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German Pages 392 [417] Year 2020
STUDIEN ZUR KRITISCHEN THEORIE
Martin Mettin
Kritische Theorie des Hörens Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns
Studien zur Kritischen Theorie Reihe herausgegeben von Maxi Berger, Fakultät Gestaltung, Hochschule Wismar, Wismar, Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland Philip Hogh, Institut für Philosophie, Universität Oldenburg, Oldenburg, Niedersachsen, Deutschland
In dieser Schriftenreihe erscheinen Publikationen, die im Anschluss an Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Max Horkheimer, Herbert Marcuse u.a. Kritische Theorie als eine philosophisch reflektierte Form von interdisziplinärem Materialismus verstehen. Sie lassen sich nicht von theoretischen Konjunkturen vereinnahmen, sondern gewinnen ihre Bestimmtheit durch die kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den unterschiedlichen ideologischen Formen ihrer theoretischen Reflexionen. Sie zeichnen sich durch ideengeschichtliche und historische Breite, begriffliche Präzision und sprachliche Prägnanz aus und sind zuvorderst von dem Gedanken geleitet, dass der „Zeitkern der Wahrheit“ nicht gegen diese spricht. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15764
Martin Mettin
Kritische Theorie des Hörens Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns
Martin Mettin Berlin, Deutschland Dieses Buch ist die geringfügig überarbeitete Druckfassung einer Dissertation, die im September 2019 von der Fakultät IV, Human- und Gesellschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommen wurde.
ISSN 2524-3748 ISSN 2524-3756 (electronic) Studien zur Kritischen Theorie ISBN 978-3-476-05692-4 ISBN 978-3-476-05693-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Frank Schindler J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Für Thomas
Vorwort
„Schließlich werde man von dem Begriffsmaterial ganz einfach erdrückt“.1 So ergeht es Konrad, der Gelehrtenfigur aus Thomas Bernhards Roman Das Kalkwerk, seit Jahrzehnten mit einer Studie zum Gehör befasst: „längst habe er alle Abschnitte der Studie in seinem Kopf fertig und das sei eine ungeheuerliche Geistesanstrengung, eine solche komplette Studie über Jahrzehnte im Kopf zu haben, ununterbrochen im Kopf behalten zu müssen in der ständigen, sich naturgemäß immer noch mehr verstärkenden Angst, daß sie von einem Augenblick auf den anderen auseinanderfallen und zunichte gemacht werden könne, weil man den Augenblick der Niederschrift immer wieder verpaßt.“2 Vielleicht ist es auch Konrads eigentümlichem Eremitendasein geschuldet – der illusionären Annahme, eine Studie wie die seine könne durch solitäre Kraftanstrengung allein zu Papier gebracht werden –, dass sie tatsächlich niemals zustande kommt. Dass es den hier vorgelegten Untersuchungen zu einer kritischen Theorie des Hörens glücklicherweise anders erging, dass das nicht gerade handliche (Begriffs-) Material schließlich in Textform gebracht werden konnte, verdankt sich jedenfalls einer Vielzahl von Personen und Institutionen, die auf die ein oder andere Weise an ihrem Werden beteiligt waren und ohne die dieses Buch sicherlich nicht entstanden wäre. Ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet, auch denen, die keine namentliche Erwähnung finden. Der erste und wichtigste Dank gilt Anne Eusterschulte und Johann Kreuzer, die – in wechselnder Hauptregie – die dem Buch zugrundeliegende Dissertation weit mehr als nur der Form nach betreut haben. Nicht nur hatten beide stets offene wie kritische Ohren für meine Thesen, Interpretationsansätze und Fragen; auch verdanken ihnen diese Untersuchungen eine Fülle an Vorschlägen, Denkimpulsen und an wertvollen Hinweisen für weiterführende Nachforschungen auch abseits der philosophiegeschichtlichen Hauptschauplätze. Großer Dank gilt darüber hinaus dem Institut für Philosophie sowie dem DFG-Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, die die Dissertation institutionell und materiell gefördert haben. Für ihre persönliche Unterstützung habe ich dabei vor allem Timm Behrendt, Marta Mazur und Robert Mitschke sehr zu danken.
1Thomas
Bernhard: Das Kalkwerk [1970], Frankfurt a.M. 21976, S. 189. 2Bernhard: Das Kalkwerk, S. 66. VII
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Vorwort
Auch all jenen, die Auszüge aus dieser Arbeit gelesen und diskutiert haben, sei gedankt. Zu nennen sind hier die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Forschungscolloquien von Anne Eusterschulte und Johann Kreuzer, der Colloquien am Graduiertenkolleg „Selbst-Bildungen“ sowie des Forschungskollegs Kritische Theorie. Ganz besonderer Dank gilt dabei Theodora Becker, Maxi Berger, Konstantin Bethscheider, Iris Dankemeyer, Philip Hogh, Christoph Kasten, Maja Krüger, Stefan Kühnen, Ansgar Martins, Nina Rabuza, Alexandra Schauer, Michael Städtler, Sebastian Tränkle, Robert Ziegelmann und Robert Zwarg. Ebenfalls für Kommentare zu Kapiteln oder verschiedenen Exposés der Arbeit danke ich Thomas Alkemeyer, Nils Baratella, David Jünger, Inka Sauter, Ruth Sonderegger und Christine Zunke herzlich. Gunter Gebauer sei für seine Unterstützung in der Initialphase des Vorhabens gedankt. Tobias Heinze, der parallel mit einer eigenen Forschungsarbeit zu Ulrich Sonnemann befasst war, gilt mein besonderer Dank für intensiven Austausch sowie zahlreiche Kommentare zu meiner Arbeit und für die gemeinsamen Anstrengungen, Sonnemanns Denken wieder in Erinnerung zu rufen. Für mannigfaches Involviertsein und große Anteilnahme an diesem Projekt, für die Herausgebertätigkeiten in Sachen Sonnemann und für ihre kritischen Ohren bin ich Elvira Seiwert und Paul Fiebig zu großem Dank verpflichtet. Michael Schwarz und Ulla Marx vom Theodor W. Adorno und Walter Benjamin Archiv an der Akademie der Künste Berlin danke ich herzlich für die Möglichkeiten zur Einsichtnahme in unveröffentlichte Dokumente sowie darüberhinausgehende Unterstützung bei diesem Projekt. Brigitte Sonnemann gilt mein herzlicher Dank für unsere Korrespondenz und die Auskünfte zu Ulrich Sonnemanns Nachlass. Dem Solistenensemble Kaleidoskop sei für intensive Einblicke in die musikalischen Produktionsprozesse gedankt. Frank Schindler und dem Metzler Verlag gilt mein Dank für Lektorat und Betreuung der Publikation. Wenn permanentes Eremitendasein dem Niederschreiben einer Studie wie dieser nicht zuträglich ist, dann gilt dies gleichermaßen in menschlicher wie in thematischer Hinsicht. Für ihr unterstützendes Engagement sowie für Diskussionen und Anregungen, die zwar die Themen dieser Arbeit berührten, zugleich jedoch weit darüber hinausgingen, möchte ich Gabriele Geml, Marina Hervás Muñoz, Ben Hotz, Frauke Kurbacher, Han-Gyeol Lie, Toni Pfaff, Teresa Roelcke, Dirk Schuck, Johannes von Wintzingerode und Vanessa Vidal herzlich danken. Zudem gilt meiner Familie und all jenen Freundinnen und Freunden, mit denen ich im Laufe der Arbeiten an dieser Studie auch über andere Dinge sprechen konnte, mein herzlichster Dank. Zu äußerstem Dank verpflichtet bin ich meiner Schwester Antje Mettin und Mario C. Schmidt: für Lektüre und Erstlektorat dieser Arbeit und dafür, dass sie mich in jeder denkbaren Hinsicht hier und darüber hinaus unterstützt haben. Unendlich dankbar bin ich schließlich Thomas Lux, ohne den diese Arbeit nicht geworden wäre und ohne den sich die Forschungsbemühungen vermutlich schon vor ihrem Beginn im Dunkeln verirrt hätten. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Berlin im Januar 2020
Martin Mettin
Einleitung
„Das Gehör sei das philosophischste aller Sinnesorgane, soll Konrad zum Baurat gesagt haben, so Wieser“ Thomas Bernhard: Das Kalkwerk3
Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war eine ‚griffige Formulierung‘, wie sie aus vorangehender Beschäftigung mit klanglichen Motiven im Werk Walter Benjamins gleichsam herausgesprungen war:4 Kritische Theorie des Hörens. Mit dieser Formulierung, die sich beinahe von selbst als Titel anbot, war zugleich das Thema für eine weiterführende Studie gefunden. Alsbald jedoch verflüchtigte sich das thematisch zunächst so Griffige, wurde erkennbar, dass es sich streng genommen nicht um ein Thema handelt als vielmehr um diverse: Schon mit Blick auf einige (nicht gerade prominente und auch eher verstreute) akustische Denkfiguren in Benjamins Schriften hatte sich gezeigt, dass sich ihr philosophischer Gehalt nur ausdeuten und ergründen ließ, indem die verschiedensten Problemfelder betreten wurden; namentlich Erkenntnistheorie und -kritik, Sprach- sowie Religionsphilosophie, materialistische Kulturgeschichte und kritische Gesellschaftstheorie, um nur einige zu nennen. Angesichts des Themas wäre es nun das Nächstliegende gewesen, hauptsächlich die Schriften Theodor W. Adornos für ein weiterführendes Projekt zu konsultieren, ist doch ein Großteil seiner Texte der Musikphilosophie und damit allemal dem Hören gewidmet, womit dann zugleich ein weiteres Feld, eben die Musik, betreten wäre. Allerdings existiert bereits eine überaus weit gefächerte Forschungsliteratur zu Adorno, wobei musikphilosophische Fragen in zahlreichen Publikationen verhandelt werden.5 Außerdem verstellte womöglich ein derart enger Fokus auf Adornos Schriften – als ob sie die wichtigste Autorität in Fragen der Kritischen Theorie wären –, wie sehr diese immer ein themenund nicht personengebundenes sowie ein differenziert arbeitsteiliges Projekt war
3Bernhard:
Das Kalkwerk, S. 66. Martin Mettin: Echo im Sprachwald. Figuren dialektischen Hörens bei Walter Benjamin, Berlin 2019. 5Siehe hierzu unter dem Stichwort ‚Musik‘ die Bibliographie in Richard Klein, Johann Kreuzer, Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart & Weimar 22019, S. 622–639. 4Vgl.
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und ist, was dann auch in der Auseinandersetzung mit Aspekten einer kritischen Philosophie des Hörens einen Niederschlag finden muss. Schließlich führt, seiner Formulierung nach, das Thema von der Musikphilosophie wieder weg, denn nicht das Musikhören ist sein Gegenstand, sondern Hören allgemein. So ergab sich schon am Rande der Studie zu Benjamin ein Fund, der in der ‚Forschungslandschaft‘ bislang kaum einen Platz gefunden hat: die späten Arbeiten des – inzwischen beinahe vergessenen – kritischen Theoretikers Ulrich Sonnemann zur philosophischen Bedeutung des Gehörs. Die Pointe von Sonnemanns Thesen und Abhandlungen zum Hören ließe sich in einem ersten Annäherungsversuch vielleicht mit einer Formulierung Klaus Heinrichs fassen, der nämlich darauf hinwies, dass das für die Kritische Theorie6 sehr wichtige Wort „Verblendungszusammenhang“ ein „die Lichtmetapher der Aufklärung zu Grabe tragendes Wort“7 sei; wobei freilich Ziel solcher Aufklärungskritik ein Mehr an Aufklärung ist und nicht potenzierte Verdunkelung der Verhältnisse. Die Formulierung Heinrichs impliziert, dass das Sehen im Laufe der Kulturgeschichte eine immer stärkere Tendenz zum verdinglichenden und instrumentellen Registrieren annimmt und sich darin mit den zweckrationalistischen und herrschaftsförmigen Aspekten im Aufklärungsprozess selbst verbindet. Sonnemann zufolge sind es die geistesgeschichtlich zunehmend vernachlässigten Potentiale des Hörens, die eine kritische Gegenposition hierzu formieren können. Ziel solch negativ-anthropologischer Aufklärungskritik ist aber ein Mehr an Aufklärung und keineswegs potenzierte Verdunkelung der Verhältnisse. In diesem Sinne verbindet Sonnemann Überlegungen zur Vernunft mit ihrem sinnlich-akustischen Potential. Was Sonnemann einfordert, ist Hellhörigkeit: eine besondere Aufmerksamkeit für die in Widersprüche verstrickte menschliche Welt, die es trotz aller Aufklärungskritik eben nach wie vor aufzuklären, also heller zu machen gilt. Dass es sich bei genannten Metaphoriken – Verblendungszusammenhang, Erhellung, Verdunkelung, Hellhörigkeit – nicht allein um Sprachspiele,
6Statt
von einer orts- wie personengebundenen ‚Frankfurter Schule‘ sprechen vorliegende Untersuchungen von einem sach- wie themengeleiteten Projekt namens ‚Kritische Theorie‘ (mit großem K). Kritische Theorie bedeutet damit einen Eigennamen; gleichwohl wird gelegentlich von einer kritischen Theorie (mit kleinem K) die Rede sein, wie eben auch von einer kritischen Philosophie etc. Diese Abgrenzung ist mithin nicht mechanisch gemeint, vielmehr hängt die Schreibweise vom Kontext ab. Zur Abgrenzung von ‚Frankfurter Schule‘ und ‚Kritischer Theorie‘ in terminologischer Hinsicht vgl. auch Gerhard Bolte, Christoph Türcke: Einführung in die Kritische Theorie, Darmstadt 1994; sowie Helmut Dubiel: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas, Weinheim 1992. 7Klaus Heinrich: „Anfangen mit Freud. Die ‚wiederentdeckte‘ Psychoanalyse nach dem Krieg“, in: Sabine Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß. Zur Gegenwärtigkeit Kritischer Theorie. Ulrich Sonnemann zum 80. Geburtstag, Hamburg 1992, S. 103–120, hier S. 110. Zum Begriff vgl. außerdem Robert Zwarg: „Verblendungszusammenhang“, in: Falko Schmieder, Georg Toepfer (Hg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018, S. 260–263.
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einen gewitzten aber eben auch (allzu) spielerischen Umgang mit Sprachbildern handelt, vielmehr in jenen (auf Sinneswahrnehmungen abstellenden) Metaphern zugleich begriffliche, das heißt aber sachhaltige und systematische Problemstellungen angerissen sind, dies wollen vorliegende Untersuchungen anhand der Schriften Ulrich Sonnemanns entfalten. Auch innerhalb der Texte Sonnemanns sind dabei die eingangs benannten Problemfelder, Traditionslinien und Disziplinen berührt, die Konsonanzen und Dissonanzen zwischen ihnen, um es hier gleichfalls einmal metaphorisch auszudrücken. Sehr viel länger als die erste Themenfindung dauerte derweil die Suche nach einem treffenden Untertitel. Seine verschiedenen Varianten zeichnen ein wenig den Arbeitsprozess und die Entwicklungen des Themas nach, dessen Ausführungen hier vorgelegt werden: War die erste Konzeption – Sprache und Erfahrung bei Sonnemann, Adorno und Benjamin – als Vorhaben für eine Dissertation viel zu groß angelegt, so erwies es sich als zielführender, ausgehend von der Immanenz der Texte Sonnemanns die Verbindungen zum kritischen Denken genannter und anderer Autoren und Autorinnen aufzuzeigen. Keineswegs jedoch war damit schon der Schwerpunkt der Arbeit geklärt, da der Motivreichtum unterschiedliche Forschungsperspektiven gleichermaßen erlaubt; etwa die systematische, welche mit Sonnemann das Hören im Kontext von Erfahrung, Sprache, und Gesellschaft verorten könnte; oder aber die (philosophie-) historische, die Sonnemanns Reflexionen zu Bilderverbot und Auslegungstradition als komplexen und durchaus widersprüchlichen Beitrag zur jüdischen Philosophie im Bereich der Kritischen Theorie erfassen würde. Diese und andere Perspektiven sowie die in ihnen zum Ausdruck kommenden Problemlagen aber hängen zusammen, haben ihren gemeinsamen, philosophischen Kern: die Frage nach der systematischen Bedeutung des Hörens für kritisches Denken, das ein Denken in (und mit) Geschichte ist, mithin an Personen gebunden bleibt, auch wenn es sich zugleich auf eine Allgemeinheit bezieht und ohne diese nicht ist, was wiederum in Sonnemanns Texten vielfach thematisch wird: selbstreflexive wie gegenstandsbezogene Philosophie. Daher lautet der Untertitel nun recht schlicht: Untersuchungen zur Philosophie Ulrich Sonnemanns. Der Vielschichtigkeit der Perspektiven soll durch den Zuschnitt der einzelnen Kapitel Rechnung getragen werden, sodass die unterschiedlichen Ansätze in ihnen aufgehoben sind; einmal im Sinne einer Vereinheitlichung (eben als philosophisches Projekt); sodann aber genauso im Sinne des Bewahrens von Divergentem. Hierauf wird im Abschnitt zu Form und Methode noch einmal zurückzukommen sein. Themen Wie einleitend umrissen, zergliedert sich das Thema des vorliegenden Buches mindestens in zwei Teilthemen. Zum einen hat es, dem Titel gemäß, die Systematik einer kritischen Theorie des Hörens zum Gegenstand. Dabei befasst es sich, zum anderen und dem Untertitel nach, mit Ulrich Sonnemanns Schriften. Insofern ist das Verhältnis zwischen Titel und Untertitel nicht hierarchisch zu verstehen, beide sind wechselseitig aufeinander bezogen: Sonnemanns Schriften stellen den Gegenstand dieser Arbeit dar, soweit sich aus ihnen Elemente einer
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kritischen Philosophie des Hörens gewinnen lassen. Andersherum wird mit vorliegenden Untersuchungen vorgeschlagen, Sonnemanns Werk insgesamt aus dieser systematischen Perspektive zu deuten, auch wenn das Gehör erst in seinen späten Texten zum Leitmotiv wird. Mit seinem Spätwerk wollte Sonnemann eine transzendentale Akustik entwerfen, wie er es nannte.8 Das Schlagwort erinnert an die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und deutet bereits an, worum es hierbei gehen soll: Nicht wird Hören als eine schlechterdings unmittelbare, vorprädikative, vorsprachliche oder sonstwie außer- oder unvernünftige Erfahrung thematisiert, sondern es wird geradezu im Gegenteil auf ein transzendentales Erkenntnismoment im erfahrenden Hören hingewiesen. Zum Thema wird also gewissermaßen ein Hören zweiter Potenz, ein schon reflektiertes, insofern vergeistigtes Hören. Darin deutet sich das Telos des Sonnemannschen Denkens an, wie es diese Untersuchungen nachvollziehen wollen: Die Suche nach einem kritisch reflektierten Vernunftbegriff, der gewisse instrumentelle oder positivistische, aber auch irrrationalistische oder ‚gegenaufklärerische‘ Zurichtungen zurücknimmt, sich aus ihnen befreit. Trotz berechtigter Vernunftkritik, wie sie im Laufe der Philosophiegeschichte verschiedentlich geäußert wurde, soll nicht hinter Vernunft (und Aufklärung) zurückgegangen, vielmehr das von Vernunft Getrennte durch Vernunft selbst eingeholt werden. (Einholen: nicht jedoch in dem Sinne, wie man bei stürmischer See oder Flaute die Segel einholt; eher wie beim Radrennen, wenn die Davongefahrenen wieder in Sichtnähe gelangen; oder wie das Einholen eines Gutachtens oder einer Expertise.) In den Reflexionen aufs Hören jedenfalls kann, so Sonnemanns Hoffnung, an die sinnlichen wie somatischen Aspekte von Vernunft, aber auch an die praktischen Implikationen von Theorie erinnert werden. Nach Sonnemann ist dieses Projekt ganz wesentlich eine Sache von Sprache. In einem Buch von 1970, das vom (laut Sonnemann: unzulänglichen) Deutschunterricht in der Bundesrepublik handelt, formuliert er programmatisch, dass es ein „ungelöstes Problem“ darstelle, „eine pangesellschaftliche Durchsetzung von Vernunft“ zu erreichen: „nur als Sprache könnte solche Praxis, selbst schon interaktive Reflexionsbewegung, die dialogisch sich ausbreitete, ihren Anfang nehmen, würde sie sich vollenden“.9 Seine Überlegungen zum Hören verweisen damit immer wieder auf sprachphilosophische Zusammenhänge. Nicht nur die gesprochene Sprache wird dabei als etwas Akustisches behandelt, selbst der geschriebene Text habe neben seiner optischen Präsenz in der Schrift eine genuin akustische Dimension, die Strukturen von Sprache insofern eine besondere Affinität zum Ohr. Eine der zentralen Fragen ist dabei, ob und wie solche Sprachakustik bestimmte Verdinglichungstendenzen begrifflicher Sprache aufbrechen kann; gelingt ihr dies, dann stellt sie einen Beitrag zum Nachdenken über das Nichtidentische dar, wie es von Adorno thematisiert wurde.10
8Siehe
unten, Fußnote 30 (Einleitung). Sonnemann: Die Schulen der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der Bundesrepublik, Hamburg 21970, S. 104. (Sigle SdS; siehe unten, Kapitel 12, Fußnote 15.) 10Vgl. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik [1966], Gesammelte Schriften (= AGS) Bd. 6. 9Ulrich
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Soll kritische Philosophie Reflexion auf gesellschaftliche und geschichtliche Wirklichkeit sein, so ist der Vermittlung zwischen Denken und Wirklichkeit durch Erfahrung einige Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz in der Tradition kritisch-materialistischer bzw. dialektischer Philosophie stehend, geht Sonnemann davon aus, dass die Erfahrungsvermögen durch gesellschaftliche und geschichtliche Prozesse hindurch geformt wurden und somit keineswegs anthropologische Invarianten darstellen: Sehen, so eine der Thesen Sonnemanns, habe historisch bedingt eine starke Tendenz zum identifizierenden Feststellen angenommen, wobei das Vermögen des Gehörs (wie auch eines freieren Sehens), zeitliche Verläufe, Dynamiken, Veränderungen und Unterschiede zu erfassen, nicht in dem Maße zum Zuge kommt, wie es das seinen Möglichkeiten nach könnte. Eine Befreiung der Ohren wäre demnach zugleich eine Befreiung der Augen: zum zwangloseren, „offenen Schauenkönnen“.11 Die hier zunächst in aller Kürze skizzierten, systematischen wie sachlichen Gehalte der Philosophie Sonnemanns drängen von sich aus dazu, im Verhältnis ihrer historischen Situiertheit betrachtet zu werden, um ihre Bedeutung ermessen zu können. Ist etwa von geschichtlichen Veränderungen der Erfahrungsvermögen die Rede, so stellt sich sogleich die Frage, auf welche gesellschaftlichen wie subjektiven Praktiken des Sehens und Hörens beispielsweise Bezug genommen wird. Und versteht man, wie Sonnemann, Sprachphilosophie auch als praktisch eingreifende Sprachkritik und -politik inmitten gesellschaftlicher Verhältnisse, so sind selbst die allgemeinsten philosophischen Erwägungen stets argumentative Auseinandersetzungen in ihrer jeweiligen Zeit, wiewohl sie durch den Rekurs aufs Allgemeine zugleich über das Zeitgeschehen hinausweisen.12 Vor dem Hintergrund dieser immanenten Forderung der Philosophie Sonnemanns, Denken und Theoriebildung auch als ein Zeitgeschehen zu begreifen, seien im Folgenden einige markante Wegmarken seiner intellektuellen Biographie bezeichnet, sofern sie die Themen dieser Arbeit erhellen. Zur Werkbiographie Als Ulrich Sonnemann 1974 an der drei Jahre zuvor gegründeten Gesamthochschule (heute: Universität) Kassel eine Professur für Sozialphilosophie antritt – die erste, die über eine Gasttätigkeit hinausgeht –, ist er bereits zweiundsechzig Jahre
11Ulrich
Sonnemann: „Das sedierte Sensorium. Über Hindernisse in der Wiederkehr des Gehörs“, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse, Bd. 35/36, Kassel 1991, S. 15–22, hier S. 18. 12Insofern verstehen sich vorliegende Untersuchungen durchaus auch als einen (kritischen) Beitrag zur Praxistheorie, wie sie gegenwärtig in unterschiedlichen Disziplinen, etwa Soziologie, Kultur- und Geschichtswissenschaft, diskutiert wird; nicht im Sinne einer philosophischen Grundlagenforschung im Bereich Praxis/Praktiken, sondern indem mehr oder weniger implizit einige praxistheoretische Grundannahmen übernommen werden. Zum wissenschaftlichen Feld der Praxistheorien siehe etwa Thomas Alkemeyer, Volker Schürmann, Jörg Volbers (Hg.): Praxis denken. Konzepte und Kritik, Wiesbaden 2015.
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alt.13 Seine Laufbahn bis hierher war alles andere als gradlinig, ebenso sein Weg in die Kritische Theorie. Als antifaschistischer14 und jüdischer Emigrant verließ er 1933 das nationalsozialistische Deutschland Richtung Schweiz, wurde, da er sich 1940 in Belgien befand, mit Beginn der deutschen Westoffensive interniert und nach Frankreich gebracht, zuletzt in das Lager Gurs, aus dem ihm 1941 die Flucht und daraufhin die Emigration in die Vereinigten Staaten gelang.15 Dort in diversen Positionen als praktizierender Psychologe und assoziierter Professor für Psychologie an der New School for Social Research tätig gewesen, kehrte Sonnemann 1955/56 nach Deutschland zurück und erst zu diesem Zeitpunkt wandte er sich von der phänomenologisch geprägten, therapeutischen Daseinsanalyse ab und der von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und zahlreichen anderen Kolleginnen und Kollegen geprägten Gesellschaftstheorie zu. Seiner 1969 erschienenen Negativen Anthropologie lässt sich entnehmen, durch welche Gedankengänge und wissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Erfahrungen er konsequent zu dieser Position gefunden hatte, auch ohne direkten Kontakt zu den Mitgliedern des Instituts für Sozialforschung (IfS) bis 1957.16 Viel ließe sich über diese Biographie berichten: einerseits über das, was den Denker Sonnemann als eine vielleicht nicht ganz untypische Figur deutschjüdischer Geschichte im 20ten Jahrhundert präsentiert; andererseits über das Eigenwillige an Sonnemanns Lebens- wie Denkwegen. Die hier vorgelegte Studie jedoch hat einen philosophischen Schwerpunkt, beschränkt insofern biographische Ausführungen auf das Notwendigste, insbesondere auf die für das Werkverständnis bedeutsamen, ideengeschichtlichen Aspekte, auf welche im weiteren Verlauf gelegentlich zurückzukommen sein wird.
13Zu
den hochschulpolitischen Hintergründen der Berufung Sonnemanns siehe Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: [Würdigung], in: Heinz Eidam, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann. Vorträge und Beiträge zur akademischen Trauerfeier, Kassel 1994, S. 19–27. 14Vgl. Peter Fuss: „Spontaneity as Praxis: Towards an Intellectual Biography of Ulrich Sonnemann“, in: Gottfried Heinemann, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Sabotage des Schicksals. Für Ulrich Sonnemann, Tübingen 1982, S. 13–36, hier S. 13. 15Vgl. Ulrich Sonnemann: „Gurs 1941“ [1980], in: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart 1995, S. 79–87. 16Zu den detaillierten Lebensdaten vgl. Ulrich Sonnemann: „Autobiographisches“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Einsprüche kritischer Philosophie. Kleine Festschrift für Ulrich Sonnemann, Kassel 1992, S. 229–239. Vgl. außerdem Ulrich Sonnemann: „Räumen Zeit geben. Ein Gespräch mit Ulrich Sonnemann“, in: zeitmitschrift. Journal für Ästhetik (Heft 9), 1/1990, S. 32–57; sowie Paul Fiebig: „‚Mein gegenwärtiger Zustand‘. Autobiographische Gespräche mit Ulrich Sonnemann (1991–93). Ein Bericht“, in: Claus-Volker Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, Würzburg 1999, S. 288–303. Zu Sonnemanns amerikanischer Exilerfahrung vgl. Martin Mettin: „Unbegrenzte Zumutbarkeiten. Ulrich Sonnemanns Kritik der deutschen Ideologie, mit Blick auf seine Exilerfahrung gelesen“, in: Dennis Göttel, Christina Wessely (Hg.): Im Vorraum. Lebenswelten Kritischer Theorie um 1969, Berlin 2019, S. 81–97.
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Wie unterm Brennglas zeigt sich indessen an einigen Episoden der späten 1960er Jahre, auf welche Inhalte des Sonnemannschen Denkens sich vorliegende Untersuchungen stützen können, wenn sie das Werk insgesamt als einen wichtigen Beitrag zur Kritischen Theorie deuten und damit die vielfältigen Verwandtschaften zu Autoren wie Horkheimer, Benjamin und Adorno herausarbeiten. In Letzterem wird hier deshalb eine besondere Referenz gesehen, weil sich zum einen eine starke Konvergenz der Themen Adornos und Sonnemanns ausmachen lässt, zum anderen ab 1957 eine persönliche Verbindung bestand, die, gespeist aus jenen theoretischen Konvergenzen, zur tiefen Verbundenheit wurde. Dem Briefwechsel zwischen Sonnemann und Adorno lässt sich entnehmen, wie sehr sich der in den 1950ern sukzessive an der Frankfurter Universität etablierende Adorno später darum bemühte, dem neun Jahre jüngeren und weitaus weniger etablierten Sonnemann zu einer Professur entweder in Frankfurt oder aber anderswo in Westdeutschland zu verhelfen. Dass die persönliche mit der thematischen Verbundenheit für Adorno unmittelbar zusammenhing, mag folgender Auszug aus einem Brief Adornos an Sonnemann vom 21. April 1966 deutlich machen. Adorno also schreibt: „Sonst möchte ich Ihnen heute nur sagen, daß mein großes Buch wirklich befriedigend vorwärts kommt […]; der Titel bleibt ‚Negative Dialektik‘; im Vorwort will ich, wenn es Ihnen recht ist, auf den von Ihnen projektierten ‚Negative Anthropologie‘ hinweisen und die Unabhängigkeit der Nomenklaturen feststellen. [Absatz] Lassen Sie mich dem heute nur noch hinzufügen, daß ich, dessen Kopf nun einmal dicker ist als allerhand Wände, von der Idee nicht ablasse, Sie hierher an die Universität zu bringen. Unter welchem Namen das möglich sein wird, sehe ich noch nicht. Doch habe ich immerhin universitätspolitisch durch Beharrlichkeit einige Erfolge gehabt: daß Habermas der Nachfolger Horkheimers wurde, und nun die Berufung von Friedeburg und Mitscherlich. Wenn die beiden annehmen, und ich habe allen Grund zu hoffen, daß es geschieht, könnte man sich dann doch vielleicht etwas Vernünftiges ausdenken […]. – Wenn Sie selbst auf eine überzeugende Definition kämen – tant mieux!“17
Es dürfte die hier angekündigte, prominente Nennung der Negativen Anthropologie Sonnemanns im Vorwort von Adornos Negativer Dialektik sein,18 die zumindest dem Namen des Letzteren bei Lesern der Kritischen Theorie eine gewisse Bekanntheit eingebracht hat, auch wenn das genannte Buch kaum zu den ‚Klassikern‘ derselben gerechnet wird.19 Dass die Nennung damals durchaus den Status eines nachdrücklichen Empfehlungsschreibens für Sonnemann hatte, soll
17Theodor W. Adorno, Ulrich Sonnemann: „Briefwechsel 1957–1969“, hg. von Martin Mettin und Tobias Heinze, in: Zeitschrift für kritische Theorie H. 48–49, 2019, S. 167–222, hier S. 190. – Hervorhebung im Original unterstrichen. Hier wie überall in vorliegenden Untersuchungen werden Hervorhebungen im Original kursiv dargestellt, durch den Verfasser hinzugefügte Hervorhebungen hingegen unterstrichen. 18Vgl. Adorno:
Negative Dialektik, AGS 6, S. 11. wird Sonnemann überhaupt nicht genannt bei Martin Jay: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a.M. 1979. Lediglich in einer Fußnote taucht Sonnemann auf in Clemens Albrecht et al. (Hg.):
19So
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gleich noch deutlich werden. Interessant ist zunächst, wie Sonnemann die von Adorno angefragte Charakterisierung seiner Arbeiten vornimmt. Am 2. Mai 1966 antwortet Sonnemann: „Natürlich haben Sie für Ihre Pläne zu meinen Gunsten plein pouvoir. Frankfurt, für einen, der es vor der Zerstörung, die ja gerade dort nicht nur Baulichkeiten traf, gekannt, sogar unumwunden geliebt hatte, jahrelang dann verstörend gesichtslos, könnte sich noch einmal finden – der Nukleus, der Sie selbst sind, und das, was nach Ihrem brieflichen Memento nun in seinem unmittelbaren Umkreis akademisch sich wieder zusammenfindet: ohne Vorbehalte, es reizt mich, zieht mich in der Weite seiner künftigen Möglichkeiten als einzige deutsche Hochschulstadt wirklich an. Ausschließen würde ich nur die Psychologie, die immer Nebenfach und nur in Amerika meine zeitweilige Laufbahn war – die mir aus manchen Gründen damals, die am meisten mit der wissenschaftsgeschichtlichen Situation dieses Faches, seiner relativen Sterilität, zu tun hatten, vor zehn Jahren zu eng wurde. Von Haus aus, nach der Struktur meines Studiums, meiner Promotion, bin ich Soziologe, nach einem anderen Nebenfach meiner Studienjahre, aber einer Hauptrichtung meines Entwicklungsganges vor allem in der jüngsten Zeit, Philosoph. Ihre Anregung, selbst eine ‚überzeugende Definition‘ zu liefern, möchte ich (provisorisch) am liebsten mit der Alternative beantworten, entweder dort – sollte also etwas sich machen lassen – als Soziologe aufzutreten, dessen Aufmerksamkeit vor allem auf einer vergleichenden Analyse deutscher Verhaltensweisen, besonders Sprachverhaltensweisen, ruhen würde, an denen gerade das Übliche, gesellschaftlich garnicht Auffällige, ganze Bewußtseinsstrukturen am besten erschließt; oder als Grundlagentheoretiker, philosophischer Bearbeiter der epistemologisch-methodologischen Probleme der anthropologischen und Sozialwissenschaften im ganzen, einschließlich der Politologie; doch ist die Alternative eigentlich keine, da eine Kombination aus beidem, auf deren möglichst zwanglose Formel ich noch zu kommen hoffe, mir am meisten zusagen würde.“20
Ganz im Geiste der Kritischen Theorie charakterisiert Sonnemann sein Wirken mit dieser Selbstbeschreibung als ein Projekt, das die betriebsmäßige wissenschaftliche Arbeitsteilung, die durch modische Forderungen nach interdisziplinärer Kooperation eher schlecht als recht überwunden werden soll, bewusst unterwandert: Seine divergenten Arbeiten beruhen allesamt auf einigen wichtigen Grund annahmen, welche die Einheit der kritischen Forschungsperspektive angesichts usammenhänge hier der unterschiedlichen Gegenstände garantieren.21 Für unsere Z
Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. & New York 1999. Mit einem Nebensatz wird Sonnemann als Denker im Umfeld der Kritischen Theorie bedacht von Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 1986. Der Autor der Negativen Anthropologie findet nicht einmal im Kapitel zur „Anthropologie als Anhaltspunkt der Kritischen Theorie“ Erwähnung bei Axel Honneth, Albrecht Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen, Berlin 1986. Schließlich ist auch kein Text Sonnemanns in den akademisch etablierten Kanon der Kritischen Theorie aufgenommen, so etwa auch nicht in der Textsammlung von Axel Honneth (Hg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie, Wiesbaden 2006. 20Adorno, Sonnemann: „Briefwechsel 1957–1969“, S. 193 f. 21Zu dieser Einheit siehe unten, Kapitel 14, Fußnote 25.
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entscheidend: dass Sonnemann sich denkbar deutlich über die Verschränkungen von Erkenntnistheorie und Sprachphilosophie einerseits sowie Auseinandersetzung mit Sprechgewohnheiten und Verhaltensmustern, mit Fragen der Psychologie, aber auch der ökonomischen wie politischen Verfasstheit der Gesellschaft andererseits äußert. Welche konkreten Sprachpraktiken Sonnemann einer kritischen Untersuchung unterzieht, wird vor allem im II. Teil vorliegender Untersuchungen zur Negativen Anthropologie (der Sinne) dargestellt. Den erkenntnistheoretischen wie -kritischen Grundlagen dieser Perspektive widmen sich stärker die Teile I und III, wobei ganz im Sinne Sonnemanns ‚die Alternative eigentlich keine‘ ist, die genannten Aspekte allesamt zur Philosophie genauso gehören wie sie sich zu anderen Disziplinen öffnen. Derweil lässt sich den Briefen zwischen Adorno und Sonnemann Weiteres entnehmen. Trotz großer Bemühung gelang es Adorno nicht, Sonnemann nach Frankfurt zu holen. Umso nachdrücklicher versuchte Ersterer, an anderen Hochschulen Chancen für eine Professur ausfindig zu machen, etwa an der Freien Universität (FU) in Berlin. Inzwischen schreibt man das Jahr 1968, die Studentenunruhen steuern ihrem Höhepunkt entgegen und inmitten der aufgeladenen Stimmung unternimmt Adorno den Versuch, Sonnemann bei Jacob Taubes vorzuschlagen, in dessen Umfeld sich ein Teil der akademisch versierten, Außerparlamentarischen Opposition (APO) Berlins bewegt. Unterstützt durch Adornos Empfehlung wird Sonnemann in ein Colloquium an die FU eingeladen, auch um dessen inhaltliche Eignung für eine etwaige Professur abschätzen zu können. Hier nun kommt es zum Konflikt zwischen den Positionen Sonnemanns und Taubes’, wie sich verschiedenen Dokumenten entnehmen lässt. Die in durchaus scharfem Ton geführte Nachbesprechung dieses Konfliktes im brieflichen Dreieck zwischen Sonnemann, Taubes und Adorno wirft ein weiteres Schlaglicht auf eines der zentralen Themen vorliegender Untersuchungen; zugleich erscheint das philosophische Thema im Licht der Zeitgeschichte, die in Teil II ausführlicher zur Geltung kommen wird. Am 8. Juni 1968 schreibt, kurz nach besagtem Colloquium, der selbst nicht anwesende, jedoch durch Rapport ins Bild gesetzte Taubes an Sonnemanns Adresse – und im Durchschlag geht der Brief ebenfalls an Adorno –, allen Ambitionen auf eine Professur am Institut für Hermeneutik an der FU eine Absage erteilend: „Was immer Adorno bewogen haben mag, Ihrer Arbeit über negative Anthropologie in seiner Vorrede [scil. der Negativen Dialektik] einen solchen Vorschuss zu geben […], die Adorno-Schüler in meinem Kreise meinen, daß die Kongruenz des Adjektivs ‚negativ‘ zufällig sei, daß also ganz andere Motive Sie bei Ihrer Anthropologie bewegen als die, die in der Dialektik Adornos thematisch sind. Um es auf eine Formel zu bringen, die den Titel der Kolumne von William S. Schlamm variiert (Das Herz – nicht immer links), mag auch ihr Herz jetzt ‚links‘ schlagen, Ihr Verstand denkt ‚rechts‘ – oder wie ein Hilfsassistent es formuliert hat, Sonnemann gehört zu den linken Leuten von rechts. Wenn auch die Orientierungstafeln: links oder rechts, verwittert sind, so ist in diesem Hinweis doch etwas vom Zwiespalt getroffen, der Ihren Beitrag kennzeichnet. Der Rekurs auf die Spontaneität des Ich kommt bei Ihnen zu unvermittelt und, so das Argument einiger Studenten, berücksichtigt nicht den Zwang, den die Gesellschaft ausübt, die immer noch durch alle Masken hindurch Klassengesellschaft bleibt. Durch die Eskamotierung der real gesellschaftlichen
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Zwänge wird der Appell an’s spontane Ich hohl. Der Rekurs auf das spontane Ich (ausgefaltet in daseinsanalytischen Kategorien) variiert nur die liberale Illusion, daß das Ich auch in einer entfremdeten Gesellschaft zu sich kommen kann: psychoanalytisches Manchestertum. Bei Adorno, so lautet das Argument, sei ein solch unvermittelter Rekurs auf das Ich vollkommen ausgeschlossen. […] In summa die Adorniten Berlins wollen das Entréebillett, das Adorno in der Vorrede zur ‚Negativen Dialektik‘ ausgestellt und auf das ich mich berufen hatte, nicht honorieren.“22
Die überaus fragwürdige politische Einordnung Sonnemanns durch den ‚Hilfsassistenten‘ einmal dahingestellt: Was hier zur Rede steht, ist in der Tat eines der zentralen philosophischen Themen, das sich durch Sonnemanns ganzes Werk zieht: die Frage nach menschlicher Spontaneität. Angelehnt an den Kantischen Begriff meint Spontaneität – darauf wird verschiedentlich zurückzukommen sein – immer auch das Vermögen, von der eigenen Vernunft Gebrauch zu machen, Urteile nach eigenem Vernunftermessen zu prüfen und zu begründen, sich nicht von unhinterfragten Vorurteilen und Klischees leiten zu lassen. Das aber ist notwendige (Vor-) Bedingung von Freiheit, an der auch der APO gelegen ist. Ganz in diesem Sinne antwortet Sonnemann an Taubes: „Zu beglückwünschen sind Ihre Assistenten zu der Einsicht, die nicht wahrer sein könnte, daß durch die Eskamotierung der real gesellschaftlichen Zwänge der Appell ans spontane Ich hohl wird. Aber als Einwand gegen mein Referat wird diese beeindruckende Wahrheit es ihrerseits, außer jene Eskamotierung und dieser Appell werden vorerst in dessen Text demonstriert. Das erforderte Zuhören, Mitdenken, die für beides eine glatte Fehlanzeige ergeben müßten, weswegen es auch an Belegung aus dem Text, der wenigstens verkürzt ja zur Verfügung steht, mangelt; nicht bloßes oberbegriffliches Assoziieren, jenseits aller Satzzusammenhänge, das nichts unterscheidet.“23
Statt sich spontan, also eigenständig wie vernunftgeleitet, der Diskussion mit Sonnemanns Ausführungen zu stellen, was eben aufmerksames und genaues Hinhören erfordert hätte, seien die Diskutanten in die Reflexe eingeschliffener sowie parolenhafter Sprachpolitik verfallen, die nur solche Gedanken gelten lässt, die den Dogmen und Regeln politischer Gruppierungen (etwa des SDS) gehorchen. So aber ergebe sich „das Bild eines Denkverzichts, dort, wo es am wenigsten welchen geben sollte“,24 nämlich ausgerechnet in einem philosophischen Colloquium.
22Jacob
Taubes an Ulrich Sonnemann: Brief vom 8. Juli 1968 [Durchschlag an Adorno], TWAA Br 1521|116. Bislang unveröffentlicht. Für die freundliche Genehmigung zum Abdruck danke ich Martin Treml vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin sowie Ethan und Tania Taubes. 23Ulrich Sonnemann an Jacob Taubes: Brief vom 18. Juli 1968 [Durchschlag an Adorno], TWAA Br 1447|31. Bislang unveröffentlicht. Für die freundliche Abdruckgenehmigung danke ich Brigitte Sonnemann und dem zu Klampen Verlag. 24Sonnemann an Taubes: Brief vom 18. Juli 1968 [Durchschlag an Adorno], TWAA Br 1447|32.
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Unter solch reflexartigem Missverständnis sei dann aber gerade das Verbindende zwischen Sonnemanns und Adornos Ansätzen vollkommen unter den Tisch gefallen. Sonnemann führt entsprechend weiter aus: „Mein theoretischer Rekurs auf Spontaneität, die (weitere Verwechslung, diesmal Perspektiven-Konfusion, ihres Stabes) unmittelbar nach ihrem Erfahrungsgehalt und ihrer Erscheinung, darum noch keineswegs, das ist auch nicht gesagt worden, ihrer gesellschaftlichen Ermöglichung ist, macht darauf aufmerksam, daß sie gegenläufig gegen die gesellschaftlichen Zwänge, durch die hindurch sie vermittelt werden muß, nicht nur ist, sondern auch sein kann, da ihr möglicher Träger in den Menschen gerade das ist, was über jene sich Rechenschaft ablegen und sie im Prinzip damit übersteigen kann, Reflexion: die das landläufige deutsche Bewußtsein, also das romantische, von jeher gerade als Widersacher dessen, was sie unter Spontaneität verstand, diffamiert hat.“25
Keine Unmittelbarkeit einer ganz und gar ungebundenen Spontaneität beschwört Sonnemann in seinen Schriften, vielmehr begibt er sich auf die Suche nach (häufig gerade verstellten,) reflexiven Freiheitsmomenten im bestehenden gesellschaftlichen Zwang. Tatsächlich mögen Sonnemanns frühe Arbeiten zur Daseinsanalyse noch einen gewissen Hang zu einem existentialistisch-ontologisierenden Freiheitsbegriff aufgewiesen haben, wie Taubes oben beanstandet.26 Was Letzterer jedoch übersieht und im Handgemenge der politischen Auseinandersetzungen der Studentenunruhen jener Jahre unterzugehen scheint, ist Sonnemanns eigene Distanzierung von seinen frühen Arbeiten, die er mit der Negativen Anthropologie vollzogen hat. So wendet auch Adorno, sich in die Debatte einschaltend, brieflich gegen Taubes ein: „Sonst möchte ich nur noch hinzufügen, daß ich finde, daß Sie ihn [scil. Sonnemann] nach meiner Ansicht nicht ganz richtig sehen, nämlich zu statisch. Selbstverständlich ist Sonnemann ein Mensch, der vom Liberalismus herkommt und durch liberale Vorstellungen geprägt ist. Aber er gehört zu jenem mir ungemein sympathischen Typus, der durch die Konsequenz der Liberalität dazu gedrängt wird, über sie hinauszugehen. Er hat das gerade während der letzten Jahre durch seine eigene Produktion aufs nachdrücklichste bekräftigt. Sollte er denn wirklich dafür bestraft werden? Ist es nicht mehr, wenn ein Mensch seiner geistigen Herkunft in reifen Jahren so sich wandelt, als eine bestimmte Art des Rauhrevolutionären, die nur daher rührt, daß man die Substanz dessen, wovon man sich abstößt, gar nicht recht erfahren hat – wofür dann, wie ich immer wieder erlebe, diese Substanz dadurch sich zu rächen pflegt, daß die Betreffenden ihr erst recht verfallen.“27
Es lässt sich zeigen, dass Sonnemann und Adorno dem ‚Rauhrevolutionären‘ der studentischen Opposition der 1960er Jahre gleichermaßen kritisch gegenüberstanden. Beide insistierten auf der politischen Bedeutung und Wichtigkeit gerade eines
25Sonnemann
an Taubes: Brief vom 18. Juli 1968 [Durchschlag an Adorno], TWAA Br 1447|32; Hervorhebung im Original unterstrichen. 26Siehe dazu auch unten, Kapitel 14. 27Theodor W. Adorno an Jacob Taubes: Brief vom 11. Juli 1968, TWAA Br 1521|119. Bislang unveröffentlicht. Für die freundliche Abdruckgenehmigung danke ich der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Für den Hinweis auf diesen Brief sei zudem Robert Zwarg sehr herzlich gedankt.
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v orbehaltlosen Denkens, das nicht immer schon in den Dienst politischer Aktion genommen werden kann. Spontaneität, die Sonnemann einfordert, ist stets zugleich denkende und sprachlich elaborierte Spontaneität; nicht die spontaneistische Praxis sogenannter Spontis, denen Freiheit tendenziell zum Verzicht aufs Denken zu geraten scheint. Kein Zufall, dass Adornos „Marginalien zu Theorie und Praxis“ Ulrich Sonnemann gewidmet sind: aus Verbundenheit in dieser Sache.28 Von diesen Briefepisoden aus lässt sich in großen Zügen Sonnemanns Werkbiographie konturieren, wie sie, in noch näher zu erläuternder Weise, für vorliegende Untersuchungen strukturgebend ist: Ausgehend vom Versuch einer positiven Anthropologie der Freiheit, die sich etwa seinem zweiten amerikanischen Buch – Existence and Therapy (1954) – entnehmen lässt, gelangt Sonnemann, sich an immanenten Widersprüchen abarbeitend, zum Konzept einer negativen Anthropologie der Freiheit, das sich zuerst vielleicht in seinem Aufsatz „Die Glücksdressur. Ein Phänomen der Managergesellschaft“ (1957) andeutet,29 am deutlichsten dann in seiner Negativen Anthropologie (1969) entfaltet wird. Dieser Sinneswandel lässt sich folgendermaßen pointieren: Die Annahme, Freiheit sei das offene Sein der Existenz schlechthin, geht über die realen Unfreiheiten zu leichtfertig hinweg; in den Unfreiheiten und aus ihnen heraus ist vielmehr das irreduzible Freiheitsmoment aufzusuchen und zu beschreiben. Dieses Freiheitsmoment besteht nicht zuletzt im vernunftgeleiteten Aufsuchen und Versprachlichen solcher Widersprüche. Sowohl die aufmerksame Wahrnehmung als auch die denkende Versprachlichung der widerspruchsvollen Wirklichkeit haben somatische Momente. Bei der Wahrnehmung mag das auf der Hand liegen, denn ohne Sinnesorgane keine Sinneswahrnehmung. Doch auch Sprache, noch die formale, logische und ganz abstrakte, versteht Sonnemann als somatisch tingierte: Sie ist Wortklang und Schriftbild, sodass ihre intelligiblen bzw. logischen Gehalte stets noch auf Erfahrungsmomente zurückweisen und an sinnlich Erscheinendes (resp. Erklingendes) gebunden sind. Diesem Thema, das sich bereits in seinen sehr frühen Arbeiten verschiedentlich abzeichnet, wollte ein Buch nachgehen, das Sonnemann unter dem Titel Transzendentale Akustik in Aussicht stellte. Zustande gekommen ist dieses Buch nicht mehr: Ulrich Sonnemann verstarb 1993, ohne es tatsächlich in Angriff genommen zu haben.30 Allerdings finden sich zahlreiche
28Vgl.
Theodor W. Adorno: „Marginalien zu Theorie und Praxis“ [1969], in: AGS 10, S. 759–782. Sonnemann: „Die Glücksdressur. Ein Phänomen der Managergesellschaft“ [1957], in: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart 1995, S. 25–39. 30Bezüglich eines Buchprojektes unter diesem Titel äußerte sich Sonnemann 1992 in einer autobiographischen Notiz, erschienen in einer Festschrift anlässlich seines 80ten Geburtstages: „1991: […] Entwurf (und erste Aufzeichnungen zur Verwirklichung) einer für 1992/93 in Aussicht genommenen Transzendentalen Akustik“; Sonnemann: „Autobiographisches“, S. 239. Der Bestand der „ersten Aufzeichnungen“ zum Projekt im Nachlass Sonnemanns ist allerdings recht überschaubar, die Veröffentlichung ist für Band 8 der Schriften vorgesehen. Ich danke Paul Fiebig für die Hinweise in diesem Kontext. Im Folgenden wird ‚Transzendentale Akustik‘ daher als Titel für das systematische Anliegen genommen, das sich in Sonnemanns späten Texten äußert, jedoch nicht auf sie reduzieren lässt. 29Ulrich
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Aufsätze zu ebenjenem Thema, vor allem in der Phase nach Veröffentlichung der Negativen Anthropologie. Einige wichtige Texte hierzu sind in die Essaysammlung Tunnelstiche (1987) aufgenommen worden, sodass sie gewissermaßen als Vorstudie zu einer transzendentalen Akustik gelesen werden kann.31 Zu Forschungsliteratur und Rezeptionsgeschichte Mit den Themen seines Spätwerkes müsste Sonnemann prima facie eigentlich ein Referenzautor verschiedener kulturphilosophischer wie -wissenschaftlicher Ansätze der Gegenwart sein. Nachdem sich die Forschung hier in den vergangenen Jahrzehnten ausgiebig mit Themen von Bildlichkeit und Sichtbarkeit sowie visuellen Praktiken befasste, lässt sich seit einigen Jahren ein gesteigertes Interesse an der Bedeutung von Akustik, Klang und Hören ausmachen. Zunehmend hat sich dabei der Schwerpunkt von musikwissenschaftlichen Kontexten gelöst und auf akustische Phänomene insgesamt ausgeweitet. Jedoch spielt in den Theorien im Gefolge der Sound Studies oder im Zeichen eines Acoustic Turn das Verhältnis zwischen Hören und Kritik nur eine marginale Rolle;32 was denn auch eine mögliche Erklärung dafür ist, dass Sonnemanns Texte hier nicht behandelt werden. Mit Sonnemann lassen sich allerdings gerade die Vermittlungen von sinnlicher Wahrnehmung und reflektierendem Bewusstsein thematisieren; eine Perspektive, die in dezidiert musikphilosophischen Arbeiten zweifelsohne eine Hauptrolle spielt,33 die bislang in vielen der neueren Beiträge zum Auditiven (jenseits von Musik) allerdings fehlt.34 Überlegungen der Kritischen Theorie zur Dialektik von sinnlicher Wahrnehmung und reflexivem Denken, zur Dialektik also von Rezeptivität und Spontaneität, setzen verschiedentlich bei dieser Leerstelle an, wobei die Themen der klassischen deutschen Philosophie genauso verhandelt werden wie auch älterer Denktraditionen.35 Dabei gibt es sowohl in den Texten der Kritischen
31Ulrich
Sonnemann: Tunnelstiche. Reden, Aufzeichnungen und Essays, Frankfurt a.M. 1987. Sabine Sanio: „Aspekte einer Theorie der auditiven Kultur“, in: kunsttexte.de, 2010; http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2010-4/sanio-sabine-2/PDF/sanio.pdf (zuletzt geprüft am 19.07.2018); sowie Petra M. Meyer (Hg.): Acoustic turn, München 2008. Für die beiden Literaturhinweise sei Iris Dankemeyer herzlich gedankt.
32Vgl.
33Vgl.
Georg Mohr, Johann Kreuzer (Hg.): Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik, Würzburg 2012. 34Einige aktuellere Publikationen zum Thema sind etwa Beate Ochsner, Robert Stock (Hg.): senseAbility – Mediale Praktiken des Sehens und Hörens, Bielefeld 2016; Mladen Dolar: His Masters Voice. Eine Theorie der Stimme, Berlin 2007; Axel Volmar, Jens Schröter (Hg.): Auditive Medienkulturen. Techniken des Hörens und Praktiken der Klanggestaltung, Bielefeld 2013. – Die Schlussworte werden auf dieses Theoriefeld noch einmal zurückkommen. 35Für Ersteres aktuell etwa Maxi Berger (Hg.): Erfahrung und Reflexion. Das Subjekt in Kunst und Kunstphilosophie, Springe 2018. Für Letzteres siehe z.B. Anne Eusterschulte: „Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst. Aspekte einer Ästhetik des Zur-Erscheinung-Kommens bei Theodor W. Adorno“, in: Dies., Wiebke-Marie Stock (Hg.): Zur Erscheinung kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozess, Hamburg 2016, S. 223–256.
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Theorie ‚erster Generation‘ als auch in der hieran anknüpfenden Forschungsliteratur eine nicht unerhebliche Auseinandersetzung mit Fragen des Hörens. Sie betrifft größtenteils solche der Musik, wie sie vor allem bei Adorno verhandelt werden.36 So fand und findet immer noch eine Debatte darüber statt, ob und wie sich Adornos Musikphilosophie heute produktiv machen lässt: ob sich etwa das kritische Potential von Musik auf Kunstmusik beschränke oder aber auch in populärer Musik anzutreffen sei.37 Auch die für vorliegende Untersuchungen relevante Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Musik wurde und wird dabei nicht selten thematisiert.38 Darüber hinaus wird der Bedeutung von akustischen Elementen im Denken Walter Benjamins in jüngster Zeit vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, wobei verschiedentlich etwa auf auditive Aspekte in Benjamins komplexer Sprachphilosophie hingewiesen wurde.39 In der überaus
36Einen
Überblick über die diversen Facetten der Musiktheorie Adornos leistet der umfangreiche Sammelband von Richard Klein, Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.): Mit den Ohren denken. Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt a.M. 1998. Überlegungen zur Vermittlung von gesellschaftstheoretischen und ästhetischen Fragen finden sich bei Carl Dahlhaus: „Aufklärung in der Musik“, in: Maria Calloni, Josef Früchtl (Hg.): Geist gegen den Zeitgeist. Erinnern an Adorno, Frankfurt a.M. 1991, S. 123–135; und bei Richard Klein: „Ideologiekritik oder kritische Hermeneutik? Methodologische Aspekte einer Musikphilosophie nach Adorno“, in: Oliver Decker, Tobias Grave (Hg.): Kritische Theorie zur Zeit, Springe 2008, S. 256–275. Der berüchtigten Frage nach Adornos Verhältnis zum Jazz und zur Populärmusik widmen sich Diedrich Diederichsen: „Zeichenangemessenheit. Adorno gegen Jazz und Pop“, in: Nicolaus Schaffhausen et al. (Hg.): Adorno – Die Möglichkeit des Unmöglichen, New York & Berlin 2003, S. 36–49; sowie Robert Hullot-Kentor: „The Impossibility of Music. Adorno, Popular and Other Music“, in: telos 87 (1991), S. 97–117. Einen überzeugenden Beitrag zum Verhältnis von Leben und Werk Adornos in Sachen Musik leistet aktuell schließlich Iris Dankemeyer: Die Erotik des Ohrs. Musikalische Erfahrung und Emanzipation nach Adorno, Berlin 2020. 37Ein umfassendes Plädoyer für die Beschränkung auf Kunstmusik kommt von Claus-Steffen Mahnkopf: Kritische Theorie der Musik, Weilerswist 2006. Positiv auf populäre Musik bezieht sich hingegen etwa Roger Behrens: Pop, Kultur, Industrie: zur Philosophie der populären Musik, Würzburg 1996; und ders.: Ton Klang Gewalt: Texte zu Musik, Gesellschaft und Subkultur, Mainz 2004. Zur Kontroverse zwischen Mahnkopf und Behrens siehe das Gespräch zwischen beiden: „Man müsste das komplette Musiksystem umbauen“, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 24–25 (2007), S. 188–219. 38Explizit
zum Thema wird sie bei Dieter Schnebel: „Komposition von Sprache – sprachliche Gestaltung von Musik in Adornos Werk“, in: Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Theodor W. Adorno zum Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1969, S. 129–146; oder bei Heinz-Klaus Metzger: „Mit den Ohren Denken. Zu einigen musikphilosophischen Motiven von Adorno“, in: Michael Löbig, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Hamburger Adorno-Symposion, Lüneburg 1984, S. 79–86; außerdem bei Max Paddison: „The Language-Character of Music. Some Motifs in Adorno“, in: Klein, Mahnkopf (Hg.): Mit den Ohren denken, S. 71–91. Ganz aktuell geht es darum auch bei Elvira Seiwert: Enthüllungen. Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Springe 2017. 39Vgl. Tobias R. Klein, Asmus Trautsch (Hg.): Klang und Musik bei Walter Benjamin, München 2013; sowie Anja Hallacker: Es spricht der Mensch. Walter Benjamins Suche nach der lingua adamica, München 2004; vgl. auch Lorenz Jäger: „Sprachphilosophische Aspekte des PassagenWerks“, in: Thomas Regehly, Iris Gniosdorsch (Hg.): Namen, Texte, Stimmen. Walter Benjamins Sprachphilosophie, Stuttgart 1994, S. 139–154.
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umfangreichen und fächerübergreifenden Rezeption der Kritischen Theorie (insbesondere Adornos) lassen sich zwar einige Leerstellen, darüber hinaus jedoch zahlreiche Anknüpfungspunkte für die in dieser Arbeit verhandelten Themen bestimmen. Gänzlich anders verhält es sich mit der Literatur zu Ulrich Sonnemann, dessen Denken heute kaum wahrgenommen wird, geschweige denn systematisch erschlossen wäre. Mischte Sonnemann selbst sich häufig in Debatten um die Kritische Theorie ein, so gerieten seine Arbeiten nach seinem Tod bald nahezu in Vergessenheit, zumindest verglichen mit seiner publizistischen Präsenz zu Lebzeiten. Entsprechend ist die vorliegende Literatur zu Sonnemann bis dato sehr überschaubar und kann hier fast vollständig aufgelistet werden: Nennenswerte größere Publikationen zu Sonnemann erschienen zunächst anlässlich (akademischer) Jubiläen.40 Ihnen folgten zwei schmale Erinnerungsbände nach seinem Tod.41 All jenen Bänden ist, wie es das Genre nahelegt, gemein, dass die in ihnen versammelten Aufsätze meist eher lose und nicht immer verbindlich an Sonnemanns Denken anknüpfen. Systematischer dagegen setzen sich ein von Claus-Volker Klenke und anderen herausgegebener Sammelband über Existenz, Negativität und Kritik42 sowie die bislang einzige Monographie über die Negative Anthropologie von Maria Schafstedde43 mit dem Denken Sonnemanns auseinander. Beide betonen jedoch vor allem seine Herkunft aus der Existenzphilosophie, von der sich Sonnemann nach eigenem Bekunden später deutlich distanzierte.44 Aus der Generation der (jüngeren) Kollegen Sonnemanns sind es insbesondere Hermann Schweppenhäuser sowie Christoph Türcke, die in verschiedenen Aufsätzen aus den bereits zitierten Sammelbänden jeweils systematisch einige wichtige Spezifika der Kritischen Theorie Sonnemanns herausgearbeitet haben. Zu nennen sind im gleichen Sinne außerdem die Bücher Elvira Seiwerts, die, hauptsächlich zwar mit Adorno und Benjamin befasst, immer wieder auf Sonnemanns Themen zurückkommen und so deren zentrale Bedeutung für das Projekt der Kritischen Theorie (nicht nur, aber besonders) in Belangen philosophischer Ästhetik geltend machen.45 40Gottfried
Heinemann, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Sabotage des Schicksals. Für Ulrich Sonnemann, Tübingen 1982; sowie Sabine Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß. Zur gegenwärtigkeit Kritischer Theorie. Ulrich Sonnemann zum 80. Geburtstag, Hamburg 1992; und Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Einsprüche kritischer Philosophie. Kleine Festschrift für Ulrich Sonnemann, Kassel 1992. 41Heinz Eidam, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann. Vorträge und Beiträge zur akademischen Trauerfeier, Kassel 1994; sowie Diethelm Class (Hg.): Unerhörtes. Glossen zum Denken Ulrich Sonnemanns, Würzburg 1997. 42Claus-Volker Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, Würzburg 1999. 43Maria Schafstedde: Spontaneität und Vermessenheit. Zur Genese Negativer Anthropologie bei Ulrich Sonnemann, Würzburg 2002. 44Siehe unten, Kapitel 14 (Von der Daseinsanalyse zur Gesellschaftstheorie). 45Vgl. Elvira Seiwert: Beethoven-Szenarien. Thomas Manns ‚Doktor Faustus‘ und Adornos Beethoven-Projekt, Stuttgart & Weimar 1995; sowie Seiwert: Enthüllungen.
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Aktuell lassen sich derweil die Anfänge einer neuerlichen Bezugnahme auf die Texte Sonnemanns von verschiedenen Seiten verzeichnen, wobei insbesondere Fragen kritischer Anthropologie virulent zu sein scheinen; allerdings bleibt solche Sonnemann-Forschung bislang noch recht verstreut.46 Darüber hinaus werden seit einigen Jahren mit großer Sorgfalt die Schriften Sonnemanns von Paul Fiebig neu herausgegeben und dabei um zahlreiche Anmerkungen – sowohl Sonnemanns Quellen als auch historische Hintergründe betreffend – editorisch ergänzt, was den neueren Auseinandersetzungen mit Sonnemann äußerst zuträglich ist. Das Editionsprojekt ist noch nicht abgeschlossen.47 Eine Monographie zum Spätwerk Sonnemanns liegt bislang nicht vor. Dieses Desiderat besteht nicht nur für die (recht überschaubare) Forschung zu Sonnemann: Während Christoph Türcke Sonnemans Negative Anthropologie immerhin noch als „ein eigenständiges und eigenwilliges Seitenstück zur Negativen Dialektik“48 beschrieb, tauchen die späten Arbeiten Sonnemanns in den aktuelleren Debatten um Kritische Theorie so gut wie nicht auf. Dies mag auch daran liegen, dass sich in der (akademischen) Öffentlichkeit ein Bild der Kritischen Theorie als ‚Frankfurter Schule‘ etabliert hat, das sich wesentlich personen- und nicht themen- oder sachbezogen zeigt. Texte jenseits derer Adornos, Benjamins, Marcuses und (schon weniger) Horkheimers scheinen hier kaum von Interesse.49 Eine ausführliche Darstellung und Entfaltung von Sonnemanns systematischem Hauptpunkt, der Verbindung von Gesellschaftstheorie und -kritik mit der Frage nach den Formen sinnlicher Wahrnehmung, fehlt bislang gänzlich. Die hier
46Siehe
hierzu Sebastian Edinger: „Eine kleine Genealogie des Verhältnisses von Anthropologie und Ontologie im Denken Adornos mit einem Seitenblick auf Ulrich Sonnemann“, in: Thomas Ebke, Caterina Zanfi (Hg.): Das Leben im Menschen oder der Mensch im Leben? DeutschFranzösische Genealogien zwischen Anthropologie und Anti-Humanismus, Potsdam 2017, S. 255–270; sowie Dennis Johannßen: „Toward a Negative Anthropology. Critical Theory’s Altercations with Philosophical Anthropology“, in: Anthropology & Materialism 1, H. 1; noch einmal Dennis Johannßen: „Humanism and Anthropology from Walter Benjamin to Ulrich Sonnemann“, in: Beverley Best, Werner Bonefeld, Chris O’Kane (Hg.): The Sage Handbook of Frankfurt School Critical Theory, London 2018, S. 1252–1269; und schließlich die zur Teilpublikation angedachte Arbeit von Tobias Heinze: ‚Brechen, abspiegeln, versteinern, verwandeln‘. Kritische Theorie psychoanalytischer Sprachkritik nach Ulrich Sonnemann, Frankfurt a.M. (Masterarbeit) 2018. Ein neuer Sammelband zur Negativen Anthropologie Sonnemanns, den der Verfasser zusammen mit Tobias Heinze herausgeben wird, befindet sich derzeit in Vorbereitung. 47Seit 2005 erscheint die von Paul Fiebig herausgegebene Ausgabe der Schriften Sonnemanns beim zu Klampen Verlag. Von den anvisierten zehn Bänden sind inzwischen fünf erschienen, darunter auch die Negative Anthropologie (= Bd. 3), aber noch nicht Sonnemanns Arbeiten zu Zeit und Gehör (geplant für Bd. 8). Zur Übersicht der Bände siehe das Literaturverzeichnis. Sofern sie dort bereits erschienen sind, zitiert diese Arbeit Sonnemanns Texte aus der SchriftenEdition. 48Christoph Türcke: „Kritische Theorie und Eigensinn. Ulrich Sonnemann zum Gedächtnis“ in: Eidam, Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann, S. 35–48, hier S. 45. 49Siehe oben, Fußnoten 6 und 19 (Einleitung).
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v orgelegte Studie will dies leisten. Damit hofft sie nicht nur, einen zu Unrecht vergessenen Denker des 20ten Jahrhunderts wieder in die wissenschaftliche Diskussion bringen zu können, sondern möchte zugleich an der gegenwärtig in verschiedenen Disziplinen geführten Debatte über die Bedeutung des Hörens mit einem (vermutlich nicht ganz unkontroversen) Beitrag zur philosophischen Kritik teilnehmen. Für ein solches Anliegen ist es derweil unerlässlich, auf verschiedene Positionen innerhalb der Geschichte der Philosophie in weitem Umfang zurückzugreifen; zum einen, weil Sonnemann dies selbst tat, zum anderen, weil nur so die verschiedenen Traditionslinien sowie Abstoßungspunkte in dessen Denken kenntlich werden. Hat sich in den letzten Jahrzehnten mit der Subsumption der Kritischen Theorie unter das Label ‚Sozialphilosophie‘ nicht selten eine erhebliche Verengung des historischen Fokus auf das 20te (und höchstenfalls noch das 19te) Jahrhundert ergeben, so vertritt vorliegende Studie die Grundannahme, dass sich die Sachprobleme Kritischer Theorie nur mit einem tiefen Blick in die Geschichte der Philosophie – oder mit einem offenen Ohr für historisch fernliegende ‚Stimmen‘ – angemessen behandeln lassen.50 Zu Form und Methode der Arbeit Sonnemanns Werk ist gekennzeichnet durch verschiedene Spezifika, die eine Arbeit über sein Denken vor gewisse Probleme stellt. Das erste dieser Probleme ist das schwierige Verhältnis von Essay und System. Zutreffend hat Christoph Türcke etwa bemerkt: „Durch und durch essayistisch, schon den Anschein der systematischen Abhandlung systematisch meidend, wortschöpferisch und -spielerisch, sogleich den Assoziationen folgend, die dieser oder jener Begriff hervorruft, ist Sonnemanns Sprache jeden Augenblick für eine Überraschung gut“.51 Sonnemanns Texte erheben den Essay tatsächlich zur Form philosophischen Arbeitens, wie es programmatisch Adorno formulierte: Nicht nur theoretisch wird über Spontaneität nachgedacht, die Sprachpraxis selbst ist vielmehr spontan, bisweilen assoziierend, folgt den sich vermeldenden gedanklichen
50Damit
knüpfen vorliegende Untersuchungen an verschiedene Forschungsarbeiten an, die die geistesgeschichtliche Tiefendimension Kritischer Theorie ausloten und dabei besonders das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Intelligiblität zum Thema machen. Insbesondere sind hier die Arbeiten Anne Eusterschultes zu nennen, exemplarisch etwa der oben bereits zitierte Essay zu Begriff und Phänomen der Apparitio, der bemerkenswerte geistesgeschichtliche Spuren in Adornos Ästhetischer Theorie offenlegt; vgl. Eusterschulte: „Apparition“, a.a.O; sowie auch die Arbeiten von Johann Kreuzer, etwa seine Studie zur mittelalterlichen Philosophie, die verschiedentlich – explizit wie implizit – Bezüge zwischen jener zu Unrecht marginalisierten Epoche der Geistesgeschichte und den Texten Theodor W. Adornos und Walter Benjamins aufzeigt; vgl. Johann Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie. Augustinus, Eriugena, Eckhart, Tauler, Nikolaus von Kues, München 2000. 51Christoph Türcke: „Unermüdlicher Querdenker. Ulrich Sonnemanns gesammelte Tunnelstiche“, in: Class (Hg.): Un-erhörtes, S. 70–72, hier S. 71 f.
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Regungen manchmal bereitwilliger nach als stringenten Gedankengängen.52 Doch bedeutet dies keineswegs, dass damit der systematische (insofern wissenschaftlich-kritische) Anspruch von Philosophie fallen gelassen wäre. Einmal nämlich können sehr wohl systematische Schwerpunkte im Denken Sonnemanns aufgefunden werden: Beinahe alle der Texte Sonnemanns gruppieren sich um das, was er als negative Anthropologie zu entwerfen gedachte. In ihrer Gesamtheit stellen die Texte damit durchaus so etwas wie ein System dar, auch wenn sie zugleich – ‚systematisch‘, wie Türcke schreibt – einer Tendenz von Systemphilosophie entgegenlaufen, Abgeschlossenheit zu prätendieren. Ein Minimum von Systematizität wäre zudem darin zu sehen, dass sich auch bei Sonnemann die verschiedenen Aspekte des Denkens nicht wahllos widersprechen sollen, einmal dieses und ein andermal jenes behauptet wird; sonst etwa wäre der Bruch zwischen Existenzphilosophie und kritischer Gesellschaftstheorie gar nicht als ein solcher zu fassen. Auch das (in kritischer Weise) essayistische Denken erhebt Anspruch auf Objektivität, indem es seinen Gegenständen (den Objekten) gerecht werden will und indem es sich argumentierend an ein objektiv Allgemeines, an urteilende Vernunft richtet. Zugleich jedoch ist solches Denken brüchig, läuft nicht auf die Geschlossenheit eines statischen Systems hinaus. Auch dies ist laut Adorno Kennzeichen des Essays als einer philosophischen Form; begründet darin, dass nur auf diese Weise die Form des Denkens einer brüchigen Realität gerecht wird.53 Essayistisches Denken hat einen konstellativen Charakter, was bedeutet, dass seine Elemente verstreut sind und sich immanent dagegen sträuben, in eine vereinheitlichende, lineare Darstellung gebracht zu werden. Damit aber wäre ein zweites Problem für eine Arbeit über Sonnemanns Werk bestimmt, das mit dem ersten eng verbunden ist: Wie lässt sich ein derart fragmentiertes und gleichsam unsystematisches Denken doch in (s)einem Zusammenhang darstellen, ohne dabei die notwendigen Brüche, Verwerfungen und Widersprüche zu glätten? Die hier vorgelegte Arbeit versucht, genannte Probleme sowohl in methodischer als auch in formaler Hinsicht auszutragen. Um dem gleichermaßen essayistischen wie systematischen Charakter von Sonnemanns Werk gerecht zu werden, wendet sie verschiedene Methoden an. Das aber meint keinen beliebigen Methodenpluralismus, vielmehr begründen sich die gewählten Methoden aus dem jeweiligen Gegenstand heraus. Es wurde gewissermaßen ein Ensemble bzw. Arrangement von Vorgehensweisen gewählt, wie es das Material (Sonnemanns
52„Die
Regungen der Autoren erlöschen in dem objektiven Gehalt, den sie ergreifen. Die objektive Fülle von Bedeutungen jedoch, die in jedem geistigen Phänomen verkapselt sind, verlangt vom Empfangenden, um sich zu enthüllen, eben jene Spontaneität subjektiver Phantasie, die im Namen objektiver Disziplin geahndet wird.“ Theodor W. Adorno: „Der Essay als Form“ [1958], in: Noten zur Literatur, AGS 11, S. 9–33, hier S. 11. 53Adorno schreibt, der Essay „denkt in Brüchen, so wie die Realität brüchig ist, und findet seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht indem er sie glättet.“ Adorno: „Der Essay als Form“, AGS 11, S. 25. – Vgl. zu den hier thematischen Fragen außerdem Ruth Sonderegger: „Essay und System“, in: Klein et al. (Hg.): Adorno-Handbuch, S. 534–536.
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XXVII
Werk und seine Gegenstände) erfordert. Aus dem Repertoire philosophischer Techniken boten sich hierfür insbesondere an: • Argumentation; • Textexegese und Sprachanalyse; • Begriffsbestimmung und -geschichte; • (kritische) Hermeneutik als philosophische Deutung;54 • gelegentlich auch Assoziation, um implizite und subkutane Themen oder Gedanken explizit und damit weiter bearbeitbar zu machen; • schließlich ideengeschichtliche Ansätze.55 Aus der Materialgrundlage, der Themenstellung sowie dem hier knapp umrissenen, methodischen Zugriff begründet sich die Form der Arbeit. Mit der titelgebenden Kritischen Theorie ist innerhalb des Sonnemannschen Œuvres die sachliche Bezugsgröße vorliegender Untersuchungen bereits bestimmt: Es sind die Texte aus dem Umfeld der Negativen Anthropologie und der Zeit danach, sofern sie den Ideen und spezifischen Fragestellungen Kritischer Theorie nahestehen. Von hier aus werden dann die anderen Texte, etwa die frühen existential-phänomenologischen und auch die späten, gelesen. Allerdings ist das Material anders angeordnet: Da eines der wichtigsten Hauptthemen aus Sonnemanns Schriften, das Hören, erst in den späten Texten zur Entfaltung ansetzt, nehmen die Untersuchungen von der Transzendentalen Akustik ihren Ausgang (Teil I), folgen dann, der Werkchronologie entgegengesetzt, den Denkmotiven im Kontext der Negativen Anthropologie (Teil II) nach, um schließlich ihre mögliche Herkunft aus der psychotherapeutischen Praxis (Teil III) zum Gegenstand zu machen. Bei Letzterer allerdings wird es weniger um Sonnemanns frühe Daseinsanalyse gehen als vielmehr um seine erst später einsetzende, kritische Hinwendung zur Psychoanalyse. Mit dieser linearen Struktur soll den Anforderungen von Stringenz und Systematik Genüge getan werden. Zugleich jedoch war, um dem gewissermaßen fragilen und disparaten – essay istischen – Charakter der Texte Sonnemanns Rechnung zu tragen, eine Verfahrensform zu wählen, welche die einzelnen Elemente in ihrem Auseinandergefallensein und ihrer Brüchigkeit ernst nimmt. Die Linearität der Darstellung ist insofern durch eine andere Struktur selbst durchbrochen: Gewissermaßen bedeutet die Zusammenstellung der einzelnen Kapitel eine Konstellation unterschiedlicher Betrachtungen. 54Für
die verschiedenen Stränge der Hermeneutik, an die vorliegende Untersuchungen anknüpfen, ohne sich auf bestimmte Konzepte festzulegen, vgl. Helmut Seiffert: Einführung in die Hermeneutik. Die Lehre von der Interpretation in den Fachwissenschaften, Tübingen 1992. 55Im Hinblick auf die Ideengeschichte kann diese Arbeit an einige Überlegungen der Konstellationsforschung anknüpfen. Als Methode der Philosophiegeschichtsschreibung fragt diese nicht allein nach der systematisch-argumentativen Struktur philosophischer Texte, sondern betrachtet „vielschichtige Komplexe […], die sowohl Personen und ihre Motivlagen als auch Ideen, Probleme und Theorien sowie deren Niederschläge in Dokumenten umfassen“; Marcelo R. Stamm: „Konstellationsforschung – Ein Methodenprofil: Motive und Perspektiven“, in: Ders., Martin Muslow (Hg.): Konstellationsforschung, Frankfurt a.M. 2005, S. 31–73, hier S. 74.
XXVIII
Einleitung
Jedes der Kapitel ist einem Gegenstand gewidmet, einer philosophiegeschichtlichen Referenz etwa oder einem systematischen Komplex. Manche der Gegenstände verhalten sich dabei widersprüchlich zu einander: Zum Beispiel fragen die Kapitel 1 und 2 nach grundlegenden Strukturen hörenden Denkens, die, sofern transzendental, geschichtlicher Betrachtung vorausgesetzt sind; den Kapiteln 3 bis 5 geht es sodann aber gerade um die historischen Modifikationen von visueller wie auditiver Vernunft, also um die Kritik transzendentaler Strukturen. Auch wenn sich der Widerspruch teilweise lösen lässt, indem man die erste Perspektive als die der Geltung, die zweite als Perspektive der Genese solcher Strukturen begreift, so reiben sich beide gleichwohl, da der Widerspruch in der Sache selbst (einer wahrnehmenden Vernunft) begründet liegt, womit sich aber auch die Widersprüche zwischen den Kapiteln nicht gänzlich auflösen lassen. Ein sich durch die Arbeit ziehendes, ideengeschichtliches Thema ist das der verschlossenen Ohren, die sich entweder vor dem mythisch-lockenden Sirenengesang (Kapitel 4), den hörbaren Erfahrungen mit der Wirklichkeit (Kapitel 10) oder aber den bedrohlichen ‚Stimmen der Natur‘ im Menschen (Kapitel 15) abdichten. Wo Sonnemanns Theorie, wie in diesen Kapiteln, mit anderen Ansätzen zusammengestellt wird, handelt es sich nicht um einen Theorienvergleich im klassischen Sinne. Eher geht es um eine Verhältnisbestimmung, um ein gegenseitiges Beleuchten und Konfrontieren zur Klärung der theoretischen Gehalte, oder aber um eine Ausdeutung und Ergänzung Sonnemannscher Ideen. Dabei stehen die (einleitend geschilderten) Sachprobleme und Sonnemanns Behandlung derselben im Vordergrund. Nicht wird beansprucht, die zur Klärung aufgesuchten (philosophischen) Referenzen ausschöpfend zu bearbeiten. Sehr auffällig ist derweil, dass sich Sonnemann bei den von ihm selbst thematisierten Theorien nicht immer auf die Primärtexte bezieht, sich manchmal eher an ihnen angehängten -Ismen abarbeitet: Selten etwa schreibt Sonnemann über die Texte von Marx, viel häufiger über den Marxismus; ähnliches gilt bezüglich Freud und der Psychoanalyse; und womöglich selbst noch für Hegel und Kant. Was Sonnemanns Einlassungen und Polemiken, die sich gegen Denkverschulungen richten, gelegentlich zu verkennen scheinen: wie nah seine Ideen denjenigen der vermeintlich befehdeten Theoretiker nicht selten sind. Für Kant werden dies Kapitel 1 und 2 exemplarisch zeigen; für Hegel implizit Kapitel 11; noch impliziter für Marx Kapitel 5 und für Freud insgesamt Teil III – ohne dabei alle Polemiken Sonnemanns im Einzelnen auszuräumen. Doch auch die wohlwollend zitierten Positionen der Geistes- und Philosophiegeschichte kommen bei Sonnemann manchmal eher in kurzen Randbemerkungen vor als in ausdeutenden Abhandlungen; selbst dann, wenn sich ganz zentrale Überlegungen Sonnemanns auf sie stützen. Beim Rekurs auf Augustinus’ Zeittheorie ist das am gravierendsten, Kapitel 2 will hier durch Ausführung Sonnemanns Thesen untermauern. Die Auseinandersetzung mit Cusanus in der Negativen Anthropologie hingegen fällt einigermaßen umfangreich aus, doch noch hier lassen sich Sonnemanns Exegesen mit Blick ins Original umso mehr bekräftigen, was Kapitel 13 unternehmen wird.
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XXIX
Für Sonnemanns kritische Philosophie des Hörens bedeutet Sprache den wichtigsten Gegenstand. Darin kann sich Sonnemann auf diverse Vorläufer der Geistesgeschichte berufen. Gleichzeitig bedeutet sein (qua Hören) dezidiert sinnliches Sprachverständnis eine Kritik reduktionistischer oder formalistischer Sprachmodelle. Diesen Fluchtpunkt des Sonnemannschen Œuvres machen sich vorliegende Untersuchungen zu eigen, indem alle drei Teile zum jeweiligen Ende hin zur Sprachphilosophie gelangen: etwas rhapsodisch auf verschiedene Traditionslinien bezugnehmend in Kapitel 6, sprachkritisch in Kapitel 12, sprachsomatisch in Kapitel 16. An zwei Stellen der Arbeit finden sich Hörmodelle eingeschaltet, die philosophische Abhandlung intermittierend und gleichermaßen aus der wissenschaftlichen Darstellung herausfallend. Die Bezeichnung lehnt sich an Walter Benjamin an, der unter gleichem Titel einige Rundfunkarbeiten konzipierte. Genauer gesagt handelte es sich dabei um Kurzhörspiele, die sich mit alltäglichen sozialen Konfliktsituationen befassten und denen daran gelegen war, bei der Zuhörerschaft durch „Unterweisung“56 ein gewisses Klassenbewusstsein zu befördern. Mithin war die „Grundabsicht dieser Modelle […] eine didaktische“.57 Den in vorliegender Studie versammelten Modellen geht es allerdings um etwas anderes. Mit denjenigen Benjamins teilen sie zwar, dass die ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen aus dem Alltag stammen, auch wenn mindestens das erste sich im Konflikt mit einer allzu glatt laufenden Alltäglichkeit befinden mag. Doch wollen sie niemanden unterweisen. Eher ist es ihnen darum bestellt, einige der Impulse offenzulegen, denen sich die theoretischen Reflexionen vorliegender Untersuchungen allemal auch verdanken: Neben der durch Sonnemann sprechenden philosophischen Tradition waren es nicht selten konkrete Hörerfahrungen, die kritisches Nachdenken über das Thema antrieben. Der versuchsweisen (oder vielleicht: literarischen) Form gemäß sind die Hörmodelle vom wissenschaftlichen Text durch ein anderes Layout abgegrenzt. In seinen Brechungen will es kenntlich machen, dass es sich um Erfahrungsfragmente handelt, die gleichwohl mit Stücken von Reflexion versetzt sind, sich der theoretischen Arbeit annähernd. Bei aller notwendigen Trennung von Erfahrung und Theorie verweisen diese Versatzstücke darauf, dass auch das solcherart Geschiedene zusammengehört, weshalb die Modelle in die Arbeit aufgenommen wurden, ohne den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erfüllen zu können. Zur Terminologie Es erwies sich im Laufe der Arbeit am Material als notwendig, auf Probleme des Vokabulars an prominenter Stelle – also hier in der Einleitung – hinzuweisen. An vielen Punkten folgender Untersuchungen werden Begrifflichkeiten auftauchen, die zuweilen recht unterschiedlich verstanden werden können, die
56Walter Benjamin: „Hörmodelle“ [1931], in: Gesammelte Schriften (= BGS) Bd. IV, S. 627– 720, hier S. 628. 57Benjamin: „Hörmodelle“, BGS IV, S. 628.
XXX
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aber nicht jedes Mal ausführlich erläuterbar sind, ohne dabei die Entfaltung der Themen zu sehr zu beeinträchtigten. Ganz allgemein bleibt festzuhalten: Wie wohl jedes philosophische Werk lebt auch das Sonnemannsche von den Eigenheiten und Eigenwilligkeiten seines Begriffsgebrauchs, der teilweise mit der philosophischen Tradition d’accord geht, sich teilweise jedoch gerade von spezifischen Verwendungsweisen und den (in solchen Begriffen zum Ausdruck kommenden) philosophischen Gehalten abgrenzt. Daher folgt die Arbeit zu einem guten Teil den Spezifika der Terminologie Sonnemanns, um sein Denken angemessen zur Darstellung bringen zu können. Hier sei nun auf einige besonders relevante terminologische Eigenheiten hingewiesen. Keineswegs soll damit vorweg eine Definition der Begriffe geleistet sein, auch weil für Kritische Theorie ohnehin die bündige Begriffsdefinition etwas Trügerisches hat: ohne die materiale Durchführung, die Vermittlung von Begreifen und Begriffenem, geht Begriffsbestimmung ihres Sinns verlustig.58 Eher seien denkbar knapp einige Problemfelder benannt, die sich in solchen Begrifflichkeiten darstellen. Schon im Verlauf dieser Einleitung wurde eines der Felder betreten: Spontaneität. Sie gehört sicherlich zu den Hauptkategorien Sonnemanns, gerade in ihrer Vielschichtigkeit wie -deutbarkeit. Sonnemann schreibt in einem Text von 1958, den er 1986 in seine Tunnelstiche aufnimmt: „Aber es ist Zeit, uns zu erinnern, daß der Geist bei den höheren Gebilden des Gedankens und der Kunst nicht beginnt: vom Spiel des Kindes an folgt alles menschliche Verhalten, das spontan ist, einer Regung aus ihm oder auf ihn hin. Was heißt aber spontan? Was sich sponte begibt, begibt sich von selbst, also frei: ohne dieses von selbst glückt ja keine Wesensbestimmung der Freiheit“.59
Damit wäre einmal der eher alltagssprachliche Gebrauch des Wortes ‚spontan‘ tangiert: Was wir spontan tun, tun wir ungebunden, impulsiv, ad hoc, insofern frei von Planung. Zugleich aber ist in dem Wörtchen ‚frei‘ – im freien Antrieb – schon auf den Kantischen Gebrauch von Spontaneität verwiesen, womit eine Zutat aus Freiheit des (ordnenden wie begrifflichen) Denkens zur Sinneswahrnehmung gemeint ist, die überhaupt erst Erfahrungserkenntnis ermöglicht. (Darauf wird zurückzukommen sein.) Schließlich hat Spontaneität noch eine praktische Hinsicht, die bereits in den Kantischen Überlegungen zur praktischen Philosophie angelegt ist, wenn es um die Frage geht, was es bedeutet, von selbst eine Handlung zu beginnen. Betont wird diese praktische Dimension dann von Johann Gottlieb Fichte, welchen Gehalt wiederum beispielsweise der Existentialismus Jean-Paul Sartres aufnimmt.60 Nicht alle dieser Bedeutungsschichten übernimmt
58Siehe
hierzu noch einmal Adorno: „Der Essay als Form“, AGS 11. Sonnemann: „Die Menschenwissenschaften und die Spontaneität“ [1958], in: Tunnelstiche, S. 14–32, hier S. 14. 60Zur Begriffsgeschichte vgl. Thomas Sören Hoffmann: „Spontaneität“, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9 (= Se–Sp), Darmstadt 1995, Sp. 1424–1434. 59Ulrich
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XXXI
Sonnemann. Vergleichbar der Kritik eines existentialistischen Spontaneitätsbegriffs, wie ihn die Negative Dialektik formuliert,61 ließe sich für Sonnemann sagen: „wie leicht ist Spontaneität als ein solipsistischer Spontaneismus verkannt – ein Vorwurf, der Sonnemanns lebendige Theorie am wenigsten treffen kann.“62 Zwar will Sonnemann durchaus den Spontaneitätsbegriff über seine Kantische Verwendung als erkenntnislogische Kategorie hinaus erweitern, ihm eine der Alltagssprache entlehnte Dimension hinzufügen.63 Gleichwohl ist bei Sonnemann Spontaneität der „andere Name der Vernunft“64, „von der Denken die Quintessenz ist“65. Was dies alles mit dem Hören zu tun hat, wird verschiedentlich Thema dieser Untersuchungen sein. Ein weiteres Problemfeld deutete sich im Zitat aus den Tunnelstichen und in den kurzen Ausführungen ebenfalls schon an, nämlich: Geist – Vernunft – Verstand. Relativ klar ließe sich nach Sonnemanns Diktion zwischen Verstand und Vernunft unterscheiden: Verstand als Ratio ist Kalkulation und Berechnung, technischer Verstand, instrumentelle Materialbeherrschung. Vernunft umfasst darüber hinaus noch weitaus mehr Vermögen, hat nach Sonnemanns Begriffsverwendung immer auch sensitive, wahrnehmende Aspekte. Wird Vernunft auf die Regelhaftigkeit des Verstandes restringiert (also beschränkt bzw. an ihn zurückgebunden, gleichsam gekettet), so wird sie zur bloß instrumentellen, damit aber unvernünftigen Vernunft.66 Allerdings gilt diese terminologische Unterscheidung nicht statisch. Das Rationale etwa ist nicht nur verstandesmäßig, sondern (im Gegensatz zum Irrationalen) vernünftig. Was, wie zu zeigen sein wird, jedoch
61Vgl. Adorno:
Negative Dialektik, AGS 6, S. 58–61. Schweppenhäuser: „Über die praktische Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“, in: Eidam, Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann, S. 87–104, hier S. 102. 63Ähnlich beschreibt dies Jean-Luc Evard: „Ulrich Sonnemann sponte sua“, in: Sabine Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß. Zur Gegenwärtigkeit Kritischer Theorie. Ulrich Sonnemann zum 80. Geburtstag, Hamburg 1992, S. 43–52, hier S. 49: „Der Aufklärung fügt die Negative Anthropologie jene Intention hinzu, die der Witz sponte sua ist. Freut sich die Vernunft nicht ihrer selbst, ihrer Fähigkeit, das Wirkliche und das Mögliche gegeneinander auszuspielen, so entlarvt sie sich als melancholischen Selbstbetrug.“ 64Helmut Reinicke: „Rede auf Ulrich Sonnemann“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Einsprüche kritischer Philosophie. Kleine Festschrift für Ulrich Sonnemann, Kassel 1992, S. 221–227, hier S. 226. 65Schweppenhäuser: „Über die praktische Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“, S. 102. 66„Vernunft hat unveräußerliche Regeln, aber sie ist mit ihren Regeln nicht identisch. Sie kommt nicht umhin, Dinge und Ereignisse als raumzeitliche zu fassen, in Kategorien von Quantität und Qualität, Relation und Modalität aufzunehmen, sie in Begriffen, Urteilen und Schlüssen auszudrücken. Nicht einen schlüssigen Gedanken bringt sie jenseits dieser Regeln zustande, aber umgekehrt bringen all diese Regeln nicht einen schlüssigen Gedanken zustande.“ Christoph Türcke: „‚Warum auf Gottverlassenheit ein Verlaß ist, während das Heilige sich entweder ereignet oder es bleiben läßt.‘ Zu einer Sentenz von Ulrich Sonnemann“, in: Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 230–234, hier S. 230. 62Hermann
XXXII
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gerade nicht heißt, alles Irrationale aus Vernunft zu verbannen. So lässt sich denn nur am je konkreten Gegenstand die Differenz der Begrifflichkeiten kenntlich machen. Noch schwieriger gestaltet sich die Abgrenzung von Geist und Vernunft bei Sonnemann. Beide Begriffe werden, wie in obigem Zitat andeutungsweise, oftmals synonym gebraucht, wobei es je nach Gegenstand unterschiedliche Nuancen geben mag. Gelegentlich ist Geist dann etwa eine der Vernunft übergeordnete, material gebundene Struktur. Dann wiederum erinnert seine Verwendung an das Begriffspaar Geist und Körper, sodass Geist bei Sonnemann stärker vielleicht als Vernunft in Fragen des Bewusstseins und Verhaltens, in solchen also auch der Psychologie, aufzutreten scheint.67 Ein veritables Schlagwort Kritischer Theorie heißt Dialektik. Hier soll der Hinweis genügen, dass dieses Wort, welches Sonnemann selbst recht sparsam verwendet, nicht als Zauberformel gemeint ist, um über aufklärbare Unklarheiten hinwegzugehen: ‚Wie denn jetzt?‘ – ‚Das ist halt dialektisch‘. Wo das Wort vorkommt, meint es einen entfalteten Widerspruch, der eben auch in seiner Entfaltung dargestellt sein muss. Darüber hinaus meint der Begriffsgehalt bei Sonnemann häufig etwas Dialogisches, das einer monologischen Denkungsart Widerrede leistet: Dialektik im Sinne von Gespräch68 und „Widerspruchsgeist“69. Negativ ist bei Sonnemann nicht einfach das Gegenteil von positiv (= bestehend), sehr häufig bezeichnet es vielmehr die Negation positivistischer Theorien; solcher also, die das Bestehende derart affirmieren und verdinglichen, dass es erscheint, als sei es naturgegeben, alternativlos. Ohr, Gehör und Hören werden wesentlich synonym gebraucht. Zwar meint ‚Ohr‘ zunächst und wörtlich genommen das Sinnesorgan, ‚Hören‘ dessen Wahrnehmungsweise und ‚Gehör‘ beides zusammen; doch lässt sich auch diese Aufteilung nicht strikt durchhalten. Wenn ich ein Ohr für jemanden oder etwas habe, dann bin ich nicht einfach Inhaber eines biologisch näher zu bestimmenden Organs, sondern ich höre aufmerksam zu …
67Zur
Begriffsgeschichte vgl. [div. Autoren]: „Geist“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (= G–H), Darmstadt 1974, Sp. 154–204; [div. Autoren]: „Vernunft, Verstand“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11 (= U–V), Darmstadt 2001, Sp. 748–863. 68„Dialektik (griech. διαλεκτική ἐπιστήμη, von διαλέγειν, διαλέγεσθαι, sich unterreden, disputieren), in der griechischen Philosophie die der Logik und der Rhetorik verwandte Kunst (und die Lehre von ihr), vorgetragene Meinungen auf ihre Gründe hin im Gespräch zu prüfen.“ Oswald Schwemmer: „Dialektik“, in: Jürgen Mittelstraß et al. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2 (= C–F), Stuttgart & Weimar 22005, S. 181–187, hier S. 181. 69Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien [1956], in: AGS 5, S. 7–246, hier S. 12. Adorno zitiert hier Hegel und spricht von „jenem ‚organisierten Widerspruchsgeist‘, als welchen Hegel im Gespräch mit Goethe sein Verfahren einmal bezeichnete.“
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Teil I Transzendentale Akustik 1
Zeit hören. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Zeit mehr als ein gleichförmiges Fließen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Raumherrschaft oder Tyrannei der Zeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Innere Zeiterfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Äußere Zeiterscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Vermittlung hören. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
2
Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Punktualität versus Linearität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Anschauung oder Aufmerksamkeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Musikalische Zeiterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Warum Zeitkritik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Hörmodell 1: Musik hören. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
3
Auge und Ohr im Widerspruch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Philosophiegeschichte des Sehprimats. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Eine kritische Hermeneutik: Ausdeutung versus Götzendienst . . . . . . . . 80
4
Beherrschte Verlockung und verschlossene Ohren. . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Sirenen singen hören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Verhallt das Schweigen der Sirenen unvernommen? . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Sirenen, stillschweigend. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5 Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Perfektfutur oder verbaute Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Natur der Sache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Im Takt des Geldes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 6
Anatomie des dritten Ohres?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Freiheit der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Sprachvergesslichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Sprachkörper. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Drittes Ohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 XXXIII
XXXIV
Inhaltsverzeichnis
Das Gehör als der mittlere Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Traum vom befreiten Ohr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Teil II Negative Anthropologie der Sinne 7
Traditionelle und kritische Anthropologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Anthropologie versus Gesellschaftstheorie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Aufklärungsanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Eingedenken der Natur im Subjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
8
Negative Anthropologie als Kritik der Theorie Arnold Gehlens . . . . 171 Gehlens Theorie vom Mängelwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Geschichtsverdrängung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
9
Cartesianische Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 ‚Naturbestimmung‘ in vierfacher Bedeutung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Cartesianische Weltspaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Der vermessene Mensch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
10 Die verschlossenen Ohren Descartes’. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Abbild oder Trugbild?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Das widerstrebende Ohr. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Naturwissenschaftliche Bildergläubigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Historischer Okularismus als Weltanschauungslehre. . . . . . . . . . . . . . . . 215 Okular. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 11 Bestimmte Negation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Abstrakte und bestimmte Negation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Kritische Erfahrung und spekulatives Übersehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 12 Fallstudien im Land der Sprachlosen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Philosophie im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten . . . . . . . . . . . . . 242 Sprache der verwalteten Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Erziehung zur Unmündigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Jargon der Dialektik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Lesen mit den Ohren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 13 „Denn das Wahre ist das Ganze nicht …“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Hörmodell 2: Ohrenzeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Teil III Das Ohr der Psychoanalyse 14 Auf Umwegen zur Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Von der Daseinsanalyse zur Gesellschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Freud und Marx: Gesetze der Psyche und der Geschichte?. . . . . . . . . . . 302 Sonnemanns Psychohistorie als Sprachanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 15 Zuhören, Aussprechen und Durcharbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 „Hören mit dem dritten Ohr“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
Inhaltsverzeichnis
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Atlantisches Hörmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Noch einmal: Eingedenken der Natur im Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 16 Vom Triebleben der Klänge und Worte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 17 Coda mit Schlussworten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Denken mit den Ohren: Musikphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Sound Studies und Theorien der Stimme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Hören als Weltbezug: Responsivität und Resonanz. . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Mit beschädigten Sinnen denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Abbildungsnachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Teil I
Transzendentale Akustik
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Zeit hören Die Auseinandersetzung mit Kant
„Denn was ist ‚Zeit‘? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Mund als ‚Zeit‘? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleichso, wenn wir es einen andern aussprechen hören.“ („Quid est enim ‚tempus‘? Quis hoc facile breiviterque explicaverit? Quis hoc ad verbum de illo proferendum vel cogitatione conprehenderit? Quid autem familiarius et notius in loquendo conmemorakus quam ‚tempus‘? Et intellegimus utique, cum alio loquente id audimus.“ Augustinus: Confessiones – Bekenntnisse, übers. von Joseph Bernhart, S. 626–629.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_1
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Nukleus der nicht nur unvollendeten, sondern nie geschriebenen Transzendentalen Akustik1 Ulrich Sonnemanns ist ein später Aufsatz, dessen Titel in konzentriertester Form bereits eine Vorstellung davon präsentiert, auch die Richtung dessen vorgibt, was ein hörendes Denken zu bewerkstelligen hätte. Programmatisch lautet er: „Zeit ist Anhörungsform. Über Wesen und Wirken einer kantischen Verkennung des Ohrs“.2 Zweifelsohne Stellt ‚Anhörungsform‘ hier das begriffliche Zentrum dar, um das herum sich Sonnemanns Erwägungen zum Zusammenwirken von Wahrnehmung und Vernunft entfalten. Sie beabsichtigen, das eigensinnige Potential denkender Ohren zu ergründen, das wiederum aufs Engste mit der Erfahrung von Zeit verbunden zu sein scheint. Der Begriff der Anhörungsform soll Reflexionen über diesen Zusammenhang in sich aufnehmen und stellt eine genuine philosophische Wortneuschöpfung Sonnemanns dar, die als Abwandlung der philosophischen Tradition entlehnt ist und sich in ihrer Modifikation zugleich von jener distanziert, um einen blinden Fleck oder vielmehr eine gewisse Taubheit hinsichtlich einer vernachlässigten Sinneswahrnehmung innerhalb der westlichen Denkgeschichte zu konterkarieren. Dem Aufsatztitel gemäß nämlich müsste sich solches Denken offenkundig zunächst der Lehre von der Sinnlichkeit – genauer: der Transzendentalen Ästhetik aus der Kritik der reinen Vernunft – zuwenden, denn bekanntermaßen führte Kant hier den Raum und die bei Sonnemann titelgebende Zeit als Formen eben der transzendentalen Anschauung ein. Dabei geraten jedoch sowohl dieses Zeitkonzept als auch seine transzendentale Optik, nämlich Anschaulichkeit, zum Gegenstand der Kritik. Wie im Folgenden zu erhellen sein wird, ist Sonnemann gleichwohl nicht einfach daran gelegen, die Vernunftkritik Kants in puncto Zeit als bloß gescheiterte zu überführen. Der skeptische Impuls Sonnemanns, unter einer bisweilen überdeutlichen Polemik gegen des Aufklärers Denken etwas verborgen, scheint vielmehr derjenige zu sein: Dass die Kritik der (reinen) Vernunft einen Weg allererst eröffnet hat, den sie dann im Falle des Gehörs nicht konsequent genug weiterverfolgte. Sie leistete nämlich eine Vermittlung von Ratio und Sensorium, überbrückte also den tiefen Graben zwischen Sinnlichkeit und Verstand – wie er etwa im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus offen zutage lag –, indem sie bei aller Geschiedenheit beider Aspekte doch auch deren Zusammengehörigkeit erforschte. Ein Vorhaben von nicht bloß akademischem Interesse, berührte dies doch Fragen nach dem menschlichen Selbstverständnis, sodann solche des Verhältnisses von Theorie und Praxis.3 Lässt sich also aus der (nach Sonnemanns 1Siehe
hierzu oben, Einleitung, Fußnote 30. Sonnemann: „Zeit ist Anhörungsform. Über Wesen und Wirken einer kantischen Verkennung des Ohrs“, in: Ders.: Tunnelstiche. Reden, Aufzeichnungen und Essays, Frankfurt a. M. 1987, S. 279–298. Im Folgenden mit der Sigle ZiA abgekürzt und mit nachgestellten Seitenzahlen im Haupttext zitiert. Einige Vorfassungen des Textes werden weiter unten zitiert, siehe Kapitel 1, Fußnoten 29 und 52. 3Die Kantischen Fragen: „Was kann ich wissen?“ und „Was soll ich tun?“ sind, wie auch die Frage „Was darf ich hoffen?“ schließlich verbunden in der Frage „Was ist der Mensch?“; vgl. Immanuel Kant: Logik [1800], WW Bd. VI, A 25. – Alle Schriften Kants werden nach der 2Ulrich
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Attest) fatalen Okularität der Denkgeschichte entkommen, indem man zunächst ihren Spuren in die Kantische Vernunftkritik hinein folgt, sodann aber von dort aus das verkannte Gehör mit den Mitteln ebenjener Kritik befreit? Dergestalt, dass sich endlich neben einer Lehre der Formen transzendentaler Anschauung eine solche der Formen transzendentaler Anhörung konstituiert? Dabei müssen von Kant nicht unbedingt die Ergebnisse der Vernunftkritik übernommen werden, die etwa der Zeit ihren optisch konnotierten Ort als Anschauungsform zuweisen. Eher scheint es jene aus dogmatischem Schlummer wachrüttelnde kritische Methode der Selbstreflexion von Vernunft, welche Sonnemann zu einer transzendentalen Akustik mitsamt der Zeit als Anhörungsform variiert.4 Die folgenden Überlegungen wollen diesen Versuch der Ausdeutung von Sonnemanns Kant-Kritik unternehmen. Sie zehren dabei von einigermaßen verstreuten Anmerkungen Sonnemanns zum genannten Themenkomplex, die es gleichsam auszuführen, fortzusetzen und gelegentlich ihrerseits kritisch zu modifizieren gilt. Seinen Ausgang muss dieses Kapitel allerdings – Stichwort ‚Transzendentalität‘ – bei Kant selbst finden.
Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?“ (KrV, B 1)
erkausgabe in XII Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977 (=WW) mit W Angabe der Originalpaginierung (A bzw. B) zitiert. 4Das indirekte Zitat des „dogmatischen Schlummers“ bezieht sich auf Kants berühmte Formulierung zur Bedeutung der Philosophie David Humes für seine Kritik der reinen Vernunft: „Ich gestehe frei, die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab“; Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können [1783], WW Bd. V, A 13. – Mit der Anspielung auf dieses Zitat ist natürlich nicht gemeint, dass hier nun wieder der Empirismus an die Stelle der Transzendentalphilosophie gesetzt werden soll; eher, dass Sonnemanns Reflexionen über die Erkenntniskraft des Ohres das Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand anders konturieren als die Kritik der reinen Vernunft, gewissermaßen also den empiristischen Einwand gegen den rationalistischen Dogmatismus als Einwand des Ohres gegen das hegemoniale Auge wiederholen. Damit aber ist Transzendentalphilosophie (und die Kritik der reinen Vernunft) mitnichten einfach obsolet; sonst wäre der Titel Transzendentale Akustik sinnwidrig.
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Dies formuliert Kant in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft5 – und gibt darin einem empiristischen Einwand gegen den strengen Rationalismus recht; insofern nämlich, als ohne Bezug auf die stoffliche Außenwelt, vermittelt über die Sinne, Erkenntnis gar nicht in Gang gebracht würde; gesteht sogar zu, dass Erfahrungen selbst den Charakter einer Erkenntnis ihrer Gegenstände besitzen. Und doch gelte zugleich: „Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. [Absatz] Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.“ (KrV, B 1)
Gegen den Empirismus beharrt Kant also zugleich darauf, dass sinnliche Erfahrung nicht die einzige Quelle von Erkenntnis sein kann, oder genauer: Sinneswahrnehmung allein nicht einmal Erfahrung im emphatischen Sinne wäre, da Letzteres immer schon eine gewisse Ordnung des Mannigfaltigen, des ‚rohen Stoffes sinnlicher Eindrücke‘ voraussetzt. Nach solchen Ordnungsprinzipien der Erfahrung zu fragen heißt demnach zugleich, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung – und darüber vermittelt von Erkenntnis – zu fragen. Der transzendentale Anspruch der Vernunftkritik Kants besteht folglich darin, das Erkenntnisvermögen von Vernunft mit den Mitteln derselben Vernunft kritisch zu prüfen, anstatt es einfach anhand der traditionellen Lehren als gegeben zu behaupten. Was nicht aus der Erfahrung selbst stammt, muss sich dennoch in seinem Geltungsanspruch für die Erfahrung begründen lassen.6 In dieser Prüfung der Möglichkeitsbedingungen sinnlicher Erfahrung gelangt Kant zur Transzendentalen Ästhetik. Hiernach gilt für eine jede sinnliche Wahrnehmung, dass sie sich nur innerhalb spezifischer Formen zutragen kann, wobei diese Formen mit der verstandesmäßigen wie sinnlichen Grundkonstitution des wahrnehmenden Subjekts korrelieren. Denn erst ein solcher Rahmen formt die chaotischen und ebenso die Sinne affizierenden Reize zu zusammenhängenden Empfindungen, aus denen sich überhaupt erst Erfahrungen fügen, die mehr sind als ein stetes Feuerwerk von bloßen Einzelreizen. Kant tauft diese erfahrungsermöglichenden, ihrerseits nicht selbst aus der Erfahrung stammenden Formen der Sinnlichkeit ‚Anschauungen‘, derer es zwei geben soll: Raum und Zeit. Bei ihnen handelt es sich nicht um vom menschlichen Erkenntnissubjekt unabhängige Entitäten, sondern um dasjenige „worinnen sich die Empfindungen allein ordnen“ (KrV, B 34). So liegt denn die „Materie“ (KrV, B 34) der Empfindungen außerhalb der Subjekte, „die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priori bereit liegen“ (KrV, B 34). Eine vom Erfahrungssubjekt ganz und gar
5Immanuel
Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781|1787], WW Bd. III/IV; hier und im Folgenden mit der Sigle KrV abgekürzt und mit nachgestellten Seitenzahlen der Originalpaginierung der zweiten Auflage (=B) im Haupttext zitiert. 6„Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“; KrV, B 25.
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unabhängige Wirklichkeit kommt für Kant den formalen Anschauungsformen Raum und Zeit mithin nicht zu. Was folgt daraus für die Vorstellung von Zeit, der Sonnemanns Aufmerksamkeit gilt?7 Zeit existiert für Kant nicht als eigener Gegenstand. Zwar hat Zeit „empirische Realität“ (KrV, B 52), ist also notwendigerweise in jedweder Erfahrung anzutreffen, gerade weil die Wahrnehmung in den Formen von Raum und Zeit zur menschlichen Grundkonstitution gehört. „Jedoch bestreiten wir der Zeit allen Anspruch auf absolute Realität“ (KrV, B 52). Hat Zeit aber keine absolute Realität, so lassen sich keine Aussagen treffen über eine Zeit, die gänzlich unabhängig wäre von den Subjekten, welche die zeitlich gefassten Dinge erfahren. Damit verhält es sich mit Zeit anders als mit den Dingen, die als wahrgenommene Erscheinungen zwar ebenso subjektiven Anteil haben, jedoch als von den Subjekten unabhängige prinzipiell zumindest denkbar, wenn auch nicht erkennbar sein müssen. Gemeint sind jene Dinge an sich, die denknotwendig und zugleich unerkennbar dafür einstehen, dass es nicht die erfahrenden und erkennenden Subjekte sind, die die Dinge schlechthin ‚konstruieren‘, diesen vielmehr ein materielles Eigengewicht, eine eigene Realität zukommt. Zeit hingegen scheint bei Kant keine derart eigene Realität zu besitzen, sondern ist reine Form, mithin wesentlich auf der Subjekt-Seite der Erkenntnis, der Seite der Bedingungen ihrer Möglichkeit, angesiedelt.8 Wie lässt sich nun etwas derart Abstraktes, Zeit als reine Form und als Vorbedingung von Erfahrung, vorstellen und damit näher bestimmen? Ex negativo: Nach Kant erscheint der Raum an äußeren Gegenständen. Was sich an ihnen nicht in andere kategoriale Bestimmungen zerlegen lässt, ist Raum; wie am Punkt deutlich wird, der keine Masse hat, vielmehr reine und kleinste Ausdehnung
7Die Konsequenzen für die Raumvorstellung seien hier zunächst ausgeklammert, da sie für Sonnemann nicht von primärem Interesse sind; gleichwohl wird auf Raumfragen noch verschiedentlich zurückzukommen sein. 8Vgl. hierzu Georg Mohrs Kommentar zu den entsprechenden Paragraphen der Transzendentalen Ästhetik: „Die Zeit ist eine subjektive Form der inneren sinnlichen Anschauung a priori. Diese These besteht genau genommen aus fünf Teilthesen: Die Zeit ist subjektiv, sie kommt nicht den Dingen an sich zu und ist auch selbst kein für sich bestehendes Ding. – Die Zeit ist eine Form, kein (sinnlicher) Eindruck. – Die Zeit ist a priori, nicht empirisch. – Die Zeit ist eine Anschauung, kein Begriff. – Die Zeit ist die Form des inneren Sinns.“ Georg Mohr: „Transzendentale Ästhetik, §§ 4–8“, in: Georg Mohr, Marcus Willaschek (Hg.): Immanuel Kant. Kritik der reinen Vernunft (=Klassiker Auslegen Bd. 17/18), Berlin 1998, S. 107–130, hier S. 111. Und zur Frage nach dem Verhältnis von Ding an sich und Zeit heißt es im selben Kommentar: „Wenn der ‚transzendentale Idealismus‘ leugnet, daß Raum und Zeit ‚wirkliche Wesen‘ sind, so bestreitet er damit keineswegs die (Beweisbarkeit der) Wirklichkeit der Dinge in Raum und Zeit, wie dies der empirische Idealismus tut. Kant versteht den transzendentalen Idealismus zugleich als ‚empirischen Realismus‘. Während der empirische Idealismus behauptet, alles, was wir erfahren (was uns erscheint), sei bloßer Schein oder doch nicht als wirklich zu beweisen, behauptet Kants empirischer Realismus, daß alles, was uns erscheint, in Raum und Zeit erscheint, daß alle Erfahrung raumzeitliche Erfahrung und alle erfahrbare Wirklichkeit raumzeitliche Wirklichkeit ist. […] Die systematische Bedeutung des Erscheinungsbegriffs wird dann in Phaenomena/ Noumena eigens noch einmal thematisiert.“ Ebd., S. 118.
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ist – und letztere bedeutet nichts anderes als Räumlichkeit. Zeit aber ist die „Form des inneren Sinns“ (KrV, B 49). Somit kann sie nicht an figürlichen Gestalten vorgestellt werden. Doch bedarf es aus Mangel an Vorstellbarkeit dieses Abstraktums einer Analogie, und so stellen wir uns „die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor“ (KrV, B 50). Trotz der Analogie unterscheidet die räumliche Linie und die Zeitfolge jedoch, „daß die Teile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind“ (KrV, B 50). Damit ist Zeit zwar gerade nicht die vergegenständlichte Linie selbst, sie lässt sich nicht in der räumlichen Darstellung fixieren, denn das wäre für Kant eine schiefe Analogie. Gleichwohl bleibt der Zeit in dieser Vorstellung etwas Linienartiges zu eigen. Sie kann und muss nämlich insofern als eine lineare Strecke gedacht werden, als sie dem „Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll)“ gleicht. Wohlgemerkt liegt die Pointe dieser gedanklichen Analogie auf der „Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen“ im Ziehen dieser Linie, also auf der „Bewegung, als Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung eines Objekts)“ (KrV, B 154 f.), wie es später im § 24, also in der Transzendentalen Analytik der Kritik der reinen Vernunft heißt. Zeit lässt sich für Kant mit anderen Worten nicht als das Objekt der Linie (visuell) verdinglichen, wohl aber erhält die dynamische Bewegung der Zeit analogisierend eine lineare Gestalt. Darauf wird zurückzukommen sein.
Zeit mehr als ein gleichförmiges Fließen Wir verlassen hier jedoch zunächst die Kritik der reinen Vernunft und wenden uns der Sonnemannschen Beschäftigung mit selbiger zu. Ausgangspunkt ist dabei allerdings nicht Kants Zeitvorstellung, sondern diejenige Isaac Newtons, die sich von der in der Vernunftkritik präsentierten gerade darin unterscheidet, dass sie eine absolute Realität der Zeit behauptet, also ihre gänzliche Unabhängigkeit vom erfahrenden Subjekt. Diese Beschreibung der Zeit in Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica sei jedenfalls, so Sonnemann, eine, „die erweislich mißglückt. ‚Die absolute, wahre und mathematische Zeit‘, lautet diese Bestimmung, ‚verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand.‘ Was, mangels irgendwelcher anderer Momente, von denen diese Definition ja ihr Definiendum sehr ausdrücklich freihält, kann ‚gleichförmig‘ anderes als sich gleichbleibende Fließgeschwindigkeit heißen, mithin Zeit schon voraussetzen?“ (ZiA, 280)9
Als Begriffsbestimmung versagt die Newtonsche Gleichförmigkeit des Zeitflusses demnach, weil sie ihrerseits, wo sie doch Zeit erst definieren soll, selbst schon ein zeitlicher Begriff ist, und zwar derjenige der gleichbleibenden G eschwindigkeit.
9Das
von Sonnemann nicht belegte Zitat findet sich in Isaac Newton: Mathematische Principien der Naturlehre [1686], hg. und übers. von Jakob Philipp Wolfers, Berlin 1872, S. 25.
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Denn soll Zeit in gleichförmiger Geschwindigkeit verfließen, so ist hiermit ein implizites, feststellendes Geschwindigkeitsmaß angenommen. Der Maßstab selber aber ist schon ein zeitlicher, weil sich nur aus dem Verhältnis von zählender und gezählter Zeit eine Geschwindigkeit (etwa die gleichbleibende bei Newton) ermitteln lässt. Somit bewegt sich diese Bestimmung „entweder in einem logischen Zirkel, oder sie impliziert, ontologisch, einen infiniten Regreß“ (ZiA, 280). Nun dürfte Kant wohl kaum in einen ähnlichen infiniten Regress geraten. Weil er der Zeit keine absolute Realität zugesteht, könnte er leicht erklären, warum der definierende Begriff bei Newton sein Definiendum voraussetzt: Als irreduzible Form der Anschauung lässt sich Zeit nicht weiter in andere Bestandteile zergliedern, sie ist vielmehr für alle folgenden Zeitbestimmungen schon vorausgesetzt; alle Erscheinungen von Bewegung, alle solche von Veränderung, Geschwindigkeit usf. verdanken sich der fundamentalen Anschauungsform Zeit, nicht umgekehrt. Dagegen die absolute Realität von Zeit zu behaupten, hieße die Voraussetzung zu leugnen, durch die überhaupt zeitliche Erfahrungen gemacht werden, die Dinge also als zeitliche erscheinen können. Doch fällt trotz dieses fundamentalen Unterschiedes zwischen Newtons und Kants Vorstellungen von Zeit tatsächlich eine gewisse Gemeinsamkeit auf. Zwar gilt für Kant, dass der Begriff der Sukzession den der Zeit voraussetzt, Zeit also fundamentaler ist als Sukzession, Fortschreiten.10 Gleichwohl wird auch hier die Zeit, über die Analogie der Linie, als ein mehr oder minder gleichförmiger Strom vorgestellt: Zeitlich ist die Linie ja nur, indem ihre Teile, fließend, „jederzeit nach einander“ (KrV, B 50) gezogen werden. Dabei sind nicht so sehr die Geschwindigkeit und ihr Maß das Problem, dieser Einwand Sonnemanns gegen Newton trifft Kants Zeitbegriff nicht. Eine eigentümliche Gleichförmigkeit erhält der Zeitverlauf bei Kant vielmehr dadurch, dass er auf dem Pfad einer „geraden Linie“ (KrV, B 154) wandelt, ergo einem geradlinigen Verlauf gleichgesetzt wird. Auch wenn die resultierende räumliche Linie nicht die Zeit selber ist, es vielmehr auf den Prozess des Ziehens ankommt, so legt doch die Analogie einer „ins Unendliche fortgehenden Linie“ (KrV, B 50) eine bestimmte Vorstellung von Zeit nahe: ungebrochenen Verlauf in Richtung Unendlichkeit. Was bei Newton die Gleichförmigkeit der Geschwindigkeit, ist bei Kant die Gleichförmigkeit der Richtung des Zeitverlaufs. Dies zumindest scheint einer der schwerwiegendsten Einwände, den Sonnemann gegen das Kantische Konzept von Zeit (als reiner Anschauungsform) erhebt: dass hier wie in zahlreichen weiteren Theorien die „Zeit als Strecke“
10„Bewegung,
als Handlung des Subjekts (nicht als Bestimmung eines Objekts), folglich die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung Acht haben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt so gar den Begriff der Sukzession zuerst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.“ KrV, B 154.
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(ZiA, 289) gefasst, also zur bloßen Geradlinigkeit erklärt, folglich verräumlicht wird.11 Gesetzt, dieser Einwand trifft einen entscheidenden Zug an der Kantischen Vorstellung von Zeit:12 Was nun hat das mit der Bestimmung der Zeit als Form der Anschauung zu tun, auf die ja bereits der Titel der Sonnemannschen Auseinandersetzung mit Kants transzendentaler Ästhetik anspielt? Für Sonnemann scheint so ganz und gar transzendental die Ästhetik der reinen Vernunftkritik nicht zu sein, denn „auffällig hängt diese Bestimmung von einer Einrichtung unserer Sinnesorganisation ab, mit der sie den Raum, nicht die Zeit erfaßt: was sonst wäre Anschauung?“ (ZiA, 281) Entgegen der Intention der transzendentalen Ästhetik, welche die notwendigen Voraussetzungen (die Bedingungen der Möglichkeit) jedweder Erfahrung a priori – also logisch vor und damit in gewissem Sinne unabhängig von jeder Erfahrung – bestimmen sollte, wären reiner Raum und reine Zeit nicht schlechterdings abstrakte Formen, hingen vielmehr eng zusammen mit der organisch-empirischen Verfasstheit der Subjekte, genauer mit ihren Sinnesorganen. Tatsächlich scheint dieser Zusammenhang bei Kant auf ein Minimum zusammengeschrumpft: Der transzendentalen Anschauung des Raumes (§§ 2–3 der Transzendentalen Ästhetik) ist zwar anzumerken, dass der metaphorische Blick mit dem inneren Auge auf das tatsächliche Sinnesorgan verweist; etwa wenn von der Wissenschaft der Geometrie die Rede ist, die sich räumliche Eigenschaften „a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung“ (KrV, B 40) vorstellen kann und muss, dabei jedoch geometrische Operationen mit Beweiskraft gewissermaßen vor dem inneren Auge exerziert, ganz so, als würden sie vor dem äußeren vollzogen. Gleichzeitig jedoch soll dieses Vermögen eben strikt vom Sinnesorgan und der Erfahrungswelt überhaupt getrennt sein. Eigentlich handelt es sich bei der reinen
11„Wenn
diese Horizonthaftigkeit von Raumvorstellungen, die sich ans Auge wenden, von dessen Weise der Weltorientierung sich gar nicht ablösen lassen, ihn nicht mit Newton verbunden hätte, wie hätte Kant dessen Wissenschaft derartig glatt, ob auch mit dem kritischen Vorbehalt übernehmen können, der unter ihrem unumschränkten Gelten schließlich bloß einen transzendentalistischen Estrich einzieht statt ihres naiv realistischen?“ ZiA, 281. 12Die hier zitierte Analogie der Kritik der reinen Vernunft ließe sich durchaus auch anders deuten. Heinz Eidam etwa insistiert einerseits zurecht auf dem Bewegungscharakter der figürlichen Synthesis, die eben nur durch Handlung des Subjekts, des synthetisierenden Verstandes, gelingt; vgl. Heinz Eidam: „Die Frage nach der transzendentalen Realität der Zeit. Ulrich Sonnemanns Kritik an Kants figürlicher Synthesis“, in: Claus-Volker Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 133–148, hier insbes. S. 140 f. – Andererseits beanstandet selbst Eidams Verteidigungsversuch, dass Kants Vorstellung von Zeit zumindest für die Betrachtung von Geschichte problematisch wird, weil der Modus der Linearität von Zeit das in Geschichte sich kundtuende Freiheitsmoment nicht adäquat erfassen kann: „Gleichwohl bleibt die Frage, wie denn eine figürliche Synthesis aussehen könnte, welche die nichtsinnlichen, also auch nicht kausalmechanisch determinierbaren Ursachen jener Prozessualität a priori einbezieht, anstatt objektivierend aus dem Weltlauf ausklammert. Diese Frage aber hat sich Kant offensichtlich – wenigstens in dieser Form – nicht gestellt. Die Eindimensionalität der Zeit war für ihn schlechthin evident – und ihr Bild die Linie.“ Ebd., S. 146. – Im Detail geht das folgende 2. Kapitel auf die Frage der Dimensionalität von Zeit ein.
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Anschauung also gar nicht um ein ‚inneres Auge‘, vielmehr um reine Vorstellung, die dann Voraussetzung dafür ist, auch die empirische Welt in Vorstellungen überführen zu können. Der in der transzendentalen Ästhetik evozierte und zugleich negierte Zusammenhang zwischen Raum und Sehen mündet jedenfalls folgerichtig in der Rede vom Raum als transzendentaler Form der Anschauung, darin einer traditionellen Verknüpfung von Raum und Auge folgend. Nicht jedoch mangelnde transzendentale Reinlichkeit macht Sonnemann Kant zum Vorwurf, als ob der (womöglich nur missverständlich zugeschriebene) Anspruch der Kantischen Philosophie, die empirische Welt aus der intelligiblen ganz und gar zu tilgen, mit äußerster Strenge durchzusetzen sei. Vielmehr richtet sich der Einwand gegen eine gewisse Unaufmerksamkeit für die Konsequenzen einer notwendigen Unreinheit der transzendentalen Formen Raum und Zeit, denen die Verbundenheit mit den Sinnesorganen (und darin mit der empirischen Welt) stets noch anzumerken ist. Zwar meint die Rede von Anschauung ein irreduzibles Moment von Sinnlichkeit als einen der zwei Stämme von Erkenntnis, doch ist dieses Moment nur auf einen einzigen Sinn, namentlich den optisch-visuellen, bezogen. Selbst wenn für die Raumwahrnehmung das Auge primär zuständig sein mag – implizit zumindest hält auch Sonnemann an dieser Zuständigkeitsbescheinigung fest –, bedeutet diese Engführung für die Zeit ein fatales Missverständnis; fatal, also Schicksalhaftigkeit suggerierend, weil gerade so Zeit zur Gleichförmigkeit der ihr analog gesetzten Linie verdammt wird, sie zur bloßen Strecke gerät.13 Denn über die Analogie nähert sich die Zeitvorstellung spezifischen „Raumvorstellungen, die sich ans Auge wenden“ (ZiA, 281). In ihrer linearen Optik wird die Welt des Auges für Sonnemann tendenziell zu einer statischen, der es an Dynamik mangelt. Zeit als quasi-räumliche, eindimensionale Strecke wird zum mechanischen, reinen Ablauf, der gegen alles, was in ihm abläuft, immun bleibt; ein Ablaufen ohne wesentliche Veränderung.14 Eine kurze Nebenbemerkung zum Problem der Immunität mag einen ersten Verständnisansatz dazu geben, was mit der Differenz von statischer und dynamischer Zeit gemeint sein könnte: Sollte Kant recht haben und Zeit als transzendentale Form untrennbar an die Grundkonstitution der Erfahrungssubjekte
13Dass
auch die primäre Zuständigkeit des Auges für die Raumwahrnehmung infrage zu stellen wäre, ergibt sich allein schon aus der engen Verbindung von Hör- und Gleichgewichtssinn, sodann aus der räumlichen Orientierung qua Schallwahrnehmung. Zum Verhältnis von Hörsinn und Raumwahrnehmung vgl. etwa Christoph Wulf: „Das mimetische Ohr“, in: Das Ohr als Erkenntnisorgan (= Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, Bd. 2, H. 1–2), Berlin 1993, S. 9–14, hier S. 10. 14In Sonnemanns Nachlass finden sich einige Dokumente, die sich ausführlicher mit jenem Konnex von Raum und Zeit, Sehen und Hören sowie der Kritik der reinen Vernunft befassen; so etwa ein über 50-seitiges Manuskript unter dem Titel Nachsatz [zu den Zeit-Thesen und deren Diskussion], datiert von 1983/84. Da die Stoßrichtung der Kritik allerdings überall sehr ähnlich ausfällt, sei hier nur auf ihre Existenz hingewiesen. Die Publikation dieser Dokumente ist vorgesehen für den 8. Band von Sonnemanns Schriften, hg. von Paul Fiebig, dem für die Hinweise herzlich gedankt sei.
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gebunden sein, dann ist auch das Kantische Konzept von Zeit gegen das empirische Geschehen nicht gar so immun, wie Sonnemanns gleich weiter auszuführende Überlegungen suggerieren; denn sollte die Menschheit dereinst sich selbst oder zumindest ihre Vernunftfähigkeit, also transzendentale Subjektivität, abschaffen, so schaffte sie auch die Zeit ab, die dann nicht mehr geradlinig, sondern überhaupt nicht mehr abliefe. Die statisch (i. S. v. unveränderbar) ablaufende Zeit schlüge dynamisch (i. S. v. wandelbar) um in ihre Negation: Zeitlosigkeit.15 Das Modell der optisch angeschauten, statischen Zeit sei also dasjenige der Strecke: geradliniges, gleichsam stures Fließen in eine Richtung. Doch ist dies für Sonnemann nicht das einzig denkbare Zeitkonzept. Neben der Vorstellung von „Zeit als Strecke“ steht die alternative von „Zeit als Bewegung“ (ZiA, 289). Was aber ist Bewegung? „An dieser [scil. Bewegung], die die Zeit doch zuerst und entscheidend ist, an der sie ihr Wesen hat, so daß die Umkehrbarkeit ihrer wie jeder Strecke ihre Unumkehrbarkeit, nämlich als sie selbst, immer schon als selbstverständlich voraussetzt, wird sofort dann aber auch das Entscheidende, wenn auch im Grunde keineswegs Erstaunliche, wahrnehmbar: daß sämtliche Phänomene, in denen sie [scil. die Zeit] sich selber gliedert und artikuliert, die also, die in jeder Hinsicht sich nur ihr und in keiner dem Raum verdanken, rhythmisch-akustische sind, die ihrer Bestimmung als Anschauungsform spotten. Alle Sprache, alle Musik, aller Rhythmus, alle Verständigung qua Vernunft, woraus für die letztere schon ihr deutscher Name stammt, den die Obskurantisten mißdeuten, wenn sie seine evidente Abkunft aus der Gemeinsamkeit des Gesprächs übersehen, seiner Aufmerksamkeit, seiner dialogischen Wachheit, das Vernehmenkönnen ist ein Zuhörenkönnen, wenden sich ans Ohr, nicht ans Auge.“ (ZiA, 286)
Nicht nur im unmittelbaren Kontext dieses Zitats, auch im ganzen Aufsatz und selbst in den Tunnelstichen insgesamt sind die Anmerkungen zu jenem Konnex aus Zeit, Rhythmus und Akustik eher spärlich und verstreut gesät, fehlt es auch, was etwa die Musik betrifft, an materialen Darstellungen, die dieses Verhältnis erhellen könnten. Einige Phänomene, in denen zeitliche Bewegung hörbar wird, will vorliegende Studie in ihrem späteren Verlauf noch präsentieren – Stichwort: Hörmodelle. Außerdem wird von mehreren Seiten zu bestimmen sein, wie Sprache, Musik, Rhythmus und Vernunft „sich ans Ohr wenden“. Sonnemanns wort- wie sprachgeschichtliche Verschränkung von Vernunft und Hören etwa und sein Vorwurf an Kant, hierfür nicht aufmerksam genug gewesen zu sein, haben
15Bei
Kant heißt es dazu: „Wir haben also sagen wollen: daß alle unser Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Verhältnisse so an sich beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.“ KrV, B 59.
Zeit mehr als ein gleichförmiges Fließen
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einen philosophischen Vorläufer bei Johann Georg Hamann; ein kurzer Blick in dessen Kant-Kritik wird sich entsprechend noch als aufschlussreich für obiges Zitat erweisen. Insofern kommen wir auf diese zentrale Textstelle, insbesondere ihren zweiten Satz, noch mehrfach zu sprechen. Hier und im Folgenden jedoch ist zunächst Sonnemanns Kritik einer Verräumlichung von Zeit nachzugehen. Unternehmen wir also einen ersten Deutungsansatz jener Textpassage, ausgehend von Sonnemanns These, im Gegensatz zur Strecke sei Bewegung umkehrbar, gebe nicht den beharrlichen Verlauf in eine einzige Richtung vor. Die Charakterisierung von Zeit als Bewegung verletzt nun offenkundig die Prinzipien der Kantischen Philosophie, denn deren Hierarchie zufolge wäre Zeit Voraussetzung dafür, dass überhaupt Bewegung wahrgenommen und gedacht werden kann. Bewegung wäre entsprechend gerade nicht „zuerst und entscheidend“ Zeit selbst. Allerdings hatte schon Kant diesem schwer zu fassenden Abstraktum Zeit mit ihrer Geradlinigkeit eine Bestimmung zugeschlagen, die sie von der räumlichen Anschauung entlehnen musste oder die jener von dieser gar oktroyiert wurde. Damit korrespondiert eine Dominanz der optischen Metaphorik Kants, um die an sich nicht darstellbare und auch nicht selber erscheinende – reine – Zeit doch vorstellbar zu machen; im Ziehen einer Linie genauso wie in der Bestimmung als Anschauungsform. Einschränkend zu erwähnen wäre jedoch zunächst, dass die Eigenheiten von Raum und Zeit in der Transzendentalen Ästhetik überhaupt nur wechselseitig an einander deutlich werden: erst in der zeitlichen Bewegung lässt sich die räumliche Ausdehnung durch- wie ermessen; und nur in Konfrontation mit der Vorstellung eines bloß räumlichen Nebeneinanders zeigt sich die spezifische Zeitlichkeit eines Nacheinanders. Eine Bewegung (in) der Zeit ist demzufolge etwas anderes als reiner Ortswechsel von Körpern im geometrischen Raum, etwas anderes mithin auch als das, was die mechanische Physik unter Kinematik resp. Bewegungsgeometrie fasst. In zeitlicher Hinsicht bedeutet ‚Bewegung‘ zunächst: ‚Veränderung‘ oder ‚Wandel‘. Und der Ortswechsel wäre ein Spezialfall dessen, nämlich eine mit einem Moment von Zeitlichkeit versetzte Raumvorstellung und -erfahrung.16 Mit einer solchen Unterscheidung aber konzediert Kant im Verhältnis der beiden Anschauungsformen zueinander nachgerade einen Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum.17 Freilich bleiben diese Verstrickungen und Differenzen von Raum und Zeit im Kapitel über die Transzendentale Ästhetik noch unterbelichtet, sodass die Kritik der reinen Vernunft erst in einem späteren Abschnitt – nämlich in der Analytik
16In
ähnlichem Sinne unterteilt Aristoteles die Kategorie ‚Bewegung‘ – κίνησις (kinesis) – in sechs verschiedene Varianten, wobei ‚Veränderung‘ ebenfalls ein Spezialfall ist und nicht Obertitel. Κίνησις ist: Entstehen und Vergehen, Vermehrung und Verminderung, Ortswechsel und schließlich Veränderung. Vgl. Aristoteles: Die Kategorien [Κατηγορίαι], Griechisch/Deutsch, hg. und übers. von Ingo W. Rath, Stuttgart 2009, Kap. 14, S. 88–91. 17„Für das Nacheinander als elementares Zeitverhältnis spricht vor allem auch das sachliche Argument, daß das Nacheinander das einzige Zeitverhältnis ist, das nicht im Raum, d. h. in äußerer Anschauung darstellbar ist.“ Georg Mohr: Das sinnliche Ich. Innerer Sinn und Bewußtsein bei Kant, Würzburg 1999, S. 77.
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der Grundsätze – ihren vollständigen Begriff von Zeit entfaltet, der dann sogleich dem falschen Bild einer bloßen Linearität und Verräumlichung enträt, welches sich vielleicht noch aus der Linien-Analogie der Transzendentalen Ästhetik ergeben mag. Wie dem Verstand a priori bestimmte Kategorien zu eigen sind, die Kant in seiner berühmten Tafel aufführt,18 so zergliedert sich die Anschauungsform Zeit in korrespondierende „Schemate […] als Zeitbestimmungen a priori“ (KrV, B 184). Auch wenn eine umfängliche Darstellung dieser Zeitbestimmungen hier keinen Platz finden kann, sei zumindest eine Implikation derselben noch angedeutet: dass nämlich, diesen Bestimmungen zufolge, Zeit alles andere als eine bloße Linie ist. So gilt etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, dem „Grundsatz der Beharrlichkeit“ nach, dass die Erscheinungen in der Zeit entweder der Veränderung unterliegen, oder aber (als Substanzen) beharrlich sind, dem bloßen Verfließen (und damit der Linearität) folglich enthoben.19 Schon bei dieser Gegenüberstellung versagt die Visualisierung qua Linie. Denn wie sollte sich ein solcherart Beharrliches inmitten der strömenden, wandelnden Zeit mit den Mitteln eines statischen Bildes darstellen lassen? Von anderen Zeitbestimmungen wie dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung als Zeitfolge, oder den Zeitmodalitäten der Wirklichkeit und der Möglichkeit et cetera ganz zu schweigen … Der von Sonnemann für wesentlich reklamierte Bewegungscharakter von Zeit, dem die Analogie einer räumlichen Strecke nicht genügen kann, findet sich also durchaus auch bei Kant. Ferner erweist sich in anderen Passagen der Kritik der reinen Vernunft eine eminente Unabhängigkeit der Zeit vom Raum und geradezu ein gewisser Vorrang selbiger: Ohne Zeit als Form des inneren Sinnes wäre überhaupt gar nichts wahrnehmbar, vorstellbar und denkbar, wohingegen der Raum ‚bloß‘ die Form für den äußeren Sinn vorgibt, damit keine ebenso umfassende Geltung besitzt. Entsprechend ist Zeit als innerer Sinn für Erfahrung und Erkenntnis tatsächlich sogar maßgeblicher als der Raum. In der Vorstellung kann Zeit ohne Raum sein, Raum aber nicht ohne Zeit. Solcher Zeitsinn ist daher ein zentrales Thema der ganzen Kritik der reinen Vernunft.20 Welch entscheidende Bedeutung für Zeitlichkeit (und Räumlichkeit) dabei gerade die von Sonnemann eingeforderte Bewegung annimmt, zeigt noch einmal der § 24 der Transzendentalen Deduktion (B), wenn er auf die tätige, insofern bewegliche Vorstellungskraft des Erkenntnissubjekts verweist, die dessen genuine Zeitlichkeit ausmacht.21 18Vgl.
KrV, B 106. KrV, B 225 ff. 20„Der Begriff des inneren Sinns und die mit ihm verbundenen Thesen reichen […] in sämtliche zentralen Theorieteile der KrV hinein.“ Mohr: Das sinnliche Ich, S. 54. 21Mit Blick auf die Einbildungskraft heißt es dort: „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raums gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei Linien senkrecht auf einander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne, indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des 19Vgl.
Raumherrschaft oder Tyrannei der Zeit?
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Ein genauer Blick in die Kritik der reinen Vernunft nimmt Sonnemanns Einwänden gegen Kants angeblich allzu lineares Zeitmodell also ein wenig Wind aus den Segeln. Und dennoch:
Raumherrschaft oder Tyrannei der Zeit? Ganz untriftig sind die Argumente keineswegs, die Sonnemann gegen Kants Begriff von Zeit als Anschauungsform vorbringt. Nur sollte man sich nicht zu lange bei der Behauptung aufhalten, die Kritik der reinen Vernunft entwerfe eine zu eindimensionale, da ausschließlich lineare Zeitkonzeption. Weitaus schwerwiegender scheint in diesem Zusammenhang nämlich Kants Unterschätzung des Ohres als Organ der Zeiterfassung: dem Terminus ‚Anschauung‘ lässt es sich jedenfalls kaum umstandslos subsumieren, selbst wenn man Kant zugutehalten will, dass mit diesem Terminus der Sinnlichkeit insgesamt und insofern pars pro toto allen Sinnen ein Platz im Erkenntnisapparat eingeräumt wird. Doch erblickt das schauende Auge, zumindest in der traditionellen Zuordnung, eher den ausgedehnten, gegenständlichen, präsenten Raum als die flüchtige und damit nicht dingfest zu machende Zeit, die in akustischen Phänomenen sehr viel eindringlicher zur Geltung kommt. Dem Ohr als Erkenntnisorgan stellt sich das Problem der zeitlichen Linearität schon allein deshalb nicht derart wie dem anschauenden Auge, weil eine akustische ‚Linie‘ (wie etwa eine Melodie oder Stimmführung) nur in ihrem Durchgang gehört werden kann. (Kapitel 2 kommt hierauf zurück.) Warum Sonnemann auf einer genuin akustisch-auditiven Dimension von Zeit als Einspruch auch gegen Kants Verkennung derselben insistiert, damit nachdrücklich einen anderen Bewegungscharakter als den linearen betont, lässt sich derweil nur adäquat verstehen, wenn ein spezifisch herrschaftskritischer Impuls mitbedacht wird. Denn das Kantische Missverständnis der Zeit als optisch tingierter Anschauungsform beruht, so beschreibt es Sonnemann zumindest in seinem Aufsatz, wesentlich auf einer „Raum-Hypnose“ (ZiA, 286), die seit dem Beginn der Frühen Neuzeit um sich greife. Die Vermessung des physikalischen und geographischen Raumes durch die sich ausdifferenzierenden Wissenschaften, auch das Durchmessen und Besiedeln bis dato (aus westlicher Sicht) unbeschriebener Erdteile, die herrschaftliche Aufteilung desselben Raumes in Territorien und Hoheitsgebiete und noch die Entwicklung der Zentralperspektive sowie anderer Techniken der Darstellung von Räumlichkeit in der Malerei der Renaissance:22 all dies verweise auf eine zunehmende Dominanz ebenjener neuen „Übermächtigkeit des unendlichen Raumes“, welche „für die Bewußtseinslage der ganzen frühen Neuzeit bestimmend ist“ (ZiA, 281). Und nach jenem Modell
Mannigfaltigen, durch den wir den inneren Sinn sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Bestimmung in demselben, Acht haben.“ KrV, B 154 f. 22Für weitere Ausführungen zu diesem Thema siehe den ersten Absatz von Kapitel 6.
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eines beherrschbaren Raumes bildeten sich dann sowohl bei Newton als auch bei Kant die jeweiligen Zeitvorstellungen. Als verräumlichte gerät Zeit zum quantifizierbaren „Zeitraum“, wird zu ebenjener „Strecke, daher anschaubar […] als Uhr- oder Kalenderzeit, in welcher Vorstellung ihre Bewegung so aufgehoben ist […] daß sie als Bewegung sistiert“ (ZiA, 284 f.), also stillgestellt wird. Eine derart mechanische Zeit lässt sich dann „nach Einheiten ordnen“ (ZiA, 286), in gleichförmige Tage, Stunden, Minuten, Sekunden, wird also gleichermaßen berechenbar und Maßstab der Berechnung selbst, steht somit einer „instrumentell eingeengten, kalkulierenden Ratio“ (ZiA, 285) zu nützlichen Diensten, „in unserer Zeit also vor allem dem Geschäft oder der positivistischen Wissenschaft oder dem Militär oder der Strafjustiz oder der Industrie oder einem ausgewogenen deutschen Fernsehpodium“ (ZiA, 285). Ohne den Newtonschen Gleichfluss der Zeitgeschwindigkeit und ohne die (laut Sonnemann) Kantische Gleichförmigkeit der Zeitrichtung taugte Zeit nicht zu solchem Wertmaß. Oder umgekehrt: dass eine derart verräumlichte, also quantifizierbare Zeit in der Frühen Neuzeit zum Wertmaß wird, findet Resonanz in den Zeittheorien Newtons und Kants. Nun bleibt Sonnemann überraschend zurückhaltend in der Beschreibung der gesellschaftlich-ökonomischen Umstände dieser veränderten Zeiterfahrung und -vorstellung. Vielleicht müsste man die Perspektive umdrehen, um dem Phänomen auf die Schliche zu kommen. Denn möglicherweise lief die attestierte RaumDominanz der okkupierten Zeit gar nicht voraus, als ob die Raumexpansion quasi zauberhaft eine quantifizierbare Zeit erschaffen habe. Vielleicht war es vielmehr der Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Zeit selbst, welcher diese aus sich heraus dergestalt verräumlichte. In ähnlicher Weise zumindest deutet Moishe Postone das in Marxens Kapital analysierte Zeitproblem unter ökonomischen Gesichtspunkten, was an dieser Stelle denkbar knapp angedeutet, im 5. Kapitel dann erst ausgeführt werden soll: Als Wertmaßstab der Warenproduktion dient – unter neuzeitlichen, d. h. nicht zuletzt kapitalistischen Bedingungen – die gesellschaftlich notwendige Verausgabung menschlicher Arbeitszeit, die ins Verhältnis zur real verausgabten Arbeitszeit gesetzt wird.23 Dazu muss erstere abstrakte Zeit sein, was sie allerdings erst durch einen historischen Prozess wurde. Folgerichtig fand nach Postones Darstellung am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit die „gesellschaftlich[e] Konstitution von Zeit als abstraktem Maßstab für Tätigkeit“24 statt, wobei hier, wohlgemerkt, Tätigkeit unter den Prämissen von Lohnarbeit gemeint ist. Diese als Wertmaß dienende „Zeit, die abstrakt,
23Im
Kapital heißt es diesbezüglich: „Wie nun ist die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an der Zeitdauer, und die Arbeitszeit bestitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“ Karl Marx: Das Kapital [1867|1890] Bd. 1, MarxEngels-Werke (=MEW) 23, Berlin 1962, S. 53. 24Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003, S. 322.
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absolut und homogen geworden ist“, münde gar in eine „Tyrannei der Zeit“.25 Als abstrakte ist Zeit zugleich verräumlichte, denn der Rahmen, den sie setzt, muss um des fixen Wertmaßstabes willen unverändert bleiben. Parallel entwickelte sich neben dieser abstrakten Zeitform eine den kapitalistischen Produktionsbedingungen gemäße Form von konkreter Zeit, die Postone ‚historische Zeit‘ nennt und die keinen starreren Rahmen bezeichnet, sondern durchaus Dynamiken wie Beschleunigung qua Produktivkraftsteigerung kennt.26 Wem an Überwindung (oder besser: Aufhebung) dieser gesellschaftlich-ökonomischen Verhältnisse – also der abstrakten, gesellschaftlichen Herrschaft des Kapitals – gelegen ist, sollte jedoch lieber ebenso wenig auf die abstrakte wie auf die konkrete Zeit hoffen: „Beide Zeitformen sind Ausdruck entfremdeter Verhältnisse“.27 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Walter Benjamins Fragmente „Über den Begriff der Geschichte“, denen zufolge in ganz ähnlicher Weise dem bürgerlichen Historismus die Vorstellung einer linear gedachten, „homogenen und leeren Zeit“ korrespondiert:28 das Zusammenspiel beider ist Grundlage für spezifische gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse, insofern wird jene Zeit zu einer solchen der Sieger. Aus einer solchen Perspektive sind Raum- und Zeitvorstellung jedenfalls nicht zu trennen von der Entwicklung gesellschaftlicher Verhältnisse. Und dort, wo dieser Prozess mit Unfreiheit und Herrschaft einhergeht, ist auch die Verstrickung von Raum und Zeit in diese gesellschaftlichen Verhältnisse zu analysieren. Da aber Raum- wie Zeitvorstellung auch mit ihrer jeweiligen Sinneswahrnehmung verbunden sind, was bei Kant im Titel der Anschauungsform zumindest anklingt, dürften noch die Sinnesorgane selbst Beteiligte in diesem Prozess sein, mithin nicht bloß einer transhistorischen Ausstattung des Menschenwesens angehören. Infrage zu stellen ist deshalb nicht primär das Apriori von Zeit in der Transzendentalen Ästhetik; Kant nennt, wie wir oben lesen konnten, eine Reihe guter Argumente dafür, dass jede Erfahrung und jede Erkenntnis Zeit qua inneren Sinnes als eine Bedingung ihrer Möglichkeit voraussetzen und diese Bedingungen der Möglichkeit nicht ihrerseits auf gleiche Weise zum Gegenstand von Erfahrung und Erkenntnis werden können, sofern zumindest am emphatischen
25Postone:
Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 326 f. Zeit ist gemäß dieser Interpretation kein abstraktes Kontinuum, in dem Ereignisse stattfinden und dessen Fluß unabhängig von menschlicher Tätigkeit wäre, sondern ist die Bewegung der Zeit, im Gegensatz zur Bewegung in der Zeit.“ Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 442. 27Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, S. 445. 28Vgl. Walter Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“ [1940|1942], in: BGS I, S. 691–740, hier S. 701. Fraglich allerdings ist, wer diese Sieger sind. Mit Postone wäre darauf hinzuweisen, dass die hier angerissene Deutung des Marxischen Kapitals nicht primär oder zumindest nicht allein auf eine Theorie der Klassenherrschaft und -ausbeutung abzielt, auch wenn zugleich die sich konstituierende bürgerliche Klasse von diesen Entwicklungen enorm profitiert. Die Abschaffung der Klassenherrschaft allein führt jedenfalls nicht zwangsläufig zu einer befreiten Gesellschaft, wie die Geschichte der Sowjetunion eindrücklich gezeigt haben dürfte. 26„Historische
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Erkenntnisanspruch noch festgehalten werden soll. An dem in Kapitel 2 zu entwickelnden Gegenmodell zur linearen Zeit wird noch deutlich werden, dass Sonnemann selbst ein transzendentales Apriori von Zeit einräumen muss, wenn diese als Anhörungsform erfasst werden soll. Fraglich ist also nicht ein gewisses Apriori als vielmehr der Charakter der Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit von (transzendental bestimmter) Zeit, der in der hier vorgeschlagenen Deutung als Instrument abstrakter gesellschaftlicher Herrschaft verstanden werden muss. Selbst wenn also Sonnemanns Einwände gegen Kant die entscheidende Einsicht der Kritik der reinen Vernunft – dass es eine objektive Zeit an sich nicht gibt, vielmehr dem Erkenntnissubjekt Zeit überhaupt als Form der Wahrnehmung und des Denkens inhärent ist – nicht ins Wanken bringen sollte, so wäre dennoch darauf zu reflektieren, in welchem Verhältnis diese Zeit überhaupt zu konkreten Zeitformen und zu ihren sinnlichen Wahrnehmungsweisen steht. Wie ist es also bezüglich der Zeitwahrnehmung um das Verhältnis von Sehen und Hören bestellt?29 Sehr treffend hat Hermann Schweppenhäuser die Reflexionen Sonnemanns auf den Konnex von Gesellschaft, Epistemologie und Ausformung der Sinne als „Sensupolitik“ bezeichnet, wonach „eine ganze Hierarchie der Sinne, der äußeren wie der inneren, und ihrer Manifestationen, die man neutralisierend ‚Funktionen‘ zu nennen liebt, ablesbar“ wird.30 Demnach übernimmt im Laufe des Zivilisationsprozesses das Auge mit seinem zunehmend distanzierenden Blick die Herrschaft über die anderen Sinne: „Absehbar wird eine Hierarchie des Abstiegs und der stufenweisen Depotenzierung etwa der Souveränität des Sehmenschen bis zur Drunterhaltung des schlechtriechenden oder stinkenden Sklaven. Oder eine des Aufstiegs etwa vom – prähistorischen – Spür- und Schnüffelmenschen
29Dass
dies auch der eigentliche Impuls für Sonnemanns Kant-Kritik ist, zeigt sich bereits in einem Vortrag von 1981, der die erste Version des späteren Aufsatzes „Zeit ist Anhörungsform“ darstellen dürfte. Dort heißt es zu Kants transzendentalem Apriori: „Meine These ist nicht, daß diese Bestimmung auf das, was an der Zeit damit erfaßt ist, nicht zuträfe, sondern daß die Erfassung selber nicht ausreicht, das zu bestimmen, was das Entscheidende an der Zeit ist: daß sie an sich selbst überhaupt nicht Anschauungsform ist, sondern Anhörungsform. Alle Musik, alle Sprache, aller Rhythmus und alle Verständigung und Vernunft, woraus für die letztere schon ihr Name stammt, wenden sich ans Ohr, nicht ans Auge; und sie könnten das gar nicht, wenn nicht, wie schon Augustin scharf erfaßt hat, die Zeit zur Subjektivität in einer so viel innigeren Beziehung stünde als der Raum, daß die zwischen Erinnerung und Hoffnung ausgespannte Wirklichkeit der Seele selbst zur Zeit als Bewegung wird.“ Ulrich Sonnemann: „Die Unabgeschlossenheit der Welt und die Sucht nach Abschlüssen oder Ereignis und Ablauf. Über den Zeitbegriff und sein Unbegriffenes, den Lichtbedarf in cartesischer Dämmerung und die Konstitution einer praktischen Vernunft, mit der Natur in ihre Verwirtschaftung eingriffe“ [1981], in: Gottfried Heinemann, Georg Christoph Tholen (Hg.): Tätiger Mensch – tätige Natur. Vorträge und Diskussionen einer interdisziplinären Arbeitstagung, Kassel 1983, S. 237–250; hier S. 245. Den Hinweis auf diese Textstelle verdanke ich einem Vortrag von Paul Fiebig mit dem Titel: „Ulrich Sonnemanns Nachleben“, gehalten im Philosophischen Colloquium an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 29. Juni 2015. 30Hermann Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein. Zu Sonnemanns psychohistorischer Variante einer ars civilis sensuum“, in: Claus-Volker Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, Würzburg 1999, S. 105–118, hier S. 109.
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zum zivilisiert und konventionell Abstandhaltenden, visitierend Distanzierenden und Berührungsscheuen“.31 Solcher „Despotie des Sehens“32 korrespondiert der despotisch eingerichtete Raum, dessen Herrschaft laut Sonnemann sich auch auf die Zeit niederschlägt. Oder vielmehr (nach der hier vorgeschlagenen Deutung): Zeit erhält diese ihre sichtbare abstrakte Verräumlichung aus sich selbst heraus, indem sie zum Messinstrument einer abstrahierten Arbeitszeit, also in der gleichmäßigen, gleichfließenden, streng getakteten Uhrzeit anschaubar und ablesbar, berechenbar wird. An dieser Stelle, da Sonnemanns wenn nicht berühmte so doch zumindest berüchtigte These einer „Okulartyrannis“33 in ihrem Kern dargestellt wird, sei mitgesagt, dass die Pointe der Kritik nun gerade nicht darin besteht, jedwede Raumvorstellung und optische Wahrnehmungsweise oder gar das Auge per se für alles Übel in der Welt verantwortlich zu machen. Zwar mag manche Polemik Sonnemanns gegen die Okulartyrannis zuweilen solche Lesart nahelegen, doch schlägt er auch ganz andere Töne an, wenn es um die Potenziale eines nicht instrumentell zugerichteten Sehens geht. Verschiedentlich wird hierauf zurückzukommen sein. Nicht jedenfalls ist Sehen schlechthin verwerflich, nicht ist Hören ganz und gar unverstellt – im Gegenteil! – und auch ist der Zivilisationsprozess nicht als ganzer zu verwerfen. So weist denn auch Schweppenhäuser im unmittelbaren Kontext des soeben Zitierten darauf hin, dass auch das Abstandhaltende, nicht nur des Blickes, sein Recht hat; daran erinnernd, dass die zuzeiten gerade für ihre distanzierte Hellsichtigkeit verachteten Intellektuellen bestenfalls in den verschmähten Elfenbeinturm, im schlechtesten Fall jedoch als ‚Parasiten‘ zu den Ratten in die Kanalisation verdammt wurden. Zu entfalten ist also die Dialektik der von Sonnemann beschriebenen Sensupolitik, die berechtigterweise nicht ganz ohne Polemik auskommt, unter der dann allerdings die Feinheiten und Widersprüchlichkeiten nicht außer Acht bleiben dürfen. Warum eigentlich wird nun ausgerechnet Kant mit seiner Transzendentalen Ästhetik zur Zielscheibe sensupolitischer Herrschaftskritik? War nicht er es, der sich der Herrschaft des Ressentiments und des Dogmas mit äußerster Vehemenz entgegenstellte? Der Fall des Königsbergers scheint vertrackt. Schon seine Aufklärungsschrift ist in sich widersprüchlich, fordert zwar auf, getreu eines humanistischen Bildungsideals sich ganz des eigenen Verstandes zu bedienen,
31Schweppenhäuser:
„Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 109. „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 109. 33Diese Formulierung ist zu finden in Ulrich Sonnemann: „Das fatale Perfektfutur und das Andersartige in Noahs Konterfatalem oder die Fugen der Zeit“, in: Frithjof Hager (Hg.): Geschichte denken. Ein Notizbuch für Leo Löwenthal, Leipzig 1992, S. 202–212, hier S. 205; sowie in Ulrich Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik oder Warum die apriorische Erfassung der Zeit durch den vernehmenden Sinn (statt den Anschauenden) für die Vernunft selbst eine Konsequenz hat“, in: Ders.: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart 1995, S. 107–122, hier S. 109. Im Aufsatz, auf den sich die Bemerkungen vornehmlich beziehen, heißt es aber: „optische Tyrannei“, ZiA 287. 32Schweppenhäuser:
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klagt deshalb auch Meinungsfreiheit ein — doch nicht, ohne im gleichen Atemzug dem absolutistischen Herrscher untertänigen Gehorsam zu leisten und vor den Gefahren des bloßen Räsonierens zu warnen.34 Für Sonnemann ist das eine ganz typische Geste Kants, jenes Grenzenziehen, in genanntem Fall zwischen dem öffentlichen Bürger, der sich nur dem Denken zu verantworten hat und dies eben auch öffentlich vertreten können soll, und dem Privatmenschen, der seine Dienste und Pflichten zu leisten, den Staatsapparat aber nicht infrage zu stellen hat. Allerdings ist die für die Zeitfrage entscheidende Grenzziehung, die uns hier beschäftigen soll, eine andere, nämlich die zwischen empirischer und intelligibler Welt. Gerade diese Spaltung vollziehe sich nach der Gewohnheit eines herrschaftsförmigen, die Dinge verwaltenden und kalkulierenden Sehens, wie Sonnemann reklamiert: ein „Dualismus des Blickes“ (ZiA, 283), der die Welt strikt in die erschaubare Außenwelt und die Innenwelt des Erschauers, dort Objekt und hier Subjekt, dort empirische und hier transzendentale Seite, aufteile, wobei dann auf der Objektseite alles streng nach Regeln und Gesetzen vonstattengehe, Freiheit sich derweil in eine rein intelligible Sphäre verflüchtige. Nach einer eigenwilligen wie originellen Beschreibung Sonnemanns korrespondiert diesem in sich gespaltenen Wesenszug der Philosophie Kants die „Abgeschiedenheit seines Königsbergs, von dem aus er, nie reisend, in die Welt, auch die eigene deutsche guckte“ (ZiA, 283), mit dem Ergebnis einer „wie von außen durch die Fenster des Lebens schauenden, Ordnung schaffenden philosophischen Reflexion […], als gäbe es kein wichtigeres Geschäft, [als] Grenzen“ (ZiA, 284) zu ziehen.35 Kaum zu überhören ist hier der schlechte Ruf des ‚Preußen‘ Kant, der sich wohl wesentlich einem Zerrbild der Rezeptionsgeschichte der Kantischen Philosophie verdankt, auch wenn die Texte des Königsbergers nicht gänzlich unbeteiligt an dessen Zustandekommen sein mögen.36 Sonnemanns Beschreibung indes ist zwar originell, trifft aber in philosophischer Hinsicht die Sache nicht recht und droht, im Klischee zu versanden. Denn die Grenzziehungstätigkeit Kants hat durchaus ihre eigene Dialektik und darin zum einen eine gewisse Legitimität;
34Vgl.
Immanuel Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [1784], WW Bd. XI, S. 51–61. – Zu bedenken wäre jedoch auch, dass Kant von einem ganz und gar aufgeklärten Monarchen ausgeht, der insofern als Prinzip der Vernunft selbst auftritt und nicht im Widerspruch zum bürgerlichen Vernunft- und Freiheitsstreben steht. 35„‚Das transzendentale Ich des Königsberger Philosophen‘, notierte ich in meiner Studienzeit, als mir diese Strukturverwandtschaft, Ostpreußen gab es ja noch, zuerst auffiel, ‚ist vom empirischen Ich durch einen polnischen Korridor getrennt.‘“ ZiA, 284. – Vgl. auch Ulrich Sonnemann: Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond [1988], Hamburg 21994, S. 10. 36Berüchtigt etwa der ‚Rigorismus‘, mit dem Kant in der praktischen Philosophie seine scharfe Trennung von Pflicht und Neigung vollzieht. Tatsächlich mögen manche Passagen dann sehr drastisch anmuten, etwa jene berühmte Forderung Kants, stets die Wahrheit zu sagen, selbst wenn ein Mörder vor der Tür stehe und wahrheitsgemäße Auskunft über den Verbleib eines von ihm Verfolgten diesen in Todesgefahr bringe; vgl. Immanuel Kant: „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ [1797], WW VIII, S. 637–643. Jedoch hat Kant mit seiner Vernunftemphase zugleich selbst das Mittel an die Hand gegeben, manch vermeintlich rigide Trennung wieder zu vermitteln.
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so etwa die Beschreibung der Grenzen möglicher Erkenntnis, die gewährleisten soll, dass eine ‚Einheit der Erfahrung‘ und dadurch auch naturwissenschaftliche Forschungen möglich sind und zugleich ein emphatischer Begriff von menschlicher Freiheit aufrechterhalten werden kann.37 Zum anderen sind die Trennungen häufig nicht so eindeutig, wie Sonnemann das nahelegt, ist bei Kant nie von zwei völlig verschiedenen Welten die Rede, eher von einer Art Doppelaspekt ein und derselben Welt: Schließlich ist es das Denken, welches die Welt einmal als erfahrbare (ergo empirische und begrenzte) und einmal als denkbare (ergo intelligible und unbegrenzte) erfasst. Gleichwohl gibt es eine Tendenz bei Kant, jene Spaltungen und Grenzen zu verabsolutieren, wogegen sich bereits Hegels Einwand richtete, das Erfassen einer Grenze sei zugleich je schon ihr Überschreiten.38 In Konsequenz dieser Aufteilung der Welt in zwei Betrachtungsweisen wird jedenfalls – zurück zum Hauptthema des Kapitels – die infrage stehende Zeit als reine Form der Anschauung ganz und gar der Subjektseite zugeschlagen. Sie besitzt mithin keine eigene Wirklichkeit, kommt allen Erscheinungen zwar notwendig zu, doch erscheint sie niemals als sie selbst. Sie ist bloße Form, kein eigener Inhalt. Sonnemanns Kritik an der transzendentalen Anschauungslehre und ihrer Vorstellung von Zeit sollte insofern nicht als genereller Einwand gegen jedwede Apriorizität von Zeit missverstanden werden; denn in der Tat mag an Zeit etwas sein, das sich nicht aus der empirischen Wahrnehmung allein herleiten lässt. Die Kritik richtet sich vielmehr gegen die Behauptung, Zeit sei eine fix und fertig in den Subjekten „gegebene Form“ (ZiA, 282); als ließe sich das komplexe Gebilde Zeit derart einfach fixieren. In der Zurechtweisung der Zeit auf den Ort einer zwar notwendigen und allgemeinen, jedoch der Subjektseite verhafteten, reinen Form ist für Sonnemann eine Ordnung schaffende, „von vornherein eingreifende Willkür“ (ZiA, 283) am Werk. So werde Zeit, auch bei Kant, zu etwas Mechanischem, denn da sie kein Eigenleben kenne, bloße Form sei, gehe sie auf in ihrer Bestimmung als geradliniger Verlauf. Für die Beschreibung der Uhrzeit mag dieses verräumlichte Zeitkonzept zutreffend sein; was Kant laut Sonnemann „um so tiefer verschweigt, ist, daß Zeit als Bewegung, jeweils sinnlich-aktuelle
37Exemplarisch
lässt sich (im Sinne der Negativen Anthropologie Sonnemanns) an der Anthropologie Arnold Gehlens zeigen, welche ideologischen Konsequenzen aus der abstrakten (also bloß verwerfenden) Negation der Grenze zwischen Empirischem und Transzendentalem erwachsen. Siehe hierzu im II. Teil dieser Studie insbesondere Kapitel 8; vgl. außerdem Martin Mettin: „‚Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache.‘ Ulrich Sonnemanns Negative Anthropologie als Sprachkritik“, in: Thomas Ebke et al. (Hg.): Mensch und Gesellschaft zwischen Natur und Geschichte (=Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 6), Berlin 2016, S. 173–189. 38Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830], GW 20, § 60, S. 97 f.: „Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden, indem man zugleich darüber hinaus ist. […] Es ist daher nur Bewußtlosigkeit nicht einzusehen, daß eben die Bezeichnung von Etwas als einem Endlichen oder Beschränkten den Beweis von der wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschränkten enthält, daß das Wissen von Gränze nur seyn kann, in sofern das Unbegränzte diesseits im Bewußtseyn ist.“
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Erfahrung dieser Bewegung, dabei unter den Tisch fällt“ (ZiA, 286). Dass sich allerdings im Kapitel über die Analytik der Grundsätze in der Kritik der reinen Vernunft noch andere Zeitbestimmung finden lassen, wurde oben schon erwähnt. Der Vorwurf trifft seinen Gegner abermals nur zum Teil. Ob nun gegen oder womöglich doch auch mit Kant: Wie nun wäre diese Zeitbestimmung – der lange Textauszug weiter oben präsentierte sie ja bereits als Gegenmodell zur Strecke –, die Bestimmung als Bewegung also, zu verstehen? Eine Bewegung, die inhaltlichen Charakter haben soll, nicht bloß allgemeine Form der Erfahrung ist, vielmehr ein eigenständiger Erfahrungsgehalt? Zwei Aspekte dessen deutet Sonnemann im hier zugrunde gelegten Aufsatz bzw. im Kontext seiner Tunnelstiche an (wobei es sich tatsächlich um Andeutungen handelt, nämlich gerade keine Elaborationen): Einerseits wird Zeit im Erleben der Subjekte selbst in ihrer Eigendynamik spürbar, auch weil dieses ‚Innenleben‘ sich nicht strikt in eine empirische und eine transzendentale Hälfte scheiden lässt. Andererseits kommt aber auch in der Außenwelt der Zeit als Phänomen eine spezifische Selbständigkeit zu. In beidem ist ihre Linearität gebrochen, auch wenn ihr Verstreichen real ist. Doch fällt dieser Charakter gerade nicht primär in den Zuständigkeitsbereich der Anschauung, die sich nur „die Repräsentation aller Weltzugänge der menschlichen Sinnesorganisation gleichsam anmaßt“ (ZiA, 293), als vielmehr in den Bereich des Gehörsinns, der „selbst so unabgrenzbar erkenntnismächtig und dabei so ganz anders beschaffen ist“ (ZiA, 293). Hören wir also, zunächst der Spur ins Innenleben folgend …
Innere Zeiterfahrung Im Rhythmus tut sich Zeit kund: rhythmós (ῥυθμός) ist, dem Wortsinn nach, das Fließende, ein stetig andauerndes Strömen also. In musikalischer oder sprachlicher Hinsicht wird der Rhythmus dann zur strukturierten Dauer, gegliedert durch Längen und Kürzen etwa oder durch Akzentuierung. Erst an solchen Unterbrechungen oder Modifikationen des Stromes aber, an seiner Untergliederung, lässt sich ein Fluss als fließender erfahren. Schnell könnte man geneigt sein, diese Rhythmik mit einem Geräusch zu identifizieren, das sich den meisten modernen Menschen tief ins akustische Gedächtnis eingesenkt, nahezu eingebrannt haben dürfte: das Sekundenschlagen der alten, mechanischen Uhrwerke. Kein Geräusch steht derart emblematisch ein für das Verstreichen von Zeit wie das Ticken einer Uhr (oder das ihm sehr verwandte des Metronoms) und die Klangingenieure aller Sparten des Kulturbetriebs machen sich diese Wirkung gern zunutze. Soll, ob im Film, im Hörspiel oder anderswo, Zeit selbst hörbar werden, so ist der nächstliegende Griff derjenige zum Geräusch der Uhr. Entweder verläuft dies Geräusch dann im exakten Takt, um die alltägliche und normale Zeiterfahrung darzustellen, oder aber es wird ausgedehnt in schleichende Langeweile bzw. auf rasende Geschwindigkeit zusammengestaucht, um die Gefühle erdrückender Trägheit oder aufwühlender Geschwindigkeit hervorzurufen. Gleichwohl ist das nicht die einzig denkbare Rhythmik, wäre mit dem hörbaren Schlagen der Zeit, nach einer
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kurzen Randbemerkung Sonnemanns, „eher der je gegenwärtige Schlag eines je eigenen Herzens gemeint als der metrisch tote der Uhr“ (ZiA, 297).39 Nicht nur im Sekunden-, auch im Herzschlag also erklingt Zeit. Doch was für eine Zeit ist das? Sonnemann hält sich an dieser Stelle bedeckt. Offenkundig jedoch ist der ‚je eigene‘ Herzschlag ein Rhythmus, der unzertrennlich mit dem Individuum verbunden ist, eine der intimsten Selbsterfahrungen. Im eigenen Herzschlag, den wir selber (zumeist) nicht sehen, sehr wohl aber spüren und im Innern unseres Körpers hören – gelegentlich unter aufregenden, beängstigenden oder überanstrengenden Umständen sogar überdeutlich – spüren und hören wir uns selbst als Lebewesen. In glücklichen Momenten empfinden wir dies womöglich als Lebendigkeit oder Leidenschaft. In unglücklichen jedoch als Gefangensein in ebenjenem Körper, an dessen Grenzen das Leben an die Freiheit verheißende Außenwelt pocht — und doch zugleich ‚liegt … wie in Särgen‘;40 auch deshalb, weil diese Welt selbst in Unfreiheit liegt, gesellschaftlich produzierte Angst oft genug einen unerträglichen Druck erzeugt (den zur Arbeit und zur Selbstbehauptung unter unwürdigen Zuständen etwa), damit den Puls nach oben treibt, vielleicht erst dem strengen und mechanischen Ablaufen der Uhr angleicht. Aber nicht nur unter diesen Umständen hat der Fortgang der Zeit etwas Gnadenloses, erscheint sie ihrerseits als Vergänglichkeit und als Altern, fasslich im nachlassenden Rhythmus, Schwächerwerden des Herzschlags. Ganz in diesem Sinne deutet Schweppenhäuser im Kommentar zu Sonnemanns sensupolitischen Überlegungen die innere Phänomenologie der Zeit folgen dermaßen: „Das Altern spüren wir, empfinden es direkt – etwa am Nachlassen der Lebenskräfte –, doch wir sehen es auch: an den Zeichen und Zügen des Alters. Nur daß wir seiner beim erstenmal inne sind, beim zweitenmal es aus Distanz, im räumlichen Gegenüber erfassen – statt im Innersten, von Oberfläche zu Oberfläche, vorstellungsweise. Was wir nur vorstellungsweise wissen, an Zeichen, an der Oberfläche ablesen müssen, das wissen wir
39Bezogen
ist dieses Zitat auf Überlegungen Eugen Rosenstock-Huessys zur Zeit, die hier aber vom Thema wegführen und daher außer Acht bleiben. Vgl. Eugen Rosenstock-Huessy: Die Sprache des Menschengeschlechts, Bd. 1 & 2, Heidelberg 1963 & 1964. 40Einen literarischen Ausdruck verliehen hat diesem Gefühl z. B. Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht Weltende [1927], in: Gesammelte Werke in drei Bänden, Bd. 3 (= Gedichte 1902–1943), Frankfurt a. M. 1996, S. 149: „Es ist ein Weinen in der Welt, Als ob der liebe Gott gestorben wär, Und der bleierne Schatten, der niederfällt, Lastet grabesschwer. Komm, wir wollen uns näher verbergen … Das Leben liegt in aller Herzen Wie in Särgen. Du! wir wollen uns tief küssen – Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, An der wir sterben müssen.“
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äußerlich; innerlich wissen wir allein, was wir spüren, vernehmen, gleichsam klopfen, pulsieren hören – so als wären wir selbst zugleich das Vibrierende, die Membran“.41
Was der distanzierende Blick womöglich relativ fernhalten kann, gelingt dem Spüren und Hören (hier des Alterns) nicht auf die gleiche Weise. Dass nämlich Zeit nicht einfach ein neutrales Kontinuum ist, sondern als ‚nagender Zahn der Zeit‘ auch unumkehrbares Altern, fortschreitenden Zerfall und ausweglose Vergänglichkeit bedeutet: dies drängt sich dem Bewusstsein spürend und hörend ungleich stärker auf als einem aufs Abstandhalten geschulten Sehen.42 „Was in mir pulsiert, ‚durchläuft‘ auch Strecken, Zeitabschnitte, doch das sind sequentielle, innere – so viel näher bei mir, als noch die nächsten externen, die sich an mir, nicht in mir brechen; so nah, daß diese Rhythmen mit mir, meinem Sein in der Zeit, identisch werden: ich bin, an sich, diese Pulsation selber“.43
In der Selbsterfahrung verlieren die Zeitabschnitte ihre kategoriale Gleichförmigkeit. Während einem Kind etwa ein Jahr wie eine Ewigkeit vorkommen mag, schrumpft seinem späteren Ich dieser Zeitraum mit zunehmendem Verstreichen der Jahre auf eine fast schon augenblickhafte Kürze, verfliegen die Tage, Wochen, Monate, Jahre schneller und schneller. Das Durchlaufen dieser Zeit in der Außenwelt (gewissermaßen einem verschlungenen Weg folgend, durch markante Ereignisse individuiert) ist das Sein des Ichs in der Zeit; aber die Spuren, welche dieses zeitliche Sein im Innern hinterlässt, als sedimentierte Erinnerungen, werden zu Momenten desselben Ichs, ohne die es nicht Individuum oder Person, sondern bloß austauschbarer Funktionsträger wäre. Und erst in der Erinnerung an eine andere Erfahrung der eigenen Kraft oder Schwäche kann die Rhythmik des eigenen Lebens als nachlassende erscheinen; oder aber als zunehmende, denn sie muss nicht gleichförmig schwinden, kann zwischenzeitlich (etwa nach einer auskurierten Krankheit) wieder aufblühen, durch glückliche Umstände gar eine nie
41Schweppenhäuser:
„Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 112 f. nachdrücklich kommt dieser Gedanke gleich zu Beginn von E.T.A. Hoffmanns Serapionsbrüdern zu Wort. Er ist Lothar – einem der literarischen Brüder – als direkte Rede in den Mund gelegt, was die Distanznahme durch den schriftlichen Text sogleich unterwandert: „Stelle man sich auch an wie man wolle, nicht wegzuleugnen, nicht wegzubannen ist die bittre Überzeugung, daß nimmer – nimmer wiederkehrt, was einmal dagewesen. Eitles Mühen, sich entgegenzustemmen der unbezwinglichen Macht der Zeit, die fort und fort schafft in ewigem Zerstören. Nur die Schattenbilder des in tiefe Nacht versunkenen Lebens bleiben zurück, und walten in unserm Innern, und necken und höhnen uns oft, wie spukhafte Träume. Aber Toren! wähnen wir, das, was unser Gedanke, unser eignes Ich worden, noch außer uns auf der Erde zu finden, blühend in unvergänglicher Jugendfrische. – Die Geliebte, die wir verlassen, der Freund von dem wir uns trennen mußten, verloren sind beide für uns auf immer! – Die, die wir vielleicht nach Jahren wiedersehen, sind nicht mehr dieselben, von denen wir schieden, und sie finden ja auch uns nicht mehr wieder!“ E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder [1819–1821], Frankfurt a. M. 2008, S. 13. 43Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 113. 42Sehr
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gekannte Intensität erreichen.44 Solche Gefühlsregungen mögen sich nach Außen, besser oder schlechter, verdecken lassen. Im Innern jedenfalls sind sie ungleich schwerer zu verdrängen, sind, ob im freudig-erregten oder todtraurig-gelähmten Herzschlag, irreduzibler Teil des Selbst. Auf diese fundamentale Bedeutung der somatisch erfahrbaren Zeit, selbst noch für die abstraktesten Gefilde der reinen Vernunft, verwies bereits Johann Georg Hamann mit seiner an Kant gerichteten „Metakritik über den Purismum der reinen Vernunft“ (1784); und zwar in einer Weise, die Sonnemanns Überlegungen denkbar nahesteht. Bestand das Projekt der Kritik der reinen Vernunft wesentlich darin, die allgemeine und notwendige Geltung der Vernunftbestimmungen nachzuweisen, indem sie die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und Erfahrung kritisch prüfte, so spürte Hamann der (menschheits-) geschichtlichen Entwicklung der Vernunftvermögen nach, also ihrer Genese. Diese Geschichte ist zugleich die von Sprache, denn „das ganze Vermögen zu bedenken beruht auf Sprache“, wie Hamann schreibt.45 Entgegen einer (rationalistischen) Tendenz, die obersten Vernunftregionen allein mit den „Functionen logischer Sätze und Schlüsse“ zu besiedeln, will Hamann entsprechend an die „genealogische Priorität der Sprache“ für alle Vermögen der Vernunft erinnern.46 Solche Sprache aber ist stets eine des Somas. Körperliche Spuren reichen demnach qua Sprache bis in die Logik hinein. Und noch die reinen Formen der transzendentalen Ästhetik – Raum und Zeit – sind gekennzeichnet von ihrer Herkunft aus der leibhaften Erfahrungswelt: „Die älteste Sprache war Musik, und nebst dem fühlbaren Rhythmus des Pulsschlages und des Othems in der Nase, das leibhafte Urbild alles Zeitmaßes und seiner Zahlverhältnisse. Die älteste Schrift war Malerey und Zeichnung, beschäftigte sich also eben so frühe mit der Oekonomie des Raums, seiner Einschränkung und Bestimmung durch Figuren. Daher haben sich die Begriffe von Zeit und Raum durch den überschwenglich beharrlichen Einfluß der beiden edelsten Sinne, Gesichts und Gehörs, in die ganze Sphäre des Verstandes, so allgemein und notwendig gemacht, als Licht und Luft für Aug, Ohr und Stimme sind, daß Raum und Zeit, wo nicht ideae innatae, doch wenigstens matrices aller anschaulichen Erkenntnis zu seyn scheinen.“47
Schon bei Hamann tritt Zeit mithin nicht als Anschauungs-, vielmehr als Anhörungsform auf. Ungleich stärker als in der Kantischen Frage nach der Geltung der Formen transzendentaler Ästhetik kommt aus Perspektive ihrer Genese das Hören zu seinem Recht. Das ‚Urbild‘ aller Zeitverhältnisse sind die rhythmisch gegliederten,
44Bei
dieser Formulierung denke ich besonders an den 3. Satz in Beethovens Streichquartett Nr. 15 in a-Moll, op. 132, mit der überaus plastischen Satzbezeichnung: „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart. Molto adagio – neue Kraft fühlend. Andante – Molto adagio – Andante – Molto adagio. Mit innigster Empfindung“. 45Johann Georg Hamann: „Metakritik über den Purismum der reinen Vernunft“ [1784], in: Hamann’s Schriften Bd. 7, hg. von Friedrich Roth, Leipzig 1825, S. 1–17, hier S. 9. 46Hamann: „Metakritik“, S. 9. 47Hamann: „Metakritik“, S. 10.
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fühlbaren und akustisch vernehmbaren Lebensprozesse, Herzschlag und Atem, und deren Verwandlung in Sprache: rhythmisch gestaltete – ‚atmende‘ und ‚pulsierende‘ – Melodien und Sätze. Dass die Zeit ein anderes Verhältnis zum körperlichen Ich hat als der Raum, jene dem sprechenden und denkenden Individuum ‚inniger‘ verbunden ist als dieser, findet dann aber bei Kant selbst einen Niederschlag: wie oben ausgeführt, ist nicht zufällig die Zeit der innere Sinn und womöglich ist die genetische Beschreibung Hamanns ein gutes Argument gerade für den Geltungsanspruch von Zeit als primärem Sinn. Man denke hier durchaus auch an die Ontogenese des entstehenden Kindes im Mutterleib, wobei die Entwicklung von Spür- und Hörsinn vor der des Sehsinns einsetzt und erstgenannte Sinne vor der Geburt stärkere Reize erfahren als das Sehen. Ohne sie hier beantworten zu können, wäre damit die Frage in den Raum gestellt, ob nicht ein gewisser Vorrang der Zeit- vor der Raumerfahrung qua Hörsinn in dieser ontogenetischen Entwicklungsfolge seinen Ursprung hat. Dennoch wendet auch Sonnemann, darin Hamanns Kritik wiederholend, die soeben dargestellte Unterscheidung von Innen- und Außenwahrnehmung der (empirischen) Subjekte nun wieder kritisch gegen Kant, genauer gegen die verabsolutierte Grenze zwischen einem empirischen und einem transzendentalen Ich. Der Einwand gilt einer Überlegung der Kritik der reinen Vernunft, wonach sich das Ich in der Wahrnehmung seiner selbst zur bloßen Erscheinung wird, darin allen anderen Erscheinungen gleich. Es blickt auf sich wie auf die äußeren Erscheinungen, als ob die Augen, die sich sehend nicht nach innen wenden lassen, diese Richtung vorbestimmten. Vergessen scheint dabei das eigentümliche Potential der Ohren, die gleichzeitig die Geräusche der Außenwelt wie auch des Körperinneren vernehmen können. Das zumindest ist Sonnemanns Einwand gegen die Beschreibung der inneren Zeitwahrnehmung als Anschauung: „Die Definition […] der Anschauung unser selbst als Erscheinung, mit der wir ‚innerlich von uns selbst affiziert werden‘ [Kant: KrV], vergewaltigt die Phänomenalität des Selbstinneseins, indem es für deren erfahrbare Einheit jene Hier-Dort-Zerspaltenheit des Blicks unterschiebt, die das Selbstobjekt mit dem Ergebnis unter die Verrechenbarkeiten der Erscheinungswelt einreiht, daß sein Inspizient fortan mit ‚sich‘, damit ihm, für dessen Bild er sich auswechselte, okkupiert sein wird, statt aus der Spontaneität seiner Vernunft und Sinne am evozierenden Widerstand der erfahrbaren Welt zur Person zu werden.“ (ZiA, 296)
Diese Kritik einschränkend wäre zu erwähnen, dass Kant sehr wohl eine Einheit des Ichs kennt, nämlich eine des transzendentalen. Zudem sind transzendentales und empirisches Ich nicht zwei getrennte Gegenstände, vielmehr zwei Denkmodi ein und desselben Gegenstandes. Das Zerspaltene ist also zugleich als unteilbares Individuum vereint.48 Die attestierte Spaltung des Menschen und die daraus
48„Das:
Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“ KrV, B 131 f.
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resultierende Einreihung unter die ‚Verrechenbarkeiten‘, eine Manipulierbarkeit der Individuen also, ließe sich eher bestimmten Ausformungen der Humanwissenschaften zuschreiben, die gerade den (durch Kant beschriebenen) Anteil von Spontaneität, also transzendentaler Freiheit am Subjekt verkennen. Darin erfüllen letztere auch eine zweckdienliche Funktion für die auf menschliche Arbeitszeit angewiesene, mehrwertschöpfende Ökonomie, der ein spontanes Ich weniger dienstbar zu machen ist als ein berechenbares.49 Durch diese Einreihung in eine nur kalkulierbare Erscheinungswelt mangelt es dem Ich am hörund spürbaren Selbstbezug, in welchem es Zeit als materiales Moment seiner selbst, nicht bloß als formalistischen Maßstab zur Berechnung seiner Tätigkeit (= Lohnarbeit), erführe. Weder lässt sich über eine solche Zeit willkürlich verfügen, was aufs Schmerzlichste an ihrer Vergänglichkeit bewusst wird; noch aber ist sie bloße Berechenbarkeit oder Vorhersagbarkeit, gleichbleibender Ablauf, was sich wiederum an den verworrenen und verschlungenen, nicht jedenfalls gleichförmigen Bewegungen des zeitlichen Innen- wie Außenlebens kundtut. Nur eine derart ungleichförmige Zeit aber, die das Subjekt nicht schlechterdings in seinem Verhalten determiniert, ließe sich auch zunutze machen: statt wie ein heruntergefallenes Blatt, das auf der Wasseroberfläche treibt und einem (gleichfließenden) Strom ausgeliefert ist, könnte man, mit der Strömung schwimmend, beschleunigen und so dem Zeitstrom vorauseilen, sich dabei noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten annähern; oder sich treiben- und zurückfallenlassen, um sich schließlich, die Schwimmrichtung umkehrend, gegen die Strömung fortbewegen. Denkbar wäre auch ein Entgegenstemmen, beispielsweise indem man sich nicht mit der zeitlichen Vergänglichkeit einverstanden erklärt, sondern mit dem und im eigenen Leben Einspruch gegen den Tod erhebt. Mindestens für dieses Unterfangen darf man sich dem Zeitstrom jedoch nicht preisgeben, muss ihm zumindest temporär entronnen sein, darf nicht mehr schwimmen. Spontaneität, für Sonnemanns Denken eine der wichtigsten Begrifflichkeiten, muss hier gedacht werden als selbsttätiger Sprung aus dem Dahinfließen, aus bloßer Vergängnis. Für Sonnemann wird ein komplexes Verhalten gegenüber der Zeit, das sich diese zwar zunutze macht, zugleich jedoch einem bloßen ‚Mitschwimmen‘ widerstrebt, geradezu zum Maßstab ernstgemeinter Auseinandersetzung mit der Welt und ihrer Zeitgeschichte.50 49Siehe
unten, Kapitel 9 (Der vermessene Mensch). diesem Ansinnen kritisiert Sonnemann etwa die bundesdeutschen Schulbücher der 1970er Jahre gerade wegen ihrer allzu glatten Stromlinienförmigkeit: „Solche Dichotomisierung ist für die reaktive Art der deutschen Lesebücher, des Bewußtseins, das in sie mündet, bezeichnend. Immer gehen sie ‚mit der Zeit‘, dem, was die Gesellschaft für sie hält: was ihr an ihr zu sein scheint. Nicht gehen sie gegen sie oder ihr voraus – erst recht nicht (wie es doch angezeigt wäre, wo das angesprochene Publikum die Gesellschaft von morgen ist) beides.“ Ulrich Sonnemann: Schulen der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der Bundesrepublik, Hamburg 1970, S. 30. – Zum Motiv ‚Einspruch gegen den Tod‘ siehe außerdem das Rundfunkgespräch zwischen Theodor W. Adorno und Ernst Bloch: „Etwas Fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht“ [1964], in: Ernst Bloch: Tendenz – Latenz – Utopie, Ergänzungsband zur Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 1978, S. 350–368; insb. S. 357–360.
50In
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Erst in der Konfrontation von Innen und Außen – von spürbarer und vernehmbarer Zeit einerseits mit den sichtbaren Zeichen der Zeit andererseits – wird nach obigem Zitat das Ich ‚am evozierenden Widerstand der erfahrbaren Welt zur Person‘. Eine Person, die ihr Zeiterleben im Gedächtnis aufspeichert und als Erinnerungen wieder freisetzt, sich so durch die Zeit bewegt. Und doch ist die von Sonnemann gezogene Grenze zwischen Innen und Außen der Selbst- und Weltwahrnehmung keine absolute: der Widerspruch mag zwar antinomisch sein, ohne jedoch dabei die Welt zu zerreißen in zwei Hälften, die sich dann bar jeder Verbindung beziehungslos gegenüberstünden. Vielmehr bildet sich ein Innen erst in Bezug auf ein Außen und vice versa. Damit aber hängen beide nicht nur untrennbar zusammen, bedeutet das Innensein nicht nur zugleich immer auch ein Außersichsein.51 Vielmehr verweist das zeitliche Eigenleben der Innenwelt auf die Frage, ob nicht auch der Außenwelt ein solches zugestanden werden muss.
Äußere Zeiterscheinungen Die soeben zitierte ‚Verrechenbarkeit der Erscheinungswelt‘ ist für Sonnemann nicht nur mit Blick auf das sich selbst zur bloßen Erscheinung degradierende Individuum ein Problem. Vielmehr gilt: „Wenn Zeit in Subjektivität zu ihrer Selbstdarstellung kommt, […] muß an ihr selbst etwas konstitutionell Subjektives sein“ (ZiA, 292). Doch soll dieses subjektive Moment an Zeit gerade nicht der Bestimmung entsprechen, die Kant vornimmt, dass nämlich Zeit als Anschauungsform allein von der Subjektkonstitution abhinge. Sonnemann meint nachgerade das Gegenteil, denn „solches anders verstandene Subjektive [hätte] durchaus den Status des intelligiblen An-sich-Seins, den die Bestimmung ihm aberkannte“ (ZiA, 292). Soll heißen: Es gibt ein an den Dingen ablesbares Eigenleben von Zeit; so wie die Dinge nicht bloße Verfügungsmasse der Ratio sind, ist auch die äußere Zeit nicht bloße Berechenbarkeit; wie das Ding-an-sich denknotwendig ist, so bedürfe es auch der Idee einer Zeit-an-sich; Zeit selbst tut an den Dingen ihr Werk und diese sind nicht davon abhängig, dass erst die menschlichen Subjekte ihnen ein zeitliches Leben einhauchen; Zeit ist, in dieser Hinsicht, selbst tätiges Subjekt. Im Kern geht es hier also um die Frage, ob der Zeit nicht doch, gegen Kant, eine eigene ‚Realität‘ jenseits ihrer Transzendentalität zugestanden werden muss. Doch wird nun mit der behaupteten Subjekthaftigkeit von Zeit nicht geradezu der fundamentale Unterschied zwischen Subjekt und Objekt kassiert, der doch wesentliche Voraussetzung ist für die zuvor ausgeführte Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Zeiterfahrung? Die Diskussion dieser Streitpunkte – die Frage nach einer von menschlicher Wahrnehmung unabhängigen Entität der Zeit und die damit aufs engste
51Das
ist im Übrigen, unter dem Stichwort der ‚exzentrischen Positionalität‘, ein Grundmotiv der anthropologischen Überlegungen bei Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie [1928|1975], Berlin & New York 31975.
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v erbundene Problematik der Verhältnisbestimmung von Subjekt und Objekt – diese Diskussion zieht sich durch die gesamte Philosophiegeschichte hindurch. Kaum ist zu erwarten, dass Sonnemann den Knoten gänzlich löst, und es wäre vermessen zu behaupten, der Streit könne in vorliegenden Untersuchungen angemessen ausgetragen und zugunsten einer der Parteien (Kant oder Sonnemann oder welcher einschlägigen Position52 auch immer) entschieden werden; zumal ja unsere Aufmerksamkeit den Elementen einer kritischen Theorie des Hörens insgesamt gilt, wovon die erkenntnis- und zeittheoretische Frage nur eines darstellt. Und doch, nimmt man den von Sonnemann unter dem Titel einer transzendentalen Akustik formulierten Anspruch ernst, so ist auch ihr epistemologischer Gehalt plausibel zu machen. Die nachfolgenden Erwägungen erheben also keinen Anspruch auf Abgeschlossenheit oder Vollständigkeit, wollen nicht ‚letztgültig‘ beweisen (etwa durch zwingenden logischen Schluss, der im vorliegenden Fall nicht in Aussicht steht); dennoch versuchen sie das die Sache Treffende zu benennen, wollen noch einmal ergründen, warum Sonnemann ausgerechnet mit Kants Epistemologie derart ins Gericht geht. Wenn Sonnemann von der Subjekthaftigkeit der Zeit spricht, so meint er damit kaum, dass Zeit der gleiche Subjektstatus zukäme wie den menschlichen Subjekten, die als vernunftbegabte Wesen Erkenntnissubjekte sind. Wohl aber trifft auf beide eine andere Bestimmung von ‚Subjekt‘ zu, die der erst seit der Neuzeit üblichen Engführung von Subjekt und erkennendem Ich vorausgeht: Subiectum ist das Daruntergeworfene, bzw. bei Aristoteles, in dessen Schriften es überhaupt erst zur Kategorie wurde: hypokeímenon (ὺποκείμενον), das Zugrundeliegende. Dieses bedarf nicht der Eigenschaften, Akzidenzien oder Attribute, die sich an es binden, um zu sein. Es unterscheidet sich von diesen Unselbständigkeiten gerade durch diese seine Selbständigkeit.53 Nicht also geht es bei der Rede von einer Subjektivität der Zeit um die Gegenüberstellung eines wesentlich durch seine geistige Innenwelt ausgezeichneten Subjekts mit einem der materiellen Außenwelt zugehörigen Objekt – wie ja gerade ausgeführt wurde, bleibt diese Gegenüberstellung ohnehin zu schematisch, ist die Innenwelt nichts ohne ihr materielles Sein –, sondern es geht um das Kriterium der Selbständigkeit. Zeit als selbständige wäre demnach, anders als bei Kant, nicht bloße Form der Wahrnehmung, könnte vielmehr zugleich ein eigener Wahrnehmungsinhalt werden.54 52Schon
Sonnemanns Auseinandersetzung mit Kants Zeitphilosophie war Teil einer Kontroverse um neuere Zeitbegriffe in verschiedenen Disziplinen; vgl. Gottfried Heinemann: Zeitbegriffe. Ergebnisse des Interdisziplinären Symposiums, Freiburg und München 1986. – Einen weit gefächerten Überblick zu den verschiedenen (philosophischen) Positionen bezüglich der Zeit liefert der Sammelband von Johann Kreuzer und Georg Mohr (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2007. 53Vgl. Aristoteles: Die Kategorien [Κατηγορίαι], Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von Ingo W. Rath, Stuttgart 2009; sowie Brigitte Kible: „Subjekt“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10 (= St–T), Darmstadt 1998, Sp. 373–383, hier insb. Sp. 373. 54Dass solche gewissermaßen vorcartesischen Implikationen des Subjekt-Begriffs auch aus modernen Reflexionen über das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und -objekt nicht gänzlich zu tilgen sind, sieht im Übrigen auch Adorno, wenn er schreibt: „Wo Objekt dem
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Auch für diesen Zusammenhang erweist sich die Interpretation durch Schweppenhäuser als aufschlussreich. Entgegen der Kantischen Konzeption, wonach die Dinge zwar stets in der Anschauungsform Zeit erscheinen, Zeit mithin zwar an den Dingen, als solche aber nicht selbst erscheint, ihr ergo kein eigenes Sein (an sich) zugestanden wird, müsse bedacht werden: „Das Erscheinende ist selber ein Sein, nicht bloß oder nur Schein. Raum und vor allem Zeit […] sind doch in diesem Sinn Existentes, Wirkliches“.55 Diese Wirklichkeit der Zeit, wir stießen bereits bei der inneren Zeitwahrnehmung darauf, ist nun nicht ihre Newtonsche Gleichförmigkeit, sondern sie ist „wirklich fließende, strömende, ablaufende – unumkehrbar ablaufende – Zeit – man denke ans unumkehrbare Altern, an die Entropie, an das Verschwinden des Lebens im Tod“.56 Nun sprechen diese Überlegungen keineswegs der Zeit den Formcharakter ab. Jedoch sind Form und Inhalt nicht derart voneinander zu trennen, wie es bei Kant den Anschein macht. Beide müssen vielmehr als miteinander vermittelt betrachtet werden: „Sicher ist und hat dieser Ablauf auch eine Form: ist er ein Rhythmus, ein Zyklus, ist biologischer oder technischer Takt, Periode – Zeitmaß, wonach das entstehende und vergehende Leben, wonach das Artefakt sich bewegt. Dieser Takt, Rhythmus ist in bestimmtem Sinn das Leben selbst, das bewegte Sein des natürlichen wie artifiziellen – ist das Konkrete und Wirkliche, wovon die Bestimmung Zeit […] abstrahiert und als ‚Form‘, als ‚Gesetz‘, als ‚Konstituens‘ bloß gesetzt und verselbständigt – verdinglicht – ist. Es ist das in der Konkreszenz von Form und Gehalt, von perceptio und perceptum, von Sein und Erscheinen Konkrete und Wirkliche – das erscheinende Wesen selber“.57
Erkenntniskritisch wird hier die von Kant gezogene Grenze zwischen Sein (an sich) und Erscheinung ihrerseits der Überprüfung unterzogen. Bei Kant bleibt im Dunkeln, woher eigentlich die menschliche Fähigkeit zur Erkenntnis stammt, auch weil die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis nicht auf die gleiche Weise zum Gegenstand von Erkenntnis werden kann wie alle anderen Erkenntnisse. Ohne gegen die Wahrheit dieser Einsicht zu verstoßen, geben sich jedoch weder Schweppenhäuser noch der durch dessen Interpretation sprechende Sonnemann mit allen Konsequenzen dieser Reflexion zufrieden. Denn im Ergebnis wirken die Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen bei Kant ein wenig wie vom Himmel gefallen; über ihre Genese und Geschichte wird nichts ausgesagt und somit bleibt auch der Zusammenhang zwischen der Welt, die erkannt werden soll bzw. erkennbar ist, und dem erkennenden Ich rätselhaft. Mehr noch, fast scheint es
Subjekt als schlechthin Inkommensurables vorgegaukelt wird, erbeutet blindes Schicksal die Kommunikation zwischen beiden.“ Theodor W. Adorno: „Marginalien zu Theorie und Praxis“ [1969], in: AGS 10, S. 759–782, hier S. 761. 55Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 112. 56Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 112. 57Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“, S. 112. Zur möglicherweise Hegelschen Quelle dieser Formulierungen siehe die nachfolgende Fußnote.
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beliebig, dass die Menschen die Dinge nun einmal in den Formen von Raum und Zeit wahrnehmen, als wären diese Formen nicht in der materiellen Wirklichkeit bereits angelegt.58 Dem widerspricht die Beschreibung Schweppenhäusers von der Genese der Erkenntnis- und Wahrnehmungsformen, die aus der materiellen Welt abstrahiert sind und zugleich auf diese zurückwirken. Bewusstsein und Welt sind nicht komplett auseinandergefallen. Welt lässt sich nur deshalb erkennen, weil sie Ähnlichkeit hat mit dem Menschen, er aus ihr hervorgegangen ist.59 Dieses Erkenntnispotential, das sich innerhalb einer bestimmten Geschichte gebildet hat, nicht losgelöst werden kann von spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungen, ermöglicht aber nicht nur Mehrung von Wissen; zugleich hat es einen zurüstenden Charakter, die Dinge nehmen eben auch die Formen ihrer Erkenntnis an, die ihnen eine bis dato herrschaftsförmige Gesellschaft geradezu aufprägt. Leben ist Zeit: Lebenszeit. Doch in gleichförmig ablaufender, metrischer Zeit erstarrt auch das Leben zu solchem Gleichtakt. „Das Leben lebt nicht“60 – auf diesen Vorsatz zum 1. Teil von Adornos Minima Moralia spielt Schweppenhäusers Hinweis zum verdinglichten Leben wohl entsprechend an. Es müsste nicht ‚bloß … verdinglicht‘ sein; wäre die menschliche Geschichte nicht derart herrschaftsförmig verlaufen, wie sie es bis heute tut. Das Zeitleben hätte sich anders entwickeln, eine andere Form annehmen können; und könnte es immer noch. Eine allzu strenge Trennung von Erscheinungswelt (durch Gesetze und Formen bestimmt) und intelligibler Sphäre (in der allein Freiheit als Selbstgesetzgebung existiert) übersähe, dass ganz wie das Erkenntnisvermögen auch das ihm verschwisterte Freiheitsvermögen nicht vom leeren Ideenhimmel gefallen sein kann, vielmehr die Möglichkeit zur Freiheit in Natur schon angelegt sein muss. So
58An
diesem Problem hat sich die Philosophie in der Nachfolge Kants abgearbeitet. Hegel etwa versteht Zeit nicht mehr wesentlich als formales Erfahrungsprinzip, sondern zugleich als eines der abstraktesten Naturprinzipien: „In der Zeit, sagt man, entsteht und vergeht Alles; wenn von Allem, nämlich der Erfüllung der Zeit, eben so von der Erfüllung des Raums abstrahirt wird, so bleibt die leere Zeit wie der leere Raum übrig, – d. i. es sind dann diese Abstractionen der Aeußerlichkeit gesetzt, und vorgestellt, als ob sie für sich wären. Aber nicht in der Zeit entsteht und vergeht Alles, sondern die Zeit selbst ist diß Werden, Entstehen und Vergehen, das seyende Abstrahiren, der Alles gebärdende und seine Geburten zerstörende Chronos.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), GW Bd. 20, § 258, S. 248. Siehe hierzu auch Günther Mensching: „Zeit und Fortschritt in den geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins“, in: Peter Bulthaup (Hg.): Materialien zu Benjamins ‚Thesen über den Begriff der Geschichte‘, Frankfurt a. M. 1975, S. 170–192, hier S. 174. 59Wirklichkeit lässt sich in Sprache übersetzen, weil sie selbst ‚Gewirktes‘ ist, ein Eigenleben hat – und nicht allein durch die Menschen zur Wirklichkeit wird. So zumindest Schweppenhäuser, im Hinblick auf Walter Benjamins Sprachphilosophie; vgl. Hermann Schweppenhäuser: „Schein und Wahrheit in Benjamins Konzeption einer Dialektik im Stillstand“, in: Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992, S. 20–33, hier S. 21. 60Theodor W. Adorno: Minima Moralia [1951], AGS 4, S. 20. Das Zitat stammt vom Schriftsteller Ferdinand Kürnberger: Der Amerika-Müde, Frankfurt a. M. 1885, S. 372.
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zumindest lautet ein weiterer Einspruch Sonnemanns gegen die Vorstellung von Zeit als reiner Form. Denn tendenziell sei sie als solche zu einer spezifischen Kausalmechanik verdammt, was der Verbannung des Freiheitspotentials aus der Erfahrungswelt gleichkäme. Während mit einer bloß formal bestimmten Zeit alles als glattgehender Ablauf innerhalb starrer Kausalitätsketten erscheinen müsse, sei das Gegenteil evident, nämlich „daß es auf der Welt nicht bloß Mechanik, sondern auch Geschichte gibt; nicht nur Abläufe, sondern auch Ereignisse; nicht nur Entropie, sondern als deren Gegenmotiv auch Differenzierung, Wachstum und Formung, die Erscheinung der Freiheit, die Entfaltung von Entelechien“.61 Die Welt wäre missverstanden, dächte man sie als System von durchgängigen Determiniertheiten. Ein Ereignis, das als glückender Augenblick (kairos | καιρός) ergriffen sein will, durchbricht kausalmechanische Abläufe, die dahinfließende Zeit (chronos | χρόνος), indem es dem Geschehen eine andere Richtung oder eine neue Qualität gibt, es dadurch verändert.62 Dies gilt aber nicht erst für die handelnd in den Weltlauf eingreifenden Menschen. Der Begriff der Entelechie der klassischen Philosophie deutet das beispielsweise an: den Lebewesen wohnt selbst ein Zweck inne, demgemäß sie sich entwickeln. Solche Entwicklungszeit aber gliedert sich in qualitativ unterschiedene Abschnitte auf – etwa Wachstum, Aufblühen, Fortpflanzen und Welken der Vegetation – wobei es eben die ereignishaften Wandlungen sind, die solchen Ablauf differenzieren und brüchig machen.63 Wäre mit den Gesetzen der (physikalischen) Natur schon alles vorherbestimmt, dann wäre tatsächlich alle Zeit mechanischer Ablauf. Doch schon die Naturgeschichte kennt zeitliche Ereignisse, ist durch abweichende Qualitäten gekennzeichnet (man denke nur an die verschiedenen Erdzeitalter, deren naturgeschichtliche Spuren sich etwa in Gesteinsschichten und im Pflanzen- wie Tierreich ablesen lassen). Sonnemann spricht in diesem Zusammenhang von einem „Zwecke setzenden Subjekthaften an Natur“64 und meint damit wohl, dass sich ein kosmologisches Freiheitsmoment bereits in der nicht-menschlichen Natur
61Ulrich
Sonnemann: „Ereignis und Ablauf“, in: Tunnelstiche, S. 298–308, hier S. 306 f. Die beiden Texte „Zeit ist Anhörungsform“ und „Ereignis und Ablauf“, die in den Tunnelstichen direkt aufeinander folgen, gehören auch inhaltlich engstens zusammen. Siehe Fußnote 29 (Kapitel 1). 62Zu den Begriffen chronos und kairos und deren Bedeutung für die Kritische Theorie siehe Eusterschulte: „Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst“, S. 244. Und zum Ursprung dieser beiden zeitlichen Kategorien in der griechischen Philosophie siehe Johann Kreuzer: „Von der erlebten zur erzählten Zeit. Die Anfänge der Zeitphilosophie in der Antike“, in: Ders., Georg Mohr (Hg.): Die Realität der Zeit, München 2007, S. 1–40. 63Den Begriff der Entelechie (ἐντελέχεια) führte Aristoteles hierfür in die philosophische Terminologie ein; vgl. Aristoteles: Metaphysik Buch IX, Kap. 8. – Kant allerdings fasst solche Teleologie, also Zweckmäßigkeit, innerhalb der Natur im Modus des ‚als ob‘; nicht ist von einer absolut zweckmäßigen Einrichtung der Naturdinge die Rede, wohl aber muss die reflektierende Urteilskraft per Analogie eine solche Einrichtung der Natur annehmen. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft [1790|1793], WW Bd. X; insb. §§ 74 und 75. 64Sonnemann: „Ereignis und Ablauf“, S. 307.
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finden lassen muss. Möglicherweise geht diese Idee zu weit, ließe sie sich als eine anthropomorphisierende Projektion überführen, welche die menschliche Fähigkeit, Zwecke zu setzen, auf die Natur als quasi-göttlicher Schöpferin überträgt. Schließlich bedarf es, um ernsthaft Zwecke setzen zu können, eines Begriffs von Zwecken und möglicher Inhalte von Zwecken, die, genauso wie der Begriff von Gesetzmäßigkeit etc., ohne den Menschen in der Natur nicht vorzufinden sind. Doch ist dies nicht die eigentliche Pointe der Überlegungen zum Verhältnis von Ereignis und Ablauf. Vielmehr scheint es gewissermaßen um eine materialistische (Um- oder Aus-) Deutung der Kantischen Philosophie zu gehen: Die schroff von der empirischen Welt geschiedene intelligible Sphäre ist nicht der deus ex machina, um Vernunft und Freiheit trotz durchgängiger kausaler Determiniertheit aller Weltverhältnisse erklären zu können; vielmehr hat jene Sphäre ihren Ursprung in der empirischen Welt selbst, scheint in der Natur bereits vor — auch wenn sie erst in den Menschen zur Entfaltung kommt und sich nur in dieser neuen Qualität als Freiheitsversprechen vom Bann der Natur zu scheiden beginnt.65 Nur andeutungsweise sei erwähnt, dass Kant selbst in seiner letzten Kritik die Notwendigkeit zu solcher Vermittlung überaus deutlich gemacht hat. Denn während der Verstand sich am Naturbegriff, die Vernunft aber am Freiheitsbegriff zu bewähren habe, mithin die Bereiche der reinen und der praktischen Vernunft zu scheiden seien, so behalte doch jene Trennung nicht das letzte Wort: „Allein in der Familie der oberen Erkenntnisvermögen gibt es doch noch ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft. Dieses ist die Urteilskraft“.66 Und während dem ersten Bereich das (spezifische) „Erkenntnisvermögen“, dem zweiten aber das „Begehrungsvermögen“ zugeordnet sei, fänden beide wiederum ihre Vermittlung im „Gefühl der Lust und Unlust“.67 In solchem Gefühl also treffen sich auch Intelligibles und Empirisches, ist die Kluft zwischen beiden Sphären kein unüberbrückbarer Abgrund, dürfen also auch andere Vermittlungen angenommen werden.68 65Eine
ganz ähnliche Überlegung findet sich bei Ernst Bloch – wobei das den Ablauf durchkreuzende Ereignis eine dezidiert akustische Dimension erhält – unter der Überschrift Murren unterwegs: „Wie still wäre alles, wenn eins auf das andere glatt folgte. Bloßes Zeigen auf dieses, dann jenes mag noch glatt vor sich gehen. Auch zählen nacheinander, von eins zu zwei zu zehn und so fort, ist an sich gleichförmig bewegt. Doch wie, wenn gesagt wird, allzu scharf mache schartig oder höchstes Recht werde höchstes Unrecht. Dann wölkt sich etwas, schlägt um, setzt ein Gegenteiliges zum Bisherigen. Auch das Zählen läuft nicht mehr gleichförmig weiter, sobald mehr als formell gereiht wird. Dann murrt es in der Reihe, unterbricht sie, wechselt dialektisch um. Sonst gäbe es nirgends ein Verändertes, vom Vorher sich deutlich absetzend.“ Ernst Bloch: Tübinger Einleitung in die Philosophie [1963/64], Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt a. M. 1970, S. 186. 66Kant: Kritik der Urteilskraft, B XXI. 67Kant: Kritik der Urteilskraft, B XXII. 68Bezüglich des Verhältnisses von Kausalität und Teleologie schreibt Sonnemann, Kant im Hinterkopf habend, in „Ereignis und Ablauf“, S. 305 f.: „Bei unseren eigenen Bezweckungen, der Mittel-Zweck-Organisation jeglicher Techne – im ursprünglichen, weitesten Sinne ihres Begriffes, der den modernen von ‚Technik‘ einschließt, sich nur keineswegs in ihm erschöpfen kann – nützen wir unser Wissen von den determinativen Potenzen von Naturkausalität für die
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Was nach Sonnemanns Reflexionen zu Ereignis und Ablauf derweil bereits in Natur vorscheint, ist Zeit, die nicht bloß mechanischer Ablauf ist, sondern qualitative Brüche kennt, also Ereignisse, ohne die es keine Spontaneität gäbe. Erst mit dem Menschen jedoch kommt die Möglichkeit in die Welt, dass sich etwas, das in Natur angelegt ist, verwirklicht, Natur über sich hinauswächst. Zeitphilosophisch betrachtet müsste die Geburt der Menschheit damit als ein Ereignis betrachtet werden, nicht als bloßer Punkt im neutralen Ablauf. Dieser Unterscheidung verdankt sich im Übrigen die polemische Brisanz, mit der Marx aller menschlichen Geschichte vorhält, den Bann des Naturwüchsigen bis heute noch gar nicht überwunden zu haben: wenn gesellschaftliche Verhältnisse nämlich die mythische Form von blindlings ablaufenden Naturverhältnissen haben, so bleibt, bis zur Überwindung dieses Zustandes, alles noch „Vorgeschichte“.69
Vermittlung hören Die zuletzt angestellten Reflexionen zu einer ‚materialistischen‘ Auslegung der Vernunftkritik Kants führen nun wieder zur Frage nach der Bedeutung der Akustik zurück. Denn wenn empirische und intelligible Sphäre nicht gar so scharf zu trennen sind, dann lässt sich auch die Bedeutung des körperlichen Aspektes von Vernunft anders bestimmen und stärker betonen, als Kant dies an entscheidender Stelle (in den beiden ersten Kritiken) tat. Schon die emphatischen Erfahrungen von Freiheit, die sich auch in einer unfreien und verwalteten Welt zuweilen ereignen, zeugen von einer irreduziblen Vermittlung von Soma und Geist in jenen Freiheitsmomenten: etwa in einem unerwarteten Spaziergang, der kreisende Gedanken ebenso wie erstarrte Gliedmaßen aus bedrückender
Verwirklichung eines finalistischen, sie insofern umkehrenden Arrangements, das nur von dem Sinn, auf den es seine Zielrichtung zuordnet, her begreiflich wird, eben in dieser Begreiflichkeit aber das andere Prinzip nicht nur nicht ausschließt, sondern frei über die Möglichkeiten verfügt, die es ihm anbietet. Da es das Denken selbst ist, was in solcher Praxis die beiden Prinzipien [scil. Kausalität und Teleologie] fortwährend miteinander vereinigt, wie sollten sie in ihm unvereinbar sein? Ihr Treffpunkt liegt also keineswegs im Übersinnlichen, sondern im Alltäglichen, ja denkbar Nächsten unserer Erfahrungswelt.“ 69Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Vorwort) [1859], MEW 13, S. 9. Schon in der Natur jedoch sind – dies ist ja eine entscheidende These Sonnemanns – die Abläufe nicht schlechthin mechanisch, meint also ein sich auf die Potentiale von Natur besinnender Materialismus wie der hier geschilderte keinen kausalmechanischen. Auch hier findet sich ein ähnlicher Gedanke bei Ernst Bloch: „die Materie […] ist kein toter Klotz, der nur von Druck und Stoß geschoben wird und sich immer gleich bleibt. Derart, daß sie, selbst wenn die Bewegung von ihr als untrennbar verstanden wird, bei allen Formen immer wieder auf die alten, die dauernd quantitativen Füße fällt. Das ist die Auffassung des mechanischen Materialismus, ehemals zur bürgerlichen Aufklärung so wichtig, dann aber nicht mehr revolutionär, sondern vulgär geworden.“ Bloch, Tübinger Einleitung, S. 230.
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Stimmung befreit;70 oder im Hören eines Musikstückes, in dem Freiheit auskomponiert ist, weil Akustisches und Geistiges hier ineinander fallen; ja selbst im gelegentlich aufrüttelnden, aus geistigem Schlummer weckenden Lesen eines Textes in der Bibliothek, die Gedanken als Worte mit dem äußeren Auge und dem inneren Ohr wahrnehmend — in all jenen Freiheitserfahrungen ist der Geist nichts ohne seinen Körper und umgekehrt. Die Kritik einer allzu strikten Spaltung von körperlicher und geistiger Sphäre beharrt auf der Idee einer „Vernunft des Leibes“, die sich insofern als „Vernunft der Natur“ beschreiben ließe, jedoch nicht als irrationalistische Vernunftkritik missverstanden werden sollte.71 Wiewohl Vernunft nicht existierte, wenn sie nicht ein gewisses Moment von Abstraktion und Distanz zur körperlichen Welt beinhaltete, sind Menschen nur als Naturwesen geistfähig. Solcher Geist lässt sich nicht gänzlich herauspräparieren aus menschlicher Naturhaftigkeit, damit auch nicht von der Einrichtung menschlicher Sinne abtrennen. ‚Einrichtung‘ der Sinne bedeutet nun aber, dass dieselben nicht einfach durch die Natur fix und fertig vorgegebenen sind.72 Die Wahrnehmungsvermögen resultieren vielmehr aus einem vertrackten Zusammen- und Widerspiel von Naturanlagen einerseits und historischen Formungs- und Umwandlungsprozessen derselben Anlagen andererseits. Eine fixe Ausstattung anzunehmen bedeutete selbst schon einer Art „optischen Täuschung“ aufzusitzen, nämlich den „Bezug auf dinghaft Vorgestelltes, die immer schon fertige Welt des Auges“ (ZiA, 287) zu verabsolutieren. Diese Funktion eines registrierenden Tatsachensehens hat das Auge aber nicht einfach per se, als soseiendes Organ, sondern es erlangt sie auch durch die Ausdifferenzierung der verschiedenen Wahrnehmungsfähigkeiten in einem historisch-gesellschaftlichen Prozess, aus dem dann eben auch jene (von Schweppenhäuser formulierte) Hierarchie der Sinne hervorgegangen ist. Auf diese Kulturgeschichte der Sinneswahrnehmung wird unten noch einmal zurückzukommen sein (siehe Kapitel 3). Die ‚optische Tyrannei‘ mit ihrem ‚spaltenden Blick‘ jedenfalls, so der Sonnemannsche Vorwurf, schneidet das (erkennende, menschliche) Subjekt allzu säuberlich heraus aus einer Welt, in die es doch unentrinnbar verwickelt ist. Zu formulieren wäre daher eine
70Treffend
in Worte gefasst hat dies etwa Patrik Süskind in seiner Novelle Die Taube, Zürich 1987, S. 82 f.: „Gehen beschwichtigt. Das regelmäßige Fuß-vor-Fuß-Setzen bei gleichzeitigem rhythmischen Rudern der Arme, das Ansteigen der Atemfrequenz, die leichte Stimulierung des Pulses, die zur Bestimmung der Richtung und zur Wahrung des Gleichgewichts nötigen Tätigkeiten von Auge und Ohr, das Gefühl der vorüberwehenden Luft auf der Haut – all das sind Geschehnisse, die Körper und Geist auf ganz unwiderstehliche Weise zueinanderdrängen und die Seele, auch wenn sie noch so verkümmert und lädiert ist, wachsen und sich weiten lassen.“ 71Sonnemann: „Ereignis und Ablauf“, S. 302. Sonnemann spricht diesbezüglich vom „moralische[n] Wissen des Leibes“ (ebd., S. 302), eine Idee, die u. a. in Adornos Reflexionen zur Moralphilosophie verschiedentlich auftaucht. 72Vgl. Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen. Bd. I: Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Beziehungen in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals. Bd. II: Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt a. M. 1974.
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„Kritik an der traditionellen, ihrem schon bei den griechischen Philosophen, Platon zumal entspringenden In-die-Welt-Hineinsehen, als ob sie außerhalb des Betrachters läge, es nur den Raum, nicht die Zeit, nur die Passivität des distanzierenden Blickes, nicht die aktivierende, verbindliche, Geschichte stiftende Erfahrung des Hörens gäbe, mit dem das Gehörte sich von selber im Hörenden fortzeugt, Zeit sich entfalten kann“ (ZiA, 287).73
Womöglich kann demnach der Hörsinn, aufgrund seiner ihn vom Sehsinn unterscheidenden Geschichte, eher solche Vermittlungen wie die zwischen Innen und Außen oder zwischen Körper und Geist wahrnehmen als der von Sonnemann beanstandete, dualistische Blick. Während die optische und vorstellende Vernunft tendenziell als kalkulierende und instrumentelle Ratio operiert, wäre eine akustische und vernehmende Vernunft viel stärker in die Sache selbst involviert. Nicht solchermaßen distanziert, müsste es zwar prekärer um sie bestellt sein, da sie nicht auf einen fixen ‚Standpunkt‘ gestellt sein kann; die Sicherheit, immer schon zu wissen, was sie erblickt, ist vernehmender Vernunft nicht gegeben. Und doch ränge sie zugleich unnachgiebiger mit ihren Gegenständen, da sie weniger abschirmbar und verschließbar, mithin offener ist als ihre instrumentelle Variante.74 Vermittelt verlautbart sich so das Geschiedene. Im kritischen Hören treffen intelligibles Freiheitsmoment und empirische Erscheinungswelt zusammen, brechen sich aneinander, gerät die Eindeutigkeit der Einteilung ins Wanken. Gleichermaßen ist vernehmende Vernunft der Illusion beraubt, sie könne (wie die instrumentelle Ratio) über die Dinge nach ihrem Gutdünken blindlings verfügen. Einer bloß feststellenden Anschauung begegnet die Anhörung mit Erfahrungsoffenheit: sie will sich nicht nur bestätigen lassen, was ihr ohnehin als Gewissheit gegeben ist, vielmehr im Vernehmen bislang Unbekanntes und Unerkanntes zu Bewusstsein bringen. Zweifelsohne ist dieses bewusstseins- wie vernunfterweiternde Potential der Sinnlichkeit nicht dem Gehör allein gegeben. Auch der Blick und die anderen Sinne könnten dies leisten. Und doch haben die unterschiedlichen Verstellungen des Sehens und des Hörens historisch bedingt zu anderen Ausgangspositionen für ihre mögliche Emanzipation geführt. Deshalb ergreift Sonnemann im Streit um das Erkenntnispotential der verschiedenen Wahrnehmungsweisen Partei fürs Ohr. Transzendentale Akustik fabriziert damit jedoch kein neues Fundament der Sinnenlehre, nachdem das von ihr kritisierte der Anschauungsformen seine Brüchigkeit offenbart hat. Eher nimmt sie den antifundamentalistischen, anti-
73Wiederum
bezieht Sonnemann diese Überlegungen auf Rosenstock-Huessy, diesmal im Hinblick auf eine mögliche Parallele zum frühen Horkheimer. 74Die Unterscheidung von vorstellender und vernehmender Vernunft geht auf den hier mehrfach zitierten Aufsatz von Schweppenhäuser zurück, der wiederum an Überlegungen von Artur Schopenhauer aus Die Welt als Wille und Vorstellung anknüpft. – Was hier notwendigerweise im Charakter der andeutenden Bemerkung bleibt, wird indes im II. Teil dieser Studie vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung zwischen positivistischer und negativer Anthropologie noch ausgeführt werden.
Vermittlung hören
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dogmatischen Impuls der Vernunftkritik auf. Insofern teilt sie mit Kants Rede bezüglich der Anschauungsformen zwar die Idee, dass in Vernunft sensus und ratio zusammenkommen, doch bestreitet sie eine fixe Ausstattung des Menschen mit unwandelbaren Sinnes- wie Verstandesvermögen. Ihr geht es vielmehr um eine Kritik der Geschichte dieser Vermögen, nicht um eine Lehre von Invarianten. Das Ohr soll nicht die Herrschaft des Auges beenden, um sich als neuer Tyrann zu inthronisieren. Eine Rettung des Gehörs wäre zugleich eine Rettung des Blicks aus seiner eigenen Verstelltheit, ja „Rehabilitierung des menschlichen Sensoriums im ganzen“.75 Doch nicht nur die Sinnesausstattung bietet der Transzendentalen Akustik kein Fundament. Nicht einmal Zeit oder Raum sind, so verstanden, bloße Invarianten, da sie keine reinen Formen darstellen, sondern stets mit Inhalten vermittelt sind, die – wie die Form selbst – historischem Wandel unterliegen. Und doch bestreitet Sonnemann nicht jedwedes Transzendentale an Zeit oder Raum, als ob sie sich in ihren jeweiligen historischen Erscheinungsweisen erschöpften. Auch eine nichtlineare (oder besser: mehr als lineare) Zeitvorstellung bedarf eines formalen, insofern transzendentalen Momentes. Nur wäre dieses komplexer gedacht, enthielte neben der linearen Modalität weitere, nichtlineare Modalitäten, wie sie ja im Übrigen auch die Kritik der reinen Vernunft, beispielsweise in der Begründung des Satzes von der Beharrlichkeit, kennt. Expliziter als bei Kant indes wird solch ein mehrdimensionales Modell, auch und gerade in seiner Akustik, von einer anderen Referenz der Philosophiegeschichte behandelt. Höchste Zeit also, sich einer Konzeption derselben zuzuwenden, die einer allzu einfachen Lineatur entwischt …
75Sonnemann:
„Das sedierte Sensorium“, S. 18.
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Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit Zeit als Anhörungsform bei Augustinus
„Die Philosophen begehen zwei Kardinalirrtümer; sie fassen das Wesen der Zeit und des Ichs viel zu einfach […]. Die Zeit ist zumindest eine Fläche, keine Linie; am Tage ist der Geist wie ein Schiffer auf einem Fluß, und der Nachen treibt; im Traum, zur Nacht, kann er aussteigen und über die Fläche des Zeitstromes dahinschweifen – das Bild ist nicht schlecht (Zukunftsschau; freier Wille usw.); nun – noch viel zu forschen.“ (Arno Schmidt: Enthymesis, zitiert nach: Traumflausn, S. 87.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_2
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Zur Erinnerung: Sonnemann stellt sowohl die Newtonsche Vorstellung einer gleichmäßig verstreichenden Zeit als auch die Kantische einer (vermeintlich) strikt linear verlaufenden infrage. An letzterer soll zuvorderst der Charakter von Monodirektionalität, des in-eine-Richtung-Laufens, bezweifelt sein. Zu befragen ist die Zeiterfahrung entsprechend nun danach, ob ihr Zugrundeliegendes, Zeit, nicht auch in anderen Bewegungsmodi ablaufe als dem des Strahls, der zielgerichtet aus der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft führt. Sonnemann insistiert: „Zeit ist Übergang oder ist Nichts; ist sie aber (und also Übergang), so kann es auch nur an ihr sein, uns mitzuteilen, ob dies ihr Übergehen ‚isotropisch‘ ist oder sich in einer Richtung bewegt“ (ZiA, 297). Lässt sich also eine Beschreibung von Zeit ausfindig machen, die isotropischen – ergo richtungsunabhängigen – Charakter aufweist? Solchermaßen, dass sie über alle Register von Bewegung verfügt: nicht bloß fortschreitet, sondern auch zurückgeht; sich ebenso ausdehnt wie auch kontrahiert; zuweilen abseitige Wege einschlägt, statt immer nur einer geraden Linie zu folgen; ja aus vorherbestimmten Bahnen ausbricht? Erneut ist es eine geradezu beiläufig daherkommende Nebenbemerkung in „Zeit ist Anhörungsform“, die eine erweiterte Perspektive auf den Komplex von Zeiterfahrung und auditiver Wahrnehmung eröffnet. Sie enthält einen Gedanken in konzentriertester Form, den es zu entfalten gilt, um die Tragweite des Sonnemannschen Projektes ermessen zu können. Die Bemerkung lautet: „In der Tat blieb Augustin – dessen radikale Frage die Zeit gerade in dieser ihrer innersten Zelle eines Jetzt aufsucht, das nur als ein Übergehen begreiflich wird, da es, zwischen Erinnerung und Erwartung gespannt, gegen seine eigene Nichtausdehnung als Punktualität, sich zur Dauer dehnt – das perennische philosophische Gegenmodell zur Erfahrungsvergessenheit der beharrlichen Zeitverkennung“. (ZiA, 297)
Punktualität versus Linearität Schon der eingangs zitierte Hinweis auf den genuin zeitlichen Modus des Übergangs betritt Augustinischen Boden, genauer das XI. Buch der Confessiones (Bekenntnisse) des Augustinus von Hippo, welches den Eigentümlichkeiten der Zeit nachforscht. Behandelt wird dort nicht zuletzt die Frage, welche Berechtigung die grundlegende Annahme einer zeitlichen Trinität besitzt, sprich: die Dreiheit der Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Den Betrachtungen des Augustinus gerät dabei die gewohnheitsmäßige Rede über diese Tempora zum Problem. Denn mit welchem Recht lässt sich etwa von der Zeitform ‚Vergangenheit‘ sprechen, wenn für diese doch gerade kennzeichnend ist, dass sie ein Zeitliches bezeichnen soll, das nicht mehr existiert, also nicht ist und damit in diesem Sinne nichtig? Ähnliches aber – gleichsam spiegelverkehrt – gilt für ‚Zukunft‘, die ein Zeitliches meint, das noch nicht ist und ebenso nichtig. Besonders brisant wird die Fraglichkeit der drei Zeiten nun, weil auch die mittlere der Zeiten – ‚Gegenwart‘, von der man doch behaupten würde, dass wenigstens sie Wirklichkeit besitzt, da sie in der Zeit aktual Gegebenes bedeutet – ebenso wenig skrupellos
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in den Mund genommen werden kann: Gegenwart gibt es nur im Übergang von Zukunft in Vergangenheit. Wäre dem nicht so, dann wäre Gegenwart der Zeit enthoben, da letztere stets „dem Nichtsein zuflieht“; dann aber wäre Gegenwart „nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit“.1 So muss denn das Gegenwärtige zusammenschrumpfen zu ebenjener „Punktualität“ und „Nichtausdehnung“ (ZiA, 297), auf welche Sonnemanns Bemerkung bereits zu sprechen kam: ein Augenblick, der zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verschwinden droht.2 Zerrinnt in solchen Bestimmungen Zeit nicht zu einem bloßen Nichts? Zwar definiert Augustinus das Wesen der Zeit durchaus als ein Streben zum Nichtsein. Doch meint dies – trotz berechtigter Zweifel an der gewohnten Rede über die Gewissheit der drei Zeitformen – gerade nicht die Nichtigkeit von Zeit schlechthin; vielmehr deren Tendenz zur Vergänglichkeit. Alles, was in der Zeit ist, ist endlich. Das aber macht Zeit noch lange nicht zu einem einzigen Ablauf von Vergängnis. Im Gegenteil, die Erörterung der Schwierigkeiten bei der Bestimmung dessen, was Zeit sei, führen zu einem mehrdimensionalen Modell derselben: Wenn von Vergangenem und Zukünftigem als etwas Wirklichem (das einmal war oder sein wird) und insofern von den Zeitformen ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘ mit einer gewissen Berechtigung die Rede sein soll, dann können jene nur im Vergegenwärtigen einen Bestand haben. Die Vergegenwärtigung ist insofern derjenige Punkt, an dem die Zeit im Augenblick innehält, auch wenn sie zugleich weiterläuft. Zwar kommt der beständige Fluss der Zeit an keinem Punkt zum Erliegen. Und doch sind bestimmte zeitliche Momente dem bloßen Dahinschwinden enthoben. Für diese Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem spielt das Erinnerungsvermögen eine entscheidende Rolle. Die Wirklichkeit des Vergangenen etwa zeigt sich für Augustin darin, dass man wahrheitsgemäß über dieses Vergangene
1„Duo ergo illa tempora, praeteritum et futurum, quomodo sunt, quando et praeteritum iam non est et futurum nondum est? Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transiret, non iam esset tempus, sed aeternitas. Si ergo praesens, ut tempus sit, ideo fit, quia in praeteritum transit, quomodo et hoc esse dicimus, cui causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut scilicet non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse?“ – „Diese beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ‚ist‘, das Zukünftige noch nicht ‚ist‘? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur dadurch zu Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann auch nur von der Gegenwartszeit sagen, daß sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, daß sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht.“ Augustinus: Confessiones, XI, 14.17; Übers. Bernhart, S. 629. 2„Si quid intellegitur temporis, quod in nullas iam vel minutissimas momentorum partes dividi possit, id solum est, quod praesens dicatur; quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transvolat, ut nulla morula extendatur. Nam si extenditur, dividitur in praeteritum et futurum: praesens autem nullum habet spatium.“ – „Könnte man irgendwas von Zeit sich vorstellen, so winzig, daß es gar nicht mehr sich teilen läßt, auch nicht in Splitter von Augenblicken: solche Zeit allein wäre es, die man ‚gegenwärtig‘ nennen dürfte; sie aber fliegt so reißend schnell von Künftig zu Vergangen, daß auch nicht ein Weilchen Dauer sich dehnt. Denn sowie sie sich ausdehnt, zerfällt sie schon wieder in Vergangenheit und Zukunft; aber als Gegenwart ist sie ohne Ausdehnung.“ Augustinus: Confessiones, XI, 15.20; Übers. Bernhart, S. 633.
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sprechen kann, es in der Erzählung mithin vergegenwärtigt. Damit aber ist das Vergangene nicht bloß vergangen, als Erinnertes hat es zugleich in der Gegenwart seine Wirklichkeit, die nun eine geistige und sprachliche ist.3 Auch diese Zeittheorie kann, wie die Kantische, in gewisser Weise als ein transzendentales Projekt gedeutet werden. Transzendental ist hier die Struktur der Erinnerung, die intramentale Bedingung der Möglichkeit von Zeiterfahrung. Ebenso transzendental ist die Vergegenwärtigung, ohne die alles bloßes Dahinfließen wäre, nicht eigentlich Zeit, die sich ihrem Begriff nach in jene drei verschiedenen Zeiten zergliedert. Es ist dabei die Erinnerung (memoria) als Kraft des Geistes bzw. der Seele (anima), welche die verschiedenen Dimensionen von Zeit zu vermitteln vermag.4 In Kantischer Terminologie ausgedrückt wäre dieses wiederum die Subjektivität von Zeit, die jeder Erfahrung und Wahrnehmung von konkreten Zeiterscheinungen notwendigerweise und a priori vorausgesetzt ist. Schließlich bedarf es auch hier eines Begriffes und einer sinnlichen Vorstellung von Zeit schlechthin, um über die Einzelzeiten reden zu können. Die Hauptsache für unsere Suche nach einer sich nicht in blanker Linearität erstreckenden Zeit ist nun die Eigenschaft der Mehrdimensionalität, die Zeit bei Augustin gewinnt. Eine Mehrdimensionalität, die in gewisser Weise eine nicht auflösbare „Antinomie im Innern der Zeit“ bedeutet.5 Zeit ist zwar permanenter Fluss und insofern durchaus im Modus des Strahls oder des Ziehens einer Linie vorstellbar. Dieser gleichermaßen objektive Charakter von Zeit (ihre Realität) wird aber erst erkenn- und erfahrbar, wenn Erfahrung und Erkenntnis nicht gänzlich in
3„Quamquam
praeterita cum vera narrantur, ex memoria proferuntur non res ipsae, quae praeterierunt, sed verba concepta ex imaginibus earum, quae in animo velut vestigia per sensus praetereundo fixerunt.“ – „Freilich werden, wenn man Vergangenes der Wahrheit getreu erzählt, nicht die Wirklichkeiten selbst hervorgeholt, die nun einmal vergangen sind, sondern nur Worte, geschöpft aus Bildern, die im Geiste, als sie durch unsere Sinne hindurchzogen, gleichsam Spuren eingedrückt haben.“ Augustinus: Confessiones, XI, 18.23; Übers. Bernhart, S. 637. 4Siehe hierzu die einschlägige Interpretation der Augustinischen Zeittheorie durch Johann Kreuzer: „Im Augenblick der Erinnerung sind die Dimensionen der Zeit wie das Fließen der niemals stehenden Zeiten aufgehoben.“ Johann Kreuzer: Pulchritudo. Vom Erkennen Gottes bei Augustin, München 1995, S. 202. Und ebd., S. 203, heißt es: „In der Erinnerung ist beides: die Gegenwärtigkeit dieses Augenblicks und das Gedächtnis der niemals stehenden Zeiten. Die Erinnerung enthält beide Erfahrungsweisen von Zeit: die Flüchtigkeit der niemals stehenden Zeiten und den Augenblick der Gegenwärtigkeit, in dem sich alle ‚drei Zeiten‘ durchdringen und aus ihm hervorgehen.“ 5Johann Kreuzer: „Augenblick und Zeitraum. Zur Antinomie der Zeit“, in: Michael Kessler, Thomas Y. Levin (Hg.): Siegfried Kracauer. Neue Interpretationen, Tübingen 1990, S. 159–170, hier S. 159. Kreuzer zeigt im zitierten Aufsatz, dass auch in Siegfried Kracauers Geschichtsphilosophie ganz entscheidende Bezüge zur Zeitkonzeption der Augustinischen Confessiones angelegt sind. Ähnlich wie Sonnemann geht es auch Kracauer um ein komplexes Zeitverständnis, das überhaupt erst Potentiale menschlicher Freiheit denken lässt. Auch deshalb bleibt die Antinomie zwischen den verschiedenen Zeitebenen unaufgelöst. Kreuzer folgert entsprechend: „Will man im Verständnis von Zeit Eindeutigkeit bewerkstelligen, wird man immer auf die Antinomie im Innern der Zeit stoßen, die sich jedem Versuch verschließt, sie einem zeitübergreifenden Gesetzt zu subordinieren.“ Ebd., S. 169.
Anschauung oder Aufmerksamkeit?
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das Verfließen der Zeit integriert sind, sich vielmehr in anderen Zeitmodalitäten bewegen: Vergegenwärtigung, augenblickhaftes Innehalten oder gar Vor- und Zurückspringen. Mehrdimensional ist Zeit dann nicht erst auf der materialen Ebene beispielsweise der konkreten Erinnerungsgehalte, sondern bereits logisch: Wenn ‚Vergangenheit‘ nicht bloßes Nichts, vielmehr jetzt-nicht-mehr-Seiendes, ‚Zukunft‘ jetzt-noch-nicht-Seiendes und ‚Gegenwart‘ trotz gnadenloser Flüchtigkeit von Zeit überhaupt etwas jetzt-Seiendes bezeichnen können soll, dann muss in der Bewegung der Flüchtigkeit schon die Gegenbewegung des Innehaltens mitgedacht sein. Anders gesagt: als für-sich-Seiende existieren die Inhalte der drei Zeiten ‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ nicht, sondern nur in ihrer jeweiligen Vergegenwärtigung, in der aktualen Bezugnahme auf kommende Zeit, momentane Zeit und vergangene Zeit. Dass der Zeitstrahl sich also aufteilt in die Teilstrecken ‚Vergangenheit‘ und ‚Zukunft‘, die sich im Punkt von ‚Gegenwart‘ berühren, ist keine aus einer scheinbar fundamentalen Linearität von Zeit deduzierbare Sekundäreigenschaft, sondern eine andere Dimension von Zeit, ohne die aber die Dimension der Linearität gar nicht erkennbar wäre. Augustinus schreibt entsprechend: „Im strengen Sinne müsste man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, die Gegenwart von Vergangenem, die Gegenwart von Gegenwärtigem und die Gegenwart von Zukünftigem. Denn diese drei sind in der Seele [anima] in einem gewissen Sinne, und anderswo finde ich sie nicht: die Gegenwart des Vergangenen als Erinnern [memoria], die Gegenwart des Gegenwärtigen als Anschauen [contuitus], die Gegenwart des Zukünftigen als Erwarten [expectatio].“6
Erinnerung und Erwartung, die bereits in Sonnemanns knapper Bemerkung zur Augustinischen Zeitphilosophie Erwähnung fanden, sind also die Modi der Vergegenwärtigung von Vergangenem und Zukünftigem. Zwischen sie ist das Jetzt in seiner augenblickhaften Punktualität gespannt.
Anschauung oder Aufmerksamkeit? Das aufmerksame Ohr muss hier stutzen, hellhörig werden: hatte Sonnemann doch die Transzendentale Ästhetik Kants qua Anschauung dem Bereich der Okulartyrannis zugeordnet. Und nun verwendet ausgerechnet Augustinus, der nachgerade das Gegenmodell zur Verkennung der Zeit als Anschauungsform präsentieren soll,
6„sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. sunt enim haec in anima tria quaedam, et alibi ea non video praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio.“ Augustinus: Confessiones XI, 20.26; hier in der Übersetzung von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch, Stuttgart 2009, S. 599. Ersichtlich wird in dieser Formulierung, dass Augustinus nicht streng unterscheidet zwischen den Zeitformen einerseits und den zeitlichen Inhalten derselben andererseits; vgl. Kreuzer: Pulchritudo, S. 174. Für unsere Überlegungen allerdings ist dieser Punkt vernachlässigbar und sei hier deshalb nicht weiter ausgeführt.
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2 Erinnerung, Erwartung und Aufmerksamkeit
ein ganz ähnliches Vokabular; zu allem Verdruss auch noch an entscheidender Stelle, da ja der Struktur nach Vergegenwärtigung, die hier mit der Metapher des augenblicklichen Anschauens (contuitus) beschrieben wird, zugleich für alle drei Zeiten gelten soll. Abmildernd könnte man hier zwar einwenden, dass – wie oben ausgeführt – nicht Sehen per se zu verdammen sei, es auch Formen eines nichtverdinglichenden Blickens gibt. Tatsächlich meint ja gerade die Rede vom Augenblick eine genuin zeitliche Weise des Sehens, die einer instrumentellen Tendenz zum inventarisierenden Tatsachensehens zuwiderläuft.7 Außerdem ließe sich auch noch auf eine Übersetzungsschwierigkeit hinweisen: das lateinische contuitus kann als ‚in Augenscheinnahme‘ und ‚Anschauung‘ gelesen werden, aber auch als ‚Betrachtung‘; in dieser Reihenfolge werden die übersetzenden Begriffe immer abstrakter, weniger unmittelbar sinnlich-optisch, dafür zunehmend metaphorisch. Die Übersetzung als ‚Anschauen‘ stellt insofern womöglich eine Vereindeutigung des vieldeutigen lateinischen Wortes zugunsten der optischen Bedeutungsebene dar. Und dennoch: zumindest in seiner deutschen Übersetzung bleibt das contuitus (von tueor) selbst als ‚Betrachtung‘ noch dem Auge verhaftet.8 Angesichts der nicht ausgedehnten Punktualität der Gegenwart muss dies jedoch fragwürdig erscheinen: Wie soll – mit Johann Kreuzers Augustinus-Interpretation gefragt – sich etwas beschauen lassen, das keine Ausdehnung hat?9 Gleichwohl kennt Augustin für die hier zur Rede stehende Erfahrungsweise noch eine andere Begrifflichkeit, die den Blick zwar einbezieht, jedoch weit darüber hinaus geht, indem sie auf Wahrnehmungsfähigkeit insgesamt abstellt. So wird in einem anderen Passus im XI. Buch der Confessiones die oben dargestellte Reihe memoria – contuitus – expectatio variiert. Zeiterfahrung verdankt sich demnach den folgenden drei Tätigkeiten des Geistes:
7Zu
diesem Potential des Sehens, das etwa auch in Adornos Ästhetischer Theorie anzutreffen ist, siehe Eusterschulte: „Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst“, S. 225–234. 8„betrachten […] ist eine Verstärkung des einfachen trachten […] und bedeutet zunächst wie dieses ‚erwägen‘. In frühneuhochdeutscher Zeit kommt es als ‚beim Anschauen erwägen‘ zu der heutigen Bedeutung.“ Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, ern. von Elmar Seebold, Berlin 221989, S. 80. – Dass die optische Konnotation der Begrifflichkeit bei Augustinus kein Zufall sein dürfte, ließe sich womöglich mit der Augustinischen Metaphysik des Sehens begründen. Denn auch bei Augustinus spielt die Metaphorik des Lichts für erkenntnistheoretische Zusammenhänge eine entscheidende Rolle; vgl. Anne Eusterschulte: „‚Verbum quod intus lucet‘ – Zur Theorie der Illumination bei Augustinus“, in: Almut-Barbara Regner (Hg.): Erleuchtung. Kultur- und Religionsgeschichte eines Begriffs, Freiburg 2016, S. 73–92; sowie Johann Kreuzer: „Was heißt es, sich als Bild zu verstehen? Von Augustinus zu Eckhart“, in: Johannes Grave, Arno Schubbach (Hg.): Denken mit dem Bild, München 2010, S. 75–96, insb. S. 79–85. 9Vgl. Kreuzer, Pulchritudo, S. 189: „Die Schwachstellen dieser Folgerungskette […] sind das ‚Erblicken des Gegenwärtigen‘ und das ‚Erwarten des Zukünftigen‘. Mit Augustin gefragt: Wie soll ‚erblickt‘ werden können, was keine Ausdehnung hat – wie soll (erwartend) ‚gesehen‘ werden können, was noch nicht ist?“
Anschauung oder Aufmerksamkeit?
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„Er erwartet [expectat], er erfasst aufmerksam ein Gegenwärtiges [attendit], er erinnert sich [meminit]. So kann das, was er erwartet, auf dem Weg über das, worauf er als ein Gegenwärtiges achtet [attendit], übergehen in das, woran er sich erinnert“.10
Es ist vor allem anderen jene gerichtete und wahrnehmende Aufmerksamkeit, attentio, die dem Fließen der Zeit entgegensteht, auch wenn sie selbst solchermaßen in den steten Fluss der Zeit integriert ist: „Und wer leugnet, daß die gegenwärtige Zeit der Dauer entbehre, weil sie nur ein unteilbarer Punkt ist? Aber doch währt die Wahrnehmung [attentio], durch welche das, was vergangen ist, zu sein fortfährt.“11
Anstelle von einer (der Anschauung verwandten) Konzeption des contuitus wäre sehr viel eindringlicher von der attentio, der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, für Sonnemanns Projekt einer transzendentalen Akustik Klärung über das Verhältnis von Zeitwahrnehmung und auditiver Erfahrung zu erhoffen.12 Gerade an akustischen Phänomenen, deren Flüchtigkeit gegenüber den relativ beharrlichen optischen frappiert, wird das Problem der Zeit eminent: Mit welchem Recht etwa ließe sich behaupten, ein akustischer Zusammenhang würde als ganzer, gegenwärtiger und beständiger wahrgenommen, wo doch der Schall stets im Durchgang der akustischen Reize wieder verschwindet? Dennoch sind es für Sonnemann, wir erinnern uns, gerade akustische Phänomene, die nicht trotz als vielmehr dank ihrer Flüchtigkeit komplexe Gestalten wahrnehmbar und denkbar machen. Der
10„Nam
et expectat et attendit et meminit, ut id quod expectat per id quod attendit transeat in id quod meminerit.“ Augustinus: Confessiones XI, 28.37; Übers. Flasch und Mojsisch, S. 617. 11„Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tamen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit.“ Augustinus: Confessiones XI, 28.37; Übers. Flasch und Mojsisch, S. 617. 12Es würde den Rahmen vorliegender Arbeit sprengen, die komplexe Funktion der attentio bei Augustinus erschöpfend darzustellen. Mindestens aber sei darauf hingewiesen, dass die hier dargestellte Terminologie der Zeiterfahrung keineswegs vollständig ist. In den Confessiones und vor allem in De musica wird – andeutend und verkürzt gesagt – die Bewusstseinsleistung der dauernden Aufmerksamkeit (= attentio) durch die punktuelle Aufmerksamkeit (= intentio) ergänzt; aus dem Wesensunterschied dieser beiden Aufmerksamkeiten resultiert die spezifische Zeitlichkeit des Geistes, der eben keine ausgedehnte, andauernde Gegenwart besitzt, sondern sich selbst permanent vergegenwärtigen muss. Vgl. Silke Wulf: Zeit der Musik. Vom Hören der Wahrheit in Augustinus’ ‚De musica‘, München 2013, S. 118–126. Die unterschiedlichen Modalitäten von solcher Gerichtetheit (tentio) werden dann später in Husserls phänomenologischer Zeittheorie eine entscheidende Rolle spielen, etwa in Kategorien wie ‚Retention‘ und ‚Protention‘; vgl. Edmund Husserl: Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917), hg. von Rudolf Bernet, Hamburg 1985. Siehe hierzu auch Thorsten Streubel: Das Wesen der Zeit. Zeit und Bewußtsein bei Augustinus, Kant und Husserl, Würzburg 2006, S. 201: „Zeit entspringt ausschließlich dem Retinieren von Urempfindungen. Zeit als Form ist zudem nur als inhaltlich erfüllte Zeit möglich. Ebenfalls invariabel ist die allgemeine Struktur der Zeit als iteratives System von Retentionen und Protentionen. Schließlich ist Zeit als bleibende Gegenwart nur als sich in sich selbst verzeitlichende denkbar.“ Auch Kreuzer verweist vielfach auf Strukturähnlichkeiten zwischen den Zeittheorien bei Augustinus und Husserl; vgl. Kreuzer: Pulchritudo.
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bereits genannte, gegen Kant gerichtete Einwand Sonnemanns – „daß sämtliche Phänomene, in denen [Zeit] sich selber gliedert und artikuliert, […] rhythmischakustische sind, die ihrer Bestimmung als Anschauungsform spotten“ (ZiA, 286) – lässt sich hier noch einmal zitieren; jetzt aber zwecks Interpretation der Augustinischen Reflexion über die Zeit: „Alle Sprache, alle Musik, aller Rhythmus, alle Verständigung qua Vernunft […], das Vernehmenkönnen ist ein Zuhörenkönnen, wenden sich ans Ohr, nicht ans Auge.“ (ZiA, 286)
Musikalische Zeiterfahrung Aufmerksamkeit als vernünftiges Zuhörenkönnen: hier deutet sich ein semantisches Feld an, dass sich aus verschiedenen Nuancen des Wortes ‚Hören‘ und ihm nächst verwandten Wörtern konstituiert. ‚Aufmerken‘ ließe sich in auditiver Hinsicht als plötzliches, abruptes, gleichsam augenblickliches Hinhören beschreiben, insofern als ein Aufhorchen. Statt von ‚Aufhorchen‘ ließe sich derweil auch von ‚Aufhören‘ sprechen, was nun aber doppelsinnig ist, weil es neben einem auditiven Verhalten auch ‚Innehalten‘ bedeuten kann. Dieses innehaltende Aufhören ist aber zugleich Tätigkeit des auditiven: ‚Aufhören‘ im Sinne von ‚Aufhorchen‘ bedeute ein unterbrechendes, intermittierendes, möglicherweise unvorbereitetes und insofern spontanes Hinhören. In (hörender) Aufmerksamkeit widersetzt sich eine Wahrnehmung dem linearen zeitlichen Fluss, lässt keineswegs ungerichtet die Sinnesreize gleichgültig passieren, verfängt sich vielmehr an etwas Bestimmtem, konzentriert sich, merkt eben auf, steht also quer zur linearen Zeit, hält inne. Erst solches Innehalten aber kann zum Verstehen führen, weil nur das, was Aufmerksamkeit gewinnt, zu Bewusstsein gebracht und damit der Vernunft und ihrer Spontaneität zugänglich werden kann. Anders gesagt: einen intelligiblen Zusammenhang, der sich etwa in einer Sprachäußerung oder in einer musikalischen Gestalt kundtut, kann ich nur dann intellektuell verstehen, wenn ich ihn auch akustisch verstehe: „das Vernehmenkönnen ist ein Zuhörenkönnen“ (ZiA, 286). Kaum dürfte es mithin Zufall sein, dass Augustinus in den Textpassagen, wo er das Problem der Zeit an spezifischen Erscheinungsweisen derselben zu verdeutlichen sucht, auf sich akustisch artikulierende Zeitgestaltung in sprachlichen und musikalischen (also sprachverwandten) Phänomenen zurückkommt. So hat das Übersetzten von Erfahrungen in Sprache, das Erzählen, eine tragende Bedeutung für Augustinus’ Zeittheorie.13 Ein hochkomplexer Vorgang: Einerseits dient die Erzählung ja gerade der Vergegenwärtigung eines Vergangenen und ist insofern Gegenbewegung zum Verfließen der Zeit; andererseits ist jede Erzählung selbst
13Vgl.
Kreuzer: Pulchritudo, S. 185. Zur eminenten Bedeutung der Musik für Augustinus’ Zeittheorie siehe noch einmal das einschlägige Buch von Wulf: Zeit der Musik.
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nur in der Zeit zu bewerkstelligen, muss sich also noch in ihrer Gegenbewegung dem Fließen anvertrauen. Die Punktualität der Vergegenwärtigung dehnt sich zur Wahrnehmung gestalteter Zeit erst dann, wenn Erinnerung und Erwartung zum aufmerksamen Vernehmen des aktual sich Verlautbarenden hinzutreten. Ein bedeutungstragender (sprachlicher) Laut erklingt — und verklingt sogleich wieder, entsinnlicht also, muss aber als entsinnlichter noch erinnernd aufgehoben und in Beziehung zum noch-nicht-Erklungenen gesetzt werden, um die Bedeutung in Gänze erfassen zu können.14 Ganz in diesem Sinne stellt Augustinus die zuletzt geschilderte Reihe expectatio – attentio – memoria dar, indem er sie dem Singen eines Liedes zugrunde legt und zugleich durch diese Analogie die Eigenheit von Zeit zu beschreiben sucht: „Ich will ein Lied vortragen, das ich auswendig kann. Bevor ich beginne, richtet sich meine Erwartung auf das Ganze. Habe ich damit begonnen, dann richtet sich mein Gedächtnis auf den Teil, den ich zum Vergangenen hinübergelegt habe. Das Leben dieser meiner Tätigkeit spaltet sich dann auf in die Erinnerung an das bereits von mir Vorgetragene und in die Erwartung dessen, was ich noch vortragen werde. Was in der Gegenwart lebt, ist meine Aufmerksamkeit: Was zukünftig war, wird durch sie hindurch hinübergebracht, dass es so das Vergangene werde. Je mehr sie tätig ist, umso mehr vermindert sich die Erwartung und verlängert sich die Erinnerung. Kommt die ganze Tätigkeit zu Ende, ist die ganze Erwartung verbraucht und in die Erinnerung eingetreten. Was so mit dem ganzen Lied geschieht, das wiederholt sich mit seinen einzelnen Abschnitten und mit seinen einzelnen Silben. Dasselbe wiederholt sich in einer längeren Tätigkeit, von der dieses Lied vielleicht eine Art Abschnitt ist; es wiederholt sich im ganzen Leben eines Menschen, dessen Teile alle Handlungen dieses Menschen sind. Es wiederholt sich in der ganzen Menschheitsgeschichte [saeculum], deren Teile alle Menschenleben bilden.“15
Sich in der Zeit gestaltende und verändernde Sprache oder Musik zu hören bedeutet: gleichermaßen aufmerksam, erinnernd wie erwartend zu hören, sinnlich und unsinnlich (weil nicht-mehr-sinnlich) zugleich. Die Erwartung, die Augustinus hier beschreibt, ist dabei die eines schon Gewussten (es handelt sich ja um ein Lied, ‚quod novi‘, das ich bereits kenne); tatsächlich also ein in die Zukunft verlagertes Erinnern. Daher trifft die Struktur, die Augustinus beschreibt, streng genommen nur solche Fälle, in denen bereits bekannte sprachliche oder
14Aus
ähnlichem Grunde verwendet Hegel für seine Theorie des spekulativen Satzes den er- und verklingenden Laut als Analogon; vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 43 f. (Vorrede, Absatz Nr. 61). 15„Dicturus sum canticum, quod novi: antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tenditur et memoria mea, atque distenditur vita huius actionis meae, in memoriam propter quod dixi, et in exp ectationem propter quod dicturus sum: praesens tamen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum. quod quanto magis agitur et agitur, tanto breviata expectatione prolongatur memoria, donec tota expectatio consumatur, quum tota illa actio finita transierit in memoriam. et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis eius, fit atque in singulis syllabis eius, hoc in actione longiore, cuius forte particula est illud canticum, hoc in tota vita hominis, cuius partes sunt omnes actiones hominis, hoc in toto saeculo filiorum hominum, cuius partes sunt omnes vitae hominum.“ Augustinus: Confessiones, XI, 28.38; Übers. Flasch und Mojsisch, S. 619 f.
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musikalische Gestalten, eine Abfolge von Versen oder eine Melodie etwa, vorgetragen resp. gehört werden. Nur wenn ich das Lied kenne, kann ich seinen Fortgang in der Zeit genauestens antizipieren, mithin das Vergangene und Gegenwärtige nach der hier beschriebenen Weise ins Verhältnis zum Kommenden setzen. Doch ließe sich der Begriff der Erwartung auch über den Fall des Auswendigen hinaus recht zwanglos ausdehnen. Sonnemann zumindest scheint daran gelegen, wenn er (offenkundig von Augustinus inspiriert) nicht die Reihe „Früher–gleichzeitig–später“, sondern „Noch nicht-jetzt-nicht mehr“ (ZiA, 297) als die für Zeiterfahrung grundlegendere reklamiert. Im ‚noch nicht‘ ist handgreiflich die Erwartung eines Möglichen und Kommenden impliziert, die sich im ‚jetzt‘ erfüllt, weswegen bei der zweiten Reihe ein spannungsgeladener Tonfall förmlich in der Luft liegt, wohingegen die erste eher nach neutralem Verlauf klingt.16 In einem gewissen, möglicherweise übertragenen Sinne rührt das Modell vom auswendig gekannten Lied damit jedenfalls an eine grundsätzliche Eigenschaft von Sprache wie Musik: ihr ambivalentes Verhältnis zur Konvention.17 Um etwas durch Sprache angemessen zum Ausdruck bringen zu können, muss ich zunächst über die sprachlichen Mittel hierzu verfügen, die Sprache beherrschen. Das aber bedeutet zugleich eine gewisse Form von Unterordnung – unter die grammatikalischen, orthographischen, syntaktischen und semantischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten der Sprache genauso wie unter den konventionellen Bestand ihres Wortschatzes und ihres Ausdrucksgefüges. Freilich ist diese Form von Unterordnung überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit von sprachlicher Autonomie, hat ihren Sinn also allein in der Befähigung dazu, sich durch die Sprache frei bewegen zu können – und damit gegebenenfalls auch über ihre konventionellen Grenzen hinaus die Sprache zu erweitern.18 Zu einem guten Teil vollzieht notwendigerweise jedes erwartende Hören sprachlicher Verlautbarungen diesen Akt der Subordination, wobei Ziel solcher ‚Unterordnung‘ freilich die Aneignung sprachlicher Möglichkeiten ist: Wenn ich davon ausgehe, dass in einer sprachlichen Äußerung ein (grammatischer, syntaktischer, semantischer) Sinn gegeben ist, dann muss ich einen Teil dieses Sinns durch mein Wissen um die Konvention im Hören schon vorwegnehmen, sofern ich nicht hoffnungslos im Strom akustischer Reize verloren sein will. Und dies gilt in ganz ähnlicher Weise auch vom musikalischen Hören: Wenn ich hörend davon ausgehe, dass das, was ich da höre, nicht bloße Geräusche sind, sondern organisiertes
16In
ähnlicher, allerdings logisch-ontologischer Weise bezieht sich Ernst Bloch auf jenes ‚Noch nicht‘; vgl. Bloch: Tübinger Einleitung, S. 212–242 (= Ontologie des Noch-Nicht-Seins). 17Einige Überlegungen aus diesem und dem folgenden Absatz sind bereits veröffentlicht, allerdings unter einer stärker musikästhetischen Perspektive; vgl. Martin Mettin: „Musik als Ereignis? Versuch zur ästhetischen Reflexion eines kritischen Begriffs“, in: Arbeitskreis kritischer Musikwissenschaftler*innen (Hg.): Don’t think positive. Zur Kritik des Positivismus in der Musikwissenschaft, Hofheim 2018, S. 107–122. 18Dass dieses Sprachverständnis auch der Kritischen Theorie Adornos zu eigen ist, hat etwa Philip Hogh gezeigt; vgl. ders.: Kommunikation und Ausdruck. Sprachphilosophie nach Adorno, Weilerswist 2015, S. 48–65.
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Klang- und Tonmaterial, mithin Musik, dann muss ich auch im Hören bestimmte musikalische Konventionen vorwegnehmen. Wie Sprache besteht auch Musik aus einem komplexen Geflecht an Formen, syntaktischen Regeln, konventionellen Inhalten et cetera. Nicht die ganze musikalische Struktur eines Werkes mit ihren diversen Dimensionen muss dabei stets hörend nachvollzogen, zumindest jedoch ein größerer Zusammenhang als der des punktuell Erklingenden ‚mitgehört‘ werden. Doch ist das bloß konventionelle Hören gefangen im reinen Schematismus: Wäre das zu Hörende vollends bekannt (mithin die Erwartung perfekt, abgeschlossen), so käme der innere Anspruch weder von Musik noch von Sprache zur Geltung. Dieser besteht gerade darin, Neuartiges ausdrücken zu können statt lediglich den Kanon fertiger Inhalte in unwandelbaren Formen zu reproduzieren.19 Wenn aber Sprache wie Musik – durch das Mittel der Konvention hindurch, damit zugleich mit dieser brechend – bis dato Unerhörtes zum Ausdruck bringen wollen, dann bedürfen sie auf der rezeptiven Seite eines ebenso unkonventionellen Hörens. Eines solchen also, das nicht in der Erwartung des stets schon Bekannten heimisch wird. Soll die Augustinische Zeitphilosophie mit ihrem Modell erwartenden, aufmerksamen und erinnernden Hörens also Anleihen geben für Sonnemanns Transzendentale Akustik, so kann sie dies nur in der hier vorgeschlagenen Deutung von ‚Erwartung‘: Das Hören richtete dann seine gespannte Aufmerksamkeit nicht darauf, seine feststehenden Annahmen von der Welt wieder und wieder bestätigen zu lassen, als ließe es sich die (akustisch vernehmbare) „Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen wie einen Rosenkranz“20 – um dann die Kette der Gewordenheiten auch noch der Zukunft aufzuzwingen.21 Vielmehr will es solcher Schicksalsgläubigkeit widerstehen, indem es sich in die Bruchstellen seiner eigenen Erwartungen begibt, der Welt als gewordenen die Möglichkeiten einer anderen abhört.22
Warum Zeitkritik? Nach durchschrittener Auseinandersetzung mit zwei Zeitmodellen – demjenigen aus Kants Kritik der reinen Vernunft und demjenigen aus Augustins Bekenntnisses – sei resümierend noch einmal darüber nachgedacht, welchen Sinn diese Überlegungen in Sonnemanns späten Texten haben. Auch, ob tatsächlich die beiden
19Zum
(musikalischen) Problem des vom kritischen Umgang mit den Konventionen strikt zu trennenden Konventionalismus’ siehe Seiwert: Beethoven-Szenarien, S. 106–123. 20Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 704. 21Vgl. Ulrich Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, in: Peter Bulthaup (Hg.): Materialien zu Benjamins ‚Thesen über den Begriff der Geschichte‘, Frankfurt a.M. 1975, S. 231–253, hier S. 249–252. 22Das ist Grundgedanke der Negativen Anthropologie Sonnemanns; insofern ist sie, ihrem Untertitel nach, „Vorstudie zur Sabotage des Schicksals“.
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Modelle derart alternativ sind, dass sie sich fundamental widersprechen oder gar wechselseitig ausschließen. Beides wiederum kulminiert in der Betrachtung von Linearität resp. Nichtlinearität der Zeit. Rein lineare Zeit gleicht für Sonnemann ereignislosem und kausalmechanischem Dahinfließen, bedeutet also einen Zustand, der keinerlei Freiheit kennt. Aus dieser Perspektive betritt dann die erkenntnistheoretische Frage nach dem Wesen von Zeit zugleich praxisrelevantes Terrain, namentlich das Gebiet der praktischen und politischen Philosophie. Entsprechend zahlreich sind die Grenzübertritte, die Sonnemanns späte Aufsätze hinsichtlich der Zeitfragen zwischen jenen (in der akademischen Landschaft gemeinhin recht streng getrennten) Bereichen vollziehen. Deutlicher als in „Zeit ist Anhörungsform“ formuliert Sonnemann etwa anlässlich eines Symposions zu Zeit und Politik 1991 in Berlin die Brisanz der Auseinandersetzung mit dem theoretischen Problem für die Praxis: „[W]o ein Verständnis von Zeit als newtonisch-kantischer Quasi-Raum vorherrscht, als ob, wie in dem eigentlichen [scil. Raum], die Dinge der Welt und sogar die Menschen in die Zeit bloß hineingestellt wären, sie von einem jeweiligen Noch nicht zum Nicht mehr bloß an ihnen vorbeiliefe, sind sie auch ihrer Negationsmacht ohne eine Möglichkeit des Widerstands ausgeliefert, die über die der Berechnung, je terminkalendarischen Planung hinausginge; im Effekt eines Ausgehens – nämlich vorverfügenden für gewährleistet Nehmens, tangential verfahrenden Extrapolierens, das dann freilich seine Pleiten erlebt und sie, was sich begreifen läßt, nicht begreifen kann – vom jeweils Gegebenen, als ob es nicht selbst in Bewegung wäre: schon Augustin, elftes Buch der Confessiones, wußte es besser. Insofern fällt die ganze Neuzeit, nicht Descartes oder dann Leibniz bloß oder auch Newton, hinter seine ungeheure Einsicht zurück, daß Zeit schließlich nicht begriffen werden kann außer als Gegenwarten verknüpfender Vor- und Übergang aus der Spannkraft der sie staunend erfahrenden selber heraus, also Bewegung der Seele ist. Was immer von der Art ist, und das reicht sehr weit, ist nicht in der Zeit, ohne daß sie zugleich auch in ihm wäre; welche Bewegung, darf hier hinzugesetzt werden, nur abermals die Eigenart des ihr zugeordneten Sinnesorgans teilt, nämlich so unabschließbar ist wie das Ohr.“23
Lassen wir den Vorwurf an die Kantische Zeitkonzeption für einen Augenblick außer Acht – immerhin wird beim beanstandeten Rückfall der Neuzeit hinter Augustins Zeitbegriff Kant nicht noch einmal eigens erwähnt –, so erweist sich insbesondere die Korrelation von abstrakt-linearer Zeit zum einen und sozialer Widerstandslosigkeit zum anderen als Gegenstand der Zeitkritik. Weiter oben wurde (in Rekurs auf Postones Arbeit) schon angedeutet, dass hier die Funktion von Zeit für die Mehrwertproduktion zur Rede steht. Es ist die Zeit der Terminkalender und der Stundenpläne, also des Arbeitstaktes, eine quantifizierte wie quantifizierende Arbeitszeit, welche die arbeitenden Subjekte der Tendenz nach dazu nötigt, sich ihrem Regime zu fügen, ihrem messenden Gleichtakt zu folgen
23Sonnemann:
„Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 112 f. Dem editorischen Nachwort im Essayband Müllberge des Vergessens ist zu entnehmen, dass es sich hierbei um den Abdruck eines Vortrages handelt, der anlässlich des Symposions „Zeit zu hören. Veränderungen der Ästhetik und der Politik“ am 28.9.1991 an der Freien Universität Berlin gehalten wurde.
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und eben nicht innezuhalten, aufzuhören. Anstatt sich ernstlicher Muße, also „unbelasteter Zeit, stehender Gegenwart“24 hingeben zu können, waltet eine spezifisch moderne Form von Zweckrationalität, die ihre Erscheinung eben auch in instrumenteller, messbarer, verräumlichter Zeit findet. An anderer Stelle schreibt Sonnemann: „Da der Terminkalender von Zielen bestimmt ist, die nicht das Selbstsein, sondern das Mitmachen einem gesetzt haben, hat man weder eine offene Zukunft noch deren Bedingung, eine in sich ruhende Gegenwart, sondern einen Druck latenter Angst, die den Zustand wiederum braucht, um nicht auszubrechen“.25
Die zwar menschgemachten, jedoch häufig nicht durch menschliche Vernunft regulierten, vielmehr pseudo-naturhaft ablaufenden gesellschaftlichen Prozesse – „dieses Überwuchertwerden der Menschen durch sich zu Selbstzwecken aufspielenden Mittel“ – sind jedenfalls „kein menschlicher Zustand“.26 Aus der (von Sonnemann nicht positiv ausbuchstabierten) Idee eines menschlichen Zustandes der Gesellschaft speist sich die Kritik an der schlechten Realität. Ohne nun einfach eine angeblich bessere, vorkapitalistische bzw. vorneuzeitliche Zeit zu beschwören – als ob feudalistische Verhältnisse mehr wirkliche Muße geboten hätten –, wird für eine an Sonnemann anknüpfende Entfaltung seiner transzendentalen Akustik die Herrschaftsgeschichte berechenbarer Zeit und ihre instrumentelle Optik zum zentralen Untersuchungsgegenstand. Einerseits muss einer solchen Entfaltung daran gelegen sein, die spezifische Wandlung von feudalen Herrschaftsformen zur abstrakten Herrschaft innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft adäquat zu analysieren und deren Verflechtung mit den sich ebenfalls wandelnden Formen von sinnlicher Wahrnehmung zu thematisieren. Andererseits sind aus herrschaftskritischer Perspektive das ungleiche Verhältnis von Sehen und Hören nicht erst Ergebnis einer Umwälzung gesellschaftlicher Bedingungen der Neuzeit. Insofern ist der Kultur- wie Denkgeschichte dieses Verhältnisses über einen wesentlich längeren Zeitraum nachzuspüren, wie ja Gewalt und Herrschaft selbst keine Erscheinungen erst der Neuzeit sind. Die nachfolgenden Kapitel vorliegender Studie wollen also, wenn auch nur in vereinzelten Ausschnitten, dem kritischen und insofern widerständigen Potential des Hörens nachgehen, das es nach Sonnemanns Überlegungen besitzt. Doch käme dies Potential dem Hören nicht zu, wäre es nicht rezeptiv und spontan zugleich, hätte es also keinen Anteil an Vernunft. Allein schon deshalb sollte die Bedeutung der Kantischen Philosophie für das Unterfangen einer transzendentalen Akustik bzw. einer kritischen Theorie des Hörens nicht unterschätzt werden, war Kant es doch, der im Zeitalter der Aufklärung prominent
24Ulrich
Sonnemann: „Die Angst im Souffleurkasten. Über die Situation des Theaters zwischen Halbherzigkeit, Hochherzigkeit und Infarkt“, in: Ders.: Tunnelstiche, S. 262–269, hier S. 263. 25Sonnemann: „Die Angst im Souffleurkasten“, S. 263. 26Sonnemann: „Die Angst im Souffleurkasten“, S. 263.
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Sinnlichkeit und Verstand als Stämme der Erkenntnis zu vermitteln suchte. Im Streit zwischen Empirismus und Rationalismus machte er ja gerade geltend, dass sich Erkenntnis aus zwei Quellen speist, „deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht.“ (KrV, B 74)
Demnach spielt sich Erkenntnis nicht allein in einer intelligiblen Sphäre ab, sondern beruht gleichermaßen auf der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegebenen. Gleichwohl ist ohne begriffliches, insofern verstandesmäßiges Zutun zur empirischen Erfahrung überhaupt keine Erkenntnis möglich, wäre das Ich einem ungeordneten, unzusammenhängenden Wahrnehmungsstrom ausgesetzt. Das eine geht nicht ohne das andere: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (KrV, B 75)
Sachlich stellt sich hier nun das Problem, dass, obgleich beide Vermögen aufeinander angewiesen sind, Kant Rezeptivität allein als Vermögen der Sinnlichkeit, Spontaneität allein als Vermögen des Verstandes begreift. Hören als Sinneswahrnehmung und selbst noch die ‚Anhörungsform‘ Zeit wäre demnach in Kantischer Diktion rein rezeptiv, nicht spontan. Oder, mit Georg Mohr formuliert: „die Sinnlichkeit denkt nicht, der Verstand schaut nicht an“.27 Doch stellt sich bereits die Transzendentale Ästhetik der KrV selbst vor das Problem, dass zumindest in einigen Fällen noch die reine Rezeptivität der Sinnlichkeit einen spontanen, nämlich setzenden Charakter haben muss, etwa wenn es um Selbsterkenntnis geht.28 Die von Kant entliehenen Vokabeln ‚Rezeptivität‘ und
27Mohr:
„Transzendentale Ästhetik, §§ 4–8“, S. 126. stellt sich das Problem im Kontext eines Phänomenalismus der Selbsterkenntnis (KrV, B 66–69); vgl. Mohr: „Transzendentale Ästhetik, §§ 4–8“, S. 126: „Bei der Einführung des Begriffs der Selbstaffektion nimmt Kant ein weiteres Theorem in Anspruch, das bis dahin nicht eingeführt ist und auch im weiteren Verlauf des Textes nicht erläutert wird. Die Rede ist von der Tätigkeit des Gemüts als eines ‚Setzens der Vorstellung‘ (B 67 f.). Im Zusammenhang der Kantischen Anschauungstheorie bereitet der Begriff des Setzens von Vorstellungen als Tätigkeit des Gemüts eine sachliche Schwierigkeit. Sie besteht darin, daß Anschauungen nach Kant gegeben und nicht gemacht sind und die Sinnlichkeit eine Rezeptivität, keine Spontaneität (Selbsttätigkeit) ist. Was soll unter einer Tätigkeit des Setzens von Vorstellungen verstanden werden, ohne Kants Heterogenitätsthese (die Sinnlichkeit denkt nicht, der Verstand schaut nicht an) zu widersprechen? Wenn Johann Gottlieb Fichte 1794 den Begriff des Setzens zu einem Grundbegriff der Wissenschaftslehre macht, so verbindet er damit ja gerade die These, daß der von Kant angenommenen Dualität von Anschauung und Begriff die diesen gegenüber ursprünglichere Einheit einer präreflexiven intellektuellen Anschauung zugrundeliege.“
28So
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‚Spontaneität‘ müssten hier also – mit und gegen Kant – stärker in ihrem Wechselverhältnis als in ihrer Trennung betrachtet werden, um die These eines zugleich rezeptiven wie spontanen Hörens aufrechterhalten zu können. In der hier vorgeschlagenen Deutung bestünde die Rezeptivität des Hörens folglich darin, konkrete Erfahrungsgehalte wahrzunehmen. Spontan wäre das Hören insofern, als es von sich aus (also selbsttätig) qua Anhörungsform die Wahrnehmungsgehalte in einen zeitlichen Zusammenhang bringt, mithin dissoziierte oder vereinzelte Sinnesreize (seien es akustische oder optische) zu einer zeitlichen Folge koordiniert. So wäre selbst die – laut Sonnemann angeblich nur linear gedachte – Anschauungsform Zeit der KrV von der mit Augustinus umrissenen Zeitvorstellung nicht gar so weit entfernt, wie es zunächst scheinen mochte: Damit Zeit als Gedankeninhalt an der Linie veranschaulicht werden kann – wohlgemerkt an einer Linie, die durch das Erkenntnissubjekt gezogen wird, sich also inmitten bewegender Handlung befindet – und damit die einzelnen Teile dieser Linie nicht als räumliches Nebeneinander, vielmehr als zeitliches Nacheinander erscheinen, muss das wahrnehmende und erkennende Subjekt, wie diese Erkenntnis selbst, schon über die bloße Linearität hinaus sein, resp. dem bloßen Zeitfluss erinnernd entgegenstehen.29 Sehr viel nachdrücklicher als Kants Zeitbegriff ist mit Sonnemanns Überlegungen hingegen eine verdinglichte Vorstellung zeitlicher Prozesse in der Welt zu kritisieren, insbesondere dort, wo ihnen der Anschein schicksalhaften Verlaufs zukommt: als gäbe es nur Abläufe, keine durchbrechenden und Anfänge setzenden Handlungen, deren Ergründung sich gerade die Kritik der praktischen Vernunft verschrieb.30 Zumindest jedoch bezüglich der Terminologie hat Sonnmanns KantKritik etwas Einleuchtendes: Auch wenn die Anschauung zunächst sympathischer klingen mag als eine Anhörung, weil erstere nach kontemplativem Weltverhältnis klingt, letztere nach der Vorstufe eines Verhörs, so kann es sich, näher betrachtet, jedoch auch geradezu umgekehrt verhalten. Als epistemische Wahrnehmungsmodalität ist das Anschauen dem administrativen Zugriff auf die Dinge (etwa als deren Musterung) verwandter als ein Anhören; meint ‚Anhörung‘ sinngemäß doch
29Siehe
hierzu noch einmal Eidam: „Die Frage nach der transzendentalen Realität der Zeit“, S. 139: „Nicht die Übertragung der Eigenschaften der Zeit auf die einer Linie macht die Zeit zu einer Anschauungsform, sondern da die Zeit (wie der Raum) eine Form der Anschauung ist, können sich auch ihre Verhältnisse analog einer äußeren Anschauung ausdrücken lassen; mit dem einzigen und nicht zu vernachlässigenden Unterschied, daß die zeitliche Mannigfaltigkeit, daß die ‚Teile‘ der Zeit niemals zugleich, sondern stets nur ‚nach einander‘ gegeben sind. Das Nacheinander ist nicht durch die Simultaneität der Linie repräsentierbar, nicht in die räumlich vorgestellte Gleichzeitigkeit überführbar.“ 30Vgl. Eidam: „Die Frage nach der transzendentalen Realität der Zeit“, S. 146: „Die retrospektivische Geradlinigkeit könnte gerade die optische Täuschung sein, die Sonnemann an Kant, statt – wie es das Projekt einer ‚transzendentalen Akustik‘ bereits terminologisch nahelegt – mit ihm, an historischen oder positivistischen Gesetzeswissenschaften und ihren geschichtsphilosophischen Projektionen kritisiert.“ Dennoch bleibt Kants Zeitbegriff am Ende womöglich doch zu eindimensional und linear, um Sonnemanns Transzendentaler Akustik genügen zu können; siehe hierzu noch einmal, KAPITEL 1, Fußnote 12.
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so etwas wie ein Gespräch, mindestens eine offene Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, durch das zu Gehör Gebrachte eine ausstehende Entscheidung tatsächlich zu beeinflussen. Während der anschauende Blick hier als feststellender Sinn auftritt, zeichnet sich solches Hören eher durch einen dialogischen Charakter aus – auch wenn diese Metaphorik nicht überstrapaziert werden sollte: Der Anklang einer Unfreiwilligkeit dieses Gespräches bleibt zu bedenken, denn der Angehörte wird ja in der Regel zur Anhörung bestellt, also ein- oder auch vorgeladen, je nachdem. Und doch ist eine Anhörung schließlich etwas anderes als eine Vernehmung oder ein Verhör, zu dem man stets vor- und nie nur eingeladen wird (siehe Kapitel 6). Um diese Differenz kenntlich zu machen, wäre die fragliche Wahrnehmungsweise vielleicht am besten schlicht als ‚Anhören‘ nominalisiert, statt das robust-zupackende und nicht selten etwas hölzern anmutende Suffix ‚ung‘ zu bemühen. Der sachhaltige Hauptgedanke dieser nicht nur terminologischen Frage ist jedoch, dass Zeit auditiv sehr viel eindringlicher, vielleicht auch adäquater erfahren wird als visuell, da Geräusche, Klänge und Töne ungleich flüchtiger sind als optische Gestalten …
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Hörmodell 1: Musik hören
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Auge und Ohr im Widerspruch Bilderverbot und Auslegungstradition in philosophischer Betrachtung
„Wenn Hellas das ‚Auge der Welt‘ genannt wird, so läßt sich vielleicht von Israel sagen, daß es das ‚Gehör der Welt‘ ist.“ (Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, S. 15.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_3
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3 Auge und Ohr im Widerspruch
Wie also hören? — Die bislang angestellten Reflexionen zum Begriff der Zeit ergaben, dass ihr die Bestimmung einer reinen Anschauungsform nicht gerecht wird. Musik etwa, die wie Dichtung Zeitkunst ist,1 will – erinnernd und erwartend, aufmerksam und gespannt – gehört sein, nicht allein angeschaut. Jedoch wendet sie sich dabei auch ans Auge und an das menschliche Sensorium insgesamt, wie der zuvor festgehaltene Versuch über eine musikalische Hörerfahrung verdeutlichen wollte: Als ein Kriterium von Kunstmusik kann gelten, dass sie notierte Komposition ist und somit nicht nur Klangereignis, sondern gleichermaßen Notentext. Das ist ein Aspekt der Sprachähnlichkeit von Musik, auch wenn Musik und Sprache zugleich voneinander getrennt sind.2 In schriftlich fixierter Sprache resp. in notierter Komposition wird die akustisch-sinnliche Erfahrungswelt in eine optisch-repräsentierende, aufspeichernde Schriftbildlichkeit übertragen und auf diese Weise der konkrete und flüchtige, akustische Sinneseindruck in die allgemeine Sphäre einer Zeichensprache überführt; dergestalt jedoch, dass selbst noch die abstrakt-allgemeine Schriftsprache Spuren sinnlicher Erfahrungen in sich trägt, auch wenn diese nun im optischen Medium, nicht mehr im akustischen liegen. Nicht Identität, sondern eine Ähnlichkeitsbeziehung waltet demzufolge zwischen jenen verschiedenen Sphären der Erfahrungswelt. Benjamin nannte das eine „unsinnliche Ähnlichkeit“.3 1Der
Begriff geht auf Lessings Abhandlung Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie zurück. In den Paralipomena hierzu heißt es etwa: „Die Malerei braucht Figuren und Farben in dem Raume. [Absatz] Die Dichtkunst artikuliert Töne in der Zeit.“ Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon [1766], Werke 1766–1769, Frankfurt a. M. 2007, Paralipomena I, 3, II, S. 219. 2Vgl. Theodor W. Adorno: „Fragment über Musik und Sprache“ [1956], in: Quasi una fantasia. Musikalische Schriften II, AGS 16, S. 251–256. 3Walter Benjamin: „Lehre vom Ähnlichen“ [1933], in: BGS II, S. 204–210, hier S. 207. Insgesamt bezieht sich der hier angedeutete Übersetzungsbegriff auf Überlegungen Benjamins, zu finden u. a. in dessen Texten: „Die Aufgabe des Übersetzers“ [1923], in: BGS IV, S. 7–21; sowie „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ [1916], in: BGS II, S. 140–157. – Ausführlich und aufschlussreich hat Elvira Seiwert die Affinitäten einer kritischen Theorie der musikalischen Reproduktion zu Benjamins Übersetzungstheorie unlängst nachgezeichnet; vgl. Elvira Seiwert: Enthüllungen. Zur musikalischen Interpretation im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Springe 2017; insbes. (aber keineswegs allein): „‚Interpretation ist eine Form‘ – Benjamins Spur in Adornos Reproduktionstheorie und wohin sie wohl führt“, S. 141– 154. In einem an Ulrich Sonnemanns Gedanken zur Akustik anknüpfenden Text hat überdies Jan Philipp Reemtsma auf das ganz ähnliche Zusammenspiel von Auge und Ohr in der Literatur hingewiesen; vgl. Jan Philipp Reemtsma: „Hurlyburly = Holterdipolter? Fußnoten zum Gehör. Phantasie über ein Thema von Ulrich Sonnemann“, in: Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß, S. 189–207, insb. S. 197–199. Und selbst für die bildenden Künste, nach Lessings Einteilung dem Raum zugehörend, müsste ein verwandtes Umschlagen von Raum- in Zeiterfahrung, von Sehen in Hören beschrieben werden. In Rekurs auf Adornos Ästhetische Theorie und den dort genutzten Terminus apparitio (= Himmelserscheinung) hat Anne Eusterschulte das gezeigt. So gebe es auch in Bildwerken eine „ästhetische Temporalität, Momente einer paradoxalen Gleichzeitigkeit von plötzlichem Aufstrahlen und Verschwinden“; Eusterschulte: „Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst“, S. 223. Das Hörbarwerden des Sichtbaren wird dabei nicht zuletzt „über die Momenthaftigkeit und Flüchtigkeit von plötzlichen, augenblickhaft aufund vergehenden Phänomenen [… als] eine Art Anspruch deutlich, der sich in der Weise des Erscheinens artikuliert bzw. eine kurzlebig aufscheinende Botschaft anspricht“; ebd., S. 226.
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Augen- und ohrenfällig wird dieses vielschichtige Wechselverhältnis zwischen optischer und akustischer Sphäre – die komponierend, interpretierend und schließlich rezipierend geforderte Übertragungsarbeit zwischen beiden – an den Notationen Helmut Lachenmanns und seiner Musique concrète instrumentale.4 Nicht mehr reine Töne (sprich: Tonhöhen) und die zwischen ihnen wirkenden Intervallverhältnisse sind das basale Material von Gran Torso,5 musikalischer Werkstoff sind nun die auf den Körpern klassischer Streichinstrumente produzierten Geräusche und die neu zu entwickelnde Technik ihrer Hervorbringung, gewissermaßen die Alltags- und Arbeitslaute der konventionellen Klangerzeugung und der somatisch-mechanischen Tonproduktion. Gänzlich neu ist solche Geräuschhaftigkeit von Musik freilich nicht; mit der Dimension der Klangfarbe ist sie Teil einer langen Geschichte der Musik, wenn auch nicht derart prominent wie nun bei Lachenmann. Nur im Zusammenspiel von Auge und Ohr kommt diese Kunstmusik dabei zur Entfaltung: Ohne die Notation und die kompositorische Durcharbeitung der Geräuschmotive und -gestalten wäre sie bloßer Geräuscheffekt. Ohne die musikalische Aufführung jedoch ginge der Notentext seiner Bestimmung verlustig. Die optischen Innovationen dieser Komposition stehen im Dienste der akustischen. Häufig werden nicht Tonhöhen auf ihren fünf Linien eingetragen, sondern es wird beispielsweise an graphischen Darstellungen der Instrumentenkörper genauestens festgehalten, wie Bogenhaar bzw. -holz oder die Finger der Instrumentalisten nun entsprechende Klänge zu produzieren haben. Zudem sind mannigfache Spielanweisungen in die Notation hineingeschrieben; sie sollen den Ausdruck des jeweiligen Klangereignisses präzise beschreiben, entfalten dabei aber zugleich eine eigene, literarische Qualität. Man lese hier lyrisch anmutende Anweisungen wie „scharf gepreßt“ oder „unhörbar weiter‚schreiben‘, gelegentlich hörbar werden“.6 Bestimmung dieser Musik ist nicht zuletzt, das Gehör des Konzertpublikums dort, wo es durch eingeschliffene Rituale und Konventionen des Kulturbetriebs vom Abstumpfen bedroht ist, zu irritierten und dadurch zu neuer Aufmerksamkeit zu befreien. Durch die Konzentration auf das Geräuschleben der Tonproduktion soll etwas ins Bewusstsein gehoben werden, das bis dato fast ausschließlich in der unbewussten Sphäre der Musik sein Dasein fristete. Lachenmann charakterisiert sein Verfahren entsprechend folgendermaßen: „Da es nicht um neue Klänge, sondern um ein neues Hören geht, muß sich dieses auch am ‚schönen Ton‘ einer Cello-Saite bewähren. Ihm möchte ich seine Unberührtheit
4Auch
aus diesem und den folgenden Abschnitten sind einige Überlegungen bereits veröffentlicht; vgl. Mettin: „Musik als Ereignis?“. 5Helmut Lachenmann: Gran Torso. Musik für Streichquartett [1971|1976|1988], Wiesbaden 1988. 6Lachenmann: Gran Torso, T. 63, 99.
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als Element in einer – und sei es auch nur für einen Moment – verwandelten Materiallandschaft zurückgeben“.7
Gänzlich auf sich gestellt wäre das Ohr hier verloren. Nicht nur benötigt es Bewusstsein und Geist, auch das Auge leistet für dieses Unterfangen kaum verzichtbare Unterstützung: Vermittelt ist die akustische über eine visuelle Dimension der Musik; als Notentext legt Letztere zunächst den Interpreten Spielanweisungen vor, immanent jedoch strebt dieser Text auch danach, als Höranweisung durch die Rezipienten gelesen zu werden. In der Hörerfahrung nämlich präsentiert sich Gran Torso als derart komplex und rätselhaft, dass erst ein nachforschender Blick in den Notentext hilft, dem Stück näherzukommen. Diese Musik richtet sich also wie jede anspruchsvolle nicht nur ans Ohr und die (vermeintliche) Unmittelbarkeit einer ästhetischen Erfahrung. Sie appelliert zugleich an den Intellekt und seine Fähigkeit verständigen Deutens; ein ‚Lesen‘ dessen, was sich im musikalischen Geschehen offenbart. Elvira Seiwert schreibt für den letztgenannten Zusammenhang bestechend: „Wie also gelesen wird, ist kaum einerlei“, wobei „Musik als Sprache ihren Platz hat in jenem ‚Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten‘, einem Konservatorium gleichsam mimetischer Impulse; ihre ‚Aussprache‘ sich von daher reguliert.“8 Doch gilt das Gebot richtigen Lesens nicht nur für die aufführenden Interpreten von Musik, die einen treffenden Ausdruck für den Notentext zu finden haben. Ähnlich – und doch ganz anders – ist der sinnliche Eindruck erklingender Musik auf Seiten der Rezipienten noch einmal in verständiges Hören zu übersetzen, sind auch die Eindrücke ästhetischer Erfahrung selbst noch einmal zu lesen (im Sinne von ‚deuten‘); jedenfalls dann, wenn man in Musik mehr hören will als Hintergrundbeschallung oder das Spektakel unverbundener und blanker Sinnesdaten, mehr also denn ein Rauschen. ‚Erfahrung‘ bedeutet schließlich, einen Gegenstand in gewisser Hinsicht und zumindest annäherungsweise zu erkennen; Vermittlung also von Rezeptivität und Spontaneität (siehe Kapitel 1). Schon deshalb gibt es keine schlechthin unmittelbare Erfahrung, ist die Rede von ‚sinnlicher Gewissheit‘ als einer vermeintlich unmittelbaren so trügerisch.9 Dass emphatisches sinnliches Wahrnehmen stets ein Übersetzen perzipierter Sinnesdaten in Erfahrung bedeutet, macht diese Erfahrung ihrerseits wiederum übersetzbar: durch ihre Versprachlichung. Die Transformation einer musikalischen Erfahrung ins Medium der Sprache, wie sie obiges Hörmodell leisten sollte, bricht dabei noch einmal mit der vermeintlichen sinnlichen Unmittelbarkeit beim Musikhören, hier in Form eines Konzerterlebnisses. Keineswegs suggeriert das Modell,
7Helmut
Lachenmann: „Fragen – Antworten. Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger“, in: Ders.: Musik als existentielle Erfahrung. Schriften 1966–1995, hg. von Josef Häusler, Wiesbaden 22004, S. 191–204, hier S. 195. 8Seiwert: Enthüllungen, S. 91. 9Vgl. das gleichnamige Kapitel bei Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 63–70: „Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meynen.“
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es protokolliere ‚neutral‘ und ‚objektiv‘ das Geschehen und konserviere so das Faktum der Aufführung für all diejenigen, denen die Teilhabe am Event nicht vergönnt war; wobei solcher Anspruch, nebenbei bemerkt, allzu leicht hinwegtäuschte über die sozial bedingten ‚Zugangsbeschränkungen‘ aller autonomen Kunst bis heute. Zwar muss nachhörend Gedachtes niedergeschrieben werden, wenn es nicht im Treiben der Zeit sofort wieder entschwinden soll, dem flüchtigen Geräusch folgend; ist also aus der auditiven in die visuelle Sphäre zu übertragen. Jedoch will die gewählte Form für das Modell mehr bekennen als diese Notwendigkeit. Sie soll bezeugen, dass es sich bei dargestellter Erfahrung um eine individuelle und zugleich schon der Reflexion annähernde handelt; dass allerdings der Reflexionsanspruch in solcher Sprache noch nicht eingelöst sein kann, der Text mithin brüchig und unabgeschlossen bleibt, aus der wissenschaftlichen Darstellung herausfällt; dass aber womöglich jener Sprachform gelingen könnte, einen Anteil der Erfahrung zu benennen, der sich kategorial-begrifflicher Sprache (der Sphäre der Theorie) entzieht. — Schließlich will das Modell abermals und auf seine Weise kenntlich machen, dass im Zusammenspiel von Rezeptivität und Spontaneität allen Sinnen und der Verstandes- sowie Reflexionstätigkeit eine tragende Rolle zukommt. Die Erfahrung einer musikalischen, gegliederten Zeit und eines ebensolchen Raumes verlässt sich nicht allein aufs Ohr, sondern sie stützt sich ebenso aufs Auge und aufs Gefühl, baut auf die Übersetzbarkeit der unterschiedlichen Erfahrungssphären in einander: das gelesene Wort kann ein gesprochenes, das notierte Bild ein erklingender Ton werden… Trotz alledem: Die Modalitäten des Denkens unterscheiden sich nicht gerade unerheblich danach, welcher Sinneswahrnehmung Denken sich am nachdrücklichsten anvertraut. Ist es vornehmlich am Sehen geschult und orientiert, so will es – nach Sonnemanns These der ‚Okulartyrannis‘ – mit aller Bestimmtheit feststellen und festhalten. Hörend hingegen folgt es eher den Bewegungsläufen seiner Gegenstände in unterschiedlichen Richtungen nach, versucht ein Ganzes zu erfassen, ohne es im einzelnen, stillgestellten und präsenten Moment für abschließend begriffen zu erklären; es gleichsam zu erdrücken. Dass es sich bei dieser Gegenüberstellung von okularer und auditiver Erkenntnisweise nicht um eine zufällige Marotte Sonnemanns handelt, dieser Alternative (oder besser: diesem Antagonismus) vielmehr eine lange Kultur- wie Denkgeschichte zugrunde liegt, wird in der Folge zu erörtern sein. Neben dem zunächst zu verhandelnden Widerspruch zwischen Abbildglauben und Bilderverbot tritt anschließend im 4. Kapitel ein weiteres Hauptthema dieser Studie auf den Plan, namentlich das Problem der verschlossenen Ohren, welches im Hörmodell schon kurz anklang.
Philosophiegeschichte des Sehprimats Verschiedentlich kommt Sonnemann auf jene Geschichte der unterschiedlichen Denkmodalitäten zu sprechen. Fast immer geht es dabei um eine Tendenz im optisch orientierten Denken, sich in Bildern und Vorstellungen einzurichten, diese folglich nicht mehr der kritischen Prüfung zu unterziehen, sie vielmehr
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als gegeben hinzunehmen. Solches Denken aber setzt sich der Gefahr aus, die Bewegung zwischen sich und dem jeweils Gedachten zu sistierten, also das Erkenntnispotential der geistigen Vorstellung preiszugeben. Doch ist diese Denkform laut Sonnemann nicht alternativlos: „Kurz, wir brauchen wie meist erst die Rückübersetzung aus der Optik des Vorstellens – das ja unbeschadet seiner eminenten Verdienste immer schon auf dem Wege zum Traum, diesem Nachtpalast mit zwei Pforten ist des großen parmenideischen Lehrgedichts; da die eine ins nächtige Nichts führt, unter dem sich nur der Tod schließlich denken läßt, kann die andere nur die Rückübersetzung ins Wachere sein – eben in dieses: das ja als Hörbarkeit, Welt des Wortes, am Anfang war, das Johannes-Evangelium weiß das, als Widerhall des Anfangs des Buches Genesis in seinem eigenen ist sein berühmter erster Satz die lapidarste Zusammenfassung einer von Anfang an der okularen hellenischen vom Ostrand des Mittelmeers her entgegenstehenden jüdischen Tradition, die es mit Stimme und Ohr hält.“10
Schon das dem Kapitel vorangestellte Motto aus Jacob Taubes’ Abendländischer Eschatologie teilte die Denktradition auf in die dem Sehen verschriebene Erkenntnistheorie der antiken griechischen Philosophie und die dem Hören näherstehende Wahrheitssuche in jüdischer Tradition. Einem visuell eingestellten „Denken, das in Bildern sich ausruht“11 hält nun auch Sonnemann die Auseinandersetzung mit dem Wort im Judentum entgegen; also den Bezug auf Sprache in ihrer auditiven Dimension, deren Potential darin besteht, die Bewegung des Denkens als Lautbewegung bewusst zu machen. Dabei deutet die hier von Sonnemann gebrauchte Metaphernwelt von Nacht, Schlaf und Traum auf der einen Seite sowie Wachheit auf der anderen an, dass nicht Sehen und Hören schlechthin gegeneinander ausgespielt werden; allein schon deshalb nicht, weil Sonnemann hier selbst ein sprachliches Bild entwirft, das noch in seiner abstraktesten Version an optische Erfahrungen (etwa von Dunkelheit und Tageslicht) erinnert. Eher also wird hier der Erkenntnisanspruch befragt, der den verschiedenen Wahrnehmungsweisen jeweils korrespondiert. Damit steht der Wahrheitsbegriff zur Rede. Wo nämlich das Sichtbare in seiner Evidenz als das Wahre schlechthin gilt, wird möglicherweise übersehen, dass das, was da erscheint, auch Illusion (also fehlgedeutete Wahrnehmung) oder gar Halluzination (also fälschliche Wahrnehmung) sein könnte, also ‚nächtiges Nichts‘. Nicht bloßes Sehen kann demnach als Kriterium dafür gelten, ob etwas erkannt wird, sondern vielmehr, ob das Denken in seinem Erkenntnisbestreben wach und aufmerksam ist. Das Gehör ist in solchen Angelegenheiten nach obigem Zitat potentiell wachsamer als das zur Selbstgewissheit neigende (oder trainierte) Auge, das im Laufe der Zivilisationsgeschichte die Funktion des absichernden und feststellenden Tatsachensehens angenommen hat, darin als Souverän von den anderen Sinnen abgehoben.
10Sonnemann: 11Sonnemann:
„Das sedierte Sensorium“, S. 16. „Das sedierte Sensorium“, S. 15.
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Welche konkreten Gestalten und Ausmaße die konstatierte Opposition von griechisch-visueller und jüdisch-auditiver Denkgeschichte nun haben soll, dazu bleibt Sonnemann insgesamt recht schweigsam, auch wenn sich das Thema an zahlreichen Stellen in seinem Werk andeutet.12 Darum sei in einem recht knappen Abriss dieser Komplex aus anderen Quellen ausgeführt. Dabei werden im Folgenden allerdings kaum die jeweils einschlägigen Primärtexte der Philosophiegeschichte zu Rate gezogen, denn das wäre Gegenstand einer eigenen Studie. Eher soll eine Tendenz beschrieben werden, gegen die sich die Details zuweilen sicherlich sträuben. In einer frühen seiner metaphorologischen Arbeiten weist Hans Blumenberg auf die Bedeutung von „Licht als Metapher der Wahrheit“13 hin und stellt dabei die Dominanz dieses Topos für die Geschichte der Erkenntnistheorie heraus. Damit befinden wir uns sogleich in der okularen Vorstellungswelt: Licht wird freilich vom Auge wahrgenommen. Dass etwas, das erkannt oder von dem mit Gewissheit gesprochen wird, zugleich auch ‚im Lichte erscheinen‘ müsse, diese metaphorische Verknüpfung lässt sich bei einem Großteil der verschiedensten Strömungen (westlicher) Philosophie wiederfinden; wenn auch die konkrete Bedeutung der Licht-Metapher bzw. deren Konnotationen sich historisch wandeln und – je nachdem, welcher philosophischen Schule sie zuzurechnen sind – Unterschiedliches bedeuten.14 Jedenfalls ist schon dem griechischen Wortsinn nach Theorie, also die Tätigkeit des Denkens, enggeführt mit dem Sehen, denn ϑεωρία (theoría) bedeutet wörtlich ‚Schau‘. Insofern verstehe dann beispielsweise, so Blumenberg, Platon Wahrheit als „Licht am Sein selbst, Sein als Licht, das bedeutet: Sein ist Selbstdarbietung des Seienden. Deshalb entspringt Erkenntnis in ihrer höchsten Form aus der tatlos ruhenden Schau, der ϑεωρία“.15 Doch nicht nur Platon, vielmehr dem griechischen Denken insgesamt gelte Sichtbarkeit als entscheidendes Kriterium von Gewissheit, denn worauf „der λόγος [lógos] sich berief, war gestalthafter Anblick, war εἶδος [eidos]“.16 Während jedoch in
12Am
explizitesten wohl im Aufsatz über „Mose und die Zukunft der Autorität“ von 1968, auf den der zweite Teil dieses Kapitels zurückkommen wird. Vgl. außerdem Eveline Goodman-Thau: „Von der Kunst des ‚Auf‘ hörens und des ‚Nach‘ fragens. Ulrich Sonnemann jüdisch gelesen.“ in: Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 211–229; Goodman-Thau weist hier auf die Nähe bestimmter Gedankenmotive Sonnemanns zu Hermann Cohens Philosophie des Judentums hin. 13Hans Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“ [1957], in: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 139–171. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Sebastian Tränkle herzlich. 14Einen umfassenden Einblick in die Geschichte des theoretischen Sehens gibt u. a. der Sammelband von Anne Eusterschulte, Wiebke-Marie Stock: Zur Erscheinung kommen. Bildlichkeit als theoretischer Prozess, Hamburg 2016. Zu Blumenberg siehe ebd. auch die „Einleitung“, S. 10–12. 15Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 142. 16Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 161.
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der Antike das Licht die zu erkennenden Dinge durch (quasi-) göttliche Kraft bescheint, wird spätestens in der Neuzeit das Erkenntnislicht zum verfügbaren Instrument der Wissenschaft, die ja ‚Aufklärung‘ (resp. engl. ‚Enlightenment‘ und franz. ‚Lumières‘) erst herbeiführen soll: „Das Gegebene steht nicht mehr im Licht, sondern es wird von einem bestimmten Aspekt her beleuchtet. Für das Ergebnis kommt es auf den Winkel an, aus dem das Licht auf den Gegenstand fällt und aus dem er gesehen wird – Bedingtheiten der Perspektive und ihrer Bewußtmachung, ja ihre freie Wahl, bestimmen nun den Begriff des ‚Sehens‘.“17
Dieser denkgeschichtlichen Linie mit der emphatischen Verknüpfung von Sichtbarkeit und Erkenntnis stellt auch Blumenberg die jüdische Tradition entgegen: „War für das griechische Denken das ‚Hören‘ die wahrheitsindifferente […] Aussage, so ist in der alttestamentlichen Literatur und dem von ihr bezeugten Wirklichkeitsbewußtsein das Sehen immer schon durch das Hören vorbestimmt, in Frage gestellt oder überboten. Das Geschaffene gründet im Wort, und das Wort bleibt ihm an verbindlichem Anspruch immer voraus.“18
Zahlreiche Belege ließen sich für diese Beschreibung finden. Zu denken ist etwa nur an die biblische Erzählung von Mose, der am brennenden Dornbusch Jahwe zwar nicht sieht, doch umso eindringlicher dessen Stimme hört. Da Gott nicht sichtbar ist, kann er aber auch nicht visuell dargestellt werden, was später im Text durch das Bilderverbot des Dekalogs zum Ausdruck kommt. Im Zweiten Buch Mose, gr. Exodos (Ἔξοδος) also ‚Auszug‘, hebr. Shemot ( )שמותalso ‚Namen‘ genannt, heißt es dementsprechend (20.4): „Du sollst dir nicht ein Götzenbild [֙ ]פֶ ֙ ֣ סֶ לmachen noch irgendein Abbild dessen, was im Himmel droben und was auf Erden drunten und was im Wasser unter der Erde.“19
17Blumenberg:
„Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 170. Nicht unwichtig in diesem Zusammenhang ist auch eine Bemerkung Blumenbergs bezüglich der Veränderungen in der Malerei der Neuzeit, die mit Sonnemanns Überlegungen zur perspektivischen Gerichtetheit korreliert (vgl. die einführenden Bemerkungen zu Kapitel 6); ebd., S. 170 f.: „An der Malerei ließe sich das als geschichtliche Signatur am besten exemplifizieren: Licht als das homogene, fraglos vorausgesetzte Medium der Sichtbarkeit, das eine akzentlose Präsenz des Darzustellenden gewährleistet, verwandelt sich im 16. und 17. Jahrhundert in einen lokalisierbaren Faktor, der ‚eingestellt‘ werden kann. […] Der Mensch, dem das technische Licht der ‚Illumination‘ in vielerlei Gestalt eine fremdwillige Optik oktroyiert, ist der geschichtliche Antipode des antiken contemplator caeli und seiner Freiheit des Schauens.“ – Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der Lichtmetaphorik siehe auch Eusterschulte: „Zur Theorie der Illumination bei Augustinus“, S. 73–75. 18Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 161. 19Übersetzung nach: Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräischdeutsch) in der revidierten Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson, hg. von Walter Homolka, Hanna Liss, Rüdiger Liwak, Freiburg 2015.
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Die wörtliche Bedeutung von Paesel ( )פסלist ‚Statue‘ oder ‚Skulptur‘. Die hier zitierte Übersetzungsvariante als ‚Götzenbild‘ betont insofern, dass Gott nicht im kultisch angebeteten Abbild dingfest zu machen, eben weil er als das Absolute nicht darstellbar ist. Dem korrespondiert, dass der Tora zufolge Gott auch in seinem Namen, JHWH ()יהוה, nicht abschließend erfasst werden kann; zumindest bleibt rätselhaft, was dieser (unaussprechliche) Name zu bedeuten hat.20 Dies, wie auch das Abbildungsverbot, hindern allerdings nicht daran, über das Absolute zu sprechen. So schließt sich an das Bilderverbot eine schier überbordende Auslegungstradition im Judentum an, die gerade in ihrer dialogischen wie diskursiven, also stets in intellektueller Bewegung befindlichen Struktur das Gegenmittel zum falschen Götzendienst sein soll. Diskurs, intellektueller Disput und Dialog aber haben eine akustische Dimension, was einem feststellenden Tatsachensehen geradezu entgegenläuft.21 Vor diesem Hintergrund der (stets auch akustisch zu verstehenden) Auslegungstradition im Judentum und dem sich dazu tendenziell antagonistisch verhaltenden Sehprimat der griechischen Philosophie zeigt sich dann eine weitere Implikation der Gegenüberstellung von visueller und akustischer Kultur. Es geht dabei um die Frage, welche Bedeutung der Autonomie und welche der Tradition für das Denken zugebilligt wird. In dieser (zugegeben etwas schematischen) Gegenüberstellung erhält das Sehen die Konnotation, der Sinn der Selbständigkeit und Unabhängigkeit schlechthin zu sein, da das erkennende Auge nicht auf eine Überlieferung und deren Auslegung angewiesen scheint, um der Dinge habhaft zu werden, wie sie sich dem Auge als objektive Tatsachen evident präsentieren. Hören dagegen gilt schon deshalb als defizitär, weil es die Tatsachen nicht in gleicher Weise als präsente zu erfassen vermag, ihnen immerzu erinnernd nachsinnen muss, um sie in ihrem Zusammenhang zu erfassen. Dass sich Hören irreduzibel nur in Erinnerungsreihen vollziehen kann (siehe Kapitel 2) und dass es, nicht zuletzt qua sprachlichen Gedächtnisses, zumindest mit halbem Ohr immer auf gewisse Momente der Tradition hinhört, nicht allein auf das Aktuelle, gilt dem aufklärerischen Autonomiestreben als Makel, sofern Autonomie als absolute Selbständigkeit gedacht wird. Im Verlauf der Denkgeschichte zeitigt
20Siehe
hierzu Gershom Scholem: „Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala“, in: Ders.: Judaica III. Studien zur jüdischen Mystik, Frankfurt a. M. 1973, S. 7–70, hier S. 15: „Das wichtigste Moment dieser Entwicklung und zugleich das paradoxeste ist, daß der Name, in dem Gott sich selber benennt und unter dem er aufrufbar ist, sich aus der akustischen Sphäre zurückzieht und unaussprechbar wird.“ 21„Der ‚heilige Text‘ der Schrift wird erzählt oder vorgelesen; diesem und den Auslegungen hört man zu.“ Karl Josef Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen.‘ Einige Diskussionsbeiträge zum Hören in der Psychoanalyse und der Pädagogik“, in: Das Ohr als Erkenntnisorgan (= Paragrana 2/1–2), S. 15–28, hier S. 16. – Siehe hierzu auch noch einmal Scholem: „Der Name Gottes“, S. 7: „Wahrheit war in dem zuerst vom Judentum konstituierten Sinn das Wort Gottes, das akustisch = sprachlich vernehmbar war. Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge ist ein akustischer, kein visueller Vorgang, oder mindestens auf einer Sphäre erfolgt, die mit der akustischen, sinnlichen, metaphysisch in Zusammenhang steht.“
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dieser Widerspruch, der Blumenberg zufolge schon in der antiken Philosophie in Ansätzen zu verzeichnen ist, auf Seiten des Sehens eine beinahe reduktionistische, sich selbst verkennende Konzeption von Erkenntnis und Vernunft. Noch einmal in Blumenbergs Worten: „Schließlich ist die Metaphorik des ‚Hörens‘ noch bedeutsam für die Erfassung des Phänomens der Tradition. Das ‚Sehen‘ ist auf Wiederholung autoptischer Erfahrung eingestellt, am deutlichsten durch die Restitution des Phänomens selbst in aller experimentellen Methodik. Die Forderung der Präsenz des Gegenstandes ist der Ausgangspunkt der modernen Wissenschaftsidee, und diese Forderung wird bei Bacon und Descartes formuliert in Gegensetzung zur Geltung von auctoritas. Angewiesensein auf Tradition erscheint hier als ein prinzipiell behebbarer Mangel der Erkenntnis. Dieser Vorwurf setzt voraus, daß die Vernunft es nicht nötig hat zu ‚hören‘, weil sie jederzeit ihre Gegenstände zu Sicht (Experiment) und Einsicht (Deduktion) bringen kann. Das aber bedeutet ontologisch: alle Gegebenheit ist wiederholbar, es gibt keine einmalig-faktische Erfahrung bzw. sie hat für den menschlichen Wahrheitsbesitz keine Bedeutung.“22
Man muss diesem philosophiehistorischen Abriss bezüglich der Bedeutung visueller und auditiver Metaphoriken für die Erkenntnistheorie nun nicht überall folgen. Zumindest würde sich beim aufmerksamen Studium der fraglichen Quellen zeigen, dass so ganz und gar antagonistisch das Erkenntnisprimat von Sehen (in griechisch-abendländischer Linie) und Hören (in jüdischer Tradition) nicht sein kann. Dazu gibt es allein schon zu viele Überkreuzungen zwischen den beiden Strängen der Ideengeschichte, am offenkundigsten wohl in der christlichen Theologie, auch wenn sich in Letzterer nicht selten der Eindruck einer erzwungenen Schlichtung (zu Ungunsten des jüdischen Teils) einstellen mag. Zudem ließe sich auch den als Vorbildern moderner Okulartyrannis gescholtenen Griechen häufig genug eine dezidierte Hochschätzung des Gehörs als Erkenntnisorgan konzedieren. Man denke hier nur an die Wichtigkeit des Dialoges in der sokratisch-platonischen Philosophie. Dennoch hat die Verortung des historischen Ursprungs einer Dominanz des Auges, wie sie etwa durch Blumenberg, aber auch durch Sonnemann sowie zahlreiche ideengeschichtliche Theorien beschrieben wurde, ihre Plausibilität. Mit einigem Recht ließe sich wohl behaupten, dass sich, mit Christoph Wulf gesprochen, in der griechischen Antike ein „allmähliche[r] Übergang zur Dominanz des Sehens“ vollzogen habe.23 Nicht allein aus ‚in der Natur der Sache‘ (sprich: in der Natur der Sinnesorgane) liegenden Gründen,
22Blumenberg:
„Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 163 f. Diese Diagnose teilt auch Pazzini: „Das Ohr ist erst durch den Erkenntnisentzug zum verdächtigen Organ geworden. Das Auge, das Licht waren zur Klärung, zur Aufklärung da. Das Ohr und das Hören in seinem notwendigen Bezug zum Anderen wurde aus dem Prozeß der Modernisierung ausgeschlossen, weil es die Illusion der Autonomie empfindlich kränkte. Denn gehörte Worte haben ein Eigenleben. Sie verschaffen sich irgendwann Gehör, wenn sie mit einem anderen Gehörten, Geschehenen in Verbindung kommen“, Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 17 f. 23Wulf: „Das mimetische Ohr“, S. 11. Siehe auch ebd.: „Der Übergang von der Oralität der Homerischen zur Literalität der Platonischen Zeit führt allmählich zur Dominanz des Sehens in der griechischen Kultur“.
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sondern vor allem aufgrund gesellschaftlich-historischer Entwicklungen, innerhalb derer der Zivilisierungsprozess und dessen Autonomiepotential an Techniken der Selbst- wie Fremd- und Naturbeherrschung gebunden bleiben, wird fortan in der europäischen Philosophie dem Auge die stärkere Erkenntnismacht zugetraut. ‚Macht‘ ist Erkenntnis dabei auch deshalb, weil sie praktischen, ergo weltverändernden Charakter hat, worüber das dem Erkennen verwandte, optisch konnotierte Wort ‚Beobachtung‘ leicht hinwegtäuschen mag. Denn es ist nicht allein das Auge, dem die Vorherrschaft eingeräumt wird über die anderen Sinnesvermögen. Erst in der Verbrüderung von gerichtetem Blick und ausführender, die Dinge dann tatsächlich be- bzw. ergreifender Hand kann der Machtanspruch seine Geltung entfalten, worauf Jürgen Trabant hingewiesen hat: „Es geht um sehende Augen und greifende Hände. Die Hand greift etwas, wobei ihr das Auge behilflich ist. Dies ist seit den Griechen das erkenntnistheoretische Grundmodell des Westens. Erkennen ist ein greifendes Sehen oder sehendes Greifen: intuitus und conceptus. [Endnote:] Dem entspricht die Metaphorik unserer westlichen Sprachen für den kognitiven Bereich: wir ‚halten‘, ‚sehen‘, ‚erfassen‘, ‚begreifen‘, ‚halten fest‘; wir ‚hören‘ aber so gut wie nichts.“24
Dass diese Entwicklung im Judentum nicht auf gleiche Weise stattfand, vielmehr der Hörsinn dort eine wichtigere Position behaupten konnte, dürfte sich – trotz aller Unterschiede in den Details – als Tendenz aus den Dokumenten der Philosophiegeschichte herauslesen lassen. Unter Berücksichtigung der von Sonnemann und Schweppenhäuser entworfenen ‚Sensupolitik‘ (siehe Kapitel 1) wäre dabei auch nach dem möglicherweise antijudaistischen resp. antisemitischen Subtext dieser Sinnesgeschichte zu fragen. Auffällig, dass dem Gehör als angeblich passivem Sinn häufig mangelnde herrschaftliche Souveränität attestiert wird im Gegensatz zum scharf und schneidend blickenden Auge; diese Zuschreibung erinnert (womöglich nicht zufällig) an das antisemitische Klischee vom effeminierten, also ‚verweichlichten‘ und ‚verweiblichten‘ Juden, der ‚nicht Manns genug‘ sei für solche Souveränität.25 24Jürgen
Trabant: „Der akromatische Leibniz: Hören und Konspirieren“, in: Das Ohr als Erkenntnisorgan (= Paragrana 2/1–2), S. 64–71, S. 64. 25In ähnlichem Sinne konstatieren auch Joachim Küchenhoff und Rolf Peter Warsitz: „diese [akustische] Tradition der abendländischen Geistesgeschichte ist der Übermacht des Okulozentrismus geopfert worden, wobei zu überprüfen wäre, ob diese Hörtradition, die primär eine jüdische Tradition ist, zusammen mit der 2.000 Jahre währenden Judenverfolgung unterdrückt worden ist.“ Joachim Küchenhoff, Rolf Peter Warsitz: Labyrinthe des Ohrs. Vom therapeutischen Sinn des Zuhörens in Psychopathologie und Psychoanalyse, Gießen 2017, S. 15. Im Übrigen wird in antisemitischen Projektionen der Körperlichkeit der Sinnesorgane eine nicht unerhebliche Rolle zugeschrieben, wobei die ‚jüdischen‘ Sinnesorgane in karikaturhafter Weise von den ‚normalen‘ abgegrenzt werden. Micha Böhme weist in diesem Sinne darauf hin, dass mit der Überzeichnung der Nase in antisemitischen Bilddarstellungen der Geruchssinn als ‚schnüffelnder‘ beargwöhnt wird; vgl. Micha Böhme: „Von Lust & Gefahr, sich im Anderen zu verlieren. Ein Essay übers Riechen als dem wohl geächtetsten aller Sinne“, in: Kunst, Spektakel und Revolution, H. 3, 2013. Ob sich ähnliche Überzeichnungen auch im Hinblick aufs Ohr finden lassen, und ob etwa das antisemitische Stereotyp vom verschwörerischen ‚Mauscheln‘ mit einer
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Eine kritische Hermeneutik: Ausdeutung versus Götzendienst Wenn oben gesagt wurde, dass Sonnemann in der Ausführung der auch von ihm bemühten Gegenüberstellung von griechisch-visuellem und jüdisch-akustischem Erkenntnismodell sehr zurückhaltend bleibt, so trifft das nicht ganz zu. Zumindest den erkenntnistheoretischen Implikationen des mosaischen Bilderverbotes und der sich daraus ergebenden Emphase auf der Ausdeutung des Wortes widmet Sonnemann einige Aufmerksamkeit. Dabei rückt er zugleich das Verhältnis von Autonomie und Autorität in ein Licht, das die zweifelhafte disjunktive Gegenüberstellung der beiden infrage stellt. Es ist insbesondere ein Aufsatz – 1965 im Jahrbuch für kritische Aufklärung (= Club Voltaire) zum ersten Mal erschienen und dann später in einer allerdings stark gekürzten Fassung in die Tunnelstiche aufgenommen – der sich dezidiert diesem Gegenstand widmet. Sein Titel lautet: „Mose oder Die Zukunft der Autorität“.26 Dabei gilt Sonnemanns Interesse weder der historischen Person Mose, noch einer vermeintlich überzeitlichen Charaktertypologie, die sich an dieser Gestalt festmachen ließe. Vielmehr stehen im Zentrum des Textes religionsphilosophische und insbesondere epistemologische Überlegungen, wie sie sich an dieser (gewissermaßen literarischen) Figur verdeutlichen. Bezeichnend für Mose als einer solchen Figur sei, so Sonnemann, dass er nicht zu den Priestern, mithin gerade nicht zu den „bevorrechtigten Hüter[n] des stammesväterlichen, stammesgöttlichen Erbes“ gehöre, denen an strikter und unhinterfragter Befolgung eines Dogmen-Kataloges gelegen sei, denn „das Hypnotisiertwerden lag ihm nicht, er erlaubte es sich, wie nie vor den Abbildern, auch vor keinem bestimmten ‚Gesicht‘.“ (MZA, 86) Die Idee einer grundsätzlichen Hierarchie der Nähe zum Göttlichen, wonach die Priester der Offenbarung des Göttlichen am nächsten stünden, man daher ihrer Autorität schlechterdings zu gehorchen habe, liegt dieser Figur fern. Dagegen begründet sich mit Mose vielmehr „die intellektuelle Linie in Israel“ (MZA, 86). Nicht primär kultische Verehrung und unhinterfragt einzuhaltende Rituale verbriefen die Nähe zum Göttlichen, sondern gerade die dialogische, also argumentative Auseinandersetzung über den Wahrheitsgehalt der Offenbarung. Das zeigt sich Sonnemann zufolge anschaulich am Status der von Mose empfangenen und verkündeten Gebote, von denen gelte, dass sie
Diffamierung ‚lauschender‘ bzw. hörender Haltung einhergeht, wäre wiederum ein eigener Untersuchungsgegenstand. Zu diesem Thema siehe auch Julius Schoeps und Joachim Schlör: Bilder der Judenfeindschaft. Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München (Pieper) 1995. Für die Hinweise sei Maja Krüger herzlich gedankt. 26Ulrich Sonnemann: „Mose oder Die Zukunft der Autorität“, in: Gerhard Szczesny (Hg.): Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung Bd. II, München 1965. Im Folgenden mit der Sigle MZA abgekürzt und mit nachgestellten Seitenzahlen direkt im Haupttext zitiert. Für die stark gekürzte Version des Textes vgl. Sonnemann: Tunnelstiche [1987], S. 67–73.
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„keine Befehle sind, sondern die Freiheit auf ihren Weg weisen. Dem widerspricht nicht, daß sie ihre Entschiedenheit, die Bestimmtheit ihres Buchstabens haben, so wie diese selbst nicht der Einsicht widerspricht, daß sie von der Instanz aller Vernunft, deren Name Jahwe ist, revidiert werden könnten: welcher Fall, da sie vernünftig sind, nur keine Wahrscheinlichkeit hat. Doch bedeutet eben die Buchstäblichkeit ihres Befolgtwerdenwollens nichts Mechanisches, sondern verdeutlicht den Willen des Gesetzgebers für den, der ihm folgt: wo ein gesellschaftlicher oder institutioneller Begriff, der in den Geboten erscheint, zu der von ihm gemeinten Sache nicht mehr im Verhältnis der unverrückbaren Fraglosigkeit steht wie in der Zeit ihrer Niederschrift, müssen sie gerade um ihrer Konstanz willen demgemäß interpretiert werden.“ (MZA, 86)
Gefordert also ist kein blinder Gehorsam – keine Hörigkeit –, sondern eine denkende und kritisch prüfende, auslegende, mündige Auseinandersetzung mit dem derart Vorgegebenen. In dieser Weise lassen sich die Gebote aber nur dann verstehen, wenn sie nicht ein von menschlicher Vernunft ganz und gar Verschiedenes, von außen bloß Vorgesetztes bzw. Oktroyiertes sind, vielmehr an jener Vernunft selbst Anteil haben. Andersherum müsste dafür auch die Vernunft selbst Anteil am Göttlichen haben, zumindest sofern den mosaischen Geboten ein anderer Status zukommen soll als der des bloß menschgemachten, arbiträren Gesetzes. Daher ist nach Sonnemanns Deutung der Name Jahwe (diese höchst abstrakte Idee Gottes, die sich, wie Vernunft, durch keinen empirischen Gegenstand in Gewahrsam nehmen lassen will) auch die ‚Instanz aller Vernunft‘: Der eine Gott soll das Prinzip von Universalität schlechthin sein. Ebenso hat auch Vernunft notwendigerweise ein Moment von Universalität, mit dem sie den Menschen ermöglicht, sich aus ihrer je eigenen (körperlichen wie mentalen) Position heraus, ihrer jeweiligen Partikularität, in ein Verhältnis zur Allgemeinheit zu setzen.27 Die Gebote repräsentieren diese Allgemeinheit durch ihren universellen Geltungsanspruch, zumindest für alle Bevölkerungsschichten des biblischen Israels, das Sonnemann zufolge die Idee der (ganzen) Menschheit bereits antizipiert. Erst in Bezugnahme auf solche Allgemeinheit kann das einzelne Subjekt frei werden: Wäre es ohne Vernunftfähigkeit in seiner je eigenen Partikularität eingeschlossen, so wäre es auf Gedeih und Verderb seinem naturhaften Schicksal ausgeliefert. (Man denke hier, zugegeben etwas parabelhaft, an die Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten, die ja durchaus eine Geschichte der Befreiung ist, nämlich Befreiung aus der Sklaverei. Mose würde sich dann nicht nur der Stimme Gottes anvertrauen, sondern auch derjenigen der Vernunft, die zur Befreiung ruft.)28 27Man
könnte auch sagen, wie Christoph Türcke schreibt, „daß die menschliche Vernunft unheilbar mit Metaphysik geschlagen ist. Denn die Vernunft kann nicht anders als ergründen, erklären, interpretieren, d. h. in die Vielfalt Einheit, ins Disparate Zusammenhang, Ordnung, Sinn bringen.“ Christoph Türcke: „Metaphysik und Naivität“, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Einsprüche kritischer Philosophie. Kleine Festschrift für Ulrich Sonnemann, Kassel 1992, S. 9–12, hier S. 11. 28Zu den Aporien dieser Geschichte siehe allerdings Peter Bulthaup: „Das Gesetz der Befreiung. Vom Anfang und Ende der ägyptischen Gefangenschaft“, in: Ders. Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, hg. vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover, Lüneburg 1998, S. 8–18.
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Als Repräsentanten der freiheitsermöglichenden Allgemeinheit sind die Gebote jedenfalls nicht das Gegenprinzip von Freiheit, sie sind (wie es im Zitat heißt) ‚keine Befehle‘, sondern Wegweiser der Emanzipation. Aus dieser Perspektive wäre dann beim Befolgen die den Subjekten gegebene Vernunft der Maßstab und nicht das Dogma, also nicht die unkritisch tradierte Lehrmeinung einer auserkorenen Priesterschaft. Entscheidendes Mittel wie Medium der Vernunft bei diesem Unterfangen ist die Sprache: Schon die Gebote sind sprachlich kodifiziert, insofern muss sich der Intellekt ihnen auch auf sprachliche Weise nähern und sich sprachlich mit ihnen auseinandersetzen. Das heißt nun gerade nicht, dass die Worte ‚mechanisch‘ eins zu eins in Taten umgesetzt würden. Nicht einmal die stupideste Handlungsanleitung für den banalsten Handgriff funktioniert derart, dass eine sprachlich verfasste Anweisung (vom Auge oder Ohr aufgenommen) unmittelbar in Tätigkeit der Hände (oder des Körpers) umgesetzt würde. Jedes Wort will zuvor verstanden sein, ehe es in die Tat versetzt werden kann. Jedes Verstehen ist aber immer schon ein Interpretieren: Übersetzung ins Verständliche. Umso mehr gilt dies für komplexe und abstrakte Zusammenhänge, wie sie etwa die mosaischen Gebote darstellen. Als sprachliches Dokument ist selbst die Heilige Schrift nicht das Ende der intellektuellen Auseinandersetzung mit der Welt, sondern ihr Anfang.29 In Sonnemanns Darstellung zeigt sich Mose demzufolge weniger als ein Stammvater und Religionsbegründer, umso mehr erscheint er als ein Aufklärer (was freilich dem Ort der Erstpublikation des Aufsatzes entspricht): „Das die Glaubenssitten umwälzende Wort ist der Anfang der Entmythologisierung, dieses Daimonions der Zivilisation, die seit der Stunde auf dem Horeb die Sache der einen Menschheit verfolgt.“ (MZA, 82)30
Das aufklärerische Potential eines solchen Umgangs mit dem Wort erweist sich dann auch im moralischen Konflikt, für den die Gebote zu einem Großteil schließlich einschlägig sind. Sonnemann versteht die Gebote hier nicht als Ersatz einer eigenen, denkenden Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Problemfall. Eher repräsentieren sie in gewisser Weise die ‚Stimme der Vernunft‘ und die ihr verwandte ‚Stimme des Gewissens‘, die vernommen werden wollen:
29Deutlich
wird dies nicht zuletzt an Mose selbst, der auch als Zweifelnder auftritt. Vom biblischen Stoff inspiriert hat Arnold Schönberg den Konflikt um das Bilderverbot aus dem Dekalog in ähnlichem Sinne eindrucksvoll in Musik übersetzt. Vgl. Arnold Schönberg: Moses und Aron [1923–1937|UA 1954], Mainz 1984. 30Implizit zumindest findet sich im Text damit eine Idee wieder, die an verschiedenen Stellen der Kritischen Theorie, u. a. in den Schriften Benjamins, Adornos und auch Horkheimers, auftaucht, namentlich der Versuch, Aufklärung als Rettung der Theologie zu verstehen; wörtlich findet sich diese Formulierung beispielsweise in einem Brief Adornos an Scholem vom 28.12.1957; vgl. Theodor W. Adorno und Gershom Scholem: Briefwechsel 1939–1969, hg. von Asaf Angermann, Berlin 2015, S. 169.
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„Das Gewissen wiederrum, wie fest immer auch dieses Klischee an ihm klebt, ist nicht einsam, sondern kommunikativ: noch wo es allein ist, hadert es mit sich (oder Jahwe), Argumente gebraucht und bewillkommt es, es kann irren, aber es ist nicht irrational.“ (MZA, 82)31
Ein Gewissen ist demzufolge weniger ein bloß gefühltes, inneres Raunen oder Rumoren, das mythische Macht über seinen Träger ausübt; noch lediglich Instanz des Über-Ichs, also inkorporierte gesellschaftliche Normativität. Vielmehr ist es ein offenes Ohr für die Widersprüchlichkeiten und zu bedenkenden Aspekte des je vorliegenden Falles. Kommuniziert wird dabei auf verschiedenen Ebenen: Abwägen von Argumenten im individuellen Denken, Austausch über die entsprechenden Angelegenheiten mit Anderen und (nicht zuletzt) feinfühlige sowie hellhörige und -sichtige Wahrnehmung dessen, was für die umtreibenden Erwägungen von Belang ist: „Als Prinzip eines glückenden Dialogs kann Gewissen bestimmt werden, die Gebote sind Ergebnisse daraus, sie beenden nicht das Gespräch“. (MZA, 82)
Mit ‚Gespräch‘ wiederum ist aufmerksame, insofern offene Auseinandersetzung gemeint; Auseinandersetzung mit anderen denkenden Wesen, mit einer Idee, mit der Wirklichkeit. Das Gewissen versteht Sonnemann in diesem Kontext also als eine offene Haltung für Einsprüche und Einwände, bessere Argumente. Es verschließt sich weder dem vernünftigen Disput, noch aber der Erfahrung mit der Wirklichkeit, die in dieser Auseinandersetzung ebenfalls eine ‚Stimme‘ besitzt; auch wenn sinnlich Erfahrbares nicht selbst reden kann, sondern erst in eine menschliche Sprache übersetzt werden muss. Sonnemann zufolge ist Vernunft schließlich schon deshalb angewiesen auf wahrnehmende Offenheit für solcherlei Widerstände, die ihrerseits zum Anlass der kritischen Befragung vermeintlicher Selbstverständlichkeiten werden, weil sie die Welt nicht ganz und gar beherrschen kann, ohne sich selbst dabei zu zerstören. Würde der Intellekt sich einfach über alle erfahrbaren Phänomene hinwegsetzen, sich also als absoluten Herren einsetzen, so missriete die Befreiung aus mythischer Unterwerfung unter eine angeblich gottgewollte Ordnung der Dinge gründlich. Zwar bedarf es zur Befreiung der Vernunft; doch kann diese nicht über alles in der Welt nach eigenem Gutdünken verfügen. Obwohl der emphatische Anspruch
31In
der gekürzten und überarbeiteten Version des Textes von 1987 heißt es statt „kommunikativ“: „aufs beredteste mitteilsam“; Sonnemann: Tunnelstiche, S. 71. Möglicherweise lässt sich in dieser Überarbeitung und Vermeidung des Kommunikations-Vokabulars eine bewusste Abkehr vom Paradigma der Kommunikation erkennen, welches zwischen der Erstveröffentlichung des Aufsatzes zu Mose und seiner Aufnahme in die Tunnelstiche durch Jürgen Habermas in dessen Theorie eingeführt wurde. Jedoch muss der Begriff ‚Kommunikation‘ nicht unbedingt in diesem Sinne verstanden werden. Bei Sonnemann ist damit zunächst einmal ‚Auseinandersetzung‘ im weitesten Sinne gemeint; welche Art von Auseinandersetzung dann jeweils gemeint ist, ergibt sich erst aus dem entsprechenden Kontext. Eine sozialontologische Bestimmung ist ‚Kommunikation‘ bei Sonnemann jedenfalls nicht.
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von Vernunft sein muss, alles potentiell auch verstehen zu können (und sei es zumindest negativ und annäherungsweise), so hat sich Vernunft zugleich ihrer eigenen Unzulänglichkeiten zu besinnen. Eine ihrer notwendigen Unzulänglichkeiten wäre, dass nicht alles in Gedanken vorweggenommen, nicht alles im Voraus ausgedacht werden kann. Es sind Dinge in der Welt, die nicht allein durch den Menschen geschehen, auch wenn menschliche Tätigkeit das meiste mindestens beeinflusst – und sei es alleine dadurch, dass diese Dinge zu Gegenständen des Denkens werden. Etwas an den Dingen bleibt dennoch prinzipiell „unvordenklich“, wie Sonnemann an anderer Stelle schreibt.32 Anders gesagt: so gut wie nichts in der Welt lässt sich abschließend als durchweg berechenbares Gedankending bestimmen. Gegen eine narzisstische Selbstüberschätzung der Vernunft soll die Reflexion über jene Unverfügbarkeit also das Gegengift sein. Die Idee eines prinzipiell unvorstellbaren Gottes, wie sie sich in der Erzählung von Mose findet, und das damit einhergehende Bilderverbot deutet Sonnemann ganz in diesem Sinne: Entgegen der Illusion gänzlicher Verfügbarkeit allen Seins ist „der entscheidende Zug an Jahwe […] seine Unsichtbarkeit“, indem er sich gerade aus der Welt zurückzieht. Damit wird Gott zur „radikale[n] Unausdenklichkeit“, welche zugleich „eine Unendlichkeit für das Denken“ (MZA, 82) bedeutet. Eine Pointe dieser Deutung des Bilderverbotes ist praktischer Natur. Wenn nämlich die Welt weder in Gedanken noch in Wirklichkeit schon abgeschlossen ist, da auch kein göttlicher Plan hinter dem Lauf der Dinge ausfindig gemacht werden kann – die Annahme eines solchen Planes widerspräche radikal dem Bilderverbot –, dann kann die theoretische wie praktische Auseinandersetzung mit ihr auch nicht ad acta gelegt werden, etwa indem man das Schicksal in die Hände Gottes legte. Auch dies zeigt sich, so Sonnemann, im hebräischen Namen Jahwes, wie er sich Mose verkündet: „Geschrieben steht nicht, Gott ist, sondern Ich werde sein, der Ich sein werde: was zu Wort kommt, ist ein Begriff nicht von Seiendem, auch nicht von dessen Gänze, dem Kosmos, oder dessen Urgrund, dem bekannten Seyn; sondern der Inbegriff von Subjektivität.“ (MZA, 81)33
Aus dem Gottesnamen spricht demzufolge nicht die (hinter den Dingen waltende) Grundstruktur der Welt, der man sich nur anzuvertrauen hätte. Vielmehr offenbart sich ein Wissen darum „was werden will, alles Seiende daher je übersteigt: dem, was sein sollte, den einzig dauerhaften Maßstab also für das setzt, was ein Mensch tun oder lassen soll, je nach dem Fall“ (MZA, 81). Die Subjektivität, die laut Sonnemann schon im Gottesnamen zum Ausdruck kommt, korrespondiert insofern der ethischen, also praktischen Dimension der Gebote. Als Handlungsleitfäden
32Sonnemann:
„Das sedierte Sensorium“, S. 15. ‚Seyn‘ im Zitat spielt auf die entsprechende Kategorie bei Heidegger an. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Anspielung führte allerdings vom Thema des Kapitels weg, sodass sie hier ausgespart bleibt. 33Das
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setzen sie auf tätig in den Weltlauf eingreifende Menschen, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen. Auch wenn vernünftige, freiheitsbefördernde Weltveränderung sich nicht am Maßstab eines (theologisch, fundamentalontologisch oder wie auch immer begründeten) fixen Weltplanes zu orientieren vermag, solche Autorität also vor kritischer Vernunft keinen Bestand haben kann, so kommt sie doch nicht ganz ohne Autorität aus. An die Stelle des autoritären Dogmas tritt die Instanz der Vernunft, indem sie die Aufgabe übernimmt, „die Autoritäten (alle) auf ihre menschliche Qualifikation hin zu prüfen, ihre Zulänglichkeit vor dem Geist“ (MZA, 88). Kaum dürfte es übertrieben sein, in dieser Beschreibung Sonnemanns Anklänge der Abwägung von Freiheit und Notwendigkeit zu finden, wie sie sich in Kants Begriff von Autonomie, also Selbtsgesetzgebung, finden lassen.34 Solche Autonomie sollte also nicht missverstanden werden als Zerstörung jedweder Autorität und Tradition. Schon das Schicksal manch einer ‚antiautoritären‘ Bewegung, die in ihrem Gestus der Autoritätskritik selbst umso rigoroser und mithin autoritärer wurde, warnt eindringlich vor jenem Kurzschluss; der II. Teil vorliegender Untersuchungen wird diesbezüglich noch auf Sonnemanns Auseinandersetzung mit der studentischen Opposition der 1960er und 70er Jahre zu sprechen kommen. Im Kontext der biblischen Geschichte von Mose stellt sich die Frage nach Autorität derweil insbesondere als Frage nach der Autorität des Wortes. Blumenbergs „Exkurs über Auge und Ohr“ in der erkenntnistheoretischen Metaphernwelt deutete ja bereits an, dass im Laufe der Zivilisationsgeschichte dem Auge ein Moment von Freiheit (sprich: Autonomie) zugedacht wurde, das man dem Ohr als Sinn für die Tradition nicht auf gleiche Weise zugestand oder später absprach. Doch lässt sich auch in dieser Entwicklung, die Blumenberg zufolge im unhinterfragten Glauben an die Evidenz positivistischer Wissenschaft im Zeitalter der Aufklärung kulminiert, ein gewisses Missverständnis des Verhältnisses von Autonomie und Autorität bemängeln. Kritische Vernunft nämlich fällt nicht
34Deutlich
wird das an der Stellung dieser Überlegungen Sonnemanns zum Begriff des Gesetzes, das als das fromale Gesetz der Vernunft im Kategorischen Imperativ in der praktischen Philosophie Kants eine entscheidende Rolle einnimmt. Auch Sonnemann kennt einen solchen Begriff von Selbstgesetzgebung der Vernunft, den er über eine Anmerkung Franz Kafkas beschreibt: „Das Revolutionäre bedeutet, hier wie immer, nicht Gesetzlosigkeit, sondern deren Aufhebung durch ein Gesetz, das sich selbst schreibt, indem es den Menschen, der aufsteht, inspiriert, es als Gesetz sich zu schaffen. ‚Mir fehlt‘, schreibt am 19. Oktober 1921 Kafka in sein Tagebuch, ‚der Boden, die Luft, das Gesetz. Die mir zu schaffen, soll meine Aufgabe sein.‘“ MZA, 87. – Sonnemanns Deutung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung unterscheidet sich im Übrigen von der Beschreibung Adornos, wonach Offenbarungsglaube und autonome Vernunft widerstreitende Prinzipien seien, auch wenn beiden ein gewisses Recht zugestanden wird; vgl. Theodor W. Adorno: „Vernunft und Offenbarung“ [1957|1958], in: Stichworte, AGS 10, S. 608–616. Womöglich jedoch wäre diese Position vereinbar mit der folgenden Formulierung, die Sonnemann später an anderer Stelle für besagtes Verhältnis fand: „Vernunft und Offenbarung sind asymmetrisch genug […], gerade mit dieser Asymmetrie zu demonstrieren, daß ganz ohne das jeweils andere keines der beiden zu sein vermag“ Ulrich Sonnemann: „Das fatale Perfektfutur“, S. 209.
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der Illusion anheim, dass das Denken des einzelnen Subjekts aus sich heraus alles in der Welt „zu Sicht (Experiment) und Einsicht (Deduktion) bringen kann“.35 Denken (hier verstanden als subjektiver Geist) hat Anteil an allgemeiner Vernunft (hier als objektiver Geist); allein schon weil die Begriffe und Kategorien des Denkens in einer Sprache situiert sind, die das einzelne Subjekt je transzendiert.36 Experimentelle Entdeckungen wie auch logische Deduktionen können nur gelingen, wenn sie sich auf dem Boden der sprachlich verfassten Vernunft vollziehen. Die positivistische Haltung, Wahrheit spreche allein aus den experimentell erschließbaren Fakten, ist ein Irrglaube. Sie irrt, denn schon der für diese Haltung notwendige Wahrheitsbegriff entspringt nicht einfach der Faktenwelt, sondern ist ein Vernunftbegriff. Auch spricht kein Faktum für sich, sondern muss – durch denkende Tätigkeit – stets interpretiert und insofern gleichsam zum Sprechen gebracht werden. Und diese Haltung ist, entgegen ihrem rationalistischen Selbstverständnis, ein Glaube, denn der ihr korrespondierende Wahrheitsbegriff (sichtbare Fakten = Wahrheit) ist dogmatisch gesetzt und wird seinerseits nicht selbst kritisch hinterfragt, erhält darin eine quasi-religiöse Autorität. Im positivistischen Glauben an die Sichtbarkeit der wahren Tatsachen äußert sich, so ließe sich aus Blumenbergs Erwägungen folgern, das Verlangen nach Präsenz. Dieses scheint im Laufe der Menschheits- und Erkenntnisgeschichte ein festeres Bündnis mit dem Sehen eingegangen zu sein als mit dem Hören, das zwischen zeitlich Anwesendem und Abwesendem zu vermitteln vermag, insofern aber nicht nackte Anwesenheit zum alleinigen Wahrheitskriterium erwählt.37 Hat sich nicht, dem geradezu entgegengesetzt, das nach Erkenntnis strebende Sehen positivistischer Wissenschaft darauf versteift, nur dem Präsenten und Sichtbaren Glauben zu schenken? — Man könnte, noch einmal mit Christoph Wulf, sagen: „Während das Auge eine Tendenz hat, die Dinge als unveränderliche wahrzunehmen, erfaßt der Hörsinn die Dynamik zeitlicher Genese. Hören ist an zeitliche Abfolgen gebunden.“38 Ist dem so, dann mag, auch aufgrund seiner es vom Auge unterscheidenden Geschichte, das Ohr als Erkenntnisorgan eher davor gefeit sein, der hypnotisierenden Abbildungskraft positivistischer Wissenschaft zu verfallen.
35Blumenberg:
„Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 164. deshalb gibt es keine Privatsprachen, wie Wittgenstein zutreffend beschreibt; vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [1953], Frankfurt a. M. 2011, § 258. 37Hier sei noch einmal auf Kapitel 2 und den Rekurs auf Augustinus zurückverwiesen, der die zeitliche Vermittlungsleistung des Hörens nachdrücklich zum Thema machte. Und in ähnlichem Sinne schreibt Goodman-Thau zur Kritik des Präsenz-Denkens: „Ulrich Sonnemann hatte die unheimliche Gabe, immer wieder das Heute zu hören. Das Heute wird im biblischen Hebräisch als der Tag bezeichnet. Dieser meint nicht ein ewiges Heute als zeitlich-statische Einheit, sondern ein Heute, das an einem jeden Tag das Heute von Gestern erleben kann und es für das Morgen in neuer Weise eröffnet: nicht als ein Hören des Gestern: was gestern gesagt wurde, kann ja heute nicht gehört werden.“ Goodman-Thau: „Von der Kunst des ‚Auf‘ hörens und des ‚Nach‘ fragens“, S. 228. 38Wulf: „Das mimetische Ohr“, S. 10. 36Eben
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Kritik eines positivistischen, aufs Tatsachenfeststellen versteiften Wahrheitsbegriffs bedeutet jedoch keine Absage an jedweden Wahrheitsbegriff. Im Gegenteil: Das Erkenntnisinteresse etwa der Kritischen Theorie (und insofern auch dasjenige Sonnemans) richtet sich auf eine gesellschaftlich und geschichtlich gewordene Welt und ihren Status quo. Ob sie diese Verhältnisse adäquat in Gedanken erfasst, ist Kriterium ihrer Wahrheit: „adaequatio rei et intellectus“, Angleichung von Sache und Verstand.39 Wo aber die Sachen im Argen liegen, ihre Verhältnisse in sich sinnwidrig und unvernünftig sind, da kann der Intellekt nicht mit ihnen schlechterdings übereinstimmen, kann adaequatio also nicht das alleinige Kriterium für emphatische Wahrheit sein. Ernstgemeintes Immanenzdenken (Befassung mit all dem, was in der Welt ist) drängt zur Transzendenz (dem Wissen, dass etwas falsch ist und fehlt; dem Bestreben, für das Schlechte den treffenden Namen zu finden). Inmitten denkender Erfahrung mit den Dingen ist wahrzunehmen, was über die Dinge hinausweist. Nicht aus dem leeren Ideenhimmel speist sich die transzendente Seite solcher Kritik, sondern aus dem, was geworden ist; also aus geschichtlicher Bewegung, die sich in den Dingen sedimentiert hat. Die Rede von Wahrheit beinhaltet damit auch eine praktische Dimension. Sie soll an das Potential erinnern, dass das Verdinglichte auch wieder in Bewegung gesetzt werden kann. Programmatisch heißt es entsprechend bei Sonnemann: „Denn das Wahre ist das Ganze nicht – es will es durch den Menschen erst werden.“ (NA, 63)40 Wenn also der sehenden Erkenntnis eine Tendenz innewohnt, die Dinge als unveränderliche wahrzunehmen, dann wäre das Gehör als Zeitsinn dagegen der Sinn für die Dynamik der Dinge. Einschlägig ist dabei nicht nur der augenfällige Gegensatz von Statik und Dynamik, Stillstand und Bewegung. Womöglich ist noch nachdrücklicher eine andere kategoriale Gegenüberstellung aus der philosophischen Tradition am Werk: das Begriffspaar von Dynamis (gr. δύναμις) und Enérgeia (gr. ἐνέργεια), Potenz und Akt. Dynamis bezeichnet hierbei die (noch nicht realisierte) Möglichkeit, während Enérgeia den Vollzug und die Umsetzung jener Möglichkeit meint.41 Hören als der Sinn für Dynamik wäre demzufolge auch der Sinn für das Mögliche. Mit anderen Worten: Dem, was geworden ist (der Wirklichkeit), wäre zugleich abzulauschen, was als unausgeschöpfte Möglichkeit im Gewordenen und Wirklichen noch eingeschlossen oder verschlossen liegt. Das Denken dieser Möglichkeiten ließe sich nicht nur auf die Bewegung der Dinge ein, sondern gleichermaßen auf seine eigene. Eine Bewegung, die nicht vom Himmel
39Thomas
von Aquin: De veritate – Von der Wahrheit, ausgewählt, übers. und hg. von Albert Zimmermann, Hamburg 1986, S. 8 (quaest. 1, art. 1). 40Ulrich Sonnemann: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals [1969], Schriften Bd. 3, S. 19–360. Hier und im Folgenden mit der Sigle NA abgekürzt und im Haupttext nachgewiesen. – Zu diesem Zitat siehe auch . 41Diese kategorialen Bestimmungen gehen auf Aristoteles’ Metaphysik (Buch V, Kap. 12; Buch IX, ff.) zurück; vgl. Horst Seidl: „Möglichkeit“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (=Mo – O), Darmstadt 1984, Sp. 72–92, insb. Sp. 75–80.
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fällt, sondern ihrerseits eine Geschichte, also ‚Tradition‘ hat.42 Zwar kommt Sonnemann auf einen solchen Begriff der Dynamis nicht direkt zu sprechen, doch zumindest indirekt ließen sich sowohl das folgende als auch das übernächste und abschließende Zitat aus „Mose oder Die Zukunft der Autorität“ derart deuten: „Das je sich Verfestigende selber (der Gewohnheiten, der Einrichtung, des Begriffs), worin träge, geronnene Abstraktionen, weder Zukunft noch Überlieferung lebt, sondern die Leiche eines Gedankens verwest, den die, die ihn hochhalten, nicht mehr denken, ist der Todfeind dieser Bewegung [scil. der Hegelschen], seine Namen sind Ideologie und Tabu“. (MZA, 91)
Dies scheint denn auch, um durch diesen Passus alle Fäden des Kapitels zusam menzuführen, die Autorität des unaussprechlichen, aus der Welt entrückten und doch in ihr vernommenen Gottesnamen zu sein: Die negative Idee davon, dass das, was ist, nicht alles sein kann. Nicht um der falschen Autorität eines unantastbaren Tabus willen setzen die mosaischen Gebote auf das Bilderverbot, sondern damit das Denken nicht vor falschen Bildern die Waffen streckt, sich selbst zu Grabe legt und die tätige Auseinandersetzung mit der Welt einstellt. Die Aufgabe einer (von der Theologie in die Philosophie übertragenen) kritischen Hermeneutik besteht insofern darin, den Gedanken wahrhaftig in Bewegung zu halten: mit den Mitteln der Vernunft, wie sie sich auch aus der Tradition des Denkens überliefert haben, sich den Dingen anzunähern; in Tuchfühlung mit der Wirklichkeit deren Gewordensein und die in ihr liegenden Potentiale auszulegen. Nicht das schiere Erblicken von Tatsachen, vielmehr die treffende Deutung der Welt ist das Geschäft von Philosophie als kritischer Wissenschaft. Während die positivistischen Wissenschaften sich mit dem Auffinden vermeintlicher Tatsachen begnügen, muss einer kritischen daran gelegen sein, das solcherart Aufgespürte ins Verhältnis zu seiner Wahrheit zu setzen, die als noch werdende sich in reiner adaequatio von Welt und Gedanke nicht erschöpfen kann: „Die modernen Barbareien, wie die Analyse jeder ihrer Ideologien verrät, historische Evidenz dann bestätigt, haben sämtlich einen positivistischen Kern, sie bemächtigen sich jeweils des Abfalls der Aufklärung von gestern; während deren Prinzip, das allein von der je vordersten Spitze ihrer Bewegung her erfaßt werden kann, gerade will, daß die Menschen den Tatsachen, dem Gegebenen der Welt, nicht verfallen, sondern es ändern. Sie können es nur ändern, wenn sie über das hinaus, was ist, dessen inne werden, was sein sollte“. (MZA, 84)
42Siehe
hierzu noch einmal Bloch: Tübinger Einleitung, S. 233 f.: „[D]ie Materie ist so zu definieren: Sie ist nicht der mechanische Klotz, sondern – gemäß dem implizierten Sinn der Aristotelischen Materie-Definition – sowohl das Nach-Möglichkeit-Seiende (kata to dynaton), also das, was das jeweils geschichtlich Erscheinenkönnende bedingungsmäßig, historischmaterialistisch bestimmt, wie das In-Möglichkeit-Seiende (Sein) (dynamei on), also das Korrelat des objektiv-real-Möglichen oder rein seinshaft: das Möglichkeits-Substrat des dialektischen Prozesses. […] Die Materie ist bewegt, indem sie in ihrem zu sich offen Möglichen ein ebenso unausgetragenes Sein ist, und sie ist nicht passiv wie Wachs, sondern bewegt sich selber formend, ausformend.“
4
Beherrschte Verlockung und verschlossene Ohren Odysseus und der Sirenengesang
„Seiner Erfahrung lag aber die Überlieferung, an die sich Kafka hingab, allein zugrunde; keinerlei Weitblick, auch keine ‚Sehergabe‘. Kafka lauschte der Tradition, und wer angestrengt lauscht, der sieht nicht. Angestrengt ist dieses Lauschen vor allem darum, weil nur Undeutliches zum Lauscher dringt. Da ist keine Lehre, die man lernen, und kein Wissen, das man bewahren könnte. Was im Fluge erhascht sein will, das sind Dinge, die für kein Ohr bestimmt sind.“ (Walter Benjamin: [Brief an Gershom Scholem], Gesammelte Briefe, Bd. VI, S. 112.) „Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht“ (Franz Kafka: „Das Schweigen der Sirenen“, S. 41.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_4
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4 Beherrschte Verlockung und verschlossene Ohren
Unverkennbar sind Sonnemanns Aufsatz über „Mose oder Die Zukunft der Autorität“ Motive zu eigen, die, kaum zufällig, an Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung erinnern. Hier wie dort ist es eine sich selbst verkennende, im Dienste von Herrschaft zur berechnenden Ratio verkümmerte Vernunft, die sich – dem Irrglauben verfallen, ihre Verfügungsmacht sei grenzenlos – selbst zerstört. Da Vernunft kein eigenständiges Subjekt ist, sondern an ihre Träger (vernunftbegabte Sinnenwesen) gebunden bleibt, heißt ‚sich selbst zerstört‘ zugleich: ruiniert von einer Menschheit, die sich ihrer vornehmlich als Herrschaftsmittel bedient, darin Vernunft als gesellschaftlich unreflektierte in ihr Gegenteil umschlägt; namentlich in den Mythos ‚Aufklärung‘, als sei im rein technologischen Fortschritt das Versprechen eines menschenwürdigen Lebens auf Erden schon erreicht. Insofern ist der moderne, wissenschaftliche Positivismus nicht einfach das Gegenteil zur archaisierenden Barbarei, die im 20ten Jahrhundert in Gestalt von Faschismus und am grauenhaftesten im Nationalsozialismus alles Menschliche terrorisiert. Vielmehr lassen sich wissenschaftliche Forschung und die ihr zu verdankende Technik ebenso für humane Zwecke nutzen, wie sie als Herrschaftsinstrumente dieselben demolieren und vernichten können. Dass die Barbarei am grausamsten zurückschlägt ausgerechnet im Zeitalter einer nie dagewesenen wissenschaftlichen Aufklärung – mit Max Weber gesprochen nach der „Entzauberung der Welt“ (DdA, 24),1 durch welche scheinbar noch die letzten Reste mythischer Erklärungsversuche ausgedient haben und sich in weiten Erdteilen ein bis dato unbekanntes Maß an technischer Rationalisierung durchgesetzt hat – dass Barbarei derart zurückschlägt, ist nicht einfach als plumper Rückfall der Kultur hinter die von ihr einmal geleistete Aufklärung zu verstehen. Vielmehr äußert sich darin eine der Kultur latent innewohnende Tendenz, sofern Kultur das von ihr Geschiedene – Natur – bloß verdrängt und sich an ihre Stelle setzt, mithin abstrakt negiert und nicht durch und in sich aufhebt.2 Angesichts der aufziehenden Barbarei formulierte Walter Benjamin in einem seiner letzten Texte: „Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ‚noch‘ möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.“3 Der Aufklärungsprozess, zugleich der Prozess von Zivilisierung und Kultivierung, wäre demnach in seiner inneren Widersprüchlichkeit zu analysieren. Aufklärung muss sich auch über sich selbst aufklären,
1Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1944|1947], in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften (= HGS) Bd. 5, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987, S. 11–290. Im Folgenden mit der Sigle DdA abgekürzt und im Haupttext mit nachgestellten Seitenzahlen zitiert. 2Zu diesem der Psychoanalyse entlehnten Motiv vgl. Christine Kirchhoff: „Kultur und Illusion. Die Begründung von Kritik mit der Psychoanalyse Sigmund Freuds“, in: Sven Ellmers, Philip Hogh (Hg.): Warum Kritik? Begründungsformen kritischer Theorien, Weilerswist 2017, S. 210– 228. 3Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 697.
Die Sirenen singen hören
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wenn die ihr eigene Rationalität nicht zum fungiblen Herrschaftsinstrument und damit irrational (oder besser vielleicht: unvernünftig) werden soll. Diese Haltung spricht aus dem letztzitierten Text Sonnemanns. Ihren Vorläufer findet sie in den 1940ern bei Horkheimer und Adorno. Nicht zuletzt geht es um das Widerspiel von mythischer Naturverfallenheit und der Befreiung aus selbiger durch Vernunft, die jedoch als sich verselbständigende Naturbeherrschung den Charakter einer wiederum mythisch werdenden, zweiten Natur annimmt. Da Kapitel 7 vorliegender Untersuchungen unter dem Stichwort ‚negative Anthropologie‘ auf die Dialektik der Aufklärung noch zu sprechen kommen wird, sei im Folgenden nur ein Motiv aus ihrem Kosmos aufgegriffen, dessen Bedeutung für unser Thema auf der Hand liegt: dasjenige der verschlossenen Ohren des Odysseus als Mittel der Natur- wie Selbstbeherrschung.
Die Sirenen singen hören „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie und die Menschen vollends zu beherrschen.“ (DdA, 26) Dieser in der geschichtlichen Erfahrung der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts gründenden These folgend, wenden sich Horkheimer und Adorno verschiedenen Dokumenten der Zivilisationsgeschichte zu. Bereits in den frühesten Texten der europäischen Kultur wie in Homers Odyssee, so die These, lassen sich erste und entscheidende Charakterzüge des bürgerlichen Subjekts ausfindig machen, wie es sich dann schließlich mit der Frühen Neuzeit als gesellschaftliches Modell zu verallgemeinern beginnt. Wohlgemerkt meint ‚bürgerliches Subjekt‘ dabei einen spezifischen Funktionszusammenhang des menschlichen Individuums innerhalb einer Gesellschaft solcher Subjekte – und nicht die isolierte Perspektive auf einen erkenntnistheoretischen Begriff des Subjekts; weshalb also die Dialektik der Aufklärung nicht als ein Beitrag zu einer abstrakten Diskussion und Kritik des epistemologischen Subjekt-Begriffs verstanden werden sollte. Konkret nämlich deuten Horkheimer und Adorno die Odyssee aus der Perspektive ihrer eigenen Gegenwart und damit gleichsam rückblickend, also weder als wahre Tatsachenbeschreibung eines realgeschichtlichen Prozesses der Subjektwerdung noch als unumstößliche Genealogie des modernen und erkenntnistheoretischen Begriffs ‚Subjekt‘.4 Zweifelsohne befördert die von ihnen unternommene Engführung des (geschichtlich oftmals gewaltförmig verlaufenen) Zivilisierungs- und
4Wie sehr diese Darstellung Horkheimers und Adornos an ihre Zeit und die direkte Erfahrung der nationalsozialistischen Barbarei gebunden ist, zeigt sich etwa in folgender Formulierung, welche zwar die allgemeine Neigung instrumenteller Vernunft beschreiben soll, durch ihren Herrschaftsanspruch sich zur gottgleichen, quasi-religiösen Instanz zu verklären, erkennbar jedoch auf den historisch spezifischen Herren-Gestus der Nazis anspielt: „Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht in der Souveränität übers Dasein, im Blick des Herrn, im Kommando.“ DdA, 31.
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ubjektivierungsprozesses mit der (hinter dem proklamierten Anspruch von AufS klärung weit zurückfallenden) Barbarei des 20ten Jahrhunderts zwar eine gewisse Erkenntnis über Gesellschaft und Geschichte; etwa diejenige, dass gesellschaftlich Verdrängtes wiederkehrt, sich dabei jedoch nicht selten in regressiver wie repressiver Entsublimierung Bahn bricht.5 Doch heißt dies eben nicht, dass von der menschlichen Frühzeit bis zur Gegenwart eine einzige universalgeschichtliche Zwangsläufigkeit waltet, wonach im Ursprung menschlicher Vergesellschaftung schon die Katastrophen ihrer ‚Endzeit‘ unentrinnbar angelegt sind, Geschichte damit in fataler Weise vorentschieden wäre. Zwar kehrt Unerledigtes häufig genug mit einem gewissen Wiederholungszwang zurück, allerdings ist dies nicht notwendigerweise die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘, denn auch das Wiederkehrende unterliegt einem Wandel. Allein schon, dass der Zeitpunkt des Wiederkehrens ein späterer ist, spricht dagegen, ein striktes Gleichbleiben des Wiederkehrenden anzunehmen.6 Für den Gegenstand der Dialektik der Aufklärung bedeutet dies: Herrschaft und Gewalt, die sich gewissermaßen als Konstanten durch alle Geschichte bis heute aufrechterhalten haben, nahmen in verschiedenen Epochen ganz unterschiedliche Ausformungen und Qualitäten von Inhumanität an. Daher empfiehlt es sich, den Epos vom Helden Odysseus – nach Horkheimer und Adorno eine jener ‚Urszenen‘ der bürgerlichen Subjektwerdung – nicht einfach als Grundstruktur allen bürgerlichen Lebens zu interpretieren. Zumindest für unsere Zwecke sei im Folgenden die Aufmerksamkeit eher auf die geschichtlichen Variationen dieses Motivs gelegt.7 Für die Dialektik der Aufklärung verkörpert Homers Held Odysseus den Austritt des Menschen aus seinem ohnmächtigen Naturzustand. Das gelingt ihm, indem er, reisend und erkundend, in die chaotische und von mythischen Mächten beherrschte Welt eine Ordnung bringt, sie sich dergestalt untertan macht. Das Mittel im Ringen mit jenen Mächten ist dabei seine List, pars pro toto der Vernunft, die sich anschickt, den Herrschaftsanspruch der alten Mächte zu beerben. Als beherrschende muss Vernunft sich disziplinieren, dem einfachen Triebleben abgetrotzt werden; der Held hat sich einen Teil seiner Wünsche zu versagen, um nicht im steten Fluss ebenjener Wünsche zu versinken. Selbsterhaltende
5Der
Begriff der repressiven Entsublimierung bezieht sich auf Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übers. von Marianne von Eckardt-Jaffé, Frankfurt a. M. 1965. 6Siehe hierzu auch unten, Kapitel 15, insbesondere die dortigen Überlegungen zum psychoanalytischen Konzept der Nachträglichkeit. 7Ausführlicher zum Problem der Lesart der Dialektik der Aufklärung (und auch der homerischen Sirenen-Passage) siehe Nina Rabuza, Martin Mettin: „Die Dialektik des Subjekts in der Kritischen Theorie“, in: Susann Köppl et al. (Hg.): Spannungsverhältnis Subjekt?, Berlin 2014, S. 59–79; sowie Vanessa Vidal: „Jenseits von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie: Diesseits von Theodor W. Adornos Idee naturgeschichtlicher Deutung“, in: Thomas Ebke et al. (Hg.): Mensch und Geschichte zwischen Natur und Gesellschaft. Zum Verhältnis von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie (= Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd. 6), Berlin 2016, S. 133–144.
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ernunft trennt ihr Subjekt ab von dem, was ans Unsouveräne und gewissermaßen V Objektartige – die eigene Naturhaftigkeit – erinnert. Doch so simpel, wie es scheinen könnte, gelingt dieser Prozess nicht. Die Natur im Subjekt sträubt sich gegen ihr Verdrängtwerden, bricht zuweilen hervor und verschafft ihrem Anspruch Gehör. Sinnbild dafür ist der verlockende Gesang der Sirenen, die von ihrer Insel die Seeleute mit ihren Stimmen magisch anziehen, damit aber ins Verderben stürzen: den Verlust der mühsam errungenen Souveränität: „Indem sie [scil. die Sirenen] jüngst Vergangenes unmittelbar beschwören, bedrohen sie mit dem unwiderstehlichen Versprechen von Lust, als welches ihr Gesang vernommen wird, die patriarchale Ordnung, die das Leben eines jeden nur gegen sein volles Maß an Zeit zurückgibt. Wer ihrem Gaukelspiel folgt, verdirbt, wo einzig immerwährende Geistesgegenwart der Natur die Existenz abtrotzt.“ (DdA, 56)
Odysseus aber, bei aller Selbstbeherrschung für das Versprechen der Lust auch empfänglich, will den Gesang der Sirenen hören. Um bei diesem Unterfangen nicht umzukommen, sich selbst zu verlieren, folgt er listenreich einem Rat der Göttin Kirke, hier in den Worten des homerischen Epos: „Aber du steure vorbei, und verkleibe die Ohren der Freunde Mit dem geschmolzenen Wachse der Honigscheiben, daß niemand Von den andern sie höre. Doch willst du selber sie hören; Siehe, dann binde man dich an Händen und Füßen im Schiffe, Aufrecht stehend am Maste, mit festumschlungenen Seilen: Daß du den holden Gesang der zwo Sirenen vernehmest. Flehst du die Freunde nun an und befiehlst die Seile zu lösen; Eilend feßle man dich mit mehreren Banden noch stärker!“8
Für Horkheimer und Adorno ist dies die Urszene der Arbeitsteilung: Odysseus, als König der herrschenden Klasse zugehörig, kann sich den Genuss des betörenden Gesanges nur deshalb leisten, weil die Ruderer zu diesem Zwecke ihre Arbeit verrichten. Um ihr ungehindert nachgehen zu können, müssen sie sich vor den verlockenden Gesängen die Ohren verschließen, die Hingabe an die Lust verweigern. Doch obwohl Odysseus sein Ohr für die Lust offenhält, vollzieht er in sich selbst diese Form der Arbeitsteilung noch einmal – mit der Konsequenz, dass auch ihm die lustvolle Wunscherfüllung verwehrt bleibt. So zumindest will es die Deutung des Epos in der Dialektik der Aufklärung, denn Odysseus „hört, aber ohnmächtig an den Mast gebunden, und je größer die Lockung wird, um so stärker läßt er sich fesseln, so wie nachmals die Bürger auch sich das Glück um so hart-
8„ἀλλὰ παρεξελάαν, ἐπὶ δ' οὔατ' ἀλεῖψαι ἑταίρων | κηρὸν δεψήσας μελιηδέα, μή τις ἀκούσηι | τῶν ἄλλων· ἀτὰρ αὐτὸς ἀκουέμεν αἴ κ' ἐϑέληισϑα, | δησάντων σ' ἐν νηι θοῆι χεῖράς τε πόδας τε | ὀρθὸν ἐν ἱστοπέδηι, ἐκ δ' αὐτοῦ πείρατ' ἀνήϕθω, | ὄϕρα κε τερπόμενος ὄπ' ἀκούσηις Σειρήνοιιν. | εἰ δέ κε λίσσηαι ἑτάρους λῦσαί τε κελεύηις, | οἱ δέ σ' ἔτι πλεόνεσσι τότ' ἐν δεσμοῖσι διδέντων.“ Homer: Odyssee, 12. Gesang, Verse 47–54, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß [1793], Frankfurt a. M. 2008.
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näckiger verweigerten, je näher es ihnen mit dem Anwachsen der eigenen Macht rückte. Das Gehörte bleibt für ihn folgenlos“. (DdA, 57)
Doch bleibt das Gehörte wirklich ganz folgenlos? Schon dass Odysseus darauf beharrt, den Gesang der Sirenen zu vernehmen, und nicht, wie seine Gefährten, verschlossenen Ohres an ihnen vorbeizieht, spricht dagegen, diese Figur bloß als Vorbild einer bürgerlich-asketischen Arbeitsethik zu deuten. Auch hinterlässt die Hörerfahrung ihre Spur in Odysseus; denn noch später bei den Phäaken weiß er von seiner Begegnung mit Worten zu berichten, die etwas vom lustvollen Gefühl in sich aufgehoben haben. Noch einmal in der Formulierung des homerischen Epos: „Also sangen jene voll Anmut. Heißes Verlangen Fühlt’ ich, weiter zu hören, und winkte den Freunden Befehle, Meine Bande zu lösen; doch hurtiger ruderten diese. Und es erhuben sich schnell Eurylochos und Perimedes, Legten noch mehrere Fesseln mir an, und banden mich stärker. Also steuerten wir den Sirenen vorüber; und leiser, Immer leiser verhallte der Singenden Lied und Stimme. Eilend nahmen sich nun die teuren Genossen des Schiffes Von den Ohren das Wachs, und lösten mich wieder vom Mastbaum.“9
Einerseits also weiß dieser Odysseus sich tatsächlich zu zügeln und zu mäßigen, versagt sich das gänzliche Aufgehen im lustvollen Moment, das hier wohl seiner Aufgabe als Subjekt, seinem Untergang und Tod gleichkäme. Andererseits jedoch ist sein Sensorium offen für die sinnlichen Lüste und die Hingabe an sie. Odysseus lässt sich nicht zum Selbstzweck fesseln, seine Fesselung hat ihren Sinn vielmehr darin, ihn für einen Augenblick ganz Ohr sein, sich im ‚heißen Verlangen‘ vom Gesang der Sirenen ergreifen zu lassen. Dem menschlichen Sinnenwesen ist solche Hingabe nicht ohne ein gewisses Maß an Distanz möglich, und zwar um des Selbsterhalts als Subjekt willen: Gäbe Odysseus sich dem Sirenengesang mit Haut und Haar hin, folgte er seinem Lustimpuls also bis in die letzte Konsequenz, so wäre eine autonome Lebensführung schlechterdings unmöglich. Er würde alles andere als diese Lusterfüllung vergessen, dann aber seine anderen somatischen Bedürfnisse, gar seine Freiheit als denkendes Wesen, nicht mehr ausleben können und müsste, wie die unselig gestrandeten Seeleute im Mythos, an den Klippen der Sireneninseln verenden. Doch bedeutet diese Distanz nicht notwendigerweise Beziehungslosigkeit zu jenem Lustmoment oder gar Abstumpfen und Fühllosigkeit des Sensoriums für solche Verlockungen; ist im Gegenteil notwendige Voraussetzung dafür, als Vernunftwesen am sinnlichen Glück teilhaben und etwas vom glücklich erfüllten Moment über das augenblickhafte Verfließen hinaus erretten zu können. Mit anderen Worten: Gefühl und Verstand sind nicht nur geschiedene Sphären für diesen Odysseus, sondern ebenso auf einander bezogen ϕάσαν ἱεῖσαι ὄπα κάλλιμον· αὐτὰρ ἐμὸν κῆρ | ἤθελ' ἀκουέμεναι, λῦσαί τ' ἐκέλευον ἑταίρους | ὀϕρύσι νευστάζων· οἱ δὲ προπεσόντες ἔρεσσον. | αὐτίκα δ' ἀνστάντες Περιμήδης Εὐρύλοχός τε | πλείοσί μ' ἐν δεσμοῖσι δέον μᾶλλόν τε πίεζον. | αὐτὰρ ἐπεὶ δὴ τάς γε παρήλασαν, οὐδ' ἔτ' ἔπειτα | ϕθογγῆς Σειρήνων ἠκούομεν οὐδέ τ' ἀοιδῆς, | αἶψ' ἀπὸ κηρὸν ἕλοντο ἐμοὶ ἐρίηρες ἑταῖροι, | ὅν σϕιν ἐπ' ὠσὶν ἄλειψ', ἐμέ τ' ἐκ δεσμῶν ἀνέλυσαν.“ Homer: Odyssee, 12. Gesang, Verse 192–200. 9„ὣς
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und in sich vermittelt, haben nur im Zusammenspiel eine Chance.10 Abweichend von der Deutung der Dialektik der Aufklärung jedenfalls ließe sich ebenso gut sagen, dass die Begegnung mit den Sirenen für den homerischen Odysseus nicht folgenlos bleibt, vielmehr nachgerade den Status einer echten Erfahrung besitzt. Was dieses Subjekt in der Passage der Sirenen-Insel vernimmt, berührt und verändert es.11 Auch wenn es sicherlich zu viel behauptet wäre, im antiken Odysseus das Modell eines schlechthin glückenden Triebaufschubs, also einer gelungenen Sublimierung und späteren Einlösung des zunächst vertagten Wunsches zu erblicken, so scheint doch Horkheimers und Adornos gegenteilige Deutung der gänzlich missglückten Triebversagung gleichfalls nicht ganz vom Epos gedeckt. Zwar hat ihre Interpretation der gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Zustände etwas Bestechendes wie Treffendes, jedoch wäre es falsch, die Odyssee als bloßes Dokument einer solchen Herrschaftsgeschichte zu verstehen, wie das folgende Zitat es nahelegen könnte: „Der Geist wird in der Tat zum Apparat der Herrschaft und Selbstbeherrschung, als den ihn die bürgerliche Philosophie seit je verkannte. Die tauben Ohren, die den fügsamen
10Ganz
in diesem Sinne – und sich damit indirekt von der Dialektik der Aufklärung absetzend – deutet auch Oliver Voß in seiner Studie Gesänge der Stille den Epos: „Dass Musik nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl anspricht, war den Griechen nichts Fremdes. Gefühl und Verstand sind für sie einerseits getrennt und andererseits (selbst im platonischen dualistischen Weltverständnis) auch vereinigt gewesen. Dass sie heutzutage häufig gegeneinander ausgespielt werden ist Ausdruck der Trennung von Privatem (Innerlichem) und Öffentlichem in der bürgerlichen Ideologie.“ Oliver Voß: Gesänge der Stille. Musik in der Literatur, Hannover & Norderstedt 2009, S. 28. Im Übrigen verweist Adorno an anderer Stelle auf das durchaus ambivalente Verhältnis der griechischen Antike zur Musik und damit zum Hörsinn, in welchem Gefühl und Verstand nicht einfach abstrakt gegeneinandergesetzt sind; im Gegenteil sei Musik dort gleichermaßen „Kundgabe des Triebs und die Instanz zu dessen Sänftigung“, Theodor W. Adorno: „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens“ [1938|1956], in: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, AGS 14, S. 14–50, hier S. 14. 11Noch einmal Oliver Voß: „Es ist eine echte Begegnung mit den Sirenen. Kirke, die Göttin, gibt Odysseus die Mittel, ihnen tatsächlich zu begegnen und nicht nur willenloses Objekt zu sein. Odysseus setzt die Naturgebundenheit seines Körpers ein. Sein Körper lässt sich zwingen, ist der Natur und der Gewalt der anderen unterworfen. Seine Gefährten fesseln ihn und bestätigen damit seine Verbundenheit mit der Natur wie mit der zweiten Natur des Gemeinwesens der Herrschenden, dem er angehört. Sein Geist ist frei genug, dem Gesang zu folgen; aber nur als Zuhörer. Die Bindung an das Sinnliche ist ihm gleichzeitig das Hindernis, welches ihn den Gesang nicht unvermittelt hören lässt. Aber ohne diese Distanz und gleichzeitige Nähe gibt es keine Musik als Kunst. Die Distanz verweist auf und vereinigt die beiden Pole des Unterschiedes. Er will nicht, wie ein Tourist, den Zauber des Exotischen bloß konsumieren. Seine Schilderung ist kein Urlaubsbericht. Es ist auch als Metapher für die Kunst zu lesen, dass die Reisenden einerseits frei sind in ihrer Bewegung und den Trick durch die Offenbarung der Kirke kennen, aber andererseits in ihrer Freiheit äußerst diszipliniert und gebunden sind, um nicht der Gleichgültigkeit und Unfreiheit zu verfallen. Freiheit ist niemals unmittelbare Freiheit, ohne die gemeinte Freiheit zu verraten und zur Ideologie der Freiheit unter gegebenen Umständen beizutragen. So betröge sie über sich selbst und würde für die endlichen Menschen zum einfachen Mythos der Freiheit und in dieser Verkehrung zur Herrschaftsbegründung.“ Voß: Gesänge der Stille, S. 39.
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Proletariern seit dem Mythos [scil. der Odyssee] blieben, haben vor der Unbewegtheit des Gebieters nichts voraus.“ (DdA, 59)
Verhallt das Schweigen der Sirenen unvernommen? Die Dialektik der Aufklärung attestiert der unter undurchdringbaren Herrschaftsverhältnissen leidenden Menschheit eine grundsätzliche Fühllosigkeit und mangelnde Erfahrungsfähigkeit, „die Unfähigkeit, mit eigenen Ohren Ungehörtes hören, Unergriffenes mit eigenen Händen tasten zu können“ (DdA, 59). Sinnbild für jenen Zustand der Fühllosigkeit, der auch mit instrumenteller Rationalität und Zurichtung menschlichen Lebens nach Maßgaben abstrakt-ökonomischer Gesetzte einhergeht, sind die verschlossenen Ohren aus der Odyssee. Doch ließe sich das Symptom eines sedierten Sensoriums an anderer Stelle möglicherweise treffender auffinden als bei Homer. Seit der Antike wandelt die Figur des Helden Odysseus durch die Literaturgeschichte, die Erzählung von seiner listenreichen Vorbeifahrt an den Sirenen dabei (Stichwort: Wiederkehr des Ungleichen) verschiedene Varianten finden lassend. In der literarischen Moderne – damit der von der Dialektik der Aufklärung beschriebenen Epoche ungleich näher als der antike Text – bedient sich Franz Kafka des Stoffes auf eine Weise, die frappierend an Horkheimers und Adornos Odysseus erinnert. In der kurzen Erzählung „Das Schweigen der Sirenen“ (1917 entstanden, aber erst 1931 von Max Brod unter diesem Titel aus dem Nachlass veröffentlicht) ist es der zunächst etwas einfältig daherkommende Held Odysseus selbst, der sich zum Schutz vorm lockenden Sirenengesang die Ohren verschließt: „Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel der Rettung dienen können. [Absatz] Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können, außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.“12
Dass dieser Odysseus nicht mehr der archaische Held ist, als den Homer ihn beschrieb, deutet sich mehrfach an. Keine Seile, sondern die technologisch fortschrittlicheren Ketten binden Odysseus nun an den Mast, ‚schmieden‘ ihn gar fest.13 Auch ist Odysseus hier ohne Gefährten unterwegs, was ihn der bürgerlichen Monade ähnlich macht, die zwar der erzwungenen Gemeinschaft ihrer 12Franz
Kafka: „Das Schweigen der Sirenen“ = „Oktavheft H (Ende Januar 1918 bis Anfang Mai 1918)“, in: Ders.: Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe, Nachgelassene Schriften und Fragmente Bd. II, hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt a.M. 1992, S. 40–42, hier S. 40. In der Kritischen Ausgabe ist der Text aus dem Oktavheft ohne Titel abgedruckt. Ich verwende hier den nachträglich von Max Brod gewählten Titel „Das Schweigen der Sirenen“, unter dem der Text im Folgenden zitiert wird. 13Vgl. Voß:
Gesänge der Stille, S. 52.
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Sippe entronnen, zugleich im Durchleben einer „Robinsonade“14 jedoch in der allgegenwärtigen, ökonomisch bedingten Konkurrenz ganz auf sich allein gestellt zu sein scheint; und zwar auf Gedeih (Gewinn persönlicher Autonomie) und Verderb (Trennung von vernünftiger gesellschaftlicher Kooperation, Bedrohung menschlicher Beziehungen). Was zunächst recht wunderlich anmuten mag in Kafkas Variation, dass nämlich beide Hilfsmittel gegen die zerstörerische Verlockung der Sirenen (Fesselung und Verschließen der Ohren) bei seinem Odysseus zugleich zum Einsatz kommen, mag sich aus jenem atomisierten Zustand des modernen bürgerlichen Subjekts erklären. Das antike Gesellschaftsgefüge, wie es sich bei Homer präsentiert, war ein feudalherrschaftliches; die Zwangsgemeinschaft der Untertanen leistet – für alle offensichtlich – mühevolle Arbeit für ihren Herrn, was diesem den Genuss sinnlicher Lust in weitaus größerem Maß gestattet als seinen Untergebenen. So werden bei Homer die beiden Schutzvorrichtungen gegen den Sirenengesang (Fesseln und Wachs) verschiedenen Subjekten zugedacht, gemäß ihrer hierarchischen Stellung im antiken Gesellschaftsgefüge. Kafkas moderner Odysseus jedoch befindet sich im Zustand abstrakter gesellschaftlicher Herrschaft. Als freier Lohnarbeiter scheint er ganz autonom zu agieren, sein eigener Herr (qua freier Verfügungsmacht über die eigene Arbeitskraft), der nur für sich selbst arbeitet, mithin zugleich sein eigener und nur sich selber Untertan. Was die Verhältnisse dieser Scheinautonomie jedoch verschleiern: dass der moderne Lohnarbeiter seine Ware Arbeitskraft zu Diensten ihm fremder und abstrakter Zwecke veräußern muss. Angesichts solcher Verhältnisse gilt, um der Selbsterhaltung im ökonomischen Konkurrenzkampf willen, Selbstdisziplinierung als oberste Maxime. Alles, was davon ablenkt – etwa die Verlockungen sinnlicher Lust und schwelgerischen Versenkens in Erinnerungen – stellt eine existentielle Bedrohung für die ökonomische Selbsterhaltung dar. Vielleicht erklärt sich hieraus, dass Kafkas Odysseus nun nicht mehr hören, sich dem Gesang und der Sinnenlust nicht rezeptiv hingeben will, vielmehr seine eigene Überlegenheit über die unterworfene Natur unter Beweis zu stellen anstrebt. Besonders listenreich scheint dieses Unterfangen zwar nicht; eigentlich ja sollte laut Kafkas Version jedem die Unzulänglichkeit dieser ‚Mittelchen‘ bekannt sein. Dennoch gelingt auch seinem Odysseus die Vorbeifahrt, ohne dass er körperlich zu Schaden kommt. Nicht aber, weil das Wachs in den Ohren ein besonders probates Mittel wäre, sondern – erneute Variation des Themas mit einer geradezu aberwitzigen Wendung – weil die Sirenen zum ersten Mal in ihrer Geschichte schweigen, was den vermeintlichen Triumph des Odysseus höchst fragwürdig erscheinen lässt: „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als ihren Gesang, nämlich ihr Schweigen. Es ist zwar nicht geschehn, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem Gesange gerettet hätte, vor ihrem Verstummen gewiß nicht. Dem Gefühl aus eigener Kraft sie besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches widerstehen. [Absatz] Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam,
14Marx:
Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 90.
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die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.“15
Angesichts jenes überheblichen Gefühls des modernen Odysseus, der Vernarrtheit in seine technischen Fertigkeiten und Mittel der Naturbeherrschung, scheint Natur ihm nichts zu sagen zu haben. Als Objekt seiner Verfügungsgewalt rationalisiert das Subjekt Natur und macht sie sich verfügbar; jedoch solchermaßen, dass das ihr innewohnende Glücksversprechen zum Schweigen gebracht wird. Kafkas Erzählung erweckt tatsächlich den Eindruck, als würde nun Odysseus selbst sich die Erfüllung von Lust derart versagen, dass sie nicht nur aufgeschoben, sondern gänzlich ausgetrieben zu sein scheint, was seine vermeinte Überlistung der Sirenen in Wirklichkeit zu einem Scheitern an ihnen macht. Während die verschlossenen Ohren der Gefährten im antiken Epos noch dazu dienten, zumindest einem der Gefährten (selbstredend dem Herrscher) das Hören überhaupt und einigermaßen unbeschadet zu ermöglichen, sind sie hier zum Selbstzweck und damit aber beinahe gänzlich erfahrungsunfähig geworden.16 Wahrhafte Emanzipation hätte jenes Modell des hörfähigen Aristokraten gesellschaftlich verallgemeinert, mithin alle Bürger – und all jene Menschen, die nicht einmal den Status des Bürgers besaßen – mit emanzipierten Ohren ausgestattet. Doch statt diesem Potential zu folgen, setzte die bürgerliche Emanzipation seit der Frühen Neuzeit heimlich und stillschweigend eine andere Form von Herrschaft über die Menschen ein als die archaisch-konkrete: die abstrakte Herrschaft einer sich zum Selbstzweck entfremdenden, mehrwertschöpfenden Ökonomie, die mit ihrer bloß kontrollierenden, naturbeherrschenden Ratio die Sinne aller tendenziell fühllos macht, damit kaum ein Ohr ernsthaft wahrnehmen lässt, was es zu hören gäbe.17 Bei Kafka versagt sich Odysseus denn auch wirklich wie die Bürger „umso hartnäckiger das Glück“ (DdA, 57), je näher es ihm rückt, will vom Glücksversprechen rezeptiver (also empfänglicher) Ohren anscheinend nichts wissen. Stattdessen setzt er ganz aufs Auge, welches offenbar seine Souveränität bezeugen soll:
15Kafka:
„Das Schweigen der Sirenen“, S. 40 f. Odysseus unterscheidet sich von demjenigen Homers gerade darin, „dass er sich durch die Begegnung mit den Sirenen nicht ändern will.“ Voß: Gesänge der Stille, S. 54. Darin zeigt sich nach der Interpretation von Oliver Voß die Verkehrung von Mitteln in einen Selbstzweck: „Kafkas Odysseus fährt den Sirenen entgegen und nicht an ihrer Insel vorbei. Seine Mittel dienen nicht mehr dem Zweck, nach Hause zu kommen, sondern sind Selbstzweck.“ Ebd., S. 55. 17Vgl. hierzu noch einmal Adorno: „Über den Fetischcharakter in der Musik“. – Zwar mögen Adornos Formulierungen überaus drastisch und damit überzeichnet sein, doch schärfen sie darin zugleich das Bewusstsein für gewisse Tendenzen der ‚verwalteten Welt‘, individuelle Freiheit, die auch einen rezeptiven Anteil hat, zu bedrohen. Siehe hierzu auch unten, Kapitel 15 (Noch einmal: Eingedenken der Natur im Subjekt). 16Kafkas
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„Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen. [Absatz] Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Wind wehn, spannten die Krallen frei auf den Felsen, sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. [Absatz] Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden, so aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.“18
Als Stille wäre Schweigen negativ hörbar. Hört man die schweigende Stille, so hört man allerdings nicht nichts; man hört vielmehr, dass etwas nicht zu hören ist, dass etwas fehlt, dass eben geschwiegen wird statt gesprochen oder (wie im Fall der Sirenen) gesungen. Hört man ein Schweigen, so treten demzufolge nicht nur andere akustische Reize in den hörbaren Vordergrund (man denke hier beispielweise an John Cages Klavierstück 4'33'', das durch ausbleibendes Klavierspielen mit einem Mal die konzertanten Hintergrundgeräusche ins akustische Bewusstsein hebt); es werden umso mehr Mangel und Leere als solche hörbar (bei 4'33'' das Fehlen jedweder Klavierklänge).19 Noch fürs Wahrnehmen solchen Schweigens bedürfte es aber eines offenen Ohres. Auch deshalb, weil dieses Schweigen nicht das blanke Gegenteil von Sprache ist, vielmehr erst als derart Benanntes und Versprachlichtes überhaupt wirklich wahrgenommen wird — und weil zur Wahrnehmung dessen der Hörende selbst schweigen muss, um sodann sein Schweigen beredt werden zu lassen. „Dieses hörende Schweigen ist nur in der Sprache möglich“, wie Johann Kreuzer dies in Rekurs auf Augustinus formuliert hat.20 Kafkas Odysseus jedoch hat sich die Ohren verstopft und hört mithin überhaupt nicht. So aber hört er auch das Schweigen nicht, oder – ‚um es so auszudrücken‘ – hört nicht, dass er tatsächlich nichts hört. Indes ist das nur die halbe Wahrheit. Zum
18Kafka:
„Das Schweigen der Sirenen“, S. 41. etwa schreibt zum Schweigen der Natur: „Nun beginnt ihre andere Stummheit, die wir mit der tiefen Traurigkeit der Natur meinen. Es ist eine metaphysische Wahrheit, daß alle Natur zu klagen begönne, wenn Sprache ihr verliehen würde.“ Benjamin: „Über Sprache überhaupt“, BGS II, S. 155. – Dass Benjamin hiermit ganz offenkundig ein (sprachtheoretisches) Leitmotiv mittelalterlichen Philosophierens aufruft, lässt sich Johann Kreuzers Darstellungen einer Dialektik des Schweigens von Augustinus bis Cusanus entnehmen; vgl. Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, S. 207–225; sowie Johann Kreuzer: „Walter Benjamins Theorie der Übersetzung“, in: Rolf Elberfeld et al. (Hg.): Translation und Interpretation, München 1999, S. 119–132, hier S. 128. – Zur philosophischen Bedeutung des (hörbaren) Schweigens siehe auch Günter Wohlfart, Johann Kreuzer: „Schweigen, Stille“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 (= R–Sc), Darmstadt 1992, Sp. 1483–1495. – Auf eine ganz drastische Bedeutung des Hörbarwerdens von Schweigen im Kontext von Claude Lanzmanns Film Shoah hat hingewiesen: Anne Eusterschulte: „Leibliches Hören. Responsivität und Zeugenschaft. Ein Essay“, in: Sonja Knopp, Sebastian Schulze und Anne Eusterschulte (Hg.): Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, Weilerswist 2016, S. 71–99, insb. S. 75 f. 20Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, S. 214. 19Benjamin
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Nicht-Hören des Schweigens wird seine durch den Wachs herbeigeführte Taubheit erst, indem Kafkas Odysseus seinen Augen unhinterfragt zu trauen scheint: Er ist von seinem entschlossenen Blick so sehr eingenommen und abgelenkt, dass er das Abhandenkommen des Telos seiner Aktion – sinnliche Erfahrung und Lusterfüllung – scheinbar nicht einmal bemerkt. Während im antiken Epos die Hierarchie der Sinne noch nicht ganz entschieden war – Homers Held Odysseus wollte ja gerade Ohrenzeuge des Sirenengesangs werden, nicht vornehmlich Augenzeuge ihrer Gestalt –, ist dem modernen Menschen die Kontrollfunktion des Auges offenbar selbstverständlich.21 Mit der Konzentration aufs distanzierende „Auge der instrumentellen Vernunft“22 verbannt der moderne Odysseus alles aus seinem Selbst, was naturhaft und unverfügbar ist an ihm (und wofür das hingabevolle Hören Modellfall wäre), ohne das jedoch Lust und Glück nicht zu haben sind. Womöglich ist dieses hartnäckige und nachhaltige Abspalten der Grund dafür, dass Kafkas Odysseus im Moment der nächsten Nähe zu den verführerischen Sirenen von ihnen nichts mehr weiß. Derart verdrängt aber hören die Sirenen zu singen auf, wollen ‚nicht mehr verführen‘. Sie werden zu Reflexen des ‚großen Augenpaars des Odysseus‘, optisch zwar ‚schöner als jemals‘, doch wissen wir aus dem Mythos, dass ihr Aussehen unerheblich ist für ihre Verführungskraft und allein ihre Stimmen hierfür von Belang, sodass sie in Kafkas Variante nicht mehr das sind, wofür sie einstehen: ihre Verlockung wird zum Trug, resp. zum „Gaukelspiel“ (DdA, 56), ist nicht mehr Erscheinen (oder Erklingen) des Schönen, nur noch schöner Schein. Je öfter man die wenigen Sätze der Kafkaschen Erzählung liest, desto fremder und rätselhafter werden sie allerdings. Eine verbindliche Deutung wird sich ihnen kaum entwinden lassen, dazu sind sie viel zu widersprüchlich und mehrdeutig angelegt. So ist denn – als Andererseits zum gerade ausgedeuteten – das Verhältnis zwischen Sehen und Hören wohl doch komplexer zu bestimmen als dasjenige von blickender Souveränität und hingabevoll-passivem Hören. Das zeigt schon die schlichte Tatsache an, dass Kafkas Odysseus vor allem diejenigen Dinge sieht, welche die optischen Begleiterscheinungen primär akustischer Phänomene sind, nämlich solche Regungen der Sirenen, die wirken als ‚gehörten sie zu den Arien‘. Odysseus sieht hier gleichsam so, als ob er hörte. Potenziert wird diese Verwirrung (oder Verstrickung) der Sinne dann noch einmal dadurch, dass der dem ersten Anschein nach etwas kindische und einfältige Odysseus durchaus listenreich daherkommt, ganz wie sein antikes Vorbild. Denn sein festentschlossener wie selbstgewisser Blick spielt womöglich nur etwas vor: Nach außen scheint die Souveränität des modernen Odysseus zwar triumphierend und unbeschadet hervorzugehen aus dem Prozess der Zweckrationalisierung. Innerlich jedoch bleibt, korrespondierend zur akustischen Leere, eine Ohnmacht, der sich Kafkas Odysseus möglicherweise durch eine gewisse Form von Selbstreflexivität widersetzt, ganz im Bewusstsein um seine Ohnmacht:
21„Die
Helden suchten sich selbst in der Auseinandersetzung mit den archaischen Zauberinnen zu finden. Darum will Odysseus bei Homer hören. Der moderne Odysseus nimmt sich als dem Sehen verpflichtet wahr.“ Voß: Gesänge der Stille, S. 52. 22Voß: Gesänge der Stille, S. 58.
Verhallt das Schweigen der Sirenen unvernommen?
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„Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“23
Wäre dem so, dann hätte Odysseus doch das Schweigen der Sirenen wahrgenommen, indem er sehend den Schein ihrer Gebärden durchdrungen hätte. Wozu aber jenes umständliche Schauspiel, das Odysseus so unerhört listenreich hier aufführt? Vielleicht dient die ganze Veranstaltung dazu, wenigstens ein Bewusstsein für den dramatischen Mangel an Erfahrungsmöglichkeit wachzuhalten; und um jene Armut an Erfahrung, über Umwege, selbst noch zu erfahren. Volles Glück empfindet Kafkas Odysseus bei seinem Schauspiel freilich nicht. Denn er musste, um der ökonomischen Selbsterhaltung willen, zu viele seiner Wünsche und Begierden, schließlich entscheidende Momente seiner Rezeptivität, von sich abspalten. Als Einzelner kann er an diesem Zustand nichts ändern, weil dieser Zustand einer zur zweiten Natur verdinglichten Gesellschaft entsprungen ist: zwar menschgemacht, doch unter den gegebenen Verhältnissen nicht der bewussten und praktischen Veränderbarkeit zugänglich.24 Gesetzt also, der Anhang zur Erzählung wäre zutreffend: in diesem Falle täuschte sich Kafkas Odysseus nicht über den Status seines scheinbaren Triumphes, wüsste vielmehr um sein Scheitern durchs Abhandenkommen der sinnlichen Lusterfüllung. Dieser Odysseus hört nicht. Doch seine Sirenen singen auch nicht mehr. Odysseus aber hört ihr Schweigen nicht. Und doch erfährt oder errät, ‚merkt‘ er es, wie Kafka schreibt. Das Wissen ums Scheitern wird nun aber nicht seinerseits triumphal, eher gleicht es einem schmerzhaften Eingeständnis, einem Festhalten der negativen Erfahrung des Nicht-hören-könnens. Da sich dieses innerlich gebrochene Subjekt nach außen jedoch keine Blöße erlauben darf, mag es den gesellschaftlichen Zumutungen und ökonomischen Anforderungen ans moderne Subjekt ‚obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild‘ entgegenhalten. Immerhin, in jener Kette von Negationen erweist noch Kafkas Odysseus, die womöglich am deutlichsten instrumentell zugerichtete Variante dieser Figur, zugleich eine Distanz zur bloßen Subsumption unters Verwertungsgesetz, indem er das oktroyierte Instrument, den rationalisierten Blick, gegen sich selbst kehrt, den Schein als solchen erkennt und entlarvt. Das aber ist kein schwacher Trost, um sich schlussendlich doch mit dem Bestehenden einverstanden zu erklären; vielmehr Bewahren eines Bewusstseins dessen, dass eine andere, tatsächlich lusterfüllende Form menschlichen Lebens möglich wäre. Ungleich nachdrücklicher als im homerischen Epos stellt sich so in Kafkas Erzählung von Odysseus und
23Kafka:
„Das Schweigen der Sirenen“, S. 41 f. Voß: Gesänge der Stille, S. 67: „‚Unvollendet‘ – wie einige Werke Kafkas – ist der Versuch, die Verhältnisse zu ändern.“ 24Vgl.
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den Sirenen dar, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung beschreiben und wogegen sich die Erzählung (als Kunstwerk) zugleich zur Wehr setzen will: „mit der Verleugnung der Natur im Menschen wird nicht bloß das Telos der auswendigen Naturbeherrschung sondern das Telos des eigenen Lebens verwirrt und undurchsichtig. In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber, nichtig“. (DdA, 78)
Sirenen, stillschweigend Folgen wir den bis hierher von verschiedenen Seiten geworfenen Schlaglichtern auf die westliche Ideen- wie Kulturgeschichte, so hat sich zunehmend ein Primat des Sehens als zuständiger Sinn für Erkenntnis, (Selbst-) Beherrschung und Kontrolle herausgebildet; ganz so, wie ja die hier gebrauchte, durchaus gängige Metapher ihrerseits der optischen Vorstellungswelt entstammt, kaum zufällig nach Blumenbergs Darstellung.25 Die Souveränität des Auges jedoch ist erkauft mit einer Reduktion oder gar Verkümmerung der visuellen Potentiale. Seine (mit Sonnemann gesprochen) „Polizistenfunktion über dem Ensemble unserer Sinnesorgane“26 ist zwar zweckdienlich unter den gegebenen Verhältnissen, in denen Selbsterhaltung nur unter den Prämissen von Lohnarbeit, Konkurrenz und Mehrwertproduktion gelingt. Doch bleibt dabei dem Sehsinn wie menschlicher Sinnlichkeit und dem Subjekt insgesamt echtes Glück nach wie vor verwehrt. Die Aufklärung der Aufklärung gelangt zu einem materialistischen Verständnis dieses Komplexes, wonach erst in der praktisch vernünftig eingerichteten Welt Rezeptivität und Spontaneität (nach Kant die beiden Stämme der Erkenntnis) wahrhaft Vernunft wären. Dies gilt, wie für das korrumpierte Sehen, schlechterdings genauso für auditive Vernunft, für „vernehmendes Bewußtsein“.27 Im gegenwärtigen Stand der Unfreiheit mag dieses jedoch – entgegen dem distanzierten, unterkühlter Rationalität verschwisterten, ‚vorstellenden‘ (also visuellen) Bewusstsein – ein feineres Gespür für Lust und Leid haben, darin denkend den Anspruch auf eine bessere Welt und den Einspruch gegen diese schlechte zum Ausdruck bringen. Die Erinnerung ans Glücksversprechen und an Lust ist dabei – im Allerprofansten – eines der stärksten Momente von Transzendenz: Drängen auf einen Zustand, in welchem der bis dato versagte Anspruch eingelöst wäre. Mit dieser Überlegung ist nun der Bogen zurückgeschlagen von der Dialektik der Aufklärung und dem Motiv der verstopften Ohren aus der Odyssee zu Sonnemanns Transzendentaler Akustik: Vielleicht ausgerechnet deshalb, weil dem 25Siehe
oben, Kapitel 3. „Das sedierte Sensorium“, S. 18. 27Schweppenhäuser: „Vorstellendes und vernehmendes Bewußtsein“. 26Sonnemann:
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Gehör eine immer randständigere und tendenziell unbedeutendere Position im Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparat zugwiesen wurde, konnte sich im Hören ein Bewusstsein dessen erhalten, was sonst viel nachhaltiger aus dem Kosmos des Vernunftfähigen verbannt wurde: Natur, Gefühl, Trieb und Leidenschaft.28 In der Wandlung der Erzählung vom Helden Odysseus, wie sie uns bei Homer und bei Kafka begegnete, wird das offenkundig. Dem modernen Odysseus scheint das Hören derart verdächtig geworden, dass er es sicherheitshalber gleich ganz unterbinden will. (‚Wozu auch hören, wenn man sehenden Auges doch alles schon registriert?‘ – ließe es sich polemisch einem einseitig souveränistisch gelesenen Odysseus aus Kafkas Erzählung in den Mund legen.) Im Zuge seiner Überlegungen zum Gehör erwähnt denn auch Sonnemann verschiedentlich, dass sich gerade im auditiven Sinn eine Sensitivität für das Unverfügbare, das nicht gänzlich Beherrschbare und insofern (zu Unrecht allerdings) der Irrationalität Preisgegebene erhalten hat.29 Merkwürdig derweil, dass Sonnemann in seinen einschlägigen Texten an keiner Stelle Odysseus und sein vertracktes Verhältnis zum Hören beim Namen nennt, obwohl es doch förmlich in der Luft läge, jene Überlegungen mit dieser Figur ins Verhältnis zu setzen. Womöglich ist das Motiv stillschweigend als allgemein bekannt, ohnehin naheliegend und sich selbst aufdrängend mitgedacht. Insofern seien im Folgenden einige verstreute Anmerkungen Sonnemanns aufgeführt, in denen seine Variation der Dialektik der Aufklärung als ein Denken mit den Ohren erscheint, Odysseus und den Sirenengesang im Hinterkopf habend.30 Gegen Habermas formuliert, zumal seine Modifikation der Kritischen Theorie hin zur harmloseren Theorie kommunikativen Handelns, fragt Sonnemann, im Sinne Horkheimers und Adornos, nach dem Verhältnis von Vernunft und dem 28In
ähnlichem Sinne schreibt Helmut Reinicke: „Das Geschäft des Kritikers verfolgt keine gradlinigen Heerstraßen; sein Terrain sind Umwege, Nebenwege. Das abgedrängte Ohr ist einer innerhalb einer Dialektik der Aufklärung, deren Nachtseiten mittlerweile die gesellschaftlich herrschenden wurden.“ Reinicke: „Rede auf Ulrich Sonnemann“, S. 222. 29In Anlehnung an Sonnemann schreibt Christoph Türcke zutreffend: „Das Unverfügbare ist nicht das Irrationale, vielmehr ist es irrational, beide miteinander zu verwechseln.“ Türcke: „Zu einer Sentenz von Ulrich Sonnemann“, S. 230. 30In diesem Sinne ließe sich eine gesprächsweise verlautbarte Äußerung Sonnemanns verstehen, geantwortet auf die Frage, warum bestimmte, naheliegende Themen (etwa das Gehör und die Musik betreffend) zwischen Sonnemann und Adorno so selten zur Sprache kamen. Laut Sonnemann jedenfalls sind manche Dinge für das Denken „so selbstverständlich […], dass die Aufmerksamkeit des Trägers dieser Selbstverständlichkeiten eben an diesen immer schon vorbeischweift. Und gerade das ist ja dann wiederum besonders charakteristisch für das Verhältnis zwischen dem Hörer und dem Hörbaren, im Unterschied zum Verhältnis zwischen dem Blickenden und dem Erblickten. Was das letztere Verhältnis betrifft, gibt es ja immer ein Hier eben in abgehobener Unterscheidbarkeit von einem Dort; das gibt es im Bereich des Hörbaren nicht, sonst könnte ein Rhythmus, landläufig gesprochen, einem ja nicht in die Beine fahren.“ Ulrich Sonnemann im Gespräch mit Paul Fiebig: „Theodor W. Adorno, die Musik und …“, in: dissonanz. Die Neue Schweizerische Musikzeitschrift (Zürich) Nr. 38, November 1993, S. 12–16, hier S. 15. – Und mindestens ein deutlicher Hinweis darauf, dass Sonnemann der Erzählung von Odysseus und den Sirenen für sein Anliegen durchaus einige Relevanz zuschrieb, lässt sich der Dokumentation seiner späten Lehrveranstaltungen entnehmen. Zusammen mit Elvira Seiwert hielt Sonnemann im Wintersemester 1990/91 und im Sommersemester 1991 ein Seminar über
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von ihr geschiedenen, zu rehabilitierenden Unverfügbaren. Erst in dieser Selbstreflexion von Vernunft kann ihr Anspruch als einlösbarer erscheinen. Und so sei zu konstatieren: „Daß Vernunft, zum einen, wie ja übrigens bereits Heraklit wußte, schon in der Seele, ja den Sinnen und dem Leben des Leibes wohnt, die sich von ihrem nicht trennen lassen, sich also keineswegs auf die abgezogenen blassen Schematismen beschränken, die man ihr unter dem Titel einer Rationalität zuschrieb, die weit eher als sie selber aus der Welt auf sie zurückkommende, zurückfallende Schatten ihrer Vorläufigkeit ist, einer ihres historischen Ungenügens vor ihrer eigenen Bestimmung und Anlage; und daß sie, wie Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung uns in der Tat längst sehr schlagend vor Augen führte, nach eben dieser Anlage und Bestimmung sich nicht auf ihr instrumentelles Potential beschränkt, dessen Verabsolutierung mit solcher Deutlichkeit zu den Mitteln führt, die ihre Zwecke vernichten müssen: Daß also eine ihrer wesentlichsten heutigen Aufgaben in der denkbar deutlichsten Absage an eben diese Verabsolutierungen bestehen muß“.31
Emphatische Vernunft wäre demzufolge mehr als (be)rechnender Verstand, oder aus dem Lateinischen eingedeutscht: Rationalität. Sie wäre zum einen, wie bei Kant, Vermittlung von Verstand und Sinnlichkeit: Ihre berechnenden und kalkulierenden, logischen Momente müssten um wahrnehmende und sinnlich erfahrende ergänzt sein, damit sie ihrem Namen ‚Vernunft‘ tatsächlich gerecht zu werden vermag. Zum anderen hätte Vernunft selber darauf zu reflektieren, dass die allzu strikte Trennung der Sphären autonomer Rationalität und einer unverfügbarleiblichen Welt Vernunft beschädigt, eine rein instrumentell-verfügende Vernunft ihrer eigenen Potentiale verlustig geht. Dagegen müsste reflektiere Vernunft ihr Sensorium offen halten für die „Natur im Menschen“ (DdA, 78), die sich eben nicht blindlings beherrschen lässt. Konkreter dann aufs Ohr bezogen, erscheint jenes Unverfügbare als veritable Gegenstimme zum Einverständnis mit der sich hier andeutenden (von Horkheimer wie Adorno so titulierten) ‚verwalteten Welt‘:
„Adornos Musikästhetik und die Konsequenzen der Dialektik der Aufklärung“. In der Seminarankündigung hieß es: „Was aus den Maßnahmen des Odysseus wird, die er in Erwartung des Gesangs der Sirenen ergreift, und was aus dieser musikalischen Manifestation mythisch übermächtiger Naturgewalt selber: nach deren Zähmung zur Kunst, die von ihrer Aufnahme in den zivilisatorischen Olymp so belohnt sein wird, daß diese Brechung ihrer Naturhaftigkeit deren Macht eher bewahrt und zu steigern vermag als vernichtet“; zitiert nach: Elvira Seiwert: „Ulrich Sonnemanns musikalische Querbeetgänge. Einige ‚moments musicaux‘ nebst vorausgehender Bestimmung ihrer Zeit“, in: Class (Hg.): Un-erhörtes, S. 59–64, hier S. 59. 31Ulrich
Sonnemann: „Rehabilitierung des Unverfügbaren oder Warum erst Vernunft, die auch über sich selbst sich noch aufklärte, welche ist“, in Gerhard Bolte: Unkritische Theorie. Gegen Habermas, Lüneburg 1989, S. 67–79, hier S. 67 f.
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„Damit berührt sich Adornos Interesse an der Psychoanalyse und Verteidigung ihrer unverwässerten Triebtheorie, ist sie doch die einzige Einheit von Praxis und Wissenschaft heute, die mit den Rechten der Zeit die des zuhörenden Ohrs nicht verleugnet, dem sie sensorisch sich zuordnet.“32
Auf die Rechte des zuhörenden (wenn man so will: dritten) Ohres der Psychoanalyse wird Teil III der Untersuchungen noch ausführlich zu sprechen kommen. Kursorisch sei an dieser Stelle nur angedeutet, dass es dabei auch um den therapeutischen Akt des Hin- und Zuhörens geht, der in seiner Aufmerksamkeit auf Zwischentöne und Mitschwingendes verworrene Verhältnisse aufzuklären sucht. Im Sinne der Psychoanalyse macht sich darin allerdings auch etwas grundsätzlich Unkontrollierbares, insofern Unverfügbares bemerkbar, namentlich das irreduzible Triebleben der Individuen, für das der Sirenengesang als figurativer Stellvertreter einstehen könnte und das auch in verschiedenen Äußerungen menschlicher Sprache seinen Ausdruck findet. Damit aber muss menschliche Sprache mehr sein als ein rationalisiertes Begriffsinventarium. Es äußern sich in ihr Dinge (Subtexte vielleicht und Stimmungen), die neben und zwischen ihrer begrifflichen, erkennenden und rationalen Seinsweise eine eigene Geltung beanspruchen. So bleibt etwas Unverfügbares an Sprache selbst. Aber auch an dem, was Sprache in sich begrifflich erfassen soll, bleibt etwas, das sich weder den Begriffen gänzlich fügt noch sich in ihnen stillstellen lässt; selbst wenn begriffliche Sprache suggeriert, ihre Gegenstände in sich abschließend (und einschließend) erfasst zu haben, mit ihnen identisch und ‚fertig geworden‘ zu sein. Das wird deutlich gerade an jenen Erfahrungen, in denen sich etwas ereignet, für das die Sprache bis dahin noch keine Begriffe hat, in denen sich also etwas wirklich Neuartiges zeigt. Denn wird etwas zum Gegenstand einer solchen Erfahrung, so dürfte es stets etwas qualitativ Neues an sich haben, sich dergestalt bemerkbar machen im Rauschen des ansonsten schon Bekannten. Das wiederum verlangt vom Subjekt, sich seiner Erfahrung anzuvertrauen und die ausgetrampelten Wege sprachlicher Gewissheit gelegentlich zu verlassen. Ganz so, wie Odysseus bei Homer ein bis dato Unerhörtes in sein Ohr dringen lassen wollte. Alle (sprachlich tradierten) Berichte vom Sirenengesang konnten dieses Verlangen nicht stillen, er musste solchen Gesang vielmehr selber hören. Bei Sonnemann klingt diese Überlegung, hinsichtlich Adornos Thematisierung des Unverfügbaren formuliert, dann folgendermaßen:
32Ulrich Sonnemann: „Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, in: Frithjof Hager, Hermann Pfütze: Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung, Lüneburg 1990, S. 111–117, hier S. 114.
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„Als Nichtidentisches, das erst werden will, weigert sich das Neue, sich […] unter fertige Oberbegriffe, vorentschiedene Systemzwänge subsumieren zu lassen“.33
Gegen das Bewusstsein vom Unverfügbaren am eigenen Subjekt wie auch an und in der Welt hat die bürgerliche Subjektivität jedoch eine Tendenz, sich von der Fiktion unbegrenzter Kontrollierbarkeit leiten zu lassen: „Allzu offenbar ist die Kontrolle der Zentralbegriff gerade der Verwalteten Welt […]. Dagegen hat Adorno auf das Unverfügbare, das allein uns noch retten kann, größten Wert gelegt.“34
Im Umgang mit der beinahe absoluten Anforderung, sich um alles in der Welt selbst zu behaupten, sah sich Kafkas Odysseus indes mit der Nötigung konfrontiert, das Unkontrollierbare und Widerstrebende vergessen zu machen; was ihm, der letzten Wendung der Erzählung nach, allerdings nicht recht gelingen wollte oder konnte. Ohnehin scheinen die widerstreitenden Themen ‚Erinnerung‘ und ‚Vergessen‘ für den Sirenengesang zentral. So spielen sowohl Homers wie auch Kafkas Version auf eine der Zuständigkeiten des Gehörs an, auf die wir auch bei Blumenberg stießen: Es ist nicht zuletzt das Sensorium für Tradition und Überlieferung, mit anderen Worten: für Geschichte. Odysseus ist durch den Sirenengesang der Gefahr ausgesetzt, sich ins Gewesene vertieft selbst aufzugeben, denn der Sirenen „Lockung ist die des sich Verlierens im Vergangenen“ (DdA, 55). In den Stimmen der Sirenen kehrt nach dieser Deutung also die leibhafte Erinnerung eines Verdrängten und Vergessenen zurück. Andernorts insistiert Sonnemann dementsprechend darauf, dass sich entgegen der bürgerlichen Kontrollfiktion die für das Subjekt entscheidenden Belange zuweilen gerade von außen bemerkbar machen; ein Phänomen, für das auch die Alltagssprache das Bild der Stimme kennt, die sich dem (inneren oder äußeren) Ohr geradezu aufdrängt. Etwa als die Stimme „der Erinnerung“, „des Gewissens, der Hoffnung, der Natur, der Vernunft zuletzt“, „wozu man allerdings seine Ohren […] nicht ins Schubfach gelegt haben darf“.35 Unverkennbar metaphorisch resp. figurativ gesprochen, meint ‚Stimme‘ hier – erinnert sei an Moses Begegnung mit Jahwe, der zu hören ist, nicht aber zu sehen – ein Zustoßendes, das Vernommen sein will. Der dazu erforderliche Hörvorgang ist derweil kein nur rezeptives und passives Geschehen. Im kulturgeschichtlichen Sieg des Auges über das Ohr mag sich die Welt der Sinne zwar beinahe dualistisch ins aktive Sehen und passive Hören geschieden haben, doch machen die beiden Varianten des Odysseus überaus anschaulich, dass noch der
33Sonnemann:
„Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, S. 111. Die Auslassung lautete „hegelisch“, führt hier jedoch von der Sache weg zu einer Debatte darüber, wie Hegels Philosophie zu verstehen sei. Weiter unten wird noch deutlich werden, wie stark auch Sonnemann von gewissen Denkfiguren Hegels zehrt – siehe insb. Kapitel 11 –, worüber Polemiken wie diese leicht hinwegtäuschen können. 34Sonnemann: „Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, S. 116. 35Sonnemann: „Das sedierte Sensorium“, S. 20 f.
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vermeintlich ganz passive Zustand des Hörens durchaus aktiv herbeigeführt werden kann und muss, aufmerksames Hören nicht nur ein hingabevolles ist, gleichfalls gerichtetes Hinhören bedeutet.36 Gleichzeitig jedoch scheint dem Hören, weil es als passiver Sinn gilt, ein Mehr an Rezeptivität zugestanden als einem instrumentalisierten Sehen. Indem es nicht wie der souveräne Blick suggerieren muss, alles unter Kontrolle zu haben, bliebe das Gehör so womöglich offener für das, was ihm von außen widerfährt. Ausgedrückt in theologischer Terminologie ist aber dasjenige, was zustößt, weil es unverfügbar ist, das Heilige. So zumindest benennt es Sonnemann: Was theologisch als ‚heilig‘ bezeichnet wurde, ließe sich philosophisch wiederum mit ‚unverfügbar‘ übersetzen: kein kontrollierbarer und herstellbarer Ablauf, sondern ein sich ‚offenbarendes‘, mithin erscheinendes Ereignis.37 Ohne den rezeptiven Sinn fürs Ereignis entgeht solche Offenbarung, die „die Menschen als Gnade berührt, ihnen zustößt“.38 Der Ruf der Sirenen erklingt nur im Umkreis ihrer Insel und nicht überall auf der Welt. Schon gar nicht kann er durch menschlichen Willensakt herbeigeführt werden; im Gegenteil, eine derart vermessene Überschätzung menschlicher Kräfte scheint den Sirenensang nachgerade zum Schweigen zu bringen (siehe Kafka). Dergestalt philosophisch und nicht primär theologisch gedeutet sollte jedenfalls auch dieser Satz Sonnemanns gelesen werden: „In einem gottverlassenen Zustand gibt es überhaupt keine Ereignisse mehr, nur noch Abläufe.“39
Über das Für und Wider eines philosophischen Gottesbegriffs, der sich bei Sonnemann andeutet, ließe sich nun trefflich streiten. Dass der Prozess der Säkularisierung nicht rückgängig zu machen ist, zumindest nicht zum Guten, weiß
36„Es
ist eine dieser physiologischen Anekdoten, daß das Hören passiv sei, eine Anekdote, die das Auge erfunden hat. Was sieht das Auge am Ohr: Es bewegt sich nicht. Was schließt das Auge messerscharf? – Da tut sich nichts.“ Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 20. Ähnliches gilt natürlich auch, nur eben umgekehrt, fürs Sehen. 37Auf eine ganz ähnliche Engführung theologischer und philosophischer Theoreme und eine gleichzeitige Profanisierung ersterer in Adornos Ästhetischer Theorie hat Anne Eusterschulte hingewiesen, wobei sie die ästhetische Erfahrung des „Blitzschlagartigen“ bzw. des „AugenBlickes (oder Augen-Blitzes)“ vor dem Hintergrund der Augustinischen Confessiones als eine „Intermittenz“ deutet, „die den empirischen Zeitfluss durchstößt, den Wahrnehmenden in Erschütterung versetzt“; Eusterschulte: „Apparition: Epiphanie und Menetekel der Kunst“, S. 243. 38Ulrich Sonnemann: „Das Unheilige am Bekenner. Warum auf Gottverlassenheit kein Verlaß ist, während das Heilige sich entweder ereignet oder es bleiben lässt“ [1984], in: Ders.: Tunnelstiche, S. 145–153, hier S. 149. 39Sonnemann: „Das Unheilige am Bekenner“, S. 152. Vgl. zu dieser ‚profanisierenden‘ Lesart auch Türcke: „Zu einer Sentenz von Ulrich Sonnemann“, S. 234: „Und so bringt Sonnemann das Kunststück fertig, den Begriff des Heiligen vollkommen zu profanisieren – und dabei gerade zu retten vor dem Hokuspokus theologischer Verfügbarmachung, gleichgültig, ob er als Schamanenzauber oder als philosophische Ontologie daherkommt.“
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auch Sonnemann. Fraglich ist nur, ob eine durch und durch entzauberte, angeblich schlechthin verfügbare Welt tatsächlich eine bewohnbarere, humanere ist als die alte, von mythischen resp. göttlichen Kräften beherrschte; oder ob nicht das, was in mythologischen wie in theologischen Termini beschrieben wurde, durch echte Aufklärung erinnert und darin gewissermaßen gerettet werden müsste statt verdrängt. Der Zustand der Menschen heute allerdings ist nach Sonnemanns Worten ein ‚gottverlassener‘, sprich einer, der seines Sinnes verlustig gegangen ist. Diesem Zustand korrelierend, befindet sich das menschliche Sensorium gleichsam unter Sedierung: Bei Kafka wird dies spürbar an den immensen Schwierigkeiten, die es bedeutet, den Gesang der Sirenen – oder auch nur ihr Schweigen – zu hören. Doch muss nicht unbedingt Wachs oder Schaumstoff die Gehörgänge verschließen und so die Ohren taub werden lassen. Sonnemann zufolge ist es nicht selten ein „ohrenbetäubender Lärm“, der, „indem er ihn zunehmend stumpfer macht, jene zuverlässige Sedierung des menschlichen Gehörsinns erbringt“.40 Dem zum Trotz wäre das Sensorium offen zu halten für all das, was der Sirenengesang verkörpert: jene Stimmen des Unverfügbaren, die sich ans rezeptive Ohr und an das menschliche Sensorium im Ganzen richten — oder vielmehr: auf die sich das Gehör richten könnte, um ihnen eine vernehmbare und verständliche Sprache zu entlocken. Umso mehr käme es auf tatsächlich offene, mithin aufmerksame und „unterscheidende Ohren“41 an, auf die hellhörige und feinfühlige, mit allen Sinnen wahrnehmende Seite der Vernunft.
40Sonnemann: 41Sonnemann:
„Das sedierte Sensorium“, S. 17. „Das sedierte Sensorium“, S. 17.
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Zeitgeschichte Geschichtsphilosophie nach Benjamin und Marx
„Hans Castorp blickte um sich … Er sah durchaus Unheimliches, Bösartiges, und er wußte, was er sah: Das Leben ohne Zeit, das sorg- und hoffnungslose Leben, das Leben als stagnierend betriebsame Liederlichkeit, das tote Leben.“ (Thomas Mann: Der Zauberberg , S. 882.) „Eine andre Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist Götzen aushorchen …“ (Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung, S. 57.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_5
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5 Zeitgeschichte
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Teil I dieser Untersuchungen, der gewissermaßen deren erkenntnistheoretische wie -kritische Abteilung darstellt, darin nach dem epistemischen Potential der Ohren fragt, nähert sich seinem Ende. Festzuhalten wäre, als Zwischenfazit, dass einem hörenden Denken gerade dies Festhalten nicht so recht gelingen will. Anders als es ein visuelles Bild suggerieren mag – zumindest sofern es für durchweg statisch gehalten wird –, lässt sich auditiv gewonnene, daher ihre Temporalität stets eingedenkende Erkenntnis nicht derart fixieren, ohne dabei ihren Wahrheitsgehalt einzubüßen. Ein besitzstandwahrender und Lehrmeinungen verewigender Traditionalismus, der den Kanon unveränderlicher Kulturgüter zu bewahren glaubt, hat wenig mit der aufmerksamen Bezugnahme auf die Überlieferung gemein, wie sie als kritische Hermeneutik das Gewordene fortwährend befragt. Wenn darüber hinaus die temporale Struktur solcher Erkenntnissuche eine andere als die bloß lineare sein soll, so kann auch ihre Darstellung nicht einfach einer linienhaften Chronologie folgen, nicht in bestechender Stringenz von Argument zu Argument eilen, im syllogistischen Beweisverfahren B aus A folgern, C dann aus B und so fort, um ‚letztlich‘ ein Gebilde unumstößlich wahrer Conclusiones in Händen zu halten, in denen das Denken tatsächlich sein Ende findet — nämlich aufhört, solches (als Denkbewegung) zu sein. Will hörendes Denken seinen Gegenstand erfassen, dann ist es auf einen anderen Modus des Begreifens angewiesen. So, wie ein Thema in der Musik von seinen Variationen lebt, seine Motive sich in veränderter Anordnung und Form in der Zeit verwandelnd wiederholen, wendet sich auch solches Denken seinen Gegenständen von verschiedenen Seiten zu, umrundet sie, setzt mehrfach aufs Neue an, sowohl den Blick- als auch den Hörwinkel wechselnd, um sich ein derart vollständiges Bild von seiner Sache zu machen, dass es seine Unabschließbarkeit im visuell Festgestellten, seine eigene Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit bezeugt. Ein solches Denken ist zugleich in der Zeit und gegen sie: versenkt sich in seine Sache statt einfach dem nötigenden Zeitfluss zu folgen; und doch erstarrt es nicht in seinem Innehalten. In seiner „Erkenntniskritischen Vorrede“ zum Trauerspielbuch charakterisierte Walter Benjamin dieses Verfahren folgendermaßen: „Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik.“1
Mit Sonnemann ließe sich wohl sagen, dass Benjamin mit dieser Charakterisierung seiner eigenen Arbeitsweise der „Monopolisierung des Erkennens und Denkens durch die Herrschaft des Auges“2 eine Absage erteilt; sofern zumindest ein feststellendes Tatsachensehen allzu schnell mit seinen Gegenständen fertig zu werden
1Walter
Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels [1924|1925], BGS I, S. 208. „Das fatale Perfektfutur“, S. 205.
2Sonnemann:
Perfektfutur oder verbaute Zukunft
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glaubt. Für unseren Gegenstand – eine transzendentale Akustik, wie sie nach Sonnemann zu entfalten wäre – heißt es nun, sich noch einmal auf zwei weitere ihrer Sinnstufen zu begeben. Sonnemann selbst wies darauf hin, dass die für sein Spätwerk so zentrale „Zuordnung der Zeit zum Gehör“ eine Verhältnisbestimmung sei, in welcher zugleich das „dreifach innige Zueinander von Sprache, Zeit und Geschichte beschlossen liegt“.3 Folgen wir also diesen Spuren, hier zunächst der von Geschichte, schließlich dann (im 6. Kapitel) derjenigen von Sprache. Themen, die sich allemal schon andeuteten, ihren Anspruch im bis hierher Geschriebenen deutlich vermeldet haben, jetzt aber noch einmal eigens betrachtet und erwägt werden sollen.
Perfektfutur oder verbaute Zukunft In den ersten beiden Kapiteln dieser Untersuchungen, die sich der Zeitphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant und Augustinus widmeten, mag einigermaßen abstrakt geblieben sein, woraus sich für Sonnemann die Brisanz der Kritik einer linearen Zeitvorstellung begründet. Erst deren Engführung mit gesellschaftstheoretischen wie geschichtsphilosophischen Fragen macht kenntlich, wogegen sich eigentlich Sonnemanns Emphase contra lineare Zeit richtet: gegen eine quantifizierbare Zeit als Arbeitstakt, gegen die „Macht von Terminkalendern“ und eine durch sie in „Verwaltung genommene Zukunft“4, eine verplante Zeit also, die kein Ereignis zulässt, schließlich gegen eine Linearität, die als „vorentschiedener Ablauf, der so mechanisch wie die Uhr, die ihn später messen wird, das Programm einer tödlichen Fatalität zu vollstrecken hat“5. An verschiedenen Stellen in seinen Aufsätzen nach der Negativen Anthropologie (1969) lässt Sonnemann dieses Thema variierend wiederkehren, mal in Beschäftigung mit Walter Benjamins Fragmenten „Über den Begriff der Geschichte“,6 mal unter dem Stichwort der Spontaneität und dem ihr verwandten der Phantasie,7 mal in Konfrontation mit den ‚verstopften Ohren der Politik‘,8 dann auch in einem (bereits zitierten) Text, in dessen Titel das Schlagwort auftritt, unter dem Sonnemann die unglückselige
3Ulrich Sonnemann: „Räumen Zeit geben. Ein Gespräch mit Ulrich Sonnemann“, in: zeitmitschrift. Journal für Ästhetik (Heft 9), 1/1990, S. 32–57, hier S. 35. 4Sonnemann: „Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, S. 112. 5Sonnemann: „Das fatale Perfektfutur“, S. 204 f. 6Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“. 7Ulrich Sonnemann: „Spontaneität und Geschichte. Zur Aktualität unabgegoltener Vergangenheiten“, in: Dietmar Kamper (Hg.): Macht und Ohnmacht der Phantasie, Darmstadt & Neuwied 1986, S. 209–220. 8Ulrich Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik oder Warum die apriorische Erfassung durch den vernehmenden Sinn (statt den anschauenden) für die Vernunft selbst eine Konsequenz hat“ [1991], in: Ders.: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart & Weimar 1995, S. 107–121.
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Konzeption einer verplanten und verwalteten, darin bereits vorentschiedenen Zukunft verhandelt: „Das fatale Perfektfutur“9. Da diese und andere Aufsätze sich thematisch vielfach kreuzen, gelegentlich gar im Wortlaut übereinstimmen, sei ihr Thema nachfolgend als solches verhandelt; die etwas wüste und sprunghafte Zitation liegt darin begründet. Für eine Bewusstseinslage, die im bürgerlichen 19ten Jahrhundert ihren Ausgang nimmt, sich im katastrophalen 20ten dann verdichtet und schließlich am Übergang ins angeblich postmoderne 21te zum Allgemeinplatz wird: dass nämlich Geschichte an ihr Ende gekommen sei, die Zukunft also feststehe, weil etwa mit dem Zusammenbruch des Ostblockes die ‚Systemfrage‘ entschieden, – für diese Bewusstseinslage findet Sonnemann ein ihr dienliches, zumindest gefügig zu machendes Pendent in der Ordnung der Sprache. Im Perfektfutur (oder Futur II), dem grammatischen Tempus für eine Zukunft, die gewesen sein wird, tritt ein noch nicht geschehenes Zeitliches so auf, als ob es schon vergangen, ergo abgeschlossen und vollendet wäre. Nun ist es nicht die grammatische Form per se, die es zu beanstanden gilt, bietet sie doch die sprachliche Möglichkeit, eine Erwartung zu formulieren: ausrichtendes Fortschreiben eines zeitlichen Verlaufs in die Zukunft. Zu kritisieren ist mit Sonnemann vielmehr ein missverstandener Gebrauch dieser Zeitform. Wie in Kapitel 2 geschildert, lebt die Erwartung nachgerade davon, auch gebrochen werden zu können, also nicht schlechthin perfekt zu sein. Wo Zukunft aber als bereits abgeschlossene fungiert, hat Erwartung keinen Platz mehr. Solcherart fehlgedeutetes Perfektfutur lässt sich nutzbar machen für ein Denken, dem die Welt zur Verfügungsmasse gerät, dem alles Zukunftsgeschehen wesentlich Gegenstand von Hochrechnung und Prognose wird, wie Sonnemann schreibt ein „zum Bild gerinnendes […] Sowird-und-soll-es-gewesen-sein“.10 Zukunft hat sich darin schon zu derjenigen Vergangenheit verwandelt, die Benjamin als Zeitvorstellung des Historismus entlarvte: ein abgeschlossener, damit zugleich erledigter und lediglich noch zu inventarisierender Zeitabschnitt, der in keinem anderen Verhältnis zum Heute steht als einem strikt gespaltenen. Das Vergangene sei vorbei, die Gegenwart könne sich nur in es einfühlen, nicht jedoch sich durch jenes ändern oder gar vice versa. Doch wie wird dieses restringierte Verhältnis zur Vergangenheit auf die Zukunft übertragen? Laut Sonnemann eben durch einen spezifischen Gebrauch des Perfektfuturs: „Sein Korrelat in der Wirklichkeit ist die verplante Zeit, in der Ereignisse nicht mehr möglich sind; die totgeborene Programmzeit des Terminkalenders und der öffentlichrechtlichen Medien. [Absatz] Ihr Kriterium ist, daß alles glatt geht, klappt, daß bei ihrer Abwicklung nichts passieren darf; daß als Quantum, über das verfügt wurde, ehe es noch eintritt, sie zu reinem Ablauf gezähmt ist.“11
9Siehe
Kapitel1, Fußnote 33. „Rehabilitierung des Unverfügbaren“, S. 72. 11Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 234. 10Sonnemann:
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Was in solchem „Manipulismus“12 tunlichst gemieden, mit allen Mitteln verhindert werden muss, ist das den Betriebsablauf störende Ereignis, qualitative Veränderung statt quantitativen Verlaufs. Jenes qualitativ Andere, auf das Sonnemann hier abzielt, ist dem vergleichbar, was in den Fragmenten „Über den Begriff der Geschichte“ „Jetztzeit“ und „messianische Stillstellung des Geschehens“13 genannt wurde. Benjamin meinte damit eine Geschichtsvorstellung, die in Opposition zu deterministischen und fatalistischen Konzepten der Kategorie der Möglichkeit die Treue halten müsse. Denn wenn es überhaupt so etwas wie Freiheit geben soll, die Möglichkeit also, dass die Dinge sich ändern und (zumindest grundsätzlich) auch durch menschliches Zutun veränderbar sind, dann kann nicht alles nur vorherbestimmter oder zumindest vorhersagbarer Ablauf sein. Dann aber muss auch das Vergangene in diesem (laut Benjamin messianischen) Lichte als eine einmal gewesene, der Veränderbarkeit offenstehende Gegenwart erscheinen. So wäre im katastrophalen Geschichtslauf wieder und wieder an das uneingelöste Versprechen eines glücklicheren, menschenwürdigen Lebens auf Erden zu erinnern. Die verschenkten Potentiale vergangener Änderungsgelegenheiten offenzulegen war für Benjamin Aufgabe materialistischer resp. dialektischer Geschichtsschreibung. Nach Sonnemann, der Benjamins Anliegen aufnimmt, bedarf es bei diesem Unterfangen einer historischen Phantasie, die den Notwendigkeitsfetisch, also „die Kette retrospektabler Gewordenheiten […] durchschlägt“; dergestalt, dass hinter einer „Notwendigkeitstautologie die gewesenen Zukünfte hörbar werden, die als Möglichkeiten einmal offen waren, aber verscherzt wurden“.14 Gegenspieler solch kritischer Geschichtsbetrachtung ist „die faktenselige historische Universallineatur, die an Gewordenheiten sich festsieht“, wohingegen „hinter deren Kette das Werden, das sie verdecken, wieder ans Licht“ zu bringen wäre.15 Entgegen eines naheliegenden Missverständnisses sind Benjamins Begriff von messianischer Zeit und ihr Verhältnis zur Geschichte nicht als gleichsam sozialontologische Kategorien zu verstehen, die eine immer gleiche Struktur menschlichen Lebens beschreiben und sich beliebig auf alles Mögliche oder Unmögliche anwenden lassen.16 Selbiges gilt für den (mit Sonnemann entwickelten) Begriff des Ereignisses. Nicht jedes Unterbrechen eines gewohnheitsgemäßen Ablaufes
12Sonnemann:
„Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 234. „Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 703. 14Sonnemann: „Spontaneität und Geschichte“, S. 216 f. 15Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 232. 16Benjamin schrieb seine Thesen angesichts des Hitler-Stalin-Paktes und vor der Shoah, deren Vorboten zu diesem Zeitpunkt schon zu erahnen waren, die jedoch als absolute Katastrophe noch nicht geschehen war, noch hätte abgewendet werden können. Nach Auschwitz lässt sich nicht mehr auf die gleiche Weise von Erlösung sprechen wie davor. – Entgegen ihres Zeitkerns werden Benjamins Thesen allerdings häufig zu Solidarisierungszwecken mit ‚den Unterdrückten‘ dieser Welt herangezogen; ungeachtet der Frage, wer oder was genau unterdrückt wird. In den meisten dieser Fälle dürften die Verhältnisse jedoch verworrener sein als es die zweiwertige Logik von ‚Unterdrücker‘ und ‚Unterdrückten‘ suggeriert. 13Benjamin:
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ist gutzuheißen; selbst dann nicht, wenn der eingefahrene Ablauf durchaus Leid produzierende Züge trägt. Denn dass sein Unterbrechen noch weitaus barbarischere Zustände zeitigen kann, hat die jüngere Geschichte mehrfach unter Beweis gestellt. Erinnert sei nur an die Emphase des antikonformistischen ‚Umbruchs‘ und ‚Neuanfangs‘, durch den die Nazis ein für alle Male mit der bürgerlichen Ordnung Schluss machen wollten, ihrem Selbstverständnis nach also durchaus ein ‚historisches Ereignis‘.17 Nicht eine sozialontologisch bestimmbare, angeblich transhistorisch identische Struktur, sondern nur die Sache, also das Ereignis selbst verrät, ob es sich um ein zu begrüßendes oder ein abzuwehrendes handelt. In diesem Sinne wird der II. Teil der Studie, seinem Gegenstand einer negativen Anthropologie gemäß, sich mit einigen konkreten Geschichtsmomenten befassen. An diesen erhellt sich dann noch einmal eindringlich, in welche Vorstellungswelt Sonnemanns Kritik einer ‚perfektfuturischen‘ Geschichts- wie Zeitvorstellung eingreift. Dass die Veränderung zum Besseren, Humaneren, Mal um Mal verpasst wurde, die empfindlichen Sprösse und Triebe menschlichen Glücks auf Erden fortwährend zertrampelt und überrollt werden, verschüttet das geschichtlich Mögliche unter dem Müllberg der schlechten Realität.18 Benjamin wollte die Erinnerung an diese Möglichkeiten wachhalten, indem er das Gewesene mit dem Jetzt dergestalt in eine Konstellation setzte, dass am Vergangenen nicht nur das Abgebrochene und Abgeschlossene erscheint, sondern gleichermaßen das Uneingelöste und Unabgegoltene. Dem konventionellen Bild, welches seinen Inhalt als erledigten, nur noch konservierbaren präsentiert, kontrastiert Benjamin seine dialektischen Bilder. Sie sind bewegte Bilder, denn in ihnen ist eine durchaus dynamische Wahrheit aufgefangen, sie „huscht vorbei“.19 Doch ebenso sind die dialektischen Bilder in ihrer Bewegung unterbrochen. Zwar wird in ihnen sedimentierte Zeit (ein historisch Vergangenes) erinnernd wieder freigesetzt, zugleich jedoch innehaltend und stillstellend der fatale Fluss der Zeit angehalten, etwa im Eingedenken vergangenen Glücks: „‚Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlichkeiten des menschlichen Gemüths‘, sagt Lotze, ‚gehört … neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft.‘ Diese Reflexion führt darauf, daß das Bild von Glück, das wir hegen, durch und durch von der Zeit tingiert ist, in welche der Verlauf unseres eigenen Daseins uns nun einmal verwiesen hat. Glück, das Neid in uns erwecken könnte, gibt es nur in der Luft, die wir geatmet haben, mit Menschen, zu denen wir hätten reden, mit Frauen, die sich uns hätten geben können. Es schwingt, mit andern Worten, in
17Vgl.
hierzu Viktor Klemperer: LTI [= Lingua Tertii Imperii]. Notizbuch eines Philologen [1946], Leipzig 1996; insb. die Kapitel XXX „Der Fluch des Superlativs“ und XXXI „Aus dem Zug der Bewegung“, S. 273–292. 18Vgl. den noch von Sonnemann stammenden Titel einer posthum von Paul Fiebig herausgegebenen Essaysammlung: Müllberge des Vergessens. Zum Titel siehe die editorische „Nachbemerkung“ ebd., S. 129 f. 19Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 695.
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der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit. Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unsrem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.“20
Es sind Passagen wie diese, aus denen Sonnemann etwas fortspinnt, das bei Benjamin allenfalls gelegentlich ausgeführt ist, sich meistens jedoch in beiläufig daherkommenden Andeutungen verbirgt: die Verbindung einer memorierenden Geschichtstheorie mit dem hörenden Sensorium, das dem visuellen Bild entfleucht. Denn was sich da in der Erinnerung anmeldet, ist „ein Ruf unabgegoltener Vergangenheiten“.21 Anders formuliert: es macht sich hier etwas bemerkbar, das durch die selbsterhaltende, notwendigerweise egoistische Rationalität des bürgerlichen Subjekts tendenziell verdrängt wird, damit sich dieses Subjekt im Wettbewerb behaupten kann. Dessen Rationalität macht jenes Verdrängte so zum ihr Fremden, mit dem Ergebnis, dass solche (entfremdete) Rationalität „im Bann ihrer Bilderwelt die Stimmen des Unverfügbaren gar nicht wahrnimmt“,22 wie Sonnemann schreibt. Erneut ist es das Ohr als der dem Auge vermeintlich unterlegene Sinn, welcher sich gerade aufgrund dieser herabgesetzten Position ein Gespür für das Ausgeschlossene und Verdrängte bewahrt hat. Nicht nur erinnert der Stimmhauch aus Benjamins soeben zitierter These an den Sirenengesang und die Stimme der Leidenschaft, ihr unverfügbar und triebhaft Körperliches.23 Mehr noch verlautbart sich in solchen Erinnerungen ein ethischer Anspruch: der Anspruch der Entrechteten auf Einlösung dessen, was in der Moderne als universales Versprechen angelegt ist, ihnen jedoch verwehrt blieb, dass nämlich alle ein glückliches Leben leben können. So zumindest formuliert es Sonnemann:
20Benjamin:
„Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 693 f. „Spontaneität und Geschichte“, S. 211 f. 22Sonnemann: „Das fatale Perfektfutur“, S. 211. 23Freilich könnten die in nächste Nähe zum Stimmhauch gesetzten „Frauen, die sich uns hätten geben können“ ebenso gut hingebungsvolle und verführende Männer sein. In diesem Sinne führte der Verfasser an anderer Stelle die Benjaminschen Überlegungen zum Echo mit Derek Jarmans letztem Film Blue zusammen. Vgl. Martin Mettin: „Ins Blaue. Derek Jarmans Blue als Kunstwerk im Zeitalter der fortgeschrittenen Kulturindustrie“, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, 3. Jahrgang (2016), 2. Heft (Schwerpunkt: Materialistische Ästhetik), S. 279–299. 21Sonnemann:
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„Kriterium der Unterscheidung von Gut und Böse ist […] der Andere: sein Interesse, seine Freiheit, sein Leben, seine Zukunft, sein Wohlergehen. Erst wo das realisiert wurde, ist menschliches Dasein über seine heideggersche Bestimmung als Sein-zum-Tode hinaus“.24
Diese ethisch relevante Stimme ist eine der Stimmen des Unverfügbaren, die es durch den bildhaften Bann einer vermeintlich abgeschlossenen Geschichte hindurch zu vernehmen gilt. Schon bei Homer war eine Implikation des Sirenengesangs, ein absolutes Wissen von allem je Gewesenen zu enthalten, wobei der Wunsch nach absoluter Erinnerung das Selbsterhaltungsstreben gefährdet, da sich die (lustvolle) Erinnerung an alles jemals Gewesene im Vergangenen zu verlieren, somit Gegenwart oder vielmehr Zukunft preiszugeben droht.25 Doch bedeutet diese Hinwendung zum Gewesenen oder aber zum fremden Anspruch, den ein auf Selbsterhaltung getrimmtes Subjekt schwer neben sich dulden kann, nicht notwendigerweise Selbstaufgabe und Selbstverlust. Im Gegenteil, ließen es die gesellschaftlichen Bedingungen zu, ohne Angst auf das Ringen um den eigenen Vorteil zu verzichten, so käme wohl auch im Ego der unterdrückte, weitestgehend verdrängte und damit scheinbar stillgestellte, fremdartige Anspruch eigener Bedürfnisse (oder Bedürftigkeit) ungleich erfüllbarer zur Geltung. Den Stimmen und unbefriedigten Ansprüchen aus der Vergangenheit ein Ohr zu schenken, hieße sich einzulassen auf die Leid- und Glücksmomente eigener Biographie und fremder Geschichte. Auch hier wendet sich das zeitlich Vergangene – das Sedimentierte und Verdrängte, das sich als Verschüttetes jedoch zugleich auch tradiert – vornehmlich ans Ohr, weniger ans Auge; ganz wie die Erzählung selbst, die aus der mündlichen Überlieferung stammt, auch wenn sie dann beispielsweise bei Homer eine visuelle Fixierung in Schriftform erfährt. Wiederkehrendes Thema also: das Gehör als Sensorium für Zeit im Sinne von Geschichte. Reflexionen über uneingelöste Glücksversprechen und Traumata, die einen Anspruch auf Heilung vermelden, evozieren zwar gewisse Imaginationen, Vorstellungswelten, also Bilder einer besseren Gesellschaft. Sie sind jedoch weit davon entfernt, das positive, fertige und insofern verfügbare (in Adornos Diktion: ‚ausgepinselte‘) Bild einer befreiten Gesellschaft zu behaupten. In schlechter Weise abstrakt, stünde ein solches Bild den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, dem also was geworden ist, rein äußerlich gegenüber wie das uns Irdischen unerreichbare Paradies; wäre dabei womöglich bloßes Instrument, um die ‚Kämpfer‘ für eine andere Gesellschaft mit rosigen Versprechungen bei Laune zu halten – ein auch für die widerwärtigsten Grausamkeiten nutzbares Modell. Statt also, wie es ablehnend bereits bei Benjamin heißt, einer kämpfenden Klasse „die Rolle einer Erlöserin künftiger Generationen zuzuspielen“,26 ist ein kritisches, an tatsächlicher Humanisierung interessiertes Bewusstsein deutlich besser beraten, sich dem Anruf einer unabgegoltenen Vergangenheit zuzuwenden. Ihr Vernehmen
24Sonnemann:
„Das fatale Perfektfutur“, S. 212. oben, Kapitel 4. 26Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, BGS I, S. 700. 25Siehe
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befördert, so Sonnemann, eine Phantasie, die hilft, „spontan aus Geläufigem auszubrechen“, in eine Bewegung „der nachfragenden Widersetzlichkeit“.27 Anstatt sich also am Bild einer abgeschlossenen Vergangenheit oder einer schon verplanten Zukunft zu orientieren, formuliert solches gleichermaßen memorierende wie kritisierende Denken zumindest einen Widerspruch zum bloßen Fortlaufen einer zerstörerischen Geschichte, die zu oft im unbeirrbaren Gleichtakt weiterzumachen scheint, als wäre nichts gewesen. Trotz der Reflexion auf die subjektive Ohnmacht angesichts nur gesellschaftlich zu behebender Verwerfungen der menschlichen Verhältnisse erhält sich darin ein Bewusstsein, dass das Weltgeschehen nicht ganz und gar fatal sein kann. Da Vieles menschgemacht ist, muss es zumindest grundsätzlich auch durch menschliches Tun änderbar sein; freilich eine Aufgabe von unabsehbarem Ausmaß. Doch selbst für das Individuum gibt es, noch in der Gefangenschaft einer schlechten Realität, Momente von Freiheit, von Spontaneität; etwa, wenn es sich einem sozial erwünschten Notwendigkeitsglauben nicht fügt, als wäre mit den Zukunftsbildern, die eine ‚alternativlos‘ gewordene Gesellschaft von sich selber entwirft, alles schon entschieden, im Grunde schon gewesen. Beidem, dem Denken im missverstandenen Perfektfutur wie auch der neutralisierend konventionellen Geschichtsbetrachtung, liegt eine Vorstellung von Temporalität zugrunde, die sich mit der oben charakterisierten, linearen Zeit deckt. Die drei Abschnitte ‚Vergangenheit‘, ‚Gegenwart‘ und ‚Zukunft‘ sind hier durch ihre Position auf der historischen Lineatur derart voneinander getrennt, dass ein Wechselwirken zwischen ihnen nicht in den Blick kommt. Ihr Zusammenhang scheint in der rein linearen Vorstellungsweise vielmehr darin zu bestehen, dass alles einmal vergangen sein wird, der Zeitfluss sich seiner Richtung treu bleibt. Es sind also nicht nur erkenntnistheoretische Gründe, die Sonnemann gegen jene Idee einer linearen Zeit aufbringt. Gerade die Erfahrung von Zeit als einer „von Geschichtsbewegung“,28 nach Sonnemann primäre Form der Zeiterfahrung, fordert ein anderes Modell: „Geschichtskritik hieße demnach, gegen die Blickrichtung des Historisten jede Emanzipationsregung der Vergangenheit in eine Zukunft, die ihr nicht beschieden war, fort: also mit der Bewegung der Zeit zu denken, diese Bewegung und was sie verdeckt aber so zu unterscheiden, daß dessen ‚Linie‘ selbst aufhebt: die Nacherzählung jeder Epoche aus der wiederherstellbaren Erfahrungsperspektive ihrer Unterdrückten nicht mehr bloß ‚von außen‘ geleistet wäre und die Geschichte endlich aus einer ‚Linie‘ so zum Strombett, jenem Raum der Gesellschaft würde, worin sie nicht träge bloß dahinfließt, sondern auch Strudel hat: in ihnen allein ist die Scheinbewegung der Universallineatur ‚aufgehoben‘. Solche Aufhebung wäre in der Tat jenes die Geschichte materialistisch heimholende Ein- und Anhalten des hypnotischen Zeit-Verlaufs, das sie verlangt: als seiner selbst eingedenker [sic] Erlösungswille, nach der Tradition jener Beschießung der Turmuhren, die These XV, Victor Hugo zitierend, am Paris von 1830, der Julirevolution, exemplifiziert.“29
27Sonnemann:
„Spontaneität und Geschichte“, S. 209. „Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, S. 112. 29Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 246.
28Sonnemann:
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Der letzte Satz, noch einmal auf Benjamins Geschichtsfragmente rekurrierend, deutet es an: wir haben uns erneut der gesellschaftlichen Funktion von Zeit, ihrem Messbaren, zuzuwenden, dem Konnex also von Zeit und Wert, wie er als Thema im 1. Kapitel bereits auftauchte. Denn laut Sonnemann – und das ist nach der Marxischen Analyse der kapitalistischen Warenproduktion durchaus plausibel – ist es vornehmlich ein spezifischer „Abstraktionsvorgang, der aus jenem Bild einer linearen Streckenhaftigkeit, also Meßbarkeit […], einen substantivierten Begriff macht, den nämlich einer bestimmten, objektiven, jedenfalls dafür gehaltenen Zeitlänge“.30 Demzufolge ist es Zeit unter dem Bann der kapitalistischen, also mehrwertproduzierenden und -akkumulierenden Produktionsweise, welche eine memorierende, tatsächlich eingreifende ‚Bewegung der Widersetzlichkeit‘ schwierig macht und verhindert, dass sie schließlich Wirkung zeitigt. Da bei Sonnemann, trotz dessen grundsätzlicher Übereinstimmung mit Marxens Kritik der politischen Ökonomie,31 hierüber kaum Ausführliches zu erfahren ist, sei nachfolgend erneut eine kurze Exkursion ins Kapital und insbesondere dessen für die Zeitfragen einschlägige Interpretation durch Postone unternommen.
Natur der Sache Dass Zeit (wie von Newton beschrieben) eine gleichmäßige Bewegung in eine Richtung sei, scheint als Erfahrung evident und keiner weiteren Erklärung bedürftig. Doch trügt der Schein: Zwar ist diese Selbstverständlichkeit nicht einfach falsch, denn als Phänomen ist die im Gleichfluss oder Gleichtakt verlaufende Zeit durchaus real; jedoch ist dies keine Eigenschaft, die der Zeit natürlicherweise zukäme. Wir haben bereits gehört, dass sich erst mit dem Beginn der Frühen Neuzeit eine solche Temporalitätsvorstellung durchzusetzen beginnt, folglich dem Übergang zur kapitalistischen, warenproduzierenden Gesellschaftsform korrespondiert. Die Frage nach angeblicher Natürlichkeit stellt sich insofern nicht nur bei der Zeitform, sondern noch sehr viel grundlegender bei der Warenform, für die wiederum Zeit ein bestimmender Faktor ist, wie im 1. Kapitel bereits angedeutet. Im Widerspruch zu den traditionellen politischen Ökonomen seiner Epoche wies Marx im Kapital nach, dass der Wert einer Ware, nach welchem sie im Tausch bemessen wird, nicht einfach als stoffliche Natureigenschaft dem Waren-Ding innewohnt.32 Vielmehr hängt dieser Wert mit der verausgabten Arbeit
30Sonnemann:
„Die verwaltete Welt und das Unverfügbare“, S. 113. Sonnemann: „Räumen Zeit geben“, S. 36: „Bei Marx halte ich die gesamte Ökonomiekritik für zutreffend, für bestätigt von dem, was sich im 20. Jahrhundert vollzieht. Alles andere, der ganze eher politische Teil, auch die Geschichtstheorie und die Theorie des Verhältnisses von Geschichtsentwurf und politischer Praxis, ist sicher falsch.“ 32„Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen nichts zu schaffen.“ Marx: Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 86. 31Vgl.
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zusammen, bezeichnet also eine gesellschaftliche Beziehung, was aber im Tausch nicht erscheint, da die Produkte hier den Anschein erwecken, ihr Wert bemesse sich vorrangig nach stofflichen Kriterien. Tatsächlich aber kommt der Zeit bei der Wertbildung und insofern noch im Tausch eine tragende Rolle zu, und zwar als Arbeitszeit: „Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“33
Und: „Wir kennen jetzt die Substanz des Werts. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Größenmaß. Es ist die Arbeitszeit.“34
Wenn Zeit eine derart fundamentale, logische wie strukturelle Bedeutung im kapitalistischen Produktionsprozess hat, so heißt das auch, dass sie in einer nichtkapitalistischen, etwa feudalistischen Ökonomie, die nicht auf allgemeiner und abstrakter Vermittlung durch ökonomische Gesetze beruht, sondern wesentlich von unmittelbaren und personalen Herrschaftsverhältnissen gekennzeichnet ist, womöglich eine andere Funktion hat. In diesem Sinne zeichnet Moishe Postone in einem kulturhistorischen Abriss die Wandlung der Zeitvorstellung anhand ihrer gesellschaftlichen Funktion nach. So ließe sich in geschichtlicher Perspektive etwa konstatieren, dass „die lineare Zeit, verstanden als lineares, mit Uhr und Kalender gemessenes Fortschreiten, in Europa erst in den letzten Jahrhunderten zyklische Zeitvorstellungen allgemein abgelöst hat“.35 Dem korrespondiert auch der Wandel von einem System variabler Zeiteinheiten, deren Größe sich nach der astronomisch bedingten Länge des Tages richtet, hin zu einem System, das auf gleich großen Zeitabschnitten beruht, unabhängig von der Jahreszeit und der Dauer des Tageslichts. Es ist also nicht allein die Quantifizierbarkeit von Zeit das spezifisch Neuzeitliche an ihr, vielmehr eine bestimmte Form der Quantifizierbarkeit, nämlich die linear-abstrakte, nach allgemeinen und gleichgroßen Maßen vollzogene.36 Zentral ist auch hier der Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit: „Gegen Ende des 14. Jahrhunderts war die 60-Minuten-Stunde in den großen städtischen Zentren Europas fest etabliert und ersetzte den Tag als Basiseinheit
33Marx:
Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 53. Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 55. 35Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 308. 36Der Übergang von einer erlebten zur zählbaren Zeit hat viel früher, nämlich bereits in der griechischen Antike stattgefunden, wobei sich die Modalitäten von erlebter und gezählter Zeit nicht unbedingt wechselseitig ausschließen müssen; vgl. Kreuzer: „Von der erlebten zur erzählten Zeit“. 34Marx:
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der Arbeitszeit.“37 Die Geschichte der Zeit wäre jedoch falsch gedeutet, führte man diesen Wandel allein auf technologische Möglichkeiten zurück. Überzeugend stellt Postone dar, dass das Bestimmen gleichgroßer Zeitabschnitte durch Chronometer bereits wesentlich früher möglich gewesen wäre, sich diese Technik jedoch erst aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen (insbesondere aufgrund des Herausbildens einer bürgerlichen Ökonomie) zu verallgemeinern begann. Es ist die gesellschaftliche Funktion der Zeit, die den Einsatz solcher technologischen Möglichkeiten auf den Plan ruft: „Zeitlichkeit als Maßstab für Tätigkeit unterscheidet sich von Zeitlichkeit, die durch Ereignisse gemessen wird. Jene ist inhärent gleichförmig. Wie wir gesehen haben, entwickelte sich das System der Arbeitsglocken zusammen mit der auf Lohnarbeit basierenden Großproduktion für den Tausch. Es drückte das historische Auftreten einer de facto gesellschaftlichen Beziehung zwischen dem Lohnniveau und dem zeitlich gemessenen Arbeitstag aus – was einen Begriff von Produktivität, das heißt Arbeitsertrag pro Zeiteinheit, impliziert.“38
Wo nun liegt das Problem? Hat nicht die hier sich abzeichnende Abstraktionstendenz kapitalistischer Ökonomie und der mit ihr einhergehenden bürgerlichen Gesellschaft auch ein emanzipatorisches Potential? Aus Perspektive der hier versammelten Autoren ließe sich antworten: Unbenommen eröffnet die sich in den Städten des späten Mittelalters herausbildende Gesellschaftsform gerade durch solche Abstraktionsbewegungen ein bis dato kaum gekanntes Versprechen von Autonomie, welches sich an alle Bürger (später dann endlich an alle Menschen) richtet. ‚Stadtluft macht frei‘, man untersteht nicht mehr der direkten und willkürlichen Herrschaft eines Grundherrn. Jedoch waltet innerhalb dieses Prozesses – der sich über Jahrhunderte hinwegziehenden bürgerlichen Emanzipation – eine eigentümliche ökonomische Dynamik, die das Freiheitspotential, welches sie befördert, zugleich gefährlich bedroht. Diese Dynamik im Detail nachzuzeichnen, ist hier unmöglich; Marx etwa benötigte die drei Bände des Kapitals, um den Theoretikern der bürgerlichen Gesellschaft nachzuweisen, dass ihr liberales Ideal in sich widersprüchlich und zum Scheitern verurteilt ist. Für unsere Zwecke sei also etwas apodiktisch auf wenige Grundzüge hingewiesen. Entscheidendes Charakteristikum des Kapitals, so Postone, ohne das es keine bürgerliche Ökonomie gäbe: „daß es fortwährend akkumulieren muß, um zu existieren.“39 Nicht die angebliche Habgier der Kapitalisten, eine subjektive und zufällige Charaktereigenschaft, sondern die Logik der Ökonomie will es so. Unter den Bedingungen einer Gesellschaft, die „richtungsgebunden dynamisch ist, was sich im Drang nach ständig erhöhten Produktivitätsniveaus ausdrückt“40,
37Postone:
Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 323. Postone bezieht sich hier auf die Studien von Jaques Le Goff. 38Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 322. 39Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 439. 40Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 436.
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sowie unter der Prämisse von Zeit als Arbeitszeit führt die Logik des Kapitals zu einem gewissen „Tretmühleneffekt“41: Um dem Streben des Kapitals nach steter Akkumulation zu genügen, muss die Produktivität der Arbeit unablässig gesteigert werden. Da sich der Wert nach Zeiteinheiten (= Arbeitsstunden) bemisst, ist also der pro Stunde erbrachte Ertrag zu erhöhen. In Bezug auf die Warenproduktion werden die Arbeitsstunden demzufolge permanent dichter, wobei der zeitliche Rahmen, das Raster aus Arbeitsstunden und Werktagen, konstant bleibt.42 Im Resultat ist diese Dynamik dann gleichbedeutend mit einer (oben bereits zitierten) „Tyrannei der Zeit in der kapitalistischen Gesellschaft“.43 Weil sie der grundlegende Maßstab für die Bestimmung der Wertgröße ist, wird die abstrakte, stetig im Gleichfluss befindliche und nach identischen Einheiten gegliederte Zeit zur universalen Größe: „Anders gesagt wird, als Resultat allgemeiner gesellschaftlicher Vermittlung, die Verausgabung von Arbeitszeit in eine zeitliche Norm verwandelt, die von jeder individuellen Handlung nicht nur abstrahiert ist, sondern auch über ihr steht und sie bestimmt.“44
Aus dieser temporalen Logik kapitalistischer Ökonomie erklärt sich denn auch, warum laut Sonnemann metrische Zeit dem „Programm einer tödlichen Fatalität“45 gleicht: Sie tut dies, weil sie unter dem Gebot der permanenten Produktivitätssteigerung steht; nicht, weil jedwede Metrik per se tödlich wäre. Dieses Unwesen des Kapitals mit seiner abstrakt quantifizierenden Zeitordnung kommt bei Marx in Formulierungen wie folgender ungeschönt zum Ausdruck: „‚Was ist ein Arbeitstag?‘ Wie groß ist die Zeit, während deren das Kapital die Arbeitskraft, deren Tageswert es zahlt, konsumieren darf? Wie weit kann der Arbeitstag verlängert werden über die zur Reproduktion der Arbeitskraft selbst notwendige Arbeitszeit? Auf diese Fragen, man hat es gesehn, antwortet das Kapital: Der Arbeitstag zählt täglich volle 24 Stunden nach Abzug der wenigen Ruhestunden, ohne welche die Arbeitskraft ihren erneuerten Dienst absolut versagt. Es versteht sich von selbst, daß der Arbeiter seinen ganzen Lebenstag durch nichts ist außer Arbeitskraft, daß daher alle seine disponible Zeit von Natur und Rechts wegen Arbeitszeit ist, also der Selbstverwertung des Kapitals angehört. […] Es usurpiert die Zeit für Wachstum, Entwicklung und gesunde Erhaltung des Körpers. Es raubt die Zeit, erheischt zum Verzehr von freier Luft und Sonnenlicht. Es knickert ab an der Mahlzeit und einverleibt sie womöglich dem Produktionsprozeß selbst, so daß dem Arbeiter als bloßem Produktionsmittel Speisen zugesetzt werden wie dem Dampfkessel Kohle und der Maschinerie Talg oder Öl. Den gesunden Schlaf zur Sammlung, Erneurung und Erfrischung der Lebenskraft reduziert
41Postone:
Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 435. dürfte deutlich geworden sein, daß die Zeiteinheit mit zunehmender Produktivität, bezogen auf die Produktion von Gütern, ‚dichter‘ wird. Diese Dichte ist aber in der Sphäre der abstrakten Zeitlichkeit, der Wertsphäre, nicht manifest: die abstrakte Zeiteinheit – die Stunde – und der produzierte Gesamtwert bleiben konstant.“ Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 440. 43Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 326. 44Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 327. 45Sonnemann: „Das fatale Perfektfutur“, S. 205; siehe Fußnote 5 (Kapitel 5). 42„Es
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es auf so viele Stunden Erstarrung, als die Wiederbelebung eines absolut erschöpften Organismus unentbehrlich macht. Statt daß die normale Erhaltung der Arbeitskraft hier die Schranke des Arbeitstags, bestimmt umgekehrt die größte täglich mögliche Verausgabung der Arbeitskraft, wie krankhaft gewaltsam und peinlich auch immer, die Schranke für die Rastzeit des Arbeiters. Das Kapital fragt nicht nach der Lebensdauer der Arbeitskraft. Was es interessiert, ist einzig und allein das Maximum von Arbeitskraft, das in einem Arbeitstag flüssig gemacht werden kann.“46
Sicherlich ist diese Beschreibung dramatisch zugespitzt und unüberhörbar polemisch. Doch liegt der Sinn solcher Polemik darin, eine in den einzelnen Phänomenen der Arbeitswelt nicht immer sichtbare, allgemeine ökonomische Tendenz so deutlich wie möglich zu machen. Denn trotz dieser inneren Logik der Ökonomie hat Marx zufolge das Kapital – also das verselbständigte Strukturgesetz der Ökonomie, das wie ein „automatisches Subjekt“47 auftritt – ein Interesse daran, sein zerstörerisches Unwesen an einigen Stellen zu begrenzen. Schon allein aus Selbsterhaltungsgründen kann es die mehrwertproduzierenden Menschen nicht einfach verschlingen, muss sie am Leben erhalten, um selbst weiter zu existieren. Nicht zuletzt in der ‚Aushandlung‘ über die den Arbeitstag betreffenden gesetzlichen Bestimmungen trägt sich dieser logisch-strukturelle Gegensatz aus. Es mag zwar so scheinen, dass sich hier die humanistische Gesinnung der bürgerlichen Gesellschaft durchsetzt, indem der Arbeit durch verordnete Pausen- und Ruhezeiten ein Raum für Muße beigeordnet wird. Tatsächlich jedoch dienen noch jene hauptsächlich der Reproduktion der Arbeitskraft.48 Das Regime der getakteten Zeit erlangt demzufolge laut Marx in der modernen Gesellschaft universelle Geltung: „Man hat gesehen: Die minutiösen Bestimmungen, welche die Periode, Grenzen, Pausen der Arbeit so militärisch uniform nach dem Glockenschlag regeln, waren keineswegs Produkte parlamentarischer Hirnweberei. Sie entwickelten sich allmählich aus den Verhältnissen heraus, als Naturgesetze der modernen Produktionsweise.“49
… womit wir bei der ‚Natur der Sache‘ angelangt wären, damit bei der eingangs des Abschnitts formulierten Behauptung, dass diese dem Kapitalismus eigene Zeitform den Charakter einer Selbstverständlichkeit, eines Naturgesetzes angenommen hat. Wenn Marx hier wie anderswo von kapitalistischen ‚Naturgesetzen‘ spricht, so meint er damit keineswegs, dass die Dinge sich derart entwickelt hätten, weil sie es notwendigerweise, etwa aufgrund einer anthropologischen Grundstruktur, so haben tun müssen. Vielmehr deutet sich in solch polemischer Formulierung an, dass innerhalb der bürgerlichen Ideologie (also
46Marx:
Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 279 f. Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 169. 48Das etwa ist auch der entscheidende Grund für Adornos spätere Kritik am Begriff der Freizeit; vgl. Theodor W. Adorno: „Freizeit“ [1969], in: AGS 10, S. 645–655. 49Marx: Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 299. 47Marx:
Natur der Sache
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innerhalb der habitualisierten Vorstellungs- und Bewusstseinsweisen) menschgemachte Dinge wie beispielsweise eine von allen Inhalten abstrahierte, bloß lineare und gleichmäßig getaktete Zeit den Charakter von Naturgegebenheiten annehmen. Auf diese Weise „führen die gesellschaftlichen Zeitformen ein Eigenleben“50; was bedeutet, dass ihre historische Genese nicht erscheint, sie eben deshalb die Form unhinterfragter Selbstverständlichkeiten annehmen.51 Einschlägig für solche Erscheinungsformen ist der Begriff des Fetischs, wie Marx ihn im Kapital mit Blick auf die Warenform entwickelt. Einen Fetisch kennzeichnet demnach, dass „das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst“ im Fetisch für die Menschen „die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt“.52 In solchen Phantasmagorien also verdinglichen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse dergestalt, dass sie „als der Geschichte enthoben“53 erscheinen. Anders formuliert: „Die Zauberei und die Magie des Kapitals, auf welche die Kritik des Fetischismus abzielt, bestehen darin, dass es seine eigenen Voraussetzungen unsichtbar macht.“54 Diese Fetische zu dechiffrieren, ihre phantasmagorische Form zu zerbrechen, ist Aufgabe einer kritischen Gesellschaftstheorie. Damit muss zugleich der spezifische Bildcharakter solcher (nach Marx zugleich notwendig und falsch) produzierten Bewusstseinsinhalte zersetzt werden. Ähnlich dem biblischen goldenen Kalb, das als Menschgemachtes kultische Macht über seine Macher ausübt, verschleiern die Fetische des Kapitals, dass die gegebenen Verhältnisse kein Schicksal sind, vielmehr änderbar wären. So ist denn auch das (in Sonnemanns Diktion: ‚perfektfuturische‘) Bild einer fix und fertigen Welt falsch, selbst wenn die realen Verhältnisse so aussehen mögen, als vollzöge sich die ewige Wiederkehr des Immergleichen: Wirtschaftswachstum (sprich: Akkumulation) um des Wachstums willen, Arbeitstag für Arbeitstag, in einem ‚alternativlos‘ gewordenen Kapitalismus, der freilich immer neue Krisen gebiert. Statt das bürgerliche Versprechen auf nächsthöherer Stufe von Vergesellschaftung einzulösen, scheint eine an ihren Verhältnissen irre gewordene Menschheit wie wildgeworden um sich zu schlagen, schlafwandlerisch immer eng am Abgrund der Barbarei unterwegs, oft genug schon über die Gratwanderung hinaus in jenen Abgrund gestürzt — wie man zugespitzt polemisieren könnte. Benjamin versuchte, dem durch die
50Postone:
Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 326. so viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens immer rascher transformiert werden, können die sich nicht verändernden, zugrundeliegenden Strukturen dieser Gesellschaft […] für ewige, gesellschaftlich ‚natürliche‘ Aspekte des Mensch-Seins gehalten werden. Infolgedessen wird die Möglichkeit einer von der modernen Gesellschaft qualitativ verschiedenen Zukunft verschleiert.“ Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 452 f. 52Marx: Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 86. 53Postone: Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft, S. 226. 54Stephan Grigat: „Fundamentale Wertkritik versus Ideologiekritik. Was folgt aus dem marxschen Fetisch-Begriff für die Kritik der kapitalverwertenden Gesellschaft und des Antisemitismus?“, in: Christine Blättler und Falko Schmieder (Hg.): In Gegenwart des Fetischs. Dingkonjunktur und Fetischbegriff in der Diskussion, Wien 2014, S. 111–131, hier S. 123 f. 51„Da
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Produktionsverhältnisse bewirkten Bild (oder: dem Anschein), dass diese Verhältnisse ewig seien, seine dialektischen Bilder entgegenzusetzen, durch die qua kollektiver Erinnerung der sedierende Zustand des Arbeitstaktes unterbrochen werden sollte.55 Und die Dialektik der Aufklärung machte es sich zur Aufgabe, die falschen Bilder, Ideologien und Phantasmagorien zu zersetzen, indem sie diese las, also die widersinnige und zerstörerische Realität interpretierte, um ihrer zerstörerischen Übermacht nicht hilflos (zumindest nicht sprachlos) ausgeliefert zu sein.56 Sonnemanns Kritik einer Zeit, die sich in gleichgetakteter Linearität erschöpft, will dies auf ihre Weise. Sie zersetzt die „Arbeitsidolatrie“57, wie Sonnemann das nennt, gemahnt daran, dass die sich im Laufe der kapitalistischen Vergesellschaftung etablierte Zeitlichkeit der Arbeitszeit nicht die einzig vorstellbare ist. Wie wirkmächtig sich jedoch dieser Fetisch präsentiert, wie sehr er seine Sache zum Naturgesetz verklärt, offenbart sich etwa am Wort ‚Arbeitslosigkeit‘: In einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft wäre ein hohes Maß an Arbeitslosigkeit möglicherweise gerade Anzeichen des Wohlstandes einer solchen Gesellschaft; dass nämlich die notwendig zu verrichtenden Arbeiten auf ein Minimum reduziert sind, der Rest des Tages dann echte Mußezeit wäre. In einer sinnwidrig eingerichteten Gesellschaft jedoch ist Arbeitslosigkeit soziales Stigma, Vollbeschäftigung gilt als das Maß der Dinge und als politische Utopie. Dass es sinnvolle menschliche Tätigkeit jenseits von Lohnarbeit geben könnte – und unter den gegebenen Verhältnissen steht ein Großteil menschlicher Tätigkeit in deren Zeichen, sei es auch als reproduzierende Zuarbeit –, scheint unter dem Paradigma von erstrebenswerter Vollbeschäftigung kaum vorstellbar. Ein Moment von Ideologiekritik, dies sei als methodologische Nebenbemerkung noch mitgeteilt, besteht übrigens darin, „sich zu weigern, an sich selbst Unverständliches wie Wert und Kapital […] zu rationalisieren“ und stattdessen auf die „Untheoretisierbarkeit unvernünftiger Gegenstände“ hinzuweisen.58 Das meint dann aber auch, die ideologiekritischen Dechiffrierungen nicht ihrerseits zu übermächtigen Bildern werden zu lassen, also weltformelhaft als Erklärung für alles
55Siehe hierzu auch Walter Benjamin: „Kapitalismus als Religion“ [1921], in: BGS VI, S. 100– 103. 56In der Dialektik der Aufklärung heißt es dazu: „Gerettet wird das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots. Solche Durchführung, ‚bestimmte Negation‘, ist nicht durch Souveränität des abstrakten Begriffs gegen die verführende Anschauung gefeit, so wie die Skepsis es ist, der das Falsche wie das Wahre als nichtig gilt. Die bestimmte Negation verwirft die unvollkommenen Vorstellungen des Absoluten, die Götzen, nicht wie der Rigorismus, indem sie ihnen die Idee entgegenhält, der sie nicht genügen können. Dialektik offenbart vielmehr jedes Bild als Schrift. Sie lehrt aus seinen Zügen das Eingeständnis seiner Falschheit lesen, das ihm seine Macht entreißt und sie der Wahrheit zueignet.“ DdA, 46 f. Zur Interpretation dieser Stelle siehe auch Sebastian Tränkle: „Die Materialistische Sehnsucht. Über das Bilderverbot in der Philosophie Theodor W. Adornos“, in: Zeitschrift für kritische Theorie H. 36–37, 2013, S. 83–109. 57Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 232. 58Grigat: „Fundamentale Wertkritik Versus Ideologiekritik“, S. 120.
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Seiende zu benutzen. Weder leitet sich alles in der Welt aus den Grundgesetzen des Kapitals ab, noch sind mit solcher Beschreibung die Phänomene hinreichend erfasst. Dass etwa zwischen der zur Linearität verdinglichten, abstrakten Zeit und der kapitalistischen Produktionsweise ein Zusammenhang waltet, ist mehr als plausibel und offensichtlich; das heißt aber nicht, dass sich dieser Abstraktionsprozess im Bewusstsein allein aus der Ökonomie erklären ließe. Entgegen der vulgärmaterialistischen wie -marxistischen Theorie ist es nicht einfach die ökonomische Basis, die das Bewusstsein – also die „Denkformen“59 – bestimmt, ist auch der Geschichtsverlauf kein eindeutig sich in eine Richtung vollziehender. Sein und Bewusstsein überlagern sich in verschiedenen Schichten, sind gelegentlich gar wechselseitig durchdrungen. Ferner lösen gesellschaftliche Neuerungen ihre Vorgeschichte nicht einfach ab, gibt es auch eine Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, etwa das Fortleben vormoderner Phänomene in der Moderne.60 So ist denn auch die Konzeption abstrakter Zeit weder bei Newton noch bei Kant einfach ein Kind des ökonomischen Abstraktionsprozesses, jene Denkform ‚Zeit‘ nicht bloßes Resultat der allgemeinen Warenform. Aus ökonomiekritischer Perspektive ist die Ähnlichkeit zwischen beiden zwar nicht von der Hand zu weisen, doch erschöpft sich die von Kant angestrengte, philosophische Abstraktion keineswegs in funktionaler Beziehung zum Kapital – das sollte aus den Darstellungen im 1. und 2. Kapitel hinreichend deutlich geworden sein. Dies alles ist auch im Hinblick auf das nun Folgende gesagt …
Im Takt des Geldes? Sonnemanns Befund, seit dem Beginn der Frühen Neuzeit breite sich eine in spezifischer Weise verräumlichte, abstrakte und quantifizierende Temporalitätskonzeption aus, kann nicht nur durch Marxens Kapital-Analysen und Postones zeittheoretische Ausführungen erhärtet werden. Auch auf dem Gebiet der Zeitkünste Musik und (vorgetragener) Lyrik lässt sich ein ähnlicher Wandel temporaler Gliederungen um den frühneuzeitlichen Epochenumbruch herum konstatieren; zumindest, wenn man hier einem neueren Forschungsansatz folgen will. In seinem
59In
lockerer Anlehnung ist dieser Begriff übernommen von Alfred Sohn-Rethel: Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt a. M. 1970. 60Walter Benjamin schreibt hierzu: „Der historische Materialismus erstrebt weder eine homogene noch eine kontinuierliche Darstellung der Geschichte. Indem der Überbau auf den Unterbau zurückwirkt, ergibt sich, daß eine homogene Geschichte, etwa der Ökonomie, ebensowenig existiert wie eine der Literatur oder der Rechtswissenschaft. Indem auf der ande[r] n Seite die verschiedenen Epochen der Vergangenheit von der Gegenwart des Historikers in ganz verschiednem Grade betroffen werden (oft wird die jüngste Vergangenheit überhaupt nicht von ihr betroffen; die Gegenwart wird ihr ‚nicht gerecht‘) ist eine Kontinuität der Geschichtsdarstellung undurchführbar.“ Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, BGS V, S. 588. Zur ‚Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem‘ siehe außerdem Ernst Bloch: „Gespräch über Ungleichzeitigkeit“, in: Kursbuch 39, 1975, S. 1–9.
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Buch Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens (2004) geht Eske Bockelmann der Entstehung von Taktrhythmik auf den Grund. Untersuchungsgegenstand ist damit ein (für Sonnemanns späte Arbeiten höchst erhellendes) Zeitphänomen in seiner historischen Genese: der Übergang von einem antiken und mittelalterlichen hin zum modernen Rhythmus. Auch auf diesem Gebiet lässt sich nach Bockelmanns Studie eine spezifische Naturalisierung von Menschgemachtem finden. Demnach erscheine es zunächst ganz selbstverständlich, dass sich rhythmisch Erklingendes in Musik oder in Lyrik nach betonten und unbetonten Teilen gliedere, sozusagen in einer zweiwertigen Logik. Modellfall hierfür seien etwa das ‚Tick–Tack‘ einer Uhr (bzw. eines Metronoms) oder des ‚Klick–Klack‘ von Schritten. Dem alltäglichen Hören ist diese Form von Rhythmus „ebenso gedankenlos und ohne alle bewusste Anstrengung zu verstehen wie die Zeit“.61 Ausgehend von dieser alltäglichen Erfahrung beschreibt Bockelmann, wie diese rhythmische Struktur von verschiedenen Theorieansätzen über ihre scheinbare Natürlichkeit zu erklären versucht wurde. Selbstredend ist es nach solchen Erklärungsmodellen zwar nicht der Takt einer mechanischen Uhr, jedoch nicht selten die rhythmische Schrittfolge des menschlichen Zweibeiners, welche als Ursprung des zweiwertigen Taktempfindens behauptet wird. Doch lässt sich laut Bockelmann nachweisen, dass hier eine missverständliche Einschränkung von Rhythmik vorgenommen wird: „Diese Art Klang ist in unseren Ohren zweifellos rhythmisch, wir empfinden ihn als rhythmisch, er geht uns als Rhythmus ein, so unwillkürlich, wie uns eben das tok tok gehender Füße mit einem leichten Abwechseln nach tik und tak ins Ohr geht. Aber: Was wir auf diese Weise als rhythmisch empfinden […] ist nicht etwa ein für allemal Rhythmus, sondern es ist die einfachste Spielart nur einer ganz bestimmten Art von Rhythmus: des Taktrhythmus. Und diesen gibt es nicht seit Menschen- oder Tieresgedenken, sondern erst seit Beginn der Neuzeit.“62
Zunächst anhand des Versmaßes, später dann auch anhand musikalischer Rhyth mizität, zeigt Bockelmann, wie in Antike, Mittelalter und noch in der Renaissance das rhythmische Empfinden sich vornehmlich nach den Längen der jeweiligen Glieder einer rhythmischen Einheit richtete, die nur in ihrem proportionalen, ergo konkreten Verhältnis zu einander als lange und kurze Teile erscheinen und so dem Gebilde eine rhythmische Struktur verleihen; wie dann diese ältere Form der Konstruktion und Wahrnehmung von Rhythmus durch eine moderne, namentlich den Takt, abgelöst wurde; schließlich, wie dies mit einer sich wandelnden Temporalität insgesamt einherging. Es ist der Wandel von einer an die konkreten Inhalte gebundenen, materialen Zeit hin zu einer abstrakten, die sich nicht mehr nach den Proportionen konkreter Gestalten bemisst, sondern gesetzmäßig und a priori gewissermaßen als ein Raster den zeitlichen Raum absteckt, der dann (hinterher) mit konkreten Inhalten zu füllen bleibt:
61Eske
Bockelmann: Im Takt des Geldes. Zur Genese modernen Denkens, Springe 2004, S. 12. Im Takt des Geldes, S. 20.
62Bockelmann:
Im Takt des Geldes?
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„Durch das Hinzutreten der Rasterung scheidet sie [scil. die Taktrhythmik], was vorher untrennbar Eins war, das eine nicht anders denkbar als im anderen. In eins mit der ‚Zeiterfüllung‘ war die ‚Zeitgliederung‘ gegeben, sie bestanden nicht getrennt, und daher fehlte auch die Begriffsunterscheidung, hatte die Abgrenzung der einen von der anderen kein Recht und keinen Sinn. Es gab nicht ‚Zeiterfüllung‘ als etwas, was in eine andere, leer zu denkende Zeit eintrat, als Material, das ein vorgegebenes Hohlmaß erst noch mit Körper, mit Füllung versah, es gab die Zeit nicht als etwas, was absolut für sich bestand und dann eben gefüllt werden konnte oder nicht.“63
Der historische Befund, den Bockelmann in seinem Buch vorlegt – dass mit der Epochengrenze zur Frühen Neuzeit (also um Sechzehnhundert) die alte materiale Rhythmik durch eine abstrakte Taktrhythmik abgelöst wurde –, leuchtet ein und ist auch deshalb plausibel, weil dieser Befund mit einer Fülle an Material unterlegt ist: Nicht nur Werke aus Musik und Lyrik der verschiedenen Epochen werden analysiert, auch die theoretischen Reflexionen über das Wesen der Rhythmik der jeweiligen Zeit kommen zu Wort. Allein, die Erklärung, die Bockelmann hier zugrunde legt, bleibt fragwürdig. Schon der Titel des Buches deutet ja an, dass nicht nur das Phänomen ‚Rhythmus‘ Gegenstand der Untersuchung sein soll, vielmehr gleich das moderne Denken insgesamt. So wird denn auch nicht nur der musikalischen wie lyrischen Zeitvorstellung ein allgemeines Abstraktwerden bescheinigt, sondern gleichermaßen den entstehenden Naturwissenschaften wie auch der Philosophie seit dem Beginn der Neuzeit. Diese universelle Änderung aller Denkformen begründe sich dann ausschließlich aus der Warenform. Streng genommen spricht Bockelmann allerdings nicht von ‚Warenform‘, sondern von der gesellschaftlichen Verallgemeinerung des Geldes, das erst in der Neuzeit zum allgemeinen Tauschmittel wird. Denn ganz so, wie im Geschäftsleben stetig Geld und Ware in ein Verhältnis gesetzt werden müssen – Bockelmann nennt dies ‚die Synthesis‘ –, habe sich auch das Hören von Musik und Sprache, vormals als vernehmendes eine eher passive Form der Wahrnehmung, in ein aktives, synthetisierendes verwandelt: „So formen, auf diese Weise denken wir Geldwert und Warenwert als Einheiten in dem reinen Verhältnis von bestimmt [= Geld] gegen nicht-bestimmt [= Ware]. Im alltäglichen Umgang mit Geld setzen, verbinden und unterscheiden wir also je zwei Elemente nach dem reinen Ausschließungsverhältnis, das als solches notwendig asymmetrisch ist. So ist die Synthesis bestimmt, die wir am Geld zu leisten haben. [Absatz] Und ganz genauso ist auch diejenige Synthesis bestimmt, die wir als taktrhythmische kennen.“64
So aufschlussreich der Befund auch sein mag, dieser Erklärungsversuch erscheint sehr viel weniger überzeugend. Nicht nur ist der Anspruch vermessen, mit einem Strukturmerkmal moderner Ökonomie gleich die ganze Geschichte abendländischen Denkens seit der Frühen Neuzeit zu erklären. (Auch ein vermessener Anspruch könnte immerhin eine Tendenz offenlegen, also partielle
63Bockelmann: 64Bockelmann:
Im Takt des Geldes, S. 86. Im Takt des Geldes, S. 183.
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Gültigkeit besitzen, ganz im Sinne der Fetisch-Kritik.) Weitaus entscheidender, dass Bockelmann mit seiner Erklärung hinter die Marxische Ökonomiekritik gewissermaßen zurückzufallen scheint, zumindest nicht deren tatsächliches Ausmaß hinreichend berücksichtigt. Warum etwa die Waren am Geld bemessen werden, und warum dies überhaupt möglich ist, warum also Abstraktion in der Moderne derart universal wird, erscheint bei Bockelmann nicht eigens als Frage. Als einzig relevanter Abstraktionsvorgang gilt hier offenbar derjenige zwischen konkreten Gegenständen und Geld, also der Tauschvorgang. Wie aber der am Geld bemessene Wert in die Ware hineingelangt, bleibt außen vor. Die ganze Produktionssphäre, für Marx ja Ausgangspunkt der Kapital-Analyse, wird nicht thematisiert. Der systematische Kern des Waren- und Wertfetischismus und mit ihm die eigentümliche Abstraktion von Zeit zur wertbildenden Arbeitszeit bleiben damit unberücksichtigt. Dabei ließe sich aufgrund des Befundes mindestens gleichermaßen plausibel beschreiben, dass nicht die ominöse ‚Synthesis am Geld‘, vielmehr der Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Zeit am Entstehen einer abstrakten Takt-Rhythmik mitwirkt und auch eine akustische Wahrnehmung hervorbringt, die zunehmend selber dermaßen abstrakt wird, dass ihr die Inhalte vornehmlich zu Verfügungsgegenständen werden, die primär unter das rhythmische Gesetz zu subsumieren sind. Erinnert sei hier an die von Marx beschriebene Bedeutung des Glockenschlages zur Einteilung der Arbeitsstunden. Eine Strukturähnlichkeit zum gleichförmigen, das Zeitraster gliedernden Taktschlag in der Musik dürfte auf der Hand liegen. Bockelmann formuliert dies – allerdings wieder auf die verkürzt anmutende Geld-Erklärung hinauslaufend – folgendermaßen: „Was man ganz aus dem Bauch [i.e. dem Gefühl] heraus macht, das Einschwingen in den Taktrhythmus, es entspringt dem Kopf [i.e. dem Verstand] in seinem abstraktesten Wesen, dem des Geldes. Der Bauch ist nicht der Ort, wo der Kalkül aufhört und das Leben beginnt, sondern wo der Kalkül seinen zuverlässigsten Statthalter hat, das reine, binäre Verhältnis als unwillkürlichen Ordnungsreflex.“65
Möglicherweise sind es Zustände wie dieser – eine unbewusste Inkorporation verhärteter gesellschaftlicher Strukturen –, die das Sensorium sedieren (um Sonnemanns Terminologie zu verwenden), es harthörig machen für das, was sich der Berechnung nicht fügen will: sei’s die Stimme einer unabgegoltenen Vergangenheit, sei’s das denunzierte und sich verlautbarende Irrationale am eigenen Selbst, sei’s ein Bewusstsein darüber, dass die scheinbare Naturwüchsigkeit und Zwangsläufigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse einer verselbständigten Rationalität entsprungen sind, damit durch gesellschaftliche Anstrengung bewältigt werden könnten … Wohl ist es nicht Abstraktion per se, welche den Gegensatz von Konkretem und Abstraktem derart antagonistisch werden lässt, dass beides beschädigt daraus
65Bockelmann:
Im Takt des Geldes, S. 240.
Im Takt des Geldes?
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hervorgehen muss. Nicht jede abstrakte Zeitform bleibt um der Berechenbarkeit willen ihren Inhalten gegenüber gleichgültig, negiert sie derart, dass es keine Entfaltungsmöglichkeiten für ihr Eigenleben mehr gäbe. Vielleicht verdankt sich die Komplexität, der Inhaltsreichtum der europäischen Kunstmusik gerade einem abstrakten Taktrhythmus, der autonome Musik erst denkbar machte; zumindest hat jener ihre Entwicklung nicht gehemmt, sondern ging mit ihrer fulminanten Beförderung seit der Neuzeit einher. Pointiert ließe sich vielleicht sagen: Ohne Abstraktion keine Freiheit. So kennt denn musikalische Zeit, auch und gerade solche in strengen und abstrakten Takten, durchaus musikalische Ereignisse, die sich nicht einfach metrisch berechnen oder errechnen (also allein mathematisch herbeiführen) lassen. Mit Sonnemann und Benjamin ließe sich jedoch sagen: Der verselbständigten Arbeitszeit der kapitalistischen Ökonomie entspricht eine Form abstrakter Zeit, die dem Freiheitspotential von Abstraktion rabiat zuwiderläuft, es verschüttet: eine lineare Geschichtszeit, in der gleichzeitig unaufhörlich Wert zu akkumulieren ist und doch alles auf der Stelle tritt. Ihr scheint das Gewesene abgeschlossen, und auch das Zukünftige nur Verfügungsmaterial, gleichsam in Bilder gebannt, die als Fetische ihre Betrachter (die Menschen im Bann der Arbeitswelt) hypnotisieren. Wie Bockelmann überzeugend darstellt, ist allerdings auch das Gehör vor bestimmten Verdinglichungstendenzen keineswegs gefeit, etwa wenn es die Wahrnehmungsgehalte beinahe zwanghaft in ein zweiwertiges Schema presst. Auch in puncto Zeitkritik ist es demnach nicht allein entscheidend, auf welchen der Sinne sich kritisches Denken in seiner Erfahrung stützt und einlässt; stattdessen, welche Potentiale derselben es dabei mobilisiert, auch entgegen ihrer sozialen Funktion. Ziel einer kritischen Theorie des Hörens muss entsprechend zugleich eine Rettung des Auges sein, und zwar auf solche Weise, wie auch Sonnemann schreibt, „daß es statt […] inventarisieren zu müssen wieder in entdeckenkönnender Unbefangenheit schauen darf“.66 Im Vortrag über „Das sedierte Sensorium“ formulierte Sonnemann ganz in diesem Sinne: „Aber nach dem Titel dieses Vortrages geht es ja hier um die Sediertheit des ganzen Sensoriums, nicht nur die des Gehörs, wenn auch der Fokus des erläuternden Zusatzes dann ausschließlich auf den Hindernissen ruht, die sich dessen Wiederkehr in den Weg stellen. Und das impliziert ja auch sehr bewußt schon, was von dem Schein des Widerspruchs dann nichts übrig läßt, der sich in diese Differenz leicht hineinliest, daß es keine denkbare Rehabilitierung des Ohrs als Erkenntnisorgan geben kann, die nicht mit dem menschlichen Sensorium im ganzen, jenem eigensten Interesse des Auges sogar in besonderer Ausdrücklichkeit solidarisch ist, von der Misere seiner Polizistenfunktion über dem Ensemble unserer Sinnesorgane endlich befreit zu werden, die seit Anfang der Neuzeit ihm die Überwertigkeit der reinen Extensio – der Raumvorstellungen – diese gleichgültige, aber meßbare, kartesisch-newtonische Unendlichkeit aufbürdete, die sich nur teilend beherrschen, herrscherlich gleich unendlich sich teilen läßt, ihrer eigenen Gesichter dabei aber so völlig verlustig geht, daß schon nach Nietzsches perzeptiv kritischer Klage das Auge dabei immer unvermögender seines Eigensten, jenes physiognomischen Sehens wird, das in seiner
66Sonnemann:
„Das fatale Perfektfutur“, S. 207.
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5 Zeitgeschichte
Theoria-Lust, ihrem offenen Schauenkönnen, gerade das antike Antecendes dieses Erkenntnisprimats des Blicks definiert hat.“67
Nach Benjamin war der Ort für ein progressives ‚Schauenkönnen‘ – für ein Bilderdenken also, das seine Gegenstände in Bewegung bringt – die Sprache. Und auch für Sonnemann gilt, dass sich durch und in Sprache eine leerlaufende Abfolge von Begebenheiten „in Strudel“68 versetzen, die fatale Geschichtszeit der warenproduzierenden Gesellschaft sich mit der Erinnerung an die Potentiale einer anderen Zeit konfrontieren lässt. Nachfolgend sei entsprechend das von Sonnemann konstatierte Dreiecksverhältnis zwischen Geschichte, Gehör und Sprache um sein Drittes ergänzt.
67Sonnemann:
„Das Sedierte Sensorium“, S. 18. Und an anderer Stelle heißt es: „Die Überflutung mit Bildern jetzt, […] die sich zunehmend an die Stelle eines jeweils eigenen Lebens, seiner Träume und seiner Entscheidungen, setzen, sind am wenigsten dem Wesen des Auges, auf dessen Macht sie bauen, während sie sie schädigen, angemessen: zusehends verderben sie, was Nietzsche den physiognomischen Blick nannte, und doch ist diese Überflutung bloß die Endphase eines geschichtlichen Vorgangs, der vor einem halben Jahrtausend als Raum-Hypnose Europas begann.“ ZiA, 286. 68Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“, S. 246; siehe Fußnote 29 (Kapitel 5).
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Anatomie des dritten Ohres? Zur Akustik der Sprache
„Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen.“ (Max Horkheimer: „Traditionelle und kritische Theorie“ , S. 174.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_6
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6 Anatomie des dritten Ohres?
Der „Durchbruch der Zentralperspektive in der Malerei der Renaissance“, so Sonnemann gelegentlich seiner Betrachtungen zum „Unheiligen am Bekenner“, nimmt „eine Raumerfahrung voraus, die dann erst Descartes und Newton auf den Begriff bringen“ – ein mathematisch konstruierbarer, mithin wissenschaftlich exakt bestimmbarer, objektiver Raum – „und in einem solchen Raum gleichgültiger Punktualitäten gibt es für Mittelpunkte der Welt, Nabelbildungen des Heiligen, überhaupt keine Möglichkeiten mehr“.1 Nun sind es weder die bloße Existenz der Naturwissenschaften noch aber die Anwendung optischer Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Malerei, die zwangsläufig das ‚Heilige‘, sich Entziehende bzw. Entspringende, also Spontaneitätsermöglichende, sabotierten. Die bildende Kunst zwischen Renaissance und klassischer Moderne – wenn man so will das Zeitalter der Zentralperspektive – bediente sich vielfach des technischen Mittels Fluchtpunkt gerade auf solche Weise, dass im geometrisch konstruierten, berechneten Raum das Unberechenbare umso nachdrücklicher erscheinen konnte. Etwa, wenn der Zentrifugalkraft der Perspektivrichtung andere Bewegungslinien kontrapunktisch zuwiderlaufen, somit das statische Gebilde der auf Leinwand getrockneten Farbe aus sich heraus in eigentümliche Bewegung gerät; man denke hier nur an Leonardos Anna Selbdritt (1502–1513), deren Konstruktion freilich mit dem Fluchtpunkt spielt, den Regeln der Luftperspektive jedoch umso wegweisender und ‚naturalistischer‘ folgt. Ganz zu schweigen von den Stichen eines Piranesi, die mithilfe des geometrischen Fluchtpunktes und doch ganz gegen dessen Gesetze die aberwitzigsten Räume konstruieren, dem eingekerkerten menschlichen Dasein eine eindrückliche Stimme verleihend.2 Nur dort, wo ein absoluter Geltungsanspruch solcher Gesetzmäßigkeiten für alles in der Welt proklamiert wird, verdecken sie, was sich im Berechenbaren und Konstruierbaren nicht erschöpft.3 Es empfiehlt sich also, Sonnemanns ablehnende 1Sonnemann:
„Das Unheilige am Bekenner“, S. 148. Battista Piranesi: Carceri, 1745–1750|1761. 3Da uns Sonnemanns kritische Bezugnahme auf die neue Raumerfahrung in der Renaissance (und deren Malerei) schon mehrfach begegnete, sei hier als kleines Nebenthema kurz auf sie eingegangen. Zunächst wären Sonnemanns Behauptungen dahingehend zu differenzieren, dass auch die Spätantike eine gewisse Perspektivvorstellung in der Malerei kannte, auf welche die Renaissance dann späterdings zurückgriff. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky machte in einem wegweisenden Aufsatz von 1927 darauf aufmerksam. Gleichwohl betont er, darin Sonnemanns Äußerungen gleichsam stützend, dass die neuzeitliche Perspektive in einem entscheidenden Punkt abweicht von der antiken, welche nämlich den subjektiven Seheindruck auf der gekrümmten Netzhaut zum Maß der Raumdarstellung machte, weshalb die antike Raumdarstellung auch keine Plan- bzw. Zentralperspektive kannte: „Diese ganze ‚Zentralperspektive‘ macht, um die Gestaltung eines völlig rationalen, d. h. unendlichen, stetigen und homogenen Raumes gewährleisten zu können, stillschweigend zwei sehr wesentliche Voraussetzungen: zum Einen, daß wir mit einem einzigen und unbewegten Auge sehen würden, zum Andern, daß der ebene Durchschnitt durch die Sehpyramide als adäquate Wiedergabe unseres Sehbildes gelten dürfe. In Wahrheit bedeuten aber diese beiden Voraussetzungen eine überaus kühne Abstraktion von der Wirklichkeit (wenn wir in diesem Falle als ‚Wirklichkeit‘ den tatsächlichen, subjektiven Seheindruck bezeichnen dürfen). Denn die Struktur eines unendlichen, stetigen und homogenen, kurz rein mathematischen Raumes ist derjenigen des psychophysiologischen geradezu 2Giovanni
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Rede von ‚Zentralperspektive‘ hier wie an andern Stellen durchaus metaphorisch zu lesen: als die Kritik einer Wahrnehmungs- und Denkweise, welche, einem stur auf seinen Fluchtpunkt ausgerichteten Blick gleich, nur registriert, was sich im frontalen Sichtfeld befindet, dies jener Perspektive unterordnet und fügt, der Fluchtrichtung schlechterdings folgt; alles Abseitige und Ausscherende jedoch ausblendet. Gefordert ist also die Kritik eines (sozusagen) statischen Sehens. Solcher scheindynamischen Fluchtpunktszenerie, in deren Raum von ‚gleichgültigen Punktualitäten‘ alles in eine einzige Richtung flieht, kontrastiert Sonnemann die Beweglichkeit wahrnehmenden Denkens. Sein Modell wie seine Möglichkeit – ja sein Medium ohne das es nicht wäre – hat es in einer Sprache, die ihre eigenen Potentiale ausschöpft, sich selbst leichtfüßig und gewandt hält. Ihre Ausschweifungen seien nun wie im Vorbeiflug aufgezeichnet, also gewissermaßen aus (allemal spekulativer) Vogelperspektive. Anhand einiger Fallstudien wird der II. Teil vorliegender Untersuchungen hinlänglich auf den Boden ihrer Details zurückkommen.
e ntgegengesetzt“; Erwin Panofsky: „Die Perspektive als symbolische Form“ [1927], in: Ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 21974, S. 99–167, hier S. 101. Solche Brüche in den Raumvor- wie -darstellungen innerhalb der Kunstgeschichte verweisen nach Panofsky zugleich darauf, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse und mit ihnen das menschliche Sensorium geändert haben: „So ist also die antike Perspektive der Ausdruck einer bestimmten, von der Moderne grundsätzlich abweichenden Raumanschauung […] und damit einer ebenso bestimmten und von der Moderne ebenso abweichenden Weltvorstellung.“ Ebd., S. 109 f. Ein Unterschied der Weltvorstellungen ist dabei die zunehmende Bedeutung von Abstraktion, Messbarkeit und Objektivität. Und so schlägt auch das folgende Zitat Panofskys in die gleiche Kerbe wie Sonnemanns Anmerkungen zur Zentralperspektive, auch wenn Ersterer dabei durchaus die produktiven Seiten dieser historischen Entwicklung stärker betont: „allein wir müssen versuchen, uns vorzustellen, was diese Errungenschaft [scil. die Durchsetzung der Zentralperspektive in der Renaissance] damals bedeutete. Nicht nur, daß damit die Kunst zur ‚Wissenschaft‘ erhoben war (und für die Renaissance war das eine Erhebung): der subjektive Seheindruck war so weit rationalisiert, daß gerade er die Grundlage für den Aufbau einer fest gegründeten und doch in einem ganz modernen Sinne ‚unendlichen‘ Erfahrungswelt bilden konnte […] – es war eine Überführung des psychologischen Raumes in den mathematischen erreicht, mit anderen Worten: eine Objektivierung des Subjektiven.“ Ebd., S. 123. Angesichts dieser Betonung der produktiven Seite der Zentralperspektive kaum verwunderlich, dass Panofsky anders als Sonnemann (und damit im hier vorgeschlagenen Sinne) die Ambivalenz der korrespondierenden Raumwahrnehmung sowie der Technik ihrer Darstellung hervorhebt: „So läßt sich die Geschichte der Perspektive mit gleichem Recht als ein Triumph des distanziierenden [sic] und objektivierenden Wirklichkeitssinns, und als ein Triumph des distanzverneinenden menschlichen Machtstrebens, ebensowohl als Befestigung und Systematisierung der Außenwelt, wie als Erweiterung der Ichsphäre begreifen; sie mußte daher das künstlerische Denken immer wieder vor das Problem stellen, in welchem Sinne diese ambivalente Methode benutzt werden soll.“ Ebd., S. 123. Ich danke Judith Steinig-Lang herzlich für den Hinweis auf Panofskys Text.
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Freiheit der Sprache Der Nexus von Spontaneität, zeitlicher Bewegung und Sprache in einem Denken, das Einspruch gegen gewisse Verdinglichungstendenzen leisten will, wird in vielen Texten Sonnemanns zum Thema. Nie sind diese Überlegungen allein auf den Inhalt der Sprache bezogen, die Gegenstände, von denen Sprache handelt und die sich vorschnell in ihrem Wortbestand und ihren Begrifflichkeiten dingfest machen ließen; sie kreisen vielmehr um das Zusammenspiel von möglichen Sprachinhalten mit ihrer Form, wobei Letztere auch den größeren sprachlichen Zusammenhang meint, nämlich den Satz und die Textkomposition arrangierter Sätze. In einer besonders konzentrierten, dabei beinahe spielerischen und selbst ästhetischen Weise beschreibt dies ein Text, der gleichzeitig der literarischen als auch der philosophischen Gattung angehört: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“.4 Sonnemann erzählt hier von einer (fiktiven) Seminarsitzung, in der er zwar als seine eigene professorale Figur auftritt; doch sind die entscheidenden theoretischen Gedanken einer Kommilitonin namens Isadora in den Mund gelegt. ‚Isadora‘ ist, vergleichbar dem Namen ‚Theodora‘, Kompositum aus dõron (δῶρον), also ‚Geschenk‘, und dem Namen der altägyptischen Göttin Isis. Dass Isadora also ein Geschenk der Isis, ist für unsere Angelegenheiten nicht ganz unwichtig: Neben diversen Wesenszügen hat Isis als Zauberin die Kraft, Dämonen abzuwehren. Besonders bedrohlich sind solche Dämonen beim Betreten des Totenreiches, da sie die menschlichen Fähigkeiten wie Sehen, Sprechen und Hören, schließlich das eigenständige Denken nehmen können. Isis jedoch bietet Schutz davor, denn nicht zuletzt ist sie Bewahrerin der Erinnerung.5 Analog dazu verkörpert Isadora in Sonnemanns Text denn auch die Fähigkeit, sich durch sprachliche Aufmerksamkeit und Gewandtheit einen Zugang ins Labyrinth der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verschaffen, um sie dann im Innern zu erhellen, ihnen somit nicht sprachlos ausgeliefert zu sein. Die Dämonen, von denen hier die Rede ist, sind die deutschen Verhältnisse (im Wiedervereinigungstaumel um 1990 sowie zuvor) und eine damit korrelierende Form von Sprachlosigkeit. An dieser Stelle für uns von Belang sind allerdings vornehmlich allgemeinere Erwägungen, nicht der konkrete historische Kontext. Angst vor den Dämonen widersinniger Verhältnisse könne Sprache nämlich vertreiben, weil sie das „Menschlichste an den Menschen“ ist als „Freiheit schenkende Beweglichkeit“; mit ihr lässt sich „mäandernd im Reiche des Möglichen auf Entdeckungen“ gehen,
4Ulrich
Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, in: Eckehard Czucka (Hg.): ‚Die in dem alten Haus der Sprache wohnen‘. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Helmut Arntzen zum 60. Geburtstag, Münster 1991, S. 45–66. 5Vgl. Maria Münster: Untersuchungen zur Göttin Isis: vom Alten Reich bis zum Ende des Neuen Reiches, Berlin 1968, S. 190–197. Für den Hinweis auf die Etymologie des Namens ‚Isadora‘ sei Konstantin Bethscheider herzlich gedankt.
Freiheit der Sprache
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eine „schweifende Denklust, die so mühelos Unbetretenes wegsam“ macht.6 Die hier zur Rede stehende Freiheit ist eine sprachliche; nicht mehr, aber auch nicht weniger als das. Sich gewandt und theoretisierenderweise mit einer gesellschaftlichen Zwangslage auseinanderzusetzen heißt nicht, ihr praktischerweise schon gänzlich entronnen zu sein. Zumindest aber hat Sprache, verständig eingesetzt, die Kraft den mythischen Schein solcher Verhältnisse zu entzaubern; mithin die Angst vor solchen Dämonen zu vertreiben. Die Pfade, auf denen Sprache dabei flaniert, sind ihre Sätze: gelegentlich führt der kurze oder abkürzende Weg eines einfachen Hauptsatzes zum treffenden Schluss, doch sind es insbesondere die in sich gegliederten und hypotaktischen Satzgefüge, Perioden, die in ihrem Wandelgang (= periodos | περίοδος) einen Gegenstand umkreisen, in seiner schillernden Mehrschichtigkeit erfassen. Wogegen sich solches Sprachverständnis richtet? Nicht zuletzt gegen die „Herrschaft substantivischer Begriffsverdinglichung“ und „Hauptwörterbetonung“, also gegen eine Sprache „geronnener, um sich selbst als Bewegung gebrachter, ihrer Legitimität damit verlustiger Abstraktionen“.7 Anders gesagt äußert sich in einer Theoriesprache, die sich in Substantiven als Nominalbestimmungen ausruht, nicht selten eine „semantisch[e] Zwangswirtschaft“; sofern nämlich die Abstracta für sich als wahr genommen werden, als bloße Gedankendinge jedoch den Bezug zu ihren in Veränderung befindlichen Gegenständen verlieren, darin schließlich „die Bewegung des Gedankens zum Stillstand“ kommt, „sich so blickfangend an ihre Stelle“ setzt.8 Dem entgegen erfasst eine auf die Mobilität von Verben und Satzgefügen setzende Sprache eher einen Zusammenhang denn das Einzelding; eher eine Konstellation als den isolierten Begriff. Freiheit sowohl des Denkens als auch der menschlichen Existenz im Ganzen bedeutet schließlich auch, sich in Auseinandersetzung mit der Welt frei bewegen zu können. Wo es aber bereits an sprachlicher Bewegungsfreiheit mangelt, wird es um die soziale und physische kaum besser bestellt sein; lässt sich möglicherweise der Grad gesellschaftlicher Unfreiheit am Grad der Bedrängnis ihrer Sprache ablesen.9 Ein Exempel solcher Hauptwörterbetonung sei hier kurz beschrieben. Zugleich macht es kenntlich, wogegen sich eine bereits mehrfach zitierte Formulierung aus „Zeit ist Anhörungsform“ wendet, die noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden will. Der Einwand lautete, dass Vernunft sich auch ans verständige und vernehmende Gehör richte, woraus für sie „schon ihr deutscher Name stammt, den die Obskurantisten mißdeuten, wenn sie seine evidente Abkunft aus der
6Alle
Zitate Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, S. 52. „Die Geburt des Unmenschen“, S. 53. 8Alle Zitate Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen“, S. 53. 9Dieser Zusammenhang macht Viktor Klemperers Werk LTI, auf das oben kurz hingewiesen wurde, zu einem überaus aufschlussreichen Werk nicht nur über die Sprache, sondern die Gesellschaft des Nationalsozialismus; siehe hierzu noch einmal Kapitel 5, Fußnote 17. 7Sonnemann:
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Gemeinsamkeit des Gesprächs übersehen“ (ZiA, 286).10 Mit den ‚Obskurantisten‘ dürfte wohl u. a. Martin Heidegger gemeint sein, auch wenn Sonnemann es an besagter Stelle bei der namenlosen Andeutung belässt. Andernorts wird er allerdings ausführlicher. Am Ende seines Vortrages „Das Akustische an Geschichte und die verstopften Ohren der Politik“11 – 1991 gehalten und damit sieben Jahre später den Textbeleg nachliefernd – kommt Sonnemann auf einen „Fund“12 aus Heideggers Einführung in die Metaphysik (1935 | 1953) zu sprechen, der durchaus bedenkenswert sei. Dort nämlich fördere Heideggers Zugriff auf die Denktradition qua „archaisierende[r] Etymologie“ tatsächlich sehr Bedeutsames zutage, wenn er „das so wichtige griechische Wort Logos als Sprachmanifestation einer als vernehmend erfahrenen Fähigkeit deutet“.13 Fraglos also äußert sich nach Sonnemanns Darstellung in Heideggers Rückgang auf die griechische Antike ein Bewusstsein für dasjenige, was in instrumenteller Vernunft bzw. in moderner Zweckrationalität an den Rand gedrängt und tendenziell vergessen wird. Und in der Tat lassen sich manche Stellen in Heideggers Schriften ausfindig machen, die zunächst in nicht ganz unähnlicher Weise das depravierte Hören als erkenntnisermöglichende Erfahrung zu rehabilitieren scheinen, wie ja auch Sonnemann Vernunft – ihrer rezeptiven Seite nach – gewissermaßen als eine Haltung des (zu)hörenden Vernehmens charakterisiert. Mindestens muss wohl konzediert werden, dass Heideggers Arbeiten zu Beginn des 20ten Jahrhunderts daran mitgewirkt haben, die Aufmerksamkeit auf eine solche Sprachgeschichte der Philosophie zu richten, also die weitreichenden Konnotationen der allzu vertrauten Begrifflichkeiten des Denkens in Erinnerung zu rufen.14 Dennoch sollten gewisse 10Die
deutsche Etymologie von ‚Vernunft‘ und ‚Vernehmen‘ ist allerdings etwas komplizierter als es bei Sonnemann klingt. Zwar gibt es tatsächlich eine Verbindung von ‚Vernehmen‘, ‚Vernunft‘ und ‚Hören‘, doch ist dieser Konnex keineswegs der einzige, sind neben dem Hören auch andere Sinneswahrnehmungen ins Verhältnis zur Vernunft gestellt; über das ‚Nehmen‘ auch und womöglich zuerst die taktile. Unter dem Eintrag „vernehmen“ findet sich im Grimmschen Wörterbuch folgender Hinweis: „durch äuszerlichen sinnlichen eindruck hervorgerufen, bemerken […] fühlen, wahrnehmen […] meist mehr vergeistigt, aufnehmen, erfahren. […] die bedeutung des hörens, sehens u. s. w. hat sich jetzt ganz aus dem zeitwort verloren. vernehmen hat eine allgemeine bedeutung, bemerken, und wer besonders bezeichnen will, dasz dieses bemerken durch sinnliche eindrücke geschieht, musz es genauer beschreiben. […] immer stärker tritt die rein geistige bedeutung vor, mit dem geiste auffassen, erfahren.“ Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bd. in 32 Teilbd., Leipzig 1854–1961, Bd. 25, Sp. 911. – Zur „vernunft“ heißt es dort: „die bedeutung ist ursprünglich: das richtige auffassen, das aufnehmen, aber schon im ältesten deutsch ist es das vermögen womit wir die aufgenommnen gegenstände in uns verarbeiten, die überlegung. ahd. ist schon die rein geistige bedeutung die einzig herrschende“; Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, Sp. 927 f. 11Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“. 12Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. 13Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. 14Vgl. David Espinet: Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger, Tübingen 2009. Derweil dürfte es das oben zitierte Zugeständnis an Heideggers
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hnlichkeiten, die Bezugnahme auf das Hören betreffend, nicht unaufmerksam Ä machen für einen ganz fundamentalen Unterschied zwischen Heideggers und Sonnemanns Variation dieses Hörthemas, wie es die Philosophiegeschichte immer wieder aufwirft. So stellt denn Sonnemann angesichts des Heideggerschen Fundes die berechtigte Frage: „also, was macht er [damit]?“15 Bevor Sonnemanns Antwort, welche die besagte Stelle als einen Fall problematischer Hauptwörterbetonung charakterisieren wird, zu thematisieren ist, sei hier zunächst der entsprechende Passus aus Heideggers Einführung in die Metaphysik wiedergegeben; versehen mit dem Hinweis, dass Heidegger darin einige Überlegungen zum Gebrauch der Worte noein (νοεῖν) und nous (νοῦς) bei Parmenides darstellt, was wiederum ins Thema ‚Scheidung von physis (ϕύσις) und lógos (λόγος) bei den Griechen‘ eingebettet ist. Insofern beschreibt das Folgende zwar nicht unmittelbar Heideggers eigenes Denken, sagt in der spezifischen Übersetzungsleistung dann allerdings doch möglicherweise Aufschlussreiches darüber aus. Heidegger schreibt also: „Νοεῖν [Noein] heißt vernehmen, νοῦς [nous] die Vernehmung, und zwar in einem gedoppelten, in sich zusammengehörigen Sinne. Vernehmen meint einmal: hin-nehmen, auf einen zukommen lassen, nämlich das, was sich zeigt, erscheint. Vernehmen meint sodann: einen Zeugen vernehmen, ihn vornehmen und dabei den Tatbestand aufnehmen, fest-stellen, wie es mit der Sache bestellt ist und wie es mit ihr steht. Die Vernehmung in diesem Doppelsinn besagt: das auf einen Zukommenlassen, wobei nicht einfach hingenommen, sondern dem Sichzeigenden gegenüber eine Aufnahmestellung bezogen wird. Wenn Truppen eine Aufnahmestellung beziehen, dann wollen sie den auf sie zukommenden Gegner empfangen, und zwar so empfangen, daß sie ihn wenigstens zum Stehen bringen. Dieses aufnehmende Zum-stehen-bringen des Erscheinenden liegt im νοεῖν [noein].“16
Statt also, wie es im vorliegenden Kontext naheliegend und üblich wäre, nous schlicht mit ‚Vernunft‘ zu übersetzen, wählt Heidegger ein anderes Hauptwort, an dem sich Sonnemanns Kritik entzündet. Es sei nämlich ein „unkräftigeres, spät und nach mechanischer Regel gebildetes, gerade in dieser gleichgültigen Abstraktheit aber für die einzige Konnotation, die ihm wirklich dann zuwuchs, geeignetes:
Gespür für Problemlagen der Philosophiegeschichte sein, das Sonnemann dazu bewog, „Heidegger ihm [scil. Adorno] gegenüber ein bißchen in Schutz“ (Sonnemann: Schriften Bd. 2, S. 5) zu nehmen, obgleich er sein eigenes Denken nachdrücklich der Kritischen Theorie (gerade im Geiste Adornos) verpflichtet sah. Ausführlich dokumentiert Paul Fiebig in einem Anhang zum zweiten Band der Sonnemann-Schriften das abwägende und dennoch sehr kritische Verhältnis Sonnemanns zum Denken Heideggers; vgl. Ulrich Sonnemann: Schriften Bd. 2, S. 627–637: „Anhang zur zweiten Abteilung. Ad Heidegger“. 15Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. 16Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik [1935|1953], in: Gesamtausgabe (II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944), Bd. 40, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1983, S. 146 f. (§ 50).
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nämlich Vernehmung.“17 Denn, so Sonnemann weiter: „eine Vernehmung ist ein Verhör“.18 Solche übersetzungstechnische Umdeutung von ‚Vernunft‘ zur ‚Vernehmung‘ – mit allen polizeilichen bzw. ja noch deutlicher militärischen Konnotationen – dürfte bei Heidegger auch strategischen Interessen folgen, die über die Beschäftigung mit der Philosophie des Parmenides hinausreichen. Sonnemann macht in seinem Vortrag ganz in diesem Sinne darauf aufmerksam, dass Heidegger an anderer Stelle, und zwar in den Holzwegen, Vernunft als den „hartnäckigste[n] Feind des Denkens“19 charakterisieren wird. Konsequenterweise müssen dann Denken und Vernunft voneinander geschieden werden, wobei Vernunft ‚feststellend‘ und ‚ver-‘ wie ‚vornehmend‘ die Dinge per se zurichte, sie gleichsam feindselig als Gegner behandle und eben ‚zum Stehen‘ bringe. Mit dieser Vernunft lasse sich in letzter Konsequenz nicht mehr denken, sodass, in Heideggers Variante der Vernunftkritik, echtes Denken schließlich Vernunft verabschieden müsste.20 Sonnemann indes insistiert gerade auf einer ganz anderen Konnotation des Vernehmens, wie man nous auch übersetzen könnte; betont namentlich den Charakter des ‚Gesprächs‘, wie es in obigem Zitat aus „Zeit ist Anhörungsform“ hieß. Eine solche Vernunft hätte zwar auch auf Formen instrumenteller Zurichtung im nur rationalen, kalkulierenden Denken zu reflektieren. Doch werden damit weder Rationalität resp. der Verstand oder aber das Unterscheidungsvermögen als solche verworfen, noch wird eine Absage an menschliche Vernunft insgesamt erteilt. Der Rückgriff auf das, was durch die Ratio als (angeblich) Irrationales ausgeschlossen zu werden droht, hat eine solidarische Vernunftkritik zum Ziel. Durch
17Sonnemann:
„Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. 18Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. Zur diesbezüglichen Differenz zwischen Heidegger und Sonnemann vgl. auch Peter Warsitz: „Vernunft als spontan fügende und als subversive Solidarität mit dem Unverfügbaren“, in: Eidam, Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann, S. 49–67, hier S. 56. 19Sonnemann: „Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. In Heideggers Holzwegen am Ende des Kapitels „Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘“ heißt es: „Der tolle Mensch dagegen ist eindeutig nach den ersten Sätzen, eindeutiger noch für den, der hören mag, nach den letzten Sätzen des Stückes derjenige, der Gott sucht, indem er nach Gott schreit. Vielleicht hat da ein Denkender wirklich de profundis geschrieen? Und das Ohr unseres Denkens? Hört es den Schrei immer noch nicht? Es wird ihn solange überhören, als es nicht zu denken beginnt. Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“ Martin Heidegger: Holzwege [1935–1946|1950], in: Gesamtausgabe (I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1914–1970), Bd. 5, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1977, S. 267 f. 20Auch angesichts des historischen Kontextes von Heideggers Einführung – sie wurde als Vorlesung 1935 gehalten und dann 1953 in der hier zitierten Form veröffentlich – erscheinen die Allusionen von Vernunft als quasi militärischer Gewalt äußerst befremdlich. Wenn auch Vernunft Gewalt ist, lässt sich dann überhaupt noch differenzieren zwischen dieser ‚Gewalt‘ und realgeschichtlichen Gewaltformen und -exzessen?
Sprachvergesslichkeit
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Selbstreflexion wäre Vernunft zu retten, nicht aufzugeben. Es ist nun aber diese denkende Bewegung von Vernunft, die in ihrem angeblichen Synonym-Begriff der ‚Vernehmung‘ stillgestellt wird – und nicht, wie es in der Einführung in die Metaphysik anklingt, die Seinswelt, welche durch die feindliche Vernunft unausweichlich umstellt und ‚zum Stehen gebracht‘ werden muss. Anders gesagt: Heideggers „reifizierende Hypostase“21 der ‚Vernehmung‘ und Sonnemanns Vertrauen auf das selbstreflexive wie erfahrungsoffene Potential von ‚vernehmender Vernunft‘ bedeuten – trotz ihrer unverkennbaren Ähnlichkeit hinsichtlich akustischer Konnotationen – nicht eine Differenz im Detail als vielmehr einen Unterschied ums Ganze. Ohne Vernunft und ohne eine vernünftige (d. h. aber auch unterscheidungsfähige, also durchaus feststellende) Sprache keine Freiheit.22
Sprachvergesslichkeit Sprache hat ihre eigene Zeitlichkeit. Der gelesene Satz entäußert dem lesenden Auge seinen Inhalt im zeitlichen Vorübergleiten; ganz so, wie das gesprochene Wort für das Ohr den seinigen allein im stetig er- und verklingenden Schall entfaltet. Dem kann nur ein aufmerksames Bewusstsein folgen, ein solches also – bei Augustinus wurde es expliziert – das zugleich erwartet und erinnert. Im Kern geht es hier um das Problem der Präsenz eines nicht (mehr) Präsenten. Was aber, wenn die Erinnerung Lücken aufweist? Wenn sich gar das Bewusstsein vor dem Erinnern sträubt? Den Fall einer geradezu psychopathologischen, dabei gesellschaftlichen Amnesie untersucht Sonnemann unter dem Schlagwort „Der Dativkomplex“.23 Im Sinne einer „Psychogrammatologie“24 spürt er den Wechselwirkungen sprachlicher Ungereimtheiten und gesellschaftlicher Zustände nach. Der konkrete Problemfall: Im Nachkriegsdeutschland hat sich eine grammatische Ungenauigkeit ausgebreitet, die sich in zahlreichen Schriftstücken – nicht nur in unter Zeitdruck produzierten journalistischen Texten, selbst noch in wissenschaftlicher Literatur – finden lässt: Statt eine vorangegangene Genitivkonstruktion durch nachfolgenden Einschub korrekterweise im gleichen Kasus zu ergänzen, werde diese „grundlos“
21Sonnemann:
„Das Akustische an Geschichte und das Verstopfte an den Ohren der Politik“, S. 120. 22So auch Christoph Türcke: „Kritische Theorie und Eigensinn. Ulrich Sonnemann zum Gedächtnis“, in: Eidam, Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann, S. 35–48, hier S. 45: „Nichts hilft gegen die Unzulänglichkeit der Vernunft als diese selber: das war ebenso sein [scil. Sonnemanns] Motto wie das Adornos. Kritik der Vernunft ist bitter nötig – aber nicht, um sie niederzumachen, sondern damit es in der Welt vernünftiger zugehe und weniger in ihr gelitten werde.“ 23Ulrich Sonnemann: „Der Dativkomplex. Von einem Symptom deutschen Sprachverlusts, das zum Regelkreis seiner waltenden Schaltordnung Schlüssel ist, da es gar nicht bemerkt wird“ [1985], in: Tunnelstiche, S. 269–279. 24Sonnemann: „Der Dativkomplex“, S. 270.
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durch den Dativ abgelöst; etwa in diesem Fall, den Sonnemann zitiert: „Solche Experimente beschäftigen vor allem Physiker, die den magnetischen Einfluß des Plasmas, dem Gas aus elektrisch geladenen Teilchen, für die Kernfusion untersuchen“.25 Diese „Harthörigkeit für die Ordnung eines jeweils eigenen Satzes“ verletzt nicht nur den grammatischen Kanon, der auch für das ‚Gas‘ den Genitiv (also ‚des Gases‘) vorsieht; vielmehr zeige sich, so Sonnemann, an solchen Stellen eine Beschädigung der Ordnung „des Ohres: […] die Kontinuität, die Person heißt, in ihrer verbindlichen Zeitgestalt als erscheinende Selbsttreue eines Sprechens“.26 Derart schlecht scheint es um das (sprachliche) Gedächtnis bestellt, dass es nicht einmal den Zusammenhang eines einzigen Satzes erinnernd und fortsetzend erfassen könne. Darin aber äußere sich ein gestörtes Verhältnis zur Zeit: „Denn das Zeitorgan unserer Sinnlichkeit, für welches in der Enzyklopädie sogar Hegel das Ohr schon erkannt hat […] – bewahrt es nicht eine strömende unteilbare, im Übergehen des Noch-nicht zum Nicht-mehr, die sie in ihrem Jetzt verknüpft, sich selbst erst gliedernde Zeitgestalt, und wie erst recht sollte diese Unzerstückbarkeit nicht für das strömende Stehen einer gegliederten Ordnung von Sprache gelten […]?“27
Der Komplex liegt folglich nicht einfach im Verstoß gegen die grammatische Konzinnität. In diesem Fall läge hier gar kein ‚Komplex‘, keine psychische Störung vor, lediglich ein fehlerhafter Gebrauch der Grammatik.28 Vielmehr scheint das Erinnern selbst problematisch geworden zu sein. Die Syntax ist der zeitliche Spannungsbogen, der auch vom Erinnern und Fortsetzen des Erinnerten lebt. Die hier beschriebenen Sprachstörung korrespondiert Sonnemanns Deutung zufolge mit einer Gedächtnisstörung – im postnazistischen Deutschland das Vergessenwollen der eigenen, barbarischen, kaum vergangenen Geschichte. So gehe die Vergesslichkeit des Dativkomplexes einher mit einem „ebenso diskontinuierlichen, ebenso leicht zu beirrenden, selbstflüchtigen“ Geschichtsgedächtnis. Im „Sprachmikrokosmos“ findet damit ein ähnliches „Verdrängen und Abspalten“ statt wie im sozialen Makrokosmos; es besteht ein „Nexus zwischen scheiternder Syntax und der Pathologie der Gesellschaft“.29
25Sonnemann:
„Der Dativkomplex“, S. 271. „Der Dativkomplex“, S. 272. 27Sonnemann: „Der Dativkomplex“, S. 272. 28Siehe hierzu das Stichwort „Komplex“ im Vokabular der Psychoanalyse: „[Komplex:] Organisierte Gesamtheit von teilweise oder ganz unbewußten, stark affektbesetzten Vorstellungen und Erinnerungen.“ Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse (Erster Band), Frankfurt a. M. 21975, S. 252. Ebendort ist zu erfahren, dass bei Freud selbst, der den Begriff allerdings nur sparsam verwendet, ein Komplex vornehmlich „auf Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen der Kindheitsgeschichte“ entstehe. Wie viele andere, der Psychoanalyse nahestehende Autoren hat auch Sonnemann den Begriff des Komplexes über seine ursprüngliche Bedeutung hinaus ausgeweitet. 29Alle Zitate Sonnemann: „Der Dativkomplex“, S. 273. 26Sonnemann:
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Ob Sonnemanns Diagnose stimmt (als Theorie in sich stimmig ist sie allemal), kann und soll hier nicht beurteilt werden. Das muss es jedoch gar nicht, denn die Untersuchungen zum ‚Dativkomplex‘ verweisen noch auf eine weitere Eigenschaft von Sprache, die für uns von Interesse ist: Nicht nur besteht ein Nexus zwischen ihr und der sie sprechenden Gesellschaft; auch hat Sprache, trotz ihrer zuweilen bestechend logischen, regelhaften Struktur wie der grammatischen, einen mehrfachen Bezug zum Körper. So können etwa unbewusste Zustände wie der oben beschriebene in Sprache nur zur Erscheinung kommen, lassen sich also nur deshalb deutend aus ihren Ungereimtheiten ablesen, weil die Struktur der Sprache selbst auch „im Unbewußten gegründet ist“30 – in jener Sphäre also, in die als ‚Es‘ das ganze Triebleben hineinspielt. Schon der Hinweis, die Fähigkeit zur erinnernden und erwartenden Aufrechterhaltung des sprachlichen Zeitverlaufs sei Ausdruck von Personalität (oder: die Ordnung des Ohres als Synthesis von zeitlich Verschiedenem bürge für eine ‚Kontinuität, die Person heißt‘), deutet auf die unterschiedlichen Dimensionen der Person im psychoanalytischen Modell: das ‚Ich‘ als aufmerksames und bewusstes, gewissermaßen kognitives; die äußerliche Ordnung und Regelhaftigkeit der Gesellschaft, die dem ‚Ich‘ als ‚Über-Ich‘ in sprachlichen Belangen linguistische Vorschriften macht und sein Ich-Ideal ausbildet; das ‚Es‘ als Triebleben, welches sich auch in Sprache einen Ausdruck verschafft, im vorliegenden Fall als der innige Wunsch zu vergessen.31 Sprache als lógos (λόγος) ist damit nicht einfach der Gegensatz zur vermeintlichen Irrationalität des Somatischen. Nicht zufällig bezieht sich Sonnemann in diesem Kontext auf Autoren wie Nietzsche und Freud, aber auch Benjamin und Adorno, denen auf ihre je eigene Weise an kritischer Reflexion von Vernunft gelegen war, um das von ihr Geschiedene wieder durch sie einzuholen.32 Die in diesem Kontext 30Sonnemann:
„Der Dativkomplex“, S. 274. gesehen ist das Ich ebenso von den Ansprüchen des Es abhängig wie von den Befehlen des Über-Ichs und den Anforderungen der Realität. Obwohl es als Mittler der Interessen der ganzen Person auftritt, ist seine Autonomie doch nur relativ.“ Laplanche, Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 184. 32Vgl. Sonnemann: „Der Dativkomplex“, S. 278: „Bei leiseren Anfängen, die schon früher liegen, hat diese Vernunft von unten, wie ich sie nennen möchte, im Denken Nietzsches, dann Freuds, auch Batailles, auch Adornos und Benjamins, ihre Ansätze, und gewiß haben alle diese Positionen untereinander höchst erhebliche Differenzen, aber gemeinsam stehen sie alle ebenso gegen eine aus Selbstherrlichkeit und dekretierter Erfahrungsverengung immer wahnhafter gemischte Vernunftlosigkeit der Vernunft auf wie gegen ihre Verkürzung zur instrumentellen, die eine der Folgen gewesen ist – und gegen die andere, mit der ihr Selbsthaß in Menschenhaß, jene monologischen Begriffsräusche eines politischen Herostratentums umschlug, die um 1930 in Mode kamen und mit textuell zu belegendem Unrecht sich ausgerechnet auf Nietzsche berufen haben. Nach alledem kann die Vernunft sich nicht mehr als instituierte Kontrollinstanz, herrscherliche Egoität sehen, die mit apriorischer Gewißheit ihre eigene Autonomie prätendieren darf; kann sich desto sicherer aber aus ihrer Naturwüchsigkeit als Vernunft des Leibes und der Sinne begreifen lernen: aus den Ordnungen des Unbewußten – diesen selbst bereits quasi-grammatischen, wie Jacques Lacan sie bestimmt hat – und aus jener schweigend beredten – unüberschreitbaren und unhintergehbaren – sprachlichen, der ihre eigene am unmittelbarsten entsteigt“. – Hinzuzufügen wäre jedoch, als eine weitere Wendung dieses Gedankens, 31„Topisch
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angedeutete Körperlichkeit von Sprache, ihre Verbindung mit dem Ohr zumal, sei nun weiter ausgeführt.
Sprachkörper Es wurde bereits deutlich, dass Sonnemanns kritischer Theorie des Hörens ein Verständnis von Sprache zugrunde liegt, welches in dieser mehr sieht (und hört) als eine bloße Ansammlung von Repräsentationen mentaler Gehalte; Letztere verstanden im Sinne des linguistischen Funktionalismus als mehr oder minder zufällige Zeichen, durch Konvention bestimmte Signifikanten also, welche den verdinglichten Repräsentationen von Gegenständen, genannt Signifikate, mehr oder minder beliebig beigeordnet sind. Sprache verweist ebenso auf außersprachliche Gegenstände, die in ihren Worten und Begriffen gemeint sind, wie sie zugleich eine eigene Dignität hat, nicht nur eine andere Welt repräsentiert, sondern eine eigene ist.33 Ein Aspekt der Sprachwelt, dem Sonnemann einen kurzen Text widmete, was nur auf den ersten Blick (apropos ‚Okulartyrannis‘) erstaunlich scheinen mag, jedoch im genauesten Sinne anzeigt, wie eine Befreiung des Ohres zugleich die Potentiale des Auges retten könnte: die visuelle Erscheinung der Schriftzeichen, genauer: der Satzzeichen. Sein „Lob der Interpunktionen“ (1961 erstmals erschienen, 1987 in die Tunnelstiche aufgenommen)34 löst die allzu geläufigen, selbstverständlichen „Diener des geschriebenen Wortes“35 aus ihrem alltäglichen Umfeld, ihrer bloßen Funktionalität heraus. Sprache – „deren Leistung das Auslegen, Auseinanderlegen ist“36 – wird sich hier selbst zum Gegenstand, um kenntlich zu machen, was als ihr (mit Benjamin gesprochen) ‚optisch Unbewusstes‘ dem alltäglichen Blick entzogen bleibt.37 Ein Punkt beispielsweise schließt nicht einfach einen Satz ab, trennt ihn nicht bloß vom darauffolgenden; in seiner jeweiligen Verwendungsweise äußert sich mitunter eine geradezu entgegengesetzte sprachliche Haltung:
dass wahrhafte Vernunft bei aller gerechtfertigten Besinnung auf ihr somatisches Moment doch zugleich radikal verschieden ist von einer ‚Naturwüchsigkeit … des Leibes und der Sinne‘, mithin zwar weder eine durchgängige ‚apriorische Gewissheit ihrer eigenen Autonomie prätendieren‘ kann, noch aber grundsätzlich auf ein Moment von Autonomie verzichten sollte. Von den Autoren, auf die sich Sonnemann hier bezieht, hatten zumindest Freud, Benjamin und Adorno ein Bewusstsein dafür, nirgends reden sie einem plumpen Irrationalismus das Wort. 33Vgl. Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, BGS II. 34Ulrich Sonnemann: „Lob der Interpunktionen“ [1961], in: Tunnelstiche, S. 60–63. 35Sonnemann: „Lob der Interpunktionen“, S. 60. 36Sonnemann: „Lob der Interpunktionen“, S. 60. 37Vgl. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ [1935|1939], BGS I, S. 471–500, hier S. 500.
Sprachkörper
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„So kann der Punkt ein feststellender Hammerschlag, der den Gedanken in den Hintergrund des Ungedachten nagelt, aber auch das Sinkenlassen des Atems: im reinen, nichtigen Ablauf und Dahinrinnen der Zeit der regelnde Augen- und Rückblick sein, der ihrem Weitermüssen Widerstand bietet, so daß sie ausruhen und sich sammeln darf und jene Wirklichkeit gewinnt, die Gegenwart heißt.“38
‚Hammerschlag‘ oder ‚Atemholen‘, ungeduldiges Feststellen oder kontemplatives Innehalten als Versinken in den Gegenstand – das sind alternierende Möglichkeiten, sich die Rhythmik von Sprache zunutze zu machen. Solcher Sprachrhythmus und seine Möglichkeiten verweisen auf die Affinität von Musik und Sprache: Wie musikalische Akzentuierung erst dann gelungen ist, wenn sie sich durch den strengen Takt des Metronoms hindurch zur eigenen Gestalt formt, so hat auch die sprachliche Syntax ein spezifisch musikalisches Potential. Denkfreundliche Rhythmik erlangt ein Text dabei wohl erst im Spiel mit den alternativen Verwendungsweisen des Punktes. Abwechselnde Tempi durch kurze, pointierte, feststellende Sätze entfalten ihre lakonische und ‚den Punkt treffende‘ Wirkung häufig im Kontrast zu umgebenden Perioden, im hypotaktischen Umfeld also, und nicht im uniformen Gleichtakt einfacher Hauptsätze.39 Zudem kommt es wie in der Musik auch im Text darauf an, auf welche Weise dessen Bestandteile betont, in welches Verhältnis sie gesetzt werden. Fällt beispielweise eine Pointe zu früh, so mag ihre argumentative Vorbereitung zu wenig Raum zur Entfaltung erhalten, daher nicht zünden. Erfolgt sie zu spät, so mag der Augenblick ihres Treffens ebenfalls vertan sein, der Zusammenhang nicht mehr als solcher erscheinen können. Zudem bedeutet das ‚Sinkenlassen des Atems‘ ein intermittierendes Aufhören im Redefluss, nachdenkendes Hinhören also auf die Sprachäußerung, ein erinnerndes Nachhängen in einem kurzen Moment des Schweigens, in welchem erst die komplexe zeitliche Struktur eines Satzes zur Entfaltung kommen kann. Sonnemanns Erwägungen über das Eigenleben eines Satzzeichens wie des Punktes schärfen insofern auch das Bewusstsein für die Textgestalt: ob etwa eine Satzform ihren Inhalt zur Geltung kommen lässt; und was solche Form über den Inhalt verrät. Eine gewisse syntaktische Kurzatmigkeit mancher Texte lässt womöglich schon am Schriftbild erahnen, dass die hier gefassten Gedanken nicht weniger kurz greifen dürften, oftmals Schnellschüssen oder Kurzschlüssen gleich, die vielleicht auch auf die Bedingungen zeitgenössischer Textproduktion, die zunehmende Fragmentierung des Arbeitslebens hindeuten. Die typographische Gestalt der Satzzeichen dürfte derweil eine wenig beachtete Dimension von Literatur sein – erst recht der wissenschaftlichen. Sonnemanns Beschäftigung mit ihr erinnert dabei auch an die Kompositionsarbeit Helmut Lachenmanns, wie sie in Hörmodell 1 oben vorgestellt wurde: Lachenmanns Notationen rücken das Somatische der Musik, ihrer Instrumente wie auch ihrer Notenschrift, ins
38Sonnemann:
„Lob der Interpunktionen“, S. 60. Ulrich Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“ [1937], in: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart 1995, S. 1–4. 39Vgl.
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Bewusstsein. Ähnliches geschieht bei Sonnemann mit der Körperlichkeit der Satzzeichen. Erst dort, wo sie aus dem allzu selbstverständlichen (mithin unbewussten) Gebrauch und ihrer bloßen Funktionalität herausgerissen sind, kann ihr Potential bewusst und fruchtbar werden. Meint der Punkt also das intermittierende Senken und Heben des Atems, so bemisst sich gelingende Interpunktion nicht allein danach, ob Punkte (und andere Satzzeichen) den Regularien entsprechend korrekt gesetzt, sondern ebenso daran, ob sie einem spezifischen Schriftbild und Sprachklang zuträglich sind, ob also der Sprachstil seinen gedanklichen Inhalt trägt. In diesem Sinne legt nicht nur der Punkt, sondern auch die optische Gestalt des Fragezeichens verschiedene Deutungsmöglichkeiten nahe, die weit über die syntaktisch-logische Dimension hinausführen: „Etwa kann es das Schlänglein sein, das vom Baum der Erkenntnis zu essen verführen will; doch wird es in bescheidenerem Gebrauch viel eher zu einem Ohr, das eine Neugier ganz alltäglicher Art aus der Wand des blanken Unwissens spitzt, welche ihrerseits doch nur Vor-Wand sein kann für die verschlagene Kunst eines Redners.“40
Hält man es mit dem Fragezeichen als Ohr (oder umgekehrt), dann hieße dies auch: nicht immer eine fertige Antwort parat haben, sondern allererst Fragen stellen, sie in die Welt richten — und dann aufmerksam hinhören, was da zurückschallt. Im Grunde meinte dies schon Sonnemanns Beschreibung vom Punkt als Senken des Atems, als augenblickliches Innehalten und Nachsinnen. Beim fragenden Hinhören wird noch deutlicher, dass solches Hören zugleich ein Schweigen bedeuten muss: Einmal, damit die tönende Umwelt überhaupt Chancen erhält, ins Ohr zu dringen. Sodann bedeutet es aber auch das schweigende Hinhören auf fremde wie eigene sprachliche Äußerungen, erinnerndes Nachverfolgen des Gesagten, um dies zu verstehen; also Nachdenken. Insofern ist das Fragezeichen – wie der Punkt – Pausensymbol. Ohne Unterbrechungen und Phasen der Stille keine Sprache. Eine gebrochene Rhythmik aus Worten und Pausen – aus verlautbarender Sprachaktion und innehaltendem Hinhören, Aufhören – ist Bedingung der Möglichkeit, dass sprachlich gefasster Sinn sich entfalten kann.41 Die Kunst des (Fragen stellenden) Redners, auf die Sonnemann hier anspielt, verweist auf die rhetorische Dimension von Sprache, das Ausschöpfen ihrer Möglichkeiten, und damit auf eine Wahlverwandtschaft zu einem bedeutenden Sprachdenker des 19ten Jahrhunderts:
40Sonnemann:
„Lob der Interpunktionen“, S. 62. langen philosophischen Tradition dieser sprachphilosophischen Erwägungen, die sich bei Sonnemanns Überlegung zu Punkt und Fragezeichen andeuten, vgl. noch einmal Kreuzer: Gestalten mittelalterlicher Philosophie, S. 207–225.
41Zur
Drittes Ohr
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Drittes Ohr Dass es nämlich nicht gerade gut bestellt ist um die soeben angedeutete Sprachhaltung (gewissermaßen eine aufmerksam hörende); dass ein gewisser Hang zum festnagelnden Sprachgebrauch überhandnimmt; dass, statt sprachlicher Tuchfühlung mit dem Gegenstand, Einkapselung in starre Begrifflichkeiten vorherrscht; dass mithin komplementär zur verwalteten Welt eine leblose Sprache im mechanischen Staccato zum Maß der Dinge gerät – all dies reklamiert Sonnemann unter Berufung auf Nietzsche. Schon Letzterer beanstandete die unrühmliche Verbindung, welche schlechter Sprachstil nicht selten mit schlechten Denkgewohnheiten einging, beileibe also kein neues Phänomen. Im Vorwort zu Sonnemanns Tunnelstichen heißt es denn auch, ein Nietzsche-Zitat aufnehmend, allen voran hätten die Deutschen „beim Lesen ihre Ohren ins Schubfach gelegt. Ein so sinnfälliges Bild wie bei näherem Bedenken kein hoffnungsloses, läßt es ihnen doch die Möglichkeit, die beschäftigungslos deponierten einfach wieder aus dem Schubfach herauszunehmen“.42
Das Zitat (der erste Satz) stammt aus dem Achten Hauptstück zu Jenseits von Gut und Böse; zwei Abschnitte (246. und 247.) widmen sich dezidiert der Akustik von Sprache. Dort schreibt Nietzsche: „Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das dritte Ohr hat! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein ‚Buch‘ genannt wird! Und gar der Deutsche, der Bücher liest! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er!“43
Was das dritte Ohr sein soll? Hier bleibt es im Dunkeln. Offenkundig immerhin, dass es sich nicht um eines der beiden organischen handeln kann, also keine ‚natürliche Einrichtung‘. Eher scheint es als drittes ein Ohr für sprachlichen Stil und ein Sensorium für die Stimmigkeit oder Unstimmigkeit dessen, was es vernimmt. Ergo ein urteilendes, vernunftbegabtes, mündiges Ohr und nicht ein passiv-folgsames, höriges. An anderer Stelle, im Vorwort zur Götzen-Dämmerung, ist denn ganz in diesem Sinne von „Ohren noch hinter den Ohren“ die Rede, welche die Fähigkeit besitzen, „Götzen aus[zu]horchen“.44 Berühmt und oft fehlgedeutet in diesem Kontext: Nietzsches credo, man müsse mit dem Hammer philosophieren. An Ort und Stelle ist damit keineswegs gemeint, alles Kultivierte und Zivilisierte sei wie mit einem Vorschlaghammer in nihilistischem Gestus zu zertrümmern. Nein, der Impuls richtet sich gegen die falschen „Götzen, an die hier
42Sonnemann: 43Friedrich
Tunnelstiche, S. 9. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse [1886], KSA Bd. 5, S. 11–243, hier S. 189 (§
246). 44Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert [1889], KSA Bd. 6, S. 55–153, hier S. 57 f.
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mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird“.45 Nietzsches zarter Hammerschlag ist also weder der wütend-zerstörerische noch der den Gedanken festnagelnde, als vielmehr der abklopfende, abhorchende, durch den dann erst der „hohle Ton“46 ideologischer Gebilde für ein feines Gehör vernehmbar wird. Demgemäß meint die Rede vom dritten Ohr eine anzueignende, auszubildende Feinhörigkeit; oder, wie Sonnemann sagen würde: Hellhörigkeit. Dass Nietzsches philosophischer Hammer nicht zum wild um sich schlagenden Denk-Staccato zu gebrauchen ist, zeigt sich auch – noch einmal zurück zu Jenseits von Gut und Böse – in seiner Hochschätzung einer ausdauernd langatmigen Sprache (bzw. Rhetorik), wenn diese vonnöten ist. Denn der schlechte Schreibstil und die noch mangelhaftere Lesefertigkeit so vieler seiner Zeitgenossen hat für ihn auch mit einem Mangel an Atem, mit dem Ausbleiben einer „antiken Lunge“47 zu tun: „Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem Atem zusammengefaßt wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zweimal schwellend und zweimal absinkend und Alles innerhalb Eines Atemzuges: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eigenen Schulung zu schätzen wußten: – wir haben eigentlich kein Recht auf die große Periode, wir Modernen, wir Kurzatmigen in jedem Sinne!“48
Solcher Kurzatmigkeit ist ein fürs Denken mitunter notwendiger, langer Atem regelrecht abzutrotzen. Und zwar deshalb, weil nur ein langer Atem die Möglichkeiten bereithält, komplexe Gedanken in ebenso komplexen Sprachgebilden auszuformulieren. In diesen Gebilden kommt es dann gleichermaßen auf die glückenden und neuralgischen Punkte an; auf diejenigen, wo etwas zur Verständlichkeit zusammenschießt, ein Argument etwa in seiner Konstellation überzeugend wird. So hat auch die Logik von Sprache (und sprachlichen Inhalten) einen Rhythmus mitsamt Akzentuierungen.49 Jede Bewegung des Denkens ist dabei eine solche von Sprache. Und noch der geschriebene und still gelesene Text erinnert mit seinen (sinnstiftenden) Hebungen und Senkungen an die Atembewegung, die ein drittes Ohr selbst dann mitvollzieht, wenn die beiden äußeren keinen sprachlichen Laut hören. Dergestalt aber ist Physiologisches, Natur, noch im abstraktesten Denken, in abstraktester Sprache anwesend.50 Lógos ist dann aber 45Nietzsche:
Götzen-Dämmerung, S. 58. Götzen-Dämmerung, S. 58. 47Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 190 (§ 247). 48Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 190 (§ 247). 49Zu diesem Punkt in Hinblick auf psychoanalytisches Verstehen siehe unten, Kapitel 15 („Hören mit dem dritten Ohr“). 50Vgl. Hamann: Metakritik, S. 13: „Wörter haben also ein ästhetisches und ein logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen.“ 46Nietzsche:
Das Gehör als der mittlere Sinn
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nicht nur das Gegenprinzip zur Natur, sondern genauso Naturkraft. So zumindest, wir lasen es oben bereits, Sonnemanns These. Will lógos Natur jedoch gänzlich aus seinem Reich vertreiben, so muss er irre werden.
Das Gehör als der mittlere Sinn Ob lógos als Sprache und damit als die menschlichste aller Fähigkeiten seinen Trägern wie durch göttlichen Einhauch zukam, somit den menschlichen Naturanlagen gewissermaßen von außen aufgesetzt wurde, oder ob sich nicht in der Natur schon Vorstufen zum humanen Sprachvermögen finden ließen, Letzteres damit zugleich einen gewissermaßen natürlichen Charakter habe: diese Frage beschäftigte Johann Gottfried Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache.51 Wiewohl sein Name nur ganz gelegentlich bei Sonnemann fällt,52 sind Herders Überlegungen für dessen kritische Theorie des Hörens, zumal ihre sprachphilosophischen Implikationen, nicht unerheblich und seien daher kurz angeführt. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Frage nach dem Ursprung der Sprache beantwortet Herder nicht mit aller Schlussendlichkeit. Zumindest der Ursprung von menschlicher Vernunft, ohne die keine menschliche Sprache wäre, bleibt ungeklärt, sie kann nicht einfach aus der Natur abgeleitet werden, ist insofern ein zur Natur Hinzutretendes. Dennoch ist die Fähigkeit zur Sprache dem Menschen nicht einfach vom Himmel zugefallen. Im Gegenteil: „Schon als Tier hat der Mensch Sprache.“53 Mensch und Tier verbindet, dass sie ihren Schmerzen einen tönenden Ausdruck verleihen. „Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache. Es gibt also eine Sprache der Empfindung“.54 Eine solche Vorstufe der menschlichen Sprache ist nach Herder so basal für das Lebewesen Mensch, dass es sich einer grundsätzlichen Sympathie mit den anderen Lebewesen nur unter größter Anstrengung verschließen kann. Das Folgende liest sich insofern beinahe wie eine Variante des in Kapitel 4 ausführlich präsentierten Themas der verschlossenen Ohren: „Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der Leidenschaft bestimmt sind, so ists natürlich, daß sie auch die Elemente aller Rührung werden! Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmernden Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden, auch selbst bei einem stöhnenden Vieh, wenn seine ganze Maschine leidet, dies Ach nicht zu Herzen dringe? Wer ist der fühllose Barbar? […] Und welche Stählung seiner Fibern! Welche
51Johann
Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], hg. von Hans Dietrich Irmscher, Stuttgart 2012. 52So etwa in Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen“, S. 48. Eine systematische Auseinandersetzung Sonnemanns mit Herders Sprachtheorie konnte auch nicht in den Nachlassdokumenten ausfindig gemacht werden; Paul Fiebig sei hier für die Unterstützung bei der Suche herzlich gedankt. 53Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 5. 54Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 6.
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Macht, alle Öffnungen seiner Empfindsamkeit zu verstopfen, gehört dazu, daß ein Mensch hiegegen taub und hart werde!“55
Nun sind solche Arten der Verlautbarung und des vernehmenden Mitfühlens noch keine menschliche Sprache. Was fehlt, ist eine Vernunftbegabung, die es erlaubt, sich solcher Töne „willkürlich“56, also willentlich zu bedienen. Oder, anders ausgedrückt, die Fähigkeit, durch Akzentverschiebung dem Laut eine andere Bedeutung zu geben, durch Änderung der Rhythmik die Töne semantisch werden zu lassen. Andererseits wäre ohne diese noch nicht semantische, animalische Vorstufe genauso wenig menschliche Sprache entstanden. Nur im Zusammenspiel von Pathos und Ratio kann es sie geben. Entscheidend für willentlichen Sprachgebrauch ist dabei, ob und wie der Mensch es fertigbringt, gegen den Strom der Empfindungen sich auf eine Einzelempfindung zu besinnen, sie damit zu merken und handhabbar zu machen. Nach Herder ist dies die Fähigkeit zur Reflexion, zum Innehalten: „Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinne durchrauschet, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft oder klar erkennen, sondern eine oder mehrere als unterschiedene Eigenschaften bei sich anerkennen kann: Der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen Begriff; es ist das erste Urteil der Seele – und – [Absatz] Wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein Merkmal, was er absondern mußte und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! Lasset uns ihm das heureka zurufen! Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!“57
Entgegen der Vorherrschaft des Auges, die sich zu Herdes Zeiten in der europäischen Denktradition längst durchgesetzt hatte, ist es – so erfahren wir vielfach in der Abhandlung – nun gerade der akustische Eindruck, der den Ursprung des Wortes darstellt und dem sich die menschliche Sprache und sogleich die Befähigung zur Vernunft verdanken. Exemplarisch führt Herder dies an der Begegnung eines Menschen mit einem Schaf vor: „Der Schall des Blökens, von einer menschlichen Seele als Kennzeichen des Schafs wahrgenommen, ward, kraft dieser Besinnung, Name des Schafs, und wenn ihn nie seine
55Herder:
Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 14. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 16. 57Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 32. Kompositorisch zum Ausgangspunkt genommen hat diese Reflexionen Mathias Spahlinger: in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten für chorgruppen und playback [1985], Mainz 1993. Für diesen Hinweis danke ich Elvira Seiwert und Paul Fiebig herzlich. 56Herder:
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Zunge zu stammeln versucht hätte. Er erkannte das Schaf am Blöken: es war gefaßtes Zeichen, bei welchem sich die Seele an eine Idee deutlich besann – was ist das anders als Wort?“58
Die Überzeugungskraft dieser fiktiven Urszene der Sprache einmal dahingestellt – kaum eine Sprachtheorie, welche die Bedeutung des Hörsinns für die Sprache derart zentral werden lässt wie die Herdersche. So insistiert Herder denn auch darauf, „daß nach aller Natur entweder nichts oder das Ohr der erste Lehrmeister der Sprache wurde“.59 Hinter dieser These scheint folgende Überlegung zu stehen: Grundvoraussetzung für den Spracherwerb ist die Notwendigkeit wie Fähigkeit des Hörens, seine (auditiv wahrgenommenen) Gegenstände, die immerzu im Verklingen begriffen sind, erinnernd präsent zu halten. Hörende Aufmerksamkeit ist nicht allein die Konzentration auf das jeweils Aktuelle. Sie ist darüber hinaus auch ein akustisches Gedächtnis: ‚merken‘ im Sinne von ‚ins Gedächtnis überführen‘, wobei das Gemerkte erinnernd auch wieder abgerufen werden kann, indem man sich auf es besinnt. Reflexives Hören, das laut Herder eben in der Fähigkeit besteht, akustische Merkmale aus dem Strom der Sinnesreize abzusondern, ist insofern auch spontanes Hören. Von selbst, aus eigenem Antrieb und mit eigener Kraft merkt es auf, gewinnt dergestalt sprachliche Souveränität über die sprachlich-akustisch erfassten Gegenstände. Diese Überlegung erhält bei Herder denn auch beinahe den Status einer anthropologischen Gewissheit: „Der Mensch ist also als ein horchendes, merkendes Geschöpf zur Sprache natürlich gebildet“.60 Dass das Gehör eine derart zentrale Stellung für die Sprache bei Herder einnimmt, bedeutet nun nicht, dass damit eine Hierarchie der Sinne etabliert wäre, welche die traditionelle lediglich umdreht, auf den Kopf stellt, wonach dann die Vormachtstellung des Auges durch das Ohr abgelöst wäre. Im Gegenteil räumt Herder fast allen Sinnen ihren Platz im menschlichen Sensorium und tragende Bedeutung für Sprache und Vernunft ein. Insbesondere der Tastsinn (bei Herder noch ‚Gefühl‘ geheißen), mit dem sich die Gegenstände berühren lassen, ist für die Merkwelt der Sprache unverzichtbar. Nachgerade mimetisch schmiegen sich die Namen und Wörter an die Dinge an, indem der haptische Eindruck ins Akustische übersetzt wird: „Das Gefühl liegt dem Gehör so nahe, seine Bezeichnungen, z. E. hart, rauh, weich, wolligt, sammet, haarig, starr, glatt, schlicht, borstig usw., die doch alle nur Oberflächen betreffen und nicht einmal tief einwürken, tönen alle, als ob mans fühlte.“61
Während das Gefühl der Sinn der Nähe, ist das Sehen der Sinn der Distanz. Beide aber sind gleichermaßen notwendig für Sprache und Denken: „Das Sehen
58Herder:
Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 33. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 44. 60Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 45. 61Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 56. 59Herder:
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ist der kälteste Sinn“, wobei „kalt“ gleichbedeutend ist mit „entfernt“ und „deutlich“.62 Ohne solche Fern- wie Hellsicht aber keine Reflexion, kein Aufmerken im ‚Ozean der Empfindungen‘. Nicht unerheblich übrigens, dass Herder in diesem Zusammenhang anmerkt, der optische Sinn gewinne seine Kühle und Distanz erst durch „eine Mühe und Übung vieler Jahre“.63 Mit anderen Worten: Die Charakteristika der Sinne gehen nicht einfach aus einer organischen Grundausstattung hervor, stellen für Herder also gerade kein anthropologischen Invarianten dar. Im Spektrum der Sinne jedenfalls befindet sich das Gehör in „der Mitte“64 zwischen den Polen des anschmiegsamen Tast- und des distanzierten Sehsinns. Auch dadurch – und weil es der Zeitsinn ist – wird das Gehör zum „Sinn der Sprache“.65 Möglicherweise ist es diese eigentümlich Zwischenstellung, die das Ohr zum entscheidenden Sensorium einer Theorie (derjenigen Sonnemanns) macht, die sich weder der instrumentellen Rationalität des registrierenden Auges fügen will noch aber einer sich in Unmittelbarkeitsemphase verrennender Abschaffung von Vernunft das Wort redet. Umso entscheidender, dass sich ein Ohr wie das von Herder charakterisierte in seinem Streben, eine Sprache zu finden, auf die Welt und das in ihr Vernehmbare richtet, anstatt sich in sich selbst einzukapseln.66
Traum vom befreiten Ohr Lässt sich nun aus alledem eine ‚Anatomie des dritten Ohres‘ nachzeichnen, wie es fragenderweise der Titel dieses Kapitels in den Raum stellt? Lehrbuchmäßig verstanden wäre dies eine Betrachtung über den organischen Aufbau, also die Gestalt, Gliederung und Systematik des (dritten) Ohres, mithin ein Unterfangen der Physiologie und der Anthropologie. En passant nun tauchte das ein oder andere Argument gegen solche Anthropologie des Hörens resp. der Sprache schon auf: Zuletzt bei Herder etwa konnten wir erfahren, dass sich aus dem bloßen, organischen Sosein des menschlichen Sinnenapparats – der scheinbar invarianten,
62Herder:
Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 56. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 56. 64Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 57. 65Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 59. Auf diese Umdeutung der Hierarchie der Sinne bei Herder hat auch Trabant hingewiesen: So lehne Herder „eine Hierarchisierung der Sinne, vor allem die Höherstellung des Auges, ab. Er stellt daher das Ohr auch nicht über die anderen Sinne, sondern platziert es zwischen Hand und Auge, zwischen Fühlen und Sehen. Das Ohr ist der mittlere Sinn, und als solcher ist es der Sinn der Sprache und damit der menschliche Sinn überhaupt“; Trabant: „Der akromatische Leibniz: Hören und Konspirieren“, S. 64. 66Vgl. noch einmal Trabant: „Der akromatische Leibniz: Hören und Konspirieren“, S. 65: „Zweitens richtet sich das Herdersche Ohr – und das ist das entscheidende – auf die Welt. Es hört die Welt und nicht nur – was es traditionellerweise tut – den anderen Menschen.“ 63Herder:
Traum vom befreiten Ohr
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durch Naturanlagen vorherbestimmten Ausstattung der Spezies Mensch – allein noch keine Theorie des Hörens ableiten lässt, die das spezifisch Akustische an Sprache erfasst. Und mit Nietzsches Überlegungen zum historischen Wandel der Sprachrhythmik sowie Sonnemanns Untersuchungen über gesellschaftliche Veränderungen im menschlichen Sprachverhalten wäre einzuwenden, dass keine ein für alle Mal gültige Systematik des Verhältnisses von Sprache und Hören zu haben ist. Wo sie behauptet wird, dürfte nicht zuletzt der ideologische Glaube an eine determinierte Naturwüchsigkeit der menschlichen Welt am Werk sein. Warum die hier mit Sonnemann entworfene kritische Theorie des Hörens keine (positive) Anthropologie desselben ist, wird sogleich Gegenstand des II. Teils vorliegender Studie sein. Wenn auch nicht in Form einer Anatomie, so verweisen die hier referierten und fortgesetzten Reflexionen zum Verhältnis von Hören und Sprache gleichwohl auf die eigentümliche Körperlichkeit der Letzteren. Kann also das Vertrauen in die Potentiale des Hörens eine zum Herrschaftsinstrument verkümmerte, instrumentelle Vernunft retten, indem sie etwa das Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität neu justiert? Scheint darin nicht ein Begriff von Freiheit auf, der mehr als nur die vielbeschworene der Gedanken meint, indem er – darin ganz materialistisch – nicht allein das rein Intelligible zu seinem freiheitlichen Recht kommen lassen will? Genau dies dürfte wohl einer der wichtigsten Impulse für Sonnemanns Projekt der Transzendentalen Akustik sein, wie der I. Teil dieser Arbeit darstellen wollte. Allein, wirklich befreit wäre auch das Ohr erst in einer befreiten Gesellschaft, die – wir haben in den vorangegangenen Kapiteln einiges darüber gehört – keine unterm Bann des Kapitalgesetzes sein kann. Bis zur wirklichen Umwälzung solcher Verhältnisse dürfte entsprechend das Anliegen kritischer Ohren (Stichwort: Fetischkritik) unverstanden bleiben. Ganz ähnlich beantwortet Sonnemann selber die Frage danach, wann denn das sedierte Sensorium endlich aufwache — mit einem Traum: „So schließe auch ich am passendsten mit einer Geschichte, nur handelt es dabei sich um einen unlängst gehabten etwas verstörenden Traum. Zu Besuch bei einem Wirtschaftsführer – wie man mit einem unerschütterlichen Schein von Arglosigkeit seit dem NS-Malheur, das ihre notorische Mitverantwortung war, Unternehmer nennt – welcher Besuch nur der nüchternen Abschätzungen der erdenklichen Möglichkeiten eines Anbruchs in Deutschland eben des besagten auditiven Zeitalters dienen sollte, fragte ich ihn – also Traumzitat – ‚Glauben Sie, daß im Kapitalismus, Verzeihung, ich meine natürlich in Sozialer Marktwirtschaft, es jetzt Chancen für das Dritte Ohr gibt, einen ruinösen geschichtlichen Wiederholungszwang, den zu durchschauen seinen Opfern, die zugleich seine Träger sind, nie gelungen ist, noch eventuell zu durchhorchen?‘ ‚Jedenfalls nicht bei mir‘, lautete ungesäumt, stracks, in der Tat ‚wie aus der Pistole geschossen‘, seine bei aller Beiläufigkeit wahrnehmbar Ich-unterbebte, ja im Tonfall triumphale Entgegnung. ‚Und wenn Sie das ganze Haus absuchen, Sie finden hier keine einzige Wanze!‘ Ende des Traums.“67
67Sonnemann:
„Das Sedierte Sensorium“, S. 21 f.
Teil II
Negative Anthropologie der Sinne
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Traditionelle und kritische Anthropologie
„Man müßte seine Natur einfach grundlegend ändern, aber keiner ändere seine Natur, weil die Natur sich nicht ändern lasse.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 98.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_7
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7 Traditionelle und kritische Anthropologie
Mit einigen Reflexionen zum Verhältnis von Sprache und Anthropologie schloss der I. Teil vorliegender Studie. Damit ist zugleich die Nahtstelle zwischen Sonnemanns späten Arbeiten zur Transzendentalen Akustik und seinem Werk aus den 1960ern erreicht. Im Folgenden seien nun einige Grundmotive der Negativen Anthropologie (1969) Sonnemanns kommentiert. Vorgestellt wird ihr Ideengehalt, der sich aus Distanzierungen von und Solidarisierungen mit bestimmten Theorieelementen ergibt, dem Gegenstand, nämlich der Frage nach dem Menschlichen geschuldet. Entscheidend für diese Darstellung sind die Konstellationen, in welche sich die Negative Anthropologie zeit- wie ideengeschichtlich und der Denkbewegung nach begibt. Damit wird auf den kommenden Seiten Manches aus ihrem Gedankenkosmos präsentiert, ohne bereits eine Detailanalyse des Textes vorzunehmen. „Vorstudien zur Sabotage des Schicksals“, so untertitelt Sonnemann sein Buch1 – und verstößt damit gegen die philosophische Tradition. Dieser nämlich gilt Anthropologie seit ihrem eigenständigen Auftreten im frühneuzeitlichen Denken als das Bestreben, die Natur des Menschen zu bestimmen. „Anthropologica est doctrina humanae naturae“2 heißt es im 16. Jahrhundert bei Otto Casmann und auf diese Engführung rekurrieren vor allem aktuellere lexikalische Definitionen jener philosophischen Strömung, welche mit wechselhafter Konjunktur bis in die Gegenwart reicht. Seit den Anfängen der Anthropologie sei „die Natur Bezugspunkt für die genuin anthropologische Definition des Menschen“,3 wie etwa Odo Marquard im Historischen Wörterbuch der Philosophie schreibt, wobei seinem Artikel zum Beleg dieser These das Casmann-Zitat beigefügt ist. Strenger noch fasst Oswald Schwemmers Definition diesen Zusammenhang in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie: „Anthropologie, […] etwa seit dem 16. Jh. Titel für die Lehre von der Natur des Menschen.“4 Beide Definitionsversuche rücken den Naturbegriff dergestalt in den Mittelpunkt der Anthropologie, um in mehr oder minder kritischer Distanz einen entscheidenden Zug an ihr festmachen zu können: die Tendenz, ein übergeschichtliches, beständiges und dauerhaftes Wesen des Menschen zu behaupten. Folgerichtig muss nach dieser Auffassung Anthropologie dann insbesondere in solchen historischen Situationen reüssieren, in denen andere Begründungsmodelle für das gesellschaftliche Zusammenleben fragwürdig geworden sind und die in der Bestimmung eines menschlichen Wesens das Bedürfnis nach (metaphysischer) Sicherheit zu befriedigen suchen: „Der
1Ulrich
Sonnemann: Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals [1969], Schriften Bd. 3. Sigle NA. Siehe oben, Kapitel 3, Fußnote 40. 2Otto Casmann: Psychologia Anthropologica, sive doctrina animae Humanae [1594], zitiert nach: Odo Marquard: „Anthropologie“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1 (= A–C), Basel 1971, Sp. 362–374, hier Sp. 363. 3Marquard: „Anthropologie“, Sp. 363. 4Oswald Schwemmer: „Anthropologie“, in: Jürgen Mittelstraß et al. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1 (= A–B), Stuttgart & Weimar 22005, S. 153–157, hier S. 153.
7 Traditionelle und kritische Anthropologie
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Rückgriff auf eine solche Natur des Menschen läßt sich verstehen als Versuch, in Situationen bedrohter oder fehlender Gemeinsamkeit hinsichtlich grundlegender Lebensorientierungen, Handlungsziele oder Redenormen (d. i. in Krisensituationen) wieder eine Gemeinsamkeit herzustellen.“5 Ob diese Tendenz nun allen als anthropologisch deklarierten Theorien zu eigen ist, darauf wird noch näher einzugehen sein. Von besonderem Interesse erscheint hier zunächst, mit welcher Bedeutung der Naturbegriff in der traditionellen Selbstwie Fremdbeschreibung der Anthropologie belegt wird. ‚Natur‘ erhält hier die Definition des Beständigen und Unveränderbaren schlechthin. Damit wird sie als Invariante zugleich zum Gegenprinzip des sich Wandelnden und Ändernden, mithin der Geschichte.6 Latent sei solche Tendenz, ein invariantes Wesen anzunehmen, der Anthropologie schon in ihren frühneuzeitlichen Anfängen eingeschrieben; so zumindest sieht es Marquard.7 Manifest jedoch werde diese Tendenz insbesondere im 19ten Jahrhundert durch Wilhelm Dilthey: „auch und gerade bei Dilthey etabliert sich die philosophische Anthropologie durch Abkehr von der Geschichtsphilosophie und Wende zur Natur. Dabei geraten Natur und Geschichte unter die entgegengesetzten Bestimmungen des Bleibenden und Wechselnden“.8 Die bündige Definition der Anthropologie als Lehre von der (gleichbleibenden) Natur des Menschen kann sich schließlich besonders im 20ten Jahrhundert auf manche Protagonisten einer neu etablierten Philosophischen Anthropologie berufen. Hier wird Biologie zum Bezugspunkt philosophischer Reflexionen über den Menschen, wohl nicht zuletzt in bewusster Abkehr von der Geschichtsphilosophie des vorangegangenen Jahrhunderts (siehe Kapitel 8). Sollte diese herrschende Meinung über das Verhältnis von Anthropologie und Natur in beiderlei Hinsicht zutreffend sein; sollte also Anthropologie die Lehre von der Natur des Menschen und Natur dabei als Statisches das Gegenprinzip zur Geschichte als dem Dynamischen sein, so wäre von Sonnemanns – wenn auch negativer – Anthropologie kaum eine Sabotage des Schicksals zu erwarten. Allein
5Schwemmer:
„Anthropologie“, S. 153. scheint hier mehr oder minder deckungsgleich mit ‚Wesen‘, wobei solches Wesen offenbar den Charakter der bleibenden Substanz (substantia) haben soll. 7„Wenn der Mensch nicht mehr metaphysisch auf Gott sich verläßt und nicht – unter Betonung der ‚dignitas huminis‘ – auf die eigene schrankenlose Freiheit, muß er auf die Natur sich verlassen. Darum wird seit den Anfängen der A[nthropologie] – unter verschiedenen Aspekten über Descartes und Hobbes bis Lamettrie und darüber hinaus – die Natur Bezugspunkt für die genuin anthropologische Definition des Menschen.“ Marquard: „Anthropologie“, Sp. 363. 8Marquard: „Anthropologie“, Sp. 369. Vgl. auch Schwemmer: „Alle […] Naturkonzeptionen stimmen darin überein, daß mit der Natur des Menschen allgemeinmenschliche Eigenschaften angegeben werden, die in dem Sinne vor-kulturell oder auch vor-rational sind, daß sie nicht als mögliche Ergebnisse argumentierenden Redens oder (solchen Reden folgenden) verändernden Handelns angesehen werden, sondern als dessen Bedingung. Durch ihre Funktion als Krisendisziplin ist der Anthropologie die Aufgabe gestellt, in der Natur des Menschen Gründe für bestimmte gemeinsame Orientierungen, Ziele oder Normen zu finden. Sie steht dabei zwei grundsätzlichen Einwänden gegenüber, die von der Seite der Geschichtsphilosophie und der Ethik erhoben werden.“ Schwemmer: „Anthropologie“, S. 153. 6‚Natur‘
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7 Traditionelle und kritische Anthropologie
schon die Titulierung seines Werkes als Anthropologie machte es zu einem Beitrag zu ebenjener Lehre von der gleichbleibenden Menschennatur, sei diese auch nur negativ zu fassen oder aber ein negatives Wesen. Anders gesagt: Natur träte hier an die funktionale Stelle dessen, was zuvor als göttliche Ordnung (der menschlichen Dinge) galt, würde mithin zum säkularisierten Schicksal, nicht zu dessen Sabotage.
Anthropologie versus Gesellschaftstheorie? Diese skizzierte Stellung der Anthropologie zum Problem vermeintlicher Konstanten und Invarianten des Menschseins ist es denn auch, die sie unvereinbar erscheinen lassen muss mit der kritischen Theorie der Gesellschaft, welche auf das geschichtliche Gewordensein derjenigen Verhältnisse reflektiert, unter und in denen die historischen Menschen leben. Gegen letztgenannte Perspektive kommt der Suche nach den Invarianten menschlichen Lebens gerade die Funktion zu, eine Sinnhaftigkeit der je gegebenen Verhältnisse durch ihre angebliche Naturnotwendigkeit zu behaupten. So schreibt Max Horkheimer 1935 in seinen „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“: „Die moderne philosophische Anthropologie entspringt demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen suchte: nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnungen, vor allem der Tradition als unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll.“9
Verschüttet werden unter solch anthropologischer Sinnsuche und -bestimmung die verheerenden Antagonismen, die alle menschliche Geschichte bisher durchwalten. Anzunehmen, in der Geschichte zeige sich die jeweilige Ausprägung eines sich im Grunde gleichbleibenden menschlichen Wesens, bedeutet Horkheimer zufolge zu verkennen, dass um der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung willen zugleich einzelne Gruppen von Menschen in bestimmte (soziale wie ökonomische) Funktionszusammenhänge eingeordnet werden, dazu aber gerade wesenhafte Unterschiede zwischen den Menschen behauptet werden müssen. Kein altgriechisches Bürgertum der freien Männer ohne Frauen und Sklaven; keine Aristokraten und Kleriker ohne jene, welche den Frondienst ableisten; keine ökonomisch sich emanzipierende bürgerliche Klasse ohne industrielles Proletariat.10 9Max
Horkheimer: „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“ [1935], in: Schriften 1931–1936, HGS 3, S. 249–276, hier S. 252. 10In den 1960ern formuliert Sonnemann allerdings, gleichsam als dialektische Nebenstimme zu Horkheimers durchaus klassenkämpferischen Erwägungen der 1930er Jahre: „die Frontlinien des Emanzipationskampfes laufen in steigendem Maß durch die Menschen hindurch, nur noch in sinkendem zwischen ihnen.“ Ulrich Sonnemann: Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland [1968], in: Schriften Bd. 5, S. 324– 417, hier S. 414.
Anthropologie versus Gesellschaftstheorie?
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In der erbaulichen Beschwörung des Menschen wiederum liege eine Tendenz, die klassifizierende Aufteilung der humanoiden Welt auszublenden. Die Solidarität gerade für die Ausgeschlossenen und das Verdrängte jener Prozesse verbietet es der kritischen Theorie der Gesellschaft, wie sie sich in Horkheimers Text von 1935 äußert, unter einem generalisierenden Menschenwesen reale Unterschiede zu vertuschen. Vielmehr ist ihr daran gelegen, an den konkreten Lebensumständen die komplexen Wechselverhältnisse – zwischen Naturanlagen und geschichtlicher Entwicklung, zwischen gesellschaftlicher Struktur und den Individuen – in den Einzelphänomenen und im Verhältnis zum Ganzen nachzuzeichnen.11 In gewissem Sinne teilt die dialektische Gesellschaftstheorie Horkheimers darin sogar (und nur scheinbar paradox zum eben Zitierten) die Annahme einer menschlichen Invariante: eine Strukturähnlichkeit in allen Epochen der menschlichen Geschichte bisher, das aus Not geborene Ringen um Naturbeherrschung, die blinde Verselbständigung der Instrumente dieser Beherrschung, die darin angelegte Selbstbeherrschung der Menschen, die auch als Herrschaft von Menschen über Menschen auftritt.12 Allerdings wird dieses Motiv in kritischer Absicht umgedeutet. Die Strukturähnlichkeit wird nicht zu einem unveränderbaren Wesen verklärt, welches dann die Grundzüge menschlichen Lebens bis in alle Ewigkeit vorherbestimmte, denn: „Eine Formel, die ein für allemal die Beziehung zwischen Individuum, Gesellschaft und Natur bestimmte, gibt es nicht“.13 Die Beschreibung jener pseudofatalen Struktur offenbart nicht etwa den geheimen Sinn des Lebens. Vielmehr ist dieser Beschreibung als kritischer an der Aufhebung eines derart fortdauernden Zustandes gelegen. Durch Rekurs auf eine wesenhafte Natur des Menschen dem Bestehenden einen Sinn zu verleihen, kommt dagegen aus Perspektive der Kritischen Theorie der Sabotage gesellschaftlicher Potentiale gleich, erst recht nach der Katastrophengeschichte des 20ten Jahrhunderts. So lässt sich Horkheimers Einspruch gegen Anthropologie von 1935 auch 1966 bei Adorno finden: „Was der Mensch sei, läßt sich nicht angeben. Der heute ist Funktion, unfrei, regrediert hinter alles, was als Invariante ihm zugeschlagen wird, es sei denn die schutzlose Bedürftigkeit, an der manche Anthropologien sich weiden. Die Verstümmelungen, die ihm seit Jahrtausenden widerfuhren, schleppt er als gesellschaftliches Erbe mit sich. Würde aus seiner gegenwärtigen Beschaffenheit das Menschenwesen entziffert, so sabotierte das seine Möglichkeit. […] Die These arrivierter Anthropologie, der Mensch sei offen – selten fehlt ihr der hämische Seitenblick aufs Tier –, ist leer; sie gaukelt ihre eigene Unbestimmtheit, ihr Fallisement, als Bestimmtes und Positives vor. Existenz ist ein Moment nicht das Ganze, gegen welches sie ersonnen ward und dem sie, abgesprengt, die uneinlösbare Prätention des Ganzen an sich riß, sobald sie zur Philosophie sich stilisierte.
11Vgl.
Horkheimer „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“, S. 249. hierzu noch einmal die Ausführungen zur Dialektik der Aufklärung in den Kapiteln 4
12Siehe
und 5. 13Horkheimer: „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“, S. 251.
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Daß nicht sich sagen läßt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie sondern ein Veto gegen jegliche.“14
Ist dieses Verdikt über Anthropologie zugleich ein Veto gegen jedwede Befassung mit Anthropologischem aus kritischer und gesellschaftstheoretischer Perspektive?15 Ist also Sonnemanns Negative Anthropologie von vornherein zum Scheitern verurteilt? Der traditionellen Definition von Anthropologie als Lehre von der wesenhaften Natur des Menschen, gegen welche sich Adornos vehementer Einspruch richtet, entgeht ein entscheidender Impuls von Anthropologie, wie er ihr zumindest in der Frühphase zwischen Renaissance und Aufklärung zu eigen war. Just in den literarischen wie philosophischen Auseinandersetzungen jener Zeit mit der Frage danach, was der Mensch sei, findet nämlich dasjenige seinen Ausdruck, was Adorno in der Negativen Dialektik gerade gegen anthropologisches Fragen kritisch einfordert: nicht die Naturbestimmung des Menschen, um zu den ewigen Wahrheiten des Menschseins zu gelangen, sondern die Kritik der Verhältnisse, die das Menschenmögliche desavouieren. Treibend ist dabei die Idee einer Humanitas – einer universalen Menschheit und humanen Einrichtung der Verhältnisse –, die noch nicht ist und die sich in der ausstehenden Bildung zu wirklichen Menschen erst zu erweisen hat. Wann und wo dieser Impuls genau auftritt und ob eine schulbuchmäßige Epochenunterteilung zwischen vermeintlich dogmatischem Mittelalter und der aus diesem Schlummer erwachten Renaissance anhand einer solchen Idee von Humanitas sonderlich sinnvoll ist, soll hier nicht weiter von Bedeutung sein.16 Entscheidend vielmehr, dass sich mit diesem emanzipatorischen 14Theodor
W. Adorno: Negative Dialektik [1966], AGS 6, S. 130. Jahre nach Erscheinen der Negativen Dialektik scheint Adorno selbst dieses Veto zu relativieren, und zwar gerade indem er die theoretische Wahlverwandtschaft zu Sonnemanns Negativer Anthropologie bekundet: Sonnemanns Buch „nimmt in gewisser Weise die abgebrochene, zerbrochene Diskussion über die Anthropologie wieder auf, im Geist von Philosophie nicht weniger als dem der Kritik an den Invarianten. Wissenschaft vom Menschen wird ihm zur Kritik am Gegebenen von menschlichen Verhältnissen, zur Einsicht in das, wozu die Menschen wurden. Deren Verdinglichung ist ihr Thema, nicht ihr Maß; kritische Anthropologie verlangt zugleich Kritik des Positivismus.“ Theodor W. Adorno: „Zu Ulrich Sonnemanns Negativer Anthropologie“ [1969], in: AGS 20, S. 262 f. Vgl. hierzu auch Sebastian Edinger: „Eine kleine Genealogie des Verhältnisses von Anthropologie und Ontologie im Denken Adornos mit einem Seitenblick auf Ulrich Sonnemann“, in: Thomas Ebke, Caterina Zanfi (Hg.): Das Leben im Menschen oder der Mensch im Leben? Deutsch-Französische Genealogien zwischen Anthropologie und Anti-Humanismus, Potsdam 2017, S. 255–270, insb. S. 265–270. 16Ob dieser Impuls tatsächlich bereits in der Frühphase des erst im 19ten Jahrhundert so benannten Renaissance-Humanismus derart zentral ist, oder aber eine spezifische Erscheinung der Aufklärungsphilosophie, gilt in der Forschung als umstritten. Heinz-Ludwig Nastansky und Thorsten Gubatz insistieren in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie darauf, dass „das Denken des Humanismus und der Renaissance wohl im wesentlichen voraufklärerisch geblieben“ sei und „keinen markanten Bruch mit der Tradition des Mittelalters“ darstelle, denn: „Die Ergänzung des Humanismus um diese beiden Varianten [scil. Neu-Platonismus und NeuAristotelismus] zur Renaissance machen gleichzeitig die Grenzen der humanistischen Gesamtbewegung deutlich, insofern das Denken nicht im Sinne der Aufklärung zu einer vernünftigen 15Drei
Aufklärungsanthropologie
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Grundimpuls die Kritische Theorie nicht nur solidarisch erklären kann, vielmehr darin zugespitzt eines ihrer zentralen Anliegen zum Ausdruck gebracht wird; Horkheimer macht dies mit Blick auf die Anthropologie deutlich: „Nur negativ spricht eine illusionslose Theorie von menschlicher Bestimmung und zeigt den Widerspruch zwischen den vorhandenen Bedingungen des Daseins und allem, was die große Philosophie als jene Bestimmung verkündet hat. Die Entfaltung der menschlichen Kräfte, die heute verkümmern, ist dabei ein Motiv, das auf den Humanismus der Renaissance und weiter zurückgeht, aber dieses hat es nicht notwendig, den mystischen Charakter einer absoluten Forderung anzunehmen.“17
Sinn solcher Rede von Humanität ist also gerade nicht, die bestehenden Verhältnisse als schon durch und durch menschliche und menschgemäße zu verklären; vielmehr auf den grundsätzlichen Mangel an wirklicher Humanität hinzuweisen. Oder, wie es in einer Kapitelüberschrift bei Sonnemann eingedenk ebenjenes Impulses heißt: „Negative Anthropologie […] als Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“ (NA, 224).
Aufklärungsanthropologie Jener dem Humanismus entspringende Impuls der frühen Anthropologie, der weniger am menschlichen Wesen als umso mehr am Menschenmöglichen gelegen ist, muss der traditionellen philosophischen Fachzuweisung vor allem deshalb entgehen, weil sie in ihrer dualistischen Spaltung zwischen Natur und Geschichte die Anthropologie auf der Seite eines bloß naturwissenschaftlichen Interesses am Menschen verortet.18 Wie weit jedoch etwa die Anthropologie des Aufklärers Kant von solch naturalistischer Vorstellung entfernt ist und wie sehr sie in ihrem Grund-
Selbständigkeit findet, sondern vorwiegend im Meinungsstreit historischer Autoritäten befangen bleibt.“ Heinz-Ludwig Nastansky, Thorsten Gubatz: „Humanismus“, in: Jürgen Mittelstraß et al. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 3 (= G–Inn), Stuttgart & Weimar 22008, S. 449–452, hier S. 450. Eine größere Kontinuität zwischen Renaissance und Aufklärung sieht hingegen Clemens Menze im Historischen Wörterbuch der Philosophie und betont dabei die Bedeutung der Anthropologie für den Humanismus: „Der Neu-Humanismus teilt mit dem Renaissance-Humanismus die Liebe zum klassischen Altertum, unterscheidet sich aber von ihm durch seine philosophische Tiefe, durch die aus dem Ungenügen an der eigenen Zeit entsprungene Griechensehnsucht sowie durch eine neue Konzeption literarisch-ästhetischhistorischer Bildung, die er anthropologisch fundiert.“ Clemens Menze: „Humanismus, Humanität“, in: Ritter und Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (= G–H), Basel 1974, S. 1217–1219, hier S. 1218. Zu fragen wäre schließlich auch, ob die Gegenüberstellung von Renaissance und Mittelalter tatsächlich immer stichhaltig ist und ob – gerade was den humanistischen Impuls betrifft – nicht auch in dieser Epoche sich einiges finden ließe. Dies wäre allerdings ein Unterfangen, welches sich einzelnen Werken zuzuwenden hätte. 17Horkheimer: „Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie“, S. 255. 18Vgl. etwa Marquard: „Anthropologie“.
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motiv sich dem humanistischen Ideal verpflichtet weiß, darüber gibt die kurze Vorrede zur Vorlesung über die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Auskunft. Dort heißt es: „Eine Lehre von der Kenntnis des Menschen, systematisch abgefaßt (Anthropologie), kann es entweder in physiologischer oder in pragmatischer Hinsicht sein. – Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht oder machen kann und soll.“19
Eine Anthropologie in pragmatischer Hinsicht hat also das Ziel, den Menschen überhaupt erst zum Menschen zu bilden. Deshalb heißt ihr erster Teil: Didaktik. Was es aber vom Menschen zu lernen gibt, um selber Mensch im emphatischen Sinne werden zu können, ist nicht in erster Linie seine physiologische Beschaffenheit, aus der heraus dann allerlei Konsequenzen für eine wesensgemäße oder artgerechte Einrichtung der menschlichen Welt gezogen werden könnten, wie dies zuweilen die Philosophische Anthropologie im 20ten Jahrhundert für sich reklamieren wird (siehe Kapitel 8). Kants Aufklärungsanthropologie geht es umso mehr um eine „Erkenntnis des Menschen als Weltbürger“,20 also um die politische, soziale und historische Welt dieses vernunftbegabten Wesens. Anthropologische Kenntnis über den Menschen als Weltbürger lässt sich entsprechend auch weniger aus den naturwissenschaftlichen Abhandlungen gewinnen als vielmehr aus anderen Quellen: „Zu den Mitteln der Erweiterung der Anthropologie im Umfange gehört das Reisen; sei es auch nur das Lesen der Reisebeschreibungen.“21 Dokumente, aus denen heraus sich etwas über Anthropologie mitteilen lässt, sind dabei besonders solche der Sprache: „Endlich sind zwar eben nicht Quellen, aber doch Hülfsmittel zur Anthropologie: Weltgeschichte, Biographien, ja Schauspiele und Romane.“22 In ihnen nämlich ließen sich „Grundzüge […] aus der Beobachtung des wirklichen Tun und Lassens der Menschen“23 finden. Wie bei Kant nicht anders zu erwarten, ist Anthropologie aber nicht allein aus den Beobachtungen, also der Empirie heraus zu bestreiten. Im Gegenteil: bloßes Registrieren vermeintlich menschlicher Tatsachen und Unterschiede hat keinen Erkenntniswert, denn ohne begriffliche Vermittlungsleistung und ein philosophisch geleitetes Interesses an solcher Empirie lässt sich über Menschliches nichts Entscheidendes aussagen: „Die Generalkenntnis geht hierin immer vor der Lokalkenntnis voraus; wenn jene durch Philosophie geordnet und geleitet werden soll: ohne welche alles erworbene Erkenntnis nichts als fragmentarisches Herumtappen
19Immanuel
Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798], WW Bd. XII, B IV. Anthropologie, B VI. 21Kant: Anthropologie, B VII, VIII. 22Kant: Anthropologie, B XI. 23Kant: Anthropologie, B XII. 20Kant:
Aufklärungsanthropologie
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und keine Wissenschaft abgeben kann.“24 ‚Generalkenntnis‘ aber ist das aufklärerische Ideal des Menschen als Vernunftwesen. An dessen Maßgabe müssen sich dann auch die realen Verhältnisse beurteilen und kritisieren lassen: Überall dort, wo der Mensch nicht als Weltbürger lebt, sich selber nicht als Weltbürger denkend und handelnd auffasst, ist er eigentlich noch nicht Mensch. Bildung über den Menschen ist bei Kant also zugleich Selbstbildung zum Menschen; zumal, wenn das Leben nicht mehr aus göttlicher Autorität oder Gnade heraus, sondern aus den eigenen Möglichkeiten zu bestreiten ist.25 Dabei können die Individuen sich nur zu wirklicher Individualität und Mündigkeit bilden, sofern auch die Menschheit insgesamt die Entfaltung ihrer Potentiale vorantreibt.26 Naturforschung wäre zwar Teil jener Potentiale, hätte aber nicht das letzte Wort über die Frage danach, was das Menschliche sei. Die Kantische Trennung zwischen pragmatischer und physiologischer Anthropologie jedoch war manch einem Zeitgenossen Kants wohl nicht ganz geheuer. In seiner Rezension zur gerade erschienenen Anthropologie in pragma tischer Hinsicht äußert Friedrich Schleiermacher jedenfalls seine grundlegende Skepsis an diesem Vorgehen: „Der in Kants Denkart gegründete und hier ganz eigentlich aufgestellte Gegensatz zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie, macht nemlich beide unmöglich.“27 Vor allem werde bei Kant unter dem Primat des Praktischen die Physiologie vernachlässigt, „weil bekanntlich das Ich bei ihm keine Natur hat“.28 Schleiermacher hätte sich dagegen eine Anthropologie gewünscht, in der die gegensätzlichen Bestimmungen des Menschen als Naturund als Vernunftwesen ihre Versöhnung fänden: „Es liegen dieser Eintheilung allerdings zwei richtige Gegensätze zum Grunde, der: alle Willkür im Menschen ist Natur, und der: alle Natur im Menschen ist Willkür; aber Anthropologie soll eben die Vereinigung beider seyn, und kann nicht anders als durch sie existieren; physiologische und pragmatische ist Eins und dasselbe.“29 Was Kant gerade in seiner Schrift zur Anthropologie und dabei möglicherweise auch im Gegensatz zu anderen seiner Schriften nicht vorzuwerfen ist, und was Schleiermacher Kant auch nicht vorwirft, wäre ein grundsätzlicher Mangel an Betrachtungen zu Fragen des Körpers, des Somatischen und Sinnlichen, die einen
24Kant:
Anthropologie, B VIII. Anthropologie steht im Dienste einer Bildungstheorie, die alle Bereiche menschlichen Wissens umspannt und die Fortschritte menschlicher Erkenntnis für die Bildung des schönen und sittlichen Menschen abschätzen soll.“ Menze: „Humanismus“, Sp. 1218. 26Vgl. etwa Kants Aufsätze: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ [1784], in: WW XI, S. 51–61; und insbesondere: „Über die allgemeine Idee einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ [1784], in: WW Bd. XI, S. 31–50. 27Friedrich Schleiermacher: [Rezension zur] „Anthropologie v. Immanuel Kant“ [1799], in: Athenaeum. Eine Zeitschrift, 2. Jg., H. 2, S. 300–306, hier S. 302. (Reprographischer Nachdruck, Darmstadt 1983.) 28Schleiermacher: „Anthropologie v. Kant“, S. 302. 29Schleiermacher: „Anthropologie v. Kant“, S. 302. 25„Die
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Großteil der Vorlesung einnehmen. Auch ließe sich schwerlich behaupten, dass solche Überlegungen und Beobachtungen nicht ins Verhältnis gesetzt würden zu Fragen der Vernunft. Was Kant jedoch in seiner pragmatischen Anthropologie tunlichst unterlässt, ist eine Herleitung der Vernunftsphäre oder der geforderten Weltbürgerlichkeit aus der organischen und leiblichen Verfasstheit des Menschen.30 Vielmehr bleiben Freiheit und Natur, die beiden Seiten des vernunftbegabten Sinnenwesens, für Kant antinomisch. Schleiermacher hingegen wäre hier wohl eher an einer gegenseitigen Ableitung beider Aspekte gelegen; denn am Ende, so sein Vorwurf, mache Kant lediglich „einen Widerspruch anschaulich“31 zwischen Natur und Willkür, löse ihn aber nicht auf. Damit aber scheitere Kants Anthropologie an dem Anspruch, den Menschen als Naturwesen und als Vernunftwesen in einem darzustellen: „und so scheint auch dieses [Werk] vortrefflich zu seyn, nicht als Anthropologie, sondern als Negation aller Anthropologie, als Behauptung und Beweis zugleich, daß so etwas nach der von Kant aufgestellten Idee durch ihn und bei dieser Denkungsart gar nicht möglich ist“.32
Eingedenken der Natur im Subjekt Dass aber Kant diese Antinomie nicht harmonistisch auflöst; dass Vernunft und Natur im Menschen doch gleichsam auseinanderfallen, nicht gänzlich in einander aufzulösen sind; dass also eine Anthropologie vom Menschen als Ganzem, mithin ‚ganzheitlich‘ nicht möglich ist, positive Anthropologie nach Kant schließlich in ihre eigene Negation münden muss: dies ist nicht unbedingt der Mangel jenes Werkes, sondern vielleicht gerade sein Verdienst. Nicht polemisch wäre dann zu beanstanden, dass Kant eine ungebrochene Darstellung des Menschen misslingt, sondern zu unterstreichen, dass in dieser anthropologischen Beschreibung etwas von der Entwicklung der Menschheit, vom Widerstreit zwischen Natur- und Vernunftwesen zum Ausdruck kommt: Im geschichtlichen Verlauf konnte die Menschheit aus der bloßen Naturwüchsigkeit und dem Bann der Natur heraustreten, auch weil Vernunft dabei als List der Naturbeherrschung wirkte, Selbsterhaltung gewährleistete gegen Fressfeinde, Hunger, Krankheit und andere tödliche Naturdynamiken. Ein durchweg harmonischer Zustand zwischen Natur und Geist wäre demnach gar nicht auszumachen, erst recht nicht in einer vermeintlich friedvollen Einheit im menschlichen Ursprung. Die Spur dieses Prozesses setzt sich in Kants Philosophie bis in den Widerspruch zwischen
30Insofern
widerspricht die Kantische Anthropologie in gewisser Hinsicht auch dem im 6. Kapitel dargestellten Versuch Herders, die menschlichen Sprachfertigkeiten insbesondere aus den Naturanlagen des Lebewesens Mensch abzuleiten. Gleichwohl hatte auch Herder daran festgehalten, dass sich Vernunft nicht einfach als Naturerscheinung erklären lässt, der Mensch also qua Vernunft zugleich aus der natürlichen Welt herausgehoben ist. 31Schleiermacher: „Anthropologie v. Kant“, S. 303. 32Schleiermacher: „Anthropologie v. Kant“, S. 301.
Eingedenken der Natur im Subjekt
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praktischer Vernunft (also Pflicht) und den Neigungen fort. Auch hier, so ließe sich nach dieser Interpretation behaupten, hat Vernunft nicht zuletzt den Charakter von Selbstbeherrschung, die einerseits notwendig ist, um Zwecke selbst setzen, Handlungen vollziehen zu können und nicht einfach im Strom der Affekte und Reaktionen unterzugehen. Andererseits wohnt solcher verfügenden Vernunft latent stets die Gefahr inne, das von ihr Geschiedene (Natur) allzu harsch zu unterdrücken. Damit enthält die Aufklärungsanthropologie Kants, womöglich gegen seinen Willen und eher als unbewussten Unterstrom denn transparenten Reflexionsgegenstand, ein Stück Dialektik der Aufklärung. Wenn auch Kant entgegen der Schleiermacherschen Kritik eine spezifische Naturhaftigkeit des Menschen durchaus nicht verkennt, indem diese im Widerstreit mit den Vernunftprinzipien prominent auftritt, so bleibt ihm womöglich dennoch das wahre Ausmaß des Antagonismus zwischen Vernunft und Neigung, zwischen Ratio und somatischen Strebungen verborgen; zumindest scheint dieser Widerstreit an zentralen Stellen im Kantischen Werk zu einseitig und eindeutig zugunsten der Vernunft aufgelöst, beinahe so, als ginge Vernunft als glücklicher Sieger aus dem antagonistischen Widerstreit hervor. Der an Humanität appellierenden Emphase des aufklärerischen Vernunftgedankens wohnt damit zugleich das Potential des Umschlagens in Inhumanität inne; nicht indem das Naturhafte im Menschen grundsätzlich bestritten oder verkannt, wohl aber, indem es in vorerst letzter Konsequenz einer verfügenden Vernunft untergeordnet wird. So zumindest – endlich soll das erste Zitat aus dem zentralen Referenztext dieses Teils der Studie fallen – blickt Sonnemann auf Kant; woran ersichtlich wird, welchen Impuls der Aufklärung seine Negative Anthropologie fortzuführen gedenkt und wo sie zugleich der Aufklärung entgegenhält, nicht aufklärerisch genug zu sein: „Anthropologie, etwa in Kants Vorlesungen über sie, war in der Zuversicht der ersten Aufklärung der beherzte Entwurf einer an sich selbst noch nicht irregewordenen Vernunft, den Anspruch des Wissenschaftsgeistes auf Erkenntnis aller Themenbereiche auf seine eigene Realisationsstätte auszudehnen: den Träger von Wissenschaft in seiner Abgehobenheit vom Rest der Natur. Diese Abgehobenheit hatte etwas Erhebendes für den vorromantischen Menschen, dessen unbefangenem Zugriff Bewußtsein noch als Auszeichnung galt, die ihm das Wahre und Gute durch das Mittel des Begriffes erschließen konnte, und dieser privilegierte Mensch selbst, der noch nicht durch die Erfahrung des historistischen Zeitalters gegangen, in seinen eigenen Bewußtseinsvoraussetzungen noch nicht grundsätzlich relativiert war, sah sich wesentlich zeitlos, ob auch unentwegt aufsteigend, nach unanzweifelbarer Maßgabe seiner vernunftbegabten Natur, in seinem Wissen und Leisten.“ (NA, 31)33
33Ganz
ähnlich übrigens formuliert dies Walter Benjamin. Das Zeitalter der Aufklärung fasst er als dasjenige eines enormen Zuwachses menschlicher Autonomie und zugleich als das einer Ordnungswut, die sich selber „im Sinne eines Reglements verstand, die Untertanen in Kasten, die Wissenschaften in Fächern, die Habseligkeiten in Kästchen aufmarschieren ließ, den Menschen aber als homo sapiens zu den Kreaturen stellte, um durch die Gabe der Vernunft allein von ihnen ihn abzuheben.“ Walter Benjamin: Deutsche Menschen. Eine Folge von Briefen [1936], BGS IV, S. 149–233, hier S. 156.
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Die spezifische Zeitlosigkeit des Menschen bei Kant, von der Sonnemann hier spricht, bedeutet nun keine grundsätzliche Geschichtslosigkeit. Wie bereits angedeutet, betonen gerade die anthropologischen Schriften des Aufklärungsphilosophen die Entwicklungsbedürftigkeit der Menschheit; ist doch Geschichte der Schauplatz, auf dem sich der vernunftbegabte Mensch in einer zu schaffenden weltbürgerlichen Gesellschaft überhaupt erst zu entfalten hat. Zeitlos hingegen scheint eher die Einrichtung des Menschen als Naturwesen, seine organische Verfasstheit in Triebfedern, sein Sinnesapparat und seine Gemütsbedingungen, von welchen Vernunft sich dann (erbaulich) abheben kann. Zeitlos sind nach Sonnemanns Beschreibung allerdings mehr noch das Aufklärungsbewusstsein und sein ‚Mittel des Begriffs‘. Und tatsächlich: während wenig später bei Hegel, der schon die Schwelle zum ‚historischen Zeitalter‘ überschritt, die Begriffe durch zeitliche Erfahrung und geschichtliche Entwicklung hindurchgehen, von diesem Durchgang etwas in ihnen aufgehoben ist (hier nachdrücklich im Sinne von ‚aufbewahrt‘), gelten Kant die „reinen Verstandesbegriff[e] oder Kategorien“ (KrV, B 102), gewissermaßen sein sublimstes Begriffsinventarium, noch als überzeitliche, a priori im Menschen angelegte und in ihrer Herkunft ungewisse. Kant sind diese Begriffe der geschichtlichen Entwicklung womöglich auch darum merkwürdig enthoben, weil als eine ihrer entscheidenden Funktionen gelten darf, das Vergängliche (nämlich die empirische Welt) aufzuheben wesentlich im Sinne von ‚eliminieren‘: Das Ungewisse und Fluide der empirischen Welt soll zum Beständigen und Gewissen werden, indem sich das System der Naturerkenntnis in den Kategorientafeln verfestigt. Zu selbstgewiss jedoch, das scheint die Stoßrichtung der Kritik in obigem Sonnemann-Zitat, triumphieren dabei die Begriffe über das Zeitliche. Als ein Ergebnis notwendiger Naturbeherrschung, die festhalten will, ja muss, um nicht im Tod, im Vergehen zu enden, verdrängen sie zugleich das Vergängliche der Regungen und Wahrnehmungen der leibhaften Menschen. Zwar gilt für Kant, dass „Gedanken ohne Inhalt […] leer“ wie auch umgekehrt „Anschauungen ohne Begriffe […] blind“ (KrV, B 75) seien. Doch haben die Erfahrungen nicht denselben Stellenwert wie die ordnenden Kategorien; dass etwa historisch konkrete Erfahrungen den Gehalt der Kategorien modifizieren könnten, Erfahrungen also derart auf die Begriffe einzuwirken vermöchten wie umgekehrt die Begriffe die Erfahrungen leiten, scheint bei Kant nicht vorgesehen.34 Das ist nach obigem Zitat also die Rückseite eines aufklärerischen Vernunftwesens, dessen „Generalkenntnis“ sich schließlich die „Lokalkenntnis“35 und indes alles Ephemere, Empirische zu unterwerfen hat. Aufklärung, die dem ihr eigenen kritischen Impuls die Treue halten will, muss sich somit auch gegen sich selber wenden, Kritik an einem derart absolutistischen und darin gerade verkürzten Vernunftbegriff üben. Das ist Grundmotiv der Dialektik der Aufklärung. Denn die gebieterische Rationalität, aus der Not zur
34Siehe 35Kant:
hierzu noch einmal Sonnemanns Auseinandersetzung mit Kant in den Kapiteln 1 und 2. Anthropologie, B VIII.
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Naturbeherrschung heraus geboren, verselbständigt sich zum Selbstzweck, wenn sie die Selbstreflexion abwehrt und ihr alles vermeintlich Außerrationale und Unvernünftige, namentlich Naturhafte, zur bloßen Verfügungsmasse wird, solche Momente dann eingehegt und zurechtgestutzt, zugleich aber verdrängt werden.36 Darin entäußere die Vernunft zugleich ihre Legitimität: „Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet.“ (DdA, 62) Selbstreflexion von Vernunft bedeutet: sich jenes Komplexes, jener Verstrickung von Naturverfallenheit, Naturbeherrschung und Verdrängung zu besinnen und denkend zu vergegenwärtigen. „Aufklärung“ – die ihren Namen verdient hat – „ist mehr als Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird“ (DdA, 63), sie ist „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (DdA, 64). In Horkheimers und Adornos Formulierung scheinbar widersinnig anmutend, kommt jene Natur im Menschen zu Wort ausgerechnet im „zuchtlosen Gedanken, der aus dem Banne der Natur heraustritt, indem er als deren eigenes Erzittern vor ihr selbst sich bekennt“ (DdA, 64). Der vermeintliche Widersinn der Formulierung lichtet sich jedoch, wenn Geist, dessen Regung der Gedanke ist, und Natur nicht als durchweg unvereinbare Prinzipien vorgestellt werden. Zwar bedeutet Natur im Sinne von Naturverfallenheit einen Bann, indem der Lauf der Dinge ‚naturgemäß‘ als unveränderbar, zwangsweise und damit schicksalhaft erscheint. Dieser Bann muss mit den Mitteln der Vernunft durchkreuzt werden, damit Geist überhaupt existieren kann; jedoch nicht mit dem Ziel, alles Naturhafte gänzlich auszutreiben und zu tilgen, sondern um Geist und Natur zu versöhnen. Darum ‚erzittert‘ dieser Gedanke (gleichfalls somatisch wie intelligibel), denn er weiß um die schier unendliche Aufgabe solchen Anspruchs, angesichts einer Welt, die von Versöhnung der getrennten Momente denkbar weit entfernt ist; und die nur praktisch wirkliche Versöhnung sein könnte. ‚Eingedenken‘ meint hier auch, dass der unversöhnte Zustand fühlbar wird: im widerfahrenden Leid, welches allzu oft nicht sein müsste, wäre die Welt durch die Menschen anders eingerichtet, wie auch im möglichen Glück, das zwar bisweilen erfahren wird, dessen tatsächliche Erfüllung jedoch oft genug vereitelt ist. Diese Bedeutung einer menschlichen Natur – nicht im Sinne eines ewigen Wesens des Menschen, sondern eines irreduziblen Anteils von Natur an den Menschen – lässt zurecht dann auch Horkheimer und Adorno an der Idee einer „dialektische[n] Anthropologie“ (DdA, 23) festhalten. Dialektisch ist das Eingedenken der Natur im Subjekt, da solchem Denken Subjekt und Natur als geschichtlich vermittelt gelten. Doch nicht nur das Verhältnis von geistigem (oder kantisch: transzendentalem) Ich und empirischem, körperlich verfasstem Individuum unterliegt historischen Veränderungen. Auch die organische
36Im
6. Kapitel wurde dieser Punkt modellhaft am Verhältnis von Sprache (als lògos irreduzibler Aspekt von Vernunft) und ihrem somatischen, insofern naturhaften Moment bereits ausgeführt. Mit Blick auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung zeigt sich hier, wie nah Sonnemanns Erwägungen zur Akustik der Sprache diesem Projekt sind.
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usstattung der Menschen bleibt nicht ewig dieselbe, steht vielmehr in WechselA wirkung mit geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozessen und ist damit ebenfalls einem Wandel unterworfen.37 Schließlich propagiert eine dialektische Rede von der Natur im Menschen gerade kein ‚zurück zur Natur‘, nichts kann oder soll restauriert werden: „Natur an sich ist weder gut, wie die alte, noch edel, wie die neue Romantik es will. Als Vorbild und Ziel bedeutet sie den Widergeist, die Lüge und Bestialität, erst als erkannte wird sie zum Drang des Daseins nach seinem Frieden, zu jenem Bewußtsein, das von Beginn an den unbeirrbaren Widerstand gegen Führer und Kollektiv begeistert hat. Der herrschenden Praxis und ihren unentrinnbaren Alternativen ist nicht die Natur gefährlich, mit der sie vielmehr zusammenfällt, sondern daß Natur erinnert wird.“ (DdA, 287)
Natur und Geist (resp. Vernunft) sind entzwei – und die Spaltung, die sich historisch einmal vollzogen hat, lässt sich zum Guten nicht einfach rückgängig machen. Aber im Erkennen und Erinnern, die im begrifflichen Denken an irreduzibel n aturhafte Regungen (erkennend) gemahnen und in den Geist somatische Momente (erinnernd) einschließen, findet das vom Geist Geschiedene seinen Ausdruck. Menschliche Natur kommt dergestalt nicht unmittelbar zum Tragen, drückt sich weder ‚vorprädikativ‘ aus noch bleibt sie von zivilisatorischen Formungen unbehelligt. Erst in gesellschaftlicher Vermittlung ist sie nicht mehr Bedrohung, sondern Verheißung (eines auch somatisch erfüllten Lebens), und besonders im sprachlichen Ausdruck werden die leiblichen Regungen zu menschgemäßen, können es zumindest werden. Die Vernunftkritik der Kritischen Theorie, zumindest in ihrer in der Dialektik der Aufklärung formulierten Variante, ist Einspruch gegen die Naturverdrängung der bürgerlichen Ratio. Was sie dieser entgegenhält, ist gerade kein Weniger, sondern ein Mehr an Vernunft; kein zurück hinter die Aufklärung, sondern eine Aufklärung, die sich über sich selber aufklärt. Horkheimer und Adorno, auch Sonnemann, sehen sich in der kritischen Tradition solcher Aufklärung, die zur zweiten werden muss; daher spricht Sonnemann im Zitat weiter oben auf Kant rekurrierend von der ‚ersten‘. Wie der ersten sind auch der zweiten Aufklärung Momente einer Anthropologie zu eigen; dort nämlich, wo die utopische Perspektive der Humanität eingenommen wird, die sich in der zweiten Aufklärung auch darin eröffnet, an die verdrängte Natur im Menschen zu erinnern. Zuflucht findet solches Humanitätsideal gerade in jenen Artefakten und menschlichen Äußerungen, die etwas vom gelungenen Zusammenspiel von Geist und Natur, von geglückter Kultivierung erahnen lassen. Unterm Nationalsozialismus aus Deutschland verschwunden, haben sich Horkheimer und Adorno zufolge einige „Denkmale der Humanität“ in Frankreich erhalten: „im Tonfall der Stimme, in der sprachlichen Wendung, im kunstreichen Essen, der Existenz von Bordellen, den gußeisernen Pissoirs.“ (DdA, 256) Keine bestialischen Triebtaten, keine regressive Freisetzung der unterdrückten und verdrängten Bedürfnisse also stehen
37Vgl.
noch einmal zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen, Bd. I und II.
Eingedenken der Natur im Subjekt
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ein als Modell für erinnerte Natur, vielmehr die durch zivilisatorische Mittel noch gesteigerte Lust: am Essen, das mehr ist als Nahrungsaufnahme, am Eros, der sich beileibe nicht mit einem Fortpflanzungsakt identifizieren lässt, ja selbst am Verrichten der Notdurft.38 Eine Sprache, die Natur zu erinnern imstande wäre, muss dabei mehr sein als eine an strikten Rationalitätskriterien ausgerichtete. Kein Inhalt sprachlicher Äußerungen allein leistet Naturerinnerung, erst in Vermittlung mit der sprachlichen Form werden sie dazu. So verweist denn auch der soeben zitierte sprachformale Aspekt, der ‚Tonfall‘ der Stimme, nachdrücklich auf das somatische Moment des Redens, ohne das keine Sprache existiert.39 Das zuvor zitierte ‚Erzittern des Gedankens‘ erweist sich darin auch als eine körperliche Resonanz des Denkens, indem der Gedanke zur lauthaften Äußerung wird; somit als Vermittlung von Geist und Körper, wobei dieser eben nicht der bloßen Natur zugeschlagen wird, vielmehr ein sprechender, geistbeseelter ist. Zugleich bedarf es der Wahrnehmungsfähigkeit für solcherlei Zusammenhänge. Ein Sensorium zu haben für die Unterschiede im Tonfall etwa, hörend also an sprachlichen Äußerungen etwas über den Zustand einer Gesellschaft aussagen zu können, bedeutet das Zusammenspiel von geistigen und körperlichen Fertigkeiten.40 Dabei ist das Vermögen der Sinne nicht einfach naturwüchsig. Allein schon die Möglichkeit, dass die Empfindungen abgestumpft sein können oder aber geschärft für dasjenige, was es wahrzunehmen gilt, dass die Sinneswahrnehmung also formbar ist, spricht gegen ihre bloße Ableitung aus genetischer Disposition o.ä. Vielmehr sind Empfinden und Denken zu schulen, mithin zur Differenziertheit auszubilden, zumindest wenn ein Gespür für die Verhältnisse und eine grundsätzliche Urteilsfähigkeit das Ziel sind. Kritische Vernunft bedarf beider Fähigkeiten, will sie nicht in rationalistischer Einseitigkeit münden. Mag das Zusammenspiel der getrennten Momente auch in manchen Fällen gelungen sein, eine Illusion über die beinahe unabsehbaren Verstrickungen von naturbeherrschender Rationalität und körper- wie lustfeindlichen gesellschaftlichen Verhältnissen erlauben sich Horkheimer und Adorno nicht. Auch darum
38Kaum
zufällig werden darin nicht gerade die Hauptthemen der Zivilisationsgeschichte benannt, vielmehr ihre Seitenaspekte, im Falle der Bordelle und Pissoirs gar die verruchten. Angesichts des Zivilisationsbruchs, unter deren Eindruck Horkheimer und Adorno ihre Dialektik der Aufklärung schrieben, scheint die offizielle Kultur zumindest in Europa weitestgehend versagt zu haben. Was an verbliebener Humanität den nationalsozialistischen Gräueltaten entgegengehalten wird, sind insofern nicht die Dokumente sogenannter Hochkultur als vielmehr die liebevolle Hingabe an unscheinbarere Dinge, die allerdings zugleich vom Versagen der Kultur angesichts der grauenvollen Barbarei zeugen. 39Mit dem ,sprachformalen Aspekt‘ ist hier kein linguistischer Formalismus gemeint als vielmehr Form im denkbar weitesten Sinne: In welcher ‚Form‘ etwas gesagt wird, meint der Alltagssprache nach eben auch, in welchem ‚Ton‘ eine Aussage o. ä. zum Ausdruck kommt. 40Ein Modell solcher Fertigkeit präsentiert Sonnemann in seiner Auseinandersetzung mit den Eigenheiten der Satzmelodie in der reichsdeutschen Militärsprache zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vgl. Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, S. 60 f.
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7 Traditionelle und kritische Anthropologie
sind die ‚Denkmale der Humanität‘ eher im Randständigen aufzufinden als in den offiziellen Dokumenten der Kultur. Die Versöhnung der geschiedenen Momente bleibt Telos der Menschheit. Diesen Impuls der Kritischen Theorie – um zur Negativen Anthropologie zurückzukehren und damit zugleich dieses einleitende Kapitel in das Werk zu schließen – nimmt Sonnemann auf.41 Auch hier bedeutete das Eingedenken der Natur im Subjekt jenseits von bloßer Verfügung übers Naturmaterial zugleich das Kurieren der Vernunft von ihrer rationalistischen Verstümmelung. Doch Sonnemanns Zustandsbeschreibung, mehr als zwanzig Jahre nach der Dialektik der Aufklärung formuliert, fällt ebenfalls wenig hoffnungsfroh aus. Allzu oft, so ist dort zu lesen, stellen gerade die wissenschaftlichen Ansätze zur Beschreibung des Verhältnisses von Mensch und Natur das genaue Gegenbild zur hier entworfenen Perspektive dar. In Negation solcher Theorien, auf eine derer im folgenden Kapitel einzugehen ist, gilt für Sonnemann: „Natur und Autonomie zu versöhnen glückt durch keine szientivistische Unterwerfung der ersteren durch die letztere, die sich theoretisch selbst erst austilgen, in ihrer Rechenschaft über das Unterworfene mit augenfälliger Inkonsequenz sich verschweigen muß“. (NA, 24)
41In
seiner Darstellung negativ-anthropologischer Theorieansätze bei Horkheimer, Adorno und Sonnemann bewertet dies Dennis Johannßen übrigens sehr ähnlich; vgl. Dennis Johannßen: „Toward a Negative Anthropology“, S. 8: „For Horkheimer, Adorno, and Sonnemann, the stipulation of a natural disposition to isolate oneself from others […] results from confusing what is invariant in man with what is learned and socially conditioned. Negative anthropology targets the assumption’s root: the idea of natural human disposition. It deciphers man’s inclination towards isolation as nothing more than the child’s unconscious internalisation of the prevailing socio-economic order, rehearsed in the sandboxes of public schoolyards.“
8
Negative Anthropologie als Kritik der Theorie Arnold Gehlens
„und die Natur, genauer gesagt, die Außennatur, habe ihn auch immer nur an sich selber, also Konrads Natur, erschrecken lassen, niemals erstaunen, die Empfindung des sogenannten Naturentzückens sei nichts anderes als Perversion. Er sei auch kein Tierfreund, da er auch kein Menschenfreund sei, sei er auch kein Tierfreund, da er sich selbst sei, was dazu gesagt werden müsse, das wäre also falsch, zu glauben, er wäre ein Tierfreund, er beschäftige sich zwar ununterbrochen mit der Natur und keine andere Beschäftigung fülle sein Gehirn aus, aber er sei und zwar gerade aus diesem Grunde der ununterbrochenen Naturbeschäftigung, kein Naturfreund, ja ganz im Gegenteil“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 19 f.) „Leid, Übel und Tod seien, wie es im Jargon heißt, anzunehmen: nicht zu ändern. Dem Publikum wird das äquilibristische Kunststück eingeübt, Nichtigkeit als Sein sich zurechtzulegen; real vermeidbare oder wenigstens korrigible Not als Menschlichstes des Menschenbildes zu ehren; um eingeborener menschlicher Unzulänglichkeit willen Autorität als solche zu achten.“ (Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit, S. 456 f.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_8
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8 Negative Anthropologie als Kritik …
Eine dialektische Anthropologie, um in der Terminologie der Dialektik der Aufklärung zu verbleiben, thematisiert durchaus Fragen nach dem Verhältnis von Mensch und Natur; jedoch nicht im Bestreben, eine Wesensbestimmung des Menschen schlechthin vorzunehmen, sondern indem sie dem prekären und fragilen Verhältnis zwischen den Einzelnen, der Gesellschaft und der (bisweilen verdrängten) Natur im Menschen nachgeht. Ihr Ziel ist nicht, das ewig Gleichbleibende am Menschsein auf eine Formel zu bringen. Vielmehr will sie die jeweils herrschenden Widersprüche auch an der konkreten Beschaffenheit der Menschen und der menschgemachten Welt aufzeigen. Ganz abwegig wäre es wohl nicht zu fragen, ob damit dann nicht aber doch ein negatives menschliches Wesen behauptet würde, zumindest implizit. Etwa könnte man, in Anlehnung an eine berühmte Formulierung Nietzsches, die den Menschen als „das noch nicht festgestellte Thier“1 beschreibt, menschliches Wesen gerade in seinem ‚Unfertigsein‘ bestimmen. Begriffe man Nietzsches Rede vom nicht festgestellten Tier als derartige Wesensaussage, so enthielte sie eine Anthropologie, die sich nach den in Kapitel7 zitierten Worten Adornos aus der Negativen Dialektik womöglich als eine besonders sublime und erhabene dünkte, gerade weil sie die Unabgeschlossenheit auf eine griffige wie abschlusshafte Formel bringen zu können meint. Dass jedoch selbst die Bestimmung eines negativen Wesens höchst fragwürdige Gestalt annehmen kann, wird deutlich an einem schroffen Kontrast, in den sich gerade Sonnemanns Negative Anthropologie gesetzt sieht: in Konfrontation mit der Anthropologie Arnold Gehlens. Nun sind Gehlen im Besonderen und die Philosophische Anthropologie des 20ten Jahrhunderts im Allgemeinen nicht gerade Hauptthemen des Sonnemannschen Buches, zumindest sind sie nicht Gegenstand einer systematischen Auseinandersetzung.2 Dennoch führt der Autor hier in wenigen, dafür umso drastischer formulierten Passagen aus, warum speziell die Gehlensche Beschreibung des Menschenwesens durch ihren (wie zu zeigen sein wird: nur scheinbaren) Verzicht auf die Bestimmung eines bleibenden Wesenskerns zum folgenreichen Missverständnis der Formulierung Nietzsches gerät und wie sie sich dabei der Legitimation einer inhumanen Welt dienstbar macht: „In seiner deutschen Gestalt – in der bezeichnenderweise es zur entschlossen institutionalistischen Lehre wird – ist auch das Denken der Technokraten nur Variante von Ontologie. […] In ihrer den bundesdeutschen Verhältnissen angepaßtesten Form
1Friedrich
Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse [1886], in: KSA 5, S. 9–244, hier S. 81. ist die Anthropologie Gehlens nicht nur in einigen zentralen Passagen der Negativen Anthropologie Thema bei Sonnemann, sondern mehrfach expliziter Gegenstand seiner Texte aus den 1960er Jahren; vgl. beispielsweise Ulrich Sonnemann: Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland [1964], in: Schriften Bd. 5, S. 31–196, insbesondere das Kapitel „Die Diffamierung des Dagegenseins, unter Berücksichtigung ihrer Vorteile für den Knecht“, S. 76–88. Siehe hierzu auch unten, KAPITEL 12 (Sprache der verwalteten Welt). Vgl. außerdem Mettin: „‚Die Geburt des Unmenschen …‘ Sonnemanns Negative Anthropologie als Sprachkritik“. Der Artikel führt Überlegungen aus dem 8., 9. und 12. KAPITEL vorliegender Studie zusammen und stellt insofern eine Vorveröffentlichung ihrer Gedanken dar.
2Gleichwohl
8 Negative Anthropologie als Kritik …
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arbeitet diese Entlastung – mit Gehlens eigenem Lieblingswort, dessen Gebrauch die Institutionalisierung noch der Kunst als erstrebenswert vorschwebt3 – mit Anknüpfungen an das allgemeine Wahre Nietzsches vom nicht Festgestellten menschlichen Wesen schlechthin, das dann pfiffig einer nicht begriffshörigen: gerade unerträgliche Festgestelltheit bezeugenden Empirie unterschoben wird, statt seinem Sinn gemäß als Index ihrer Änderungswürdigkeit in der Praxis zu dienen. [Absatz] Solcher durchsichtigen Verblendung wird in Deutschland jetzt nicht hinreichend der Prozeß gemacht. Selbst die Ergreifung ewiger Wahrheit zur Sabotage an der Verewigung ihres immer sich auf sie berufenden Gegenteils steht noch aus. Indem negative Anthropologie sie versucht, verstrickt sie sich noch nicht in Widersprüche, denn die Herunterholung von Wahrem aus der Ewigkeit in die Zeit ist sein Umzug: ohne jener zu entsagen, wird es in dieser nicht heimisch.“ (NA, 141 f.)
Nicht ‚begriffshörig‘, dies wird gleich en Detail zu zeigen sein, ist Gehlens Interpretation des Nietzsche-Satzes, da sie nicht genau genug beim Begriff hinhört, der begrifflichen Konstellation nicht zuhört, deshalb aus dem noch-nicht-festgestelltSein alsbald eine ‚unerträgliche Festgestelltheit‘ machen kann, die sich dann als die Wahrheit eines ewigen Menschenwesens ausgibt. In gleichsam fundamentalontologischer Manier, das deutet Sonnemann oben an, sollen aus dem unfertigen Menschenwesen die grundlegenden Strukturen von Gesellschaft und Geschichte schlechthin hergeleitet, sollen aus dem Menschsein die existentiellen Gesetzte der menschlichen Welt abgelesen werden. Dann aber bedeutete das nicht-festgestellt-Sein des Menschen gar keine grundsätzliche Offenheit seiner geschichtlichen Entwicklung. Vielmehr würde aus der Grundstruktur menschlichen Lebens die stete Wiederkehr identisch bleibender Probleme und Lösungsversuche folgen, eben weil sie sich aus der spezifischen, nicht festgestellten Menschennatur ergäben.4 Die Kritik solcher Anthropo-Ontologie bedeutet, so Sonnemann, den ‚Umzug‘ des Wahren aus der Ewigkeit in die Zeit: Aus der überzeitlichen Wahrheit, die ein im Grunde gleichbleibendes Wesen des Menschen behauptet, muss folglich eine solche mit Zeitkern gemacht werden; mithin eine Wahrheit, die in ihren historischen Vermittlungen erkennbar wird, kein historisches a priori darstellt. Dies aber würde bedeuten, den Satz Nietzsches nicht als Wesensaussage zu interpretieren, aus der sodann allerhand Detailbestimmungen der menschlichen Welt hergeleitet werden. Vielmehr müsste die Formulierung zur Aufforderung
3Sonnemann
fügt hier folgenden Literaturhinweis ein: „Vgl. Arnold Gehlen, Zeitbilder. Frankfurt/Main 1960.“ – Gehlen widmet dem Begriff der Entlastung in diesem Buch ein eigenes Kapitel („XII: Die Entlastung“) und dort heißt es, bezogen auf die Malerei: „Keine Kunst ist heute ratloser, keine durch ihre eigene Propaganda schwerer geschädigt worden. […] Diese Kunst muss sich zu ihrem eigenen Aggregatzustand bekennen, dem der Suspension, ja der Levitation, sie muß sich selbst aus allen Zurechenbarkeiten heraushalten, sie hat ihre eigene Skala der Durchgangslebendigkeit, ihre künstlichen Paradiese für sich – sie muß entlasten.“ Arnold Gehlen: Zeitbilder, Frankfurt a. M. 1960, S. 227. 4Von dieser durch Sonnemann attestierten Verquickung von Gesellschaftstheorie und Fundamentalontologie sind aktuell unter dem Titel ‚Sozialontologie‘ firmierende Theorien im Übrigen möglicherweise gar nicht so weit entfernt. Das wäre allerdings Gegenstand einer eigenen Studie.
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8 Negative Anthropologie als Kritik …
genommen werden, sich dem Zeitlichen, also den historischen Entwicklungen der menschlichen Verhältnisse, zu widmen. Am notwendigsten ist dies dort, wo Zwangsläufigkeiten behauptet werden, ein genauerer Blick in solche Verhältnisse jedoch zeigt, dass diese gar keinen Zwangscharakter besitzen, die Geschehnisse keinem ewigen Fatum folgen. Ziel solcher Untersuchungen ist die Sabotage angeblichen Schicksals. Sonnemanns Entfaltung von Wahrheit in der Zeit ist somit Kritik einer positiven, oder treffender: positivistischen Anthropologie. Die Negative Anthropologie entwickelt diese Kritik wesentlich im Kapitel „Athanaton, Studien über Totaltheorie“ (NA, 143–223); sie lässt sich an der von Sonnemann selbst äußerst knapp gehaltenen Auseinandersetzung mit Gehlens Variante von Anthropologie exemplarisch nachvollziehen. Im Folgenden sei daher zunächst ein Blick in die Schriften Arnold Gehlens geworfen; gerade in solche Textstellen, die Sonnemann nicht zitiert, aber durchaus seine Argumentation und Interpretation stützen. Dabei gerät Gehlens Rekurs auf eine Natur des Menschen in Konflikt zum oben skizzierten Naturverständnis der Kritischen Theorie. Das Augenmerk liegt derweil auf der Sonnemannschen These von der Verkehrung des Wahrheitsgehaltes der Formulierung Nietzsches, die sich wie in einem Konzentrat in den zuletzt zitierten Sätzen aus der Negativen Anthropologie findet. Lässt sich also Sonnemanns These anhand Gehlens eigener Schriften erhärten?
Gehlens Theorie vom Mängelwesen Tatsächlich nimmt Gehlens erstes und anthropologisches Hauptwerk, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt,5 das Sonnemann allerdings nicht zitiert, Nietzsches Formulierung vom nicht festgestellten Tier zum Ausgangspunkt. In zweifacher Weise nämlich sei dem Menschen die Aufgabe der Selbstdeutung gestellt, wie Gehlen schreibt: „Genau dies hat Nietzsche einmal gesehen, als er den Menschen ‚das noch nicht festgestellte Tier‘ nannte. Dieses Wort ist richtig und exakt doppelsinnig. Es meint erstens: es gibt noch keine Feststellung dessen, was eigentlich der Mensch ist, und zweitens: das Wesen des Menschen ist irgendwie ‚unfertig‘, nicht ‚festgerückt‘. Beide Aussagen sind zutreffend und können übernommen werden.“6
Der ersten Aussagedimension entnimmt Gehlen die sich an philosophische Anthropologie richtende Aufgabe, jene noch ausstehende Feststellung zu leisten. Diese aber müsse sich dem Problem stellen, dass bislang der innere Zusammenhang von physis (ϕύσις) und lógos (λόγος) im Menschen noch nicht hinreichend dargestellt sei; ganz ähnlich also wie Schleiermacher dies gegen Kant einforderte. Philosophisches Nachdenken über den Menschen muss für Gehlen dabei
5Arnold
Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 41950. 6Gehlen: Der Mensch, S. 10.
Gehlens Theorie vom Mängelwesen
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allerdings nicht nur auf der Höhe der biologischen Forschung stattfinden, vielmehr soll die philosophische Bestimmung des Menschen aus der empirischen Biologie heraus ihre eigene Legitimation erst erhalten, soll der Philosophie gewissermaßen ein empirisches Fundament gegeben werden.7 Sehr bewusst also handelt Gehlens erstes großes Werk bereits dem Titel nach von einer (hier eindeutig biologisch verstandenen) Natur des Menschen. Die einheitliche Darstellung von „Morphologie und Psychologie, Leib und Seele“8 nimmt ihren Ausgang folgerichtig in der Betrachtung über den „Mensch[en] als biologisches Sonderproblem“9. Solche vermeintlich objektive, da naturwissenschaftlich-empirische Einsicht in die menschliche Physis zeige nun, so Gehlen, dass auch die zweite Bedeutung des Nietzsche-Zitates Gültigkeit behält: ‚Unfertig‘ und ‚nicht festgerückt‘ sei der Mensch als Lebewesen, da er physisch nicht eingepasst sei in eine bestimmte Umwelt, an spezialisierten Organen und Instinkten unterausgestattet, sodass die Welt ihn permanent reizüberflutet und bedroht. Der Mensch ist demzufolge ein „Mängelwesen“.10 Seine biologische Mangelhaftigkeit stellt ihn vor die Aufgabe, selber für das zu sorgen, was allen anderen Lebewesen durch ihre Naturanlagen gegeben ist: sich im Kampf ums Überleben behaupten zu können. Während früher bei Max Scheler und später bei Helmuth Plessner die Offenheit des menschlichen Wesens positiv konnotiert ist, schwingen in Gehlens vordergründig objektivwertfreien, da naturwissenschaftsgetreuen Abhandlung über das menschliche Naturwesen gesellschaftspolitische Stellungnahmen mit, die umso fragwürdiger erscheinen müssen, je weniger sie offen thematisiert werden und stattdessen als wissenschaftliches Definitionsverfahren auftreten. Deutlich mag dies an Formulierungen wie der folgenden werden: „Von hier aus ist eine Definition des Menschen als Zuchtwesen möglich. Diese Bezeichnung umfaßt alles, was man unter Moral verstehen kann, im anthropologischen Aspekt: die Zuchtbedürftigkeit, den Formierungszwang, unter dem ein ‚nicht festgestelltes Tier‘ steht, und von dem Erziehung und Selbstzucht, auch die Prägung durch die Institutionen, in denen die Aufgaben des Lebens bewältigt werden, nur die auffälligsten Stadien sind.“11
Hatte Gehlen einige Seiten zuvor selbst noch auf die schillernde Ambiguität der populären Nietzsche-Wendung vom ‚nicht festgestellten Tier‘ hingewiesen, so übergeht er stillschweigend an dieser Stelle die ganz andere Wortambiguität in seiner eigenen anthropologischen Bestimmung eines ‚Zuchtwesens‘. Angespielt wird durch den Kontext des Wortes zunächst nur auf die Bedeutung im Sinne
7Vgl. Gehlen: Der Mensch, S. 10: „Alles wird darauf ankommen, ob es möglich ist, in einer wissenschaftlichen, d. h. empirischen Analyse des Menschen diesen Gesichtspunkt zu entwickeln.“ 8Gehlen: Der Mensch, S. 12. 9Gehlen: Der Mensch, S. 13. 10Gehlen: Der Mensch, S. 9. 11Gehlen: Der Mensch, S. 64 f.
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8 Negative Anthropologie als Kritik …
von ‚Aufzucht‘, also eine an landwirtschaftliche Bearbeitung der Pflanzenwelt und mehr noch an Viehzucht erinnernde Vorstellung von Entwicklungsprägung, formuliert also in der unverdächtigen, da angeblich wertfreien Sprache der Biologie. Dass jedoch im gleichen Atemzug, insbesondere in dem Wort ‚Zuchtbedürftigkeit‘, eine zweite Bedeutung im Sinne von ‚Züchtigung‘ anklingt, also eine heteronome und gewalttätige Form, den individuellen Willen der ‚Zöglinge‘ zu brechen, wird nicht thematisch. Gleichwohl scheint die Wortwahl hier kaum zufällig, drängt sich vielmehr der Eindruck auf, es solle zwischen den Zeilen etwas mitgesagt werden, das expressis verbis im Text nicht zu finden ist: ein semantisches Feld von ‚Zucht und Ordnung‘, welches durch die biologisierende Redeweise hindurchschimmert. Doch selbst, wenn man nur der ersten Bedeutungsebene folgt, so ist diese keineswegs so wertfrei, wie die Anleihe an naturwissenschaftlicher Redeweise suggeriert. Zwar mag Gehlen durchaus zutreffend darauf hinweisen, dass im Gegensatz zu anderen Lebewesen die menschliche Entwicklung weniger nach einem fixen Schema verläuft, dadurch auch störungsanfälliger ist. Jedoch folgt daraus nicht zwangsweise eine gesteigerte ‚Zuchtbedürftigkeit‘ resp. ein entsprechender ‚Formierungszwang‘; genauso gut nämlich ließe sich vor diesem Hintergrund von einer grundsätzlichen Möglichkeit zur Kultivierung des menschlichen Lebens sprechen, wie gegen Ende des 7. Kapitels vorgeschlagen.12 In Gehlens Theorie jedoch wird aus der Offenheit des Menschentiers bei Nietzsche eine geradezu „unerträgliche Festgestelltheit“ (NA, 141), und zwar ausgerechnet durch jene vermeintlich objektive Empirie, wie Sonnemann dies zutreffend registriert. Für Nietzsche noch war die Rede vom Menschen als Tier polemisch gegen bestimmte Formen religiöser Moral gerichtet, die alles Leibliche als menschenunwürdig verteufelte und deren Hang zu Askese und Verklärung von Leid der Aufrechterhaltung einer tatsächlich den menschlichen Möglichkeiten unwürdigen Welt diente.13 Dagegen auf die Erfüllung von Glück zu beharren, auf die „Liebe zum Menschen ohne irgendeine heiligende Hinterabsicht“ als „Zartheit“ und „Thierheit“,14 bedeutete für Nietzsche, einer moralinsauren
12Zur
Kritik an Gehlens Begriff vom ‚Zuchtwesen‘ siehe auch Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik [1958], Nachgelassene Schriften IV/2, Berlin 2010, S. 33 f. 13Vgl. folgenden, satirisch-polemischen Passus aus Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 81: „Vielleicht ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, – und gerade diese Härte thut not! – bei sich festzuhalten.“ 14Alle Zitate Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 79. Das wäre zumindest eine mögliche Lesart des dritten Hauptstückes zu Jenseits von Gut und Böse. Dass der Text durchaus etwas Schillerndes hat, sich dort neben dem Plädoyer für Glück und Zartheit auch ganz andere Töne vernehmen lassen, die etwa an das sogenannte ‚Recht des Stärkeren‘ oder zumindest einen gewissen Elitismus erinnern, soll hier nicht verschwiegen werden. Gleichwohl ließe sich argumentieren, dass Nietzsche wohl weniger sozialdarwinistischen Gedanken anhängt, als vielmehr mit einem ideologischen Verfallsprodukt des Humanismus hart ins Gericht geht.
Gehlens Theorie vom Mängelwesen
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esellschaftsordnung zu widersprechen, innerhalb derer die unnötige Produktion G von Leid mit dem Schein von Sinnhaftigkeit belegt wird. Ganz anders dagegen präsentiert sich Gehlens Variante des Themas, die laut Sonnemann zu seiner Verkehrung wird. Unvorstellbar ist es nämlich, so erfahren wir weiter von Gehlen, dass es ein Lebewesen gibt, das nicht nach naturgegebenem Plan lebt, keine feste Ordnung kennt und derart unfestgestellt dennoch leben kann: „[W]ie bringt es denn der Mensch angesichts seiner Weltoffenheit und der Instinktreduktion bei aller potentiell in ihm enthaltenen unwahrscheinlichen Plastizität und Unstabilität eigentlich zu einem voraussehbaren, regelmäßigen, bei gegebenen Bedingungen denn doch mit einiger Sicherheit provozierbaren Verhalten, also zu einem solchen, das man quasi-instinktiv oder quasiautomatisch nennen könnte, das bei ihm an Stelle des echt instinktiven steht und das offenbar den stabilen sozialen Zusammenhang erst definiert? So fragen, heißt das Problem der Institutionen stellen.“15
Folgerichtig erfüllen bei Gehlen die menschgemachten Institutionen die Funktion einer „zweite[n] Natur“;16 ein Begriff, der auch in der Kritischen Theorie seinen Platz hat. Letztere insistiert in ihrer Begriffsverwendung allerdings immer auch auf dem Schein- sowie Gewaltcharakter solcher Zweitnatürlichkeit aller menschlichen Gesellschaft bis heute. Aus dieser Perspektive stabilisiert sich zwar der soziale Zusammenhang tatsächlich zu ‚quasiautomatischen‘ Abläufen, Gewohnheiten, schließlich Institutionen. Doch hat diese Deskription gesellschaftlicher Verhältnisse die Pointe, den quasi- und pseudonaturhaft vonstattengehenden ‚Formierungszwang‘ (wie Gehlen dies nennt) als einen nur scheinbar naturhaften zu dechiffrieren; dadurch einen Teil jener Zweitnatürlichkeit im Lichte ihrer (gesellschaftlichen wie historischen) Änderungsmöglichkeit erscheinen zu lassen. Bei Gehlen hingegen scheint die Deskription der Gesellschaft als zweiter Natur gewissermaßen einen präskriptiven Unterton zu haben, denn jene kulturell geleistete Formierung zu einer relativ stabilen sozialen Ordnung ist um beinahe jeden Preis aufrecht zu erhalten, damit das Mängelwesen nicht in den Stand seiner naturhaften Mangelhaftigkeit zurückfällt, in welchem es, ohne die bestehenden Institutionen, umkommen müsste: „Werden die Institutionen zerschlagen, so sehen wir sofort eine Unberechenbarkeit und Unsicherheit, eine Reizschutzlosigkeit des Verhaltens erscheinen, das man jetzt als triebhaft bezeichnen kann. Auch ist es einer der empörendsten Eindrücke, die es gibt, wenn die Tugenden nach Zerfall der Institutionen, in denen sie sich in charaktervoller Beschränktheit entwickelt hatten, auf den Einzelnen zurückfallen und sich als Verwirrung und Ratlosigkeit reflektieren.“17
Die verallgemeinernde Formulierung ‚die Institutionen‘ erweckt den Eindruck, dass tatsächlich keine einzige der bestimmenden gesellschaftlichen Einrichtungen
15Gehlen:
Der Mensch, S. 84. Der Mensch, S. 85. 17Gehlen: Der Mensch, S. 84 f. 16Gehlen:
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8 Negative Anthropologie als Kritik …
infrage gestellt werden darf, da sonst das ganze Gesellschaftsgefüge in sich zusammenbricht und damit menschliches Leben aus den Fugen gerät, eben weil es Naturanlage des Menschen sei, nur nach durchlebtem Formierungszwang, also strenger sozialer Ein- wie Anpassung, wirklich lebensfähig zu sein. Zu den wichtigsten Funktionen der zweitnatürlichen Institutionen rechnet demgemäß die „Entlastung“, laut Gehlen „eine wesentliche Kategorie der Anthropologie“.18 ‚Entlastung‘ meint dabei die Übernahme lebenswichtiger (auch lebenserhaltender) Funktionen durch Instanzen, die den Individuen übergeordnet sind. Die Individuen, die nach Gehlens Theorem vom Mängelwesen auf sich allein gestellt nicht lebensfähig wären, geben einen Teil ihrer Lebensführung in die Hand solcher Institutionen und erst so können sie ein Leben führen. In obigem Zitat erweist sich ‚Entlastung‘ allerdings tendenziell auch als eine Entlastung von Reflexion und Kritik, in welchen Gehlen offenbar weniger das Potential zur Herstellung menschlicherer Zustände, sondern wesentlich stärker die Gefahr erblickt, dass die Welt, welche die Menschen zu denen gemacht hat, die sie sind, ins Wanken gerät. Von einer allzu zügellosen Vernunft befürchtet Gehlen wohl eine Sprengkraft, die das kulturell mühsam errichtete, gesellschaftliche Gefüge bedroht: wenn schon die erste Natur dem Menschen keine Ordnung gebe, so müsse doch wenigstens die zweite in Ordnung bleiben, könnte man Gehlens Thesen polemisch pointieren. Es stellt sich jedoch die Frage, wie sich dieses Plädoyer fürs Aufrechterhalten ‚der Institutionen‘ rechtfertigen lässt angesichts einer gesellschaftlichen Realität, die in hohem Maße Leid produziert, auch und gerade durch ihren Formierungszwang. Mit der impliziten Warnung, dass man nicht zu viel infrage stellen dürfe, um nicht den von Natur aus fragilen und bedrohten Menschen zu gefährden, scheint diese Frage von vornherein diskreditiert. Erstaunlich derweil, dass Gehlen für dieses Projekt ausgerechnet Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache ins Feld führt. Für den Theoretiker des Mängelwesens scheinen dabei insbesondere diejenigen Passagen aus der Abhandlung von Belang, die seiner Theorie zweckdienlich sind: „Es ist bewundernswert, wie Herder hier die biologische Hilflosigkeit des Menschen, seine Weltoffenheit und die ‚Zerstreutheit seiner Begierden‘ in ihrem inneren Zusammenhang sieht.“19 Und weiter heißt es: „Herder hat das geleistet, was jede philosophische Anthropologie […] zu leisten verpflichtet ist: die Intelligenz des Menschen im Zusammenhang seiner biologischen Situation, seiner Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bedürfnisstruktur zu sehen“.20 Zwar ist es vollkommen zutreffend, dass Herder die Sprach- und Vernunftfähigkeit des Menschen auch aus seiner ‚natürlichen‘ Verfasstheit als Lebewesen herleitet, wie weiter oben im 6. Kapitel dargestellt. Während Gehlen jedoch die biologische Struktur des Menschen als grundsätzlich schwach und mangelhaft, gar ‚hilflos‘ begreift, stellt
18Gehlen:
Der Mensch, S. 65. Der Mensch, S. 89. 20Gehlen: Der Mensch, S. 90. 19Gehlen:
Gehlens Theorie vom Mängelwesen
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für Herder die Zerstreutheit menschlicher Fähigkeiten gerade ein unermessliches Potential und keine Bedrohung dar. Ganz deutlich zeigt sich diese Differenz an der Stellung zur Reflexion. Keineswegs wird sie von Herder als ein Störfaktor menschlicher Lebensführung betrachtet, wie man Gehlen dies nach obigem Zitat vorhalten könnte. Im Gegenteil: sie ist als „Aufmerken“ conditio sine qua non für eine sprachliche Beziehung zur Welt, ohne die kein menschliches Leben wäre.21 Doch nicht nur Herders Sprachtheorie, in mehrfacher Weise werden auch Nietzsches Überlegungen von Gehlen in Der Mensch derart auf den Kopf gestellt. Denn den letzten Zitaten zufolge muss neben der Reflexion auch einem allzu freizügigen Ausleben der triebhaften Seite menschlicher Natur ein Riegel vorgeschoben werden, damit das per se gefährdete Mängelwesen sein Leben überhaupt führen könne. Solche Ausführungen zum Triebleben erinnern nun wieder an Nietzsches Wort vom Menschen als Tier. Verbarg sich hinter dessen Plädoyer für eine ‚zarte Tierheit‘ des Menschen die Idee eines sublimen wie sublimierten Auslebens somatischer Impulse und Bedürfnisse, so erhält die Rede vom Triebhaften bei Gehlen eher einen pejorativen Ton. Ohne das Korsett gesellschaftlicher Institutionen ließen sich die Individuen von chaotischen Impulsen treiben; in der streng geordneten Welt der Institutionen wiederum ist kein Platz für solche Impulsivität. Das in vorliegenden Untersuchungen mit Sonnemann zu entwerfende Konzept einer zugleich somatisch tingierten wie freiheitsermöglichenden Sprache, welches sich auch auf Herders wie auf Nietzsches Sprachtheorien bezieht, ist der Gehlenschen Konzeption damit geradezu konträr: Bei Gehlen scheinen die (sprachlichen) Formen menschlichen Lebens nicht primär das seinen Anlagen nach weltoffene und vernunftbegabte Tier in die Freiheit hinauszuführen, sie dienen ungleich stärker als ein Züchtigungsmittel, um es in eine Welt einzupassen, die bleiben soll, wie sie ist. Nicht die Aneignung sprachlicher Regeln und sozialer Konventionen (nach Gehlens Terminologie durchaus Institutionen) scheint hier das Ziel, also nicht ihr zur Mündigkeit befähigendes Erlernen, das gegebenenfalls auch bedeuten kann (und muss), solche Regeln und Konventionen infrage zu stellen, über sie hinaus zu gelangen.22 Vielmehr scheint die einzige Chance des Mängelwesens Mensch, ein einigermaßen ungestörtes und geregeltes Leben zu führen, Gehlen zufolge in der mehr oder minder unhinterfragten Einpassung in die institutionalisierten Verhältnisse zu bestehen. In Kürze zusammengefasst: Aus dem biologischen Nichtfestgestelltsein, das mit dem Mangelcharakter des Menschen gleichgesetzt wird, folgert Gehlen präskriptiv die Notwendigkeit der Verfestigung menschlicher Existenz durch und in Institutionen.
21Vgl.
Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, S. 32; sowie oben, Kaptiel 6, Fußnote 57. 22Siehe oben, Kaptiel 2. Zumindest hätte tatsächliche Befähigung zur Sprache immer auch Befähigung zum reflexiven wie kritischen Denken zur Folge, welches dann sprachliche und mehr noch andere Institutionen zum Gegenstand von Kritik machen könnte.
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Geschichtsverdrängung? Dieses Konzept aus seinem Frühwerk nimmt Gehlen in späteren Texten verschiedentlich wieder auf und führt es fort, so insbesondere in Urmensch und Spätkultur; in ebenjenem Werk also, auf welches sich Sonnemanns Kritik in der Negativen Anthropologie bezieht. Gehlen verdeutlicht hier die Implikationen seiner Anthropologie, die jetzt sogar eine „Philosophie der Institutionen“23 genannt wird. So verkehrt sich abermals und in der Formulierung vielleicht noch drastischer jene Rede Nietzsches vom noch nicht festgestellten Tier: „Daß der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, hat umgekehrt die Folge, daß er sich von den historisch gewachsenen Wirklichkeiten konsumieren lassen muß, und das sind wieder die Institutionen: der Staat, die Familie, die wirtschaftlichen, rechtlichen Gewalten usw. Sieht man das klar, dann steht man vor der neuartigen Aufgabe, die Verselbständigung und Autonomie, welche die Institutionen gegenüber dem Einzelnen gewinnen, aus der Natur des Menschen abzuleiten“.24
Aus Nietzsches Einspruch gegen positive Anthropologie entspinnt sich bei Gehlen gleichsam unter der Hand doch ein Wesenskern: Die geschichtliche Existenz des Menschen bedrohe zugleich die gesellschaftliche Ordnung, welche einzig das Mängelwesen tragen könne. Unter solcher Wesensbestimmung jedoch zergehen die realen geschichtlichen Begebenheiten, die nur als variierende Erscheinung eines im Grunde gleichbleibenden Dilemmas in der menschlichen Natur registriert werden. So wird gerade die Reflexion über das Bestehende, die Kritik von Verhältnissen, die alles Menschliche ‚konsumieren‘, a priori abgewertet. Gehlen spricht ja nicht einfach davon, dass (im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen) menschliches Leben sich nicht aufgrund von Naturanlagen, sondern wesentlich aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen formt, die zweite Natur des Menschen tatsächlich an die Stelle der ersten tritt.25 Darüber hinaus werden die konkreten Formen, die Verselbständigungen, der menschgemachten Welt aus der Grundstruktur des Mängelwesens (seinem ‚Formierungszwang‘) abgeleitet und damit in ihrer Dynamik für grundsätzlich unveränderbar erklärt. Im Autonomwerden und Konsumierenden sozialer Institutionen, von denen Gehlen oben spricht, klingen implizit ökonomische Kategorien und Verhältnisse an, die auch Marx beschrieb; nur dass Letzterer die Möglichkeit ihrer Änderung in Aussicht stellen wollte, sobald einmal ihr Automatismus entschlüsselt, ihr mythologischer Charakter
23Arnold
Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [1956], Frankfurt a. M. & Bonn 21964, S. 8 f. 24Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 8. 25Vgl. Theodor W. Adorno: „Die Idee der Naturgeschichte“ [1932], in: AGS 1, S. 345–365, hier S. 365: „Es ist in Wahrheit die zweite Natur die erste. Die geschichtliche Dialektik ist nicht bloße Wiederaufnahme umgedeuteter urgeschichtlicher Stoffe, sondern die geschichtlichen Stoffe selber verwandeln sich in Mythisches und Naturgeschichtliches.“ – Letzteres, könnte man hinzufügen, auch bei Gehlen, sofern er eben geschichtlich Gewordenes zu naturalisieren tendiert.
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zerschlagen wäre. Gehlen dagegen erklärt die Verselbständigungstendenzen der konkreten, der (wie er schreibt) ‚historisch gewachsenen Wirklichkeiten‘ für gewissermaßen naturnotwendig, womit ihre Änderbarkeit zurückgewiesen zu sein scheint. Oder was sonst bedeutet es, das Autonomwerden der Institutionen (aus Perspektive der Menschen müsste man sagen: ihr Heteronomwerden) aus menschlicher ‚Natur abzuleiten‘? Damit aber ist Geschichte auch nicht mehr derjenige Ort, an dem die verselbständigten Prozesse der Vergesellschaftung in vernunftgeleitete überführbar wären, an dem also verschiedene Kräfte miteinander ringen und von denen menschliche Vernunft eine ist. Den ‚historisch gewachsenen Wirklichkeiten‘ wird offenbar beinahe uneingeschränkte Geltungsmacht zugestanden. Der Bewegung solcher verselbständigten Gewalten sind die Menschen dann fast genauso unterworfen wie alle anderen Lebewesen den mechanisch wirkenden Naturgesetzen. Vordergründig scheint aus Gehlens Anthropologie damit zwar ein gewisses historisches Bewusstsein zu sprechen, denn selbstredend wird den Institutionen eine Entwicklung zugestanden, ließe sich also so etwas wie eine philosophische Institutionengeschichte schreiben. Gerade das ist der Anspruch von Urmensch und Spätkultur: von den Frühformen menschlicher Vergesellschaftung bis hinein ins industrielle Zeitalter sollen sich verschiedene Entwicklungsstadien der Institutionen ablesen lassen. Allerdings seien diese Stadien allesamt Ergebnisse der transhistorischen Grundkonstitution des Menschseins, seines Entlastungsbedürfnisses, und damit im innersten Kern invariant. Für diese Lehre Arnold Gehlens – in Sonnemanns Worten, dessen Kritik26 in der vorangehenden Darstellung zweifelsohne schon durchklang, ein „bewußtgewordene[r] Institutionalismus“ (NA, 180 f.) –, für diese spezifische Anthropologie also dürfte die oben bereits zitierte These mancher Philosophiehistoriker zutreffend sein, dass in Hinwendung zu Fragen nach der Natur des Menschen zugleich Fragen der Geschichte degradiert und depraviert werden.27 Gehlens Theorie, die
26Dietmar
Kamper hat darauf hingewiesen, dass Sonnemanns Negative Anthropologie als Einspruch gegen solche Schicksalskonzepte entscheidender Stichwortgeber für das spätere Projekt einer historischen Anthropologie war; vgl. Dietmar Kamper: „Denken des Selben, Wahrnehmen des Anderen. Über die Zeit als Abgrund in der Historischen Anthropologie“, in: Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß. Zur Gegenwärtigkeit Kritischer Theorie, S. 91–99, hier S. 92; sowie Dietmar Kamper: Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger Anthropologiekritik, München 1973, S. 92–99. 27Diese These vertreten sowohl Odo Marquard als auch Oswald Schwemmer in ihren Wörterbuch-Artikeln zur Anthropologie. Schwemmer allgemein zur Anthropologie: „Der Rückgriff auf eine solche Natur des Menschen läßt sich verstehen als Versuch, in Situationen bedrohter oder fehlender Gemeinsamkeit hinsichtlich grundlegender Lebensorientierungen, Handlungsziele oder Redenormen (d.i. in Krisensituationen) wieder eine Gemeinsamkeit herzustellen“ Schwemmer: „Anthropologie“, S. 153. Und Marquard zur Anthropologie Gehlens: „Sie begreift alle Leistungen des Menschen als ‚Entlastung‘ von seiner natürlichen Mängellage und die Kultur als das große Arrangement einzig zu dauerhafter Vermeidung des Umkommens: Instanz der Geschichte werden Naturprobleme des Menschen.“ Marquard: „Anthropologie“, S. 371. – Siehe hierzu Kaptiel 7 (Anthropologie versus Gesellschaftstheorie?).
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v orgibt, zumindest als Institutionsgeschichte Ausdruck menschlicher Geschichte zu sein, wäre dann womöglich eher eine Verdrängung von realgeschichtlichen Betrachtungen. Diese nämlich reflektieren auch auf gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, was bei Gehlen jedoch unter Räsonnementverdacht steht. Reflexion taucht mithin als eine Vokabel aus dem Bereich des bloßen ‚Innenlebens‘ der Menschen auf, nicht als theoretische Kategorie, und muss dann konsequenterweise entgegen der objektiven Empirie als subjektivistisch verworfen werden. Zudem gefährde diese Subjektivität potentiell schon die Stabilisierung der ansonsten überforderten Lebensvollzüge des Mängelwesens, weil sie die Aufmerksamkeit in übertriebenem Maße auf diejenigen Dinge richte, die einer funktionierenden Lebensführung gerade zuwiderliefen. Gehlen schreibt diesbezüglich: „Als besondere, der Subjektivität zugeordnete Verarbeitungsform kann die Reflexion eintreten. Dann wird die Raffinierung des auf sich selbst zurückgefallenen Seelenlebens einer hohen Verfeinerung fähig, der verwirklichte Zufall der Ideale und Wertgefühle hat seine eigene Produktivität in einer staunenswerten Differenzierung des Psychischen, die sich unmittelbar in Federarbeit fortsetzt, sich im psychologichen Roman niederschlägt oder von innen her in die Geisteswissenschaften eindringt. Überall werden in noch nicht dagewesener Reflexionsbewußtheit die kleinsten seelischen Regungen, die sonst einfach weggelebt wurden, in ihren Besonderheiten abgehört.“28
Freilich spricht Gehlen hier primär von psychologischen Reflexionen, doch scheint ihm auch philosophische Reflexion in ähnlicher Weise suspekt, sofern sie sich von den angeblich objektiven Fakten der Empirie in die viel abstrakteren Gefilde jener Idealität begibt. Hier erweckt die Reflexion auf Moralität und Humanität, angesichts derer sich die je spezifische Unmenschlichkeit innerhalb der Geschichte überhaupt erst als solche benennen lässt, den Eindruck, es handele sich bei ihr vorrangig um ein Moment innerer Erbaulichkeit. Sonnemann nun, zurück zum Text der Negativen Anthropologie, sieht in der vermeintlichen Objektivität jener „empirischen Philosophie“29 Gehlens ein gut kaschiertes Interesse. Gehlens Theorie spiele nämlich eine „versteckt […] politische Rolle […] zur Ablenkung und Verhinderung gesellschaftlicher Emanzipation“ (NA, 185), nicht zuletzt indem sie sich auf die vermeintlich objektive Naturwissenschaft stützt. Zutage tritt das Versteckte besonders dann, wenn man sich entgegen der Einwände Gehlens mit den Kleinigkeiten und Unauffälligkeiten befasst, die als seelische schnell ‚weggelebt‘, als philosophische ebenso schnell überlesen werden können. Sonnemann hört in seiner GehlenLektüre jedoch sehr genau hin (ganz entgegen also obigem Einwand gegen das Abhorchende in der Reflexion), nimmt Gehlen streng beim Wort. An folgendem
28Gehlen:
Urmensch und Spätkultur, S. 114. In diesem Kontext bezieht sich Gehlen auch auf Freud. 29Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 8.
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Exempel aus der Negativen Anthropologie, die wiederum eingangs aus Urmensch und Spätkultur zitiert, wird dies überaus deutlich: „‚Der moralische Kampf, der die Phantasie früherer Zeiten beschäftigte, sinkt zu etwas Unbedeutendem herab, er wird so etwas wie eines jener verkümmerten Organe, die keine Funktion mehr verrichten, eine Art Blinddarm. Und der neuartige natürliche Mensch verändert sich mit den Umständen, man kontrolliert ihn, indem man die Umstände kontrolliert.‘30 Pfiffiger nie wurde vom ‚Primat des Seins über das Bewußtsein‘ gegen das Bewußtsein, dem er sich enthüllte, Gebrauch gemacht, solcher Gebrauch jedenfalls projektiert. Ausführende Organe wurden in Deutschland erst Goebbels, dann die Springer-Presse. Mit Recht gedieh Gehlens Sein unter der verantwortungsethischen Bewußtseinsregie beider.“ (NA, 182)
Der ‚neuartige natürliche Mensch‘, von dem Gehlen spricht, das ist das naturalis tische Bild vom Menschen als Lebewesen, über das die Biologie mehr Autorität habe als das, was ehedem Geist genannt wurde, nun ins Reservat der Geisteswissenschaften geschickt, und für das im Gehlen-Zitat der ‚moralische Kampf‘ als geistig-praktische Auseinandersetzung mit der Welt einen Platzhalter darstellt. Subtiler als in der oben genannten Rede vom ‚Zuchtwesen‘ äußert sich hier der Gehlensche Naturalismus in der Aneignung der Metapher vom ‚Blinddarm‘. Wie sich in der Welt der Lebewesen vermeintlich alles nach einem naturgegebenen Plan entwickelt, alles einen Zweck hat und Zweckloses abstirbt, so hatten auch Innerlichkeit, Reflexion, Gewissen – nach Gehlen die „Fakteninnenwelt“ – einmal eine Funktion; wohl diejenige, einen Sinn zu stiften.31 Heute aber sei sie dem Blinddarm gleich überholt, da nicht Bewusstsein und Reflexion über die bedürfnisgerechte Einrichtung der Welt entschieden, vielmehr das Sein, mithin die Naturbedingungen des Menschen. Sonnemann interpoliert nun an dieser Stelle, nimmt die Metapher ganz buchstäblich: „Daß der Blinddarm, als den Gehlen den moralischen Kampf im neuartigen, modernen Menschen bestimmt, nicht nur nutzlos, sondern auch entzündbar ist, übersieht er: eine metaphorische Unaufmerksamkeit, deren Automatisches selbst bereits zum Symptombild dieser Art Appendizitis gehört. Bricht sie in einem durch, der über den Menschen als ein handelndes Wesen mit der gewissenhaften Seriosität immer neu nachdenkt, die er als schwelgerischer Theoretiker einer an Wehrlosen sich erprobenden Tapferkeit, der neuen Ordnungen des deutschen Daseins, die sie unvergeßlich – außer in Deutschland selber – heraufführte, schon 1935, tapfer mitmachend, unter den Beweis seiner souveränen Distanz stellte, ist, was durchbricht, ein wishful thinking von Torquemada-artigem Leichengeruch. Nicht nur ist letzterer hier die Sache selbst, sondern auch deren Parfum: als seien menschlichen Wünschen nach unten hin Grenzen gesetzt, ja als hätte in seinen einsamen Nachtstunden nicht schon mutmaßlich Torquemada selbst sich entlastet, scheint es gerade sein Terroristisches für die Gewähr seiner Glaubwürdigkeit zu erachten: dessen, daß man es für so objektiv, so fachmännisch unbeirrbar und kalt analytisch hält, wie es tut.“ (NA, 184)
30Gehlen:
Urmensch und Spätkultur, S. 108; Hervorhebungen Ulrich Sonnemann. Gehlen zitiert an dieser Stelle seinerseits Edwin Muir, macht sich dessen Position allerdings deutlich zu eigen. 31Vgl. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 107–114.
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Offenkundig spricht Sonnemann nicht nur von der Theorie Gehlens, sondern vom Theoretiker selbst und von dessen Rolle als sich zum Nationalsozialismus bekennenden Hochschullehrer. Mit einem Verweis auf gebotene akademische Redlichkeit mag sich dieses ad-hominem-Argument recht einfach beiseite wischen lassen, indem man auf der Trennung von Werk und Person insistiert.32 Sonnemann indes fasst genau jene Trennung als Ausdruck eines fragwürdigen Theorieverständnisses, besonders dann, wenn es um die Theorie vom Menschen geht. Die Gebärde der ‚souveränen Distanz‘ zum Gegenstand muss spätestens dort fehlgehen, wo der Gegenstand, das Objekt der Theorie, zugleich auch deren Subjekt ist. Und so klingt denn für Sonnemann in Gehlens permanenter Theoretisierung eines Entlastungsbedürfnisses auch das ‚wishful thinking‘ eines ehemaligen Nazis an, scheint mit Entlastung ebenso eine solche von der Verantwortung fürs eigene Denken wie Handeln gemeint. Aktives Mitmachen in der nationalsozialistischen Bewegung, so ließe sich obige Polemik – Sonnemanns zeitgeschichtlich bedingte Involviertheit klingt in ihrem drastischen Tonfall freilich deutlich durch – ausdeuten, werde mit zynischem Verweis auf die zum Überleben notwendige Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse, deren Institutionen, zum höchstenfalls passiven ‚Mitläufertum‘ umgedeutet; auch indem Verantwortung als veraltete Kategorie eliminiert werde. Sonnemanns Verweis auf den spanischen Inquisitor Torquemada spielt dabei implizit auch auf die Geschichte des Antisemitismus und der Judenverfolgung an, wurden von der Inquisition des späten 15ten Jahrhunderts doch zahlreiche Juden ermordet. Diesen (und andere) Vorläufer überbot dann bei weitem der deutsche Vernichtungsantisemitismus des 20ten Jahrhunderts. Nun müssten mit Gehlenscher Terminologie wohl auch die Behörden der Judenverfolgung als Institutionen bezeichnet werden. Sollten solche sozialen Gebilde nach Gehlens Theorie der Aufrechterhaltung von Ordnung zum Schutz des überforderten Mängelwesens dienen, zeigt sich seine Philosophie der Institutionen angesichts der deutschen Geschichte in ihrer ganzen Zweifelhaftigkeit. Terrorstaatliche Einrichtungen wie SS und Reichssicherheitshauptamt hatten nämlich keineswegs den Schutz von Menschenleben zum Ziel, sondern gerade die Vernichtung von Juden. Zudem täuschen, so Sonnemann im Zitat weiter oben, die gängige Rede von ‚ausführenden Organen‘ oder andere funktionalistische Beschreibungen darüber hinweg, dass an allen Stellen solcher (vermeintlich verselbständigten) Institutionen immer auch Personen (die persönlich verantwortliche Täter werden können) zu finden sind und eben nicht bloß apersonale Strukturen und Verwaltungsvorgänge.
32Für
eine solche Trennung plädiert etwa Christian Thies: Arnold Gehlen zur Einführung, Hamburg 2007, S. 15–19. Anders dagegen beispielsweise Christian Graf von Krockow, der Gehlens Philosophie gar als „die faschistische Theorie“ beschreibt: „Punkt um Punkt zeigt sich damit Gehlens Theorie als Bestätigung jener Entscheidungs- und Entschlossenheits-Ideologie der zwanziger Jahre […] – auch oder gerade in der Form, die sie in Hitlers ‚Mein Kampf‘ annimmt“; Christian Graf von Krockow: Die Deutschen in ihrem Jahrhundert, Reinbek 1990, S. 362.
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Naheliegend wäre nun der Einwand, dass Sonnemann ein bloßes Klischee der Philosophie Gehlens beschreibt, es sich dadurch mit seiner radikalen Kritik allzu einfach macht und einige möglicherweise diskussionswürdige Aspekte dieses Denkens zu leichtfertig verwirft. Sicher ist nicht jedes Nachdenken über die Bedeutung von Institutionen gleich unter Ideologieverdacht zu stellen, wäre es gar naiv zu glauben, ein vernünftiges menschliches Zusammenleben wäre ohne jedwede Form von Institutionalisierung zu haben.33 Gehlens „Verhinderung gesellschaftlicher Emanzipation“ (NA, 185) besteht denn auch sicherlich nicht einfach in seinem Theoretisieren institutioneller Aspekte menschlichen Lebens. Sonnemann selbst hat in zahlreichen eingreifenden Texten gerade in Justizfragen darauf insistiert, sich an rechtsstaatlichen (und damit institutionalisierten) Prinzipien zu orientieren, diese Institutionen also vehement verteidigt.34 Doch hat es einen triftigen Grund, dass Sonnemann hinsichtlich der Theorie Gehlens kaum Zugeständnisse macht: Die Kritik von Theorie ist auch eine ihrer Sprache. Und so mag das Lesen zwischen den Zeilen bisweilen Entscheidendes über die Konsequenz einer Theorie offenlegen, das Hinhören auf die impliziten Bedeutungsschichten der Worte diese dann explizieren. Auch weil die Assoziationen und Anklänge, die Gehlens Vokabular aufruft, kaum bloß zufällige sein dürften, lässt sich eine (wenn man so will:) metaphorologische Herangehensweise wie die Sonnemannsche hier rechtfertigen. In der Zuspitzung und Übertreibung, die Sonnemann beispielsweise in der polemischen Deutung und Wendung der Blinddarm-Metapher vornimmt, offenbart sich sodann der entscheidende Unterschied zwischen Gehlens positivistischer und Sonnemanns negativer Anthropologie: Der Lauf der Geschichte ist für Sonnemann kein Anthropologicum, nicht das Ergebnis einer unaufhaltsam in der menschlichen Natur waltenden, zerstörerischen Dynamik, sondern gerade Mangel an einer Humanität, die es überhaupt erst zu erreichen gilt. Entgegen der Anthropologie Gehlens, die im Rekurs auf eine angeblich invariante Naturanlage die gegebenen Verhältnisse weniger deskriptiv als vielmehr präskriptiv theoretisiert, besteht für Sonnemann die Aufgabe negativer Anthropologie in der „Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit“ (NA, 224). Hierzu muss sich kritischer Geist in genauer Aufmerksamkeit den Sedimenten menschlicher Geschichte zuwenden, nicht der Lehre angeblicher Invarianten. Kritikwürdig ist nicht das Nachdenken über Institutionen, sondern dass dieses Nachdenken (mit Sonnemanns Wort) in einen ‚Institutionalismus‘ mündet, als ob der Geltungsanspruch der nun einmal bestehenden Institutionen per se unhintergehbar und gerechtfertigt sei.
33So
versucht etwa Frank Kannetzky, Gehlens Lehre von den Institutionen (teilweise gegen Gehlens eigene Intention) als Beschreibung der Möglichkeitsbedingungen von Autonomie zu lesen; vgl. Frank Kannetzky: „Person, Handlung und Institution. Arnold Gehlens Beitrag zu einer Theorie der Personalität“, in: Frank Kannetzky, Henning Tegtmeyer (Hg.): Zwischen Führerkult und Mängelwesen. Zur Aktualität Arnold Gehlens (= Philokles H. 1/2 2005), S. 69–92. 34Siehe hierzu Band 6 der Sonnemann-Schriften: Der mißhandelte Rechtsstaat, Springe 2020.
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Auf den Begriff einer kritischen Aufmerksamkeit, den Sonnemann in Negation zum Gehlenschen Institutionalismus und zu dessen unerwartetem Nachleben entwickelt, wird im 12. Kapitel noch einmal zurückzukommen sein. Zunächst jedoch soll einer Spur nachgegangen werden, die sich in Gehlens Theorie zwar fortsetzt, jedoch selbst viel älter ist, womit zugleich zum Hauptthema dieser Studie zurückzukehren wäre: einer kritischen Philosophie des Hörens, die sich an ihrem Gegenteil, nämlich einer unkritischen und positivistischen Optik, abarbeitend bildet. Denn nicht nur in Gehlens Schriften äußert sich für Sonnemann eine „Sehnsucht nach Totaltheorien, in denen die Menschen endlich wieder sicher ruhen können: als sei ihr Sedationseffekt, nicht ihre Wahrheit, das für Theorien angezeigte Kriterium“ (NA, 180).35 Die Sedierung erfolgt dabei nicht zuletzt als Festsehen an den Abbildern, die aus einer falschen Spaltung der Welt in beobachtendes Subjekt und beobachtetes Objekt resultieren und die für Sonnemann das Vermächtnis der Methodologie des René Descartes darstellen. In den kommenden zwei Kapiteln sind daher zunächst diese Methodologie und ihr Fortleben zu rekonstruieren. Sodann wird darzustellen sein, worin die spezifische Verdinglichungsgefahr jener ‚Theorie-Optik‘ besteht.
35Sonnemanns
Bemerkung ist hier vor allem an Sartre gerichtet, gilt aber ungleich mehr noch für Gehlens Theorie, was im Kontext des Abschnittes implizit deutlich wird.
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„Kopf und Person sind ja, wie Sie wissen, soll Konrad zum Baurat gesagt haben, sagt Wieser, eine Zwangseinheit. Körper und Kopf seien natürlich rettungslos miteinander verbunden, oft, wie er denke, auf das Grauenhafteste ineinander verkeilt. Die Natur und ihre Machenschaften wären ja auch eine ganz schöne Aufgabe zur Beschreibung, soll Konrad zum Baurat gesagt haben.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 68.) „The human frame being what it is, heart, body and brain all mixed together, and not contained in seperate compartments as they will be no doubt in another million years, a good dinner is of great importance to good talk. One cannot think well, love well, sleep well, if one has not dined well.“ (Virginia Woolf: A Room of One’s Own, S. 18.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_9
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Sedierend an Arnold Gehlens Totaltheorie vom Menschen ist ihre bündige und zu unkritische Bestimmung der menschlichen Natur: Dem im 7. Kapitel beschriebenen, traditionellen Verständnis von Anthropologie gemäß ist in Gehlens Variante derselben der naturwissenschaftliche Erkenntnisanspruch dogmatisch gesetzt und damit kritischer Prüfung durch Vernunft enthoben. Schließlich, so ließe sich Gehlen paraphrasieren, habe sich die Philosophie vom Menschen den neuesten empirischen Befunden der Lebenswissenschaften anzugleichen – und nicht umgekehrt. Insofern müsse sich in anthropologischen Zusammenhängen die philosophische Begriffsbestimmung an szientistischen Erkenntnissen wie Methoden orientieren. Dass nun genau dieses theoretische Verhalten in sich fragwürdig, da ‚Bestimmen‘ schon als Begriff höchst mehrdeutig ist, dies jedoch in wissenschaftlichen Kontexten oftmals nicht hinreichend reflektiert wird, macht Sonnemann gleich in der Vorrede seiner Negativen Anthropologie deutlich. Zumindest bezogen auf den spezifischen Gegenstand anthropologischer Theorien, also die Frage nach dem Menschlichen, bedeutet demnach mangelndes Bewusstsein für die Äquivokationen in jenem Begriff ein gravierendes theoretisches Problem. Auch wenn Sonnemann diese Überlegungen allgemein formuliert, ist es durchaus erhellend, sie wiederum mit der Anthropologie Arnold Gehlens zu konfrontieren.
‚Naturbestimmung‘ in vierfacher Bedeutung Dem wissenschaftlichen Usus wie Sprachgebrauch nach meint ‚Bestimmung‘ zunächst den Versuch einer Definition: ein jeweiliger Gegenstand soll möglichst präzise auf seinen Begriff gebracht werden. Entsprechend hat die begriffliche Bestimmung möglichst allgemein zu sein; abzuschneiden ist alles zufällige oder bloß dem einzelnen Phänomen zukommende, dasjenige also, was nicht dem Wesentlichen zugerechnet werden kann. Das verrät schon die lateinische Herkunft des Wortes ‚präzise‘, denn ‚praecisus‘ bedeutet ‚vorne abgeschnitten‘. Doch wird die Anforderung des klärenden, den Überschuss entfernenden Abschneidens nicht nur an Erkenntnis und ihre Methodologie gestellt. Darüber hinaus gilt sie auch für die wissenschaftliche Sprache, in welcher sich solche Erkenntnisse ausdrücken sollen. Exakt hat solche Sprache zu sein und insbesondere eindeutig. Dem Wunsch oder der Forderung nach Eindeutigkeit entgeht dann in der Regel auch nicht, dass etwa der Versuch einer Bestimmung der menschlichen Natur doppeldeutig ist, ganz analog zur Rede vom nicht festgestellten Tier: Nicht nur sei die Natur des Menschen zu definieren, vielmehr soll Natur selber auch Bestimmung des Menschen, der Mensch mithin durch seine natürlichen Anlagen auf die ein oder andere Weise determiniert sein. Doppeldeutig ist dieser Komplex nicht allein aufgrund der Tatsache, dass in der Formulierung ‚des Menschen‘ genitivus subjectivus und objectivus gleichermaßen enthalten sind; sondern auch, weil das Wort Bestimmung diese beiden Möglichkeiten selbst enthält. Eine Bestimmung der Natur des Menschen bedeutet demnach zugleich, dass sein Wesen mit naturwissenschaftlichen Methoden zu definieren sei und dass die Natur den Menschen
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bestimme, der Mensch mithin durch seine Natur zu gewissen Entwicklungsläufen determiniert werde. Diese begriffliche Äquivokation hat nicht selten geradezu programmatischen Charakter; sie spielt Anthropologen wie beispielsweise Gehlen in die Hände, da bereits im vermeintlich exakt Definitorischen implizit ein determinierendes Moment mit anklingt, das Zusatzannahmen enthält, welche dann in den Einzeldefinitionen etwa vom Menschen als ‚biologischem Sonderproblem‘, als ‚Zucht-‘ oder als ‚Mängelwesen‘ ihren expliziten Niederschlag finden. All diesen Definitionen ist gemein, dass sie eine transhistorische Determiniertheit des Menschen durch seine Naturanlagen behaupten. Das Spiel mit solcher Zweideutigkeit zeigt sich für Sonnemann jedoch in bestimmter Hinsicht unaufmerksam für die eigene Theoriesprache sowie unterreflektiert im Hinblick auf das Verhältnis von Sprache, Erkenntnis und deren Gegenständen. „Der variable Sinn des Wortes Bestimmung“ ist nämlich nicht bloß ein zweifacher, es handelt sich hierbei vielmehr um eine „schillernde“, da „vierfache Begrifflichkeit“ (NA, 26). Neben den Momenten von Definition und Determination enthält das Wort Bestimmung als weitere Bedeutungsschichten diejenigen des Schicksals, also Destination; und schließlich diejenige der Selbstbestimmung, Entscheidung, also Dezision. Und all diese Bedeutungsebenen bleiben enthalten, selbst wenn vordergründig nur Determination und Definition eingestanden sind. So gerät der Versuch, eine vermeintlich objektiv definierbare Determination der menschlichen Natur zu erfassen, in sprachliche Widersprüche. Die semantischen Schwierigkeiten und Verstrickungen sind aber kein bloßes Sprachproblem, welches sich durch exaktere Begrifflichkeiten als Scheinproblem entlarvte und überwinden ließe. Es kommt hierin ein Problem in der Sache selbst zum Ausdruck. Definition, die sich als wissenschaftlich objektive, insofern nicht involvierte Erkenntnis versteht, missversteht sich zugleich; nicht nur (aber umso drastischer) dann, wenn es um Erkenntnis über den Menschen geht. So jedenfalls Sonnemanns These: „Es gibt, wie kein Weltverhältnis eines Menschen unabhängig von den Bedingungen seiner Naturwüchsigkeit, keine Bestimmung seiner Natur, deren Determinatives nicht ein versteckt Dezisives wäre und deren Definitives also nicht destinativ werden müßte, wenn man in diese Verstecktheit nicht einbricht und das die Dezision treffende Weltverhältnis dann schon dort entdeckt, wo nach der Bestimmung Natur herrscht.“ (NA, 25 f.)
In der vermeintlich wissenschaftlich objektiven Beschreibung und Definition dessen, was Natur des Menschen und also von menschlicher Beeinflussbarkeit weitestgehend frei sei, ist Sonnemann zufolge bereits eine Menge Dezision enthalten, mithin eine Entscheidung darüber, was der Mensch sein soll. Dasjenige, was dann in solcher Definition vorschnell als naturgegeben (= unveränderbar) erscheint, könnte tatsächlich genauso gut menschgemacht sein, also beeinflussund veränderbar. Es als Naturdetermination zu fassen, heißt ein säkularisiertes Schicksal an solchen Stellen zu behaupten, wo menschliche, gesellschaftliche und vernünftige Entscheidungen wie Handlungen vermeintliches Schicksal abwenden könnten. Erst die bewusste oder unbewusste Annahme und Hinnahme solchen Schicksals macht es tatsächlich zu einem, nämlich zum blinden Prozess der
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zweiten Natur; was mit Blick auf Gehlen oben bereits in einigen Exempeln seiner spezifischen Wortwahl augenfällig und hörbar geworden sein dürfte, etwa wenn der Mensch als ‚Zuchtwesen‘ auftritt. Solches Vokabular lässt sich nicht zuletzt zur Legitimation von Gewaltverhältnissen innerhalb der Zivilisationsgeschichte nutzen, indem sie als naturgegeben hingestellt werden – und derart ins Licht gerückt sich dann auch so darstellen –, obwohl sie nicht notwendig wären. Und so erschiene dann womöglich selbst noch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, zumindest ihr (mit Sonnemann gesprochen) ‚institutionalistisches‘ Moment, als eine – wenn auch krasse – Ausprägung des im Grunde zeitlosen ‚Zuchtbedürfnisses‘ (Gehlen) des Menschen. Naturbestimmung Gehlenscher Prägung würde nach dieser Lesart also unter dem Vorwand, sich im anthropologischen Erkenntnisprozess vor allem auf die statischen Momente des Forschungsgegenstandes zu beziehen, unter der Hand die Deskription gesellschaftlicher Verhältnisse durch deren Naturalisierung ins Präskriptive wenden: als sei die jeweils bestehende soziale Ordnung allein aufgrund ihrer behaupteten Naturnotwendigkeit zu akzeptieren.1 Derart empiristisch und positivistisch an den neuesten Ergebnissen der Humanbiologie angelehnt, verdecken philosophische Anthropologien wie die Gehlensche jedoch, dass auch solche Beobachtung menschlicher Natur bereits Praxis ist und dass Theorie in Praxis zurückwirkt. Übersieht Theorie, dass sie grundsätzlich mit Praxis in Vermittlung steht, so stützt und befördert sie damit (wenn auch nicht zwangsläufig im Bewusstsein dessen) eine ganz bestimmte Praxis, was sich laut Sonnemann abermals am Begriff der Bestimmung nachvollziehen lässt: „[D]as Gemeinsame an den [vier] Varianten ist auch in der erheblichen Divergenz ihres heutigen Begriffsverhältnisses noch präsent. Nicht nur historisch ist die dezisive die früheste, ihr Gehalt hat auch assoziativ an der Erfahrung der drei anderen noch teil. Was daraus erhellt, ist das Willensmoment am Fall des definitiven Gebrauches, das auf den Status von Erkenntnis als orientierend-ordnende Praxis verweist und die Projektion dieses Moments in supernaturale Macht und in naturale in den beiden anderen Gebrauchsfällen, wo das Wort Destination und Determination meint. Da in den letzteren beiden Fällen
1Vgl.
hierzu auch Theodor W Adorno: „Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien“ [1961], in: AGS 8, S. 217–237, hier S. 219: „Gesellschaftliche Phänomene, die auf menschliche Grundbedürfnisse oder, wie man heutzutage im Jargon der Eigentlichkeit sagt, auf die Existenz des Menschen zurückgingen, sollen unter die statischen Kategorien fallen und statischen Gesetzen gehorchen; hinzutretende Differenzierungen dagegen, alle sozialen Formen, die besonderen Typen von Vergesellschaftung korrespondieren, seien dynamisch. Implizit dient als Denkmodell, daß die großen, allumfassenden Hauptstrukturen beharrten, während die Spezifikationen, das logisch Niedrigere, der Entwicklung unterlägen; die dynamischen Momente sind durch das Modell a priori zu Akzidenzien herabgesetzt, zu bloßen Nuancen der Hauptkategorien, ohne daß gefragt würde, ob diese nicht selektiv nach dem Besonderen gebildet sind und bei der Selektion ausmerzen, was einer sozialen Invariantenlehre nicht gehorchen will.“ – Und weiter heißt es ebd., S. 221: „Der gesellschaftliche Prozeß ist weder bloß Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die permanente Vermittlung beider Momente. Das auf allen Stufen enthaltene Natürliche ist nicht aus seiner gesellschaftlichen Form herauszuoperieren ohne Gewalt gegen die Phänomene.“
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der Gebrauch von Bestimmung theoretisch gegen menschliche Autonomie steht: nicht das Maß ihrer Verwirklichung im Einzelfall, aber ihr Prinzipielles, stellt eine Reflexion auf die Abhängigkeit solchen Begriffsgebrauchs von der semantischen Dokumentierung gerade der Selbsterfahrung von Autonomie den Gebrauch auch in Frage; beantwortbar aber ist dies nur, wenn Theorie, wie es die erstberührte Verweisung will, sich selbst schon als Praxis, tätige Orientierung begreift, Teilnahme am Geschehen, die erkennt, um das Erkannte zu ändern: so daß sie des Destinativen Herr würde durch ein solches besseres (also theoretischeres) Verständnis gerade der Angewiesenheit determinierender Konditionen auf den Glauben an ihre Unwandelbarkeit, daß ihr Absolutheitsanspruch sich erledigte, selbst als unerfüllbares Postulat einer sich nicht ahnenden Metaphysik jeden Reiz verlöre.“ (NA, 26 f.)
Gewendet auf den Fall Gehlen bedeuten diese Reflexionen Sonnemanns: Die Geste, die aus Gehlens Arbeiten spricht und die dem im Zitat formulierten Theorieideal zuwiderläuft, ist altbekannt, spätestens seit dem 19ten Jahrhundert: Metaphysik, philosophische Spekulation, sei tot, Wahrheit spräche allein aus den Fakten und den Faktenwissenschaften, also habe man sich nach Methoden und Ergebnissen dieser zu richten.2 Sonnemanns kurze Meditation über die vierfache Bedeutung des Wortes ‚Bestimmung‘ und deren Implikationen für Erkenntnis zeigen, wie wenig solcher Szientismus die verfemte Metaphysik loswird. Mehr noch, er verwandelt Denken geradezu in dogmatische, also vorkantische Metaphysik, weil die Erkenntnispostulate und ihre Geltungsansprüche nicht ihrerseits hinterfragt und kritisch überprüft werden. Jede wissenschaftliche Bestimmung eines menschlichen Wesens, die von sich behauptet, lediglich Tatsachenfeststellung und Definition zu sein, verkennt, dass sie selbst bereits einen Eingriff in ihren Gegenstand darstellt. Zwar mag sie Theorie und Praxis säuberlich auseinanderhalten wollen, hier beobachtend, dort handelnd; doch ist bereits diese Standpunktbestimmung ein praktischer Akt, nämlich eine Grenzziehung. Die pragmatische Anthropologie des zuweilen als Metaphysiker verunglimpften Kant wäre gerade ein Modellfall dafür, wie solches Ineinander von Theorie und Praxis – Erkennen, um das Erkannte zu ändern – betrachtet werden müsste.3 Dass bei Kant das Praktische am Theoretischen deutlich zutage tritt, ist nicht zuletzt gegründet in den Einsichten jener Kantischen ‚Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können‘, also der Kritik der reinen Vernunft: Objektivität hat ihre Grenzen, Erkennen immer auch subjektiven Charakter. Wobei mit solcher Subjektivität freilich das genaue Gegenteil zum alltagssprachlichen Verständnis gemeint ist: Keineswegs ist beim Erkennen das jeweilige Subjekt sein eigener Maßstab, vielmehr fragt Kant gerade nach den notwendigen wie allgemeinen Bedingungen der Subjektivität des Erkennens. Zu diesen notwendigen und allgemeinen Bedingungen jedweder Erkenntnis gehören nicht zuletzt ein Moment von Freiheit und Spontaneität im Erkenntnisakt; Momente, die ihrerseits nicht mit empirischen
2Sehr
viel durchdachter, dennoch am Ende auf eine verwandte Problematik hinauslaufend, findet sich dieser Komplex auch bei Denkern wie Ernst Tugendhat; vgl. ders.: Anthropologie statt Metaphysik, München 22010. 3Siehe oben, Kapitel 7(Aufklärungsanthropologie).
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Methoden erfassbar, da sie die Bedingung der Möglichkeit aller emphatischen Empirie sind. Dies reflektierende Nachdenken über die Grenzen menschlicher Erkenntnis treibt Erkennen und Praxis über jene Grenzen hinaus: Weil gar nicht abschließend gesagt werden kann, was und wie die Menschen sind, was der Zweck ihres Daseins ist, vielmehr dem Menschen die Zweckgebung selbst zur Aufgabe wird, lassen sich die menschlichen Dinge auch ändern, ist Weltbürgerlichkeit nicht Status quo sondern Telos der Kantischen Anthropologie. In diesem Zusammenhang liegt auch, nur kritisch gewendet, das Recht von Schleiermachers Charakterisierung der Anthropologie Kants als einer negativen, nämlich als einer unmöglich systematischen und abgeschlossen. Ganz in diesem Sinne sind auch bei Sonnemann, diesen utopischen Impuls der Aufklärung aufnehmend, Mensch und Gesellschaft Projekt.4 Ziel wäre, dass die Menschheit ‚des Destinativen Herr würde‘, also ihr Schicksal selbst in die Hand nähme, indem gerade die Schicksalsgläubigkeit sabotiert wird – nicht zuletzt dort, wo sie säkularisiert als Glaube an unumstößliche Naturgesetzmäßigkeit auftritt. Für Gehlen hingegen, der seine Theorie zu unkritisch auf den vermeintlich grenzenlosen Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften fundiert, scheint die menschgemäße Welt gewissermaßen ein Gehege, abbildbar in biologisierenden Kategorien und in einer ihnen entsprechenden Ordnung. Das Überschreiten dieser eng gezogenen Grenzen käme dann Widernatur und Widerordnung gleich, müsse damit aber den Untergang der Spezies bedeuten. Zwar schreibt Gehlen allerhand über den Menschen als handelndes, praktisches Wesen, soll seine Philosophie der Institutionen gar „Handlungslehre“5 sein. Allerdings ist sie dies wohl nur von der Warte der Theorie aus, denn sie bestreitet implizit zugleich, als solche selbst praktischen Einfluss auf ihre Objekte, also Menschen, auszuüben. Derart aber gerät aus dem Blick, dass das Objekt, von dem Theorie behauptet, es als gegebenes vorzufinden, durch sie womöglich mitgeschaffen wird; dass solche Grenzbestimmung also die Schranken zugleich setzt, die sie als angeblich vorherbestimmte entdeckt.
Cartesianische Weltspaltung Durchaus beachtlich ist die Geschichte eines gewollten oder ungewollten Übersehens der praktischen Wirkungen von Theorie laut Sonnemann gerade dort, wo streng zwischen beobachtender Erkenntnis einerseits, beobachteten Phänomenen andererseits unterschieden wird und worin sich die gegenseitigen
4„Da
diese Zielsetzung utopisch ist, bedarf sie zu ihrer Vermittlung einer analytischen Topologie ihres Weges; und da ihr Gegenstand in der Zukunft liegt, Anthropologie solcher Art den Menschen (gerade wie er ist) als Projekt, nicht an sich selbst aufgehende Gegebenheit, deren geschichtsblinde Inventur seine Geschichte selbst sistieren muß, auffaßt, ändert sich für diesen Fall die Bestimmung von Wissenschaft selber.“ NA, 27. 5Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 8.
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echselwirkungen schließlich der Beobachtung entziehen. Schon der Ort innerW halb der Negativen Anthropologie, an dem Sonnemann seine Gehlen-Kritik wesentlich entfaltet, verdeutlicht das Ausmaß dieser Geschichte. Das entsprechende Kapitel trägt die Überschrift „Kartesianische Erbschaft. Traktat über Freiheit und Welt“ (NA, 165–185). Zahlreich sind nach Sonnemanns Darstellung die (anthropologischen) Theorien, in welchen ein bestimmtes Moment des Cartesianismus fortgeführt wird: namentlich die Tendenz, die Welt in res cogitans und res extensa, in Subjekt und Objekt, in Betrachtendes und Betrachtetes zu spalten und Letzteres dem Ersteren unterzuordnen. In großem Bogen beschreibt Sonnemann, wie bei Descartes ein zunächst kritischer Impuls – derjenige des Zweifelns, des dubito – sich zur Methodologie verhärte, indem es in „kogitierende Unterwerfung einer Extensio“ (NA, 166) münde. Diese Tendenz trage sich dann über viele, teils ansonsten sehr verschiedene Theorien und Denk- wie Wissenschaftsschulen durch die Geistesgeschichte weiter, sei sowohl bei Hegel und Dilthey anzutreffen als auch in den empirisch-messenden Wissenschaften vom Menschen im 19ten, dann 20ten Jahrhundert, selbst bei Freud und bei Sartre, noch in der Distanzierung des Letztgenannten von Descartes. Wie genau vollzieht sich aber bei Descartes jene von Sonnemann behauptete Unterwerfung des ausgedehnten Dings (res extensa) unter das denkende (res cogitans)? Ausgang der Cartesischen Meditationen über die Grundlagen der Philosophie ist der Zweifel an angeblichen Gewissheiten. Darin zeigt sich Descartes zunächst ganz antidogmatisch: Nicht mehr Positives, etwa die alten Lehrsätze der scholastischen Philosophie, bilden das Fundament für die Bewegung der Gedanken, ihr Prinzip ist vielmehr das der Negation. Im Laufe seiner Meditationen verwirft Descartes nun aber insbesondere das, was ihm als Gewissheit über die äußere Welt bislang als sicher erschien. Durch allerlei Verweise auf Sinnestäuschungen, Traumvorstellungen etc. gilt ihm als bewiesen, dass alle Wahrnehmung im Grunde auch Täuschung sein könne, damit aber auch die Realität des Wahrgenommenen nicht mehr zum sicheren Bestand zu rechnen sei.6 En passant anmerken könnte man hier – Sonnemann weist interessanterweise nicht darauf hin, obwohl es für sein später auszuführendes Vorgehen der bestimmten Negation einige Relevanz hätte –, dass Descartes mit seinem methodischen Zweifeln im Sinne abstrakter Negation verfährt: Descartes hält das Negierte nicht als solches in seiner Fehlerhaftigkeit fest, dem dennoch ein Wahrheitsmoment zu eigen sein könnte; nämlich zumindest dasjenige, dass genau dieses Bestimmte nicht wahr ist. Vielmehr wird das Negierte komplett verworfen,
6Vgl. René Descartes: Meditationes de prima philosophia – Meditationen über die Grundlagen der Philosophie [1641], hg. und übers. von Artur Buchenau und Lüder Gäbe, Hamburg 1959, S. 30–40. Sonnemann zitiert diesbezüglich allerdings Descartes Discours de la Méthode und nicht die Meditationes; vgl. NA, 165 f. Hier und insbesondere im nachfolgenden 10. Kapitel werden jedoch die Meditationen des Descartes herangezogen, weil sich dort explizit das Motiv der verschlossenen Ohren findet. Anhand dessen lässt sich Sonnemanns Kritik des Cartesianismus mit derjenigen der Okulartyrannis engführen.
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in den Abgrund des Nichts gestürzt, die äußere Realität in ihrer Wahrnehmbarkeit nicht als fehleranfällig beschrieben, sondern in gewisser Hinsicht als vollkommen nichtig behauptet. Auf diesem Abgrund einer abstrakten Negation als Fundament errichtet Descartes dann seine neue Gewissheit. Denn während alles Äußere bezweifelbar und jede Wahrnehmung dessen anfechtbar sei, so sei doch mindestens der Akt des Zweifelns selbst unbezweifelbar und so aber das zweifelnde Subjekt; was schließlich gleichgesetzt wird mit Denken überhaupt und in einer der berühmtesten Sentenzen der Philosophiegeschichte mündet: cogito ergo sum – ich denke, also bin ich.7 Dieser Zweifel, der allzu geschwind zur „Selbstgewißheit“ (NA, 167) gerät – und an diesem Punkt setzt Sonnemanns Kritik ein –, stellt eine Verkürzung und Verkehrung des antidogmatischen, kritischen Ausgangsimpulses dar. Dass nämlich einzig die äußere Realität angezweifelt, nicht aber das Subjekt genauso radikalem Zweifel unterzogen wird; dass also fraglich erscheint, ob überhaupt eine Außenwelt existiere, alles Äußere nicht bloß Schall und Rauch, Wahnvorstellung und Traumbild sei, wogegen das vorstellende und einbildende Subjekt unhinterfragt bleibt: darin missverstehe sich der Zweifel, müsste sich aufs Innenleben zumindest genauso kaprizieren wie auf Äußeres, was Descartes jedoch unterlasse. Täte er dies, so müsste auch infrage gestellt werden, ob nicht etwa der radikale Zweifel selbst in seinem Urteil über die Existenz oder Nichtexistenz einer äußeren Welt falsch, da subjektiv-borniert sein könnte, also mangelndes Urteilsvermögen eine pseudo-Gewissheit produziert, die ihrerseits der Kritik zu unterziehen wäre. Dass der angeblich radikale Zweifel bei Descartes jedoch nur in diese eine Richtung geht (vom Denken auf die Realität), die Erfahrung einer widerspenstigen äußeren Welt das selbstgenügsame Denken nicht ins Wanken bringt, ergibt sich Sonnemann zufolge aus einer stillschweigenden Grundannahme, die in der „Möglichkeit der Vorstellung eines körper-, welt- und ortlosen Daseins“ (NA, 167) besteht. Gerade hier müsste dem zweifelnden Denken jedoch aufgehen, dass es sich in reinen Verstandesoperationen nicht erschöpfen kann, hingegen immer schon auf etwas Äußeres und Sachhaltiges angewiesen ist, um überhaupt Denken sein zu können — und dass dieser Erfahrungsgehalt bis in die abstraktesten Regionen des Denkens hineinreicht. Für Sonnemann jedenfalls hält die körperlose Vorstellung des Cartesischen Ego einer kritischen Reflexion nicht stand, „denn es gibt kein Selbstinnensein, das komplett ohne eine leibliche Qualität, mit ihr ein Konstitutionsmoment von Erfahrung seines Verhältnisses zur Welt, zu einem Ort in ihr, also zum Raum wäre, als zu Modalitäten des Nicht-Selbst, und genausowenig gibt es ein ego, das mit der Räumlichkeit von Leib- und Welterfahrung nicht bis ins Anfänglichste des Vorstellens hinein, wenn auch nicht des Denkens, das dessen Bewegung ist, gründete“. (NA, 167)
7In
den Meditationes heißt es allerdings noch weniger bündig: „Denken? Hier liegt es: Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiß.“ – „Cogitare? Hic invenio, cogitatio est, haec sola a me divelli nequit; ego sum, ego existo, certum est.“ Descartes: Meditationes, II.6, S. 46 f. Die berühmtere Formulierung findet sich dann erst in den Principia philosophiae von 1644.
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Allein schon die leibhaftige Erfahrung, dass dem denkenden Subjekt womöglich tatsächlich die ganze Welt als Hirngespinst vorkommen mag, es mit verschlossenen Augen und verstopften Ohren so gut als möglich bloß denkend dasitzen kann, wie Descartes dies in seinen Meditationes praktiziert,8 zunehmend dürstend und hungrig werdend dennoch irgendwann die Konzentration nachlassen muss, die Gedanken unklar werden bis schließlich, im Extremfall, Ohnmacht einsetzt — allein schon diese Erfahrung bzw. imaginierende Extrapolation von Erfahrungsmomenten sollte vom Irrglauben an ein von aller Leiblichkeit reingehaltenes Denken gründlich kurieren. Für Descartes indessen wird die vermeintlich letzte Gewissheit, dass nämlich ein Denken und mit ihm ein denkendes Subjekt ist, alles andere jedoch ungewiss, zu einer neuen Methodologie, darin zur Beweisführung darüber, dass es der Geist sei, der die Welt beherrsche. So zumindest interpretiert Sonnemann dies: „Daher ist die Kehrung – die Descartes vornimmt – des frisch entdeckten Zweifels nach außen: aus der […] dann die Weltspaltung keimt, schon ein Selbstmißverständnis des Zweifels; verwischt ist in seiner Exteriorisierung, daß diese selbst der Produzent der Differenz ist, die dann methodisch ergriffen wird. Sie besteht zwischen dem, was Wirklichkeit, ihren metaphysischen Begriff bildend, meinen kann, nämlich selbst bereits Erkenntnis: Wahrnehmung, Denken und Urteil, die als Kraft der Unterscheidung die Subjektivität nach ihrem Begriff definieren, so daß das Mittel des Zweifels, da er das Unterscheidenkönnen aktualisiert, ihren Bestand sichert: als von ihren Räumlichkeitsmomenten nicht ableitbar, auf Äußeres daher irreduzibel, und einer gesichtslos nur noch ausgedehnten, auf ihre Räumlichkeit bereits zurückgeschnittenen (daher meßbaren), ihrem eigenen Subjektiven schon entrissenen Dinghaftigkeit. Die Extensio ist einerseits schon ein Produkt jenes zielstrebigen Machtanspruches und gibt andererseits, da ihr Begriff die Zeit verschweigt, den Schein seiner Rechtfertigung her: als ein Faktisches, das in der Zeit ist, so daß diejenige, die in ihm ist, unter den Tisch fällt, ist jeweils Vorgefundenes in der Tat bloß Erkenntnismaterial, res extensa.“ (NA, 167 f.)
Um gleich einem naheliegenden Missverständnis entgegenzuwirken: Sonnemanns Descartes-Kritik ist hier nun gerade nicht so zu verstehen, dass die Polarität zwischen Subjekt und Objekt, denkendem Ich und äußerer Welt, grundsätzlich über den Haufen geworfen werden soll. Zwar ist es aus Sonnemanns Perspektive höchst problematisch, Subjekt und Objekt dichotom zu spalten und schlechterdings beziehungslos nebeneinander zu stellen. Doch wäre das einfache Gegenteil einer solchen Spaltung ebenso fragwürdig. Dies bedeutete nämlich wiederum eine Form abstrakter Negation, aus der dann die Kritik an der verhärteten Spaltung (S —— O) in eine abstrakte Vorstellung von Ungeschiedenheit und Unmittelbarkeit mündete, in welcher alle widersprüchlichen Momente zwischen Subjekt und Objekt getilgt wären. Was bei Sonnemann vielmehr seine Kritik findet, ist ein gewisses Moment von Verdinglichung in dieser Weltspaltung, die sich bereits in der Cartesischen Terminologie finden lässt: So werden Subjekt und Objekt zu rei, zu Dingen, die nun entweder denkendes Ding (res cogitans)
8Siehe
unten, Kapitel 10 (Abbild oder Trugbild? · Das widerstrebende Ohr).
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oder körperliches, räumliches, mithin ausgedehntes Ding (res extensa) genannt werden.9 Diese Verdinglichung, wohlgemerkt im buchstäblichen Sinne, korreliert mit einer spezifischen Form von Verräumlichung, die insbesondere die Messbarkeit der Dinge bedeutet. Nach Sonnemanns Ausführungen ist ein solcherart verdinglichter Raum erstarrt, weil er zwar in der Zeit situiert ist, zeitlicher Wandel also außerhalb der räumlichen Dinge vonstattengeht; aber die räumlich ausgedehnten Dinge erscheinen in der Cartesischen Konzeption nicht gleichermaßen als zeitliche, also nicht als in Bewegung und Veränderung begriffene. Was derart ‚unter den Tisch fällt‘, ist das zeitliche Moment in den Dingen selbst, eine innere Dynamik, mithin ihre eigene Wandelbarkeit sowie die realen historischen Wandlungen, welche die Dinge durchlaufen haben und die sich als Geschichtsspur in ihnen niederschlugen. Dieses zeitliche Moment in den Dingen ist in zweifacher Hinsicht das Subjektive in ihnen. Einmal ist es der zeitlich strukturierte Wahrnehmungsanteil des erfassenden Subjekts, das die Dinge in ihrem Gewordensein als zeitliche erkennt, mithin ein transzendentales Erkenntnismoment, ohne das es für das Denken keine Wirklichkeit gäbe. Sodann meint das ‚Subjektive … der Dinghaftigkeit‘ aber auch die Eigenständigkeit und mehr noch die Selbstbewegtheit der Dinge. Ganz komplementär zu seinen späteren Erwägungen über die Subjektivität von Zeit bezieht sich Sonnemann schon in der Negativen Anthropologie offenkundig also auf einen Begriff von Subjektivität, der an die griechischlateinische Bedeutung im Sinne eines Zugrundeliegenden (also des ὺποκείμενον | hypokeímenon und des subjectum) erinnert. Nur sind es hier die Dinge (nicht die Zeit), denen Sonnemann dieses vom erkennenden Ich unabhängige Moment von selbständiger Wesenhaftigkeit zuschreibt.10 Dass ‚Zeit in den Dingen‘ sei, was laut Sonnemann ihre Subjektartigkeit verbürge, bedeutet: Geschichte ist in den Dingen sedimentiert, Dynamiken und Prozesse sind in ihnen aufgespeichert. Wären die Dinge bloß in der Zeit und Zeit nicht selber auch in ihnen, so bewegten sie sich lediglich durch eine räumlich vorgestellte, mechanisch-metrische, daher geschichtslose Zeit, blieben an sich selber jedoch gleich und unverändert. Solche Verräumlichung der Dingwelt steht im Dienste ihrer Messbarkeit, wie im Zitat oben zu lesen. Zum Messen nämlich bedarf es gewisser Konstanten, eines statischen Maßstabes etwa, der an die zu messenden Gegenstände angelegt wird. Eine zwar ausgedehnte, jedoch nicht in permanentem Wandel befindliche, höchstens mechanisch bewegte Außenwelt lässt sich einfacher messend handhaben als ein in sich vielfältig bewegtes Gebilde. Ähnlich wie Sonnemanns späte Aufsätze die Quantifizierung der Zeit (qua einer spezifischen Verräumlichung etwa als Uhrzeit) hinterfragen, wendet sich die Negative Anthropologie gegen ein philosophisches Konzept, das die Dingwelt
9‚Res‘
bedeutet hier also nicht oder zumindest nicht nur ‚Wesen‘, wie es in manchen Übersetzungen heißt; vgl. die hier zugrunde gelegte Ausgabe von Artur Buchenau und Lüder Gäbe. 10Zur Subjektivität von Zeit sowie zur zeitlichen Struktur des Transzendentalen siehe oben, Kapitel 1.
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als bloß berechenbares und verfügbares ‚Erkenntnismaterial‘ erfasst und damit gewisse Korrelationen zur Verwertungsökonomie aufweist, ihr zweckdienlich ist. Gerade dieser Zusammenhang verbietet es für Sonnemann, die Erkenntnisgegenstände als fertige, in sich abgeschlossene und leblose Dinge anzusehen. Als Einspruch gegen die Idee eines nahezu unbegrenzten Verfügens über die Materie beharrt Sonnemann daher auf dem ‚eigenen Subjektiven‘ der Objektwelt: Dieses Subjektive kann zwar Gegenstand von Erkenntnis werden, ist aber nicht auf diese angewiesen, um zu existieren. Erkenntnis kann sich den Objekten nur annähern. Versucht sie es allein im Modus des messenden, sprich quantifizierenden Registrierens, so entgeht ihr jenes Moment der Selbstständigkeit der Objekte, ihre (mit Adorno gesprochen) Nichtidentität.11 Diese besteht nicht zuletzt darin, dass sich die Objekte aufgrund ihres inneren wie äußeren Bewegungs- und Veränderungspotentials, also aufgrund ihrer eigenen Temporalität, nicht gänzlich durch das Denken fixieren lassen. Eben deshalb ist Wirklichkeit „von ihren Räumlichkeitsmomenten nicht ableitbar, auf Äußeres daher irreduzibel“ (NA, 167), weil ihr zugleich ein zeitliches Moment zu eigen ist. Das lange Zitat oben enthält aber noch eine weitere Dimension: Verkannt wird durch die Cartesische Spaltung nicht nur das Subjekthafte am Objekt, sondern auch das Objekthafte am Subjekt. So kehrt sich die Verdinglichung der materiellen Welt (der Objekte) durch zurichtende und registrierende Beobachtung des Subjekts gegen das Subjekt selbst, gerade weil es sich als das einzig Unerschütterliche in einer ansonsten zutiefst anzweifelbaren Welt wähnt. Ein archimedischer Punkt, der umso nachdrücklicher als Fixes und Unumstößliches verteidigt werden muss, je mehr alles andere in Zweifel gerät. Ohne „leibliche Qualität“ (NA, 167) jedoch, die qua Sinnesorganen überhaupt erst Wahrnehmung ermöglicht und die selbst ein Moment des Objekthaften am menschlichen Subjekt bedeutet, wäre gar kein Denken. Innen und Außen sind verschränkt und vermittelt; jedoch nicht nur über die irreduzible Leibhaftigkeit der Subjekte, sondern auch über die Gegenstände, auf welche sich das Denken bezieht. Denn ‚Wirklichkeit‘ ist bereits ein Begriff der Erkenntnis, wie es oben im Zitat heißt, und insofern soll in diesem Begriff (wie in allen Begriffen) etwas enthalten sein und zum Ausdruck kommen, das nicht im reinen Denken aufgeht, ansonsten gar kein Begriff im emphatischen Sinne wäre, soll dieser doch stets etwas begreifen. Zugleich aber formt der im Begriff denkende Zugriff auf Welt dieselbe; und sei es auch nur, indem der Bereich dessen, was Wirklichkeit ist, subjektiv-kognitiv aber auch gesellschaftlich und historisch bestimmt wird. So schlägt sich menschliche Geschichte durch „Stoffwechsel mit der Natur“12 auch in den Dingen nieder. Und zugleich sedimentiert sich eine Erfahrung mit der materiellen Welt (der Sphäre der Objektivität) in den Begriffen (der Sphäre der Subjektivität).
11Vgl.
Theodor W. Adorno: „Zu Subjekt und Objekt“ [1969], in: AGS 10, S. 741–758; sowie Adorno: Negative Dialektik, S. 149–158. 12Marx: Das Kapital Bd. 1, MEW 23, S. 192.
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Ist aber stets etwas Subjekthaftes am Objekt wie auch etwas Objekthaftes am Subjekt, so ist das cogitare grundsätzlich in seine Welt involviert; entgegen der Cartesischen Beschreibung, wonach sich Welt und Denken mehr oder minder äußerlich gegenüberstehen. Denken kann das Subjekt nur, indem es leiblich existiert, über die Sinne mit der Welt verbunden ist. Insofern ist es selbst Teil der räumlichen, zeitlichen, dinghaften Welt. Zugleich ist Denken auch eine Form von Praxis, handelnder Eingriff in den Lauf der Dinge. Gerade durch die Illusion eines unverbundenen Gegenüberstehens von res extensa und res cogitans wird Denken herrschaftsförmig und betrügt sich damit um sein Potential. So zumindest Sonnemanns Einwand gegen Descartes: „Insofern es zur Methode gerinnt, der alles Begegnende zur Manipulierbarkeit, da schon im Ansatz in Extensio verwandelt ist, kann unbeschränkt sich mit seiner Hilfe das Denken Natur unterwerfen, daher erfüllt die Unterwerfung, die in der Technik buchstäblich wird, ihr Projekt, entfremdet sich das Denken selbst zum Kalkül, wird das Selbstmißverständnis des Zweifels einer Kogitation, die nur noch Beweise kennt, undurchschaubar.“ (NA, 168)
Sonnemann greift hier, zumindest implizit, ein Motiv der Dialektik der Aufklärung auf, transponiert es in gewisser Weise auf den Fall Descartes: Um der Welt habhaft zu werden, um das, was nicht in reinen Verstandesoperationen aufgeht, doch beherrschen zu können, wird dem Cartesischen Denken die Welt zur reinen Extensio, zur bloß räumlichen Ausdehnungssphäre. Beherrschbar ist diese, nach Sonnemanns Beschreibung, in ihrer Kalkulierbarkeit, also Berechenbarkeit; sie ist „Erkenntnismaterial“ (NA, 168). In diesem Fall zeichnet sich für Sonnemann Material durch seine ‚Manipulierbarkeit‘ aus: das dem Begriff des Materials im Gegensatz zur Materie innewohnende Telos der Bearbeitung (eines Rohstoffes) wird dabei nun derart überbetont, dass ihm das materielle Eigengewicht, seine Widerspenstigkeit, abhandenkommt. Zu beargwöhnen ist die Vorstellung der Wirklichkeit als bearbeitbares Material nicht per se. Dass ins Material menschliche, also gesellschaftliche Arbeit eingeht, muss nicht heißen, dass diese Bearbeitung schlechthin gewaltförmig wäre. Problematisch wird das Verhältnis zum Material jedoch dann, wenn es als manipuliertes den Charakter einer ganz und gar verfügbaren Masse annimmt, die zu diesem Zweck allein nach Quantitätskriterien behandelt wird. Das jedoch ist nicht nur ein Problem für die Erkenntnistheorie. Formend und nicht selten zurechtstutzend wirken die ihrerseits restringierten Erkenntnisweisen auf ihre Gegenstände zurück, sind praktische Weltveränderung — oftmals nicht gerade zum Besseren.13
13Vgl.
Max Horkheimer: „Traditionelle und kritische Theorie“ [1937], in: Schriften 1936–1941, HGS 4, S. 162–216, hier, S. 163 f. und S. 179 f.
Der vermessene Mensch
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Der vermessene Mensch Ganz offenkundig wird dieser zurichtende Charakter messender Verfahren, wenn es sich beim Erkenntnisobjekt um Menschen handelt, also in den im weitesten Sinne anthropologischen Wissenschaften wie etwa der Psychologie. Ein längerer Exkurs der Negativen Anthropologie setzt sich kritisch mit der Testpsychologie auseinander und verfolgt dabei die These, dass gerade Messverfahren wie sogenannte IQ-Tests nicht einfach objektiv etwas über die Intelligenz der Analysanden aussagen, vielmehr durch ihren Zugriff die Leistungen des Geistes gerade einschränken, wobei die messbaren Ergebnisse zu einem guten Teil durch die Methoden miterzeugt sind. Mit doppelsinnigem Titel für diesen Exkurs – „Der vermessene Mensch“ (NA, 185–205) – fasst Sonnemann das Problem in dieser einen Formulierung bereits zusammen: Vermessen ist der Mensch angesichts seiner cartesianischen Hybris, die sich gewiss ist, vom objektiven Standpunkt aus mit quasi-göttlichem Blick und in vollkommener Uneingebundenheit ihr Objekt bestimmen zu können. Vermessen ist der Mensch jedoch zugleich, weil jener Blick, den der Mensch da auf sich selbst richtet, eben ein messender und kalkulierender ist. Die „Verapparatung des Menschen“ (NA, 187) durch solche Tests bekommt aber ihren Gegenstand, Intelligenz, überhaupt nicht zu fassen. Denn was Intelligenz im emphatischen Sinne wäre, widerstrebt gerade dem, worauf es festgelegt werden soll: Intelligent verhält sich nach den Kriterien solcher Tests nur, wer aus einem höchst begrenzten Repertoire an Lösungsmöglichkeiten die vorher (nämlich im Forschungsdesign) als ‚richtig‘ kategorisierte wählt. Dass es angesichts der Stupidität manch einer solchen Fragesituation gelegentlich die weitaus intelligentere Option sein könnte, einfach den Frageraum zu verlassen, statt sich auf das zweifelhafte Ankreuzspiel einzulassen, dürfte wohl kaum unter den Intelligenzbegriff der fraglichen Tests fallen. Im Sinne instrumenteller Vernunft, deren technische Verstandesoperationen wesentlich mit dem kalkulierenden Abwägen eben sehr begrenzter Möglichkeiten befasst sind, verkennt so der messende Intelligenztest seinen Gegenstand: „Warum steigt dieses Dilemma gerade beim psychometrischen Test auf, nicht bei anderen Unternehmungen des technischen Verstandes? Weil das Wesen des Psychischen nicht der Mechanismus, sondern die Spontaneität ist – auf die speziellen Verhältnisse angewandt, die für Intelligenz gelten: weil Verhalten, das nicht normgemäß, sondern wesentlich intelligent ist, überhaupt nicht vorausbestimmt werden kann, da sein Charakter die Überraschung ist, das Schöpfertum im genauen Wortsinn, der Durchbruch der Schranken, die vor diesem Durchbruch jeden beschränkten und niemandem sichtbar waren; weil es etwas Neues, woran vorher niemand gedacht hatte, in die Welt setzt und weil das Neue in vorformulierten Antwortschablonen, die ihrerseits unentbehrliches Mittel jeder Quantifizierung und Statistisierung sind, sich seiner Definition nach nicht fügt.“ (NA, 189)
Würde das Erkenntnisobjekt Mensch durch solche Tests lediglich verkannt, so stellte das zwar ein epistemologisches Problem für die (jeweilige) Wissenschaft dar, könnte dem Rest der Welt allerdings einigermaßen gleichgültig sein. Die Wirkmacht solchen Testwesens, und in gewisser Weise jedes rein instrumentellen
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und messenden Zugriffs auf isolierte Objekte, liegt nun aber darin, diese Objekte als solche zu beeinflussen, auf sie zugreifend einzuwirken. Besonders folgenreich gestaltet sich dieser Eingriff, der nach Sonnemanns Kritik in den entsprechenden Wissenschaften kaum wahrgenommen wird, wenn es sich beim Objekt um Menschen handelt; selbst oberflächlich zunächst einmal belanglos wirkende experimentelle Verfahren wie Intelligenztests haben das Potential, gesellschaftliche Wirkmacht zu entfalten: „Wenn ein Ingenieur, der eine Maschine baut, dabei derart gegen die Gesetze der Physik verstößt, daß das Konstruierte nicht läuft, entsteht für die Öffentlichkeit kein Problem: nicht nur in den Transmissionen, auch in der Gesellschaft geschieht nichts. Wenn ein Psychologe, der einen Intelligenztest konstruiert, dabei gegen die Ordnung der menschlichen Dinge verstößt, geschieht dagegen sehr viel, denn der Test versagt nicht in dem gleichen Sinn wie die Maschine: mechanisch, seinem Urheber kaum bewußt, mag er das je Schlechte in den Kopfgewohnheiten seiner Generation durch das Instrumentarium seiner Bewertungen, Fragen und Beantwortungsnormen zu einem Maßstab erhöhen, geschichtlich also zu verewigen neigen: immer noch, ja nur um so leichter, läßt er sich eichen, administrieren, tabulieren und rechnerisch auswerten. Die Verletzung der menschlichen Ordnung durch ihn ist zugleich also unauffälliger (die Sache klappt) als auch, da er selbst ein Eingriff in die Sache ist, eine viel weniger theoretische Angelegenheit als die Mißachtung der Naturgesetze durch die verkehrt entworfene Maschine, die nicht läuft.“ (NA, 185 f.)
Aus dieser Perspektive dürfte das hier umrissene Testwesen derweil kaum zufällig entstanden sein. Zu fragen wäre etwa, ob nicht Verhalten, das durch (sei’s auch ungewolltes) „human engineering“ (NA, 186) zugerichtet beziehungsweise ‚geeicht‘ wird, ein Verhalten, dem also sein kritischer und nonkonformer Geist abhandenkommt, für verschiedene heteronome Zwecke, seien es politische oder ökonomische, leichter in den Dienst genommen werden kann als ein zu tatsächlicher Autonomie gebildetes.14 Sonnemanns Einwand gegen die vermeintliche Objektivität der so produzierten Forschungsergebnisse lautet jedenfalls, dass sie ihr Objekt (nämlich menschliches Verhalten) nicht einfach so vorfindet, wie es angeblich ‚von Natur aus‘ sei. Hingegen entdecken solche Wissenschaften häufig gerade das, was überhaupt erst durch ihren eigenen methodischen Zuschnitt produziert wird und mehr noch durch die Funktionsweisen einer Gesellschaft, die solche Wissenschaften hervorbringt. Der Mensch der anthropologischen Wissenschaften ist insofern ein in mehrfacher Hinsicht Gemachtes, nicht bloß Gegebenes. Zwar sollte die Kritik der verschiedenen humanwissenschaftlichen Ansätze dabei weder die konzeptionellen und epistemologischen Schwierigkeiten noch die realen Auswirkungen solcher Theorien über einen Kamm scheren. Und doch lässt sich, zumindest nach Sonnemann, ihnen allen eine ähnliche Tendenz attestieren: „Die
14Indirekt
wird Kapitel12 noch einmal auf diese Frage zurückkommen.
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Mediokrisierung, als Entmutigung der Spontaneität einschließlich der spontanen Intelligenz, als Reduktion des Menschen auf eine Stelle und Funktion im Betrieb, ist eine Gestalt der Entmenschlichung“ (NA, 192).15 Cartesianische Wissenschaft – die sich keineswegs auf das Denken René Descartes’ beschränkt, Sonnemann zufolge in etlichen Theorien anzutreffen ist, so derer Arnold Gehlens oder der gerade kurz skizzierten Testpsychologie – kennzeichnet mithin eine zweifelhafte und zu strikte Spaltung von Erkenntnissubjekt und -objekt.16 Angeblich ‚neutral‘ und ‚objektiv‘, ignorieren solche Theorien, wie sehr sie in ihre Gegenstände verstrickt sind, wie praktisch ihr angeblich rein theoretisches Verhältnis zu ihren Gegenständen tatsächlich ist. Das Missverständnis wissenschaftlicher Gegenstandsbestimmung als Definition einer Determination, wie es am Beispiel Gehlens ausgeführt wurde, gründet zu einem guten Teil auch im Missverständnis der cartesianischen Weltspaltung. Bewusst oder unbewusst wird darin jedoch, wie im Falle Gehlens, die herrschaftslegitimierende, -stützende und schließlich -befördernde Funktion von Theorie übersehen. Diese Beherrschung als Messbarkeit ist Verräumlichung und damit Verdinglichung der Objektwelt. Was ihr entgeht, ist die Zeit in den Dingen, die innere Dynamik und Geschichte ihrer Phänomene. Der Verdinglichung bei und nach Descartes ist demnach eine ähnliche Verkennung von Zeit zu eigen, wie sie Teil I vorliegender Studie bereits behandelte. Damit aber sind diese Untersuchungen erneut angelangt bei der Frage nach Zeit- und Raumerfahrung in ihrem Verhältnis zu Hören und Sehen. Im Folgenden gilt es, die Schriften des Descartes noch einmal bezüglich des Sonnemannschen Vorwurfs an sie zu überprüfen. Dabei lässt sich zugleich ein in der Negativen Anthropologie bloß angelegtes, nicht ausgeführtes Motiv zur Entfaltung bringen.
15Dass
es sich hierbei übrigens um ein nach wie vor aktuelles Thema handelt, lässt sich beispielsweise nachlesen in Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin 2017. Ich danke Thomas Lux sehr herzlich für den Hinweis auf das Buch. 16Dass ‚cartesianische Wissenschaft‘ also gleichsam eine Chiffre bei Sonnemann darstellt für eine bestimmte Theorietradition, bedeutet zugleich, dass diese Chiffre dem Werk Descartes nicht immer unbedingt gerecht wird. Ob etwa die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt bei Descartes selbst tatsächlich derart dichotom vollzogen wird, wie Sonnemann es nahelegt, wäre Gegenstand einer eigenen Untersuchung.
Die verschlossenen Ohren Descartes’
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Okularismus als Verkennung des Gehörs
„Weil man beinahe überhaupt nichts höre, werde man im Kalkwerk, besonders wenn einem ein solches ungemein empfindliches Gehör zu eigen sei, wie ihm, besonders hellhörig. Alles, was man höre, wie alles, was man nicht höre, mache einen im Kalkwerk hellhörig.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 23 f.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_10
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Bereits im I. Teil dieser Untersuchungen war zu lesen, dass Sonnemann der Geistes- wie Menschheitsgeschichte einen fatalen Hang zum Okularismus attestiert, der gar in ‚Okulartyrannis‘ münde. Und tatsächlich lässt sich vielfach zeigen, wie sehr die Metaphoriken der Erkenntnis mit dezidiert optischen Phänomenen verbunden und in der ein oder anderen Weise am Modell des Sehens geschult sind, beispielweise in Kants Lehre von der transzendentalen Anschauung, die sich wiederum in eine Geschichte der epistemischen Dominanz des Sehens einreiht, auch wenn jene sich dieser nicht schlechterdings fügt.1 Nach Sonnemanns Kritik indes korreliert die spezifische Visualität der Geistesgeschichte nicht selten mit einer kalkulierenden wie quantifizierende Funktion des Denkens, mit einer Tendenz zur Verdinglichung und Verräumlichung. In seinen späten Aufsätzen, die sich um das unvollendete Projekt einer Transzendentalen Akustik gruppieren, wird dies Thema behandelt, jedoch nicht immer ausschöpfend an Dokumenten jener Geschichte belegt oder zumindest plausibilisiert. Was diese Texte schuldig bleiben, sind eine begriffliche Herleitung von ‚Okularismus‘ resp. ‚Okulartyrannis‘ sowie der Versuch, dem Ausmaß der kritisierten Okulartyrannis, den Traditionslinien solchen Denkens, nachzuforschen. Einige Schriften aus früheren Schaffensphasen derweil, allen voran die Negative Anthropologie, füllen diese Leerstelle zu einem guten Teil: Denn bereits hier deuten sich manche Gedankenfiguren und Motive an, die erst im Spätwerk tatsächlich zur Ausführung kommen werden. Mehr noch, Sonnemanns spätere Kritik des Okularismus nimmt ihr Vokabular aus diesen früheren Texten, auch wenn in diesen ein wesentlicher Zusammenhang noch subkutan bleibt. Diese These sei im nun folgenden Kapitel elaboriert.
Abbild oder Trugbild? Sonnemanns (im vorangehenden 9. Kapitel ausgeführter) Befund, bei Descartes handele es sich um einen entscheidenden Protagonisten der visuell-instrumentellen Vernunft, lässt sich an Descartes eigenen Texten noch erhärten. Eigenartigerweise zitiert Sonnemann jedoch ausgerechnet den wohl einschlägigsten Text für diesen Zusammenhang nicht, namentlich die Meditationes de prima Philosophia.2 Dabei finden sich gerade hier Passagen, die den Mutmaßungen über eine Cartesische Prägung der Okulartyrannis einiges an Material liefern und zugleich mit Motiven korrespondieren, die Sonnemann erst im Spätwerk deutlicher ausformuliert. Es lohnt sich also ein genauerer Blick in den Cartesischen Text. Augenfällig ist zunächst, mit welcher Terminologie in den Meditationes über Erkenntnis im Sinne von Gewissheit und Ungewissheit (also Zweifel), über
1Siehe
oben, Kapitel1–3. in der Negativen Anthropologie als auch in Existence and Therapy und anderen Schriften finden sich bezüglich Descartes lediglich Verweise auf den Discours de la Méthode. Siehe oben, Kapitel 9, Fußnote 6. 2Sowohl
Abbild oder Trugbild?
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ernunft und Denken, schließlich über das Gedachte gesprochen wird; etwa in V der ersten Meditation unter dem Titel „De iis quae in dubium revocari possunt“ – „Woran man zweifeln kann“.3 Descartes schreibt hier von der Möglichkeit, dass alle Dinge bloße Einbildung sein könnten, ihre tatsächliche Existenz also nichts als Trug wäre, und vergleicht die Erscheinung der Dinge mit den im Schlaf geschauten („visa“) Traumbildern („pictas imagines“);4 Traumbilder, wohl gemerkt, welche gewissermaßen nach den wirklichen Dingen gemalt (eben: „pictas“) und ihnen möglichst ähnlich sein sollen, denen also der Charakter eines Abbildes zukommt. Zugleich aber soll diesen vermeintlichen Abbildern wie im Traum gar kein Vorbild in der Realität entsprechen. Darin besteht gerade die Pointe der ersten Meditation: dass nämlich die üblicherweise für sicher erachteten Wahrnehmungen einer äußeren Welt tatsächlich ebenso wie die Träume bloß eingebildet („imaginarias“) sein könnten.5 Zumindest könne nichts in der Welt garantieren, dass es sich nicht so verhielte. ‚Imagination‘ ist hier also mehrdeutig. Sie meint zum einen den visuellen Zugang zur Welt, oder vielmehr die aus diesem Zugang gewonnene bildliche Repräsentation der Wirklichkeit in einer Vorstellungswelt – das Abbild der Realität im Geiste –, von der wieder und wieder die Rede ist über sämtliche Paragraphen der Meditationen hinweg. Zugleich sind diese Vorstellungen die fragwürdigsten; nichts scheint zu versichern, dass jene Abbilder tatsächlich einem Gegenstand entsprechen. Damit werden sie zu potentiellen Trugbildern, zum bloßen Schein. Deutlicher noch wird diese Ambivalenz des Visuellen in der zweiten Meditation: „De natura mentis humanae: Quod ipsa sit notior quam corpus“ – „Über die Natur des menschlichen Geistes; daß seine Erkenntnis ursprünglicher ist als die des Körpers“.6 Kein Zweifel scheint bei Descartes daran zu bestehen, dass der allererste Zugang zur Welt qua Wahrnehmung der optische, also das Sehen ist. Und im gleichen Atemzug wird dieses Sehen für illusionär erklärt: „Ich setze also voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt: ich habe überhaupt keine Sinne; Körper, Gestalt, Ausdehnung, Bewegung und Ort sind nichts als Chimären. Was also bleibt Wahres übrig? Vielleicht nur dies eine, daß nichts gewiß ist.“7
Was im Gedächtnis repräsentiert ist, soll ebenso gut Illusion sein können. Streng genommen repräsentieren diese Repräsentationen also nur sich selbst, da mit ihnen ja nicht zwangsläufig reale Gegebenheiten korrelieren müssen. Zugleich
3Descartes:
Meditationes, I, S. 30–41. Meditationes, I.6, S. 34 f. 5Descartes: Meditationes, I.6, S. 34. 6Descartes: Meditationes, II, S. 40–60. 7„Suppono igitur omnia quae video falsa esse, credo nihil unaquam extitisse eorum quae mendax memoria repraesentat, nullos plane habeo sensus; corpus, figura, extensio, motus, locusque sunt chimerae; quid igitur erit verum? fortassis hoc unum, nihil esse certi.“ Descartes: Meditationes, II.2, S. 42 f. 4Descartes:
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suggerieren sie jedoch, dass sie auf ein Äußeres verweisen. Sie spielen uns etwas vor. Darauf, dass es sich nach Descartes Beschreibung bei diesen (angeblichen) Illusionen bzw. Vorstellungen um visuelle Gestalten handelt, weist das Wort hin, mit dem sie als Schein gekennzeichnet werden: Die Chimäre als Schattengestalt betrügt das lichtempfängliche Organ, das Auge, ist optische Täuschung. Selbst wenn dieses Organ für Descartes möglicherweise gar nicht existiert, so bleibt doch das Trügerische primär auf das Optische festgelegt: Imaginationen durch Trugbilder. Obwohl nun die Sinneseindrücke – die hier wie in weiten Teilen der Meditationen entweder als dezidiert optische vorkommen oder aber ganz allgemein mit ‚sentire‘ (also ‚empfinden‘) bzw. ‚sensus‘ (also ‚Sinne‘) beschrieben werden – Scheincharakter haben sollen, bleibt Descartes Vokabular dennoch dem Sehen verpflichtet, wenn er Aussagen über den Wahrheitsgehalt seiner Meditationen trifft. Durchaus sollen sie Beweischarakter besitzen, denn nicht alles fällt dem Zweifel zum Opfer. Am Grunde des Zweifelns, dem irreduziblen cogito, schlägt der Zweifel vielmehr um in strenge Deduktion: das Umschlagen des skeptischen Impulses in einen neuen Dogmatismus, wie Sonnemann es in der Negativen Anthropologie beanstandet.8 Und so geht aus der Anzweifelung alles Körperhaften der Geist zwar gleichsam als Sieger über die leibhafte Welt hervor. Doch gänzlich austreiben lassen sich die Spuren des Sinnlichen wie Sensuellen, der Sinnesorgane, im Cartesischen Rationalismus offensichtlich nicht. Widerspenstig, sich nicht gänzlich verdrängen lassend, schleicht sich die Sinnlichkeit selbst noch in die vermeintlich ganz unsinnliche Sphäre des reinen Geistes: „Und sieh da! so bin ich schließlich ganz von selbst dahin zurückgekehrt, wohin ich wollte. Denn da ich jetzt weiß, daß ja selbst die Körper nicht eigentlich durch die Sinne oder durch die Einbildungskraft, sondern einzig und allein durch den Verstand erkannt werden, nicht dadurch, daß man sie betastet oder sieht, sondern daß man sie denkt: so erkenne ich ganz offenbar, daß ich nichts leichter und augenscheinlicher erkennen kann – als meinen Geist.“9
Zwar spricht Descartes hier der Wahrnehmung, der leiblich-sinnlichen Seite des Subjekts, jedwedes Erkenntnispotential ab. Erkenntnis, schon festgelegt darauf, dass sie Gewissheit sein muss, gibt es für ihn allein durch Denken. Nichtsdestoweniger: ‚Siehe da‘, die Selbsterkenntnis des Geistes ist ‚evident‘ (‚evidentius‘ im lateinischen Original, von videre = sehen herstammend), also offenbar, oder vielmehr: offensichtlich und augenscheinlich. Es ließe sich sagen, dass dergestalt das Denken bei Descartes nach dem Modell des Sehens aufgefasst wird:
8Siehe
oben, Kapitel 9 (Cartesianische Weltspaltung). ecce tandem sponte sum reversus eo quo volebam, nam cum mihi nunc notum sit ipsamet corpora non proprie a sensibus, vel ab imaginandi facultate, sed a solo intellectu percipi, nec ex eo percipi quod tangantur aut videantur, sed tantum ex eo quod intelligantur, aperte cognosco nihil facilius aut evidentius mea mente posse a me percipi.“ Descartes: Meditationes, II.16, S. 58 f.
9„Atque
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eines Sehens, dass seinerseits gerade nicht ins Zweifeln geraten darf, sondern am Offensichtlichen seine Gewissheit gewinnt; also nur sieht, was es kennt, ein konformistisches, konfektioniertes Sehen. Gleichzeitig aber richtet solches Gewissheitsdenken – das doch in Widersprüche geraten müsste zum skeptischkritischen Grundimpuls des vorbehaltlosen Infragestellens von Gewissheiten – das Sehen nach seiner Maßgabe ein als eine Wahrnehmung, die nur bestätigen kann, was ohnehin schon feststeht, eben (angeblich) offen zutage liegt. Gänzlich austreiben lässt sich der Zweifel für Descartes jedoch nicht. Und so traut sich denn auch die Gewissheit, in deren Geste prima facie diese Meditation spricht, selbst nicht ganz über den Weg, landet Descartes jedenfalls nicht vollends in neuem Dogmatismus (auch wenn es in Sonnemanns zugespitzter Polemik, im vorangehenden Kapitel dargestellt, zuweilen so klingen mag, wobei zu bedenken wäre, dass sich Letzterer gegen einen grundsätzlichen Cartesianismus innerhalb der Wissenschaften vom Menschen wendet und nicht primär gegen Descartes). Der Rückgriff auf Metaphern aus der sinnlichen Welt und der Sinneswahrnehmung für reines Denken und reine Erkenntnis deutet immerhin an, dass so weltlos wie er scheint dieser Gedanke Descartes’ nicht sein kann.
Das widerstrebende Ohr Unbeeindruckt von der Widerspenstigkeit des Somas geht im Verlauf der Cartesischen Meditationen als einzig Gesichertes das zweifelnde, also denkende, cogitierende Ich aus dem Tribunal des Zweifelns hervor. Der Erkenntnisblick, der zwar nicht derjenige des realen Organs sein soll, dennoch nach seinem Modell gebildet zu sein scheint, richtet sich denn auch nach innen, um in der dritten Meditation endlich „De Deo, quod existat“ – „Über das Dasein Gottes“10 Rechenschaft ablegen zu können: „Ich werde jetzt meine Augen schließen, meine Ohren verstopfen und all meine Sinne ablenken, auch die Bilder körperlicher Dinge sämtlich aus meinem Bewußtsein tilgen oder, da dies wohl kaum möglich ist, sie doch als eitel und falsch und für nichts achten; mit mir allein will ich reden, tiefer in mich hineinblicken und so versuchen, mir mein Selbst nach und nach vertrauter zu machen. Ich bin ein denkendes Wesen, das zweifelt, bejaht, verneint, wenig versteht, vieles nicht weiß, das will, nicht will, auch Einbildungen und Empfindungen hat. Denn wenn auch – wie schon oben bemerkt – das, was ich empfinde oder mir bildlich vorstelle, außer mir vielleicht nicht ist, so bin ich doch gewiß, daß jene Bewußtseinsbestimmungen, die ich Empfindungen nenne, bloß als Bewußtseinsbestimmungen in mir vorhanden sind.“11 10Descartes:
Meditationes, III, S. 60–97. nunc oculos, aures obturabo, avocabo omnes sensus, imagines etiam rerum corporalium omnes vel ex cogitatione mea delebo, vel certe, quia hoc fieri vix potest, illas ut inanes et falsas nihil pendam, meque solum alloquendo, et penitius inspiciendo, meipsum paulatim mihi magis notum et familiarem reddere conabor. Ego sum res cogitans, id est dubitans, affirmans, negans, pauca intelligens, multa ignorans, volens, nolens, imaginas etiam et sentiens; ut enim ante animadverit, quamvis illa quæ sentio vel imaginor extra me fortasse nihil sint, illos 11„Claudam
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Bemerkenswert, wie hier trotz allen Zweifelns in vergleichsweise souveräner Manier die Sinne ausgeschaltet und geleugnet werden sollen, wie sie sich zugleich aber nicht abschütteln lassen und deshalb kurzerhand zu reinen Bewusstseinsbestimmungen umgedeutet werden. Zwar kommt auch hier das Denken nicht ohne sein (metaphorisches oder doch leibhaftes?) Organ aus: das Auge. Doch ist es eben nur dieses eine Organ und eine schon überaus eingeengte Wahrnehmungsweise: Sehen ist hier Inspizieren, oder genauer ‚penitius inspiciendare‘, also tieferes und gründlicheres Hineinblicken. Gegenstand solcher Inspektion ist das Ich, dessen inneres Dunkel nun ausgeleuchtet werden soll. Dieses Verfahren erinnert keineswegs bloß metaphorisch oder sprachspielerisch an eine andere Form der Inaugenscheinnahme, nämlich die (militärische) Musterung. Was im vorangehenden Kapitel mit Sonnemann bereits als vermessende und zurichtende Funktion von ihrerseits verkürzter und verstümmelter Erkenntnis charakterisiert worden ist, wird bei Descartes nun ganz direkt mit dem Sehen verbunden. Sehen wird hier auch zu einer Herrschaftstechnik. So wird zwar das Auge geschlossen, aber nur, um sich sodann als Blick nach innen zu richten. Die Weltspaltung zwischen res extensa und res cogitans scheint hier internalisiert, das Subjekt sich selbst zum Objekt zu werden; und zwar gerade so, dass jene Regungen und Strebungen des Leiblichen negiert werden müssen, das Subjektive am Objektiven also beinahe verschwindet zugunsten einer Selbstobjektivierung. Umso frappierender, was hier mit dem Gehör geschieht: Es wird verstopft. Denn anders als das Auge verfügt das Ohr nicht über eine natürliche Verschlussvorrichtung. Die Augen können die äußere Welt ausblenden, indem die Lider geschlossen werden. Damit aber kann sich das steuernde Bewusstsein ihrer problemloser bedienen als der Ohren, über welche sich nicht auf gleiche Weise verfügen lässt; zumal der Blick in seiner Richtung dann auch noch zielgenau fokussieren kann, wohingegen das Gehör ohne Hilfsmittel seine Umwelt umfänglicher aufnimmt — mit erhöhtem Irritationspotential. So störten denn auch die unverschließbaren Ohren qua Hören das mit sich selbst beschäftigte Bewusstsein penetranter als die verschlossenen und nach innen gekehrten Augen, sträubten sich jene stärker als diese gegen die reine Selbstbezüglichkeit des Ichs, die sich vielleicht am deutlichsten darin äußert, dass Descartes an entscheidender Stelle der dritten Meditation mit sich allein reden will, statt in die Welt hineinzuhorchen. Nachdrücklicher und mit größerer Selbstbeherrschung müssen insofern die Ohren im Gegensatz zu den Augen nicht nur geschlossen, sondern gar ‚verstopft‘ werden. (Es reicht offenbar auch nicht aus, die Ohren mit den Händen zuzuhalten; ihr Zustopfen wirkt so beinahe gewaltförmig.) Nicht unbedingt aufgrund einer unabänderlichen Einrichtung der menschlichen Physiologie, aber eben doch auch nicht ganz unabhängig von der somatischen Ausstattung eignen sich so die Augen womöglich eher zum Herrschaftsinstrument als das widerspenstigere, da
tamen cogitandi modos, quos sensus et imaginationes appello, quatenus cogitandi quidam modi tantum sunt, in me esse sum certus.“ Descartes: Meditationes, III.1, S. 60 f.
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unabschließbare Gehör. So ließe sich jedenfalls, übertragen auf den vorliegenden Text, Sonnemanns Rede von Okulartyrannis deuten. Mindestens nämlich wird an zitiertem Passus aus Descartes’ Meditationen gerade angesichts der verstopften Ohren deutlich, welche Mittel von der res cogitans aufgeboten werden müssen, um die denkende Vormachtstellung den res extensae (mithin den Körpern) gegenüber behaupten zu können: Die Empfindungen sind zu unterdrücken, fast so, als gelte es sie zum Schweigen zu bringen. Was beim Auge scheinbar mühelos gelingen will, stellt sich beim Gehör jedoch deutlich schwieriger da. Dies Verstummenlassen der Empfindungen zum Zwecke der Selbstbeherrschung erinnert an die Erzählungen von Odysseus. In Homers Variante hielt der antike Held seine Gefährten dazu an, sich die Ohren zu verschließen, in Kafkas Version verklebte seine moderne Gestalt sich gar selbst die Ohren mit Wachs; beide Male mit dem Ziel, dem verführerischen Gesang der Sirenen nicht anheimzufallen, was bedeuten müsste, ins Verderben zu stürzen.12 Sehr ähnlich scheint nun auch Descartes mit aller Macht seine Sinne ablenken zu müssen, um nicht in bodenloses Zweifeln zu stürzen. Während Odysseus in den literarischen Erzählungen die Ohren nicht zuletzt vor einem die (bürgerliche) Selbstbeherrschung bedrohenden Lustversprechen verschließt, scheint bei Descartes allerdings eher die Erinnerung daran, dass die Ratio nicht über alles in der materiellen Welt verfügen kann, durch Ausschaltung der Sinne zum Schweigen gebracht zu werden. In der Konfrontation von Homers und Kafkas Odysseus deutete sich im I. Teil vorliegender Untersuchungen ein Weg an, der aus dem Dilemma zwischen rationalistischer Selbsterhaltung und animistischer Selbstaufgabe herausführen könnte: weder vernunftlose Hingabe an Natur noch unnachgiebige Verdrängung derselben wären das Ziel, sondern Eingedenken der Natur, eine Erinnerung an sie, welche den lógos (also Vernunft und Sprache) offenhalten für das, was zugleich von ihm geschieden ist. Ganz ähnlich müsste es im Falle Descartes bestellt sein: Zutreffend ist zwar dessen Einsicht, dass Denken und die materielle Welt nicht in Eins fallen; dass um der Selbstbestimmung und Selbsterhaltung willen das denkende Wesen von seiner Differenz zur bloß ausgedehnten Materie wissen muss. Doch schlägt die (notwendige) Selbsterhaltung alsbald in tyrannische Selbst- wie Fremdbeherrschung um, wo das irreduzible Vermitteltsein von cogitare und Soma nicht reflektiert, der Widerspruch von Verfügbarkeit und Unverfügbarem nicht ausgetragen wird. Gänzlich verschlossenen Ohres wie Auges ist Reflexion denn auch zum Scheitern verurteilt. Der Bezug zur Welt, vermittelt durch die Sinneswahrnehmung, wird dann derart geleugnet, dass das bornierte Ich sich gleichsam als Herrscher inthronisiert. Es betrügt sich damit jedoch um die eigenen Potentiale, richtet sich selbst zu, verstümmelt sich. Kaum zufällig ist einem solchen Ich dann auch seine Erinnerung bloßes Trugspiel, das bereits zitierte trügerische Gedächtnis, „mendax
12Siehe
oben, Kapitel 4.
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memoria“.13 Weil die somatische Erfahrung mit der Welt fehleranfällig ist, wird die in Erinnerung aufgespeicherte Erfahrung gleich ganz verworfen. Ist aber das Gehör aufgrund seiner eigentümlichen Temporalität in herausgehobener Weise ein Sensorium auch fürs Erinnern, so macht es den Anspruch des Erinnerten auf seine Wirklichkeit nachdrücklicher geltend als andere Sinne. Die gehörte Realität ist stets mehr als das, was im Moment vernehmbar, was jetzt akustisch präsent ist. Zu sagen, etwas habe keine Realität, weil es nicht mehr gegenwärtig ist, wäre im Bereich akustischer Phänomene unsinnig. Nahezu jede komplexere akustische Gestalt zeichnet sich gerade durch ein Zusammenspiel aus (hörender) Erinnerung, Gegenwart und Erwartung aus.14 Gut möglich, dass Descartes auch daher sein Hören noch hartnäckiger verdrängen resp. verschweigen muss als sein Sehen. Während – nach zuletzt zitiertem längeren Passus aus den Meditationen – das reine Denken immerhin noch dem Vokabular des Sehens und damit dessen Modell verhaftet bleibt, es nicht nur affirmieren und zweifeln, wollen und nicht wollen etc. kann, sondern ebenso einbilden (imaginieren), so verschwindet des Hören neben allen anderen Wahrnehmungen im anonymen ‚sentire‘, also empfinden.15 Der Effekt solcher Verdrängung des Hörens ist noch auf eine andere Weise verhängnisvoll; für das ganze Ensemble der Sinne wie für das sinnlich verfasste Ich schlechthin. Eigentlich ja hielten die offenen Ohren ihre Besitzer auch dann noch ansprechbar für die Welt und für ein Gespräch, wenn Letztere ihre Augen geschlossen haben, sodass meditierende und denkende Konzentration, wie Descartes sie unternimmt, nicht notwendigerweise bedeuten muss, sich der sinnlichen Welt komplett zu entziehen. Und noch die vermeintlich ganz abgeschiedene Tätigkeit eines Selbstgesprächs der Vernunft bleibt aufs Gehör angewiesen: An wen sollte sich denn das (Selbst-) Gespräch richten, wenn nicht an ein (inneres) Ohr? „Me solum alloquendo“ – „Mit mir allein will ich reden“, schreibt Descartes, und spricht damit sich selbst als seinen eigenen Zuhörer und Leser an.16 Doch scheint er dies sogleich zu vergessen, denn der innere Dialog, der ein jedes Selbstgespräch ist – etwa im Abwägen widersprüchlicher Argumente oder im Widerstreit von Gefühlsregungen und Vernunfterwägungen – gerät in den Meditationen zum Monolog. Um die reine Selbstgewissheit nicht zu gefährden, lässt Descartes die inneren Widersprüche und Einsprüche, die sich durchaus einen Ausdruck verschaffen, nicht gelten, tut sie ab als bloßen Trug. Mit Nachdruck verstopft und verschweigt er daher seine Ohren. Es ist ebenjener Hang zum Monologisieren, zur bloßen Bestätigung dessen, was als vermeintliche Gewissheit gilt, den Sonnemann an zahlreichen Stellen – aber erstaunlicherweise eben nicht bezogen auf diese augenfälligen Passagen bei
13Descartes:
Meditationes, II.2, S. 42. oben, Kapitel 2. 15Vgl. Descartes: Meditationes, III.1, S. 60 f. 16Descartes: Meditationes, III.1, S. 60 f. 14Siehe
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Descartes – mit unkritischem Denken gleichsetzt; einem Denken, welches sich selbst nicht ‚genügend ins Wort fällt‘,17 weil es, wie hier bei Descartes, kein Organ zu besitzen scheint für eine kritische Aufmerksamkeit, für dasjenige also, was sich dem vermessenden und feststellenden, selbstgewissen Blick entzieht. Dieses Motiv der Sprachkritik sei hier nur kurz angedeutet; in den nachfolgenden Kapiteln ist es zu entfalten. Hier jedoch sind zunächst noch einige weitere Exemplare verstopfter und verdrängter Ohren herbeizuzitieren, zurück also zum Text der Negativen Anthropologie:
Naturwissenschaftliche Bildergläubigkeit Zwischen res extensa und res cogitans vollzieht sich eine „kartesianische Weltspaltung“ (NA, 165), die sich auch der Verdrängung des sinnlichen Moments am cogitare verdankt; sie ist jedoch beileibe kein Problem des Descartes allein und nicht einmal nur eines der Erkenntnistheorie oder Philosophie. Vielmehr ist sie für Sonnemann allgemeines Korrelat einer instrumentellen Rationalität, die als Voraussetzung und Produkt der Zivilisationsgeschichte bislang nicht radikal genug bearbeitet wurde, insofern bis heute wirkmächtig bleibt. Besonders folgenschwer ist diese Weltobjektivierung als Unterwerfung im Hinblick auf die Wissenschaften vom Menschen, gerade weil hier die Trennung zwischen Theorie und Praxis fragwürdiger sein muss als anderswo, vermeintlich objektive und wertfreie Deskription zugleich auf ihr Objekt formend Einfluss nimmt, Definition in Dezision über die Destination und Determination ‚des Menschen‘ umschlägt.18 Als positivistische Anthropologie wird sie Negation (= Desavouierung) des Menschlichen, Menschenmöglichen, weil sie die bestehenden Verhältnisse nicht kritisch reflektiert, hingegen als Wissenschaft reproduziert und somit an deren Fortbestehen mitarbeitet. Materialreich zeichnet Sonnemann diese Problematik der Menschenwissenschaften an verschiedenen, insbesondere psychologischen Theorien nach. Von seiner Kritik an Verfahren und Methoden der empirischen Psychologie, am Vorbild messender Naturwissenschaften orientiert, war schon die Rede (Stichwort: psychometrische Intelligenztests). Etwas diffiziler verhält es sich bei einer anderen Schule der Psychologie, namentlich der Gestalttheorie. Sie, wie auch die Psychoanalyse, nahm die Cartesische Spaltung zum Anlass, das Verhältnis zwischen Physis und Psyche, zwischen seelisch-geistigen und körperlichen Momenten im Menschen – in psychologischer Terminologie: zwischen Kognition und Konation, Denken und Antrieben – weniger dualistisch zu bestimmen. Denn gerade der avancierteren Psychologie muss die Annahme zweier beziehungslos
17Vgl.
Ulrich Sonnemann: „Kleine Abfertigung einer Retourkutsche“, in: Merkur. Deutsche eitschrift für europäisches Denken, XXII. [1968], H. 238–248, S. 379–382, hier S. 382. Z Ausführlicher hierzu unten, Kapitel 12 (Jargon der Dialektik?). 18Siehe oben, Kapitel 9 (‚Naturbestimmung‘ in vierfacher Bedeutung).
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nebeneinander existierender Bereiche im menschlichen Subjekt höchst fragwürdig erscheinen, geht es hier doch um die Frage, welche Wechselverhältnisse zwischen geistigem und somatischem Moment in der Psyche wirken. Während laut Sonnemann in der frühen Psychoanalyse, also bei Freud, die „kognitive Seite an der menschlichen Existenz […] mit der konativen schließlich erklär[t]“ werden sollte, „tat die Gestaltpsychologie in ihrer Konzentration auf Konstanten, zumal der Perzeption, gerade das Umgekehrte: in physikalischen Gesetzen sollten die phänomenalen Parameter der Erfahrung, mit ihnen ihr Umschlag zu Verhaltensorganisationen, verankert werden“ (NA, 206). Beiden also lag an einer Vermittlung der zwei Aspekte im Menschen, und damit tendenziell an einer Aufhebung – wohlgemerkt nicht an bloßer Abschaffung – des cartesianischen Dualismus’. Bezüglich der Gestaltpsychologie sieht Sonnemann in solcher „Verankerung“ der Erfahrungsinhalte in physikalischen Gesetzen nun gerade keinen Reduktionismus des Menschen auf ein rein nach Naturgesetzmäßigkeiten existierendes Lebewesen: „Präziser hieß das keine Kausalreduktion psychischer Ereignisse auf voraufgehende physikalische Vorgänge – die die Lehre rechtens verwarf –, sondern die Annahme einer durchgängigen Korrelativität der Strukturen zwischen den beiden ‚parallelen‘ Seiten des gesamten Prozesses des Organismus als strenges Erklärungsprinzip für den phänomenalen Gehalt von Erfahrung.“ (NA, 206)
Produktiv an der Gestalttheorie war laut Sonnemann die experimentelle Feststellung, dass die Konstanten der Erfahrung irreduzibel sind auf bloße Daten in der Perzeption (in der optischen Wahrnehmung etwa auf retinale Stimulationspunkte). Gestalten, die Wahrnehmungsinhalte, sind nämlich nicht der Ausdruck der Identität von Wahrnehmung und Gegenstand, vielmehr beruhen sie auf dem Prinzip der Ähnlichkeit (vgl. NA, 208). Das bedeutet aber auch, dass selbst der somatische Anteil an den Erfahrungen, die Sinneswahrnehmung, nicht einfach ‚nezessitiert‘ (also kausal determiniert) ist von Reizen aus der Sinneswelt, sondern bereits die vermeintlich a-subjektiven, lediglich auf der organischen Ausstattung basierenden Sinneseindrücke in sich vermittelt sind mit schon gemachten Erfahrungen, Erinnerungen, also Bewusstseinsinhalten. Wahrnehmung selbst wäre demnach weder bloße Entsprechung der Wirklichkeit wie sie ist, noch lose und unverbindliche oder gar zufällige Akzidenz (welche Position sich in entsprechender Deutung aus dem Cartesischen Skeptizismus herauslesen ließe). Laut Sonnemann geht die Gestaltpsychologie also gerade nicht von einer Identität von Ding und Erfahrungsgehalt aus, vielmehr von so etwas wie ‚spontaner Übersetzung‘ von Perzeption in Erfahrung (vgl. NA, 207). Solche Einsicht der Gestaltpsychologie „bestätigte, daß die psychischen Leistungen des Organismus aus kausalmechanischen Naturbegriffen jedenfalls nicht ableitbar waren. Aber diese Autonomieerklärung der Psychologie durchbrach nicht die Grenzen ihrer Auffassung als Naturwissenschaft, sondern machte sie hermetischer“ (NA, 207). Den Grund für das derart beanstandete Abbrechen der Kritik naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle vom Menschen (hier: seiner Psyche) macht Sonnemann in der Gestalttheorie nun darin aus, dass die cartesianische Spaltung zwischen
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res cogitans und res extensa zwar auf der Ebene des Gegenstandes der Wissenschaft überwunden (oder besser: vermittelt) werden sollte; das Wissensobjekt Mensch sollte als körperlich-geistiges Wesen betrachtet werden. Jedoch sei dieselbe kritische Perspektive nicht noch einmal eingenommen in Hinblick auf die Spaltung zwischen res cogitans als psychologischer Wissenschaft – das denkende Subjekt ist hier die Wissenschaft – und den res extensae als den Erkenntnisobjekten, die ihrerseits doch ebenfalls Menschen, also Subjekte sind. So misslinge der Gestaltpsychologie dann schließlich doch die Aufhebung der Spaltung, denn: „Während die Gestaltpsychologie die Objektivierung der ‚konativ‘ fixierten Schulen verwarf, stellte sie Objektivierung per se als Ziel von Theorie nie in Frage; erfaßte zwar früh, daß die hergebrachte Dichotomie des Cartesius, ihr gewaltsames Auseinanderspalten der Welt in ‚Gedanke‘ und ‚Ausdehnung‘, ihren Gegenstand, menschliche Erfahrung, da er der Zweiteilung dann entsprechen soll, präjudizieren muß; nicht, daß man sie nicht aufheben kann, ohne es folgerichtig auch im Erkenntnisverhalten, also auf der Subjektseite von Theoriebildung zu tun, in ihren Begriffen und Zielen“. (NA, 206)
Das Objekt dieser Erkenntnis, also menschliche Psyche, nicht zugleich auch als deren Subjekt zu begreifen und folgerichtig dann aber die strikte Trennung zwischen einer objektiv erklärenden Theorie und ihrem Gegenstand in Frage zu stellen – Sonnemann spielt hier auf die von Wilhelm Dilthey beschriebene Differenz von Erklären und Verstehen an –, bedeutet abgebrochene, gewissermaßen halbe Reflexion. Laut Sonnemann muss daher die Gestaltpsychologie ihren Gegenstand durch ihr eigenes Selbstmissverständnis verfehlen. Und so sei bereits im Frühstadium dieser Theorie im ausgehenden 19ten Jahrhundert angelegt, was dann in der Mitte des 20ten zum manifesten Problem wird: Der Versuch, Naturwissenschaft im strengen Sinne zu sein; also sich dem Theorieideal der objektiven Erklärung zu verschreiben und dabei das eigene Involviertsein in den Gegenstandsbereich zu negieren. Darin wurde die Gestaltschule für Sonnemann eine Wissenschaft cartesianischen Zuschnitts, und so – wir kehren zum Zentralbegriff dieses Abschnitts zurück – zur okularen Theorie: „Wie der Beweis, wovon wir ausgingen, nicht ohne die verschwiegene Präsenz des Zweifels in der objektivierenden Geschlossenheit seiner Denkfigur gerade deren Einheit, ihr Zwingendes, nicht gewinnen könnte, gibt es keine Erklärung, die nicht auf ihr Verständnis baut, daher muß dieses selbst ihrem Zugriff, der es schon derart voraussetzt, daß erst sein eigenes Verstehen sein Erklären ermöglicht, entzogen bleiben; aber wie aller Imperialismus, der sich an einer neuen Machtchance oder deren Vermeintlichkeit, welche der Reflexion niemals günstig ist, festsieht, ist auch derjenige der Erkenntnis der Respektierung von Grenzen nicht zugetan. Was die Gestaltpsychologen seit den frühen Fünfzigern fasziniert, ist die neuentwickelte Elektroenzephalographie. Sie endlich schien Abhilfe zu versprechen bei einer nicht mehr dann nur hypothetischen Schließung der Diltheyschen Lücke: Kurvenverläufe, darauf lief es hinaus, die denjenigen der phänomenalen Erfahrung eines Subjekts korrelativ waren, sollten in seiner gleichzeitig mit dieser aufgezeichneten elektrischen Hirnwellenproduktion demonstriert werden.“ (NA, 212)
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Es mag Zufall sein, dass Sonnemann hier die Elektroenzephalographie (EEG) nennt, mit der also ausgerechnet ein frühes bildgebendes Verfahren neuronaler Prozesse vom Scheitern der Gestaltpsychologie zeugen soll. Tatsächlich zählt Sonnemann auch einige weitere Entwicklungen innerhalb der Gestalttheorie auf, an denen ihr szientistisches Selbstmissverständnis einsetzt. Jedoch: dass es gerade angebliche Abbildungen sind, in denen kognitive Zusammenhänge festgestellt werden soll, in denen also zunächst rätsel- oder schleierhafte Prozesse sichtbar gemacht werden und insofern dann schon für erklärt gelten – dies deckt sich mit der Funktion, die das sehende Denken im Gewand einer optischen Erkenntnismetaphorik in Descartes Meditationes erhält: Gewiss ist, was evident, also offenbar und sichtbar ist, wobei dem blickenden und erkennenden Subjekt das erblickte und erkannte Objekt schlechterdings gegenübersteht. Respektiert wird bei solcher Objektivierung des Menschen nicht – ähnliches hatten wir schon in der Gehlenschen Anthropologie gesehen – die ihrerseits zwar nicht zu hypostasierende, dennoch auch nicht einfach zu negierende Grenze menschlicher Erkenntnis: Dass nämlich der Versuch, die geistigen Fähigkeiten komplett zu durchleuchten, scheitern muss, weil es ja selbst Geist ist, was sich derart betrachtet, sich als Wissenschaftsobjekt also niemals vollständig zu fassen bekommen kann. Der szientistische Blick jedoch blendet dieses erkenntnistheoretische Problem aus — und zwar gerade indem er sich ‚festsieht‘ an jenen Abbildern, wie Sonnemann schreibt. Die angebliche Erkenntnisqualität und objektive Wahrheit dieser Bilder – seien es nun Kurvenverläufe oder aber, moderner, farbige Hirnkarten – werden so gleichsam vergötzt. Zumindest dann, wenn behauptet wird, man könne in solchen Abbildungen tatsächlich lückenlos wiedergeben, was Phänomene menschlichen Geistes sind; ungeachtet dessen, dass Geist sich aus epistemologischen Gründen weder abschließend erklären noch abbilden lässt. Dem biblischen Bilderverbot gemäß soll das Absolute nicht dargestellt werden, weil es sich nicht darstellen lässt. Verboten sind also solche Bilder, die von sich behaupten, das Absolute tatsächlich getroffen zu haben und damit zu besitzen; das Verbot richtet sich insofern insbesondere gegen Vergötterung von (falschen) Vorstellungen. Nun ist menschlicher Geist gewiss nicht gleichzusetzen mit dem, was theologisch als das göttliche Absolute gefasst wird. Das erkenntniskritische Problem aber dürfte ähnlich gelagert sein: Wie das Absolute Bedingung der Möglichkeit von Einzelnem und Partikularem, so ist Geist bzw. Vernunft die Bedingung der Möglichkeit von (Einzel-) Erkenntnis. Kantisch ausgedrückt heißt das: Das Intelligible ist vorausgesetzt, nicht deduzierbar bzw. ableitbar aus dem Empirischen. Man mag allerlei Dinge über physiologische Prozesse im Gehirn empirisch herausfinden können. Vorausgesetzt ist dafür aber, dass es überhaupt die Möglichkeit von Erkenntnis – Vernunft und Geist – gibt, die ihrerseits eben nicht in Kausalmechanismen aufgeht, sondern wesentlich Spontaneität bedeutet. Das freilich lässt sich nicht abbilden, weder in Hirnwellenverläufen noch in Aktivitätsskalen. In der szientistischen Bildgläubigkeit wird solche Reflexion über eine Phänomenologie des Geistes, die immer tatsächlich auch Selbstreflexion ist, nicht selten jedoch abgebrochen, damit aber ihr Gegenstand, der zugleich Träger ist,
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verstümmelt und reduziert auf messbare Hirnaktivitäten, die das Phänomen weder wirklich erklären noch verstehen. Das Subjekt wird in dieser Inaugenscheinnahme, Musterung, zum reinen Objekt der Messtechnik. Es wird verdinglicht zum Naturgegenstand, damit aber Objekt der Naturbeherrschung, die sich als solche nicht selber reflektiert.19 Aus der naturwissenschaftlichen Bildgläubigkeit der Gestaltpsychologie spricht dann auch, Sonnemann zufolge, ein sich selbst beruhigender, Bedenken stillstellender Blick auf die Welt. Und auch hierin folgt diese Wissenschaftsschule in gewisser Weise dem Vorbild des Descartes, dessen vom Zweifel entfachte Meditation dann doch in allerlei kontemplativer Erbaulichkeit mündet. Denn was solcher Theorie im unhinterfragten Bild einer Welt, die in sich wohlgefügt und stimmig sei, entgehen muss, sind die Abgründe, die hinter der vermeintlich harmonischen Ordnung der Dinge, ihrer Naturgesetzlichkeit, walten: „[I]gnoriert wurde von der Gestaltpsychologie die ganze Tiefendimension der Person, der mit komplementärer Indifferenz – für ihr Weltverhältnis – Freud sich zugewandt hatte. Herrschte dunkel der Naturmythus bei ihm als unvernünftiger, dionysischer Weltwille, so in der Lehre von der Gestalt als verklärende Affirmation seiner selbst: apollinische Versöhnung, deren Nachweis als vorhandene dartun sollte, die Welt sei doch wunderbar, auf unverbesserliche Weise, in Ordnung.“ (NA, 206)
Historischer Okularismus als Weltanschauungslehre Verklärende Affirmation; Verdinglichung qua cartesianischer Weltspaltung, die auch eine solche des Anschauens ist; Spaltung mithin zwischen Anschauendem und Angeschautem; darin eine teilnahmslose, angeblich neutrale und passive Distanz des beobachtenden Subjekts behauptend: dies alles lässt sich Sonnemann zufolge nicht nur in den sich seit dem 19ten Jahrhundert ausdifferenzierenden naturwissenschaftlichen Betrachtungen des Menschen finden. Auch in den sich parallel und in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften bildenden Geisteswissenschaften sei eine ganz ähnliche Tendenz zu verzeichnen. In Auseinandersetzung gerade mit Letztgenannter nähert sich Sonnemann in der Negativen Anthropologie einem Motiv, das erst in seinem Spätwerk systematisch Entfaltung finden wird. In gewisser Weise jedoch haben seine Überlegungen bezüglich der Okulartyrannis hier bereits ihren Vorläufer, auch wenn das damit bezeichnete Phänomen noch nicht die Tyrannei im Namen trägt, nicht einmal von ‚Okularismus‘ als Geisteshaltung die Rede ist. Zumindest jedoch wird die Dominanz eines spezifischen Sehens beim Namen genannt und ins Verhältnis gesetzt zum Begriff des Okulars, der tatsächlich in der Negativen Anthropologie an entscheidender Stelle auftaucht und auf den gleich dezidiert einzugehen sein wird. Doch zunächst sei
19Zum
epistemologischen Problem der Neurowissenschaften siehe Christine Zunke: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit, Berlin 2008.
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das theoretische (und als solches gerade praktische) Problem umrissen, welches Sonnemann in der Haltung der Geisteswissenschaften diagnostiziert. Bekanntermaßen ist die Bezeichnung ‚Geisteswissenschaften‘ eine relativ junge Erscheinung. In ihrer modernen Bedeutung geht sie auf die Spaltung von Natur und Geist in der wissenschaftlichen Arbeit im 19ten Jahrhundert zurück. Damit sind wir wieder bei der eingangs dieses II. Teils aufgeworfenen Problemstellung. Der traditionellen Vorstellung von Theorie gemäß – natur- wie geisteswissenschaftlicher Art – hat man sich zu entscheiden zwischen zwei Alternativen: Ist es die Natur oder aber die Geschichte, welche die jeweiligen Gegenstände bestimmt? Welches von beiden ist diejenige Kraft, die in den jeweiligen Erkenntnisobjekten waltet; sind es naturwissenschaftlich bestimmbare Gesetzmäßigkeiten oder aber die Strukturen des menschlichen Geistes, die ‚letzten Endes‘ ausschlaggebend (also messbare Verursacher) sind für die Erscheinungsformen der Dinge in der Welt? Besonders kontrovers diskutiert wurden diese Fragen gerade im Hinblick auf die Erscheinungsformen menschlichen Lebens, Gegenstand der Human- wie Geisteswissenschaften.20 Ein in diesem Widerstreit prima facie auf Seiten der Geschichte verorteter Denker des 19ten und frühen 20ten Jahrhunderts ist Wilhelm Dilthey, der wesentlich an der Ausformulierung des Programms der Geisteswissenschaften beteiligt war. Dessen oben bereits zitierte Unterscheidung zwischen Verstehen und Erklären sollte nicht zuletzt den jeweiligen Gegenstandsbereich der Geistes- wie der Naturwissenschaften umreißen: Verständlich für den Geist sei nur, was ihm ähnlich ist, also sei Verstehen eine Kategorie der Wissenschaften vom Geist. Erklärungen hingegen ließen sich auch für unähnliche und unterschiedene Phänomene finden, Erklären sei damit Kategorie der Naturwissenschaften.21 Dilthey als Vertreter der Geschichtsphilosophie (und nicht der Naturphilosophie) zu lesen, scheint zunächst einleuchtend und in dessen Texten durchaus Legitimation zu finden. So beinhaltet das Werk Diltheys eminente Vorläufer einer Ideengeschichte, in dem Sinne nämlich, dass Philosophie und die Erscheinungen des Denkens insgesamt (eben die Ideen) ins Verhältnis zur geschichtlichen Bewegung gesetzt werden.22 Was jedoch nach einem Bewusstsein für die Historizität aller menschlichen Angelegenheiten klingt und demnach aus Perspektive der Kritischen Theorie zunächst einige Sympathie finden müsste, weist aus derselben
20Vgl.
Alwin Diemer: „Geisteswissenschaften“, in: Ritter, Gründer (Hg.): Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (= G–H), Basel 1974, Sp. 211–215, insb. Sp. 213 f. – Diemer beschreibt hier die sich im 19ten Jahrhundert verfestigende Dichotomisierung von Forschung in die Bereiche Geist und Geschichte auf der einen Seite sowie Natur und Wissenschaft auf der andern. 21Diese Interpretation der wissenschaftlichen Leistung Diltheys findet sich zumindest bei Diemer: „Geisteswissenschaften“, Sp. 211 f. 22Siehe hierzu etwa Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie [1911|1919], hg. von Bernhard Groethuysen, Stuttgart & Göttingen 31962 und Bd. XV–XVII: Zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. von Ulrich Herrmann, Göttingen 1970–1974.
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Perspektive gerade im Verhältnis zum Historischen eine doppelte Unzulänglichkeit auf: Zum einen nämlich eine Tendenz, alle ‚Ideen‘ als bloßen Ausdruck des Historischen und ausschließlich in ihrer jeweiligen geschichtlichen Funktion zu sehen; also den Gedanken kein Eigengewicht zuzugestehen, womit sie über ihre reine Zeitgebundenheit hinauswiesen, indem sie im Argumentieren, Urteilen und Kritisieren, im Nachdenken also, an ein Allgemeines appellierten.23 Zum anderen findet in Diltheys Betrachtungen zur Geschichte der menschlichen Lebensformen, zumal der intellektuellen, eine reifizierende Typologie des Lebens und des Denkens statt, die im Grunde stets die gleichen Strukturen, eben Typen, detektiert. Insofern heißt es bei Dilthey zwar: „Was der Mensch sei, sagt nur die Geschichte. Der wissenschaftliche Geist läßt daher seine Mittel zu leben und zu arbeiten hinter sich zurück, wenn er solche Erleichterung seines historischen Gepäckes vornimmt; dies Aufgeben des historischen Forschens ist Verzicht auf die Erkenntnis des Menschen, sie ist der Rückzug von der Erkenntnis auf geniale, fragmentarisch sich äußernde Subjektivität.“24
Ohne geschichtliche Kontextualisierung also überhaupt keine Erkenntnis. Was sich jedoch schon hinter dem Semikolon andeutet, nämlich dass unter dem Titel Geschichte keine tatsächliche Bewegung, in der qualitativ Neues möglich wäre, gedacht ist, sondern eher das Inventar gleichbleibender Strukturen, wird im unmittelbaren Anschluss deutlich: „Aber diesen großen Zusammenhang muß die Universalgeschichte der Philosophie auch fortführen bis zur lebendigen Gegenwart, sie muß eben vermittels desselben die Gegenwart verständlich machen. Gerade im Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart wird die Identität der Struktur des philosophischen Geistes in seinen verschiedenen Epochen, die Kontinuität der philosophischen Entwicklung erst belehrend, und durch die Erfahrungen des Philosophierenden, welcher nun selbsterlebtes zu erzählen hat, wird sie so erst recht lebendig.“25
Poiniert fasst Dilthey dieses ungleiche Verhältnis von geschichtlichem Wandel und gleichbleibender Struktur des Menschen in einem zu Lebzeiten nicht publizierten
23Ähnlich
formuliert diese Kritik Adorno; vgl. Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie [1963], Nachgelassene Schriften IV/10, Frankfurt a. M. 1996, S. 157. 24Wilhelm Dilthey: „Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ [1898] in: Die Jugendgeschichte Hegels. Und andere Abhandlungen zur Geschichte des Deutschen Idealismus, Gesammelte Schriften Bd. IV, hg. von Herman Nohl, Stuttgart & Göttingen 21959, S. 528–554, hier S. 529 – Und weiterhin heißt es dort: „Das, was der menschliche Geist sei, kann nur das geschichtliche Bewußtsein an dem, was er gelebt und hervorgebracht hat, zur Erkenntnis bringen, und dieses geschichtliche Selbstbewußtsein des Geistes kann uns allein ermöglichen, ein wissenschaftliches und systematisches Denken über den Menschen allmählich zu erarbeiten. Nietzsche steht als ein schreckendes Beispiel dafür da, wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt, welcher das Wesenhafte in sich selbst erfassen möchte.“ Ebd., S. 528. 25Dilthey: „Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, S. 530.
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Entwurf; und zwar, womit wir nun wieder ganz bei der leidigen Frontstellung zwischen Geschichte und ihrem vermeintlichen Konterpart wären, unter Rekurs auf den Naturbegriff: „Die Natur des Menschen ist immer dieselbe. Was aber in ihr von Möglichkeiten des Daseins enthalten ist, bringt erst die Geschichte an den Tag. Erst wenn eine Veränderung im ganzen menschlichen Lebens- und Bewußtseinsstande sich vollzogen hat, kann die historische Analysis nachträglich aus der menschlichen Natur und den Bedingungen, unter die sie trat, verstehen, was geschehen ist.“26
Vor diesem (etwas langatmig ausgeführten) Hintergrund wird nun erst verständlich, auf welche Weise Sonnemann seine Okularismus-Kritik nicht nur negativ an Descartes, sondern gerade an der cartesianisch fortgesetzten Wissenschaftskultur des 19ten und 20ten Jahrhunderts entwickelt. Denn ganz wie die messende Naturwissenschaft vom Menschen deutet Sonnemann auch den Hauptstrom deutscher Geisteswissenschaft als einer identifizierenden Optik anheimgefallen, die ihren Gegenstand, derart verdinglichend, notwendigerweise verkennen muss; wäre Geschichte im emphatischen Sinne doch gerade das, was sich nicht in einer stets nur sich selbst bestätigenden Typologie erschöpft. So aber wird die Welt laut Sonnemanns Kritik stillgestellt in Betrachtung; Denken gerät, mit einem Hauptterminus Diltheys, zur Weltanschauung. Nicht gerade Alleinstellungsmerkmal der Diltheyschen Theorie, reiht sie sich mit dieser Konzeption in eine Tendenz ein, die zunehmend das ganze ‚historische Zeitalter‘, mithin das bürgerliche 19te Jahrhundert, beherrscht: Ein Zeitalter, das Sonnemann charakterisiert als eines der zusehends verkürzten, verstümmelten Vernunft, weil das Bürgertum nicht das einzulösen vermochte, was sein innerer Anspruch war: endlich Geschichte zu machen, also mit der mythologischen Rechtfertigung der Beherrschung von
26Wilhelm
Dilthey: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens (1), Gesammelte Schriften Bd. V, hg. von Georg Misch, Leipzig & Berlin 1924, S. 425. An anderer Stelle heißt es: „Aus der Besinnung über das Leben entsteht die Lebenserfahrung. Die einzelnen Geschehnisse, die das Bündel von Trieben und Gefühlen in uns bei seinem Zusammentreffen mit der umgebenden Welt und dem Schicksal hervorruft, werden in ihr zu gegenständlichem und allgemeinem Wissen zusammengenommen. Wie die menschliche Natur immer dieselbe ist, so sind auch die Grundzüge der Lebenserfahrung allen gemeinsam. Die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge und in derselben unsere Kraft, die Stunden zu genießen; in starken oder auch beschränkten Naturen ein Zug, diese Vergänglichkeit durch den Aufbau eines festen Gerüsts der Existenz zu überwinden, und in weicheren oder grüblerischen Naturen das Ungenügen daran und die Sehnsucht nach einem wahrhaft Dauernden in einer unsichtbaren Welt; die vordringende Macht der Leidenschaften, die wie ein Traum Phantasiebilder schaffen, bis die Illusion in ihnen sich auflöst. So gestaltet sich die Lebenserfahrung verschieden in den Einzelnen: Ihren gemeinsamen Untergrund in allen bilden die Anschauungen von der Macht des Zufalls, der Korruptibilität von allem, was wir besitzen, lieben oder auch hassen und fürchten, und von der beständigen Gegenwart des Todes, der allgewaltig für jeden von uns Bedeutung und Sinn des Lebens bestimmt.“ Wilhelm Dilthey: „Die Typen der Weltanschauung und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen“ [1911| 1919], in: Weltanschauungslehre, Gesammelte Schriften Bd. VIII, S. 75–120, hier S. 79.
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Menschen durch Menschen aufzuhören, stattdessen die Welt schließlich menschlich und vernunftgemäß einzurichten. Sonnemann schreibt in der Negativen Anthropologie: „Die Wirkung eines prämaturen Vernunftstolzes für die Selbstherrlichkeit der deutschen Bildungsschicht war einst tief gewesen, und vorgezeichnet war das Schicksal der Phänomenologie so gerade im die Welt Spaltenden und Verdoppelnden, Ersatzhaften einer Gestaltenlust, die die Geschichte, je weniger ihre Inhaberschaft welche machte, um so kartesischer der Scheinmächtigkeit einer sie in Verwaltung nehmenden Anschauung unterwarf, der perzipierenden Verfügung über einen von Idealmodellen starrenden QuasiRaum: ästhetisches Panoptikum deutscher Geisteswissenschaft, ihres vorhegelschen Grundstockes, fortwirkende Antizipation des zaubermächtigen Schelerschen GuckkastenOkulars, der dessen Linie dann aufnahm.“ (NA, 214 f.)
Allerhand kommt in diesem Passus zusammen; zu viel, um jeder Spur nachzugehen, da einer spezifischen Fährte zu folgen ist; unter anderem die Randbemerkung zur Phänomenologie muss hier außer Acht bleiben. Nachzugehen ist der Andeutung, der zufolge die Geschichte einer ‚in Verwaltung nehmenden Anschauung‘ unterworfen wird. Nach dem, was oben über Dilthey ausgeführt wurde, bedarf es nun keiner großen Interpretationskünste, um zu dechiffrieren, wer sich hier im ‚ästhetischen Panoptikum deutscher Geisteswissenschaften‘ eingerichtet haben soll. Wäre die Geschichte der Ort, an dem sich eine letztlich immergleiche menschliche Natur in ihren oberflächlich zwar verschiedenartigen, im Wesen jedoch identischen Gestalten zeigt – und die Darstellung dessen will die Diltheysche Typologie durchaus leisten – dann wäre theoretisches Verhalten tatsächlich ein unpraktisches, rein beobachtendes, dann wäre es Aufgabe der Theorie, aus der geschichtlichen Erfahrung heraus die menschliche Natur, das gleichbleibende Wesen, als Destillat zu gewinnen. Nach dieser (von Sonnemanns Anmerkungen ausgehenden) Lesart der Theorie Diltheys wird dann der Gestaltbegriff – dessen produktives Moment wie oben beschrieben gerade darin bestand, nicht Sinneswahrnehmung und deren Gegenstände auf Identität festzulegen, sie gleichwohl nicht beziehungslos nebeneinanderzustellen – hier ins Gegenteil verkehrt: Das ‚Verdoppelnde‘ der ‚Gestaltenlust‘ meint, dass mit den stets sich perpetuierenden Gestalten menschlichen Lebens (Diltheys Typen) – im theoretischen Abbild der menschlichen Natur also – lediglich über die Geschichte hinweg Identisches, anthropologisch Konstantes registriert und festgehalten wird. Verdoppelnd ist dieses Erkenntnisverhalten deshalb, weil es vorgibt, in der Theorie vom menschlichen Leben nur das wiedergeben zu können, was im Wesen bereits angelegt ist. Die Aufgabe der Theorie bestünde dann darin, Abbilder vom Urbild zu produzieren, statt sich selbst als Ort zu begreifen, an dem durch Denken das vermeintlich Gewisse, Feste, Unabänderliche durchbrochen und Neues vorgestellt werden könnte. Gleichzeitig erhebt sich die Theorie damit verfügend über ihr Material, die menschliche Welt, welche sie derart tatsächlich ihrem eigenen Bilde gemäß zurichtet, festschreibt und formt. Das theoretische Betrachten wird auch hier ganz wie in der szientistischen Linie der Gestaltpsychologie gewissermaßen zum Vergötzen von
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Fetischen: Als ob die durch menschliches Zutun gewordene Welt bloßes Faktum von Naturgesetzlichkeiten wäre, durch und durch determiniert von unabänderlichen Strukturen. Diese ‚Weltspaltung‘ in Erkenntnissubjekt und -objekt wird zum ‚Ersatzhaften‘, gerade weil sie verkennt, dass solche Abbildung gar nicht nur theoretisch ist, sondern selber Praxis; sei’s auch nur im Sinne einer self fullfilling prophecy. ‚Ästhetisch‘ ist solches ‚Panoptikum‘, da ihm die Geschichte zum Schauplatz anschaulich registrierbarer, aber nicht beeinflussbarer Prozesse wird; eine Geisteshaltung, in der sich nach obigem Zitat das Ausbleiben oder Scheitern einer bürgerlichen Revolution im Deutschland des 19ten Jahrhunderts niedergeschlagen hat. Diltheys Theorie, die immerhin konstatierte, dass alles menschliche Leben in Geschichte stattfinde, nur auf halbem Wege kehrtmachte und zur geschichtslosen Typen- und Weltanschauungslehre zurückkehrte, zeigt sich derart laut Sonnemann als eine „halb-okulare“ (NA, 215) Geisteswissenschaft.
Okular Es sind die Briefe Paul Yorck von Wartenburgs an die Adresse Diltheys, denen Sonnemann diese Kritik an einem unkritischen, verdinglichenden Geschichtsmodell entnimmt und denen auch der Begriff des Okulars entstammt.27 Sonnemann zitiert in der Negativen Anthropologie aus Yorcks Briefen und stellt ihnen einen Kommentar voran: „Ehe Scheler noch aufgetreten war, traf unter polemischer Applikation des soeben in Gebrauch genommenen Okular-Begriffs, den wir seiner Einsicht verdanken, Yorck von Wartenburg den Sachverhalt schon mit aller Distanziertheit, die ihm die Epoche gestatten wollte. Ohne Schonung sogar Rankes, dessen Geschichtsschreibung seinem eigenen berühmtesten Desiderat nicht genügt hatte, ist er denkwürdig in Yorcks Briefen an den halb-okularen Dilthey erfaßt. ‚Hier trenne ich mich von Ihnen. (…) Vergleichung ist immer aesthetisch, haftet immer an der Gestalt. (…) Dem Naturwissenschaftler bleibt eben neben der Wissenschaft als eine Art von menschlichem Beruhigungsmittel nur der aesthetische Genuß. Ihr Begriff von Geschichte ist doch der eines Kräftekonnexes, von
27Briefwechsel
zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, hg. von Sigrid von der Schulenburg, Halle 1923. – Dass es sich dabei ausgerechnet um Yorck von Wartenburgs Briefe handelt, ist nicht ganz ohne eine gewisse Ironie, sind diese doch auch in die Philosophiegeschichte eingegangen als Inspiration für Martin Heideggers Konzeption von Geschichtlichkeit. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1926], Tübingen 192006, S. 397–404: § 77. „Der Zusammenhang der vorstehenden Exposition des Problems der Geschichtlichkeit mit den Forschungen W. Diltheys und den Ideen des Grafen Yorck.“ – Gut möglich, dass Sonnemann hier überhaupt erst auf den Briefwechsel und die Themen ‚Okular‘ sowie ‚Geschichtlichkeit‘ gestoßen ist. Zumindest sind die in der Negativen Anthropologie zitierten Passagen weitestgehend deckungsgleich mit den in Sein und Zeit wiedergegebenen. Was Sonnemann denselben Texten entnimmt, weicht allerdings deutlich von Heideggers Konzept der Geschichtlichkeit ab, gerade weil Sonnemann dabei nicht auf eine fundamentalontologische Grundstruktur abzielt.
Okular
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Krafteinheiten, auf welche die Kategorie: Gestalt nur übertragener Maßen anwendbar sein sollte.‘ Und: ‚Ranke ist ein großes Okular, dem nicht, was entschwand, zu Wirklichkeiten werden kann. (…) Aus Rankes ganzer Art erklärt sich auch die Beschränkung des Geschichtsstoffs auf das Politische. Nur dies ist das Dramatische.‘ Weiter: ‚Jene Schule‘ – die sogenannte historische – ‚war gar keine historische sondern eine antiquarische, aesthetisch konstruirend, während die große dominirende Bewegung die der mechanischen Construktion war. Daher was sie methodisch hinzubrachte, zu der Methode der Rationalität nur Gesamtgefühl.‘“ (NA, 215)
Gerade jenes aus den Naturwissenschaften stammende Verfahren der Vergleichung, so erfahren wir hier aus Yorcks Brief, den Sonnemann ausführlich zitiert, muss der Auseinandersetzung mit Geschichte und den menschlichen Dingen insgesamt gegenüber unangemessen, da verkürzt bleiben. Von Bedeutung ist dabei sicherlich auch der Kontext, in dem Yorck diesen Einwand erhebt: Zur Debatte steht Diltheys Betrachtung der Literatur unter ideengeschichtlicher, also in Diltheys Terminologie ‚typologischer‘ Perspektive. Dabei würden Anleihen gemacht bei Verfahren aus der physiologischen Sprachwissenschaft, die sich zwar mit dem „sprachliche[n] Soma“, der „somatische[n] Seite der Sprache“ befasse, unter der jedoch die „rhetorisch-logische“ Dimension verschwinde.28 Vernunft und Geist werden herausgekürzt und -gestrichen statt die Vermittlung zwischen solchen Polaritäten zu suchen. Analog gerät der szientistischen Anschauung dann die ganze menschliche Welt zur bloß ‚mechanischen Construktion‘, die Welt der res extensae des Descartes also, in denen alle Körper lediglich als geistlose Mechanismen vorkommen. (Nebenbei sei angemerkt, dass Yorck im Brief tatsächlich auch die Cartesische Theorie verhandelt.) Wird jedenfalls dieses – auch für die angeblich eindeutig naturwissenschaftlichen Gegenstände schon problematische – Verfahren der Vergleichung von Typen bzw. Gestalten übertragen auf die menschlichen Phänomene, so werden die Resultate der Interpretation umso fragwürdiger: Im Ergebnis nämlich erscheint Geschichte hier als „eine Reihe von Bildern, von Einzelgestalten, aesthetische Forderung“,29 wie es bei Yorck heißt; ein Schauspiel, welches zum ‚aesthetischen Genuß‘ betrachtet werden kann, in das aber ein Eingreifen nicht so recht möglich und auch nicht vorgesehen ist. Das wäre Yorcks Definition eines historischen Okularismus’, die Sonnemann übernimmt.30 Was Yorck nun solcher Vorstellung von Geschichte als ‚Beruhigungsmittel‘, einem erbaulichen Schauspiel vor dem Auge einer panoptischen Vernunft, entgegenhält, ist kritische Aufmerksamkeit den geschichtlichen Konstellationen der Phänomene gegenüber. Sonnemann zitiert entsprechend weiter aus den Briefen:
28Yorck
von Wartenburg (an Dilthey): Briefwechsel, S. 193 f. von Wartenburg (an Dilthey): Briefwechsel, S. 193. 30„Ranke ist ganz Auge als Historiker, die Empfindung als ein rein persönliches behält er für sich, es ist ein Geschichte sehen, nicht ein Geschichte leben. Darum fehlt es am letzten Sinn solcher Geschichte.“ Yorck von Wartenburg (an Dilthey): Briefwechsel, S. 60. 29Yorck
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„Schließlich: ‚Das Selbstverhalten und die Geschichtlichkeit sind wie Athmen und Luftdruck …‘ und: ‚Aber Sie kennen meine Vorliebe für das Paradoxe, die ich damit rechtfertige, daß Paradoxie ein Merkmal der Wahrheit ist, daß communis opinio gewißlich nirgends in der Wahrheit ist, als ein elementarer Niederschlag verallgemeinernden Halbverstehens, in dem Verhältnisse zu der Wahrheit wie der Schwefeldampf, den der Blitz zurückläßt. Wahrheit ist nie Element. Staatspaedagogische Aufgabe wäre es die elementare öffentliche Meinung zu zersetzen und möglichst die Individualität des Sehens und Ansehens bildend zu ermöglichen. Es würden dann statt eines so genannten öffentlichen Gewissens – dieser radikalen Veräußerlichung, wieder Einzelgewissen, d. h. Gewissen mächtig werden.‘“ (NA, 215 f.)
Mit solchem Gewissen, das macht Sonnemann im Umfeld des Zitates deutlich, ist nun gerade nicht die verinnerlichte und zugleich heteronome Stimme der gesellschaftlichen Zwänge gemeint, die in der Psychoanalyse als Über-Ich gefasst wird. Zwar kommt auch kritischem Gewissen ein appellierender, also sich vehement an das Subjekt richtender Charakter zu. Doch was sich derart bemerkbar macht, sind keine inkorporierten gesellschaftlichen Zwangsvorstellungen, sondern der Anspruch der geschichtlichen wie gesellschaftlichen Wirklichkeiten, in ihrer jeweiligen Gestalt erkennend wahrgenommen zu werden.31 Solches Gewissen wäre also kritische Aufmerksamkeit gerade für Äußeres, nicht bloße Innerlichkeit. Statt aber dem okularen Verhalten gemäß bloß zu registrieren, was der öffentlichen Meinung ohnehin bekannt, der allgemeinen Wahrnehmung nach eingängig ist, ginge es dabei vielmehr um ein reflektiertes und reflektierendes Betrachten, eben jene ‚Individualität des Sehens und Ansehens‘, die noch auszubilden ist. Das wäre ein befreites Sehen, Komplement zum kritisch-aufmerksamen Hören. Solche Haltung „steht […] bei Yorck in der Nachbarschaft des historischen Materialismus, fängt ihrem Potential nach wie ein Schallgerät den in der Tiefe der Gesellschaft rumorenden Interessenkampf auf.“ (NA, 216)32 Kritische Aufmerksamkeit aber richtet sich erfahrend nicht bloß auf das jeweils Präsente. „Spontane Vernunft“ nämlich hat die „Konkretion ihrer Erinnerung“ (NA, 233) zur Aufgabe. Das Vergangene ist ihr nicht schlechterdings abgeschlossen und passé, vielmehr betrachtet sie es als ein (ehedem) Lebendiges, das möglicherweise zwar nicht mehr ist, aber erinnernd in gewisser Hinsicht wieder lebendig gemacht werden kann. Und zwar dergestalt, dass durch die Mittel von Vernunft, vornehmlich dasjenige von Kritik, und durch ihre Erfahrungsoffenheit die verschütteten Potentiale von Geschichtlichem offengelegt werden. Die „Begegnung“ kritischer Aufmerksamkeit mit „geschichtlichem Material“ bedeutet demzufolge zugleich „die Herausforderung des Urteils, seiner spontan reflexiven Erfahrung“ (NA, 223).
31Siehe
oben, Kapitel 3 (Eine Kritische Hermeneutik). zu ergänzen sein dürfte hier, dass jener Interessenkampf gar nicht so sehr in der Tiefe der Gesellschaft rumort, sondern, zumal im 19ten Jahrhundert, offen zutage liegt: in der unsäglichen Ungerechtigkeit sozialer Verhältnisse etwa, in denen zwar ein stetig wachsender, gesellschaftlicher Reichtum durch die entfesselten Produktivkräfte generiert wird, zugleich jedoch die Verelendung der proletarischen Massen rasant voranschreitet. 32Kritisch
Okular
223
Gegen ein okulares Verhältnis zur Geschichte richtet Sonnemann mit Yorck also ein kritisches. Denn: „‚Alle wahrhaft lebendige und nicht nur Leben schillernde Historie‘, so schrieb Yorck, ‚ist Kritik.‘“ (NA, 225)
Bestimmte Negation Sprachmächtigkeit als Hellhörigkeit und Kritik gesellschaftlicher Idolatrie
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„Dem historischen Materialisten fällt die Idee des menschenwürdigen Daseins, an der allein die politische Praxis sich zu orientieren vermöchte, weder aus dem leeren Himmel zu, noch entspringt sie ihm aus der Schau eines vermeintlich unzerstörbaren Wesens der Menschen, sie entwächst vielmehr der Geschichte als deren Anderes, vor dem diese zu einer einzigen Katastrophe wird.“ (Peter Bulthaup: „Parusie“, S. 124.) „der Mensch lasse sich aber gar nicht mehr erschüttern, das sei ja das Merkmal des Heutigen, daß er sich ganz und gar nicht mehr und durch nichts mehr erschüttern lasse“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 136.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_11
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11 Bestimmte Negation
Verschiedenen Konstellationen nachgehend, ließen sich die letzten Kapitel immer tiefer in den Text der Negativen Anthropologie ein, damit in die Sache selbst: zuvorderst Argumente bzw. Gedankengänge, deren motivisch-thematische Variationen in der Geistesgeschichte sowie ihr Verhältnis zu historischen Entwicklungen im Allgemeinen. Nun ist es angezeigt, noch einmal aus dem Textmaterial und den korrespondierenden Gegenständen aufzutauchen, gleichsam Luft zu holen und auf Grundsätzliches zu sprechen zu kommen, bevor umso nachdrücklicher wieder dem Detail zu folgen sein wird. Was wurde bis hierher also verhandelt? Zum Auftakt des II. Teils vorliegender Untersuchungen (Kapitel 7) stellte sich das Problem einer jeden Anthropologie, ob diese nicht notwendigerweise falsche Naturalisierung von historisch Gewordenem vornehmen müsse. Kann es, so war zu fragen, überhaupt eine kritische Anthropologie geben? Diese Frage ist im Übrigen nicht abschließend geklärt; insbesondere ist noch offen, was überhaupt nicht-hypostasierte menschliche Natur aus kritischer Perspektive sein könnte. Zumindest aber wurde deutlich, was die theoretischen Konsequenzen einer unkritischen Bestimmung menschlicher Natur sind, veranschaulicht an einer zum Positivismus neigenden Anthropologie, namentlich derjenigen Arnold Gehlens (Kapitel 8). Diesem Strang folgend, stießen die Untersuchungen auf Descartes Begründung des modernen, objektiven Wissenschaftsanspruchs (Kapitel 9); ein Anspruch, dessen Objektivität allerdings nicht selten mit einer Verkürzung oder gar Verstümmelung der Vernunft zum instrumentellen Gebrauch erkauft war, dessen Objektivität de facto Okularität und Verschließen der Ohren, Verhinderung von kritischer Aufmerksamkeit bedeutet. Fatal ist diese Objektivierung – zurück zum Hauptthema (Anthropologie) – insbesondere bei den Wissenschaften vom Menschen, sei es nun im Hinblick auf menschliche Natur, also Physiologie und Psychologie, sei es Geschichte oder Kultur betreffend: sie müssen ihren Gegenstand als bloßes Objekt notwendigerweise verkennen (Kapitel 10). Fragt sich nun, warum alldem so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Was bleibt bei solcher Kritik vom Kritisierten noch übrig? Nun, die Frage wäre in dieser Weise schon falsch gestellt, suggeriert sie doch, man müsse mit Positivem anfangen oder zumindest enden, um einen Gegenstand erkannt zu haben. Dabei folgt Sonnemanns Negative Anthropologie solchem Anspruch gerade nicht. Ihrem eigenen Untertitel nach versteht sie Erkenntnis als „Vorstudie zur Sabotage des Schicksals“, mithin als Zersetzung falscher Gewissheiten und angeblicher Sachzwänge. Versuch zur Sabotage jedoch könnte sie nicht sein als abstrakte Kritik, die dem Falschen nun ein rein äußerlich bleibendes Positives entgegenhielte, etwa ein richtiges oder wahres Bild vom Menschen und seiner Natur. Vielmehr ist sie, so eine Kapitelüberschrift im Buch, „Bestimmte Negation aller Möglichkeit widerspruchsfrei positiver“ (NA, 224). Daher ist es keineswegs überflüssig, sich mit Fragwürdigem zu befassen; auch dort nicht, wo es sich am Ende als unstimmige und unzutreffende Theorie entpuppen mag. Vielmehr ist das festhaltende Konstatieren gewisser Falschheiten positivistischer Anthropologien selbst bereits Teil einer kritisch-dialektischen. Der Okularität positivistischer Humanwissenschaften begegnet kritische Anthropologie mit einer Hellhörigkeit für die
Abstrakte und bestimmte Negation
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inneren Widersprüche ihres Gegenstandes, zu welchem eben auch die Theorien des Menschen gehören. Im Folgenden soll dieser Zusammenhang entfaltet werden, wobei mehrfach der auszulegende Text der Negativen Anthropologie – ihr Kapitel zur bestimmten Negation – verlassen werden muss; einmal, weil er selbst auf methodologische Zusammenhänge hindeutet, die insbesondere bei Hegel ausformuliert sind; im anschließenden 12. Kapitel dann, weil dem inneren Anspruch gemäß negative Anthropologie zur mikrologischen Auseinandersetzung mit Geschichtlichem drängt, auch und gerade dort, wo es um die Sache der Sprache geht.
Abstrakte und bestimmte Negation Bezüglich der Cartesischen Meditationen wurde im 9. Kapitel bereits en passant darauf hingewiesen, dass Descartes mit seinem Verfahren des Bezweifelns die abstrakte Negation zum Fundament seiner Philosophie gereichen soll. Dieser Faden sei noch einmal aufgenommen. Nun ist ja durchaus nicht falsch, was Descartes über die Sinnlichkeit und ihren trügerischen Charakter schreibt. Sinnestäuschungen existieren bekanntermaßen. Und nicht nur deshalb können die sinnlichen Empfindungen einen unmittelbaren Wahrheitsanspruch nicht garantieren, auch wenn die alltägliche Erfahrung uns dies glauben machen will. Gerade solch vermeintliche Unmittelbarkeit der eigenen Empfindungen ist deshalb so trügerisch, weil an ihnen kaum je zu Bewusstsein kommt, dass selbst diese augenscheinlich ganz individuellen Phänomene, die Perzeption durch die je eigenen Sinnesorgane (durch die eben kein anderer Mensch perzipieren kann als ich selber) zutiefst gesellschaftlich vermittelt sind. Denn wenn auch niemand ohne eigene Sinnesorgane (im Fall von Prothesen zumindest durch die Verschaltung mit dem eigenen Nervensystem) Empfindungen resp. Sinneseindrücke hat, so riecht und schmeckt, fühlt, sieht und hört, also empfindet doch gleichzeitig niemand ohne eine onto- wie phylogenetische Entwicklung dieser Vermögen. Die Empfindungsvermögen sind damit ihrerseits geprägt von individueller wie gesellschaftlicher Geschichte, in ihnen lagern sich Erfahrungen ab (darauf wurde oben im Kontext der Gestaltpsychologie schon hingewiesen). Angesichts einer bis dato herrschaftsförmigen Geschichte erscheint das Gepräge der Empfindungen häufig genug jedoch eher als Zurichtung denn als Einübung und Entfaltung von Potentialen.1 Zweifel – wie diejenigen des Descartes – an der Absolutheit sinnlicher Wahrnehmung und an einem sich darauf stützenden, empiristischen Wahrheitsanspruch sind also durchaus gerechtfertigt. Auch eine weitere Erfahrung, die in den Cartesischen Meditationen ihren Ausdruck findet, hat etwas überaus Zutreffendes: nämlich diejenige, dass Körper und Geist nicht deckungsgleich sind, ja das beide zuweilen förmlich
1Hier sei noch einmal auf die kurze Darstellung dieses Komplexes im Kontext von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung hingewiesen; siehe oben, Kapitel 4.
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11 Bestimmte Negation
auseinanderfallen. Denn weder geht Denken – Bewusstsein – einfach in (hirn-) physiologischen Prozessen auf. Allein etwa die Sprache, ohne die kein Bewusstsein im emphatischen Sinne wäre, ist stets auch ein Gesellschaftliches; subjektiver Geist trägt (nach Hegelscher und Simmelscher Diktion) Anteile des objektiven Geistes in sich, ist also niemals nur innerer Geist, nicht allein an einen organischen Körper gebunden. Noch jedoch fällt die körperliche Welt einfach mit der geistigen zusammen; jene ist nicht bloße Verfügungsmasse des Geistes, sie besitzt vielmehr ein Eigenleben, auch im Sinne von Widerstrebsamkeit und Eigengesetzlichkeit, die übrigens keineswegs zu verklären sind.2 Dem Trug falscher Unmittelbarkeiten ist nicht zuletzt Hegel begegnet, darin dem kritischen Grundimpuls der Cartesischen Meditation durchaus verwandt. So etwa in seiner Kritik des ‚natürlichen Bewusstseins‘, aus welchem heraus wir zunächst ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass uns in unseren Wahrnehmungen die Realität unmittelbar gegeben sei. Ganz wie Descartes überführt Hegel diese Vorstellung nun als Trug.3 Jedoch wird bei Hegel dieser Zweifel nicht selbst verabsolutiert und zum Unmittelbaren erklärt; wird also nicht die angezweifelte Erfahrung abstrakt negiert, sozusagen für Null und nichtig erklärt und gänzlich verworfen. Gerade durch Transformation solchen Skeptizismus’ – der sich besonders radikal glaubt, da er seinen jeweiligen Gegenstand gänzlich zertrümmert, am Ende damit aber stark zum Dogmatismus tendiert – etabliert Hegel sein eigenes Verfahren der Negation. Nicht soll einer „einseitigen Ansicht“4 Vorschub geleistet werden, die sich absolut setzt und nicht mehr auf sich selbst reflektiert: „Sie [scil. die einseitige Ansicht] ist nemlich der Skepticismus, der in dem Resultat nur immer das reine Nichts sieht und davon abstrahirt, daß diß Nichts, bestimmt das Nichts dessen ist, woraus es resultiert. Das Nichts ist aber nur, genommen als das Nichts dessen, woraus es herkömmt, in der That das wahrhafte Resultat; es ist hiemit selbst ein bestimmtes und hat einen Inhalt. Der Skepticismus, der mit der Abstraction des Nichts oder der Leerheit endigt, kann von dieser nicht weiter fortgehen, sondern muß es erwarten, ob und was ihm etwa neues sich darbietet, um es in denselben leeren Abgrund zu werfen. Indem dagegen das Resultat, wie es in Wahrheit ist, aufgefaßt wird, als bestimmte Negation, so ist damit unmittelbar eine neue Form entsprungen und in der Negation der Uebergang gemacht, wodurch sich der Fortgang durch die vollständige Reihe der Gestalten von selbst ergibt.“5
2Allerdings
wird der zweite Aspekt der Nichtidentität von Körperlichem und Geistigem von Descartes bereits nicht mehr vollends reflektiert. Mehr noch, seine Behauptung, dass beide vollkommen getrennt wären, führt gerade zu der von Sonnemann beanstandeten Tendenz eines cogitierenden Geistes, sich die res extensae gefügig zu machen, ohne ihr Eigenleben zu achten. 3Vgl. Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 56 [9 f.]. – Siehe hierzu auch die ersten drei Kapitel der Phänomenologie, ebd., S. 63–102: „I. Die sinnliche Gewißheit; oder das Diese und das Meynen“; „II. Die Wahrnehmung; oder das Ding, und die Täuschung“; „III. Krafft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt“. 4Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 57 [11]. 5Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, S. 57 [11 f.].
Abstrakte und bestimmte Negation
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Was es mit jener Vollständigkeit der Reihe der Gestalten auf sich hat, ob etwa der Vorzug des Hegelschen Verfahrens darin bestünde, einen streng systematischen Fortgang der Gedanken bis in jeden Winkel der Welt hinein zu ermöglichen – Sonnemans Kritik des Hegelschen Denkens impliziert diese Lesart an einigen Stellen – ist hier erst einmal nicht relevant. Die für unsere Belange entscheidendere Einsicht aus jenem Passus lautet vielmehr, dass die abstrakte Negation des Skeptizismus’ cartesianischer Prägung sich Hegel zufolge selbst verkennt. Anders als die Meditationen des Descartes es nahelegen, ist das Angezweifelte nicht einfach ein Nichts, vielmehr als Negation einer falschen Vorstellung nun eine nähere Bestimmung des Gegenstandes: ein Gegenstand, der nicht in der als falsch bestimmten, positiven Vorstellung aufgeht, nicht von ihr getroffen wird. Das Negierte ist darum, weil es Bestimmung ist, nicht zu verwerfen, sondern aufzuheben; das heißt aber: neben dem Negieren ebenso Festhalten (conservare), damit diese negative Erkenntnis nicht verlorengeht; dann aber auch, durch die Negation den Gegenstand auf eine höhere Ebene der Reflexion zu heben (elevare), von welcher aus die Bestimmung weitergeführt werden soll. (Bestimmung, wohlgemerkt, die wie oben gesehen stets mehrfaches bedeutet.) Bestimmte Negation hält sich damit ans Konkrete; anders als abstrakte Negation, die den Maßstab ihres Zweifels für absolut behaupten muss, dem aber kein Partikulares irgend genügen kann, daher alles Partikulare verworfen und zertrümmert wird. Solch reine Abstraktion stellt gewissermaßen einen Frevel am Absoluten dar, denn das Absolute kann nur näherungsweise und konstellativ umfasst werden, entzieht sich jäh seiner handgreiflichen Definition. Bestimmte Negation ist das Bewusstsein um diesen Zusammenhang, deshalb verwirft sie nichts gänzlich, hält die Wahrheitsmomente aller unvollständigen Wahrheit, auch und gerade des Negativen, fest, weil darin mehr Wahrheit aufbewahrt ist als im absoluten Maßstab abstrakter Negation, die eben behaupten muss, jenen Maßstab als Positives zu besitzen, des Absoluten also habhaft werden zu können glaubt. In diesem Sinne ist bestimmte Negation immanente Kritik, sie zergliedert und prüft ihre Gegenstände intern. So lässt sich aber das Verfahren der bestimmten Negation nicht als Methodologie unabhängig von ihrem Gegenstand entwickeln. Eine allgemeingültige Methode bestimmter Negation existiert nicht.6 Diese Einsichten Hegels sind unverzichtbar für Sonnemanns Negative Anthropologie, versteht sie sich selbst doch (wie bereits mehrfach bemerkt) als bestimmte Negation. Umso eigenartiger, dass Sonnemann solchen Erwägungen aus Hegels Phänomenologie kaum Beachtung schenkt, mehr noch Hegel hauptsächlich in distanzierenden Stellungnahmen auftaucht; insbesondere dort, wo es um den Hegelschen Begriff geht, darauf wird noch zurückzukommen sein. Dennoch erscheint es vorliegender Arbeit unerlässlich, diesen Anteil an Hegelscher Dialektik in Sonnemanns Negativer Anthropologie offenzulegen: Denn
6Zumindest ist dies die Lesart der Hegelschen Verfahrensweise (resp. deren Aneignung) aus Perspektive der Kritischen Theorie; vgl. beispielsweise Adorno: Einführung in die Dialektik, S. 28–42 (= 3. Vorlesung), sowie S. 72.
230
11 Bestimmte Negation
wenn auch dieser kaum durch Zitationsverhalten nachweisbar ist, so ist doch eine von Hegel beeinflusste Geisteshaltung dem Werk deutlich anzumerken.7 Der konkrete Gegenstand philosophischer Betrachtung bei Descartes und Hegel wie auch bei Sonnemann ist, zumindest einem entscheidenden Aspekt nach, derselbe: Die Frage nämlich nach dem, was das Menschliche und was der Mensch sei, was es auf sich hat mit diesen geistig-körperlichen Lebewesen. Während Descartes über seine abstrakte Negation den Geist als gleichsam absolutistischen Herrscher über die ausgedehnte Welt und den Körper einzusetzen scheint, kommt Hegel in bestimmter Negation auf eine in sich vielfach reflektierte, nicht positiv definierbare Prozessstruktur des Geistes, der sich gerade in vielfachen Vermittlungen zwischen dem bewegt, was bei Kant als intelligible und empirische Sphäre noch deutlicher geschieden war; zwar zwei nicht in einander reduzible, also polare Bereiche, die jedoch ebenso wenig beziehungslos nebeneinander existieren, wie es ein cartesianischer Dualismus behauptet. Während jedoch Anthropologie im engeren Sinne nominell weder das Hauptthema Descartes’ noch Hegels ist, wird sie in Sonnemanns philosophischem Œuvre einschlägig, wird ein latent ohnehin anwesender Gegenstand philosophischer Reflexion explizit, konkret. Beinahe von selbst drängt es solche konkrete Reflexion denn auch zu den Konkretionen der nicht nur philosophischen Frage nach dem Menschen: in den Einzelwissenschaften, die als Humanwissenschaften gelten können. Mit Blick auf die Psychologie und die Geschichtswissenschaft hatten wir schon gesehen, wie Sonnemann hier die meist implizit bleibenden Annahmen anthropologischer Invarianten kritisiert. An solchen Momenten positivistischer Anthropologie nun entwickelt Sonnemann seine interne Kritik, indem sie sich in die gesellschaftlichen, damit menschlichen Immanenzverhältnisse, die reale Geschichte, begibt, sich nicht mit der Schau eines Ideenhimmels begnügt. Darin ist immanente Kritik, zumindest in Sonnemanns Variante, zugleich Kritik des angeblich passiven, ästhetisierend betrachtenden Okularismus cartesianischer Provenienz. Sie will nicht das möglichst exakte Abbild der Wirklichkeit in der Theorie zeichnen, das seine Wirklichkeit zwangsweise verkennen muss, sondern negative Anthropologie ist Entwurf, wie Sonnemann im Kapitel zur bestimmten Negation schreibt: „Als Negation des Bestehenden ist die Praxis solchen Entwurfes Kritik, wie als Prozeß des Bewußtseins, der sich mit Zeitigungen von Bewußtsein auseinander, seine Position davon absetzt, die Kritik Theorie ist. Vermieden ist, indem sie erkannt wird, die Hybris positiver Anthropologie, die in der Nötigung für sie besteht, in der Theorie ihres
7Zwar
kritisiert Sonnemann in der Negativen Anthropologie tatsächlich vielfach Hegel, bezieht sich damit aber ausschließlich auf dessen Geschichtsdenken. Andere Texte bekennen womöglich deutlicher, wie viel Dialektik gerade aus der Phänomenologie übernommen ist; vgl. etwa Sonnemann: „Geschichte gegen den Strich gebürstet“; Sonnemann: „Monade und Polis. Zur Selbstkritik der Psychoanalyse“ [1972], in: Schriften Bd. 3, S. 421–467; sowie insbesondere Sonnemann: „Hegel und Freud. Die Kritik der ‚Phänomenologie‘ am Begriff der psychologischen Notwendigkeit und ihre anthropologischen Konsequenzen“ [1969|1970], in: Schriften Bd. 3, S. 399–410.
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Prozeßsujets sie für ihre eigene Rolle in dessen Prozeß zu verblenden: self-confirming explanation wie die Psychoanalyse zu sein oder self-defeating prophecy wie der Marxismus. Aber zu den vielen expliziten Wahrheiten, die von ihnen prima facie zu übernehmen sind: hier der ökonomischen Theorie der Ausbeutung, der Geschichtsortung des Klassenkampfes, der Ideologielehre, dort der Ökonomik der Triebunterdrückung, der psychosexuellen Genese, dem Mechanismuskonzept, tritt als noch wichtigere die verschwiegene, die in der Unwillkürlichkeit jener Rolle, der Herausforderung seitens der Aporie, in die sie die beiden verwickeln mußte, bereitliegt. Sie bedarf nach solcher Vorarbeit nur noch ihrer expliziten Ergreifung. Sie besagt, daß anthropologische Theorien, faßt man Theorie ihrem kartesischen Begriff nach als objektivierende Materialverfügung statt als Zu- und Eingriff urteilender Kritik, keine sein können.“ (NA, 231 f.)
Richtig verstandene Theorie ist demnach stets ‚Zu- und Eingriff‘ und hat das Bewusstsein dessen in sich aufgenommen. Das ist tatsächlich eine wesentliche Einsicht des Denkens sowohl von Freud als auch von Marx, die Sonnemann bei aller Kritik von beiden übernimmt.8 Marxens Erkenntnis war im Hinblick auf die Gesellschaft formuliert, beschrieb analysierend die politisch-ökonomische Einrichtung einer menschgemachten Welt, um die Veränderbarkeit derjenigen Verhältnisse aufzuzeigen, welche dem bürgerlichen Bewusstsein als naturgegeben erschienen.9 Freuds Theorie und die Psychoanalyse hingegen wandten sich dem Individuum zu, untersuchten die Mechanismen im Innenleben der Personen, die Verstrickungen gesellschaftlicher wie naturhafter Druckausübungen, um jene (zweite) innere Natur nicht auf dem Ich als raunende, dumpfe, mythische Macht länger lasten zu lassen.10 Telos beider Theorien ist die Emanzipation der Menschen, der menschlichen Gesellschaft wie der menschlichen Individuen. So sind beide stets auch Eingriff in ihren Gegenstand: Indem ihnen an der Änderung der untersuchten Verhältnisse gelegen ist, verändern sie ihren Gegenstand bereits, da sie als Erkenntnis solche Zusammenhänge ins Bewusstsein heben; auch wenn Kritik noch nicht gleich die praktische Umwälzung der Verhältnisse und automatische Einrichtung einer vernünftigeren, menschlicheren Gesellschaft bedeutet. Zumindest aber ändert solche Erkenntnis ihre Subjekte, die ehedem unhinterfragt hingenommene Zustände jetzt nicht mehr als gerechtfertigt akzeptieren; damit aber ändert diese Erkenntnis zugleich ihre eigenen Gegenstände, die ja Subjekte und eine Gesellschaft von Subjekten sind. Solcherart kritische Theorie ist also weder interesselos in dem Sinne, dass sie sich ruhig und kontemplativ mit einem beliebigen Gegenstand allein um der Wissenschaft willen beschäftigen könnte, noch objektiv in dem Sinne, dass sie ihr eigenes Einwirken auf und Involviertsein in den Gegenstandsbereich, das Objekt der Erkenntnis, verneinte.
8Auf die wechselseitige Kritik, die Sonnemann mit Marx gegen Freud und mit Freud gegen Marx formuliert und die ganz im (hier skizzierten) Sinne bestimmter Negation verfährt, wird weiter unten noch einmal zurückzukommen sein; siehe Kapitel 14 (Freud und Marx: Gesetze der Psyche und der Geschichte?). 9Siehe oben, Kapitel 5. 10Siehe unten, Kapitel 14 und 15.
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Ist solchen Theorien, denen auch negative Anthropologie folgt, an einer Veränderung ihres Gegenstandes – des oder vielmehr der Menschen – gelegen, so müssen sie eine grundsätzliche Veränderbarkeit der menschlichen Welt und Gesellschaft sowie der menschlichen Individuen annehmen. Woraus aber folgt diese Annahme? Ist hier nicht die schlecht-idealistische Vorstellung impliziert, dass die Welt von Vernunft beherrscht wird, diese jene nach ihrem Bilde formen kann; müsste darunter aber nicht das von Vernunft Getrennte, das Ephemere und Naturhafte zum Beispiel, einmal mehr unter die Räder geraten? Wäre, anders herum, solche Annahme nicht auch deshalb idealistisch, weil sie sich allzu schnell hinwegsetzte über die realen Verhältnisse, die in ihnen waltenden Widersprüche und alle der Veränderbarkeit Widerrede leistenden Fakten? Nun, da es sich bei der hier zur Rede stehenden um keine positive, sondern negative Anthropologie handelt, macht schon der Namen kenntlich, dass sie aus ihrer Kritik an Naturalisierungs- und Verdinglichungstendenzen nicht in die Behauptung umschlägt, x-Beliebiges wäre menschenmöglich. Im Gegenteil: Als „Negation des Bestehenden“ (NA, 231) setzt eingreifende Kritik gerade die eingehende Analyse dieses Bestehenden, ihres Gegenstandes also, voraus; ein Verfahren, das ganz ohne Distanz und Objektivität nicht auskommt. Diesen Zusammenhang diskutiert Sonnemann etwa an der Frage nach Determination im menschlichen Leben. Die Erfahrung von Determiniertheit, von gesellschaftlichen Zwängen und somatisch bedingten Nötigungen, welche dem eigenen Willen widerstreben, dürften wohl alle Menschen regelmäßig machen. Diese Erfahrung ist nicht einfach wegzureden, sie ist vielmehr zu untersuchen: „In dem Maß, das nicht überschätzt werden kann, totaler Determination sich stark annähert, in dem menschliches Wesen objekthaften Bestimmungen unterworfen ist, sind diese nicht zu eskamotieren, sondern zu analysieren“ (NA, 239). Trotz der leibhaften Selbsterfahrung solcher Verhältnisse wahrt diese Analyse Distanz zu ihrem Gegenstand schon dadurch, dass sie ihrerseits nicht gänzlich im Determinationsverhältnis aufgehen kann. Erkenntnis setzt ein Moment von (Kantisch gesprochen:) Spontaneität voraus, das nicht in einer Kette von Naturkausalität zergeht: „Aber die Analyse selbst hält es mit der Determination nur insoweit, als diese mit dem Potential von Freiheit, das sie mit ihrer eigenen Möglichkeit aufs vorläufigste repräsentiert, übereinstimmen“ (NA, 239). Anders gesagt: Ohne ein (wenn auch noch so kleines) Momentum von Freiheit wäre Analyse nicht möglich. Diese Freiheit ist jedoch nicht rein kognitiv, auch die sinnliche Perzeption muss ein gewisses Vermögen zur Spontaneität und Erkenntnisfähigkeit besitzen, soll ihr als Sensorium überhaupt etwas bislang Unbekanntes auffallen, das allein ja Erkenntnis (als Erweiterung) bedeuten kann. Insofern sind die Freiheitspotentiale „solche einerseits von Naturwüchsigkeit, andererseits der Geschichtsspur des Willens in seiner erinnernden Selbstbegegnung, also der Objektivität des Charakters; beides ist dort, wo Autonomie von Vernunft biographisch schon weiter gediehen ist, ineinander verschlungen, nicht über- oder nebeneinander.“ (NA, 239) Derartiges Ineinander von ‚Naturwüchsigkeit‘ und ‚Geschichtsspur des Willens‘ ist Erfahrung. Aus Sonnemanns Kritik am Cartesischen Erfahrungs-Skeptizismus
Kritische Erfahrung und spekulatives Übersehen
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wissen wir, dass sie eben nicht das jemeinige, unmittelbare, vorgesellschaftliche Residuum der Individuen ist, sondern vermittelte Momente menschlicher Natur (hier insbesondere: Sinnlichkeit) sowie menschlicher Geschichte enthält, darin auch Geistiges, und dies alles in phylo- wie ontogenetischer Hinsicht. Keines dieser Momente lässt sich aus dem Ganzen herauspräparieren, ohne dabei zerstört zu werden, Erfahrung nicht auf einen einzelnen dieser Aspekte reduzieren. Im emphatischen Sinne sind Erfahrungen aber nur dann mehr als bloße Sinneseindrücke, wenn sie nicht lediglich schon Bekanntes bloß registrieren, sondern aufmerksam werden auf bislang Unerkanntes.11 Freiheit, geistige wie sinnlich vermittelte Spontaneität also, ist keine idealistische Behauptung, kein bloßes Dekret; sie ist dem Denken und der Erfahrung vorausgesetzt und in ihnen selbst anzutreffen; noch dort, wo Determination nicht von der Hand zu weisen ist.
Kritische Erfahrung und spekulatives Übersehen Kritische Analyse des Bestehenden speist sich aus Erfahrung. Die in Theorie eingelassene Erfahrung verhindert, dass Analyse ihrem Gegenstand äußerlich bleibt; verhindert, dass sie über alles Mögliche spricht, nur nicht über die realen Verhältnisse und die Möglichkeit ihrer Änderung. Kritische Erfahrung mit dem Bestehenden, ohne die eine interessegeleitete Analyse – deren „Ziel […] Emanzipation wäre“ (NA, 240) – nicht denkbar ist, kann so zum Sensorium oder Detektor für das werden, was es zu analysieren gilt. Sie ist, noch einmal, kritische Aufmerksamkeit. Im Falle des unabweisbaren Determinationscharakters, der laut Sonnemann die Menschen umgibt, sich durch sie hindurchzieht, ist zunächst eine Aufmerksamkeit vorausgesetzt für die „Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschafts- und Zwangsverhältnisse“ (NA, 240). Erfahren werden können solche Verhältnisse aber nur, weil die wahrnehmenden und im besten Falle erkennenden Subjekte selbst Teil dessen sind, was sie wahrnehmen und zu erkennen streben; weil sie eben selbst knietief in den Nötigungen, in Zwang und Herrschaft drinstecken, auch wenn sie das – in Anlehnung an eine Formulierung von Marx – nicht (immer) wissen.12 Das Unmenschliche, dem Sonnemanns negativ-anthropologische Kritik gilt, macht sich, ob die Subjekte es nun wollen oder nicht, bemerkbar wie durch den penetranten Gestank von Unrat, aus welchem bislang die Befreiung misslang. Doch gerade dieser Erfahrungsgehalt, den eine jede Wissenschaft vom Menschen anerkennen und zu Bewusstsein bringen müsste, entgeht den am mathematisch-naturwissenschaftlichen Modell entwickelten, traditionellen Theorien. Fast will es scheinen, als müsse betont asketisch und mit der Abschottung durch methodische Strenge jener Gestank traumatischer
11Oder,
wie Hegel es formuliert: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“ Hegel: Phänomenologie des Geistes, GW 9, Vorrede, S. 26 [XXXVII]. 12Vgl. Marx: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 88.
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enschheitserfahrungen verdrängt werden. In weniger drastischen Worten als in M dieser Ausdeutung fasst Sonnemann den Zusammenhang folgendermaßen (immer noch im Kapitel zur bestimmten Negation): „Methodische Verfremdung der Welt ist mit Recht das Ideal traditioneller, also kartesischer Wissenschaft; paradox wird das Prinzip erst, wo es sich auf Menschen und Menschliches anwendet. Unweigerlich bedeutet es hier, daß man ein intimeres und sicheres Wissen, das man deren Potential nach der Selbsterfahrung und derjenigen menschlicher Gesellschaft verdankt und zu welchem in dem Maß, in dem es welches ist – nämlich produktiv ist – das kritische Urteil nicht hinzutritt, sondern dem es als sein Bestimmendes inhäriert, zugunsten eines in die Schanze schlägt, das in seiner Abstraktheit nicht kritisch, sondern, was immer das in diesem Fall heißen kann, ‚objektiv‘ ist.“ (NA, 236)
Unkritisch stutzt vermeinte Objektivität das Erkenntnisstreben zurück auf eine vermeintlich wissenschaftliche Haltung distanzierter Beobachtung, selbstgenügsamer Kontemplation. Gewissermaßen wie durch ein Objektiv blickt traditionelle Theorie auf ihre Objekte, wird darin zum Okular, von dem weiter oben die Rede war. Doch nicht nur die traditionellen Wissenschaften des 19ten Jahrhunderts und ihre Epigonen, die meinten, den Menschen in naturwissenschaftlicher Exaktheit bestimmen zu können und dabei dem „Mythus der Nezessität“ (NA, 241) aufsaßen – also dem Irrglauben einer durchgängigen Determination der Welt in reinen Kausalzusammenhängen –, nicht nur sie unterzieht Sonnemann der Kritik. Wenn auch dem ersten Anschein nach ein gänzlich anderer Theorie- und Denktypus, so ist doch laut Sonnemann in der idealistischen Philosophie gleicher Epoche ein ganz ähnliches Phänomen anzutreffen. Was den Naturwissenschaftlern die Naturkausalität, sei den Idealisten die geordnete Entwicklung im Weltlauf. Während dort notwendig ein Zustand den folgenden bewirke, somit alles in der Welt nach physikalischen, chemischen, biologischen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden solle, walte hier das Gesetz der Geschichte, der ungebrochene Fortschritt des Geistes.13 Wem genau diese Kritik gilt, macht Sonnemann nicht ganz deutlich; es sind womöglich Hegel und Schelling, deren Geschichtsauffassungen hier angegriffen werden; immerhin wird Hegel dann, wie gleich darzustellen ist, an einigen Stellen explizit benannt. Dass solche generalisierende Idealismus-Kritik die befehdeten Denksysteme nicht wirklich trifft, ließe sich bei genauer Lektüre der entsprechenden Texte zeigen; wenigstens plausibel machen, dass auch eine weniger ‚okulare‘ Variante der Geschichtsauffassung des deutschen Idealismus existiert. Dies darzustellen ist hier jedoch nicht der Ort und so sei Sonnemanns Kritik eher als diejenige einer ‚idealistischen‘ Geisteshaltung im Allgemeinen gedeutet, einer solchen also, wie sie sich beispielsweise in bestimmten Tendenzen eines bürgerlichen Historismus’ äußert, von dem oben in Kapitel 5 (Perfektfutur oder verbaute Zukunft) bereits berichtet wurde.
13Vgl.
NA 241–246.
Kritische Erfahrung und spekulatives Übersehen
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In solchem Idealismus jedenfalls spuke, so Sonnemann, der alte „Heilsglaube“ (NA, 245) theologischer Herkunft fort, die nun jedoch als „säkularisierte Theologie“ (NA, 246) auftrete: dass geschichtliche Entwicklung nämlich ihrem Fatum, ihrem Schicksal gemäß, zwangsläufig in ihrer „Vorsehung“ (NA, 246) münde. Was in diesem Zusammenhang nun wieder auftaucht, letztzitierter Begriff deutet schon darauf hin, ist ein Vokabular aus der optischen Welt (Vorsehung): Verdinglichung – diesmal bezogen auf den vermeintlichen Zwangscharakter geschichtlicher Ereignisse, die mehr oder minder strenge Determination der Weltläufe – geht auch hier einher mit einer Fülle an visuellen Metaphern, die nicht bloß übertragenderweise etwas ausdrücken, was der Sache nach nichts mit solchem Sprachbild zu tun hätte. Vielmehr deuten diese Metaphern an, wie sehr solche (Geschichts-) Auffassung mit dem Modell eines seinerseits entstellten Sehens korrespondiert. Gemeint ist damit die Geisteshaltung einer rückblickenden Geschichtswahrnehmung, die das Erblickte danach unterteilt, ob es sich den vermeinten historischen Strukturgesetzen fügt und also beachtenswert sei, oder aber vernachlässigbares, da abweichendes Randphänomen. Erst in solch retrospektiver „Blickrichtung“ (NA, 245) aber würde das Wesentliche, nämlich die großen Linien des Weltlaufes und der darin maßgeblichen Bewegung des Geistes erkennbar und insofern der quasischicksalhafte Lauf der Dinge ablesbar. „Die Schwäche dieses Denktypus ist seine Erblindungsgefahr“ (NA, 246), so Sonnemans Kritik, weil solches Denken dem Sehen – der (missverstandenen) Spekulation als souverän prognostischem Blick über die ganze Welt – zu viel zumutet oder zutraut. Dergestalt werde jedoch die Szenerie, derer der Blick Herr werden will, durch falschen, nämlich nicht eingreifenden als vielmehr objektivierenden Erkenntnisanspruch gleichsam überbelichtet: „Die Unwahrheit des Idealismus liegt nicht in dem Bild, das er sich macht, sondern darin, daß es eins ist; nicht in den Begründungen seines Bewußtseins, sondern in seinen Folgen für das ihn empfangende. Da er die Menschen zum Okular-Verhalten […] stimmt, wird seine Objektivität Passivität, noch seine Spekulation zum höchst handfesten Werkzeug des Fatums.“ (NA, 246)
Indem Sehen und Anschauung (= spekulare) zum Abbildsehen werden, also die Welt mit ihren Bewegungsgesetzen in Theorie bloß wiedergegeben und verdoppelt werden soll, missrät bereits das Potential von Theorie, welches darin bestünde, Vorstellung dessen zu sein, was ist und was zugleich auch anders sein könnte. Uns begegnen an dieser Stelle Sonnemanns Beschreibungen von Verdinglichung als Okularverhalten wieder, wie sie sich an diversen Stellen der Negativen Anthropologie finden lassen und dann im Spätwerk zentral werden. Was sie alle zusammenhält, ihren gemeinsamen Kern darstellt, ist eine Kritik am generalisierenden Blicken, das die Tuchfühlung zum Konkreten verliert, dabei sowohl dem Einzelnen als auch dem Allgemeinen nicht gerecht werden kann. Spekulation im schlechten Sinne bedeutet, über alles vermeintlich Flüchtige und Unbedeutsame hinwegzusehen, ausschließlich die großen Linien im Blick zu haben, und dann das Walten von Zwangsläufigkeiten dort zu behaupten, wo eine kritische Aufmerksamkeit für die Verwerfungen und (immanenten) Widersprüche nicht den
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bloßen Geschichtslauf sähe, sondern zugleich dasjenige vernähme, was solchem Schicksal widerspricht. Mit dem Blick für das Große geht Sonnemann zufolge oftmals eine Unachtsamkeit, gar Unbarmherzigkeit dem Randständigen, Obsoleten und Verworfenen gegenüber einher: „Das Menschliche am deutschen Idealismus, wie schon an seiner Wurzel, dem Luthertum, war seine Freiheit, die Freiheit zu denken, sein Unmenschliches seine Gleichgültigkeit, die ihn, abermals wie das Luthertum, zum Konspiranten der Unfreiheit machte, gegen die fürchterliche Sprachlosigkeit des konkreten menschlichen Leidens an dieser.“ (NA, 245)14
Solche Spekulation in Gestalt von ‚Retrospektivität‘ und ‚Okularität‘ korreliert demzufolge mit einer Sprachlosigkeit dem realen menschlichen Leiden gegenüber. Was Sonnemann gegen Unbarmherzigkeit und Inhumanität, die keineswegs mit dem Idealismus ausgestorben sei, einfordert, ist eine „Hellhörigkeit“, die ihrerseits dann Theorie „eingreifend“ (NA, 249) macht. Gesucht ist eine Analyse und Kritik der bestehenden menschlichen Welt, die zwar durchaus einen Begriff haben muss von den umfassenden Zusammenhängen, sich zugleich aber ins Detail vertieft und hineinversetzt, nicht bloß registriert, was dem Allgemeinen (etwa den Geschichtstendenzen, den ökonomischen Grundkategorien etc.) ohnehin entspricht, sondern allemal auch dasjenige wahrnimmt und erkennt, was dem Potential nach über die Geschlossenheit einer verwalteten Welt hinausweist. Statt idealistischer ‚Sprachlosigkeit‘ gilt es also, eine Sprache zu finden für solch sprachlose Dinge. Hellhörige Aufmerksamkeit für die Widersprüche in der Welt kann jene hörbar machen, versprachlichen. Dieses wichtige Motiv seiner späteren Arbeiten formuliert Sonnemann an entscheidender Stelle also schon in der Negativen Anthropologie, ohne es hier jedoch ‚hörtheoretisch‘ weiter auszudeuten. Negative Anthropologie hält dem Anspruch der bestimmten Negation die Treue: nicht setzt sie sich idealistisch über die realen Verhältnisse, unerfüllten Glücksansprüche sowie realen Leiderfahrungen der Menschen hinweg, widmet sich diesen vielmehr in ihren Betrachtungen des Konkreten. Darin negiert sie das Bestehende nicht abstrakt, sondern konkret und bestimmt. Das hieße aber, entgegen der skeptizistischen Methodologie das Negierte nicht in den Abgrund des Nichts zu werfen, sondern es möglichst genau, möglichst treffend festzuhalten, um am Negierten einen bestimmten Inhalt zu fassen. Dieser Anspruch lenkt die Aufmerksamkeit zum einen auf das Problem der Sprache: Festhalten des Negierten
14Vermutlich
denkt Sonnemann hier an einige Formulierungen aus Hegels Geschichtsphilosophie, die für sich genommen durchaus von einiger Unbarmherzigkeit zeugen könnten; vgl. Hermann Schweppenhäuser: „Über die praktische Nötigung, die Geschichte philosophisch zu denken“, in: Eidam, Schmied-Kowarzik (Hg.): In memoriam Ulrich Sonnemann, S. 87–104, hier S. 95–97. Gleichwohl ist Hegel nicht zuletzt einer derjenigen Philosophen, die der Erfahrung eine eminente Rolle fürs Denken zugesprochen und die Konkretion in den Mittelpunkt ihres Werkes gerückt haben. Sonnemanns Einspruch gegen das Vergessen des Ephemeren im Geschichtsverlauf erinnert derweil sehr stark an Walter Benjamins Auseinandersetzung mit der Fortschrittsideologie; siehe oben, Kapitel 5.
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ist nur sprachlich möglich, erfordert damit eine Sprache, die ihren Gegenstand tatsächlich zu fassen bekommt statt ihn in souveräner Geste leichtfertig unter starre Begriffe zu subsumieren. Zum anderen verlangt diese Form der bestimmten Negation der bestehenden Verhältnisse ein gewisses mikrologisches Feingespür: Soll der Geschichtslauf, der sich als Schicksal gebärdet, sabotiert werden, so ist auch am Kleinen und Einzelnen aufzuzeigen, warum die destruktiven gesellschaftlichen Tendenzen durch die Historie hindurch verheerend fortwirken — und dass es je auch hätte anders kommen können.15 Dabei sind das Besondere, Konkrete und die allgemeine Tendenz jeweils als solche ernst zu nehmen und zu vermitteln; Mikrologie also, ohne den Wahrheitsanspruch von Theorie zugunsten eines konkretistischen Relativismus’ aufzugeben.16 Dies ist das Programm negativer Anthropologie, von Sonnemann in der Einleitung seines Buches folgendermaßen formuliert: „Unversucht ist eine Analytik des Schicksals, die in dessen Sabotage spontan umschlüge, durch ihre dialogische Zwanglosigkeit unmittelbar transparent würde: als in sich selbst angriffskräftige Reflexion, die nur in mikrologischen Prägungen von Karl Krausscher Gewalt so konkret wird, daß sie das Bewußtsein verändern muß, zu ihrer Ausbreitung und Durchsetzung es instand setzt.“ (NA, 34)
Im Grunde folgte schon die (bislang dargestellte) Auseinandersetzung Sonnemanns mit der philosophischen Tradition und der Geistesgeschichte genau jenem programmatischen Anspruch: Nicht aus eitler Besserwisserei stellt Sonnemann beispielsweise die immanenten Widersprüche des Cartesischen Cogito und cartesianischer Wissenschaften heraus; vielmehr soll in bestimmter Negation festgehalten werden, welches Theorieselbstverständnis ihrem jeweiligen Gegenstand – zumindest dem anthropologischen – nicht gerecht werden kann. Was daraus folgt, ist keineswegs einfach ein Nichts, sondern bestimmt Verneintes, also der bestimmte Inhalt dessen, was Theorie nicht sein sollte und was, insbesondere im Falle Gehlens, der Gegenstand solcher Theorie, der Mensch selbst, nicht sein müsste.
15Dies
ist ein Aspekt Sonnemannscher Philosophie, der aufs Engste mit Adornos und Benjamins Arbeiten in Verbindung steht. Bezogen auf die beiden Letztgenannten schreibt Anne Eusterschulte zutreffend: „Voraussetzung für eine solche erinnernde Verlebendigung ist, dass die mitteilende Erzählung ihren Gegenstand nicht des keimhaft innewohnenden Entfaltungspotentials beraubt, ihn nicht durch Erklärung, Identifizierung, Klassifizierung gleichsam neutralisiert und zu einem toten Gesteinsbrocken der Geschichte werden lässt, sondern vielmehr in seiner Einzigartigkeit, Nichterschlossenheit und Unabschließbarkeit vor Augen und Ohren führt.“ Anne Eusterschulte: „Geschichtlichkeit des Gegenwärtigen. Zum Traditionsbegriff bei Theodor W. Adorno und Walter Benjamin“, in: Eveline Goodman-Thau, Fania Oz-Salzberger (Hg.): Das jüdische Erbe Europas. Krise der Kultur im Spannungsfeld von Tradition, Geschichte und Identität, Berlin & Wien 2005, S. 385–415, hier S. 386. 16Insofern unterscheidet sich Sonnemanns Position von der Rede vom Ende der ‚großen Erzählungen‘, zu finden etwa bei Jean-François Lyotard: Der Widerstreit, München 1989.
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11 Bestimmte Negation
In den folgenden Kapiteln nun soll dieser verschlungene Weg negativer Anthropologie – als bestimmter Negation in sprachlich prägnanter Mikrologie – weiter nachvollzogen werden. Dazu sei, dem eigenen Anspruch der Sonnemannschen Theorie gemäß, das Projekt mit anderen seiner Texte nachgezeichnet.17 Zunächst wird in gebotener Kürze die konkrete Auseinandersetzung mit der zeitgeschichtlichen Konstellation dargestellt, in welcher die Negative Anthropologie entstand. Wenn sie tatsächlich „Vorstudie zur Sabotage des Schicksals“ ist, kann und darf sie sich nicht mit bloß philosophie-interner Auseinandersetzung begnügen, wiewohl in Philosophie solche geschichtlichen Tendenzen eingegangen sind (Kapitel 12). Unmittelbar hängt damit das Sprachproblem zusammen: Erfahrung mit der Geschichte muss, soll sie erkenntnisfähig und -befördernd werden, versprachlicht werden; außerdem sind menschliche Gesellschaft und Geschichte sprachlich vermittelt. Die mikrologische Auseinandersetzung mit Geschichte führt also zurück zu dem Bestreben, eine ihren Gegenständen angemessene Sprache zu finden (Kapitel 13).
17Zu
diesem Anspruch vgl. Ulrich Sonnemann: „Die Aktualität der ‚Negativen Anthropologie‘. Aus zwei Kasseler Hochschulseminaren“ [1987/88], in: Schriften Bd. 4, S. 374–385.
Fallstudien im Land der Sprachlosen
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Sonnemanns Kritik der studentischen Opposition und der Sprache der Politik
„Die aussterbenden Vögel in Europa schützt man, soll Konrad gesagt haben, die aussterbenden Gehirne nicht, das aussterbende Gehör nicht.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 65.) „Sie lieben das Wort nicht oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unerfreuliche Weise“ (Thomas Mann: Der Zauberberg, S. 724.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_12
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Lesenden, selbst den geneigtesten, macht es die Negative Anthropologie nicht gerade leicht. Bereits die einleitende Vorrede hat es in sich, erfüllt nicht die Aufgaben, die ihr, dem wissenschaftsbetrieblichen Usus gemäß, als Gattung zukommen sollen. Keineswegs etwa holt sie das Publikum dort ab, wo es steht, denn ihre Sprache ist alles andere als zugänglich und einfach. Sie zeichnet auch keinen ‚Fahrplan‘ durchs Buch vor, dessen Systematik sich dann bequem folgen ließe und womit bereits zu Beginn des Weges – der Argumentation wie der Auseinandersetzung mit der Sache – schon Ziel und Ergebnis feststünden. Schließlich wird ebensowenig der Gegenstandsbereich der Abhandlung derart festgezurrt, dass er auf eine erste Definition gebracht würde. Vor solcherlei Zugeständnissen an konventionalistische Regeln oder aber an die Forderung nach möglichst auf Anhieb verständlicher Sprache hütet sich die Vorrede, verlangt, wie dann das ganze Buch und Sonnemanns Texte insgesamt, den Lesenden radikal das Mitdenken ab: ein Denken, dass sich von der Zurichtung durch das cartesianische Wissenschaftsideals so weit als möglich zu emanzipieren versucht; also nicht nach den Maßgaben des cogitierenden Rationalitätsideals seinen Gegenstand nach Gutdünken zurechtbiegt, sondern sich der Sache selbst, ihrer immanenten Logik anvertraut. Die Sache selbst, das ist die Frage nach dem Anthropologischen, Menschlichen, nicht zuletzt im Verhältnis zu ebenjenem lógos, der wesentlich mehr meint als formale Logik, nämlich Sprache. Sonnemann mutet ihr das Äußerste zu, schöpft ihre Möglichkeiten aus, überschreitet dabei bisweilen ihre vorgeblichen Grenzen.1 Dass nun die Negative Anthropologie – wie in nuce ihre Vorrede – weder einer strikt linearen Systematik folgt noch irgendwo ihren Gegenstand auf eine (positive) Definition bringt, liegt begründet in der Ablehnung theoretischen Okularverhaltens. Sie ist mikrologische Kritik, erscheint deshalb prima facie womöglich unsystematisch und verworren, weil sie nicht über die Details hinwegeilt im quasi-göttlichen, allwissenden Gestus, sondern sich in kritischer Aufmerksamkeit bei den Dingen aufhält. Ganz nach dialektischer Auffassung will solche Mikrologie aus der Konstellation der Einzeldinge heraus über das Ganze etwas Belastbares aussagen, statt im theoretischen Zugriff unvermittelt sich jenem Ganzen zuwenden. Wie bereits gesehen, will Sonnemann im Kleinen, mitunter Kleinsten die unter dem „Mythus Nezessität“ (NA, 241) verschütteten Freiheitsmöglichkeiten aufzeigen. Dem philosophischen Begriff nach geht es dabei um Spontaneität. Als kritische Aufmerksamkeit ist Spontaneität nicht nur diejenige Tätigkeit der Vernunft, die von selbst aus der bloßen Naturkausalität heraus-
1So
auch Adorno: „Zu Ulrich Sonnemanns Negativer Anthropologie“, S. 263: „Die sprachliche Darstellung in Sonnemanns neuem Buch, dem Kulminationspunkt einer äußerst intensiven, auch selbstkritischen Entwicklung, ist von größter Dichte, allergisch gegen das Banale, mit dem Strom Schwimmende. Sie setzt der Sache zuliebe allerorten Widerstände gegen das, was die gängige Phrase Kommunikation nennt. Die Kraft des Widerstandes ist in ihr nicht geringer als in den Gedanken, beides wahrhaft durcheinander vermittelt. Positivistischen Fachmenschen ist solche Sprache zu essayistisch, Journalisten zu schwierig und anspruchsvoll: Bestätigung ihrer Wahrheit.“
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springt. Solche Spontaneität bedeutet ebenso selbstbewegtes Abweichen von heteronomen Zuständen der zweiten Natur, die sich bis dato unter einem von Herrschaft geprägten Geschichtsverlauf immer wieder reproduzieren. Kritik ist eine, wenn auch gebrochene, Ausdrucksform solcher Entfaltung immanenter Freiheitsmöglichkeiten: „Historie als Kritik, die sie nach dem Programm Yorcks von Wartenburg sein sollte, rehabilitiert die Geschichte als Tagebuch ihrer Erfahrung, gemacht zu werden, gegen Geschichte als Leichenbeschau, Ausstopfung und Einbalsamierung: sinnabsondernde Rumination ihres Werdens, die ihr Gewordenes einspeichelt. Geschichtskritik macht darauf aufmerksam, daß die Menschen sich in der Regel auch anders hätten verhalten können als sie es taten.“ (NA, 227)
Erklärungsbedürftig aus dieser ideologiekritischen Perspektive Sonnemanns ist dann aber nicht nur, wo im Einzelnen kausale oder kausalitätsähnliche Kräfte walten. Umso mehr gilt es zu erforschen, warum die Menschen sich gerade nicht anders verhalten, warum bestimmte Tendenzen sich fortsetzen, zur anthropologischen Ausstattung, eben zur zweiten Natur werden. Genau diese Frage nach dem Zusammenspiel von gesellschaftlichen Konditionen mit den „Verhaltens[und] Bewußtseinsstrukturen“ (IsO, 334)2 der Einzelnen ist die anthropologische, nämlich „psychohistorische“ (NA, 350) Frage im Zentrum des Sonnemannschen Werkes. Geschichte und Geschichtsschreibung als ein ‚Tagebuch‘ aufzufassen heißt dabei, den sprachlich verfassten Dokumenten der Geschichte zu entnehmen, was sie über Außen- wie Innenleben der Menschen verraten; also die Spuren zu lesen, welche der gesellschaftliche Druck und die (gescheiterten) Abweichungsversuche in ihnen hinterlassen haben. Dieser Anspruch tangiert auch den Status der Bezugnahme auf Konkretes im philosophischen Text: Im Gegensatz zur traditionellen akademischen Philosophie, die ihre Gedankengänge zunächst abstrakt entwickelt und dann an die Erfahrungswelt ‚zurückbindet‘, dabei aber häufig genug passende Beispiele ersinnen, also erfinden muss, tauchen in Sonnemanns Texten (wie in vielen anderen der Kritischen Theorie) niemals rein fiktionale Exempel auf. Nachgerade umgekehrt speist sich aus der genauen Hinwendung zu den geschichtlichen wie gesellschaftlichen Phänomenen der Antrieb der Kritischen Theorie, wenngleich sie auch nicht in einer Ansammlung von Phänomenbeschreibungen endigt oder – wie streng positivistisch ausgerichtete Theorieansätze – die Phänomene in ihrer schieren Faktizität zur letzten Wahrheitsinstanz erklärt. Dass es, bei aller philosophischen Selbstreflexion des Denkens, das Konkrete ist, welches zum Abstrakten drängt, die Phänomene also zur Theorie treiben, die Erfahrungen das Denken entfachen, ist stets spürbar an Stellen, wo solche Erfahrungsmomente in die Texte Sonnemanns aufgenommen sind. Sie
2Ulrich Sonnemann: Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland [1968], in: Schriften Bd. 5, S. 324–417. Hier und im Folgenden mit der Sigle IsO abgekürzt und mit nachgestellten Seitenzahlen im Haupttext nachgewiesen.
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sind nicht illustrierende, nicht einmal plausibilisierende Beispiele, vielmehr: Nerv seiner Theorie.
Philosophie im Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten So sind denn auch der zeitgeschichtliche Kontext und Sonnemanns Beschäftigung mit jenem der Negativen Anthropologie keineswegs äußerlich geblieben. Dass es sich dabei nicht um zwei voneinander unabhängige, parallel bearbeitete Vorhaben handelt – hier das philosophische, dort das gesellschaftstheoretische oder gegenwartsdiagnostische – wird in allen Texten Sonnemanns dieser Zeit deutlich, indem sie sich vielfach überlagern und gegenseitig beeinflussen, Sonnemanns Schreiben dieser Jahre insgesamt als das entfaltete Projekt einer negativen Anthropologie erscheinen lassen. Es sind die 1960er Jahre und insbesondere die bundesdeutsche Gesellschaft dieser Zeit, die Anlass zu ihr und zugleich ihren Gegenstand geben; eine Gesellschaft im ‚Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten‘, in der die spezifisch deutsche Unmenschlichkeit verdeckt zwar, dennoch nicht folgenlos, weiter ihr Unwesen treibt, da Nationalsozialismus, Vernichtungskrieg und Shoah keineswegs als aufgearbeitet gelten können, vielmehr verdrängt werden.3 Anspruch darauf, diesen Ungeist aufzuklären, etwa die deutschen Verbrechen und die immer noch umtriebigen Täter anzuklagen und zu überführen, erheben die oppositionellen Studenten jener Zeit. Damit wären sie Verbündete Sonnemanns, welche Hoffnung er durchaus zeitweise hegte, was etwa 1964 in seinem Buch Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland zum Ausdruck kommt.4 Allerdings, so Sonnemanns Befund nur vier Jahre später, misslingt den Studenten die Distanzierung von den deutschen Verhältnissen gründlich, setzt sich noch in deren vermeinter Kritik der deutschen Geschichte und Gesellschaft eine allzu typisch-deutsche Borniertheit fort. Sonnemann unterbrach die Arbeiten an der Negativen Anthropologie, um seine Thesen zur Einübung des Ungehorsams mit der inzwischen deutlicher zutage getretenen studentischen Opposition zu konfrontieren. Institutionalismus und studentische Opposition, erschienen 1968, wollte dieser Borniertheit auf die Schliche kommen.5 Fraglich ist für Sonnemann nun, warum nicht Ungehorsam, sondern gewisse „rechtshegelianische Traditionen“ (IsO, 339) – die mit der Unmenschlichkeit
3Vgl.
Ulrich Sonnemann: Das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten. Deutsche Reflexionen [1963], in: Schriften Bd. 4, S. 101–487. 4Sonnemann: Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland [1964], in: Schriften Bd. 5, S. 31–195. 5Vgl. Editorische Nachbemerkung von Paul Fiebig in: Sonnemann Schriften Bd. 5, S. 549–551. Einen Überblick über Sonnemanns Auseinandersetzung mit den 68ern und den Folgen liefert Diethelm Class: „Institution und ‚revolutionäre‘ Opposition. Einlassungen zu Sonnemanns ‚neun Thesen‘ studentischen Verhaltens“, in: Ders. (Hg.): Un-erhörtes, S. 85–116. Als Zeitdokument gibt zudem der Briefwechsel zwischen Sonnemann und Adorno Auskunft hierüber; vgl. Adorno und Sonnemann: „Briefwechsel 1957–1969“, S. 199–211.
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der nationalsozialistischen Elterngeneration zwar nicht vergleichbar, dennoch ihr verwandt sind – unter den Studenten um sich greifen, was abgelesen werden könne an einer „Bewußtseins- und Verhaltenskondition, die als Institutionalismus sich zusammenfaßt“ (IsO, 338). Der Terminus, den Sonnemann hier wählt, trat bereits in der Auseinandersetzung der Negativen Anthropologie mit der Philosophie Arnold Gehlens auf den Plan.6 Hier wie dort meint er im Kern dasselbe: den festen Glauben an fixe Institutionen und ihren unhintergehbaren Geltungsanspruch. Während sich bei Gehlen jedoch, auch das wurde bereits dargestellt, dieser Glaube als philosophisch begründet gibt, gar als rationale Theorie auftritt, allerhand Argumentationsmaterial insbesondere aus den Naturwissenschaften aufgefahren wird, um die Notwendigkeit zur Unterordnung unter die bestehenden Verhältnisse mitsamt ihrer Institutionen zu belegen, bleibt er im deutschen Alltagsbewusstsein wie -verhalten, selbst noch in Theorie und Praxis der studentischen Opposition, verschwiegener und darum aber umso fataler wirksam. Denn auch die oppositionellen Studenten reproduzieren, so Sonnemann, unbewusst und darin unreflektiert „deutsche Verhaltensmuster“ und damit einen „Institutionalismus, den es auch anderswo gibt“, der jedoch „in seinen heimischen Gestalten in der Bundesrepublik wie der DDR potenziert“ (IsO, 333) sei. Nur scheinbar haben die Studenten dem Erstarren vor den gegebenen Verhältnissen etwas entgegenzusetzen, wenn sie anlaufen gegen das Establishment und Politik betreiben als Protest und Demonstration. Denn genau indem die studentische Opposition solcherlei „Aktivismus beschwört“ (IsO, 327), sich also nicht mehr mit der lästigen Kopfarbeit abmühen, sondern endlich die Dinge anpacken will, verrät sie das Ideal von Praxis, die ohne Theorie zur blinden werden muss. Dabei würden die Studenten gleichsam theologisch, weil sie nämlich an einen bloßen Glauben appellierten und nicht an kritisches Urteil. Nur sei der studentische Glaube nicht auf das theoretische Erkenntnisverhalten kapriziert, vielmehr auf die politische Handlung: „Das Theologische deutscher Politik, in der jetzt keine Figur denkbar ist, die sich nicht unausgesetzt zu irgend etwas bekennte, reproduziert sich in Studenten“ (IsO, 399). Eine politische Haltung wird demzufolge festgenagelt auf das (stark religiös konnotierte) Bekenntnis, die politische Handlung reduziert auf die Form eines stilisierten, verklärten Protestes: als käme es vor allem anderen auf die Demonstration dessen an, auf welcher Seite man stehe. In solchem Selbstverständnis aber äußern sich vor allem „Gemütsexhibition“ und „Protest als Gebärde“ (IsO, 334). Die Gefahr, dass sich solch blinder Aktionismus umso leichter in dasjenige integrieren lässt, wogegen er vordergründig anläuft, gerade weil Theorie überwunden werden soll, damit aber die Reflexionsinstanz abhandenkommt, diese Gefahr hat Sonnemann frühzeitig gesehen; lange bevor ehemalige Spontis ihren Marsch durch die Institutionen antraten.7 6Siehe
oben, Kapitel 8. immer schon wurde ja – und einkalkulierbar – in Deutschland Protest eingelegt, der durch die Ventile der Repression in den Himmel entwich, die Repression equilibrierte. Auf dieses vage Verdampfen könnte auch diesmal wieder alles hinauslaufen; es hat keinen Zweck, zu verheimlichen, daß es an Evidenz, die dagegen spricht, vorerst fehlt.“ IsO, 97. Vgl. auch
7„Aber
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Theoriefrei war die studentische Opposition allerdings sicherlich nicht. Die Aktivisten rekrutierten sich überwiegend aus einem studentischen, also theorieaffinen Milieu. Und der Protest selbst entzündete sich aus theoretischer Reflexion über die sozialen Verhältnisse und aus denkender Auseinandersetzung mit Gesellschaft. Nach Sonnemanns Diagnose jedoch reduzierten die oppositionellen Studenten Theorie nicht selten auf ein notwendiges aber unliebsames Instrumentarium für politische Aktion. Insofern aber wurde Theorie ein ähnliches Schicksal zuteil wie der politischen Handlung. Auch jene sei theologisch, nicht zuletzt in den „Sprachformen als der priesterhaft sich abkapselnden des SDS“ (IsO, 328). In solcher Bekennersprache würde nämlich, so Sonnemanns vehemente Kritik, ein Gestus von „Carl Schmittschem Freund-Feind-Denken“ (IsO, 327) kultiviert, der keinerlei Zwischentöne und Abweichungen gestattete.8 Darüber hinaus finde in den „apriorischen Theorieformeln“ (IsO, 359) eine „Ersetzung von Analyse durch Begriffsfetischismus“ (IsO, 359) statt. Das heißt, die immergleichen Formeln werden als Erklärungsmodelle für alle Geschehnisse in der Welt herbeizitiert, damit aber Kritik dem Gegenstand äußerlich zugeführt, anstatt von innen heraus mit analytischem Feingespür die (ideologische) Sache zu zersetzen. Das Resultat solch „priesterhafter“ Sprache sei dann eine „Verfestigung des Begriffs, welche nicht theoretisch ist, sondern, wie der Institutionalismus selbst, theologisch; nicht theoretisch, weil der Theorie, von der sie noch die Spur trägt, die Praxis fehlt, jede jetzt stichhaltig aus ihr begründbare, denkbare Koordinierung mit Praxis; theologisch, weil sie studentischer Unruhe eine Instituierung, also Ruhe, vermittelt, eine sich gebärdenreich vor sich selbst stilisierende, auf sich zurückwerfende Theoretikerruhe, aus der heraus sie, was sie hier und jetzt tun könnte, zu Gunsten von Beschwörungen nur abermals wieder vertagt.“ (IsO, 339)
Dieser ‚Begriffsfetischismus‘ ist übrigens nicht nur das Gegenteil von bestimmter Negation, die ihren Inhalt vor dem negierenden Akt gar nicht so genau kennt, sich erst in das Kritisierte einlassen muss, um bestimmt kritisieren zu können; die also niemals vorher gänzlich weiß, wo sie eigentlich steht, welche die richtige Seite sei. Der ‚Begriffsfetischismus‘ ist gleichermaßen Verrat am Hegelschen
Ulrich Sonnemann: „Das Ödipale an den Achtundsechzigern. Wie ihr Scheitern an seinen Beengungen zugleich eines an seiner mythischen Partitur war (für den patrizidalen Part reichte es, desto unbehelligter überlebte die Sphinx)“ [1988], in: Schriften Bd. 5, S. 433–487. Aus dem editorischen Nachsatz zum Text vom Herausgeber Paul Fiebig ist zu entnehmen: „Erstveröffentlicht in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946–1995. Ein Projekt des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Band 3: Aufsätze und Kommentare. Register. Hamburg März 1998, S. 239–266. (Geschrieben 1988: für einen Suhrkamp-Band, der zuerst noch im gleichen Jahr, dann 1993 erscheinen sollte.)“ Sonnemann Schriften Bd. 5, S. 487. 8Dass Sonnemann sehr persönliche Erfahrungen mit einem derart sektiererischen Sprachgestus der Studenten gemacht hat, wurde bereits in der Einleitung dargestellt (Stichwort: Colloquium von Jacob Taubes an der Berliner Freien Universität).
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egriffsdenken. Zugegeben, Sonnemann unterstellt Hegel im unmittelbaren B Kontext des zuletzt Zitierten, geradezu der Inaugurator solchen Fetischismus’ zu sein, denn: „noch keine Lehre, die von Hegel abstammt, riß vom identitätslogischen Anspruch absolut regierender Begriffe sich los“ (IsO, 339). Mit Hegel ließe sich jedoch erwidern: Wird der Begriff seinerseits für absolut gesetzt, weder also seine Geschichte noch die ihn umgebende Konstellation oder die Stufen der Negationen und die Zwischentöne – also Hegelisch: die Bewegungen des Begriffs – mitgedacht, so ist er in der Tat starr und dogmatisch geworden. Das ist aber keine notwendige Konsequenz begrifflichen Denkens. Im Gegenteil soll gerade die Arbeit am Begriff (bzw. des Begriffs) dessen Entwicklungen wie Konstellationen nachgehen, ihn gegen falsche Verabsolutierung bewahren.9 Darauf wird zurückzukommen sein. Ob gegen oder nicht vielleicht doch mit Hegel, für Sonnemann jedenfalls ist Institutionalismus, auch und vor allem derjenige der studentischen Opposition, nicht nur Fortsetzung der „Ideologie Arnold Gehlens“, sondern insbesondere „Literaturfeindschaft“ (IsO, 335), also Missverständnis von Sprache, sofern der aufmerksame Umgang mit den Sachverhalten ersetzt wird durch ihre Subsumption unter unbewegliche, apriorisch gesetzte Oberbegriffe, welche dann ihrerseits nicht mehr reflektiert werden, mithin zu Fetischen erstarren. Als solche sind sie zwar menschgemacht, werden jedoch zu Idolen des Glaubens, anstatt reflektierendes Urteil zu ermöglichen.
Sprache der verwalteten Welt Nun ist Sonnemanns Kritik an der abstrakten Negation, wie sie seiner Diagnose nach von der studentischen Opposition praktiziert wurde, hier zunächst ihrerseits abstrakt wiedergegeben worden. Sonnemann, seinem eigenen Anspruch treu, dekretiert jedoch nicht einfach einen ubiquitären Institutionalismus, um dann alle Phänomene diesem Oberbegriff gefügig zu machen. Vielmehr entwickelt er jene Kritik aus der Detailanalyse des Zeitgeschehens heraus. Das ist wohl ein entscheidender Grund, warum Sonnemann die Arbeiten an der Negativen Anthropologie unterbrach, um sich dem Tagesgeschehen zuzuwenden. Zwei Fälle, anhand derer sich für Sonnemann eine institutionell bornierte Sprache, ihr Begriffsfetischismus und ihre Analyseunfähigkeit offenbaren, sollen im Folgenden kurz dargestellt sein. Modellhaft zeigt sich an ihnen, wo die studentische Opposition aus Sonnemanns Perspektive versagt, der von ihm erhoffte Ungehorsam in Begriffshörigkeit umschlägt. Erster Fall — ein Ausbleiben:
9Das ist natürlich sehr grob gesprochen und müsste streng genommen nun etwa an Hegels Begriffstheorie aus der Phänomenologie des Geistes belegt und ausgeführt werden. Da es an dieser Stelle allerdings nur darum geht, Sonnemanns etwas plumpe Hegel-Kritik zu relativieren, ansonsten der Fokus hier auf zeitgeschichtlichen Aspekten liegt, seien diese Anmerkungen in ihrer Allgemeinheit belassen.
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„Der Sommer 1967, man erinnert sich, war heiß in den amerikanischen Städten, zumal in Detroit; klar stand dort Weiß gegen Schwarz. Nach den Prinzipien deutscher Oberbegrifflichkeit, die im Freund-Feind-Denken des Institutionellen aus Carl Schmittscher oder Arnold Gehlenscher Quelle sich als die explizite Form eines wohlverwurzelten Humanitätsmangels erhält, dessen implizite, wie wir gesehen haben, dann auch altmarxistischer Deduktion nicht erspart bleibt, hätte gar nicht passieren dürfen, was doch in Detroit völlig unbekümmert um Axiome deutschen Denkens geschah: daß ein Staatsanwalt, nach einem Mord, an einem Neger in diesen Krawallen begangen, Anklage wegen Mordes gegen zwei weiße Polizisten erhob, deren Tat also die Anklage nicht in fahrlässige Tötung schon umlog.“ (IsO, 359 f.)
Die in heutigen Ohren zurecht befremdlich klingende Wortwahl (‚Neger‘) sollte nicht davon ablenken, dass Sonnemann hier im Sinne der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er gerade auf das Prinzip universalistischer Rechtsstaatlichkeit abzielt: Was hier nach Sonnemanns Schilderung des Falls nämlich ausbleibt, ist nicht nur der naheliegende Rassismus des weißen Staatsanwaltes sowie eine blinde Staatsgläubigkeit; dann vermutlich hätte er eine mildere Anklage gewählt, weil das Opfer schwarz und (nach rassistischem Vorurteil) somit per se verdächtig, die Täter weiß und per se unverdächtig seien und zudem auch noch Staatsdiener und damit per se im Recht. Was laut Sonnemann ausbleibt, ist vor allem eine Zurkenntnisnahme dieses Falls seitens der deutschen Studenten, die sich zur gleichen Zeit mit einer ähnlich gelagerten Angelegenheit zu befassen haben: mit dem Mord an Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras am Rande einer Demonstration. Dieser Mord jedoch wird nicht in gleicher Weise zur Anklage gebracht, vielmehr der Todesschütze – vorweg in dubio pro reo – von der Berliner Staatsanwaltschaft bloß der fahrlässigen Tötung beschuldigt. Für Sonnemann ein klarer Fall von „Corpsgeist deutschen Beamtentums“ (IsO, 360). Deutlich würde dies insbesondere im Vergleich zum amerikanischen Fall, der sich eben durch Abweichung von jenem Corpsgeist auszeichne. Angesichts dessen erscheint die deutsche Justiz im Lichte ihres eigenen Anti-Liberalismus’, da es ihr nicht gelingt, ähnlich schonungslos die Staatsdiener und damit aber den Staat selbst der gerichtlichen Untersuchung zu unterziehen. Dass dieser Vergleich jedoch, insbesondere von der studentischen Opposition, nicht gezogen wird, ist für Sonnemann der Sturheit ihrer Blickrichtung geschuldet: „Diesen Vergleich ist die studentische Opposition aus einem einzigen Grund nicht gewohnt, der die Undialektik selbst ist: da sie, wenn inzwischen auch schon kritischer, den Fortschritt im Osten, den Rückschritt im Westen vermutet, identifiziert sie, ob auch nun weitgehend unbewußt, die Gesamtheit der Verhältnisse in beiden mit dem Gehalt dieser beiden Oberbegriffe; als wären die Wirklichkeiten da wie dort nicht wie alle Wirklichkeit widerspruchsvoll in sich selber und als fange mit dem Aushalten solcher Widersprüche Dialektik nicht an.“ (IsO, 359)
Solche ‚Undialektik‘ führt dann auch zu einer verqueren Analyse an anderer, jedoch verwandter Stelle. Zweiter Fall — System als Feind: Einen besonderen Exponenten oberbegrifflichen Denkens macht Sonnemann in der Projektgruppe anti-imperialistischer
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Kampf des SDS München aus. Sonnemann zitiert ein Flugblatt der Politgruppe anlässlich des Vietnam-Krieges, in welchem zu lesen ist, dass die „Ursache der amerikanischen Eskalation“ sich „notwendigerweise aus der Immanenz des kapitalistischen Systems“ (IsO, 403) ergebe. Sehr viel mehr ist dem Flugblatt nicht zu entnehmen, außer der unverkennbare Stolz, dass es gelungen sei, diese „Einsicht“ in einem „Teil der Bevölkerung“ (IsO, 403) zu implementieren. Die Berufung aufs ‚kapitalistische System‘ muss genügen, um alles Weitere zu erklären. Doch nicht nur kann solche Analyse kaum überzeugen. Als unbestimmter, vom Gegenstand abstrahierter Begriff wird er vielmehr anschlussfähig für alle möglichen Projektionen, für ‚Gesellschaftskritik‘ jedweder Couleur; auch für solche, die unmenschliche Zustände nicht deshalb kritisiert, um die Möglichkeit von Emanzipation offenzulegen, sondern um solche Zustände durch noch unmenschlichere zu ersetzen. Beizukommen wäre einer unreflektierten Beschwörung des Systembegriffs, der zwar alles mit Notwendigkeiten erklären zu können suggeriert, über die tatsächlichen Verhältnisse, ihre Widersprüche wie Änderungspotentiale jedoch hinwegeilt, laut Sonnemann nur mit dem „entscheidenden Reflexionsschritt, der Herstellung von Spontaneität“, was dann also den Namen des „je fortgeschrittensten Bewußtseins“ (IsO, 404) tatsächlich verdient hätte. Solche spontane Reflexion setzt der behäbigen Bemühung des SystemBegriffs eine mit Aufmerksamkeit gepaarte und ebenso selbstreflektierte Vernunft entgegen, die allein das Umschlagen von sogenannter Systemkritik in Unmenschlichkeit verhindern kann.10 Vernunft versteht Sonnemann als Refugium von Menschlichkeit; daher reflektiert jene noch ihre eigenen Schwächen, lässt Raum für das von Rationalität Ausgesonderte: „Dieser prinzipiellen Analyse wächst die topologische Beobachtung zu, daß der Weg, ein Fundierungsverhältnis [wie jenes ‚kapitalistische System‘; M.M.] zu sprengen, nicht der Anordnung seiner Schichten als ihrem tragenden Zusammenhang folgt, sondern umgekehrt: der Bohrer setzt nicht in der untersten, sondern in den Bruch- und Rißstellen der zutage liegenden an, daher erübrigt die Berufung auf den Systemcharakter der Verhältnisse nicht die Wahrnehmung solcher Stellen in ihnen, und der Praxis-Chancen, die mit ihnen geboten sind –, sondern postuliert sie. Dabei geht es nicht um Bloßstellung und Schwächung einzelner Personen und Gruppen, sondern in dieser gerade, wo sie funktionell repräsentativ sind, ereignet sich die des ‚Systems‘, dessen menschenrechtsbrüchige Unwahrheit immer vollständig schon in ihren Fällen enthalten ist, also nur kritischer Stringenz und einer ihr genau anliegenden Sprache bedarf, um in wiederhergestellter Unmittelbarkeit ins Bewußtsein der Gesellschaft zu treten. Wo diese
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Kapitalismuskritik bedeutete dies, anstatt überall ‚den Kapitalismus‘ am Werk zu sehen, der dann allzu oft bloß noch mit Großkonzernen und Finanzkapital identifiziert wird, vielmehr die kapitalistische Ökonomie, also die Produktionsverhältnisse mitsamt den dazugehörigen Eigentumsverhältnissen und Wohlstandsverteilung, aber ebenso Warenproduktion, Lohnarbeit, Tausch, Mehrwertproduktion und -akkumulation, Zirkulation et cetera pp. bestimmt zu fassen und zu kritisieren; also dasjenige Projekt kritisch fortzusetzen, welches Marx im Kapital begonnen hat; was aber, da es sich bei diesem Werk nicht um eine heilige Schrift handelt, nicht bloß nachgebetet werden darf, sondern dem immanenten Anspruch nach zugleich der Kritik der jeweiligen Zeit entsprechen muss.
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erhältnisse – und was sie anraten – übersehen werden, vollzieht sich unter der Hand V eine Rückverwandlung des System-Begriffs der kritischen Theorie, der den Zwangsund Schuldzusammenhang der Gesellschaft, nichts ihn Transzendierendes meint, in den ontologisch-holistischen, der der Verfallsphase des Idealismus entsprungen ist und dessen Mystifikation die SA dann in ihren Kampfsprüchen gegen das Weimarer System vulgarisierte. Man braucht, um einer ähnlichen, wie immer nüchtern sie sich nun gibt, zu erliegen, durchaus von dieser Organisation und der Sache, für die sie stand, nichts zu halten.“ (IsO, 404)
Dass den Studenten die peinliche Nähe zum Systembegriff der Nazis kaum auffiel, wäre für Sonnemann eben Symptom ihres Begriffsfetischismus’, der sie daran hindert, diese liebgewonnene aber allzu abstrakte Vokabel zu reflektieren. Woran es, auch und gerade unter den oppositionellen Studenten, nach Sonnemanns Kritik mangelt, ist eine Form von Sprachmächtigkeit, die sich nicht in fixen Kategorien und Begriffen ausruht, sondern in sprachlicher Aufmerksamkeit ihren jeweils zu zersetzenden (= zu analysierenden) Gegenstand trifft. Das aber wäre der erste und nicht zu überspringende Schritt in die verändernde und verbessernde Praxis. Beide Fälle – die entlarvende Unzulänglichkeit der Oberbegriffssprache in Tateinheit mit einem undialektischen Denken – weisen über sich selbst hinaus auf eine gesamtgesellschaftliche Tendenz hin, die Sonnemann als Institutionalismus bezeichnet. Dieses Bewusstseins- und Verhaltensmuster findet seinen Niederschlag in der Schlagwort-Sprache der Studenten und ist gleichzeitig durch einen bestimmten, verdinglichten Sprachgebrauch begünstigt. Solche Sprache korrespondiert ihrerseits mit den verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnissen, die Sonnemanns Analysen zufolge auch in Gehlens Institutionalismus einen Ausdruck finden, indem die verdinglichten Verhältnisse hier als angeblich notwendige, wesenhafte Struktur der Menschenwelt verklärt werden; ähnlich also, wie für die traditionelle Ökonomie die auf Konkurrenz, Warentausch und Privateigentum basierenden Produktionsverhältnisse als in der Natur der Sache liegend erscheinen, darin aber ihren gesellschaftlichen, menschgemachten Charakter verschweigen. Einer verdinglichten Sprache, die der verwalteten Welt entspringt und sie stabilisiert, mangelt es an gerade am eigentümlichsten Potential von Sprache, nämlich an Offenheit: „Der Institutionalismus, besonders der deutsche, beginnt nicht in Institutionen, sondern in einem Gebrauch von der Sprache; daher kann ihm kein Gebrauch von der Sprache, der sich in seinen Begriffen verschließt, sie nicht für Abweichendes offenhält, etwas anhaben.“ (IsO, 415)
Und: „Ihre [scil. der Deutschen] Institutionsgläubigkeit rechnet mit der Welt als einer je schon fertigen, inventarisierbar verwaltbaren, widersteht daher der Kategorie der Möglichkeit, perhorresziert Phantasie. Der Institutionalismus ist somit in seiner Wurzel eine Eigenschaft, keine Einrichtung. Mit der Herrschaft des bleichen Oberbegriffs, der das seinem Gehalt Heterogene in herrischer Administrierung zur Ordnung ruft, beginnt schon in deutscher Fach- und Amtssprache, unfrontalen Diskussionsmanier, sein Regime.“ (IsO, 412)
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Deutschland, das ist für Sonnemann entsprechend ein „Land […] der Sprachlosigkeit“ (IsO, 343 f.); wenn auch einer sehr beredten, denn in „nichts erscheint der Hegelsche Staat in Deutschland so unabsehbar stabilisiert wie in der Unschärfe der verschleimten Sprache“ (IsO, 343) – wobei statt vom ‚Hegelschen‘ hier wohl besser von einem preußisch-autoritativen Staat die Rede wäre. Einem obrigkeitstreuen Deutsch fehlt, als ‚verschleimtem‘, die analytische Schärfe. Obgleich sie sich gerade in Opposition zur Obrigkeit wähnt, verfällt die studentische APO anderen Obrigkeiten, indem sie ihren Wortführern und deren eingeschliffenen Sprachformeln nachgerade autoritär Folge leisten. Auch daher können sie kaum als emanzipiert in Sonnemanns Sinne gelten, mangelt es auch ihnen, insbesondere ihren politischen Interventionen, allzu oft an erforderlicher „Zerstörungskraft aus Sachgenauigkeit“ (IsO, 343). Dieser Sprachmangel entspricht schließlich einem unzulänglichen Geschichtsbewusstsein, welches Sonnemann als „Geschichtsvergeßlichkeit“ (IsO, 366) charakterisiert. Gerade, weil die einzelnen Sachverhalte nicht aufmerksam und mit Leidenschaft fürs Detail formuliert und somit sprachlich ins Verhältnis zum Allgemeinen gesetzt werden, sondern umgekehrt das Fundierungsverhältnis möglichst direkt angegangen werden soll, muss der Versuch misslingen, aus den bestehenden (widersprüchlichen und oftmals schlechten) Verhältnissen heraus einer besseren Gesellschaft Vorschub zu leisten. Stattdessen wird studentischerseits ein Gestus des frisch-fröhlichen Voranschreitens, des Neuanfangs beschworen; ganz so, als ob sich mit dem Neuen beginnen ließe, ohne sich mit irgendeinem Alten auseinandersetzen zu müssen. Aus derlei Unbestimmtheit jedoch lässt sich für Sonnemann nichts Bestimmtes gewinnen: Eine menschlichere Gesellschaft lässt sich nicht aus heiterem Ideenhimmel bauen, nicht aus der Schau der anthropologischen Grundelemente, die je schon da, nur in ein richtiges Verhältnis zu setzen wären. Was dieses Humane sei, lässt sich negativer Anthropologie zufolge positiv gar nicht in den Einzelheiten ausbuchstabieren. Hingegen wäre das Projekt der Emanzipation aus menschenunwürdigen Verhältnissen in deren bestimmter Negation fortzusetzen, „denn Abstraktionen aus Geschichtlichem, zu denen auch das jeweils Neue gehört, leiten dies Neue gerade nicht ein, das sie in rollenlustiger Geschichtsästhetik beschwören“ (IsO, 354), wobei ‚Geschichtsästhetik‘ jenes oben beschriebene Okularverhalten meint. Zwar bleiben die gesellschaftlichen Verhältnisse um solcher Emanzipation willen auch für Sonnemann tatsächlich umzuwälzen, zu verändern; und ganz nach Marxens Einsicht erschöpft sich solche Änderung weder in Interpretation noch in geänderten Sprachformen allein.11 Mit den ökonomischen Bedingungen der gesellschaftlichen Verhältnisse wäre auch deren (institutionalistisch-) staatliche Form umzuwandeln, so zumindest Sonnemann: „Der Abbau des Staates bedeutet Übernahme seiner rationalen Funktionen durch von ihren Zwecken bestimmte, sie nicht überschreitende gesellschaftliche Gremien, also Beendigung
11Vgl.
Karl Marx: „Thesen über Feuerbach“ [1845], MEW 3, S. 1–7.
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seiner Unvernunft: Auflösung seiner Herrschaftsfunktion“ (IsO, 369). Der Impuls hinter dem Aktionismus der oppositionellen Studenten, dass nämlich Theorie auf (verändernde) Praxis zielt, ist Sonnemann zufolge also keineswegs falsch. Nur würde in vernünftiger Praxis die Kopfarbeit mitnichten überflüssig. Im Gegenteil: die Absage an sprachliche Reflexion zugunsten von wütendem Aktionismus droht stets, in Barbarei umzuschlagen. Auch sind Sprache und Bewusstsein nicht das Gegenteil des gesellschaftlichen Seins, verstanden als ökonomische wie administrative, materielle Ausgestaltung der Welt. Sein und Bewusstsein sind hingegen vielfach vermittelt. Schließlich benötigte eine geschichtsbewusste Umwandlung der Gesellschaft hin zu einer menschlicheren, wenn sie überhaupt gelingen soll, eine Sprache, die in analytischer Prägnanz die kritisierten Verhältnisse festhielte. Darin höbe Sprache bereits zu einem Teil gesellschaftliche Unfreiheit auf, indem jene diese erfassend konserviert und urteilend negiert; wohl wissend, dass tatsächliche Aufhebung erst geleistet wäre, wenn nicht nur Sprache, sondern mit ihr die Gesellschaft in allen Bereichen auf einem höheren Freiheitsniveau angelangt wäre. Auf dem Weg dahin müsste Sprache auch die Brüche der Dinge in sich aufnehmen, wie es dem vorletzten, langen Passus andeutungsweise zu entnehmen ist (vgl. IsO, 404). Sprachlich einzubeziehen sind somit die Bruchstellen, an denen Spontaneität und Vernunft einsetzen können. Sonnemanns Suche gilt insofern einer Sprache mit Wahrheitsanspruch im emphatischsten Sinne: einer „Wahrheit, die gegen die Macht der bestehenden Verhältnisse steht“ (IsO, 363).
Erziehung zur Unmündigkeit Die Art und Weise, wie Menschen reden und schreiben, ist Ausdruck von Anthropologischem. Anthroplogicum ist Sprache mithin auch in dem Sinne, dass ihre konkreten Formen Auskunft geben über gesellschaftliche Entwicklungen und Strukturen sowie deren Sedimentierung im Innenleben (der Psyche) der Individuen, die sich spezifischer Sprachweisen bedienen. Diese Verbindung war schon hinsichtlich der pragmatischen Anthropologie Kants thematisch, gelten ihr doch als wichtige Gegenstände anthropologischer Forschung solche der Sprache.12 Auch hierin erweist sich Sonnemann in gewisser Weise als kritischer Erbe der ersten Aufklärung und einiger entscheidender Grundgedanken Kants. Denn die Quellen negativer Anthropologie sind denen der Kantischen nicht unähnlich: „Daher hat negative Anthropologie es in der Regel mit den Dokumenten von Rede zu tun. […] Die Domäne solcher Kritik, wie sie als negative Anthropologie heute fällig wird, reicht von den Geistes- und Sozialwissenschaften über die Phänomene des Kulturimmobilismus bis in deren greifbare Folgen für Politik, Justiz und Erziehung“ (NA, 254).
12Siehe
oben, Kapitel 7 (Aufklärungsanthropologie).
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Demzufolge ist also nicht nur den Studenten auf den Mund zu schauen, auf ihre sprachlichen Verlautbarungen genauestens hinzuhören, um den eingeschliffenen Momenten von Ideologie, dem Fetischhaften in Bewusstsein und Verhalten auf die Schliche zu kommen. Eine solche Hellhörigkeit ist nach Sonnemann vielmehr für alle Bereiche der Gesellschaft gefordert. Aufklärung über vorherrschende Verstellungen und Dumpfheiten von Sprache bedeutete zugleich, eine gewisse Sprachmächtigkeit zu erwerben, was negativer Anthropologie als notwendige Voraussetzung zur Veränderung der Gesellschaft hin zu einer menschlicheren gilt. Auch bezüglich der Verstrickungen des (deutschen) Sprachverhaltens sei im Folgenden ein Ausflug unternommen in eine mikrologische Studie Sonnemanns. Erziehung ist ihr Gegenstand und sie horcht hinein in deren Institutionen, welche – dem Buchtitel von 1970 nach – als Die Schulen der Sprachlosigkeit zu charakterisieren wären; speziell geht es – so der Untertitel – um den Deutschunterricht in der Bundesrepublik.13 Material der Studie ist u. a. die vorgefundene Lektüreauswahl für Gymnasialklassen, wie sie sich aus der Zusammenstellung von Schullesebüchern ergibt, wobei nicht nur die Inhalte der Texte tiefe Einblicke in deutsche Denkgewohnheiten und ihre sprachliche Vermittlung gewähren, meist schon die Buchtitel diesbezüglich beredt werden. Was Sonnemann aus solchen Dokumenten herausliest, dann auch namengebend für ein Kapitel, ist etwa „Das alte Unwahre oder Die Innerlichkeit“ (SdS, 15). Innerlichkeit versteht Sonnemann hier als reine Selbstbezüglichkeit. Das Pathos des Ringens mit sich selbst, wonach alle ernsthaften Probleme im inneren Gewoge der Individuen ihren eigentlichen Ort hätten, geht nach Sonnemanns Interpretation einher mit blanker Affirmation den Äußerlichkeiten gegenüber, münde in „Einverständnis mit der Weltordnung“ (SdS, 16). Insofern korrespondiert der Innerlichkeit ein Hang zur „Weltanschauung“ (SdS, 9), die zwar ihrem Namen nach einen Bezug zum Äußeren, zur Welt, verbriefen solle, tatsächlich jedoch bloße Reproduktion von Gewissheiten darstelle. Das Wesen dieser Weltanschauung sei nämlich „Narzißmus: die monologische Gemütsexhibition des Bekenners, der so lange und so unerschütterlich steht und nicht anders kann, bis er umfällt“ (SdS, 9). Dieser Spagat zwischen Selbstzweifel und Bejahung des Status quo gelinge dem Innerlichkeitspathos auch darum so gut, weil die in ihm befangenen Subjekte im Modus des Selbstgesprächs nicht auf die Widerstrebsamkeit und damit Widersprüchlichkeit der Außenwelt achteten, mithin nur sich selbst und sonst nichts vernähmen. Solcher Selbstzweifel im Innern sei jedoch gar kein echter Zweifel, eher schon ein Akt permanenter Selbstvergewisserung, der um dieses Zweckes willen alles Externe und potentiell Störende auszublenden sucht. Sonnemann rückt die Haltung der Innerlichkeit damit in die Nähe seiner Kritik des Cartesischen Skeptizismus’: beiden fehlt,
13Ulrich
Sonnemann: Die Schulen der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der Bundesrepublik, Hamburg 21970. Die hier zitierte 2. Auflage ist im selben Jahr erschienen wie die Erstauflage. Im Folgenden mit der Sigle SdS abgekürzt und mit nachgestellten Seitenzahlen im Haupttext nachgewiesen.
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so ließe sich pointieren, ein Sensorium für Irritationsmomente. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Descartes geschlossene Augen und mehr noch an die beinahe gewaltsam verstopften Ohren.) Unterschieden ist deutsche Innerlichkeit vom Cartesianismus jedoch durch die ihr eigentümliche „Blut-und-BodenFormel“ (SdS, 24), die mit einer vehementen Entschlossenheitsemphase gepaart sei, wie Sonnemann schreibt. Diese spezifisch deutsche Variante von Innerlichkeit klinge bereits in Lesebuchtiteln an wie „Wachsen und Reifen oder Wurzelgrund, aber auch Aufbruch, Sturm und Stille, Feuerprobe und Wagnis des Lebens“ oder „Lebensgut“ sowie „Erde, in der ich wurzele, und Tiefe, aus der ich komme“ (SdS, 17). Ganz unterschieden von Cartesischer Weltspaltung ist diese deutsche Ideologie für Sonnemann jedoch nicht. Nachdenklich machen sollte etwa der zum Vokabular von Innerlichkeit gehörende Begriff ‚Weltanschauung‘, äußert sich in ihm doch ein gewisser Dualismus zwischen Anschauen und Angeschautem, der Spaltung von res cogitans und res extensa nicht unähnlich. Allerdings werde die von Descartes vollzogene Teilung in deutschen Landen noch potenziert, die verleugnete Vermittlung zwischen den gespaltenen Momenten auf die Spitze getrieben. Sonnemann verweist dabei auf die Lesebuchserie mit dem Titel „Schauen und Schaffen“: „Schon der Titel ist schlüsselhaft für Existenzen, die wie Insektenkörper zweigeteilt sind: einem Unterleib von Arbeitsverbissenheit, die demiurgisch zum Schaffen verklärt wird, sitzt unvermittelt ein Kopf auf, den die Produktion solcher Verklärung definiert. Seine Bestimmung in der Welt ist deren Beschauung – die von Büchern gegängelt wird – weiter nichts: alles, was ungelöste Probleme stellt, Schwierigkeiten schafft, wird verschwiegen, das Wort Schauen ist selbst schon seinem selektiven Gebrauch nach ein twospeak-Wort, es gibt keinen Raum für menschliche Beziehungen, keinen für ihren Widerspruch; ein immer erschwindelterer Ordo nimmt den Platz ein, auf dem anderswo die Gesellschaft sitzt. Die Welt ist einerseits Erbauungsgegenstand, andererseits Rohmaterial für Bearbeitung, Domäne der Industrie“ (SdS, 33).
Nach Sonnemanns Lesart wird Denken in der Geistes- wie Sprachhaltung solcher Schullesebücher zum vermeintlich untätigen Beschauen, das aufs innerliche Individuum, das beziehungslose Ich zurückgeworfen ist. Handelnde Tätigkeit hingegen ist dem Arbeitsfetisch industriell-kapitalistischer Produktionsverhältnisse angepasst. Sie soll Tüchtigkeit sein, die ohne kontemplierende oder sinnierende Störung ihrem Tagewerk nachgeht; Arbeit also, von der alle Reflexion und sinnliche Ablenkung fernzuhalten ist. Hier soll alles wie am Schnürchen laufen, dort dann ist zur Reproduktion der Arbeitskraft Erbauung und beschauliche Zerstreuung gestattet. Innerlichkeit bedeutet demzufolge eine fragwürdige Widerspruchslosigkeit: gegensätzliche Momente wie Innen- und Außenleben, Kopf- und Handarbeit erscheinen als auseinandergefallene Welten und nicht als vermittelte Extreme. Dagegen käme es gerade darauf an, solche Widersprüche zu mobilisieren, also Bewegung in erstarrte Sichtweisen zu bringen. Dass dies nach Sonnemanns Kritik jedoch selbst der studentischen Opposition nicht wirklich gelang, wurde oben dargestellt. Negativ erscheint hier wie dort, worauf es kritischer Sprache ankommen müsste. In Sonnemanns Worten aus den Schulen
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der Sprachlosigkeit, deren ehemalige Schüler 1968 zu Studenten geworden sind, klingt dies so: „Die Reaktion hat sich in Deutschland behaupten, die Positionen ihrer Macht in der Gesellschaft stets aufs neue befestigen können, weil die Innerlichkeit, die sie als Ideologie hat, als Attitüde von Monologen noch in den Gegnern dieser Ideologie wieder aufersteht, die das Kritikwürdige rückweglos objektivieren, statt mit frontaler Herausforderung in seinem eigenen Widerspruch es zu treffen. […] Offenbar müßte Deutschunterricht, wie er fällig wäre, der Wahrheit von Rede und Widerrede, der Schneidekraft des Wortes als begründendes, verteidigendes, urteilendes, seiner Freiheit von Seelenspekulation, der ganzen Praxis der Debatte sich annehmen, mit der es in Deutschland seit seinen glaubenskriegerischen Zeiten im Argen liegt.“ (SdS, 29)
Entgegen einer bekennerhaften Studentensprache fordert Sonnemann also ein frontales Diskussionsverhalten. Das meint, sich demjenigen, was widerspricht und widerstrebt, zu stellen und nicht in einen Hort vermeinter Gewissheiten und Harmonie zu fliehen: sei’s die Innerlichkeit, sein’s gebetsmühlenartig wiederholte Theorieformeln, sei’s das antiintellektuelle Pathos unter der Schlagzeile: ‚Genug geredet, jetzt wird gehandelt‘. „Dialogische Eingriffe“ hingegen wären Konfrontationen, welche die bornierten „Meinungen“ (SdS, 8) gründlich ins Wanken brächten. Damit ist nun aber nicht einfach eine Debattenkultur gemeint, die Alle dazu aufforderte zu sagen, was sie eben meinten. Dialogische Eingriffe dienen vielmehr der Wahrheitsfindung, haben ihr Kriterium also daran, ob mit ihren Urteilen tatsächlich Erkenntnis gewonnen wäre; ob über partikulare Meinungen hinaus auf etwas Allgemeines und Verbindliches rekurriert wird. Deshalb muss das subjektive Urteile „am Anderen seinen Widerstand und kritischen Prüfstein“ (SdS, 8) aufsuchen.14 Damit aber begäbe sich das sprachliche Urteil aus dem Innern einer jeweiligen Person nicht nur in Widerspruch zu anderen Personen, sondern auch zu seinen Gegenständen, zu den äußeren Dingen, würde diese Erfahrung mit ihnen als Widerspruch in sich aufnehmen. Sonnemann geht es also um eine Sprache, die nicht nur mit dem Anderen uneins ist, sondern genauso mit sich selbst; die sich hinterfragt und eigene Bedenken nicht verschweigt, ihre Urteile also auch aus sich heraus überprüft; schließlich um eine Sprache, die ‚sich selbst ins Wort fällt‘. Ihr Ziel ist das Ende „monologischer Mechanik“ (SdS, 13).15 14Ein
Gedanke, der sich übrigens ebenfalls bei Kant findet, unter dem sehr ähnlich klingenden Titel „Probierstein“; vgl. Kant: Anthropologie, BA 151. 15Wie sehr noch es der studentischen Opposition gerade an dieser Form der „Schneidekraft des Wortes“ mangelt, die stets auch Selbstkritik sein muss, führt Sonnemann in zwei Fällen in Institutionalismus und studentische Opposition aus: „Auftritte von Spontaneität, nach alter Sprache das Göttliche, hatten in ihrem Bann schon zu Hölderlins Zeit keinen Platz, und das Schnöde, kleinlich Miese, das Hyperion in seinen Landsleuten vorfand, war sein anthropologisches Zeugnis. Es fängt nicht dort an, wo man nur das Abzulösende, Monologisches, das sich in seinen Kreisen dreht, neu in Szene setzt, und zu unverkennbar setzt man es dort in Szene, wo man etwa über eine Protestresolution abstimmen läßt gegen den bei einer Seminarbesetzung vorgefundenen Brief eines Berliner Professors, der zu infam sei, um verlesen zu werden, so daß die Versammlung dann zwar die Resolution annimmt, deren Gegenstand aber keineswegs kennt, oder wo das Schlußargument einer Debatte aus dem Mund eines Funktionärs dahin lautet,
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Dass solche Sabotage einer selbstgewissen Sprachweise zu wenig gelingt, liegt Sonnemann zufolge nicht zuletzt begründet im „provinzielle[n] Anti-Essayismus, der den Literaturbegriff in Deutschland auf sogenannte Belletristik beschränkte“ (SdS, 37). Denn (Selbst-) Widerrede lässt sich weder in Protokollsätzen positivistischer Wissenschaften noch in einfacher Hauptsatzsprache bewerkstelligen, gilt hier wie dort doch gerade das Ideal von Widerspruchslosigkeit. Eine Widerspruchslosigkeit wohlgemerkt, die zwar nahezu identisch gesetzt wird mit dem Kriterium von (sprachlich verfasster) Wahrheit schlechthin, jedoch tatsächlich der Wahrheit, die in den Sachen liegt, nicht gerecht werden kann; zumindest dann nicht, wenn davon auszugehen ist, dass bestimmte Wiedersprüche in den Sachen selbst liegen. Der Essay, die versuchsweise Annäherung an den Gegenstand, ist sprachliche Annäherung auch an solche Wahrheit. Doch ist essayistische Sprache zunehmend aus den Wissenschaften, auch der Philosophie, verbannt; vertrieben in die schöne Literatur.16 Welches jedoch sind die sprachlichen Formationen, denen die geforderte Sabotage monologischer Mechanik gelingen könnte? Sonnemann zeichnet die Spuren eines Ringens um solche Formen – denkbar mikrologisch – in Aufsatzmarginalien nach; anhand also von Schülerarbeiten sowie von Korrekturen und Randkommentare des Lehrpersonals in den Klausurheften ihrer Zöglinge. Oft genug präsentieren sich jene Kommentare „als Denkverbote“, die Auskunft geben über „Gereiztes vom Rande“, wie Sonnemann polemisch-pointiert schreibt.17 Statt Erziehung zur Mündigkeit, die – nach Kantischer wie Adornoscher Einsicht18 – Bedingung der Möglichkeit zum Gebrauch des eigenen Verstandes (resp. der eigenen Vernunft) und damit von Freiheit wäre, unabdingbar dann aber den Gebrauch einer eigenen Sprache bedeutet, spricht aus solchen Zeugnissen eher eine Züchtigung zum konventionellen Verhalten, welches einzig am Üblichen seinen Maßstab zu haben scheint. Spracherziehung präsentiert sich hier
deren Verlauf habe ihm gar nicht gefallen und die nächste tue es hoffentlich etwas mehr. Mit der radikalen Zerstörung der perennischen Eigentümlichkeit deutscher Debatten, Gesagtes abfällig zu charakterisieren anstatt zu beantworten, begänne auf das unauffälligste, daher wirksamste, Revolution.“ IsO, 412 f. 16Vgl. hierzu noch einmal Adorno: „Der Essay als Form“; siehe die Ausführungen hierzu oben in der Einleitung. Vielleicht stärker noch als zu Adornos und Sonnemanns Lebzeiten dürfte indessen heute das Urteil, ein Text sei ‚essayistisch‘, zumindest in akademischen Kontexten die Sache in ein zweifelhaftes Licht rücken. Womöglich liegt auch hierin begründet, dass sich bislang kaum eine wissenschaftliche Rezeption von Sonnemanns Schriften abzeichnen will. 17Die entsprechende Kapitelüberschrift in den Schulen der Sprachlosigkeit: „Gereiztes vom Rande. Aufsatzmarginalien als Denkverbote“, SdS, 51. 18Vgl. Kant: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“; sowie Theodor W. Adorno: „Erziehung zur Mündigkeit“ [1969], in: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969, Frankfurt a.M. 1971, S. 133–147.
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Sonnemann zufolge wesentlich als Zurichtung und nicht als das, was sie ihrem Telos nach sein sollte, nämlich ein befreiendes Hinausführen.19 An vielen Korrekturmarginalien zeige sich, wie herausfordernde und einfallsreiche Sprachversuche junger Schüler, die an die Grenzen der Sprachkonventionen gehen, zugunsten einer angepassten Standardsprache ausgetrieben werden. Dabei gerät vor allem der Satzbau (die Syntax) zum Züchtigungsobjekt sowie diejenigen Wörter, die dessen Konstruktionen tragen, da sie die Beziehungen zwischen den einzelnen Satzbestandteilen stellvertretend anzeigen: die Pronomina. Wie in seinem Buch über die studentische Opposition entwickelt Sonnemann auch hier seine gesellschaftstheoretischen Diagnosen an Einzelfällen, denen er zugleich den Status des Typischen beimisst. Zitiert wird beispielsweise ein Hausaufsatz samt Randbemerkungen der Lehrkraft. Was daran auffällt, ist die Beanstandung eben vor allem der Pronomina, deren Gebrauch als Fehler im Ausdruck gewertet wird. Zwar sind die Konstruktionen, auf die sich Sonnemann bezieht, in dem Sinne unüblich, dass sie einem schnellen Lesen und einem an wenig komplexer Alltagssprache orientierten Ohr zunächst als ungewöhnlich aufstoßen mögen; grammatisch jedoch sind sie allesamt zutreffend, stellen zudem eindeutige Beziehungen zwischen den Satzbestandteilen her (vgl. SdS, 53–55). Sonnemann gelangt nun aus dem Einzelfall der Kommentare einer Lehrerin zu einem weitreichenden Befund, verfährt dabei in beinah aberwitziger philosophischer Interpretation; durchaus spekulativ, nur eben nicht in dem Sinne, dass über die Details hinweggegangen, als vielmehr, dass in ihnen interpoliert wird: Es existiere nämlich, so Sonnemanns These, eine allgemeine „Abstraktionsangst“ (SdS, 58) vor und in der Sprache, die Ursache sei für den Hang, vornehmlich in Substantiven zu formulieren und Pronomina (in ihrer Funktion als Abstrakta bestimmter Substantive) zu meiden. Ausbruchversuche aus solch verängstigtem Zustand, etwa im virtuosen Umgang der Schülerarbeit mit besagten Pronomina, scheinen dann vehement unterdrückt werden zu müssen: „Offenbar sind ihre [scil. der Lehrerin] Jagdinstinkte durch das voraufgegangene Unübliche, mit dem sie kollidiert ist, geweckt worden, daher gilt die Jagd nun dem Angriffsziel ihres sich herauswagenden Unbewußten, dem uneingestandenen Feind ihrer Sehnsucht nach einer Sprache aus Substantiven: also dem Pronomen schlechthin. Wenn irgendein Sprachelement, muß es dieser Sehnsucht zuwider sein: als Gewinn an Transponierfähigkeit – der gegliedertes Denken erst möglich machte – eines langen, auch schon lange zurückliegenden, in seiner Angefochtenheit von Regressionstendenzen aber prekär gebliebenen Prozesses der Sprachgeschichte, der das Denken davor bewahrt, seine Begriffe mit dem Begriffenen zu verwechseln, das Wort mit dem Ding, mit dem es
19„Das
finge damit an, daß es [scil. ein kritisches Lesebuch] dem Unangenehmen nicht aus dem Weg geht: die Widersprüche der Erwachsenenwelt den sie ohnehin erfahrenden Kindern nicht verschweigt, sondern sie derart zur Sprache bringt, daß es den Ausgang solcher Offenheit nicht präjudizieren kann – wohin immer das führe. Letzteres im voraus zu wissen ist nicht nur unnötig, sondern auch eine Beeinträchtigung a priori des Hinausführens, das die deutsche Übersetzung von educare ist: in traumatisch beengten Seelenverhältnissen emphatischer noch als wo die Situationen entspannter sind.“ SdS, 32 f.
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noch bei größter Annäherung nicht zur Deckung kommt: das Konkrete der Gegenstände mit dem ganz anderen Konkreten von Sprache, die aus dieser Not ihre Tugend: nämlich die treibende Ermöglichung des Gedankens macht, der sein Objekt überschießt. Daß die beiden Auftrittsarten des Konkreten nur um den Preis von Abstraktion wieder miteinander vermittelbar, weil vermittelt sind: diese im Zellgewebe der Syntax nämlich, wo sie nur weniger auffällt, schon da ist, geht jenem Haftenden so gegen den Strich, daß die einzig auftreibbare Alternative, welche die Syntax auf ihn gehen läßt, ihm genehmer wäre: wie sollte auch nur der formalen Möglichkeit nach das Pronomen in diesem Falle entbehrlich werden außer durch Satzzerhackung?“ (SdS, 56 f.)
Hier, wie auch andernorts, wo Sonnemann aus Einzelfallanalysen auf gesellschaftliche Zusammenhänge zu sprechen kommt, erinnert sein Verfahren nicht zufällig an die Psychoanalyse Freuds, der in ganz ähnlicher Weise seine Theorie in begründeter Spekulation aus solchen Einzelfällen heraus entwickelt hat.20 Aus der Psychoanalyse stammen denn auch das Motiv vom Anfang des Zitates sowie die Spekulationen zur Sprachgeschichte: Menschliche Sprache wird hier gedeutet als der Versuch, sich gegen die bedrohliche Natur, also das dem Menschen Andere, zu behaupten. Sprache ist Instrument der Selbsterhaltung. Durch sie gelingt die Distanzierung aus dem unmittelbaren Hier und Jetzt, damit aber auch aus dem bloßen Naturdasein; die sprechenden Menschen machen sich nicht zuletzt durch Sprache die Dinge verfügbar, sind nicht mehr bloß Getriebene.21 Als Instrument der Naturbeherrschung zum Zweck der Selbsterhaltung soll Sprache die Dinge tatsächlich fassen, um über sie verfügen zu können, ganz so, wie die Jäger ihre Beute tatsächlich fassen wollen, um sich ernähren zu können. Die unbewusste Sehnsucht nach einer ‚Sprache aus Substantiven‘, welche angeblich die Dinge in den Dingworten tatsächlich zu fassen bekommt, entspricht damit in gewisser Weise auch der Sehnsucht nach Selbsterhaltung. So, wie Beute gemacht werden soll, richtet sich das Begehren nicht auf ein bloß Abstraktes, will vielmehr Konkretes festhalten. Abstraktionsangst bedeutet demnach auch Angst vorm Verhungern. Doch das Verharren in dieser Angst – als die illusionäre Annahme, durch Sprache der Dinge tatsächlich habhaft zu werden – verkennt das Eigenleben von Sprache, die eben nicht nur Instrument der Naturbeherrschung ist, vielmehr das Naturdasein transzendiert. Das nämlich ist die Tugend der Sprache, aus dieser Not geboren, wie es im Zitat heißt: Indem sie Distanz schafft vom unmittelbaren Geschehen – Ereignisse als Erinnerungen aufspeichern kann, Wünsche nicht augenblicklich erfüllt werden müssen, sondern in Erwartung verschoben werden können,
20Statt
von ‚begründeter Spekulation‘ zu sprechen, ließe sich hier auch der Begriff der Deutung bemühen, der in der Tat eine Verbindung zwischen den Verfahrensweisen von Kritischer Theorie und Psychoanalyse darstellt, wie etwa Julia König gezeigt hat; vgl. Julia König: „Hermeneutik des Leibes und Vorrang des Objekts. Zur Bedeutung der Psychoanalyse für die Sprachtheorie der kritischen Theorie“, in: Philip Hogh, Stefan Deines (Hg.): Sprache und Kritische Theorie, Frankfurt a.M. & New York 2016, S. 133–164, hier S. 156–158. Siehe hierzu auch unten, Kapitel 14 (Sonnemanns Psychohistorie als Sprachanalyse) und Kapitel 15 („Hören mit dem dritten Ohr“). 21Vgl. König: „Hermeneutik des Leibes und Vorrang des Objekts“, insbes. S. 149.
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überhaupt das bloße Raunen des Trieblebens versprachlicht, damit denkender Reflexion zugänglich wird –, indem sie diese Distanz schafft, lässt Sprache ihre Subjekte über bloße Naturgebundenheit hinauswachsen, lässt sie Wünsche ersinnen, die in unsublimiertem Triebleben unvorstellbar wären, eröffnet dadurch ganz andere Welten … Somit wird Sprache selbst schließlich ‚das ganz andere Konkrete‘, wie Sonnemann schreibt: Sie repräsentiert nicht nur einen anderen Gegenstand, sondern ist zugleich ein eigener, neuer. Dieses (für sich selbst) Konkrete ist sie, weil sie von den Dingen abstrahiert ist, sich als Denken und in Gedanken von den Dingen lösen kann, nicht im Hier und Jetzt gefangen bleibt. Solche Abstraktion, das Auseinanderweisen von Sprache und Dingen – die Nichtidentität von Begriff und Begriffenem also – ist Ermöglichung von Freiheit.22 Ein Zurück zur Unmittelbarkeit – dieser Wunsch scheint nach Sonnemanns Deutung aus der Sehnsucht nach einer reinen Substantivsprache zu sprechen – gibt es deshalb nicht, zumindest nicht, ohne menschliche Freiheit aufzugeben. Gleichzeitig bedeutet die Abstraktion von Sprache ebensowenig ihre Beziehungslosigkeit zu den Dingen. Als reflektierte, Widersprüche in sich aufnehmende ist Sprache ein Gefüge von ausgeführten Sätzen. Nicht im Substantiv, vielmehr in sprachlichen Konstellationen, also bestimmten Beziehungen verschiedener Sprachbestandteile zueinander, wird das Begriffene übersetzt, seine materielle Gestalt in eine sprachliche übertragen bzw. ‚transponiert‘. Im ‚Zellgewebe der Syntax‘ zeichnet sich also ihr Gegenstand ab: Im Idealfall erfasst ein Satzgefüge mit den in ihm ausgeführten Gedanken einen Gegenstand, über den es, denkend, zugleich hinaus ist. Für diese Abstraktionsleistung spielen die Pronomina in der Textur (der Komposition) des Textes eine entscheidende Rolle; sie ermöglichen eine enorme Beweglichkeit der Satzgefüge und damit des Denkens. Das Gegenteil solcher Beweglichkeit aber ist ‚Satzzerhackung‘: ein verständnisloses Zerschneiden sprachlicher Zusammenhänge in handliche Grundelemente, deren einzige Funktion zu sein scheint, ihnen äußerlich bleibende Informationen zu transportieren. Dies aber sei, wie Sonnemann etwas später schreibt, „bewegungs-, besinnungsfeindliche, an ihren lichtempfindlichen Wortfetischen immer ängstlicher klebende Unkultur“ (SdS, 66). Diese Verteidigung des langen Satzes gegen den Wortfetisch wirft ihr Licht auf Sonnemanns eigenes Schaffen, seine Schreibpraxis.23 Auch deshalb mag seine Sprache für nicht wenige Leser schwierig, unzugänglich und sperrig anmuten, gar unverständlich: weil sie, wie jede Sprache es sollte, den Lesenden das Mitdenken abverlangt, dem abstrakten Gedankengang folgend, der sein Netz um den Gegenstand entspinnt, ihn (behutsam) einfängt, ohne ihn zum Erstarren zu bringen. Dazu bedarf es beizeiten langer Sätze und jedenfalls deutlich mehr als einer Ansammlung einzelner Worte und Begrifflichkeiten. Vonnöten ist auch ein
22Sonnemann bezieht sich an Ort und Stelle zwar nicht explizit auf jene Terminologie und Überlegungen aus dem Denken Hegels und Adornos, meint aber offenkundig ganz Ähnliches. 23Vgl. Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“.
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gewisses Maß an sprachlicher Abstraktion. In Sonnemanns eigener Schreibweise gewährleistet dies nicht zuletzt eine teils ungewohnte, jedenfalls nahezu überbordende, virtuose Verwendung von Pronomina. Solche Sätze, die ihr Beziehungsgeflecht über viele Zeilen aufspannen, sträuben sich schließlich dagegen, in ihre Wortbestandteile zerhackt zu werden, um dann als Zitathäppchen anderen Texten beliebig einverleibt zu werden.24
Jargon der Dialektik? Sonnemann hat mit seiner eigenwilligen – da den Eigenheiten ihrer Gegenstände folgenden – Sprache bereits zu Lebzeiten zahlreiche Einwände provoziert, wenn nicht gar Ressentiments auf sich und sie gezogen.25 An dieser Stelle sei der Konfrontation mit einer jener Kritiken für einige Seiten gefolgt; einer der diskussionswürdigen, da in ihr sachgebundene Problemlagen im Konflikt erörtert werden, sich in ihr kein bloß anti-intellektuelles Vorurteil gegen eine elaborierte und komplexe Sprache kundtut. Wie unterm Brennglas konzentrieren sich hier die bislang nachvollzogenen Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und negativer Anthropologie: etwa die Frage danach, welches Maß an sprachlicher Komplexität das angemessene wäre; in welcher Form philosophische Sprache ihrem Gegenstand, zumal dem menschlichen, gerecht zu werden vermag; was überhaupt ihr Wahrheitsanspruch sein kann; schließlich, aber nicht abschließend: die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Politik. Die Rede ist von Jean Amérys Polemik gegen einen „Jargon der Dialektik“ und dem sich daraus entspinnenden Austausch von Streitschriften, insbesondere Sonnemanns Einspruch mit dem 24Insofern
versuchen vorliegende Untersuchungen, Sonnemanns Sprachcharakteristik adäquat wiederzugeben, indem sie so weit als möglich ganze Sätze zitieren und Passagen in ihrem Zusammenhang präsentieren. Treffend charakterisiert übrigens Eveline Goodman-Thau Sonnemanns Texte folgendermaßen: „Ulrich Sonnemann lesen heißt ‚zu‘hören und ‚nach‘fragen, Zeit hören – das Auge nimmt die Wörter rascher auf als der Verstand sie verarbeiten kann. Immer wieder muß man stehenbleiben, um weiter zu lesen, im nächsten Schritt sieht alles Verstandene wieder ganz anders aus als erwartet.“ Goodman-Thau: „Von der Kunst des ‚Auf‘hörens und des ‚Nach‘fragens“, S. 211.
25Odo
Marquard etwa nennt in seinem bereits mehrfach zitierten Anthropologie-Artikel von 1971 – beinah despektierlich und in Umkehrung eines anderen Sonnemannschen Titels – Sonnemanns Negative Anthropologie einen „Band der begrenzten Unzumutbarkeiten“; Marquard: „Anthropologie“, Sp. 374. Ein weiteres, wenn auch höflicher formuliertes Beispiel von Kritik an der Sonnemannschen Sprache findet sich bei Wolf Lepenies und Helmut Nolte: „Auf Sonnemanns Buch [scil. die Negative Anthropologie] wollen wir nicht verweisen, ohne kritisch anzumerken, wie sehr die Sprache des Autors den Zugang zu dem versperrt, was er an überraschenden Einsichten und konsequenten Thesen zu bieten hat. Daß eine Anthropologie dem Leser derartige Schwierigkeiten bereitet, erscheint um so schwerwiegender, als dieser bereits vom Thema her sich selbst als ein ‚Betroffener‘ zu empfinden hat“; Wolf Lepenies, Helmut Nolte: „Experimentelle Anthropologie und emanzipatorische Praxis. Überlegungen zu Marx und Freud“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 56, H. 1 (1970), S. 61–121, hier S. 64 (Fußnote 8).
Jargon der Dialektik?
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Titel „Abfertigung einer Retourkutsche“; ein Streit, der im Merkur in den Jahren 1967/68 ausgetragen wurde.26 Gegnerin der Polemik Amérys ist eine theoretische bzw. philosophische Strömung, die sich seinerzeit (also in den 1960er Jahren) in Frankreich und insbesondere Deutschland ausgebreitet habe in einem „Jargon“ der im Begriff sei, „die Sprache aufzublähen“.27 Dieser Jargon sei „nicht reaktionär, im Gegenteil: er gibt sich progressiv bis progressistisch. Er ist nicht raunend, sondern schneidend, nicht wuchtig-gewichtig, sondern scharf-elegant“28 – eben ein „Jargon der Dialektik“. Wie bereits der Titel nahelegt – eine Anspielung auf den damals soeben erschienenen Jargon der Eigentlichkeit – wird Adorno als dessen Autor zum herausragenden Exponenten des dialektischen Jargons erklärt. Allerdings bleibt auch Sonnemann, dessen Kritik der wohlgesonnen-vaterländischen Sprache Adornos Essay zustimmend referiert, von der Kritik nicht ausgenommen.29 Ihrem grundsätzlichen Anliegen gemäß zwingt Amérys Polemik dialektische Sprache durchaus zur Selbstreflexion, bietet einen produktiven Widerstand für das dialektische Denken. Denn die Hauptkritik Amérys erinnert an Sonnemanns Kritik der priesterhaften Studentensprache, die nicht mehr kritische Urteile, sondern unkritische Glaubenssätze (re)produziere: Dialektik habe in ihrem Jargon einen Hang zum vermeidbaren „Schwulst“, ihre Wendungen und Volten seien nicht der „Denknotwendigkeit“ geschuldet, sondern „bloßes Stilmittel“30, würden damit zum selbstgefälligen Spiel mit den Formeln einer „Geheimsprache“31 für Eingeweihte. Wäre dem so, dann müsste es tatsächlich schlecht bestellt sein um die dialektische Sprache, die doch, so war ja gerade Sonnemanns Einwand gegen die studentische Opposition, nicht formalistisch werden darf und selbstbezüglich, vielmehr ihren Gegenständen zum Ausdruck verhelfen, sie zur Erkenntnis treiben muss. An Sonnemanns Einübung des Ungehorsams in Deutschland (1964) nun statuiert Améry ein Exempel. Inhaltlich, so Améry, mögen einige Überlegungen Sonnemanns aus diesem Buch
26Jean
Améry, „Jargon der Dialektik“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XXI. [1967], H. 226–237, S. 1041–1059; sowie Ulrich Sonnemann „Kleine Abfertigung einer Retourkutsche“, in: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, XXII. [1968], H. 238–248, S. 379–382 und noch einmal Jean Améry mit einer Antwort im selben Heft, S. 382– 284, von der Zeitschrift in der Rubrik „Marginalien“ zusammengestellt unter dem Titel: „Jargon der Dialektik?“. 27Améry, „Jargon der Dialektik“, S. 1046. 28Améry, „Jargon der Dialektik“, S. 1046. 29Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit [1964], in: AGS 6, S. 413–526, hier S. 427. 30Améry, „Jargon der Dialektik“, S. 1050. 31Améry, „Jargon der Dialektik“, S. 1058.
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„ja stimmen, in Gottes Namen, aber muß es unbedingt so inextrikabel und unter Spekulationen keuchend gesagt werden? Muß gerade ein Buch des politischen Kampfes, in dem es auf Wurf, Machtwort, Passion ankommt, in einer solchen, gewiß erlernbaren, leider nur allzuvielen bereits erlernten Geheimsprache geschrieben sein?“32
Die sprachliche Form, so Amérys Vorwurf, werde ihren Inhalten nicht gerecht, da die behandelten Zusammenhänge sich viel besser in Worten sagen ließen, die nicht ‚unter Spekulationen keuchen‘, mithin in einfacher Sprache. Zum Beleg dieser Behauptung zitiert Améry einige Sätze dialektischer Texte und übersetzt sie dann in eine solche einfache Sprache. Sätze Sonnemanns sind nicht unter ihnen, stattdessen vornehmlich solche aus Adornos Texten, das Verfahren ist jedoch unabhängig vom Autorennamen gedacht. Nun sind auch Amérys Sätze nicht ‚einfach‘ in dem Sinne, dass sie für alle Menschen zugänglich und ohne jedwede Vorbildung zu verstehen wären. Wie jede Theoriesprache hat auch Amérys Polemik nur einigermaßen eingeweihten, also mit der Sache vertrauten Lesern etwas zu sagen, ist ein gewisses Maß an Sachkenntnis wie Bildung erforderlich, um überhaupt nachvollziehen zu können, worum es geht. Und selbst die Eingeweihtesten vermögen nicht auf Anhieb alles mitdenkend zu erfassen, bleibt doch an jedem (stichhaltigen) Gedanken etwas, was das Denken herausfordert und dadurch weiter vorantreibt. Zeugnis hiervon legt nicht zuletzt die jeweilige, gegenstandsspezifische Terminologie ab, deren Begrifflichkeiten notwendigerweise gleichsam Gedankenkonzentrate sind, wenn sie zuweilen in einem einzigen Wort ganze Denkgebäude enthalten. So etwa der Begriff ‚Dialektik‘ selbst, den auch Améry in seinem Text kaum entfaltet, vielmehr darauf setzen muss, dass der Leser einen Begriff davon bereits hat. Solche Sprechweise in Fremdwörtern und Fachtermini muss aber nicht zwangsweise elitär sein – implizit scheint das jedoch der gewichtigste Vorwurf Amérys –; vielmehr verweist das Komplexe Vokabular jeder ernstzunehmenden Theorie auf den notwendig langwierigen, zuweilen mühevollen Arbeitsprozess, den Denken bedeutet; zumindest wenn der Anspruch, dem Gegenstand möglichst nahe zu kommen, nicht aufgegeben werden soll. Die hohe Kunst gelingender Theoriesprache besteht gerade darin, zwischen abkürzender Verwendung eines Fachvokabulars und ausführender, bebildernder sowie erklärender Rede abzuwechseln, sodass an jeder Stelle der Zugang zum Denken offensteht und zugleich die Sprache ihren (komplexen) Gegenständen gerecht wird. Wohlgemerkt bedeutet jenes Offenstehen vornehmlich, dass Sprache nicht qua terminologischer Abkapselung zur theoretischen Sektenbildung missbraucht werden sollte, wonach dann nur mitdenken darf, wer exakt das gleiche Vokabular verwendet, die Weihen jener ‚Geheimsprache‘ über sich hat ergehen lassen. Nicht jedoch bedeutet es, dass jeder Zusammenhang immerzu und unmittelbar verständlich sein muss. Auch intellektuelle Arbeit bereitet wie die körperliche eine nicht unerhebliche Anstrengung. Und ein Text, der dem Leser ohne eigenes Nachdenken vollends eingängig ist, dürfte wohl mindestens genauso skeptisch machen wie der vermeintlich überkomplexe. 32Améry,
„Jargon der Dialektik“, S. 1058.
Jargon der Dialektik?
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In ähnlichem Sinne stellt sich nun Sonnemann mit seiner „Abfertigung einer Retourkutsche“ der Kritik. Gerade die angebliche Übersetzbarkeit in eine einfache Sprache (die, wie gerade argumentiert, ohnehin Illusion ist) sei zu bezweifeln, zumal verneint werden müsse, dass Inhalt und Form in der Sprache der Dialektik auseinanderdrifteten. Sonnemann antwortet Améry entsprechend: „[W]oher eigentlich dieser Glaube, man könne Sätze, die das Ihre in äußerster Übereinstimmung von Inhalt und Form sagen, referierend verdeutlichen? gar durch einen eigenen Sprachgebrauch, der, da er selbst synthetisch ist, alles verundeutlicht? Welches Verhältnis zur Sprache drückt in diesem Glauben selber sich aus? […] Für die Frage, ob Sprache ihrem Inhalt wie eine Haut anliegt (wie sie soll), ist die absolute Schwierigkeit eines Satzes ohne Bedeutung: das Nein auf sie erzwingt erst ein Nachweis, daß die seines Gehaltes geringer ist – daß man diesen, ohne ihn zu verändern, einfacher ausdrücken kann. Diesem Nachweis, den ein stark braungetönter Affekt, der gegen Konjunktiv und Semikolon steht, nicht erbringt, weichen leider auch Sie aus, indem Sie einen Satz Adornos, den Sie zitieren, zunächst wieder gegen einen eigenen auswechseln; welche Willkür die Formel gebraucht: ‚Der erste Satz … meint ungefähr: …‘ Solche Ungefährheit des Meines ist nicht nur der Nicht-Anfang von Sprachkritik, sondern auch das Ende von Sprache.“33
Ein uns bereits geläufiges Motiv kehrt also in diesem Streit zurück: Komplex und vielschichtig sind die Sätze nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie nur so ihren Gegenständen dort gerecht werden, wo diese ebenso komplex sind. Sprache soll ihren Gegenstand in Denken übersetzen, diesen durch sich selbst wie durch eine Haut sozusagen durchscheinen lassen, ihn also mit dem „Zellgewebe der Syntax“ (SdS, 57) umschließen, sich annäherungsweise an ihn anschmiegen. Da Sprache das nur auf die ihr eigene Weise kann – wie oben gesehen eine abstrakte, da Begriff und Begriffenes nicht identisch sind –, verhält sie sich mimetisch zu ihrem Gegenstand und ist doch zugleich von ihm getrennt, hat ihre eigene Dignität. Damit aber lässt sich der Gegenstand als Inhalt nicht in einer beliebigen Form wiedergeben, weil die Form (Sprache) nicht bloßes Mittel zum Zwecke der Wiedergabe eines ihr fremden Inhalts ist, vielmehr stets zugleich ihr eigener Inhalt. Nur diejenige Sprache, die sich ihr Eigenleben bewusst zunutze macht und den Gegenstand angemessen umfasst, also die Vermittlung von Inhalt und Form wahrt, vermag es, nicht positivistisch die Welt einfach wiederzugeben, wie sie ist, sondern (etwa in bestimmter Negation) auch dasjenige anzuzeigen, was über die
33Sonnemann:
„Kleine Abfertigung einer Retourkutsche“, S. 380. Sonnemanns zwielichtige Formulierung, die Améry zumindest in die (syntaktische) Nähe zu einem ‚braungetönten Affekt‘ stellt, hat Améry in seiner folgenden Replik brüskiert zurückgewiesen. Solche Brüskierung ist angesichts Amérys unzweifelhaftem und publizistischem Antifaschismus’ sowie seiner Biographie nachvollziehbar, die Herstellung dieser Beziehung durch Sonnemann zumindest nicht ganz geschickt. Im gleich folgenden Zitat aus Sonnemanns Retourkutsche wird jedoch, im Gestus beinahe die obige Anschuldigung zurücknehmend, deutlich, dass es nicht um Améry als Person oder den Inhalt seiner Schriften geht; vielmehr darum, dass diese dem ‚braungetönten Affekt‘, der mit dem weiter oben zitierten ‚provinziellen Anti-Essayismus‘ zusammenfällt, nicht entschieden genug widersprechen.
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12 Fallstudien im Land der Sprachlosen
bloße Immanenz, den Status quo hinausweist. Das wäre das Potential sprachlicher Abstraktionsfähigkeit. Doch will Améry noch auf ein zweites hinaus mit seiner Kritik am dialektischen Jargon. Das deutete im ersten längeren Zitat der Polemik schon der Hinweis an, Sonnemann habe mit der Einübung des Ungehorsams ein Buch des ‚politischen Kampfes‘ vorgelegt. Entsprechend geht es Améry also nicht primär um das Erkenntnispotential von Sprache. Im Zentrum steht die anscheinend für Améry davon unabhängige Frage, welche gesellschaftliche und politische Wirkung die sprachlichen Verlautbarungen intellektueller Persönlichkeiten zu erzielen vermögen; ob sie sich also in politische Aktion umsetzen lassen. Amérys Forderung lautet konsequenterweise: „So ist denn die Dialektik zunächst einmal radikal zu entjargonisieren. Des weiteren ist eine dialektische Sprache zu finden, die in äußerster Zucht und unter Verzicht auf jeden polemischen Effekt das schwankende dialektische Vorwärtsschreiten nacherzählt. Herbert Marcuse gibt hier das glänzende Beispiel. Schließlich muß der Marx’sche Gewaltakt, die Dialektik, wo sie auf dem Kopfe steht, auf ihre Füße zu stellen, in Permanenz neu vollzogen werden.“34
Der schwülstige Jargon der Dialektik sei gerade daher so untauglich – das impliziert der Verweis auf den Marxschen ‚Gewaltakt‘, Veränderung also versus Interpretation – weil er in Intellektualismus abgleite, sich resigniert vom politischen Kampf entferne und (altbekannter Vorwurf:) in den Elfenbeinturm zurückziehe. Für die Sache der Politik hingegen müsse die Sprache sich zum angemessenen Mittel machen, also zum ‚Machtwort‘, welches sich auf keinen Fall in Zweideutigkeiten verfangen dürfe. Stillschweigend scheinen hier für Améry Sprache und Gesellschaft also derart voneinander getrennt zu sein, dass Sprache zwar zum Eingriff in gesellschaftliche Verhältnisse motivieren kann, dazu gar notwendig sein mag, letzten Endes jedoch die gesellschaftliche Wirklichkeit (= Sein) vor Sprache (= Bewusstsein) den Vorrang habe.35
34Améry:
„Jargon der Dialektik“, S. 1059. hierzu auch das folgende Zitat aus Amérys Antwort auf Sonnemanns Replik, das zumindest an dieser Stelle ein durchaus instrumentalistisches Sprachverständnis erkennen lässt: „Ich muß zum Ende kommen. Was zwischen uns ausgetragen wird, soll ja schlimmstenfalls eine Kontroverse sein und kein ‚Konflikt‘, wie Sie schreiben. In meinem Aufsatz habe ich, einem Impuls folgend, von dem ich mir wünsche, er möchte populärer sein als er leider ist, zu zeigen versucht, wie gewisse dialektische Sätze ein Mißverhältnis von verbalem Aufwand und gedanklichem Ergebnis herstellen. Damit habe ich natürlich nur eine Sprache (die meine) gegen eine andere gesetzt. Die Ziele jeder Sprache aber liegen außerhalb der Sprache, nämlich: in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie sich in Akte umsetzen. Es ist die Gesellschaft, die eine bestimmte Sprache ratifiziert, eine andere zur Demission zwingt. Vielleicht wird meine Sprache vor dem gesellschaftlichen Urteil nichts gewesen sein und die gewisser, von mir kritisierter Dialektiker sehr viel. Vielleicht aber wird es sich auch anders verhalten.“ Améry: [Antwort an Ulrich Sonnemann], S. 384.
35Siehe
Lesen mit den Ohren
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In der Tat sind Sprache und Gesellschaft nicht deckungsgleich, geht nicht alle gesellschaftliche, erst recht nicht alle materielle Wirklichkeit in Sprache auf, wäre also eine gewisse sprachphilosophische Überheblichkeit, die das Gegenteil behauptete, mit Verweis auf die Widersprüchlichkeit zwischen Sprache und dem ihr Anderen zurückzuweisen. Dennoch sind Sprache und Gesellschaft vermittelt; ist Sprachliches sowohl an jeder einzelnen Stelle der Gesellschaft vorzufinden, wie auch Gesellschaft in jeder Faser der Sprache ihre Spuren hinterlassen hat. Beide sind für die Menschen zweite Natur, menschlich bearbeitetes Habitat. Darauf verweisen in ihrer jeweiligen Metaphorik Améry und Sonnemann gleichermaßen: Ob Schwulst oder Haut – der organische Anklang deutet das Eigenleben der Sprache an, ihr quasi-naturhaftes Sein. Wie Gesellschaft hat auch Sprache einen Hang, sich von ihren Urhebern, den Menschen, unabhängig zu machen, Tendenzen ins Leben zu setzen und Entwicklungen zu vollziehen, die scheinbar losgelöst von vernunftgeleiteter Steuerung vor sich gehen. Während Sonnemann jedoch das Emanzipationspotential dieser sprachlichen zweiten Natur betont, da Sprache in ihrem Eigenleben über die Gegenstände hinauswächst, als anschmiegsame Haut zugleich ihnen verbunden bleibt und darin etwas von Versöhnung zwischen den getrennten Momenten antizipierend erahnen lässt, sieht Améry im ‚Sprachschwulst‘ das bedrohliche Potential eines Auswuchses, einer intellektuellen Überwucherung und Hemmung politischer Veränderungsmöglichkeiten. Intellektuellensprache scheint bei Améry latent schon eine wuchernde Vegetation zu sein, die politische Regungen unter sich zu ersticken droht — als wäre solche Sprache ungezähmte Natur, weder kultivierbar noch gesellschaftlich vermittelt. Dass Améry ‚äußerste Zucht‘ und ‚Verzicht‘ als Sprachtugenden fordert,36 erscheint aus solcher Sichtweise nur konsequent.
Lesen mit den Ohren Die letztgenannte Trennung von Erkenntnis und Politik, von sprachlicher Differen ziertheit und Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse, lässt Sonnemann nicht gelten; insistiert hingegen auf der Wichtigkeit von Interpretation, Kritik, Reflexion und ausformuliertem, entfaltetem Widerspruch, wenn überhaupt verbessernde Praxis gelingen soll. Ihre kompliziert anmutende sprachliche Form haben die als Jargon verunglimpften dialektischen Sätze auch deshalb, weil sie das ‚schwankende Vorwärtsschreiten‘, von dem Améry spricht, durchaus ernst nehmen. Allerdings fassen sie solches Schwanken nicht bloß als wechselvolle, geschichtlich-politische Bewegung auf Ebene des Gegenstandes; sie verstehen es darüber hinaus gleichermaßen als stetig reflektierendes Bedenken, das sich selbst
36Auch
wenn es nicht der Intention Amérys entsprechen mag, insbesondere eine geistige Nähe zu Gehlen kaum zu vermuten ist, meldet sich hier indirekt die These vom Mängelwesen in ihrer pejorativen und pessimistischen Variante zurück: Ohne Zucht und Disziplin sei der überforderte Mensch dem Untergang geweiht. Siehe oben, Kapitel 8.
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12 Fallstudien im Land der Sprachlosen
in Widerspruch zu seinen Gegenständen begibt. Also zeichnen dialektische Sätze solche Widersprüche nach, statt sie (idealistisch oder nihilistisch) zum Zwecke der Agitation zu übergehen. Die sprachliche Auseinandersetzung mit der Welt fasst Sonnemann insofern als ein ständiges Ringen um ein mehr an Erkenntnis, gerade aus Interesse an durchdachter Veränderung, die allein eine solche zur menschlicheren Gesellschaft sein könnte. So formuliert Sonnemann in Gegenrede zu Amérys Einwänden: „Wogegen meine Replik sich wendet, ist die unvermeidlich verwischende Mechanik eines populären Affekts; nicht wirklich Sie, dessen Persönliches, das wie immer deren Gegenteil ist, in anderen Publikationen sich auswies. Da die Variabilität des deutschen Satzbaus es dem Gedanken erleichtert, sich selber ins Wort zu fallen, wählte die Dialektik auf Erden mit Grund sich das Deutsche zur Hauptsprache: läsen, wie sie sollten, denn Sprache ist ein akustisches Phänomen, die Befürworter und Praktikanten unseres Einheitsdeutsch mehr mit den Ohren, an seinen immergleichen Abläufen könnte ihnen nicht lange entgehen, daß sie mit der Einfachheit nichts zu tun haben: so wenig wie die Dialektik mit einem leeren Komplikationsdrang. Wo dieser auftritt, ist er auch stichhaltig nachweisbar: gelegentlich in einem Studentensatz, welcher allzu leicht Dialektik jetzt, die viel lieber Ereignis wird, bloß beschwört. Das Phänomen zeigt sich aber auffällig erst seit der Wirkung Herbert Marcuses; nicht Adornos, die früher anfing, langsamer sich durchsetzen mag. Marx, von dem Ähnliches galt, war von ephemeren Erfolgen weder beeindruckt noch heimgesucht; andererseits, sollten nicht auch seine Wirkungen jetzt gelassener reflektiert werden als mit der Akklamation Ihrer Schlußsätze? Das ad hoc fesselt das Denken, zu spontan ist Dialektik, zu unbestechlich, gerade unter ‚Gewaltakten‘ sich so rückhaltlos auf die Beine zu stellen wie sie selbst will: was Gewaltakt bei Marx war, vereitelte mit der vollen Umwälzung der Denkwelt auch zuletzt die gesellschaftliche. Sollte gegen die Folgen ein ‚Machtwort‘ helfen, das in plebiszitärem Monolog enden muß? Von der Passion der Genauigkeit, die statt seiner zu fordern ist, weiß es nichts; hindert nur das Wort daran, seine Mächtigkeit zu entfalten, die zwanglos ist“.37
Ob nun das Deutsche vor allen anderen Sprachen eine ausgezeichnete Variabilität des Satzbaus besitzt, ist für den Gedanken hier nicht das Entscheidende. Einschränkend und nur beiläufig sei bemerkt, dass Sonnemann selbst zahlreiche Texte in englischer Sprache verfasste, auch dort stets bemüht war um Reflexivität derselben, Kenntlichmachen von Widersprüchen durch überlegten Einsatz der Syntax, nicht selten durch ein gewisses Maß an Konventionsbruch.38 Sonnemann selbst liefert also beste Beispiele dafür, dass die Dialektik auf Erden in verschiedenen Sprachen ihren Ausdruck finden kann. Worauf es jedoch umso mehr ankommt, ist die Fähigkeit des Gedankens, ‚sich selber ins Wort zu fallen‘, also an keiner Stelle die Reflexion willkürlich abzubrechen, um Gewissheiten zu postulieren,
37Sonnemann:
„Kleine Abfertigung einer Retourkutsche“, S. 382. etwa Sonnemanns zweites im amerikanischen Exil erschienenes Buch: Ulrich Sonnemann: Existence and Therapy. An Introduction to Phenomenological Psychology and Existential Analysis, New York 1954; oder aber vier späte Vorträge anlässlich einer Amerikareise: Ulrich Sonnemann: „Brückenschläge. Vier Vorträge an der Universität von Missouri, St. Louis“ [in englischer Sprache], in: Gestaffelte Horizonte. Sonden und Treibsätze zur Erkundung, was an der Zeit ist, Kassel 1982, S. 38–79.
38Vgl.
Lesen mit den Ohren
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die ihrerseits nicht mehr hinterfragt werden. Stattdessen nimmt der entfaltete, dialektische Satz das Hinterfragen in sich auf als eine Art von Mehrstimmigkeit; als Gleichzeitigkeit von verschiedenen, teils widerspruchsvollen Momenten eines Gedankens, die sich allesamt um ihren gemeinsamen Gegenstand entfalten. In Sonnemanns Sätzen äußert sich solches Vorgehen etwa durch sich vielfach überlagernde, die Themen variierende Einschübe, wobei oftmals eine Überlegung durch die verschiedenen Haupt- und Nebensätze wandert, ihre Entwicklungen und Veränderungen kenntlich machend. Solche Sätze erfordern es tatsächlich, ‚mit den Ohren‘ gelesen zu werden, wie es im Zitat oben heißt; mit einem erinnernden, erwartenden und aufmerksamen Ohr. Das Motiv, welches Sonnemann in seiner Auseinandersetzung mit Améry benennt, wird für seine späteren Arbeiten zentrales Thema. In Teil I vorliegender Untersuchungen wurde es ausführlich dargestellt und sei hier, knapp rekapitulierend, auf den Gegenstand der Auseinandersetzung gemünzt: Das Lesen mit den Ohren ist eines mit den äußeren wie mit den inneren. In kritischer Aufmerksamkeit folgt hörendes Lesen dem Beziehungsgeflecht der Sätze seiner Lektüre. Erinnernd und erwartend sind sinnlich nicht mehr oder noch nicht präsente Satzbestandteile oder gar viel entferntere Inhalte gleichzeitig zugegen; zu Wahrnehmungen von jeweils Aktuellem (dem hier und jetzt gelesenen Teil eines Satzes etwa) treten (erinnerte bzw. prospektive) Abstraktionen von sinnlichen Wahrnehmungen hinzu. Solches Abstraktionsvermögen von Sprache ist dem des Hörens verwandt, insbesondere dem des musikalischen: Während die Transparenz von optischen Gestalten enge Grenzen hat, ab einer bestimmten Menge hintereinanderliegender, halbdurchsichtiger Schichten nur noch Verschwommenes und Opakes wahrgenommen wird, kann hörend eine Vielzahl von sich überlagernden, in sich verschlungenen Klangschichten in erstaunlicher Differenziertheit erfasst werden. Analog hierzu wäre ein diffiziles und komplexes Textgebilde für ein an derartigem Hören orientiertes Lesen – eines solchen also mit den ‚inneren‘ Ohren – keineswegs überfordernd oder dem ‚klaren‘ Denken hinderlich. Trotz Überlagerung und Verschachtelung können die einzelnen Teile als eigenständige, zugleich jedoch als verbundene und vermittelte Elemente eines Ganzen wahrgenommen werden. Ein solches Lesen mit (kritischen) Ohren im übertragenen Sinne – indem nämlich die Sätze gleichsam vor den inneren Ohren erklingen – bedeutet jedoch keine intellektuelle Selbstbezüglichkeit, wie Amérys Kritik dialektischer Texte das nahelegt. Dialektik als philosophisches Vorgehen soll nicht zuletzt die stete Konfrontation von Denken und Gedachtem, von Sprache und dem in ihr Ausgedrückten gewährleisten. Daher ist das von Sonnemann geforderte Lektüreverhalten nicht nur eines mit dem inneren, metaphorischen Ohr. Fernerhin zieht solches Lesen das tatsächliche Sinnesorgan hinzu, gewahrt doch Letzteres die Präsenz der materiellen Wirklichkeit: Entgegen der Cartesischen Methode, die auf verstopfte Ohren (und geschlossene Augen) bauen muss, folgt dialektisches Denken niemals nur dem reinen Gedanken, wie er im Text festgehalten sein mag; in Konfrontation von Denken und Gedachtem richtet sich sein Feingespür stets auch auf die umgebenden Geschehnisse, die wahrnehmbare Außenwelt. Vielleicht ließe sich diese Dialektik als synästhetisches Lesen
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12 Fallstudien im Land der Sprachlosen
fassen: Beim Lesen mit den Augen wäre nicht nur das Gelesene vor dem inneren Ohr erklingen zu lassen, zugleich könnten die nach außen gerichteten Ohr hören, was derweil in der Welt vonstattengeht. Auch wenn das Verschließen der Ohren einem aufmerksamen und denkenden Lesen zuweilen zuträglich ist oder gar notwendig, um überhaupt ins konzentrierte Nachdenken zu gelangen, so mahnt das widerspenstige Gehör zugleich daran, den Sinn für dasjenige, was außerhalb des Textes und der Sprache liegt, nicht gänzlich zu narkotisieren. Das Ergebnis einer ganz radikalen Entsinnlichung wäre für Sonnemann wiederum Cartesianismus mit seinem eigentümlichen Zusammenspiel aus Weltbeherrschung und Weltverlust. Wirkmächtigkeit erhofft sich Dialektik Sonnemannscher Prägung nach obigem Zitat schließlich dank einer gewissen Wortgewandtheit: Sie will zwar, wie Amérys politisch engagierte Theorie, in die Wirklichkeit eingreifen; eine Wirklichkeit jedoch, die sie als selbst schon sprachlich vermittelte versteht.39 Die Worte, welche eine denkende „Passion der Genauigkeit“40 für ihre Gegenstände findet, mögen insofern zuweilen eher dazu geeignet sein, sich von unvernünftigen und unmenschlichen Gesellschaftszuständen zu distanzieren, als zur direkten Aktion zu verleiten. Gegenüber einer die treffenden Worte findenden Sprachmächtigkeit, die nicht verkennt, dass Interpretation allein noch keine umfassende Veränderung ist, Letztere ohne Erstere aber keine humane werden wird, haben die ‚Machtworte‘ eines politischen Aktionismus’ gewisse Ähnlichkeit zu den von Sonnemann beanstandeten Oberbegriffen der institutionalistischen SDS-Sprache: Einem Brecheisen gleich, sollen sie den Status quo aufsprengen helfen. In ihrer Ungenauigkeit und ihrem Gestus von Unmittelbarkeit jedoch werden sie der Realität nicht gerecht und drohen gar, durch Herabwürdigung von sprachlicher Reflexion einem im Grunde unveränderten Weiterlaufen der Geschehnisse in die Hände zu spielen.
39Oder,
wie Helmut Reinicke schreibt: „Solchergestalt ist die Sprache Waffe, die vornehmste und schärfste, – die dabei denkbar menschlichste Inkarnation eines Kampfwerkzeugs.“ Reinicke: „Rede auf Ulrich Sonnemann“, S. 222. 40Sonnemann: „Kleine Abfertigung einer Retourkutsche“, S. 382.
„Denn das Wahre ist das Ganze nicht …“
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Fluchtlinien negativer Anthropologie
„Die Lüge sei in diesem Land alles, die Wahrheit nur Anklage, Verurteilung und Verspottung wert.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 98.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_13
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13 „Denn das Wahre ist das Ganze nicht …“
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Um einerseits am Telos kritischen Denkens festzuhalten, die gesellschaftlichen Verhältnisse im Lichte ihrer Veränderbarkeit zum Besseren erscheinen zu lassen, andererseits jedoch nicht in falschen Aktionismus zu münden, wie er sich nach Sonnemanns Kritik etwa in den Sprach- und Protestgebärden der studentischen Opposition zeigt, bedarf es eines Be- wie Eingreifens von und in Wirklichkeit, das sich mit dem Wiederholen oder Registrieren vermeinter Gewissheiten nicht zufriedengibt; das also auch kein Genügen hat an der Abbildungsfunktion von Wissenschaften, die ihre Objekte neutral und wertfrei zu beschreiben meinen und damit beanspruchen, bloße Widerspiegelungen ihrer Gegenstände im Denken zu sein. Wie oben argumentiert, fällt ausgerechnet solche Abbildobjektivität, die ohne Dogmen und Glaubenssätze auszukommen meint, da sie sich strikt an empirische Fakten halte, nicht selten in ihrem antimetaphysischen Grundprinzip einem neuen Glauben anheim: nämlich (mit Sonnemann gesprochen) szientistischer Idolatrie. Sonnemann kritisiert solches Erkenntnisverhalten einer angeblich bloß beobachtenden und deskriptiven Theorie, die in ihrem vordergründig passiven Beschauen (= theoria) das Bild einer in sich fertigen, abgeschlossenen, nach Gesetzten strikt ablaufenden Welt zeichnet; ein Bild, dessen Faktizität zumindest in anthropologischen Fragen durch jenes Beobachtungsverhalten zu einem gewissen Teil mit entsteht.1 Die Negative Anthropologie folgt, im Widerspruch hiergegen, einem anderen Wissenschaftsverständnis: Erkenntnisstreben versteht sie als die Suche nach Wahrheit, die das möglichst exakte Abbild einer geschlossenen menschlichen Welt übersteigt; eine anthropologische Wahrheit also, die einen Überschuss über die erfasste Wirklichkeit besitzt. In diesem Kapitel, welches den II. Teil vorliegender Untersuchungen beschließt, werden gleichermaßen resümierend wie ausblickend die verschiedenen Stränge der Negativen Anthropologie noch einmal zusammengeführt: Die Kritik traditioneller Theorien cartesianischen Zuschnitts zum einen, zum anderen das Verhältnis von eingreifender Sprache und Gegenstands- als Bewusstseinsänderung. Noch einmal sei im Folgenden verdeutlicht, wogegen sich negative Anthropologie im Sinne Sonnemanns dabei richtet: nicht gegen jedwede Überlegung vom spezifisch Menschlichen, nicht einmal – abstrakt negativ – gegen systematische Erwägungen zum menschlichen Wesen schlechthin; umso nachdrücklicher jedoch „als bestimmte Negation aller Möglichkeit widerspruchsfrei positiver“ (NA, 224) Anthropologie gegen all jene Theorien, die sich über die Widersprüche der menschlichen Wirklichkeit und Geschichte um ihrer eigenen Widerspruchfreiheit willen hinwegsetzen, statt jenen Verwerfungen und Unstimmigkeiten im Gegenstand nachzuforschen. Negative Anthropologie ist insofern zugleich dialektische, als sie die Widersprüche ihrer Gegenstände und deren Bewegungen ins Zentrum ihrer Untersuchungen rückt. Ihre Negation ist nicht bloßes Durchstreichen und Verwerfen positiver Aussagen vom Menschenwesen. Vielmehr besteht ihr negativstes Moment in der Kritik positivistischer Menschenwissenschaften,
1Siehe
oben, Kapiteln 9 und 10.
13 „Denn das Wahre ist das Ganze nicht …“
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die affirmativ sind, weil sie das vorgefundene Sein des Menschen als von ihrer eigenen Theorie unbehelligtes und durch sie selbst unveränderbares erfassen, wobei das Gewordensein des Gegenstandes aus dem Blick gerät. Dem entgegengesetzt ist einer der wesentlichen Widersprüche, den negative Anthropologie thematisiert, zwar einerseits ihren Gegenstand durchaus mit Objektivitätsanspruch und Distanz erkennen zu wollen, mithin überhaupt Theorie zu sein und nicht gleich Praxis; andererseits aber kann sie dies nur, wenn sie sich selbst als ein Momentum ihres eigenen Gegenstandes begreift, ergo als in den praktischen Vollzug und die steten Veränderungen des Menschseins involvierte erkennt. Einen Modellfall von derart involvierter Sprache und Zersetzung falscher Abbilder präsentiert die Negative Anthropologie im Prolog zu ihrer Auseinandersetzung mit der Cartesianischen Wissenschaft. Das Modell mag – als Destruktion einer gewissen Form von Schicksalsgläubigkeit – etwas unerwartet anmuten, findet Sonnemann es doch in einer Schrift des Nikolaus von Kues, resp. Cusanus, der Philosoph und Kleriker war, folglich nicht allein in kritischer Hinsicht mit Glaubensfragen befasst. Zumindest aber aus dem Text, den Sonnemann für seine Überlegungen belastet – De ludo globi oder Vom Globusspiel – spricht nach dessen Deutung eine intellektuelle Haltung, die „der Selbsterfahrung spekulativen Denkens, nicht mehr dem Dogma“ (NA, 143) bzw. der kirchlichen Lehrmeinung entstammt. Im Kern entfacht sich Sonnemans Meditation zur Frage nach Wahrheit an einem einzigen Satz aus jener Schrift. Der Satz lautet: „Totum relucet in omnibus. In allem strahlt das Ganze wider“ (NA, 143).2 Zur Rede steht also ein Begriff vom Ganzen im Verhältnis zu den Teilen, folglich die Beziehung von Partikularem und Totalität. Doch wurde nicht bereits konstatiert, Sonnemann sei jedweden „Totaltheorien“ (NA, 180) gegenüber skeptisch, weil deren totalisierendes und verabsolutierendes Moment stets unter Ideologieverdacht stünde?3 Bemüht nicht aber ganz in diesem Sinne auch Cusanus mit jenem Satz eine fragwürdige Vorstellung von Totalität? Sonnemanns Interpretation zufolge ist dies hier mitnichten der Fall. Cusanus’ Begriff von Totalität sei gerade kein totalitärer, der widerspruchsfreie und hermetische Ganzheit suggerierte. Was nämlich Cusanus „zum Ganzen drängt, ist eine Abneigung gerade gegen Verabsolutierung von Verstreutem, gegen deren Halbheit; daher hält er sich ans Bild des Globus, das den Zusammenhang des Universums vertritt“ (NA, 144). Auf einem emphatischen Begriff vom Ganzen zu beharren, bedeutet demnach zunächst einen Einspruch: dagegen, die Teile für ein Ganzes zu nehmen, die Momente für absolut zu halten, somit aber die Einzelmomente als für sich abgeschlossene Wahrheiten zu missverstehen. Nun scheint jedoch die Verhältnisbestimmung zwischen dem fraglichen Ganzen und den nicht zu verabsolutierenden Teilen eine höchst diffizile Angelegenheit, denn andersherum
2Sonnemann zitiert aus folgender Ausgabe: Nikolaus von Cues (= Cusanus): Vom Globusspiel. De ludo globi [1462], hg. und übers. von Gerda von Bredow, Hamburg 1952, S. 31. 3Siehe oben, Kapitel 9.
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13 „Denn das Wahre ist das Ganze nicht …“
existiert das Ganze ohne die Teile nicht, sonst müsste es nicht in den Teilen widerstrahlen. Per definitionem jedoch fügen sich solche Teile keineswegs bruchlos zum Ganzen zusammen – dann wären sie nicht Teile als vielmehr Einheit –, sind demnach aber zu einem gewissen Grad auseinandergefallen und verstreut. Solches Verstreutsein der Teile allerdings widerspricht der Annahme einer harmonischen Geschlossenheit des Ganzen, den „Beschwörungen des Heilen, die das Heillose heilloser machen“ (NA, 143). Sowohl in Sonnemanns Interpretation als auch in Cusanus’ Text selbst klingt bei solchen Überlegungen zur Totalität die Frage nach der heilsgeschichtlichen Dimension menschlichen Lebens an. Während dies für Cusanus zweifelsohne eine theologische Frage ist, liest Sonnemann hier eher allgemeinere Erwägungen in negativ anthropologischer Absicht heraus. So oder so widerspricht der Begriff eines betont mosaikhaften und brüchigen Ganzen jedenfalls der Idee einer harmonischen und bereits versöhnten Welt, deutet also auf Unabgeschlossenenheit und Unfertigkeit der Welt als ganzer. Wie aber lässt sich ein derart fragmentiertes, nicht abgeschlossenes Ganzes erfassen? Nach Sonnemanns Interpretation des fraglichen Passus’ im Globusspiel kann ein unfertiges Ganzes nicht als bloße Summe von verstreuten Teilen gedacht werden, bedeutet damit aber auch das Verstreutsein keine beziehungslose Ansammlung von unbestimmten Teilen, die erst durch jenes Ganze mehr wären als bloß Vereinzeltes, ansonsten keinerlei Eigenwert hätten. In diesem Sinne überträgt Sonnemann den Satz zunächst freimütig mit einer Auslassung, übersetzt den oben schon zitierten Satz: „Totum relucet in omnibus“ mit: „In allem strahlt das Ganze wider“ (NA, 143). Im Originaltext jedoch heißt es: „In omnibus […] partibus relucet totum“, mithin: „das Ganze strahlt in allen Teilen wider“.4 Durch Sonnemanns Auslassung wird aus den Teilen ein Alles, sodass nun nicht nur die Teile versprengt sind und fragmentiert, vielmehr dieses ‚All‘ selbst ein in sich fragmentiertes ist, in dem sich eine Ganzheit divers (gleichsam funkelnd und flimmernd) reflektiert. Damit haben die Teile als ein All schon einen inneren Zusammenhang, der sie über den Status summierbarer und in sich abgeschlossener Einzelheiten hinaushebt. Diese Interpretation deckt sich – trotz der Auslassung – durchaus mit dem Originaltext, denn immer schon ist „der Teil Teil des Ganzen“, wie es bei Cusanus heißt.5 In Sonnemanns leicht modifizierender Variante liegt die Pointe der Überlegung nun allerdings noch deutlicher auf der Struktur jenes ‚All‘, also der fragmentierten Welt. Sonnemann schreibt: „in allem, also in der Verstreutheit – die jenes Widerstrahlen eines Ganzen in ihm […] ist“ (NA, 145), strahle eben das Ganze wider.
4Die
zweite Variante stammt aus der Übersetzung von Gerda von Bredow von 1952, S. 31. Sonnemann zitiert diese Übersetzung einige Zeilen später identisch; vgl. NA, 144. Für den lateinischen Originaltext siehe Nicolai de Cusa (= Cusanus): Dialogibus de ludo globi. Edidit commentariisque illustravit Iohannes Gerhardus Senger, Hamburg 1998. 5Cusanus: Vom Globusspiel. Übers. von Bredow, S. 31. Im Original heißt es: „cum pars sit pars totius.“ Cusanus: Dialogibus de ludo globi, S. 47.
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Zentrales Anliegen bei dieser interpretierend übersetzenden Pointierung ist die Kritik eines spezifisch verräumlichten Denkens, für die Sonnemann den Passus aus dem Globusspiel in den Dienst nimmt: „Gerade an diesem Entfaltungspunkt des Gedankens ist ein Hinweis auf ein räumliches oder quasi-räumliches Verhältnis von Ganzem und Teil also noch vermieden“ (NA, 145). Was diese quasiRäumlichkeit der Teile meint, ist ihre Abqualifizierung zu bloßen Quanta einer Summe, zu zählbaren Teilen also, die erst summiert von der einfachen Quantität in eine andere Qualität umschlügen. Schon der Blick auf das Einzelne, als könne es je nur Teil einer Summe sein, verkennt dessen Eigenheit, macht es zu qualitativ Gleichem in lediglich unterschiedener Quantität. Zu Dingen also, die ohne innere Dynamik (ohne innere Zeitlichkeit) mit sich gleichbleibend im Raum verteilt sind. Denn soll etwas zählbar sein, darf es sich nicht verändern, weil es sonst zur unberechenbaren Variable gerät. Der zähl- und damit messbare Teil wird so auf sein räumlich Gleichbleibendes reduziert, das sich zwar durch die Zeit bewegt, nicht aber durch sie verwandelt wird.6 In solch berechnendem sowie verräumlichendem Zugriff auf die Welt der Dinge sieht Sonnemann – wie weiter oben ausführlich dargestellt7 – eine spezifische Form von Verdinglichung am Werk, die er in diesem Kontext beschreibt als eine „Übermächtigkeit der neuen Raumvorstellung, die das Barockzeitalter […] beherrscht“ (NA, 153) und im Cartesianismus einen prominenten Ausdruck findet. Solche Raumvorstellung versteht Sonnemann als eine Art von „Hypnotik“, welche „unbewußt […] dem Gedanken den Horizont“ (NA, 153) begrenzend vorsetzt, wobei die mehr oder minder statische Welt des Raumes ihre Verdoppelung finde in ebenso statischen Abbildern, wie sie von traditioneller Wissenschaft produziert würden; Raum als totale, totalitäre Identität: „Da alles Raum, dieser also auch alles ist, nach allen Seiten hin offen, seine Unendlichkeit von keiner andern beschränkt, kann er durchaus auch auf nichts, was nicht bereits er selbst wäre, mehr verweisen“ (NA, 154). Im Gegensatz dazu lässt sich für Sonnemann das Verhältnis vom Ganzen zur Verstreutheit angemessen nicht als an Räumlichkeit gebundenes Abbild darstellen. Denn für ein Ganzes, das in allem widerstrahlt, „bietet die Dingwelt kein Bild an, versagt, das Denken ganz auf sich stellend, die Metapher“ (NA, 146). Zumindest scheitert das Bild für das Ganze dann, wenn es den Anspruch erhebt, im Abbild „die Identität“ als „die Abgeschlossenheit ihrer Gestalt“ (NA, 146) zu erfassen; ein Anspruch, der eben „räumlich-anschaulichen Ursprung“ (NA, 146) habe. Entgegen solcher Identitätslogik sei das Ganze eher „ein Geflecht von Beziehungen, variationsfähig aktiven Verhältnissen – eine Konstellation, insofern
6In
diesem Sinne widerspricht für Sommenann der Satz des Cusanus auch den Ganzheitslehren des frühen 20ten Jahrhunderts mit der „Grundformel […], daß das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei: ein sich Lügen strafender Satz, denn als quantitativer Begriff, der es ist, setzt das Mehr für seinen Anspruch, den sie abweisen muß, gerade jene Summe als Urteilsinstanz“; NA, 145 f. 7Siehe oben, Kapiteln 1 und 9.
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sie Erscheinung ist, wahrnehmbar von außerhalb ihrer selber“ (NA, 146). Worin aber könnte solche Konstellation einen gedanklich darstellenden Ausdruck finden? Ist mit dem (für Sonnemann: falschen) Streben nach Abbildgenauigkeit positivistischer Theorien nicht jede Form von Bildlichkeit als Form erkennenden Denkens abzulehnen? Bereits der Satz, den Sonnemann von Cusanus (wohlwollend) zitierend übernimmt, spricht dagegen: ‚Widerstrahlen‘ etwa ist offenkundig bildlich gesprochen, metaphorisch in dem Sinne, dass mit einer aus der Sinnenwelt übernommenen Erfahrung in übertragener Weise ein anderer, philosophischer Gedankenzusammenhang dargestellt werden soll. Darin aber ist dieses Sprachbild abstrakt: es erhebt selbst nicht den Anspruch, mit der bezeichneten Sache identisch zu sein, vielmehr den, einen Inhalt in eine andere Sprache zu bringen, zu transponieren, in Denken zu übersetzen, sich dadurch der im Sprachbild ausgedrückten Wahrheit denkend anzunähern. Diese Sprachbildlichkeit ist das Gegenteil reflexionsloser Abbildgläubigkeit – eine Überlegung, die Sonnemann bei Cusanus wiederfindet: „‚Denn die Wahrheit des Bildes ist nicht das Bild, sondern das Vorbild.‘8 Man soll an ihm nicht haften, weil es selbst nicht an sich haftet, sondern bloß Reflex ist von Wahrheit, die nicht in ihm untergebracht werden kann; so daß es, insofern es selbst dann als Vorbild erfaßt werden kann, auch nur das, wovon es Reflex ist, dem es Anschauenden weiter vermittelt. Daher gilt der Satz Totum relucet in omnibus auch für ihn selbst als Satz: für das Bild, das in ihm gebraucht ist und vom spekulativen Denken nicht als ihm dienlich befunden würde, wäre es nicht imstande, über es hinauszudenken; auch es noch, sein beruhigend Wörtliches, zu durchschauen.“ (NA, 148)
Gegen das Prinzip der Abbildung setzt Sonnemann mit Nikolaus von Kues also dasjenige der Vorstellung resp. der Imagination als Einbildung — und damit ausgerechnet das, was für Descartes stets unter Illusionsverdacht steht: eine Bildlichkeit nämlich, die als Phantasie über das jeweils im Bild Erfasste hinausgeht. Oder, um es in den Worten der Cusanus-Interpretation Anne Eusterschultes zu sagen: „In den Vorstellungen liegt die Möglichkeit einer Überschreitung des Vorstellbaren.“9 Solches Denken in Sprachbildern transzendiert zugleich die Bildlichkeit, weil es sich der Grenzen der Bilder bewusst ist und nicht behauptet, der Wahrheit im Bild habhaft geworden zu sein. Vielmehr nimmt dieses Denken das Bild zum Anlass,
8Cusanus: Vom Globusspiel. Übers. von Bredow, S. 37; im Original heißt es: „Nam imaginis veritas non est imago, sed exemplar.“ Cusanus: Dialogibus de ludo globi, S. 54. 9Anne Eusterschulte: „Bildräume des Geistes. Nicolaus Cusanus und die Theorie mentaler Bilder in der Renaissance“, in: Philipp Brüllmann, Ursula Rombach, Cornelia Wilde (Hg.): Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen, Berlin 2014, S. 155–194, hier S. 191. Eusterschulte belegt hier eindrucksvoll, dass die Idee einer produktiven Einbildungskraft nicht erst, wie gemeinhin angenommen, im 18ten Jahrhundert konzeptualisiert wird, vielmehr im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rekurs auf antike Traditionen ganz entscheidende Vorläufer hat. Deutlich wird dabei, wie sehr auch bei Cusanus Rezeptivität und Spontaneität vermittelt sind. Vgl. ebd., S. 172 f. Auch diese Dimension macht Cusanus sicherlich zu einer wichtigen Referenz für Sonnemann.
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sich der Wahrheit anzunähern: in Konstellationen von sprachlich vermittelten, dynamischen Bildern, die auch der zeitlichen Entwicklung gerecht zu werden versuchen, weil es sich bei solcher Annäherung um eine nicht abschließbare Bewegung und Verwandlung, um einen unabschließbaren Prozess handelt.10 So stellt denn Sonnemann die Forderung nach Imaginationskraft seinen „Vorstudien zur Sabotage des Schicksals“ als Motto voran: „L’imagination au pouvoir!“ (NA, 19) – Phantasie an die Macht …11 Zum Hauptthema des Buches zurückkehrend, erweist sich diese am CusanusSatz entbrannte Reflexion als hilfreich für die Frage danach, wie negative Anthropologie der verdinglichenden Abbildgläubigkeit positivistischer Wissenschaften vom Menschen entgehen kann. In herausragender Weise geht es nämlich auch in Cusanus’ De ludo globi um die Frage nach einem partikularen Ganzen (den Teil eines Ganzen, der wiederum in sich selbst ein Ganzes darstellt), das jedoch ein unfertiges Ganzes, da unabgeschlossenes, nichtfestgestelles und zugleich rettungsbedürftiges ist: um den Menschen. Als Mikrokosmos strahlt in ihm die ganze Welt wider, wobei dieses Bild aus dem Globusspiel in Sonnemanns Lesart nachgerade antidogmatische „Ermächtigung des Menschen“ (NA, 145) sein soll. Auch dafür sei der Satz des Cusanus modellhaft, denn er verweise auf eine Dimension reflektierender Theorie, die in Abbildungen kein Ende finden kann, vielmehr des permanent fordernden Charakters solchen Denkens innewird: „Das relucet meint zwar auch Widerstrahlung, diese selbst aber, insofern sie die Welt heller macht, verändert sie auch schon, ist nicht nur Spiegelung, Theorie, sondern auch orientierender Akt – etwas Praktisches; ergo wird das Totum, das widergestrahlt ist, durch die Widerstrahlung selber erst eines: wenn es wirklich schon Totum, also fertig wäre, könnte es sich durch sie gar nicht verändern. Das Ganze will demnach erst eines werden: durch seine keineswegs denn nur rezeptive, sondern auch erhellende und mithin eingreifende Widerstrahlung: im Bewußtsein der Menschen, die es als ein erst zu Leistendes, nicht schon Gegebenes: als Idee, die eine Praxis evoziert, also verstehen sollten.“ (NA, 159)
Sonnemann deutet hier das ‚relucere‘ (= zurückleuchten) zugleich als ein ‚reflectere‘ (= zurückwenden). Was zurückstrahlt, ist nicht nur eine Vorstellung vom Ganzen, sondern die Wahrheit dieses Ganzen. Diese Wahrheit ist aber
10Auch
Johann Kreuzer macht in seinen Betrachtungen zum Bilderdenken bei Cusanus auf die fundamentale Differenz zwischen einem imaginativen Bilderdenken und den Visualitätsvorstellungen mechanistischen Zuschnitts deutlich, wobei sich letztere gerade bei Descartes finden ließen: „Selbstvergewisserung geht mit dem Blick des Ingenieurs einher, dem die Dinge nicht Bilder, sondern methodisch, d. h. nach dem Maß ihres Funktionierens zu durchschauende Objekte bedeuten. Techniken der Visualisierung reduzieren sich so aufs Produkt maschinenkonform gekappter Theorien des Sehens.“ Johann Kreuzer: „Das Bild und sein Sehen bei Nikolaus von Kues“, in: Wolfgang Christian Schneider et al. (Hg.): ‚Videre et videri coincidunt‘. Theorien des Sehens in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, Münster 2011, S. 81–96, hier S. 91. 11Ausführlicher zum Thema ‚Phantasie‘ siehe oben, Kapitel 5 (Perfektfutur oder verbaute Zukunft).
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nicht nur als sich im Partikularen gewissermaßen Spiegelndes, eben Widerstrahlendes, zu erkennen. Zugleich ist der Akt des Erkennens solcher Wahrheitsspiegelung selbst ein Widerstrahlen von Wahrheit; jetzt aber deutlicher im Sinne von ‚reflectere‘, wobei das erkennende Bewusstsein sich im Erkenntnisakt durch seinen Gegenstand hindurch ebenso auf sich selbst wendet, sich selbst dabei miterfasst und -erkennt, wie es sich dem Gegenstand zuwendet. Dem entspricht die Mehrdeutigkeit des eingedeutschten Wortes ‚reflektieren‘: Gegenstände, die beschienen werden, reflektieren das einstrahlende Licht. Ebenso reflektiert das Bewusstsein, wenn es (über sich selbst) nachdenkt. Eine Theorie vom Menschen, die sich jener dynamischen sowie verschlungenen Struktur von Wahrheitsreflexion bewusst ist, setzt nicht auf abschlusshafte Abbildungen, welche Wahrheit als schon fertige präsentieren, sondern auf Vorstellungen, welche zur Reflexion nötigen, weil die Vorstellungsbilder in ihrer jeweiligen Unzulänglichkeit nicht verabsolutiert, nicht für ein Ganzes oder Heiles genommen werden und weil ‚der Mensch‘ kein im Grunde schon fertiges Naturwesen ist, vielmehr sich selbst zur Aufgabe gestellt. Anthropologische Wahrheitssuche ist damit aber nicht nur eine Aufgabe von Wissenschaft, von Theorie; zugleich ist sie eine praktische. So formuliert es zumindest Sonnemann, weiter vorne in der Negativen Anthropologie: „Denn das Wahre ist das Ganze nicht – es will es durch den Menschen erst werden.“ (NA, 63)
Ist das Ganze noch nicht, will es dieses durch den Menschen erst werden, so müssen auch die Sprachbilder diesen Zusammenhang kenntlich machen: Anstatt die Sachverhalte unter fertige Begriffe zu subsumieren, müssten sie ihre Gegenstände konstellativ er- und umschließen, in ihrer eigenen Brüchigkeit und Selbstreflexivität damit zugleich an die Unabgeschlossenheit ihrer Gegenstände erinnern. So zeigt sich am Modell Cusanus noch einmal, was schon die Kritik an undialektischer Sprachpolitik verdeutlichte. Entgegen einer „saugenden Leere anschauungslos beschwörender Machtwörter“ (NA, 147), die sich wie ein „hypnostische[s] Bild“ (NA, 147) präsentieren, vertraue Cusanus auf den „Satz selber, die Selbstverwirklichung des Gedankens zur Sprachgestalt“ (NA, 147). An anderer Stelle heißt es dazu, nun nicht mehr nur auf Cusanus bezogen, sondern auf die einer negativen Anthropologie angemessene Sprache insgesamt: „Das Antidot zur Begriffsemphase ist keine Gegenbegriffsemphase, sondern Satzemphase. Sie äußert sich nicht in emphatischen Sätzen, sondern in reflektierenden.“ (NA, 161 [Fn. 14])
Diese Satzemphase ist sprachliche Genauigkeit, weil sie versucht, so viel als möglich in Sprache aufzunehmen: Eine angemessene Beschreibung des Gegenstandes, die auch deshalb angemessen ist, weil sie nicht über dessen innere Widersprüche hinwegeilt, ihnen hingegen einen sprachlichen Ausdruck verleiht. Damit ist die genaue Sprache negativer Anthropologie nicht ‚präzise‘ in dem Sinne, dass sie alles ‚Überflüssige‘, über die Faktenbeschreibung Hinausgehende
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wegschneidet.12 Das Verfahren negativer Anthropologie nötigt vielmehr zur sprachlichen Prägnanz: da sie bestimmte Negation ist, also nicht einfach das Negierte in den Abgrund des Nichts wirft, sondern am Negierten einen bestimmten Inhalt hat, muss dieser sprachlich genauestens festgehalten werden. Weil das Negierte aber nicht alles sein kann, geht die sprachliche Beschreibung über den negierten Gegenstand imaginierend hinaus, strebt dem Praktischen widerstrahlender Wahrheit entgegen. Mobilisierung der Vorstellungskraft zu diesem Zwecke bedeutet für die Negative Anthropologie jedoch auch: Kein positives Bild einer geglückten menschlichen Gesellschaft lässt sich ausmalen. Stattdessen ist jeweils dort, wo behauptet wird, dass Entwicklungen mit Notwendigkeit vonstattengehen, wo also zweite Natur den Anschein erweckt, sie sei erste, dieser falsche Schein als solcher zu überführen. Das Menschenmögliche wird nicht als Katalog fixer Ideen präsentiert, sondern gerade aus den Verunmöglichungen menschlicher Möglichkeiten negativ bestimmt: „Das Gesetz der Geschichte ist nur so lange eines, wie es dafür gehalten wird, dafür gehalten aber wird es nur so lange, wie die Menschen an die Unabänderbarkeit des bisher Immerwährenden glauben an ihren eigenen Verhaltensstrukturen, das durch eben diesen Glauben sich unentwegt reproduziert. Dieses sich selbst Selbstverständliche, also Unbewußte, will vorab daher reflektiert werden; ins Bewußtsein gehoben sein und in das der Gesellschaften eingehen. Seine Änderung, deren Kern anthropologisch ist: Selbstveränderung des Menschen nach Maßgabe seiner Idee von sich selber, deren spontan Kritisches seine Bestimmung spiegelt, begreift sich zurecht als permanente Revolution.“ (NA, 160)
Kritik am Abbildglauben – szientistischer wie gesellschaftlicher Idolatrie – muss sich demzufolge in Sprachbildern äußern, die ihrerseits keine absolute Geschlossenheit prätendieren. In Kapitel 12 wurde dies anhand einiger Fallstudien Sonnemanns nachvollzogen; bearbeitbar (und also veränderbar) werden gesellschaftliche Verhältnisse nur dort, wo die in ihnen wirkenden, unbewussten und unreflektierten Prozesse ‚ins Bewusstsein gehoben‘ werden, wo also genaue sprachliche Beschreibung, Analyse und Kritik ihre Wirkung entfalten. Solch sprachliche Spontaneität versteht Sonnemann als ein selbsttätiges Ausbrechen aus eingeschliffenen Denk- wie Verhaltensstrukturen, Sabotage also von Schicksalsgläubigkeit.13 Sie hofft, in ihrem bewusstmachenden Effekt der Sabotage
12Zum
lateinischen Ursprung des Wortes siehe oben, den Anfang von Kapitel 9. diesem Sprachverständnis passt übrigens auch eine an Sonnemanns Werk angelehnte Überlegung Klaus Baums, die zugleich das Thema ‚Totalität‘ noch einmal von seiner politischen Seite her beleuchtet: „Das Totalitäre ist das zur Macht gekommene Beschränkte […]. Das Totalitäre kann keine Begründungen geben – denn so mächtig es auch immer ist, ist es doch ohnmächtig im Hinblick auf die Vernunft. Zwar kann es in seinem Regierungsbezirk die Vernunft zum Schweigen bringen, aber nur als Ausdruck seiner eigenen Stummheit. Sprache als die Fähigkeit, die Dinge dieser Welt zu benennen, meint gleichzeitig die Fähigkeit, im Benennen über den Status quo hinauszuweisen. Sprache besitzt transitive Macht.“ Klaus Baum: „Fremder im eigenen Land“, in: Class (Hg.): Un-erhörtes, S. 65–68, hier S. 66. 13Zu
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verdinglichter sozialer Verhältnisse (dem gesellschaftlichen Sein) Vorschub zu leisten, zielt also auf Praktisches, das selbst zwar auch in Sprache, zugleich jedoch außerhalb dieser liegt: „Diese Bestimmung des Geistes weist ihm im Weltprozeß keine in diesem selbst liegende Notwendigkeit seines Sieges zu, aber einen bewohnbaren Aufenthalt. Er ist dort, wo das Seiende seines Ungenügens innewird, sich verwirft. Nicht anders kann es sich auf seine Wahrheit hin in Bewegung setzen, welche Arbeit des Geistes wäre. Daß dessen Schauplatz das Bewußtsein der Menschen, der von Praxis, die ihm genügen kann, die verstockte Vorläufigkeit, sich verunstaltende und verratende, unentkettete Wachstumslust ihrer Gesellschaft ist, garantiert nicht ihre Rettung, ist nur deren einzige Chance.“ (NA, 263)14
14Übrigens
stellt Sonnemann diese Überlegung in nächste Nähe zu Adornos Negativer Dialektik, aus deren letztem Kapitel, den „Meditationen zur Metaphysik“, er unmittelbar zuvor zitiert.
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Teil III
Das Ohr der Psychoanalyse
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„Das Profil gibt eine völlig andere Optik wieder als das Gesicht von vorn. Es ist sich selber abgewandt, uns unbewußt. Die dunkle Seite des Gesichts. […] Ohren haben etwas Voraussetzungsloses, Unverschließbares. Sie sind an das ununterbrochene Kontinuum der Geräusche angeschlossen. Ohren sind Inszenatoren: von Weltwahrnehmung. Mit Mitteln, die den äußeren Bildern gegenüber gleichgültig bleiben. […] Der Raum der Wirklichkeit ist auf diese Weise anders konstruiert. Es ergeben sich Abweichungen von der linearen Struktur. Er fällt aus dem definierten Rahmen heraus. Aus der Geometrie, aus der Symmetrie, aus den Konturen. Die Menschen haben Angst davor, die Angst vor der Dunkelheit. Das Hören der Welt ist eine abgewandelte Gestalt der Dunkelheit.“ (Gisela von Wysocki: „Das Ohr. Das unbewußte Gesicht“, S. 121 f.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_14
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Geist als ein Nexus von Sprache, Gesellschaft und Bewusstsein: mit dieser entfalteten Begriffsbestimmung beschloss das 13. Kapitel zugleich den II. Teil vorliegender Untersuchungen. Ein Aspekt dieser Bestimmung1 des Geistes lautet, dass er selbst nicht abgeschlossen und insofern auch der negative Begriff eines noch nicht Fertigen ist. Daraus folgt nun keineswegs, dass kritischer Geist zwangsläufig den gesellschaftlichen Status quo zum besseren veränderte. Eher bedeutet diese negative Annäherung an Geist, dass es einen „bewohnbaren Aufenthalt“ für ihn gibt in dieser Welt, namentlich dort, „wo das Seiende seines Ungenügens innewird“, und zwar „im Bewusstsein der Menschen“ (NA, 263). Kaum dürfte es zu viel behauptet sein, wenn man sagt, dass jenes Thema das Zentrum des ganzen Sonnemannschen Œuvres darstellt, um welches sich beinahe alle seiner Texte gruppieren lassen, dieses Leitmotiv variierend: Auslegende, interpretierende und bewusstmachende Spontaneität der Sprache lässt in sich die Möglichkeit zur Sabotage des Schicksals aufscheinen: Zertrümmerung falscher Fetische und zersetzende Kritik naturalisierter Vergesellschaftungsformen.2 Zugleich stellt dieses Leitmotiv in gewisser Weise das Scharnier dar zwischen dem ersten umfangreichen philosophischen Werk Sonnemanns, Existence and Therapy (1954), und der Negativen Anthropologie (1969) als seinem charakteristischsten, wobei das verbindende und, wie zu zeigen sein wird, zugleich trennende Element ebenjener Begriff von Bewusstsein ist.
1Gemeint
ist hier der definierende wie auch der dezessiv-destinative, also teleologische Sinn des Wortes ‚Bestimmung‘; siehe oben, Kapitel 9 (‚Naturbestimmung‘ in vierfacher Bedeutung). 2In einem späten Skript zu zwei Seminaren über seine Negative Anthropologie in Kassel hat sich Sonnemann sehr unmissverständlich zu ebenjenem Kern seiner Schriften geäußert: „Eine sehr einschneidende theoretische und didaktische Rolle spielt im Aufbau der ‚Negativen Anthropologie‘ das Kapitel ‚Geschichtskritische Anwendung. Konvergenz des Mechanismus- und des Ideologiebegriffs‘, es handelt sich ja um Zentralbegriffe einerseits der Marxschen Gesellschaftskritik, Ökonomie-Kritik, anderseits der Psychoanalyse. […] Diese Konsequenz von Ideologie und Mechanismus zeigt sich in dem einen Element, in dem sie beide gar nicht umhin können, aufs untrüglichste zu erscheinen: der Sprache. Grob gesprochen führt sie in ihr immer zu einer Unbeweglichkeit, an der ein Widerspruch sich erkennen läßt zwischen ihrer syntaktischen Mobilität, die dabei zu kurz kommt, und dem, was sie zu kurz kommen läßt und in der Regel eine Tendenz zu sich verselbständigenden substantivischen Abstracta ist, die sich als überwertige Fetischbildungen selbst an die Stelle der wirklichen schieben, die sie doch bloß repräsentieren sollen. Unter dem Kriterium Negativer Anthropologie ist damit das Gesamtproblem dieses Verhältnisses des Menschen zum Menschlichsten eröffnet, eben der Sprache. Während es über das Buch weit hinausführt, führt, was darüber hinausführt, dessen Projekt Negativer Anthropologie selber weiter, darum werden wir uns in den letzten Sitzungen mit Texten befassen, die nicht in ihm stehen, sondern in meinem neuen Buch ‚Tunnelstiche‘.“ Sonnemann: „Die Aktualität der ‚Negativen Anthropologie‘“, S. 385. – Sonnemann weist hier auf seine Tunnelstiche hin, die im I. Teil vorliegender Untersuchungen eingehend betrachtet wurden. Der Schutzumschlag zum Buch zeigt eine Graphik von Heinrich Vogeler mit dem Titel (und Motiv): „David und der Riese Goliath“; ein Hinweis darauf, dass Sonnemann der Sprache eine gewisse Davidsrolle zutraut: Könnte etwas vermeintlich Hilfloses und angesichts der Totalität der ‚verwalteten Welt‘ ganz Unscheinbares wie Sprache – als kritische Aufmerksamkeit und Sprachkritik – das totalitär geschlossene Ganze ins Wanken bringen wie in der biblischen Erzählung David den Goliath?
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Damit wäre der Gang dieser Arbeit beim III. Teil angelangt, der sich einigen Motiven der frühen Schriften Sonnemanns widmet. Anders als die ersten beiden folgt diese dritte Teiluntersuchung nun jedoch weitaus weniger stringent der Sonnemannschen Werk-Chronologie, lehnt sich eigentlich nur in einem Aspekt an deren Spezifik an, indem sie nämlich den psychologischen Schwerpunkt der frühen Arbeiten Sonnnemanns in ihr Zentrum nimmt. Zu bedenken ist dabei indessen, dass sowohl Existence and Therapy als auch die Texte aus diesem Umfeld noch der phänomenologisch und existentialphilosophisch geprägten Daseinsanalyse zugerechnet werden müssen und damit einen deutlichen Kontrast zur späteren kritischen Gesellschaftstheorie Sonnemanns aufweisen. Verdienstvoll zwar hat die bislang einzige Monographie zu Ulrich Sonnemanns Werk – Spontaneität und Vermessenheit von Maria Schafstedde – dargelegt, welche Verbindungslinien zwischen Frühwerk und Negativer Anthropologie verlaufen.3 Zugleich jedoch birgt diese (wenn man so will:) harmonisierende Perspektive die Gefahr, ganz fundamentale Einsprüche gegen die Daseinsanalyse zu übergehen, welche Sonnemann selbst später formuliert hat und die ihn dazu bewogen, sich mit seinem Buch von 1969 radikal von selbiger abzuwenden.4 Hier sei entsprechend gleichsam die entgegengesetzte Richtung zur Studie von Schafstedde eingeschlagen: Nicht die Genese der Negativen Anthropologie aus Existence and Therapy soll nachvollzogen werden, vielmehr gilt es, in Konfrontation mit dem Buch von 1954 die Eigenheiten des späteren, negativ anthropologischen Ansatzes herauszuarbeiten, und zwar in Hinblick auf das verbindende Element: eine einerseits philosophisch fundierte, andererseits aus der therapeutischen Praxis gespeiste Theorie vom Bewusstsein als psyché (ψυχή). Zwar muss diese Ausarbeitung aufs Wesentlichste beschränkt bleiben, da vorliegende Arbeit die Grundzüge einer kritischen Philosophie des Hörens bei Sonnemann nachzuvollziehen gedenkt; nicht seine Schriften in allen Aspekten eingehend ausdeuten will. Doch erweist sich womöglich gerade solche Reduktion als ertragreich, wenn sie zeigen kann, dass einige entscheidende Impulse zu jenen die Akustik betreffenden Motiven des Spätwerkes sich bereits in den frühen Texten vermelden, wenn auch noch recht
3Maria
Schafstedde: Spontaneität und Vermessenheit. Zur Genese Negativer Anthropologie bei Ulrich Sonnemann, Würzburg 2002. In der Einleitung heißt es: „Die vorliegende Arbeit ist der Versuch, trotz der Distanznahme Ulrich Sonnemanns zu seinem Frühwerk, den Grundgedanken der Negativen Anthropologie von Existence and Therapy her zu entwickeln. Nach der […] Themenstellung hat anthropologische Theorie ihren Gegenstand an den Selbstverleugnungen im Denken des Menschen […], insofern er glaubt, über sich und seine gesellschaftliche Wirklichkeit, ja auch noch über seine Zukunft verfügen zu können wie über ein Objekt.“ S. 11. 4Nachzulesen etwa in einem Interview von 1969, in welchem Sonnemann beschreibt, dass er sich zunehmend vom Einfluss der Existenzphilosophie „emanzipiert“ habe; vgl. Ulrich Sonnemann: „Permanente anthropologische Revolution“, Gespräch mit Wilfried F. Schoeller, Frankfurter Rundschau, 3. Mai 1969, jetzt in: Schriften Bd. 3, S. 361–363. In diesem Sinne stellt Sonnemann 1969 dann auch dem Anhang der Negativen Anthropologie, der einen Auszug aus Existence and Therapy enthält, den Hinweis voran, dass dieser Ausschnitt „noch den Bann der Daseinsanalyse verrät“ (NA, 313).
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unscheinbar und von einem regelrechten Berg aus anderen Themen erdrückt. Die möglichen Funde in ihrer Relevanz auszudeuten und durch Konstellation mit verwandten Texten zum Thema zu entfalten, bleibt dem nachfolgenden 15. Kapitel vorbehalten. Hier nun sollen zunächst Sonnemanns durch Erfahrungen, Einsichten und Erwägungen geprägte Denkwege knapp beschrieben sein, die von der phänomenologisch orientierten Daseins- in die gesellschaftskritisch reflektierte Psychoanalyse führen.5
Von der Daseinsanalyse zur Gesellschaftstheorie Schon dem Titel Existence and Therapy resp. Existenz und Therapie6 lässt sich entnehmen, woran dem Buch gelegen ist: an der Verschränkung eines phänomenologisch-existentialistischen Begriffs vom Dasein, also dem der menschlichen Existenz, mit Techniken oder Praktiken von Psychotherapie. Laut Untertitel wollte Sonnemann mit seinem Buch eine „Einführung in die phänomenologische Psychologie und die Daseinsanalyse“ (ET, 45) vorlegen. Und dieser Einführungscharakter beschreibt das Buch recht gut, handelt es sich in vielen der Kapitel doch um Referate der phänomenologischen Theorien Edmund Husserls und Martin Heideggers, sofern sie relevant sind für das Konzept der Daseinsanalyse, die wiederum insbesondere mit Blick auf die therapeutische Schule Ludwig Binswangers dargestellt wird. Gleich in der Einleitung zum Buch legt Sonnemann seinen Antrieb offen, dies Einführungsbuch geschrieben zu haben, nämlich um die aus Europa stammende, philosophisch begründete Daseinsanalyse in Amerika bekannt zu machen. Dies sei gerade deshalb bedeutsam, weil auf beiden Kontinenten Psychologie inzwischen „kaum mehr als den Namen gemein“ (ET, 45) habe. Während sich in Amerika einerseits eine szientifische, aus der Gestaltpsychologie hervorgegangene Psychologie, andererseits eine spezifische Variante der Psychoanalyse etabliert habe, seien die daseinsanalytischen Theorien Binswangers oder etwa Karl Jaspers’ in Europa zwar wirksam, in Amerika jedoch kaum bekannt. Es dürften wohl auch Erfahrungen Sonnemanns als klinischer Psychologe sowie als zeitweiser Gastprofessor für Psychologie an der New Yorker New School for Social Research gewesen sein, auf die sein Buch reagierte.7 5Ausführlich
hat jüngst Tobias Heinze Sonnemanns solidarisch-kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse untersucht; vgl. Heinze: ‚Brechen, abspiegeln, versteinern, verwandeln‘. 6Amerikanische Erstausgaben: Sonnemann: Existence and Therapy [1954]; in deutscher Übersetzung von Paul Fiebig jetzt in: Ulrich Sonnemann: Daseinsanalyse. ‚Existence and Therapy‘. Wissenschaft vom Menschen, Schriften Bd. 2, Springe 2011, S. 45–465. Im Folgenden wird aus der deutschen Übersetzung zitiert, die Nachweise sind mit der Sigle ET versehen. 7Zum biographischen Hintergrund siehe die kurzen Anmerkungen in der Einleitung. Im Archiv der New School for Social Research finden sich zahlreiche Dokumente, die das intellektuelle Umfeld von Sonnemanns zweijähriger Lehrtätigkeit sowie die Gründe für den Abbruch dieser Tätigkeit erhellen. Ein Teil dieser Dokumente ist im digitalen Archiv inzwischen online verfügbar, darunter die damaligen Kurskataloge sowie die Protokolle der Sitzungen der Graduate Faculty aus der Zeit von Sonnemanns Anstellung an der New School; vgl. z. B. The New
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Einer Tendenz zur Technifizierung wie Quantifizierung psychischer Vorgänge, wie sie sich etwa in den ausufernden Testverfahren finden lässt und die noch in der Negativen Anthropologie der Kritik unterzogen wird,8 will Sonnemann das „Untersuchen von ‚Fundamentalitäten‘“ (ET, 45) menschlicher Existenz und damit auch des psychischen Innenlebens kontrastieren. Damit wäre in den gröbsten Zügen das Programm des Buches umrissen. Was Sonnemann diesbezüglich im Theorieangebot des Existentialismus zu finden hofft, ist eine „Denkbewegung“, die „entschieden von Positivismus, Funktionalismus, Instrumentalismus, Pragmatismus und Operationalismus weg, hin zu einer Wiederentdeckung des spontanen Menschen in seiner Welt geht“ (ET, 47). Spontaneität, auch dieser Topos ist aus der Negativen Anthropologie vertraut, erscheint so als Gegenstimme oder Einspruch zum empiristisch-rationalistischen Vermessen der Menschen, das die menschlichen Fähig- wie Möglichkeiten jedoch zu verkennen tendiert. Deutlich anders allerdings als die Negative Anthropologie – und diese erhebliche Differenz illuminiert Schafsteddes Studie zu schwach – sucht Existence and Therapy menschliche Spontaneität nun im Philosophem des In-der-Welt-Seins auf. So lautet denn der wesentlichste Kritikpunkt des frühen Sonnemann sowohl gegen die Gestaltpsychologie als auch gegen die (amerikanische) Psychoanalyse, dass beider Tendenz zur Objektivierung grundsätzlich am Phänomen der menschlichen Psyche vorbeigehe. Denn dass der Mensch ein In-der-Welt-Seiender sei, bedeute zugleich „eine Einheit von Selbst und Welt, welche es unmöglich macht, Subjektivität in ein Erkundungsobjekt zu verwandeln“ (ET, 238). Durch Fremd- wie Selbstbeobachtung werde die Psyche allererst zu einem „neu[n] Objekt“ (ET, 239) gemacht, darin aber der Mensch – und dies sei das eigentlich Fatale – „reduziert hinsichtlich seiner Spontaneität, seiner selbstübersteigenden Kraft“ (ET, 239 f.). Als Objekt sei die Psyche dann kaum mehr als ein verdinglichtes, lebloses Etwas. Demgegenüber ermögliche es gerade das existentialistisch-phänomenologische Konzept des In-der-WeltSeins, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu transzendieren. Als erfahrendes
School Archives Digital Collections: Minutes of the Graduate Faculty 1950–1951, verfügbar unter https://digitalarchives.library.newschool.edu/index.php/Detail/objects/NS020202_000020 (zuletzt geprüft am 22.01.2020). – Im Grunde bestätigt sich aus jenen Dokumenten, was Sonnemann selbst 1992 in einer autobiographischen Notiz äußert: „Im zweiten Jahr meiner Professur kommt es ihrer erkenntnistheoretischen Orientierung wegen, die in einer gestalttheoretisch fixierten Psychologieabteilung den psychoanalytischen Ansatz ins Spiel bringt, zu Konflikten mit den Fachpsychologen“; Sonnemann: „Autobiographisches“, S. 235. Den oben genannten Protokollen lässt sich entnehmen, dass jene erkenntnistheoretischen Differenzen allerdings unter anderem Namen ausgetragen wurden. Die Fakultät berief sich darauf, dass Sonnemann kein klinischer Psychologe sei und insofern in das Lehrprofil recht eigentlich nicht hineinpasse. Sonnemanns Aussage von 1992 wäre allerdings dahingehend dezent zu korrigieren, dass es in seiner New Yorker Zeit vor allem der daseinsanalytische und nicht ein psychoanalytischer Ansatz war, der Anlass zum Konflikt gab. 8Siehe oben, Kapitel 9 (Der vermessene Mensch).
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n ämlich wäre das psychische Selbst stets Subjekt und Objekt zugleich, könne sich daher aber nicht beobachtend selbst spalten, ohne dabei den Zugang zur Selbsterfahrung zu verlieren. Ohne solche Erfahrung aber keine Erkenntnis (vgl. ET, 239). Wie genau man sich jenes Transzendieren des Dualismus vorzustellen hat, bleibt nicht nur im hier zusammengestellten, äußerst knapp gehaltenen Exzerpt aus Sonnemanns Existence and Therapy unklar. Im Buch selber finden sich zwar kapitellange Ausführungen etwa zum Jasperschen Existentialismus oder zu Heideggers Sein und Zeit. Was aber genau es mit jenem In-der-Welt-Sein für die Belange von Psychologie und Therapie auf sich haben soll, wird nirgends so recht verständlich. Ein wenig wirkt denn auch die omnipräsente Rede vom Dasein wie ein opaker und sperriger Block im Text, der einige wichtige Einsichten sogleich wieder verstellt. Zwar ist Sonnemann schon hier durchaus Themen und Phänomenen auf der Spur, die auch später in der Negativen Anthropologie noch größte Relevanz besitzen: so etwa die Zerstörung menschlicher Spontaneität, die in der verwalteten und kalkulierend zugerichteten Welt hinter ihren Möglichkeiten weit zurückbleibt. Doch wirkt die Daseinsanalyse, wie Sonnemann sie hier präsentiert, mit ihrer Emphase aufs In-der-Welt-Sein, das sich auf einen zu erschließenden ‚Seinsgrund‘ sowie ein fundamentales ‚Geworfensein‘ zu besinnen habe, ein wenig wie die abstrakte Negation von Testpsychologie, (neuro-) wissenschaftlicher Psychologie und auch Psychoanalyse. Versucht – wie im nächsten Unterkapitel noch zu zeigen sein wird – die Negative Anthropologie beispielsweise, durch bestimmte Negation gewisser Tendenzen von Psychoanalyse Momente des Spontanen in dieser selbst freizulegen, wobei solch aufhebende Negation eben auch zu einem gewissen Grad bedeutet, Teile der kritisierten Theorie zu bewahren (= conservare), so scheint Existenz und Therapie vor allem einen Gegenentwurf zu formulieren, der den befehdeten Theorieansätzen gegenüber nicht selten recht äußerlich bleibt. Nun muss selbstredend nicht jede Kritik den Anspruch haben, ihren Gegenstand allein immanent zu verhandeln. Viel schwerwiegender für das Buch von 1954 erweist sich derweil, dass sein Gegenentwurf zum vermeinten Objektivismus (etwa der amerikanischen Psychoanalyse) mindestens genauso wie dieser Schwierigkeiten hat, diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen zu enträtseln, die menschliche Spontanität gefährden. Das hat wohl auch mit einer theoretischen Grundannahme der Daseinsanalyse zu tun, die an einem Beispiel verdeutlich werden kann. Dieses Beispiel deutet zwar schon auf die Themen der späten Texte Sonnemanns hin, allerdings kennzeichnet es zugleich das theoretische Dilemma von Existenz und Therapie, sodass das Denkmotiv hier wie unter einem existentialistischen Ballast erdrückt wirkt. An einer wichtigen Stelle im Buch schildert Sonnemann den therapeutischen Prozess, thematisiert dabei die notwendige Sensibilität sowohl des Patienten als auch des Therapeuten für die grundlegenden und leidvollen Konflikte im Innenleben des Patienten. In diesem Kontext heißt es dann:
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„Die Zweideutigkeit des Daseins aber, indem sie den Menschen dessen innewerden läßt, daß es zugleich sein Sein ist und ihn doch unablässig von seinem Grunde abzieht, impliziert Sein als den absoluten Widerspruch zu dem, was es gleichfalls impliziert, seiner eigenen Hinfälligkeit (Endlichkeit, Zeitlichkeit, Angst). Dasein kann demnach an dieser Stelle nicht einhalten im Sinne eines bloß passiven Sichabfindens mit dieser Geworfenheit, Vorherbestimmung, auf die Uneigentlichkeit und den Tod hin; der Mensch kann, als Seins-Entwurf wie Welt-Entwerfer, sich selber nur annehmen, indem er sich nicht als Gegenstand hinnimmt; ein vergängliches Teilchen des Seienden.“ (ET, 172)
Der grundsätzliche Konflikt im Patienten wäre demnach seine ‚Geworfenheit‘ in eine Welt, die fundamental entzwei ist, nämlich die Welt des Lebens (= Sein) und die Welt des Todes (= Nichtsein). Erst wenn der Patient dies erkenne, könne er seine sekundären Konflikte bearbeiten und sich in eine – wie es vielfach im Buch heißt – „authentische Existenz“ (ET, 117), in ein authentisches Verhältnis zu sich selbst begeben. Statt eines gesellschaftlichen ist es in Existenz und Therapie zuvorderst ein existentieller, im Sein selbst begründeter Antagonismus, der die Menschen leiden lässt; wobei es mehr noch die Unaufmerksamkeit für jenen existentiellen Konflikt ist, die zu Leiden führt, also eine (heideggersch gesprochen:) Seins-Vergessenheit. Der frühe Sonnemann behauptet nun, dass in dieser existentialistischen Perspektive gerade keine Objektivierung des Menschen liege. Im direkten Anschluss an obigen Passus formuliert er: „Das Urwissen […] muß darum als das betrachtet werden, was es intrinsisch im Medium jeglicher offenen Selbstbegegnung des Menschen wird, als Herausforderung: der Ruf des Gewissens (der dieses Wissen ist) kann schon einmal überhaupt nicht vergegenständlicht, noch auch in Worte übersetzt werden. Das paradoxe Schweigen dieses Rufs – das ihn so beredt macht – verweigert jegliche Inanspruchnahme durch diesen oder jenen bestimmbaren Inhalt der Weltbeziehungen der Person in ihrer bloßen Faktizität (Objektivität). Von letzterer kann kein das Gewissen je beförderndes Sollen hergeleitet werden; vom Schweigen kann nicht behauptet werden, es verberge, muß im Gegenteil gesagt werden, es ist seine Botschaft. ‚Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst‘ (Heidegger) und der Ruf wird von jedem gehört, der ein Ohr hat für sein Schweigen, von jedem, der bereit ist, in das, was hier ruft, zurückgenommen zu werden – Sein.“ (ET, 172 f.)
Wie die zugrunde gelegte Kategorie des Daseins bleibt auch diese Textstelle selber dunkel und rätselhaft; beinahe möchte man sagen: raunend. In Kenntnis der späteren Schriften zeigt sich hier zwar ein Denkmotiv von größter Relevanz für Sonnemanns Werk, nämlich dasjenige des aufmerksamen Hörens. Jedoch handelt es sich in obigem Textauszug gerade nicht um eine sensible Hellhörigkeit für die realen Geschehnisse und Verwerfungen im Alltagsleben; stattdessen, im Sinne archaischen ‚Urwissens‘, ums schematische Registrieren eines im Grunde immer gleichen, also ahistorischen und invarianten Abgrundes im Innern der menschlichen Existenz.9 Ist aber nicht gerade solcher Schematismus genau das, was er
9Etwas
anders übrigens deutet Peter Warsitz diese Stelle bei Sonnemann: „Der ‚Ruf des Seins‘, dem das neuzeitliche Denken zu gehorchen habe, wurde bei Heidegger alsbald zur Hörigkeit einer archaischen Bestimmung gegenüber. Sonnemann greift das Bild als ethische Verpflichtung
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abzuwehren glaubt, nämlich Objektivation, also ein Zurechtstutzen der wahrgenommenen Wirklichkeit zwecks Einpassen in die vorgefertigte Schablone eines stereotypen Philosophems?10 — Redlicherweise müsste man nun das ganze Buch und seine philosophischen Referenzen untersuchen, um diese Frage angemessen beantworten zu können.11 Zielführender für vorliegende Untersuchungen dürfte jedoch eine Abkürzung sein, indem hier an Sonnemanns Auseinandersetzungen im ‚Land der Sprachlosen‘ erinnert wird (siehe oben, Kapitel 12): Nicht müde wurde er ja dort, eine schematisierende Begriffsverwendung, wie sie sich hier in seiner eigenen Übernahme einer Existentialiensprache andeutet, der Unfähigkeit zu überführen, dasjenige tatsächlich sprachlich zu erfassen, was unter solche Begriffe gebracht werden soll. Die ganze Kritik des Jargons von Innerlichkeit etwa, die Sonnemann 1970 in den Schulen der Sprachlosigkeit äußert, ließe sich hier gegen sein eigenes Buch richten. So erweckt denn auch die Lösung psychischer Probleme in diesem Ansatz bisweilen einen allzu schematischen Eindruck. Aus einer Einzelfallstudie etwa berichtet Existenz und Therapie von einem Therapieerfolg nach Methoden der Daseinsanalyse, die den Patienten an jenen existentiellen Abgrund geführt habe, von dem aus er sich nun, im Bewusstsein ums Existential der Angst, tatkräftig wieder seinem Leben zuwende: „Die Symptome waren weg; seine Ängstlichkeiten voll von Mut; jede Angst war ihrerseits nur eine Herausforderung, ein einziger Aufruf, zu sein.“ (ET, 380) Nicht nur erinnern Formulierungen wie diese an die Durchhalteparolen der arbeitsmarktorientierten Gesellschaft und an die Rhetorik von Lebensratgeberliteratur, denen Sonnemann mit einem einschlägigen Text – „Die Glücksdressur. Ein Phänomen der Managergesellschaft“ – wenig später äußerst kritisch begegnen wird.12 Auch immanent zeigt sich hier ein Widerspruch, dem das daseinsanalytische Konzept nicht genügend Beachtung zu widmen scheint. Zwar hat, das wird im Buch vielfach betont, die
des Daseinsanalytikers auf, in einer psychotherapeutischen Praxis, die den ‚Ruf‘ immer nur als Anruf und Antwort eines anderen, als Sprachspiel versteht und in der Berufung (vocation) des Psychotherapeuten an die Ethik dieses Sprachspiels koppelt.“ Peter Warsitz: „Widerständiges Denken. Zum Verhältnis von Daseinsanalyse, Psychoanalyse und kritischer Gesellschaftsanalyse“, in: Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß, S. 121–144, hier S. 131. 10In ähnlichem Sinne weist Magnus Klaue unter Rekurs auf Adornos Jargon der Eigentlichkeit auf die „Verschmelzung von Pathos und Sachlichkeit, von beschworener Metaphysik und metaphysikfeindlichem Positivismus“ im daseinsphilosophischen Jargon hin, wobei „die Konvergenz von Metaphysik und Banalität, Beschwörung und Sachlichkeit konstitutiv“ sei; Magnus Klaue: „Jargon und Idiom. Anmerkungen zur Geschichte einer folgenschweren Verwechslung“, in: Max Beck und Nicholas Coomann (Hg.): Sprachkritik als Ideologiekritik. Studien zu Adornos Jargon der Eigentlichkeit, Würzburg 2015, S. 119–136, hier S. 128. 11Hier sei noch einmal auf den Forscherkreis hingewiesen, der dieses Thema systematisch bearbeitet hat, namentlich Schafstedde: Spontaneität und Vermessenheit; sowie Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann. 12Siehe unten, im selben Kapitel den Abschnitt Sonnemanns Psychohistorie als Sprachanalyse.
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existentiell fundierte Therapie durchaus gesellschaftskritischen Anspruch. Sie soll gerade den instrumentellen Absichten der szientistischen Psychologie entgegenstehen, „der rapiden Mechanisierung des Menschen“ (ET, 455) zumindest im therapeutischen Bereich Einhalt gebieten und deshalb nicht dienstbar zu machen sein für die Zwecke des „human engineering“ (ET, 455). Doch mit ihrem Appell an authentische Entschlossenheit des Einzelnen sowie mit ihrer Hinwendung zu vermeintlich existentiellen, womöglich also ahistorischen Antagonismen im Menschenwesen tendiert die von Sonnemann skizzierte Daseinsanalyse dazu, von Reflexion auf die tatsächlichen Gesellschaftsverhältnisse abzulenken und mit jenen zur Entschlossenheit ‚genesenen‘ Patienten, die noch aus ihrer Angst eine Motivation zur Meisterung der Lebensaufgaben gewinnen, höchst arbeitsmarktkonforme Individuen hervorzubringen. Warum sich Sonnemann in Amerika allerdings mit der Daseinsanalyse einer für ökonomische Zwecke allzu leicht verwertbaren Psychologie entgegenzustellen gedenkt, mag sich vielleicht auch daher erklären, dass die Psychoanalyse in ihrer praktischen Anwendung im Amerika der 1950er ebenso wenig als probates Mittel hierfür erschien. Auf den Existentialismus – so lässt es sich dem Vorwort zu Existence and Therapy entnehmen – beruft sich Sonnemann vor allem deshalb, weil es sich bei ihm um „eine Philosophie der Krise“ handele, und zwar „der Krise des modernen Menschen, gefangen im Räderwerk seiner zunehmend entmenschten Zivilisation“ (ET, 47). In der amerikanischen Fortentwicklung der Psychoanalyse hingegen, namentlich in der Ichpsychologie, scheint das Bewusstsein um diese Krisenhaftigkeit der Moderne und der Zivilisation, das für Sigmund Freuds Schriften noch bestimmend war, an den Rand gedrängt.13 Auf dieses Problem hatte 1952 auch Adorno hingewiesen, in einem Aufsatz unter dem Titel „Die revidierte Psychoanalyse“. Demnach sei eine Tendenz zur „Soziologisierung der Psychoanalyse“14 in ihren neueren Strömungen zu verzeichnen, wobei zunehmend von der Auseinandersetzung mit Phänomenen des Trieblebens abgerückt werde und stattdessen Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft auf Ebene der Kontrollfunktionen des Psychischen in den Fokus gerieten. So aber werde eine „aufs Lustprinzip gegründete Theorie ersetzt durch bloße Ichpsychologie“.15 Plastisch werde dies an der Bedeutung, die dem individuellen Bedürfnis nach „Sicherheit und Befriedigung“16 beigemessen wird; es wird zum wichtigsten Maßstab der Ichpsychologie. Während Freuds Theorie sich solchem Funktionalismus vehement widersetze, habe die neue Ichpsychologie einen Hang zum „gesellschaftliche[n] Konformismus“,17 indem sie – ähnlich übrigens wie die
13Auf
Sonnemanns Abgrenzung zur Ichpsychologie, die sich noch in der Negativen Anthropologie wiederfindet, weist auch hin: Sabine Gürtler „Einleitung. Anagrammatisches zur Kritischen Theorie“, in: Dies. (Hg.): Spontaneität und Prozeß, S. 7–23, hier S. 13. 14Theodor W. Adorno: „Die revidierte Psychoanalyse“ [1952], in: AGS 8, S. 20–41, hier S. 20. 15Adorno: „Die revidierte Psychoanalyse“, S. 21. 16Adorno: „Die revidierte Psychoanalyse“, S. 26. 17Adorno: „Die revidierte Psychoanalyse“, S. 29.
300
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rational choice Ansätze – Nützlichkeitserwägungen zu den obersten Maximen der Individuen zähle. Jedoch gibt Adorno zu bedenken: „Volle Nutzbarkeit hat mehr mit dem industriellen Begriff der Vollbeschäftigung zu tun als mit der Reflexion auf die Zwecke, für welche die Fähigkeiten da sind.“18 Entsprechend arbeitet die Ichpsychologie viel nachhaltiger daran, ihre Patienten zu nützlichen Teilen der Gesellschaft zu resozialisieren, als die tatsächlichen Konflikte – etwa zwischen Triebbedürfnissen und sozialem Konformismus – allererst bewusst zu machen, um so dem Leiden therapeutisch begegnen zu können. Adorno folgert: „Aus der Analyse des Unbewußten machen sie [scil. die Ichpsychologen] einen Teil der industrialisierten Massenkultur, aus einem Instrument der Aufklärung ein Instrument des Scheins, daß Gesellschaft und Individuum, Anpassung an die allmächtige Realität und Glück sich deckten.“19 Vor diesem Hintergrund mag Sonnemanns früher Rekurs auf den Existentialismus nachvollziehbar erscheinen; zumindest lässt sich verstehen, von welcher konkreten Ausformung psychoanalytischer Lehren er sich mit seinem Buch 1954 implizit abgrenzte. Gleichwohl liefern allein schon dessen recht schematisch wirkendes Vokabular und mehr noch die problematische Annahme anthropologischer Invarianten im Sinne von Existentialien aus Perspektive der späteren Texte eindringliche Anstöße zur Kritik. In seinem Epilog zu Existenz und Therapie zitiert Sonnemann derweil Helmut Plessner mit folgenden Sätzen: „Für die theoretische Bestimmung unseres Wesens haben wir zu zahlen, sie ist ein Vorgriff auf die Praxis, von ihr hängt ab, was aus uns wird. So wie der Mensch sich sieht, wird er; darin besteht seine Freiheit, an der er festzuhalten hat, um Mensch zu sein.“20 Was der Mensch sei, ließe sich demnach positiv nicht abschließend kodifizieren, das widerspräche dem Begriff und der Erfahrung von Freiheit. Möglicherweise ist diese These, die sich Sonnemann hier zu eigen macht, eine der Stellen, an denen sein früher Existentialismus später aufbricht. Denn zwar behauptet Sonnemanns Existentialismus, mit den Theoremen vom ‚Geworfen-Sein‘, der fundamentalen ‚Zweideutigkeit des Daseins‘ etc. den Grund menschlicher Freiheit offengelegt zu haben.21 Mit dieser Geste ist Freiheit jedoch schon restringiert auf den Inbegriff entschlossenen Umgangs mit der Alternative zwischen Sein oder Nichtsein. Entscheidungsfreiheit hieße demnach, im Extremfall zwischen Leben und Tod zu wählen. Sollte man sich im Zweifel für den Tod entscheiden müssen, so wäre auch diese ‚Entscheidung‘ noch geadelt durch die Behauptung, man habe es immerhin
18Adorno:
„Die revidierte Psychoanalyse“, S. 30. „Die revidierte Psychoanalyse“, S. 40. 20Helmuth Plessner: „Über die Menschenverachtung“; zitiert nach ET, 457; Hervorhebung Ulrich Sonnemann. 21Vgl. Ulrich Sonnemann: „Daseinsanalyse. Eine Einführung in ihre Theorie und Methode“ [1954], in: Schriften Bd. 2, S. 466–483, S. 481: „Angesichts einer mit mechanischen Bestimmungen übervollen sozialen und intellektuellen Welt beharrt der Existentialismus darauf, daß sich diese Bestimmungen und diese Objektifizierungen auf ihren eigenen Unterhändler, den Menschen, nicht bedeutungstragend erstrecken können.“ 19Adorno:
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‚aus freien Stücken‘ getan. Damit aber ist der existentialistische Freiheitsbegriff gekettet an einen Zustand der Welt, der diesen Begriff bis dato zu oft als zynischdoppeldeutigen kennt: Freiheit zu etwas, beispielsweise zur Verdingung der eigenen Arbeitskraft auf dem freien Markt; und Freiheit von etwas, diesfalls als die Freiheit von Produktionsmitteln usw., wobei der Verzicht aufs Arbeiten in letzter Konsequenz das eigene Umkommen bedeutet. Den gesellschaftlichen Charakter solcher Verhältnisse verdecken Theoreme wie die oben genannten, eben weil sie ihnen den Status existentieller, mit menschlichem Dasein schlechthin gegebener Wesenshaftigkeit zuschreiben. Insofern tendieren sie zur positivistischen Anthropologie, weil sie den Antagonismus menschlicher Verhältnisse, statt ihn von seiner historischen Genese her zu betrachten, viel nachdrücklicher aus einem invarianten Menschenwesen ableiten. Sicherlich wäre auch aus kritischer Perspektive die Zerrissenheit menschlichen Daseins zwischen Leben und Tod nicht allein eine historische und gesellschaftliche Erscheinung, würde noch in einer befreiten Gesellschaft das Leiden daran nicht automatisch aufgehoben sein.22 Doch sträubt sich die Kritische Theorie dagegen, jene Zerrissenheit positiv als den ‚Urgrund‘ menschlicher Freiheit zu deuten, weil so allzu leichtfertig möglicherweise menschgemachte, zumindest jedoch beeinfluss- und änderbare anthropologische Charakteristika zu Naturgegebenheiten verdinglicht werden. Von diesem Ansatz distanziert sich insofern auch Sonnemann später denkbar deutlich. Die radikale Differenz von Existence and Therapy und Negativer Anthropologie ließe sich dabei vielleicht folgendermaßen pointieren: Vom Komplex ‚Existenz und Therapie‘, wonach die leidenden Individuen ihr Bewusstsein hinsichtlich der eigenen Seinsverfassung zu verändern hätten, wendet sich Sonnemann ab und untersucht nun den Komplex ‚Gesellschaft und Therapie‘, wonach im Bewusstsein sowohl der Individuen als auch der Allgemeinheit aufgehen müsste, dass tatsächlich heilende Therapie einen Eingriff auch in diejenigen sozialen Verhältnisse bedeuten würde, welche die pathologischen Zustände mitproduzieren. Sonnemanns spätere Abkehr von der Daseins- und Hinwendung zur (kritisch reflektierten) Psychoanalyse vollzieht sich folglich auch als „aufklärende Sozialkritik“ (NA, 136) seines eigenen Verständnisses vom Psychischen.23 22Vgl.
Bloch, Adorno: „Etwas Fehlt …“. ähnlicher Weise charakterisiert übrigens Hermann Schweppenhäuser in seinem Geleitwort zur Neuauflage von Existence and Therapy im Rahmen der Schriften das Verhältnis zwischen Früh- und Spätwerk: „Der aufmerksamen Relektüre der Sonnemannschen Frühschrift offenbart sich ihr eigentlicher Text: der von dem ursprünglichen Text verdeckte Subtext, die eigentlich intendierte, jetzt deutlich hervortretende fortschrittskritische und fortschrittsselbstkritische Reflexionsart in ihrer latenten, noch nicht vollbewußten dialektischen – struktur-prozessual figurierten und konstellierten – Kategorialität.“ Hermann Schweppenhäuser: „Geleitwort“ [2011], in: Ulrich Sonnemann Schriften Bd. 2, S. 9–17, hier S. 10. Und weiter heißt es dort, S. 16 f.: „Im Prozeß der Selbstvergewisserung, der im Sonnemannschen Denken sich abspielt zwischen der Phase intensivster Arbeit und Anstrengung des Begriffs in der Entfaltung des Frühwerks und der der skrupulösesten Selbstverständigung in den Etappen der Etablierung des Spätwerks, erleben wir bei der Relektüre des Frühwerks die Genese der Leittheoreme und
23In
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Freud und Marx: Gesetze der Psyche und der Geschichte? Solche Aufklärung nun nimmt sich auch jenes eigenwillige Raunen vor, das in Motiven wie dem oben zitierten ‚Ruf des Seins‘ ertönt. Trotz ihres grundliegenden Ansatzes der Werkharmonisierung bezeichnet Maria Schafstedde den fundamentalen Unterschied zwischen Sonnemanns Büchern von 1954 und 1969 diesbezüglich sehr deutlich: „Das Unheimliche und Ortlose, das in der Angst erfahren wird – und von Sonnemann noch in Existence and Therapy in Anlehnung an Binswanger und Heidegger als Begegnung mit dem Nichts interpretiert wurde –, wird nun in der Negativen Anthropologie von ihm umgeschrieben und als das Fehlen innerweltlicher Vernunft verstanden.“24 Eine Vernunftlosigkeit, die – wohlgemerkt – realgeschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen zuzuschreiben ist, nicht der existentiellen Situation des Daseins. Um diese Aufklärung leisten zu können, sind deshalb andere Erwägungen vonnöten als existentialistische, ist der Theoriefokus der Negativen Anthropologie ein deutlich anderer: An prominenter Stelle, nämlich gleich nach der einleitenden Vorrede, und mit einem Umfang von ca. siebzig Seiten auffallend ausführlich, setzt sich die Negative Anthropologie mit Sigmund Freud und Karl Marx auseinander (NA, 36–101). Sicherlich erweist sich Sonnemanns Buch damit als ein Beitrag zur Bearbeitung ebenjener gesellschaftstheoretischen Fragen, die zum Grundrepertoire der Kritischen Theorie um das Frankfurter IfS herum gehörten.25 Zugleich ist
treibenden Hauptmotive des negativ-kritischen Spätwerks mit seinen hochbedeutenden vernunft(vernehmens-)kritischen Revisionen und Basiskorrekturen rationalistischer, transzendentaler, szientistischer und systematischer Verständnis- (Verstehens-)Kritik.“ — Etwas stärker auf die Konvergenzen zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und Phänomenologie bzw. Existenzphilosophie bei Sonnemann stellt wiederum Tobias Heinze ab; vgl. Heinze: ‚Brechen, abspiegeln, versteinern, verwandeln‘, S. 18–20, S. 40 f. 24Schafstedde: Vermessenheit und Spontaneität, S. 116. 25Am 31. März 1969 schreibt Adorno an Horkheimer: „Max: um Heide Schlüppmann zu helfen, daß endlich ihre Arbeit in Gang kommt, habe ich ein paar Thesen über das Unterscheidende der kritischen Theorie nicht nur von der traditionellen sondern auch von der Marxischen formuliert, ganz lose, wie sie mir eingefallen sind. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um definitive Theoreme, sondern eher um die Absteckung einiger Zonen, in denen man vielleicht am besten erkennen kann, was kritische Theorie eigentlich ist.“ – In besagten Thesen, die Adorno mit Zur Spezifikation der kritischen Theorie betitelt, heißt es u. a.: „1) Einbeziehung des subjektiven Faktors. ‚Der Kitt‘. Notwendigkeit eines psychologischen Surplus über die objektive Ökonomie, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. [Absatz] 2) Marxismus als kritische Theorie der Gesellschaft heißt, daß er nicht hypostasiert, nicht einfach Philosophie werden kann. Die philosophischen Fragen sind offen, nicht durch Weltanschauung vorentschieden. [Absatz] 3) Kritische Theorie geht nicht auf Totalität sondern kritisiert sie. Das heißt aber auch, daß sie ihrem Inhalt nach anti-totalitär ist, mit aller politischen Konsequenz“; Adorno: „Zur Spezifikation der kritischen Theorie“ [1969], zitiert nach: Adorno. Eine Bildmonographie, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M. 2003, S. 290–292. Sonnemanns Reflexionen zu Marx und Freud in der Negativen Anthropologie lesen sich beinahe wie eine Ausführung dieses Programms; oder aber Adornos Thesen lesen sich wie eine Charakteristik des Sonnemannschen Ansatzes.
Freud und Marx: Gesetze der Psyche und der Geschichte?
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diese Konfrontation die Fortsetzung von Sonnemanns eigener Beschäftigung mit der existentialphilosophisch bzw. phänomenologisch geprägten Schule der Tiefenpsychologie.26 Den dritten Teil des ersten Kapitels bildet insofern eine Auseinandersetzung mit Ludwig Binswanger (NA, 102–138), die hier jedoch deutlich kritischer und distanzierter ausfällt als noch in Existence and Therapy. Zentral ist in jenem ersten Kapitel die These, dass selbst innerhalb von (vermeintlich) gesetzmäßig ablaufenden Strukturen der menschlichen Außen- wie Innenwelt stets auch Momente von Spontaneität gegeben sind; Aspekte also, die aus gesetzmäßigem Verlauf ausbrechen. Gegen bestimmte Verdinglichungstendenzen im Marxismus und in gewissen Strömungen der Psychoanalyse wendet Sonnemann also wiederum den Spontaneitätsgedanken, wobei Spontaneität hier den Impuls von Freiheit resp. Befreiung meint. Buchstäblich genommen richten sich Sonnemanns Einwände über weite Passagen zwar gegen das Denken von Marx und Freud selbst, doch wird solche Kritik ihren Referenztexten, zumal den in ihnen liegenden Widersprüchen, nicht immer gerecht.27 Umso nachdrücklicher scheinen es vor allem die sich auf diese beiden Theoretiker berufenden Denkschulen und ihre jeweilige Funktion fürs gesellschaftliche ‚System‘ zu sein – der planwirtschaftliche Marxismus im Osten und die ökonomiekonforme Psychoanalyse im Westen –, gegen die sich Sonnemanns Polemiken und Argumente tatsächlich richten. So habe der Marxismus im Osten eine „Anfälligkeit für Verapparatung“ und die Psychoanalyse im Westen neige zur „Korrumpierung zum Dienst an Ausbeutungs- und Selbstausbeutungsinteressen“, wie Sonnemann im Umfeld seines Buches von 1969 schreibt.28 Entgegengesetzt zu diesen Funktionen hat die Kritische Theorie, die sich sowohl auf Marx als auch auf Freud beruft, einen anderen Zielpunkt, nämlich „in den Geschichtsprozeß eingreifendes Unberechenbarwerden des Verhaltens der Menschen.“29 Berührt ist damit das Verhältnis von Praxis und Theorie sowie von Sein und Bewusstsein.30 Der einen Theorie – der von Marx begonnenen Analyse und Kritik kapitalistischer Ökonomie – ist am gesellschaftlichen Bewusstsein und an der
26Sonnemann
begann die Arbeiten an der Negativen Anthropologie kurz nach seiner Remigration 1957, gefördert durch ein DFG-Stipendium „zur Weiterentwicklung […] eines im Umriß schon in Existence and Therapy vorgetragenen philosophischen Ansatzes“; Sonnemann: „Autobiographisches“, S. 237. 27Für Marx gezeigt hat das Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: „‚Die Geschichte wird sie bringen …‘ Geschichtsphilosophische Variationen zu ‚Marx oder die Kanalisierung der Zukunft‘“, in: Heinemann, Schmied-Kowarzik (Hg.): Sabotage des Schicksals, S. 288–314. Für Freud siehe beispielsweise Joachim Küchenhoff: „Sonnemanns Kritik an und mit der Psychoanalyse – heute“, in: Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 83–97. 28Ulrich Sonnemann: „Hegel und Freud. Die Kritik der ‚Phänomenologie‘ am Begriff der psychologischen Notwendigkeit und ihre anthropologischen Konsequenzen“ [1969/70], in: Schriften Bd. 3, S. 399–410, hier: S. 407. 29Sonnemann: „Hegel und Freud“, S. 407. 30Vgl. hierzu die letzten Thesen aus Adorno: „Zur Spezifikation der kritischen Theorie“.
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Veränderung der sozialen Realität als Sein gelegen, sie hat also nicht zuletzt die Bewegungen menschlicher Geschichte als Entwicklungslauf der Gesellschaft zum Gegenstand. Die andere Theorie – die von Freud initiierte Psychoanalyse – betrifft insbesondere das individuelle Bewusstsein, die (wenn man so will) innere Natur des Menschen, denn ihr geht es um die Bearbeitung psychischer Leidenszustände. Die laut Sonnemann zu unternehmenden Vermittlungen jener Dimensionen – Individuum und Gesellschaft sowie Natur und Geschichte – sind Fluchtpunkte der Negativen Anthropologie. In der wechselseitigen Konfrontation beider Theorien nun, die deren jeweiligen Verdinglichungen und Leerstellen ins Augenmerk rückt, will Sonnemann fortzeichnen, was in solcher Vermittlung herausspringt: ihre immanenten Befreiungsimpulse. Dies könne jedoch nur gelingen, wenn beider Anspruch, Totaltheorie vom Menschen zu sein, gleichermaßen aufgegeben werde. (Kurz in Erinnerung gerufen sei an dieser Stelle Sonnemanns Tendenz, eher über Theorieströmungen als über einzelne Autoren zu sprechen; eher also über die amerikanische Ichpsychologie als über Freud selbst und über den Sowjetmarxismus als über Marx.) In Bezug auf die Psychoanalyse formuliert Sonnemann diesbezüglich programmatisch: „Für eine solche Verwandlung von Praxis und Theorie ineinander ist die Praxis der Psychoanalyse ihrer kaum schon ergriffenen Möglichkeit nach modellhaft, denn mit Recht setzt sie Erkenntnis als Macht an im Prozeß des Erkannten; nur kann – sonst wäre ein solches Verhältnis, da es sie selber schon einschließt, nicht möglich – die fragliche Erkenntnis dann nicht Totaltheorie ihres Erkannten sein, sondern hat sich selbst in dessen Prozeß zu sehen; was heißt, daß ihr alle ihre Objektbestimmungen nicht Definitionen sind eines So-und-nicht-anders-Seins, mit derengleichen nicht grundlos die Patienten sich leicht überkooperativ zeigen, sondern Reflexionsmomente für eine kritische Auseinandersetzung, dialogische topoi.“31
Was ist mit solchem ‚So-und-nicht-anders-Sein‘ gemeint, was also der (gleichsam solidarische) Kritikpunkt an Psychoanalyse? Laut Sonnemann hat die Freudsche Psychoanalyse einen Hang zur Totalerklärung. Ihr totalisierendes Moment bestünde im „grenzenlose[n] Anspruch“ ihres „Psychologismus“ (NA, 90). Für die Psychoanalyse, so Sonnemann, gäbe es nichts auf geistigem Gebiet, was nicht in die Widersprüche und Strukturen des menschlichen Seelenlebens verstrickt sei. Nicht nur die kulturelle Lebenswelt oder die Künste, selbst Wissenschaft und Wahrheitssuche wären nach psychoanalytischer Grundauffassung untrennbar mit seelischen Mechanismen verbunden, gar von letzteren determiniert. Mehr noch, was an der Oberfläche als Sphäre mit intrinsischen Zwecken erscheine, sei nach psychoanalytischer Doktrin im Grunde nichts anderes als ein vom Unbewussten verursachter Effekt, also aus Psychischem total ableitbar.32 Ein wenig klingt diese Kritik Sonnemanns nach einem landläufigen Vorurteil gegen Psychoanalyse. Wann immer diese – als Einspruch gegen Biederkeit und sozialen K onformismus – darauf
31Sonnemann: 32Vgl.
„Hegel und Freud“, S. 407. NA, 89–91.
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hinweist, dass vermeintlich ganz asexuelle und leidenschaftslose Phänomene menschlicher Zivilisation tatsächlich auch einen libidinös-triebhaften Anteil haben, hört das gängige Ressentiment heraus, solche Dinge seien laut Psychoanalyse allein triebbedingt, gar ‚triebgesteuert‘. (Ganz so, als ob die psychoanalytisch orientierte Interpretation etwa an Kunstwerken alles am Ende phallisch dechiffrierte … – was sie mitnichten tut.) Unbenommen, dass, wenn vielleicht auch nicht Freuds Interpretationen der Kultur, zumindest einige hieran anschließende Strömungen der Psychoanalyse manchmal eine Tendenz haben, die menschliche Phänomenwelt derart reduktionistisch auszulegen. Als Generalverdikt über die Psychoanalyse oder Freuds Schriften taugt solche Kritik jedoch wenig. Sonnemann allerdings scheint es beinahe zu verhängen, wenn er von einem „gängelnde[n] Interpretationsritual“ (NA, 138) der Freudschen Analyse schreibt und damit eben meint, dass ihre interpretativen Urteile nur solche Erklärungen anerkennen und überhaupt zulassen, die der orthodoxen Triebtheorie entsprächen. Zudem kapriziere sich Freuds Theorie mit ihren Interpretationsschemata ungebührlich auf alle Gebiete des Denkens in ihrer „erkenntnistheoretischen Ausweitung, die der späte Freud seiner ursprünglich auf klinische Phänomene beschränkten Lehre von der Projektion gegeben hat. Diese Lehre läßt prinzipiell kein ‚objektives‘ Erkenntniskriterium mehr übrig, das nicht vom Unbewußten abhängig wäre.“33
Wie Freuds Projektionstheorie tatsächlich zu verstehen ist und ob sein Denken einen derartigen psychologischen Reduktionismus beinhaltet, mag hier dahingestellt bleiben; versehen mit dem Hinweis, dass Sonnemanns Kritik an dieser Stelle doch allzu pauschal erscheint.34 Dass aber Phänomene des Unbewussten in allen Sphären des Geistes wirksam sind; dass entsprechend die Forderung nach Objektivität und Wahrheit von Erkenntnis nicht bedeutet, in Letztere und ihre sprachlichen Konkretionen spiele überhaupt nichts Unbewusstes, Triebhaftes hinein: diesen Teil der Lehre Freuds macht sich auch Sonnemann zu eigen, wie
33Ulrich
Sonnemann: „Sigmund Freud“, in: Hermann Kunisch (Hg.): Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, München 1965, S. 193–196, hier S. 193 f. 34Gegen Sonnemanns Vorwurf an Freud bzw. die Psychoanalyse, sie verfalle einer reduktionistischen Erklärung kultureller und psychischer Phänomene, verteidigt Joachim Küchenhoff die (kritische) Psychoanalyse folgendermaßen: „Kristeva hat in ihrer Unterscheidung des Semiotischen und des Symbolischen zeigen können, wie moderne Lyrik in der Rhythmizität und Farbigkeit sprachlicher Klänge, in ihrer akustischen Tönung, in ihren Brüchen und Resonanzen an Spracherfahrungen erinnert, die sich mit der ‚Muttersprache‘, mit dem Dialog des Kleinkindes mit den ersten Bezugspersonen, verbinden lassen. Hier entsteht […] eine Intertextualität zwischen dem analytischen Sprechen und Texten der Moderne. Darum geht es, den Spielraum unseres Verständnisses, den Hallraum unseres Hörvermögens dort wie hier, in der Lektüre von Gedichten ebenso wie in der analytischen Kur, zu erweitern, indem diese Intertextualität benutzt wird. Dies aber ist das Gegenteil von Reduktion.“ Küchenhoff: „Sonnemanns Kritik an und mit der Psychoanalyse – heute“, S. 92.
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bezüglich der Sprachphilosophie oben mehrfach angerissen (siehe Kapitel 4, 6 und 12) und worauf zurückzukommen sein wird (Kapitel 15 und 16). Schwerer als dieser Einwand wiegt für Sonnemanns gesellschaftskritische Reflexion der Psychoanalyse (in unzweifelhafter Solidarität mit deren Grundanliegen) allerdings ein anderer. Nicht nur das Interpretationsverfahren, auch die basalen Schemata und Modelle der Psychoanalyse tendierten zu einem gewissermaßen totalisierenden „Psychologismus“, und zwar zu einem „solipsistischen“ (NA, 90). Was in der Betrachtungsweise der Psychoanalyse vereinzelt und insofern isoliert werde, sei das Individuum mit seiner Psyche, sodass es nicht als mit der sozialen Welt mannigfach vermitteltes erscheint, vielmehr als ein Einzelgänger, der den permanenten Konflikt zwischen Innenleben und Außenwelt zu schlichten, also allenfalls nach zweiwertiger Logik zu vermitteln habe: „Das Bewußte schrumpft so zu einem prekären Oberflächenkomplex, dem rein kontrollierenden, diplomatisch zwischen der Psyche und dem ‚Realitätsprinzip‘ vermittelnden Ich zusammen, während alles Spontane, eigentlich Seelische von der Dunkelheit rein ‚objektiv‘ waltender, durch Psychoanalyse aber rational aufhellbarer Kräfte, beherrscht ist, von dem unbewußten, blinden Es der Triebe und dem Über-Ich, das diese, gleichfalls unbewußt, hemmt. Die Fragwürdigkeit dieser Doktrin, d. h. die zu enge Fassung des Bewußten, wurzelt im unkritischen Begriff des Wirklichen, im Präjudizhaften Charakter des ‚Realitätsprinzips‘.“35
Sonnemanns Kritik der topischen Modelle Freuds lautet demnach insbesondere, dass in ihnen die verschiedenen Momente der Psyche allzu funktionalistisch voneinander geschieden sind. All dasjenige, was von Spontaneität im Menschen zeuge, werde durch Freud tendenziell dem unbewussten Triebleben zugeordnet, damit aber der Sphäre der Vernunft, dem vom Ich einsichtigen Bewussten, entzogen. In dieser Bewusstseinssphäre fungiere das Ich derweil vornehmlich als Kontrolleur, um zwischen den eigenen (triebhaften) Wünschen und Begierden einerseits und den Anforderungen der sozial geprägten Wirklichkeit andererseits gemäß dem Realitätsprinzip auszubalancieren.36 Zwar habe Freud mit diesem Modell durchaus zurecht deskriptiv „die Mechanismen, in denen sich die mehr oder weniger weltverlustige Psyche verstrickt hat“ (NA, 85), offengelegt. Und genau an jenen antagonistischen Mechanismen leiden die Individuen oftmals, weil das permanente Balancieren zwischen den sozialen Anforderungen und den inneren Bedürfnissen in schier unlösbare Konflikte führt. Jedoch seien mit jenen Mechanismen nicht die naturwissenschaftlich bestimmbaren, anthropologisch gewissermaßen determinierten Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Psyche entdeckt, die ein für
35Sonnemann:
„Sigmund Freud“, S. 194. illustriert Christoph Türcke dies so: „Der berühmte Versprecher, daß ‚Dinge zum Vorschwein gekommen‘ seien, ergab sich nicht, weil dem Sprecher nicht bewußt gewesen wäre, daß da eine Schweinerei passiert war, sondern weil die durch äußere Umstände erzwungene Kontrolle einen Augenblick lang aussetzte und das Bewußtsein der Schweinerei sich spontan Luft verschaffte.“ Türcke: „Kritische Theorie und Eigensinn“, S. 41.
36Erhellend
Freud und Marx: Gesetze der Psyche und der Geschichte?
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alle Male gälten, als vielmehr „die Erscheinungen einer eingeschliffenen Selbstobjektivation“ (NA, 85) der Menschen in der bürgerlich-industriellen Gesellschaft. So wäre denn der psychoanalytische Solipsismus mit seinem zur „Steuerfunktion entfremdete[n] Ich, unter Ausschluß seiner Welt“ (NA, 86) auch ein Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich dieses Ich herausbildet und befindet. Jenen Zusammenhang jedoch bedenke die Psychoanalyse nicht hinreichend. Dadurch sei „Freuds freimütige[r] Aufstand gegen unterdrückende Konventionen“ (NA, 88) als einer der Grundimpulse der Psychoanalyse schon bei ihm selbst schließlich gefährdet, in gesellschaftlichen Konformismus umzuschlagen: durch eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Psychoanalyse in dem Sinne, dass sie in ihrer Bestimmung angeblicher psychischer Gesetzmäßigkeiten tatsächlich den Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse beschreibe und hypostasiere, „im Effekt daher sozial-affirmativ“ (NA, 184) werde. Damit sei aber auch der Triebbegriff der Psychoanalyse in letzter Konsequenz an diesen Status quo gebunden und auf seine gesellschaftliche Realität festgeschrieben; „eine lieblose Gesellschaft […], die erst ihrerseits den Trieb in seine Isolation, Faktizität stößt“ (NA, 184). Obwohl Freud offengelegt habe, dass die Trieb- und Naturhaftigkeit in alle Sphären menschlichen Lebens (auch ins Geistige) hineinreiche, erschienen bei ihm Vernunft und Triebleben schließlich doch als Widersacher, da dem konformistischen Realitätsprinzip die Triebe entgegenstünden. Wovon die Psychoanalyse zu kurieren sei, um ihr gesellschaftskritisches Potential zu entfalten, ist nach Sonnemanns Urteil ihr psychologischer Solipsismus, der in beinahe positivistischer Manier die sozialen Verhältnisse als gegeben hinnehme. Wie ließe sich dieser Mangel korrigieren? Womöglich mit dem Gesellschaftsbegriff des Marxismus? Sonnemann allerdings gibt hier zu bedenken: „Man kann an den Marxismus glauben oder die Erkenntnisse von Marx retten, aber nicht beides.“ (IsO, 415) So heißt es in der 7. der abschließenden Thesen aus Institutionalismus und studentische Opposition von 1968 und damit an die Adresse der marxistischen APO formuliert. Die authentischen ‚Erkenntnisse von Marx‘ liegen für Sonnemann insbesondere in der Kritik der politischen Ökonomie, dort wiederum vor allem im Aufdecken der ideologischen Momente einer Naturalisierung wie Fetischisierung gesellschaftlicher Verhältnisse (siehe Kapitel 5). Der Marxismus als Strömung nun ist nicht einfach die Fortsetzung jener kritischen Untersuchung der Gesellschaft als vielmehr eine selbst zur Ideologie tendierende Denkschule, die mit zunehmend staatstragender Rolle immer mehr zum Autoritarismus neige. Was den ideologischen Kern dieses Marxismus dabei ausmache, sei seine fragwürdige Geschichtsauffassung. Etwa, wenn er, zwecks motivationsfördernder Agitation der Massen, behaupte, gesellschaftlicher Fortschritt zum immer besseren, sozialistischen Leben vollziehe sich mit einer wissenschaftlich bestimmbaren Notwendigkeit. Nach solcher „kausalwissenschaftliche[n] ‚Realdialektik‘“ (NA, 41) wären dann die unschönen Zwischenstadien auf dem Weg in den Kommunismus billigend in Kauf zu nehmen; Stichwort Verelendungstheorie. Sonnemann nun sieht darin eine „von oben herab deduzierende Verklärung dieser Wirklichkeit“ (NA, 39), die beinahe den
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Charakter von „Theodizee“ (NA, 55) annehme; als sei der Gang der Geschichte mehr oder weniger zwangsweise einer des reinen Fortschreitens hin zum Besseren. Zumindest – so die ideologische Vorstellung – habe man den einmal erkannten Geschichtsgesetzen Folge zu leisten, wolle man jenes wissenschaftlich voraussagbare Stadium der Gesellschaft absehbar erreichen. Mit solcher „‚gesetzmäßigen‘ Anwendbarkeit“ dieser „Geschichtslogik“ (NA, 42) lassen sich dann wiederum alle möglichen Repressionsmaßnahmen legitimieren, etwa die sowjetische Niederschlagung des Prager Frühlings von ’68, die Sonnemann in der Negativen Anthropologie sichtlich umtreibt, die ihrem Selbstverständnis nach kritischen Weststudenten um ’68 allerdings erstaunlich wenig. Dem fragwürdigen und folgeschweren Gestus wissenschaftlicher Vorhersagbarkeit der sozialhistorischen Entwicklung liegt nach Sonnemanns Kritik eine falsche Geschichtsphilosophie zugrunde; eine solche nämlich, die die „Zukunft kanalisiert“, wonach die „planende Gegenwart sich ins Künftige hinein prospektiv dehnt“, was eben erst ihre angebliche „Voraussehbarkeit“ (NA, 55) ermögliche. Momente des Unvorhersagbaren und Unabsehbaren – sprich (abermals): menschlicher Spontaneität – kommen in solcher Geschichtskonzeption nicht vor. Damit aber fallen das ‚wissenschaftliche Menschenbild‘ sowie die ‚Realdialektik‘ des sozialistischen Marxismus ausgerechnet jenem Ideologem vom Naturgesetzartigen menschlicher Verhältnisse anheim, das Marx an der bürgerlichen Ökonomie so vehement bestritten hatte. Die kanalisierte Zukunft sowjetischer Provenienz entspräche damit auf eigenartige Weise jener kapitalistischen Verplanung der Zukunft, die Sonnemann als ideologische Verwendung des Perfektfuturs beschreibt.37 Gegen die sowjetmarxistische „Linear-Dialektik“ (NA, 49) bedürfe es einer Besinnung auf „revolutionäre Spontaneität“ als dem Gegengift zum „Götzen einer dogmatischen Geschichtsmechanik, dem ihr zugeordneten Fetischismus der Institutionswelt und des instituierten Begriffs“ (NA, 64). Bevor mithin der Marxismus – oder besser: die durch die Marxisten verstellten Einsichten von Marx – das gesellschaftstheoretische Korrektiv zur solipsistischen Psychoanalyse abgeben kann, müsse seine „anthropologische Schwäche, ein gerade zu undialektisches, nämlich äußerlich-endgültiges, statisches Menschenbild“ (NA, 57) korrigiert werden. Ein Element solcher Korrektur ist für Sonnemann die nicht schon konformistisch zurechtgestutzte Triebtheorie, wonach die Menschen in einer tatsächlich dialektischen Geschichtsauffassung nicht allein als rationale Akteure mit leicht durchschaubaren Klasseninteressen betrachtet werden dürften. Auch das Psychische, die innere Natur der Menschen, ist als mit Gesellschaft vermittelt zu begreifen, etwa wenn es um die „Verinnerlichung von Herrschaftsverhältnissen“38 in den Individuen geht. Sehr treffend bringt Christoph Türcke diesen Gedanken Sonnemanns auf den Punkt, wenn er schreibt, dass Letzterer so „dem Doppelskandal des 20. Jahrhunderts an den Nerv“ komme:
37Siehe
oben, Kapitel 5. „Hegel und Freud“, S. 400.
38Sonnemann:
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„jener psychosozialen Verhärtung, die dafür sorgt, daß der Umwälzungsbedürftigkeit der modernen Gesellschaft in den Bedürftigen kein angemessenes Bedürfnis entspricht“.39 Erst in dieser gedanklichen Wendung und Erweiterung, die auch das menschliche Innenleben mitberücksichtigt, wäre mit der Marxschen Gesellschaftstheorie dem unzulänglichen Bezug der Psychoanalyse aufs Gesellschaftliche wie Geschichtliche zu begegnen, das Dogmatische an beiden Theorien also wechselseitig zu brechen. So zumindest sieht es Sonnemann: „Das Unwahre am Projektionismus, psychologistischen Solipsismus, unterliegt der Marxschen Ideologiekritik, so wie das Unfreie am historischen Notwendigkeitsglauben der marxistischen Lehre, der das Menschliche manipulieren will, der Mechanismuskritik Freuds unterliegt.“ (NA, 91)
Und: „Wie Marx nicht begriff, daß die Wurzeln der Ideologiebildung über historische Klassenlagen hinaus in einen zeitlosen40 Selbstverhärtungstrieb, Institutionstrieb, des Menschen hinunterreichen, der sich mit je gegebenen Verhältnissen, die seiner Trägheit schmeicheln, identifiziert, so begriff seinerseits Freud […] seine fruchtbare Entdeckung der psychischen Mechanismen, die selbst keineswegs spekulativ, sondern menschlich täglich wahrnehmbar sind, nicht. Mit ihrer Herkunft aus eingeschliffener Selbstobjektivation übersah er deren eigenen Status als Verinnerlichung sozialer Verhältnisse, deren sie von vornherein isolierender, weitgehend inhumaner Gesamtcharakter die Person, die sich in ihnen findet, tendenziell schon zum Autismus verführt.“ (NA, 92 f.)
In der gegenseitigen Kritik von Psychoanalyse und Marxismus, den Negationen ihrer jeweiligen Einseitigkeiten, scheint jene von Sonnemann geforderte, vielfache Vermittlung auf; eine Vermittlung von Individuum und Gesellschaft, von Natur und Geschichte, sofern beide Theorieansätze „allem Begriffsstarren und Scheinspekulativen der je andern Seite kritisch ins Wort fielen“.41 Gegen den Marxismus rettete sich dergestalt „Marxens Ideenmotiv, die Zukunft zu kanalisieren, den Menschen, bisher Opfer und Objekt seiner Geschichte, zum Herren ihres Prozesses zu machen“ (NA, 95) nur zusammen mit dem „Wahre[n] an Freuds Lehre […], daß in uns fortarbeitende Vergangenheit unsere Gegenwart notwendig
39Türcke:
„Kritische Theorie und Eigensinn“, S. 44. entscheidend ist die Fußnote, die Sonnemann an ebendieser Stelle einfügt: „Der Begriff ist hier ohne seine üblichen ontologischen Assoziationen zu hören, also auch ohne das Implikat eines absoluten, unverbrüchlichen Geltens. Er verweist auf das Resistente, relativ Perennische der sich im Geschichtsprozeß charakteristisch immer wieder erneuernden Ablaufstrukturen, die von Institutionsverhärtung bestimmt waren. Insofern ein gesellschaftliches Bewußtsein, das Geschichte zu reflektieren gelernt hätte, ihn durchschauen, also in seinen Initialregungen wiedererkennen und abwehren könnte, unterläge auch dieser Trieb der Geschichte: das heißt, es müßte in deren Fortgang, wenn es überhaupt noch einen geben soll, zu einer Auflösung der Tendenz kommen.“ NA, 92. 41Sonnemann: „Hegel und Freud“, S. 407. 40Durchaus
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verfälschen muß, außer Vergegenwärtigung dessen, was am sorgfältigsten an ihr verdeckt ist, tritt ein“ (NA, 96). Ihrer selbst Herr werden könnte die Menschheit aber nur dann, wenn sie ihr eigenes Triebleben – die Natur im Menschen – nicht als blinden Widersacher von Geschichte begriffe, wonach fortschrittliche Entwicklung der Menschheit allein ihre Befreiung aus der Natur bedeutete; stattdessen müsste auch die durch gesellschaftlichen Zwang gezügelte, zurechtgestutzte und verstümmelte innere Natur, das in ihr liegende Spontaneitätspotential, durch Änderung der Gesellschaft befreit werden; Befreiung also auch zur Natur.42 Das allerdings meint alles andere als jenes berüchtigte ‚Zurück zur Natur‘. Zwar liegt im menschlichen Triebleben ein Freiheitspotential, aber: „Rehabilitierung menschlicher Naturwüchsigkeit heißt sich steigernde Reflexion, nicht sich aufgebende.“ (NA, 99) Also erinnerte, vergegenwärtigte Natur. Diese Perspektive aufs Verhältnis von Psyche und Gesellschaft scheint nun aber mit der Daseinsanalyse, die ja gewissermaßen Sonnemanns Einstieg in die Psychologie war, schwerlich vereinbar. Denn der negativ-anthropologischen Ausrichtung entsprechend gibt es kein unhintergehbares und ursprüngliches, erstes Fundament für solche Theorie. Weder bietet sich eine als unverstellt beschworene Natur hierfür an, noch aber eine sich aufs mythische Sein versteigende Existentialontologie. So versteht Sonnemann in der Negativen Anthropologie das daseinstherapeutische Kreisen ums Sein, resp. die therapeutisch gewendete Kategorie vom ‚In-der-Welt-Sein‘, als ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit der realen Welt. Nicht nur sei jene Kategorie „pleonastisch, Chiffre für eine Tautologie“ (NA, 111), da ‚Welt‘ als Begriff stets auch Immanenz meint, nämlich die der weltlichen Existenz. Mehr noch erfasse die Daseinsanalyse mit ihrem Gestus der „Herauspräparierungen der Weisen des In-der-Welt-Seins […] die Welt so als Neutrum, unbeschriebenes Blatt“ (NA, 112). Unbeschrieben aber ist dies Blatt ganz und gar nicht. In Verschränkung der Anliegen von Marx und Freud sind gerade die Prägungen und Spuren von Realgeschichte sowohl in der Psyche der Einzelnen als auch in der sozialen Welt aufzusuchen und auszudeuten. Mit solch „psychohistorischer“43 Perspektive, so Sonnemanns Hoffnung, käme man den Ursachen für menschliches Leiden näher als durch die Behauptung, am Ende sei das Leiden immer produziert durch eine anthropologisch invariante Angst vor dem Nichts.
42Auch
diesem Gedanken liegt Sonnemanns These zugrunde, dass Freiheit schon in der Natur angelegt sei: „In der Tat kann man dann […] im Bewußtsein die Selbstverneinung, in ihr selbst begründete Emanzipation von Natur sehen“ es ist aber zu bedenken, „daß dieses von keine Befreiung der geistbestimmten Menschen aus ihr meint, deren Motiv Schönrederei bleiben muß, wo es in emanziptorischer Praxis nicht sich selbst bereits verifiziert: Natur vorerst in ihnen befreit, die sie mitsamt dem Geist, auf den sie angewiesen und dessen Anlage sie selbst ist, verschandeln.“ NA, 243. – In diesem Sinne beschreibt dann auch Peter Warsitz mit Sonnemann „Vernunft als Wahrnehmung des mythischen, widersprüchlichen, triebhaften Gegenpols des Logos, Vernunft als subversive Solidarität mit dem Unverfügbaren“; Warsitz: „Vernunft als spontan fügende“, S. 55. 43Sonnemann: Die Einübung des Ungehorsams in Deutschland, S. 42.
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Sonnemanns Psychohistorie als Sprachanalyse Apropos, Angst vor dem Nichts: Das Ohrenthema – ‚Ruf des Seins‘ und ‚Schweigen des Nichts‘ – aus dem ersten Unterkapitel wurde am Beginn des letzten noch einmal aufgenommen, jedoch sogleich wieder liegengelassen. Hier nun sei es ausgeführt, in einer Variation allerdings, die tatsächlich dessen Verwandlung bedeutet, in Richtung einer aufklärenden Sozialkritik des Themas, das mithin der Daseinsanalyse entflieht und schon stark auf Sonnemanns späte Reflexionen zum Hören hindeutet. Es mag modellhaft dafür einstehen, wie bestimmte Denkmotive, die in Sonnemanns früher Sprache der Existenzphilosophie unklar, raunend, dunkel und unaufgeklärt bleiben, in seinen späteren Texten aufgeklärt und als erinnerte (dadurch veränderte) gerettet werden für ein nun dialektisches Projekt. Somit werden diese Motive, selbst noch die der Rationalität inkommensurablen, nicht einfach dem Irrationalismus preisgegeben, sondern der Vernunft und dem Denken zugeführt.44 Mehr noch als solche Motive übernimmt Sonnemann aus dem Umkreis von Existence and Therapy allerdings spezifische Verfahrensweisen der Psychotherapie bzw. -analyse, insbesondere das – für therapeutische Lehrbücher genauso wie für die Theoriebildung übliche – Prinzip der Fallstudien. An entscheidenden Stellen sowohl in Existence and Therapy als auch im kurzen Aufsatz zur Daseinsanalyse schildert Sonnemann Passagen aus von ihm selbst geleiteten Therapiesitzungen.45 Von solchen Einzelfällen soll jedoch nicht nur aufs Allgemeine extrapoliert werden, vielmehr zeichnet sich überhaupt erst am konkreten Fall, an seinen Häufungen zum Beispiel, eine allgemeine Tendenz ab. Welchen Stellenwert solche (sozialen) Einzelfallbetrachtungen gerade für die Negative Anthropologie besitzen, wurde oben in Kapitel 12 dargestellt. Dass hierbei auch die für die therapeutische Situation sehr bedeutsame Fähigkeit des genauen Zuhörens gefragt ist, verdeutlicht ein Aufsatz Sonnemanns, der wohl einen der entscheidenden Übergänge zwischen den frühen und den späteren Arbeiten markiert, wobei der Bruch mit der Daseinsanalyse hier schon so gut wie vollzogen zu sein scheint, sich allenfalls noch leise Nachklänge der Seinsphilosophie vernehmen lassen. Genannter Aufsatz erscheint 1957 im Merkur und reflektiert einige Erfahrungen aus Sonnemanns letzten Jahren im amerikanischen Exil. Unter dem Titel „Die Glücksdressur. Ein Phänomen der Managergesellschaft“46 befasst er sich in 44Darin
erweist sich die Nähe von Sonnemanns Philosophie zu derjenigen Adornos; siehe beispielsweise Adorno: Einführung in die Dialektik, S. 63: „Auf der anderen Seite hat das, was man im allgemeinen ‚Irrationalismus‘ zu nennen pflegt, auch sein Wahrheitsmoment. Es ist der Versuch, immer wieder im Denken das zur Geltung zu bringen, was durch das Denken abgeschnitten, was durch die naturbeherrschende und sich selbst beherrschende Vernunft von der Erfahrung des Wirklichen verlorengeht, also gewissermaßen [der Versuch,] in der Philosophie Rechnung zu tragen den Opfern des Aufklärungsprozesses.“ 45Vgl. ET, 353–380; sowie Sonnemann: „Daseinsanalyse“, Schriften Bd. 2, S. 466–483. 46Ulrich Sonnemann: „Die Glücksdressur. Ein Phänomen der Managergesellschaft“ [1957], in: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche, hg. von Paul Fiebig, Stuttgart 1995, S. 25–39.
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gleichermaßen sprach- wie ideologiekritischer Manier mit einem Buch, das im Umfeld der einflussreichen protestantischen Marble Collegiat Church in Manhattan entstand. 1952 hatte deren Reverend, Norman Vincent Peal, es veröffentlicht mit dem vielsagenden Titel The Power of Positive Thinking (Die Macht positiven Denkens). Zur Rubrik der Ratgeberliteratur für persönliches Wohlbefinden gehörend, liefert Peals Buch eine Anleitung zur „Technik der psychologischen Selbsthilfe“.47 In vulgärpsychologischem Vokabular etwa, das auch Anleihen bei der popularisierten Psychoanalyse nimmt, fordere es seine Leser dazu auf, täglich mehrfach einen „erbauliche[n] Bibel- oder Gebetsspruch“ zu wiederholen, „bis er ‚das Unbewußte konditioniert hat‘, und das ist nun der Glaube“, der dem Reverend vorschwebt.48 So aber gerate Glaube zur Psychotechnik und zum human engineering, entsprechend sei Peal eher ein „Seelentechniker“49 als ein Theologe. Sonnemanns Beschreibung zufolge lässt dieser Prediger als Technokrat denn auch den spiritistischen Zauber evangelikaler Erneuerungsbewegungen vermissen: „Der Mann zitiert das Wort Gottes, verkündet es aber nicht, sondern übersetzt es in einen etwas verwaschenen halbintellektuellen Großstadtjargon.“50 Dieser Jargon sei die nüchterne Sprache von Sachlichkeit und Business, eine Sprache der „Inventarwelt der Fakten“ sowie der „Zähl- und Meßbarkeit“, in welche die „Divinität also zurückgeschmuggelt“ und in der „das Übersinnliche beschworen“ werden muss, anstatt im Wort und als Wort zu erscheinen.51 Dem gesellschaftlichen Milieu, für das Peal mit seiner Gemeinde steht, ist der Positivismus zur neuen Religion geworden. An Peals Sprache wird das kenntlich, vor allem an seiner Art des Sprechens, die Sonnemann hier genau beschreibt: „etwas Indirektes und Abstraktes, viel weniger behend als der gedruckte Text, kennzeichnet Tonfall und Sprechstil, doch gewinnt eben dies, da es genau auf ihre Vorstellung von dem Wissenschaftlichen, diesem allein schließlich Glaubwürdigen, antwortet, die Zuhörer“.52
Unter diesen Zuhörern sind vor allem junge Manager, „sogenannte executives, also leitende Angestellte“,53 die sich Peals Motivationsstrategien für die eigene Karriere zunutze machen wollen. Peals Buch sei insofern auch Reaktion auf ein spezifisches Bedürfnis sogenannter Führungskräfte; es ist Effekt seines „Hineinhorchen[s]“ in diese Menschen, „ein Horchen auf Vorgänge außerhalb der Schall-
47Sonnemann:
„Die Glücksdressur“, S. 29. „Die Glücksdressur“, S. 30. 49Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 30. 50Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 26. 51Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 27. 52Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 33. 53Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 26. 48Sonnemann:
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grenzen der publicity“.54 Dem Reverend zeigen sich diese Leute nämlich als „heimlich Verzweifelte“,55 unglücklich trotz ihres ökonomischen Erfolges, darum ihn um Glücksbeschwörung und Anleitung zu positivem Denken ersuchend: „Der Menschentypus dieser Schicht ist in Amerika jetzt am unglücklichsten. Die ökonomische Sicherheit, worin er existiert, befreit ihn, wie die Legion der Psychotherapeuten seit längerem weiß, nicht von Angst und Schuld, sondern macht diese namenloser, unheimlicher und stummer.“56
Warum dem so ist, erfährt nun auch Sonnemann, indem er einigen Exemplaren dieses Typus’ genauestens zuhört; allerdings nicht in der Absicht, gleichfalls erbaulich auf sie einzuwirken, sondern als ein Therapeut, der seine leidenden Patienten zunächst zu kritischer Selbstreflexion zu ermutigen gedenkt. In den Formulierungen des Aufsatzes bleibt es zwar etwas vage, doch lässt sich zwischen den Zeilen recht deutlich herauslesen, dass Sonnemann anonymisiert aus eigener Therapeuthenerfahrung erzählt, wenn er von einem „Management-Novizen“ berichtet, der „sich mit allem, was er ist, und sei es das Privateste, dem Betrieb wie einem Orden“ überantwortet habe.57 Nicht nur verfügt das Unternehmen über einen betriebseigenen Psychologen, dem wohl insbesondere die Aufgabe eines Motivationstrainers zukommt; auch werden den Trainees ausführliche Vorschriften in Hinblick auf ihre Freizeitgestaltung gemacht. Doch bleibt das Ausufern der Arbeitsanforderungen auf das ganze Leben der Angestellten keineswegs eine äußerliche Angelegenheit. Sonnemanns Patient scheint so sehr mit seinem Job und dem Unternehmen identifiziert, dass ihm sein Leiden an solchen Arbeitsverhältnissen als eine rein subjektive Unzulänglichkeit vorkommt: „der Fehler muß wohl im Funktionsbetrieb der Emotionen liegen, deren Reparatur der Patient wie eine Zahnextraktion erwartet; daß das Leiden einen Sinn hat, daß es recht, daß es überhaupt eine Meinung haben könnte, kann er nicht einsehen, denn er selber hat keine.“58
Der ‚Sinn‘ dieses Leidens ist aber kein metaphysischer, sondern ein negativer: Er ist der psychische wie somatische Widerstand gegen den Versuch, noch die letzten Reservate des Funktionslosen der Arbeitswelt einzuverleiben. Entsprechend der vulgärpsychologischen Tendenz, sozialkonformes Verhalten für gesund, „Opposition für psychisch anomal“,59 also krank zu halten, erfährt dieser Patient sein psychosomatisches Widerstreben gegen Arbeit und Betrieb jedoch als bedrohliche Distanzierung von Letzterem. Auf den Vorschlag des Therapeuten
54Sonnemann:
„Die Glücksdressur“, S. 25. „Die Glücksdressur“, S. 29. 56Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 26 f. 57Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 34 f. 58Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 35. 59Sonnemann: „Die Glücksdressur“, S. 34. 55Sonnemann:
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(also Sonnemanns), sich doch versuchsweise den unzumutbaren Anforderungen der Firma zumindest dadurch zu entziehen, dass man heimlich eine Kritik oder Satire gegen sie schreiben könne, reagiert der als Werbetexter arbeitende Patient ablehnend, denn „es könnte ihn seiner Beschäftigung entfremden, sie ihn also schließlich kosten“.60 Die hier indirekt aufscheinende Therapiemaxime des praktizierenden Seelenarztes Sonnemann wäre wohl entsprechend, solche Leidenszustände nicht einfach mit Medizin oder mit der Behandlung von Verhaltensweisen zum Schweigen zu bringen; ihnen ist vielmehr allererst eine Stimme zu geben: der Einspruch gegen den geregelten und geordneten, dabei unerträglich gängelnden Betriebsablauf soll gerade nicht therapeutisch betäubt als vielmehr provoziert werden – Widerrede gegen den „Verlust des Menschseins überhaupt, die Herrschaft des reinen, inneren wie äußeren, Betriebs“.61 Vorstellbar wäre es, dass solche Betriebsstörung unter existentialistischen Vorzeichen in Eigentlichkeitssprache postuliert würde. In einer Fallstudie mit ganz ähnlichem Konflikt gelangte Sonnemann in Existence and Therapy (wie oben beschrieben) noch zur Lösung, dass der Patient zum authentischen Ich zu finden, sich also vom oberflächlichen ‚Man‘ solcher Verhältnisse zu verabschieden habe. Dass jener Rekurs auf die Eigentlichkeit, einigermaßen undialektisch, im Effekt ebenso der Motivationsbeschwörung dienen könnte wie Peals Power of Positive Thinking, wurde bereits beschrieben. Im Aufsatz „Die Glückdressur“ findet sich solche Empfehlung zur Authentizität nicht mehr. Gegen den Betrieb hilft weniger die Eigentlichkeit als vielmehr kritische Distanz und ein aufmerksames Sensorium, um überhaupt wahrzunehmen, was das Leiden verursacht, ja wie genau sich dieses Leiden äußert. Als wären sie seufzende und knirschende, Widerspruch gegen die Verfügungsgewalt des Betriebs leistende Stimmen, verschaffen sich im Leiden somatische und emotive, triebhafte Impulse einen Ausdruck, gerade weil sie in ihrer Entfaltung schmerzhaft gehemmt sind. Auf sie sollen Therapeut und Patient die Aufmerksamkeit richten, ihnen genau zuhören. Gelingen kann ihnen das nur, wenn sie die trügerischen Glaubenssätze der subjektvereinnahmenden Ökonomie, ihre Durchhalteparolen und Motivationsformeln, sprachkritisch entschlüsseln und damit entzaubern, sich so aus ihrem Bann befreien. Erst dann ließen sich die Leiden tatsächlich kurieren. Das aber kann Therapie nicht alleine leisten; als kritische drängt und nötigt sie insofern zur Gesellschaftstheorie, weil sie die leidenden Individuen ansonsten in ihrer gesellschaftlich bedingten Sprachlosigkeit beließe. An anderer Stelle schreibt
60Sonnemann:
„Die Glücksdressur“, S. 36. „Die Glücksdressur“, S. 39. Das Bild der Arbeitswelt, welches Sonnemann in jenem Aufsatz für die 1950er für das Milieu der ‚Führungskräfte‘ zeichnete, scheint sich seitdem rapide breitgemacht, das Modell der Manager unter neoliberalen Vorzeichen verallgemeinert zu haben. Schrieb Sonnemann damals noch, die „Arbeiter haben es da besser. Das Gewerkschaftswesen bietet wenigstens eine Gegenautomatik“ (ebd., S. 34) zur Einverleibung in den Betrieb, so dürfte heute bei weitaus mehr Arbeitsverhältnissen eine alle Lebensbereiche tangierende Identifizierung mit dem Job der Standard sein.
61Sonnemann:
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Sonnemann entsprechend: „Ein Leiden, dem Selbsterkenntnis verwehrt ist, wird selber zu einem an diesem Verwehrtsein von Selbsterkenntnis“.62 Mit dieser Perspektive ist Sonnemanns Untersuchung des Psychischen im Gebiet der Kritischen Theorie angelangt, insbesondere in deren Verschränkung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse. Durchaus erwähnenswert in diesem Zusammenhang, dass es „Die Glücksdressur“ ist, deren Lektüre Adorno dazu veranlasste, den Kontakt zum gerade erst nach Deutschland zurückgekehrten Sonnemann aufzunehmen. In einem Brief vom 10. Juli 1957 schreibt Ersterer, auf den soeben im Merkur veröffentlichten Aufsatz bezugnehmend: „Die Zusammenhänge, die Sie berühren, haben mich seit vielen Jahren beschäftigt, und die Verkehrung von Mitteln in Zwecke ist eines der zentralen Themen meiner kritischen Analysen gewesen. Vielleicht stellt sich zwischen uns ein Kontakt her. Schriftstellerisch und sachlich bin ich von Ihrer Arbeit gleich impressioniert, wie denn beides überhaupt nicht sich trennen läßt.“63
Nicht nur kam dieser Kontakt dann tatsächlich zustande, es ergab sich auch eine gewisse Konvergenz der Arbeiten beider, nicht zuletzt bezüglich einer bestimmten Hellhörigkeit und eines feinen Gespürs in Sachen Sprachkritik. Ähnlich wie beispielsweise Adornos Jargon der Eigentlichkeit untersucht Sonnemann in negativ anthropologischer Absicht, welche Verhaltens- und Bewusstseinsstrukturen sich in den Menschen sedimentiert haben (Vgl. NA, 24). So finden auch im Sprachverhalten, wie es etwa im Merkur-Aufsatz von 1957 analysiert wird, Bewusstsein und Unbewusstes, individuelle und kollektive Erfahrungen ihren Ausdruck, werden internalisierte gesellschaftliche Strukturen ablesbar. Sprache muss demnach auch verstanden und gelesen werden als ein Sediment von „Druckzuständen der Gesellschaft […], die sich anthropologisiert: als eine zweite Natur in den Menschen verinnerlicht“ (IsO, 398) haben. Der Prozess solcher Verinnerlichung ist vermittelt über die soziale Wirklichkeit, etwa die Produktionsverhältnisse und Einrichtungen der Ökonomie. Allerdings – und hier widerspricht Sonnemann der dogmatischen materialistischen Lehre, insbesondere in ihrer sowjetischen Lesart – sollte man eine solche Theorie der Verinnerlichung nicht verwechseln mit einer einfachen Ableitungsthese. Die ökonomischen Strukturen, auf die in der materialistischen Orthodoxie das gesellschaftliche Sein zusammengeschrumpft wird, nezessisieren für Sonnemann keineswegs einfach das Bewusstsein und das ihm korrespondierende Verhalten sowie die Sprache. Zu berücksichtigen sind gerade hier auch die Strebungen und Regungen menschlicher Natur (der zweiten wie der ersten), um an sprachlichen Phänomenen etwas über den Zustand von Bewusstsein und Gesellschaft in Erfahrung zu bringen. Damit wird Sprache, insbesondere in ihrem somatischen Moment, Gegenstand negativ-anthropologischer Analyse.
62Ulrich
Sonnemann: „Monade und Polis. Zur Selbstkritik der Psychoanalyse“ [1972], in: Schriften Bd. 3, S. 421–467, hier S. 432. – Vgl. hierzu auch Heinze: ‚Brechen, abspiegeln, versteinern, verwandeln‘, S. 64 f. 63Adorno, Sonnemann: „Briefwechsel 1957–1969“, S. 169.
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Um solche Analyse leisten zu können, um also die Widersprüche und Antagonismen der menschlichen Realität zu Bewusstsein zu bringen und damit bestenfalls bearbeitbar zu machen, bedarf es auch eines zuhörenden Sensoriums für die triebhaften Regungen, verinnerlichten Zwänge und Konflikte in Sprache. Solches Hinhören aufs verschlungene Sprachleben ist eine wesentliche Verfahrensweise der psychoanalytischen Therapie. Lässt sich zeigen, dass Sonnemanns Interesse am Akustischen in diesem Sinne auch aus der therapeutischen Situation herrührt, sein Spätwerk mithin ganz entscheidende Impulse aus seiner frühen Tätigkeit als Psychotherapeut erfahren hat?
Zuhören, Aussprechen und Durcharbeiten
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„Dagegen hat das Ohr die Möglichkeit, diverse akustische Eindrücke autonom nebeneinander bestehen zu lassen. Es kennt keine Koordinaten, weder ‚unten‘ noch ‚oben‘. Jetzt zum Beispiel? Was kann man hören in diesem Moment? In diesem Café hier? Menschen, die sich unterhalten. Teetassen, klapperndes Geschirr und raschelndes Zeitungspapier. In Wahrheit kann man Atmosphäre hören. Das ausgehende 20. Jahrhundert. Zeit. Fluidum. Sonntagabend. Als würde dieses Gesicht der Wirklichkeit mit seiner abgewandten Seite gegenüberstehen. Ein Um-die-Ecke-Schauen. Auf diese Weise nimmt es wahr, was sich unbeobachtet wähnt. Das, was mit einer Beobachtung nicht gerechnet hat.“ (Gisela von Wysocki: „Das Ohr. Das unbewußte Gesicht“, S. 123.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_15
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15 Zuhören, Aussprechen und Durcharbeiten
Zum Grundverständnis der Psychoanalyse rechnet, dass es sich bei ihr um eine Redekur handelt. Als „talking cure“ auf den Begriff gebracht hat das eine Patientin aus den Anfangsjahren der Psychoanalyse, namentlich Bertha von Pappenheim, die als Anna O. in Josef Breuers und Sigmund Freuds Studie über Hysterie (1895) einging.1 Therapie verzichtet demnach (weitestgehend) auf medikamentöse Behandlung und als entwickelte Psychoanalyse dann auch auf Techniken wie Hypnose, die zwar kurzfristige Erfolge zeitigen mag, jedoch nicht genauso tiefgreifend wirkt wie tatsächliche Redebehandlung. Diese nämlich will die Leiden der Patienten durchs Gespräch kurieren; wobei in Freuds späterer Psychoanalyse nicht so sehr, wie noch in der kathartischen Methode, das Abreagieren gehemmter Triebimpulse durchs Aussprechen im Vordergrund steht,2 als vielmehr das aufklärende Moment versprachlichter Erinnerung, wobei solches Besprechen und Zuhören freilich einen immensen Zeitaufwand bedeutet, sich eventuell über Jahre hinzieht. Entscheidend jedenfalls, dass Sprache hier das Therapeutikum darstellt. „Es findet erst einmal und zuletzt ein Austausch von Worten statt. Sonst nichts. Es wird gesprochen und gehört. Dabei geht es auch um das Ungehörte, das Unerhörte.“3 Die Gesprächssituation der psychoanalytischen Therapie verdient daher besondere Aufmerksamkeit: Wie genau müssen Zuhören und Reden charakterisiert sein, wenn sie probates Mittel zur Linderung von seelischem (gar somatischem) Leiden sein wollen, wenn sie also den ungehörten wie unerhörten Widersprüchen im Innenleben nachspüren und sie entwirren sollen? Vorweg scheint eins immerhin klar: Im Modus des Verhörs müsste psychoanalytische Therapie fehlschlagen.4 Selbst wenn sie durch dergestalt zudringliches Befragen gewisse Einsichten in die (Leidens-) Geschichte der Patienten befördern würde, wären solche Einsichten nutzlos, da sie den Patienten äußerlich und fremd blieben. Nur durch ein wechselseitiges Gespräch, also Zwiesprache, und beiderseitiges, geteiltes Zuhören kann sie sich ihrem Ziel nähern: Zustände seelischen Leidens zu bewältigen. Allerdings, darauf wird zurückzukommen sein, ist solches Zwiegespräch gerade nicht symmetrisch aufgebaut, die Aufgabe analytischer Therapeuten stärker die des Zuhörens als die des Redens. Wenn das Ressentiment gegen Psychoanalyse diese nur als Seeleninspektion mit normierendem Anspruch begreift, übersieht es genau jenen Aspekt. Zumindest kritisch reflektierte Psychoanalyse will die Patienten nicht entblößen und zu sozial konformen Subjekten
1Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie [1895], Frankfurt a. M. 1991, S. 42–66, insb. S. 50. Vgl. hierzu auch König: „Hermeneutik des Leibes und Vorrang des Objekts“, S. 136. 2Vgl. Breuer und Freud: Studien über Hysterie, S. 32. 3Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 22. 4So allerdings beschreibt es, seiner die Psychoanalyse generell ablehnenden Position gemäß, Didier Eribon: Der Psychoanalyse entkommen, Wien 2017, S. 130 f.: „Das psychologische (psychiatrische) Wissen verfährt, indem es in der Kindheit der Individuen stöbert, um dort den Ursprung ihrer ‚Anomalien‘ ausfindig zu machen und durch das Mittel des Verhörs ihre verborgene Wahrheit zu entdecken. […] Die Psyche, mit der sich die Psychoanalyse beschäftigt, ist ein Produkt der Disziplinargesellschaft, und die Psychoanalyse ist ein Rädchen der disziplinären Technologie.“
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machen. Durchs therapeutische Gespräch sollen diese vielmehr ein gewisses Maß an Autonomie gewinnen.5 Naheliegend wäre es nun, bei Sonnemann als einem eminenten Theoretiker des Hörens, der gleichzeitig lange selber als Therapeut tätig war, systematische Ausführungen und Überlegungen hierüber zu finden. Doch merkwürdigerweise ist das gerade nicht der Fall. Wenig existiert in Sonnemanns Schriften zu jenem Zusammenhang, kaum mehr als dasjenige, was implizit im Aufsatz „Die Glücksdressur“ angedeutet ist und in manch später Bemerkung nur kurz anklingt.6 Gut möglich, dass Sonnemann mit der in Aussicht gestellten, systematischen Ausführung seines Spätwerks diese Lücke geschlossen hätte. Auch wenn das Spekulation bleiben muss, da es dazu nicht mehr kam, so sind immerhin in Sonnemanns Kasseler Umfeld einige Arbeiten zu diesem Thema entstanden, die sich in psychoanalytischer Absicht ausdrücklich jene Thesen von der Okulartyrannis, die das aufmerksame Zuhören verstellt, sowie von der zu leistenden Rehabilitierung des Hörens zu eigen machen.7 Die Leerstelle in Sonnemanns eigenem Œuvre ermöglicht vorliegenden Untersuchungen derweil den Rekurs auf eine andere Quelle, um die Bedeutung der Psychoanalyse als akustischer Praxis für eine kritische Theorie des Hörens zu ermessen: Es ist das Buch eines Schülers und Assistenten Sigmund Freuds, das schon seinem Titel nach in besonderer Weise das Interesse hierfür weckt, namentlich Theodor Reiks 1948 im amerikanischen Original erschienene, knapp dreißig Jahre später in deutscher Übersetzung publizierte Studie Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers.8 Wenn sich auch Sonnemanns Denken vermutlich nicht mit allem in Übereinstimmung bringen lässt, was an
5Genau das scheint Eribons Ablehnung der Psychoanalyse zu übersehen. Der Aspekt des Leidens und des Kurierens von selbigem kommt nicht vor in seinem „Manifest“ (Eribon: Der Psychoanalyse entkommen, S. 16). So aber wird die durchaus berechtigte Kritik an gewissen Tendenzen einiger psychoanalytischer Strömungen, Therapie als eine Anpassung an den sozialen Konformismus misszuverstehen, überdeckt von einer allzu pauschalen und vorurteilsbelasteten Generalkritik. Vgl. zu diesem Themenkomplex beispielsweise Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17), „17. Die Übertragung“ [1917], in: Studienausgabe Bd. I, S. 415–430. 6So schreibt Sonnemann etwa in einem späten Aufsatz, dass „im ganzen Spektrum der Disziplinen nur in jener einzigen Wissenschaft erst gehört wird, die uns der Rebell gegen die prätendierte Vernunftherrschaft eines alles kontrollieren wollenden Ich vermachte, der Sigmund Freud war. In der Psychoanalyse wird ja vor allem zugehört“; Ulrich Sonnemann: „Ein Apparatschick, der Ich heißt. Über die Angewiesenheit prätendierter Vernunftherrschaft auf zelotische Abwertungen des Heterogenen zur Unvernunft“ [1987], in: Manfred Pohlen (Hg.): Die heimliche Gewalt des Konformismus, Marburg 1991, S. 104–122, hier S. 110. Für die Bereitstellung des Textes danke ich Paul Fiebig sehr herzlich. Zu dieser Textstelle vgl. auch Küchenhoff: „Sonnemanns Kritik an und mit der Psychoanalyse – heute“, S. 84. 7Vgl. die bereits zitierten Arbeiten von Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“; sowie Küchenhoff und Warsitz: Labyrinthe des Ohrs. 8Theodor Reik: Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers [1948], Hamburg 1976.
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psychoanalytischer Lehre in jenem Buch verhandelt wird, so ergeben sich dennoch teils erstaunliche Parallelen zu Sonnemanns Überlegungen zum ‚dritten Ohr‘ resp. zur geforderten Hellhörigkeit.9 Zudem lässt sich Sonnemanns Theorie mithilfe des Buches erweitern und stärker noch zur Psychoanalyse hin öffnen, als es selbst in der Negativen Anthropologie den Anschein macht. Dies sei im Folgenden versucht.
„Hören mit dem dritten Ohr“ Vielfach ist bemerkt worden, dass die therapeutische Szenerie der Psychoanalyse – die berüchtigte Couch etwa und die Sitzposition des Analytikers, der aus dem Sichtfeld der Patienten verschwindet – vor allem das Hinhören auf die sprachlich- akustischen Phänomene in dieser Situation befördert.10 Genau in diesem Sachverhalt, der eigentümlichen „Atmosphäre“11 bzw. Stimmung der analytischen Therapie, nimmt Theodor Reiks Buch einen entscheidenden Ausgangspunkt. So diene die bequeme Liegeposition des Patienten auf der Couch dessen Entspannung. Während aber der Patient, derart liegend, möglichst unangestrengt und frei sprechen soll, sitzt der Analytiker hinter ihm und „hört meistens schweigend zu“.12 Der atmosphärische Entkrampfungszustand soll den Zugang zum Unbewussten erleichtern: „Der Patient kommt von der Straße mit ihren Geräuschen und Stimmen herein und gleitet langsam in eine Atmosphäre, in der die Außenwelt ohne Bedeutung ist, wo er nur hört, was seine inneren Stimmen sagen: Erinnerungen und Erlebnisse, Regungen und Gedanken.“13
Die derart geschaffene Stimmung ist eine sozusagen „magische“14, denn sie hilft, dass „Wut und Liebe, Haß und Zärtlichkeit […] freimütig ausgedrückt“ werden, sodass „Gedanken, die vor dem Tageslicht zurückschrecken, […] aus ihren
9Ob
Sonnemann Theodor Reiks Buch bekannt war, lässt sich nicht rekonstruieren. Zitate oder sonstige Hinweise auf Reiks Buch konnten in Sonnemanns Texten nicht ermittelt werden. Auch befindet sich kein Exemplar des Buches – weder in der amerikanischen Originalausgabe von 1947 noch in der deutschen Übersetzung von 1976 – in der Nachlassbibliothek Sonnemanns. Für die Auskunft hierüber danke ich Brigitte Sonnemann sehr herzlich. Adorno hingegen hat sich einmal sehr emphatisch über Reiks Buch geäußert; siehe unten, Fußnote 42 (Kapitel 15). 10So konstatiert etwa Pazzini: „In der ‚Technik‘, im setting der Psychoanalyse kommt es durch den Gebrauch der Couch zur Betonung des Hörens und des Sprechens. Der Analytiker, insbesondere dessen Gesicht, kann vom Analysanden nicht gesehen werden, der Analytiker sieht den Analysanden nur sehr eingeschränkt“; Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 22. Vgl. auch Küchenhoff und Warsitz: Labyrinthe des Ohrs, S. 161 f. 11Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 117. 12Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 117. 13Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 119. 14Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 118.
„Hören mit dem dritten Ohr“
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erstecken“ hervorkriechen können.15 Ganz aufs Hören ausgerichtet, tritt in der V psychoanalytischen Situation die optisch-visuell konnotierte Beobachtungsfunktion des Bewusstseins von Patient wie Therapeut in den Hintergrund. Der so einsetzende Dämmerzustand eröffnet den Zugang zu Dingen, die ‚bei Lichte betrachtet‘ schnell als Irrationalismen abgetan oder als Tabuiertes schamhaft verdeckt, damit in ihrer Bedeutsamkeit aber verkannt und übersehen werden mögen. Was dagegen helfen kann, das Verborgene aus seinen Verstecken hervorzurufen, ist nicht selten ein flüchtiges Wort aus dem Mund des Patienten oder des Analytikers, welches mit den durch es angestoßenen Assoziationen in die Gefilde des Unbewussten leitet. Solche Äußerungen gleichen dann – genau das macht die Situation quasi magisch – einem „Zauberwort“16, das etwas aufzuschließen, Dinge zu entwirren oder allererst zu finden hilft.17 Entscheidend für die so beschriebene, magische Wirkung von Worten ist derweil, dass sie nicht als Heilmittel von außen an die Patienten herangetragen, sondern (durchs Gespräch vermittelt) von ihnen selbst gefunden werden. So spielt also neben dem Sprechen laut Reik das Schweigen eine fast noch bedeutsamere Rolle auf der psychoanalytischen Bühne, denn es gibt hier „die Macht des Wortes und die Macht des Schweigens“.18 Schweigen nimmt hierbei die Bedeutung von „Ruhe und Abstand“19 an, aus der und durch welchen der Patient bestenfalls selber den Weg hinausfindet aus den verworrenen und widersprüchlichen,
15Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 120. Hören mit dem dritten Ohr, S. 136. 17Nach Freud hat die Fähigkeit von Worten, etwas ins Bewusstsein rufen zu können, gerade mit ihrer akustischen Dimension zu tun. So schreibt Freud in Das Ich und das Es: „Wortvorstellungen sind Erinnerungsreste, sie waren einmal Wahrnehmungen und können wie alle Erinnerungsreste wieder bewußt werden. […] Die Wortreste stammen wesentlich von akustischen Wahrnehmungen ab, so daß hierdurch gleichsam ein besonderer Sinnesursprung für das System Vbw [= Vorbewusstsein] gegeben ist. […] Das Wort ist doch eigentlich der Erinnerungsrest des gehörten Wortes. […] Das Denken in Bildern ist also ein nur sehr unvollkommenes Bewußtwerden. Es steht auch irgendwie den unbewußten Vorgängen näher als das Denken in Worten und ist unzweifelhaft onto- wie phylogenetisch älter als dieses.“ Sigmund Freud: Das Ich und das Es [1923], in: Studienausgabe Bd. III, S. 273–330, hier S. 289 f. – Die besondere Bedeutung, die Freud akustisch-verbaler Wahrnehmungen für das „System Vbw“ beimisst, bedeutet für den (therapeutischen) Erinnerungsprozess, dass das akustisch Erinnerte leichter als visuell Assoziiertes in Sprache übersetzt werden und damit tatsächlich bewusst gemacht werden kann. Allerdings gilt es, wie Anne Eusterschulte schreibt, zugleich zu bedenken: „Die Bedeutsamkeit optisch-visueller Wahrnehmungen als materiales Medium von Erinnerungsresten wird damit keineswegs in Abrede gestellt. Das ‚Denken in Bildern‘, d. h. die Bindung an sinnlich-visuelle Objekte (Schauplätze, Gegenstände, Materialitäten, Alltagsepisoden) ist ursprünglicher. Und doch ist es erst der sekundäre Prozess, das ‚Denken in Worten‘ bzw. Wortvorstellungen, mit dem die ‚Relationen aber, die den Gedanken besonders kennzeichnen‘ [Freud] in einen sprachlich gefassten Bewusstwerdungsprozess übergehen. Mit der Versprachlichung werden Sinnzusammenhänge gestiftet, narrative Beziehungsgefüge.“ Eusterschulte: „Leibliches Hören“, S. 92 f. 18Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 138. 19Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 139. 16Reik:
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Leid produzierenden Zuständen im Innern. Folgendes Bild findet Reik für dieses Schweigen: „In der Nähe des Vancouver Island im Pazifik gibt es einen merkwürdigen Ort, der ‚Zone of Silence‘ heißt. Hier sind viele Schiffe an den Felsen zerschellt und liegen auf dem Meeresgrund. Keine Sirene ist laut genug, die Kapitäne zu warnen. Kein Ton von außen kann in diese Zone des Schweigens eindringen, die sich über viele Meilen erstreckt. Ein Schiff ist in diesem Gebiet von den Geräuschen der Außenwelt abgeschlossen. Was wir das verdrängte Material im Seelenleben nennen, kann mit dieser ‚Zone des Schweigens‘ verglichen werden. Die Psychoanalyse markiert den ersten Durchbruch zu diesem Gebiet. Wenn der Patient über sich selbst redet, erreichen die ersten, kaum wahrnehmbaren Töne die Zone des Schweigens.“20
Ein erstaunliches Bild, das Reik hier beschreibt, zumal in ihm Motive regelrecht kollidieren, die für vorliegende Untersuchungen von größter Relevanz sind: Zwar scheint Reik mit den ‚Sirenen‘ nun die Warnsignale sendenden Lautsprecher zu meinen, doch ergibt sich hier angesichts der ‚Zone des Schweigens‘ sogleich die Assoziation zum Kafkaschen Schweigen der Sirenen, also jenen mythischen Wesen, von denen oben in Kapitel 4 die Rede war. Dort, und implizit noch einmal in Kapitel 10, wurde ihr Schweigen auch als das Vergessen der inneren Natur der Menschen im Zeitalter beinahe totaler Naturbeherrschung gedeutet. In ähnlicher Weise dürfte die Stille, von der Reik hier spricht, zu dechiffrieren sein als verschüttete oder verdrängte Regung des Trieblebens, dessen Äußerungen die ‚kaum wahrnehmbaren Töne‘ wieder hervorrufen und damit hörbar machen sollen. Doch geht es gerade nicht darum, dies Schweigen in redseliger Erzähllaune gleich wieder zu überdecken. Der Stille wäre auch als solcher zunächst überhaupt Aufmerksamkeit – ein Ohr – zu schenken. Ein Gedankenmotiv und zugleich ein praktischer Ratschlag, wie er ebenfalls in Sonnemanns Existence and Therapy an entscheidender Stelle vorkommt,21 in Reiks Variante für Sonnemanns spätere Arbeiten jedoch wesentlich tragfähiger zu sein scheint. Denn was die auf den kontrollierenden wie musternden Blick verzichtende Gesprächssituation, die auch vor der Stille und dem Schweigen nicht zurückschreckt, zu befördern gedenkt, ist ein Wahrnehmen dessen, „was sich unbeobachtet wähnt. Das, was mit einer Beobachtung nicht gerechnet hat“22 – wie es im vorangestellten Motto Gisela von Wysockis heißt. Anders aber als in Sonnemanns früher Version dieses Themas ist dasjenige, was sich der Beobachtung zu entziehen strebt, nicht das abgründige Nichts. Stattdessen sind es die biographischen Ursachen der seelischen Leiden der Patienten, die sich gleichwohl indirekt und verstellt einen Ausdruck verschaffen. Therapeutisches Ziel wäre schließlich auch, in jenen Äußerungen des Unbewussten einen „Ariadne-Faden“ zu finden, der aus dem „Gefühlslabyrinth
20Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 140. oben, Kapitel 14 (Von der Daseinsanalyse zur Gesellschaftstheorie). 22Gisela von Wysocki: „Das Ohr. Das unbewußte Gesicht“, in: Dies.: Fremde Bühnen. Mitteilungen über das menschliche Gesicht, Hamburg 1995, S. 118–124, hier S. 123. 21Siehe
„Hören mit dem dritten Ohr“
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hinausführte“23 — wohlgemerkt nachdem der Weg ins Labyrinth hinein zuerst durch das Therapiegespräch gelang, der Bann der Stille mithin bereits durchbrochen wurde. Um solche Fäden in die Hand zu bekommen, bedient sich die analytische Therapie der Techniken von gleichschwebender Aufmerksamkeit24 und freier Assoziation25. Dabei werden die Gesprächsfragmente nicht allein auf ihre logische Konsistenz hin durchmustert, denn es gilt, ein analytisches Gespür zu entwickeln für Gefühlsäußerungen und Gedanken, die sich blanker Rationalität nicht gänzlich fügen. Für diese spezifische Form der Hellhörigkeit übernimmt Reik von Nietzsche den Begriff des dritten Ohres (wie er auch in diesen Untersuchungen in Kapitel 6 vorgestellt wurde): „Der Analytiker hört nicht nur, was in den Worten ist, er hört auch, was die Worte nicht sagen. Er hört mit dem ‚dritten Ohr‘, wobei er nicht nur hört, was der Patient spricht, sondern auch seine eigenen inneren Stimmen, was aus seinen eigenen unbewußten Tiefen auftaucht.“26
Gleichschwebend ist solche Aufmerksamkeit mithin insofern, als sie sich gleichermaßen auf bewusste wie unbewusste Vorgänge richtet, und zwar sowohl im Patienten als auch im Analytiker selber; und indem sie sich gegen vorschnelle Hierarchisierung der Inhalte verwehrt. Diese „Fähigkeit des feinen Hörens“27 besteht nämlich gerade darin, „die Botschaften zu empfangen und zu entziffern, die vom Unbewußten eines Menschen zu dem eines anderen gehen“28. Neben dem Informationsgehalt der Worte hat das Gesagte noch andere Dimensionen, die einem nur auf Rationalitätskriterien und logische Bedeutungen gerichteten Bewusstsein entgehen. Es sind die körperlichen Spuren im Gesprochenen, die individuelle Färbung der Stimme, der in charakteristischer Weise einzigartige, situativ variierende Tonfall des Sprechens; die Hemmungen und Holprigkeiten der Erzählstimme etwa, in denen traumatische Erfahrungen nachhallend hörbar werden mögen; stockender oder verkrampfter Atem, der den Redefluss beschwerlich macht, bisweilen gar – den Hals zuschnürend – unterbricht;
23Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 228. wie nach Freud der Analytiker dem Analysanden zuhören soll: Er soll kein Element von dessen Äußerungen a priori bevorzugen, was einschließt, daß er seine eigene unbewußte Aktivität so frei wie möglich funktionieren läßt und die Motivationen unterbricht, die gewöhnlich die Aufmerksamkeit lenken. Diese technische Empfehlung bildet das Gegenstück zu der dem Analysanden vorgeschlagenen Regel der freien Assoziation.“ Laplanche, Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 169. 25„Methode, die darin besteht, ohne Aussonderung alles zu sagen, was einem einfällt, sei es von einem vorgegebenen Element aus (Wort, Zahl, Traumbild, irgendeine Vorstellung), sei es spontan.“ Laplanche, Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 77. 26Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 142 f. 27Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 113. 28Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 112. 24„Art,
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gleichsam die akustisch vernehmbaren Narben seelischer Verletzungen, denen Therapie ihre zuhörende Aufmerksamkeit schenkt.29 Erst wenn das Gehör sich seinem unbewussten Gespür und seinen Intuitionen für solche Regungen in der Klangsphäre der gesprochenen Worte öffnet, kann es auch „[p]sychische Daten“ wie diese wahrnehmen, und zwar „durch unbewußtes Hören, Sehen, Fühlen und Riechen und des weiteren durch unbewußte Beobachtung“, auf diese Weise dann auch „Stimmodulierungen – Tonhöhe, Timbre, Sprechrhythmus“ zum Gegenstand der Aufmerksamkeit machen.30 Unbewusste Wahrnehmung entziffert so die unter den angeblich eindeutigen Informationsgehalten versteckten Bedeutungen sprachlicher Äußerungen. Im Hörmodell 2 wurde unter anderem der Versuch unternommen, ein wenig dessen zu notieren, was sich an unbewusstem und nicht selten fatal verdrängtem, sodann repressiv entsublimiertem Triebleben in alltäglichen Redeäußerungen wahrnehmen lässt. Nachzuprüfen wäre die Hypothese, ob sich in solcher gegen Andere gerichteten Verbalgewalt nicht auch etwas von jenem verinnerlichten sozialen Zwang und Druck äußert, von dem Sonnemann verschiedentlich spricht; ob diese Gewaltäußerungen insofern nicht auch der Ausdruck einer gegen sich selbst gerichteten, fatal und unaufgeklärt nach außen abwehrend projizierten Gewalt sind — ohne dabei jedoch den Anteil subjektiver Verantwortung solcher Gewalttätigkeit in Abrede zu stellen. Das allerdings könnte nur eine größer angelegte Studie prüfen, weswegen die These hier im Konjunktiv bleibt, obiges Hörmodell (2) als subjektive Erfahrungsnotiz aus der wissenschaftlichen Darstellung sozusagen herausfällt … Bei all diesen Überlegungen zur Vielschichtigkeit von Sprache ist jedoch zugleich zu bedenken, dass ihre unbewusste Dimension durchaus nicht in gänzlich obskurer Tiefe verborgen liegt,31 sich vielmehr inmitten der sprachlichen Oberfläche befindet, mithin gelesen werden kann und nicht nur erahnt. Gleichwohl lassen sich die unbewussten Elemente eben nicht leicht wahrnehmen, weil die bewussten Gehalte der Sprache sie gewöhnlich zu übertönen geneigt sind. Und doch lässt sich mit einer geschulten Hellhörigkeit für das Unscheinbare und Ungehörte dergestalt Unbewusstes sukzessive ins Bewusstsein heben. So formuliert Reik: „Es kann gezeigt werden, daß der Analytiker wie sein Patient Dinge weiß, ohne zu wissen, daß sie sie wissen [sic]. Die Stimme, die in ihm spricht, spricht leise, aber
29Vgl.
Eusterschulte: „Leibliches Hören“; sowie, direkt auf Sonnemann bezogen, Maria Schafstedde: „Ethik als kritisches Denken und Anspruch des Anderen. Zu Ulrich Sonnemann und Emmanuel Levinas“, in: Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 178–184, hier S. 178: „Die Unmittelbarkeit ist demnach ein Ausdruck dafür, daß die verletzenden Erfahrungen in der Sprache, die sie benennt, spürbar und hörbar werden, nicht im Sinne eines Klageliedes, sondern als Erkenntnisanspruch.“ 30Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 154. 31Bei Reik klingt es manchmal etwas danach; vgl. Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 165. Zur Kritik hieran siehe auch Küchenhoff, Warsitz: Labyrinthe des Ohrs, S. 153–155.
„Hören mit dem dritten Ohr“
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d erjenige, welcher mit dem dritten Ohr hört, hört auch, was fast lautlos ausgedrückt wird, was pianissimo gesagt wird.“32
(Erinnert sei hier an das Hörmodell 1 und den Hinweis auf die leisen Stellen von Musik, die gerade durchs pianissimo zum genauen Zuhören nötigen.) Wenn oftmals auch extrem leise, so teilen sich die „unbewußten Regungen“33 jedoch selber in Sprache und in ihrer eigenen Sprache mit. Diese Sprache des Unbewussten kann in die Sprache des Bewussten (in bewusste Sprache also) übersetzt werden: die noch unverstandenen Verlautbarungen des Trieblebens, welche sich bis dahin nur irgendwie bemerkbar machten, melden einen eigenen Anspruch an, in verständliche Sprache überführt und damit in gewisser Weise aufgeklärt zu werden. Versprachlichung bis dato unkenntlicher seelischer Zusammenhänge ist insofern ein Grundanliegen der Psychoanalyse.34 Reik schreibt entsprechend: „Unbewußte Kräfte kündigen sich an, lassen auf ihre Existenz und ihre Wirkung schließen; aber sie sind stumm, oder ihre Sprache ist nicht diejenige, welche wir sprechen. Ihr Wesen und ihre Ziele muß man erraten und in Worte übersetzen – gedacht oder ausgesprochen –, weil nur das, was sich in Begriffen fassen lässt, bewußt werden kann. […] Nur geäußerte oder gedachte Worte können unbewußte Ereignisse, Gefühle und Gedanken erwecken. Die Psychoanalyse will das ans Licht bringen, was in den Tiefen schlummert.“35
Dennoch bedeutet, wie gesagt, der Tiefgang solcher Therapie nicht, die sprachliche wie lebensweltliche Oberfläche fürs analytische Anliegen geringzuschätzen. Doch nicht nur den Widerspruch zwischen Oberflächenphänomenen und Tiefenstruktur vermag das dritte Ohr der Psychoanalyse wahrzunehmen, ohne ihn vorschnell und einseitig aufzulösen. Zudem kommen laut Reik in der analytischen Hellhörigkeit gerade die widerstreitenden immanenten Bestrebungen von Therapie zur Geltung, einerseits dem je konkreten Fall in seiner Individualität gerecht zu werden, andererseits mittels allgemeiner Diagnosekategorien der leidgeplagten Lage einigermaßen Herr zu werden. Zwar sind solche in der psychoanalytischen Theorie zusammengetragenen Kategorien wie beispielsweise die der Hysterie und die dazugehörigen Erklärungsmodelle notwendig, um eine Behandlung seelischen Leidens in Aussicht stellen zu können. Doch sollte tunlichst vermieden werden, derartige Kategorien zu (mit Sonnemann gesprochen) Oberbegrifflichkeiten erstarren zu lassen, unter welche die jeweiligen Fälle dann leichtfertig subsumiert werden könnten. Denn diese Begriffe sind laut Reik „Pauschalisierungen, die nur eine sehr allgemeine Bedeutung und einen sehr allgemeinen Wert haben. Sie vermitteln nicht die spezielle Note eines besonderen Falles, und es gelingt
32Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 166. Ebd. heißt es: „In der Psychoanalyse lernen wir, dieses Material zu sammeln, das nicht bewußt ist, aber bewußt werden muß“. 33Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 430. 34Vgl. König: „Hermeneutik des Leibes und der Vorrang des Objekts“, S. 133 f. 35Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 503.
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ihnen nicht, den individuellen Nuancen und Schattierungen gerecht zu werden.“36 Ein mit dem geflissentlich auswendig gelernten, psychoanalytischen Vokabular hantierender Seelenarzt kann einen Fall mit seinem „Maul […] schlucken, aber der Fall bleibt unverdaut“37, solange die Anwendung von Kategorien als eine „mechanische Angelegenheit“38 fungiert. Was man so erhalte, sei „keine Klarheit“, sondern „bloß Kategorien, Begriffe und Etiketten“.39 Anstatt also die Krankheitsfälle lediglich mit vorgefertigten und unbeweglichen Diagnoseschemata zu identifizieren, muss man in der Analyse die Fälle „mit den Fingerspitzen“40 behandeln, also mit dem denkbar feinfühligsten Körperteil. Therapeutische Hellhörigkeit wäre demnach die Fähigkeit, in jedem konkreten Fall „Züge […] zu sehen, die in keinem Buch zu finden sind, hinter den Worten Dinge zu hören, die andere nicht hören, die nur für das dritte Ohr hörbar sind.“41 Das aber bedeutet, einer gewissen (theoretischen wie therapeutischen) Spontaneität mächtig zu sein. Ein Wort, das merkwürdigerweise bei Reik nicht vorkommt, bei Sonnemann aber genau für solche Zusammenhänge einsteht, wo mit einfallsreicher Sprachgewandtheit die jeweiligen Sachverhalte in sie treffende Worte gekleidet und damit verständlich werden sollen (siehe Kapitel 11 und 12). Gelingen kann dies nur, wenn man sich nicht allein in auswendigen Schemata und Kategorien bewegt. Stattdessen wäre eine Sprache für die Phänomene von jedem Denken spontan, mithin von ihm selbst, zu finden, müssten Analytiker und schließlich dann auch die Patienten also in diesem Sinne lernen, „selbst zu denken“.42 36Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 203. Hören mit dem dritten Ohr, S. 203. 38Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 232. 39Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 204. 40Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 203. 41Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 208. 42Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 384. Ebd. schreibt Reik mit Blick auf seine Lehrzeit bei Freud: „Uns wurden die Mechanismen unbewußter Vorgänge nicht eingepaukt, sondern wir wurden aufgefordert, sie selbst zu entdecken.“ – Vgl. hierzu auch Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 23: „Wenn der Analytiker vorwiegend hört, dann horcht er auf das Echo. Die Kunst besteht darin, nicht zu gehorchen, im Sinne von ‚folgsam sein‘, also darin, nicht etwas bestimmtes hören zu müssen und dementsprechend zu handeln, sondern Unbestimmtes zu hören. Der Analytiker ist am besten, wenn er indisponiert ist, also unverfügbar, wenn er nicht das hören kann, was an ihn gerichtet ist, den Anspruch, sondern das Begehren, das ja unverfügbar ist, sein eigenes wie das des Analysanden. Der wohl disponierte Analytiker ist oder wird ein Hysteriker. Er gehorcht, er ist leicht reizbar.“ – Auf die erkenntnistheoretische bzw. -kritische Dimension dieser und anderer Überlegungen aus Reiks Buch hat übrigens Adorno hingewiesen: „[D]er Gedanke etwa, daß eine Erkenntnis, um wahr zu sein, eines Zusatzes an Subjektivität bedarf und nicht etwa eines Abstrichs an Subjektivität, ist etwas, was dieser gewöhnlichen, traditionellen Wissenschaftslogik ganz fremd ist. […] Es ist zum Beispiel so, daß im Bereich einer bestimmten Art von Psychologie, […] es sich herausgestellt hat, daß Sie eigentlich nur soviel von dem Unbewußten des anderen Menschen erfahren können, wie Sie von Ihrem eigenen Unbewußten in den Erkenntnisakt mit hereingaben. Der bedeutende Psychoanalytiker Reik hat in einem Buch ‚Listening with the Third Ear‘ geradezu diese These bis ins einzelne dargelegt und gesagt, daß nicht dadurch, daß ich mich objektiviere, mich ausschalte, mich abschalte, psychologisches 37Reik:
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Implizit allerdings taucht der begriffliche Gehalt von Spontaneität bei Reik in einem Zusammenhang auf, der auf einen anderen Aspekt des Wortes hindeutet. Eine gewisse Spontaneität seitens des Analytikers sei nämlich insbesondere dann gefragt, wenn es darum gehe, „den richtigen Moment“ innerhalb der Therapie zu treffen, „eine Deutung mitzuteilen“,43 also den Patienten mittels analytischer Mutmaßungen auf eine Fährte zu locken, welche die Entwirrung von und den Ausweg aus seelischen Verstrickungen bedeuten könnte. Das nun passt genauestens zu Nietzsches Begriff vom dritten Ohr, welcher ebenfalls einen Sinn für den passenden Moment meint; ein Sprachgefühl also für den richtigen Rhythmus, das treffende Tempo und die glückende Betonung. Laut Nietzsche nämlich besteht die Kunst des dritten Ohres darin, einen Satz richtig zu lesen, „sofern der Satz verstanden sein will! Ein Mißverständnis für sein Tempo z. B.: Und der Satz ist mißverstanden.“44
Ganz ähnlich aber konzipiert Reik das Verstehen im analytischen Prozess. Ein zu früh geäußertes Deutungsangebot im Verlauf der Therapie kann das sich hervorwagende Unbewusste zurückschrecken, den gerade eröffneten Zugang zum Verborgenen durch Überinterpretation erneut verstellen. Eine zu spät geäußerte Mutmaßung dagegen mag ebenfalls fehlgehen, nicht mehr zünden oder treffen, weil der Augenblick ihrer sinnerschließenden Wirkung schon vertan ist.45 Hier wie dort geht es also um die gelingende Rhythmik und Akzentuierung von Sprache, bei Nietzsche im Lesen von Sätzen, bei Reik im Versprachlichen unbewusster Vorgänge: die Dinge müssen an der richtigen Stelle verbunden und richtig betont
erständnis möglich ist, sondern daß ich gewissermaßen um so mehr an das Objekt heranV komme, je mehr ich von mir selber in das Objekt, wenn Sie so wollen, hereingebe, woraus eben folgt, daß gar kein so starres, fixes Verhältnis von Subjekt und Objekt herrscht, wie es nach der gängigen Wissenschaftslehre vorausgesetzt wird, so daß also die Eliminierung des sogenannten subjektiven Faktors gar keine solche Selbstverständlichkeit ist, wie man im allgemeinen meint. Und was ich Ihnen hier als ein, Sie können sagen: sehr beschränktes wissenschaftliches Gebiet angedeutet habe, davon will es mir allerdings scheinen, als ob es in einem viel weiteren und radikaleren Umfang gelte als dem, den ich Ihnen bezeichnet habe, das heißt nämlich: daß ich das Wesen der Gesellschaft oder überhaupt irgend etwas Wesentliches nicht etwa dann erkennen kann, wenn ich dabei von mir als einem Erkennenden möglichst absehe, sondern wenn ich alles, was ich selber an Innervationen, an Regungen, an Willen, an Intentionen habe, in diese Erkenntnis mit hereingebe.“ Theodor W. Adorno: Erkenntnistheorie [1957/58], Nachgelassene Schriften IV/1, Berlin 2018, S. 35. Für den Hinweis auf diese Textstelle danke ich Michael Schwarz sehr herzlich. 43Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 384. 44Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 189 (§ 246.); siehe hierzu außerdem oben, Kapitel 6 (Drittes Ohr). 45Vgl. Reik: Hören mit dem dritten Ohr, Kapitel „Der psychologisch richtige Moment“, S. 385– 392.
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werden, um Sinn ergeben, verstanden werden zu können.46 Um solche neuralgischen Punkte im (sprachlichen) Rhythmus zu finden, bedarf es nun eben einer gewissen Spontaneität – und zwar auch im Alltagsverständnis des Wortes: Statt im Lesen oder bei der versprachlichenden Analyse nach eingeschliffenem Ablaufmuster zu verfahren, müsste es einen freieren, auf den momentanen Vollzug gerichteten, gleichsam impulsiven Umgang mit Sprache geben. (Ganz so, wie es in der alltagssprachlichen Formulierung anklingt: ‚spontan fällt mir dazu Folgendes ein …‘) Nach Reik erhält der Analytiker die Maßgabe, solch treffende Augenblicke abzupassen, aus der Rhythmik und Idiomatik der jeweiligen Sprache des Unbewussten.47 „Ohne es zu wollen oder zu wissen, nimmt der Analytiker den Rhythmus der Triebregungen seines Patienten wahr“48 — und eben hier kommt es darauf an, spontan den glückenden Moment zu treffen. Was aus Reiks an Nietzsche geschulter Aufmerksamkeit für die Rhythmik von Sprache zudem kenntlich wird, ist die Betonung eines spezifischen Sprachlebens und damit ein Interesse am Lebendigen im Denken. Recht verallgemeinernd, durchaus aber seinen Gegenstand treffend, konstatiert Reik: „Rhythmus ist eine universelle Funktion, die zu jedem Lebewesen gehört.“49 Beispielweise seien „Puls“ und „Atem“ als rhythmische Phänomene irreduzible Bestandteile des vegetativen Systems von Lebewesen; etwas davon reiche bis in den abstrakten menschlichen Geist hinein, sodass man eben auch von einem „Rhythmus im geistigen Leben“ sprechen könne.50 Demnach aber hat selbst die rationale Sprache noch ein somatisches Moment, denn: „Die Sprache […] war ursprünglich eine instinktive Äußerung. […] Ihre ursprüngliche Funktion blieb jedoch in der Modulation der Stimme, in der Intonation und in anderen Merkmalen erhalten.“51 Auf dieses Thema wird noch einmal zurückzukommen sein (Kapitel 16) und mehrfach schon wurde es angeschnitten (Kapitel 1, 6, und 7). Für den therapeutischen Prozess, das aufmerksame Zuhören mit dem dritten Ohr, bedeutet diese Überlegung derweil, dass auch das (zunächst) Unverständliche, daher vermeintlich Irrationale ein eigenes Recht in der Sprache hat und in der Analyse einen Platz finden muss. So komme es häufig genug vor, dass „Gedanken auf den ersten Blick sehr merkwürdig klingen oder daß die einzelnen Gedanken
46Walter
Benjamin übrigens bezeichnet diesen Aspekt von aufschließender Spontaneität als „Jetzt der Erkennbarkeit“; Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus [1939|1940], BGS I, S. 509–690, hier S. 682. Solch augenblickhaftes Erkennen setzt auch eine spezifische Aufmerksamkeit für die Überlagerungen und Korrespondenzen verschiedener, teils divergenter Sinnschichten im Wahrgenommenen voraus. 47„Jeder, der mehrere Jahre als Analytiker gearbeitet hat, wird bemerkt haben, daß das, was in den Mitteilungen seiner Patienten unbewußt und instinktiv ist, einem bestimmten Rhythmus folgt.“ Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 390. 48Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 391. 49Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 389. 50Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 389. 51Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 155.
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zusammen der Logik und Vernunft entbehren.“52 (Reik versteht hier unter Vernunft allerdings schon den Inbegriff von instrumenteller Rationalität, nicht ihren weiteren Begriff, wie ihn vorliegende Untersuchungen verwenden und um den es in Sonnemanns Arbeiten geht.) Die Bereitschaft, Irritationen der herkömmlichen Logik zuzulassen, und der Verzicht darauf, alle Äußerungen immer sogleich zu verstehen und mit ihnen schnell fertig zu werden, sind somit wichtige Voraussetzungen für die Psychoanalyse; mit dem Telos freilich, dass auch solche Regungen durch den analytischen Prozess hindurch einmal annäherungsweise verständlich würden. Wie Logisches und Unlogisches für das dritte Ohr der Analyse nebeneinander existieren können, ohne dass dieser Widerspruch (metaphorisch gesprochen: die Dissonanz zwischen ihnen) gleich aufgelöst (zur Konsonanz harmonisiert) werden muss, so kann auch in zeitlicher Hinsicht Widersprüchliches und Divergentes vom dritten Ohr vernommen werden. Für die Psychoanalyse, die es mit der Lebensgeschichte, der Biographie ihrer Patienten zu tun hat, sind insbesondere diejenigen zeitlichen Schichten im Innenleben bedeutsam, die als Ursprünge späterer Entwicklungen wirken, etwa traumatische Erlebnisse als Ursachen späterer Leiden. Um die Genese dieser Zustände therapeutisch entschlüsseln zu können, kommt es nach Reik nicht so sehr auf die im Bewusstsein präsenten Inhalte an. Entscheidend „beim Vermuten“ seien vielmehr „psychische Vorgänge, unbewußte Erinnerungen oder […] Gedächtnisspuren“,53 deren Fährte folgend man sich den seelischen Krankheitsursachen annähern könne. Das Gedächtnis stellt für Reik dabei ein „verdecktes und verborgenes Reservoir“54 dar, in welchem gerade das vom Bewusstsein Verdrängte als Material untergebracht ist. Nach Reiks Diktion sind demnach Gedächtnis und Erinnerung keineswegs gleichzusetzen: „Die Funktion des Gedächtnisses ist es, unsere Eindrücke zu schützen; die Erinnerung zielt auf ihre Auflösung. Im wesentlichen ist das Gedächtnis bewahrend, die Erinnerung zerstörend.“55
Ohne jene hiermit berührten Fragen zum Verhältnis von Zeit und Psyche resp. Psychoanalyse auch nur auflisten zu können, sei zumindest ein Punkt benannt, der für das Thema des Hörens von großer Relevanz ist.56 Denn ganz ähnlich wie es in erkenntnistheoretischer Hinsicht für ein ‚Denken mit den Ohren‘ keinen logischen Fehler bedeutet, von der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem auszugehen (siehe Teil I zur Transzendentalen Akustik), richtet das dritte Ohr der Psychoanalyse seine Aufmerksamkeit auf die Präsenz von nicht (mehr) Präsentem, eben jene
52Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 222. Hören mit dem dritten Ohr, S. 411. 54Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 414. 55Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 416. 56Ausführlich mit solchen Fragen befasst sich Christine Kirchhoff: Das psychoanalytische Konzept der ‚Nachträglichkeit‘. Zeit, Bedeutung und die Anfänge des Psychischen, Gießen 2009. 53Reik:
330
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Gedächtnisspuren, die vergessen und verdrängt, gleichwohl überaus wirkmächtig sind. Bestimmte Kapitel 3 unter Rekurs auf verschiedene Autoren das Gehör als den Sinn für Zeit, Geschichte und Überlieferung, so dürfte Reik in ganz ähnlicher Weise das Ohr der Psychoanalyse in besonderem Maße als ein Sensorium für die verschiedenen Zeitebenen der Psyche fassen. Was im Prozess (also in der Zeit) der Analyse in den Erzählungen der Patienten eingefangen und sprachlich bearbeitet werden soll, ist deren (Leidens-) Geschichte, die sich jedoch nur in ihrem steten Wandel fassen lässt.57 Zudem kann auf zeitlich zurückliegende (psychische) Ereignisse immer nur nachträglich Bezug genommen werden. Nachträglichkeit bedeutet in psychoanalytischer Terminologie allerdings zugleich, dass Ursachen und Ursprünge von seelischen Entwicklungen niemals unmittelbar zu erfassen sind, in ihrer späteren Präsenz vielmehr immerzu umgearbeitet und modifiziert werden; dass also „Vergangenheit und Gegenwart sich gegenseitig bestimmen, weil sich ihre Bedeutung nachträglich immer wieder neu konstituiert, was sich zeigt, wenn eine Erinnerung als Erinnerung traumatisch wirkt“,58 wie Christine Kirchhoff schreibt. In einer Fülle von Bedeutungen und Verschränkungen teilt sich nach Theodor Reiks Buch die Welt des Unbewussten dem psychoanalytisch geschulten, aufmerksamen Ohr mit. Es sind gewissermaßen die vorsprachlichen, „unbewußten Regungen“59, die danach streben, Sprache zu werden, um somit dem vom ÜberIch unmäßig gegängelten, vom Es getriebenen Ich nicht mehr als qualvoll-heteronome gegenüberzustehen. Auch derart sprachtheoretisch ließe sich die berühmte Forderung von Freud deuten: „Wo Es war soll Ich werden.“60 Wo also einmal Regungen in einer noch unverstandenen Sprache rumorten, wäre ihr Movens in bewusste Sprache zu übersetzen. Zu einem Großteil handelt Reiks Buch – wie die meisten psychoanalytischen – in diesem Sinne von den klinischen Fällen der Psyche; von solchen also, die vom sogenannten normalen oder gesunden Zustand abweichen und in denen die Verwerfungen und Widersprüche im Innenleben besonders auffällig sind. Doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit all jenen Überlegungen strukturelle Merkmale beschrieben werden, die in jeder Psyche anzutreffen sind. So zumindest fasst es die psychoanalytische Theorie in dem von Freud geprägten Begriff der Metapsychologie, wonach sich
57„Die
Hinwendung zum Hören ist gleichzeitig eine Konzentration auf einen Prozeß, auf die Zeit – Bilder, zumal Abbilder haben in ihrem totalisierenden Charakter eine Tendenz zur Augenblicklichkeit und bieten den Schein der Möglichkeit, daß man sie festhalten und die Augenblicke auf ein unverändertes Objekt wiederholen könne. Worte verklingen.“ Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 23. 58Kirchhoff: Das psychoanalytische Konzept der ‚Nachträglichkeit‘, S. 183. 59Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 430. 60In Gänze lautet die Formulierung: Die Absicht der Psychoanalyse „ist ja, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war, soll Ich werden.“ Sigmund Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1932|1933], in: Studienausgabe Bd. I, S. 516.
„Hören mit dem dritten Ohr“
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die ‚normalen‘ und die ‚klinischen‘ Fälle allein wechselseitig erhellen.61 Nicht nur sind nach zentralen Einsichten dieser Metapsychologie alle Subjekte in sich zerrissen zwischen dem nicht auflösbaren Widerspruch von Wunscherfüllung und Realitätsanpassung; laut Kirchhoff lässt sich der bei Freud eher seltene und nicht systematisch ausgearbeitete Begriff der Lebensnot für diesen Widerspruch heranziehen. Auch müsste dieser Begriff aus Perspektive der Kritischen Theorie auf seine gesellschaftliche Dimension hin befragt werden: Wo jener Riss zwischen Wunsch und Wirklichkeit allgemein Leiden zeitigt, wäre nicht allein die Psyche der Subjekte zu behandeln, müssten vielmehr ebenso die gesellschaftlichen Zustände geändert werden, die solches Leiden wesentlich verursachen. Damit aber verweist noch die vermeintlich ganz aufs Subjekt und seine individuelle Biographie gerichtete, therapeutische Situation auf Gesellschaftliches.62 Auch wenn letztgenannter Aspekt in Reiks Buch wenig Beleuchtung erhält, so lassen sich seine Überlegungen zum dritten Ohr recht mühelos erweitern zu einer sensiblen Aufnahmefähigkeit für Vorgänge im gesellschaftlich Unbewussten; ganz so wie Sonnemanns Sprachanalyse der Managergesellschaft sie präsentiert.63 Hier wie dort gilt die Aufmerksamkeit nicht zuletzt einem „Symptom, das in Symbolen, genauer Metaphern, in Sprache gebunden ist“64 und deutend dechiffriert werden kann, wobei solche Deutung sich eher den Erkenntnismodi des Hörens als denen des Sehens anvertraut, wie sie im Laufe vorliegender Untersuchungen mit Sonnemann entwickelt wurden. Kein Zufall also, wenn gleich mehrere Autoren darauf hinweisen, dass Sonnemanns Spätwerk der spezifischen Akustik der Psychoanalyse, wie sie etwa Theodor Reik beschrieb, sehr nahesteht, auch wenn dieser Punkt von Sonnemann selbst kaum ausgearbeitet wurde. Dennoch lässt sich dessen Kritik einer quantifizierenden und instrumentell-szientistischen Okulartyrannis engführen mit dem psychoanalytischen Anliegen, besonders durch das genaue Hinhören und Versprachlichen den unbewussten Leidenszuständen einen Ausdruck zu verleihen und sie dadurch bearbeitbar zu machen, statt sie medikamentös stillzustellen oder klassifizierend und verwaltend mit ihnen umzugehen. Karl Josef Pazzini schreibt ganz in diesem Sinne: „Die Psychoanalyse, jedenfalls die, die noch nicht ganz zur Medizin übergelaufen ist, legt großen Wert auf das Hören. Sie möchte damit die von Sonnemann sogenannte Okulartyrannis zumindest zeitweise suspendieren. Diese Tyrannis besteht in der Anbindung des Auges an den more geometrico und dessen Sortiermechanismen, dessen
61Vgl.
Kirchhoff: Das psychoanalytische Konzept der ‚Nachträglichkeit‘, S. 13 f. Christine Kirchhoff: „Anpassung und Unvernunft. Die Bedeutung der Lebensnot bei Freud und Adorno“, in: Christine Kirchhoff und Falko Schmieder: Freud und Adorno. Zur Urgeschichte der Moderne, Berlin 2014, S. 51–62. – Dass genau dies die Stoßrichtung von Sonnemanns gesellschaftstheoretischer Reflexion der Psychoanalyse ist (und darin etwa mit dem Programm Alfred Lorenzers konvergiert), zeigt die Arbeit von Tobias Heinze detailliert; vgl. Heinze: ‚Brechen, abspiegeln, versteinern, verwandeln‘. 63Siehe oben, Kapitel 14 (Sonnemanns Psychohistorie als Sprachanalyse). 64Pazzini: „‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 22. 62Vgl.
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Ausschließungsverfahren, ferner in der Tendenz zur Ganzheit, zur Komplettierung, zum scheinbaren Stillstand in der Zeit.“65
Und Joachim Küchenhoff sowie Peter Warsitz pflichten gewissermaßen bei, wenn sie konstatieren: „Zweifelsohne: Das psychoanalytische Setting ist eine Versuchsanordnung, die das Ohr betont. […] Damit wendet sich die Psychoanalyse gegen die in der Neuzeit progrediente Vorherrschaft des Okularen, gegen den von Ulrich Sonnemann und Kollegen denunzierten Okulozentrismus der neuzeitlichen Wissenschaftstradition“.66
Nicht Instrument sozialer Anpassung, sondern Refugium für emanzipative Strebungen müsste demnach die Psychoanalyse sein; zumindest hat sie für Sonnemann (wie oben bereits zitiert) als kritisch reflektierte ein Potential dazu, das cartesianische Welt- und Wissenschaftsbild zu unterwandern, mithin ihr Objekt (die Psyche) zugleich als Subjekt zu begreifen: „Für eine solche Verwandlung von Praxis und Theorie ineinander ist die Praxis der Psychoanalyse ihrer kaum schon ergriffenen Möglichkeit nach modellhaft, denn mit Recht setzt sie Erkenntnis als Macht an im Prozeß des Erkannten“,67 gerade weil im therapeutischen Gespräch die mythischen Mächte im Innern, die zu einem guten Teil verinnerlichte Gesellschaft sind, entzaubert werden durch den aufklärerischen Gegenzauber treffender Worte.
Atlantisches Hörmodell Entzaubern will und muss eine sozialkritisch gewendete Psychoanalyse nicht nur Verstrickungen der individuellen Psyche. Ebenso hat sie es mit gesellschaftlichen Mythen und Rätseln aufzunehmen, die, weil sie nicht hinreichend aufgeklärt sind, auf dem Bewusstsein der Menschheit als ganzer lasten und es bedrücken. Abermals erhofft sich Sonnemann vom Gehör eine besondere Aufmerksamkeit für die Spuren, Geräuschkulissen und das Lautwerden solcher Druckzustände, denn um sich „auf Unabsehbares einlassen“ zu können, werde nicht selten „die Hilfsbereitschaft des Gehörs fulminant“.68 Sonnemann schreibt dies im Umfeld seiner späten Beschäftigung mit der Atlantis-Forschung, an der er sich gewissermaßen metatheoretisch und unter anderem zusammen mit Dietmar Kamper beteiligte.69 Prima facie mag diese Passion obskur, dubios und irrational, damit alles andere
65Pazzini:
„‚Wer nicht hören will, muss fühlen‘“, S. 24. und Warsitz: Labyrinthe des Ohrs, S. 162. 67Sonnemann: „Hegel und Freud“, S. 407. 68Ulrich Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“ [Rundfunksendung, 1989], in: Schriften Bd. 1, S. 413–425, hier S. 413. 69Vgl. Ulrich Sonnemann: [„Beispiel Atlantis“], Schriften Bd. 1, S. 381–425. 66Küchenhoff
Atlantisches Hörmodell
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als aufgeklärt erscheinen. Doch ist es gerade die Dialektik dieses Irrationalen, die Sonnemann in ihrer Widersprüchlichkeit zu entfalten gedenkt. Nicht zuletzt bestünde, so jedenfalls ließe sich Sonnemanns Anliegen deuten, der Widerspruch darin, dass im Wissenschaftsbetrieb manch ein Forschungs- und Denkimpuls allzu leichtfertig als unwissenschaftlich (mithin irrational) abgestempelt und damit ausgesperrt werde, um nicht selten sehr viel später erst (als dann allerdings nobilitierter) zurückzukehren. Der Stempel des Irrationalen wird dabei zum Vorwand, sich mit dem Unangenehmen und Verunsichernden nicht beschäftigen zu müssen. Ganz so, wie es in ihrer Gründungsphase der Psychoanalyse als wissenschaftlicher Disziplin erging.70 Insofern mag der (belächelte) Atlantis-Forscher einige Ähnlichkeiten aufweisen zum Konrad, der Bernhardschen Romanfigur aus dem Kalkwerk, die bereits durch den II. Teil vorliegender Untersuchungen stichwortgebend hindurchführte. Zurückgezogen lebt Konrad (von allen bloß bei diesem seinem Nachnamen genannt) mit seiner pflegebedürftigen Frau (die Konrad genannt), in einem alten Kalkwerk, um ungestört nach jahrzehntelangem Versuch endlich seine Studie („Das Gehör“) zu Papier bringen zu können — was ihm allerdings niemals gelingt. Einer von diversen Gründen für dieses Scheitern dürfte Konrads Anspruch sein, eine derart komplexe Theorie des Gehörs vorzulegen – eine „ungeheuer schwierige, alle Augenblicke vollkommen zerbrechliche medizinisch-musikalisch-philosophisch-mathematische Arbeit!“71 –, dass er sich damit zur hergebrachten Facheinteilung ganz quer stellt. Hier jetzt will dieser Konrad, ganz im Sinne immanenter Wissenschaftskritik, mit einer seiner Tiraden noch einmal zu Wort kommen: „Es sei ja das hervorstechendste dieser Zeit, daß die Denker in ihr nicht mehr denken. Alles ein in die Millionen gehendes Heer von Hilfsarbeitern der Wissenschaft und der Geschichte. Aber sage man etwas Derartiges, setze man sich der Gefahr aus, für verrückt erklärt zu werden. Die Hellhörigkeit wie die Hellsicht stemple man immer gleich als Verrücktheit ab. Man brauche jetzt keine Hellhörer, wie man auch keine Hellseher brauche, hört einer hell oder sieht einer hell, räumt man ihn einfach weg, man sperrt ihn ein, isoliert ihn, vernichtet ihn durch Einsperrung und Isolierung. Die Gesellschaft schützt sich ununterbrochen vor den Geistesblitzen, indem sie sich ununterbrochen vor sogenannten Geisteskranken schützt. Die Gesellschaft sei nur für das dumpfe Dahindämmern, für sonst nichts. Die Leute wollen in Ruhe gelassen sein und sie hassen nichts tiefer als Gehör und Gehirn.“72
Weitaus weniger drastisch formuliert, dürfte Sonnemann wohl recht ähnliches im Sinne haben, wenn er von „Theorieverboten“ im etablierten Wissenschaftsbetrieb
70Vgl.
Ulrich Sonnemann: „Gesetz und Geschichte. Zum psychoanalytischen Erkenntnisbegriff“ [1986], in: Schriften Bd. 3, S. 518–531, hier S. 518 f.; sowie Sabine Gürtler: „Einleitung. Anagrammatisches zur Kritischen Theorie“, S. 10 f. – Das Schwanken der Psychoanalyse zwischen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftskritik findet sich übrigens auch in Theodor Reiks Hören mit dem Dritten Ohr an zahlreichen Stellen. 71Bernhard: Das Kalkwerk, S. 62. 72Bernhard: Das Kalkwerk, S. 64.
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schreibt und gegen diese darauf insistiert, auch Widersprüche und vermeintliche Verrücktheiten im wissenschaftlichen Denken zunächst einmal zuzulassen und sich ihnen mit möglichst „vorurteilsloser Offenheit“ zuzuwenden.73 Selbstverständlich darf dies nicht heißen, nun irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Verschwörungstheorien das Wort zu reden, die ja ihrerseits keineswegs vorurteilslos Argumenten offen gegenüberstehen. Nicht also lässt sich durch abstrakte Negation einem einseitigen szientistischen Rationalismus entkommen, indem man sich in eine vernunftlose Wahnwelt verrennt. Gegen den in Bernhards Roman angekreideten „Fachleutedilettantismus“74 – eine auch von Sonnemann kritisierte Tendenz arbeitsteiliger Wissenschaft, zunehmend nur noch derart spezialisierte Kleinstfragen zu behandeln, dass größere Zusammenhänge kaum mehr in den Blick geraten – gegen solchen ‚Dilettantismus‘ ist für Sonnemann keineswegs gesteigerte Unvernunft das Mittel der Wahl, hingegen gerade eine Erweiterung von Vernunft; Erweiterung auch um ihr Potential des Vernehmens, sprich Hörens; also ein Denken mit den Ohren. Sonnemann schreibt demgemäß: „Der unvernünftig eingeschränkte Vernunftbegriff, diese sich um den Hauptteil ihrer eigenen Erfahrungsbasis in spontanem Verstehen, erratender Sinnlichkeit, präziser Phantasie selbst betrügende Ratio, […] ist Prinzip eines szientifischen Spezialismus, der, gegen seine eigene Maxime, keiner nicht theoretischen Regel zu folgen, die seinen experimentellen oder sonstwie messenden Aufgabenstellungen etwa schon vorgängig wäre, nachweisbar jenem Leitspruch politischer Macht gehorcht, dem alten Teile und herrsche.“75
Aus Sonnemanns Perspektive verstellt eine allzu strikte Arbeitsteilung durchrationalisierter und ökonomisierter Wissenschaft eine tatsächliche Problembearbeitung, indem die immanenten Widersprüche der Forschungsgegenstände dadurch aus der Welt geschafft werden sollen, dass die widersprüchlichen Momente voneinander getrennt und in die Zuständigkeitsbereiche verschiedener Fakultäten geschoben werden. Solche Wissenschaft aber würde zum Instrument der Beherrschung, und zwar im Sinne einer Ruhe bewahrenden Selbstbeherrschung, die sich vom Weggeschobenen nicht mehr verunsichern lassen will. Was allerdings hat das mit Atlantis zu tun und mit dem Gehör? Sonnemann zufolge geht es bei diesem Fall um eine jener kulturellen Pseudoberuhigungen im Sinne einer Verdrängung von Traumatischem, wobei der Fall Atlantis eine gewisse Strukturähnlichkeit zu den Seelentraumata aufweise, die die Psychoanalyse mit dem Vermögen eines dritten Ohres hörbar machen will. Atlantis – also jenes sagenhafte Inselreich jenseits des Mittelmeeres, das eine frühe Zivilisation beherbergt haben soll und dann hinabsank auf den Meeresgrund durch eine
73Ulrich Sonnemann: „Theorieverbote des Wissenschaftsglaubens“ [1980], in: Schriften Bd. 1, S. 346–358, hier S. 354. 74Bernhard: Das Kalkwerk, S. 64. 75Sonnemann: „Theorieverbote des Wissenschaftsglaubens“, S. 348 f.
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Naturkatastrophe planetarischen Ausmaßes – dieses Atlantis werde „abgewehrt, konsterniertes Lächeln meist, wenn der Name fällt“, so Sonnemann:76 „Denn Atlantis wird abgewehrt wie ein Seelentrauma aus biographischer Frühe, dessen Wiederaufstieg in die Rechenschaft des Bewußtseins die Person, der es zustieß, zwar retten kann, der Instanz in ihr, die sich für ihre Identität hält, aber trotzdem nicht selten aufs lästigste als direkte Bedrohung des prekär eingespielten an ihrer Selbstbehauptung in die Quere kommt, eben abwehrt“.77
Dem kontrollierenden Ich gleich, das alles, was seiner Verfügungsmacht zu entgleiten droht, kleinzureden neigt, um hiermit rational fertig zu werden, versuche das Menschheitsbewusstsein, ein gewaltiges Trauma seiner Früh- wie Naturgeschichte beharrlich totzuschweigen. Sonnemann deutet damit die Atlantiserzählung als realhistorisches Geschehen, rückt zumindest die Möglichkeit dessen nachdrücklich in den Fokus. Ob man diese Perspektive nun teilen mag oder nicht, kann hier zunächst offenbleiben, denn wichtiger als die Frage nach der realen Existenz von Atlantis ist hier ein anderes Gedankenmotiv: Im katastrophalen Untergang einer ganzen Zivilisation erscheint Natur als eine grauenhafte Gewalt, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind, die sich also nicht bewältigen lässt. Angesichts dessen jedoch seien die Menschen weder die absoluten Herren ihrer selbst, noch aber verlief ihre Geschichte linear im Modus von Fortschritt, seien vielmehr gewaltige Rückschläge wie eben jener Untergang von Atlantis zu verzeichnen. Und ähnlich wie die individuelle Psyche mit nicht Bewältigbarem umgehe, indem sie es verdränge, spreche aus der kulturellen Atlantis-Abwehr eine menschheitsgeschichtliche „Verdrängung von Unbewältigtem“, mit der allerdings fatalen „Wahrscheinlichkeit eines Wiederholungszwangs“.78 „Der Zwang […] würde darin bestehen, das Schreckliche zu machen, weil man es nicht erträgt, daß es geschah“.79 Mithin würde Gewalt, wie sie Natur den Menschen antat, komplementär von menschlicher Seite ausgeübt werden, auch als unbewusste und ebenfalls fatale, da ganz und gar verkehrte Bewältigungsstrategie. „Atlantis als Trauma“ der Menschheit ist demnach ihr „Destruktivitätskomplex“.80 Weit davon entfernt, jenes Trauma zu verwinden, es überhaupt wahrzunehmen, erscheine die Zukunft der Menschheit entweder verhangen im Selbstmissverständnis einer „apokalyptischen Endzeit“81 oder ihre naturgeschichtliche Vergangenheit werde abstrus harmonisierend zum paradiesischen Zustand verklärt, so oder so gerate ihr „bisheriger Geschichtsweg […] in seiner vollen Länge dubios“.82 Wird das Verhältnis
76Sonnemann:
„Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 413. „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 414. 78Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 414. 79Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 415. 80Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 420. 81Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 415. 82Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 420. 77Sonnemann:
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von Gewalt, Natur und Menschheit nicht aufgeklärt, so kann gesellschaftliche Emanzipation nicht gelingen: Dies wäre, in Kürze zusammengefasst, Sonnemanns These vom Atlantis-Trauma. Wie das Ideenmotiv (Verdrängung traumatischer Erfahrungen von Naturgewalt), so entwickelt Sonnemann auch die Möglichkeiten eines gleichsam therapeutischen Umgangs mit solchem Trauma am Beispiel Atlantis. Die zarten und zunächst unscheinbar anmutenden Ansätze zu Auswegen aus dem unabsehbar destruktiven Wiederholungszwang eröffnet Sonnemann gewissermaßen performativ in jener Rundfunksendung, aus deren Skript gerade zitiert wurde. Darin entwirft er (um noch einmal den von Benjamin entliehenen Begriff zu gebrauchen) einige atlantisch-musikalische Hörmodelle, womit auf jene „Hilfsbereitschaft des Gehörs“83 zurückgekommen sei, weil eben „das Atlantisrätsel eine akustische, ja rundheraus musikalische Seite hat“84. Eine angemessenere Weise des Umgangs mit traumatischen Menschheitserfahrungen – angemessener als Abwehr und Verdrängung – verortet Sonnemann im Erinnern des Traumatischen, im Eingedenken. Dies müsste bedeuten, das Trauma klagend und trauernd überhaupt zur Geltung kommen zu lassen; mithin ihm einen Ausdruck zu verschaffen. Dabei wäre zugleich das Moment von Unverfügbarkeit an Natur bewusstzumachen und einzubekennen; nicht nur ihr lebensfreudiger und lustvoller Charakter, sondern auch ihr bisweilen zerstörerischer und überaus grausamer. Versöhnung von Mensch und Natur ist demnach ein menschheitsgeschichtlich noch ausstehendes Telos, wobei zugleich ein Bewusstsein über den naturimmanenten Widerspruch von Gewalt und Tod einerseits, Leben und Lust andererseits wachgehalten werden muss. Gelegentlich mögen sich dann im Eingedenken Antizipationen solcher Versöhnung einstellen. So ist es Musik, die – auch als Kunst der Erinnerung – dem Andenken eine Stimme verleihen, das Untergegangene als Untergegangenes zugleich ins Bewusstsein heben kann. Sonnemann fährt entsprechend fort: „Wie Atlantis getönt hat, es selber, wir wissen es nicht, nur wie es nachtönt“85, sich als Gedächtnisspur durch die Menschheitsgeschichte zieht. Konkret wie selten in seinem Werk bezieht sich Sonnemann in der Radiosendung sodann auf einzelne Stücke der Musikgeschichte, aus denen sich die Charakteristika des nachhallenden Atlantis vernehmen lassen sollen. Beispielweise erklinge aus Franz Schuberts (zu einem Text Heinrich Heines verfassten) Lied Der Atlas gleichermaßen eine „wagende Aufsässigkeit“86 des mythischen Atlas gegen vermeintes Götterschicksal, wie „das Lied selber noch reine Klage, inständige Expression einer unüberbietbar schweren Bedrücktheit“87 ertönen lasse. Ganz im Kontrast dazu spreche aus Manuel de Fallas hymnischer Oper Atlántida eine „bergende und bewahrende,
83Sonnemann:
„Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 413. „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 413. 85Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 424. 86Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 421. 87Sonnemann: „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 421. 84Sonnemann:
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um Verarbeitung von Dunklem, Versöhnung von Widersprüchen bemühte, rettenwollende Katholizität“,88 die darauf verweist, dass mit dem Atlantis-Trauma der ganze Kosmos theologischer Fragen angerissen ist. Diese und andere Modelle, die als Einspielungen in der Sendung jeweils ganz buchstäblich erklingen, sollen die fatale Verdrängung des Traumas für einen Augenblick suspendieren, dem namenlosen Wiederholungszwang mit seiner (un)menschlichen Gegengewalt Einhalt gebieten, so im Modus der Erinnerung die scheinbar apokalyptische Zeit zersetzen und stillstellen, indem die Rettung der Lebendigkeit des Untergegangenen als utopischer Hoffnungsschimmer musikalisch ertönt. So zumindest ließe sich dieser Teil aus Sonnemanns ‚atlantischer Revue‘ deuten. Die Sendung präsentiert jedoch zugleich auch das Gegenstück zu jenen flüchtigen Antizipationsmomenten. Im Klavierstück Islands aus den Glassworks des amerikanischen Minimalisten Philip Glass vernimmt Sonnemann beispielsweise die „Ungelöstheit des Atlantisrätsels, diesem Nachhaltigen, Nachhängenden einer Fatalität, die offenbar unverwunden blieb, etwas Nagendes, ein Moment von unstillbarem, eventuell katastrophischen Wiederholungszwang“.89 In der Rundfunksendung erklingt hier die Einspielung dieses Klavierstücks, das mit seinen zahllosen Repetitionen, die ohne nennenswerte Entwicklung auskommen, der Monotonie jener Meeresoberfläche angeglichen scheint, die das traumatisch versunkene Eiland (resp. den Kontinent) unter Verschluss hält. Elvira Seiwert beschreibt an anderer Stelle, was Sonnemann hier nur kurz andeutet: dass nämlich dergestalt die eigentümliche Zeit von Musik, die eine in sich gebrochene und verschränkte ist,90 damit dem bergenden und bewusstmachenden Eingedenken von Vergangenem zuträglich wäre, bei Glass nicht so recht zur Geltung kommen will. Zu hören stattdessen sei, „wie hier die Musik, ohne Interferenzen, mit der Geschichte gleichschwingt; eine Musik, die weniger einfach ist als einfältig; dabei nicht sparsam sein will, doch, sich selbst genug, nie ‚außer sich‘ gerät. Verschwenderisch, da sie ihr hörbar fremd ist, ist ihr Umgang mit der Zeit: von möglicher ‚Erfüllung‘ (zum Beispiel) nichts wissend, füllt sie sie aus allenfalls. Das aber tut sie emsig, anhaltend und ohne eine Lücke zu lassen, als ginge ihr Anspruch auf Zeitlosigkeit, Ewig- und Unendlichkeit – für alle und hier schon, auf Erden.“91
Eine solcherart „mythische Zeit“ sowie der musikalisch „reproduzierende Gehorsam gegenüber den geschichtlich produzierten Reflexen“92 gleichen nun frappant dem psychischen Mechanismus des Wiederholungszwangs. Theodor Reik bestimmte Letzteren übrigens als den „frühere[n], archaische[n] Versuch, mit unseren Erlebnissen
88Sonnemann:
„Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 422. „Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?“, S. 423 f. 90Siehe hierzu Kapitel 1–3 sowie Hörmodell 1. 91Elvira Seiwert: „Ulrich Sonnemanns musikalische Querbeetgänge. Einige ‚moments musicaux‘ nebst vorausgehender Bestimmung ihrer Zeit“, in: Class (Hg.): Un-erhörtes, S. 59–64, hier S. 63. 92Seiwert: „Ulrich Sonnemanns musikalische Querbeetgänge“, S. 63. 89Sonnemann:
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15 Zuhören, Aussprechen und Durcharbeiten
fertig zu werden. Die Tendenz zur Erinnerung ist eine spätere, geistigere Form des gleichen Versuchs.“93 Insofern wäre Musik, die auf Erinnerung und Eingedenken setzt statt auf variationslose Wiederholung, Modell für einen möglichen Ausweg aus der Wiederkehr des Traumas. Darin korrespondiert sie womöglich mit dem therapeutischen Ansatz der Psychoanalyse: Zugrunde liegt diesem Ansatz Freuds Beobachtung, dass gehemmte oder traumatisch unterdrückten Triebimpulse und die biographischen Ursachen dieser Hemmungen durch die Patienten oftmals nicht erinnert werden, vielmehr das Verdrängte agiert, also in entstellter Form wiederholt wird. Aufgabe der Analyse ist es, in gemeinsamer „Erinnerungsarbeit“94 diesen Wiederholungszwang zu durchbrechen, wobei sich diese Arbeit (für die Patienten) tatsächlich zuweilen äußerst mühevoll gestalten kann.95 Ob man nun, wie Sonnemann, der Atlantiserzählung in ihrer Buchstäblichkeit gänzlich folgen will, mithin anzunehmen geneigt ist, tatsächlich sei der Kontinent mitsamt seiner Zivilisation auf beschriebene, traumatische Weise untergegangen; oder ob man all jene von verschiedenen Kulturen tradierten Beschreibungen über atlantis- und sintflutartige Untergänge eher symbolisch versteht für nicht ganz buchstäblich zu nehmende, jedoch vergleichbar traumatische Menschheitserfahrungen (nicht nur) in der Frühgeschichte: Was an Naturkatastrophen, verheerenden Verwüstungen und Zerstörungen ohnehin vonstattengeht und als wissenschaftlich belegt gelten kann, reicht allemal hin um zu erkennen: Beinah alle menschlichen Zivilisationen bisher hatten einen fatalen Hang, das Katastrophische und Gewaltförmige an Natur kollektiv abzuwehren und zu verdrängen, damit aber Gewalt zwanghaft wiederkehren zu lassen, anstatt sich – auch durchs Aufklären und Erinnern jenes ängstigenden Zusammenhangs – von dieser Gewalt in gesellschaftlicher Anstrengung zu emanzipieren. Sonnemanns Diktum lautet entsprechend, „daß die Stimme der Angst auf alle nur erdenklichen Fälle – hinhörend, ohne zensierendes Dreinreden, nicht zu belehren ist sie, sondern zu stillen – zu dulden ist; und ihre Herrschaft auf keinen“.96 Erinnern und Durcharbeiten also statt zu verdrängen und zu wiederholen.
93Reik:
Hören mit dem dritten Ohr, S. 419. Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse (II)“ [1914], in: Studienausgabe Ergänzungsband, S. 205–215, hier S. 213. 95Vgl. Freud: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“. Zu Sonnemanns Bezugnahme auf das Theorem des Wiederholungszwangs vgl. auch Gürtler: „Einleitung. Anagrammatisches zur Kritischen Theorie“, S. 9: „Der Gedanke, daß verdrängte Angst die Wahrnehmung verschiebt und verengt, daß nur ein Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten dieser Angst kultureller Ausgangspunkt fürs Durchbrechen historischer Widerholungszwänge sein kann, führt direkt zur Psychoanalyse, auch wenn ihr Verhältnis zur Kritischen Theorie nie ein einfaches gewesen ist.“ 96Sonnemann: Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten, S. 118. 94Sigmund
Noch einmal: Eingedenken der Natur im Subjekt
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Noch einmal: Eingedenken der Natur im Subjekt In Sonnemanns atlantischem Hörmodell haben die Ohren ihren Auftritt als Sensorium fürs Dunkle und Abgründige, wobei sie gerade in dieser Eigenschaft zur Erhellung der Düsternis verhelfen mögen: Hellhörigkeit als sinnlicher Modus von Aufklärung. In ähnlichem Sinne ist das Gehör Thema der psychoanalytischen Kulturtheorie, worin sich schließlich auch eine Affinität des Psychischen zur Musik äußert, die weit über das Klischee von Musik als Stimmungskunst hinausgeht. Eher hängt diese Affinität mit dem zusammen, was Sonnemann schon in Existence and Therapy konstatiert, aber erst in seinen späteren Texten wirklich zu greifen bekommt, nämlich mit der „Weigerung der Sphäre des Musikalischen, sich der Vergegenständlichung zu unterwerfen“ (ET, 193 [Fn. 41]). Nur im Prozess ihres steten Er- wie Verklingens lässt sich Musik erfassen. Der Versuch, sie durch variationsloses und identisches Wiederholen stillzustellen, um ihrer so habhaft zu werden, sabotiert hingegen die spezifischen Potentiale musikalischer Zeit. In sehr ähnlicher Weise gilt das für die Zustände der Psyche, die sich nicht in isolierten und kategorisierten Daten festhalten lassen wollen, ja sich solchen Verhaftungsversuchen in ihrem eigenwilligen Triebleben permanent entziehen. Theodor Reik weist in seinem Buch über das therapeutische Hören vielfach darauf hin und setzt gerade deshalb auf die äußerst beweglichen Fähigkeiten eines dritten Ohres.97 Das von Sonnemann bemühte Atlantis ist untergegangen – ob realhistorisch oder symbolisch sei dahingestellt – und tönt nicht mehr. Sein Nachhall lässt sich vernehmen, aber auch sein Schweigen vom Meer, wenn bei Flaute Totenstille herrscht. Bedeutet nach oben vorgeschlagener Interpretation der Gesang der Sirenen das Glücksversprechen von Natur, erklingt in ihrem Schweigen mithin auch das Unterdrücktwerden wie Verdrängtsein von Triebregungen, so zeigt Natur im tosenden Untergang von Atlantis ihr gewaltvolles, leid- und unglückbringendes Gesicht, wird nachträglich in der ‚Zone des Schweigens‘ der Nachhall ihres verdrängt Traumatischen negativ hörbar: dasjenige was verloren ist, in den Abgrund hinuntergerissen wurde. Auf dieses wie jenes Schweigen hinzuhören, auf die beiden Seiten von Natur also, bedeutet jedoch nicht die „Heimkunft“ (ET, 186, 195, 207) des Daseins zu sich selbst, wie Sonnemann es noch in Existence and Therapy konzipierte. Nicht als positives Anthropologicum lässt sich die (innere) Natur des Menschen in ihrer schier zerrissenen Doppeldeutigkeit bestimmen. Als Produzent von Lust und Leid, als Lebenstrieb wie Destruktionskraft ist sie negativer Reflexionsbegriff für das, was sich gänzlicher Verfügbarkeit durch die Ratio und menschlicher Bearbeitung entzieht. Solch widerspruchbewusstes „Eingedenken der Natur im Subjekt“ (DdA, 64) mag sich zwar mit Dingen befassen, die zur menschlichen Früh- wie Urgeschichte zählen. Doch weiß es zum einen um das gewaltige Maß an (wenn auch begründeter) Spekulation in solchen Beschreibungen. Zum anderen will es mit Theoremen wie diesen keineswegs
97Vgl.
beispielsweise Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 73, S. 113.
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behaupten, die menschlichen Verhältnisse seien qua Natur schlechterdings unveränderbar. Schon gar nicht will dieses Eingedenken die Aufmerksamkeit von Gegenwärtigem ablenken. Das Gegenteil ist der Fall. So hat der Hinweis auf die Affinität zwischen Musik und Triebleben eine entscheidende Bedeutung für Erwägungen zur modernen Gesellschaft. Denn nicht nur für die alten Griechen war, wie wiederum Adorno schreibt, Musik zugleich die „Kundgabe des Triebs und die Instanz zu dessen Sänftigung“,98 Seelen- und Musikleben also nächstverwandt. Auch für die Erkenntnis zeitgenössischer Phänomene müssen die Wechselwirkungen zwischen Gefühlswelt (also irreduzibler, innerer Natur) und Gesellschaft in vergleichbarer Weise betrachtet werden. So wirke, wie Adorno weiter ausführt, das ‚tönende Schweigen‘ der omnipräsenten Unterhaltungsmusik an fast allen Orten heutzutage „dem Verstummen der Menschen, dem Absterben der Sprache als Ausdruck, der Unfähigkeit, sich überhaupt mitzuteilen, komplementär“.99 Solche Unterhaltungsmusik nämlich „bewohnt die Lücken des Schweigens, die sich zwischen den von Angst, Betrieb und einspruchsloser Fügsamkeit verformten Menschen bilden. Sie übernimmt allenthalben und unvermerkt die todtraurige Rolle, die ihr in der Zeit und der bestimmten Situation des stummen Films zukam. Sie wird bloß noch als Hintergrund apperzipiert. Wenn keiner mehr wirklich reden kann, dann kann gewiß keiner mehr zuhören.“100
Sicherlich ist das Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse in diesen Formulierungen drastisch zugespitzt. Erst in solcher Drastik allerdings wird deutlich, welche Verdrängungs- wie Motivationsfunktionen dem musikalischen Unterhaltungsbetrieb gegenwärtig nicht selten zukommen: Ablenkung von Zweifel und Furcht, Ansporn und Motivation zur Arbeit, Einstimmung in konformes Verhalten. Auch aufgrund ihrer rhythmischen Eingängigkeit und Variationslosigkeit eignet sich daher populäre Musik oftmals so gut zur Einstimmung in den Arbeitstakt: Sie lenkt nicht ab und stört nicht auf, ist vielmehr schon darauf angelegt, als ‚Hintergrund apperzipiert‘ zu werden. Das aber affiziert auch die Kunstmusik. Nicht zufällig dürften beispielsweise die Kompositionen von Philip Glass so häufig für Filmproduktionen genutzt werden, weil sie – als ausufernde Klangfelder – immanent eher zur atmosphärischen Hintergrundbeschallung geeignet sind, damit das Hören beruhigen und besänftigen mögen, statt es zu reizen und herauszufordern, statt also eine aus der Hörerfahrung gespeiste Reflexion anzustoßen. Wiewohl diese Tendenz wiederum nicht bedeutet, dass nicht auch Brechungen reiner Repetition mit ihr vorstellbar sind, gerade vielleicht in kontrastierender Montage mit filmischem Material. Zudem setzt nicht jeder musikalische Minimalismus auf ausufernde Gleichförmigkeit, wie eindrucksvoll einige Kompositionen Steve Reichs
98Adorno:
„Über den Fetischcharakter in der Musik“, AGS 14, S. 14. „Über den Fetischcharakter in der Musik“, AGS 14, S. 15. 100Adorno: „Über den Fetischcharakter in der Musik“, AGS 14, S. 15. 99Adorno:
Noch einmal: Eingedenken der Natur im Subjekt
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mit ihren Minimalvariationen hörbar machen. Abzutrotzen jedenfalls ist einer benebelnden musikalischen Untermalung die Aufmerksamkeit für unbewusste Regungen, beispielsweise einer übertönten Angst; gerade dann, wenn sie abgewehrt werden. Woher etwa stammt das beklommene Gefühl, wenn plötzlich die Beschallung im Supermarkt beim Einkaufen abbricht, jetzt erst ins Bewusstsein dringt, dass sie zuvor offenkundig dagewesen sein muss, man sich in solch unerwarteter Stille nun mit einem Mal recht verloren vorkommt ..? Impulsen wie diesen schenkt die Kritische Theorie ihre Aufmerksamkeit. Sie sind keine vernachlässigbaren Nebensachen, die hinter den philosophischen Fragen von Gewicht zurückbleiben. Stattdessen sind sie Erfahrungsmomente, die das Denken erst zur Philosophie antreiben. Auch aus dem Alltagsleben mit seinen unbewussten und emotiven Aspekten erhält denkender Geist seine Lebendigkeit. Gleichzeitig aber ist geistige Tätigkeit von anderen Triebfedern bewegt, erhält Impulse aus dem Denken selbst, hat ihr Leben also im lógos, aus dem das Vermögen zur Spontaneität (im kantischen Sinne) resultiert: nämlich die Erfahrungsmomente in Worte (begriffliche Kategorien) fassen zu können und dadurch ein gewisses Maß an Autonomie, Freiheit, zu erlangen.101 Auditive Erfahrung hat dann aber auch ein aktives Moment, das im aufmerksamen, gerichteten Hinhören besteht sowie in einer bloße Eindrücke überhaupt erst zur Erfahrung synthetisierenden Leistung. Trotz dieser logischen Leistung aber bleibt etwas an den Erfahrungen, das sich nicht synthetisieren lässt. Insofern gehört es zwingend zum Selbstverständnis der Kritischen Theorie dazu, dass in ihrem Denken, welches den gesellschaftlichen Verhältnissen gemäß sein will, auch solche Phänomene einen Platz finden müssen, die sich der logischen Handhabung entziehen, ohne sie als unlogische zu behandeln. So schreibt Adorno in der Negativen Dialektik: „Der Impuls, intramental und somatisch in eins, treibt über die Bewußtseinssphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung hinein; das beseelt ihren Begriff als den eines Standes, der so wenig blinde Natur wäre wie unterdrückte. Ihr Phantasma, das Vernunft von keinem Beweis kausaler Interpendenz sich verkümmern läßt, ist das einer Versöhnung von Geist und Natur.“102
Wohlgemerkt soll Vernunft von Logik sich nicht verkümmern lassen, was nicht heißt, dass Vernunft auf Logik verzichten könnte.103 Allerdings hat Logik eben auch nicht das abschließende Wort in Sachen Vernunft, kann (logische) Formalisierung von Sprache nicht als bestechender Ausweis von Vernünftigkeit gelten. Ein dialektischer Begriff von Vernunft muss entsprechend Momente von Impulsivität in Vernunft, damit auch in ihre Sprachform, aufnehmen. Zu
101Vgl.
Maxi Berger: „Vorwort“, in: Dies. (Hg.): Erfahrung und Reflexion, S. 7–14, insb. S. 7–9. Negative Dialektik, AGS 6, S. 228. 103Im Zitat oben heißt es zwar ‚Beweis kausaler Interdependenz‘. Der mit „Das Hinzutretende“ betitelte Abschnitt der Negativen Dialektik befasst sich allerdings allgemeiner mit dem Verhältnis von Logik und somatischem Moment im Bewusstsein. 102Adorno:
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solchen impulsiven Momenten gehört selbst noch die schweigende Angst vor dem Abgründigen, Dunklen und Irrationalen von Natur und deren Geschichte; sie ist zur Sprache zu bringen und aufzuklären auch, indem an naturhafte Residuen im Geistigen erinnert wird statt sie abstrakt zu negieren und zu verschweigen. Sonnemann ergänzt gewissermaßen vorangehenden Passus aus der Negativen Dialektik, indem er wiederum die dem Menschen wohlgesonnene Seite von Natur als Teil von Vernunft benennt: „Darum war an eine ganz andere, sich immer wieder erhebende Tradition eines älteren Naturverständnisses erinnert worden, das uns nicht einschließen, nicht dem Begriffenen spontan zuordnen könnte, wäre Natur ihm nicht Inbegriff eines pansubjektiven, entwerfenden Willens, der in genetischen Stufen nach Bewußtsein trachtend, Innewerdung seiner selbst: also Menschwerdung, die Erscheinungen, Individualitäten, Gestalten aus sich entläßt und hervortreibt. So ist er dem Geist, ist er der ganzen Möglichkeit von Erkenntnis, einschließlich seiner eigenen, vorgeordnet, wird er zu deren Bedingung – jede große Philosophie hat das wahrgenommen, im deutschen Idealismus sieht es nicht bloß Schelling auf der Spur Spinozas, sondern auch Hegel.“104
104Sonnemann: „Theorieverbote des Wissenschaftsglaubens“, S. 347. Das ist übrigens eine der raren Stellen in Sonnemanns Œuvre, an denen Verbindungslinien zwischen Sonnemanns eigenem Denken und Hegelschen Denkfiguren von Ersterem selbst bezeichnet werden.
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„Er ist das Ufer, wo sie landen, sind zwei Gedanken einverstanden.“ Karl Kraus: Der Reim (zitiert nach: Die Sprache, S. 323.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_16
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Ob nun allen Ernstes von einem ‚pansubjektiven Willen der Natur‘ die Rede sein kann, wie es das letzte Zitat Sonnemanns im vorangehenden Kapitel behauptet, menschliche Sprache und Vernunft sozusagen organisch aus der Natur hervorgingen, soll hier dahingestellt bleiben.1 Ein Aspekt allerdings lässt sich dieser Überlegung entnehmen, der für das Thema vorliegender Untersuchungen große Relevanz besitzt: dass nämlich auch der Sprache eine gewisse Naturhaftigkeit zu eigen ist, sie selbst so etwas wie einen Organismus darstellt, möglicherweise also ein eigenes Triebleben hat. Ein solches ließe sich vielleicht analog zur musikphilosophischen Auffassung vom ‚Triebleben der Klänge‘ beschreiben, über das sich Adorno in Rekurs auf Schönberg verschiedentlich äußert.2 Dieser Theorie zufolge besteht das Tonmaterial nicht einfach aus im Grunde beliebig kombinierbaren Intervallverhältnissen, wonach die Töne allenfalls auf Grundlage mathematisch-logischer oder anderer formaler Regeln kompositorisch organisiert würden. Vielmehr folgen die Klänge, jenseits berechenbarer Regeln, in ihrem jeweiligen Umfeld zudem spezifischen „Impulsen“ und einer gewissen „Schwerkraft“, eben ihrem „Triebleben“.3 Entsprechend muss das (kompositorische) Ohr auch auf solche eigenwilligen Strebungen innerhalb klanglicher Gebilde hinhören, will es seinem Material gerecht werden. Die gelungene Entfaltung der Klänge zu Kompositionen bezieht ihre Maßgaben insofern auch aus den ‚Bedürfnissen‘ und Erfordernissen des musikalischen Materials, die sich in jenen Impulsen und Schwerkräften mitteilen, und nicht allein aus der mit den Klängen operierenden Verfügungsgewalt der Komponisten. Die Formulierung vom musikalischen Triebleben geht derweil auf Ernst Kurth und seine musikpsychologischen Studien zurück. Seinem Buch Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘ liegt eine Musikauffassung zugrunde, welche die „freitreibenden und gebundenen Kräfte“ musikalischer Werke „durchwegs in ihrem Zusammenhang mit den seelischen Triebkräften des ganzen eigentümlichen Zeitempfindens erfaßt und überall ihre besonderen Ausdrucksformen aus diesen bedingt sieht“.4 Ihre Pointe hat diese musikpsychologische Betrachtungsweise nun aber keineswegs in den jeweiligen psychischen Befindlichkeiten von Musikhörern. Hingegen geht es ihr um das Verhältnis von Unbewusstem, also Triebhaftem, und Musik selbst. Kurth schreibt: „Harmonien sind Reflexe aus dem Unbewußten. Alles Erklingende an der Musik ist nur emporgeschleuderte Ausstrahlung weitaus mächtigerer Urvorgänge, deren Kräfte im Unhörbaren kreisen. In ihnen liegt auch die Naturgewalt aller Harmonik, nicht aber
1Zumindest
müssten die Widersprüche solch teleologischer Vorstellung stärker betont werden, als Sonnemann dies im Umfeld des Zitates tut; siehe hierzu auch oben, Kapitel 1 (Vermittlung hören). 2Beispielsweise Theodor W. Adorno: „Der junge Schönberg“ [1955], in: Kranichsteiner Vorlesungen, Nachgelassene Schriften IV/17, hg. von Klaus Reichert und Michael Schwarz, Berlin 2014, S. 9–122, hier S. 96. 3Adorno: „Der junge Schönberg“, S. 96. 4Ernst Kurth: Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners ‚Tristan‘, Bern 1920, S. XIII.
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im Tönespiel, dessen farbig leuchtende Bewegtheit überhaupt nur in Spiegelungen psychischer, aus dem unterbewußten [sic] Tiefenbereich ausbrechender Energien ersteht.“5
Wie in anderen Fällen bietet es sich auch hier an, die Rede von ‚Urvorgängen‘ und weitere archaisierende Motive nicht allzu wörtlich zu nehmen. Entscheidend für Schönbergs und Adornos Rückgriff auf Kurths Terminologie ist nicht die Frage danach, was der Urgrund aller Musik sei, sondern eine andere Implikation: Musik stellt nach Kurths Theorie „eine Naturgewalt“ in den Menschen dar, mithin „eine Dynamik von Willensregungen“.6 Hörbare Musik sei entsprechend so etwas wie ein „Auszittern“ dieser Dynamiken, wobei die Klänge „der hauchartige Niederschlag“ seien, „den der eigentliche Lebensatem der Musik im Aufsteigen an die Tagessphäre findet“.7 Kurth spricht daher auch von einem „drangvollen Trieb“8 der Klänge als einem lebendigem Streben in ihnen. Adornos Reflexionen zum musikalischen Material nun haben gezeigt, dass selbst das vermeintlich ganz Naturhafte an Musik, etwa die Obertonverhältnisse, in Wechselwirkung steht mit einer geschichtlichen Tendenz des Materials und seiner geistigen Bearbeitung. Insofern ist an keiner Stelle in Musik reine Natur am Werk.9 So wäre auch die von Kurth konstatierte Naturgewalt des triebhaften Musiklebens vermittelt mit zweiter Natur, also mit Gesellschaft und Geschichte. Selbst als derart Vermitteltes jedoch bleibt das Natur- und Triebhafte an den Klängen ein irreduzibles Momentum von Musik, das sich nicht zurückführen lässt auf eines ihrer anderen Elemente, etwa die mathematischen Proportionen, aus denen sich das harmonische Ordnungsprinzip konstruiert. Ähnlich wie im Unbewussten der menschlichen Individuen Momente nicht gänzlich verfügbarer Natur anwesend sind, entzieht sich auch das musikalische Material qua Triebleben einer rein instrumentellen Beherrschbarkeit. Lässt sich nun auch für die Worte (als pars pro toto der Sprache) ein ähnliches Triebleben ausmachen wie dasjenige der Klänge? In Sonnemanns Schriften finden sich verschiedentlich Bemerkungen, die das zumindest indirekt nahelegen. So schreibt Sonnemann in seiner „Verteidigung des langen Satzes“ (zuerst 1937 in der Neuen Züricher Zeitung erschienen, damit bereits in einem sehr frühen seiner Texte): eine Periode sei „der gegliederte und gliedernde, Leidenschaften bindende, Bilder bannende, Gedanken ineinanderfügende Satz“.10 Soll aber ein solcher Satz ‚Leidenschaften binden‘ können, so muss er selber emotionsfähig sein, damit möglicherweise auch ein eigenes Gefühlsleben und eine eigene Somatik besitzen. An manch barocker Sprachkomplexität wird dies laut Sonnemann anschaulich, nämlich als „epische Ausschweifung, das Behagen am Wort, die Lust an gebändigt
5Kurth:
Romantische Harmonik, S. 1. Romantische Harmonik, S. 3. 7Kurth: Romantische Harmonik, S. 1. 8Kurth: Romantische Harmonik, S. 5. 9Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik [1949], AGS 12, S. 38–42. 10Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 1. 6Kurth:
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überquellender Vielfalt“.11 Während ‚Lust‘ und ‚Behagen‘ wesentlich Eigenschaften der Sprachsubjekte (also der menschlichen Produzenten wie Rezipienten von Sprache) zu sein scheinen, sind ‚Ausschweifung‘ und ‚überquellende Vielfalt‘ Attribute der Sprache bzw. der Sätze. Damit aber empfindet nicht nur der Hörer oder Sprecher eine geistige wie körperliche Lust durch die Reize komplexer Sprache, vielmehr äußert sich in der je konkreten Sprachgestalt ebenfalls eine eigene Körperhaftigkeit, die wiederum den Hörer erst in lustvoller Weise affizieren oder auch dessen Abneigung hervorrufen kann. Ein Aspekt solcher Sprachsomatik ist die Rhythmik von Sprache, die nicht nur metaphorisch als ihr Atem beschrieben werden kann – ein wiederkehrendes Thema in Sonnemanns späten Texten.12 Und genau auf diesen Punkt legt bereits Sonnemanns früher Aufsatz seinen Fokus, indem er ihn zum Hauptargument in seiner Verteidigung der Periode gegen einen allzu knappen, sachlichen Telegrammstil macht. Denn was die „Schlagwort-Viscose“ mit ihrem „keiner kritischen Zerreißprobe standhaltende[n] Gewand“ offenbare, sei „die Kürze des Atems, […] das Fehlen dessen, was bei Nietzsche einmal die ‚antike Lunge‘ heißt“.13 Dies bedeutet nun keineswegs, dass allein der lange Satz dem spezifischen Eigenleben von Sprache zum Ausdruck verhelfen kann. Sowohl die Periode als auch der kurze Satz als Stilmittel „haben ihre Vorzüge und ihre Gefahren, und verteidigen wir die Periode, so verteidigen wir den kurzen Satz mit – gegen Mißbrauch“.14 Was Sonnemann entsprechend einfordert, ist ein Gefühl und Bewusstsein für den „Sprachstrom“, mithin für eine gewisse Lebendigkeit von Sprache, die sich auch in „wechselnde[n] Tempi“, also der stimmigen Variation kurzer und langer Sätze äußern sollte.15 Diese wie andere Erwägungen zur Sprachrhythmik verweisen nun wiederum auf die Affinität der Sprachsomatik zum Ohr und auf ihre Verwandtschaft zur Musik. So spricht Sonnemann im gleichen Kontext bezeichnenderweise gerade von einer „musikalische[n] Unergiebigkeit des Telegrammstils“, denn sein „Mangel an jeglichem Zauber der Form (sogar jenem der unerwarteten, überraschenden, plötzlichen Kürze!)“ sei Ausdruck einer „seelische[n] Atemnot, die die Sprache von Pünktchen zu Pünktchen […] vorankeuchen läßt“.16 Dagegen aber seien „nur Ohren empfindlich, die in der Aufnahme von Perioden geübt sind“.17 Um jene sprachstilistischen Raffinessen wahrzunehmen, etwa die Stimmigkeit oder Unstimmigkeit von Tempowechseln und Satzlängen, bedarf es also einer geschulten Aufmerksamkeit und Hellhörigkeit für diese Dimension von Sprache. Das meint aber weitaus mehr als Kenntnis der Regeln korrekten
11Sonnemann:
„Verteidigung des langen Satzes“, S. 3. hierzu siehe oben, Kapitel 6 13Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 1. Vgl. oben, Kapitel 6 (Drittes Ohr). 14Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 2. 15Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 3. 16Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 4. 17Sonnemann: „Verteidigung des langen Satzes“, S. 4. 12Ausführlicher
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Sprachgebrauchs. Denn über solches Regelwissen hinaus ist ein Gespür zu entwickeln für das, was in der Sprache umhertreibt, für die Regungen und Strebungen von Wörtern etwa, die ein gewisses Eigenleben besitzen und nicht blindlings kombinierbar sind: ein Gespür also für das Triebleben der Worte. Das Modell eines derartigen Sprachverständnisses findet Sonnemann, so lässt es sich der Vorrede zur Negativen Anthropologie entnehmen, in sprachkritisch-mikrologischen Reflexionen „von Karl Krausscher Gewalt“ (NA, 34). An Ort und Stelle bezogen auf konkrete Sprachanalysen, wie Sonnemann sie selber vornimmt, weist diese Formulierung darauf hin, dass sich den Texten Karl Kraus’ womöglich auch Aspekte einer allgemeineren Sprachtheorie abgewinnen lassen können, wie sie vorliegende Untersuchungen mit Sonnemann zu entfalten gedenken. Und tatsächlich finden sich beispielsweise in einem der späten Bücher von Kraus – Die Sprache (1937), das zahlreiche Glossen aus der Fackel versammelt – verstreut zwischen allerlei konkreten Sprachkritiken und -polemiken Elemente einer Theorie des triebhaften Sprachkörpers, die bei Sonnemann (ebenfalls 1937) in seiner „Verteidigung des langen Satzes“ zaghaft angedeutet ist und in seinen späteren Texten immer wieder anklingt. Kraus wird dabei allerdings ungleich expliziter als Sonnemann. So spricht jener ganz buchstäblich von einer „Körperhaftigkeit des Wortes“, auch wenn der üblichen Sprachauffassung „gemeinhin nur die eine Dimension der Aussage“, gewissermaßen also der reine Informationsgehalt, auffalle.18 Wörter jedoch haben eine Somatik dank ihrer sinnlichen Daseinsweise – die optische Präsenz der Schrift sowie das akustische Erklingen des gesprochenen Wortes – und solch körperliche Existenz ist mehr als bloßes Trägermedium für beliebige Informationen. Das eigentümliche Vermögen von Sprache sei nämlich, „Anschauungen zu Lautbildern zu formen“,19 mithin mimetisch die Materialität der Dinge zu erfassen und ihnen eine andere Materialität zu geben, eine solche der Sprache. Zwischen den Wörtern und den von ihnen bezeichneten Dingen waltet demnach eine sinnliche Ähnlichkeitsbeziehung: „Jedes Wort ist ursprünglich ein Gedicht und was den Vollbegriff des Dings umfaßt, ist ihm nur abgelallt. Wäre es anders und wäre die Sprache wirklich das, wofür die Menschen sie halten, ein Mittel, sich nicht mit der Schöpfung, sondern über sie und über sie hinweg zu verständigen und dadurch zu solchem Einverständnis zu gelangen, das jegliche Zwietracht bedeutet, so wäre es gleich besser, sich jener akustischen Stenogramme zu bedienen, die auf einem Kongreß beschlossen werden, damit ein größerer Umkreis von Menschheit des Segens teilhaftig werde, vom Erlebnis der Natur entfernt zu sein.“20
Was Kraus hier beschreibt, erinnert an Walter Benjamins Sprach- und Übersetzungstheorie, von der zu Beginn des 3. Kapitels die Rede war. Hier nun sei das Augenmerk vor allem auf den Naturbegriff gerichtet. Wie sich dem Zitat entnehmen lässt, sind Wörter nicht einfach Instrumente des operierenden Geistes,
18Karl
Kraus: Die Sprache [1937], Frankfurt a. M. 1997, S. 289. Die Sprache, S. 316. 20Kraus: Die Sprache, S. 316. 19Kraus:
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die seinem Material (der zu bearbeitenden Natur) äußerlich gegenüberstünden. Ihrer Genese nach stammen sie selbst aus Natur und Naturerfahrung, sind in fortschreitenden Abstraktionsstufen den Dingen ‚abgelallt‘, zunächst onomatopoetisch nachgebildet, später immer weiter verfremdet und verselbständigt. Nichtsdestoweniger sind Residuen von Natur, ihre treibende Kraft etwa, stets noch in den Wörtern anzutreffen. Eben deshalb sind Strebungen und Regungen in Sprache, die ein gewisses Eigenleben haben. Am Fall des Reimes, also der Anziehungskraft, die bestimmte Worte auf einander ausüben, macht Kraus das plastisch (bezogen auf die Verse, die als Motto vorliegendes Kapitel einleiten): „Landen und einverstanden: aus der Wortumgebung strömt es den zwei Gedanken zu, sie ans gemeinsame Ufer treibend. Kräfte sind es, die zu einander wollen, und münden im Reim wie im Kuß. Aber er war ihnen vorbestimmt, aus seiner eigenen Natur zog er sie an und gab ihnen das Vermögen, zu einander zu wollen, zu ihm selbst zu können. Er ist der Einklang, sie zusammenzuschließen, er bringt die Sphären, denen sie zugehören, zur vollkommenen Deckung. So wird er in Wahrheit zu dem, als was ihn der Vers definiert: zum Ziel ihrer spracherotischen Richtung, zu dem Punkt, nach dem die Lustfahrt geht.“21
Nicht also nur ein ganz unbestimmtes Triebleben und irgendwelche Strebungen sind nach Kraus in der Sprache anwesend. Es sind vielmehr Triebe, die auch dem Menschen als Lebewesen äußerst vertraut sind. Im Falle des Reimes ist es der Eros als Liebestrieb.22 Die klangliche Anziehungskraft, die bestimmte Wortpaare auf einander ausüben, vergleicht Kraus daher mit einem triebhaften Paarungswunsch. Wie der Liebestrieb sind auch solch sprachliche Strebungen etwas, das sich nicht vollends beherrschen lässt. Kann aber das menschliche Lebewesen seine körperlichen Wünsche und Begierden nicht schlechterdings aufschieben, zumindest nicht ohne sich dabei übermäßig Leid zuzufügen, so ist auch den sprachlichen Regungen Raum zu geben, denn der Reim ist zwar „ein Geschöpf, aber er ist kein Instrument“.23 Das für unsere Zusammenhänge wohl Bedeutsamste an der Krausschen Reimtheorie dürfte sein, dass das sprachliche Triebleben hier in seiner Unverfügbarkeit erscheint, denn reimen „kann sich nur, was sich reimt; was von innen dazu angetan ist und was zum Siegel tieferen Einverständnisses nach jenem Einklang ruft, der sich aus der metaphysischen Notwendigkeit worthaltender Vorstellungen ergeben muß“.24
21Kraus:
Die Sprache, S. 323. Freuds letzter Triebtheorie meint Eros übrigens „die Gesamtheit der Lebenstriebe im Gegensatz zu den Todestrieben“; Laplanche, Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 143–145, hier S. 143. 23Kraus: Die Sprache, S. 324. 24Kraus: Die Sprache, S. 358. 22In
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Konsequent spricht Kraus für solche Belange von einer sprachlichen „Region der Naturgewalten“25 und verwendet für das Triebleben der Worte damit den gleichen Begriff, den Kurth für das Triebleben der Klänge in den Dienst nimmt. Eine Naturgewalt ist Sprache (vergleichbar zur Musik) laut Kraus, weil sie „es vor ihren Sprechern voraus hat, sich nicht beherrschen zu lassen. Mit der stets drohenden Gewalt eines vulkanischen Bodens bäumt sie sich dagegen auf.“26
Das heißt allerdings keineswegs, dass Sprache in ihrem eigenwilligen Triebleben mit menschlicher Autonomie unvereinbar wäre, menschlicher Freiheit, die immer auch einen instrumentalen Zugriff auf die Welt beinhaltet, ganz und gar heteronom entgegenstünde. Dagegen bestimmt Kraus als Telos eines verständigen Umgangs mit Sprache, „im psychischen Raum des Wortes logisch zu denken“.27 Das hieße, sich den „Organismus der Sprache“28 durchaus zunutze zu machen, wie man seinen Körper auch ohne leidvolles Zurichten als ein Instrument einsetzen kann, wenn man dabei zugleich im Bewusstsein einer gewissen Unverfügbarkeit von Leib und Leben handelt, wenn man dabei also zugesteht, dass das Somatische sich nicht vollends beherrschen lässt. Für einen ähnlichen, die Triebhaftigkeit von Sprache stets erinnernden Umgang mit Sprache setzt Kraus folgende Maxime: „Den Rätseln ihrer Regeln, den Plänen ihrer Gefahren nahezukommen, ist ein besserer Wahn als der, sie beherrschen zu können.“29
Was nicht selten (etwa in funktionalistischen oder analytischen Ansätzen) streng voneinander geschieden wird, erscheint somit in der Krausschen Sprachtheorie als untrennbar verbunden und vielfach vermittelt: die somatische und die logische Seite von Sprache; ihre Form als gesprochenes Wort und dessen gedanklicher Inhalt; das Triebhafte und das Rationale; das naturhaft Heteronome und das vernünftig Autonome. Vernünftig wäre es nach dieser Sprachauffassung, Worte nicht allein funktionalistisch als auswechselbare Bedeutungsträger für ihnen äußerlich bleibende Inhalte zu begreifen. Worte und sprachliche Gestalten haben ein Eigenleben. Und nur dort, wo ein Gedanke mit den Triebkräften der Sprache korrespondiert (anstatt sich seine Worte verfügend zurechtzulegen), kann er so recht erst zur Entfaltung kommen, können der Rhythmus und die Melodie eines Satzes ihrem Inhalt Leben einhauchen. Denn, so Kraus, „Sprechen und Denken sind eins“.30 Dies gälte es zu
25Kraus:
Die Sprache, S. 357. Die Sprache, S. 372. 27Kraus: Die Sprache, S. 371. 28Kraus: Die Sprache, S. 371. 29Kraus: Die Sprache, S. 372. 30Kraus: Die Sprache, S. 17. 26Kraus:
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beherzigen, wollte man der Sprache gerecht werden und damit ihre Möglichkeiten ausschöpfen.31 Erwägungen wie die Krausschen finden sich unter anderem bereits bei Nietzsche und auch Sonnemann macht sie sich zu eigen. Allen dreien ist gemein, dass ihnen, ausgehend von jener (wenn man so will: dialektischen) Sprachtheorie, gerade die Unzulänglichkeiten der Literatur, der Wissenschafts-, Gebrauchs- und Alltagssprache auffielen, insbesondere der sie jeweils konkret umgebenden, also der deutschen. Dass Sonnemann den Deutschen tendenziell mangelndes Bewusstsein für die Rhythmik und damit auch für die Akustik sowohl des gesprochenen als auch des geschriebenen Wortes attestierte, in diesem Vorwurf auch auf Nietzsche rekurrierend, wurde oben mehrfach thematisiert.32 In dieser und anderen Negationen erscheint stets, was Potential der Sprache wäre, was dergestalt jedoch verschenkt wird. Dass beispielsweise – und in diesem Zusammenhang knüpft Sonnemann implizit an Kraus’ Thesen an – Sprache eine immanente Erotik besitzt, zeigt sich nicht zuletzt am nachgerade amourösen Verhältnis, das ihre Sprecher durchaus zu ihr gewinnen können. Karl Kraus selbst habe eine solche Sprachliebe besessen und „hat so unvertauschbar die Sprache darum, die das Element seines Lebens war, lieben wie ihre Verhunzungen hassen können“.33 Demgegenüber zeichne sich das Verhältnis vieler Deutscher zu ihrer Sprache jedoch durch eine ungemeine „Lieblosigkeit“34 aus. Damit aber ließen sie nicht nur die Möglichkeiten eines liebevollen Sprachgebrauchs zu oft ungenutzt, der zum Beispiel darin bestehen könnte, einem Vortrag oder Text einen gedankenanregenden Rhythmus zu geben durch eine Spannung aufbauende und befriedigend wieder auflösende Syntax.35 Mehr noch würde ein derart leidenschaftlicher Sprachgebrauch, wenn er sich denn zeigt, abgewehrt und angefeindet, indem etwa Rhetorik mit ihren rhythmisch-syntaktischen Finessen grundsätzlich beargwöhnt werde. Solche Lieblosigkeit der Sprachform als dem Sprachsoma gegenüber lässt für Sonnemann die Inhalte von Sprache – Gedanken und Geist – nicht unbehelligt. So könne mit einer „versteifenden Mechanisierung der Syntax“ auch Geist selber „nicht mehr frei atmen“ (SdS, 106). Der geistige Drang nach Freiheit äußere sich hingegen darin, von den Freiheiten der „Sprache vollen
31Diese
Überlegungen weisen noch einmal auf das Problem des mündigen Umgangs mit (sprachlichen) Konventionen zurück; siehe oben, die einleitenden Bemerkungen von Kapitel 2. Instruktiv beschreibt Helmut Arntzen, „was bei Kraus die Sprache als Gedanke bedeutet. Danach soll Sprechen die verantwortliche und selbständige Teilnahme an der Sprachüberlieferung sein, in Kraus’ Worten: das Bewohnen des alten Hauses der Sprache, dessen Bestand aber von denen abhängt, die es bewohnen. Es besteht hier also eine wechselseitige Abhängigkeit von Sprache und Sprecher“; Helmut Arntzen: „Dritte Walpurgisnacht – und die Folgen?“, in: Gürtler (Hg.): Spontaneität und Prozeß, S. 53–74, hier S. 71. 32Siehe oben, Kapitel 6,12. 33Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, S. 49. 34Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, S. 50. 35Wenn auch in einem ganz anderen Zusammenhang, so konstatiert Theodor Reik für solcherlei sprachtheoretische Überlegungen aufschlussreich, „daß der Rhythmus Befriedigung verschaffen soll“; Reik: Hören mit dem dritten Ohr, S. 389.
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Gebrauch zu machen“ und dabei der Lust, welche „die Sprache aus der Freiheit ihrer syntaktischen Fügungen an sich selbst hat“ (SdS, 106) auch als Sprecher teilhaftig zu werden. Demgemäß darf auch in einem Deutschunterricht, der solcher Sprachsomatik gerecht werden soll, das „Lustprinzip“ (SdS, 106) nicht zu kurz kommen. Die Einübung von Ausdrucksfähigkeit bestünde auch darin, Offenheit zu wecken für eine „Lust an dem Schwierigen, das der Weg der Periode ist: da es ein unleidlich sperriges Wortmaterial durch gegliederten Fluß so verteilt, daß es von selbst in ihm Raum schafft“, was schließlich „eine Sache der Ohren“ (SdS, 111) wäre. Wird nämlich beim schnellen Lesen das Auge vor allem darauf trainiert, einen von der Sprachgestalt abstrahierbaren Informationsgehalt aufzunehmen, so folgt das lesende Ohr den Wendungen und Biegungen, den Hebungen und Senkungen des Wortes mimetisch nach, was zugleich eine gewisse Mußezeit voraussetzt, wie es auch erheblichen Lustgewinn verspricht (vgl. SdS, 116). Sonnemanns von Nietzsche inspirierte Forderung, man solle mit den Ohren lesen und nicht bloß mit den Augen, ließe sich demnach deuten als der Versuch, „den Wörtern und Sätzen ihre Sinnlichkeit zurückzugeben“, wie Norbert Rehrmann dies instruktiv beschrieben hat.36 Zu Sonnemanns Sprachphilosophie zählt mithin als ein Element eine gewisse Spracherotik, ganz ähnlich wie sie von Kraus beschrieben wurde: sie ist eine Erotik des Ohres, das sich in seiner Offenheit lustvoll in Sprache versenken will.37 Anstatt jedoch diesem Potential Raum zu geben, praktiziere der Deutschunterricht in der Bundesrepublik der 1960er und -70er eine „Unterdrückung des syntaktischen Eros“ (SdS, 107), wie Sonnemann beanstandet. Ob und wie eine derartige Lieblosigkeit der Sprache gegenüber – oder vielmehr die Abwehr bestimmter sprachlicher Phänomene – womöglich auf ganz grundsätzliche Verwerfungen und Abwehrmechanismen im gesellschaftlichen Bewusstsein des postnazistischen Deutschlands hinweist, hat Sonnemann in seinen sprachkritischen Studien verschiedentlich untersucht. So sei, nicht nur am Deutschunterricht, aber auch an ihm, ablesbar, dass „die Druckverhältnisse der Gesellschaft in der Sprache wiederholt“ (SdS, 85) würden und nicht von der unterrichteten und gesprochenen Sprache aufgehoben. Bezeichnend für jene Untersuchungsperspektive, die Sonnemanns Arbeiten in die Nähe derer von Kraus und Nietzsche rückt: dass sie zwar implizit einige sprachanthropologische (oder auch psychoanalytische) Grundannahmen voraussetzt, ihnen jedoch zugleich kein solches Gewicht beimisst, dass nun die Phänomene der menschlichen Sprachwelt aus ihrem vermeintlich natürlichen Ursprung abgeleitet würden. Am konkreten Fall der deutschen Sprache sei daher auch und besonders ihre wechselvolle Geschichte und ihre Gegenwart in den Blick zu nehmen. Erst so lässt sich entschlüsseln, welche Kräfte hier am Werk sind, welche Triebdynamiken sich in der konkreten Sprache äußern — und
36Norbert
Rehrmann: „Über den ‚sprachpädagogischen Nutzen‘ des ‚syntaktischen Eros‘. Ulrich Sonnemanns Sprache und seine Kritik der deutschen Wissenschaftsprosa“, in: Klenke et al. (Hg.): Existenz, Negativität und Kritik bei Ulrich Sonnemann, S. 253–264, hier S. 259. 37Vgl. SdS, 114. – Mit ganz ähnlichen Fragen, wie sie hier im Kontext einer kritischen Theorie des Hörens betrachtet werden, beschäftigt sich Dankemeyer: Die Erotik des Ohrs.
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welche Potentiale sie zugleich in sich bereithält, um jene unbewussten Vorgänge aufzuklären und damit gesellschaftlicher Emanzipation Vorschub zu leisten: „Die Anlage der deutschen Sprache, die als geschichtsabhängiges Feld von vorbewußten gesellschaftlichen Übereinstimmungen über Wortschatz und Satzregeln, die Möglichkeiten der Verständigung und des Ausdrucks, nicht unabhängig von den Sprechenden, aber in relativer Abgeschiedenheit von ihrem jeweiligen Zustand zu denken ist, zeichnet sich durch zusammensetzbare Substantive, schwerfällige, überlange, zur Verwandlung aller Welt- und Selbsterfahrung in Objektvorstellungen neigende Wörter aus, welche Betonung von Dingen, gleichgültig ob Sinnes- oder Gedankenwelt, sich Reformversuchen trotzend schon in ihrer Druck ausübenden Großschreibung anzeigt; andererseits durch eine besondere Vielfalt der von der Syntax gebotenen Möglichkeiten, durch fast unendlich variablen Satzbau diesen gewichtigen Wortschatz so zu gliedern und durch die Gliederung zu bewegen, daß Konstellationen dieser Bewegung als Satzrhythmen die Gewichtigkeit aufheben, also die Sprache selbst leichter machen.“ (SdS, 89)
Unverkennbar äußert sich in diesen Sätzen der Wunsch, bedrückende gesellschaftliche Zustände durch Versprachlichung in eine Bewegung zu versetzen, die der syntaktischen Beweglichkeit gleichkommt, damit sukzessive den leidproduzierenden Charakter der Verhältnisse zu verändern, indem die bedrückten Subjekte wie ihre Sprache einen Freiheitszuwachs gewinnen.38 Diese verändernde Praxis wäre dem Zitat zufolge auch ein sprachlicher Akt, und zwar ein solcher, der vormals Unbewusstes zur Sprache brächte; in eine Sprache wohlgemerkt, die ihr Eigenleben und ihre Triebhaftigkeit nicht verbergen und abwehren muss, sich diese vielmehr zunutze macht. Was sprachkritische Praxis leistet, hat demnach wesentlichen Anteil an einer – für Sonnemann längst überfälligen – „Psychotherapie der Gesellschaft“ (SdS, 121). Einer der Triebe von Sprache, der in diesem Kontext sowohl Gegenstand als auch Mittel und Kraft von Therapie darstellt, wäre vielleicht ihr Drang, sich von den Dingen, denen sie (nach Kraus’ Formulierung) ‚abgelallt‘ ist, tatsächlich auch distanzieren zu wollen, ohne jedoch die Tuchfühlung mit ihnen zu verlieren. Sprachliche Leichtfüßigkeit besteht nach dieser Deutung in ihrem Abstraktionsvermögen. Aus der belebten Natur stammend, ist die Sprache der Menschen zugleich der denkbar radikalste Bruch mit Naturwüchsigkeit und -verfallenheit. Auf diese Weise ist das Streben nach Freiheit eine immanente Regung von Sprache selbst. Ist dem so, dann ist das Triebleben der Worte keine destruktive Kraft, sondern Triebfeder kritischer Vernunft. All dies bedeutet jedoch keineswegs, dass mit Versprachlichung die geforderte Weltveränderung schon gelungen wäre. Denn, wie Sonnemann schreibt: „Während alles Sprache werden will, ist Sprache überhaupt nichts, wo man diesen Satz praktisch umkehrt: nicht kann sie ihrerseits alles sein, ohne an allem Betrug zu werden.“39
38In
ähnlichem Sinne spricht Georg Christoph Tholen von Sonnemanns Psychohistorie als einem Verfahren der Versprachlichung von „Symptomen, die ohne ihre Benennung stumm blieben“; Georg Christoph Tholen: „Querdenken. Lesesplitter zu unabgegoltenen Motiven im Werk Ulrich Sonnemanns“, in: Class (Hg.): Un-erhörtes, S. 29–34, hier S. 30. 39Sonnemann: „Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache“, S. 56 f.
Coda mit Schlussworten
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„Über den genauen Unterschied zwischen Horchen und Hören rede er, er mache ihr zuerst Horchen, dann Hören klar, Zuhören, Zuhorchen, Aufhorchen, Abhorchen, dann Überhören, Mithören und so fort. Abhören, Aufhören, Anhören, plötzlich, sage er zu ihr mehrere Male das Wort weghören. Hinhören, sage er.“ (Thomas Bernhard: Das Kalkwerk, S. 100.) „Denn es ist Zeit, ein Einsehen zu haben mit der Stimme des Menschen, dieser Stimme eines gefesselten Geschöpfs, das nicht ganz zu sagen fähig ist, was es leidet, nicht ganz zu singen, was an Höhen und Tiefen es auszumessen gibt. Da ist nur dieses Organ ohne letzte Präzision, ohne letzte Vertrauenswürdigkeit, mit seinem kleinen Volumen, der Schwelle oben und unten – weit entfernt davon, ein Gerät zu sein, ein sicheres Instrument, ein gelungener Apparat.“ (Ingeborg Bachmann: „Musik und Dichtung“, S. 62.) „Musik wirkt befreiend und hält am längsten gefangen.“ (Elazar Benyoëtz: „Was nicht zündet, leuchtet nicht ein “, S. 262.)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1_17
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Praxis, soll sie nicht inhuman werden, bedarf der Theorie, wie Theorie ihrerseits bereits praktisch ist, wenn sie etwa als Interpretation ihre Gegenstände verändert: in dieser kritischen Haltung waren sich Sonnemann und Adorno einig. Doch wohnt selbst ihr die Gefahr inne, unkritisch zu werden, wenn man es bei der Theoretisierung bewenden lässt, das Praktischsein oder -werdensollen von Theorie darüber derweil vergisst. Die Frage: was an der Zeit sei, was also die unsrige Zeit bewege (oder vielmehr bedränge und bedrohe), und die ihr innewohnende: was denn angesichts dessen zu tun wäre, lasten daher als schlechtes Gewissen auf kritischem Denken, sofern es sich vom Weltgeschehen nicht ohnehin verabschiedet hat. Dass Denken als solches schon praktisch sei, in den 1960ern als Einspruch gegen Pseudopraxis und -theorie gewisser Teile der studentischen Opposition formuliert, ist schnell zur harmlosen Selbstverständlichkeit verallgemeinert, besänftigt trügerisch die Gewissensbisse. Gleichwohl eröffnet das auch heute noch in manchen Kreisen beliebte Schelten der akademischen Form als selbstgenügsamer Forschung keinen Ausweg aus dem Dilemma. Denken als emphatisches heißt Nachdenken — und das braucht Zeit. Im Minutentakt schnellschießend die aktuellen Tagesereignisse in den sogenannten sozialen Medien zu kommentieren, ist mindestens gleich weit vom emphatischen Anspruch Kritischer Theorie entfernt wie die Beforschung derselben mit den gängigen (also nach wie vor traditionellen) Mitteln der Akademie. Aus solch historisierendem Vorgehen, aus der Einordnung der Kritischen Theorie in die Geschichte des Denkens und der Philosophie, mag gleichwohl eine Erkenntnis entspringen, die dem Abarbeiten am Zeitgeist womöglich verwehrt bleibt: dass nämlich der aktuelle Stand des Denkens nicht notwendigerweise sein avanciertester ist.1 Sonnemanns Denken, sein ins Zeitgeschehen eingreifendes Schreiben über politi sche wie philosophische Belange hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Wissenschaft: Vehement opponierte es der oftmals eingeforderten Neutralität wissenschaftlicher Arbeit, die Sonnemann als Pseudoneutralität nach cartesianischem Modell verstand: Kein Denken ist interesselos, keine wissenschaftliche Tätigkeit losgelöst von der materiellen wie sozialen Welt, in der es verortet ist. Das Gegenteil zu behaupten folgt selbst spezifischen Interessen, wie beispielsweise positivistische Wissenschaften nicht selten eine latente Tendenz haben, den Status quo nicht einfach deskriptiv zu beschreiben als vielmehr präskriptiv auch dessen Notwendigkeit zu postulieren. Zugleich aber hielt Sonnemann stets an den aufklärerischen wie freiheitlichen Grundprinzipien von Wissenschaft fest: alle Thesen und Argumente, alle Gegenstandsbeschreibungen, alle kritischen Einwände und Erkenntnisse haben ihren Maßstab nicht in subjektiver Meinung, sie sollen vielmehr objektiv und wahr sein, richten sich also an Vernunft und ans Allgemeine. Solche Objektivität folgt aber, nach Sonnemanns dialektischer Vernunftkritik, keinesfalls aus der Tilgung des notwendigerweise stets vorhandenen subjektiven Anteils
1Für
diese Formulierung danke ich Christine Zunke sehr herzlich.
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an Erkenntnis, sondern indem diese Erfahrungselemente durch kritische Selbstreflexion der Wissenschaft eingeholt werden. Um es mit dem Leitmotiv vorliegender Untersuchungen zu formulieren: Der subjektive Erfahrungsanteil ist auch einer von Hörerfahrungen, doch ist selbst noch ganz subjektives Hören weder schlechthin unmittelbar noch von Allgemeinheit losgelöst. Sonnemanns Modell wie Beitrag zur Kritischen Theorie, die denkend immer praktisch ist, jedoch ihr Telos in einer uneingelösten, umfassenderen Praxis der Weltveränderung hat, wäre also: Denken mit vernünftigen Ohren. Mit diesen kurzen Erwägungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis, die aus den vorangegangenen Erörterungen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit gewissermaßen nahtlos hervorgingen, haben vorliegende Untersuchungen ihren Schlusspunkt erreicht. Dass dieser abschließend nicht sein kann, weil kritisches Nachdenken über und durch das Hören eben nicht in unumstößlicher Conclusio endigt, wurde bereits mehrfach erwähnt. Dennoch ist dies der Punkt, von dem aus noch einmal ein Ausblick zu unternehmen ist: rückblickend auf das hier Entwickelte; zugleich nach vorn oder ins Umfeld schauend auf mögliche Verbindungslinien wie Potentiale für kritische Einsprüche, die das hier Erarbeitete eröffnet. Mit anderen Worten: es geht auch um die Frage der Aktualität einer kritischen Theorie des Hörens, wie sie aus und mit Ulrich Sonnemanns Œuvre entfaltet wurde. Im Folgenden sei daher kein zusammenfassendes Fazit aller wesentlichen Punkte aufgelistet, nicht also die Arbeit mit einer – wenn man so will – Reprise abgeschlossen. Eher sei ein kurzer, die Themen noch einmal variierender und zugleich weiterführender Anhang – ebenfalls musikalisch ausgedrückt: eine Coda – ans Ende gestellt. Auf Neues hinaustreibend, Querverbindungen, Überschneidungen wie Abgrenzungen benennend, treten so resümierend und noch einmal in Variationen die Sonnemannschen Motive und Themen des Hörens auf.
Denken mit den Ohren: Musikphilosophie Schon die Einleitung wies auf das nächstliegende Forschungsfeld hin, das von einer Arbeit an und mit Sonnemanns kritischer Theorie des Hörens betreten werden könnte: die Musikphilosophie. Selber kaum mit längeren Ausführungen zu musikalischen Fragen befasst, beinhalten Sonnemanns Schriften gleichwohl zahlreiche Elemente philosophischer Reflexion aufs Hören, die für die kritische Musikphilosophie ungemein wichtig sind. Bereits der Titel einer Transzendentalen Akustik verweist darauf: Was sind die erkenntniskritisch zu bestimmenden Vorbedingungen des Hörens? Wie zeigt sich gerade am Hören – und damit in herausgehobener Weise am Musikhören – etwas von den transzendentalen Grundstrukturen subjektiver Hörerfahrung, selbst wenn solche Transzendentalität nicht als absolutes Apriori verstanden wird? Auf den immanenten Zusammenhang von Musikphilosophie und Erkenntnistheorie haben Georg Mohr und Johann Kreuzer hingewiesen: „Dies gilt insbesondere auch für die Erforschung des Zeiterlebens. Für Musik ist ihr Verlauf in der Zeit und dessen Struktur, für das Wahrnehmen
356
17 Coda mit Schlussworten
von Musik der Prozess der Wahrnehmung des zeitlichen Verlaufs und seiner Struktur, von zentraler Bedeutung.“2 Auch wenn Musik im Bereich (philosophischer) Ästhetik und noch viel schwerwiegender in der Erkenntnistheorie sowie in angrenzenden Gebieten im Vergleich zur Literatur, zu den bildenden Künsten u. a. einen eher marginalisierten Gegenstand darstellen mag – was wohl nicht zuletzt einer Konzentration auf Wortsprache und Phänomene der Visualität geschuldet sein dürfte3 –, so zeichnet sich seit einigen Jahren hinsichtlich der Musikphilosophie doch eine gewisse Konjunktur ab. Anknüpfungsmöglichkeiten zu Sonnemanns Themen ließen sich dabei insbesondere in solchen Arbeiten ausmachen, denen im Geiste Adornos ein dialektisches Musikverständnis zugrunde liegt, die Musik mithin als ein Kraftfeld aus historischer Materialentwicklung und sozialen Bedingtheiten einerseits sowie zugleich als Raum autonomer Kunstwerke und geistigen Ausdrucks andererseits begreifen. Exemplarisch sei dies an zwei aktuelleren Publikationen aus jenem Bereich kurz angedeutet. Der Autor des ersten Buches, das hier benannt werden soll, stammt aus dem Kreise philosophisch versierter Musiker, zu denen sicherlich auch Helmut Lachenmann zu zählen wäre, der in Hörmodell 1 sowie den anschließenden Reflexionen auftrat. Wie dieser hat der Komponist und Dirigent Hans Zender immer wieder seine musikalische Praxis in theoretischen Texten reflektiert. Jüngst erst hat er ein Buch vorgelegt, dessen Titel bereits einige Verwandtschaft zum Sonnemannschen Œuvre erkennen lässt: Denken Hören – Hören Denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens. Dort, im Kapitel „Musik zwischen Logos und Pathos“, ist zu lesen: „Wir bewegen uns beim Hören in der Zeit, setzen die Töne zu mehr oder weniger langen Strecken zusammen, die wir als Einheiten empfinden; wir empfinden auch die Verschiedenartigkeit solcher Einheiten, unser Hörbewußtsein wird durch diese Verschiedenheit geweckt und geprägt. Mit anderen Worten: wenn ich sage: ‚Musik ist ein Denken mit den Sinnen‘, so […] rede [ich] von einer tieferen Schicht des intelligenten Wahrnehmens, welche die Intelligenz nicht abschneiden will vom ganzheitlichen, also auch affektiven Empfinden.“4
2Georg
Mohr, Johann Kreuzer: „Einleitung: Vom Sinn des Hörens. Nutzen und Notwendigkeit einer Philosophie der Musik“, in: Dies. (Hg.): Vom Sinn des Hörens, S. 9–20, hier S. 9. 3Vgl. Mohr, Kreuzer: „Einleitung: Vom Sinn des Hörens“, S. 9: „Die Musik fristet in der europäischen Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart ein eher marginales Dasein. Zumindest, wenn man in die ‚Stammdisziplinen‘ der Philosophie schaut – wie Ontologie, Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Ästhetik, Ethik –, so fällt eine merkwürdige Fokussierung auf optische Wahrnehmung auf. Man könnte es das Zeitalter der okularen Borniertheit der okzidentalen Metaphysik nennen. Akustische Phänomene und auditive Erfahrungen bleiben unberücksichtigt, die Konzeptualisierung der Epistemologie ist am Sehen ausgerichtet, das Hören erscheint nicht als Sphäre des Kognitiven und wird als Quelle von Wissen weitestgehend ignoriert.“ 4Hans Zender: Denken Hören – Hören Denken. Musik als eine Grunderfahrung des Lebens, Freiburg & München 2016, S. 13.
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Hier kulminieren zwei Aspekte einer kritischen Philosophie des Hörens, die, wie gezeigt, in Sonnemanns Spätwerk von zentraler Bedeutung sind. Einmal nämlich ist es die gleichsam transzendentale Seite strukturellen Hörens: die Fähigkeit, Verklungenes, gerade Erklingendes sowie zukünftig erst Klingendes im Augenblick der (musikalischen) Aufmerksamkeit zu vergegenwärtigen – wodurch erst das musikalische Ganze als eine Einheit wahrgenommen und erfahren werden kann. Sodann aber ist, inmitten solcher Vermittlung, auch eine gewisse Unmittelbarkeit von Hörerfahrung gegeben. Hörendes Denken lässt sich affizieren von Unbekanntem und Unerhörtem, das sich der vereinheitlichenden Strukturierung nicht gänzlich fügt. Während die Hauptfunktionen positivistischer Wissenschaftssprache darin bestehen, zu identifizieren und zu subsumieren, was von Zender als „gefrorenes Denken“ bezeichnet wird, ermöglicht es ein an Musik geschultes, „flüssiges Denken“, sich den Gegenständen von Erfahrung radikal zu öffnen.5 Die Bezüge zur Musikphilosophie Adornos sind hier unschwer herauszuhören. Ganz wie Sonnemann – der allerdings im Buch nicht auftaucht – attestiert auch Zender einer auditiven (und hier eben speziell: einer musikalischen) Vernunft derweil die Fähigkeit, „in einzigartiger Weise die rationale mit der irrationalen Seite unseres Geistes zu verbinden.“6 Zender zielt darauf ab, in und mit Musik nicht so sehr die (fraglos vorhandene) Trennung, als vielmehr die Vermittlung von lógos und pathos zum Gegenstand zu machen. Seine musiktheoretischen Überlegungen erinnern dabei frappierend an dasselbe Verhältnis innerhalb der Sprache, wie es zuletzt in Kapitel 16 als Subtext der Sonnemannschen Philosophie herausgearbeitet wurde. In Musik sei nämlich eine triebhafte Naturkraft am Werk, die den lógos geradezu beflügelt und keinesfalls hemmt. „Hiermit ist […] gesagt, daß der Logos, der von der abendländisch-griechischen Tradition zumindest seit Aristoteles allein der Sprache, als der Kraft der Logik und der Rationalität, zugesprochen und den affektiven Energien entgegengesetzt wurde, in Wirklichkeit hervorgeht aus dem affektiven, direkt der Natur entströmenden ‚flüssigen‘ Denken, das auch die Kunst kennzeichnet“.7
In diesem Sinne spricht Zender von „einer Geburt der Sprache aus dem Geist der Musik“.8 Dass sich solche Verschränkungen des (vermeintlich) irrationalen, da somatisch-triebhaften Anteils von Sprache mit ihren semantischen und logischen Elementen auch innersprachlich zeigen lassen, nicht zuletzt indem auf das auditiv
5Zender: Denken Hören – Hören Denken, S. 16: „Ich nenne das Musikdenken das ‚flüssige Denken‘, da hier die Klangzeichen von jeder festen externen Bedeutung freigehalten werden; sie bedeuten nur sich selber – im Gegensatz zu dem ‚gefrorenen Denken‘ der Wortsprache, das durch die an ihm haftenden Vorstellungen, das heißt von Bedeutungen bildhafter oder begrifflicher Art fixiert ist.“ 6Zender: Denken Hören – Hören Denken, S. 13. 7Zender: Denken Hören – Hören Denken, S. 34. 8Zender: Denken Hören – Hören Denken, S. 35.
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vernehmbare ‚Triebleben der Worte‘ geachtet wird, wurde mit Sonnemann dargestellt. Ein zweites Buch aus dem musikalischen (genauer: musikphilosophischen) Bereich, in deutscher Übersetzung erst vor wenigen Jahren erschienen, im französischen Original allerdings bereits 2001, zeigt diverse Möglichkeiten an, wie die in den vorliegenden Untersuchungen entwickelten Elemente einer kritischen Theorie des Hörens speziell für das Musikhören weiterentwickelt werden könnten. In seiner Studie Höre(n). Eine Geschichte unserer Ohren9 zeichnet Peter Szendy nach, wie eine bestimmte Typologie verschiedener Hörweisen und -haltungen sich historisch überhaupt erst entwickelt hat, wobei Szendy u. a. aus Adornos Musiksoziologie schöpft. Szendy stellt überzeugend dar, dass etwa die Differenz von strukturellem und zerstreutem Hören, die Polarität also von ernsthaftem Mitverfolgen von Musik und blanker Unterhaltung, keineswegs in der ‚Natur der Sache‘ angelegt ist, sich vielmehr erst im frühen 19ten Jahrhundert in ihren Extremen herauskristallisiert hat. Zusammenhänge wie diese wären auch ein möglicher Gegenstand negativer Anthropologie, die, wie in Teil II argumentiert, nicht zuletzt nach der Genese menschlicher Wahrnehmungsweisen und nach deren Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen fragt. Szendy nun behandelt in vergleichbarer Absicht die Rechtsgeschichte des Hörens, die er als eine Vorbedingung der „Machart des modernen Ohrs“ sieht.10 Dass man Musik in struktureller Weise vorrangig (oder gar allein) als einen Sinnzusammenhang höre, verdanke sich auch einer in verschiedenen Hinsichten erst sukzessive durchgesetzten Absage ans zerstreute Hören, die durch bestimmte Praktiken und Institutionen des Musikhörens bedingt und abgesichert werde. Erst so könne der Konzertbesucher „[h]örend […] von nun an ganz Ohr sein und mit dem Gesetz des Werkes, seinem Rhythmus, seinem Schritt und seinem Gang übereinstimmen.“11 Durchaus in Adornos Sinne begreift Szendy diesen Prozess als das Autonomwerden von Kunsterfahrung, was einerseits emanzipatives Potential beinhaltet, andererseits jedoch auch dazu tendiert, die Fähigkeit zur unreglementierten Erfahrung zu verstellen. Am Ende seines Buches steht die berechtigte Frage: „Ist eine gewisse Zerstreuung nicht eine ebenso notwendige Bedingung für ein aktives Hören wie die totale, strukturelle und funktionelle Aufmerksamkeit?“12 Auch dies ist ein Thema Sonnemanns: aufmerksam-strukturelles Hören und zugleich ungebunden-offenes; also im Doppelsinne spontanes Hören.
9Peter
Szendy: Höre(n). Eine Geschichte unserer Ohren, aus dem Französischen von Daniel Schierke, Paderborn 2015. Für den Hinweis auf das Buch danke ich Mario C. Schmidt und Tom Wappler herzlich. 10Szendy: Höre(n), S. 117; (Kapitel „Urheberrechte, Hörrechte“, S. 31–50). 11Szendy: Höre(n), S. 135. 12Szendy: Höre(n), S. 145.
Sound Studies und Theorien der Stimme
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Sound Studies und Theorien der Stimme Jenseits der Musikphilosophie – und durchaus in bewusster Abkehr von ihr und ihren Themen – hat sich in den vergangenen Jahren als neue Forschungsdisziplin das Feld der Sound Studies etabliert.13 Der an der Berliner Universität der Künste eingerichtete, gleichnamige Aufbaustudiengang warb einige Zeit gar mit dem Slogan: „die bewegung sound studies schafft den begriff musik ab“.14 An dieser programmatischen Formulierung mag ein Problem deutlich werden, das viele der neueren Ansätze zum Auditiven teilen: Allzu leichtfertig scheinen sie zugunsten einer allein auf Performativität des Klanglichen sowie auf soziale Hörpraktiken abstellenden Theoretisierung die strukturelle und damit transzendentale Seite auditiver Wahrnehmung auszuklammern. In diesem Zuge werden dann nicht selten vermeintlich konservative ästhetische Kategorien wie ‚Werk‘ oder ‚Musik‘ insgesamt fallen gelassen, eben ‚abgeschafft‘. Sicherlich kann und muss die in solchen Kategorien notwendigerweise mitgedachte, strukturelle Seite des Hörens ins Verhältnis zu den empirischen Formen des Auditiven gesetzt werden und gerade was die Phänomenbeschreibung betrifft, lassen sich diesbezüglich in den Untersuchungen der Sound Studies zahlreiche Inspirationen für weiterführende Forschungen zu einer kritischen Theorie des Hörens finden. Anders aber als jene würde diese, deren Grundlage hier mit Sonnemann entwickelt wurde, die transzendentalen Momente in der empirischen Detailuntersuchung nicht als abgeschafft, vielmehr als (im mehrfachen Wortsinn) aufgehoben betrachten. Ein Thema, das im Bereich der Sound Studies häufig auftaucht und zugleich verschiedenen anderen Disziplinen angehört, ist das der Stimme. Dass mit der Stimme, die sich ans Gehör richtet, ein wichtiger Gegenstand für Theorien des Auditiven gegeben ist, liegt auf der Hand. Auch bei Sonnemann kommt sie, wie verschiedentlich dargestellt, immer wieder vor. Vielversprechend wäre es, Sonnemanns eher figurativen und metaphorischen Gebrauch von Stimme mit Betrachtungen zur Physiologie des Phänomens engzuführen. Ulrike Sowodniok beispielsweise nimmt in ihrem Buch Stimmklang und Freiheit. Zur auditiven Wissenschaft des Körpers gerade die Wechselwirkungen zwischen physiologischer Naturwissenschaft und metaphorologischer Hermeneutik in den Blick und macht sie zu ihrem methodologischen Ausgangspunkt.15 Mit ihren Untersuchungen ließe sich womöglich argumentieren, dass mit der eigenen Stimmwahrnehmung gerade das Hören (und nicht das Sehen) als innerer Sinn und damit zugleich als Zeitsinn bestimmt werden kann. Allerdings zeigt auch diese Studie mindestens in einem Punkt eine gewisse Unvereinbarkeit mit der hier entwickelten kritischen
13Siehe
oben, Einleitung (Zu Forschungsliteratur und Rezeptionsgeschichte). nach Elena Ungeheuer et al. (Hg.): Klangforschung in Musik, Heidelberg & Berlin 2012,
14Zitiert
S. 8. 15Vgl. Ulrike Sowodniok: Stimmklang und Freiheit. Zur auditiven Wissenschaft des Körpers, Bielefeld 2013, S. 83–89. Für den Hinweis auf das Buch sei Jonny Labrada Ramirez herzlich gedankt.
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Theorie des Hörens, die wiederum in einer der Grundprämissen der Sound Studies angelegt ist: dass nämlich Hören und Stimme als Performatives der klassischen Vernunftkonzeption schlechterdings entgegenstünden. Ein „Sprechen über Klang“ – Sowodnioks Methode, um die Hellhörigkeit für die eigene Stimme zu schulen und darin zugleich eine gewisse Stimmautonomie zu gewinnen – führe, so die Autorin, „aus der Sprache heraus.“16 Mit Sonnemann ließe sich entgegenhalten, dass solche Hellhörigkeit gerade (nicht zuletzt qua Aussprechens) in Sprache wie Vernunft hineinführen sollte, freilich in eine um ihren auditiven Aspekt erweiterte Vernunft wie in eine somatisch tingierte Sprache. Ähnlich verhält es sich hier derweil mit einem anderen Buch zum Thema ‚Stimme‘, das sich gerade anschickt, zum neuen Standardwerk auf diesem Gebiet zu werden: Mladen Dolars His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme. Zahlreiche Zusammenhänge thematisiert Dolar, die uns aus Sonnemanns Texten geläufig sind; etwa die Verschränkung von Metaphysik und Somatik oder aber Stimme und das Hören auf Stimmen als ein besonders wichtiges Motiv der Psychoanalyse. Wo es allerdings um sprachphilosophische Zusammenhänge geht, arbeitet sich Dolar fast ausschließlich am Saussureschen Sprachfunktionalismus ab, um sogleich dessen Grundprämissen in seine eigene Theorie einzutragen. So gelangt er zu folgender These: „Was Sprache und Körper gemeinsam haben, ist die Stimme, doch ist die Stimme weder Teil der Sprache noch Teil des Körpers. Die Stimme entstammt dem Körper, ohne Teil seiner zu sein, und sie trägt die Sprache, ohne Teil ihrer zu sein.“17 Sprache versteht Dolar dabei wesentlich im Sinne eines auf Gesetz und Bedeutung reduzierten lógos, dem sodann das Soma als das ganz und gar Sprachlose und Andere entgegengehalten wird. Auch hier wäre wiederum mit Sonnemann das Sprachleben als Vermittlung beider Seiten zu thematisieren. Fragwürdig wird Dolars Stimmtheorie überdies an der Stelle, wo sie in positivistische Anthropologie zu münden scheint und damit der Stimme eine naturhafte Bedeutung zuschreibt, deren soziale Genese dabei unter den Tisch fallen muss: „Die Etymologie gibt uns einen Hinweis auf den inneren Zusammenhang: Mit dem Hören beginnt ‚je schon‘ der Gehorsam; in dem Moment, in dem man zuhört, hat man schon begonnen, zu gehorchen; in embryonaler Form hört man stets auf die Stimme seines Herrn, ganz gleich, wie sehr man sich ihr hinterher widersetzt. Etwas an ihrem Wesen selbst verleiht ihr herrschergleiche Autorität“.18
Zweifelsohne wären für weiterführende Forschungen zur kritischen Theorie des Hörens Phänomene des Gehorsams ein wichtiger Untersuchungsgegenstand. Anders als in Dolars Konzept allerdings würden sie solche Weisen des hetero-
16Sowodniok:
Stimmklang und Freiheit, S. 184. Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme, aus dem Englischen von Michael Adrian, Bettina Engels, Frankfurt a. M. 2007, S. 100. 18Dolar: His Master’s Voice, S. 103 f. 17Mladen
Hören als Weltbezug: Responsivität und Resonanz
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nomen, zwanghaften Hörens nicht als ‚je schon‘ gegebene Eigenschaft auditiver Wahrnehmung erfassen, vielmehr in negativ anthropologischer Absicht danach fragen, wie es zu solchen Modi des Hörens kommen konnte und welche Potentiale von Hören dergestalt desavouiert werden. Dass bei Dolar eine solche Perspektive fehlt, mag schließlich auch daran liegen, dass eine (gesellschaftskritische) Differenzierung zwischen Macht und Herrschaft nicht vorgenommen wird, vielmehr beide in eins zu fallen scheinen.19
Hören als Weltbezug: Responsivität und Resonanz Fernab der nicht zuletzt medien- und kulturtheoretisch geprägten Sound Studies ist in den Geisteswissenschaften aber noch eine andere Besinnung auf die Eigenheiten des Hörens zu verzeichnen, die in den beiden letztgenannten Publikationen (ad Stimme) auch eine gewisse Rolle spielt: Hören als Weltzugang, aus philosophisch-phänomenologischer Perspektive betrachtet. Dass solch genuin philosophische Themen auch für andere Wissenschaftsbereiche Bedeutung gewinnen können, lässt sich einem jüngst erschienenen Sammelband zum Hören als medizinisch-therapeutischer Praxis entnehmen; sein Titel lautet: Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin. In seinen philosophischen Querverbindungen greift der Band insbesondere auf die Tradition der Phänomenologie zurück. Die Gegenwartsdiagnose, die der Herausgeber über den aktuellen Zustand der Medizin erstellt, erinnert dabei an gewisse Momente der Okularismuskritik, wie wir sie von Sonnemann kennen. Wissenschaftskritisch schreibt Giovanni Maio: „Weil das akustisch Aufgenommene sich nicht in die gängigen Mess- und Bewertungskriterien der Medizin einfügt, wird es schon von seiner Essenz her unterbewertet, ja geringgeschätzt. Im Gegensatz zum Gehörten lässt sich das Gesehene einfrieren und in ein dauerhaftes Bild überführen, es lässt sich als Beleg dokumentieren, als belastbare Evidenz verwerten.“20
Die gegenwärtige Wissenschafts- und damit auch Medizinkultur, so erfahren wir weiter, stehe folglich unter dem Primat des Visuellen und der Distanz. Dem bloß feststellenden wie schematisierenden Sehen müsse eine Rückbesinnung auf teilnehmendes, also empathisches Zuhören beiseitegestellt werden. Letzteres bedeute einen „Mitvollzug“, „Dabeisein“ und „Angesprochensein“.21 Solche Überlegungen
19Vgl.
Dolar: His Master’s Voice, S. 109. Maio: „Vom Verlust des hörenden Weltbezugs in der modernen Medizin“, in: Ders. (Hg.): Auf den Menschen hören. Für eine Kultur der Aufmerksamkeit in der Medizin, Freiburg 2017, S. 7–26, hier S. 7. Für den Hinweis auf diesen Sammelband und sein Thema sei Elmar Fleischer herzlich gedankt. 21Maio: „Vom Verlust des hörenden Weltbezugs in der modernen Medizin“, S. 11. 20Giovanni
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haben durchaus einen gesellschaftskritischen Anspruch, den Maio explizit benennt: „Was den Heilberufen im Zuge einer betriebstechnischen Durchrationalisierung der Organisationsabläufe sukzessive aberzogen wird, ist die Haltung der Unvorgenommenheit, die Haltung der Offenheit, die Haltung der tiefen Neugier für die Stimme des Anderen, die mit dem Aufruf, einer Verpflichtung verbunden ist.“22
So sympathisch solche Einwände gegen die Ökonomisierung und Überrationalisierung der Medizin grundsätzlich auch sein mögen: gerade das hier bediente Vokabular des Hörens (‚Aufruf‘, ‚Verpflichtung‘) erinnert an ein Problem, das uns schon bei Sonnemanns Existence and Therapy begegnet war. Hier wie dort wird mit dem Rekurs auf existentialistisch anmutende Kategorien erschwert, die gesellschaftlichen Strukturen, welche die zweifelsohne richtig beschriebenen Phänomene überhaupt zeitigen, tatsächlich zu benennen. Dem Gestus verfallsgeschichtlicher Kulturkritik nicht ganz unähnlich, klingen hier womöglich implizit verklärende Rückprojektionen an, die Rationalisierung und Technisierung per se beargwöhnen – und nicht primär deren ‚entfremdete‘ (also nicht durch menschheitlich verwirklichte Vernunft gelenkte) Anwendung unter kapitalistischen Vorzeichen. Explizit jedenfalls wird eine etwas einseitig (man könnte auch sagen: undialektisch) anmutende Technikkritik in einem Passus eines anderen Beitrages im selben Band, der gewissermaßen dessen philosophisches Fundament bildet. So schreibt Bernhard Waldenfels: „Dass Menschen sich den Kopfhörer überstülpen wie eine Hörhaube, um alsbald in eine unansprechbare Ferne zu entschwinden, gehört zu unserem technologischen Alltag.“23 Diese recht fragwürdig anmutende Generalisierung – denn selbstredend macht ein Kopfhörer niemanden per se unansprechbar, genausowenig wie alle Kopfhörerlosen immer ansprechbar wären – kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Waldenfels mit seinem phänomenologischen Konzept der Responsivität24 einige Gedanken bereithält, die einer kritischen Theorie des Hörens im Geiste Sonnemanns vertraut sind. Freilich ohne auf Sonnemann Bezug zu nehmen, schreibt auch Waldenfels in kritischer Absicht: „Insgesamt scheint sich so etwas wie ein westlicher Okularismus abzuzeichnen.“25 Dem entgegen geht es Waldenfels um „eine responsive Form der Phänomenologie, die dem Hören einen zentralen Platz einräumt und dabei auch Anregungen von Seiten der medizinischen Therapie in sich aufnimmt“.26 In ähnlicher Weise, erinnert sei an Teil III vorliegender Untersuchungen, übernahm auch
22Maio:
„Vom Verlust des hörenden Weltbezugs in der modernen Medizin“, S. 24. Waldenfels: „Hören auf die fremde Stimme“, in: Maio (Hg.): Auf den Menschen hören, S. 27–50, hier S. 31. 24Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister, Frankfurt a. M. 2007. 25Waldenfels: „Hören auf die fremde Stimme“, S. 29. 26Waldenfels: „Hören auf die fremde Stimme“, S. 29 f. 23Bernhard
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Sonnemann für seine philosophischen Überlegungen zum Hören wichtige Impulse aus der therapeutischen Praxis, wobei jedoch (teilweise über Sonnemann hinaus) vor allem an die Psychoanalyse zu denken war. Dabei stellt auch für Waldenfels das Gehör eine Wahrnehmungsform dar, die bestimmte Restriktionen einer allzu souveränistischen Vernunft überwinden kann: „Etwas fällt mir auf, wenn etwas an mein Ohr dringt. Ich benutze in diesem Zusammenhang das griechische Wort Pathos. Dieses bedeutet dreierlei: das Erleiden im Sinne des grammatischen Passivs, das Leiden unter etwas Widrigem und das Übermaß der Leidenschaft.“27
Zu prüfen wäre allerdings, ob die Theorie der Responsivität – der „genuine Zweitakt von Pathos und Response, von fremdem Anspruch und eigener Antwort“28 – tatsächlich für eine kritische Gesellschaftstheorie des Auditiven fruchtbar gemacht werden kann, oder ob hier nicht gewisse Wahrnehmungs- und Verhaltensmodalitäten, die durch gesellschaftliche Verhältnisse gezeitigt werden, einer naturalisierenden Anthropologie zugeschlagen werden. Das allerdings könnte nur eine vergleichende Detailanalyse der Konzepte zeigen. Mit letztgenanntem Problem konfrontiert denn auch ein weiterer Aufsatz des Bandes, der ebenfalls in phänomenologischer Tradition steht. In seiner Untersuchung zu den philosophischen „Voraussetzungen einer medizinischen Praxis“29 schlüsselt David Espinet die verschiedenen Aspekte des Hörens auf: „Was heißt Hören im Allgemeinen, was Zuhören im Besonderen? Worin liegt deren spezifische vorintentionale Affizierbarkeit (durch Sinn und Unsinn) im Unterschied zu anderen Formen des Hörens, also zu An-, Hin-, und Abhören, zu Lauschen und Belauschen oder Abhorchen sowie, nicht zu vergessen, zum kurz innehaltenden Aufhorchen? [Absatz] Es scheint so zu sein, dass Zuhören, um das es hier primär gehen soll, eine spezifische Artikulation unterschiedlicher intentionaler und attentionaler Modi des Hörens ist, die auf durchaus komplexe, aber eigenständige Weise zusammenspielen müssen, wenn so etwas wie ein gelingender Austausch – ein Gespräch, bei dem man sich zuhört, denn: ohne Zuhören kein Gespräch – zustande kommen soll.“30
So zutreffend Espinet hier die verschiedenen Nuancen des Wortes ‚Hören‘ offenlegt und damit die Fülle auditiver Wahrnehmungsmodalitäten anzeigt, so wohnt solch kategorisierendem Verfahren, wie es Espinet an anderer Stelle ausführlich dargelegt hat,31 doch eine gewisse Gefahr inne. In der genauen Trennung der Hörweisen wird womöglich nicht hinreichend berücksichtigt, dass in jedem Hören diverse solcher Nuancen zusammenkommen, sich die Trennung definitorisch also
27Waldenfels:
„Hören auf die fremde Stimme“, S. 33. „Hören auf die fremde Stimme“, S. 35. 29David Espinet: „Was heißt ‚Zuhören‘? Zu den Voraussetzungen einer medizinischen Praxis“, in: Maio (Hg.): Auf den Menschen hören, S. 342–361. 30Espinet: „Was heißt ‚Zuhören‘?“, S. 350. 31Espinet: Phänomenologie des Hörens. 28Waldenfels:
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nicht strikt durchhalten lässt. Am Beispiel des Musikhörens wird dies vielleicht besonders deutlich: Wenn ich (aufmerksam) ein Musikstück anhöre, so höre ich ihm auch zu. Nicht nur sind An- und Zuhören in diesem Sinne synonym, sie beinhalten zumindest im genannten Fall zugleich andere Nuancen des Hörens derart, dass sich diese Aspekte auch analytisch nicht heraustrennen lassen, ohne den Charakter des aufmerksamen An- bzw. Zuhörens zu beschädigen: Höre ich einer Musik zu resp. höre ich sie an, so muss ich hinhören – und werde stellenweise aufhorchen, wenn mich ein Detail überrascht oder mein Bewusstsein besonders beansprucht. Zugleich horche ich das Stück auch auf seinen strukturellen Gehalt hin ab. Und doch kann ich (muss ich sogar) gleichzeitig, das sahen wir bei Peter Szendy, zerstreut hören, also gewisse Dinge überhören. Schwerwiegender als die Gefahr des definitorischen Auseinanderreißens untrennbarer Elemente allerdings, die Espinet hier einigermaßen umschifft, indem er auf die multiple Gestalt einer jeden Hörnuance hinweist, ist eine andere Tendenz dieses Ansatzes: Wie bei Waldenfels wäre auch hier aus kritisch-theoretischer Perspektive zu fragen, ob mit dem definitorischen Verfahren der Phänomenologie nicht womöglich das Potential verschenkt wird, die tatsächlichen Phänomene des Hörens in ihrer Materialität, d. h. aber auch in ihrer historischen wie sozialen Genese, zu beschreiben.32 Zumindest aber schärfen die begrifflichen Differenzierungen, die Espinet vornimmt, die Aufmerksamkeit für die Komplexität und die Potentiale des Hörens. Schließlich gäbe es in Espinets Ansatz noch eine Überlegung, die auch für eine kritische Theorie des Hörens von großer Bedeutung ist und die weitere Untersuchungen zum Verhältnis von dieser und der Phänomenologie lohnenswert machte. Es ist dies die Annahme einer „spezifisch auditive[n] Artikulation sinnlicher Spontaneität […], die weit über die Sphäre reiner sinnlicher Rezeptivität hinausreicht.“33 Mit Waldenfels’ Responsivitätstheorie wurde schon eine Linie aktueller Phänomenologie benannt, die im Rahmen einer vergleichenden Untersuchung ihren Platz finden könnte. Verschiedene Arbeiten aus diesem und angrenzenden Bereichen ließen sich finden und hier sei exemplarisch nur noch einer der letzten größeren Entwürfe aus dem weiteren Umfeld benannt. Frauke Kurbacher hat in ihrer Philosophie der Haltung34 vielfach auf das Zusammenspiel von kritischer Urteilskraft und Figuren der Responsivität hingewiesen, wobei sie diverse philosophische Quellen (nicht primär solche der Phänomenologie im engeren Sinne) befragt. Dass solche Überlegungen eine besondere Affinität zur Musik wie zum Gehör haben, hat Kurbacher dabei gezeigt.35 Zu untersuchen wäre wiederum, 32Hierzu
stellt Peter Szendys Buch gewissermaßen das gegenläufige Programm dar, indem es die Geschichte unserer Ohren zum Gegenstand macht. 33Espinet: „Was heißt ‚Zuhören‘?“, S. 356. 34Frauke Kurbacher: Zwischen Personen. Eine Philosophie der Haltung. Würzburg 2017. 35Kurbacher: Zwischen Personen, S. 394: „In der Tat ist das Verständnis eines menschlichen Lebens in Haltungsvollzügen gut im Bild der Musik wiedergegeben. Letztlich ist es kaum zu verstehen, wie wir hörend Musik verstehen. Wir folgen einem Ablauf von Klängen, in denen uns gegenwärtig schon immer etwas voraus- und nachzuklingen scheint. Diese Metaphorik
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wie solche Philosophie der responsiven (aufmerksam antwortenden) und gleichermaßen reflexiv urteilenden Welthaltung, die wohl auch eine bestimmte Wahrnehmungs- und speziell Hörhaltung bedeutete, mit bestimmten Ideen der Kritischen Theorie in wechselseitige Diskussion gebracht werden kann.36 Ansätze zu einem in dieser Frageperspektive angedeuteten Brückenschlag zwischen Phänomenologie und Kritischer Theorie hat jüngst Hartmut Rosa vorgelegt mit seinem Buch Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Bei der titelgebenden Resonanz handelt es sich um ein akustisches Phänomen, das Rosa allerdings in übertragener Weise als Basiskategorie seiner Theorie zu etablieren versucht: eine resonante Weltbeziehung sei gewissermaßen ein „vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“,37 der von einer beziehungslosen, „feindlichen (repulsiven)“,38 schließlich „stummen Weltbeziehung“39 – sprich: von einer entfremdeten – zu unterscheiden sei. Mit diesem Konzept, dass sowohl auf Ideen und Begrifflichkeiten der Kritischen Theorie rekurriert als auch auf Elemente der Phänomenologie – neben ‚Responsivität‘ auch aufs ‚In-der-Welt-Sein‘ –, stellt Rosa die Frage nach dem guten Leben in den Mittelpunkt seiner Theorie und macht damit sehr viel expliziter (und insofern angreifbarer) als die zuvor genannten Ansätze das Verhältnis von Theorie und Praxis zum genuinen Gegenstand. So schreibt Rosa resümierend am Ende seines Buches: „Die Resonanzverhältnisse der Moderne sind gestört, so lautet die Diagnose des Buches. Die Moderne ist verstimmt.“ Und dennoch sei zu postulieren: „Eine andere Art des In-der-Welt-Seins, eine andere Form der Weltbeziehung ist möglich: Dies ist das optimistische Credo, das ich jener Diagnose entgegensetzen möchte und das sie letztlich motiviert. Die Konturen des Anderen sichtbar oder wenigstens erahnbar werden zu lassen, war das eigentliche Ziel dieses Buches.“40
zeigt die arendtschen Vorstellungen auch in einer Nähe zu einem zeitgenössischen Denken von Responsivität.“ — Und ebd., S. 358: „Haltung beschreibt u. a. die Brüchigkeit der einzelnen Existenz. Aber wenn der Blick zur Welt gewendet wird, voll solch brüchiger Existenzen, dann klingt, hallt diese Welt laut wider vor Anrufen, Aufrufen, Ansprüchen etc., die ich vernehme, die ich höre. Und es sind spezifische, einzelne, besondere, singuläre Bekundungen. Hier – im konkreten Anspruch als einem Angesprochen-Werden – kann ein ethisches Denken, kann Ethik, nicht vom Allgemeinen ausgehen und auch nicht (mehr) neutral sein. Wenn sie es tut, mißachtet sie jenen Einzelnen in seiner Einzigartigkeit, den zu hören sie bereit und überhaupt auf den Plan getreten war. Hinter solch ein Allgemeines kann Ethik – einmal des Responsiven gewahr geworden und angesichts des Anderen wie Eigenen – auch nicht mehr zurück. Das Responsive zeigt uns als eingelassen – und zwar nicht indifferent – in eine Welt, in ganz verschiedenen Weisen und Bezügen, Gewichtungen und Bedeutungen.“ 36Dies versucht übrigens gerade unter akustischen Gesichtspunkten Eusterschulte: „Leibliches Hören“. 37Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016, S. 24. 38Rosa: Resonanz, S. 316. 39Rosa: Resonanz, S. 292. 40Rosa: Resonanz, S. 739.
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Ob der Resonanzbegriff Rosas nicht mit seinen normativen Implikationen überstrapaziert ist und zumindest als soziologische Analysekategorie, die er sein soll, problematisch wird, wurde verschiedentlich thematisiert.41 Zugutezuhalten wäre dem Buch wohl, dass es ‚Resonanz‘ (und damit indirekt die oftmals recht abstrakt bleibende Rede von ‚Responsivität‘) gleichsam soziophänomenologisch betrachtet; das heißt, diese Kategorie nicht zunächst philosophisch entwirft, um sie dann auf die Wirklichkeit zu applizieren, als vielmehr in einer extremen Materialfülle dem eigentümlichen Leben der damit bezeichneten Phänomene nachgeht. Die Weisen möglicher Weltbeziehungen in Moderne und Spätmoderne, ihre gelungeneren wie konstitutiv zum Scheitern gebrachten Varianten, werden dadurch bisweilen eindrücklich, feinfühlig und erhellend dargestellt. Zudem zeigt Rosa, dass sich die Arten des ‚In-der-Welt-Seins‘ nicht existential aus dem menschlichen Wesen schlechthin ableiten lassen, vielmehr als je konkrete, sozialhistorisch geformte Beziehungsweisen analysiert werden müssen. Mit der titelgebenden Anleihe beim hörenden Wahrnehmen erhält in Rosas Ansatz zudem dasjenige seinen gebührenden Platz, was schon Sonnemann mit seinem Plädoyer für hellhörige Weltaufmerksamkeit einforderte: ein sensibles Gespür für die erfahrbare Welt, ohne sie nach cartesianischem Modell mit einer allzu instrumentellen (hier auch: szientistischen) Rationalität zu behandeln. ‚Erahnbar‘, also sicht-, spür- und hörbar werden zu lassen, dass die Welt in ihrem gegenwärtigen Status quo die einzig mögliche nicht ist, korrespondiert mit dem Anliegen einer kritischen Theorie des Hörens, wie sie hier mit Sonnemann entwickelt wurde. Allein, diese durchaus normative Implikation von Begrifflichkeiten wie ‚Resonanz‘, die sich etwa auch in solchen wie ‚Aufmerksamkeit‘ und ‚Hellhörigkeit‘ wiederfinden ließe, ist nicht die einzige, die Rosa intendiert. So stelle sein Buch „den Versuch dar, der Kritischen Theorie einen positiven Begriff zur Verfügung zu stellen, der es ihr erlaubt, über die Kritik hinauszugehen und sich auf die Suchen nach einer besseren Daseinsform zu machen.“42 Wiewohl auch die hier entwickelte kritische Theorie des Hörens mit und nach Sonnemann sicherlich (im logischen Sinne) positive Aspekte enthält, etwa die Beschreibung der transzendentalen Strukturen, die aufmerksames Hören voraussetzt, so muss sie doch auf einen derart (nämlich im normativen Sinne) positiven Begriff, wie Rosa ihn mit ‚Resonanz‘ postuliert, verzichten. Zu fragen wäre nicht nur, ob Rosas Konzept das einhalten kann, was es mit der sinnstiftend-positiven Konnotation des Wortes ‚Resonanz‘ verspricht: Dass die Welt dann eine bessere sei, wenn sie sich besser anfühle.43 Darüber hinaus scheint aus der sprachkritischen Perspektive vor-
41Vgl.
z. B. Andreas Reckwitz: „Auf dem Weg zu einer Soziologie des gelungenen Lebens?“, in: Soziologische Revue 40, H. 2 (2017), S. 185–195. Für den Hinweis auf diesen Text und ausführliche Diskussionen zu Rosas Buch sei Thomas Lux sehr herzlich gedankt. Ebenfalls herzlich danke ich Alexandra Schauer und Sebastian Tränkle für weitere Diskussionen zum Gegenstand. 42Rosa: Resonanz, S. 739 f. 43Zu einem ähnlichen Fazit gelangt Reckwitz: „Auf dem Weg zu einer Soziologie des gelungenen Lebens?“.
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liegender Untersuchungen zweifelhaft, ob sich tatsächlich unter ‚Resonanz‘ als einem Oberbegriff all jene Phänomene fassen lassen, die Rosa auflistet. Besteht nicht das Erhellungspotential seines Resonanzbegriffs gerade in einer nicht durchweg streng begrifflichen als vielmehr annähernden und tentativen, allusiven, schließlich metaphorischen Verwendungsweise, die dann aber immer nur gewisse Momente an den Phänomenen andeutend bezeichnen kann – also gerade keinen derart normativ belasteten, ‚positiven Begriff‘ darstellt? Schließlich klingt in Rosas Wendung zum Positiven noch eine weitere Schwierigkeit an: Auch wenn Rosa keineswegs vorzuhalten ist, dass er mit Resonanz ein undifferenziertes und ungebrochen utopisches Bild harmonistischer Weltbeziehungen zeichne, so scheint er doch der Tendenz nach die Bedeutung von Negation für das Projekt der Kritischen Theorie fehleinzuschätzen: sie ist nicht Merkmal eines angeblichen Pessimismus, also ihrer vermeinten Resignation, vielmehr (als bestimmte) der Versuch, gerade in der stummen Welt und in der gestörten Weltbeziehung Momente dessen herauszulesen, was diesen Zustand transzendiert.44 Sehr viel nachdrücklicher als ein Resonanzgefühl leistet das aber oftmals widersprechende Kritik.45
Mit beschädigten Sinnen denken Die kurzen Anmerkungen zu Hartmut Rosas Resonanztheorie helfen vielleicht, einem möglichen Missverständnis vorzubeugen, was eine kritische Theorie des Hörens leisten kann. Der Einwand gegen ‚Resonanz‘ als einem positiven Begriff lässt sich entsprechend umformulieren: In Anbetracht eines ‚kalten‘ Blicks der okularen Rationalität und einer instrumentellen Weltentfremdung hilft es nicht, auf eine als schlechterdings positiv konstruierte, resonanzfähige oder vernehmende Vernunft zu bauen. Noch zugespitzter: Gegen die von Sonnemann attestierte ‚Okulartyrannis‘ können nicht einfach Potentiale von Hören mobilisiert werden, als ob diese per se kritisch wären, Sehen per se verdinglichend. Vielmehr sind die Beschädigungen und die Potentiale der verschiedenen Sinneswahrnehmungen auf je eigene Weise zu reflektieren, sind Wahrnehmen und Denken also ins Verhältnis zu setzen. Zwar mag, angesichts der in vorliegenden Untersuchungen angedeuteten Wechselwirkungen zwischen instrumenteller Vernunft und verdinglichendem Sehen, dem Gehör im Laufe der (westlichen) Geistesgeschichte zunehmend eine marginalisierte Position im ‚Sinnesapparat‘ zugekommen sein;
44Rosa
selbst weist darauf hin; vgl. Rosa: Resonanz, S. 322: „An der Wurzel der Resonanzerfahrung liegt der Schrei des Nichtversöhnten und der Schmerz des Entfremdeten. Sie hat ihre Mitte nicht im Leugnen oder Verdrängen des Widerstehenden, sondern in der momenthaften, nur erahnten Gewissheit eines aufhebenden ‚Dennoch‘. Die aus Indifferenz und Repulsion gebildete Entfremdung muss erst spürbar werden, bevor sich resonante Weltbeziehungen ausbilden können.“ 45Zur Diskussion dieser Gegenüberstellung vgl. Christian Helge Peters, Peter Schulz (Hg.): Resonanzen und Dissonanzen. Hartmut Rosas kritische Theorie in der Diskussion, Bielefeld 2017.
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damit mag es auch nicht auf die gleiche Weise von herrschaftlichen Interessen korrumpiert sein wie das Sehen, somit kritischem Geist spezifische Erfahrungen ermöglichen, welche die anderen Sinne nicht auf gleiche Weise eröffnen können.46 Gleichwohl ist Hören nicht das ganz und gar Andere, dem man sich nun blindlings anvertrauen könnte, um einen Ausweg aus verstellten und verblendeten Verhältnissen zu finden. Fortzusetzen wäre in diesem Sinne eine kritische Theorie des Hörens auch als eine kritische Hörtypologie, wie sie bereits Adorno für das Musikhören in seiner Musiksoziologie skizzierte.47 In solcher Perspektive zeigen sich dann das Hören und die anderen Sinneswahrnehmungen in ihrer eigenen, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingten Widersprüchlichkeit. Sehr plastisch hat Iris Dankemeyer das fürs Technohören beschrieben, um die magische Anziehungskraft der dunklen und dröhnenden Clubkeller zu entzaubern: „Individualgeschichtlich ist das Hören eine Verbindung zur pränatalen Welt. Diese Welt kennt nicht Hunger noch Schmerz, keine Not, keine Verantwortung, keine Verpflichtung, keine Arbeit und kein erschöpftes Selbst. Wer einmal das Licht der Welt erblickt hat, findet sich in einer Realität wieder, die sich für den Einzelnen vor allem aus Zumutungen zusammensetzt, die es im Mutterleib nicht gab. Kultur muss etwas von dieser drastischen Unlust mildern und ein wenig dunkle Vorzeit anbieten. Nachdem es mit der milden Dämmerung des Feierabends vorbei ist, bricht neues Nachtleben an. Techno nimmt für einen Augenblick die Spannungen der Zivilisation zurück, der szenetypische Drogenkonsum streicht die somatische Natur durch. So fühlt der regressiv Technoide auch hier keine körperlichen Nöte, die Angst wird von ihm genommen, Euphorie künstlich induziert. Er bewegt sich distanzlos und unbewegt in einer Menge gleichgesinnter und hört dumpf auf etwas, das stark an die intrauterine Erfahrung erinnert: Herzschlag, Puls und die Schritte eines übermächtigen Wesens, mit dem er sich untrennbar verbunden fühlt.“48
Das Verlockende an solcher (nicht jedweder) Hörregression dürfte bisweilen sein, die Zumutungen, die der Arbeitsimperativ ans zeitgenössische Subjekt permanent
46Iris
Dankemeyer hat die Position des Ohres in diesem Sinne folgendermaßen beschrieben: „Unter den Sinnesorganen besetzt das Ohr gattungsgeschichtlich eine seltsame Zwischenposition: es ist weniger idiosynkratisch als Zunge und Gaumen, es kennt schon die Distanz von eigenem Leib und Außenwelt, es schmatzt und schnüffelt nicht. Um etwas zu begreifen, grapscht es nicht wahllos nach allem, was der Tastsinn in die Finger bekommt. Das Ohr ist bereits ein vergeistigtes Sinnesorgan. Doch mit der Durchsetzung der Aufklärung als Vorherrschaft des Geistes und gegenüber dem mit ihr verbündeten Auge erweist sich das Ohr wiederum als naturnaher Sinn. Das Ohr wartet. Während das Auge die Welt durchleuchtet und erobert, verhält das Ohr sich eher passiv. Ein wesentliches Moment des Hörens ist das Innehalten, das reglose Verharren, wenn es auf mögliche Gefahr lauscht“; Iris Dankemeyer: „Die Gewalt der Musik. Zur Genese gesellschaftlichen Gehorsams“, in: Theodora Becker et al. (Hg.): Grenzsteine. Beiträge zur Kritik der Gewalt, München 2016, S. 142–155, hier S. 142. 47Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen [1961/62|1968], in AGS 12, S. 169–435, hier S. 178–198. Vgl. hierzu auch Szendy: Höre(n), S. 118 f. 48Dankemeyer: „Die Gewalt der Musik“, S. 154.
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stellt, für einen Augenblick wenigstens etwas vergessen zu können. (Ein Augenblick, der verweilen soll — auch deshalb immer länger ausgereizt wird? Stichwort: szenetypischer Drogenkonsum.) Ob man darin ein gewisses, wenn auch noch so beschädigtes Freiheitsmoment an technoinduzierter Selbstvergessenheit erblicken mag, sei dahingestellt. Zumindest aber ist das Gegenmodell zu diesem äußert zerstreuten Hören: das höchst aufmerksame und konzentrierte, strukturelle Musikhören, keineswegs unbeschädigt. Nicht nur handelt es sich bei ihm um eine bis dato sehr exklusive sowie voraussetzungsreiche soziale Praxis, in der sich nicht selten die gesellschaftliche Hierarchie manifestiert: kaum eine Sparte des Kulturbetriebs ist derart homogen im Erscheinungsbild und sozialen Hintergrund des Publikums wie klassisches Konzert und Oper; wobei wiederum keineswegs alle Konzertbesucher strukturell hören, unter ihnen zweifelsohne nicht unerhebliche Verhaltensüberschneidungen zum Clubmusikkonsum zu verzeichnen sein dürften. Schwerwiegender allerdings in puncto Beschädigtsein, dass auch das ganz strenge und konzentrierte Hören, wenn es sich Genuss und Lust gänzlich verbietet, ins Instrumentelle umschlagen kann: unterdrückende Affektkontrolle. Dass es, wenn man so will, unter gegebenen Bedingungen kein richtiges Hören gibt, heißt aber nicht, dass jedwedes Hören gleichermaßen lädiert ist. Für den strukturellen Hörtypus etwa gilt, dass wahrhaft strukturelles Hören ein äußerst reflektiertes ist, mithin jenes affektive Moment in sich aufnimmt und im Falle von Musik das Gehörte nicht auf reine Formen und bloße Strukturen reduziert. Strukturelles Hören, wie Adorno es beschrieb, ist das musikalische Pendant zu Sonnemanns Forderung, ein hellhöriges Ohr für den Zusammenhang eines Textes resp. einer sprachlichen Äußerung auszubilden. Und doch kann dieser Anspruch nicht vollumfänglich erfüllt werden, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren anderen (etwa ökonomischen) Anforderungen an die Subjekte dem permanent entgegenwirken. Selbst noch so reflektiertes Hören bleibt bis heute beschädigt. Dies gilt im Übrigen für alle Sinneswahrnehmung. Anstatt sich also auf die Suche nach einer ganz unverstellten Form von Erfahrung zu begeben, kommt es eher darauf an, ob sinnlich wahrnehmendes Denken und denkende Erfahrung sich in ihrem Sosein resigniert einrichten — oder ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Läsionen richten, solcherart durch ihre Beschädigungen hindurch perzipieren (ihnen nachspüren, sie durchschauen, aus ihnen etwas heraushören, …) und so über sie und sich selbst hinausdeuten.
Abbildungsnachweise Abbildung 1: Helmut Lachenmann: Gran Torso, Musik für Streichquartett [1971|1976|1988], Wiesbaden (Breitkopf & Härtel) 1988, T. 270–280. © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 2: Lachenmann: Gran Torso, T. 103 f., © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 3: Lachenmann: Gran Torso, T. 104, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 4: Christoph Herndler: abschreiben. In 3 Teilen. Für Streichinstrument(e), Ausschnitt, © 2005 by edition eis. Abbildung 5: Matthias Spahlinger: adieu m’amour. Hommage à Guillaume Dufay für Violine und Violoncello. [1982|83], Hamburg (peermusic) 1983, II, T. 5 f, © 1983 by peermusic. Abbildung 6: Lachenmann: Gran Torso, T. 1–7, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 7: Lachenmann: Gran Torso, T. 98 f., © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 8: Lachenmann: Gran Torso, T. 134, II, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 9: Lachenmann: Gran Torso, T. 63 f., I, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 10: Lachenmann: Gran Torso, T. 280, C, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden. Abbildung 11: Lachenmann: Gran Torso, T. 3, Ausschnitt, © 1972 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, 1980 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 M. Mettin, Kritische Theorie des Hörens, Studien zur Kritischen Theorie, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05693-1
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Siglen Ulrich Sonnemann ET Existenz und Therapie [1954], in: Schriften Bd. 2, Springe 2011, S. 45–465. IsO Institutionalismus und studentische Opposition. Thesen zur Ausbreitung des Ungehorsams in Deutschland [1968], in: Schriften Bd. 5, Springe 2016, S. 324–417. MZA „Mose oder Die Zukunft der Autorität“, in: Gerhard Szczesny (Hg.): Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung II, München 1965, S. 79–93. NA Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals [1969], in: Schriften Bd. 3, Springe 2011, S. 19–360. SdS Die Schulen der Sprachlosigkeit. Deutschunterricht in der Bundesrepublik, Hamburg 21970. ZiA „Zeit ist Anhörungsform. Über Wesen und Wirken einer kantischen Verkennung des Ohrs“, in: Tunnelstiche. Reden, Aufzeichnungen und Essays, Frankfurt a. M. 1987, S. 279–298.
Andere Autoren DdA Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1944|1947], in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Bd. 5, hg. von Gunzelin Schmid Noerr, Frankfurt a. M. 1987. KrV Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781|87], Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. III/IV., hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977.
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1Auf die Trennung zwischen Primärquellen und sogenannter Sekundärliteratur wird hier verzichtet. Gleichwohl werden die Texte Ulrich Sonnemanns zuerst aufgeführt (1), dabei zunächst die bislang erschienenen Nummern der Schriften in zehn Bänden, sodann Monographien und Aufsätze sowie Briefwechsel. Hierauf folgen: theoretische Texte anderer Autoren (2); Standardwerke und Wörterbücher (3); zuletzt literarische Texte und andere Kunstwerke (4). Die nicht ganz unproblematische und nicht immer eindeutig durchführbare Trennung zwischen theoretischer Literatur und Kunstliteratur wurde der Übersicht halber vollzogen. Um der besseren Auffindbarkeit willen sind Autoren und Titel alphabetisch geordnet.
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