, erhebt er sich zur spekulativen und unendlichen Vernunft. In Absetzung zu Adorno ist relevant, daß der Widerspruch sich als Resultat der "elgene(n) Fortbestimmung des Begriffs" darstellt: "Das, wodurch sich der Begriff selbst weiterleitet, ist das vorhin angegebene Negative, das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische aus." Diese Deutung des Widerspruchs gründet in der 352 von Hegel beanspruchten Oberwindung dessen, was er als Bewußtseinsgegensatz kennzeichnet, des Gegensatzes von Subjektivem und Objektivem, Denken und Sein. Adorno nun kritisiert gerade diesen identitätsphilosophischen Ansatz und 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352
Adorno (12) , S. 308 Adorno ( 1 2 ) , S. 305 f Adorno (12) , S. 282 Adorno ( 2 ) , S. 47 Adorno (12) , S. 310 Adorno ( 1 2 ) , S. 302 Hegel (103), Bd. I, S. 39 Hegel ( 9 5 ) , S. 28 Hegel (103), Bd. I, S. 51 (1., 2. und 4. Hervorhebung B.) Vgl. Hegel (103), Bd. I, S. 43
Das Problem der Dialektik
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verteidigt in diesem Punkt Kant gegen Hegel (indem er das Ding an sich als Positivum restituiert ). Derart muß er den von ihm reklamierten dialektischen Charakter des alternativen Denkmittels in von Hegel abweichender Weise deuten und begründen. Dabei lassen sich zwei Argumentationen unterscheiden: aa) Der Widerspruch resultiert bei Adorno nicht aus der progressiven Selbstbestimmung des Begriffs, kann aufgrund der verschiedenen Prämissen gar nicht daraus folgen, sondern soll sich aus dem von ihm aufrecht erhaltenen Gegensatz des Begriffs und Nichtbegrifflichen ergeben: "Der Gegensatz des Denkens zu seinem Heterogenen reproduziert sich im Denken selbst als dessen immanenter Widerspruch." 3 Diese These ist eindeutig. Jedoch ist zu fragen, weshalb die Intention, das Nichtidentische vor der Mediatisierung zu bewahren, die Notwendigkeit eines Denkens in Widersprüchen, einer negativen Dialektik bedingt. Der Obergang von Nichtidentität zu Dialektik (in Adornos Sinne) wird lediglich durch die Ausnutzung der Homonymie des Wortes "Widerspruch" möglich. Diese läßt sich wie folgt feststellen: Das Nichtidentische widersetze sich der identifizierenden Verbegrifflichung, es behaupte "Widerstand des Anderen gegen •iCC die Identität , d.h. es lege Widerspruch gegen seine restlose Subsumtion unter das Allgemeine ein: Dialektik " ( . . . ) sagt zunächst nichts weiter, als daß die Gegenstände in ihrem Begriff nicht aufgehen, daß diese in Widerspruch geraten mit der hergebrachten Norm der adaequatio." Widerspruch wird also hier als widerstand verstanden. Damit ist jedoch nicht die Notwendigkeit des Denkens in Widersprüchen aufgewiesen: "Dialektik als Verfahren heißt, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruchs willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken." Es gilt, die Brücke vom Widerspruch qua Widerstand zum Widerspruch qua widersprüchlichkeit zu schlagen. Weshalb soll das Nichtidentische, das eine eigene Identität besitzt 358 , nur in widersprüchlichen Bestimmungen adäquat gefaßt sein ? Wieso soll das Verfahren, das sich dem Nichtidentischen mittels positiver Bestimmungen annähert, die immer enger und genauer werden, je näher sie dem zu Bestimmenden rücken, schließlich widersprüchlich werden ? Aus einem Widerspruch 353 354 355 356 357
Vgl. Adorno ( 7 ) , S. Adorno ( 7 ) , S. 149. Adorno ( 7 ) , S. 163 Adorno ( 7 ) , S. 16 f Adorno ( 7 ) , S. 143. bar ist es, wenn H. "Differenz zwischen 358 Adorno ( 7 ) , S. 164
286 Anm. Vgl. (10), S. 88; (11), S. 197 Sowohl wenig sinnvoll als auch mit dem Text unvereinKaiser den "dialektische(n) Widerspruch" einfach als Begriff und Sache" [Kaiser (136), S. 161] bestimmt.
58
Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
(qua Widerstand) des Metalogischen folgt schwerlich seine ausschließliche Faßbarkeit mittels des Widerspruchs (qua logischer Widersprüchlichkeit) und damit die Notwendigkeit (obzwar die reine Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann) des dialektischen Charakters der gegen die herrschende Denkweise zu entwickelnden Alternative. bb) Die zweite Argumentation zugunsten der Aufhebung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch spielte im "Positivismusstreit der deutschen Soziologie" (der vornehmlich zwischen Adorno und Habermas einerseits und Popper und Albert andererseits in den sechziger Jahren ausgetragen wurde ) eine entscheidende Rolle. Die weitschweifig vorgetragene Argumentation Adornos läßt sich auf folgenden Syllogismus reduzieren: Maior: Die Methoden haben sich der Sache anzugleichen. Minor: Die Sache, d.h. die Gesellschaft, ist widersprüchlich. Conclusio: Die Methode muß auch widersprüchlich werden, d.h. das principium 362 contradictionis aufheben. Diese Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht problematisch: Das Postulat des fiiaior einer Anähnelung der Methoden an die Sache ist einseitig und um die 36? schon von Schelling ausgesprochene und u.a. von Dilthey, Windelband, Rickert, Cassirer und Litt fruchtbar gemachte Erkenntnis zu erweitern, daß die Sache erst durch die Methode konstituiert wird. Der minor verwendet einen fragwürdigen Begriff des Widerspruchs: Im Interesse begrifflicher Genauigkeit sollte man statt von gesellschaftlichen Widersprüchen von gesellschaftlichen Spannungen, Gegensätzen und Antagonismen sprechen. Die condusio schließlich beruht auf einer simplen (in der Literatur über Adorno jedoch häufig wiederholten ) quaternio terminorum unter Ausnutzung der Mehrdeutigkeit von Widerspruch. Dieses Ergebnis wird durch den Nachweis 0. Schwemmers bestätigt, daß die von Adorno formulierten logischen Widersprüche als vorgeblicher Ausdruck widersprüchlicher Verhältnisse lediglich "in widersprüchliehe Form gebrachte Xquivokationen" 366 sind. 359 360 361 362 363 364
Vgl. dazu den Sammelband: Adorno u.a. (15) Adorno ( 1 2 ) , S. 552, 557 Vgl. Adorno ( 1 2 ) , S. 548, 551 f, 562, 564 Vgl. Adorno ( 1 2 ) , S. 305 f, 308, 548 f, 551, 558; ( 8 ) , S. 25 Vgl. Schelling (250),' 3. Vorlesung, S. 35; 4. Vorlesung, S. 43 Vgl. auch O. Schwemmer, der Adornos Rede von "Widersprüchen in der Sache" als These der "Sinnverkehrungen von Institutionen und Regeln im allgemeinen" rational rekonstruiert [Schwemmer ( 2 6 3 ) , S. 276]. 365 Vgl. z.B. van Reijen ( 2 2 4 ) , S. 38 f 366 Schwemtner ( 2 6 3 ) , S. 270
Problem der D i a l e k t i k
59
b) Adornos "dialektische" K r i t i k der herrschenden Logik richtet sich nicht nur gegen das p r i n c i p i u m contradictionis, sondern auch gegen den Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Das zentrale Argument seines Einwandes läßt sich wie folgt aufschlüsseln: Maior: Die undialektische Logik eliminiert das Nichtidentische. Minor: Die undialektische Logik geht wesentlich nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten vor. Conclusio: Die Anerkennung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten verhindert die Berücksichtigung des Nichtidentischen. Von hierher folgert Adorno dann weiter auf einen dialektischen Charakter der alternativen Denkweise. Indessen - soll dieser bewiesen werden - so ist die Argumentation z i r k u l ä r (oder reduziert sich auf die Wiederholung der These), weil der maior das wesentliche demonstrandum enthält. Hinsichtlich der angestrebten Aufhebung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten aber gilt: Der minor ist insofern falsch, als - wie R. Simon-Schäfer feststellt - es Adorno "(...) unbekannt zu sein (scheint), daß der Satz vom ausgeschlossenen OCQ Dritten in mehrwertigen Systemen des Aussagenkalküls nicht g i l t . °°Zudem ist die Vermutung nicht ganz abwegig, daß Adorno den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, den er als "Kern" der undialektischen Logik bezeichnet, mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch verwechselt, der gewöhnlich als oberstes P r i n z i p angesehen wird. Darauf verweisen ebenfalls die These, daß alles, was dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten "nicht sich einfügt", die "Signatur des Widerspruchs" annehme, und die Tatsache, daß Adorno direkt im Anschluß den "Primat des Widerspruchsprinzips kritisiert. Die condusio schließl i c h beruht auf einer unzulässigen Umkehr eines Implikationsverhältnisses: Wenn sich die undialektische und (nach Adorno) identifizierende Logik nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (?) richtet, so bedeutet das nicht, daß sich alles, was sich nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (?) richtet, der undialektischen und identifizierenden Logik gleichzusetzen ist. Damit ist zugleich die Möglichkeit einer Logik sichergestellt, die.obzwar sie den Satz vom ausgeschlossenen Dritten bzw. Widerspruch anerkennt, das Individuelle keineswegs zwangsläufig eliminiert. 3. Von Adornos Dialektikverständnis und seinem Versuch, den notwendig dia367 368 369 370
Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 17 Simon-Schäfer ( 2 6 6 ) , S. 59 Anm. Adorno ( 7 ) , S. 17 Adorno ( 7 ) , S. 17
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
lektischen Charakter des alternativen Denkmittels zu begründen, ist die Konsequenz zu unterscheiden, die seine Konzeption impliziert: Wird das Widerspruchsprinzip nicht mehr als - wie es bei Kant heißt - "ein allgemeines, obzwar negatives Kriterium aller Wahrheit" 371 anerkannt, dann kann Adorno auch unseren Widerspruch gegenüber seiner Theorie nicht mehr zurückweisen. Er muß ihn ebenso wie seine Widersprüche als Ausdruck des Nichtidentischen gelten lassen. Denn: "Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität" 372 . Damit endet die negative Dialektik entweder aporetisch - man braucht sie nicht mehr zu widerlegen - oder sie muß sich in offenen Mystizismus flüchten - man kann sie grundsätzlich nicht widerlegen: Das Kriterium von Wahrheit, d.h. der Rechtsgrund dafür, unseren Widerspruch nicht anzuerkennen, kann nur noch die "geheime Lichtquelle" sein, ohne die - so Adorno - "(...) die Nega373 tive Dialektik nicht zu verstehen (wäre)." Diese Transzendierung zum Mystizismus aber spiegelt sich genau in der Schwierigkeit, die Einheit der divergierenden Momente von Mimesis und Begriff, Ausdruck und Stringenz, Kunst und Philosophie zu leisten. Dies bedeutet zusammenfassend ein doppeltes Scheitern des Prinzips der negativen D i a l e k t i k als der vorgeblich einzig möglichen legitimen Denkweise: Adornos Schwierigkeiten, ihre Negativität zu begründen, laufen (- abgesehen von den Problemen fehlender Unterscheidungen zwischen Nichtbegrifflichem, Besonderem und realem Besonderen und der Ableitung eines Sollens aus dem Sein -) auf das Paradoxon hinaus, das Individuelle, das gerade gegenüber dem Allgemeinen wertmäßig ausgezeichnet werden sollte, zu mediatisieren. Das Paradoxon kristallisiert sich in einer zirkulären BegrUndungsstruktur aus. Adornos Versuch, den notwendig dialektischen Charakter der alternativen Denkweise darzulegen, geht nicht nur von einem vagen Dialektikverständnis aus, einem Konglomerat von Hegel, Marx, Engels und Nietzsche, sondern scheitert auch in seiner Begründung. Diese leidet an einer doppelten Äquivokation (drei Begriffe von Widerspruch), einer quaternio terminorum und der unzulässigen Umkehr eines Implikationsverhältnisses. In ihrer Konsequenz schließlich endet die negative Dialektik entweder aporetisch oder transzendiert zum offenen Mystizismus. Der Versuch, das Eschaton der "Versöhnung" mittels des Prinzips der negativen Dialektik an Rationalität zu binden, scheitert damit. 371 Kant ( 1 4 7 ) , B 190 372 Adorno ( 7 ) , S. 17 373 So eine mündliche Äußerung Adornos im Frankfurter Seminar am 22.5.1969. Zitiert nach Holl ( 1 1 6 ) , S. 86, Anm. 382.
2.4
Zusammenfassung der Überlegungen. Adornos Stellung zu Kant und Hegel
1. Das Zentrum der theoretischen Bemühungen Adornos bildet das Problem des "Nichtidentischen", das sich unter dem Aspekt des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem auf seinen abstraktesten Ausdruck bringen läßt. Der Hauptangriffspunkt liegt dabei in der Vorherrschaft des allgemeinbegriffliehen Denkens, da dieses mittels des Identitätsprinzips das Individuelle eliminiere. Der Grund dafür ist jedoch nicht - wie Adorno darzulegen sucht logisch-systematischer (doppelter Begriff des Identifizierens), sondern psychologisch-geschichtstheoretischer Natur. 2. Die Geschichtsphilosophie will mittels des Gedankens einer "Dialektik der Aufklärung" Fortschritt als Regression, Geschichte als Naturgeschichte dechiffrieren. Dies scheitert jedoch sowohl an formalen (fehlendes Kriterium für Rationalität bzw. Irrationalität; Aufstellen einer abstrakten Alternative) als auch inhaltlichen (zwei Fortschritts- und Naturbegriffe) Mängeln. Näher begreift Adorno die Geschichte unter der Kategorie der entweder mimetisch oder Usurpatori seh gedeuteten Selbsterhaltung. Das Herrschaftsmittel der usurpatorischen Form der Selbsterhaltung sei das begriffliche Denken, das das Nichtidentische gleichmache. Die vom systematischen Aspekt her formulierte Frage jedoch nach dem Grund der psychologischen Nötigung einer begrifflichen Eliminierung des Nichtidentischen bleibt im wesentlichen unbeantwortet, weil lediglich auf das abstrakte Erklärungsprinzip einer "radikal gewordenen, mythischen Angst" verwiesen wird. Zugleich wirft die Geschichtsphilosophie das neue Problem der zugrundeliegenden subjektstheoretischen Konzeption auf. Von hierher rückt die Philosophie Kants in das Zentrum des systematischen Interesses. 3. Adornos Versuch, den (der Möglichkeit einer philosophischen Argumentation sich entziehenden) Zustand der "Versöhnung" zu erreichen, läßt ihn das Prinzip der negativen Dialektik entwickeln. Als Ausdruck der geforderten Selbstbesinnung sei diese die einzig legitime Denkweise. Sie differiert von der positiven D i a l e k t i k Hegels hinsichtlich a) der Intention von Philosophie, b) der Deutung des Wesens des Begriffs, c) der Stellung zum Systemgedanken. Adornos Kritik der spekulativen Dialektik ist dabei mehrfach fragwürdig. Positiv konkretisiert Adorno die negative Dialektik als Einheit der diver-
62
Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
gierenden Kategorien von Ausdruck und Stringenz, Mimesis und Begriff mittels der Idee der Konstellation. Dieser jedoch fehlt nicht nur ein Auswahlprinzip, sondern es bleibt auch offen, wie die Einheit der verschiedenen Momente zu denken ist. Die Begründung, weshalb die Forderung nach Stringenz die nach Ausdruck impliziert, scheitert in der K r i t i k der "Residualtheorie der Wahrheit" an einer quaternio terminorum. Dieser problematischen Bestimmung der Kategorien der negativen Dialektik entspricht die Fragwürdigkeit der behaupteten Affinität wahrer Philosophie zur Kunst. Dabei offenbart sich die mangelnde Selbstbesinnung der Adornoschen Idee einer "Kritischen Theorie". Die Überprüfung des Prinzips der negativen Dialektik selbst anhand ihrer beiden Komponenten zeigt zweierlei: Die Forderung nach Negativität f ä l l t in sich zusammen, weil Individualität im Rahmen der Philosophie Adornos nicht zu begründen ist, sogar mediatisiert wird. Es drängt sich die Vermutung a u f , daß die Ursache in einer schon im Ansatz verfehlten Subjektstheorie zu suchen ist. Der Versuch, Individualität mittels der Konstruktion eines Widerspruchs des Abstrakt-Allgemeinen zu legitimieren, scheitert an mehreren Mängeln. Die These eines notwendig dialektischen Charakters der alternativen Denkweise ist h i n s i c h t l i c h des zugrundeliegenden Dialektikverständnisses, der Begründung und der Konsequenz problematisch. Die negative Dialektik endet entweder aporetisch oder mystizistisch. Derart scheitert der Versuch, das Eschaton der "Versöhnung" an Rationalität als Bedingung zu binden. Damit führen sowohl die geschichtsphilosophische Problematik als auch die Schwierigkeiten der Negativität der negativen Dialektik, der Begründungsdimension der Philosophie Adornos, auf die frage nach dem Subjekt. Von hierher wird die Philosophie Kants, des Vertreters eines transzendental begründeten, empirisch nicht faßbaren Subjektsbegriffs, systematisch zentral. Mit der Philosophie Kants wird zugleich Adornos Kritik derselben thematisch. Das Verhältnis von Kritischer Theorie und Kritizismus Wird relevant. Die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen Kant und Adorno zu betrachten, folgt jedoch nicht nur aus der Problematik von Besonderem und Allgemeinem, sondern ebenso aus dem Anspruch Adornos, die Philosophie Kants und Hegels 1*1 in seiner Version einer Kritischen Theorie zu vermitteln. Entgegen dem orthodoxen Marxismus, der nach Marxens Wort in Hegel "unbedingt das letzte Wort aller Philosophie" 3 erblickt, bemüht sich Adorno (wie Max Horkhei374 Vgl. Holl (116), S. 89; Puder (219), S. 7; Figal (67), bes. S. 107 u. 109 f; Düver ( 5 2 ) , S. 64; Adorno (1), S. 528 375 Marx (187), S. 561 (Brief an Lassalle vom 31.5.1858)
Zusammenfassung mer
63
), auch den Kritizismus Kants zur Geltung zu bringen.
An Hegel hebt er positiv seine "Widerstände gegen die Verdinglichung und 378 Verabsolutierung von einzelnen Bestimmungen" , seine Erkenntnis der dialektisch vermittelten Einheit von Subjekt und Objekt und die Inhaltlichkeit seines Philosophierens hervor. 379 Er kritisiert jedoch die Ausweitung seiner Philosophie zu einer Theorie des Absoluten, der das kritische Potential verlorengehe, weil sie W i r k l i c h k e i t nur noch als eine prinzipiell vernünftige deuten 38 G könne : "Hat Hegel, vermöge seiner Kantkritik, das kritische Philosophieren großartig über das formale Bereich hinaus erweitert, so hat er in eins damit das oberste kritische Moment, die Kritik an der Totalität, am abschlußhaft gegebenen Unendlichen eskamotiert. Selbstherrlich hat er dann doch den Block weggeräumt, jenes fürs Bewußtsein Unauflösliche, an dem Kants transzendentale Philosophie ihre innerste Erfahrung hat, und eine vermöge ihrer Brüche bruchlose Obereinstimmung der Erkenntnis stipuliert, der etwas vom mythischen Blendwerk eignet. Die Differenz von Bedingtem und Absolutem hat er weggedacht, dem Bedingten den Schein des Unbedingten verliehen. Damit hat er 381 schließlich doch der Erfahrung Unrecht getan, von der er zehrt." In der Frage der Nichtidentität und damit des kritischen Potentials komme OQO also "Kant gegenüber Hegel zu Ehren" . Trotz einer "wechselseitige(n) Auf383 einanderbezogenheit von Subjekt und Objekt" müsse auch an der von Kant herausgestellten "Unterschiedenheit" festgehalten werden, der Unauflöslichkeit des objektiv Nichtidentischen im subjektiven Begriff. Demgegenüber eliminiere in Hegels Totalitätsgedanken das Subjektive die Nichtidentität des Objektiven. 385 376 Vgl. Skuhra ( 2 6 7 ) , S. 25 ff 377 Vgl. zu Adornos biographischen Hintergründen seiner Kantlektüre schon in der Schulzeit mit seinem Freund Kracauerj Adorno ( 8 ) , S. 388 f 378 Adorno ( 1 3 ) , S. 164 379 Adorno (11), S. 70 380 Vgl. Adorno ( 1 1 ) , S. 75 ff; ( 1 4 ) , S. 322 f. Hier folgt Adorno einer problematischen Hegelkritik Marxens: Schon Marx folgerte aus der idealistischen Konzeption von Dialektik [nach der " ( . . . ) der Denkprozeß ( . . . ) der Demiurg des Wirklichen (ist), das nur seine äußere Erscheinung bildet" (Marx [188], Bd. I, S. 2 7 ) ] ihre Wirklichkeit verklärende Funktion. Diese Kritik scheitert jedoch an Hegels Unterscheidung zwischen "zufällige(r) Existenz" und "Wirklichkeit" [Hegel ( 9 6 ) , Bd. I, S. 48, § 6], die auf das bekannte Diktum Bezug nimmt: "Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." [Hegel (97), S. 24] 381 Adorno ( 1 4 ) , S. 323 f 382 Adorno ( 1 3 ) , S. 168. Vgl. Düver ( 5 2 ) , S. 76 383 Adorno ( 1 3 ) , S. 151 384 Adorno (13), S. 152, 263, 274 f 385 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 162; ( 1 4 ) , S. 259, 261
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Das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
Im Prinzip der negativen Dialektik treffen sich beide Momente: Vereinfacht könnte man sagen, daß die Komponente der Dialektik auf Hegel, die der Negativität auf Kant verweist. Nachdem oben die Beziehung Adorno - Hegel skizziert worden ist, sol! im folgenden das Verhältnis zwischen Kant und Adorno, Kritizismus und Kritischer Theorie erörtert werden. Dabei stellen sich zwei Aufgaben: 1. eine systematische Rekonstruktion der Kant-Kritik Adornos, 2. ihre Revision. Diese doppelte Aufgabe wird unter drei Aspekten angegangen: 1. dem erkenntnistheoretischen, 2. dem ethischen, 3. dem subjeJctstheoretischen. Unter sich sind diese drei Aspekte durch den Nachweis verbunden, daß die erkenntnistheoretische und die ethische Frage jeweils auf die subjektstheoretische Problematik verweisen. In dieser liegt auch das Scheitern der Kritischen Theorie und die prinzipielle Überlegenheit des Kantischen Kritizismus begründet.
3
ADORNOS KRITIK DER ERKENNTNISTHEORIE KANTS
Die folgende Rekonstruktion und Revision der Kritik Adornos an der Kantischen Erkenntnistheorie versteht sich nicht in erster Linie als Beitrag zur KantForschung, sondern als Kritik der Philosophie Adornos. Allerdings muß auch auf Schwierigkeiten der Kantischen Epistemologie aufmerksam gemacht werden. Gemäß seiner Konzeption der abendländischen Geschichte als einer der Unterdrückung deutet Adorno die Erkenntnistheorie Kants ebenso wie seine Ethik als Ausdruck von Herrschaft. Dies zeige sich darin, " ( . . . ) daß sie eigentlich nur am Machtbereich wissenschaftlicher Sätze sich interessiert. Die Einschränkung der Kantischen Fragestellung auf die organisierte naturwissenschaftliche Erfahrung, die Orientierung an der Gültigkeit und der erkenntnistheoretische Subjektivismus sind derart ineinander, daß das eine ohne das andere nicht sein könnte. Solange die subjektive Rückfrage die Probe auf Gültigkeit sein soll, solange sind nicht wissenschaftlich sanktionierte, nämlich nicht-notwendige und nicht-allgemeine Erkenntnisse minderwertig ( . . . ) . Innnerhalb des identifizierenden Ansatzes läßt sich nicht ergänzend nachholen, was jener dem eigenen Wesen nach eliminiert; a l l e n f a l l s der Ansatz ist aus der Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit heraus zu entwickeln." Diese "Unzulänglichkeit" bestehe darin, daß Kant "der lebendigen Erfahrung" nicht "gerecht" werde. Index der "Falschheit" des Kantischen Ansatzes sei "(...) das Unvermögen, zu leisten, was er sich vorsetzt, nämlich Erfahrung zu begründen" . Adornos These, Kant habe die subjektiven Momente und Erkenntnisse aus seiner Theorie "eliminiert", braucht hier nicht erörtert zu werden - sie widerspricht 2 den Lehren von den Wahrnehmungsurteilen 3 und der subjektiven Ein4 heit . Gleiches g i l t für den Vorwurf, Kants Theorie sei der "lebendigen Er1 Adorno ( 7 ) , S. 380 2 Allerdings ist die Integration der Theorie der Wahrnehmungsurteile,wie sie in den 'Prolegomena1 entworfen ist, in das Ergebnis der transzendentalen Deduktion problematisch: Nach den 'Prolegomena 1 sind Wahrnehmungsurteile bloß subjektiv gültige Urteile, die "keines reinen Verstandesbegriffs" [Kant (151), S. 298] bedürfen. Dies aber widerspricht dem Resultat der transzendentalen Deduktion, nach dem " ( . . . ) alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien" [Kant ( 1 4 7 ) , B 161] steht. Vgl. auch Zocher ( 2 9 1 ) , S. 52 f 3 Vgl. Kant ( 1 5 1 ) , S. 297 - 301 4 Vgl. Kant (147) , B 139 f
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
fahrung" inadäquat: Kant w i l l Erfahrungsprinzipien herausarbeiten und weder eine "Physiologie des menschlichen Verstandes" noch eine "empirische Psychologie" geben. Von Interesse ist dieser Vorwurf lediglich insofern, als er auf den lebensphilosophischen Hintergrund verweist. Di l they etwa bringt in Wendung gegen Kant und den Neukantianismus den "Grundgedanke(n)" seiner Philosophie auf den Ausdruck, " ( . . . ) daß bisher noch niemals die ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung dem Philosophieren zugrunde gelegt worden ist, mithin noch niemals die ganze und volle Wirklichkeit." Von Bedeutung für das Weitere ist der Anspruch Adornos, in immanenter Kritik dem Idealismus " ( . . . ) seine 'eigene Melodie 1 vorzuspielen." Damit setzt er einen Maßstab, an dem er gemessen werden w i l l . Q
Im folgenden ist 1. der Interpretationsansatz Adornos herauszuarbeiten, 2. seine K r i t i k der Kantischen Fragestellung zu überprüfen, 3. die unmittelbaren Folgen seines Interpretationsansatzes und 4. das Scheitern seiner Dualismuskritik nachzuweisen. Im Anschluß soll 5. auf seine Interpretation der Transzendentalen Dialektik eingegangen und 6. die entscheidende Bedeutung der subjektstheoretischen Frage skizziert werden.
5 Kant (147), A IX 6 Kant (151), S. 304 7 Dilthey ( 5 0 ) , S. 171. Vgl. auch Adornos Klage darüber, daß die bisherigen Erkenntnistheorien "der lebendig vollzogenen Erkenntnis ( . . . ) vielfach unangemessen (blieben)" [Adorno ( 1 2 ) , S. 454]. 8 Adorno ( 7 ) , S. 183
3.1
Der ontologische Interpretationsansatz Adornos
Allgemein geistesgeschichtlich ordnet Adorno die Erkenntnistheorie Kants in die neuzeitlichen Bemühungen e i n , die durch den Verlust des theologisch bestimmten mittelalterlichen ordo "auseinandergetretenen Bereiche der Subjektivität und Objektivität" 9 wieder zu vereinen. Das Besondere und Neuartige an Kant bestehe darin, die Objektivität nicht einfach wie die rationalistischen und empiristischen Vorgänger auf Subjektivität zu reduzieren , sondern Objektivität "durch Subjektivität hindurch" zu begründen. Dabei vermittle Kant zugleich ansatzweise die beiden Bereiche des Subjektiven und Objektiven. 12 Die These, Kant versuche " ( . . . ) durch die Analyse von Subjektivität den Begriff von Objektivität überhaupt zu begründen" , ist zu konkretisieren. "Rettung der Objektivität" besitzt bei Adorno zwei Bedeutungen, die in ihrer Differenz weder festgehalten noch dargelegt werden. Zum einen verwendet er den Objektivitätsbegriff im Sinne einer "Verbindlichkeit von Erkenntnis" Damit trifft er die primäre, insbesondere vom Neukantianismus hervorgehobene Kantische Bedeutung, derzufolge "objektive Gültigkeit und notwendige A l l gemeingültigkeit (vor jedermann) Wechsel begriffe" sind. Dem entspricht eine (interpretativ nicht realisierte) Äußerung Adornos, in der ' K r i t i k der reinen Vernunft' gehe es primär um die "Frage der Gültigkeit" . Jedoch in demselben Kontext wird neben dem geltungstheoretischen Objektivitätsbegriff ein zweiter thematisch, wenn Adorno von ontologischen Momenten ("vor allem im Ansatz der Kategorien und der reinen Formen" 1ft ) spricht. Dieser ontoiogisehe Objektivitätsbegriff bestimmt Adornos Interpretation entscheidend. 19 In diesem Sinne setzt er "Rettung der Objektivität" mit "Rettung der Onto9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19
Adorno ( 1 3 ) , S. 155 Vgl. Adorno (13) , S. 193 Adorno ( 1 3 ) , S. 154. Vgl. ( 7 ) , S. 104, 196; ( 1 1 ) , S. 48 f., 57 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 155; ( 1 1 ) , S. 50 Adorno (13) , S. 193, 199 Adorno ( 1 3 ) , S. 154 Adorno ( 1 3 ) , S. 197 Kant (151), S. 298 Adorno ( 1 3 ) , B. 236. Vgl. ( 1 1 ) , S. 49, 131 f. Adorno (13) , S. 236 Ebenso beruht Adornos Husserl-Kritik auf einem ontologischen Objektivi-
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Adornos K r i t i k der Erkenntnistheorie Kants
logie" 20 gleich und redet von einer "Verlegung der Ontologie, der Ordnung des Seins in die Innerlichkeit" 21 . Das ehemals metaphysisch Transzendente werde durch die transzendentalen Bedingungen möglicher Erfahrung ersetzt. 22 Die Kantische Erkenntnistheorie sei metaphysisch, weil sie eine "Wendung ( z ) u m Subjekt als dem Seinsgrund" darstelle. Damit stehe Kant in der Tradition der Neuzeit, die die "metaphysische Priorität an das Subjekt zediert hat" 23 . Zwar erkennt Adorno, daß "Kants Kritik" eine solche "der alten Ontologie" ist, pr 1 mißversteht sie aber als eine neue, nämlich eine "Bewußtseinsontoiogie . p/Nur konsequent ist es, wenn er in Kant einen Vorläufer Heideggers erblickt. Dies kommt zwar durchaus der Auffassung Heideggers nahe - insbesondere seiner Kantdeutung in 'Kant und das Problem der Metaphysik' 27 -, schwerlich aber der Kants, der V i e l m e h r als Überwinder der ontologischen Fragestellung ZU 00
gelten hat . Während nach Heidegger in der ' K r i t i k der reinen Vernunft 1 als einer (abgebrochenen) Fundamentalontologie die Explikation von Metaphysik stattfindet, w i l l Kant allererst den Grund von Metaphysik (und nicht bloß der modernen Naturwissenschaften) legen. Op
Kant setzt zwar die Transzendentalphilosophie mit der "ontologia gleich, was für die Auffassung Adornos zu sprechen scheint, jedoch muß diese Äußerung 20 21 22 23 24 25 26
27 28
29 30 31
tätsbegriffs: vgl. Adorno ( 1 4 ) , S. 95. Vgl. zu Adornos Husserl-Kritik Eley ( 5 6 ) . Adorno ( 1 3 ) , S. 154. Vgl. ( 1 3 ) , S. 194, 197, 199 Adorno ( 1 3 ) , S. 202 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 153 f, 156 Adorno ( 1 3 ) , S. 159. Vgl. ( 1 0 ) , S. 75 Adorno ( 9 ) , S. 114 (Hervorhebung, B.) Adorno ( 9 ) , S. 117 (Hervorhebung, B.) Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 199 f; ( 1 4 ) , S. 278. Andererseits erkennt Adorno, daß die "Kritik des Kritizismus" im Sinne der Ontologie des 20. Jahrhunderts "vorkritisch"[Adorno ( 7 ) , S. 70] ist. Dies hindert ihn aber nicht, die Legitimität des ontologischen Bedürfnisses gegenüber der Kantischen Erkenntniskritik zu erklären [vgl. Adorno ( 7 ) , S. 80 f ] . Zur Problematik dieser These vgl. Düver ( 5 2 ) , S. 81. Vgl. Heidegger ( 1 0 4 ) . Zu Heidegger vgl. Cassirer (38) "Heideggers Fundamental-Ontologie, die in der Auffassung der Sorge als "Sein des Daseins' gründet, und die in der 'Grundbefindlichkeit der Angst' eine 'ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins' sieht, mußte alle Begriffe Kants, so sehr sie auch ihrem rein logischen Sinn gerecht zu werden suchte, von Anfang an in eine veränderte geistige Atmosphäre versetzen und sie gewissermaßen einhüllen." [Cassirer ( 3 8 ) , S. 23] Vgl. Heidegger (104), S. 13 Vgl. Heidegger ( 1 0 4 ) , S. 19 - 26 Ist Heideggers Philosophie eine Grundlegung als Explikation eines vorontologischen Seinsverständnisses, so will Kant dön Grund der Grundlegung legen: Bei Heidegger wird der Grund nicht gelegt, sondern vorausgesetzt. Metaphysik ist nach Kant zwar eine "Naturanlage" [Kant ( 1 4 7 ) , B 22], Heidegger jedoch deutet dies um: Für Kant ist nur das Fragen, für Heidegger aber
Der ontologische Interpretationsansatz
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im Zusammenhang mit dem Kantischen Ontologiebegriff gesehen werden. Diesem Begriff zufolge muß " ( . . . ) der stolze Name einer (vorkritischen, B.) Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben ( z . E . den Grundsatz der Kausalität), ( . . . ) dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen" 33 . Ein zweiter möglicher Einwand ist schwerwiegender: Kant überwindet zwar die ontologische Betrachtungsweise, jedoch ist diese schöpferische Leistung nicht von ontologischen Relikten frei. Diese teilweise nicht scharf genug gezogene Trennungslinie zwischen der transzendentalphilosophischen und der ontologischen (d.h., insbesondere für die ' K r i t i k der reinen Vernunft', der anthropologischen) Fragestellung macht die besondere Schwierigkeit der Kantischen Erkenntnistheorie aus. Sie kündigt sich schon eingangs an, wenn Kant etwa von der "Natur der Vernunft" spricht. Dennoch rechtfertigt es das systematische Interesse an einer konsistenten Theorie, das Kantische Werk von den ontologischen Relikten weitgehend zu reinigen. Allerdings ist derart der Anspruch aufzugeben, "(...) den 'ganzen Kant 1 zu vergegenwärtigen" 36 .
32 33 34 35 36
das Wissen eine Naturanlage [vgl. Heidegger ( 1 0 4 ) , S. 197], d.h. ein vorontologisches Wissen, das in der Philosophie bloß entfaltet werden müßte. Indem Heidegger die erkenntniskritische Dimension Kants ausblendet, übersieht er, daß Kant allererst die Berechtigung des bei ihm als legitim vorausgesetzten Fragens erfragt. Kant (147), B 873 Kant ( 1 4 7 ) , B 303 Vgl. Zocher (291), S. 147; Natorp (199), S. 193 f Kant (147), A VII. Vgl. zur Problematik: Ritzel ( 2 2 8 ) , S. 144, 159 Ritzel (229), S. 392
3.2
Die Kantische Fragestellung
Kant läßt die "eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft" in der Frage kulminieren: "Wie sind synthetische Urteile a priori möglich ?" Gegen diese Fragestellung wendet Adorno zweierlei ein: 1. Der Begriff des synthetischen Urteils a priori sei h i n f ä l l i g , denn wie es in der 'Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie 1 heißt es sei " ( . . . ) nicht schwer, und die Wissenschaftstheoretiker haben sich damit gütlich getan, nachzuweisen, daß es solche theoretischen Urteile a oo priori eigentlich nicht gebe." Indessen ist nicht nur die Berufung auf die nicht näher genannten Wissenschaftstheoretiker problematisch - hat doch W. Stegmüller nachgewiesen, "(...) daß die moderne Logik nicht imstande ist, die These zu stützen, daß es keine synthetischen Urteile a priori geben könne" 39 . Zudem fehlt der Nachweis in der genannten Schrift. Dennoch aber läßt sich vermuten, was Adorno mit der bezeichneten Schwierigkeit meint: In einer Studie zu Hegel macht er folgendes gegen die Idee des synthetischen Urteils a priori geltend: "Die synthetischen Urteile a priori sind aber von einem tiefen Widerspruch durchfurcht. Wären sie im strengen Kantischen Sinne a priori, dann hätten sie keinerlei Inhalt, wären Form in der Tat, rein logische Sätze, Tautologien, in denen Erkenntnis sich selbst nichts Neues, nichts anderes hinzufügte. Sind sie jedoch synthetisch, also im Ernst Erkenntnisse, nicht bloße Selbstverdoppelungen des Subjekts, dann bedürfen sie jener Inhalte, die Kant als z u f ä l l i g und bloß empirisch aus ihrer Sphäre verbannen wollte." 40 Die Argumentation beruht auf einem doppelten Mißverständnis: a) Das synthetische Urteil a priori ist synthetisch, weil es über das Urteilssubjekt etwas aussagt, was nicht in seinem Begriff analytisch beschlossen liegt. Das neu Hinzukommende sind die in den synthetischen Urteilen a priori formulierten Bedingungen möglicher Erfahrung. Adorno jedoch bezieht 37 38 39 40
Kant ( 1 4 7 ) , B 19, 73 Adorno (13) , S. 175 Stegmüller ( 2 7 2 ) , S. 561, 538 £. 562 f Adorno (14) , S. 306
Die Kantische Fragestellung
71
die Synthetizität nicht auf das Urteilssubjekt, sondern auf das Erkenntnissubjekt, das urteilende Subjekt: Die synthetischen Urteile a priori seien Tautologien, weil das Erkenntnissubjekt in ihnen unabhängig von Erfahrung nicht Neues erkenne. Das Mißverständnis wird dadurch verdeckt, daß Adorno einfach vom Subjekt spricht. b) Das synthetische Urteil a priori ist a priori, weil es im Gegensatz zum synthetischen Urteil a posteriori auf dem Prinzip der von der empirischen Anschauung zu unterscheidenden reinen Anschauung beruht. Gerade dieses Prinzip ermöglicht reine Mathematik und Naturwissenschaft. Nur indem Adorno dieses zentrale Theorem ausklammert, kann er Apriorität und Tautologizität ineinssetzen. 2. Zum zweiten moniert Adorno an der Kantischen Zentralfrage, die ihm eingestandenermaßen "große Schwierigkeiten" bereitet,"(...) daß die Erkenntnistheorie, die sich ja ihrerseits die Begründung der Wissenschaft zur Aufgabe setzt, (...) die Gültigkeit dieser Wissenschaften eigentlich voraussetzt." 42 Die Fragestellung zeige, a) daß Kant überhaupt nicht die Möglichkeit des theoretischen Urteils a priori thematisiert habe, sondern daß er "von der Annahme der objektiven Geltung von Wissenschaften" ausgegangen sei, b) daß die Begründung gegenständlicher Erkenntnis eben diese Gegenständlichkeit voraussetze. Diese weitergehende Folgerung kehrt dann in der gegen Kant gerichteten These Adornos eines gleichwertig reziproken Bedingungsverhältnisses von constituens und constitutum wieder. 45 ad a) Mit dem ersten Punkt nimmt Adorno eine schon von Salomon Maimon in seinen 'Streifereien im Gebiete der Philosophie' formulierte Kritik auf, die seitdem ständig in der Kantliteratur anzutreffen ist. In dreifacher Hinsicht trifft diese Kritik zu: aa) Die Kantische Fragestellung ist zweifelsohne ungenau, bb) Kant nimmt in der Tat synthetische Urteile a priori in der reinen Mathematik, der reinen Geometrie und der "allgemeinen NaturWissenschaft" 4ft an. cc) Kant geht in den 'Prolegomena 1 vom Faktum synthetischer Urteile a priori aus. 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Kant (147), B 146 f Adorno (13), S. 187 Adorno ( 1 3 ) , S. 187. Vgl. ( 1 0 ) , S. 89; ( 1 3 ) , S. 194 Vgl. Adorno (13), S. 187 f Vgl. Adorno (13), S. 273 f Vgl. Maimon (179), S. 73 Vgl. z.B. Kroner (163), S. 73 f Vgl. Kant (147), B 4 f., 40 f . , 128 Vgl. Kant (151), S. 276
72
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Diese Tatsachen rechtfertigen indessen keineswegs den Vorwurf einer petitio principii, denn: aa) Kants Überzeugung vom Faktum synthetischer Urteile a priori impliziert nicht ihre zirkuläre Voraussetzung im eigentlichen Argumentationsgang. So ist z.B. eine Interpretation der transzendentalen Deduktion (besonders von 1787) möglich, die von diesem Faktum unabhängig ist, wenn man sie als regressiven Aufweis der Möglichkeitsbedingungen des Faktums der ursprünglichen Apperzeption versteht. bb) Zum anderen ist auf die unterschiedliche Methode zu achten, die Kant in den 'Prolegomena' und der ' K r i t i k der reinen Vernunft 1 verwendet: Ist sie dort analytisch, d.h. geht sie vom Faktum synthetischer Urteile a priori aus, so ist sie hier synthetisch, d.h. sie setzt dieses Faktum nicht voraus. Dieser Unterschied ist 52 gerechtfertigt, weil die 'Prolegomena' "nur als Vorübungen" zur 'Kritik der reinen Vernunft' gedacht sind. Insofern muß Adornos Vorwurf einer zirkulären Fragestellung und Ausgangsposition zurückgewiesen bzw. auf den einer sprachlichen Ungenauigkeit Kants eingeschränkt werden. ad b) Von hierher ist Adornos weiterreichende Folgerung auf ein gleichwertig reziprokes Bedingungsverhältnis von constituens und constitutum schon von ihrer Voraussetzung her h i n f ä l l i g . Aber auch unabhängig davon ist sie nicht zwingend: Selbst wenn man eine Zirkularität in bezug auf die Legitimation synthetischer Urteile a priori einräumt, resultiert aus dieser keineswegs zwangsläufig die von Adorno gefolgerte Zirkularität der Konstituierung von Gegenständlichkeit überhaupt. Damit hat sich die Berechtigung der Kantischen Fragestellung gegenüber den Einwänden Adornos bewährt. Es kann nunmehr zu seiner Kritik der Kantischen Erkenntnistheorie selbst übergegangen werden.
50 Vgl. Ebbinghaus (54) und Wagner (283). Vgl. dazu auch die kritische Arbeit von Hossenfeider (125) 51 Vgl. Kant (151), S. 263, 274 f., 276 Anm. Zum Verhältnis von analytischer und synthetischer Methode vgl. Martin (186), S. 249 - 254. 52 Kant (151), S. 261
3.3 Unmittelbare Folgen des ontologischen Interpretationsansatzes (Problem des Dinges an sich und der Affektion) Der ontologische Interpretationsansatz Adornos impliziert unmittelbar Fehldeutungen der Ich-Lehre, der Ding-an-sich-Aüffassung und des Problems der Affektion. 1. In diesem Sinne redet er von dem "ich denke" als von einem "an sich seienden, der Erkenntnis substantiell vorgeordneten" Ich. Kant habe die "Substantialität des Ichs" trotz seiner Paralogismenkritik vorausgesetzt und zwar "in aller Unschuld" . Diese problematische Deutung der Kantischen Subjektstheorie und ihr Zusammenhang mit Adornos Ontologismus soll jedoch nicht hier, sondern in Kapitel 5 gesondert behandelt werden. 2. Der ontologische Ansatz Adornos affiziert ebenso seine Ding-an-sich-Auffassung: Das Kantische Ding an sich sei "dem alten naturalistischen Ding" gleich, der Begriff "des Dinges an sich" sei "von Kant positiv ontologisch gewandt" und dieses Ding nehme er so, daß es unser Gemüt affiziere. Bei Zugrundelegung dieses realistischen Denk- und Deutungsmodeiis entdeckt Adorno einen wahren "Rattenkönig von Problemen": "Denn wenn ich tatsächlich versuche, die Dinge aufzubauen aufgrund der mir gegebenen Phänomene und ihres gesetzmäßigen Zusammenhanges und ihrer subjektiv gestifteten Synthesis, woher nehme ich dann eigentlich das Recht, von Dingen zu reden, die unabhängig von allen diesen Mechanismen existieren wollen, ferner.woher nehme ich das Recht, wenn ich die Kausalität als eine Kategorie,also als eine Form meiner Vernunft bestimme, die Kausalität nun plötzlich einem unabhängig von meiner Vernunft Seienden, nämlich diesen transzendenten Dingen an sich zuzuschreiben" CQ
Hiermit nimmt Adorno eine K r i t i k a u f , die schon früh von Jacobi , Aenesidemus-Schulze und Fichte formuliert worden ist. Unbestreitbar ist die 53 54 55 56 57 58 59 60
Adorno ( 1 3 ) , S. 240 Adorno ( 1 3 ) , S. 2 4 2 . Eine angemessene Deutung gibt Adorno in ( 1 1 ) , S. 68 Adorno ( 1 3 ) , S. 242 Adorno ( 9 ) , S. 109 Adorno ( 1 3 ) , S. 2 4 2 . Vgl. ( 1 1 ) , S. 40 Vgl. Jacobi (130), S. 304 Vgl. Schulze (259), S. 294 - 299 (Zählung nach der Originalpaginierung). Vgl. Fichte ( 6 0 ) , S. 57; ( 6 5 ) , S. 243. Anders in der früher erschienenen 'Zurückforderung der Denkfreiheit' [ ( 6 6 ) , S. 179], wo er noch vollständig
74
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Tatsache, daß Kant in der 'Kritik der reinen Vernunft 1 oftmals vom Ding an sich redet, das mein Gemüt (kausal) affiziert. Obereilt jedoch wäre es, deshalb auf eine mangelnde Konsistenz der Kantischen Theorie zu schließen. Den Begriff des Dinges an sich bezeichnet Kant als "problematisch", als einen bloßen " ( . . . ) Grenzbegriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche. Er ist aber gleichwohl nicht w i l l k ü r l i c h erdichtet, sondern hängt mit der Einschränkung der Sinnlichkeit zusammen, ohne jedoch etwas Positives außer dem Umfange derselben setzen zu können." 6 1 Nach A 251 f Anm. und B 306 ist die Notwendigkeit einer Rede vom Ding an sich begriffslogischer Art: Die Diskursivität unseres Verstandes, seine Bindung an das Reflexionsgesetz des Bestimmens von etwas durch Entgegensetzung, fordert, daß wir zu dem Begriff der Erscheinung den Begriff des Dinges an sich bilden. Eine naturalistisch ontologische Deutung des Dinges ß? an sich verfehlt also den Ansatz der Kantischen Lehre. 3. Ähnliches g i l t für Adornos K r i t i k des Affektionsproblems , der vorgeblich "naturalistische(n) Annahme einer wirkenden Kausalität der transzendenten Dinge an sich auf das Bewußtsein" . Den Begriff einer "Affektion" hätte Kant genauer und streng transzendentalidealistischer durch den einer "Modifikation unserer Sinnlichkeit" ersetzt: Dies ist nach Kant " ( . . . ) die einzige Art, wie uns Gegenstände gegeben werden"64. Daß auf eine so verstandene "Affektion" aufgrund der Ausblendung des transzendenten Bereiches die Kausalitätskategorie nicht angewendet werden kann, ist evident und spricht gegen Adorno. Die Begriffe Ding an sich und Affektion sind Unwissenheitsausdrücke im Kantischen System. Sie bezeichnen die Schwierigkeit Kants, sich einer alten (ontologischen) und anschaulichen Terminologie bedienen zu müssen, um den neuen (transzendentalphilosophischen) und unanschaulichen Gedanken ausdrükken zu können. Dies berechtigt aber nicht, terminologische Mängel zu isolieren und zu verabsolutieren, um dann die Erkenntnistheorie Kants auf das Denkmodell einer realistischen Ontologie zu verpflichten.
61 62 63 64 65
auf dem Boden der Kantischen Erkenntnistheorie steht. Zur Entwicklung des Denkens von Kant bis Fichte vgl. Baumanns ( 2 2 ) , S. 15 - 98. Kant ( 1 4 7 ) , B 310 f. Deshalb kann das Ding an sich " ( . . . ) weder als Größe, noch als Realität, noch als Substanz etc.gedacht werden"[Kant (147) B 344]. So Adorno selbst in ( 7 ) , S. 286 Anm. Adorno (9) , S. 111 Kant (147) , B 178 Vgl. Zocher ( 2 9 1 ) , S. 30
Ding an sich und Affektion
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Die Unzulänglichkeit des Adornoschen Denk- und Deutungsmodells wird ebenf a l l s in der These deutlich, Ding an sich und Erscheinung, Affektion des Dinges an sich und Kausalität in der Erscheinungswelt, "ich denke" und empirisches Ich seien für Kant jeweils "ein im Grunde identisch Gemeintes". Es ergäben sich "auf Schritt und Tritt Widersprüche und Komplikationen", weil von ein und derselben Sache " ( . . . ) ihrem ontologischen Stellenwert nach vollkommen verschiedene Bestimmungen gegeben werden" Die erste Behauptung einer jeweiligen Identität der einzelnen Paarglieder ist schwerlich mit dem Kantischen Text in E i n k l a n g zu bringen. Berechtigt ist allerdings Adornos These insofern, als Kant keine ontologischen Distinktionen platonischer Provenienz trifft. Da Adorno dies einerseits zu erkennen scheint, er andererseits an das ontologische Denkmodell gebunden bleibt, wie seine zweite These eines ontologischen Charakters der Kantischen Bestimmungen zeigt, entsteht die merkwürdige Aussagenkonstellation, Kant meine dasselbe und doch Verschiedenes, kommt es dazu, daß er "auf Schritt und Tritt Widersprüche und Komplikationen" sehen muß. Adornos ontologischer Interpretationsansatz bedingt also unmittelbar Fehldeutungen der Lehre vom Ding-an-sich und seiner Affektion. Die von ihm aufgezeigten Schwierigkeiten aber sind Folgen dieses Deutungsansatzes. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, daß Adorno die Dingan-sich-Problematik auch positiv (gegen Hegel und einige Tendenzen des Neukantianismus) zu wenden versucht: Das Ding an sich sei Ausdruck der von Kant berücksichtigten Resistenz des Nichtidentischen, " ( . . . ) dessen, was der kategorialen Identifizierung entschlüpft." Allerdings schränkt Adorno dieses Urteil - vermutlich angesichts der Tatsache, daß das Kantische Ding an sich vollkommen qualitätslos ist, also gerade nicht das, was er als Nichtidentisches verstehen will - auf eine bloß "formale Anerkennung von Nichtidentischem" ein.
66 Adorno (139),S. 243 67 Adorno ( 7 ) , S. 286 Anm. Vgl. auch ( 5 ) , S. 752 f 68 Adorno ( 7 ) , S. 37
3.4
Die Kantischen Dualismen
Im Zentrum der Kritik des Dialektikers Adorno stehen die Kantischen Dualismen. Ihre Vermittlung sei als Erbe des bei Descartes anhebenden psychophysischen Dualismus" das "perennierende Problem" . Des näheren sind drei Dualismen zu unterscheiden, die Adorno durch immanente Kritik überwinden will:1. Form/Inhalt, 2. Rezeptivi tat/Spontanei tat, 3. Sinnlichkeit/Verstand. Dabei bietet es sich an, zunächst seine Einwände gegen die Dualismen im einzelnen und dann die von ihm aufgezeigten Kantischen Vermittlungsversuche kritisch nachzuzeichnen. 3.4.1
Dualismus von Form und Inhalt
Der Dualismus von Form und Inhalt ist schon von Fichte 71 und Hegel 7? kritisiert worden. Auch Adorno mißt ihm besondere Bedeutung bei. Kant habe die beiden Seiten dieses Dualismus nur sehr bedingt vermittelt. Auf der logischen Ebene sei " ( . . . ) die Frage der Vermittlung, die Frage der Verbindung zwischen dem sogenannten Material und der sogenannten Form außer Acht geblieben." Dies bedinge mehrere Theorieverlegenheiten: 1. Es sei nicht einzusehen, wie die beiden Erkenntniszweige "miteinander in Kommunikation" träten. Als Folge des Form-Inhalt-Dualismus müsse man sich die "gesamte Ordnung als eine dem Material gewissermaßen w i l l k ü r l i c h von außen aufgestülpte vorstellen, als ein "Oberspinnen des Inhalts mit der 78 Form" . Diese konkret anschauliche Charakterisierung Adornos verrät die ontologische Einstellung eines vorkritischen Realismus, der von zwei eigenständigen Seinssphären ausgeht und derart der Kantischen Fragestellung unangemessen 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78
Vgl. Adorno ( 1 0 ) , S. 218; ( 1 3 ) , S. 88 Adorno (13) , S. 239 Vgl. Fichte ( 6 5 ) , S. 202 Vgl. Hegel (99), S. 97, 175 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 213 ff Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 230, 236 f Adorno (13) , S. 232 Adorno (13) , S. 230 Adorno ( 1 3 ) , S. 233. Vgl. ( 1 3 ) , S. 234 Adorno ( 1 3 ) , S. 238. Vgl. ( 1 4 ) , S. 144
Dualismus von Form und Inhalt
77
ist. Zudem bedingt sie den Irrtum, W i l l k ü r l i c h k e i t in der Kategorienanwendung und Erfahrungskonstitution 79 anzunehmen, so daß gerade das Konstitutionsmoment der formalen Leistungen des Erkenntnissubjekts verkannt wird. Darüberhinaus ist Adornos ontologische Deutung und Kritik in sich widersprüchlich, weil er zum anderen gerade die Entqualifizierung des Materials beklagt: Einem Entqualifizierten kann aber nichts "aufgestülpt" werden, und genauso sinnlos ist es, dann noch so etwas wie W i l l k ü r l i c h k e i t der kategorialen Synthesis zu behaupten. Woran sollte eine solche festgemacht werden können ? 2. Der Form-Inhalt-Dualismus führe auf eine "Paradoxie": Trenne man Form und Inhalt, dann sei sowohl die Form "(...) eines jeglichen spezifischen Inhalts eigentlich entleert" und damit ein "Nichts" als auch der Inhalt "eben80 f a l l s etwas v ö l l i g Unbestimmtes", d.h. auch ein "Nichts" . Die "innerste Paradoxie" der Kantischen Erkenntnistheorie liege nun darin, daß "(...) die Ad01 dition eines Nichts mit einem Nichts ein Etwas ergibt. Die K r i t i k mit ihrer offenkundig ontologischen Argumentationsbasis ist in doppelter Hinsicht problematisch: a) Der Beweis ist in sich nicht überzeugend, es sei denn, man identifiziert die Eigenschaft der Formlosigkeit (Formnichtigkeit) mit dem Nichts des Trägers dieser Eigenschaft, b) Der Kritikpunkt ist nicht mit dem ersten in Einklang zu bringen: Man müßte - durch Einsetzung der Formulierung des zweiten Einwandes in die des ersten - der Rede von einem "überspinnen des Nichts mit dem Nichts" Sinn abgewinnen können. 82 3. Folgen wir Adorno, dann herrscht ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Form und Inhalt. 83 Dies ergebe sich unter anderem aus einer dritten "tiefgreifende(n) Schwierigkeit" der Kantischen Philosophie: Zum einen sollten unsere Bewußtseinsformen als konstitutive Bedingungen der Erfahrung von allem Inhalt derselben unabhängig sein, zum anderen sollten sie nur als Erfahrungskonstituenten gelten und seien "(...) insofern von Material, von etwas, was sie nicht selbst sind, abhängig. Die transzendental logischen Bestimmungen sollen als solche Bestimmungen überhaupt erst Erfahrung ermöglichen, ohne selber von ihnen abhängig zu sein, und müssen andererseits notwendig auf einen Erfahrungsstoff bezogen werden." Dies zeige, daß Form und 79 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 106; ( 1 1 ) , S. 67 f 80 Adorno ( 1 3 ) , S. 215. Auch in ( 1 1 ) , S. 71 folgert Adorno von der Unbestimmtheit des Materials auf seine Nichtigkeit. 81 Adorno ( 1 3 ) , S. 215 82 In gleicher Weise dürfte man sich unter der Kommunikation "zweier Nichtse" schwerlich etwas vorstellen können. 83 Vgl. Adorno ( 1 1 ) , S. 99 f
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Inhalt "(...) reziprok aufeinander verwiesen"
blieben.
Dieser Einwand scheitert daran, daß unsere Bewußtseinsformen nicht als solche "(...) notwendig auf einen Erfahrungsstoff bezogen" sind, sondern nur dann, wenn sie Erkenntnisse ermöglichen sollen. Dies aber müssen sie nicht, OC denn Kant kennt auch ihren bloßen ßen*gebrauch. Ebenso folgt ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis von Form und Inhalt nicht aus der Tatsache, daß die Begriffe Form und Inhalt aufeinander verweisen. 4. Ausdruck des Form-Inhalt-Dualismus ist das Theorem der Mannigfaltigkeit 86 des Gegebenen , das Adorno ebenfalls kritisiert: "Das bloße Chaos, zu dem der reflektierende Geist die Welt der eigenen Allmacht zuliebe entqualifiziert, ist ebenso ein Produkt wie der Kosmos, den er aufrichtet, um ihn zu 87 fift verehren." Die psychologische Gestalttheorie (Wertheimer, Köhler, Gelb) jedoch habe dieses Theorem f a l s i f i z i e r t , da das unmittelbar Wahrgenommene Oft "selber bereits eine bestimmte Strukturiertheit" besitze. Dies widerlege die idealistische Erkenntnistheorie, denn sie könne nur "(...) ihre Lehre von dem Bewußtsein als der konstitutiven Bedingung aller wirklich formenden, artikulierenden Erkenntnis durchhalten (...), wenn sie nicht konzedieren muß, 90 daß das primär Gegebene ein bereits in irgendeiner Weise Geformtes ist." Die Fragwlirdigkeit dieses Einwandes wird daran deutlich, daß Adorno in der Konsequenz - verwendet man die Kantische Terminologie - eine Erkenntnis des Dinges an sich beansprucht. Die K r i t i k verweist wiederum auf den lebensphilosophischen Hintergrund des Adornoschen Denkens, da sich die Gestaltpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Anschluß an Dilthey und seinen Strukturbegriff als Reaktion auf die naturwissenschaftlich ausgerichtete Assoziationspsychologie (0. M i l l , J. St. M i l l , H. Spencer, Fechner) entwickelt hat. Des näheren beruht der Einwand auf folgendem zentralen Gedanken: Wenn das "primär Gegebene" geformt ist, dann kann das Bewußtsein nicht die "konstitutive Bedingung aller wirk-
84 Adorno (11), S. 98 f. Vgl. ( 7 ) , S. 141 85 Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 146 86 Das Prinzip der Mannigfaltigkeit ist allerdings bei Kant eine Voraussetzung, die erst bei Fichte abgeleitet wird [Fichte ( 6 3 ) , S. 208]. 87 Adorno ( 1 4 ) , S. 27. Vgl. ( 7 ) , S. 188 88 Zu Adornos Kritik der Gestaltpsychologie vgl. Adorno ( 1 4 ) , S . 163 f, 253 f, 299 89 Adorno ( 1 3 ) , S. 104. Ebenfalls gegen Husserl Wendet sich Adorno unter Rekurs auf die Gestaltpsychologie: vgl. Adorno (14), S. 100 90 Adorno ( 1 3 ) , S. 105
Dualismus von Form und Inhalt
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lieh formenden (...) Erkenntnis" sein. Diese Folgerung ist jedoch nicht zwingend: Wenn das Bewußtsein die "(constitutive Bedingung aller wirklich formenden (...) Erkenntnis" ist, dann besagt dies weder, daß es die hinreichende, sondern nur, daß es eine notwendige Bedingung ist, noch, daß das Bewußtsein für alle Formen (qua Bestimmtheiten) aufkommt, sondern nur für die Formen der Erkenntnis. Sofern Erkenntnisformen (qua Bestimmtheiten unserer Erkenntnisgegenstände) angenommen werden, ist das Bewußtsein für diese eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Dieses Bedingungsverhä'ltnis in der Kantischen Erkenntnistheorie darf nicht so verstanden werden, daß das Bewußtsein für alle Bestimmtheit aufkommt. Es ist zwar Bedingung aller erkenntnismäßigen Bestimmtheit, insofern es Bedingung von Erfahrung ist, aber es kommt nicht selbst für alle erkenntnismäßige Bestimmtheit auf.Notwendige und hinreichende Bedingung ist es nur für die erkenntnismäßige Bestimmtheit, die aus aligemeinen Gesetzen besteht: "Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich allesamt unter jenen stehen." 91 Damit wird Adornos Irrtum offenkundig: Nicht, weil das Bewußtsein für alle Formen aufkommt, ist eine außerbewußtseinsmäßige Geformtheit qua Bestimmtheit auszuschließen, sondern, weil das Bewußtsein nur für alle Formen aufkommt, ist gerade auf die Geformtheit qua Bestimmtheit des Materials zu rekurrieren. Allerdings - und das ist entscheidend - können wir über diese nichts ausmachen, weil das Bewußtsein ebenso Bedingung aller in der Erfahrung gegebenen Formen ist. Kant bestreitet nicht die (ontologische) Geformtheit qua Bestimmtheit des ursprünglichen (qua erfahrungsvorgängigen) Materials - eine solche metaphysische Aussage wird jedoch von Adorno angenommen. Vielmehr stellt er die Erkennbarkeit der Geformtheit qua Bestimmtheit des ursprünglichen Materials - weil Erkenntnis nur durch Erfahrung möglich ist und seine geltungstheoretische Relevanz in Abrede. Kants Erkenntnistheorie ist eine transzendentalphilosophische Erkenntnistheorie und keine Ontologie im vorkritischen Sinne. Nur gegen diese kann sich der gestaltpsychologische Einwand richten: Kant aber fragt nach den epistemologischen Bedingungen der Gestaltpsychologie.
9l Kant (147), B 165.
Vgl. auch ( 1 4 7 ) , B 263
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Dieses Verhältnis wird dadurch zusätzlich undurchsichtig, daß Adorno eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Form ausnutzt: Form bedeutet für Kant "nur Form" 92 , wobei diese die Bedingung der empirisch bestimmten Bestimmtheit der Erkenntnis ist. Adorno jedoch ersetzt in seiner Argumentation diesen Formbegriff qua "nur Form" durch einen weiteren Formbegriff, der Form mit Bestimmtheit überhaupt (nicht bloß qua "nur-Form-Bestimmtheit", sondern auch qua empirisch bestimmter Bestimmtheit) identifiziert. Form in dieser zweiten Bedeutung ist nicht nur Bedingung empirisch bestimmter Bestimmtheit der Erkenntnis, sondern selbst ihre empirisch bestimmte Bestimmtheit. Diese mangelnde begriffliche Sorgfalt ist um so a u f f ä l l i g e r , als gerade Adorno ständig auf die Verschiedenartigkeit des unter einen Begriff Fallenden hinweist. 5. Ein letzter Einwand bezieht sich auf den Form-Inhalt-Dualismus: Da das Mannigfaltige keine "inhaltliche Bestimmung für die Erkenntnis" abgeben könne, sei nur eine Selbsterkenntnis des Subjekts möglich. "Das Datum ist das absolut Unbestimmte, sobald es von der Kategorie losgerissen ist. Die Kategorie aber ist nichts anderes als Subjekt. Also was erkennt dann das Subjekt eigentlich ? Das Datum erkennt es nicht, denn das Datum ist ja ein Nichts, das nur vom Subjekt aus eigentlich bestimmt wird, und die Bestimmung, die es findet, ist das Subjekt selber, also erkennt das Subjekt eigentlich immer nur sich selbst." 93 Die Argumentation vereinigt nahezu a l l e bisher erwähnten Mißverständnisse: a) Die Identifizierung von "Datum" und "Nichts" ist oben kritisch erörtert worden, b) Im Gegensatz zum zweiten Einwand soll hier die vom Mannigfaltigen getrennte Kategorie kein Nichts sein, c) Das Datum ist nicht im Sinne einer metaphysisch-ontologisehen Aussage unbestimmt, sondern seine absolute Unbebestimmtheit besitzt nur erkenntniskritische Bedeutung (Verwechslung von transzendentalphilosophischer Erkenntnistheorie und Ontologie !). d) Das Datum wird nicht " ( . . . ) vom Subjekt aus eigentlich bestimmt", sondern das Subjekt ist nur Bedingung der erkenntnismäßigen Bestimmtheit des Datums in der Erfahrung, es selbst bestimmt das Datum nur hinsichtlich seiner allgemeinen Gesetze. Dieser Irrtum beruht auf dem doppelten Formbegriff. Zusammenfassend heißt dies: Adornos Einwände gegen den Form-Inhalt-Dualismus beruhen auf grundsätzlichen Mißverständnissen, die primär durch den on92 Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 150 u. (146), S. 65. Ein anderer Formbegriff (qua spezifischer Bestimmtheit) liegt allerdings der Amphibolie der Reflexionsbegriffe zugrunde: vgl. Kant (147), B 322. 93 Adorno (13), S. 182. Vgl. auch ( 1 4 ) , S. 178
Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität
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tologischen Charakter des Interpretationsansatzes bedingt sind.Ihre suggestive Überzeugungskraft verdanken sie zum Teil einer undifferenzierten Begrifflichkeit. Adornos alternative Konzeption einer Form-Inhalt-Dialektik beruht damit nicht auf einer immanenten Kritik Kants, sondern lediglich auf einer 94 Hier kann auch der Hinweis auf jf Hegels - so Adorno äußeren Konfrontation. "Beweis" einer Form-Inhalt-Dialektik nicht überzeugen.'95 3.4.2
Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität
Die "zweite kardinale Disjunktion" ist der Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität. Dieses von Kant gegen die "Leibniz-Wolffiscne-Philosophie" gerichtete Theorem eines nicht bloß graduellen "Unterschied(es) der Sinnlichkeit vom Intellektuellen" erregte schon früh die Aufmerksamkeit der Kritiker. Beck 98 und Maimon 99 sprachen sich für eine abermalige Vermischung der beiden Erkenntniszweige bzw. eine Quantifizierung ihrer Differenz hinsichtlich ihrer Bewußtseinsgrade aus. Von ihnen beeinflußt deutete dann Fichte die Rezeptivität (genauer: ihre Vorstellung) als notwendiges Implikat des Anschauungsmoments im Akt des Sich-für-sich Setzens, d.h. als gehemmte und unbewußte Verstandestätigkeit. Dieser Gedanke wurde von Schelling aufgegriffen und in modifizierter Form vom Neukantianismus insbesondere der Marburger Schule rezipiert. 102 Gegen diesen Dualismus wendet Adorno zweierlei ein: 1. Das erste von Dilthey in seinem Entwurf einer "beschreibenden Psycholo103 Argument kann man phänomenoiogisch nennen. Kant vertrete gie" vorgeprägte die "etwas primitive Ansicht" ( ! ) , a l l e i n dem Denken Spontaneität und allein der Anschauung Passivität zuzuordnen. Dabei rekurriert Adorno darauf, "was so gewöhnlich Anschauung heißt" . Die Annahme einer spontaneitätslosen Anschauung sei unhaltbar, weil " ( . . . ) schon die reine Wahrnehmung einer Landschaft, etwa durch einen Bauern, durch einen Reisenden ( . . . ) oder durch ei94 95 96 97 98 99 100 101 102
So deutlich in Adorno ( 7 ) , S. 178 Vgl. z.B. Adorno ( 1 3 ) , S. 12 Adorno (13), S. 216 Kant ( 1 4 7 ) , B 61 Vgl. Vaihinger (280), Bd. II, S. 22 £ Vgl. Mairaon (180), S. 203 Vgl. Fichte (65), S. 242 f Vgl. Schelling ( 2 4 8 ) , S. 66 - 72 Vgl. Natorp (199), S. 201
103 Dilthey (49), S. 149 104 Adorno ( 1 3 ) , S. 251
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Adornos K r i t i k der Erkenntnistheorie Kants
nen Landvermesser oder etwa durch einen Maler schon phänomenal etwas v o l l kommen anderes sei, weil in diese reine Wahrnehmung des Objektes bereits alle jene Vermittlungskategorien eingehen, die nach herkömmlicher Rede jedenf a l l s erst dem Verstand zuzuschreiben sind" . Die durchaus problematische Identität von Anschauung und Wahrnehmung im Interesse Adornos vorausgesetzt, f ä l l t zunächst auf, daß im Gegensatz zu seinem Kritiker, der Anschauung phänomenologisch ("phänomenal") durch den unmittelbaren Bezug auf ein bestimmtes Objekt (mit-)definiert, Kant diesen Objektbezug ausschließt. Es ist geradezu der zentrale Gedanke seiner Erkenntnistheorie, daß Anschauung als solche nicht auf ein bestimmtes Objekt bezogen ist: "Wenn ich alles Denken (durch Kategorien) aus einer empirischen Erkenntnis wegnehme, so bleibt gar keine Erkenntnis irgend eines Gegenstandes übrig, denn durch bloße Anschauung wird gar nicht gedacht, und, daß diese Affektion der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar ke,ine Beziehung von der gleichen Vorstellung auf irgendein Objekt aus." Die Kantische Anschauung schaut zwar an, aber sie schaut nicht etwas an: "Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Das Anschauungsvermögen ist ein bloß relationales Vermögen.Trennen wir Verstand und S i n n l i c h k e i t , so haben wir lediglich eine "(...) Vorstel1G8 lung, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können." Dies ist transzendentalphilosophisch dadurch begründet, daß ein Objekt das ist, "(...) in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt 10Q ist." Das Vermögen der Synthesis und Spontaneität ist der Verstand. Der Bezug auf einen bestimmten Gegenstand fordert also den "Actus der Spontaneität" des Verstandes bzw. der produktiven Einbildungskraft. Das bedeutet hinsichtlich der Kritik Adornos zweierlei: a) Seine These einer Verstandesbeteiligung bei der Wahrnehmung bestimmter Objekte ("Landschaft") konvergiert mit Kants Auffassung einer notwendigen Verbindung von Verstand und S i n n l i c h k e i t , wenn eine bestimmte Gegenständlichkeit konstituiert werden soll. Angesichts dieser Tatsache ist der kritische Impetus des Adornoschen Einwandes nicht einsichtig. b) Indessen macht dies gerade offenkundig, daß Adorno die transzendentalphilosophische Fragestellung verkennt. Geht diese auf eine Analyse der Be105 106 107 108 109 110
Adorno (13), S. 253 (Hervorhebung Kant (147), B 309 Kant (147), B 75 Kant (147), B 314 Kant (147), B 137 Kant (147), B 130
B . ) . Vgl. auch (11),
S. 67
Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität
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dingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt und ihren Gegenständen und kommt so zu der Trennung von Spontaneität und Rezeptivität, so begnügt sich Adorno mit einer Beschreibung des Faktischen, d.h. mit der Feststellung einer empirisch aufgewiesenen Verknüpfung von Rezeptivität und Spontaneität im Erkenntnisvorgang. Solange Adorno nicht über diese Bescheidung auf das Empirisch-Faktische und den common sense ("was so gewöhnlich Anschauung heißt") hinausgeht, ist ihm nichts vorzuwerfen, wohl aber, wenn er die Tatsächlichkeit des Empirisch-Bedingten gegen die Frage nach der Bedingung des Empirischen wenden will. Adorno kritisiert den transzendentalphilosophischen Ansatz also nicht immanent, sondern bleibt vor seiner Fragestellung stehen. Indem die realistische Phänomenologie Adornos das als gegeben ansieht, was der Transzendentalphilosophie allererst frag-würdig ist, offenbart sich ein prinzipieller Reflexionsvorsprung Kants. 2. Das zweite Argument Adornos kann man als das logische bezeichnen. Der schon ähnlich vom Marburger Neukantianismus formulierte Einwand bezieht sich auf den Spontaneitätscharakter der Anschauungen Raum und Zeit: Die Anschauung und mit ihr die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit sollten vollkommen passiv sein. Dennoch sei Kant gezwungen, " ( . . . ) , da,wo es sich schein-
bar um reine Gegebenheiten handelt" 112 .Tätigkeit anzunehmen. Verifiziert werde dies durch den "Beweis" der "Axiomen der Anschauung": "Alle Erscheinungen enthalten, der Form nach, eine Anschauung von Raum und Zeit, welche ihnen insgesamt a priori zum Grunde liegt. Sie können also nicht anders apprehendiert, d.i. ins empirische Bewußtsein aufgenommen werden, als durch die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden, d.i. durch die Zusammensetzung der Gleichartigen und das Bewußtsein der synthetischen Einheit dieses Mannigfaltigen (Gleichartigen)." Hieraus folgert Adorno: "Also schon da, wo ich mich scheinbar im Sinn der Generalthesis der ' K r i t i k der reinen Vernunft 1 ganz passiv verhalte, schon an dieser Stelle verhalte ich mich Kant zufolge in einer gewissen Weise auch aktiv" . "Der Gedanke steckt also, dieser Lehre zufolge, bereits in der Anschauung drin,und es ist nur ein Schritt von dieser Erkenntnis Kants zu der Kritik an seiner grundsätzlichen Scheidung von Rezeptivität und Spontaneität, auf der ja die ganze Vernunftkritik beruht." 111 112 113 114 115
Vgl. Natorp (199), S. 201 ff Adorno (13) , S. 234 Kant (147) , B 202 £. Adorno (13), S. 234 Adorno ( 1 3 ) , S. 235
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Adornos K r i t i k der Erkenntnistheorie Kants
Abgesehen davon, daß auf diese Weise a l l e n f a l l s die Spontaneität der Sinnlichkeit, nicht aber die Passivität des Verstandes dargetan werden könnte, irrt Adorno insofern, als er nicht zwischen formaler Anschauung und Form der Anschauung unterscheidet. Die Axiome der Anschauung betreffen nicht die Form der Anschauung, sondern die formale Anschauung, die in der Tat nach Kants Theorie eine "Zusammenfassung des Mannigfaltigen" enthält und damit synthetisch ist. Insofern wäre Adorno beizupflichten, daß "bereits in der Anschauung" (qua anschaulicher Vorstellung) Tätigkeit involviert sei. Jedoch affiziert dies nicht den Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität, weil sich die Charakterisierung als passiv nicht auf die formale Anschauung, sondern auf die Anschauungsform Raum und Zeit bezieht. Spricht Kant jener (auch) Spontaneität zu, so nicht diesen. Ebenso dürfen die Formen der passiven Rezeptivität, die reinen Anschauungsformen Raum und Zeit, nicht als Formungen (zu bestimmten Vorstellungen) verstanden werden, weil sie solcherart Spontaneitätscharakter besäßen. Vielmehr meint Kant mit den passiven Anschauungsformen das, was ermöglicht, daß mir etwas räumlich oder zeitlich bestimmt erscheint. Die Anschauungsformen Raum und Zeit sind so etwas wie die Raumund Zeitwurzel qua Möglichkeitsbedingung räumlicher und zeitlicher Bestimmungen. Angesichts dieses Irrtums ist Adornos Fazit, "(...) daß hier der Gedanke der Vermittlung gewissermaßen gegen den Willen des Kantischen Systems auftaucht" , schwerlich überzeugend. Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß Adornos Kritik des Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität keineswegs eine in seinem Sinne "dialektische Erkenntnistheorie" zu begründen vermag. Das phänomenologische Argument verkennt die transzendental philosophische Fragestellung, offenbart einen Rückfall in den vorkritischen Realismus. Das logische Argument verdankt sich der fehlenden Beachtung wesentlicher Kantischer Unterscheidungen. Der Anspruch einer immanenten Kritik wird also in beiden Fällen nicht erfüllt.
116 Kant (147), B 160 Anm. 117 Adorno (13), S. 235
Die Transzendentale Ästhetik
3.4.3
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Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand
Der Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand ist eng verwandt mit dem von Rezeptivität und Spontaneität, f ä l l t aber nicht mit ihm zusammen. Zunächst ist ein beide Seiten dieses Dualismus umspannender Einwand Adornos zu betrachten: Kant habe "(...) an einer Stelle der Kritik der reinen Vernunft geradezu formuliert, daß die beiden Hauptstämme der Erkenntnis, mit denen er es zu tun hat, Sinnlichkeit und Verstand, Rezeptivität und Spontaneität eben schließlich doch auf ein letztes Gemeinsamens zurückdatieren müßten." 118 Die angesprochene Stelle bezieht sich vermutlich - Adorno gibt keinen genauen Verweis - auf B 29. Hier aber schreibt Kant: "Nur soviel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden." Adorno liest also eine eindeutig hypothetische (und agnostische) Aussage Kants positiv assertorisch. Die Trennung von Verstand und Sinnlichkeit ist aber nicht willkürlich, sondern in der endlichen Erkenntnisstruktur des Menschen gegründet und die Kehrseite der Kantischen Zurückweisung eines anschauenden Verstandes bzw. einer intellektuellen Anschauung. Im folgenden soll Adornos Deutung der beiden Seiten des Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand, d.h. seine Kritik der Transzendentalen Ästhetik und der Analytik der Begriffe, betrachtet werden. 3.4.3.1 Die Transzendentale Ästhetik
119
Es ist zu unterscheiden zwischen 1. Adornos allgemeiner Einschätzung der Transzendentalen Ästhetik, 2. seinen Einwänden gegen die Raum- bzw. Zeitargumente und 3. seinem konstruktiven Versuch der Entwicklung einer Raum- und Zeitlehre.
118 Adorno (13), S. 219 119 Vgl. zur Transzendentalen Ästhetik auch den nach Fertigstellung dieser Arbeit erschienenen kritischen Aufsatz von Baumanns, P.: Anschauung,Raum und Zeit bei Kant. In: Heidemann, I./Ritzel, W. (Hrsg.): Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft:1781 - 1981. Berlin/New York 1981, S. 69-125
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
3.4.3.1.1 Allgemeine Einwände 1. Kants Raum- und Zeitlehre steht nach Adorno in der "metaphysischen Tradition", da " ( . . . ) in gewisser Weise der platonische Unterschied von Realität und bloßer Erscheinungswelt (...) in aufgeklärter Gestalt wieder hergestellt worden sei". Demnach sei zufolge Kant " ( . . . ) das Wahre uns verhängt" 120 . Dieser sich noch in der neueren Kantliteratur findende Vorwurf einer Ir121 realisierung der Realität scheint auf den ersten Blick angesichts eini1 ?2 ger Stellen der 'Kritik der reinen Vernunft 1 plausibel. Dennoch trifft Adornos Kritik nicht: In der dritten Allgemeinen Anmerkung zur Transzendentalen Ästhetik 123 und der dritten Anmerkung zu § 13 der 'Prolegomena' 1 2 4 entkräftet Kant diesen Einwand, indem er auf den Unterschied zwischen Schein und Erscheinung aufmerksam macht. Entsprechend der Koinzidenz von empiri1 ?R scher Realität und transzendentaler Idealität von Raum und Zeit ist unsere Erfahrungswelt ("Erscheinungswelt") kein bloßer Schein: "Wenn ich sage im Raum und der Zeit stellt die Anschauung, so wohl der äußeren Objekte, als auch die Selbstanschauung des Gemüts, beides vor, so wie es unsere Sinne affiziert, d.i. wie es erscheint: so w i l l das nicht sagen, daß diese Gegen126 stände ein bloßer schein wären." Nicht nur die mangelnde Unterscheidung zwischen Schein und Erscheinung erklärt sich aus Adornos ontologischer Perspektive, sondern auch seine These, Kant zufolge sei " ( . . . ) das Wahre uns verhängt". Indessen entspricht die erkenntniskritische Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung nicht der zwischen Wahrheit und Falschheit, wie Adorno implizite voraussetzt. Der Kantische Wahrheitsbegriff ist anders gelagert: "Noch weniger dürfen Erscheinung und schein für einerlei gehalten werden. Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, so fern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, so fern er gedacht wird. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren, 120 121 122 123 124 125 126
Adorno (13), S. 285 f Vgl. z.B. Strawson (273), S. 21 f , 250 Kant (147), B 59 Vgl. Kant (147), B 69 ff Vgl. Kant (151), S. 290 - 293 Vgl. Kant (147), B 44, 52 Kant (147), B 69
Allgemeine Einwände
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nur im Urteile, d.i. nur im Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstan1?7 de anzutreffen." Kant und Adorno verwenden entsprechend ihrer differieren128 den Objektivitätsbegriffe zwei verschiedene Wahrheitsbegriffe, dieser einen ontologischan (Wahrheit im Gegenstande), jener einen erkenntniskritischen (Wahrheit im Urteil über den Gegenstand). Adornos Kritik aber beruht auf der 129 Ersetzung des Kantischen Wahrheitsbegriffes durch seinen eigenen. Exkurs: Adornos ontologischer Wahrheitsbegriff Man könnte einwenden, Kant und Adorno verträten in der Tat verschiedene Wahrheitstheorien und insofern treffe zwar Adornos Kritik nicht zu, wohl aber sei sein Wahrheitsbegriff überzeugender. Hierüber kann nur anhand der von Adorno gegebenen Begründung seiner Wahrheitstheorie entschieden werden, in der Wahrheit als ontologischer Prozeß gedeutet wird: "Indem aber in jedem einzelnen Urteil die Sache, der es gilt, mit ihrem Begriff konfrontiert wird und indem darüber jedes einzelne endliche Urteil als unwahr zergeht, führt die subjektive Tätigkeit der Reflexion Wahrheit über den traditionellen Begriff der Anpassung des Gedankens an den Sachverhalt hinaus: Wahrheit läßt sich nicht länger als Qualität von Urteilen dingfest machen. (...) Weil aber kein endliches Urteil jene Übereinstimmung je erreicht, wird der Wahrheitsbegriff der prädikativen Logik entrissen und in die Dialektik als ganze verlegt. (...) Die Kritik an der starren Trennung der Momente des Urteils schmilzt die Wahrheit, soweit sie als bloßes Resultat aufgefaßt wird, ein in den Prozeß." 130 Solcherart leuchte "eine Platonische Idee von der Wahrheit" 131 auf. Dieser Beweis zugunsten sowohl der Ontologizität als auch der Prozessualität von Wahrheit kann aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Die Insuffizienz des einzelnen Urteils dem zu Beurteilenden gegenüber soll zur Unhaltbarkeit des Urteilscharakters von Wahrheit, d.h. zu ihrer ontoiogizität führen. Hier also folgert Adorno voreilig aus der - im übrigen lediglich vorausgesetzten und durchaus problematischen - prinzipiellen Unvollkommenheit des einzelnen Urteils auf die fehlende Wahrheitsträchtigkeit von Urteilen überhaupt und sodann von diesem negativen Ergebnis auf das keineswegs notwendige positive Ergebnis eines ontologischön Charakters der Wahrheit. Die im Unterschied zur statischen Ontologie Heideggers angenommene prozessuaiität der Wahrheit, soll ebenfalls in der Inadaquanz des einzelnen Urteils gründen. Diese (insbesondere Gedanken Nietzsches aufnehmende 132) Folgerung 127 128 129 130 131 132
Kant (147), B 349 f Vgl. Kap. 3.1 Vgl. auch z.B. Adorno (10), S. 211 Adorno (14), S. 284 f Adorno (14), S. 284 Vgl. Nietzsche (206), S. 448. Vgl. zur Darstellung und Kritik der Wahrheitstheorie Nietzsches: Barth (18), S. 213 - 237. Auch wenn Adorno wie Nietzsche den Gedanken zeitloser Wahrheit preisgibt und in der Deutung des Erkennens (als eines begrifflichen Gleichmachens des Ungleichen im Interesse der Selbsterhaltung) stark von ihm beeinflußt ist, hält er doch im Unterschied zu ihm, der Wahrheit auf "Nützlichkeit" [Nietzsche ( 2 0 1 ) , S. 556; ( 2 0 1 ) , S. 726] reduziert, an der Idee objektiver Wahrheit fest [vgl. Adorno ( 7 ) , S. 197 f ] . Haberraaa wird Adorno hierin folgen, indem er Nietzsche ein vom positivistischen Wissenschaftsbegriff affiziertes
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
zugunsten eines "Zeitkerns"133 von Wahrheit ist insofern problematisch, als Adorno von der zeitlichen Bedingtheit des einzelnen Urteils auf die Zeitlichkeit der Wahrheit selbst schließt. Auch wenn das einzelne Urteil zeitlich bedingt ist und die Wahrheit im Urteil (nicht außerhalb desselben) ihren Ort hat, so folgt daraus nicht die Zeitlichkeit der Wahrheit. Urteil und Wahrheit sind nicht identisch, sondern das einzelne Urteil erhebt Wahrheitsanspruch, wie umgekehrt die (nicht ontologisch zu verstehende) Idee zeitloser Wahrheit sich nur im konkreten Urteil verwirklichen kann. Als notwendiges Gegenstück einer Deutung von Wahrheit als "Prozeß" aber wird sich eine solche Subjektstheorie erweisen, die Bestimmungen wie Akt, personale Identität und Zurechenbarkeit nicht (oder nur ungenügend) kennt, d.h. eine naturalistische Sübjektstheorie. Ein weiteres prinzipielles Bedenken drängt sich gegen Adornos Konzeption auf: Ist das Urteil über den Zeitkern der Wahrheit auch nur zeitlich bedingt ? Adornos Wahrheitstheorie ist also nicht nur unzulänglich begründet, sondern auch in sich widersprüchlich. Derart ist sie schwerlich der Kantischen Konzeption 134 überlegen.135 2. Kant beansprucht, die Vollständigkeit und Notwendigkeit der beiden Anschauungsformen Raum und Zeit gezeigt zu haben. Hiergegen macht Adorno gelToo tend, Kant habe weder die Vollständigkeit noch Notwendigkeit "abgeleitet11 . Wird Ableitung im strengen Sinne verstanden als Deduktion aus einem Prinzip, so ist Adorno beizupflichten. Genau dieses Desiderat versucht Fichte in seiner Wissenschaftslehre zu füllen. 139 Problematisch jedoch wird Adornos Kritik mit der weiterreichenden These, Raum und Zeit fielen aufgrund der fehlenden Deduktion unter den "Begriff des kontingenten a priori", nach dem Notwendigkeit und Zufälligkeit " ( . . . ) unmittelbar ineinander übergehen."
133 134 135
136 137 138 139 140
naturalistisches Mißverständnis dee erkenntnisleitenden Interesses vorwirft [Habermas (87), S. 363]. Adorno ( 2 ) , S. 9. Vgl. ( 1 ) , S. 12 Zur Kantischen Wahrheitstheorie vgl. Prauaa (218). Rath fuhrt den Begriff des "Zeitkerns" der Wahrheit auf Benjamin zurück [vgl. Rath (223),S. 26]. Einerseits soll sich - wie dargestellt - Wahrheit ihrer Subjektivität entäußern; andererseits gilt: "Gerade die Objektivität der Wahrheit bedarf des Subjekts" und damit der "Beziehung des Urteils auf Sachverhalte" [Adorno (14), S. 78]. Diese beiden Momente werden nur mühsam mittels der prozessualen Wahrheitsbestimmung zusammengehalten: Wahrheit nicht als übergegangene,sondern als "übergehende" {Adorno.(14),-S. 284j..:DeuLientspricht Adornos Bestimmung der Wahrheit als "Kraftfeld" [Adorno (14), S. 79]. Die Verknüpfung zweier Wahrheitsbegriffe, des erkenntniskritisehen und des ontologischen, deren Differenz durch die Ausnutzung von Xquivokationen (Subjektivität, Objektivität) verdeckt wird, führt also zur Konstruktion des "Kraftfeldes". Vgl. Kant (147), B 58 Vgl. Kant (147), B 69 Adorno (13), S. 298. Vgl. auch (13), S. 289 f Die Kritik einer fehlenden Ableitung von Raum und Zeit formulierte schon Fichte (65), S. 230. Adorno (13), S. 298 f
Allgemeine Einwände
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a) Die Problematik dieser These ist zunächst hinsichtlich der Notwendigkeit von Raum und Zeit zu zeigen. Kant schränkt die Gültigkeit der beiden Anschauungsformen auf die spezifisch menschliche Sinnlichkeit ein. Die Kategorien hingegen werden (dem Anspruch nach) aus einem Prinzip, der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption, deduziert, - und zwar als gültig für jeden endlichen Verstand, d.h. für einen solchen, "(...) durch dessen reine Apperzeption in der Vorstellung: Ich b i n , noch gar nichts Mannigfaltiges gegeben ist." Versteht Adorno unter der fehlenden Notwendigkeit der beiden Anschauungsformen lediglich ihre nicht bewiesene Universalität, so steht dies also im Einklang mit der Kantischen Theorie. Adorno zielt jedoch mit dem Begriff des "Kontingenten a priori" auf etwas anderes, wenn er im Zusammenhang mit der Feststellung einer fehlenden Deduktion schreibt: "Mir könnten im Prinzip genauso gut andere Formen der Anschau1AO ung haben, wie Raum und Zeit" . Zum einen gibt das nicht die Kantische Auffassung wieder, wie Adorno beansprucht, weil nach der Transzendentalen Ästhetik wir keine anderen Formen besitzen können, für uns die Notwendigkeit von Raum und Zeit gilt, denn die Notwendigkeit von Raum und Zeit wird - so Kant durch das von ihm angenommene Faktum der reinen Mathematik und Geometrie legitimiert. Zum anderen ist die Folgerung Adornos nicht mit seiner eigenen Feststellung in Einklang zu bringen, der Raum sei notwendig "als Bedingung aller möglichen Gegenstände überhaupt" , eine unraumliche Gegenständlichkeit sei undenkbar. Zwar sollen Notwendigkeit und Zufälligkeit "(...) wahrscheinlich in einem tiefsten Sinne miteinander vermittelt" sein, jedoch müßte diese Vermittlung nicht nur abstrakt behauptet, sondern konkret dargelegt werden, und zwar als Vermittlung. Adornos kritische Kantdeutung trifft also nur bedingt zu, mit seiner Folgerung widerspricht er sich selbst. b) Auch die Vollständigkeit der beiden Anschauungsformen beweist Kant nicht im Sinne einer strengen Deduktion, wie schön Schell ing kritisch anmerkte. 147 Wohl aber gibt Kant einen indirekten Vollständigkeitserweis, der darauf beruht, daß " ( . . . ) a l l e andere zur Sinnlichkeit gehörige Begriffe (...) etwas Empirisches voraussetzen." 148 Das Kantische Theorem wird also erst durch den 141 142 143 144 145 146 147 148
Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 42, 51, 59, 72 Kant (147), B 138 Adorno (13), S. 289 Vgl. Kant (147), B 40 f, 47 ff Adorno (13), S. 294 Adorno (13), S. 297 Vgl. Schelling (249), S. 154 Kant (147), B 58
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Nachweis eines weiteren Rezeptivitätselements, das nichts Empirisches voraussetzt, widerlegt. Adorno scheint dieser Forderung zu genügen: Die Gestaltpsychologie habe ausgeführt, "(...) daß es ( . . . ) noch eine weitere apriorische Bedingung einer jeglichen Anschauung überhaupt gibt, nämlich daß ( . . . ) in der reinen Anschauung, also unabhängig von a l l e n intellektuellen Momenten nicht etwa die einzelnen Bestandteile dieser Anschauung atomistisch nebeneinanderliegen (...), sondern daß sie unmittelbar bereits strukturiert sind, und diese unmittelbare Strukturiertheit alles Anschaulichen, von der würde man (...) wohl sagen müssen, daß sie ebenso eine Form der Anschauung sei wie es Raum und Zeit selber auch sind." 149 Die Argumentation kann aus mehreren Gründen nicht überzeugen: aa) Zunächst ist es nicht einsichtig, weshalb die unmittelbare Strukturiertheit apriorisch sein soll. Eher würde man doch ihre Empirizität vermuten. Im Zusammenhang damit steht, daß bb) Adorno Reinheit ("reine Anschauung") offensichtlich mit nicht-verstandesmäßig ("unabhängig von a l l e n intellektuellen Momenten") identifiziert. Kant aber versteht unter "rein" nicht-empirisch. Wenn etwas nicht vom Verstand bestimmt ist, ist es nicht notwendig rein im Kantischen Sinne, wie Adorno voraussetzt. Vielmehr ist die verstandesmäßige Bestimmung rein, und das nicht vom Verstand Bestimmte kann rein sein, cc) Zudem ist es nicht evident, inwiefern das (mögliche) Faktum dieser Strukturiertheit die "Bedingung" einer jeden Anschauung ausmachen soll. So bezeichnet Adorno es an einer anderen Stelle angemessener als "überall vorliegende Be1 ? Stimmung des unmittelbar Gegebenen" . dd) Auch ist es nicht zu verstehen, daß die "unmittelbare Strukturiertheit alles Anschaulichen" eine Anschauungsform wie Raum und Zeit sein soll. Hier nutzt Adorno eine Ambiguität des Anschauungsbegriffes aus: Versteht Kant Anschauung subjektiv als Anschauen (ohne etwas anzuschauen), so Adorno (phänomenologisch) objektiv als Anschauliches (oder auch Angeschautes). Der Schritt von der Strukturiertheit des Angeschauten zu ihrer Subjektivität als Anschauungsfora im Kantischen Sinne ist nicht begründet. Sollte dies aber dennoch dargelegt werden können, dann bedeutet ee) - nimmt man die Identität von Struktur und Form an, wie Adorno dies teilweise tut - der Nachweis einer notwendigen Struktur (Form) kei149 150 151 152 153
Adorno (13), S. 290 Vgl. Kant (147), B 34 Eine angemessen« Deutung von "rein" gibt Adorno in (10) , S. 177. Adorno *9), S. 156 Vgl. Adorno (13), S. 300
Allgemeine Einwände
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neswegs den einer Notwendigkeit weiterer Formen neben Raum und Zeit. Eine Geformtheit der Anschauung qua Anschaulichem (formale Anschauung) stellt auch Kant heraus und nennt als Spezifizierungen dieser Form die Formen Raum und Zeit. Der Beweis einer Geformtheit (genus proximum) kann aber unmöglich den Aufweis weiterer Formen (differentia specified) neben Raum und Zeit bedeuten. Betrachtet man hingegen Struktur als differentia specifica des genus proximum Form, dann ist zwar dieser Einwand unzutreffend, verstößt aber statt dessen ff) gegen das Prinzip der Mannigfaltigkeit: Das specificum von Struktur bestünde in der inneren Beziehung der einzelnen Elemente des Gegebenen. So spricht Adorno von einer fehlenden Atomistik. Diese Deutung von Struktur ist aber mit dem Prinzip der Mannigfaltigkeit unvereinbar, weil sie streng genommen - einen konstituierten Komplex von Mannigfaltigkeiten voraussetzt. Da sich jedoch Adornos gestaltpsychologische K r i t i k dieses Prinzips als unhaltbar erwiesen hat, kann auch der Rekurs auf die Strukturiertheit des Gegebenen (unabhängig von den Übrigen Mängeln) Kants Vollständigkeitsthese in bezug auf Raum und Zeit nicht widerlegen. Der Einwand, die "Wahrnehmung des Gestaitzusanaenhangs" sei "eben eine transzendentale Funktion" verweist vielmehr auf ein problematisches Verständnis dessen, was Transzendental Philosophie meint - ist er doch nur vom Boden einer phänomenologisch um den entscheidenden Konstitutionsgedanken reduzierten "Transzendentalphilosophie" aus verständlich. Zusammenfassend bedeutet dies, daß zwar die Transzendentale Ästhetik insofern unzulänglich ist, als Vollständigkeit und Notwendigkeit der Anschauungsformen nicht streng deduziert werden» Adornos Gegenthese eines "kontingenten a priori" aber noch weniger überzeugend ist. 3. Der dritte allgemeine Einwand Adornos geht auf die "Paradoxie einer erfahrungsfreien E r f a h r u n g " . Sie beruhe darauf, daß die Anschauungsformen einerseits als bloße Anschauungen "(...) etwas Selbsterfahrenes sein sollen", andererseits " ( . . . ) als ein Apriorisches der Erfahrung schlechterdings enthoben sein wollen". Derart werde " ( . . . ) etwas unmittelbar Kontradiktorisches prädiziert" 157 . Den Ausgangspunkt dieser Schwierigkeit bilde die Tatsache, daß Kant "nicht ausdrücklich zwischen reinen Formen der Anschauung und rei154 155 156 157
Vgl. Adorno (13), S. 290 Adorno ( 9 ) , S. 155 Adorno (13), S. 302; vgl. auch (14), S. 151 f Adorno (13), S. 302. In (11), S. 99 will Adorno aus diesem Problemkomplex die Unmöglichkeit einer Trennung von Form und Inhalt folgern.
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Adornos K r i t i k der Erkenntnistheorie Kants
158 nen Anschauungen" unterscheide. Damit nimmt Adorno vermutlich auf B 34 f Bezug: "Diese reine Form der Sinnlichkeit wird aber auch selber reine Anicg schauung heißen."
Auch diese Kritik Adornos ist ansatzweise berechtigt, da Kant in der Tat Form der Anschauung und reine Anschauung in sorgloser Weise identifiziert. Jedoch muß in Rechnung gestellt werden, daß Kant in der zweiten Fassung der transzendentalen Deduktion der Kategorien sehr wohl genau unterscheidet. Hier setzt er die "bloße Form der Anschauung", die nur unvereinheitlichtes Mannigfaltiges gibt, von der "formale(n) Anschauung ab, die eine Zusammenfassung· des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit Gegebenen, in eine anschauliche Vorstellung" ist. Insofern ist Adornos Ausgangspunkt nur partiell richtig. Das bedeutet aber zugleich - macht man die Kantische Distinktion gegen Kant geltend -, daß gar nicht "(...) etwas unmittelbar Kontradiktorisches pradiziert" wird, eben weil Anschauungsform und formale Anschauung nicht identisch sind. Zum zweiten scheitert Adornos Argumentation daran, daß er nicht zwischen sinnlich und ewpirisch differenziert: Erfahrung im strengen Sinne ist bei Kant definiert als "(...) ein empirisches Erkenntnis, d.i. ein Erkenntnis, 162 das durch Wahrnehmungen ein Objekt bestimmt." Wenn die reine Anschauung Adorno zufolge "etwas Selbsterfahrenes" ist, dann ist sie seines Erachtens Objekt einer empirischen Erkenntnis. Dies widerspricht aber Kants Auffassung: Eine reine Anschauung ist zwar s i n n l i c h , nicht jedoch empirisch sinnlich: "Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zelt) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als 163 wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird." Erst durch die sinnliche und reine Anschauung können wir "(...) Erkenntnisse a priori von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen" 164 . Bei der Konstruktion der "Paradoxie einer erfahrungsfreien Erfahrung" aber reduziert Adorno die sinnliche Anschauung auf die empirisch sinnliche. Es hat also durchaus seine Gründe, wenn diese Paradoxie - wie er schreibt - "(...) wahrscheinlich in dieser Schärfe überhaupt gar nicht genügend beachtet worden ist" . Etwas anderes aber ist 158 159 160 161 162 163 164 165
Adorno (13), S. 300 Vgl. Kant (147), B 60 Vgl. Vaihinger (280), Bd. II, Kant (147), B 160, Anm. Kant (147), B 218 Kant (147), B 146 f Kant (147), B 147 Adorno (13), S. 302
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Allgemeine Einwände
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es, das Prinzip der reinen Anschauung selbst zu problematisieren. Dies jedoch steht bei Adorno aus. 4. Mit dem Erörterten ist ein weiteres Problem der Kantischen Erkenntnistheorie eng verbunden: ihre vorgebliche Unvereinbarkeit mit den mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wie viele andere bezieht sich Adorno auf die (spezielle) Relativitätstheorie Einsteins mit ihrer Aufhebung der absoluten Raum-Zeit-Theorie Newtons und der von der klassischen Physik anerkannten zeitlichen Universalität und Einheit. Die Relativitätstheorie habe dargelegt, "(...) daß Raum und Zeit nicht unendliche und voneinander unabhängige Größen seien, sondern daß sie endlich sind und sich gegenseitig durcheinander bedingen". Dadurch werde "(...) die Lehre von der Apriorität aufgehoben" . Dieser Einwand (und ein analoger, der sich auf die nicht-euklidische Geometrie Riemanns stützt) berührt jedoch die Grundlage der Kantischen Lehre nicht. Allerdings ist die historische Fassung der Transzendentalen Ästhetik zu revidieren, da nur so der transzendentale Idealismus unter systematischen Gesichtspunkt aufrechterhalten werden kann. Bei diesem Vorhaben muß die Unterschiedung zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung fruchtbar gemacht werden, die Kant zwar in der zweiten Fassung der transzendentalen Deduktion trifft, die allerdings noch nicht in der Fassung der Transzendentalen Ästhetik von 1787 zum Tragen kommt. Wie 1781 identifiziert er auch hier noch Form der Anschauung und reine Anschauung (formale Anschauung) . Diese Indifferenz wirft die Frage auf, ob die Transzendentale Ästhetik von der Form der Anschauung oder der formalen Anschauung handelt. Es ist die Rede von einer immer zugrundeliegenden Raumvorstellung, der Einzigkeit und Einheit des 168 Raumes und seiner Unendlichkeit. Dies alles sind Bestimmungen, die sich nicht auf die bloße Form der Anschauung beziehen, sondern auf das, was Kant eine "anschauliche Vorstellung" nennt. Die Transzendentale Ästhetik hat es also nicht mit der Form der Anschauung zu tun, wie es zunächst scheint und wie es sein müßte, sondern mit der formalen Anschauung. 166 167 168 169 170
Adorno (13), S. 306. Vgl. auch (13), S. 40 Vgl. Kant (147), B 34 Vgl. Kant (147), B 38 ff Vgl. Kant (147), B 160, Anm. Der biographische Grund für den Bezug der transzendentalen Ästhetik auf die formale Anschauung liegt vermutlich darin, daß wesentliche Teile nahezu wörtlich aus 'De mundi' (1770) übernommen sind [vgl. Kant (139), S. 398, 402, 404].
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Diese Einsicht spricht auch Kant indirekt an der Stelle aus, an der er die Differenzierung vornimmt. In bezug auf die formale Anschauung stellt er fest: "Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt,um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber a l l e Begriffe von Raum und Zeit erst möglich werden, voraussetzt." Da die Transzendentale Ästhetik nicht zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung unterscheidet, bedeutet dies notwendig, daß sie gar nicht das thematisiert, was sie eigentlich ansprechen müßte: die Form der Anschauung. Diese kann man als Raum- bzw. Zeitwurzel umschreiben, als Wurzel räumlicher und zeitlicher Bestimmungen, wie sie in der formalen Anschauung vorliegen. Da nun die Raum- und Zeitinterpretationen der nicht-euklidischen Geometrie und (speziellen) Relativitätstheorie auf konkrete qua formal bestimmte Raumund Zeitvorstellungen gehen, nicht aber auf Raum und Zeit qua Formen der Anschauung (qua Raum- und Zeitwurzel), berühren sie a l l e n f a l l s die vorliegende Form der Transzendentalen Ästhetik, eine von ihrer Anlage her nicht zureichende Fassung der transzendental ideal istischen Position und ihrer Aprioritätsthese hinsichtlich Raum und Zeit. Derart kann Adornos These nicht überzeugen, die mathematischen Theorien und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse hätten "(...) die Lehre von der Apriori172 tat aufgehoben" . Nicht die Lehre selbst ist unzulänglich, sondern nur die Begründung Kants, die unter Rückgriff auf seine eigene Differenzierung in einer systematisch zureichenden Konzeption des transzendentalen Idealismus ersetzt werden müßte. Weder die ontologisch-platonisierende Kritik einer Irreal isierung der Realität mit dem ihr zugrundeliegenden problematischen Wahrheitsbegriff, noch die Einwände gegen die Vollständigkeit und Notwendigkeit der beiden Anschauungsformen Raum und Zeit, noch die Konstruktion der "Paraduxie einer erfahrungsfreien Erfahrung" widerlegen also die transzendentalphilosophische Grundposition. Da Adorno den Unterschied zwischen formaler Anschauung und Form der Anschauung nicht beachtet, kann er das Verhältnis der Kantischen Transzendentalphilosophie zur modernen Naturwissenschaft und Mathematik nicht angemessen einschätzen. 171 Kant (147), B 160 £ Anm. 172 Adorno (13), S. 306. Vgl. auch I. Strohmeyer, die - allerdings im Unterschied zu uns von einer positiven Wertung der Transzendentalen Ästhetik ausgehend Cvgl. Strohmeyer (275), S. 2 8 - 3 8 ] - die "Vereinbarkeit von
Die einzelnen Raum- und Zeltargumente
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3.4.3.1.2 Die einzelnen Raum- und Zeitargumente Von den allgemeinen Einwänden Adornos gegen die Transzendentale Ästhetik ist seine Kritik der einzelnen Raum- und Zeitargumente zu unterschieden. Dabei soll im folgenden nur die Kritik der Raumargumente erörtert werden, weil die der Zeitargumente analog ist. 1. Erstes Äatanarsruoent: Ziel des ersten Arguments ist der Beweis der Apriorität des Raumes. Das Argument selbst kann man mit G. Martin als "platonisch" charakterisieren: Die Identifikation von etwas "als außer und neben" präsupponiert eine schon zugrundeliegende Raumvorstellung, woraus die Apriorität des Raumes folgt (folgen soll ?). Adorno deutet die "positive Seite" des Satzes, daß Raum und Zeit "(...) keine abgezogenen empirischen Begriffe sind", derart,"(...) daß alle anderen Versuche, Raum und Zeit durch anderes zu erläutern, zu definieren, selber immer wieder auf die Vorstellungen von Raum und Zeit notwendig zurückführen müssen" 176 . Dieses Verständnis ist in doppelter Weise problematisch: a) Kant w i l l an dieser Stelle nicht die Zirkularität einer faunaeflnition, sondern die Apriorität des Raumes zeigen, b) Damit hängt zusammen, daß Adorno das Beweisthema (Apriorität) mit dem Beweisgrund (platonisches Argument) verwechselt: Die Apriorität des Raumes folgt nach Kant aus dem notwendigen Präzedens hinsichtlich einer Identifikation von etwas "als außer und neben" (nicht: hinsichtlich einer Definition des Raumes selbst), aber die Notwendigkeit der Priorität (Präzedens) ist nicht identisch mit der Apriorität, sondern diese liegt vielmehr in jener begründet. Anders ausgedrückt: Bedingt a) durch den Irrtum, daß es im Argument selbst (Beweisgrund) statt um die Identifikation von etwas als räumlich bestimmt um die Definition des Raumes selbst geht, und b) durch die Vernachlässigung der Differenz von Beweisgrund (Argument) und Beweisthema gelangt Adorno zu der Auffassung, daß die "positive Seite" des Sattranszendentalphilosophischer und relativistischer Raum-Zeit-Lehre" (275, S. 173) herausarbeitet und den Kantischen Apriorismus bestätigt. 173 Vgl. Martin (186), S. 36 174 Kant ( 1 4 7 ) , B 38 175 Vgl. zum ersten Raumargument die Kritik von Strawson ( 2 7 3 ) , S. 59 und Hossenfelder (125), S. 28 - 37, 56 - 60. 176 Adorno (13), S. 293
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zes von der Apriorität des Raumes seine Undefinierbarkeit (d.h. bloß zirkuläre Definierbarkeit) sei. Diese "Wahrheit" ist nicht nur "nicht die ganze Wahrheit" , wie Adorno mit Blick auf die von Kant vertretene und von ihm abgelehnte Subjektivität des Raumes (negative Seite des Satzes) konzediert, sondern sie ist insofern überhaupt keine Wahrheit, als das von ihm Herausgestellte im ersten Raumargutnent nicht angeschnitten wird. 178 2. zweites Raumargument: Ziel dieses gegen Leibniz gerichteten "aristo17Q telischen" Arguments ist abermals die Apriorität des Raumes. Der Beweisgrund liegt in der von Kant hervorgehobenen Möglichkeit, die Gegenstände des Raumes hinwegdenken zu können (was ihre Zufälligkeit involviert) und der Un180 möglichkeit der Vorstellung, "(...) daß kein Raum sei" (woraus seine Notwendigkeit folgt). Abgesehen davon, daß Adorno dieses Argument ebenfalls irrtümlich im Zusammenhang mit der Definitionsmöglichkeit des Raumes sieht, macht er geltend, 181 daß uns die "Vorstellung eines absolut leeren Raumes" verwehrt sei. Aus der Undurchführbarkeit einer "absolute(n) und radikale(n) Trennung von Raum IfiP und Räumlichem" folge die Unmöglichkeit einer transzendentalen Ursprungsphilosophie, weil "(...) also in der Sphäre der Subjekt-Objekt-Beziehung auch auf dem Niveau ( . . . ) der sogenannten unmittelbaren Gegebenheit ein absolut 1R3 Erstes sich gar nicht finden kann." Positiv sei das Verhältnis zwischen dem Raum und seinen Gegenständen derart, "(...) daß ebenso der Raum den Gegenständen inhäriert, wie umgekehrt der Raum die Bedingung aller möglichen Gegenstände überhaupt ist." 184 Der Einwand Adornos scheint unwiderlegbar zu sein, da es sich hier um den Konflikt zweier Grundüberzeugungen handelt, der mit den vorgetragenen Argumenten nicht entschieden werden kann: Der Apriorismus Kants beansprucht so etwas wie eine transzendentale Wesensschau (Vorsteil barkeit eines absolut leeren Raumes), der Empirismus Adornos bestreitet sie (Unvorstellbarkeit eines absolut leeren Raumes). Diese Unentschiedenheit (Unentscheidbarkeit ?) ist aber insofern von Bedeutung, als sich Adornos Widerlegung des transzen177 Adorno (13), S. 293 178 Vgl. zur Raumtheorie von Leibniz (166), S. 135, 192, 206 179 Vgl. Martin (186), S. 36. Zum Verhältnis des ersten und zweiten Raumarguments vgl. Vaihinger (280) , Bd. II, S. 196 f. 180 Kant (147), B 38 181 Adorno (13), S. 293 182 Adorno (13), S. 296. Vgl. auch ( 7 ) , S. 325 f 183 Adorno (13), S. 295 184 Adorno (13), S. 294. Vgl. ( 7 ) , S. 326
Die einzelnen Raum- und Zeitargumente
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dentalphilosophischen Ansatzes auf eine bloße Behauptung reduziert: Der Idealismus Kants wird nicht immanent kritisiert, sondern äußerlich mit einem anderen Ansatz konfrontiert. Diese bloß äußerliche Gegenüberstellung bedingt 1fi5 auch, daß Adorno zwar eine Reziprozität von Raum und Räumlichem behauptet, aber nicht erklären kann, wie dieselbe zu denken sei, weil dies die ausstehende immanente Kritik voraussetzte. Der Einwand Adornos ist aber für den transzendental philosophischen Ansatz deshalb nicht entscheidend, weil das zweite Raumargument gar nicht die Anschauungsform, sondern lediglich die formale Anschauung des Raumes (absolut leerer Raum) betrifft. Insofern greift Adornos Einwand zu kurz, weil die fehlende Apriorität der formalen Anschauung nicht die der Anschauungsform impliziert. Auch wenn bestimmte Raum- und Zeitvorstellungen (z.B. das dreidimensionale Auffassen des Raumes) empirisch bedingt sind, so schließt das nicht eine apriorische Raum- und Zeitwurzel, d.h. den Ursprung der Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Vorstellungen im Erkenntnissubjekt, aus. 3. Drittes Raumaxgument (nach B): Sollen die beiden ersten Argumente die Apriorität des Raumes zeigen, so soll nun die Art dieser Vorstellung (An186 schauung oder Begriff) dargetan werden. Im dritten Raumargument rekurriert Kant auf die E i n z i g k e i t und Einheit des Raumes, die seine Deutung als Begriff ausschließen und die als Anschauung erzwingen (sollen ?). Die "Beweisführung" zählt für Adorno "(...) ohne Fragen zu den genialsten und scharfsinnigsten Leistungen, die die Kantische Vernunftkritik überhaupt 187 enthält." Aber dennoch liege hier zugleich ein schwerwiegendes "(...) Problem der Raum- und Zeitlehre verborgen", nämlich dasjenige, "{...) wie diese reinen Anschauungen nun eigentlich zu dem Material, zu den sogenannten Empfindungen sich verhalten." Von dieser Vermittlungsschwierigkeit her komme " ( . . . ) Kant ganz folgerecht zu dem Begriff einer reinen Anschauung, (...) einem Etwas, was zwar nicht begrifflich sein soll (...), was aber auf der anderen Seite uns auch nicht mit der Z u f ä l l i g k e i t der von außen an uns quasi herankommenden Empfindung innewohnt, sondern was selber aller solcher Empfin18R düngen eigentlich vorangeht." Dies impliziere dann die "Paradoxie einer erfahrungsfreien Erfahrung." 185 186 187 188 189
Vgl. Adorno Vgl. Paton Adorno (13), Adorno (13), Adorno (13),
( 1 3 ) , S. 294, 296, 303 (213), Bd. I, S. 114 S. 299 S. 300 f S. 302
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Weder ist a) diese "Paradoxie" überzeugend - wie Oben gezeigt worden ist -, noch läßt sich b) die vorgeblich Kantische Gedankenbewegung textlich verifizieren: Kants Aussagen zufolge ist es wahrscheinlicher, daß die Einführung des Begriffs der formalen Anschauung (reine Anschauung) in Absetzung zu dem der Anschauungsform nicht durch den Form-Inhalt-Dualismus, sondern durch seine Mathematik- und Geometrieauffassung bedingt ist, denn: "Der Raum, als Gegenstand vorgestellt (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf), enthält mehr als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen (...) in eine anschauliche Vorstellung" 190 . Zudem ist c) der Problemgehalt der Ausgangsschwierigkeit fragwürdig, da hier eine ontologische Verdinglichung der "reinen Anschauungen" und "sogenannten Empfindungen" vorzuliegen scheint. 4. viertes Rawnargument (nach B): Wie das dritte Raumargument, so dient auch das vierte dem Beweis des Anschauungscharakters des Raumes. Hinsichtlich des Beweisgrundes jedoch differieren sie: Rekurriert jenes auf die Einzigkeit und Einheit, so dieses auf die Unendlichkeit des Raumes (qua In-Sich-Enthalten einer unendlichen Menge von Vorstellungen). Dies impliziert den Anschauungscharakter des Raumes, weil das Kriterium der so gefaßten Unendlichkeit 1Q1 für den Begriff nicht zutrifft. 1 Adorno deutet dieses Argument als "These von ihrer (d.h. Raum und Zeit, B.) unendlichen Gegebenheit." 192 Die Annahme dieser These als Beweisthema widerspricht jedoch der conclusio Kants: "Also ist die ursprüngliche Vorstellung 193 vom Räume a priori, und nicht Begriff." Der erste Satz des Arguments, auf den sich Adorno vermutlich bezieht, exponiert nicht - wie in den anderen Argumenten - die "zu beweisende These", sondern "(...) ein Factum das als Grund194 läge des Beweisgrundes dienen soll." Gegen den irrtümlich als Beweisthema angenommenen mittelbaren Beweisgrund wendet Adorno zweierlei ein: Zum einen bestreitet er analog seiner Kritik des zweiten Raumarguments in bloß äußerer 195 Konfrontation die Möglichkeit, ein "positives Unendliches" sich vorstellen zu können. Zum anderen weist Adorno auf den Widerspruch Kants hin, daß dieser "(...) in der transzendentalen Ästhetik etwas behauptet und prädiziert, was im Sinne des zweiten Teils der transzendentalen Logik, nämlich 190 191 192 193 194 195
Kant (147), B. 161 Anm. Vgl. Paton (213), Bd. I, S. 115 Adorno (13), S. 302 Kant (147), B 40 Vaihinger (280), Bd. II, S. 254. Vgl. Adorno (13), S. 303
(280), Bd. II, S. 222, 243
Die einzelnen Raum- und Zeitarg unten te
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der transzendentalen Dialektik, geradezu als Kardinalsünde angeprangert wird, 196 daß einem na'mlich ein positiv Unendliches als solches gegeben sein s o l l " . 197 Mit diesem oftmals gegen Kant gewendeten Widerspruch bezeichnet Adorno in der Tat eine Schwierigkeit. Das vierte Raumargument ist zudem nicht mit der in der ' K r i t i k der Urteilskraft' vertretenen Auffassung in Einklang zu bringen: "Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüt erfordert." 198 Die oben geforderte Revision der Transzendentalen Ästhetik indessen würde diese Schwierigkeit überwinden, weil sich der Widerspruch auf die formale Anschauung - und die von Kant verwendete Unendlichkeitsvorstellung geht auf 199 diese - bezieht, nicht aber auf die Form der Anschauung. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß Adornos Kritik der Transzendentalen Ästhetik vielfach der Kantischen Auffassung nicht gerecht wird. Dies ist teilweise durch den ontologischen Interpretationsansatz, teilweise durch ein unzulängliches Erfassen Kantischer Differenzierungen (sinnlich/empirisch, Form der Anschauung/formale Anschauung) und grundlegender Gedankengänge bedingt. Eine Analyse seiner K r i t i k der einzelnen Raum- bzw. Zeitargumente zeigt, daß Adorno im ersten und vierten Argument Beweisthema und Beweisgrund verwechselt, die Kritik des zweiten (und vierten) Raumarguments nicht immanent ist, sondern äußerlich zwei Ansprüche (Apriorismus, Empirismus) konfrontiert. In bezug auf das dritte Raumargument ist weder die exponierte Problemstellung, noch sein Implikat einer "Paradoxie", noch die Herleitung zu demselben überzeugend. Die berechtigten Einwände Adornos jedoch berühren nicht die transzendentalphilosophische Grundposition, sondern nur seine unzulängliche Fassung. Dabei bietet sich gerade Kantisches Gedankengut zur Oberwindung dieser Schwierigkeiten an.
196 197 198 199
Adorno (13), S. 303 f Vgl. Vaihinger (230), Bd. II, S. 254 - 261 Kant (148), S. 254 Es ist sogar problematisch, ob sich die Unendlichkeitsvorstellung überhaupt auf die formale Anschauung beziehen kann. Keinesfalls ist jedoch sie der Form der Anschauung zuzuordnen.
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
3.4.3.1.3 Adornos Entwicklungsversuch einer Raum- und Zeitlehre Dieses trotz seiner Vielfältigkeit einheitliche Ergebnis fordert zur Skepsis gegenüber Adornos konstruktiver Raum- und Zeitlehre auf, die er gegen die "Vorstellung der reinen Aprioritä't" setzt. Dabei greift er auf die soziologischen Forschungen Emile Durkheims zurück. Diesen zufolge hätten sich die Zeitvorstellungen " ( . . . ) an bestimmten Generationsverhältnissen und an der Ordnung des zu vererbenden Eigentums gebildet", und "die Vorstellung der räumlichen Objektivität" sei "an dem Bedürfnis' der seßhaft gewordenen Menschen, ihre Besitzverhältnisse von einander abzugrenzen" , erwachsen. Indessen werden hier zwei verschiedene Perspektiven und Fragestellungen miteinander konfundiert: die transzendentalphilosophische und die soziologische. Fragt die Transzendentalphilosophie nach dem Ursprung von Raum und Zeit überhaupt, so die Soziologie nach der Genese bestimmter Raum- und Zeitvorsteilunsren. Da aber die Empirizität bestimmter Raum- und Zei Herstellungen nicht die Apriorität der Anschauungsformen Raum und Zeit ausschließt, kann Adornos Versuch nicht überzeugen, die Soziologie gegen die Transzendentalphilosophie zu wenden. Was a l l e n f a l l s bleibt, ist statt einer Kritik die Konfrontation. Mehrfach aber deutete sich schon an, daß sich die Konfrontation zugunsten einer Überlegenheit des Kritizismus aufzulösen beginnt. Gerade eine revidierte Fassung der transzendental philosophischen Raum- und Zeitlehre könnte die soziologische Theorie begründend integrieren,indem sie etwa die Notwendigkeit und Vollständigkeit der Anschauungsformen Raum und Zeit darlegt. 3.4.3.2 Die Analytik der Begriffe Nachdem nun Adornos Kritik der Transzendentalen Ästhetik analysiert worden ist, soll im folgenden seine Deutung der Analytik der Begriffe besprochen werden. Dabei ist zunächst seine allgemeine Einschätzung dieses Systemteils und sodann die spezielle Problematik des Verhältnisses von metaphysischer und transzendentaler Deduktion zu behandeln. Adornos Interpretation der transzendentalen Apperzeption wird erst in 5.1 erörtert.
200 A4orno (13), S. 309
Allgemeines
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3.4.3.2.1 Allgemeines (Kategorien, Synthesis) Auch in der Interpretation der Analytik der Begriffe ist Adornos ontologischer Ansatz bestimmend. Seinem "metakritisch" gegen Kant gerichteten Denkmodell, demzufolge wir die bestimmte Struktur des Gegebenen "(...) nicht einfach brechen können, die wir nicht einfach mit der Gewalt unserer Kate201 gorisierungen nach Belieben in unsere Ordnungsschemata übersetzen können" , liegt ein ontologischer Realismus zugrunde: Reaiismue, weil dieser nach Adorno den erkenntnistheoretischen Ansatz des Idealismus und seiner Rückfra202 ge beim Subjekt überwindet , indem er den Konstitutionscharakter des Konstituens aufdecke. Ontologisch, weil Adorno nicht wie die Transzendentalphilosophie an der Begründung objektiv gültiger Erfahrung, sondern primär am Objektiven interessiert ist - unbekümmert darum, daß gültige Aussagen über das Objektive die Frage nach der Objektivität als beantwortet voraussetzen. Adorno hält das Problem des Objektiven einerseits und das der Objektivität andererseits nicht auseinander, wie seine Kritik der sogenannten "Residual203 theorie" der Wahrheit gezeigt hat. Das ontologisch realistische Denkmodell wird nicht durch immanente Kritik begründet, sondern lediglich dem Kantischen Ansatz konfrontiert. Dies bedingt sowohl eine wenig überzeugende Argumentation als auch ein Mißverständnis der synthetischen Leistung des Verstandes. 1. Adorno kann sein ontologisches Denkmodell nur dann erfolgreich gegen den transzendentalphilosophischen Ansatz ausspielen, wenn es ihm gelingt, Kant ebenfalls eine notwendig onto!ogisehe Betrachtungsart nachzuweisen. So bemüht er sich, den Seinscharakter der Kategorien zu beweisen: "An' einer der zentralsten Stellen der ' K r i t i k der reinen Vernunft' (...) findet sich der Satz: 'Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber nur vermittels der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zustandezubringen, läßt sich eben so wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu Urteilen haben, oder warum Raum und Zeit die einzigen Formen unserer möglichen Anschauung sind."' Diese Stelle erläutert Adorno folgendermaßen: "Mit anderen Worten also, es werden bei Kant selber die (...) Formen des 201 Adorno (13), S. 106 202 Vgl. Adorno (11), S. 125, 203 Vgl. Kap. 2.3.2
137, 169
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Bewußtseins selbst als etwas schlechterdings Gegebenes, als etwas schlechterdings Daseiendes angesetzt,als etwas also,worüber das Denken seinerseits keine Macht hat als ein Stück Sein,und damit als ein Stück Metaphysik." Es trifft zu, daß Kant die Kategorien nicht einzeln deduziert und sie insofern "als etwas schlechterdings Gegebenes" ansieht.Dennoch aber werden sie in der transzendentalphilosophischen Reflexion begründet, indem Kant sie als Weisen der Vermeinigung des Gegebenen,d.h. als nachgängige Bedingung der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption, aufzeigt. Schon Adornos Rede von einer fehlenden "Macht" des Denkens über die Bewußtseinsformen wird dem Problem nicht gerecht, denn Kant ist nicht an der Macht-, sondern an der Legitimations- und Gültigkeitsfrage des Denkens interessiert. Weiterhin ist es nicht einsichtig, inwiefern die These einer Unhinterfragbarkeit der Geltung bestimmter Kategorien ihren Seinscharakter implizieren.die transzendentalphilosophische Fragestellung derart in "Metaphysik" münden soll. Schließlich widerspricht die Ontologisierung der Kategorien ihrer konstituierenden Bedeutung als Meisen der Synthesis. Derart um das Konstitutionsmoment verkürzt, ist es verständlich, daß für Adorno das, "(...) was bei Kant Formung 205 heißt, wesentlich Deformation" ist. Die franezandentaiphUosophie wird so zur fhaorie der Macht uminterpretiert. 2. Verweist dies auf den Ontologismus Adornos, so bedingt der Realismus seines Denkmodells ein weiteres Mißverständnis. Das Hauptthema der Begriffsanalytik ist die "Spontaneität der Begriffe" 20 ? der Verstand mit seinen Funktionen der Synthesis gegebener Mannigfaltigkeit. Der Verstand ist nach Adorno nichts anderes als das "(...) Vermögen, Einheit in der Mannigfaltigkeit zu stiften, und zwar nach Gesetzen." Dies bedeute auf dem "(...) vergleichsweise schlichten Kantischen Niveau (...), dasselbe im Verschiedenen festzuhalten, und dadurch, daß Verschiedenes unter dasselbe gebracht oder daß dasselbe an Verschiedenem bestimmt wird,in das Verschiedene, das zunächst als ein Chaotisches und ganz Unqualifiziertes dargestellt wird, so etwas wie Ordnung zu bringen." 207 Adornos Irrtum ist bezeichnend: die Verwechslung von synthetischer und analytischer Verstandesleistung. Ursprüngliche Aufgabe des Verstandes ist 204 Adorno (13), S. 171. Vgl. (13), S. 236 und (14), S. 37 f. Die zitierte Kantfltelle let Kant (147), B 145 f 205 Adorno (S), S. 752 206 Kant (147), B 74 207 Adorno (11), S. 131
Allgemeines
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die Synthetisierung des Mannigfaltigen, seine Konstituierung zu Objekten (Vorstellungskomplexen). Diese ursprünglich in der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption gründende Verstandeshandlung ist die notwendige Bedingung des von Adorno beschriebenen Identifikationsvollzuges, "(...) dasselbe im Verschiedenen festzuhalten." Der Identifikationsakt ist analytischer Natur, indem er das Verschiedene auf seine Merkmale bzw. Merkmalskomplexe hin zerlegt, und so ermöglicht, daß etwas als etwas mit Hilfe des analysierten Merkmals qualifiziert, d.h. identifiziert werden kann. Derart aber setzt diese Identifikation die synthetische Konstituierung des Verschiedenen voraus. Kant begründet die Ursprünglichkeit der synthetischen Einheit der Apperzeption vor der analytischen Einheit des Bewußtseins, der bezeichneten Durchgängigkeit eines Teilgedankens durch einen komplexeren, in der Anmerkung zu § 16: "Die analytische Einheit des Bewußtseins hängt allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an, z.B. wenn ich mir rot überhaupt denke, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgendworan angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also vermöge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen. Eine Vorstellung, die als verschiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die außer ihr noch etwas verschiedene* an sich haben, folglich muß sie in synthetischer Einheit mit anderen (...) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewußtseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann." 2flft Diese analytische Einheit des Bewußtseins darf nicht mit der analytischen Einheit des Selbstbewußtseins, d.h. der konstitutiven Anwesenheit des "ich denke" in allen meinen Vorstellungen, verwechselt werden. Die analytische Einheit des Bewußtseins ist das Medium, in dem die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption die analytische Einheit des Selbstbewußtseins ermöglicht. Indem Adorno vom Verschiedenen, das er nur verbal und in sich widersprüchlich als "Unqualifiziertes" ein Verschiedenes ist immer schon qualifiziert - bestimmt, ausgeht, muß er die Leistung des Verstandes als, analytischen Identifikationsakt nehmen. Wenn Adorno damit die entscheidende Dimension der synthetischen Konstituierung von Objekten ausblendet, so hat dies seinen Grund in einer vom Realismus nicht gelösten Denkeinstellung: Der erkenntnistheoretische Realismus wird nicht etwa auf einer höheren Stufe wiederhergestellt, sondern der transzendental philosophischen Reflexion entgegengesetzt. 208 Kant (147), B 133 f
Anm.
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Adorno deutet also aufgrund seines ontologischen Realismus 1. die Kategorien als Seinsweisen ("Stück Sein") und reduziert 2. die Verstandesfunktion auf die analytische Identifikation. Dabei ist das Verhältnis zwischen dieser Reduktion und der Ontologisierung der um ihr Konstitutionsmoment verkürzten Kategorien streng korrelativ und verweist auf ein problematisches Verständnis des transzendentalphilosophischen Grundgedankens. 3.4.3.2.2 Die metaphysische und die transzendentale Deduktion Der Ontologismus Adornos setzt sich in seiner Funktions- und Verhältnisdeutung der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kategorien fort und zeigt sich weiter in seinem reduktionistisehen Verständnis von Transzendentalphilosophie. 1. Kant gehe "von zwei Seiten" die Kategoriendeduktion an: einer logisch (-induktiven) und einer psychologisch-deduktiven. Bei der logisch (-induktiven) Vorgehensweise nehme er die Kategorien "(...) als gleichsam Urgegebenheiten hin, die die Autorität der unmittelbaren Evidenz haben sollen, nimmt aber diese Gegebenheiten ihrerseits aus der formalen Logik." Diesen Weg schlage Kant ein, um "(...) die Rückversicherung des unmittelbar Gegebenen (zu) haben, dessen, was da ist und woran ich mit meiner Vernünftelei gar ?1 nicht rütteln kann" . Im Gegensatz dazu stehe die psychologisch-deduktive Vorgehensweise der "transzendentalen Deduktion". Diese deduziere aus der zeitlichen Einheit des "ich denke" die "(...) einzelnen kategorialen Formen (...), die nun die obersten Begriffe der Vernunft sein sollen." 211 Hierdurch wolle Kant "die Stringenz des deduktiven Systems" erreichen. Die beiden Vorgehensweisen seien aber nicht nur einfach parallel, sondern stünden im "Wi?1 ? derspruch" zueinander. Diese kritische Interpretation verdankt sich mehreren Irrtümern: a) Mit dem logisch-induktiven Weg meint Adorno vermutlich die metaphysische Deduktion der Kategorien, obwohl er den Begriff nicht verwendet. Diese hat nach Kant die Aufgabe, den "Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des 213 Denkens" darzutun. Ihre systematische Stellung läßt sich durch Kants Un209 210 211 212 213
Adorno (13), S. 225 Adorno (13), S. 226 Adorno (13), S. 224 Adorno (13), S. 226 Kant (147), B 159
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terscheidung des quid iuris und quid facti verdeutlichen.Beantwortet die metaphysische Deduktion die quaestio facti, so die transzendentale die quaestio iuris. Geht es jener um den Aufwels der einzelnen Kategorien (und den Nachweis der Vollständigkeit der Kategorientafel) , so dieser um den objekti215 ven Gültigkeitsbeweis der reinen Verstandesbegriffe , den Beweis ihrer 21ß "Rechtmäßigkeit" als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung über217 haupt. In der metaphysischen Deduktion nimmt Kant auf die als vollständig und (hy?1ft pothetisch ) gültig vorausgesetzte formale Logik Bezug. Die aus dieser abgeleitete Urteilstafel dient als "Leitfaden" zur Aufstellung der Kategorientafel. Denn: "Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt." 219 G i l t dieser Zusammenhang - die Entsprechung von Urteilsform und Kategorie ist nach Kant fast durchgängig "in die Augen fallend" -, dann folgt: "Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen 2?o Da diese Bedingung nach Kant durch den Rückvollständig darstellen kann." griff auf die formale Logik erfüllt ist, "(...) entspringen gerade so viel reine Verstandesbegriffe, welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel (der Urteilstafel, B.) logische Funktionen in allen möglichen Urteilen gab: denn der Verstand ist durch gedachte Funktionen v ö l l i g erschöpft, und sein Vermögen dadurch gänzlich aus221 gemessen." Nachdem Kant so die Kategorien aufgewiesen und ihre Vollstän222 digkeit nachgewiesen hat (nachweisen wollte ? ), beweist er im "zweiten Hauptstück", der transzendentalen Deduktion, ihre objektive Gültigkeit, Adorno stellt nun zu Recht fest, daß Kant auf die formale Logik rekurriert. Problematisch ist indessen seine Deutung, Kant intendiere "die Rückversiche214 215 216 217 218
219 220 221 222
Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 89, 92 Vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 122 Kant ( 1 4 7 ) , B 114 Vgl. Kant (147), B 126 Hypothetisch, weil Kant auch die formale Logik deduzieren will [vgl. Kant ( 1 4 7 ) , B 134 Anm.], wie Fichte dies dann in der 'Grundlage' versucht hat. Vgl. Fichte ( 6 2 ) , S. 255, 261, 267; ( 6 4 ) , S. 138 f Kant ( 1 4 7 ) , B 104 f Kant ( 1 4 7 ) , B 94 Kant (147), B 105 Wie schon Fichte [ ( 6 5 ) , S. 201] herausgestellt hat, geht Kant hier bloß empirisch vor, kann also nicht Vollständigkeit beanspruchen.
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rung des unmittelbar Gegebenen". Kant geht es in der metaphysischen Deduktion nicht um eine "Rückversicherung", die quaestio iuris, sondern lediglich um die quaestio facti, um die Bestandsaufnahme dessen, was ist, aber nicht um die Begründung von etwas (den Kategorien) mittels dessen, was ist. Falsch ist deshalb auch Adornos These, Kant nehme die Kategorien hier "(...) als gleichsam Urgegebenheiten h i n , die die Autorität der unmittelbaren Evidenz OOi haben sollen" : Die Frage der auctoritas ist an dieser Stelle noch gar nicht thematisch. Das Mißverständnis der systematischen Bedeutung der metaphysischen Deduktion hat seine Ursache darin, daß Adorno nicht zwischen dem quid facti und dem quid iuris unterscheidet, das quid facti ihm zum quid iuris wird. In diesem Sinne bestimmt er in den zwanziger Jahren, als er sich noch auf dem Boden ooyi der "transzendentalen Phänomene!ogie" seines Lehrers Hans Cornelius weiß, als "fiechtsausweis für die Bestimmung" der transzendentalen Bedingungen "allemal und ausschließlich" den "Rekurs auf das Erlebnismaterial, das 'untnittelbar Gegebene'. Es sei "von dem unmittelbar Gegebenen als letzter Rechtsquelle der Erkenntnis" auszugehen und "Einsicht in die transzendentale Appara/ tur durch Abstraktion vom tatsächlichen Erlebniszusammenhang" zu gewinnen. Diese Überlegungen weisen nicht nur auf W. Di l they zurück, für den das Er007 leben zum Geltungsgrund wird, weil es "immer seiner selbst gewiß" sei. Sie scheitern zudem an der Forderung Kants nach einem .objektiven "Principium" des Rechtsgrundes: Sieht Kant die "objektive Gültigkeit der Kategorien" nur dadurch gewährleistet, "(...) daß durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei", "(...) daß sie als Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden mlissen" 228 , so sind für Adorno apriorische Transzendentalbedingungen schon solche, "(...) ohne die ein Bewußtseinszusammen229 hang nicht gedacht werden kann." Usurpiert derart die metaphysische Deduktion das quid iuris, so berührt dies zugleich notwendig das Verständnis der transzendentalen Deduktion. 223 Adorno (13), S. 225 224 Zur Charakterisierung von Hans Cornelius, der auch Max Horkheimers akademischer Lehrer gewesen ist, vgl. Gumniar/Ringguth (82), S. 22; Jay (132), S. 67 f 225 Adorno (9), S. 87 226 Adorno (9), S. 177 227 Dilthey (45), S. 26 228 Kant (147), B 125 (Hervorhebung B.) 229 Adorno (9), S. 177 (Hervorhebung B . ) . Vgl. auch (9), S. 137
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b) Die transzendentale Deduktion der Kategorien, das Herzstück der theoretischen Philosophie Kants, geht auf die quaestio iuris, den objektiven Gültigkeitsbeweis der reinen Verstandesbegriffe. In der zweiten Auflage der 'Kritik der reinen Vernunft 1 , die aufgrund ihrer größeren Klarheit und Deutlichkeit hier ausschließlich herangezogen werden soll, nimmt der Beweis - soweit er für das vorliegende Problem von Bedeutung ist - folgenden Gang : 230 Unsere Deutung der Struktur der transzendentalen Deduktion sei negativ durch Absetzung von drei miteinander konkurrierenden Interpretationen kurz begründet: 1. Benno Erdmann deutet die transzendentale Deduktion (B) mittels der Unterscheidung zwiier Beweisketten, die voneinander unabhängig seien und entgegengesetzte Ausgangspunkte hätten [vgl. Erdtnann ( 5 7 ) , S. 230 f ] : Der erste Beweisgang (§§ 15 - 21) gehe von oben vor (Ausgang von der Synthesis als einer ursprünglich einheitlichen Verstandeshandlung), der zweite (§ 26) von unten (Ausgang der empirischen Mannigfaltigkeit). Dies ist problematisch: Erdmanns Interpretation des § 26 beruht darauf, daß Raum und Zeit neben ihrem Charakter als Anschauungeformen selbst als formale Anschauungen bestimmt werden können, also Einheit enthalten, weil Einheit für Vorstellungen konstitutiv ist. Das empirische Mannigfaltige soll, vermittels seiner Gemäßheit den Anschauungsformen Raum und Zeit, dieser Einheit entsprechen müssen, folglich unter den Kategorien stehen. Dies supponiert jedoch eine von Erdmann nicht dargelegte Prämisse: Raum und Zeit müssen jederzeit und apriorisch Einheit implizieren. Diese Notwendigkeit kann aber lediglich durch den Rekurs auf die § § 1 5 - 2 0 begründet werden, in denen Kant beweist, daß Anschauungsmannigfaltiges, um für mich zu sein, notwendig mittels der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption der kategorialen Vereinheitlichung bedarf. Die transzendentale Deduktion kann also nicht aus zwei isolierten Beweisgängen aufgebaut sein. 2. Im Gegensatz zu Erdmann sieht Dieter Henrieh einen Beweisgang in zwei Schritten. Der erste Schritt (bis zum § 20) beweise eine lediglich eingeschränkte Gültigkeit der Kategorien, nämlich nur hinsichtlich der Anschauungen, die " ( . . . ) bereits Einheit enthalten." [Henrieh (111), S. 93] Der zweite Beweisschritt (§ 26) zeige, daß alle Anschauungen Einheit besitzen, woraus unter Zuhilfenahme des ersten Beweisschrittes die universale Gültigkeit der Kategorien folge. Die Prämisse dieser Deutung ist die Möglichkeit verstandesunabhängiger Gegenstandsvorstellungen, von der Kant (147 , B 122 f)spricht. Damit muß die mögliche Inadäquanz von Verstand und Gegebenem in Rechnung gestellt werden. Nur: Die Adäguanz von Verstand und Gegebenem wird weder in § 26 bewiesen, noch kann sie eigentlich bewiesen werden, sondern sie ist eine nicht einholbare Voraussetzung [vgl. Baumanns ( 2 4 ) , S. 64]. Und genau dem entspricht das ebenfalls vorausgegesetzte Prinzip der Mannigfaltigkeit. Was vielmehr in § 26 geleistet wird, ist die Anwendung der Kategorien auf unsere Sinnlichkeit und ihre Anschauungsformen Raum und Zeit. Dahingegen bezieht sich der § 20 zufolge seiner Überschrift auf "ALLE SINNLICHEN ANSCHAUUNGEN". 3. Dieser Unterschied zwischen den §§ 20 und 26 wird von Paton gesehen [vgl. Paton (213), Bd. I, S. 501; (214), S. 63] und dient ihm zur Unterteilung in eine objektive und subjektive Deduktion. Mit dieser Interpretation verbinden sich jedoch andere, weniger einsichtige Momente: Die objektive Seite der transzendentalen Deduktion soll vollständig auf der metaphysischen Deduktion beruhen, d.h. auf ihrer Identifizierung von Ur-
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Der § 15 problematisiert die Verbindung (qua Verbundenheit) des Mannigfaltigen und stellt fest, daß eine spontane Verstandesleistung, die Synthesis, erforderlich ist: "Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Manpol nigfaltigen." Der Paragraph schließt mit der Frage nach der qualitativen Einheit des Verstandes und seiner Synthesis, die im § 16 mittels des Prinzips der "ursprüngliche(n), synthetische(n) Einheit der Apperzeption"232 beantwortet wird. Dieser zentrale Paragraph beginnt mit dem Faktum der Apperzeption, dessen regressive Möglichkeitsbedingungen Kant in der Folge aufsucht. Das Vorgehen kann man als apperzeptionsanalytisch charakterisieren. Ausgangspunkt ist das Selbstbewußtsein des "ich denke", das "(;..) alle meine Vorstellungen begleiten können" 233 muß, ein Prinzip, das rein (Aktus der Spontaneität) und ursprünglich (Nicht-Weiter-Deduzierbarkeit) ist. Dieses "ich denke" ist auch nacht zeitlichen Wesens, weil in ihm "(...) die Vorstellung der Zeit ursprünglich ihren Grund hat" 234 : Es ist ceitungsursprung. Aus dem Faktum der ursprünglichen Apperzeption versucht Kant im § 16 mittels einer regressiven Analyse Einheit (konstitutive Durchgängigkeit des "ich denke" durch alle Vorstellungskomplexe) und Synthesis (abstrakte Kategorialität als bisher inhaltlich noch nicht konkretisiertes Prinzip der Weisen der Vermeinigung des Gegebenen) als Bedingungsmomente zu deduzieren. Die Analyse flihrt auf die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption als dem "(...) höchste(n) Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach 235 ihr, die Transzendentalphilosophie heften muß" . Der § 17 formuliert das Ergebnis in Form eines obersten Grundsatzes und deduziert zusammen mit § 18 als weiteres Apperzeptionsimplikat ihre Objektivität. Der § 19 nimmt auf den Urteilscharakter der apperzeptiven Synthesis Bezug 236 , um mittels dieses Zwi-
231 232 233 234 235 236
teil und Synthesis [vgl. Paton (214), S. 59l. Demzufolge analysiere der § 15 nicht diö "Möglichkeit einer Verbindung überhaupt" [Kant (147), B 129], sondern lediglich das Urteil [vgl. Paton (213), Bd. I, S. 204], In Wahrheit jedoch wird das Urteil erst im § 19 thematisch, so daß der erste Teil der transzendentalen Deduktion (bis zum § 18) nicht auf der metaphysischen Deduktion aufbaut. Dar § 16 zeigt vielmehr einen gedanklichen Neubeginn: das auf seine regressive KondifcionalitSt hin zu analysierende Faktum der Apperzeption. Der Urteilscharakter der Synthesis soll idealtypisch erst im § 19 aufgezeigt werden. Dadurch würde die Leitfadenproblematik, d.h. die in der metaphysischen Deduktion bloß behauptete Identität von Urteil und Synthesis, begründet. Kant (147), B 130 f Kant (147), B 135 Kant (147), B 131 f Kant (147), B 422 Kant (147), B 134 Anm. Nach Benrich muß die 'Kritik der reinen Vernunft' das Urteil "(...) als Grundfaktum neben dem des Regelbewußtseins anerkennen*, um nicht nur die
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schengliedes im § 20 die bisher abstrakt gebliebene Kategorialität durch Rekurs auf die in der metaphysischen Deduktion aufgewiesenen einzelnen Katego237 rien inhaltlich zu bestimmen. Das Verhältnis der transzendentalen Deduktion zur metaphysischen ist also derart, daß jene die objektive Gültigkeit der Kategorien beweist (indem sie die Kategorialität als notwendige Bedingung des Faktums der Apperzeption deduziert), diese durch Einsetzung der aufgewiesenen Kategorien in den Argumentationsgang der transzendentalen Deduktion das bloß abstrakt abgeleitete Prinzip der Kategorialität inhaltlich konkretisiert. Umgekehrt begründet die transzendentale Deduktion auf diese Weise die metaphysische Deduktion. Problematisch ist nun Adornos These, die transzendentale Deduktion sei psyOOQ chologischer Natur , weil derart die geltungstheoretische Fragestellung Kants verdeckt wird. Die Psycho!ogisierung der Apperzeption bedingt ihre irrtümliche Verzeitlichung: Die Einheit des "ich denke" sei temporal zu VerStep'JO hen. In doppelter Hinsicht fragwürdig ist die These, nur so gelinge es Kant, " ( . . . ) die einzelnen kategorialen Formen zu deduzieren" : Weder ist der Zusammenhang zwischen der Ableitung einzelner Kategorien und der Notwendigkeit einer zeitlich gedeuteten Apperzeption evident, noch leitet Kant überhaupt einzelne Kategorien in der transzendentalen Deduktion ab. Er beweist nur das Prinzip der Kategorialität als notwendiges Implikat der Apperzeption. Die Tatsache, daß Kant keine einzelnen Kategorien aus dem "ich denke" deduziert, ist gerade von Fichte und seinen Nachfolgern moniert und als "halbe(r) Kriticismus beanstandet worden. Adornos Mißverständnis, auch die transzendentale Deduktion sei auf einzelne Kategorien bezogen, wird einzig dadurch plausibel, daß er nicht hinreichend die jeweilige Funktion der metaphysischen und transzendentalen Deduktion im System der Kantischen Erkenntnistheorie bestimmt, er die beiden Deduktionen parallelisiert, nicht aber integriert. Diese Parallelisierung ist wiederum auf die fehlende Differenzierung zwischen der quaestio facti und der quae-
237 238 239 240 241
Bedingungen eines Regelsystems, sondern um Regeln selbst angeben zu können, " ( . . . ) die den Zusammenhang unserer Synthesis wirklich bestimmen" [Henrich (113), S. 105]. Zu einer möglichen Deduktion des Urteils vgl. Baumanns ( 2 4 ) , S. 45 ff. Vgl. Kant (147), B 143 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 224 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 330. Anders jedoch in ( 5 ) , S. 754, wo Adorno die Atemporalität der Apperzeption herausstellt und diese - aufgrund seiner psychologischen Perspektive - als unmöglich kritisiert. Adorno (13), S. 224. Vgl. ( 9 ) , S. 99 Fichte ( 6 5 ) , S. 203
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stio iuris zurückzuführen. Verleitet durch diese Funktionsparallelisierung sieht Adorno einen "Widerspruch" zwischen beiden Deduktionen: "Daß es sich hier in der Tat um einen Widerspruch handelt, daß ich nicht auf der einen Seite sagen kann, (...) daß diese Formen aus einem obersten Prinzip zu deduzieren sind, aber auf der anderen Seite,daß ich sie beschreibe als etwas, was einfach da, was durch die nicht weiter abzuleitenden logischen Formen mir gegeben ist." 242 Kants Unterscheidung zwischen dem quid facti und dem quid iuris hätte diesen "Widerspruch" gelbst. Fragwürdig ist auch die abschließende Wendung, die Adorno diesem Gedanken zu geben versucht: Der (konstruierte) "Widerspruch" sei Folge der Rücksicht auf das "Moment der Nichtidentität": Fehlende Konsistenz - Adorno nennt sie "Brüche" - als Ausdruck des Nichtidentischen. 2. Die fehlende Unterscheidung zwischen der quaestio facti und der quaestio iuris und die dadurch bedingte unzulängliche Bestimmung der metaphysischen und transzendentalen Deduktion in ihrer Differenz weist zurück auf Adornos "vorkritische" Phase, in der er noch "vorbehaltlos" die "Version des transzendentalen Idealismus" seines Lehrers Hans Cornelius vertreten hat. Diese Phase ist besonders durch seine Dissertation über 'Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Pha'nomenologie 1 (1924) und die erste (auf Anraten seines Lehrers jedoch zurückgezogene ) Habilitationsschrift 'Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre 1 (1927) repräsentiert. Auch wenn diese beiden Schriften vom Herausgeber R. Tiedemann nicht zu "Adornos authentischem Werk" gerechnet werden und dieser Ende der Zwanziger Jahre die Wende zu Benjamin, Hegel und Marx vollzogen hat, geben sie doch Aufschluß Über Adornos Verständnis von Transzendentalphilosophie, das für die spätere Zeit - abgesehen vom Bewertungswandel - bestimmend geblieben ist. In seiner ersten Habilitationsschrift parallelisiert Adorno nicht nur die metaphysische und transzendentale Deduktion, sondern lehnt unter dem deutlichen E i n f l u ß Husserls und der Phänomenologie den Gedanken einer Deduktion der Kategorien ab. Der Begriff der Deduktion wird zwar nicht näher erläutert oder gar differenziert, jedoch ist zu vermuten, daß Adorno darunter vornehm242 243 244 245 246
Adorno (13), S. 226 Adorno (13), S. 227. Vgl. (14), S. 259 Adorno ( 9 ) , S. 382. Vgl. ( 9 ) , S. 11, 81, 148 Vgl. Pettazzi (217), S. 32 Adorno ( 9 ) , S. 381
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lieh die transzendentale Deduktion versteht. Die von Ihm zu dieser Zelt noch vertretene "Transzendentalphilosophie" bestimmt er als "(...) Analyse des Bewußtseinszusammenhangs, aus der sich ihr die letzten und unableitbaren Bedingungen einer jeden Erfahrung - die 'transzendentalen Faktoren 1 - ergeben." 247 Es gelte: "Die Grundbegriffe, in die eine Analyse des Bewußtsei nszusammenhanges jene Einheit (des Bewußtseins, B.) auflöst, sind als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung nicht, wie Kant annahm, zu 'deduzieren', sondern Einheit ist nichts anderes als der Inbegriff jener Gesetzmäßigkeiten. Alle jene Begriffe verifizieren sich in gleicher, nicht reduzibler Weise: durch den Re?4fi kurs auf die unmittelbare Gegebenheit." Statt einer Deduktion der sogenannten "transzendentalen Faktoren", der "elementare(n) Formen unseres Bewußtseinszusammenhanges, auf die sich alle anderen Formen zurückführen lassen"249, schlägt Adorno vor, "ihre reale Gültigkeit auf zuweisen"250, d . h . um mit Kant zu sprechen: lediglich die quaestio facti zu beantworten. Dieser Reduktion des Gültigkeitsbeweises auf den Faktizitätsaufweis, den Adorno zum "«echtsaufweis"251 aufwertet, entspricht sowohl die Bestimmung der 252 "Transzendentalphilosophie" als "empirische Bewußtseinsanalyse" (- die 253 "Empirie" sei "prinzipiell unüberschreitbar" -) als auch. die Umdeutung des Begriffs der Apriorität: Begründen nach Kant synthetische Urteile a priori die Erfahrung, so sind sie nach Adorno "in Erfahrung gegründet" , wobei ihre Apriorizität die "Gültigkeit von Erkenntnissen für a l l e zukünftige Er255 fahrung" bezeichne. Indessen wirft dies das Problem auf, wie die transzendentalen Bedingungen, OCC die "allesamt einer Analyse des empirischen Bewußtseinsverlaufs entstammen" und durch "empirische Forschung" herausgearbeitet werden sollen, dennoch 9CQ "für alle zukünftige Erfahrung gültig"" sein können. An dieser Schwierigkeit muß Adorno notwendig scheitern: Seines Erachtens "gelangen" wir von den bloß empirischen Urteilen "(...) weiter zu objektiv gültigen Aussagen (...), Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno Adorno 258 Adorno
247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257
(9), (9), (9), (9), (9), (9), (9), (9), (9), (9), (9), (9) ,
S. 87 S. 155 S. 152 S. 255 s. 87 s. 307 s. 172
s. 179 (Hervorhebung B.) s. 274 s. 153 s. 138 S. 174
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wenn wir die empirisch gewonnenen Merkmale eines Gegenstandes zu einer Definition zusammenfassen, die dann für alle Gegenstände gilt, die die unter der pro Definition namentlich befaßten Merkmale enthalten." Derart würden die empirischen Urteile "(...) für alle zukünftige Erfahrung gültig (...), weil, bei festgehaltenen Bedeutungen, nur die Tatbestände mit dem definierten Namen benannt werden, die sämtliche in der Definition aufgeführten Merkmale enthalten." 260 Die Argumentation verwechselt Realitätsaussagen mit Definitionen. Diese gelten in der Tat für alle Erfahrung, aber nicht deshalb, weil das Definierte in jeder Erfahrung vorkommt - wie es sein müßte, soll es eine transzendentale Bedingung sein -, sondern weil sie durch Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden und damit auch leer sein können. Der bezeichneten Aporie verfällt eine solche Theorie notwendig, die einerseits den transzendentalphilosophischen Anspruch erhebt, "Grundbedingungen 261 aller möglichen Erkenntnis" zu formulieren, andererseits sich aber als ?fi? empirisch verfahrende "Phänomenologie" versteht: Die Wahrheit von Urteilen gründe "(...) letztlich in den Phänomenen und muß sich auf sie zurückführen lassen." 263 Diese Konfusion von genuiner Transzendentalphilosophie und Phänomenologie, die geistesgeschichtlich auf Husserl zurückverweist, der für seine Phänomenologie das epitheton ornans "transzendental" reklamiert und sie als "transact zendentalen Idealismus" bezeichnet, manifestiert sich in der Unvereinbarkeit von Aussagen wie folgender: Einerseits soll gelten: "Der Zusammenhang des Gegebenen konstituiert sich durch die Einheit des persönlichen Bewußt* seins." Andererseits wird die "Aufgabe" der "Phänomenologie" bestimmt als ?ftfl
259 260 261 262 263 264 265
Adorno ( 9 ) , S. 179 Adorno (9), S. 280 Adorno (9), S. 88 (Hervorhebung B.) Adorno ( 9 ) , S. 311 Adorno ( 9 ) , S. 56 Vgl. Husserl (126), S. 181 Huseerl (126), S. 33, 118. Vgl. zum Husserlschen Verständnis von "transzendental": Hueserl (128), S. 100 £ und Fink (68), S. 376 f. Vgl. zur Problematik der Hueserlschen Phänomenologie als transzendental: Baumanns, (21), S. 229 ff. Im Unterschied zu Baumanns differenzieren wir hier nicht zwischen verschiedenen Arten der Phänomenologie und lassen daher auch einen möglicherweise phänomenologisehen Aspekt der Transzendentalphilosophie unberücksichtigt, über die Beziehung zwiechen Husserl und Kant referiert die Arbeit von Iso Kern (159) ausführlich. Vgl. zu diesem Problem auch Ehrlich (55), S. 113 - 165. 266 Adorno ( 9 ) , S. 65
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267 "Deskription der Gesetze des Zusammenhanges unserer Erfahrung" . Eine de· skriptive Phänomenologie indessen kann an das transzendentalphilosophische jconstitutionsthema grundsätzlich nicht heranreichen.
Die unterschiedliche Radikalität der Problemstellung wird sprachlich bei Adorno dadurch verdeckt, daß er den empirisch aufgewiesenen sogenannten pßo "transzendentalen Faktoren" eine "konstitutive Bedeutung" für den Bewußtsei nszusammenhang zuspricht.Abgesehen davon, daß Adorno-anders als Kant kein objektives Prinzip des Rechtsausweises nennt, sondern lediglich an die subjektive Vorstellungsfä'higkeit appelliert,liegt die von ihm übersehene Differenz zur transzendental philosophischen Theorie Kants darin, daß zufolge dieser die Kategorien nicht nur "konstitutive", sondern "konstituierende" Bedeutung besitzen. Die Kategorien sind nicht nur "Bewußtseinstatsachen" 269 oder "elementare Formen unseres Bewußtseinszusammenhanges" 270 , sondern wesentlich seine Produktionsbedingungen. 271 Dem Unterschied von konstitutiv und konstituierend entspricht dabei genau die Modifikation des strengen Aprioritätsbe979 griffes, die auch durch Husserls Phänomenologie eingeleitet worden ist. Mit diesem Rückgriff auf den frühen Adorno ist ein Doppeltes erreicht: a) In Biographischer Hinsicht konnte Adornos problematisches Verständnis dessen, was Transzendentalphilosophie meint, bis in seine philosophischen, phä'noroenologisch bestimmten Anfänge zurückverfolgt werden. Entscheidend ist dabei, daß er den grundlegenden Unterschied zwischen einer "transzendentalen Phänomenologie" einerseits und der kritizistischen.im strengen Sinne konstitutionstheoretisch ausgerichteten Transzendentalphilosophie andererseits,den Unterschied zwischen Husserl und Kant nicht erfaßt,diesen aus der Perspektive der Phänomenologie reduktionistisch interpretiert. 267 268 269 270 271
Adorno ( 9 ) , S. 36 Adorno ( 9 ) , S. 137 Adorno ( 9 ) , S. 130 Adorno ( 9 ) , S. 158 Im Unterschied zu Adorno reduziert Hueserl zwar dag Konstituierende nicht auf das Konstitutive,aber auch für ihn ist in Abechwächung des Konstitutionsgedankens die Weltkonstitution im Gegensatz zu Kant und Fichte "nicht das eigene Werk der transzendentalen Subjektivität" [Kern (159), S. 298], so daß er über die "Frage nach dem 'Grunde'" auf die "Existenz eines außerweltlichen 'göttlichen' Seins" [Husserl (129), S. 139; vgl. (129), S. 121 £] folgert. 272 Ist das Apriori für Kant erfahrungsunabhängig und wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) formal, so für Husserl ein durch Ideation zu erfassendes "materiales Apriori", das seinen "Ursprung letztlich in der Erfahrung" [Kern (159), S. 57 f; vgl. dazu Husserl ( 1 2 7 ) , S. 51 f] hat. Vgl. auch Busserls "Idee eines universalen rein lebensweltlichen Apriori" [Husserl (128), S. 143 f ] .
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Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
b) Bedeutender aber ist der systematische Aspekt dieser Beziehung, da sich nun der Zusammenhang zwischen Ontologie und Phänomene!ogie erhellt: Das Mißverständnis des Kantischen Objektivitätsbegriffes, der Theorie des Dinges an sich und seiner Affektion, die Dualismuskritik mit ihrer Argumentation von der konkreten Anschauungsebene her, ihrem Rekurs auf die Gestaltpsychologie und die Tatsächlichkeit des Empirisch-Bedingten, die Deutung der Kategorien als Seinsbestand, die Reduktion der Verstandesleistung auf die analytische Identifikation und der quaestio iuris auf die quaestio facti und anderes fügen sich zu einer konsequenten und grundlegenden Fehldeutung der radikal transzendentalphilosophischen Reflexion zusammen. Dieses Mißverständnis läßt sich vom gegenstandstheoretischen Aspekt her als ontologistisch, vom methodi?73 sehen her als phänomenoiogisch (im weitesten Sinne) charakterisieren. Der ontologischen Frage nach dem, was ist, entspricht die Haltung der Phänomenologie, die (ungeachtet möglicher methodischer Reduktionen) das beschreibt, was ist. Man könnte einwenden wollen, Adorno sei doch gerade derjenige, der sich gegen jede Ontologie ausspreche. Dies ist zwar richtig, jedoch muß gefragt werden, was Adorno an der Ontologie kritisiert: Dies ist nicht der Blick auf das Seiende, sondern die Festsetzung eines vom Seienden unabhängigen Seins, die Annahme eines "ontologischen Vorrang(s) des Seins schlechthin, vor allem Ontischen, Realen" . Demgegenüber gelte: "Kein Sein ohne Seiendes." Es sei "die Not der Ontologie, ohne das ihr Entgegengesetzte, ohne Ontisches nicht auszukommen" ?7ß . Näher wendet sich Adorno gegen die Annahme eines ersten ?77 Seins: "Dialektische Kritik gebührt dem Begriff des ersten Seins selber." Sie zielt also nicht - so ist zu ergänzen - auf den Begriff des Seienden. Auch will Adorno in Wendung gegen Husserl " ( . . . ) das höchste Abstraktionsniveau, das erreicht worden ist in der Logik" nicht "einfach ontologisch" interpretieren als "Sein an sich" 278 . Im Gegensatz dazu aber problematisiert der Kritizismus nicht nur den Begriff eines solchen "Seins an sich", sondern auch den des Ontischen, vor dem Adornos Analyse haltmacht. 273 Auch wenn Adornos Methode als im weiteren Sinne phänomenoiogisch bestimmt werden kann, darf sie nicht mit der phanomenologischen Methode Busserls verwechselt werden. Vgl. dazu Adornos Kritik, dieser Methode: Düver ( 5 2 ) , S. 94 ff. 274 Adorno ( 7 ) , S. 74 275 Adorno ( 7 ) , S. 139 276 Adorno ( 7 ) , S. 122 277 Adorno ( 7 ) , S. 127 278 Adorno (13), S. 51 279 Adorno betont zwar in seiner ersten Habilitationsschrift: "Unsere Methode
Die Lehre von der Apprehension
3.4.4
115
Die Kantischen Vermittlungsversuche nach Adorno
Nachdem nun die drei von Adorno herausgestellten Dualismen und seine Kritik ihrer beiden Seiten (Transzendentale Ästhetik und Analytik der Begriffe) besprochen worden sind, sollen im folgenden die von ihm aufgezeigten Vermittlungsversuche Kants dargelegt werden: die Lehren von der Apprehension und 280 vom Schematismus. Als ein "noch nicht zu sich selbst gekommener Hegel" habe Kant zwar die starre Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt im Ansatz aufgelöst, dennoch aber die Vermittlung nicht weit genug getrieben. In der Apprehensionstheorie versuche er die Anschauung durch das Denken, im Schema281 tismus das Denken durch die Anschauung zu vermitteln. 3.4.4.1 Die Lehre von der Apprehension In der Lehre von der Apprehension werte Kant die "Entdeckung" aus, "(...) daß bereits die Anschauungen in der Gestalt, in der sie uns unmittelbar gegeben sind, nicht bloß bestimmt sind durch Raum und Zeit, sondern daß sie verbunden sind, daß sie in sich ein Moment der Identität und Einheitlichkeit eben 2fi? haben" . Damit sei "(...) nichts anderes gemeint, als daß bereits, wenn wir etwas bloß anschaulich, als vermeintlich bloß passiv, bloß im Sinne unserer Rezeptivität gegeben haben, daß da eigentlich schon so etwas wie Tätigkeit ( . . . ) drinsteckt." Zufolge seiner phänomenoiogisehen Redlichkeit übertrage Kant auf die Anschauungsform eine "intellektive Funktion", weil er anders die Strukturiertheit "im Bereich des unmittelbar Gegebenen" nicht deuten könne. Auf diese Weise komme es " ( . . . ) zu der Konstruktion, daß wir ge284 wissermaßen dort schon denken, wo wir eigentlich noch gar nicht denken"
280 281 282 283 284
ist transzendental, nicht ontologisch; Wir haben es mit den konstitutiven (also nicht mit den konstituierenden, B . ) Elementen des Bewußtseins, nicht mit bewußtseinsunabhängigen Seinsweisen und deren spekulativer Bestimmung zu tun." [Adorno ( 9 ) , S. 177] Aber dabei reduziert er Ontologizität auf Bewußteeinsunabhängigkeit, ohne in Rechnung zu stellen, daß eine Theorie des Bewußtseins nicht eo ipso transzendental, sondern sehr wohl auch ontologisch sein kann. Adorno (13), S. 155 Vgl. Adorno ( 1 3 ) , S. 315 Adorno ( 1 3 ) , S. 313. Vgl. zur Apprehensionslehre auch Adorno ( 1 4 ) , S. 159; (11) , S. 142 f. Adorno (13), S. 313 Adorno (13), S. 314
116
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Diese Interpretation birgt mehrere Schwierigkeiten in sich: 1. Der aufgezeigte Grund der Apprehensionslehre - eine phänomenologische Einsicht Kants in die Strukturiertheit des unmittelbar Gegebenen - ist zwar von Adornos Mißverständnis des transzendentalen Gedankens her konsequent und bestätigt die obigen Ausführungen. Indessen argumentiert Kant nicht phänomenologisch, sondern transzendental philosophisch: "Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vorgestellt werden würde, wenn das Gemüt nicht die Zeit, in der Folge der Eindrücke auf einander unterschiede: denn, als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes, als absolute Einheit sein. Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung werde ( . . « ) » so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltigkeit und dann die Zusammennehmung desselben 285 notwendig, welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne" Nicht eine pha'nomenologische Beobachtung führt auf die Notwendigkeit der Apprehensionslehre, sondern die transzendentalphilosophische Konstellation einer qualitätslosen Mannigfaltigkeit einerseits und der unendlichen Sukzessivität unserer Rezeptivität andererseits: Diese beiden Theoreme erfordern die Synthesis der Apprehension, damit so etwas wie eine Anschauungseinheit Zustandekommen kann. Da sich eine phänomenologische Einsicht Kants am Text nicht belegen lä'ßt, ist auch Adornos These fragwürdig, "(...) daß Kant die Entdeckung macht, daß bereits die Anschauungen in der Gestalt, in der sie uns unmittelbar gegeben sind", ein Einheitsmoment besitzen. Das unmittelbar Gegebene 1st einheitslos, und gerade deshalb muß es in der Synthesis der Apprehension durchlaufen und zusammengefaßt werden - so das textlich Verifizierbare und transzendental philosophisch Evidente. Das unmittelbar Gegebene besitzt Einheit, darf aber keine Einheit besitzen, folglich muß ich die Synthesis der Apprehension konstruieren - so Adornos weder textlich verifizierbare noch transzendentalphilosophisch einsichtige Deutung. Der Irrtum Adornos ist abermals durch seine Befangenheit im ontologischrealistischen Denkmodell verursacht: Geht Adorno davon aus, daß uns etwas gegeben wird, so w i l l Kant das Etwas (Objektsein) allererst erkia'ren. Dem vorkritischen Realismus Adornos entspricht der Rekurs auf die Phänomene!ogie, die transzendentalphilosophische Fragestellung Kants jedoch transzen-
285 Kant (147), A 99
Die Lehre von der Apprehension
117
diert die realistische Phänomene!ogle. Adornos Deutung der Apprehenslonslehre setzt voraus, daß Kant sich über sein eigentliches Programm, den naturlichen Realitätsglauben zu erklären, nicht im klaren war: Nur so ist die These einsichtig, Kant sei durch die realistisch-phänomenologische Wahrnehmung des faktisch Hingenommenen genötigt gewesen, die Lehre von der Apprehension ein286 zuführen. 2. Schlicht falsch ist Adornos These, mit der Apprehension in der Anschauung sei nichts "anderes gemeint, als daß bereits" im passiv Gegebenen "(...) pay
so etwas wie Tätigkeit (...) drinsteckt." Kant zufolge ist es die Spontaneität der (produktiven) Einbildungskraft, die in der Synthesis der Apprehension "(...) Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung hineinbringt" und die nicht schon "drinsteckt".
288
3. Falsch ist auch die Behauptung, Kant übertrage "auf die Formen der An289 schauung eine intellektive Funktion" . Vielmehr muß die Synthesis der Apprehension diesen Formen gemäß sein: "Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung je290 derzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann." Die "intellektive Funktion", die Adorno der Anschauungsform zuspricht, rech291 net Kant vielmehr der Einbildungskraft zu. Damit wird zwangsläufig die Funktion der Apprehensionslehre problematisch: 292 Sie vermittle die Anschauung "durch das Denken" . Dieser (dialektische ?) Vermittlungsbegriff qua Vermittlung von etwas durch etwas, oder - wie es bei OQO Adorno vorwiegend heißt - Vermittlung "durch die Extreme hindurch" ist unangemessen: Die Apprehensionslehre vermittelt zwar Anschauung und Denken, nicht aber in der Weise, daß die Anschauung durch das Denken vermittelt wird 286 Kant sah die Position des transzendentalen Realismus "nur im Bereich des natürlichen Bewußtseins als berechtigt an; wir nehmen ihn als Angehörige der Lebenswelt/ in der wir existieren, handeln/ denken, auch Wissenschaft treiben, selbstverständlich ein. Von diesem Standpunkt aus 'glauben' wir fraglos an die Realität der Außenwelt und ihre Dinge. Der Philosoph nimmt aber den Standpunkt des 'transzendentalen Idealismus' in Anspruch, wenn er es als seine Aufgabe ansieht, den Realitätsglauben überhaupt erst zu rechtfertigen" [Gerhardt/Kaulbach ( 7 7 ) , S. 3.8], 287 Adorno ( 1 3 ) , S. 313 288 Kant (147), B 163 Anm. 289 Adorno ( 1 3 ) , S. 314 290 Kant (147) , B 160 291 Vgl. Kant (147), B 163 Anm. 292 Adorno (13) , S. 315 293 Vgl. z.B. Adorno ( 1 1 ) , S. 38
118
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
(im passiv Gegebenen Tätigkeit ist), sondern jene wird mit diesem vermittelt. Die Lehre von der Apprehension hat die Funktion, den Übergang von der Anschauung zum Denken, Einheit in der Differenz zu ermöglichen, nicht aber die Differenz zu negieren, wie es von Adorno dargestellt wird: Die Rezeptivita't ist auf Spontaneität, die Anschauung auf Denken bezogen, diese(s) "steckt" aber nicht in jener "drin". 3.4.4.2 Die Lehre vom Schematismus Problematisch ist auch die Anwendung des Adornoschen Vermittlungsbegriffs auf den Schematismus, der "das Denken selber in sich, seinem eigenen Sinngehalt nach" durch Anschauung vermittle. Kant mache im Schematismuskapitel "(...) den abgründig tiefen Versuch, gewissermaßen nun in die Struktur des oge Denkens selber als dessen eigene Bedingung die Zeit hereinzubringen." Er hebe darauf ab, daß die Zeit "(...) eigentlich die Bedingung von Denken überhaupt sei" 296 1. Kant geht es in dieser "Doktrin" d a r u m , " ( . . . ) die Möglichkeit zu zeigen, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden 007 können". Insofern w i l l er in der Tat die reinen Verstandesbegriffe und die sinnlichen Anschauungen miteinander vermitteln. Entscheidend aber ist, wie er Vermittlung versteht: "Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht." 298 Vermittlung etwas mittels interpretiert Dieser Irrtum gel in seinen
294 295 296 297 298
bedeutet in diesem Zusammenhang also Vermittlung von etwas mit eines Dritten (transzendentales Schema) und nicht - wie Adorno - Vermittlung von etwas (Denken) durch etwas (Anschauung). des Dialektikers Adorno ist um so auffälliger, als gerade He'Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1 kritisch
Adorno (13), S. 315. Genau entgegengesetzt in (14), S. 152. Adorno (13), S. 315 Adorno (13), S. 314 Kant (147), B 177 Kant (147) , 177
Die Lehre vom Schematismus
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feststellt, daß In Kants Schematismuslehre Denken und Sinnlichkeit nur auf sogenannte "(...) äußerliche, oberflächliche Meise verbunden werden, wie ein 299 Holz und ein Bein durch einen Strick." 2. Adornos Mißverständnis ist nicht ohne Folgen: Indem er das Dreierverhältnis (Anschauung, transzendentales Schema, Kategorie) auf eine Zweierrelation reduziert (Anschauung = Zeit» Kategorie) verliert er notwendig die Problemstellung Kants aus dem Blickwinkel, die der Anwendung der Kategorie auf die Anschauung, weil er nur noch die Beziehung Zeit - Kategorie betrachtet. Auf diese Weise blendet er das Moment der Anschauung aus, so daß er die Frage der Kategorienanwendung auf dieselbe nicht mehr stellen kann. Dadurch wird aber zugleich die wichtige Unterscheidung zwischen Denken und Erkennen h i n f ä l l i g , weil dieses den Anschauungsbezug voraussetzt. Dadurch kommt Adorno nun zu dem Irrtum, im Schematismuskapitel gehe es um die Möglichkeit des Denkens und nicht um die des Erkennens. Die Zeit wird nicht als Bedingung des Denkens eruiert, wie Adorno vermutet, sondern als Bedingung des Erkennens, der Anwendung der kategorialen Denkfunktionen auf die Anschauung. Die "Schemata der Sinnlichkeit" realisieren zwar die Kategorien, aber sie sind nicht innere Bedingungen ihrer Möglichkeit: "In der Tat bleibt den reinen Verstandesbegriffen allerdings, auch nach Absonderung aller sinnlichen Bedingungen, eine, aber nur logische Bedeutung der bloßen Einheit der Vorstellungen, denen aber kein Gegenstand, mithin auch keine Bedeutung gegeben wird, die einen Begriff vom Objekt abgeben könnte." 302 Weder also geht es um die Möglichkeit des Denkens, sondern um die seiner Anwendung, noch ist die Vermittlung des Denkens durch Anschauung thematisiert, sondern die des Denkens mit der Anschauung. Das Ergebnis hat weiterreichende Folgen: Wenn Adorno sowohl die Apprehensions- als auch die SchematIsmusl ehre mißversteht, weil in ihnen gar nicht die Vermittlung der Anschauung durch das Denken bzw. des Denkens durch die Anschauung thematisch ist, dann verbietet es sich, die Epistemologie Kants auf das Modell einer in Adornos Sinne "dialektisch konzipierten Erkenntnis-
299 Hegel (100), Bd. III, S. 348 300 Vgl. Kant (147), B 146 301 Kant ( 1 4 7 ) , B 185
302 Kant (147), B 186. Vgl. auch (147), B 166 Anm.
120
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants 303
theorie hin zu entwerfen. So scheitert sein Versuch, sich zugunsten seiner eigenen Auffassung von Denken und Anschauung, Spontaneität und Rezeptivität auf Kant zu berufen: Die " ( . . . ) unvermittelte Antithese von Rezeptivität und Spontaneität, von Sinnlichkeit und Verstand ist im Gefolge der Kantischen Analyse eigentlich selber bereits aufgehoben, und Kant hat damit, wenn ich das ohne allzugroße Unbescheidenheit sagen darf, gleichsam den spekulativen Erwägungen ein gewisses Plazet erteilt, die ich nun angestellt \ habe" . Dieses "Plazet" dürfte Kant mit Sicherheit verweigert haben.
303 Adorno (13), S. 313 304 Adorno (13) , S. 315 f
3.5
Die Transzendentale Dialektik
Nachdem im vorigen Adornos Kritik der Kantischen Fragestellung, des Dinges an sich und seiner Affektion, der Dualismen und der Vermittlungen behandelt worden ist, sei zum Abschluß noch kurz seine Deutung der Transzendentalen Dialektik betrachtet. Auch hier sieht er die Vorstufe einer (in seinem Sinne) dialektisch konzipierten Erkenntnistheorie entworfen. Die Philosophie Kants sei "ein noch nicht auf der Stufe seines Selbstbewußtseins erhobener Standpunkt der• Dialektik" Dial . Entsprechend sei Hegel "der zu sich selbst ,„306 gekommene Kant" Kant versteht unter Dialektik ähnlich wie Descartes eine "Logik des 308 Scheins" . Die Transzendentale Dialektik erfüllt die Aufgabe, "(...) den Schein transzendenter Urteile aufzudecken und zugleich zu verhüten, daß er onq nicht betrüge" . Obwohl Adorno dies durchaus in Rechnung stellt, erblickt er in der 'Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie* keinen schlichten Gegensatz zwischen der Transzendentalen Dialektik und der Dialektikkonzeption Hegels: Vielmehr sei jene "eine Art Vorschule der Dialektik" , "auch eine positive Logik" . Diese These begründet Adorno in der Aufnahme eines Hegeischen o -| p o 4o Gedankens mit der (von Fichte kritisierten ) Behauptung Kants, die Verwicklungen der Vernunft bei ihrem transzendentalen Gebrauche beruhten auf "einer natürlichen und unvermeidlichen illusion" : "Es sind Sophistifikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals v ö l l i g los werden kann." 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315
Adorno (13), S. 155 Adorno (11), S. 299. Vgl. ( 1 4 ) , S. 255 Vgl. Descartes ( 4 4 ) , Regula X 4 f., S. 67 Kant (147), B 86. Vgl. (147), B 170, 349 Kant ( 1 4 7 ) , B 354 Adorno (13), 319 Adorno (13), 322 Vgl. Hegel (103), Bd. I, S. 52 Vgl. Fichte (65), S. 264 Kant (147) , B.354 Kant (147), B 397
122
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
Damit reduziert sich für Adorno die "ganze Differenz" zwischen Kant und einer in seinem Sinne dialektischen Philosophie darauf, daß jener "durch eine Art denkpraktischer Anweisung" dem transzendentalen Vernunftgebrauch Einhalt geboten habe. Indessen sei dies nicht einsichtig: "Aber es ist natürlich gar nicht einzusehen, warum, wenn in der Tat dieser Fortgang, und darin hat er fraglos richtig gesehen, im Denken selber drinsteckt, wenn das Denken nicht ohne W i l l k ü r sistiert werden kann, warum ich (...) hier aufhören soll." 316 Vielmehr zeige die Unvermeidlichkeit der Widersprüche, daß "es Überhaupt gar keinen Weg zur Wahrheit (gibt), als den, der durch diese Widersprüche hindurchführt" 3 1 7 . Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß Kants "denkpraktische Anweisung" dadurch begründet ist, daß ein transzendenter Vernunftgebrauch über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus zu unentscheidbaren und widersprüchlichen Aussagen führt. Adorno scheint mittels eines naturalistischen Fehlschlusses 318 aus der Natürlichkeit des Vernunfthanges zu Widersprüchen auf ihre Legitimation, ja sogar auf ihre Dignität zu folgern. Vollends überzogen mutet die Aus schließ!ichkeitsthese an, mit der der widerspruchsvolle Weg zum einzigen "Weg zur Wahrheit" erklärt wird. Und dies ist um so widersinniger, als Adorno an anderer Stelle gerade die von Kant behauptete Notwendigkeit dessen bestreitet, daß sich die erfahrungstranszendent gebrauchte Vernunft in Widersprüche •?1Q verwickelt. Jiy Nicht genug damit: Wenn Adorno die Notwendigkeit einer Selbstbeschränkung der menschlich-endlichen Vernunft "(...) gar nicht einzusehen" vermag, wenn er also den transzendentalen Vernunftgebrauch als legitim erachtet, und wenn weiter gilt, daß es Adorno primär um die Sache und ihre Nichtidentität zu tun ist, dann läuft dies auf die Aporie hinaus, die empirische Sache außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung suchen zu wollen. Angesichts dieser Schwierigkeiten ist es verständlich, daß Adorno in der 'Negativen Dialektik 1 diese Deutung der transzendentalen Dialektik revidiert: Kants "(...) Verdikt ist nicht überholt von Hegels Anstrengung, die Logik
316 317 318 319
Adorno (13), S. 322 Adorno (13), S. 322. Vgl. ( 7 ) , S. 238, 244 Vgl. Moore (196), S. 77 - 84 Vgl. Adorno (9), S. 136 Anm.; ( 9 ) , S. 164
Die Transzendentale Dialektik
123
des Scheins als die der Wahrheit zu vindlzieren." Dennoch fordert Adorno weiterhin eine "Rettung des Scheins", nämlich als "Gegenstand der Ästhe3?0 tik" . Damit jedoch wird das Gebiet der Erkenntniskritik verlassen und der Anspruch einer argumentativen Einlösung der Theorie aufgegeben.
320 Adorno ( 7 ) , S. 386
3.6 Zusammenfassung der Überlegungen und die Bedeutung der Subjektstheorie
Die eingangs skizzierten Schwierigkeiten des Adornoschen Ansatzes werfen die Frage nach dem Verhältnis Kant-Adorno auf, das unter drei Aspekten zu betrachten ist, dem erkenntnistheoretischen, ethischen und subjektstheoretischen. Eine kritische Rekonstruktion der Einwände Adornos gegen die Kantische Erkenntnistheorie zeigt, daß sie p r i n z i p i e l l - z u kurz greifen und derart keine in seinem Sinne realistisch-dialektische Erkenntnistheorie zu begründen vermögen. Auch wenn Adorno im Problemkomplex der Transzendentalen Ästhetik einige schon früh bemerkte Schwierigkeiten der Kantischen Theorie anspricht, so berühren diese weder die transzendental philosophische Grundposition, noch deuten sie positiv auf eine realistisch-dialektische Erkenntnistheorie. Die intendierte immanente Kritik schrumpft auf eine äußerliche Konfrontation zusammen, die nach Adornos eigener Einschätzung "unfrucht004 bar" ist: "Transzendente Kritik weicht vorweg der Erfahrung dessen aus, was anders ist als ihr eigenes Bewußtsein. Sie, nicht die immanente, machte sich auf jenem Standpunkt fest, gegen dessen Starrheit und W i l l k ü r Philosophie gleichermaßen sich kehrt. Sie sympathisiert schon der bloßen Form nach mit Autorität, ehe nur ein Inhalt ausgesprochen wird: die Form selbst hat ihr inhaltliches Moment." 322 Des näheren ist festzuhalten: 1. Adornos Kantinterpretation schließt sich der ontologischen Interpretation an, obwohl Kant derjenige ist, der die ontologische Perspektive zumindest im Ansatz Überwunden hat 323. Der Gegensatz wird besonders deutlich in den zwischen Kant und Adorno differenten Verwendungen der Objektivitäts- und Wahrheitsbegriffe. 2. Adornos Kritik der Kantischen Fragestellung und der damit verbundene Vorwurf einer petitio principii hinsichtlich der Begründung wissenschaftlicher Objektivität und der Konstituierung gegenständlicher Erfahrung Uber321 Adorno (11), S. 316 322 Adorno ( 1 4 ) , S. 374 323 Damit bestätigt sich das Urteil von Gerhardt/Kaulbach über die ontologischen Kant-Interpretationen, daß diese in der Gefahr atehen, " ( . . . ) den kritischen lupule der Transzendentalphilosophie ale sekundär anzusehen." [Gerhardt/Kaulbach ( 7 7 ) , S. 13]
Zusammenfassung
125
haupt verdanken sich einem Mißverständnis der Synthetizität und Apriorität des synthetischen Urteils a priori. Zudem wird eine bloß sprachliche Ungenau igkei t überbewertet. 3. Unmittelbar evoziert der ontologische Interpretationsansatz eine nicht berechtigte Kritik der Kantischen Lehre vom Ding an sich und seiner Affektion. 4. Die zentrale Dualismuskritik Adornos ist dreifach: a) Die Kritik des Form-inhait-Duaiismua beruht auf ontologischen Vergegenständlichungen, die weder stringent noch konsistent sind, verkennt das Konstitutionsmoment der formalen Leistungen des Erkenntnissubjekts und identifiziert Denken und Erkennen. Der Rückgriff auf die Gestaltpsychologie, um das Prinzip des Mannigfaltigen zu widerlegen, operiert mit einem doppelten Formbegriff und versucht, die vorkritisch-realistische Perspektive gegen den transzendentalphilosophischen Kritizismus zu wenden. b) Adornos Kritik des Dualismus von Rezeptivität und Spontaneität bestätigt sein vorkritisch-realistisches Denkmodell (das phänomenologisch die Beschreibung gegen die Analyse der Bedingungen des Beschriebenen ausspielen w i l l ) und unterscheidet nicht zwischen Form der Anschauung und formaler Anschauung. c) Bei seiner Kritik des Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand deutet Adorno eine agnostisch-hypothetische Aussage Kants in eine positiv-assertorische um. aa) Seine Einwände gegen die eine Seite dieses Dualismus, die Transzendentale Ästhetik, verdanken sich neben schon erwähnten (zum Teil durch den Ontologismus bedingten) Mängeln den fehlenden Unterscheidungen zwischen Erscheinung/Schein, subjektive Anschauung/objektiv Angeschautes, sinnlich/empirisch, einem Mißverständnis des Kantischen Begriffs von "rein" und der falschen Bestimmung des Verhältnisses der Transzendentalphilosophie zur modernen Naturwissenschaft und Mathematik. Die Kritik der einzelnen Raumund Zeitargumente verwechselt zweimal Beweisthema und Beweisgrund und erf ü l l t nicht den Anspruch der immanenten K r i t i k , bb) In bezug auf die andere Seite des Dualismus, die Analytik der Begriffe, deutet Adorno aufgrund seines ontologischen Realismus die Kategorien als "Stück Sein" und reduziert die ursprünglich synthetische Verstandestätigkeit auf die analytische Identifikation. Die fehlende Berücksichtigung der Differenz zwischen der quaestio iuris und der quaestio facti läßt Adorno statt des wahren Verhältnisses zwischen der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion einen
126
Adornos Kritik der Erkenntnistheorie Kants
"Widerspruch" zwischen ihnen erblicken. Die Betrachtung der Frühschriften Adornos erhellt sowohl den biographischen Grund seines grundsätzlichen Mißverständnisses der transzendentalen Reflexion als auch den systematischen Zusammenhang zwischen dem Ontologismus (in gegenstandstheoretischer Hinsicht) und der im weitesten Sinne phänomenologischen Einstellung (in methodischer Hinsicht). d) Adornos Versuch, die Apprehensions- und Sahenatismislehre auf eine in seinem Sinne dialektische Erkenntnistheorie hin zu entwerfen, unterstellt einen Kant unangemessenen Vermittlungsbegriff. Er verkennt zudem die Funktion der produktiven Einbildungskraft, verwechselt Adäquatheit mit Identität, reduziert die Dreierrelation Anschauung - transzendentales Schema - Kategorie auf die Zweierbeziehung Anschaung * Zeit - Kategorie, beachtet den Unterschied zwischen Denken und Erkennen nicht und bestätigt die Befangenheit im Denkmodell eines realistisch-phänomenologischen Ontologismus. 5. Nur durch einen naturalistischen Fehlschluß und eine Aporie gelingt es Adorno, in der transzendentalen Dialektik eine "Vorschule der Dialektik" in seinem Sinne zu erblicken. Ungeachtet dieses vielfältigen und dennoch einheitlichen Ergebnisses wäre es verfrüht, sich schon jetzt endgültig zugunsten des Kantischen Kritizismus und gegen die Kritische Theorie zu entscheiden, weil bisher ein wesentlicher Punkt ausgeklammert worden ist: die subjektatheoretische Problematik. Die Erkenntnistheorie Kants ist eng mit der Lehre einer transzendentalen Subjektivität verknüpft. Die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption ist "(...) der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und nach ihr, die Transzendentalphilosophie heften muß" 324 Gegen dieses entscheidende Theorem aber erhebt Adorno mehrere Einwände: Der notwendige Verweis des Geistigen auf empirische Faktizität sei der " ( . . . ) Kerneinwand (...) gegen eine jegliche und sei es noch so konsequente und 325 noch so weit fortgebildete idealistische Erkenntnistheorie überhaupt" . Die Konstitutionsprobleme seien - wie Hegel gegen Kant geltend gemacht ha326 be - nur durch den Rekurs auf das Konstitutum zu lösen. Darin liege "die entscheidende Frage über die Wahrheit einer Transzendentalphilosophie 327 überhaupt" beschlossen. 324 325 326 327
Kant (147), B 134, Anm. Adorno (13) , S. 91 Adorno (14), S. 258 Adorno (13), S. 257. Vgl. (10),
S. 176;
(11), S. 19 ff,
61 f
Zusammenfassung
127
In der Tat: Ist das Prinzip transzendentaler Subjektivität nur eine verkürzte Abstraktionsansicht gesellschaftlicher Prozesse, kann das Transzendentale als gesellschaftlicher Zusammenhang dechiffriert werden, dann ist die Möglichkeit einer neben der Soziologie eigenständigen Transzendentalphilosophie aufzugeben. Die Berechtigung des transzendentalphilosophischen Ansatzes ist derart also noch nicht endgültig sichergestellt. Mas z.B. soll die Rede von einem Konstituens, wenn dieses wesentlich ein Konstitutum ist ? Was sollen reine Verstandesbegriffe sein, wenn das intellektuelle Vermögen 3?fi auf abgezweigte Triebenergie zurückgeführt werden kann ? Zwar zeichnete sich in den bisherigen Erörterungen eine grundsätzliche Überlegenheit des Kantischen Ansatzes ab, aber dieser Reflexionsvorsprung muß sich erst noch in der Diskussion um die Möglichkeit eines transzendentalphilosophischen Subjektsbegriffs bewähren. Bevor dies jedoch geschehen kann, ist das Verhältnis zwischen Kritizismus und Kritischer Theorie unter ethischem Aspekt zu klären. Auch hier wird sich die Bedeutung eines unterschiedlichen subjektstheoretischen Ansatzes zeigen.
328 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 229, 285
4
ADORNOS KRITIK DER ETHIK KANTS
So wie Adorno die Erkenntnistheorie Kants vorwiegend in ihrem Verhältnis zum Nichtidentischen analysiert, sie in dieser Hinsicht der Philosophie Hegels vorzieht, kann ebenso im folgenden die Frage nach der Berücksichtigung des Nichtidentischen als Anhalt dienen. Ähnlich wie die Erkenntnistheorie bewertet Adorno die Ehtik Kants grundsätzlich ambivalent. Jedoch ist er dieser gegenüber wesentlich zurückhaltender eingestellt als in bezug auf jene, weil er analog und im Unterschied zum Ding an sich dem i n t e l l i g i b l e n Charakter nur sehr vage positive Seiten hinsichtlich eines Ausdrucks des Nichtidentischen abgewinnen kann. Adornos Vorwürfe lassen sich auf drei Punkte zurückführen: Kants Ethik sei: 1. repressiv, 2. irrational, 3. abstrakt. Diesen Einwänden ist der Vorwurf gemeinsam, die praktische Philosophie Kants berücksichtige das Nichtidentische nicht hinreichend.
l Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 293 f
4.1 Vorwurf der Repressiv!tat Die Repressivität der Ethik Kants erblickt Adorno in dreifacher Hinsicht: zum einen in ihrer Funktion als Herrschaftsinstrument, zum anderen im idealistischen Moralprinzip selbst, und zwar dies sowohl in bezug auf das Verhältnis von Vernunftfreiheit und Sinnlichkeit als auch in bezug auf die innere Struktur des Freiheitsbegriffs. 4.1.1
Ethik als Herrschafts instrument
In ähnlicher Weise wie für die Erkenntnistheorie skizziert Adorno für die Ethik Kants grob deren geschichtlichen Stellenwert: Sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Ethik träten das Erbe der Religion an, indem sie deren Aufgabe im bürgerlichen Zeitalter übernähmen: jene die einer Restituierung der Objektivität, diese die einer ideologischen Absicherung des bürgerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das dem einzelnen das versprochene Glück für seine Mühen vorenthalte: "Die Morallehren der Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, anstelle der geschwächten Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhalten, wenn das Interesse versagt." Diese Lehren seien entweder " ( . . . ) propagandistisch und sentimental, wo sie auch rigoristisch klingen, oder (...) Gewaltstreiche aus dem Bewußtsein der Unableitbarkeit eben der Moral wie Kants Rekurs auf 2 die sittlichen Kräfte als Tatsache." Näher betrachtet sei Kants Ethik " ( . . . ) der übliche Versuch des bürgerlichen Denkens, die Rücksicht, ohne welche Z i v i l i s a t i o n nicht existieren kann, anders zu begründen als durch materielles Interesse und Gewalt, sublim und paradox wie keiner vorher, und ephemer wie sie alle." Im Fluchtpunkt dieser funktionalen Deutung liegt die These einer "Allianz von Freiheitslehre und repressiver Praxis". Dabei schließt Adorno ähnlich wie z.B. H. Marcuse zwei von Kant kritisch getrennte Problemstellungen kurz: "Die i n t e l l i g i b l e Freiheit der Individuen wird gepriesen, damit man die empirischen hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit der Aussicht auf metaphysisch gerechtfer2 Adorno ( 2 ) , S. 104 3 Adorno ( 2 ) , S. 104 f 4 Vgl. Marcuse (182), S. 95
Ethik als Herrschaftsinstrument
131
tigte Strafe besser an der Kandare halten kann." Der zentrale Begriff der kritischen Ethik, die Freiheit, sei nicht im Vollsinn des Wortes zu nehmen: "Daß Kant Freiheit eilends als Gesetz denkt, verrät, daß er es so wenig streng mit ihr nimmt wie je seine Klasse." Erscheint nach diesen Stellen Kant als Handlanger eines "repressiven" Gesellschaftssystems, so widerspricht dem eine.Äußerung, nach der Kant sein Opfer sei: In der sich von der W i r k l i c h k e i t zurückziehenden Gesinnungsethik manifestiere sich - hier folgt Adorno der Marxschen Bewertung der kritischen Ethik 7 - "die Ohnmacht des Subjekts in einer verhärtet ihm gegenüberstehenden Welt." 8 Dann aber stellt Adorno zum dritten eine "Selbsterhöhung" des Subjekts g fest und deutet sie nun als "Reaktion auf die Erfahrung seiner Ohnmacht." Die inneren Uneindeutigkeiten in bezug auf die vorgebliche Einheit von Freiheitslehre und repressiver Praxis sind bezeichnend. Zur Richtigstellung sei darauf hingewiesen, daß Kant als "die höchste Aufgabe der Natur für die Menschengattung" die Herstellung einer Gesellschaft betrachtet, "(...) in welcher Freiheit unter äußeren Gesetzen im größtmöglichen Grade mit unwiderstehlicher Gewalt verbunden angetroffen wird." Die grundlegende Bedeutung der Idee der Freiheit als "Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür" erhellt sich ebenfalls daraus, daß sie für Kant das "einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht" ist. Die Forderung nach Universalisierbarkeit dieses Rechts, nach der die Freiheit des Einzelnen "(...) mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen" können muß, begünstigt keine repressive Praxis, sondern ist die entschiedene Absage an eine solche. Diese allgemeinen Überlegungen Kants konkretisieren sich in der "fast durchgängig positive(n) Färbung seiner Bezugnahmen auf die französische Revolution" 12 und der Bejahung ihrer "wesentliche(n) Errungenschaften"13 . 5 6 7 8 9 10
Adorno ( 7 ) , S. 214. Vgl. ( 7 ) , S. 290 Adorno ( 7 ) , S. 248. Vgl. ( 7 ) , S. 213 f Vgl. Marx (189), S. 176 f Adorno (13) , S. 203 Adorno ( 7 ) , S. 181 Kant (145), S. 22. Vgl. auch (147), B 373. Vorländer erblickt "in dem Begriff des gleichen Rechts und der Freiheit" zu Recht das "Zentrum" der Kantischen "Staats- und Rechtsphilosophie", die " ( . . . ) vor allem gegen den absolutistischen Pölizeistaat und die ständische Gesellschaftsordnung seiner eigenen Zeit und seines eigenen Landes gerichtet war." [Vorländer (281), S. 310] 11 Kant (140), S. 237
12 Fetscher (58), S. 178. Vgl. dort die entsprechenden Belege. 13 Fetscher (58), S. 193
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Adornos Kritik der Ethik Kants
Nicht nur für die damalige Zeit fortschrittlich - man denke etwa an das Zensurschreiben Friedrich Wilhelms II. und des preußischen Kulturministers WÖ11ner vom 1.1.1794 -, sondern auch heute noch aktuell ist die Forderung Kants, jedem Glied des Staates die Möglichkeit zu gewähren, die "Stufe eines Standes" zu erreichen, "(...) wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können" . In diesem Sinne sei sicherzustellen, daß die ungleichen Vermögensverhä'ltnisse es nicht verhindern, daß die sozial benachteiligten Personen, "(...) wenn ihr Talent, ihr Fleiß und ihr Glück es ihnen möglich macht, sich nicht zu gleichen Umständen zu erheben befugt wären." Auch wenn Kants Rechtsdenken nicht durchweg die heutige Liberalität und demokratische Grundlegung des Staatsrechts kennt, was z.B, in der häufig kritisierten Einschrän kung des Widerstandsrechts und in der Unterscheidung zwischen (geforderter republikanischer) "Regierungsart" und (skeptisch beurteilter demokratischer) "Staatsform" 18 manifest wird, so sind doch Adornos Verzerrungen des Kantischen Gedankengutes zurückzuweisen. Sie sind nicht nur ungenau, sondern zudem weitgehend ungeschichtlich. Mit diesen kurzen Hinweisen seien die wenig fruchtbaren, auch von Adorno kritisch beurteilten wissenssoziologischen Erörterungen abgeschlossen. Interessanter erscheint der Vorwurf einer Repressiv!tat des idealistischen Freiheitsprinzips selbst: Der Zwangscharakter der kritischen Ethik liege nicht a l l e i n in ihrer gesellschaftlichen Funktion als Herrschaftsmittel, sondern in ihrem Prinzip selbst begründet: "Noch vor aller gesellschaftlicher Kontrolle, vor aller Anpassung an Herrschaftsverhältnisse wäre ihrer reinen Form, der logischen Stringenz, Unfreiheit nachzuweisen. Zwang, dem Gedachten 14 Kant (152), S. 292. Zur Aktualität dieser Gedanken vgl. Ritzel (235), S. 75 - 78 15 Kant (152), S. 293 16 Die ersten Kritiker der Kantischen Konzeption des Widerstandsrechts waren Christian Garve und Ludwig Heinrich Jacobs. 17 Kant (152), S. 299 f. Vgl. dazu Henrich (114), Spaemann (270). A. Gurwitch (83),bes. S. 342 sieht eine Konsistenz der Ablehnung des Widerstandsrechts mit Kants ethisch(-politischen) Prinzipien. Zur Kritik an Kants Fassung des Widerstandsrechts vgl. Mandt (181) 18 Kant (156), S. 351 ff. Vgl. zur Problematik Baumanns (20), S. 129 Anm. 24. Wir stellen nicht die Problematik der von Kant aus der Idee reiner rechtlich-praktischer Vernunft gezogenen realpolitischen Konsequenzen in Abrede, sondern nur ihren notwendigen Zusammenhang mit dieser Idee. 19 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 197 f; (5), S. 584 f; (13), S. 267. Zur Problematik der Adornoschen Kritik an der Wissenssoziologie vgl. Hansen (92), S. 68. Vgl. zu dem Problemkomplex von Wissenssoziologie und Kritischer Theorie auch Bubner (37), S. 178 f; Wagner (282), S. 468 - 471; Massing (193), S. 43 f.
Repressivität des Moralprinzips
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gegenüber wie dem Denkenden, der es erst durch Konzentration sich antun 20 muß." Die von der "bürgerlichen Klasse" geforderte Freiheit münde in eine Aporie: "Es geht gegen die alte Unterdrückung und befördert die neue, wel?1 ehe im rationalen Prinzip steckt." 4.1.2
Repressivität des Moralprinzips (Unfreiheit der Sinnlichkeit)
Zunächst sei Kants Idee von Freiheit, die wesentlich eine solche der Vernunft ist, in ihrem Verhältnis zur menschlichen Sinnlichkeit betrachtet. Im Anschluß soll ihre innere Struktur auf ihre vorgebliche Repressivität hin untersucht werden. Die Hauptschwierigkeit der Ethik Kants sei die Dialektik ihres Freiheitsbegriffs, sein Umschlag in Unfreiheit. Diese Kritik ist - allerdings ohne daß Adorno darauf hinweist - im Prinzip schon von Schiller formuliert worden und findet ihren Ausdruck in dem bekannten Distichon: "Gern dien' ich den Freunden, doch thu ich es leider mit Neigung, Und so wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft b i n . Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen sie zu verachten, 22 Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut." Diese Kritik mit dem ihr zugrundeliegenden Mißverständnis eines vorgeblich von der kritischen Ethik geforderten Gegensatzes von Pflicht und Neigung wiederholt Schiller noch andeutungsweise in Ober Anmut und Würde': Kant zufolge sei die sinnliche Natur im Sittlichen "immer nur die Unterdrückte und nie die mitwirkende Partei". Das Verhältnis zwischen Sinnlichkeit ("Empfindungen") 23 und Moralgesetz sei durch "Mißtrauen" und "Herrschaft" gekennzeichnet und insofern von der idealen Einheit der "schönen Seele ( . . . ) , wo Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren" , entfernt. Dieser von Schiioc ler initiierte Vorwurf ist später von Nietzsche aufgenommen worden. Er verkennt, "(...) daß Kants viel beredeter Rigorismus primär ein denkerischer Rigorismus ist" 26 . Auch hat Kant schon in der zweiten Auflage der 'Religion in-
20 21 22 23 24 25 26
Adorno ( 7 ) , S. 232 Adorno ( 7 ) , S. 213 Schiller (253), 'Die Philosophen1 Schiller (251), S. 286 Schiller (251), S. 288 Vgl. Nietzsche (207), S. 1201, 1104 Ritzel (231), S. 12
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Adornos Kritik der Ethik Kants
nerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 1 auf ihn geantwortet. Adorno jedoch erneuert diesen Vorwurf in veränderter Form, indem er den Begriffen Pflicht und Neigung Identität und Nichtidentisches zuordnet. 4.1.2.1
Darstellung
Da Kant die Freiheit ausschließlich an das Prinzip der Ratio binde, unterwer28 fe er sie notwendig dem abstrakten Identitätsprinzip , so daß sie zwanghaft werde. Autonomie schlage damit in Heteronomie um, idealistische Vernunftfreiheit koinzidiere mit Unfreiheit: "Die (...) absolute Autonomie des Willens 2Q wäre soviel wie absolute Herrschaft über die innere Natur." Die Reinheit der Freiheit bedeute für die konkret empirische Person Unfreiheit, weil Kant die "Unterordnung jeglicher Regung unter die logische Einheit, ihren Primat über das Diffuse der Natur, ja über alle Vielfalt des Nichtidentischen" fordere. Diese Unterordnung bestimmt Adorno näher als Unterdrückung: Kants Ethik " ( . . . ) vermag, gemäß der Gesamtkonzeption, den Begriff der Freiheit einzig als Unterdrückung vorzustellen. Sämtliche Konkretisierungen der Moral tragen bei Kant repressive Züge. (...) Daher der Kantische Rigorismus." Die Persönlichkeit als allgemeine logische Vernunfteinheit - schon Goethe sah sie 31 keineswegs vorbehaltlos als "höchstes Glück der Erdenkinder" - unterwerfe •50 die Person als besonderes Insgesamt der Natur und sei insofern die "Karikatur von Freiheit" 33 . Das Kantische Freiheitsprinzip, dessen wahrer Gehalt sich im Phänomen der "Neurose" offenbare , sei die " ( . . . ) Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat" 35 : "Im Innersten koinzidieren die (These, ß.) vom Determinismus und die von der Freiheit. Beide proklamieren Identität." Im Gegensatz zum Idealismus müsse Freiheit positiv als "Möglichkeit von Nichtidentität" gedeutet werden. Um diese K r i t i k beurteilen zu können, nach der sich in der Kantischen Ethik das ungelöste Problem von Besonderem und Allgemeinem, Nichtidentischem (Natur) 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. Kant (141), S. Vgl. Adorno ( 7 ) , S. Adorno ( 7 ) , S. 253. Adorno ( 7 ) , S. 253 Goethe ( 7 8 ) , S. 162 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. Adorno (7) , S. 294 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. Adorno ( 7 ) , S. 248 Adorno ( 7 ) , S. 261 Adorno ( 7 ) , S. 266
23 f Anm. 214, 232 Vgl. ( 7 ) , S. 221; 273 f, 288 221
( 7 ) , S. 248
Herleitung
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und Identität (Vernunft) ausdrückt, muß zunächst ihre bei Adorno fehlende Herleitung nachgeholt werden. 4.1.2.2 Herleitung 3ft
Kant will eine wissenschaftliche Ethik begründen ° und sucht deshalb nach dem Prinzip der Sittlichkeit. Dieses muß nach seinen Überlegungen ein einziges sein, da eine Mehrzahl ethischer Prinzipien sich selbst aufheben würde , d.h. es muß nicht bloß Generalität, sondern Universalität besitzen. Die verlangte Universalität impliziert zunächst ein Abgehen von der Gefühlsethik, der Kant in seiner vorkritischen Zeit teilweise verhaftet war. Sodann bedeu tet sie die Zurückweisung einer material en, weil eo ipso für Kant (im Unterschied zu Max Scheler und Nicolai Hartmann ) empirischen Bestimmung des Prinzips, was die Ablehnung einer aristotelisch-eudämonistischen Grundlegung der Ethik bedingt. Da eine materiale Charakterisierung des ethischen Prinzips für Kant ausgeschlossen ist, und außer der Materie nur die Form verbleibt, muß das gesuchte Prinzip durch einen formalistischen Grundzug gekennzeichnet sein: "Da ich den Willen aller (empirisch-materialen, B.) Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem W i l l e n zum Prinzip dienen soll, d . i . ich soll niemals anders Verfahren, als SO, daß ich auch vollen könne, meine Maxime solle ein 44 allgemeines Gesetz sein."
Das Bewußtsein des Sittengesetzes, das Kant in jedem Menschen kraft seiner Vernünftigkeit voraussetzt - so daß die Ethik den Menschen nur über sein ihm inhärentes sittliches Sollen aufklären kann - wirkt nötigend, da der Mensch aufgrund seiner Endlichkeit, d.h. grundsätzlichen Neigungsaffiziertheit, kein "heiliges Wesen" ist, in dem Wollen und Sollen koinzidieren. 38 Vgl. Kant (143), S. 388 39 Vgl. Kant (142), S. 31 ff
40 Vgl. Kant (146), S. 36 41 Vertritt Kant in den 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen1 noch eine Gefühlsethik [vgl. Kant (138, S. 217], so zeigt sich in der 'Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze1 aus dem gleichen Jahre eine Unsicherheit [vgl. Kant (154), S. 300]. 42 Vgl. Scheler (246), S. 73 ff 43 Vgl. HartmamT (93), S. 107 - 111 44 Kant (143), S. 402. Vgl. (146), S. 27 45 Vgl. Kant (143), S. 397 46 Vgl. Kant (143), S. 414
136
Adornos Kritik der Ethik Kants
Die Bestimmung des menschlichen Willens durch die Vernunft charakterisiert Kant als "Nötigung". "Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt imperativ." Als sittlicher Imperativ, der absolut, unbedingt, universal und notwendig gebietet, ist er ein kategorischer Imperativ (apodiktischer Imperativ der Sittlichkeit in der Dimension des Moralischen) und vom hypothetischen Imperativ (problematischer Imperativ der Geschicklichkeit in der Dimension des Technischen oder assertorischer Imperativ der Klugheit in der Dimension des Pragmatischen ), unterschieden, weil dieser auf material-neigungsbestimmte Zwecke bezogen ist. 49 Die Endlichkeit des Menschen, sein Wesen als "Bürger zweier Welten", manifestiert sich in dem möglichen Widerstreit zwischen der im kategorischen Imperativ gebotenen Pflicht und der im hypothetischen Imperativ formulierten Neigung. In diesem Verhältnis zwischen Pflicht und Neigung, Vernunft und Natur (Sinnlichkeit) sind primär drei Fälle zu unterscheiden: 1. Geschieht das Handeln aus Pflicht, so kommt ihm Moraiität zu. 2. Ist es der P f l i c h t gemäß, SO besitzt es Legalität.
3. Ein Handeln schließlich entgegen der Pflicht ist unsittlich. Schillers Kritik beruht auf der irrtümlichen Annahme, die sich bei Adorno unter komplizierteren Voraussetzungen wiederholt, daß eine moralische Handlung notwendig der Neigung entgegenstehen müsse. Kants Auffassung aber geht vielmehr dahin, daß in diesem Falle nur die Erkennbarkeit der Moraiität relativ leicht ist. Wenn hingegen Pflicht und Neigung nicht in anschauliche;" Weise entgegengesetzt sind, das Handeln aber der Neigung gemäß ist, muß es co offenbleiben, ob ihm Moraiität oder lediglich Legalität zukommt. Moraiität als solche impliziert nicht "Selbstverleugnung" oder "Selbstzwang", sondern nur dann, wenn die Neigung dem "Gesetze zuwider" 53 ist. Mit dem in der ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 vorausgesetzten Faktum des (Bewußtseins des) Sittengesetzes ist unabdingbar die Freiheit verbunden : 47 Kant (143), S. 413. Vgl. (146), S. 32 48 Vgl. Kant (143), S. 414 - 419 49 Zum Unterschied des kategorischen und hypothetischen Imperativs vgl. Patzig (215). 50 Vgl. Kant (143), S. 397 f.; (146), S. 71, 81, 118 51 Aber selbst in einem solchen Fall kann nach Kant keine unbedingte "Gewißheit" [Kant (143), S. 407] über die bestimmende Motivation erreicht werden. 52 Vgl. Kant (143), S. 397. Vgl. dazu Paton ( 2 1 2 ) , S. 41 ff 53 Kant (146), S. 72 54 Vgl. Vgl. Kant (146), S. 29
Fehler
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In der ratio essendi impliziert die Freiheit das Sittengesetz, in der ratio cognoscendi das Sittengesetz die Freiheit.Diese ist weder die bloß negativtranszendentale Freiheit, deren Möglichkeit in der 'Kritik der reinen Vernunft 1 sichergestellt wurde , noch die gesetzlose Willkürfreiheit, sondern sie bestimmt sich als vernünftige Autonomie, positiv praktische Vernunft . Ist der kategorische Imperativ mit dem Prinzip der Autonomie verbunden, so der hypothetische mit dem der neteronaaie, nach der die Vernunft nicht sich selbst ein Gesetz ist, sondern dem Grundsatz folgt: "ich soll etwas tun darum, weil ich etwas anderes w i l l . " Die im Sittengesetz begründete Autonomie kann durchaus mit einer möglichen Einschränkung (Unfreiheit) der sinnlich-neigungsaffizierten Seite des Menschen einhergehen. Weil die.Autonomie des Menschen in seiner endlich-unendlichen Doppel Struktur verhaftet ist, ist sie nicht verwirklicht, sondern offenbart sich als Sollen. Das moralische "Wollen" wird vom Menschen "(...) als Sollen gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet." 58 4.1.2.3 Fehler 1. Von hierher erscheint Adornos Vorwurf einer Koinzidenz des idealistischen Freiheitsprinzips mit Unfreiheit berechtigt. Spricht doch Kant z.B. von "(...) einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird" , oder bestimmt er die Tugend als "moralische Gesinnung im Kampfe" , wonach sie notwendig mit einem "Selbstzwang" verbunden ist. Indessen muß gefragt werden, ob diese Ausführungen Kants notwendig aus den Voraussetzungen der kritischen Ethik folgen. Dabei zeigt sich, daß diese Äußerungen Kants nur als "denkerischer Rigorismus" zu verstehen sind. Sein Bemühen, die Pflicht in ihrem Unbedingtheitsanspruch scharf und eindeutig herauszustellen, führt dann teilweise zu Formulierungen, die von ihren Prämissen her nicht gedeckt sind. 55 56 57 58 59 60 61 62
Vgl. Kant (147), B 585 f Vgl. Kant (146), S. 33; (143), S. 446 f Kant (143), S. 441 Kant (143) , S. 455 Kant (146), S. 80 Kant (146), S. 84 Kant (146), S. 83 Ritzel (231) , S. 12
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Adornos K r i t i k der Ethik Kants
Der im kategorischen Imperativ implizierten Sollensstruktur ist zwar jeder Mensch unterworfen, jedoch bedeutet dies nicht notwendig, daß seine Natur unfrei ist. Die Sollensstruktur wird nur dann zur Unfreiheit für die sinnliche Seite, wenn die Neigungen dem Pflichtgebot entgegengesetzt sind. Stimmen Pflicht und Neigung überein, d . h . handelt der Mensch aus Pflicht und sind dieser die Neigungen nicht konträr, obzwar sie nicht als Bestimmungsgrund gelten, dann ist unabhängig von der in der Endlichkeit des Menschen begründeten Sollensstruktur im konkreten Fall auch die natürlich-sinnliche Seite frei. Adornos Behauptung, Kant könne sich "Freiheit einzig als Unfreiheit" und dies CO vorgeblich "gemäß der Gesamtkonzeption" vorstellen, trifft also nicht zu. Dieselbe Problematik, die Schiller unter der von ihm irrtümlich angenommenen Forderung der kritischen Ethik nach einem Gegensatz von Pflicht und Neigung herausstellt, thematisiert Adorno unter dem Aspekt einer vorgeblichen Koinzidenz von Freiheit und Unfreiheit. Soweit also der Mensch aus Pflicht handelt, was durchaus seinen Neigungen gemäß, nur nicht neigungsbestimmt sein darf, ist er frei und darüberhinaus sittlich. Freiheit der Sinnlichkeit und Sittlichkeit sind in der kritischen Ethik durchaus vereinbar. 2. Die Liberalität der Moralphilosophie Kants geht indes noch weiter: Die natürlich sinnliche Seite des Menschen ist nicht nur frei, wenn aus Pflicht und der Neigung gemäß, sondern auch dann, wenn bloß der Pflicht gemäß gehandelt wird. Aus der Perspektive der Vernunft ist der Mensch dann zwar nicht aktualiter autonom, aus der Perspektive der Natur aber frei. Dies müßte für Adorno, den Anwalt des Nichtidentischen, entscheidend sein. Die einzige "Einschränkung" eines neigungsbestimmten, aber pflichtgemäßen Handelns liegt darin, daß es nicht sittlich, sondern sittlich-indifferent (nicht-sittlich) ist. Adorno indessen klammert aus den drei möglichen Handlungsbewertungen "sittlich" (Moralität), "nicht-sittlich" (Legalität) und "unsittlich" die mittlere aus. Derart kann er die in der kritischen Ethik gewährleistete Ungebundenheit der natürlichen Seite kategorial nicht bestimmen und muß zufolge dieser fehlenden Differenzierung Repressivität feststellen: "Jede menschliche Regung widerspricht der Einheit dessen, der sie hegt". 63 Adorno ( 7 ) , S. 253 64 Später wird dieser Gegensatz von Pflicht und Neigung bei Schiller zu dem Widerstreit von Form- und Stofftrieb.Vgl. Schiller ( 2 5 2 ) , 12. Brief 65 Vgl. zu dem diesen Erörterungen zugrundeliegenden Tugendbegriff Beck ( 2 9 ) r S. 214 f. 66 Adorno ( 7 ) , S. 273
Fehler
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Damit wird das von Adorno zugrundegelegte Herrachaftsuodeii, das schon seine Deutung der Kantischen Erkenntnistheorie bestimmte, vollends inadäquat: Statt von einer "Unterdrückung" der Natur durch die Vernunft ist es angemessener, von einer Einschränkung des Spielraums der natürlichen W i l l k ü r zu reden, weil die Freiheit der sinnlichen Seite des Menschen gewahrt bleibt allerdings im Rahmen der von der Vernunft abgesteckten allgemeinen Gesetze. Innerhalb dieses Rahmens der Legalität kann der Mensch durchaus seinen natürlichen Neigungen folgen und ist hinsichtlich derselben frei. In der "Formal isierung der Vernunft" liegt keineswegs - so Adorno - das "Verdict über die Gefühle" beschlossen, weil Kant im Gegensatz etwa zu Fichte moralische Adiaphora einräumt. 3. Die Aufdeckung dieses Sachverhalts wird zusätzlich dadurch erschwert, daß Adorno die schillernden Begriffe Identität und Nichtidentisches in die Problematik einführt: Der Gegensatz von Pflicht und Neigung ist weder dem von Freiheit und Unfreiheit (obwohl partiell kongruent und auf dasselbe Problem beziehbar), noch dem der Begriffe von Identität und Nichtidentisches gleichzusetzen. Die idealistische Vernunftfreiheit sei nicht nur repressiv, sondern affiziere auch das Problem von Besonderem und Allgemeinem, das Individualitätsproblem, das Adorno mit den Begriffen des Nichtidentischen und der Identität zu fassen versucht. Das Kantische Freiheitsprinzip stelle sich als "(...) Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat" , dar. Die kritische Ethik verhindere die Ausbildung menschlicher Individualität, in ihr manifestiere sich eine "Wut aufs Nichtidentische" 7 1 : Die Abstraktion der Kantischen Ethik "(...) ist inhaltlich, weil sie vom Subjekt ausscheidet, was seinem 7? reinen Begriff nicht entspricht." Indessen kann diese Argumentation nicht überzeugen: Abgesehen von der fehlenden Voraussetzung eines notwendigen Gegensatzes von Pflicht und Neigung ist es fraglich, ob Identität und Nichtidentisches grundsätzlich konträr zueinander stehen. Nur weil Adorno davon ausgeht, kann er die Verhinderung von Individualität feststellen, denn so wird die direkt nicht gegebene Prämisse 67 68 69 70 71 72
Adorno ( 7 ) , Adorno ( 2 ) , Vgl. Fichte Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) ,
S. 253 S. 111 (61), S. 145 f S. 248 S. 34 S. 253
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Adornos Kritik der Ethik Kants
eines notwendigen Widerstreits von Pflicht und Neigung durch die Einkleidung in eine veränderte Terminologie, nämlich Identität und Nichtidentisches indirekt hergestellt. Zweifelsohne sind die Begriffe Identität und Nichtidentisches entgegengesetzt. Aber das bedeutet nicht, daß sich das, was mit ihnen begriffen wird, zwangsläufig konträr zueinander verhält, Homogenität ausgeschlossen ist, und zwar deshalb, weil "Nichtidentisches" doppeldeutig ist. Sofern Identität für Vernunft steht und Nichtidentisches für Natur qua Nicht-Identisches (qua Nicht-mit-der-Vernunft-Identisches) sind die Überlegungen Adornos einsichtig. Jedoch ist hieraus keine Verhinderung von Individualität ableitbar. Dies wird erst möglich, wenn die Natur qua Nicht-Identisches als Nichtidentisches qua Nichtidentifizierbares (qua Besonderes) verstanden wird. Indem das Nicht-Identische als ein prinzipiell Nichtidentifizierbares gedeutet wird, entsteht der Schein eines notwendigen Widerstreites von Pflicht und Neigung. Die Begriffsverschiebung ermöglicht die verlangte Prämisse und damit den Schluß auf eine Individualitätsfeindschaft Kants. Die doppelte Bedeutung von "Nichtidentität" entspricht dabei genau der fehlenden Differenzierung Adornos zwischen "nicht-sittlich" und "unsittlich". 4. Zudem gilt es zu fragen, ob die Vernunftfreiheit Kants w i r k l i c h die gescholtene "(...) Identität, die alles Nichtidentische annektiert hat" , ist und Moralität demnach in der Herstellung abstrakter Identität besteht, das "Böse" aber im Mißlingen der "formalen Einheit" . Diese. Interpretation beruht auf einer doppelten Vereinfachung, der sich schon Nietzsche schuldig machte, indem er den kategorischen Imperativ als Forderung auffaßte, daß "(...) alle Menschen gleich handeln" sollen. Das Sittengesetz ist zwar identisch, insofern es formal ist, aber deshalb werden nicht die konkreten Handlungen gleichförmig gemacht, identifiziert, insofern sie sittlich sein sollen. Die Unterordnung der konkreten Handlungen unter den Anspruch des identischen Sittengesetzes läßt sich nicht als ihre Identifizierung fassen, eben weil die Vielfalt der empirischen Handlungen selbst gar nicht universal isierbar sein soll. Einzig die (allgemeinen) Maximen, die jeder Handlung - ob ausgesprochen oder unausgesprochen - zugrundeliegen, müssen der Forderung nach Universalisierbarkeit und damit in einem gewissen Sinne nach Identifizierbarkeit genügen, nicht aber die auf einen begrenzten 73 Adorno ( 7 ) , S. 248 74 Adorno ( 7 ) , S. 289 75 Nietzsche (206), S. 466
Fehler
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Handlungskreis bezogenen Regeln oder gar die Handlungen selbst (auch wenn dies dem Wortlaut der "Typik" teilweise widerspricht). Grundsätze (Maximen und Gesetze) sind nicht mit Regeln identisch, vielmehr enthalten jene zufolge Kant "mehrere praktische Regeln unter sich" . Adorno gelingt es einzig durch die Anwendung der undifferenzierten Identifikationsbegrifflichkeit, seine K r i t i k zu formulieren, weil mittels dieser Terminologie die beiden kategorialen Bestimmungen von Maxime und Regel, die Kant zwischen das Sittengesetz und die Handlung selbst schaltet, nicht zu fassen sind. Aus dem Zusammen dieser doppelten Vereinfachung und der Ambivalenz des Begriffs des Nichtidentischen, die die verzerrte Deutung des Verhältnisses von Pflicht und Neigung verschleiert, bauen sich die Vorwürfe der Repressivität und Individualitätsfeindschaft a u f . 5. Ein weiterer Grund scheint Adorno zu diesen Vorwürfen verleitet zu haben: Kant unterscheidet in seiner Ethik zwischen "Preis" und "Würde": "Im Reiche der Zwecke hat entweder alles einen preis, oder eine würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, ein Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde." Der Mensch als "Bürger zweier Welten" besitzt sowohl einen Preis als auch eine Würde. Dem, was sich auf seine natürliche Seite bezieht ("Neigungen und Bedürfnisse") kommt lediglich ein Preis zu. "Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d.i. er besitzt eine würde (einen absoluten inneren Wert), wodurch er allen anderen vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt" . Allein dem Menschen als Vernunftwesen kommt also ein absoluter Wert zu, der Mensch als besonderes empirisches Naturwesen hingegen ist gleichgültig, äquivalent. Die je individuellen Ausgestaltungen der Person sind also bei Kant nicht wertmaßig ausgzeichnet. Indessen darf nicht gefolgert werden,
76 Kant (146), S. 19. In Übereinstimmung mit dieser Differenzierung zwischen Maxime und Regel stellt Kant einen "Spielraum der Anwendung" [Kant (140), S. 433 Anm.] von Tugendpflichten fest. Zum Verhältnis von Maxime und Regel vgl. Hoffe (115), S. 91 - 96 77 Kant (143), S. 434 78 Kant (140), S. 434 f
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Adornos Kritik der Ethik Kants
daß Kant individualtitätsfeindlich ist und das menschliche Subjekt auf sei79 nen "reinen Begriff" 79 ,reduziert. Individualität ist zugelassen, aber nicht 80 kritisch legitimiert. Bevor nicht nachgewiesen wird, daß ohne den Wert des Prinzips der Individualität die moral philosophische Konzeption in sich scheitert, kann das Faktum einer bloßen Konzession des Individuellen nicht kritisch gewendet werden. Die von Schiller erkannte Problematik der kritischen Ethik liegt in diesem Zusammenhang in der sich an die philosophische Grundlegung anschließenden Dimension des Pädagogischen , der Vereinigung von Kontinuität (Stetigkeit) und Diskontinuität (Unstetigkeit). Dieser Problemkomplex wird von Adorno jedoch nicht thematisiert. 6. In geradezu ironischer Weise offenbart sich Adornos Mißverständnis, wenn er dem Kantischen Freiheitsbegriff die "Idee von Freiheit als Möglichkeit von Nichtidentität" entgegensetzt:Die "Möglichkeit von Nichtidentität" ist auch bei Kant gewährleistet. Demnach kann der Unterschied zwischen Kant und Adorno nur darin bestehen, daß Kant neben dieser Möglichkeit auch überindividuelle Ansprüche kennt und in Rechnung stellt, Adorno hingegen das Gefühl von jeglicher Bindung an Vernunft lossprechen w i l l . Manifest wird dies in seiner Ablehnung von Rationalisierungen ethisch-relevanter Impulse. 83 Dem aber ist entgegenzuhalten, daß das Gefühl allererst durch die Vernunft legitimiert werden muß, so daß diese notwendig das letzte Wort behält. In dieser Erkenntnis liegt gerade ein Fortschritt Kants gegenüber Rousseau. 7. Abschließend ist festzuhalten, daß Adornos Repressivitätsvorwurf gegenüber der Freiheitskonzeption Kants unbegründet ist. Er beruht auf einem mehrfachen Mangel an gedanklichen Differenzierungen (Verkürzung des Verhältnisses von Pflicht und Neigung; Außerachtlassung der Funktionen von Maxime und Regel) und sprachlicher Klarheit (doppelter Begriff des "Nichtidentischen"). Auch wenn Kant I n d i v i d u a l i t ä t wertmäßig nicht auszeichnet, ist daraus weder eine "Unterdrückung" des Natürlichen und Individuellen noch eine Reduktion der konkreten Person auf die abstrakte Persönlichkeit abzuleiten. Auch hier 79 80 81 82 83 84
Adorno ( 7 ) , S. 253 Vgl. Ritzel ( 2 3 3 ) , S. 95 Vgl. dazu Ritzel (233) und Derbolav ( 4 2 ) , bes. S. 531 - 534 Adorno ( 7 ) , S. 66. Vgl. ( 7 ) , S. 212 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 281 Vgl. zur Problematik der Rousseauschen Moralkonzeption Ritzel ( 2 3 2 ) , S. 61 f, 77
Freiheit und Kausalität
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schrumpft Adornos Kritik auf eine bloße Konfrontation zusammen: Der allgemeinen Vernunft und ihrer Bindung des Handelns werden die je besondere Individualität und die Loslösung des Handelns von allgemeinen Ansprüchen entgegen85 gesetzt, ohne daß aber der Wert der Individualität legitimiert worden wäre. Schon jetzt drängt sich die Frage a u f , wie Adorno diesen allgemeinen Erfordernissen der Einschränkung des Handlungsspielraums durch die Ansprüche des überindividuellen entsprechen w i l l . Gelingt ihm die Synthese von Vernunft und I n d i v i d u a l i t ä t , wie er sie auch - im Gegensatz zu seiner Ablehnung von Rationalisierungen ethisch relevanter Impulse - in der "Versöhnung von Geist und Natur" fordert und wie sie schon vor ihm von Schiller gefordert worden ist ? Zugleich deutet sich hier die unterschiedliche Auffassung der menschlichen 87 Subjektivität an: Bei Kant macht die Vernunft das "eigentliche Selbst" aus, und in Obereinstimmung damit ist die Freiheit als Autonomie auf die Vernunft bezogen. Bei Adorno steht die Natur in ihrer jeweiligen Besonderheit im Zentrum, und Freiheit wird (zumindest teilweise) als ungehinderte Entfaltung des Natürlichen gedeutet. 4.1.3
Kausalität und Gesetzlichkeit (Unfreiheit der Freiheit)
Nachdem oben die Kantische Vernunftfreiheit in ihrem äußeren Verhältnis zur natürlichen Seite des Menschen betrachtet worden ist, soll im folgenden ihre innere Struktur, ihr Zusammenhang mit Kausalität und Gesetzlichkeit erörtert werden. 4.1.3.1 Freiheit und Kausalität Die Repressivität des Begriffs einer Vernunftfreiheit reigt sich nach Adorno auch darin, daß Kant Freiheit als "Spezialfall von Kausalität" 88 konstruiere. Oft Dadurch nehme er sie, indem er sie setze, zurück. Nicht nur die phänomenalen Konstituta seien dem Kausalprinzip unterworfen,sondern ebenso - entgegen Kants Selbstverständnis - die noumenalen Konstituentien: "Unterliegt bereits die Konstitution der Kausalität durch die reine Vernunft, die doch bereits ihrerseits Freiheit sein soll, der Kausalität, so ist Freiheit vorweg so kom85 86 87 88 89
Vgl. Kap. 2.3.3 Adorno ( 7 ) , S. 228 Kant (143), S. 457 Adorno ( 7 ) , S. 248 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 252
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Adornos Kritik der Ethik Kants
promittiert, daß sie kaum einen anderen Ort hat als die Gefügigkeit des Bewußtseins dem Gesetze gegenüber." 90 In der Tat bezeichnet Kant das moralische Gesetz als "ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit" 9 und bestimmt Freiheit als "Kausalität nach unwandelqy baren Gesetzen" . Was aber kann das für eine Freiheit sein, die mit Kausalität zusammenfällt ? Das Problem löst sich dadurch, daß Kant einen doppelten Kausalitätsbegriff verwendet: "Man kann sich nur zweierlei Kausalität in Ansehung dessen, was geschieht denken, entweder nach der Natur oder aus Freiheit." Freiheit f ä l l t also nicht mit Naturkausalität zusammen, sondern ist (in ihrer negativen transzendentalen Bedeutung) "(...) das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen" . Kausalität ist bei Kant nicht nur Naturkausalität, sondern auch das Vermögen, Wirkungen hervorzubringen. Ein solches Vermögen ist der menschliche W i l l e , "(...) und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden, sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann" 94 . QO
Versteht man Kausalität als Vermögen, Wirkungen hervorzubringen, und Freiheit als Vermögen, ursprünglich zu wirken, so ist diese Freiheit durchaus ein "Spezialfall von Kausalität". Indessen meint Adorno mit der Bestimmung noch ein anderes: Freiheit sei aufgrund ihrer Kausalität "Gefügigkeit des Bewußt95 seins dem Gesetze gegenüber" : "Kausalität aus Freiheit korrumpiert diese in Gehorsam." 96 Diese Kritik ist aber insofern problematisch, als Adorno die beiden Kausalitätsbegriffe identifiziert. Die Ineinssetzung läßt sich genau verfolgen: In bezug auf Kant heißt es: "Vernunft ihrerseits aber ist ihm nichts anderes als das gesetzgebende Vermögen. Darum muß er Freiheit von Anbeginn als 'besondere Art von Causalität' vorstellen." 97 Die Kausalität von Vernunft und Freiheit besteht also darin, Wirkungen hervorzubringen, Gesetze zu geben. Daran schließt sich folgender Satz direkt an: "Indem er sie (die Freiheit, B.) setzt, nimmt er sie zurück." Nun wird also die Kausalität der Freiheit als Freiheit unter Kausalität (qua Naturkausalität, Fremdbestimmtheit) verstanden. 90 91 92 93 94 95 96 97
Adorno (7) Kant (146) Kant (143) Kant (147) Kant (143) Adorno (7) Adorno (7) Adorno (7)
S. S. S. S. S. S. S. S.
246 47 446 560 f. Vgl. dazu Paton ( 2 1 2 ) , S. 258 f 446 246 231 252
Freiheit als Autonomie
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Die Begriffsverschiebung wird zusätzlich durch eine weitere Argumentation unkenntlich gemacht, mit deren Hilfe Adorno die (Natur-)Kausalität der Freiheit dartun w i l l : "Aber indem laut Kant das Subjekt kausal denken muß, folgt auch er in der Analyse der Konstituentien, nach dem Wortsinn von Müssen, dem Kausalgesetz,dem er erst die Konstituta unterwerfen dürfte.Unterliegt bereits die Konstitution der Kausalität durch die reine Vernunft, die doch ihrerseits die Freiheit sein soll, der Kausalität, so ist Freiheit vorweg (...) kompromittiert" 98 . Adorno verwechselt hier die Objektebene mit ihrer Metaebene: Das kausale Denken eines Sachverhalts impliziert nicht die Kausalität des Sachverhalts - auch wenn der Sachverhalt die Kausalkonstitution selbst sein sollte." Diese doppelte Konfusion ist möglicherweise durch Kants Bestimmung der Freiheit als Autonomie verursacht, wobei Adorno zwischen Gesetzlichkeit und Kausalität nicht hinreichend differenziert. 4.1.3.2 Freiheit als Autonomie Kant weist im Bereich des Sittlichen die Willkürfreiheit zurück und bestimmt die positiv praktische Freiheit (auf der Grundlage der negativ transzendentalen Freiheit) als Autonomie. Diesen Schritt begründet er in der 'Grundle1 gung zur Metaphysik der Sitten durch eine Bezugnahme auf die Kausalität der Freiheit insofern, als seines Erachtens der Begriff der Kausalität den Begriff des Gesetzes in sich enthält: Die Freiheit "(...) muß (...) eine Kausalität nach unwandelbaren Gesetzen, aber von besonderer Art, sein; denn sonst wäre ja ein freier W i l l e ein Unding." Indessen berechtigt auch dies nicht dazu, von einer Korrumpierung der Freiheit in "Gehorsam" und "Gefügigkeit" 102 zu sprechen. Kant weist ausdrücklich darauf h i n , daß das Gesetz positiv praktischer Freiheit "von besonderer Art" ist: Es ist autonom. "Der W i l l e wird also nicht lediglich dem Gesetze unterworfen, sondern so unterworfen, daß er auch als seibstgesetz98 Adorno ( 7 ) , S. 246 99 Schon Beier stellt die "Konfundierung von Objekt- und metatheoretischer Ebene" als "eine zentrale, für die Theorie folgenreiche Zwiespältigkeit bei Adorno" [Beier ( 3 0 ) , S. 63] heraus. 100 Vgl. Kant (143), S. 433 101 Kant ( 1 4 3 ) , S. 446. Vgl. ( 1 4 6 ) , S. 89; ( 1 4 1 ) , S. 35. Vgl. zu einer anderen Begründung Paton ( 2 1 2 ) , S. 262. 102 Adorno ( 7 ) , S. 246
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Adornos Kritik der Ethik Kants
gebend, und eben um deswillen allererst dem Gesetze (davon er selbst sich als Urheber betrachten kann) unterworfen, angesehen werden muß." Die sich hier aufdrängende Vermutung, daß Adorno dem Autonomie-Gedanken nicht gerecht wird, bestätigt sich durch Aussagen wie die, daß Kant "(...) Freiheit ohne Zwang nicht ertragen" könne. Adorno sieht deshalb die sittliche Freiheit Kants "in Gehorsam (korrumpiert)" , weil er dem Unterschied zweier Gesetzestypen, Autonomie und Heteronomie, nicht Rechnung trägt und so das Entscheidende der kritischen Ethik verkennt. 105 Nur konsequent ist es, daß Adorno wie schon vor ihm Schopenhauer und Nietzsche die Nötigung des Sittengesetzes als "Säkularisierung der Glautno IflO bensautorität" deutet (obwohl Kant gleich Lessing die Religion umgekehrt an die Ethik bindet 110 ) und die komplexe Bedeutung des zentralen Begriffs der Achtung reduziert: Bei Kant ein "selbstgewirktes Gefühl" , wird sie bei Adorno zum "Respekt" . Durchaus auf Adorno beziehbar - obwohl eigentlich auf vorkantische Philosophen gemünzt - ist Kants Feststellung: "Man sähe den Menschen durch seine Pflicht an Gesetze gebunden, man ließ es sich aber nicht einfallen, daß er nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung unterworfen sei, und daß er nur verbunden sei, seinem eigenen, dem Naturzwecke nach aber allgemein gesetzgebenden, W i l l e n gemäß zu handeln. Denn wenn man sich ihn nur als einem Gesetz ( . . . ) unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen, weil es nicht als Gesetz aus seinem W i l l e n entsprang, sondern dieser gesetzmäßig von etwas anderem genötigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln. Durch diese ganz notwendige Folgerung aber war a l l e Arbeit, einen obersten Grund der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verloren. Denn man bekam niemals Pflicht, sondern Notwendigkeit der Handlung aus einem gewissen Interesse heraus." Dieses Interesse ist bei Adorno eudämo103 Kant (143), S. 431 .104 Adorno (7) , S. 231 105 Ideengeschichtlich betrachtet wird der Kantische Autonomiegedanke durch die Staatsvertragakonzeption Rousseaus vorbereitet. Vgl. Rousseau (241), Bd. I 8, S. 49 106 Vgl. Schopenhauer ( 2 5 7 ) , S. 22 f, 33, 66 f, 83 107 Vgl. Nietzsche ( 2 0 2 ) , S. 195 f 108 Adorno ( 5 ) , S. 613 109 Vgl. Lessing ( 1 7 0 ) , §§ 4, 70 ff, 76, 80, 85 110 Vgl. Kant ( 1 4 l ) , S. 5 111 Kant (143), S. 401 Anm. Vgl. (146), S. 75 112 Adorno ( 2 ) , S. 113 113 Kant (143) , S. 432 f
Weitere Aspekte
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nistisch, genauer hedonistisch, zielt doch seines Erachtens "alles Glück auf sinnliche Erfüllung" ab. Die Überlegungen zum Kausal itäts-und Autonomiegedanken der Freiheit zusammengefaßt .bedeutet dies,daß Adorno 1. den doppelten Kausalitätsbegriff Kants nicht berücksichtigt,2. Ebene und Metaebene verwechselt,3. nicht hinreichend zwischen Autonomie und Heteronomie unterscheidet. 4.1.4
Weitere Aspekte: Glück, Mitleid, repressive Ausdrücke, "Strafbedürfnis"
Zum Abschluß seien noch weitere Aspekte des Repress i vitä'tsvorwurf es kurz erörtert: die Probleme der Stellung Kants zu Glück und M i t l e i d , die Verwendung repressiver Ausdrücke und sein sogenanntes "Strafbedürfnis" . i. Problem des Glücks: Eines der Grundanliegen der Kritischen Theorie, das sich schon in Schillers Forderung nach einer "vollständigen anthropologischen Schätzung" ausdrückt, ist ihr Eintreten für den Wert der menschlichen Sinnlichkeit, die nicht zugunsten einer abstrakten Vernunft geopfert werden dürfe. Dabei greift sie insbesondere Gedanken Nietzsches auf, der in seiner "Streitschrift" 'Zur Genealogie der Moral 1 das asketische Ideal als Ausdruck der "Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen" dem "schutzand Heil-Instinkte eines degenerierten Lebens" 118 entsprungen sieht. Die Vertreter der Kritischen Theorie entmystifizieren nun über Nietzsche kritisch hinausgehend diese Polemik historisch-gesellschaftspolitisch. So versucht M. Horkheimer die "Notwendigkeit der idealistischen Moral", die i tg wesentlich repressiv sei, "aus der wirtschaftlichen Lage des Bürgertums" abzuleiten. Die "dem moralisch vermittelten Zwang zur Askese" entsprechende "Verdammung des Egoismus, ja des Genusses überhaupt", wie sie sich in den 121 "anthropologischen Anschauungen des Bürgertums 1 manifestiere, sei ein "Herrschaftsmittel", das "stets größeres Gewicht" im Interesse der "Domesti122 zierung der Massen" gewonnen habe. Das ehemals offene "Herrschaftsverhält114 115 116 117 118 119 120 121 122
Adorno ( 7 ) , S. 202 Adorno ( 7 ) , S. 257 Schiller (252), 4. Brief Nietzsche (209), S. 761 Nietzsche ( 2 0 9 ) , S. 861 f Horkheimer (121), S. 100 Horkheimer (121), S. 150 Horkheimer ( 1 2 1 ) , S. 98 Horkheimer (121), S. 102 £
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Adornos Kritik der Ethik Kants
nis" werde in der Neuzeit "durch Bändigen und Ertöten der Lustansprüche verinnerlicht." 1 2 3 Ähnlich sieht auch H. Marcuse das "Interesse der Kritischen Theorie" insofern mit dem "Hedonismus" verbunden, als in seinem "(...) materialistischen Protest (...) ein sonst verfemtes Stück menschlicher Befreiung aufbewahrt ist" . Die "Abwertung des Genusses" sei durch die ökonomisch bestimmte gesellschaftliche Aufwertung der Arbeit bedingt: "Die Legitimierung der Lust 1 ?*5 als Wert würde in der Tat alles auf den Kopf stellen" . Vor diesem Hintergrund ist auch Adornos Beurteilung der Stellung Kants zur Frage des Glücks zu sehen:In seiner Haltung zum menschlichen Glück sei Kant 126 "so ambivalent wie der bürgerliche Geist insgesamt" . Die "Ambivalenz" steigere sich "bis zum Zerreißen": "Einerseits verteidigt er es (das Glück, B.)im Begriff der Glückswürdigkeit,andererseits verunglimpft er es als heteronom". Dabei seien Kants "Modifikationen seiner Stellung zum Glück im Fortgang der Kritik der praktischen Vernunft (...) keine nachlässigen Konzessionen an die Tradition der Güterethik; vielmehr, vor ttegel, Modell einer Bewegung des Be127 griffs." Dies werde "aktenkundig" in der ersten Anmerkung zum vierten Lehrsatz der ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 , in der Kant die Beförderung der Glückseligkeit (seiner eigenen als auch der anderer Menschen) zwar nicht als Bestimmungsgrund sittlicher Handlungen gelten läßt, sie wohl aber als ihre Materie konzediert, sofern " ( . . . ) die Form der Allgemeinheit, die die Ver128 nunft als Bedingung bedarf" , motivierend ist. Dadurch wird - so Adorno 1?Q die Unabhängigkeit des Sittengesetzes "suspendiert" . Zunächst ist daran zu erinnern, daß Kant das menschliche Streben nach Glück durchaus als faktisch und subjektiv notwendig anerkennt. Allerdings ver131 neint er, daß das eudämonistische Prinzip einen direkten Bestimmungsgrund sittlicher Handlungen abgeben kann. Zugleich ist Kant weit davon entfernt, 123 124 125 126 127 128 129 130 131
Horkheimer (121), S. 105 Marcuse (184), S. 131 Marcuse (184), S. 135 f Adorno ( 7 ) , S. 254. Adorno wirft nicht nur Kant, sondern auch Hegel [vgl. Adorno ( 7 ) , S. 346] und Marx [vgl. Adorno (11), S. 254] eine repressive Haltung zum Glück vor. Adorno ( 7 ) , S. 256 Kant (146), S. 34 Adorno ( 7 ) , S. 257 Kant (143), S. 415. Vgl. (146), S. 25 Wohl aber macht Kant - was Adorno nicht beachtet - eine indirekte Pflicht geltend, die "eigene Glückseligkeit" zu sichern [Kant (143), S. 399]. Dies wird auch von Marcuse [(184), S. 149] übersehen.
Weitere Aspekte dieses dem Menschen natürliche Streben als unsittlich zu verwerfen. ist die kritische Ethik durchaus einheitlich und auch eindeutig.
149 Hier
Uenn dann Kant in der ersten Anmerkung zum vierten Lehrsatz der ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 das Glücksverlangen als Materie sittlicher Handlungen zuläßt, so liegt darin keine - wie Adorno behauptet - "Modifikation" seiner Auffassung, sondern eine im Rahmen der kritischen Ethik konsistente Differenzierung. Die Moral philosophic Kants ist in diesem Punkt nicht "ambivalent", sondern eindeutig und differenziert. Die Rede von einer notwendigen "Bewegung des Begriffs" ist sowohl außerhalb eines Identitätssystems unverständlich als auch schlicht falsch. Ebensowenig ist es evident, inwiefern diese Differenzierung die Unabhängigkeit des Sittengesetzes "suspendieren" soll. 2. Problem des Mitleids·. Auch an Kants Stellung zum Problem des Mitleids versucht Adorno, der kritischen Ethik Repressivität nachzuweisen. Sowohl in 134 als auch in der 'Negativen Dialektik 1 zieht der 'Dialektik der A u f k l ä r u n g ' er eine direkte Verbindungslinie zwischen Kant und Nietzsche: "In der Verachtung fürs Mitleid stimmt die reine praktische Vernunft mit dem Werdet hart 135 des Antipoden Nietzsche zusammen." Indessen scheint Adorno den beiden beizupflichten, ist doch " ( . . . ) die Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ( . . . ) am Ende eben das Humane, dessen Ideologen sich dagegen sträuben." Jedoch gilt es zu differenzieren, denn in allen drei Fällen ist das gleich erscheinende Ergebnis anders begründet. Kant lehnt zwar - ganz im Gegensatz etwa zu Schopenhauer - das Gefühl des Mitleids als Bestimmungsgrund sittlicher Handlungen ab, entscheidend aber ist die Begründung: Das Mitleid als ein prinzipiell subjektives Gefühl genügt dem Postulat der Universal isierbarkei t der Maximen ethischer Handlungen nicht und birgt die Gefahr in sich, eine vernünftige Leitung der W i l l k ü r zu 132 Vgl. Kant (146), S. 93 133 Allerdings verhält es sich mit der in der 'Dialektik der reinen praktischen Vernunft' konzipierten Lehre des summum bonum anders. "Die Existenz oder auch nur die Möglichkeit des höchsten Guts kann ( . . . ) nicht in Konsistenz mit Kants übrigen, wohl begründeten Lehren, als ein logisch oder ethisch notwendiges Motiv echter Sittlichkeit behauptet werden. Die Hoffnung auf ein höchstes Gut kann höchstens ( . . . ) psychologisch notwendig sein"[Beck ( 2 9 ) , S. 226]. Dies bedeutet aber allenfalls eine Inkonsistenz von 'Analytik' und 'Dialektik', nicht aber die "Kritik" [Adorno ( 7 ) , S. 272] des Grundansatzes der kritischen Ethik. 134 Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 121 f 135 Adorno ( 7 ) , S. 257 f 136 Adorno ( 7 ) , S. 356. Vgl. auch ( 2 ) , S. 140 137 Vgl. Schopenhauer (257), S. 105 f
150
Adornos Kritik der Ethik Kants
verhindern und damit gegen andere höhere Pflichten zu verstoßen. Schon in der vorkritischen Schrift 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 1 findet sich folgende Überlegung: "Denn setzet: diese Empfindung bewege euch, mit eurem Aufwande einem Notleidenden aufzuhelfen, allein ihr seid einem anderen schuldig und setzt euch dadurch außer Stand, die strenge Pflicht der Gerechtigkeit zu erfüllen, so kann offenbar die Handlung aus keinem tugendhaften Vorsatze entspringen, denn ein solcher könnte euch unmöglich anreizen, eine höhere Verpflichtung dieser blinden Verzauberung aufzuopfern." Auch wenn das Mitleid als solches in der kritischen Ethik zu den Adiaphora zählt, erkennt Kant die Gefahr, daß dieses Gefühl - wird es isoliert - leicht dem von der Pflicht Gebotenen abträglich ist. Aus diesem Grunde bindet er das Mitleid an Grundsätze: in der vorkritischen Zeit an den Grundsatz der "allgemeine(n) Wohlgewogenheit gegen das menschliche Geschlecht" 138 , im Spätwerk an den der "Menschlichkeit": "Ob zwar aber Mitleid (...) mit anderen zu haben an sich selbst nicht Pflicht ist, so ist es doch tätige Teilnehmung an ihrem Schicksale und zu dem Ende also indirekte Pflicht, die mitleidige natürliche (ästhetische) Gefühle in uns zu kultivieren, und sie, als so viele Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihren gemäßen Gefühl zu benutzen." 139 Von einer "Verachtung fürs Mitleid" kann bei Kant keine Rede sein. Vielmehr bezeichnet er dieses Gefühl als "schön und liebenswürdig" - allerdings zugleich aus den angegebenen Gründen als "gleichwohl schwach und jederzeit blind" . Adorno aber klammert sowohl den Gedanken einer aus Pflicht gebotenen "tätige(n) Teilnehmung" als auch die systematische Begründung Kant* für seine skeptische Einstellung zur Positivität des Mitleids aus. Statt dessen unterstellt er Kant im Zuge seiner Umdeutung der kritischen Philosophie in eine Proklamation von Macht und Herrschaft, dieser lehne das Mitleid ab, weil es eine "'gewisse Weichmütigkeit"' 1 4 1 an sich habe. Derart doppelt reduziert und entstellt, wird Kant mit Nietzsche vergleichbar, die Ablehnung des Mitleids erscheint als Verherrlichung des als Selbstzweck gesetzten Obermenschen. Nietzsche sieht durch das Mitleid gerade die Ausnahmestellung des großen Menschen bedroht. "Ich werfe den Mitleidigen vor, daß ihnen die Scham, die Ehrfurcht, das Zartgefühl vor Distanzen leicht abhanden kommt, daß Mitleiden im Handumdrehen nach Pöbel riecht und schlechten Manieren zum Verwech138 139 140 141
Kant (138), Kant (140), Kant (138), Adorno ( 2 ) ,
S. S. S. S.
216 456 f 215 f 122
Weitere Aspekte sein ähnlich risch in ein Vorrecht auf leids rechne
151
sieht - daß mitleidige Hände unter Umständen geradezu zerstöregroßes Schicksal, in eine Vereinsamung unter Wunden, in ein schwere Schuld hineingreifen können. Die Oberwindung des Mitich unter die vornehmen Tugenden."
Schränkt Kant also den Wert und Handlungsspielraum menschlichen Mitleids im Interesse einer optimalen Erfüllung moralischer Pflichten ein, so disqual i f i z i e r t Nietzsche demgegenüber gerade deshalb das Mitleid als "Sünde" , weil es im Bereich der christlichen "Sklavenmoral" liegt, in der er den "Willen gegen das Leben"144 verkörpert sieht. Beurteilt Kant das Gefühl des Mitleids skeptisch, weil es allzu leicht in Konflikt mit der überindividuellen Norm der Moral gerät, so lehnt Nietzsche es ab, weil es moralisch ist, d.h. den einsamen Herrenmenschen in Versuchung führt. In diesem Sinne heißt es im letzten Teil des 'Zarathustra 1 bei der Begegnung Zarathustras mit dem Wahrsager: "'Du schlimmer Verkündiger 1 , sprach endlich Zarathustra, 'das ist ein Notschrei und der Schrei eines Menschen; der mag wohl aus einem schwarzen Meere kommen. Aber was geht mich Menschen-Not an l Meine letzte Sünde, die mir aufgespart blieb, weißt du wohl, wie sie heißt ?' 'Mitleiden l ' antwortete der Wahrsager" . Demgegenüber macht Kant die "tätige Teilnehmung" zur Pflicht. Eine angemessene Auseinandersetzung mit der kritischen Ethik müßte sich auf die Käntische Argumentation selbst einlassen und dürfte nicht nur wie Adorno vom (zuletzt falsch gedeuteten) Ergebnis her subjektives Unbehagen formulieren. nun spricht sich ebenfalls gegen das Mitleid aus. Jedoch versucht er dies als Kritiker von Herrschaft nicht mit der - wie er es Kant unterstellt - "Weichheit", sondern mit dem "Beschränkende(n) am Mitleid" zu begründen: "(...) es ist immer zu wenig." Es bestätige sogar "(...) die Regel der Unmenschlichkeit durch die Ausnahme, die es praktiziert." Es nehme "(...) das Gesetz der universalen Entfremdung, die es mildern möchte, als unabänderlich hin", weil es "(...) die Aufhebung des Unrechts der Nächstenliebe in ihrer Zufälligkeit vorbehält" 146 .
142 143 144 145 146
Nietzsche (203), S. Nietzsche ( 2 0 2 ) , S. Nietzsche (209), S. Nietzsche (200), S. Adorno ( 2 ) , S. 123
1075 32 767 481
152
Adornos Kritik der Ethik Kants
Indessen erklärt Adorno nicht, wie ein "Gesetz der universalen Entfremdung" mit der wenn auch nur individuell zufallen "Aufhebung des Unrechts" zusammengedacht werden kann, inwiefern zugestandene "Ausnahmen" die "Regel der Unmenschlichkeit" bestätigen sollen und nicht vielmehr widerlegen, weshalb ein "zu wenig" offensichtlich fragwürdiger sein soll als ein Nichts. 3. Problem der repressiven Ausdrücke: Einen weiteren Vorbehalt macht Adorno gegen Kants Ethik geltend: "Sämtliche Begriffe, welche in der Kritik der praktischen Vernunft, zu Ehren von Freiheit, die Kluft zwischen dem Imperativ und dem Menschen ausfüllen sollen, sind repressiv: Gesetz, Nötigung, Achtung, Pflicht." 1 4 8 Der Einwand übergeht das Entscheidende der kritischen Ethik und ihres Autonomiegedankens: Die Scheidelinie läuft nicht - wie vorausgesetzt - zwischen dem Menschen und einem ihm fremden Imperativ, sondern die nötigende Sollensstruktur ist Ausdruck des unendlich-endlichen (vernünftig-natürlichen) Doppelwesens des Menschen. Auch ist Kant diesem Einwand schon im Grundsätzlichen begegnet: "Man kann aus dem kurz Vorhergehenden sich jetzt es sich leicht erklären, wie es zugehe: daß, ob wir gleich unter dem Begriffe von Pflicht uns eine Unterwürfigkeit unter dem Gesetze denken, wir uns zugleich dadurch eine gewisse Erhabenheit und würde an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten e r f ü l l t . Denn so fern ist zwar keine Erhabenheit an ihr, als sie dem moralischen Gesetz unterworfen ist, wohl aber, so fern sie in Ansehung eben desselben zugleich gesetzgebend und nur darum ihm unterge149 ordnet ist." Pflicht und verwandte Begriffe besitzen also einen zweifachen Aspekt , der in der Doppel Struktur des Menschen beschlossen liegt, von Adorno aber einseitig verkürzt wird. 4. Kants "Strafbedürfnis": Zum Abschluß sei Adornos These noch erwähnt, daß der repressive Aspekt der Ethik Kants "(...) ungemindert im Strafbedürfnis (triumphiert)." Weder ist aus der von Adorno als Beweis zitierten Stelle der ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 auch nur etwas einem "Strafbedürfnis" ähnliches herauszulesen, noch scheint er sich auf diese These fest-
147 Ähnliche Probleme wirft Nächstenliebe auf. Vgl. 148 Adorno ( 7 ) , S. 231 149 Kant (143), S. 439 f 150 Der Begriff der Achtung "Erhebung" [Kant (146), 151 Adorno ( 7 ) , S. 257
auch Adornos Kritik der christlichen Idee der Adorno ( 3 ) , S. 224 ff drückt für Kant sowohl "Unterwerfung'1 als auch S. 80] aus.
Weitere Aspekte
153
legen zu wollen, denn hinsichtlich der 'Kritik der reinen Vernunft 1 konzediert er - allerdings nur in einer Anmerkung -, daß deren "Tenor" 152 anders laute. Ganz im Gegensatz zu Adornos These heißt es vielmehr in der stark von Rousseau beeinflußten Vorlesung Ober Pädagogik 1 , daß die moralische Strafe (Achtungs- und Liebesentzug) die "zweckmäßigste" sei, und die physischen Strafen, sofern sie nicht negativ seien, "(...) mit Behutsamkeit ausgeübt werden (müssen) . Als Ergebnis der Erörterungen des Repressiv!tätsvorwurfes ist festzuhalten: 1. Kants Ethik begründet keine "Allianz von Freiheitslehre und repressiver Praxis". Sie ist als Herrschaftsmittel im Dienste einer bestimmten Gesell Schaftsschicht denkbar ungeeignet. 2. Die von ihr postulierte Vernunftfreiheit koinzidiert keineswegs mit einer Unfreiheit der natürlichen Seite des Menschen. Der Vorwurf einer Individualitätsfeindschaft Kants beruht auf dem mehrfachen Mangel grundlegender Differenzierungen. 3. Die innere Struktur der idealistischen Vernunftfreiheit selbst wird verkannt und insbesondere dem Gedanken der Autonomie nicht Rechnung getragen. 4. Die Probleme der Stellung Kants zu Glück und Mitleid, der Verwendung repressiver Ausdrücke und eines sogenannten "Strafbedürfnis(ses) M werden entweder fehlgedeutet oder verzerrt.
152 Adorno ( 7 ) , S. 257 Anm. 153 Kant (153), S. 482
4.2 Vorwurf der Irrationalität Die einseitige Bindung der Freiheit an Rationalität bedeutet fUr Adorno nicht nur den oben beschriebenen Umschlag in Unfreiheit, Repressivität und Kausalität, sondern auch den in Irrationalität. Diese erblickt Adorno sowohl in der Begründung der Ethik, als auch in ihren Konsequenzen. 4.2.1
Irrationalität der Begründung
Die Irrationalität der Begründung der kritischen Ethik macht Adorno an dem Gedanken des Faktums der reinen Vernunft fest. "Sie müssen davon ausgehen, daß Kant in der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 1 und dann auch in der 'Kritik der praktischen Vernunft' redet von dem Faktum, der Tatsache, der Gegebenheit des Sittengesetzes. (...) Ich habe mit dieser Gegebenheit des Sittengesetzes ganz genauso zu rechnen ( . . . ) , wie ich im Bereich der sinnlichen Erfahrung mit der Gegebenheit von Empfindungen zu rechnen habe." Die Thes_e von der "Gegebenheit des Sittengesetzes" sei "heteronom und autoritär" . "Die Nötigung, die laut Kant vom kategorischen Imperativ ausgeht, widerspricht der Freiheit, die in ihm als ihrer obersten Bedeutung sich zusammenfassen soll. Nicht zuletzt darum wird der aller Empirie entäußerte Imperativ als ein keiner Prüfung durch die Vernunft bedürftiges 'Factum 1 vorgeführt, trotz des Chorismos zwischen Faktizität und Idee. Die Antinonrik der Kantischen Freiheitslehre spitzt sich darin zu, daß ihr das Sittengesetz unmittelbar für vernünftig g i l t und für nicht vernünftig; vernünftig, weil es sich auf reine logische Vernunft ohne Inhalte reduziert; nicht vernünftig, weil es in reiner Gegebenheit zu akzeptieren, nicht weiter zu analysieren sei (...).. Diese Antinomik ist nicht dem Philosophen aufzubürden: die reine Konsequenzlogik, w i l l f ä h r i g der Selbsterhaltung ohne Selbstbesinnung, ist an sich verblendet, unvernünftig. (...) Ratio wird zur irrationalen Autorität." Soweit die wichtigsten Aussagen Adornos zu diesem Problem.
154 Adorno (11), S. 301 155 Adorno ( 7 ) , S. 240 156 Adorno ( 7 ) , S. 258. Vgl. ( 7 ) , S. 235, 358
Irrationalität der Begründung
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Es sei davon abgesehen, daß Adorno das Faktum des Sittengesetzes schon in der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' ausgesprochen sehen w i l l - damit verkennt er den gedanklichen Fortschritt, den Kant in der drei Jahre später publizierten ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 erreicht. Vielmehr sind fünf wesentliche Bestimmungen der zitierten Äußerungen zu betrachten: Faktum ist 1. das Sittengesetz, das 2. "autoritär und heteronom" ist, 3. als keiner Prüfung bedürftig dargestellt wird, 4. in eine "Antinomik" hineinführt, 5. als empirisch zu charakterisieren ist. ad 1) In den ersten fünf Paragraphen der ' K r i t i k der praktischen Vernunft 1 arbeitet Kant (analog den ersten beiden Abschnitten der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten') analytisch die Gestalt des sittlichen Gesetzes heraus, die die Vernunft haben muß, wenn sie praktisch sein kann. Die Hypothetizität des Ergebnisses hebt nun Kant durch den Gedanken des "Faktums der reinen Vernunft" auf. Dieses Faktum läßt sich anhand des Kantischen Textes durch zwei Bestimmungen identifizieren: Als Faktum gilt a) das Sittengesetz selbst158, b) das Bewußtsein des Sittengesetzes . Kant muß beweisen, daß das im kategorischen Imperativ formulierte Sittengesetz kein "leerer Wahn und chimärischer Begriff" ist. Dazu genügt es nicht, auf das als Faktum zuzugebende Bewußtsein des Sittengesetzes zu rekurrieren. Dies bewiese noch nicht die zweifelhafte Realität des Sittengesetzes selbst, dessen Objektivität gerade dargetan werden muß. Soll ein theoretischer Fortschritt erreicht werden, muß also ein Zusammenhang zwischen den beiden Fakta aufgedeckt werden. L. W. Beck macht hier auf die wichtige Unterscheidung zwischen "fact of reason" und "fact for reason" aufmerksam. Beide Bedeutungen liegen im Ausdruck "Faktum der reinen Vernunft" beschlossen. Ist das Sittengesetz ein Faktum für die Vernunft, so ist es Gegenstand einer besonderen und in seiner Wahrheit durchaus anzweifelbaren Intuition. Um ein Faktum für die Vernunft zu sein, das den Erfordernissen genügt, muß das Gesetz ein von der Vernunft selber gegebenes Gesetz sein, weil nur ein solches a priori und direkt von der Vernunft erkannt werden kann. Ein solches Gesetz ist zugleich 157 Vgl. zum Unterschied der 'Grundlegung' von der 'Kritik der praktischen Vernunft 1 Henrich (110), S. 245 f. 158 Vgl. Kant (146), S. 31, 47 159 Vgl. Kant (146), S. 31 160 Kant (143), S. 402 161 Vgl. zum folgenden Beck (29), S. 161 ff; ( 2 7 ) , S. 279 ff. Vgl. auch Henrich (110), S. 239 - 249
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Adornos Kritik der Ethik Kants
ein Faktum der Vernunft. Ausdruck der Autonomie der Vernunft ist aber das moralische Gesetz, also das geforderte Faktum flir die Vernunft, insofern es das Faktum der Vernunft ausdrückt, die Praktizität reiner Vernunft. "Deswegen ist das moralische Gesetz das einzige Faktum für die Vernunft, denn es 162 drückt nur das einzige Faktum der Vernunft aus." Obwohl also das moralische Bewußtsein, das ein unbestreitbares Faktum ist, weil die Leugnung moralischer Ansprüche selbst moralische Gründe voraussetzt, zunächst nicht zureicht, die Realität des Sittengesetzes zu beweisen, so doch dann, wenn man das moralische Gesetz qua Faktum für die Vernunft als Gesetzgebung der Vernunft selbst (Autonomie) deutet. In diesem Fall nämlich spiegelt sich im Faktum für die Vernunft nur das Faktum der Vernunft. Dabei berührt die Tatsache eines möglichen Irrtums hinsichtlich material bestimmter Pflichten des moralischen Bewußtseins diese Überlegungen nicht, wie sich umgekehrt aus ihnen selbstverständlich nicht die Richtigkeit eines material bestimmten Pflichtbewußtseins ableiten läßt. Dazu bedürfte es weiterer Überlegungen. Adorno nun bezieht a) das Faktum der reinen Vernunft auf das Sittengesetz und nicht das Bewußtsein des Sittengesetzes und identifiziert b) das Sittengesetz als Faktum nicht der Vernunft, sondern für die Vernunft. Die Bezugnahme auf das Sittengesetz und nicht sein Bewußtsein liegt zunächst durchaus im Rahmen des Interpretationsmöglichen. Problematisch aber wird der Sachverhalt, wenn Adorno das Sittengesetz mit dem Faktum für die Vernunft identifiziert 1 6 3 : Faktum für die Vernunft ist primär das Bewußtsein des Sittengesetzes, wohingegen das Sittengesetz selbst das Faktumjter Vernunft ist. In Hinsicht auf das Sittengesetz selbst formuliert Kant, daß dieses " ( . . . ) das einzige Faktum der reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend ( . . . ) ankündigt." Die Deutung des Sittengesetzes als Faktum für die Vernunft ist hier ausgeschlossen. Dies weist auf ein grundlegendes Mißverständnis h i n , das im folgenden deutlich wird. ad 2) Kants These von "der Gegebenheit des Sittengesetzes" sei "heteronom und autoritär". Voraussetzung dieses Einwandes ist die Interpretation des
162 Beck ( 2 7 ) , S. 280 163 Es kann zunächst so scheinen, als ob Adorno neben der Deutung des Sittengesetzes als Faktum für die Vernunft auch die als Faktum der Vernunft kennt [vgl. Adorno ( 7 ) , S. 258]. Jedoch kommt dieser Gedanke nicht zum Tragen, weil Adornos Kritik auf der Interpretation des Sittengesetzes als eines Faktums für die Vernunft beruht. 164 Kant (146), S. 31
Irrationalität der Begründung
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Sittengesetzes als Faktum fUr die Vernunft, die Trennung von Sittengesetz und Vernunft. Indessen wird nach Kant der reinen Vernunft kein Gesetz gegeben (und insofern ist sie nicht heteronom bestimmt), sondern sie "(.··) gibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welches wir das Sittengesetz nennen." Insofern trifft gleichfalls Hegels Diktum nur bedingt zu, die "kalte Pflicht" sei "der letzte unverdaute Klotz im Magen, die Offenbarung gegeben der Vernunft." Der Heteronomievorwurf zeigt, daß Adorno auch hier den Autonomiegedanken der kritischen Ethik nicht berücksichtigt. ad 3) Ähnliches g i l t für einen Einwand, zu dem Adorno den Heteronomievorwurf zuspitzt: Das Sittengesetz sei nicht nur "autoritär", sondern darüberhinaus nach Kant "ein keiner Prüfung durch die Vernunft bedürftiges 'Factum 1 " 1 . Abgesehen davon, daß Adorno keine Belegstelle für seine These nennt, werden hier abermals Vernunft und Sittengesetz voneinander getrennt, die Vernunft wird auf die Funktion reduziert, etwas Gegebenes blind zu akzeptieren, das Sittengesetz als etwas in sich gerechtfertigtes Außervernünftiges hingestellt. Kants Ausführungen sind dem entgegengesetzt: Zwar hebt er ausdrücklich hervor, daß "(...) die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengungen der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden" 16ß kann, aber das impliziert für ihn nicht,
daß das Sittengesetz w i l l k ü r l i c h ist. Das "Kreditiv des moralischen Gesetzes" liegt vielmehr darin begründet, daß es Deduktionsprinzip der Freiheit ist. Es bestimmt die Kausalität durch Freiheit positiv, deren Möglichkeit die theoretische Vernunft nur negativ darlegen konnte. Die praktische und theoretische Vernunft (genauer: die philosophischen Ausgestaltungen der einen Vernunft in theoretischer und praktischer Hinsicht) sind nicht nur konsistent, sondern tragen sich wechselseitig: Diese eröffnet (besonders in der Antinomienlehre) die Möglichkeit, neben der Naturkausalität Kausalität durch Freiheit anzunehmen und legt durch diesen Gedanken einer negativ transzendentalen Freiheit das Fundament für die praktische Philosophie. 165 166 167 168
Kant (146), S. 31 (Hervorhebung B.) Hegel (100), Bd. III, S. 369 Adorno ( 7 ) , S. 258 Kant (146), S. 47. In der 'Grundlegung 1 scheint Kant noch eine "Deduktion des obersten Prinzips der Moralität"[Kant ( 1 4 3 ) , S. 463; vgl. (143), S. 454] als möglich oder sogar als geleistet anzusehen.
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Adornos Kritik der Ethik Kants
Jene hingegen legitimiert sich dadurch, daß sie "zu Ergänzung eines Bedürfnisses" der theoretischen Vernunft dient, indem sie die negativ transzendentale Freiheit als positiv praktische Freiheit konkretisiert: "Denn das moralische Gesetz beweiset seine Realität dadurch auch für die Kritik der spekulativen Vernunft genugtuend, daß es einer bloß negativ gedachten Kausalität, deren Möglichkeit jener unbegreiflich und dennoch sie anzunehmen nötig war, positive Bestimmung, nämlich den Begriff einer den Willen unmittelbar (...) bestimmenden Vernunft hinzufügt, und so der Vernunft, die mit ihren Ideen, wenn sie spekulativ verfahren wollte, immer überschwenglich wurde, zum ersten Mal objektive, obgleich nur praktische Realität zu geben vermag und ihren transzendenten Gebrauch in einen immanenten (...) verwandelt." Damit trifft also der Vorwurf nicht zu,Kant repräsentiere das Sittengesetz als "ein keiner Prüfung durch die Vernunft bedürftiges 'Factum'", das - so Adorno - "(...) keine Stütze in der K r i t i k (findet)" . Zudem gibt Kant eine im Ansatz befriedigende Antwort auf ein mögliches Legitimationsbedürfnis durch die wechselseitige Integration von theoretischer und praktischer Vernunft. Ober Kant hinaus geht dann Fichte, der die objektive Realität der reinen praktischen Vernunft dadurch zu beweisen sucht, daß die Vernunft nicht theoretisch sein könne, ohne praktisch zu sein. Grundsätzlich aber ist Kants Lösung einem Rückgriff auf unbestimmte Intuitionen ("unmittelbare Erfahrungen") oder gar dem Appell Adornos an die Wahrheit ethischer Impulse 172 überlegen. Kant bemüht sich gerade, die darin beschlossene Problematik zu überwinden. ad 4) Von dem skizzierten Begründungsansatz Kants her ist auch der Einwand zu revidieren, die kritische Ethik spitze sich auf eine "Antinonvik" zu, weil "(...) ihr das Sittengesetz unmittelbar für vernünftig gilt und für nicht vernünftig, vernünftig, weil es sich nur auf reine logische Vernunft ohne Inhalt reduziert, nicht vernunftig, weil es in seiner Gegebenheit zu akzeptieren, nicht weiter zu analysieren ist." Zwei Gründe lassen die Argumentation scheitern: a) Analysiert man diese prononciert vorgetragene Argumentation, und ersetzt man "Sittengesetz'1 durch "Vernunft",weil ja beides nach Kant identisch 169 170 171 172 173
Kant (146), Adorno ( 2 ) , Vgl. Fichte Vgl. Adorno Adorno ( 7 ) ,
S. 48 S. 104 (62), S. 286 (7), S. 281 S. 258
Irrationalität der Begründung
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ist, so ergeben sich zwei Aussagen: 1) Die Vernunft gilt für vernünftig,weil die Vernunft Vernunft ist.2) Die Vernunft g i l t für unvernünftig,weil die Vernunft in ihrer "Gegebenheit zu akzeptieren" ist, weil sie als etwas Gegebenes "(...) nicht weiter zu analysieren ist." Indessen ist diese Aussage schlicht widersinnig: Akzeptiert die Vernunft etwas Gegebenes, ohne es auf seine Rechtsgründe hin zu befragen, so handelt sie in der Tat unvernünftig. Akzeptiert aber die Vernunft sich seiist, weil ihre "Gegebenheit" in Wahrheit was Adorno verkennt - eine sei&stgegebenheit ist, dann handelt sie keineswegs unvernünftig. Vielmehr wäre es unvernünftig, wenn sie hinter sich als notwendiges anhypotheton zurückgehen wollte. Damit jedoch entfällt die "Antinomik". b) Ferner ist angesichts der Alternative Adornos keine disqualifizierende Unvernünftigkeit darin zu erblicken, daß die reine praktische Vernunft nicht im strikten Sinne bewiesen werden kann. Ist es nicht weit irrationaler, ethische Wahrheit im nicht-vernünftigen Impuls verankern zu wollen ? Und sich zusätzlich in eine methodische Schwierigkeit zu verwickeln, weil die Inthronisierung der Irrationalität selbst Rational i tat beansprucht ? Angesichts dessen ist Kants Versuch überzeugender, die ethische Konzeption durch die wechselseitige Integration von theoretischer und praktischer Vernunft zu stützen. Wenn das Problem der Letztbegründung praktischer Vernunft Kant t r i f f t , so a fortiori Adorno. ad 5) Die bisherigen Einwände Adornos lassen sich auf die Reduktion des komplexen Ausdrucks "Faktum der reinen Vernunft" auf die untergeordnete Teilbedeutung eines "Faktums für die Vernunft" zurückführen. Gleiches gilt für die Bemerkung, das Sittengesetz sei ein empirisches, und damit zufälliges Faktum für die Vernunft: "Tatsachen gelten aber dort nichts, wo sie nicht 174 vorhanden sind." Demgegenüber ist an Kants Überlegungen zu erinnern, daß das Faktum der Vernunft qua Bewußtsein des Sittengesetzes weder auf der "(...) reinen noch empirischen Anschauung gegründet ist." Das Sittengesetz ist "(...) kein empirisches, sondern das einzige Faktum der Vernunft ( . . . ) , die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend (...) ankündigt." Die Einzigkeit dieses Faktums der Vernunft liegt aber darin begründet, daß es kein bloßes Faktum für die Vernunft ist, obzwar es sich auch als ein solches widerspiegelt. 174 Adorno ( 2 ) , S. 113 175 Kant (146), S. 31
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Adornos Kritik der Ethik Kants
Adornos Gleichsetzung der Gegebenheit des Sittengesetzes mit der "Gegebenheit von Empfindungen" verkennt jedoch diese Einzigkeit. Als Ergebnis des Einwandes, die Begründung der MoraI philosophic Kants sei irrational, ist festzuhalten, daß Adorno das Verhältnis von Vernunft und Sittengesetz grundsätzlich mißversteht. Für Kant ist das Sittengesetz ein autonomes und apriorisches (einziges) Faktum der Vernunft, dessen Problematik der Letztbegründung durch eine wechselseitige Integration von theoretischer und praktischer Vernunft zumindest entschärft, wenn nicht gar im Ansatz überwunden wird. Adorno hingegen deutet es als ein heteronomes und empirisches (zufälliges) Faktum für die Vernunft, das in eine "Antinomik" münde und als keiner Begründung bedürftig dargestellt werde. Auch wenn Bedenken bezüglich einer vollendeten Absicherung des Faktums der reinen Vernunft nicht gänzlich zurückgewiesen werden können, so treffen diese a fortiori Adorno. 4.2.2
Irrationalität der Konsequenzen
Nicht nur die Begründung, sondern auch die Konsequenzen der kritischen Ethik sind für Adorno irrational und zwar in Hinsicht 1. des Verhältnisses der Vernunft zum Gegenstand, und 2. der bestimmenden Funktion des intelligiblen Charakters. 4.2.2.1 Das Verhältnis der Vernunft zu ihrem Gegenstand Die fatale Rationalität der Freiheit wird nach Adorno bei Kant nicht reflexiv gebrochen, sondern vielmehr in der These von der systematischen Einheit der Vernunft, der logischen Einheit von der Widerspruchslosigkeit konsolidiert. Vernunft spezifiziere sich bei Kant nicht entsprechend den differierenden Gegenstandsbereichen. Sind aber - so Adorno - Vernunft und Freiheit invariant und gleichgültig gegenüber dem Anderen, ist das Andere, auf das der W i l l e sich bezieht, tatsächlich lediglich bloßes Material ohne jeden Eigenwert, dann können die Menschen "nur als Mittel, nicht auch als Zweck" behandelt werden. Freiheit qua invariante Sichselbstgleichheit der 17ft Vernunft ("Formalismus" ) impliziere den Umschlag des Willens aus totaler
176 Adorno (11), S. 301 177 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 233 178 Adorno ( 7 ) , S. 234
Das Verhältnis der Vernunft zu Ihrem Gegenstand
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Rationalität in (willkürliche, weil nicht an den Menschen und die Sache als Wert gebundene) Irrationalität. "Da sie (die Vernunft, B.) inhaltliche Ziele als Macht der Natur über den Geist, als Beeinträchtigung ihrer Selbstgesetzgebung entlarvt, steht sie, formal wie sie ist, jedem natürlichen In4 on teresse zur Verfügung." Es sei lediglich apologetische Ideologie "des Bürgertums", "(...) daß die formalistische Vernunft in einem engeren Zusammen181 hang mit der Moral als der Unmoral stünde." Von hierher werden de Sade und Nietzsche zu Vollendern der kritischen Ethik: "Das Werk de Sades, wie dasjenige Nietzsches bildet ( . . . ) die intransigente Kritik der praktischen 182 Vernunft." Der Faschismus aber werde zu ihrem Vollstrecker: Er behandle "im Einklang mit der reinen Vernunft ( . . . ) die Menschen als Dinge, Zentren 1ft1? von Verhaltensweisen" . Zunächst zu Adornos Irrationalismusvorwurf im allgemeinen und sodann zum Verhältnis Kants zu de Sade und Nietzsche im besonderen. 1. Adornos These, zufolge der formalistischen Vernunftkonzeption Kants könnten die Menschen "nur als Mittel, nicht auch als Zweck" behandelt werden, spielt auf die Menschheit-Zweck-Formel des kategorischen Imperativs an. Der Einwand setzt die Trennung von Vernunft und Mensch voraus. Aus dem Formalismus der Vernunft, ihrer von Kant geforderten Unabhängigkeit von materialer Bestimmtheit folgt nicht, daß der W i l l e seine gesamte Materie als 184 bloßes Mittel betrachten muß. Die formalistische Konzeption drückt vielmehr aus, daß die Materie des Willens, insofern sie vernünftig ist, zugleich als Zweck an sich behandelt werden muß. In diesem Falle ist sie "ein Gegen185 stand der Achtung" und schränkt "mithin so fern alle W i l l k ü r " e i n . Im Gegensatz zu den vernunftlosen Wesen und Gegenständen, denen nur ein relativer Wert als Mittel zukommt, besitzen der Mensch und a l l e anderen vernünftigen Wesen einen absoluten Wert als Zweck an sich. Diese besondere Auszeichnung des Menschen ist darin begründet, daß er a l l e i n vermöge seiner Vernunft Zwecke zu setzen vermag, Zwecke nur kraft seiner Setzung existieren. 179 180 181 182 183
Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 235 f Adorno ( 2 ) , S. 106 Adorno ( 2 ) , S. 139 Adorno ( 2 ) , S. 113 Adorno ( 2 ) , S. 105. Es wird zwar von Horkheimer und Adorno konzediert, dies geschehe"entgegen dem kategorischen imperativ" (ebd.); was aber,wenn der kategorische Imperativ Implikat der reinen praktischen Vernunft ist? 184 Nach Adorno soll sich die Vernunft "in sich nach ihren Gegenständen" [Adorno ( 7 ) , S. 234; Hervorhebung B.] differenzieren. Damit scheint er "Vernünfte" oder Teile von Vernunft annehmen zu wollen. 185 Kant (143), S. 428. Vgl. ( 1 4 3 ) , S. 430 f; (146), S. 87
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Adornos Kritik der Ethik Kants
Als Zweck setzendes Wesen aber muß der Mensch Über alle beliebigen Zwecke 186 als Zweck an sich vorausgesetzt werden. Dieser Gedanke des Zwecks an sich ist zentral für die kritische Ethik: Der Mensch als absoluter Wert ist untrennbar mit dem kategorischen Imperativ verknüpft - vermittelt über den Ge187 danken des notwendigen Zweckcharakters von Handlungen , d.h. des Implikats eines absoluten Zweckes bei sittlichen und eines relativen Zweckes bei neigungsbestimmten Handlungen: "Wenn es denn also ein oberstes praktisches Prinzip, und, in Ansehung des menschlichen W i l l e n s , einen kategorischen Imperativ geben soll, so muß es ein solches sein,das aus der Vorstellung dessen,was notwendig für jedermann Zweck ist, weil es Zweck an eich selbst ist, ein objektives Prinzip des Willens ausmacht, mithin zum allgemeinen praktischen Gesetz dienen kann. Der Grund dieses Prinzips ist: die vernünftige Natur existiert als Zweck an sich selbst."
188
Die invariante und formalistische Einheit der Vernunft reduziert zwar das Nichtvernünftige auf ein bloßes Mittel, der Mensch als Vernunftwesen nötigt ihr jedoch Achtung ab.Somit wird auch die W i l l k ü r der Freiheit eingeschränkt, ohne daß sich die Vernunft - wie von Adorno gefordert - in sich nach ihren bestimmten Gegenständen differenzieren müßte. Der W i l l e schlägt also keines189 wegs "kraft seiner totalen Rationalität" in Irrationalität um. Gilt der kritischen Ethik zwar die individuelle Ausgestaltung des Menschen als - wie 190 Adorno sagen würde - "Material" , demgegenüber die Vernunft sich indifferent verhält, so doch nicht der Mensch. Auch drückt sich im Formalismus des Vernunftprinzips der Kantischen Ethik keineswegs bloß "die Idee der Egalität" aus, die "den Mißbrauch i n h a l t l i c h qualitativer Differenzen zugunsten 191 des Privilegs und der Ideologie" verhindere, sondern positiv die Achtung vor der Verkörperung der Menschheit in der einzelnen Person. Der Zusammenhang zwischen der formalistischen Vernunftkonzeptton und dem Prinzip der Menschheit ist von K. Vorländer im Sinne einer ethischen Fundierung sozialistischer Ideen hervorgehoben192 und vom späten Horkheimer aner186 187 188 189 190 191 192
Vgl. Ebbinghaus (53), S. 280 Vgl. Kant (143), S. 427 f Kant (143), 8. 428 £ Adorno ( 7 ) , S. 236 Adorno ( 7 ) , S. 234 Adorno ( 7 ) , S. 235 Vgl. Vorländer (281), S. 327 f, 337, 348. Allerdinge stößt Vorländer bei den Vertretern eines orthodoxen Marxismus auf wenig Verständnis für seinen Versuch, den Sozialismus im Rückgriff auf Kant ethisch zu legitimieren. Vgl. z.B. Mehring (194), S. 357 f
Das Verhältnis der Vernunft zu ihrem Gegenstand
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kannt 193 worden. Zugleich wird dadurch der von Adorno bestrittene "engere Zu194 sammenhang (der Vernunft, B.) mit der Moral als mit der Unmoral" bestätigt. In ähnlicher Meise schließt Adorno kurz, wenn er aus der Inhaltslosigkeit des obersten Prinzips der kritischen Ethik folgert, sie stehe "jedem naturlichen Interesse zur Verfügung." Auch wenn das im kategorischen Imperativ formulierte Sittengesetz in sich keine inhaltlich bestimmten Pflichten enthält, so bedeutet das nicht, daß es sich gegen jedwedes Interesse neutral 195 verhält. Vielmehr unterwirft es als negatives Kriterium die zugrundeliegende Maxime der Forderung nach Universalisierbarkeit. Adorno leugnet diese Struktur des formalistischen Vernunftprinzips, um die These einer in sich dialektischen Aufklärung, eines Zusammenhanges zwischen Kant und Auschwitz, zu stützen. Zudem widerspricht sich Adorno mit dieser These selbst: Setzt der Irrationalismusvorwurf die Leugnung der Gesetzlichkeit des obersten Prinzips voraus, so hebt der Repressivitätsvorwurf (in bezug auf das Verhältnis von Vernunftfreiheit und Sinnlichkeit) gerade auf die Gesetzlichkeit ab, verzerrt sie zu einer überdimensionalen Heteronomie. Beide Vorwürfe haben nicht nur kein fundamentum in re, sondern schließen sich gegenseitig aus. 19fi Eine andere nicht von Adorno, aber von Hegel angeschnittene Frage ist es, ob der kategorische Imperativ nicht noch weiterer Prinzipien bedarf, um im Interesse der Praktikabilität konkrete Normen begründen zu können. 197 Jedoch auch wenn die in den verschiedenen Formulierungen des kategorischen Imperativs angegebenen Anwendungsregeln unzulänglich sind, gilt die Forderung nach einer Universalisierbarkeit der einer Handlung zugrundeliegenden Maxime. 2. Der Irrationalismusvorwurf konkretisiert sich in der These Adornos (und des frühen Horkheimer), de Sade und Nietzsche hätten die Konsequenzen aus 198 der kritischen Ethik gezogen und seien insofern ihre Vollender . Durch die Formal isierung der Vernunft werde die Zweckdimension ausgeblendet und damit die freigesetzte Vernunft irrational. Ihre Funktion werde auf die einer optimalen Bewältigung von Problemen in der Mitteldimension verkürzt. Von diesem Mißverständnis her ist der Satz zu verstehen, der auf Kants berühmten
193 194 195 196 197 198
Vgl. Horkheimer ( 1 2 4 ) , S. 124 Adorno (2) , S. 139 Vgl. Hoffe (115), S. 103 Vgl. Hegel (100), Bd. III, S. 368 f Vgl. Schwemmer (262) Vgl. Adorno ( 2 ) , S. 113
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Adornos Kritik der Ethik Kants
199 Aufsatz 'Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ?' anspielt: "Das Werk des Marquis de Sade zeigt den 'Verstand ohne Leitung eines anderen 1 , das heißt, das von Bevormundung befreite bürgerliche Subjekt."
Die Verwandtschaft zwischen Kant und de Sade reicht nach Adorno noch weiter: Kants Forderung, sich nicht von den Neigungen beherrschen zu lassen, sei identisch mit der bei de Sade geschilderten Notwendigkeit für einen Verbrecher, '"größtmögliche Kaltblütigkeit 1 " zu erwerben. Dieser Ratschlag ver201 halte sich zu Kants Gebot "wie die spezielle Anwendung zum Grundsatz" Der Vorwurf ist nur zu verstehen, wenn man keinen Unterschied zwischen einerseits der Einschränkung unsittlicher Neigungen zugunsten des allgemeinverbindlichen und die Allgemeinheit berücksichtigenden Sittengesetzes und andererseits der Beherrschung sämtlicher Gefühle zugunsten eines partikularen und die Allgemeinheit schädigenden Interesses zu erblicken vermag. Eine weitere Identifizierung bereitet ähnliche Schwierigkeiten: Genauso wie de Sade, der es in der Person der Clairwil ablehne, " ' ( . . . ) Empfindsamkeit der glücklichen Apathie ( . . . ) vorzuziehen'", weise auch Kant den Enthusiasmus zurück und sehe lediglich in "Ruhe und Entschlußkraft" die "Stärke 2fl? der Tugend" . Dabei beziehen sich Adorno und Horkheimer auf den X V I . Abschnitt der ' E i n l e i t u n g zur Tugendlehre 1 , in dem Kant diese beiden EigenSchäften zum "Zustand der Gesundheit im moralischen Leben" 203 zählt. Jedoch ist entgegen der weitverbreiteten Reduktion der Kantischen Ethik auf einen 204 Stoizismus, wie sie sich auch bei Adorno und dem frühen Horkheimer zeigt , 205 auf das komplementäre, epikureische Moment aufmerksam zu machen . Denn eben die "Gesundheit" der "moralischen Asketik" bezeichnet Kant als "nur ein negatives Wohlbefinden": "Es muß etwas dazukommen, was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das jederzeit fröhli20(5 ehe Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs." Bezeichnet, wie Adorno 207 herausstellt, de Sade die Apathie als "glücklich" , so bewertet Kant sie als bloß "negativ" und ergänzungsbedürftig. 199 200 201 202 203 204 205
Vgl. Kant (137), S. 35 Adorno ( 2 ) , S. 106 Adorno ( 2 ) , S. 114 f Adorno ( 2 ) , S. 115 f Kant (140), S. 409 Adorno ( 2 ) , S. 116 Auch in der Fassung des summum bonum bevorzugt Kant weder den Stoizismus noch den Epikureismus einseitig [Ritzel ( 2 2 7 ) , S. 120]. 206 Kant (140), 3. 485 207 Adorno ( 2 ) , S. 116
Das Verhältnis der Vernunft zu Ihrem Gegenstand
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In gleicher Weise muß eine Verwandtschaft zwischen der kritischen Ethik und dem Irrationalismus Nietzsches, des zufolge Adorno "konsequenteste(n) Aufklärer(s)" 208 , zurückgewiesen werden: Nicht nur in der Frage des Mitleids stimmten Kant und Nietzsche überein - diese These ist oben erörtert worden. Auch sei in der vorgeblich irrationalen Autonomie-Formel des kategorischen Imperativs das "Geheimnis des Obermenschen" ausgesprochen: "Sein M i l l e ist nicht weniger despotisch als der kategorische Imperativ. Beide Prinzipien zielen auf die Unabhängigkeit von äußeren Mächten, auf die als Wesen der ?OQ Aufklärung bestimmte unbedingte Mündigkeit." Indessen verhindert der kategorische Imperativ durch sein Implikat einer geforderten allgemeinen Gesetzgebung gerade eine w i l l k ü r l i c h e despotische Machtausübung des einzelnen Obermenschen. Die These ist umso unverständlicher, als Adorno und Horkheimer die Autonomie-Formel mit ihrer Forderung nach 210 einer allgemeinen Gesetzgebung sogar als Beweis zitieren ! Besser jedoch kennt Nietzsche selbst seinen Abstand zu Kant: "Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund ! - dies Wort kitzelt mein Ohr und ich muß lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, daß er 'das Ding an sich' - auch eine sehr lächerliche Sache ! - sich erschlichen hatte, vom 'kategorischen Imperativ 1 beschlichen wurde und mit ihm im Herzen wieder zu 'Gott 1 , 'Seele', 'Freiheit 1 und 'Unsterblichkeit' zurückverirrte". Im Gegensatz zu Adorno und Horkheimer erkennt Nietzsche sehr wohl, daß der kategorische Imperativ ein "Allgemeingesetz" ist. Er führt ihn auf "eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht" derjenigen zurück, die sich " ( . . . ) noch kein 211 eigenes, eigenstes Ideal geschaffen" haben. Er versteht ihn also gerade nicht als Ausdruck des Obermenschen, kann ihn so nicht verstehen, weil sei212 nes Erachtens "(...) die höhere Natur (...) ein singuläres Wertmaß (hat)." Zusammenfassend heißt dies: Nicht nur der Vorwurf, in der Rationalität des Willens gründe eine Irrationalität der Handlungsweise, muß zurückgewiesen werden, sondern ebenso die These einer Verwandtschaft zwischen der kritischen Ethik und de Sade/Nietzsche.
208 209 210 211 212
Adorno ( 1 ) , S. 418 Adorno ( 2 ) , S. 135 Vgl. Kant (143), S. 432 Nietzsche ( 2 0 2 ) , S. 195 f Nietzsche ( 2 0 2 ) , S. 38
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Adornos Kritik der Ethik Kants
4.2.2.2 Das Fatum des intelligiblen Charakters Der Umschlag der kritischen Ethik aus totaler Rationalität in Irrationalität zeigt sich nach Adorno ebenfalls im Hinblick auf den intelligiblen Charakter, die Frage, weshalb der Mensch bisweilen Verfehlungen erlegen ist und die Herstellung "formale(r) Einheit" scheitert. Den i n t e l l i g i b l e n Charakter habe sich Kant "als starkes Ich" vorgestellt, "(...) das a l l e seine Regungen vernünftig kontrolliert". Er sei vollkommen unbestimmt, so daß seine "unfreiwillige Irrationalität" eine säkularisierte Fassung der "theologische(n) Lehre von der Irrationalität der Gnadenwahl" sei. Er verkörpere ein "blinde(s) Schicksal", weil er als außerempirisches, reines "Ansichsein des Menschen" kein begründetes Urteil darüber zulasse, "(...) warum es hier gelungen sei, dort gescheitert." 213 Der intelligible Charakter sei insofern mit der Idee der Freiheit unvereinbar. 1. Adornos Mißverständnis ist als kritische Wendung der Schopenhauerschen Deutung des intelligiblen Charakters zu lesen. Bevor es herausgearbeitet werden kann, muß Kants Theorie des intelligiblen Charakters skizziert werden: Der intelligible Charakter ist der überempirische Aspekt des Menschen, zufolge dessen er aus Freiheit in der Erscheinungswelt Wirkungen hervorrufen kann. Unterstehen zwar diese Wirkungen den Bedingungen der Erscheinungswelt, d.h. insbesondere dem Gesetz der durchgängigen Naturkausal i tat, so doch der intelligible Charakter selbst nicht. Insofern unterscheidet er sich vom empirischen Charakter, durch den die Handlungen des Subjekts "(...) als Erscheinungen, durch und durch mit anderen Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhange ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden könnten, und also, mit diesen in Verbindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten." 215 Im intelligiblen Cha216 rakter gilt "kein vorher, oder Nachher" , er untersteht im Gegensatz zum empirischen keiner Zeitbestimmung, so daß er auch nicht empirisch erkannt werden kann. 217 Als Ausdruck menschlicher Freiheit und noumenaler Bestimmungsgrund mensch1 icher Handlungen auf der phänomenalen Ebene ist der intelligible Charakter 213 214 215 216 217
Adorno ( 7 ) , S. 289 f Vgl. Schopenhauer ( 2 5 7 ) , S. 72 - 78 Kant (147), B 567 Kant (147), B 581 Vgl. Kant (147), B 568
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entweder gut oder böse - je nachdem welche ursprüngliche Maxime In Freiheit angenommen worden ist. Von dieser den weiteren Handlungsverlauf bestimmen218 den Maxime "(...) muß nun nicht weiter gefragt werden können, was der subjektive Grund ihrer Annehmung, und nicht vielmehr der entgegengesetzten 219 Maxime, im Menschen sei." Da diese Maxime frei gewählt worden ist, ist "der erste subjektive Grund der Annehmung moralischer Maximen unerforsch220 lieh" . Dies bedeutet aber nicht - wie Kant ausdrücklich hervorhebt -, daß er außerhalb meiner liegt. Der Mensch ist der "Urheber" 221 seines intell i g i b l e n Charakters, auch wenn diese Wahl nicht in der Zeit geschehen ist und wir sie der Natur zuschreiben: "weil wir also diese Gesinnung, oder vielmehr ihren obersten Grund nicht von irgend einem Zeit-Actus der WillkUr ableiten können, so nennen wir sie eine Beschaffenheit der W i l l k ü r , die ihr 222 (ob sie gleich in der Tat der Freiheit gegründet ist) von Natur zukömmt." Die Unerforschlichkeit dieses Grundes bedeutet zugleich, daß wir niemals wissen können, ob wir gut oder böse sind. Der handlungsbestimmende Einfluß des entweder guten oder bösen intelligiblen Charakters ist nach Kant weder ein Anlaß zum Pharisäismus noch zum Fatalismus. Gibt es in bezug auf den empirischen Charakter eine Reform der Sitten, so .hinsichtlich des (bösen) intelligiblen Charakters "eine Revolution in der Gesinnung des Menschen". Diese durch eigene Kräfte zu erreichende "Herzensänderung" ist von der P f l i c h t gefordert, so daß sie - ungeachtet dessen, daß wir ihre Ausführbarkeit nicht einzusehen vermögen - "(...) daher 22^ auch dem Menschen möglich sein muß." Es verbleibt dem Menschen nur die Hoffnung, "die Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen" durch "eigene Kraftanstrengung" 224 zu erreichen. 2. Die Theorie des intelligiblen Charakters wird von Adorno in mehrfacher Hinsicht mißverstanden: a) Seiner Auffassung zufolge führt Kant den bestimmten intelligiblen Cha225 rakter "auf eine Handlung in der Zeit" zurück. Da dies den Ausführungen Kants widerspricht, ist es nicht verwunderlich, daß die im Anschluß an die These - vermutlich zum Beweis - zitierte Passage aus der 'Kritik der prakti218 219 220 221 222 223 224 225
Vgl. Kant (141), S. 25 Kant (141), S. 21 Kant (141), S. 21 Anm. Kant (141), S. 21 Kant ( 1 4 1 ) , S. 25 Kant (141), S. 47 Kant (141), S. 51 Adorno ( 7 ) , S. 286
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Adornos Kritik der Ethik Kants
sehen Vernunft 1 diese Behauptung nicht stützt. b) Adorno rückt den intelligiblen Charakter in die Nähe des Begriffs der "Persönlichkeit". Deren Aufgabe bestimmt er als "formale Leistung der Integration", die er - gemäß seines oben skizzierten Mißverständnisses hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft und Sinnlichkeit - als "Beherrschung der inneren Natur" konkretisiert. Wird der intelligible Charakter als solcher schon derart eingeengt, so ist es nur konsequent von Adorno "(...) zu fragen, ob bei Kant ein böser intelligibler Charakter denkmöglich sei; ob er das Böse nicht darin sucht, daß die formale Einheit mißlang." Diesem Mißverständnis entsprechend bestimmt er den intelligiblen Charakter positiv "(...) 226 als starkes Ich (...), das alle seine Regungen vernünftig kontrolliert" Für die Reduktion des intelligiblen Charakters auf den guten intelligiblen Charakter gibt es bei Kant keine Anhaltspunkte. Genaugenommen charakterisiert er noch nicht einmal den guten intelligiblen Charakter als "Beherrschung der inneren Natur". Derselbe wäre vielmehr als ein solcher zu fassen, der zufolge seiner ursprünglich angenommenen Maxime nur aus Pflicht handelte und seine Neigungsbestimmtheit überwunden hätte, nicht aber unbedingt seine sinnliche Seite unterdrückte. An dieser Stelle wird die psychologische Argumentationsebene Adornos abermals deutlich, indem er den intelligiblen Charakter durch die Projektion Freudscher Vorstellungen zu fassen versucht. Zeichnet sich nach Adorno der intelligible Charakter durch die "Leistung der Integration" und die "Beherrschung der inneren Natur" aus, so entspricht dies der Ich-Theorie Freuds, der das Ich als "Zusammenfassung und Vereinheitlichung" seelischer Vorgänge mit der Aufgabe der "Triebbeherrschung" 227 bestimmt. Das Versagen dieser Kategorien ist aber zugleich ein index falsi der Adornoschen Subjektstheorie. c) Ebenfalls ist es unangemessen, den intelligiblen Charakter auf die theologische Vorstellung der "Gnadenwahl" zu beziehen: Hier reduziert Adorno nicht nur den i n t e l l i g i b l e n Charakter auf den guten intelligiblen Charakter (Gnadenwahl), sondern klammert zudem das Moment seiner Eigenständigkeit und Freiheit aus. Zwar kennt auch die theologische Gnadenlehre den freien Menschen und bemüht sich in den verschiedenen Gnadensystemen, das Wirken eines Gottes mit der Freiheit des Menschen zu vereinen, jedoch bestimmt sie die Gnade als freies Geschenk eben dieses Gottes dem Menschen gegenüber 226 Adorno ( 7 ) , S. 288 f 227 Freud ( 7 3 ) , S. 513
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(Gnadenwahl). Demgegenüber stellt Kant den Menschen wesentlich In die eigene Verantwortung: Der Mensch muß "(...) hoffen können, durch eigene Kraftanwendüng (zu der Revolution der Denkungsart, B.) zu gelangen." OOQ
Der Intelligible Charakter verliert dann voll koninen sein Freiheitsmoment, OpQ wenn Adorno ihn mit dem Begriff des "blinde(n) Schicksal(s)" identifiziert: Dies widerspricht nicht nur der von der Pflicht geforderten und durch sie gewährleisteten Möglichkeit einer eigenständigen "Revolution in der Gesinnung 11 230 , sondern auch dem Theorem einer freien Wahl des bestimmten intelligiblen Charakters. Adorno scheint hier von der Unerklärlichkeit ("Irratio231 nalität" ) der ursprünglichen Annahme einer guten oder bösen Maxime auf eine außersubjektive Determination zu folgern. Anstatt Kant hier einen fatalistischen Determinismus zu unterstellen, wäre es sinnvoller gewesen darzulegen, wie eine freie Handlung in ihrem letzten Grund soll erklärt werden können: "Eben dieses 'Moment' des Bestimmens kann, da es 'intellectuell' ist, nicht in Erklärungen (Kausalerklärungen) menschlicher Handlungen einbezogen, es kann grundsätzlich 'nicht wahrgenommen1, 'nicht beobachtet1, 'nicht erfahren 1 , werden."232 d) Bezeichnend für den zugrundeliegenden Psychologismus ist es, wenn Adorno die Theorie des intelligiblen Charakters durch die psychologischen Erkenntnisse in bezug auf die Genese des empirischen Charakters berührt 233 sieht. Zudem impliziert dieses grundsätzliche Mißverständnis einen Selbstwiderspruch: Wenn Adorno den intelligiblen Charakter mit dem empirischen in Verbindung bringt, diesen ( - übrigens durchaus mit Kant übereinstimmend 234-) als kausal determiniert bestimmt, dann kann er, weil dies auch für den intelligiblen Charakter gelten muß, diesem keine unbestimmte Irrationalität vorwerfen. Der intelligible Charakter ist zwar "irrational", insofern er intelligibel ist. Er ist aber nicht in dem Sinne irrational, daß er den Menschen einer außersubjektiven Schicksalsherrschaft überantwortet und so zum "Bündnis der Idee von Freiheit mit der realen Unfreiheit" beiträgt. Nicht gegen die 228 Kant (141), S. 51. Vgl. zur soziologischen Deutung der Lehre von der Gnadenwahl auch Horkheimer (121), S. 131, 148 229 Adorno ( 7 ) , S. 290 230 Kant (141), S. 47 231 Adorno ( 7 ) , S. 290 232 Beimsoeth (107), S. 295 233 Vgl. Adorno (5), S. 548 f 234 Vgl. Kant (147), B 581
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Adornos Kritik der Ethik Kants
Irrationalität des intelligiblen Charakters erhebt "die Idee der Freiheit Einspruch" 235 , wie Adorno glaubt, sondern die Idee der Freiheit fordert gerade diese "Irrationalität". Zum Irrational ismusvorwurf sei abschließend festgehalten: 1. Der Einwand, die Begründung der kritischen Ethik sei irrational, beruht im wesentlichen auf der Fehldeutung des Sittengesetzes als eines heteronotnen und empirischen (zufälligen) Faktums für die Vernunft. Zudem läßt Adorno außer acht, daß die Problematik einer Nichtdeduzierbarkeit des Sittengesetzes von Kant durch die wechselseitige Integration von theoretischer und praktischer Vernunft zumindest entschärft, wenn nicht sogar im Ansatz überwunden wird. 2. Der Vorwurf, die kritische Ethik sei in ihren Konsequenzen irrational, ist zweifacher Art: a) Die Kritik hinsichtlich des Verhältnisses von Vernunft und Gegenstand, d.h. einer notwendig irrationalen Handlungsweise des W i l l e n s , verkennt die Beschränkung der W i l l k ü r durch den im kategorischen Imperativ beschlossenen absoluten Wert des Menschen. Dabei offenbart sich die Unvereinbarkeit dieses Vorwurfs mit dem der Repressivität in bezug auf das Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit. Die These einer Verwandtschaft zwischen Kant und de Sade/Nietzsche hält der näheren Betrachtung nicht stand, b) Der Vorwurf einer irrationalen Schicksalsmächtigkeit des intelligiblen Charakters läßt nicht nur den Gedanken einer Revolution der Denkungsart unberücksichtigt, verwandelt nicht nur die a-temporal zu verstehende Eigenbestimmung des intelligiblen Charakters in eine zeitliche Fremdbestimmung, verwendet nicht nur unangemessene psychologische Ichvorstellungen und reduziert nicht nur derart den intelligiblen Charakter auf den guten intelligiblen Charakter. Er vernachlässigt zudem die Grenze zum empirischen Charakter und verkennt grundsätzlich die Bedeutung der Freiheit: Die "Irrationalität" des intelligiblen Charakters steht nicht im Widerspruch zur Freiheit, sondern ist ihr Ausdruck. Damit zergeht Adornos Anspruch einer immanenten Kritik. Statt dessen ist der Irrationalismusvorwurf gegen Adorno selbst zu wenden: Wenn Adorno die Wahrheit ethischer Sätze im nichtrationalisierten Impuls verankert 236 , dann ergibt sich eine Schwierigkeit, die M. Clemenz wie folgt herausstellt: "Als ' I m p u l s ' wäre etwa auch der Satz berechtigt: es soll nie-
235 Adorno ( 7 ) , S. 290 236 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 281 f
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mand eingesperrt werden. Als solcher steht er jenseits von Gerechtigkeit, Validität hätte er einzig in der utopisch realisierten, konfliktlosen Gesellschaft. 'Gerechtigkeit 1 (von Recht ganz zu schweigen) erfordert den Bezug aufs Material. Der allgemeine Satz also: es soll niemand eingesperrt werden, müßte, etwa auf sadistische Verbrecher bezogen, modifiziert werden. Mit der fälligen Begründung aber wäre bereits die 'schlechte Unendlichkeit' von 'Ableitung und Gültigkeit 1 , 'Rationalisierung 1 betreten, die Sätze hätten somit ihre 'Wahrheit' verloren. Soll irgendetwas auf dieser Welt zum Besseren gewendet werden, dann ist es unumgänglich, Recht gegen Unrecht, Freiheit gegen notwendigen Zwang abzuwägen. Wem dieses Dilemma unerträglich, diese Last zu groß ist, der hat sich der Irrationalität des Bestehenden bereits gebeugt." 237 Auch wenn Adornos Kritik an Kant nicht immanent und der Irrationalismusvorwurf gegen ihn selbst zu wenden ist, ist der Ansatz der kritischen Ethik noch nicht positiv gerechtfertigt, da er an eine subjektstheoretische Voraussetzung gebunden ist: Sind Vernunft und menschliche Subjektivität auf Natur zurückführbar, so ist es unmöglich, von einem reinen Faktum der Vernunft zu reden, zugunsten eines im kategorischen Imperativs beschlossenen absoluten Werts des Menschen zu argumentieren, von hierher ethische Regeln zu erarbeiten, oder einen intelligiblen Charakter anzunehmen. Bevor also die subjektstheoretische Grundfrage nicht geklärt ist, wäre eine endgültige Entscheidung zugunsten Kants oder Adornos voreilig.
237 Clemenz (39), S. 193
4.3
Vorwurf der Abstraktion
Die Bedeutung der Subjektstheorie wird durch Adornos Abstraktionsvorwurf unterstrichen: Der fehlende Bezug der Kantischen Vernunft und Freiheit auf das "irrationale" Moment bedinge die Irrationalität der totalen Rationalität. Die ausstehende Selbstbesinnung des begrifflichen Denkens verdecke seinen wesentlichen Bezug auf ein Anderes, Nichtidentisches, so daß das Denken nur mit sich selbst beschäftigt sei. Das reine Denken aber, die reine Rationalität der Freiheit beruhe auf einer Abstraktion vom Richtrationalen und Bedingend-Empirischen. Zunächst sind die verschiedenen Aspekte des Abstraktionsvorwurfes zu skizzieren. Sodann soll dargestellt werden, wie die kritische Ethik von der Grundlage dessen her erscheint, von dem sie vorgeblich abstrahiert worden ist, d.h. wie sie sich aus psychologischem und soziologischem Gesichtspunkt darstellt. 4.3.1
Aspekte der Abstraktion
Kant ordnet die Freiheit als "(...) Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen" 238 , dem intelligiblen Bereich zu und schließt sie von der durchgängig kausal determinierten phänomenalen Gegenstandswelt aus. 239 Die Auflösung der dritten Antinomie, These (Freiheit) und Antithese (Naturkausalität) auf verschiedene Anwendungsbereiche zu beziehen, beruht auf dem Dualismus des Phänomenalen und Intelligiblen. Die Restriktion des menschlichen Wissens in der 'Kritik der reinen Vernunft' und die damit einhergehende Bereitstellung der Möglichkeit, Freiheit anzunehmen, ist entscheidend für den Ansatz der kritischen Ethik. Die an den Dualismus anknüpfende Verankerung der Freiheit 1m Intelligiblen reduziert sich für Adorno jedoch auf eine bloße "Abstraktion" 24 , eine Abstraktion vom Konkret-Empirischen. Die Bestimmung des Kantischen Freiheitsbegriffs als eines Abstraktionsproduktes setzt eine Kritik des noumenalen Subjekts (des transzendentalen "Ich denke" ?) voraus: Es "(...) ist das em238 Kant (147), B 561 239 Kant (147), B 564 f 240 Adorno (7), S. 213, 227 f
Aspekte der Abstraktion
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pirische Subjekt, das jene (d.h. die freien, B.) Entscheidungen fällt - und nur ein empirisches kann sie fällen, das transzendental reine Ich denke wäre keines Impulses fähig -, selbst Moment der räum-zeitlichen 'auswendigen' Welt und hat von ihr keine ontologische Priorität; darum scheitert der Versuch, die Frage nach der Willensfreiheit in ihm zu lokalisieren." Die Kan tische Freiheit, die sich zum "Jenseits der Natur" verflüchtige, sei eine "Selbsttäuschung" 242 . Sie übe in der bürgerlichen Gesellschaft eine ideolo*)/! gische Funktion aus. Index der Problematik dieser "abstrakt-subjektiv" (und nicht konkret gesellschaftlich) konzipierten Idee der Freiheit seien die "Experimente crucis" , d.h. die Tatsache, daß Kant trotz seiner Forderung nach Reinheit empirische Beispiele gibt. y| A
Es sei davon abgesehen, daß Kant seinen ethischen Entwurf nicht durch Beispiele "begründen" will - wie Adorno glaubt -, sondern ihn lediglich verdeutlichen w i l l . Des näheren lassen sich im wesentlichen vier Aspekte des Abstraktionsvorwurfes unterscheiden: 1. Kant abstrahiere von den gesellschaftlichen Bedingungen einer jeden als frei deklarierten Entscheidung und behaupte deren "Autarkie". Vielmehr jedoch - so Adorno - "(...) gehen in die mit Wille und Freiheit designierten Entscheidungen ungezählte Momente der auswendigen, zumal gesellschaftlichen Realität ein." 247 Die zweifelsohne richtige Feststellung Adornos berührt indessen den Ansatz der kritischen Ethik in keiner Weise, da dieser den Aspekt der außersubjektiven Bedingtheit der freien Willensentscheidungen umfaßt: Das der empirischen Seite zugeordnete Prinzip der Sinnlichkeit deckt dieses Problem im Grundsätzlichen ab. Allerdings erachtet es Kant - zu Recht - im Rahmen der "rationalen" Ethik als sekundär, die Sinnlichkeit in biologische, psychologische, gesellschaftliche und andere Momente zu spezifizieren. Diese Aufgabe fällt dem sich an den rationalen Teil der "Metaphysik der Sitten" anschließenden Teil einer "praktische(n) Anthropologie" 248 zu. Der Vorwurf Adornos aber beleuchtet schlagartig sein defizientes Argumentationsniveau gegenüber Kant. 241 242 243 244 245 246 247 248
Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) , Vgl. Adorno Adorno ( 7 ) , Vgl. Adorno Adorno ( 7 ) , Adorno ( 7 ) , Kant (143),
S. 213 S. 219 ( 7 ) , S. 218 S. 215 ( 7 ) , S. 222 - 225 S. 224 S. 212 S. 388
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Adornos Kritik der Ethik Kants
2. Es sei Kant nicht "bei gekommen", daß nicht nur das Bewußtsein der Freiheit, sondern die "Freiheit selbst, ihm ewige Idee, geschichtlichen Wesens"
sei. Unfreien Gesellschaften und Epochen könne die Freiheit nicht "als objektives An sich" zugesprochen werden. Dies sei mit dem "Prinzip des Transzendentalen" unvereinbar, " ( . . . ) das im subjektiven Bewußtsein fundiert sein soll, und unhaltbar wäre, wofern es, das vermeintliche Bewußtsein überhaupt, irgendeinem Lebendigen gänzlich abginge." 249 Auch hier ist daran zu erinnern, daß Kant der Gedanke eines zeitlichen Wesens der Freiheit durchaus "bei gekommen" ist, wie seine Schriften zeigen, 250 nur daß er ihn in der Ethik abgelehnt hat. Im übrigen weist Adornos Argumentation drei Schwächen auf: a) Es ist zwar zutreffend, daß das transzendentale Prinzip auf das subjektive Bewußtsein bezogen ist, unzutreffend aber, es - wie hier - privat-subjektiv zu deuten. Dies ist umso unverständlicher, weil Adorno an anderen Stellen gerade in kritischer Absicht betont, daß die transzendentale Be251 wußtseinsstruktur nicht empirisch-personal zu verstehen ist. b) Wenn das Transzendentale im Bewußtsein fundiert ist, so bedeutet das nicht, daß es bewußt sein muß. Das fehlende Bewußtsein der Kausalitätskategorie z.B. berührt in keiner Weise die Tatsache, daß diese Kategorie im Bewußtsein fundiert ist. Adorno argumentiert also mit einem doppelten Bewußtseinsbegriff, der schon in seiner ersten Habilitationsschrift zu der unglücklichen Gegenüberstellung der Transzendentalphilosophie als einer Philosophie des Bewußtseins zur Theorie des Unbewußten (zur Psychoanalyse) führte.252 c) Schließlich ist der Schluß von einem mangelnden Freiheitsbewußtsein auf die Irrealität der Freiheit im Kantischen Sinne nicht begründet. Er wird lediglich durch die undifferenzierte Verwendung des Begriffs "Bewußtsein" 249 Adorno ( 7 ) , S. 217 (Hervorhebung B.) 250 Vgl. Kant (141), S. 40. Die Annahme unzeitlich transzendentaler Freiheit ist selbstverständlich nicht mit der Annahme gleichbedeutend, daß die politisch-gesellschaftliche Freiheit gegeben sei, oder daß, weil jene sei, diese nicht hergestellt zu werden brauchte. Gegenüber einer solchen neben Adorno z.B. auch von H. Marcuse [(182, S. 94 ff] formulierten Kritik ist auf die Rechts- und Staatslehre Kants (vgl. bes. Kant, 'Metaphysik der Sitten1, Einleitung in die Rechtslehre) und seine geschichtsphilosophischen Schriften [vgl. z.B. Kant (145), S. 22] hinzuweisen. Vgl. auch den Versuch von Krings, das Verhältnis von transzendentaler und politischer Freiheit zu bestimmen: Krings (162), S. 508 f 251 Vgl. z.B. Adorno ( 7 ) , S. 272 252 Vgl. Adorno ( 9 ) , S. 87 f. Vgl. auch (13), S. 109 - 112
Aspekte der Abstraktion
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plausibel. Bewußtsein 1st entweder hauptthematisch, d.h. aktualisiert, oder nebenthematisch. In diesem Fall 1st es mit einem niedrigen Bewußtseinsgrad, der bis Ins Unbewußte gehen kann, ausgezeichnet, aber prinzipiell ins Hauptthematische verwandelbar. Von dem in politisch unfreien Gesellschaften möglicherweise nicht aktualisierten, fehlenden hauptthematisehen Freiheitstewufitsein auf die Irrealität der von Kant SUppOnierten transzendentalen
Freiheit zu schließen, ist doppelt uneinsichtig. Selbstverständlich kann nur bei einem Wesen von Freiheit gesprochen werden, das durch selbstreflexive Einheit ausgezeichnet ist, wie Adorno hervorhebt. 253 Das heißt aber nicht, daß diese Einheit bewußtseinsmäßig hauptthematisch sein muß oder nur dann ist. 3. Als dritten Aspekt stellt Adorno heraus, daß der auf "reine praktische Vernunft gebrachte Wille eine Abstraktion" sei. Das primär somatische Wesen des Willens spiegele sich nur noch schwach in dem idealistischen Begriff der "intramental gedeuten Spontaneität". Es gelte der von Kant pervertierte Sachverhalt: "(...) wäre die motorische Reaktionsform ganz liquidiert, zuckte nicht mehr die Hand, so wäre kein W i l l e . " Der Einwand zielt auf die Zentralfrage der 'Kritik der praktischen Vern u n f t ' : Wie kann reine Vernunft praktisch sein ? Wie kann der objektive Bestimmungsgrund zur Triebfeder des Handelns werden ? Diese Frage aber kann Kant eingestandenermaßen nur zum Teil beantworten mittels des mit dem moralischen Gesetz verbundenen Prinzips der Achtung. Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, "(...) wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestimmungsgrund des W i l l e n s sein könne (welches doch das Wesentliche aller Moralita't ist)". Dies ist nach Kant "(...) ein für die menschliche Vernunft unauflösbares Problem, und mit dem einerlei, wie ein freier W i l l e möglich sei." 255 Unlösbar ist dieses Problem, weil " ( . . . ) alsdenn ( . . . ) die Vernunft alle ihre Gesetze überschreiten (würde)" 256 . Hier bekundet sich nicht nur die erkenntniskritische Vorsicht Kants, sondern es muß auch gefragt werden, ob dieses Problem nur die kritische Ethik trifft: Wie begründet Adorno die Tatsache, daß der Mensch nicht nur seinem ungebändigten somatischen Impuls folgen muß, sondern diesen im Falle der Unsittlichkeit durch Vernunft einschränken kann ? Seine Antwort, die auf eine Art ethischer AffeJcteniehre 253 254 255 256
Vgl. Adorno Adorno ( 7 ) , Kant (146), Kajit (143) ,
( 7 ) , S. 218 S. 228 f (Hervorhebungen S. 72 S. 458
B.)
176
Adornos Kritik der Ethik Kants
verweist, leidet an dem Mangel, Vernunft im eigentlichen Sinne zu leugnen. Sieht er das Problem einer Handlungsbestimmung durch Vernunft dadurch gelöst, daß sich die Vernunft "genetisch aus der Triebenergie als deren Dif9C7 ferenzierung" entwickelt hat, so kann die Bestimmung der somatischen Impulse durch die "Vernunft" nichts anderes bedeuten als die Bestimmung durch einen sublimierten, vom ursprünglichen Triebziel abgelenkten Impuls. Indessen wirft dies keineswegs geringere Schwierigkeiten auf als die Unbeantwortbarkeit der Frage, wie reine Vernunft praktisch sein kann - werden doch wesentliche ethische Momente wie Freiheit, Verantwortung und Verpflichtbarkeit problematisch, wenn nicht gar unmöglich. 4. In entscheidender Weise zielt der Abstraktionsvorwurf schließlich auf die Kantische subjektakonzeption selbst: "Das vermeintlich ansichseiende Subjekt ist in sich wesentlich vermittelt durch das, wovon es sich scheidet, den Zusammenhang aller Subjekte. Durch die Vermittlung wird es selber das, 258 was es seinem Freiheitsbewußtsein nach nicht sein w i l l , heteronom." Träfe dieser Einwand zu, dann wären in der Tat die freie Intelligenz und die reine praktische Vernunft nichts anderes als Hypostasierungen, verzerrte Ansichten des empirisch Natürlichen. Die anderen Aspekte des Abstraktionsvorwurfes wären in diesem Falle zwar nicht gerechtfertigt, wohl aber unsere kritischen Erörterungen sekundär. Sind die freie Intelligenz und die reine praktische Vernunft Hypostasierungen und Abstraktionsprodukte, so muß die Freiheit selbst zwangsläufig geschichtlichen Wesens sein und der reine praktische W i l l e reduziert sich - ungeachtet der problematischen Implikationen - auf abgezweigte libidinöse Triebenergie. Indessen muß dieser Vorwurf begründet werden. Bevor Adornos Argumente kritisch nachgezeichnet werden, ist zu prüfen, wie die kritische Ethik gedeutet werden müßte, falls der Abstraktionsvorwurf zu Recht bestünde. Ethik fiele wesentlich in den Zuständigkeitsbereich von Psychologie und Soziologie. 4.3.2
Die Psychologisierung und Soziologisierung der kritischen Ethik
Da für Adorno der intelligible Bereich keine oder nur eine "reale" Größe darstellt, muß er die reinen Bestimmungen der kritischen Ethik in die empirische Dimension transponieren, ihren wesensmäßig empirischen Charakter nach257 Adorno ( 7 ) , S. 229 258 Adorno ( 7 ) , S. 213
Psychologlsierung und Soziologisierung
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weisen, will er Ihnen nicht jeden Wahrheitsgehalt absprechen. Die intelligiblen Bestimmungen müssen in empirische "rückübersetzt" werden. Dabei rekurriert Adorno auf psychoanalytische und soziologische Vorstellungen. Die Einbeziehung dieser Vorstellungskreise entspricht der interdisziplinären Forschungskonzeption der Kritischen Theorie: "Die Arbeitsteilung zwischen Disziplinen wie Philosophie, Soziologie, Psychologie und Geschichte liegt nicht in ihrem Gegenstand, sondern ist diesem von außen aufgezwungen." 259 Fraglich ist es jedoch, ob die verschiedenen Ebenen beliebig austauschbar sind.260 Schon bei den erkenntnistheoretischen Erörterungen traten verschiedentlich Bedenken auf. Analoge sind auch hier schon ob der Überlegung zu artikulieren, daß Psychologie und Soziologie deakxiptive Wissenschaften sind, dahingegen die Ethik primär präskriptiv ist. Die vorab zu vermutende Inkommensurabilität von Wissenschaften, die das beschreiben, was ist, mit einer solchen, die vorschreibt, was sein soll, muß konkret nachgewiesen werden. i. Psychoiogisierung: Die Freiheitslehre Kants darf Adornos Auffassung zufolge nicht von der Psychologie getrennt werden. Das Apriori müsse vielmehr psychologisch erklärt werden. 261 Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen beruhe die Kantische Freiheitskonzeption auf dem Phänomenalen: Die Gegebenheit des Sittengesetzes lasse sich hier als ein Daseiendes beobachten. Gegebenheit 262 heißt für Adorno: "nackter Zwang, ausgeübt in Raum und Z e i t " . Das Faktum des Sittengesetzes ziehe aus dem psychologischen Tatbestand des Gewissens seine Oberzeugungskraft. Die vom Sittengesetz ausgehende Nötigung interpreoco 264 tiert Adorno - ähnlich wie vor ihm Freud - als "realen Gewissenszwang" Die Faktizität sei durch das empirisch faßbare und bedingte Oberich verbürgt. Da Kant jedoch keine empirischen Motivationen zulassen dürfe, habe er das "genetische Moment" 265 durch die Konstruktion des intelligiblen Charakters 259 Adorno ( 5 ) , S. 373. Vgl. zum Programm einer interdisziplinären Sozialforschung der frühen Kritischen Theorie Dubiel ( 5 1 ) , S. 135 - 211 260 Vgl. auch Beier, die auf die "Vermischung" [ ( 3 0 ) , S. 15 u. 143] verschiedener Ebenen, insbesondere der soziologischen mit der philosophischen, die Schwäche der Adornoschen Gesellschaftstheorie zurückführt. Diese leide an der " ( . . . ) Aporie, mit den Mitteln philosophischer Reflexion philosophische Denkformen zu relativieren"(30, S. 4 5 ) , an der Schwierigkeit, die traditionell philosophischen Kategorien nicht konsequent genug durch sozialwissenschaftliche abzulösen [vgl. ( 3 0 ) , S. 23 f, 51, 67, 71]. 261 Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 214, 231. Im Gegensatz dazu Kant (143), S. 390 262 Adorno ( 7 ) , S. 252 f 263 Vgl. Freud ( 7 3 ) , S. 500 f; ( 7 1 ) , S. 351; ( 7 4 ) , S. 292 264 Adorno ( 7 ) , S. 267. Vgl. ( 1 1 ) , S. 302 265 Adorno ( 7 ) , S. 268
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Adornos Kritik der Ethik Kants
ersetzen müssen. Konstitutives Moment des reinen Sittengesetzes bleibe aber das Empirisch-Faktische. Es ist evident, daß diese psychologische Deutung des Sittengesetzes auf dem oben aufgezeigten Mißverständnis des Faktums der reinen Vernunft beruht. Zudem stellt sich das Problem, daß das psychologisch faßbare Gewissen doch material spezifische Inhalte kennt, wohingegen das Sittengesetz formal unspezifisch ist. Die Brüchigkeit versucht Adorno durch die nicht weiter begründete These zu beseitigen, daß "noch in seiner äußersten Abstraktion (...) das Gesetz ein Gewordenes (ist), das Schmerzhafte seiner Abstraktheit sedimentierter Inhalt, Herrschaft auf ihre Normal form gebracht, die von Identitat." ?fiß In einem dritten Punkt kann die psychologische Betrachtungsweise nicht zufriedenstellen: Nach Kant liegt sittliches -Handeln dann vor, wenn es aus Pflicht geschieht. Wird aber als tatsächliche Triebfeder des Sittlichen ein verschleiertes Oberich geltend gemacht, d.h. eine im Grunde eudämonistische Motivation (Vermeidung von Sanktionen), so mag das zwar möglicherweise eine adäquate Deutung der realen Bestimmungsgründe faktisch pflichtgemäßen Handelns sein, verfehlt aber gerade das Genuine der Kantischen Moralitätskonzeption und ihrer Forderung eines Handelns aus Pflicht. Der Autonomiegedanke ist in psychologischen Kategorien nicht zu fassen, da mittels derselben a l l e n f a l l s nachgewiesen werden kann, daß das wirkliche Handeln nicht aus Pflicht geschieht, sondern eudämonistisch motiviert ist. Wie Kant 267 schon dargelegt hat , berührt diese mögliche Tatsache keinesfalls die Objektivität der kritischen Ethik. Adorno schließt nicht nur das Sittengesetz mit dem Oberich kurz. Zudem identifiziert er die sich im Sittengesetz aussprechende Nötigung des Überichs im Zuge einer teilweisen Revision des psychoanalytischen Ansatzes Freuds OiJQ als Verinnerlichung der gesellschaftlichen Repression , die sich im Ichprinzip niederschlage. Dabei ist es in diesem Zusammenhang entscheidend, daß Adorno ähnlich wie Herbert Marcuse 26 Q das von Freud formulierte Realitätsprinzip des Ichs als illegitim und repressiv bestimmt und in der Folge die Trennung von Ich und Oberich aufhebt: "Denn die unreflektierte Herrschaft der Vernunft, die des Ichs über das Es, ist identisch mit dem repressiven 266 267 268 269
Adorno (7), S. 268 Vgl. Kant (143), S. 407 f Vgl. Adorno ( 7 ) , S. 269 Vgl. Marcuse (183), S. 129 - 139. Zur Differenzierung zwischen Adornos und Marcuses Freud-Rezeption vgl. Düver (52), S. 151 - 154.
Psychologisierung und Soziologisierung
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Prinzip, das die Psychoanalyse, deren Kritik vorm Realitätsprinzip des Ichs 270 verstummt, in dessen unbewußtes Walten verschob." Konsequenterweise liest er aus der Freudschen Theorie eine "bürgerliche Verachtung des Triebs" 271 heraus. Da sich das Ich mittels des Realitätsprinzips an die irrationale Totalität der Gesellschaft anpasse, in der erst partikulare Vernunft herrsche, 272 sei der "Triumph des Ichs" ein Sieg "der Verblendung durchs Partikulare" . "Der Mechanismus der Anpassung an die verhärteten Verhältnisse ist zugleich einer der Verhärtung des Subjekts in sich: je realitätsgerechter es wird, desto mehr wird es sich selbst zum Ding, desto weniger lebt es überhaupt noch, desto unsinniger wird sein ganzer 'Realismus 1 , der all das zerstört, um dessentwillen eigentlich die selbsterhaltene Vernunft ins Spiel kam, und der in der Konsequenz noch das nackte Leben bedroht." 273 Die sich vorgeblich bei Kant findende unreflektierte Unterdrückung der Sinnlichkeit durch die Vernunft (Identitätsprinzip) stellt sich in Adornos Version der Psychoanalyse als die des Es durch das Ich/Oberich dar. Dabei gelte, daß "(...) der dem Individuum gesellschaftlich zugemutete Triebverzicht sich weder objektiv in seiner Wahrheit und Notwendigkeit legitimiert, noch dem Subjekt das vertagte Triebziel später verschafft." Die Deutung läuft auf das von Adorno nicht ausgesprochene Ergebnis hinaus, die von Kant geforderte Einschränkung der W i l l k ü r ("Es") durch den Gedanken eines allgemein gesetzgebenden Willens und der Heilighaltung der Menschheit in jeder einzelnen Person als nicht legitimierten "Triebverzicht" verstehen zu müssen. Damit zeigt sich wie schon zuvor in bezug auf die Deutung des in275 telligiblen Charakters die Unmöglichkeit, die kritische Ethik mit psychologischen Kategorien zu fassen. Zudem ist Adornos Freudkritik problematisch. In seiner Kritik des Realitätsprinzips deutet er die von Freud geschilderte Ersetzung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip in der Entwicklung des 27ß als einen einseitigen Vorgang der "Anpassung an Ichs "zum Heil des Es" 277 die Realität" und deren Fixierung. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, daß Freud mit der Konstituierung des Realitätsprinzips lediglich fordert, 270 271 272 273 274 275 276 277
Adorno ( 7 ) , S. 269 Adorno ( 6 ) , Aphorismus Nr. 37 Adorno ( 1 2 ) , S. 57 Adorno ( 1 2 ) , S. 60 Adorno ( 1 2 ) , S. 68 Vgl. Kap. 4 . 2 . 2 . 2 Freud ( 7 3 ) , S. 512 Adorno ( 1 ) , S. 21
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Adornos Kritik der Ethik Kants 278
daß "Rücksicht auf die Realität" genommen wird. Das dem Realitätsprinzip folgende Ich versucht, die verschiedenen "(...) Ansprüche und Forderungen in Einklang miteinander zu bringen"279 , "(...) das Es der Welt gefügig zu machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch gerecht (zu; 280 machen" , nicht aber die Ansprüche der einen Seite zugunsten der anderen aufzugeben. Zum Abschluß deutet Adorno auf der psychologischen Ebene Kants Prinzip der Autonomie in Heteronomie um: Konstitutiv für die Verselbstä'ndigung des Gewissens (Sittengesetz) sei das Vergessen seines Ursprungs; als Vergessenes aber sei das Gewissen ichfremd, heteronom. Die Kritik des als Oberich "entlarvten" Sittengesetzes impliziert nach Adorno die Kritik der Gesellschaft, weil diese der Urheber des Gewissens sei. In der Erkenntnis des Gewissens und Sittengesetzes als "Verinnerlichung gesellschaftlichen Zwanges" 281 liege zugleich ein Potential der Freiheit, das es zu aktualisieren gelte. 2. soziaiogisierung: Wie sich zeigt, ist der Übergang von der Psychologie zur Soziologie fließend, diese bewahrt nach Adorno die Psychologie davor, wie Freud gesellschaftliche Bestimmungen des Menschen als naturhaft zu verklären. 282 Wie zwischen Philosophie und Psychologie keine feste Grenze zu ziehen sei, so auch nicht zwischen Philosophie und Soziologie. Entsprechend bemüht sich Adorno, die Ethik Kants auch soziologisch zu fassen: Mache Kant Freiheit und Moral "an der Person wie an einem unzerstörbaren Gut" 283 fest, so seien beide in Wahrheit - weil das Individuum wesentlich durch das Allgemeine, die Gesellschaft, vermittelt sei - nicht nur auf die Person, sondern ebenso auf die Gesellschaft zu beziehen. Das Ichprinzip zeige sich unter soziologischer Betrachtungsweise als Wiederholung der gesellschaftlichen Herrschaft über das Individuelle, als Identifizierung des Nichtidentischen. Damit drücke sich im scheinbar Besonderen, dem Inneren des Menschen, das Allgemeine aus. Das Prinzip der Persönlichkeit "(...) wiederholt ?84 trotzig im Subjekt die Herrschaft." "Das vereinzelte Individuum, das reine
278 279 280 281 282
Freud (75), S. 349 Freud (73), S. 514 Freud (70) , S. 322 Adorno ( 7 ) , S. 271 Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie vgl. S. 56 f. Vgl. dazu Düver (52), S. 138 - 146. 283 Adorno (7), S. 272 284 Adorno ( 7 ) , S. 273
Adorno (12),
bes.
Psychologisierung urid Soziologisierung
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Subjekt der Selbsterhaltung, verkörpert im absoluten Gegensatz zur GesellOQC schaft deren innerstes Prinzip." Zwar fühlen sich die Menschen "in der Stärke ihres Ich", seiner festen Einheit, am ehesten von der Gesellschaft frei, aber genau dieses Herrschaftsprinzip (Persönlichkeitsprinzip) sei ihnen "von der Gesellschaft eingepflanzt" worden, "(...) und sie honoriert es, obwohl sie es eindämmt. 1 286 Die kritische Ethik indessen habe diesen Sachverhalt nicht erfaßt. Die soziologische Deutung ist nicht nur problematisch, weil Adorno ohne Begründung eine vage Analogie in eine kausale Folge umdeutet. Zwar kann man leicht zu der Auffassung gelangen, daß das Prinzip der Persönlichkeit, das bei Kant der Ausdruck eines Allgemeinen ist (weil es der von Vernunft ist) mit der Herrschaft des Allgemeinen in der "verwalteten Welt" zusammenhängt, jedoch regen sich bei näherer Betrachtung Bedenken: Kants Persönlichkeitsprinzip geht nicht mit einer Herrschaft des Allgemeinen im Sinne einer Liquidierung des Individuellen einher, wie sie nach Adorno in der "verwalteten Welt" statt hat. Die Forderung nach einer Universalisierbarkeit der jedem Handeln zugrundeliegenden Maxime bedeutet nicht die nach einer Gleichförmig287 keit der konkreten Handlungen. Die Maxime, anderen in der Not zu helfen, bestimmt nicht die Art und Weise, wie dies zu geschehen hat. Im Hintergrund dieser soziologischen Kant-Kritik steht wiederum das von Adorno verwendete Kategoriensystem (Identität, Nichtidentisches, Identifizierung etc.), das sich schon oben als unangemessen erwiesen hat. Weder die psychologische noch die soziologische Kritik der Ethik Kants, wie sie Adorno auf der Grundlage des Abstraktionsvorwurfs entwirft, ist also überzeugend. Das indiziert zugleich die Problematik dieses Vorwurfs, weil sich die aus ihm notwendig folgende Zuständigkeit von Psychologie und Soziologie für die ethische Konzeption Kants nicht bewahrheiten konnte.
285 Adorno (12), S. 55 286 Adorno ( 7 ) , S. 292 287 Vgl. Kap. 4.1.2.3
4.4
Zusammenfassung der Überlegungen und die Bedeutung der Subjektstheorie
Entsprechend dem Ergebnis der erkenntnistheoretischen Überlegungen ist zu Adornos Kritik der Kantischen Ethik abschließend festzuhalten: Der Anspruch einer immanenten Kritik wird nicht erfüllt, weil die Ausführungen Adornos allenfalls zu einer Konfrontation der eigenen Anschauungen mit denen Kants zureichen. Ungeachtet dessen, daß einige Abänderungen und Ergänzungen der kritischen Ethik erforderlich sind, ist es bei dem augenblicklichen Stand der Überlegungen nicht notwendig, ihren Grundansatz aufzugeben. Die Einwände Adornos lassen sich in drei Hauptvorwürfe einteilen: Die Ethik Kants sei repressiv, irrational und abstrakt. 1. Der erste Aspekt des Repressivitätsvorwirfa, der sich auf die Moralphilosophie Kants im ganzen bezieht und sie als klassengebundenes Herrschaftsinstrument deutet, verkennt - abgesehen von den inneren Uneindeutigkeiten -, daß der im Zentrum stehende Begriff der Freiheit und der universalistische Grundansatz der kritischen Ethik denkbar ungeeignet sind, soziale und politische Vorrechte zu legitimieren. Die zweite Ausformung dieses Vorwurfs, das Verhältnis der Vernunft zur Sinnlichkeit sei repressiv, Freiheit bedeute für Kant zwangsläufig Unfreiheit des Natürlichen, nimmt in modifizierter Form die Rigorismuskritik Schillers auf. Sie scheitert aufgrund einer vereinfachten Deutung des Verhältnisses von Pflicht und Neigung und der Reduktion einer möglichen dreifachen Handlungsbewertung (moralisch, nicht-sittlich, unsittlich) auf eine strenge Alternative. Der Vorwurf einer Individualitätsfeindschaft Kants verdankt sich dem mehrfachen Mangel an gedanklicher Differenzierung (Verkürzung des Verhältnisses von Pflicht und Neigung; Außerachtlassung der Bedeutung von Maxime und Regel), einer sprachlichen Ambivalenz (von "Nichtidentisches") und der Anwendung eines inadäquaten (weil zu simplen) Kategoriensystems (Identität, Nichtidentisches, Identifikation). Der dritte Aspekt dieses Vorwurfs, das Prinzip der Vernunftfreiheit selbst sei repressiv, verkennt sowohl den explizit doppelten Kausalitätsbegriff Kants (Kausalität als Wirkvermögen, Naturkausalität), als auch die unterschiedliche Bedeutung des Moments der Gesetzlichkeit bei einer Autonomie und Heteronomie. Ein von Adorno formuliertes Zusatzargument leidet an der Verwechslung
Zusammenfassung
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von Objektebene und Metaebene. Der Vorwurf, Kants Einstellung zum Glück sei ambivalent, unterscheidet nicht zwischen Ambivalenz und dem Ineins von Eindeutigkeit und Differenziertheit. Die Identifizierung der Kantischen Bewertung des Mitleids als sittlich-neutral mit Nietzsches Ablehnung desselben reduziert sich auf blanke Polemik, geht es doch dort um die optimale Erfüllung allgemeinverbindlicher Moral, hier aber um ihre Oberwindung zugunsten einer Privat-"moral" des Obermenschen. Der Einwand, schon Kants Terminologie indiziere die Repressivität seiner Ethik, verkürzt - soweit er nicht auf einer vereinfachten Deutung des Verhältnisses von Vernunft und Sinnlichkeit beruht - den Autonomiegedanken. 2. Der irrationallsausvorwurf in bezug auf die Begründung der kritischen Ethik setzt ein mehrfaches Mißverständnis voraus: Ist das Sittengesetz nach Kant ein autonomes und apriorisches (einziges) Faktum der Vernunft, so faßt Adorno es als heteronomes und empirisches (zufälliges) Faktum für die Vernunft. Die Problematik einer Nichtdeduzierbarkeit dieses Faktums wird dabei von Kant zumindest entschärft, wenn nicht gar durch den Vorgriff auf ein System der Vernunft, die wechselseitige Integration von theoretischer und praktischer Vernunft, im Ansatz überwunden. Auf keinen Fall aber ist diesem Ansatz die Alternative Adornos, sein Rekurs auf unmittelbare Erfahrungen und die Wahrheit nichtrationalisierter Impulse überlegen. Der zweite Aspekt des Irrationalismusvorwurfs, die formalistische Konzeption der Vernunft bedinge, daß diese jedem Interesse zur Verfügung stehe, übersieht, daß der kategorische Imperativ wesentlich Ausdruck der absoluten Würde (wenn auch nicht des Individuums, so doch) des Menschen als Verkörperung der Menschheit ist. Zudem leidet dieser Vorwurf in empfindlicher Weise daran, daß er mit dem zweiten Repressivitätsvorwurf nicht vereinbar ist. Die philosophiegeschichtliche Konkretisierung dieser Seite des Irrationalismusvorwurfs, die Behauptung einer Affinität der kritischen Ethik zu den Theorien de Sades und Nietzsches ist nicht haltbar. Der dritte Aspekt der Irrationalismuskritik, das Prinzip des intelligiblen Charakters verkörpere eine irrationale Schicksalshörigkeit, reduziert den intelligiblen Charakter auf den guten intelligiblen Charakter, läßt den Gedanken einer Revolution der Denkungsart außer acht, versteht die Bestimmung des intelligiblen Charakters entgegen Kants Ausführungen zeitlich und vernachlässigt auf diese Weise den Unterschied zum empirischen Charakter. Zudem wird das Moment der freien Wahl des intelligiblen Charakters ausgeklammert und unangemessene psychologische Ichvorstellungen werden zugrundegelegt. Schließlich wird verkannt, daß die "Irrationalität" des intelli-
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Adornos Kritik der Ethik Kants
giblen Charakters genauer Ausdruck der menschlichen Freiheit ist und ihr nicht entgegensteht. Damit scheitert nicht nur Adornos Anspruch einer immanenten Kritik der Kantischen Ethik, sondern zudem ist der Irrationalismusvorwurf gegen ihn selbst zu wenden. 3. Den wesentlichen Grund für die vorgebliche Irrationalität der kritischen Ethik erblickt Adorno in ihrer Abstraktion vom Empirisch-Bedingenden. Das Intelligible sei nichts als ein idealistisches Abstraktionsprodukt. Der erste Aspekt des Abstraktionsvormrfs, Kant sehe von den gesellschaftlichen Bedingungen einer jeden als frei deklarierten Entscheidung ab, verkennt, daß dieses Problem im Prinzip der Sinnlichkeit und Neigungsaffiziertheit berücksichtigt ist. Adornos Einwand, das Wesen der Freiheit selbst sei geschichtlich, folgt nicht aus einer immanenten K r i t i k (vorgebliche Unvereinbarkeit mit dem Prinzip des Transzendentalen), sondern stellt zunächst nur eine Behauptung dar. Deren Begründung durch den Rekurs auf das empirisch mögliche Faktum eines nicht notwendig aktualisierten politischen Freiheitsbewußtseins überzeugt nicht. Der dritte Aspekt des Abstraktionsvorwurfs, das Prinzip reiner praktischer Vernunft sei ein Abstraktionsprodukt, thematisiert die kritische Frage, wie reine Vernunft praktisch sein kann. Abgesehen davon, daß Kant aus erkenntnistheoretischen Gründen diese Frage überhaupt nicht beantworten kann, wirft Adornos Vorschlag einer triebenergetischen Deutung des gesamten Willens nicht geringe Probleme auf, da wesentliche Momente wie Freiheit, Verantwortung und Verpflichtbarkeit unmöglich werden. In entscheidender Weise jedoch richtet sich der Abstraktionsvorwurf gegen die ursprungsphilosophische Konzeption des Subjekts: Das ansichseiende Subjekt der kritischen Ethik sei in Wahrheit wesentlich in sich vermittelt. Falls dies zuträfe, fiele Ethik wesentlich in den Zuständigkeitsbereich von Psychologie und Soziologie. Die kritische Rekonstruktion der von Adorno formulierten psychologischen und soziologischen Deutungsansätze der Moral Philosophie Kants läßt aber Bedenken aufkommen, ob diese Wissenschaften der ethischen Fragestellung angemessen sind, und führt so indirekt zum Zweifel an der Stichhaltigkeit dieses zentralen Abstraktionsvorwurfs. Die Beantwortung der subjektstheoretischen Frage trägt somit wesentlich die Entscheidung zugunsten des Ansatzes von Kritizismus oder Kritischer Theorie. Ist auch den einzelnen Kritikpunkten Adornos an der moral philosophischen Konzeption Kants nicht zuzustimmen, so muß dennoch der Ansatz der kritischen Ethik aufgegeben werden, f a l l s eine transempirische Subjektstheorie an - so Adornos These - immanenten Schwierigkeiten scheitert.
Zusammenfassung
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Was ist der intelligible Charakter anderes als ein Gedankengespinst, wenn menschliche Subjektivität im empirisch Faßbaren aufgeht ? Kann es überhaupt noch ein Sittengesetz als ein autonomes und apriorisches Faktum der Vernunft geben, wenn die Vernunft im Dienste der Selbsterhaltung steht 288 und sie wesentlich empirisch-somatischer Natur ist ? Kann das Wesen der Freiheit anders als geschichtlich sein, wenn der Mensch im ganzen der geschichtlichzeitlichen Prozessualität unterworfen ist ? Was aber endlich soll die Rede von reiner praktischer Vernunft bedeuten, wenn sie als abgezweigte Triebenergie dechiffriert werden kann ? Die Frage einer Entscheidung zugunsten des Kritizismus oder der Kritischen Theorie führt damit nicht nur aus erkenntnistheoretischer, sondern auch aus ethischer Perspektive unausweichlich auf die Frage nach dem Subjekt. Ohne eine abgesicherte subjektstheoretische Argumentation können weder Kritizismus noch Kritische Theorie beanspruchen, sich ernsthaft miteinander auseinanderzusetzen. Die subjektstheoretischen Prämissen müssen argumentativ eingeholt werden.
288 Stünde die Vernunft einzig im Dienste der Natur, d.h. wäre reine praktische Vernunft ausgeschlossen, dann würde sich der Mensch - wie Kant herausstellt - nicht "über die bloße Tierheit" [Kant (146), S. 61] erheben.
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ADORNOS KRITIK DER SUBJEKTSTHEORIE KANTS
Sowohl die Frage nach der Möglichkeit von Transzendentalphilosophie als auch die nach den Grundlagen der kritischen Ethik führen auf das Problem des Subjekts. Dieser Komplex ist in zwei Schritten anzugehen: Zunächst müssen die Einwände Adornos gegen die Subjektstheorie Kants kritisch dargelegt werden. Auf diese Weise wird die Möglichkeit der Kantischen Konzeption sichergestellt. Sodann ist die subjektstheoretische Alternative Adornos systematisch zu rekonstruieren. Ihre Schwierigkeiten werden indirekt die Notwendigkeit der Kantischen Konzeption zeigen. Zwar treibt seit einigen Jahren die analytische Philosophie nach ihrem Selbstverständnis Transzendentalphilosophie, jedoch darf der grundsätzliche Unterschied zum Kantischen Programm nicht vernachlässigt werden. Geht dieses auf eine systematische Untersuchung der Bedingungen a priori der Möglichkeit von Erfahrung , so versehen die Vertreter der analytischen Philosophie schon eine logisch-semantische Analyse der minimalen begrifflichen Struktur einer p als kohärent erachteten Erfahrung mit dem epithetbn ornans "transzendental" . Einhergehend mit der radikalen Abschwächung des Apriorismus verzichten sie dabei weitgehend auf das Prinzip transzendentaler Subjektivität, den nach Kant "höchste(n) Punkt" 3 . Vorsichtiger in der Verwendung des Begriffs "transzendental" ist Habermas. In Absetzung von Apels "transzendentaler Hermeneutik oder transzendentaler Pragmatik" wendet er sich zur Kennzeichnung seines universal pragmatischen Unternehmens gegen den Begriff "transzendental", um 1. den Unterschied zwischen der Generierung von Äußerungen und der Konstituierung von Erfahrungen und 2. "den inzwischen vollzogenen Bruch mit dem Apriorismus 1 hervortreten zu lassen. Aber auch er gibt "den Begriff des transzendentalen Subjekts preis", weil Kant den "Bildungsprozeß des Erkenntnissubjekts nicht beachtet habe. 1 2 3 4 5 6
Vgl. Kant (147), B 25 Vgl. z.B. Strawson ( 2 7 3 ) , S. 18 Kant (147), B 134 Anm. Habermas (90), S. 201 Habermas ( 9 0 ) , S. 203 Habermas (90), S. 200. Vgl. ( 8 7 ) , S. 25 ff
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Adornos Kritik der Subjektstheorie Kants
Adorno kommt nun das Verdienst zu, sich mit der Subjektstheorie Kants zwar nicht systematisch, aber doch wiederholt auseinandergesetzt zu haben. Ebenso wie die Erkenntnistheorie und Ethik Kants erfülle auch sie eine "ideologische Funktion": "Je mehr die einzelnen Menschen real zu Funktionen der gesellschaftlichen Totalität durch deren Verknüpfung zum System herabgesetzt werden, desto mehr wird der Mensch schlechthin, als Prinzip, mit dem Attribut des Schöpferischen, dem absoluter Herrschaft, vom Geist tröstlich erhöht." Das Prinzip transzendentaler Subjektivität sei ideologiekritisch auf die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit zu beziehen: "Seitdem die geistige Arbeit von der körperlichen sich schied im Zeichen der Herrschaft des Geistes, der Rechtfertigung des Privilegs, mußte der abgespaltene Geist mit der Obertreibung schlechten Gewissens eben jenen Herrschaftsanspruch vindizieren, den er aus der These folgert, er sei das Erste und Ursprüngliche, und darum angestrengt vergessen, woher sein Anspruch kommt, wenn er nicht verfallen soll." 8 Indessen ist diesem Vorwurf entgegenzuhalten, daß die transzendentale Subjektivität das Prinzip eines jeden endlichen Vernunftwesens ist. Von hierher ist es zur "Rechtfertigung des Privilegs" der bloß geistig Arbeitenden denkbar ungeeignet. Interessanter als diese ideologiekritische Beurteilung ist Adornos direkte Kritik einer Theorie transzendentaler Subjektivität. Allerdings zeigt sich schon zu Beginn eine grundsätzliche Schwierigkeit, da Adorno nicht zwischen dem transzendentalen Bewußtseinsprinzip des "ich denke" und dem reinen Ich (in Absetzung zum phänomenal-empirischen Ich) unterscheidet. Dies wird unter anderem an der These offenkundig, Kant versuche die "Frage nach der Willensfreiheit" in dem "transzendental reine(n) Ich denke" zu "lokalisieren" . Die mangelnde Differenzierung zwischen dem "ich denke" und dem reinen Ich verweist auf die zu erwartende Unangemessenheit des von Adorno kritisch Reproduzierten: die Übertragung der Charakterisierungen des "ich denke" auf das reine Ich, die Wendung der Bestimmungen des "ich denke" in solche eines hypostasierten reinen Ichs. Die Unterscheidung des "ich denke" vom reinen Ich bedingt eine Trennung der Vorgehensweise. Es sind zu prüfen 1. Adornos Kritik des "ich denke", 2. seine Einwände gegen die Idee des reinen Ichs. 7 Adorno ( 5 ) , S. 744 8 Adorno ( 7 ) , S. 179 9 Adorno ( 7 ) , S. 213
Deutung des "ich denke"
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5.1 Das transzendentale Selbstbewußtseinsprinzip Zunächst ist Adornos Deutung des transzendentalen Selbstbewußtseinsprinzips kritisch darzulegen. Im AnschluB sollen