Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie 344612201X


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Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie
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Reihe Hanser 207 Alfred Schmidt '. Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie

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Al/red Schmidt, geboren 1931 in Berlin. Studium der Geschichte, der englischen und klassischen Philologie an der Universität Frankfurt am Main, später der Philosophie und Soziologie. Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Professor für Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt am Main. Veräffentlichungen: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962; überarbeitete, ergänzte und mit einem: Postscriptum versehene Neuausgabe 1971) - Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie (1963) Zum Verhältnis von Geschichte un.d Natur im dialektischen Materialismus (1965) - aber Geschichte und Geschichtsschreibung in der materialistischen Dialektik (1967) - Existential-Ontologie und historischer Materialismus bei H erbert Marcuse (1968) - Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie (1968) - Der strukturalistische Ang;iff auf die Geschichte (1969) Adorno - ein Philosoph des realen Humanismus (1969) Die »Zeitschrift für Soziqlforsc,hung«. Beschichte und gegenwärtige Bedeutung (1970) -Geschichte und Struk. tur. Fragen ·einer marxistischen Historik (1971) - Eman'zipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropo. logischer Materialismus (1973) - Zur Idee der Kritischen Theorie (1974) - Praxis (1974) Existentialistische Marx-Interpretation (zusammen mit . Herbert Marcuse, 1973) :.... Was ist Materialismus? (zusammen mit Werner Post, 1975) HerausgebervonSchriftenFeuerbachs, Horkheimers und Friedrich Albert Langes; Dberset,zer Herbert Marcuses.

Alfred Schmidt Die Kritische Theorie 'als Geschichtsphilosophie \

earl Hanser Verlag.

Inhalt Vorbemerkung 7 Die Kritische Theorie: ihr geschichtlich-situativer Cha- , rakter 13 Horkheimers ursprünglicher Denkansatz, seine doppelte Frontstellung gegen geisteswissenschaftlichen Historismus und Heideggersche Daseinsanalytik 16 Materialistische Aufnahme und Kritik der HegeIschen Geschichtskonstruktion 2 I Geschichtsforschung und Psychologie; Kritik des methodologisehen Dualismus bei Dilthey und der südwestdeut-' sehen Schule 3 I Materialistische Erkenntnistheorie ~ls histo.risch begrif., fene Einheit von Konstitutions- und Abbildlehre 39 Horkheimers Kategorie der »dynamischen Struktur«; Schwierigkeiten ihres h~utigen Gebrauchs 47 L.

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Dilthey als Vorläufer des sozialwissensi::haftlichf!n Strukturalismus: die sachliche B.edeutung seiner Historik für die Kritische Theorie 49 Reihe Hanser 207 ISBr:< 3-446-1220I-X , Alle Rechte vorbehalten. © 1976.Carl Hanser Verlag München, Wien Ausstattung: Heinz Edelmann Gesamtherstellung: Pustet, Regensburg Printed in Germany

Rekurs auf M arx und Engels: Einheit und Differenz historischen Erk'ennens in Geschichtswissenschaft und politischer Ökonomie 62 Horkheimers Geschichtsmethode jenseits von zeitloser Metaphysik und »historischem« R~lativismus 66

, Das anonymisierte Subjekt der Geschichte; die Frage der innergeschichtlichen » Vermittlung« von Ereignissen ~nd, Strukturen im heutigen Struktur-Denken und bei Marx 68 \ Das Vernunftinteresse der Freiheit als spezifisch philosophisch-er Gesichtspunkt der Kritischen Theorie' 8I De~ »naturgeschichtliche« Charakter des bisherigen Ge-

schzchtsverlaufs; Grenzen seiner - handlungstheoretischen - » Verstehbarkeit« 87 F;lementeeiner materialistischen Theorie der Subjektivität bei Horkheimer; Vergegenwärtigung der Geschichte - Vergeschichtlichung der Gegenwart 91 Die Idee der »Aufhebbarkeit« des historischen Materia'lismus als geschichtsphilosophischer Wesenszug der Kritischen Theorie 100 Literaturnachweis

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Vorbemerkung , Die Studie ist aus dem überarbeiteten und wesentlich erweiterten Text eines Vortrags gleichen Titels hervorgegangen, den der Verfasser am 14. Juni 1974 anläßlich des 50. Jahrestages der Eröffnung des Frankfurter Instituts , für Sozialforschung in einer Vortragsreihe gehalten hat. So bedauerlich es i'st, daß sie bei ihrem jetzige~ Umfang nicht im ursprünglich vorgesehenen Rahmen publiziert werden konnte, so positiv empfindet es der Autor; daß eine großzügigere Beh~d1ung des Themas es gestattete, zusätzliche Materialien zu verarbeiten und den Gedankengang zu präzisieren. Insbesondere lag ihm daran, kritische Bedenken, Hinweise, auch Anregungen zu berücksichtigen, die ~ich nach dem Vortrag, in der öffentlichen Diskussion, vor allem aber während des anschließenden Kolloquiums im engeren Mitarbeiterkreis des Instituts ergebenhatten. Den Teilnehmern, namentlich Gerhard Brandt, ist der Autor zu Dank verpflichtet. Wenn diese Studie iiber den geschichtsphilosophis,chen Gehalt der Kritischen Theorie sich wesentlich an Hork'heimers frühen Essays in der Zeitschrift für Sozialforschungorientiert,so nicht, weil spätere Arbeiten aus dem Frankfurter Schulzusammenhang thematisch weniger erheblich wären, sondern weil sich - unter dem gewählten Gesichtspunkt - die Kritische Theorie in jenen Essays inverbindlichster Form darstellt. Sie bleibt durchweg bezogen auf Inhalte sowohl der vergangenen wie der aktUellen Geschichte, ohne den philosophisch-kon:" struktiven, auf konkrete Freiheit a?zielenden Aspekt zu 1

vernachlässigen. Entscheidend bleibt die positive Seite I d~s Verhältnisses der Marxschen Dialektik zum deutschen Idealismus. 1 Horkheimers Programm, materialistische Kulturgeschichte als »Anthropologie des bürgerlichen Zeitalters(, darzustellen, wirft Fragen des historischeri Erkenntnisprozesses auf, die keineswegs erledigt sind. Die Art, wie sie der Begründer der Kritischen Theorie behandelt (und dabei den Rahmen der in den dreißiger Jahren akademisch vorgegebenen Kategorien ebenso anerkennt wie sprengt), ist noch immer lehr~ reich. Die' Geschichtsmethode der Horkheimerschen Essays wird heute vielerorts kaum erreicht, geschweige denn überboten. -Andererseits wird gerade an ihr deutlich, welche veränderte Stellung die Kritische Theorie 'insge,samtim breiten Spektrum gegenwärtiger Marx-Debatte einnimmt, im Hinblick worauf sie neu zu überdenken ist. Horkheimer nähert, in Hege1scher Tradition, die Geschichtsphilosophie der Historiographie an. Dabei. betrachtet er, im Sinn der Marxschen Differenz von »Forschungs-(, und "Darstellungsweise", die »Spiegelung(' dessen, was er »dynamische Struktur der Ge1

Demgegenüber - daran sei lediglich erinnert - tritt in späteren Schriften Horkheimers (und Adornos) diese produktive Spannung von inhaltlicher Historie und geschichtsphilosophischer Konstruktion des (zumindest potentiell »vernünftigen«) Gesamtverlaufs zugunsten eines - Schopenhauerischen - G~neralverdikts zurück, das - obzwar berechtigt gegen metaphysische Verklärung sinnlosen Leidens -letztlich auf materiale Geschichte als Gegenstand von Erkenntnis verzichtet. Derru,-t heißt es lapidar in der Dia'lektik der Aufklärung (F[ankfurtan1 Main I9692, S.236), »Ge" s~hichteals Korrelat einheitlicher Theorie, als Konstruierbares«, sei "das Grauen«. - Es ist;. der nämliche, negative Inhalt, der in einer trligerischen Mannigfaltigkeit von Formen erscheint.

schichte« nennt, als »Konstruktion" - nicht als oberflächliche Wiedergabe der Ereignisse. Dem ist prinzipiell beizupflichten. Auch die Geschichtswissenschaft muß ihren Stoff gedanklich durchdringen und übersetzt ihn so in eine neue Sprache. Untersuchen wir jedoch Horkheimers Begriff von "Konstruktion« näher, so zeigt sich, daß er, gemessen an heutigen Bedürfnissen und Fragestellungen, der Korrektur bedarf. Wie Hegel (und der ihm darin streckenweise folgende Marx) versteht Horkheimer Geschichte vorab' als zeitliche' Sukzession von Stufen, Natur als Reich des räumlich Zerstreuten, Simultanen. 2 Diese bewegt sich'in Kreisläufen, jene kennt wirkliches Werden. Eine starre Dichotomie, deren Unhaltbarkeit sich längst herausgestellt hat. Modernes Geschichtsdenken operiert ebenso mit dem Begriff einer '»verräumlichten« Geschichte wie mit dem einer ,)verzeitlichten« Natur. Zum Gemeinplatz ist geworden, daß Geschichte mehrstrahnig verläuft, und zwar - das sieht bereits Dilthey - nicht nur in diachronischen, sondern auch synchronischen »Wirkungszusammenhängen«, die zuweilen höchst verschiedenen Epochen entstammen. 3 Gesichtspunkte, die bei Horkheimer zurücktreten. Sy-, stemtheoreti~che oder strukturalistische Erwägungen '2 »Die Weltgeschichte«, sagt Hegel, »ist ... die Auslegung des Geistes in der Zeit, wie sich im Raum die Idee als Natur auslegt« (Phi~ losopbie der Weltgeschichte, L Band, Leipzig I944, S. I]4). 3 Ernst Bloch hat sich schon 1932 sehr instruktiv mit der Problematik eller »mehrschicl1tigen« oder »mehrräumigen« Dialektik beschäf" tigt, die der Gleichzeitigkeit von Tatbeständen entspringt, die ihrer historischen Herkunft nach »ungleichzeitig« sind (cf. Erbschaft dieser Zeit, erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main I962, S. I04-126).

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sind ihm fremd, sosehr der Gedanke, daß Geschichte nur in dem Maße als wissenschaftliches Objekt gelten kann, wie sie »konstruiert« ist, die Kritische Theorie mit Althussers rigidem »Anti-Empirismus« zu verbinden schei~t. Bei Horkheimer bleibt jedoch alle begriffliche Konstruktion rückbezogen auf den weltgeschichtlichen »Stufengang« .4 Die Parallelität von Denk- und Seinsprozeß bleibt gewahrt. Die »dynamischen Strukturen«, von clenen Horkheimer spricht, sind - in heutiger Sprache »ereignisgeschichtlich« vermittelt wie, umgekehrt, die Ereignisse aus ihnen erklärt werden miissen. H'orkheimers Geschichtsbegriff enthält, bei allem materialistischen Vorrang anonymer Strukturen, ein narratives, auch praktisch-politisches Moment. Dadurch wird, von Althusser her argumentiert, die Theorie empiristisch, '»verunreinigt«. Bestimmte, gegenwärtig wesentliche Fragen gelangen nicht mit ihrer ganzen Schwere in Horkheimers Blickfeld. Die spezi/ische (mit Historiographie keineswegs zusammenfallende) Geschichtserkenntnis des Marxschen Kapitals wird in der Zeitschrift , für S~zialforschung nur unzulänglich behandelt.- Oft gewinnt manhie; den Eindruck, als reproduziere die Ordnungder Kategorien die G~nesis des erkannten Objekts, ~as dem, Marxschen V~rfahren offensichtlich. widerstl'eitet. Gleichwphl können diese - fraglos berechtigten ,- Einwände das Verdienst der Horkheimerschen Geschichtsmethodologi_e nicht schmälern. Sie steht dem ursprünglichen .Impuls des dialektischen Materialismus deshalb imrner,noch näher als die Vertreter dc:!r Althusser-Schuie, weil sie Marxens ökonomische Problematik 4

Hegel, Philosophie der Weltgeschichte, I. Band, I. c., S. I3 5.

durchweg riickbezieht auf die einheitlich! konzipierte Weltgeschichte. Wie Marx selbst hält Horkheiil1er unbeschadet aller erforderlichen Differenzierungen im Begriff historischer Dialektik daran fest, daß Geschichte ein letztlich doch gerichteter, irreversibler Prozeß ist. 5 Die, Pluralität in sich komplexer Teilgeschichten wircl derart 5

Cf. zu diesen, aus Marxens sozialhistorischen StudieI;1 etwachsenden Differenzierungen in seinem Begriff von Dialektik als einer gleichwohl einheitlichen Konzeption den: Aufsatz des Verfassers

Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im dialektischen Materialismus, Anhang zu der Schrift: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Frankfurt am Main/K;öln 1974, S. 178-I92. - In 'neuerer marxistischer Literatur über die Kategorie der ökonomischen Gesellschafrsformation taucht die Frage ~ach Einheit und Vielfalt, »Unilinearität« und »Multilinearität« des Geschichtsverlaufs in philosophisch wichtigem Kontext auf. So schreibt der Historiker Ernst Engelberg: »Es scheint falsch; die Begriffe >linilinear, und >multilinear, im Blick auf den ganze~ weltgeschichtlichen Prozeß ... einander ltarr entgegenzusetzen, als ob es da nur ein' rigoroses Entweder-Oder gäbe. In die Auffassung von der unilinearen ... Weltgeschichte schleicht sich leicht die Tendenz ein, der Marx-Engelsschen Reihenfolge von Gesellschaftsformationen einen quasi-normativen, ... allgemeingültigen Charakter zu geben. Andererseits tendiert die AU,ffassung von der m1,lltilinearen Ent, wicklung dahin, die Hauptlinie des weltgeschi~ht1ichen Prozesses ... zu negieren oder zumindest zu verwischen; hier gibt es dann mehrere' gleichartig akzentuierte Entwicklungslinieii in der Abfolge der Gesellschafrsformationen. Mit der Methode eines starren Entweder-Oder wird die wissenschafrliche Erkenntnis niemals der Vielgestaltigkeit des weltgeschichtlichen Prozesses ..• gerecht werden ... Das ist nur möglich, wenn man unter Anerkennung der letzten Endes doch bestimmenden Hauptlinie in der Progression der Gesellschafrsformationen die Dialektik von Unilinearem und Multilinearem berücksichtigt« (Ereignis, Struktur und Entwicklung in der Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XXIII. Jahrgang, Berlin I975, Heft 6, S. 63 I f.). Ir

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von der Kritischen Theorie - darin ist sie Geschichtsphilosophie - der Kantischen Idee einer »allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« untergeordnet., Frankfurt, im August 1975

AHred Schmidt

Die Kritische Theorie als Geschichtsphilosophie Die Kritische Theorie: ihr geschichtlich-situativer Charakter Will man Wesenszüge einer umfassenden T4eorie darstellen und dabei schlechte Allgemeinheit vermeiden, so empfiehlt es sich, jeweils einen, freilich sorgfältig gewählten Aspekt so zu betrachten, daß von ihm aus - in U mrissen- das Ganze sichtbar wird. Ein solcher Aspekt ist im besonders schwierigen Fall der Kritischen Theorie das Thema der Geschichte. Ihm kommt im marxistischen Denken von Anbeginn entscheidende Bedeutung zu. »Wir kennen«, schreiben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie, »nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte«. 1 Daran halten die Begründer der Kritischen Theorie fest. Es dürfte in ihren Schriften kaum einen Gegenstand geben, dessen Gewicht und Farbe nicht von einer das begriffliche Ganze tragenden Geschichtskonzeption bestimmt wären. Ihre Hauptmomente sind im folgenden zu untersuchen. Beabsichtigt ist, einführend in die Gesamtproblematik der Kritischen Theorie, ihre veränderte Stellung im Spektrum zeitgenössischer Marx-Interpretation zu verdeu~lichen. W~rdt:;n heute die Auswirkungen der Frankfurter Schule inn~rhalb des universitären Bereichs erörtert, so erwähnt man meist den »Positivismusstreit« der späten sechziger Jahre, der eine gewisse Publizität erlangte. Seltener wird 1

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Marx/Engels, Werke, Band 3, Berlin 1962, S. 18 (Textvariante).

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beachtet, wie sehr die Kritische Theorie seit der Wiedereröffnung des Instituts, wenngleich wenig'er spektakulär, dazu beitrug, daß hierzulande die bedeutende - seit 1933 verschüttete'- marxistische Tradition neu ins Bewußtsein aufgenommen wurde. Denken wir dabei nicht nur an Autoren wie Lukacs oder K~rsch, sondern vor allem daran, daß die Kritische Theorie vielen Studierenden einen unverstellten Zugang zum humanistischen Gehalt des Marxschen Werks überhaupt erst ermöglichte. freilich ko.p.nten ihre Verfechter während der durch ein Wechselspiel von Kaltem Krieg und stalinistischer Ideologie gekennzeichneten fünfziger Jahre, gleichsam überwinternd, an jenem Gehalt nur in abstracto festhalten. Erst ein Jahrzehnt später gelang es, unter we~entlich veränderten Umständen, die Kritische Theorie in die nunmehr breitere internationale Diskussion um Marx und den Marxismus einzuführen. Der Durchbruch (so stellt es sich im nachhinein dar) erfolgte auf dem FrankJ~rter Kolloquium vom September 1967, das unter dem, Titel stand: Kritzle der politischen Ökonomie heute. roo Jahre »Kapital«. Hier zeichneten sich qualitativ neue Wirkungsmöglichkeiten ab - auch außerhalb des Wis,senschaftsbetriebs. Davon, d~ sie nicht 'gering veranschlagt wurden, zeugte einerseits die heftige, bald einsetzende Polemik der sowjetmarxistischen ' Orthodoxie,' andererseits der nachweisbare Einfluß, den di~ Frankfurter Richtung auf reformkommunistische Wissenschaftler ausübte. Momente der MarxschenTheorie, die quer standen zu ihret kanonisierten Gestalt, traten wie-;, der oder erstmalig ins Blickfeld. , Es erscheint deshalb fruchtbar, den - bisher ungenügend beachteten - Beitrag der Kritischen Theorie Zur neueren

westeuropäischen Marx-Diskussion einmal unter geschichtsphilosophischem Aspekt zu untersuchen. Zuvor ist daran zu erinnern, daß eine sich radikal geschichtlich verstehende Konzeption ihrerseits geschichtlich relativiertwerderi muß. Die Kritische Theorie war eine spezifische, 'unter den unwiederh~lbaren Bedingungen der dreißiger Jahre entstandene Rezeptidn des Marxismus. Kein Wunder, daß ihr Problem- und Lehrbestand sich inzwischen in manchem Betracht änderte. Indem sie die Gegenwart jeweils als zu gestaltende Geschichte begriff, mußte- zu Unrecht beanstandet::- ihr Marx-Verständnis selektiv ausfallen, das heißt, es konnten nicht immer upd gleichermaßen alle Bestandteile der, überkommenen Lehre in ihr präsent sein. Was in den Vordergrund rückt, was weniger akzentuiert wird, darüber befindet nicht die Willkür des Theoretike~s, sondern der I Stand der Geschichte. Ihm muß die Theorie entsprechen. 2 »Dabei entscheidet«, schreibt Negt, »über den Wahrheitsgehalt , einer solchen Theorie vor allem das Kriterium, in welcher Weise es ihr gelingt, gesellschaftliche Erfahrung zum begrifflichen Ausdruck zu bringen. Je spezifischer die geschichtlichen Inhalte ~ind, die eine Theorie erfaßt, desto. verallgemeinerungsfähiger ist sie. Die >kritische \ Theorie< ist 'die Form der marxistischen, Theorie, die den Faschismus', den hochzivilisiert~n Rückfall in ,die Barbarei, zu ihrem bestimmenden Erfahrungsgehalt hat.«3 I

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Cf. dazu Theodor W. Adorno und Peter von Haselberg, aber die geschichtliche Angemessenheit des Bewußtseins, in: Akzente, Jahrgang 12, Heft 6, München 1965, S. 487-497. Einleitung zu: Kritische Kommunikationsforschung. Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung, herausgegeben von DieterPro-' kop, München 19,73, S. XIV.

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Negtbelegtimweiteren, daß diese Begrenzung des theo.:. retischen Feldes auf Nöte einer konkret-geschichtlichen I Situation keineswegs bedeutet, daß die Kritischen Theoretiker die Marxsche Lehre verengten. In »Wirklichkeit«, sagt er, »ist es ... eineErweiterung, eine historische Spezifizierung, die, oft ohne es zu wissen, von jeder Generationneu geleistet werden muß, um den revolutio~är-kri­ tischen Gehalt der epochalen Theorie von Marx ... 'zu verlebendigen.«4

H orkheimers ursprünglicher Denkansatz, seine doppelte Frontstellung gegen geisteswissenschaftlichen Historismus und Heideggersche Daseinsanalytik

Ein objektiv-geschichtlicher Ort, von dem aus zugleich verständlich wird, weshalb Geschichte - als philosophisches wie einzelwissenschaftliches Problem - nicht nur unentwegt in der Kritischen Theorie~auftaucht, sondern deren Kohärenz überhaupt erst stiftet. Die Kritische Theorie gewinnt' dadurch Profil, daß sich ihre Begründer, auf freilich akademisch vorgegebenem Terrain, »allen prinzipiellen Diskussion~n über den begrifflichen Sinn und die materiale Struktur des Geschichtlichen«5 stellen., Die Hauptarbeit - das sei sogleich betont - fällt dabei Horkheimer zu. Ihm geht es in den frühen dreißi-· 4 5

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Ibid; Leo Löwenthal, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur, in: Zeitschrift für Sozia/forschung, herausgegeben von Max Horkheimer mit einer Einleitung von Alfred Schmidt, Jahrgang I, 19]2, Doppelheft 112., München 1970, S. 85.

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ger'] ahren darum, im engen Anschluß an Marx 1,lnd Engels eine ;>dem Stand der Sozialwissenschaften« angemessene »Geschichtstheorie« 6 zu entwickeln. Das geschieht vorab in der Zeitschrift für Sozialforschung. Von ihr heißt es in Horkheimers Vorwort zum ersten Doppelheft, abzielend »auf die gegenwärtige menschliche Wirklichkeit«, befördere sie »eine Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche«.7,Dennoch bedürfe sie, »sowohl zuJ.Il Verständnis der Gegenwart als auch zur Prüfung und Ausbildung der theoretischen HiHsmittel, historischer Untersuchungen«; sie »haben«, hebt Horkheimer hervor, »den Zusammenhang Init der aktuellen Problematik« auch dann »zu wahren«, wenn sie »sich auf die verschiedensten Epochen erst~ekken«.8 , Was den spezifisch theoretischen Gehalt des Geschichtsdenkens der Frankfurter Sozialforschung betrifft, so entfaltet Horkheimer einige seiner wesentlichen Momente in der Studie Geschichte, und Psychologie, die bestrebt ist, den »logischen Ort der Psychologie in einer Geschichtstheorie« zu bestimmen, »die der gegenwärtigen Situation entspricht«. 9 Philosophisch ist diese, als Horkheimers Arbeit erscheint, gekennzeichnet durch »zwei logisch verschiedene Geschichtsbegriffe«.1° Der eine entstarm:nt'den im Neukantianismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts »als Reaktion gegen materialistische Tendenzen in Wissenschaft und Gesell6

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Max Horkheimer, Geschichte und Psychologie, ibid., S. auch S. 143 .. Ibid., S. III. 9 Ibid., S. 143. Ibid. 10 Ibid., S. I25.

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schaft« 11 entstandenen Systemen; Gemeinsam ist ihnen, »den Sinn von;Natur, Kunst, Geschichte nicht~us unmittelbarer Vertiefung in diese Gebiete selbst, sondern aus einer Analyse der ihnen entsprechenden Erkenntnis zu gewirtnen«.1 2 Aus der idealistischen Ansicht vom subjektiven »Ursprung« der Welt insgesamt ergibt sich die sp'ezielle Lehre, es gelte, die wissenschaftlichen Ge~ genstandsbereiche »auf verschiedene Funktionsweisen des erkennenden Subjekts zurückzuführen«. 13 Wie »Natur« als Objekt den Neukantianern zufolge aus den es konstituieienden Methoden erschlossen wird, so soll, , was »Geschichte« sei, der Reflexion auf dIe historischen ,Methoden entspringen. Ein derartiger Geschichtsbegriff ist für Ho.rkheimer wegen seiner naiven Bindung ans jeweilige »Faktum der Geschichtswissenschaft« 14 problematisch; »prinzipiell«, sagt er, kann sich die an ihr orientil':rte, Philosophie »zur Geschichtsschreibung auch in einer Zeit, in der diese mit ihren Methoden und Auf~ fassungsweisen hinter ,dem allgemeinen Stand der Erkenntnis zurückbleibt, nicht eigentlich kritisch, son- ' dem nur apologetisch verhalten«.15 Demgegenüber zollt die den anderen Geschichtsbegriff begründende Existential-Ontologie den gegebenen Wissenschaften und ihrer Methodik weniger Respekt. Heidegger ist bestrebt, Philosophie »jenseits der empirischen Forschung aufzubauen«.16 Nicht aus den ihnen zuge11 Ibid. :./ 12 Ibid. 13 Ibid: 14Ibid. 15 Ibid., S. 125 f. 16 Ibid., S. 126.

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ordneten Diszipli~en sind ihm zufolge die verschiedenen Wissensgebiete abzuleiten, »sondern aus ihrer einheitlichen Wurzel, dem ursprünglichen Sein«.1? An die Stelle erkenntnistheoretischer Reflexionen, wie sie den Neukantianismus kennzeichnen, tritt beim frühen Heidegger der »ontologische Vorrang der Seinsfrage« .1BAus ihin ergibt sich, daß »das philosophisch Primäre nicht eine Theorie der Begriffsbildung der Historie« i,st, »auch nicht die Theorie historischer Erkenntnis, aber auch nicht die Theorie der Geschichte als Objekt der Historie, sondern die' Interpretation des eigentlich geschichtlich,· Seienden ~uf seine Geschichtlichkeit. . .. Die Bestimmung Geschichtlichkeit liegt vor dem, was man Ge.schichte (weltgeschichtliches Geschehen) nennt. Ges~hichtlichkeit meint di~ Seinsverfassung des )Geschehens< des Daseins als solchen, auf dessen Grunde allererst 'so e!was möglich ist wie )Weltgeschichte< und geschichtlich zur Weltgeschichte gehören.« 19 Hoikheimer verweist darauf, daß dieser - alles Stoffs historischer Dialektik entäußerte - Begriff von »Geschichtlichkeit« sich der phänomenologischen Wesenslehre Husserls verdankt. Betrachtet Scheler Geschichte noch als politische und soziale Geschichte, so bedeutet »Geschichtlichkeit« bei Heidegger »eine Geschehensweise im Seinsgrund, den die Philosophie im Menschen zu entdecken hat. Erst aus dieser ursprünglichen Geschehensweise seill die Geschichte als Thema der Historie Sinn gewinnen.« 20 Derart formalisiert, ist H~ideggers 17 Ibid. 1B Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 19609, d. S. 8H. 19 Ibid., S. 10; 19f; 20 Geschichte und psychologie, ibid., S. 126.

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Geschichtsdenken ebenso problematisch wie das der traditionellen Wissenschaft; Ein Entwurf, der »den Sinn von Sein ohne Hinblick auf den Stand der gegenwärtigen Forschung neu zu bestimmen trachtet«, ist für die von Horkheimer anvisierte Problematik entschieden »zu eng«; denn sollen die konkreten Inhalte der Geschichte »erst aus der inneren Geschichtlichkeit des Daseins begriffen werden«21, so wird dadurch der reale Geschichtsprozeß depotenziert: daß individuelles Dasein in ihn verflochten ist,· erscheint· als äußerliche und belanglose Tatsache. »Es macht aber«, betont Horkheimer, »die Beschäftigung mit der äußeren Geschichte ebensowohl das jeweilige Dasein verständlich, wie die Analyse der jeweiligen Exjstenzen das Verständnis der Geschichte bedingt. Das Dasein ist in die äußere Geschichte unlöslich verflochten, und seine Analyse wird daher keinen Grund entdecken können, der ... unabhängig von jeder äuße- ~ ren Bestimmung wäre. Die wirkliche Geschichte mit ihren vielfältigen, die Individ~en übergreifenden Struktu~ ren ist dann nicht, wie es der Existenzphilosophie entspräche, bloß ein Abgeleitetes, Sekundäres, Objektiviertes. Damit verwandelt sich die Lehre vom Sein im Menschen ebensowohl wie jede Art philosophischer Anthropologie aus einer trotz allem statischen Ontologie in die Psychologie der in einer bestimmten Geschichtsepoche lebenden Menschen.«22 übersetzen wir Horkheimers doppelte Frontstellung in: eine zeitgenössische Sprache, so können wir sagen:. die Kritische Theorie zie~t ab auf einen materialen Beg~iff_ ,

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weils vorgezeichneten Gang der Ereignisse mit ihrer hi: .~torischen Praxis vermittelt. Eine Aufgabe, die weder vom daseinsanalytischen noch vom geisteswissenschaftlich-historistischen Ansatz angemessen gestellt~ geschweige denn gelöst wird. Beide Geschichtsbegriffe implizieren ein »negatives Verhältnis zur Psychologie«.23 Heidegger verweist psychologische fragen an . eine »von wissenschaftlichen Kriterien unabhängige Ontologie«.24 Rickert, der Geschichtstheoretiker des Neukantianismus, bestreitet, daß Geschichtswissenschaft »durch die Psychologie oder gar durch den Psychologismus«25 gefördert werde. Alle ~iesbezüglichen, Hoffnungen verkennen ihm zufolge »das logische Wesen der Geschichte«. 26

Materialistische Aufnahme und Kritik der Hegeischen Geschichtskonstruktion Horkheimer schlägt sich, wie gesagt, in keines der beiden Lager. Er rekurriert stattdessen auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie - nicht, um den unmittelbaren Fragen seiner Zeit auszuweichen, sondern deshalb, weil sich 23

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Ibid. Ibid., S. 12M.

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Ibid., S. 127. Ibid. - Cf. hierzu § 10 von Sein und Zeit, ~.. c., wo Heidegger die »Daseinsanalytik« ausdrücklich gegen Anthropologie, Psychologie und Biologie abgrenzt. Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen· Begliffsbildung, Tübingen 19132, S. 487. Ibid.

2I

Hegel (soweit dies seinem spekulativen Idealisrims zu\ träglich ist) über den schlechten Gegensatz von ~irizel­ wissenschaftlicher Forschung und begrifflicher Konstruktion erhebt. Ein für die Kritische Theorie jederzeit entscheidendes Desiderat. Hegel, betont Horkheinier, nimmt das »Zusammenspiel von empirischer Historie und Geschichtsphilosophieganz ernst. Er will nicht etwa die empirische Geschichte von einem ihr äußerlichen Gesichtspunkt aus nachträglich deuten oder sie an einem ihr fremden Maßstab messen, sein VernunftbegriH ist vielmehr so wenig abstrakt, daß z.B. der Sinn des Moments der Freiheit, so wie es in der Logik auftritt,' erst durch die bürgerliche Freiheit im Staat, die der Historiker feststellt, vollständig zu bestimmen ist.«27

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