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German Pages 1213 [1214] Year 2012
Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe II. Abt. Band 4
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka
Zweite Abteilung Vorlesungen Band 4
De Gruyter
Friedrich Daniel Ernst
Schleiermacher Vorlesungen zur Hermeneutik und Kritik
Herausgegeben von Wolfgang Virmond unter Mitwirkung von Hermann Patsch
De Gruyter
ISBN 978-3-11-025244-6 e-ISBN 978-3-11-025245-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2012 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Pagina GmbH, Tübingen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach ` Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . II. Die II. Abteilung (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Editorische Grundsätze für die II. Abteilung (Vorlesungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII VII
Einleitung des Bandherausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVII
IX
1. Zur Vorgeschichte der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . XVII 2. Die Hallenser Vorlesung vom Sommersemester 1805 XIX 3. Die Berliner Vorlesung vom Wintersemester 1809/10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII 4. Die Vorlesung vom Wintersemester 1810/11 . . . . . . . XXIV 5. Die Vorlesung vom Sommersemester 1814 . . . . . . . . . XXV 6. Die Vorlesung vom Sommersemester 1819 . . . . . . . . . XXV 7. Die Vorlesung vom Sommersemester 1822 . . . . . . . . . XXVI 8. Die Vorlesung vom Wintersemester 1826/27 . . . . . . . XXVII 9. Die Vorlesung vom Wintersemester 1828/29 . . . . . . . XXVIII 10. Die Vorlesung vom Wintersemester 1832/33 . . . . . . . XXIX 11. Allgemeine und theologische Hermeneutik . . . . . . . . . XXX 12. Zur Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX 13. Die bisherigen Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXV II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XL
1. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vergleichende Übersicht zu Kimmerles Ausgabe . . . . . 2. Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Die Vorlesung von 1819 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Vorlesung von 1822 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XL XLIV XLV XLV XLVI
VI
Inhaltsverzeichnis
2.3. Die Vorlesung von 1826 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Die Vorlesung von 1828/29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Die Vorlesung von 1832/33 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XLVII XLIX L
Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Zur Hermeneutik 1805 und 1809/10 (SN 81) . . . . . . . . .
5
Hermeneutik. Erster Entwurf (1805) (SN 82, 84, 85) . .
25
Die allgemeine Hermeneutik (1809/10) (Abschrift) . . . . .
71
Hermeneutik 1819 (SN 83) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
Randbemerkungen (1828 und 1832) . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Kritik (1826) (SN 88) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Zweiter Teil · Vorlesungsnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
Kolleg 1819. Nachschrift Jonas (SN 574) . . . . . . . . . . . . .
191
Kolleg 1822. Nachschrift Hagenbach (Basel) . . . . . . . . . .
355
Kolleg 1826/27. Nachschrift Braune (SN 571) . . . . . . . . .
449
Kolleg 1832/33. Nachschrift Calow (SN 574) . . . . . . . . .
725
Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1137
Abkürzungen und editorische Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1139
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1141
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1151
Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1153
Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1159
Einleitung der Herausgeber I. Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe Die Kritische Gesamtausgabe (KGA) der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Schleiermachers, die seit 1980 erscheint, ist in die folgenden fünf Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe II. Vorlesungen III. Predigten IV. Übersetzungen V. Briefwechsel und biographische Dokumente Die Gliederung richtet sich nach den literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlaß zugewiesen wird. Der Aufbau der Abteilungen orientiert sich am chronologischen Prinzip.
II. Die II. Abteilung (Vorlesungen) Die II. Abteilung dokumentiert Schleiermachers Vorlesungstätigkeit nach seinen handschriftlichen Materialien und nach Vorlesungsnachschriften. Schleiermacher hat in seiner beinahe drei Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit in der Theologischen Fakultät, abgesehen vom Alten Testament, über nahezu alle theologischen Disziplinen Vorlesungen gehalten. Als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte er überdies das Recht, auch in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Davon hat er extensiven Gebrauch gemacht. In jedem Semester hat er mindestens zwei Vorlesungen gehalten, oft sogar drei (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische und eine philosophische). Ein Verzeichnis seiner Vorlesungen findet sich in dem von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond bearbeiteten Band „Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen“ (Schleiermacher-Archiv Bd. 11, Berlin und New York 1992, S. 293–330).
VIII
Einleitung der Herausgeber
Angesichts der umfänglichen Materialien ist eine restriktive Berücksichtigung der Vorlesungsnachschriften unumgänglich. Für die Edition der Vorlesungen gelten folgende Richtlinien: 1. Jede von Schleiermacher in seinen Vorlesungen behandelte Disziplin wird in einem Band – eventuell mit Teilbänden – vorrangig durch seine eigenen Manuskripte kritisch ediert. 2. Die Manuskripte Schleiermachers werden im ersten Teil in chronologischer Ordnung kritisch ediert. 3. Die Vorlesungsnachschriften werden, wenn ihre Qualität es erlaubt, dort in die Edition einbezogen und unter vereinfachten Editionsregeln in einem zweiten Teil ediert, wo eigene Manuskripte Schleiermachers entweder fehlen oder wo seine Manuskripte als nicht ausreichend zu beurteilen sind. Nachschriften eines mehrfach gehaltenen Kollegs aus verschiedenen Jahren werden nur dann eigens berücksichtigt, wenn es darum geht, eine bedeutsame Entwicklung zu dokumentieren. Auch die Nachschriften werden chronologisch angeordnet. Für die chronologische Anordnung der Vorlesungsdisziplinen ist dasjenige Semester maßgebend, in dem Schleiermacher die jeweilige Vorlesung zum ersten Mal gehalten hat. In den beiden Fällen, in denen er im selben Semester mit zwei bzw. drei Vorlesungen begonnen hat (Wintersemester 1804/05 und Sommersemester 1806), werden zuerst die allgemeiner und dann die spezieller ausgerichteten Vorlesungen geboten. Dementsprechend ergibt sich für die Abteilung „Vorlesungen“ folgende Gliederung: 1. Vorlesungen über die Philosophische Sittenlehre (1804/05) 2. Vorlesungen über die Theologische Enzyklopädie (1804/05) 3. Vorlesungen über die Christliche Glaubenslehre (1804/05) 4. Vorlesungen über die Hermeneutik und Kritik (1805) 5. Vorlesungen über die Christliche Sittenlehre (1806) 6. Vorlesungen über die Kirchengeschichte (1806) 7. Vorlesungen über die Geschichte der griechischen Philosophie (1807) 8. Vorlesungen über die Lehre vom Staat (1808/09) 9. Vorlesungen über die Geschichte der christlichen Philosophie (1810) 10. Vorlesungen über die Dialektik (1811) 11. Vorlesungen über die Praktische Theologie (1812) 12. Vorlesungen über die Pädagogik (1813) 13. Vorlesungen über die Psychologie (1818) 14. Vorlesungen über die Ästhetik (1819)
2. Textgestaltung und textkritischer Apparat
IX
15. Vorlesungen über das Leben Jesu (1819/20) 16. Vorlesungen über die Kirchliche Geographie und Statistik (1827) 17. Vorlesungen über die Einleitung in das Neue Testament (1829) Die exegetischen Vorlesungen Schleiermachers werden aus pragmatischen Gründen an den Schluß der Abteilung gestellt. Unter den Vorlesungsmanuskripten in Schleiermachers Nachlaß haben diejenigen zu den exegetischen Vorlesungen bei weitem den größten Umfang. Quantität und Qualität dieser Materialien stellen eine editorische Erschließung vor spezifische Probleme, die zu einem späteren Zeitpunkt gelöst werden müssen.
III. Editorische Grundsätze für die II. Abteilung (Vorlesungen) Die folgenden Grundsätze schließen sich an die für die I. Abteilung in der Fassung von KGA I/1 und für die V. Abteilung in der Fassung von KGA V/1 niedergelegten an, tragen aber den Besonderheiten der Vorlesungsedition Rechnung.
1. Historische Einführung und Editorischer Bericht Den Bänden der II. Abteilung wird jeweils eine Einleitung des Bandherausgebers vorangestellt, die eine Historische Einführung und einen Editorischen Bericht umfaßt. Die Historische Einführung gibt Auskunft über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der jeweiligen Vorlesung. Gegebenenfalls wird über die Rezeption durch die Zeitgenossen berichtet. Der Editorische Bericht beschreibt die Materiallage und erläutert das editorische Verfahren.
2. Textgestaltung und textkritischer Apparat Die Bände der II. Abteilung umfassen A) sämtliche Vorlesungsmanuskripte Schleiermachers B) dort, wo es zu deren Verständnis nötig ist oder wo andere Gründe es nahelegen, auch ausgewählte Vorlesungsnachschriften und ferner, falls keine solchen Primärquellen mehr vorhanden sind,
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Einleitung der Herausgeber
C) auch Texte, die nur noch sekundär, etwa im Druck der „Sämmtlichen Werke“, vorliegen. Für die E d i t i o n a l l e r d r e i S o r t e n v o n Te x t z e u g e n gelten folgende Prinzipien: a) S c h r e i b w e i s e u n d Z e i c h e n s e t z u n g des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise, bei denen es häufig eine Ermessensfrage darstellt, ob eine irrtümliche Schreibweise vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung von Zeichen (z. B. für Abkürzungen und Auslassungen), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, stillschweigend vereinheitlicht. Die von Schleiermacher für Randnotizen gebrauchten Ve r w e i s z e i c h e n (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben, sofern diese Randnotizen hier als Fußnoten wiedergegeben werden. b) O f f e n k u n d i g e S c h r e i b f e h l e r o d e r Ve r s e h e n werden im Text korrigiert. Im Apparat wird – ohne weitere Angabe – die Schreibweise des Originals angeführt. c) Wo der Zustand des Textes eine K o n j e k t u r notwendig macht, wird diese im Text durchgeführt und im Apparat nachgewiesen; in Zweifelsfällen wird die Konjektur mit der Angabe „Kj“ nur im Apparat vorgeschlagen. Wo bereits Konjekturen eines früheren Herausgebers vorliegen, werden diese unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Publikation im Apparat mitgeteilt. Wird eine solche Konjektur in den Text übernommen, so wird dies ebenfalls im Apparat nachgewiesen.
Über diese gemeinsamen Prinzipien hinaus wird für die drei unterschiedlichen Textsorten (Manuskripte Schleiermachers, Vorlesungsnachschriften und sekundäre Überlieferung) das im folgenden beschriebene a b g e s t u f t e Editionsverfahren angewandt.
A) Manuskripte Schleiermachers: d) Es wird die l e t z t g ü l t i g e Te x t g e s t a l t des Manuskripts wiedergegeben. Alle Belege für den Entstehungsprozeß (wie Streichungen, Korrekturen, Umstellungen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt.
2. Textgestaltung und textkritischer Apparat
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e) Z u s ä t z e zum ursprünglichen Text, die Schleiermacher eindeutig einverwiesen hat, werden in den laufenden Text eingefügt. Sie werden mit der Formel „mit Einfügungszeichen“ und mit Angabe des ursprünglichen Ortes im Manuskript im textkritischen Apparat nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. f) Bei A b b r e v i a t u r e n (Abkürzungen, Kontraktionen, Kürzeln), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) die fehlenden Buchstaben im Text kursiv ergänzt. Chiffren für Wörter (z. B. U für Gott) werden ebenfalls im Text kursiv aufgelöst und im Abkürzungsverzeichnis zusammengestellt. Abbreviaturen und Chiffren, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. Zur Zeit Schleiermachers geläufige Abkürzungen werden nicht aufgelöst. Soweit sie heute nicht mehr geläufig sind, werden sie im Abkürzungsverzeichnis mit ihren Auflösungen zusammengestellt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n wird stillschweigend ausgeschrieben. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei der verkürzten Endsilbe -en) aufgrund der Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abkürzung zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. g) F e h l e n d e W ö r t e r u n d Z e i c h e n , die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden in eindeutigen Fällen kursiv in eckigen Klammern ergänzt. In Zweifelsfällen wird im Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ ein Vorschlag gemacht. Im Text gelassene Lücken können im textkritischen Apparat durch den Hinweis (lacuna) gekennzeichnet werden. Sofern das Zeilenende bzw. das Ende eines Absatzes eindeutig den Punkt am Satzende vertritt, wird dieser stillschweigend ergänzt. Ferner werden fehlende Umlautzeichen in eindeutigen Fällen stillschweigend ergänzt; fehlende diakritische Zeichen (wie Akzente, Spiritus-Zeichen) in fremdsprachigen Texten werden hingegen nicht ergänzt.
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Einleitung der Herausgeber
h) Sind im Manuskript U m s t e l l u n g e n von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen oder Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. i) S t r e i c h u n g e n . Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern unter Angabe des Ortes im Manuskript mitgeteilt. Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. j) K o r r e k t u r e n Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). k) U n s i c h e r e L e s a r t e n werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: ÐnochÑ) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: ÐauchÑ oder ÐnochÑ) vorgeschlagen. Bei unsicheren Lesarten, zu denen frühere Texteditionen eine abweichende, ebenfalls erwägenswerte Lesart bieten, wird diese unter Nennung des jeweiligen Herausgebers und der Seitenzahl seiner Publikation mitgeteilt. Nicht entzifferte Wörter werden durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. l) Liegen an einer Stelle der Handschrift mehrere deutlich unterscheidbare E n t s t e h u n g s s t u f e n vor, so können diese, wo es die Klarheit erfordert, im Textapparat nacheinander jeweils für sich nachgewiesen werden. Keine eigene Mitteilung erfolgt, wenn beim Übergang aus einer früheren in eine spätere Stufe ein Wort gestrichen oder korrigiert worden ist; dies ergibt sich aus dem Vergleich der Stufen. Bei einem besonders verwickelten und unübersichtlichen Textbestand können die verschiedenen Entwicklungsstufen auch jeweils vollständig aufgeführt werden. m) Ü b e r l i e f e r u n g s l ü c k e n . Ist ein Manuskript nur bruchstückhaft überliefert, so wird der Überlieferungsverlust innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Ein umfangreicherer Überlieferungsverlust wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat.
2. Textgestaltung und textkritischer Apparat
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B) Vorlesungsnachschriften: Die Edition der Vorlesungsnachschriften erfolgt nach einem vereinfachten Verfahren. Diese Vereinfachungen betreffen die im vorstehenden unter den Buchstaben d), e), h), i), j) und l) genannten Prinzipien. Die unter den Buchstaben f), g), k) und m) genannten Grundsätze gelten unverändert. n) Bei der Edition von Vorlesungsnachschriften wird in der Regel lediglich die l e t z t g ü l t i g e Te x t g e s t a l t wiedergegeben, jedoch o h n e N a c h w e i s d e s M a n u s k r i p t b e f u n d e s – d. i. von Streichungen, Zusätzen, Verbesserungen, Umstellungen und Entstehungsstufen – im Apparat. Abweichend hiervon werden längere Randbemerkungen zu Vorlesungsnachschriften, die den Charakter von eigenständigen Textpartien haben, als Fußnoten mitgeteilt, da es sich bei ihnen um spätere Ergänzungen des Nachschreibers handeln kann. o) Existieren zu einer Vorlesung mehrere Nachschriften, so wird die beste als L e i t t e x t ediert. Die als Leittext gewählte Nachschrift wird in der Regel vollständig geboten. Wo Vorlesungsnachschriften über Schleiermachers Manuskripte hinaus keine wesentlichen Aufschlüsse enthalten, ist es auch möglich, sie nur ausschnittweise abzudrucken. Bietet die als Leittext gewählte Nachschrift an einer Stelle einen offenkundig fehlerhaften Text, so wird nach Möglichkeit der richtige Text aus einer anderen Nachschrift übernommen, die Abweichung aber im Apparat dokumentiert. Ist die als Leittext gewählte Nachschrift unvollständig, wird sie mit entsprechendem Nachweis im Apparat aus einer vollständigeren ergänzt. Weist auch diese offenkundige Fehler auf, wird, sofern weitere Vorlesungsnachschriften vorhanden sind, verfahren wie im vorigen Absatz beschrieben.
C) Sekundäre Überlieferung: p) Sofern Überlieferungsverluste gegenüber früheren Editionen eingetreten sind, können die entsprechenden Texte als sekundäre Überlieferung unverändert unter Hinzufügung eines Sachapparats dargeboten werden.
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Einleitung der Herausgeber
3. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a) Z i t a t e u n d Ve r w e i s e werden im Apparat nachgewiesen. Dabei wird, soweit möglich und sinnvoll, sowohl die von Schleiermacher benutzte Ausgabe als auch eine heute maßgebliche Ausgabe angeführt. Das gilt auch für Verweisungen Schleiermachers auf eigene Werke. Bei Zitaten werden sinnverändernde Abweichungen von den Quellen vermerkt. b) Zu A n s p i e l u n g e n Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist.
4. Verzeichnisse und Register a) Jeder Band erhält ein A b k ü r z u n g s v e r z e i c h n i s , das sämtliche Zeichen und Abkürzungen auflöst, die von den Autoren oder vom Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. b) Jeder Band erhält ein L i t e r a t u r v e r z e i c h n i s , in dem die Schriften aufgeführt werden, die in den Texten sowie in den Apparaten und in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Bei denjenigen Werken, die im Auktionskatalog der Bibliothek Schleiermachers (s. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, zweite, erweiterte und verbesserte Aufl. In: KGA I/15, 2005, S. 637–912) verzeichnet sind, wird nach dem Titel in eckigen Klammern das Kürzel SB mit der jeweiligen Katalognummer hinzugefügt. c) Jeder Band erhält ein N a m e n r e g i s t e r , das alle im Band genannten historischen Personen erfaßt. d) Ein Register der B i b e l s t e l l e n erhalten diejenigen Bände, bei denen es sinnvoll ist.
5. Druckgestaltung
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5. Druckgestaltung a) S a t z s p i e g e l . Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, textkritischer Apparat, Sachapparat. b) S c h r i f t a r t e n . Der Text des Originals wird einheitlich in recte stehender Antiqua wiedergegeben. Hochgestellte Endungen (z. B. bei Ordnungszahlen) werden nivelliert, graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ergänzungen nicht ausgeschriebener Wörter im Text sowie Herausgeberrede werden kursiv gesetzt. c) H e r v o r h e b u n g e n in Schleiermachers Manuskripten (vorwiegend durch Unterstreichung) werden einheitlich durch S p e r r u n g kenntlich gemacht. Hervorhebungen in den Vorlesungsnachschriften bleiben unberücksichtigt, soweit sie der Lesbarkeit nicht förderlich sind. d) Die S e i t e n z ä h l u n g d e s O r i g i n a l s wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der S e i t e n w e c h s e l des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich () wiedergegeben. Wo die Angabe des Z e i l e n b r u c h s sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im Text. e) Sofern ein Text bereits in den S ä m m t l i c h e n We r k e n erschienen ist, wird die Paginierung kursiv am Außenrand mitgeteilt, jedoch ohne Seitentrennstrich. f) B e z i e h u n g d e r A p p a r a t e a u f d e n Te x t . Sie erfolgt beim textkritischen Apparat durch Zeilenangabe mit Lemma. Kommt in einer Zeile das gleiche Bezugswort mehrfach vor, wird ein zusätzliches Bezugswort angeführt. Die Bezugswörter werden durch das Lemmazeichen von der folgenden Mitteilung abgegrenzt. Der Sachapparat wird durch Zeilenangabe auf die jeweilige Bezugsstelle bezogen. g) Sofern in einem Band sowohl Manuskripte Schleiermachers als auch eine Nachschrift aus demselben Kolleg veröffentlicht werden, wird der Zusammenhang zwischen ihnen möglichst durch ein Ve r w e i s u n g s s y s t e m hergestellt, etwa durch die Angabe der Daten oder durch die Bezeichnung der Vorlesungsstunden am Seitenrand.
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Einleitung der Herausgeber
Sofern solche Angaben in den edierten Quellen enthalten sind, werden sie recte wiedergegeben; sofern sie aus anderen Quellen ergänzt sind, werden sie kursiv gesetzt. Im Namen der Herausgeber Günter Meckenstock
Einleitung des Bandherausgebers Der vorliegende Band enthält sämtliche erhaltenen Manuskripte Schleiermachers zu seinen Vorlesungen über Hermeneutik (und Kritik) sowie wichtige Hörernachschriften zu den Kollegien. Die Manuskripte umfassen den Zeitraum von 1805 (Halle) bis 1832/33 (Berlin), wobei Schleiermacher erst 1826/27 die Kritik angehängt hat. Aus den Jahren vor 1819 ist bislang keine Hörer-Nachschrift bekannt geworden; darum wurde wenigstens für die Zeit ab 1819 versucht, jeweils eine zuverlässige Nachschrift wiederzugeben, um die oft kargen Notizen Schleiermachers verständlicher zu machen. Insbesondere die Nachschriften von Jonas (1819) und Braune (1826/27) sind zuvor noch nicht ediert worden. Von Beginn an hatte Schleiermacher die Publikation seiner Hermeneutik geplant. Tatsächlich ist er lediglich im Jahr 1829 in zwei Reden vor dem Plenum der Akademie der Wissenschaften auf das Thema eingegangen; beide Vorträge wurden aber erst postum gedruckt. Sie sind hier nicht aufgenommen, da sie bereits in einem andern Band der KGA (I/11, S. 599–641) wiedergegeben sind. Schleiermacher geht dabei von der Analyse der beiden wichtigsten neueren Publikationen zum Thema aus – Friedrich August Wolfs ,Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‘ von 1807 und Friedrich Asts ,Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‘ von 1808 – und knüpft an diese knappen, fast gleichzeitig entstandenen altphilologischen Darlegungen eigne Gedanken an, wie sie sich auch in der Vorlesung von 1826 finden.
I. Historische Einführung 1. Zur Vorgeschichte der Hermeneutik Es ist davon auszugehen, daß Schleiermacher schon während seiner Hallenser Studienjahre (1787–89) nicht nur mit der neueren Philosophie, sondern auch mit der aufgeklärten Theologie und besonders der Hermeneutik vertraut war und diese später auch in seinen eignen Vorlesungen voraussetzte, freilich modifiziert, ergänzt und bereichert durch eigne Beobachtungen und Ideen. 1 Um seine Änderungen und Neuerungen von 1
Die durch Wilhelm Dilthey begründete Auffassung von der Originalität der Schleiermacherschen Hermeneutik ist in den letzten Jahrzehnten durch intensive Forschungen zur Geschichte der Disziplin während des 17. und 18. Jahrhunderts in Zweifel gezogen worden. Schleiermacher selbst hatte Bemerkungen gemacht, die diese Originalität zu behaup-
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Einleitung des Bandherausgebers
der Traditionsgebundenheit der in diesem Band wiedergegebenen Texte möglichst abzugrenzen, ist es sinnvoll, sie vor der Folie der aufklärerischen Hermeneutik zu lesen. Besonders geeignet dazu ist Semlers ,Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik‘, und zwar besonders Band 1 von 1760. Johann Salomo Semler, der überragende Hallenser Aufklärungstheologe, war dem Studenten Schleiermacher in seinen Hallenser Studienjahren (1787 bis 1788/89) gewiß begegnet; jedenfalls hatte Semler für den Sommer 1788 eine hermeneutische Vorlesung angekündigt: „Hermeneuticas Regulas pro discrimine librorum N. T. pertractabit Semler“ 2, und auch wenn wir keine Nachricht über Schleiermachers Besuch dieser (oder irgend einer andern theologischen) Vorlesung haben, so ist es doch sehr wahrscheinlich, daß er daran teilgenommen hat. – Über den Inhalt von Semlers Hermeneutik sind wir gut unterrichtet, besonders eben durch seine „Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik zu weiterer Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelehrten“ 3, und was hier im allgemeinen zum Neuen Testament, zur Sprachstufe, zum Gebrauch der Hilfsmittel etc. gesagt ist, findet sich oft ganz ähnlich auch in Schleiermachers Vorlesungen. Allerdings ist Semlers Band 2 dem Alten Testament gewidmet; die Bände 3 und 4 besprechen zur Hauptsache detailliert die einzelnen erhaltenen und damals bekannten neutestamentlichen Codices, 4 was alles in Schleiermachers Programm („Anwendung der großen hermeneutischen Regeln“) keine Entsprechung findet. Semlers Bändchen befand sich in Schleiermachers Bibliothek (SB 1823), und man darf annehmen, daß er es auch benutzt hat. 5
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ten schienen. Aus der neueren Literatur seien beispielhaft genannt: Die Hermeneutik der Aufklärung. Hg. M. Beetz und G. Cacciatore. Köln 2000. – Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. Sept. bis 1. Okt. 1999. Hg. Jan Schröder. Stuttgart 2001. – Manuel Bauer: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik. Paderborn 2011 (mit umfänglicher Literaturliste). Praelectiones Academiae Fridericianae per aestatem anni mdcclxxxviii inde a die xxviii Aprilis indicuntur; dort als erste Vorlesung. Die Bände erschienen in Halle (1.1760; 2.1761; 3.1765; 4.1769). Band 1 der ,Vorbereitung‘ war (neben mehreren andern Publikationen Semlers) in Schleiermachers Besitz (SB 1823). – In der Neubearbeitung des Rauchschen Auktionskatalogs finden sich zur Hermeneutik u. a. auch Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, 1808 (SB 97); Ernesti, institutio interpretis, 1761 bzw. 1792 (SB 613 und 614); Salomon Glass, Philologia sacra, 1776–97 (SB 788); Griesbach, Vorlesungen über die Hermeneutik des Neuen Testaments, 1815 (SB 805); Keil, Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Testamentes nach Grundsätzen der grammatisch-historischen Interpretation, Leipzig 1810 (SB 1053). Lehrreich für die Verbreitung der aufklärerischen Konzeption ist auch etwa die ,Einleitung in die Auslegungskunst der heil. Schrift‘, die der (heute nahezu unbekannte) Göttin-
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Nach dem Studium hat Schleiermacher als Hauslehrer in Schlobitten im Familienkreis mehrere allgemeinbildende Vorträge gehalten, die von Johann Christoph Adelungs ,Ueber den Deutschen Styl‘ (3. Auflage 1790) ausgehen und aufgrund fragmentarischer Aufzeichnungen Schleiermachers sowie aufgrund von Nachschriften der Hörer als ,Vorträge über den Stil‘ publiziert wurden 6. Von Hermeneutik ist darin nicht ausdrücklich die Rede, dennoch wird der aufmerksame Leser an mehreren Stellen Schleiermachers Interesse für hermeneutische und mehr noch für ästhetische Fragen heraushören.
2. Die Hallenser Vorlesung vom Sommersemester 1805 Als Schleiermacher in seinem ersten Semester als Dozent in Halle (1804/05) für den kommenden Winter den Beginn eines „exegetischen Cursus“ plant, den er mit einer „Hermeneutica sacra“ beginnen möchte, berät er sich mehrfach mit seinem Freund, dem Stettiner Feld- und Garnisonprediger und sodann Mitarbeiter des dortigen Konsistoriums, Joachim Christian Gaß. 7 Der außerordentlich wichtige und immer wieder heranzuziehende Briefwechsel mit Gaß bietet gerade über die Hermeneutik mancherlei grundsätzliche Bemerkungen, neben denen wir (außer Schleiermachers eignen Heften) fast keine weiteren Zeugnisse zu dieser wie auch zu manchen späteren Vorlesungen haben. Bei diesem Cursus, so schreibt Schleiermacher am 17.12.1804, „würde ich nun alle WortKritik
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ger und spätere Kieler Professor Gotthilf Traugott Zachariä 1768 (in Schleiermachers Geburtsjahr) gehalten hatte und die postum 1778 nach einem Kollegheft publiziert wurde. Eine ,zweyte verbesserte Auflage‘ von 1787 nennt erstmals den Herausgeber (J. C. W. Diederichs) und ist in Wahrheit eine unveränderte, satzidentische Wiedergabe der ersten Auflage, lediglich mit neuem Titelblatt und veränderter Unterschrift der Vorrede. Es ist nicht anzunehmen, daß Schleiermacher den Druck kannte, der sich durch besondere Kürze und Klarheit auszeichnet. – Andere wichtige Publikationen hat Lutz Geldsetzer in seiner Reihe ,Instrumenta Philosophica. Series Hermeneutica‘ als Reprints zugänglich gemacht und sorgfältig eingeleitet, besonders Georg Friedrich Meiers ,Versuch einer allgemeinen Auslegunskunst (1757) und Johann Martin Chladenius’ ,Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften‘ (1742). KGA I/1, 363–390 sowie lix–lxii; KGA I/14, S. 49–51.503–539. xxiiif; siehe auch W. Virmond: Schleiermachers Schlobittener Vorträge ,Über den Stil‘ von 1791 in unbekannten Nachschriften, in: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), S. 159–185. Dabei erwähnt er auch, daß die Hermeneutica sacra „hier so gut als gar nicht gelehrt wird“; immerhin hat T. F. Stange, der als Gymnasialprofessor zugleich reformierter Dozent an der Fakultät war, für das Sommersemester 1805 ein solches Kolleg angekündigt: „Hermeneuticen et isagogen in N. T. ad Ernestii institutionem interpretis N. T. docebit h. xi–xii.“ (Catalogus praelectionum in Academia Fridericiana per semestre aestivum anni MDCCCV inde a die XIII. Maii instituendarum. Halae, Formis Hendelii. S. 8.) Ob es (trotz der Konkurrenz mit Schleiermachers Vorlesung) zustande kam, ist noch nicht ermittelt.
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weglassen, vorzüglich auf die Anwendung der großen hermeneutischen Regeln sehn, und die Zuhörer an das Achtgeben auf den Zusammenhang im Ganzen, an das eigentliche Nachconstruiren des Buches zu gewöhnen suchen“; er möchte sie so zu „selbstständigen Interpreten bilden“. Dabei könnte man den (irrigen) Eindruck gewinnen, als sei Schleiermacher mangels Literaturkenntnis auf diesem Gebiet unkundig, denn er bittet den Freund „mir aus Ihrem literarischen Schaz der gewiß größer ist als meiner mitzutheilen was Sie über Hermeneutik kennen“. 8 Erst im neuen Jahr, am 25.1.1805, schreibt Gaß eine inhaltliche Antwort. Er bestätigt den Eindruck, daß „die hermeneutica sacra […] längst aus den theologischen Disziplinen verschwunden und sehr unverständig wie manches andere in die geistliche Polterkammer geworfen ist. […] Gleichwohl sollten die hermeneutischen Grundsätze festgestellt und die Sache in das rechte Geleis gebracht werden, wenn etwas Vernünftiges herauskommen sollte. Da es Ihnen nun hiermit ein Ernst ist, so werden Sie wohl selbst eine Hermeneutik, wenigstens als Entwurf aufsetzen müssen, und wer hätte hierzu mehr innern Beruf, als Sie, mein theurer Freund. Machen Sie sich dieß Verdienst um uns. Vorgearbeitet finden Sie freilich nicht viel, denn so viel ich weiß steht es mit dieser Disziplin noch auf demselben Punkt, wo Ernesti und Semler es gelaßen haben“. 9 Tatsächlich knüpft Schleiermacher in seinen Notizen vielfach an Johann August Ernestis „Institutio interpretis Novi Testamenti“ an, die seit 1761 in vier Ausgaben erschienen war, zuletzt 1792 in der Bearbeitung durch Christoph Friedrich Ammon. – Am 3.2.1805 antwortet Schleiermacher: „Eine meiner Nebenbeschäftigungen ist jezt Ernesti institutio interpretis anzusehn, ob es wol möglich wäre darüber zu lesen. Schwerlich wird es gehn, die Ordnung komt mir gar zu wunderlich vor und Sie werden wol recht haben daß ich mir auch hier einen eignen Leitfaden schaffen muß. Damit aber werde ich wol nur sehr allmählig zu Stande kommen denn wenn es etwas rechtes werden soll: so müssen doch alle Principien der höheren Kritik, die ganze Kunst des Verstehens, der analytischen Reconstruction hinein gearbeitet werden. Ich bin indeß ziemlich entschlossen im nächsten halben Jahre den Anfang zu machen, der freilich nur etwas sehr unvollkomnes sein wird. Schwerlich werde ich mit dem System gleich zu Stande kommen, und noch mehr wird es mir an einem recht tüchtigen Vorrath passender Beispiele fehlen, worauf doch hiebei so gar viel ankommt, und den ich mir nicht eher erwerben kann, bis ich das System klar vor mir habe und dann bei aller meiner Lectüre Rüksicht darauf nehme.“ 10 8 9
KGA V/8, S. 67 f. KGA V/8, S. 107–109
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Im Vorlesungsverzeichnis der Universität findet sich innerhalb der theologischen Fakultät der Eintrag: „Hermeneuticam horis III–IV. quater docebit“; das Intelligenzblatt der ALZ übersetzt: „Die Hermeneutik lehrt Hr. Prof. Schleiermacher“. In den Universitätsakten ist eine Dauer vom 20.5. bis zum 20.9.1805 und eine Frequenz von 34 Hörern angegeben. 11 Daraus ergeben sich rechnerisch bis zu 68 Unterrichtsstunden; da keine weiteren Zeugnisse überliefert sind, läßt sich nichts Genaueres über den Verlauf der Vorlesung sagen. In einem fragmentarisch überlieferten Brief, offenbar gegen Ende Mai 1805, schreibt Schleiermacher dann wiederum an Gaß, im Zusammenhang seiner Paulus-Lektüre: „Leider werde ich doch noch früher etwas tiefer hinein sehen müssen, um mich am Ende meiner hermeneutischen Vorlesungen hierüber gehörig expliciren zu können. Denn ein besseres Exempel als Paulus möchte hiezu schwerlich zu finden sein. Wie Sie aber den mündlichen Interpreten und den schriftlichen unterscheiden wollen, das verstehe ich nicht recht, wenn doch der lezte auch Interpret sein soll. Denn die grammatische Erklärung, wenn ich auch das Wort im weitesten Sinne nehme, bleibt doch immer nur einseitig, nur die eine Hälfte zu welcher noch jene andere hinzukommen muß, die sich zur Kunst der Composition und des Styls grade so verhält wie die erste zur Grammatik. Doch dies geht sehr tief in die Ansicht der Sprache und des Sprechens überhaupt hinein, und ich müßte Ihnen mein ganzes hermeneutisches Collegium in nuce lesen um mich recht deutlich darüber zu machen.“ 12 Am 6.9.1805 meldet Schleiermacher dann: „Die Collegia neigen sich nun auch zum Ende und in 14 Tagen denke ich beide zu schließen. Die Hermeneutik ist dies mal noch sehr unvollkommen in der Ausführung gewesen; das war auch kaum anders möglich. Aber die Idee und die Construction des Ganzen hat sich mir immer mehr bestätigt, je tiefer ich hineingekommen bin, und so denke ich wenn ich sie einigemal gelesen und unterdeß bei jeder Lektüre die ich treibe Beispiele werde gesammelt haben, die mir diesmal noch gar zu sehr fehlten so können die Zuhörer 10 11
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KGA V/8, S. 125 Catalogus praelectionum in Academia Fridericiana per semestre aestivum anni MDCCCV inde a die XIII. Maii instituendarum. Halae, Formis Hendelii. – Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle), Intelligenzblatt, 6.4.1805 (Nr. 56, Sp. 449). – Die Angaben zu Dauer und Hörerzahl folgen einer Auskunft des Universitätsarchivs der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. – Daß Schleiermacher sein Heft von 1809/10 verloren und das als Ersatz gedachte Manuskript von 1819 nicht vollendet hat, vielmehr in der Not auf die Hallenser Manuskripte zurückgriff, hat in jüngerer Zeit zu erheblicher Verwirrung bei der Datierung und Edition der Manuskripte geführt, die auch für das Verständnis der Entwicklung von Schleiermachers Vorstellungen hinderlich war. KGA V/8, S. 215
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mehr durch diese Vorlesungen als durch irgend etwas anderes in die Tiefe der Philologie eingeführt werden.“ 13 An seinen Freund Ehrenfried von Willich hatte Schleiermacher am 13.6.1805 ganz ähnlich geschrieben: „Ich lese Hermeneutik und suche was bisher nur eine Sammlung von unzusammenhängenden und zum Theil sehr unbefriedigenden Observationen ist zu einer Wissenschaft zu erheben welche die ganze Sprache als Anschauung umfaßt und in die innersten Tiefen derselben von außen einzudringen strebt. Natürlich ist der erste Versuch sehr unvollkommen da ich hier so gar nichts vor mir habe, und besonders fehlt es mir an einer tüchtigen Masse von Beispielen und Belegen, da ich mir nie etwas zu diesem Zwekke notirt habe, und auch nicht eher mit rechtem Erfolg sammeln kann bis ich das ganze System vor mir habe, was sich jezt erst während des Lesens ordnet. In Zukunft aber soll dies immer ein Nebenzwek bei meiner Lectüre sein und da ich künftigen Winter schon eine exegetische Vorlesung zu halten denke, und anderthalb Jahr damit fortzufahren so hoffe ich bis zur nächsten Wiederholung dieses Collegii einen guten Apparat zusammen zu haben.“ 14
3. Die Berliner Vorlesung vom Wintersemester 1809/10 Für die Hallenser Universität, die ja im Herbst 1806, wenige Tage nach der französischen Besetzung, geschlossen wurde, hat Schleiermacher keine weitere Hermeneutik-Vorlesung angekündigt; seit 1807 lehrte er (neben anderen) als designierter Professor in Berlin und kündigte für den Winter 1809/10 die „allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst“ als offenbar philosophische Vorlesung an, und zwar im künftigen (und heutigen) Universitätsgebäude. Die Ankündigung in der Spenerschen Zeitung lautet: „Unterzeichneter denkt diesen Winter hindurch vorzutragen: […] 2) Die allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst Freitag und Sonnabend von 5–6. Anfang am 24. November. Das Local ist im Heinrichschen Palais; Einlaßkarten in der Realschulbuchhandlung. Berlin den 9. November 1809. Dr. F. Schleiermacher.“ 15 Genaueres findet sich in Schleiermachers Tageskalender 16 (meist als „Hermeneutik“ oder „Collegium“): 13 14
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KGA V/8, S. 304 KGA V/8, S. 234 f. – Die Fortsetzung der Paulus-Exegese und die Wiederholung des Hermeneutik-Kollegs konnten wegen Schließung der Universität nicht stattfinden. Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung) v. 14.11.1809, S. 6 f. – Siehe auch die Übersicht in Rudolf Köpke: Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Berlin: Schade 1860, S. 141. SN 438 (1809) und SN 439 (1810).
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(1809:) Fr. 24.11.: „Hermeneutik angefangen“; Sa. 25.11.; Fr. 1.12.; Sa. 2.12.; Fr. 8.12.; Sa. 9.12.; Fr. 15.12.; Sa. 16.12.: „Hermeneutik geschlossen“ (also über die Weihnachtszeit); — (1810:) Fr. 12.1.; Sa. 13.1.; Fr. 19.1.; Sa., 20.1.; Fr. 26.1.; Sa. 27.2.: „ausgesezt“; Fr. 2.2.; Sa. 3.2.; Fr. 9.2. (kein Eintrag); Sa. 10.2. (kein Eintrag); Fr. 16.2. (kein Eintrag); Sa. 17.2. (kein Eintrag); Fr. 23.2.; Sa. 24.2.: „ausgesezt“; Fr. 2.3.; Sa. 3.3. (kein Eintrag); Fr. 9.3. (kein Eintrag); Sa. 10.3.; Fr. 16.3.; Sa. 17.3.; Fr. 23.3.; Sa. 24.3.: „Hermeneutik geschlossen“. Daraus ergeben sich bis zu 27 Unterrichtsstunden. Am 26.2.1810 schreibt Schleiermacher an seinen ehemaligen Hallenser Schüler Karl Thiel: „Jezt lese ich Hermeneutik und christliche Sittenlehre und mache mir bei dieser Gelegenheit schon einen vorläufigen Entwurf zu künftigen Lehrbüchern“. 17 Dieser vorläufige Entwurf einer Druckfassung der Hermeneutik (nicht zu verwechseln mit dem Hallenser ersten Entwurf des Systems) hat sich leider nicht im Original erhalten, denn Schleiermacher selbst hat ihn im Lauf der Jahre verloren. Im Jahre 1819 schreibt er an Karl Heinrich Sack: „Mir ist das Unglük begegnet mein hermeneutisches Heft verloren zu haben, das macht mir einen bedeutenden Strich durch die Zeit, da ich mir nun doch beim Lesen ein Neues anlegen muß, und leider nicht einmal dafür stehen kann daß es so gut wird als das Alte war“. 18 Das Heft genoß, solange es noch existierte, eine gewisse Popularität. So wissen wir, daß Georg Wilhelm Bartholdy, Schleiermachers Freund aus frühen Berliner Tagen und seit 1797 Gymnasiallehrer in Stettin, es offenbar bei einem Besuch in Berlin ausgeliehen hat; am 6.10.1810 schreibt er aus Stettin, er habe „die Hermeneutik“ ohne Begleitbrief mit der Post zurückgesandt. „Liebster Bruder […] Es ist mir schwer geworden, mich von ihr zu trennen, da ich sie seit der Reise noch gar nicht wieder ansehen konnte, und noch nicht einmahl sie cursorisch zu Ende gebracht habe, obgleich ich mir schon für die zweite statarische Lesung die Freiheit genommen hatte, einige Interpunctionszeichen beizufügen, oder einige unleserliche Buchstaben zu verdeutlichen: ich will sehr wünschen, daß mir dabei nicht das gewöhnliche Loos der Kritiker gefallen ist, sie durch meine Konjecturen und aufgenommenen Les-Arten ihrem Verfasser unverständlich gemacht zu haben. Mein einziger Trost bei dieser Trennung ist, daß ich gewiß hoffen darf, sie verklärt [also gedruckt] wieder zu sehen, was auch ungläubige Zweifler gegen die persönliche Unsterblichkeit für Bedenken haben mögen.“ 19 17
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Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen. Bd. 4. Berlin 1863, S. 177. Dort steht versehentlich „Grammatik“ statt „Hermeneutik“. Das Manuskript des Briefs ist verschollen. F. Schleiermacher: Briefe an einen Freund (K. H. Sack). Weimar 1939, S. 16.
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Im Jahre 1811 war das Heft offenbar noch vorhanden, denn am 28.3. plant Schleiermachers Schüler (und späterer Lehrstuhl-Nachfolger) August Twesten ein „Studium seiner Hermeneutik, von der ich mir ein Heft borgen will“; am 17.5. liest er in diesem Heft Schleiermachers; am 25.9. schreibt er an seinen Freund Christian August Brandis: „Seine im höchsten Grade interessante Hermeneutik hat er mir in seiner Handschrift gegeben und ich habe sie mir abgeschrieben“. 20 Diese Abschrift, von der Schleiermacher wohl nichts wußte oder an die er sich jedenfalls nicht erinnerte, hat sich glücklicherweise in Twestens Nachlaß erhalten und ist 1985 erstmals publiziert worden. 21
4. Die Vorlesung vom Wintersemester 1810/11 Als dann im Herbst 1810 die Berliner Universität eröffnet wurde, hat Schleiermacher für das erste Semester (1810/11) in der theologischen Fakultät schlichtweg „Hermeneutik“ angekündigt und vor 14 Hörern vorgetragen; weitere Nachrichten oder gar Aufzeichnungen zu dieser Vorlesung finden sich jedoch nicht. Die Ankündigungen lauten: „Hermeneuticam docebit binis per hebdomadam horis“ bzw. „Hermeneutik [...] in 2 Stunden wöchentlich“. – Die Universitätsakten nennen die Dauer vom 30.10. bis zum 21.3. bei 14 Hörern. 22 – Weitere Informationen (etwa ein Tageskalender) sind nicht überliefert.
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SN 246, Blatt 11. – Die damals geläufige (und auch heute sinnvolle) Unterscheidung von ,cursorischer‘ und ,statarischer‘ Lektüre meint die in einem Zug durchgehende, das Ganze auffassende (oft vorläufige, oberflächliche) Lektüre im Gegensatz zu der an einzelnen Punkten anhaltenden und gleichsam bohrenden Lesung. C. F. G. Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen. Berlin: Hertz 1889, S. 160, 188, 205. Friedrich Schleiermachers „Allgemeine Hermeneutik“ von 1809/10, hg. W. Virmond, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Schleiermacher-Archiv, Bd. 1, Teilband 2, Berlin, New York: de Gruyter 1985, S. 1269–1310. Diese und die folgenden Berliner Vorlesungen sind nunmehr im Rahmen des gesamten Berliner Vorlesungsangebots verzeichnet in: Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten hg. von Wolfgang Virmond, Berlin: Akademie Verlag 2011, und zwar diese als Nr. 1810ws2. – Die erste Übersicht über die Hermeneutik-Vorlesungen ist erstmals mitgeteilt in dem Vortrag von 1984 (Virmond 1985, S. 588–590); eine Übersicht über Schleiermachers sämtliche Vorlesungen erschien als Anhang in: Andreas Arndt und W. Virmond, Schleiermachers Briefwechsel, Berlin 1992 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 11); auch Virmond, Wolfgang: Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge. In: New Athenaeum / Neues Athenaeum (Lewiston, NY) vol 3. 1992, p. 127–151.
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5. Die Vorlesung vom Sommersemester 1814 Die darauf folgende Vorlesung vom Sommersemester 1814 läßt sich als Experiment ansehen; Schleiermacher hat sie nämlich aufgeteilt in eine allgemeine Hermeneutik (hermeneutica universalis), die er in der philosophischen Fakultät ankündigte, und (als Fortsetzung) eine Hermeneutik des Neuen Testaments (hermeneutica specialis Novi Testamenti) innerhalb der theologischen Fakultät. Auf diese Weile hat er gleichsam die Konsequenz gezogen aus dem Kolleg von 1809/10, das sich ja auf die allgemeine (philosophische) Hermeneutik beschränkt hatte. Ob nun aus Anlaß des derart erweiterten Kollegs auch das ,Heft‘ entsprechend erweitert wurde, läßt sich nicht sagen, da das Original ja nicht erhalten ist und die Twestensche Abschrift schon 1811 angefertigt wurde. Diese Vorlesung hat (wegen der studentischen Beteiligung an den Freiheitskriegen) nur 8 Hörer gefunden; weitere Nachrichten dazu liegen nicht vor. Die Ankündigungen lauten: (Philosophische Fakultät:) „Elementa hermeneutices tradet quater per hebd. h. V–VI. vespert.“ – (Theologische Fakultät:) „Absoluta hermeneutice universali, hermeneuticen specialem Nov. Test. docebit bis p. hebd. V–VI vesp.“ — „Die allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst [...] viermal wöchentlich von 5–6 Uhr.“ – „Die Hermeneutik des N. Testaments [...] nach Beendigung der allgemeinen Hermeneutik [...] zweimal wöchentlich von 5–6 Uhr“. In den Universitätsakten ist eine Dauer vom 20.4. bis zum 16.7.1814. bei 8 Hörern angegeben. 23 – Daraus ergibt sich rechnerisch eine Zahl von bis zu 26 Unterrichtsstunden; da kein Tagebuch überliefert ist, läßt sich nichts Genaueres sagen.
6. Die Vorlesung vom Sommersemester 1819 Die nächste Vorlesung im Sommer 1819, angekündigt als „Hermeneuticen tam generalem quam N. T. specialem“ bzw. als „sowohl im Allgemeinen als die des Neuen Testaments“ gibt die Trennung der beiden Bereiche wieder auf und schiebt die neutestamentliche Anwendung jeweils nach Bedarf ein, und bei dieser Praxis bleibt es auch für die späteren Vorlesungen. – Nun berichtet Schleiermacher über den Verlust seines Heftes (also der ,Allgemeinen Hermeneutik‘ von 1809/10) und beginnt als Ersatz ein neues Heft, das wiederum als sorgfältiges Druckmanuskript angelegt ist. Die Überlieferung ist insofern besonders günstig, als wir 23
,Vorlesungen‘, Nr. 1814ss6 und 1814ss62.
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Einleitung des Bandherausgebers
neben diesem neuen (nicht abgeschlossenen) Heft auch eine ausführliche Nachschrift der Vorlesung von Ludwig Jonas haben. Die auffällig wenigen Übereinstimmungen zwischen beiden Dokumenten lehren viel über die Differenz der beiden Gattungen (Druckmanuskript und lebendiger Vortrag). Die Ankündigungen lauten: „Privatim I. Hermeneuticen tam generalem quam N. T. specialem docebit quater p. h. hora VII–VIII. mat.“ bzw. „Die Hermeneutik, sowohl im Allgemeinen als die des N. T. [...] in vier wöchentlichen Stunden von 7–8 Uhr“. Die Universitätsakten nennen die Dauer vom 19.4. bis zum 6.8. bei 51 Hörern. 24 Dies ergibt bis zu 62 Unterrichtsstunden; ein Tagebuch ist für dieses Jahr nicht überliefert.
7. Die Vorlesung vom Sommersemester 1822 Die Ankündigungen für dieses Kolleg lauten „Hermeneutices praecepta generalia ad interpretationem Novi Testamenti applicata tradet quater VIII–IX“ bzw. „Hermeneutik [...] in 4 wöchentlichen Stunden von 8–9 Uhr“. Die Universitätsakten nennen als Dauer die Zeit vom 22.4. bis zum 6.8. bei 77 Hörern. 25 – Im Tagebuch 26 finden sich folgende Eintragungen: Mo. 22.4.: „Hermeneutik angefangen“; Fr. 26.4.; Mo. 29.4. (5. Stunde); Di. 30.4.: „Colleg“; Fr. 3.5. (8. Stunde); Mo. 4.5. (9. Stunde); Fr. 10.5. (12. Stunde); Mo. 13.5. (13. Stunde); Fr. 17.5. (15. Stunde); Mo. 20.5. (16. Stunde); Fr. 25.5. (19. Stunde); Do. 30.5. (20. Stunde); Fr. 31.5. (21. Stunde); Mo. 3.6. (22. Stunde); Fr. 7.6. (25. Stunde); Mo. 10.6. (26. Stunde); Do. 13.6. (28. Stunde); Fr. 14. (29. Stunde); Mo. 17. (30. Stunde); Fr. 21.6. (33. Stunde); Mo. 24.6. (34. Stunde); Do. 27.6.: „Hermeneutik fiel aus“; Fr. 28.6. (36. Stunde); Mo. 1.7. (37. Stunde); Fr. 5.7. (40. Stunde); Mo. 8.7. (41. Stunde): „Zweiten Theil angefangen“; Fr. 12.7. (44. Stunde); Mo. 15.7. (45. Stunde); Fr. 19. (48. Stunde); Mo. 22.7. (49. Stunde); Fr. 26.7. (52. Stunde); Mo. 29.7. (53. Stunde); Fr. 2.8. (56. Stunde); Mo. 5.7. (57. Stunde); Di. 6.8.: „Hermeneutik mit der 58ten Stunde geschlossen“. Erhalten sind nur vereinzelte Marginalien Schleiermachers in seinem Heft von 1819; ferner eine vollständige Nachschrift des späterhin berühmten Basler Kirchenhistorikers Karl Rudolf Hagenbach; sowie eine unvollständige Nachschrift des Schleiermacher besonders nahestehenden, früh verstorbenen Johann Carl Heinrich Saunier. 24 25 26
,Vorlesungen‘, Nr. 1819ss2. ,Vorlesungen‘, Nr. 1822ss14 SN 443
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8. Die Vorlesung vom Wintersemester 1826/27 Der Vortrag des Winters 1826/27 bringt eine erhebliche Änderung, indem von nun an als eine Art zweiter Teil die ,Kritik‘ angehängt wird. Technisch wird dies erleichtert durch Erweiterung der wöchentlichen Stundenzahl. Die Vorlesung ist durch vier Nachschriften gut dokumentiert. – Einige Randbemerkungen Schleiermachers aus diesem Semester in seinem 1819 begonnenen Heft sind unten zusammengestellt. Die Ankündigungen lauten: „Privatim 1) Hermeneutices et critices praecepta docebit quinquies p. hebd. h. VIII–IX.“ bzw. „Die allgemeinen Grundsätze der Hermeneutik und Kritik in besonderer Anwendung auf das N. T. [... ] in fünf Stunden wöchentlich von 8–9 Uhr Morgens.“ Die Universitätsakten nennen die Dauer vom 24.10. bis zum 26.3. bei 107 Hörern. 27 Im Tagebuch 28 ist (wie auch späterhin) meist nur die erste und die letzte Vorlesung der Woche eingetragen: (1826:) Di. 24.10.: „Beide Collegia angefangen“; Fr. 27.10.: „4te Stunde“; Mo. 30.10.: „5te Stunde“; Fr. 3.11.: „9te Stunde“; Mo. 6.11.: „10te Stunde“; Fr. 10.11.: „14te Stunde“; Mo. 13.11.: „15te Stunde“; Fr. 17.11.: „19te Stunde“; Mo. 20.11.: „20te Stunde“; Di. 21.11.: „Collegia“; Fr. 24.11.: „24te Stunde“; Mo. 27.11.: „Ausgesezt wegen Bode’s Begräbniß“; Di. 28.11.: „25te Stunde“; Do. 30.11.: „27te Stunde“; [vom 1.12.–6.12. war Schleiermacher verreist]; Do. 7.12.: „28te Stunde“; Fr. 8.12.: „29te Stunde“; Mo. 11.12.: „30te Stunde“; Fr. 15.12.: „34te Stunde“; Mo. 18.12.: „35te Stunde“; Fr. 22.12.: „39te Stunde Grammat[ische] Hermeneutik geschlossen“; (1827:) Mi. 3.1.: „Die Vorlesungen werden angefangen.“ [ab jetzt Z ä h l f e h l e r , statt 35. lies 40. Stunde usf.] „35te Stunde“; Fr. 5.1.: „37te Stunde“; Mo. 8.1.: „38te Stunde“; Fr. 12.1.: „42te Stunde“; Mo. 15.1.: „43te Stunde“; Fr. 19.1.: „47te Stunde“; Mo. 22.1.: „48te Stunde“; Di. 23.1.: „Kollegia […] ausgefallen“; Fr. 26.1.: „51te Stunde“; Mo. 29.1.: „52te Stunde“; Fr. 2.2.: „56te Stunde“; Mo. 5.2.: „57te Stunde“; Fr. 9.2.: „ausgesezt wegen Diarrhöe […] Katechisation aber gehalten“; Mo. 12.2.: „61te Stunde“; Fr. 16.2.: „65te Stunde“; Mo. 19.2.: „66te Stunde“; Fr. 23.2.: „70te Stunde. Grammat[ische] 27
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,Vorlesungen‘, Nr. 1826ws10. – SN 571 (Braune) und 572 (Bötticher). Die Nachschrift Sprünglis gehört dem Institut für Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich, dem für zeitweilige Überlassung dieser wichtigen, aber schwer lesbaren Handschrift zu danken ist. SN 445 (1825) und SN 446 (1826)
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Einleitung des Bandherausgebers
Kritik beendigt.“; Mo. 26.2.: „71te Stunde. Die höhere Kritik angefangen.“; Fr. 2.3.: „61“ Stunde; Mo. 5.3.: „76 Kr[itik]“; Di. 6.3.: „Nicht gelesen“; Fr. 9.3.: „79 Krit[ik]“; Mo. 12.3.: „80 Krit[ik]“; Fr. 16.3.: „84 Kr[itik]“; Mo. 19.3.: „85 Krit[ik]“; Do. 22.3.: „Ausgesezt um die Lieder zu machen.“; Fr. 23.3.: „88 Kr[itik]“; Mo. 26.3.: „Kritik mit der 89t. Stunde geschlossen“ [also recte 94. Stunde].
9. Die Vorlesung vom Wintersemester 1828/29 Die Ankündigungen lauten: „Privatim 1) Principia hermeneutices et critices tradet h. VIII–IX. quinquies“ bzw. „Die Grundsätze der Auslegungskunst und der Kritik [...] in fünf wöchentlichen Stunden v. 8–9 Uhr“. Die Universitätsakten nennen die Dauer vom 22.10. bis zum 24.3. bei zunächst 104, später 115 Hörern. 29 Die Vorlesung ist im Tagebuch 30 gut dokumentiert: (1828:) Mi. 22.10.: „Beide Colleg. angefangen“; Mo. 3.11.: „9te Stunde“; Fr. 7.11.: „13te Stunde“; Mo. 10.11.: „14te Stunde“; Fr. 14.11.: „18te Stunde“; Mo. 17.11.: „19te Stunde“; Do. 21.11.: „Collegien“; Fr. 21.11.: „23te Stunde“; Mo. 24.11.: „24te Stunde“; Fr. 28.11.: „28te Stunde“; Mo. 1.12.: „29te Stunde“; Fr. 5.12.: „33te Stunde“; Mo. 8.12.: „34te Stunde“; Fr. 12.12.: „38te Stunde“; Mo. 15.12.: „39te Stunde“; Fr. 19.12.: „43te Stunde; lezte für dies Jahr“; — (1829:) Mo. 5.1.: „44te Stunde“; Fr. 9.1.: „48te Stunde“; Mo. 12.1.: „49te Stunde“; Fr. 16.1.: „53te Stunde“; Mo. 19.1.: „54te Stunde“; Fr. 23.1.: „58te Stunde“; Mo. 26.1.: „59te Stunde“; Di. 27.1.: „ausgesezt“; Fr. 30.1.: „62te Stunde Hermeneutik beendigt“; Mo. 2.2.: „63te Stunde Kritik angefangen“; Fr. 6.2.: „67te Stunde“; Mo. 9.2.: „68te Stunde“; Fr. 13.2.: „72te Stunde“; Mo. 16.2.: „73te Stunde“; Fr. 20.2.: „77te Stunde“; Mo. 23.2.: „78te Stunde“; Fr. 27.2.: „82te Stunde“; Mo. 2.3.: „83te Stunde“; Fr. 6.3. [kein Eintrag]; Mo. 9.3.: „88te Stunde“; Fr. 13.3.: „92te Stunde“; Mo. 16.3.: „93te Stunde“; Fr. 20.3.: „97te Stunde“; Mo. 23.3.: „98te Stunde“; Di. 24.4.: „Herm[eneutik] u[nd] Krit[ik] mit der 99t. St. geschlossen.“ Die einzige erhaltene Nachschrift ist ein Fragment, das obendrein wie eine schlechte Abschrift einer fremden Nachschrift aussieht und keine eigentlichen Besonderheiten in der Konzeption erkennen läßt; darum ist dieses Kolleg bei der Edition nicht berücksichtigt worden. 29 30
,Vorlesungen‘, Nr. 1828ws1 SN 447 (1828) und SN 449 (1829)
I. Historische Einführung
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10. Die Vorlesung vom Wintersemester 1832/33 Die neunte und letzte Vorlesung von 1832/33 gilt als besonders ausgereift und kam damit der entschiedenen Vorliebe des 19. Jahrhunderts für die Fassung der ,letzten Hand‘ entgegen; Friedrich Lücke hat darum seiner 1838 erschienenen Edition innerhalb der ,Sämmtlichen Werke‘ überwiegend Calows Nachschrift dieser späten Vorlesung zugrunde gelegt – freilich nicht als einfache Wiedergabe, sondern weithin als straffende oder präzisierende Paraphrase. Schleiermachers eigne Randbemerkungen in seinem 1819 begonnenen Heft sind unten wiedergegeben. Die Ankündigungen lauten: „Privatim 1) Principia hermeneutices et critices generalia tradet et ad tractationem librorum novi foederis applicabit quinquies p. hebd. h. VIII–IX.“ bzw. „Die allgemeinen Grundsätze der Hermeneutik und Kritik und deren Anwendung auf das N.T. [...] fünfmal wöchentlich von 8–9 Uhr“. 23.10.–22.3.; zunächst 91, später 119 Hörer. 31 Die Eintragungen im Tagebuch 32 lauten: (1832:) Di. 23.10.: „Alle drei Colleg[ia] angefangen“; Fr. 26.10.: „4te Stunde“; Mo. 29.10.: „5te Stunde“; Do. 1.11.: „8te Stunde“; Fr. 2.11.: „9te Stunde“; Mo. 5.11.: „10te Stunde“; Fr. 9.1.: „14te Stunde“; Mo. 12.11.: „15te Stunde“; Fr. 16.11.: „19te Stunde“; Mo. 19.11.: „20te Stunde“; Mi. 21.11. (22. Stunde); Fr. 23.11. (24. Stunde); Mo. 26.11. (25. Stunde); Fr. 30.11. (29. Stunde); Mo. 3.12. (30. Stunde); Fr. 7.12. (34. Stunde); Mo. 10.12. (35. Stunde); Fr. 14.12. (39. Stunde); Mo. 17.12. (40. Stunde); Fr. 21.12.: (44. Stunde), „Ferien gemacht“; — (1833:) Do. 3.1. [ab hier Z ä h l f e h l e r , lies vielmehr 45. Stunde usf.] (44. Stunde); Fr. 4.1. (45. Stunde); Mo. 7.1. (46. Stunde); Fr. 11.1. (50. Stunde); Mo. 14.1. (51. Stunde); Fr. 18.1. (55. Stunde); Mo. 21.1. (56. Stunde); Do. 24.1.: „ausgesezt“; Fr. 25.1. (59. Stunde); Mo 28.1. (60. Stunde); Fr. 1.2. (64. Stunde); Sa. 2.2.: „Collegia nachgeholt“ (gemeint sind wohl die Notizen zu den bereits gehaltenen Vorlesungsstunden); Mo. 4.2. (65. Stunde); Fr. 8.2. (69. Stunde); Mo. 11.2.: „Kollegia ausgesezt wegen des Begräbnissses der Generalin“; Di. 12.2. (70. Stunde); Fr. 15.2.: (73. Stunde) „Kritik angefangen“; Mo. 18.2. (74. Stunde); Fr. 22.2. (78. Stunde); Mo. 25.2. (79. Stunde); Fr. 1.3. (83. Stunde); Mo. 4.3. (84. Stunde); Fr. 8.3. (88. Stunde); Mo. 11.3. (89. Stunde); Fr. 15.3. (93. Stunde); Mo. 18.3. (94. Stunde); Fr. 22.3.: (98. Stunde) „Kritik mit 98 geschlossen“ [also recte 99]. 31 32
,Vorlesungen‘, Nr. 1832ws14 SN 452 (1832) und SN 453 (1833)
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Einleitung des Bandherausgebers
11. Allgemeine und theologische Hermeneutik Wollte man aus den frühen Hallenser Manuskripten und der Berliner ,Allgemeinen Hermeneutik‘ schließen, Schleiermachers Interesse sei grundsätzlich auf eine solche philosophische oder allgemeine Hermeneutik gerichtet, so wird dies durch die Texte und Dokumente nicht bestätigt. Sein Plan war vielmehr von Beginn an eine Hermeneutica sacra, und daß er in den ersten Vorlesungen aus äußeren Gründen die Anwendung aufs Neue Testament zurückstellen mußte, läßt gewiß nicht auf eine limitierende Konzeption schließen. Das nur zweistündige Kolleg, das Schleiermacher 1809/10 noch vor Eröffnung der Universität in Berlin als „allgemeine Grundsätze der Auslegungskunst“ ankündigt hat, ist wohl so zu verstehen, daß die neutestamentliche Anwendung demnächst zum Vortrag kommen sollte. Im Sommer 1814 dann hat Schleiermacher eine konsequente Trennung der beiden aufeinander folgenden Teile als „allgemeine Grundsätze der Auslegungskunst“ und „Hermeneutik des Neuen Testaments“ vorgenommen und sie ausdrücklich den beiden Fakultäten zugewiesen. Diese klare Trennung von philosophischer und theologischer Hermeneutik hat Schleiermacher seitdem aufgegeben, vielmehr gemäß der Ankündigung von 1819 „Hermeneuticen tam generalem quam Novi Testamenti specialem“ gelesen in der Art, daß die neutestamentliche Anwendung immer wieder nach Bedarf und Gelegenheit eingeschoben wurde. Bei dieser Vortragsweise ist es geblieben.
12. Zur Kritik Seit dem Wintersemester 1826/27 hat Schleiermacher an den Vortrag der Hermeneutik stets den der Kritik angehängt. Dieser Teil der Vorlesung hat trotz Lückes umfänglicher Wiedergabe bislang so gut wie kein Echo gefunden, was auch darin seine Erklärung finden mag, daß sie zwischen den Gebieten der Altphilologie und der neutestamentlichen Philologie changiert. Es handelt sich nämlich nicht um eine philosophische 33, sondern um eine philologische Kritik gemäß der Tradition, in der „die Kritik bekanntlich von Anfang an mit der Hermeneutik verschwistert“ war. 34 Schleier33
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Nur durch einen Druckfehler in den Sämmtlichen Werken (3,1. 1835, S. 388) wird Wolf eine philosophische statt einer philologischen Kritik zugeschrieben. Andreas Arndt: Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. M. Beetz und G. Cacciatore. Köln 2000, S.
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machers Konzeption der Textkritik nähert sich geradezu einer Anweisung zur Herstellung einer kritischen Ausgabe, wobei er mittelalterliche und neuphilologische Editionen keineswegs ausschließt. Dabei muß man bedenken, daß er – und dies ist so gut wie unbekannt – jahrzehntelang selbst als kritischer Herausgeber sowohl profaner als auch neutestamentlicher antiker Texte gearbeitet hat. An Ludwig Heindorfs Auswahlausgabe von Platons ,Dialogi selecti‘ 35 hat Schleiermacher intensiv mitgearbeitet; er ist zwar ebenso wenig wie Philipp Buttmann oder Georg Ludwig Spalding auf dem Titelblatt genannt, doch Spalding sagt in seiner Vorrede zum ersten Band von 1802 (nach dem Hinweis auf Buttmanns Mitarbeit): „Plurimum opis tulit Schleiermacherus, qui si forte nunc primum venit in ora philologorum, cum in alia palaestra satis spectatum sit eius ingenium, suis sibi cogitatis audientiam faciet locumque tuebitur. Cum enim vir ingeniosissimus iuxta cum amico suo Heindorfio Platonem in deliciis haberet, sociata assiduitate etiam hosce dialogos recensuit, multosque errores cavit, multa veri vestigia demonstravit“. 36 Was auf den ersten Blick wie humanistisches Wortgepränge aussehen mag, ist durchaus wörtlich zu nehmen. Die Zeitgenossen haben die Passage noch verstanden; so schreibt der Jenenser Professor Eichstädt an Heindorf (und dieser wiederholt es in einem Brief an Schleiermacher): „Sehr interessant war mirs auch, Herrn Schleiermacher durch Ihr Buch von einer Seite kennen zu lernen, von welcher mir dieser scharfsinnige Kopf vorher unbekannt war.“ 37 – Demnach war also Schleiermacher um 1801 hauptsächlich mit der kritischen Platon-Edition beschäftigt und hat so deren neuere Geschichte mit begründet, womit denn das bisherige biografische Vakuum 38 dieser Zeit, das auch in Kurt
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211–236, hier S. 212. – Ein spätes Beispiel ist Johann Benedikt Carpzov: Primae lineae Hermeneuticae et Philologiae sacrae (Helmstedt 1790), der auch die terminologischen Abgrenzungsprobleme beleuchtet, wenn er (p. 6) sagt: „Hermeneutica biblica dicitur quoque Theologia exegetica“. Sie erschien in vier Bänden (1.1802; 2.1805; 3.1806; 4,1.1809) und begründete die moderne Platon-Philologie. Das Zitat findet sich auf p. vii sq. und meint sinngemäß etwa: Die Hauptlast des Unternehmens trug Schleiermacher; wenn dieser auch jetzt wohl erstmals als Philolog sich bemerkbar macht, so wird er doch, da auf anderm Gebiet sein Genie zur Genüge sichtbar geworden ist [Über die Religion, Monologen, Predigten], seinen Überlegungen Gehör verschaffen und seinen Platz behaupten. Da nämlich der äußerst ingeniöse Mann ebenso wie sein Freund Heindorf den Platon liebt, hat er auch mit vereinter Beharrlichkeit diese Dialoge bearbeitet, viele Irrtümer vermieden und zahlreiche Spuren des Richtigen [also Konjekturen] aufgewiesen. KGA V/6, S. 177, Zeile 129–132; im zugehörigen Apparat ist auch Spaldings lateinische Passage wiedergegeben. Das bloße Pfarramt war tatsächlich für Schleiermacher eine Art Vakuum, das später
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Einleitung des Bandherausgebers
Nowaks Biografie von 2001 deutlich wird, ausgefüllt ist. Tatsächlich schreibt Schleiermacher am 24.1.1801 an Friedrich Schlegel, der diese Zusammenarbeit angeregt hatte: „Ich lese jezt alle Woche zwei Abende Plato mit Heindorf wobei die pünktlichste Kritik sehr heilig getrieben wird“ 39. Daß es sich bei dieser (wohl noch bis ins Folgejahr ausgedehnten) Lektüre in Wahrheit um philologische Kritik und genau genommen um die Herstellung der Edition des grundlegenden ersten Platon-Bandes handelte, ist aus der Briefstelle nicht unmittelbar ersichtlich, sondern wird erst jetzt deutlich. Da sowohl der stets kränkliche Heindorf als auch Schleiermacher in Berlin waren, haben beide offenbar in Heindorfs Dienstzimmer (im Berlin-Köllnischen Gymnasium zum Grauen Kloster) oder auch in seiner Wohnung (in Lichtenberg nahe Berlin) zusammengearbeitet, wo jeweils gewiß eine geeignete Handbibliothek bereit stand, so daß kein Briefwechsel oder sonstige schriftliche Dokumente erforderlich waren und wir mithin einzig auf die kleine und den Zeitgenossen wohlbekannte, von der späteren Forschung jedoch vergessene Passage in Spaldings Vorwort angewiesen sind. 40 Die zunächst von Friedrich Schlegel allein, sodann im Verein mit Schleiermacher geplante und schließlich von Schleiermacher allein (wenn auch unvollständig) in den Jahren 1804 bis 1828 verwirklichte PlatonÜbersetzung stützte sich so weit wie möglich auf die Heindorfsche Edition. 41 Soweit diese noch nicht erschienen war, mußte der zu übersetzende Text also zunächst einmal (zugleich für die fortgesetzte griechische Edition) hergestellt werden, wovon der gleichzeitige Briefwechsel, insbesondere mit Heindorf und Spalding, Zeugnis gibt. 42 Mancherlei textkritische
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41
durch die Arbeit an der Hochschule, der Akademie der Wissenschaften, dem altphilologischen Arbeitskreis (,Griechheit‘), der Gesangbuchkommission und anderes gefüllt wurde. (KGA V/5, S. 37, Z. 31 f.) In der kleinen Publikation „Buttmann und Schleiermacher über Heindorf und Wolf“ von 1816 erwähnt Schleiermacher derer, „die vor einigen Jahren als Mitarbeiter an einer Herausgabe des Plato sich nannten“ (KGA I/14, S. 216, Z. 25 f.), jedoch ist es bislang nicht gelungen, den Publikationsort und damit den Wortlaut dieser wichtigen Mitteilung zu ermitteln. Es läßt sich nur sagen, daß Heindorf zumindest Buttmann, Schleiermacher und Spalding zur Mitarbeit gewinnen konnte; sein Freund Friedrich Schlegel unterstützte immerhin das Werk. Es waren die wichtigsten Figuren der damals aufblühenden, vielversprechenden und in Bekkers Edition kulminierenden Platon-Forschung, neben denen freilich noch der in Landshut (bzw. München) lehrende Friedrich Ast zu nennen ist. Die von 1781–86 erschienene Zweibrückener Ausgabe (Bipontina) ist ein offenbar unkritischer Abdruck des Textus receptus des 16. Jahrhunderts (Stephanus), mitsamt der lateinischen Übersetzung Marsilio Ficinos; sie ist ebenfalls als Abbildung im Netz zugänglich.
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Erörterungen finden sich überdies in den der Übersetzung beigegebenen Anmerkungen Schleiermachers 43 und haben auch über den engeren altphilologischen Freundeskreis hinaus das Bild Schleiermachers als eines, wenn nicht d e s führenden Graezisten befestigt, weshalb denn auch später Immanuel Bekker seine große kritische Ausgabe der Platonischen Werke (Platonis Dialogi graece et latine, 1816–18) nicht nur „Friderico Schleiermachero Platonis restitutori“ gewidmet, sondern sich auch in der Anordnung der Dialoge seinem Vorbild angeschlossen hat. 44 Erst am Lebensende des ,vir ingeniosissimus‘ setzte sich Karl Friedrich Hermann 1833 „gegen Schleiermachers Dictatur“ (besonders was die Anordnung der Dialoge angeht) zur Wehr und kündigte 1839 „die entschiedenste Bekämpfung seiner Theorie“ an. 45 * Im Gegensatz zum Plato ist Schleiermachers geplante und über lange Zeit verfolgte Paulus-Edition nicht bis zur Veröffentlichung gediehen und darum bis heute unbekannt geblieben. Im Sommer 1806 (Ende Juni oder Anfang Juli) schrieb der fleißige Editor an seinen Freund Gaß: „Den Apostel Paulus hoffe ich nun bald so gut zu verstehen als den Plato selbst.“ 46 Bei der Arbeit an einer kritischen Edition des Neuen Testaments und besonders der Paulinischen Briefe ist er auch auf das Problem derAutorschaft des ersten Timotheusbriefs aufmerksam geworden; dazu hat er 1807 sein ,kritisches Sendschreiben an J. C. Gass‘ publiziert unter dem Titel ,Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an Timotheos‘. Das Buch fand neben mancher Ablehnung auch begeisterte Zustimmung, insbesondere durch J. F. C. Löffler in seinem ,Magazin für Prediger‘ (4,1, 1808, 49–68), der Schleiermacher geradezu auffordert, eine vom Neuen Testament gesonderte kritische Edition der Paulus-Briefe zu veranstalten. An den Verleger Frommann, der ihm diese Besprechung nebst einem Schreiben des Rezensenten zugesandt hatte, schreibt Schleiermacher am 42
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Da die Edition des Briefwechsels innerhalb der KGA auf einen Großteil der zugehörigen Dokumente verzichten mußte, sollen diese künftig innerhalb der nunmehr im Aufbau befindlichen Abteilung Übersetzungen bekannt gemacht werden. In der 1984–87 erschienenen Neuausgabe der zweiten Auflage der Übersetzung (im Akademie-Verlag) wurde leider auf sie verzichtet; inzwischen aber sind beide originalen Auflagen ebenso wie die Heindorfsche Ausgabe als images im Internet zugänglich (zvdd.de). Auch diese von der Berliner Akademie und besonders durch Schleiermacher geförderte Edition ist als digitale Abbildung zugänglich (zvdd.de). W. Virmond: Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805). In: Archivio di Filososofia 52.1984, S. 225–232. KGA V/9, S. 58, Brief 2211, Z. 54 f.
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Einleitung des Bandherausgebers
8.10.1808: „Auch seine Aufmunterung zur Herausgabe des h. Paulus soll nicht verloren sein; ich habe mir wenigstens vorgenommen dazu vorzuarbeiten, ob ich aber je bis zu dem Gefühl kommen werde daß meine Kräfte dem Werke genügen, dafür will ich nicht einstehen. Vieles wird wol davon abhängen in wiefern meine Lage eine solche Arbeit begünstiget.“ 47 Nach etwa einem Jahrzehnt, am 11.5.1818, schreibt er an Gaß: „Bei der Erklärung Paulinischer Briefe geschieht nun aber dies halbe Jahr nichts für meine künftige Aufgabe, außer daß ich, wo es noch nicht geschehen ist, den Chrysostomus und Theodoret für die Anmerkungen excerpire“. 48 Am 8.9.1825 heißt es in einem Brief an Twesten, daß „die schon halb fertige Ethik“ noch „warten muß auf die Vollendung des Lukas, und ich die größte Lust hätte dann unmittelbar an den Paulus zu gehen, und wenn ich auch nur die früheren Briefe absolviren sollte.“ 49 – Von dieser kritischen Ausgabe der Paulus-Briefe sind neben dem Entwurf des Titelblatts – „Divi Pauli quae exstant. Denuo recensuit et commentario instruxit D. F. Schleiermacher“ – mehr oder minder ausgeführt (also griechischer Text mit lateinischem Kommentar) erhalten: der erste Korintherbrief (SN 17/1; mit 141 Seiten besonders umfangreich), der Galaterbrief (SN 22–23) in mehreren Versionen, bereits mit ausführlichen Anmerkungen versehen, sowie der erste und der zweite Thessalonicherbrief (SN 32; dort auch das Titelblatt der Edition). Es ist schwer zu entscheiden, ob die Edition schlichtweg am Mangel von Zeit und Kraft scheiterte, oder ob – wie man immerhin vermuten kann – Schleiermacher das Projekt zugunsten von Karl Lachmanns Edition des Neuen Testaments aufgab, die zunächst in einer einfachen, unkommentierten, nur anhangsweise mit einigen Varianten versehenen Fassung 1831 bei Reimer erschien. 50 Mit Lachmann stand Schleiermacher in beständigem Kontakt, besonders in der jeweils am Freitag bei den Mitgliedern reihum tagenden ,Griechischen Gesellschaft‘ (kurz ,Griechheit‘), und war gewiß über dessen Pläne im Bilde. Wie weit Schleiermacher bei seiner Darstellung der philologischen Kritik ältere Darstellungen des Themas herangezogen hat oder zur Haupt47
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Weimar, Klassik Stiftung, Nachlaß Frommann 43,8; zusammenfassend dazu Hermann Patsch: Die Angst vor dem Deuteropaulinismus. Die Rezeption des „kritischen Sendschreibens“ Friedrich Schleiermachers über den 1. Timotheusbrief im ersten Jahrfünft. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 88.1991, S. 451–477. Vgl. auch Patschs Darlegung in KGA I/5, S. cxiii. Schleiermacher: Briefwechsel mit Gaß, S. 149 C. F. G. Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen. Berlin 1889, S. 382. – ,Lukas‘ meint Schleiermachers geplante Auslegung der Apostelgeschichte. Novum Testamentum graece. Ex recensione Caroli Lachmanni.
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sache auf eigne Erfahrungen sich stützt, wird die künftige Forschung zu ermitteln haben. 51
13. Die bisherigen Editionen Die Quellen für eine Edition der neun Vorlesungen zur Hermeneutik (und Kritik), die Schleiermacher mithin von 1805 bis 1832/33 gehalten hat, sind reichhaltig überliefert; seit Schleiermachers Tod scheint kein Verlust eingetreten zu sein. Eine postume Gesamtausgabe (Schleiermachers Sämmtliche Werke) wurde schon 1834 geplant, die ersten Bände konnten noch im selben Jahr erscheinen. 52 Als einer der ersten Nachlaßbände erschien 1838 (Band 1,7) „Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament“, und zwar „aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen herausgegeben von Dr. Friedrich Lücke“. Lücke hatte in Halle und Göttingen studiert und dort auch als Repetent unterrichtet. 53 Insbesondere kündigte er für das Wintersemester 1815/16 die „Hermeneutik des Neuen Testaments und die Geschichte derselben in 4 Stunden wöchentlich“ an und trug sie auch vor, wie seine gedruckte „Akademische Einleitungsrede über das Studium der Herme-
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Die ,Ars critica‘, das Standardwerk von Johannes Clerici (Jean Le Clerc), befand sich in Schleiermachers Bibliothek in der 4. Auflage von 1712 (SB 1124). Eine Kurzfassung der Disziplin hatte Georg Gustav Fülleborn 1798 vorgelegt: „Encyclopaedia philologica sive primae lineae isagoges in antiquarum literarum studia ad usum lectionum“ (darin p. 20–41); eine zweite Auflage erschien 1805. – Mit Friedrich August Wolfs Aufsatz ,Darstellung der Alterthums-Wissenschaft‘ im ,Museum der Alterthums-Wissenschaft‘ (1807; SB 1343) und Friedrich Asts ,Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‘ (1808; SB 87) setzt sich Schleiermacher in seinen beiden Akademiereden ,Ueber den Begriff und Eintheilung der philologischen Kritik‘ von 1830 auseinander (SW 3,1. 1835, S. 387–402; KGA I/11, S. 643–656). Dazu H.-J. Birkners grundlegender Aufsatz ,Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe zusammen mit ihren Vorläufern‘, in: New Athenaeum. Neues Athenaeum, Bd. 1.1989, S. 12–49 (auch in englischer Übersetzung S. 50–75). Wenn man in der Literatur gelegentlich Lücke als Schleiermachers Schüler (oder gar als Hörer der Hermeneutik-Vorlesung) bezeichnet findet, so ist dies unzutreffend.
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Einleitung des Bandherausgebers
neutik des N. T. und ihrer Geschichte zu unserer Zeit, gehalten den 2ten November 1815“ lehrt. 54 Am 1. Februar 1816 schrieb er an Schleiermacher unter Beifügung seiner ,Einleitungsrede‘, es fehle ihm in Göttingen an fruchtbaren Kontakten und es ziehe ihn nach Berlin, „in die neugeborene Heimath eines neuen geistigen Lebens“; Schleiermacher antwortete am 2. März zustimmend, zumal es in der Fakultät noch an Personal für die ,Hülfsdisciplinen‘ fehle. „So ist es auch mit der Hermeneutik, die ich wol ein paar mal gelesen habe, aber mich gern davon dispensiren würde“. 55 Tatsächlich gelang es, Lücke am 26. Juli 1816 in Berlin zu habilitieren, wo er denn auch zu Anfang Juli mit einer öffentlichen Vorlesung über die Johannesbriefe vor einer beachtlichen Hörerschaft begann. 56 In den folgenden Semestern hat er einmal über Hermeneutik, 57 ferner mehrfach über das Neue Testament und seine Teile gelesen. Dennoch ist es Schleiermacher und seinen Fakultätskollegen nicht gelungen, ihn in die Fakultät aufzunehmen; das Ministerium ernennt ihn aber 1818 zunächst zum außerordentlichen, sodann zum ordentlichen Professor an der neu errichteten Universität in Bonn. 58 In Bonn hat Lücke noch mehrfach die Hermeneutik-Vorlesung angekündigt – so 1821 („Hermeneutik des N.T. nach seinem Lehrbuche“), 1824/25 („Geschichte und Kritik der vornehmsten hermeneutischen Systeme“), 1826/27 („Ueber die Principien der neutestamentlichen Hermeneutik“), nicht aber in Göttingen, wo ihm ausdrücklich Dogmatik und Moral als Themen vorgeschrieben waren, wo er aber immerhin seine Einleitung in das Neue Testament 1834/35 „critisch und hermeneutisch“ nannte und 1836 seiner Exegese des Neuen Testaments eine „hermeneutische Einleitung“ in die Paulinischen Briefe voranstellte. 59 Bei der Edition der Schleiermacherschen Hermeneutik hat sich Lücke von dem im 19. Jh. weithin geltenden Grundsatz leiten lassen, demzufolge die letzte Version die reifste und beste sei; demgemäß hat er von den Handschriften die letzte (von 1819) und von den studentischen Nachschriften die späteste (von 1832/33) wiedergegeben, und zwar jeweils 54
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Sie wurde zunächst einzeln gedruckt und später Lückes „Grundriß der neutestamentlichen Hermeneutik und ihrer Geschichte“ von 1817 vorangestellt. Alf Christophersen: Friedrich Lücke (1791–1855), Band 2 (1999), S. 208–212. Christophersen: Friedrich Lücke, Band 1 (1999), S. 123 f. – Die Vorlesung ist wegen der fehlenden Ankündigung in den Universitätsakten nicht verzeichnet; in der Edition (Die Vorlesungen der Berliner Universität) müßte sie die Nr. 1816ss5a erhalten. Die Vorlesungen der Berliner Universität, Nr. 1816ws4 Christophersen: Friedrich Lücke, Bd. 1, S. 127–132. Christophersen: Friedrich Lücke, Bd. 2, S. 75–97
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stellenweise angereichert durch Auszüge aus anderen Versionen. Insbesondere das Manuskript von 1819 ist sorgfältig wiedergegeben und noch heute ein brauchbarer, solider Text. 60 Anders steht es mit der späten Nachschrift (dem „lezten, vollendetsten Vortrag“), die er nach Ferdinand Calows Heft wiedergibt, freilich nur stellenweise korrekt, im Ganzen aber derart frei und allenfalls angelehnt an die Vorlage, daß sein Text zwar vernünftig und gut lesbar aussieht, aber als Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen nicht oder doch nur sehr bedingt geeignet ist. Überdies hat Lücke den ersten Teil der Nachschrift, der manche inhaltliche Übereinstimmungen mit dem Manuskript von 1819 aufweist, fortgelassen und auf diese Weise einen Text synthetisiert, den es so nie gab. Insbesondere wird dem Leser nicht deutlich, daß die Kritik ja erstmals 1826 vorgetragen wurde und keinesfalls mit dem Manuskript von 1819 hätte vereinigt werden dürfen – ein Sachverhalt, welcher in der in dieser Hinsicht unbefriedigenden Einleitung ebensowenig erläutert wird wie die Entstehung und die Folge der Vorlesungen überhaupt. Mit seiner Edition verfolgt Lücke einen andern Zweck als den heutzutage selbstverständlichen. Er will weder Schleiermachers Manuskripte zur Gänze dokumentieren noch auch durch Heranziehung mehrerer Nachschriften die Entwicklung der Konzeption augenfällig machen. Die „eben so authentische als vollständige Darstellung der Schleiermacherschen Hermeneutik und Kritik“ ist tatsächlich ganz im Geist der Epoche eine Darstellung des Systems und seiner Kohärenz, nicht eine Dokumentation seiner Entwicklung und ihrer Brüche. Bei der (ohnehin nur teilweisen) Wiedergabe von Calows Nachschrift sah Lücke verständlicherweise keine Verpflichtung zu minutiöser Wiedergabe und trug kein Bedenken, den wesentlichen Inhalt oft in durchaus freier Wiedergabe mehr paraphrasiert als wirklich entziffert darzulegen, und es ist oft ratsam, seinen klugen und verständig interpretierenden Text 61 neben dem hier vorgelegten zu Rate zu ziehen. Problematisch für uns ist Lückes Umgang nicht nur mit Calows Nachschrift, sondern auch mit anderen, früheren Nachschriften. Mehrfach gibt er Auszüge aus solchen, indem er zur Identifizierung nur das jeweilige Semester angibt. Er nennt zwar in seiner Einleitung die ihm vorliegenden Nachschriften, und es zeigt sich, daß alle diese Kolleghefte noch immer vorhanden sind (nur wenige sind uns darüber hinaus bekannt geworden). Dennoch ist es meist nicht möglich, die gedruckten Auszüge in den er60
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Lücke sagt eigens, er habe das Heft „sammt allen Marginalien, vollständig und genau abdrucken lassen“; tatsächlich sind die Marginalien aber doch nur Auszüge. Eine Abbildung der Edition ist im Netz leicht zu finden (zvdd.de).
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Einleitung des Bandherausgebers
haltenen Nachschriften aufzufinden, und es ist unerfindlich, ob er auch diese Passagen allzu frei übertragen oder vielmehr den Überblick über die Materialien verloren hat. Vielleicht noch bedenklicher ist eine scheinbar äußerliche, drucktechnische Besonderheit. „Zum Unterschiede von Schleiermacher’s handschriftlichem Nachlasse sind die aus den Collegienheften genommenen Ergänzungen und Erläuterungen mit vollen Zeilen gedruckt.“ (S. 7, Fn. 2) Diese halbherzige typografische Maßnahme 62 ist allerdings gänzlich ungeeignet, da der Leser damals wie heute solchen Finessen nicht gewachsen ist und insbesondere bei dem umfänglichen Calow-Text (S. 91–389) keinen Vergleich mehr hat, mithin den Nachschrift-Charakter notwendig vergißt. 63 Das unzweifelhaft besonders Wertvolle an Lückes Ausgabe ist aber die Einleitung: hier gibt er klare Auskunft über den damaligen Bestand an Manuskripten und ihren Umfang, und hierauf muß sich denn auch die vorliegende Edition stützen. * Die zweite grundlegende und unentbehrliche Edition ist die „Hermeneutik. Nach den Handschriften neu herausgegeben und eingeleitet von Heinz Kimmerle“ (1959). Zunächst hatte Kimmerle im Anhang seiner (als Typoskript vorliegenden) Heidelberger (von Hans-Georg Gadamer betreuten) Dissertation von 1957 64 „Texte zur Entwicklungsgeschichte der Auffassung Schleiermachers über Hermeneutik“ wiedergegeben, soweit sie „bisher noch nicht veröffentlicht“ waren, also insbesondere ohne das bei Lücke abgedruckte Manuskript von 1819. 65 Offenbar war Ga62
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In Wahrheit meint Lücke, daß die Nachschrift-Texte einerseits mit der geringfügig kleineren Schrift der Schleiermacherschen Erläuterungs-Sätze, aber zugleich ohne den dort geltenden Absatz-Einzug gedruckt werden. Diesen Mangel vermochte auch Manfred Frank in seiner populären Auswahlausgabe von 1977 nicht zu beheben. Er nimmt Lückes Formulierung auf: „Zum Unterschiede von Schleiermachers handschriftlichem Nachlaß sind die aus den Kollegienheften genommenen Ergänzungen und Erläuterungen in der vorliegenden Edition petit gesetzt“ (Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. Manfred Frank, Frankfurt/Main 1977, S. 99, Fn. 2). Dies gelingt freilich nur anfangs (S. 75–134); die Passage S. 98 f. dürfte allerdings nicht petit sein (weil von Schleiermacher eigenhändig); S. 134–165 hätte unzweifelhaft petit gesetzt werden müssen (weil Calows Nachschrift), der dann folgende petit gedruckte Auszug (S. 170–178) aus den frühen Manuskripten hätte keinesfalls petit sein dürfen, während der darauf wiederum folgende umfängliche Auszug aus Calows Nachschrift (S. 178–306) unbedingt petit sein müßte. – Dies zeigt deutlich, daß der typografisch ungeschulte Leser der Lückeschen Ausgabe sich derart auf die Feinheiten der Typografie konzentrieren müßte, daß ein Verständnis des Inhalts kaum noch möglich wäre. Kimmerle: Die Hermeneutik Schleiermachers im Zusammenhang seines spekulativen Denkens (Typoskript) Wäre dieser Anhang paginiert, so trüge er die Seitenzahlen 124–180.
I. Historische Einführung
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damer von der Bedeutung dieser unbekannten Texte so beeindruckt, daß er Kimmerle zu einer Überarbeitung und Vervollständigung seiner Übertragungen ermunterte, die schon nach überraschend kurzer Zeit am 12.11.1958 der Akademie vorlegt werden konnten und im folgenden Jahr als zweite Abhandlung des Jahrgangs 1959 der ,Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften‘ (philosophisch-historische Klasse) im Druck erschienen. Damit nicht genug, hat Kimmerle 1968 einen knappen, aber unentbehrlichen ,Nachbericht‘ vorgelegt, der neben einzelnen Textkorrekturen vor allem zahlreiche sachliche ,Nachweise‘ enthält. Beide Publikationen (von 1959 und 1968) sind grundlegend für die vorliegende Edition der Handschriften, wobei freilich, wie nicht anders zu erwarten, auch manche Korrekturen notwendig wurden. Eingeschlossen hat Kimmerle (S. 121–156) auch die beiden Akademiereden Schleiermachers aus dem Jahr 1829, die innerhalb der KGA bereits in Bd. I/11, S. 599–641 gedruckt sind. 1974 erschien eine zweite Auflage der Heidelberger Edition, die nun nicht nur den ,Nachbericht‘ enthielt, sondern auch aufgrund irriger Datierungsvorschläge H. Patschs 66 die Abfolge der Texte änderte und mit damit größere Verwirrung auslöste. Hier soll daher nur die erste Ausgabe Beachtung finden. * Die Irrtümer, die Kimmerle bei der Datierung und Konstituierung der Manuskripte (trotz Lückes korrekten Angaben) unterlaufen waren, konnten 1984 beim Berliner Schleiermacher-Kongreß korrigiert werden. 67 Die Ergebnisse sind seitdem in der Forschung ebenso wie in den fremdsprachigen Übersetzungen der Texte zum Allgemeingut geworden, zumal hier erstmals eine vollständige Übersicht über alle neun Hermeneutik-Vorlesungen Schleiermachers gegeben wurde und überdies mit der ,Allgemeinen Hermeneutik‘ von 1809/10 ein bislang unbekanntes Manuskript Schleiermachers nach einer zeitgenössischen, zuverlässigen Abschrift vorgelegt werden konnte. 68
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Hermann Patsch: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63.1966, S. 434–472; dort S. 465–472: Exkurs. Zur Datierung der Hermeneutik-Entwürfe Schleiermachers. W. Virmond: Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. K.-V. Selge, Berlin: de Gruyter 1985, S. 575–590 Ebd., S. 1269–1310.
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Einleitung des Bandherausgebers
Forschungsgeschichtlich ist aufällig, daß weder Kimmerle noch Patsch noch auch Virmond die präzisen Angaben Friedrich Lückes zur Überlieferung ernsthaft wahrgenommen haben; sie werden also hier erstmals in ihrer Bedeutung gewürdigt. – Der genannte Vortrag von 1984 69 ist zwar auf äußerst umständliche Weise zum gleichen Ergebnis gekommen wie seinerzeit Lücke, doch es scheint nun überflüssig, die längst im Druck dargelegten Argumente für die Neudatierung mehrerer Manuskripte hier zu wiederholen.
II. Editorischer Bericht 1. Manuskripte Schleiermachers Seit Schleiermachers Tod wurden seine Papiere zur Hermeneutik und Kritik – zunächst durch Wilhelm Dilthey, dann aber auch durch ordnende Bibliothekare und Archivare – teilweise aus ihrem Zusammenhalt gelöst, was zu falschen Vorstellungen über die jeweiligen Datierungen führen konnte. Darum sind Lückes Angaben zu den Manuskripten besonders wertvoll, denn sie schildern den ursprünglichen Befund. Er sagt zunächst zusammenfassend: „Was die eigenen handschriftlichen Concepte Schleiermachers betrifft, so ist nur die Hermeneutik so glücklich gewesen, mit einer gewissen Ausführlichkeit und Sorgfalt darin behandelt zu werden. Über die Kritik haben sich leider nur sechs bis sieben Blätter aus verschiedenen Zeiten vorgefunden, wiederholte Anfänge, zum Theil nur in kurzen Sätzen und Notizen, eilig und flüchtig geschrieben“ (S. vii). 70 Sodann heißt es: „Die hermeneutischen Concepte zeigen in ihrer chronologischen Reihenfolge den Gang seiner Studien. Das e r s t e vom Jahre 1805, etwa drei Bogen, mit der Überschrift, Z u r H e r m e n e u t i k , enthält recht eigentlich die ersten Studien, lauter kurze, fast gnomenartige Sätze, wahrscheinlich während des Studiums von Ernestis institutio interpretis, und Morus acroases academicae super hermeneutica N. T. entstanden. Am Rande steht auf den fünf ersten Seiten, wahrscheinlich im J. 1809 71 beigeschrieben, eine Art von Directorium oder Vertheilung der Sätze in die einzelnen Theile des darüber gehaltenen systematischen Vortrags. Das zweite Concept, ich weiß nicht wann geschrieben, drei Bogen 69 70 71
Virmond: Neue Textgrundlagen Diese Notizen Schleiermachers zur Kritik sind unten erstmals wiedergegeben. Diese Spätdatierung ist nicht plausibel.
II. Editorischer Bericht
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stark, hat die Aufschrift, H e r m e n e u t i k , e r s t e r E n t w u r f . Hiernach scheint Schleiermacher seine Vorträge bis zum Jahre 1819 72 gehalten zu haben. In diesem Jahre aber verfaßte er einen zweiten vollständigeren, ausgearbeiteteren Entwurf, ganz nach Art seiner Darstellung des theologischen Studiums in der zweiten Auflage. Eigen dabei ist die Stundenund Wochenbezeichnung der darnach gehaltenen Vorträge. Allein auch hier ist ihm am Ende die Geduld des Aufschreibens ausgegangen. Das Concept bricht mit einigen allgemeinen Sätzen über die sogenante technische Interpretation ab, und es scheint, daß Schleiermacher in diesem Theile seiner Vorträge wieder auf seinen ersten Entwurf zurückzugehen pflegte“ (S. viii f.). Benutzt man diese Angaben als Leitfaden, so kann man aus den heutigen unübersichtlichen, aber wohl erhaltenen Archivalien die ursprünglichen Manuskripte weithin rekonstruieren. – Das Heft , Z u r H e r m e n e u t i k‘ umfaßt heute 8 Blatt, also 2 Bogen (SN 81/1 73); nach Lückes Beschreibung sollte es „ e t w a drei Bogen“ umfassen, was sich leicht daraus erklärt, daß die drei kleineren Manuskripte SN 82, SN 84 und SN 81/2 74 (in dieser Reihenfolge) ursprünglich wiederum einen – offenbar zugehörigen – Bogen mit vier Blatt bildeten, der vielleicht schon damals zerstückelt und darum als Bogen nicht mehr unzweifelhaft zu identifizieren war. Es ist leicht erkennbar, daß Schleiermacher bei der Durchsicht seiner Notizen (wohl kurz vor oder nach Semesterbeginn) die Zuweisungen zur künftigen Einleitung bzw. zum ersten oder zum zweiten Teil an den Rand schrieb; diese Eintragungen bilden den Übergang zum folgenden Manuskript. Der , E r s t e E n t w u r f‘ , nach Lücke drei Bogen stark, umfaßt heute (SN 82 75) nur noch zwei Bogen (8 Blatt). Nimmt man aber das einen Bogen (vier Blatt) umfassende und mit „Zweiter Theil“ überschriebene Manuskript (SN 85 76) hinzu – wozu wiederum gleichartiges Papier, Schreibduktus und Inhalt berechtigen –, so ist das ursprüngliche Heft des Vorlesungsmanuskripts und zugleich Entwurf eines Lehrbuchs rekonstruiert – und damit die Hallenser Hermeneutik. 77 72
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Lücke kannte nicht die ,Allgemeine Hermeneutik‘ von 1809/10 und hatte insgesamt keine rechte Vorstellung von der Abfolge der einzelnen Vorlesungen. Bei Kimmerle Ms. I Bei Kimmerle Ms. II’, II’’ und I’ Bei Kimmerle Ms. II Bei Kimmerle Ms. IV; dort irrig in die zwanziger Jahre datiert. Das heutige Manuskript SN 84 findet in Lückes Bericht keinen eignen Platz, es fügt sich aber durch die Datierungen zwanglos ein. – Zum generellen Verständnis sei daran erin-
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Einleitung des Bandherausgebers
Es ist anzunehmen, daß der „Entwurf“ zu Beginn der Vorlesung (20.5.1805) allenfalls angefangen war und im Laufe des Semesters nach und nach weitergeführt wurde. Zog sich also vermutlich die Niederschrift über Monate hin, so blieb in dieser Zeit das vorhergehende Notizheft, von dem ja erst 7 Seiten beschrieben waren, weiter im Gebrauch, und zwar nunmehr parallel mit dem „Entwurf“: die Gedanken und Lesefrüchte, die nicht oder nicht sofort im systematischen Entwurf Verwendung fanden, wurden weiterhin hier eingetragen entsprechend dem Gang der Vorlesung – zunächst solche zur grammatischen Interpretation (bis S. 11, drittletzte Notiz), dann solche zur technischen Interpretation (bis S. 13, fünfte Notiz). Da auf S. 13, Notiz 2 die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung vom 2. 8. 1805 zitiert ist, kann man den vorläufigen Abschluß des Notizheftes (und des Entwurfs) auf August 1805 datieren. 78 Es folgt die Berliner „Allgemeine Hermeneutik“ von 1809/10, deren Manuskript Schleiermacher verloren hat, deren Text wir aber in einer Abschrift August Twestens aus dem Jahr 1811 besitzen. 79 Diese besteht aus drei gehefteten und gezählten Lagen zu je 8 Blatt, also insgesamt 24 Blatt Quart, von denen das erste als Titelblatt dient und das letzte leer ist. Der Titel lautet mit erfreulicher Genauigkeit: „Die allgemeine Hermeneutik. Von Dr. Fr. Schleiermacher. Geschrieben im Winter 1809–10. (angef. den 24st. Nov. 09.)“. Es ist ein ausgearbeiteter und vollständiger, so gut wie druckfertiger Text, gegliedert in „Einleitung“, „Grammatische Seite der Interpretation“, „technische Seite der Interpretation“, „Schluß“. Die Darstellungsform ist die aus den Berliner Vorlesungen – etwa dem Hermeneutik-Manuskript von 1819 oder der Glaubenslehre – geläufige: nu-
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nert, daß es sich damals stets um aus der Bütte handgeschöpfte Papierbogen handelte, die je nach Falzung 2 Blatt Folio (2°), 4 Blatt Quart (4°) oder 8 Blatt Oktav (8°) ergeben. Schleiermacher verwendete für den ,Ersten Entwurf‘ Bogen von ca. 42 x 35 cm und faltete sie doppelt, erhielt also je Bogen 4 Blatt Quart von ca. 21 x 17,5 cm. Zum Beschriften mußte das Papier an der Oberkante mit einem Messer o. dgl. getrennt werden, wodurch man 2 halbe Bogen (2 Doppelblätter) erhielt; diese konnte man nun ineinander liegend beschriften; man konnte sie aber auch einzeln verwenden oder durch Ineinanderlegen mehrerer Bogen stärkere Lagen von 8 oder 12 Blatt bilden, die lose blieben oder durch Fadenheftung gebunden wurden. In der Rezension von Th. Fr. Stange: Theologische Symmikta. T. 1–3. Halle: Hendel 1802–1805 bemängelt der Rezensent (T.D., also – nach Karl Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 1804–1813. [Claves Jenenses 11] Weimar 1962, S. 88, Nr. 589 – Prof. Heinrich Adolf Grimm in Duisburg) die Deutung von Matthäus 8, 20 als Hinweis auf den Kreuzestod: „Auf diese Weise hat gewiß der Schriftgelehrte die Antwort nicht verstanden, und nicht verstehen können“ (JALZ 2.1805, Band 3, Nr. 183, Sp. 227). Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, Nachlaß Twesten, Ergänzung 2, Mappe 3.
II. Editorischer Bericht
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merierte Sätze (Paragraphen) mit eingerückten, ggf. wiederum numerierten Erläuterungen. Zwei Stellen, die Twesten nicht entziffern konnte, konnten auch vom Herausgeber nicht ergänzt werden. Bei der Ausarbeitung der 177 Paragraphen dieser Allgemeinen Hermeneutik hat Schleiermacher sich nun erneut zunächst Notizen gemacht, und zwar wieder in jenem Hallenser Notizheft mit dem Titel „Zur Hermeneutik 1805 u. 09“, das ja erst bis zur Mitte der Seite 13 beschrieben war, mithin noch 3 1/2 leere Seiten hatte. – Die Notiz auf der Mitte der Seite 13 („Hugo Grotius nennt Parallelstellen coniuncta origine et loco“) läßt sich nicht genauer datieren, sie mag als Lesefrucht irgendwann zwischen Herbst 1805 und Herbst 1809 eingetragen sein; dann jedenfalls beginnt das neue Kolleg: „Am Anfang der grammat. Interpret. noch einmal über die Wechselwirkung zwischen Grammat. u. Hermeneutik“. Tatsächlich spricht § 6 der Einleitung der Allgemeinen Hermeneutik vom „Wechselverhältniß“ zwischen Grammatik und Hermeneutik. Die nächste Notiz („Jedes Verstehn einer gegebenen Rede gründet sich auf etwas früheres von beider Art – vorläufige Kenntniß des Menschen vorläufige Kenntniß des Gegenstandes“) ist aufgenommen im § 24: „Jede Rede oder Schrift ist in einem größern Zusammenhange zu verstehn. 1. Entweder ich bin im Studium des Schriftstellers begriffen, und bringe seine Kenntniß schon mit; oder ich bin im Studium des Gegenstandes begriffen“. Auch weiterhin folgen die Notizen dem Gang der Vorlesung: S. 14, dritte Notiz beginnt die grammatische, S. 15 oben die technische Interpretation; ab 2. März sind mehrere Eintragungen datiert. Am 9. März heißt es: „Object ein Unendliches, herausgreifen subjectives Princip“; entsprechend in der Allgemeinen Hermeneutik, Teil 2, § 27: „Wenn man sich ein reines Object denkt, so ist es ein Unendliches der Darstellbarkeit. [...] Das Princip also wornach Einiges herausgenommen wird um das Ganze zu repräsentiren, ist ein subjectives“. Die Vielzahl der Übereinstimmungen läßt keinen Zweifel an der Zusammengehörigkeit der letzten 3 1/2 Seiten des Notizhefts und der Allgemeinen Hermeneutik. Von den Kollegien 1810/11 und 1814 besitzen wir keinerlei Aufzeichnungen bis auf den bloßen Bericht der Universität ans Ministerium, daß sie vor 14 bzw. 8 Hörern gehalten wurden, und zwar 30.10.–21.3. bzw. 20.4.–17.7. Erst 1819 hat Schleiermacher, gezwungen durch den Verlust seiner ,Allgemeinen Hermeneutik‘ von 1809/10, ein neues Heft angelegt. Es umfaßt 20 Blatt 4° (SN 83) und ist wie jene ,Allgemeine Hermeneutik‘ wie-
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Einleitung des Bandherausgebers
derum sehr sorgfältig angelegt mit numerierten Hauptsätzen und ebenfalls gezählten Untersätzen in kleinerer Schrift; am Ende steht eine „Schlußbemerkung“. Es ist also genau genommen ein Manuskript für eine geplante Publikation und hängt mit der gleichzeitig gehaltenen und durch Jonas’ Nachschrift dokumentierten Vorlesung nur lose zusammen. In den folgenden Semestern hat Schleiermacher keine eignen Manuskripte angelegt, sondern seine teils umfänglichen Ergänzungen am Rand dieses 1819 begonnenen Hefts eingetragen (und meist auch datiert). Die folgende Ü b e r s i c h t soll die Texte in Heinz Kimmerles Ausgaben von 1959 und 1974 (und in der umfänglichen Sekundärliteratur) auch in der gegenwärtigen Ausgabe leicht auffindbar machen: Nr.
Sign.
Kurztitel
Bl.
Kimmerle 1959 Datierung
Kimmerle KGA 1974 Datierung Datierung
KGA Seiten
I
81/1
8
3–34
81/2
„1805 u. 09“ ca. 1805
1805 u. 09/10
I’ II
82
II’
82
„Zur Hermeneutik“ „Exempel zur Herm.“ „Erster Entwurf“ (Ohne Titel)
II“
84
zw. 1810 u. 19 zw. 1810 u. 19 zw. 1810 u. 19 „1819“ u. „1828“ zw. 1820 u. 29 „1832/33“
1 8 1
III
„Anwendung“ 2 (= 2III’) 83, 86 „Hermeneutik“ 22
IV
85
VI
83, 85 Marginalien auf III u. IV
„Zweiter Theil“ 4
1805 u. 1809/10 1805
34
1809/10
1805
35–53
1810/11
1805
62–64
1822
1805
64–69
1819
117–158
1805
54–62
1828 u. 1832/33
159–173
1826/27
II. Editorischer Bericht
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2. Nachschriften 2.1. Die Vorlesung von 1819 Die einzige erhaltene Nachschrift Jonas (SN 574) umfaßt 115 Blatt 4°. Die eigenwillige und mit vielen Kürzeln und Kontraktionen durchsetzte Handschrift ist nicht ohne weiteres lesbar, sondern bedarf langwierigen Studiums und mühsamer Eingewöhnung, ergibt aber einen insgesamt flüssigen und sachlich überzeugenden Text. Ludwig J o n a s , Sohn eines jüdischen, zum Christentum konvertierten Kaufmanns, lebte vom 11. Februar 1797 bis zum 19. September 1859. Er besuchte seit 1812 das Joachimthalsche Gymnasium in Berlin, beteiligte sich 1815 an den Feldzügen und Kämpfen gegen Napoleon, war anschließend vom 12.4.1815 bis zum 28.10.1819 als Student der Theologie in Berlin immatrikuliert und schloß sich der burschenschaftlichen Bewegung an. Tatsächlich konnte er sein Studium erst im Sommersemester 1816 beginnen, und im Abgangszeugnis vom 6.10.1819 sind die von ihm besuchten Vorlesungen aufgeführt. 80 – Nach dem Studium war Jonas vom 1.12.1818 bis 29.2.1820 als Gouverneur (Erzieher) und wissenschaftlicher Hilfslehrer an der Königlichen Kadettenanstalt in Berlin tätig, sodann als Lehrer im Militärwaisenhaus in Potsdam. Eine Predigerstelle in Schwerinsburg (und Wusseken) gab ihm endlich im Jahre 1829 die Möglichkeit der Eheschließung mit Elisabeth, der ältesten Tochter seines Patrons, des Grafen Maximilian von Schwerin-Putzar, die ihm zwölf Kinder 80
„1) bei Schleiermacher: über theologische Encyclopädie [1816/17*], Einleitung in die Dogmatik [1818], Dogmatik [1818/19], über das Evangel. Lukas [1816/17], die Apostelgeschichte [1817], den 2. Brief Pauli an die Corinther und den Brief an die Römer [1818], den Brief an die Hebräer und die katholischen Briefe [1816], die praktische Theologie [1817/18*], die christliche Moral [1817], die Dialektik [1818/19], die Psychologie [1818], die Aesthetik [1819*], die Hermeneutik [1819], die Politik [1817 oder 1817/18] – 2) bei de Wette: über das Evang. Johannis [1817/18], die Hebräische Archäologie [1817/18], die Dogmatik [1817], die christliche Moral [1818], die Psalmen [1817]. – 3) bei Wolf: über den Lateinischen Stil, die griechische Grammatik [1817/18], die philologische Encyclopädie [1817/18], die griechische Literatur [1816/17], Cicero de natura deorum [1816/17], die Oden des Horaz [1816/17]. – 4) bei Böckh: über Pindar [1816] – 5) bei Neander: über den ersten [1816] und zweiten Theil der Kirchengeschichte [1817/18 oder 1818/19], die Dogmengeschichte [1816/17 oder 1817/18 oder 1818/19], die Patristik [1816/17 oder 1817] und die Geschichte der gnostischen Sekten.“ – Das Zeugnis ist wiedergegeben in: Zur Erinnerung an unsern Vater Ludwig Jonas. Für die Familie gedruckt Weihnachten 1880. (Herausgegeben von dem Sohn Fritz Jonas). – Bei Schleiermachers Vorlesungen weist ein * auf eine im Schleiermacher-Nachlaß der BBAW erhaltene Nachschrift Jonas’. – Die jeweiligen Semester sind nach Möglichkeit ermittelt aus: Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834, hg. W. Virmond. Berlin: Akademie Verlag 2011.
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Einleitung des Bandherausgebers
gebar. Seit 1833 war er dritter Diakon von St. Nikolai in Berlin und überdies kirchenpolitisch und politisch engagiert. – Mit Schleiermacher stand er durchweg in engem persönlichem oder brieflichem Kontakt und wurde schließlich von ihm als Verwalter des Nachlasses eingesetzt, so daß er die große, aber nie vollendete Edition der ,Sämmtlichen Werke‘ organisierte, überwachte und mit eignen Bänden bereicherte. 81
2.2. Die Vorlesung von 1822 Die Nachschrift Hagenbachs in der Universitätsbibliothek Basel (Signatur Q I 44) ist schon wegen ihrer Vollständigkeit als Leittext geboten. Sie umfaßt 78 Seiten und ist wegen des sparsamen Gebrauchs von Kürzeln recht gut lesbar. Karl Rudolf H a g e n b a c h , Sohn eines Basler Mediziners, lebte vom 4. März 1801 bis zum 7. Juni 1874. Er studierte Theologie in Basel, Bonn und Berlin; hier war er immatrikuliert vom 17.10.1821 bis zum 18.3.1823. Seine Vorlesungsnachschriften (nach Schleiermacher und Neander, aber auch nach Lücke in Bonn) sind zusammengestellt in Joachim Boekels’ Werk ,Schleiermacher als Kirchengeschichtler‘, Berlin 1994 (Schleiermacher-Archiv 13), S. 35 f. – Seit 1823 unterrichtete Hagenbach (mit Förderung de Wettes) in Basel, wurde 1824 außerordentlicher und 1829 ordentlicher Professor. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit war die Kirchengeschichte, die Schleiermacher ihm mit seiner Vorlesung von 1821/22 nahebracht hatte. Sauniers fragmentarische Nachschrift (SN 580/2) umfaßt 36 Blatt 4°; sie hat vergleichsweise nur wenige Abkürzungen und macht den Eindruck einer Reinschrift. Johann Carl Heinrich S a u n i e r aus Berlin (18.8.1801 bis Ende Dezember 1825) war in Berlin immatrikuliert vom 17.10.1821 bis zum 8.10.1822 und hat jedenfalls Schleiermachers Vorlesungen zur Kirchengeschichte (1821/22), zur Praktischen Theologie (1821/22), zur Hermeneutik (1822), zur Dialektik (1822) und zum Römerbrief (1823; er war nicht mehr immatrikuliert) gehört und nachgeschrieben. ,Wintersanfang 1824‘ ist das Vorwort zu seiner 1825 erschienenen Untersuchung ,Ueber die Quellen des Evangeliums des Marcus‘ datiert 82. Am 24.12.1825 trug 81
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Eine umfassende und mit Dokumenten untermauerte biografische Darstellung ist ein Desiderat. „Seinem vielgeliebten Lehrer Herrn Friedrich Schleiermacher, Prediger, Professor und Doktor der Theologie, weihet als schwachen Beweis seiner Liebe und Dankbarkeit diesen Versuch der Verfasser.“ (SB 1670)
II. Editorischer Bericht
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Schleiermacher in seinem Tagebuch ein: „Besuch bei Saunier“; am 27.12.: „Gegen Abend die Nachricht von Sauniers Tod“; am 31.12.: „Sauniers Begräbniß“. 83 – Der Vater, Jean Louis Saunier, war Prediger und zudem seit 1805 Lehrer in der Hartungschen Lehranstalt; 1821–27 Prediger an der französischen Kirche in der Klosterstraße; er starb 1849. 84
2.3. Die Vorlesung von 1826 Die Nachschrift Braune (SN 571) umfaßt 170 Blatt 4°; sie ist eine sorgfältige und gut lesbare Ausarbeitung; sie bietet trotz der vielen (zeittypischen) Kürzel nur wenige Schwierigkeiten. (Heinrich Wilhelm) Julius B r a u n e (5.3.1805 bis 22.2.1871) war Sohn des Berliner Schuhmachermeisters Friedrich Wilhelm Braune und der Charlotte Elisabeth geb. Himmerling. Er war vom 10.4.1824 bis zum 16.5.1828 als Student der Theologie immatrikuliert, wurde 1829 Prediger in Wietstock (im Kirchenkreis Zossen) und 1844 Superintendent und Probst in Mittenwalde (Kreis Zossen). Böttichers Nachschrift (SN 572) umfaßt 225 Blatt 4°; sie ist ähnlich der Brauneschen, an manchen Stellen aber weniger sorgfältig. – Heinrich Adolph B ö t t i c h e r (geb. in Wormsdorf im Magdeburgischen am 9.6.1804) war als Student der Theologie immatrikuliert vom 25.3.1826 bis zum 15.2.1828; er wurde am 8.12.1828 ordiniert und lebte als Pfarrer in Blumberg bei Berlin, sodann seit 1852 in Karow (Kreis Ziesar). Er hat außer der Hermeneutik auch Schleiermachers Vorlesungen zur Christlichen Sitte (ebenfalls 1826/27) und zur Praktischen Theologie (1826) gehört und nachgeschrieben. Beide Nachschriften – Braunes und Böttichers – stehen einander besonders nahe dadurch, daß sie mit besonderer Aufmerksamkeit das gesprochene Wort zu dokumentieren versuchen und darum immer wieder 83
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Schleiermachers „Rede an dem Grabe des Königl. Candidatus alumnus Herrn Heinrich Saunier“ über Hiob 1, 21 ist gedruckt (Magdeburg 1826 und danach) in Sämmtliche Werke 2,4 (1835), S. 825–831. Dort heißt es: „auch ich war durch ein zartes und heiliges Band mit ihm vereint; es war die segensreiche Befreundung der Jugend mit dem reiferen Alter, durch deren besondere Gestaltung in dem Lehrstande unserer evangelischen Kirche die Zeugnisse und Erfahrungen der früheren Geschlechter den späteren überliefert werden“ (S. 826). Die Todesursache war jedenfalls kein Unfall, sondern ein ,schwer zu bekämpfendes Uebel‘ (ebd.). Unter den Hinterbliebenen nennt Schleiermacher den Vater, mehrere Geschwister und eine Braut. Ein Carl Heinrich Saunier, der vom 9.10.1819 bis zum 31.7.1820 immatrikulirt war (und von dem wohl die Nachschriften von 1820 zum Evangelium Matthäus und zur Philosophie des Mittelalters herrühren) ist offenbar ein Bruder unseres fast namensgleichen Domkandidaten; jedenfalls trug er sich ebenfalls als Sohn eines Berliner Predigers in die Matrikel ein.
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Einleitung des Bandherausgebers
auf verblüffende Weise mit einander übereinstimmen, so daß die Entscheidung zwischen ihnen nicht leicht fallen konnte; der Eindruck größerer Zuverlässigkeit sprach zuletzt für Braune. Zwei bei ihm fehlende Unterrichtsstunden konnten ohne weiteres aus Böttichers Nachschrift übernommen werden. Die Nachschrift Boerner wird in Warschau in der Universitätsbibliothek verwahrt; sie umfaßt 436 Seiten, ist recht schwer lesbar und wurde nur stellenweise für die Textherstellung zu Rate gezogen. – Ignatius (Ignatz) Karl Wilhelm B o e r n e r wurde am 17.12.1807 in Plock geboren (als Sohn eines deutschsprachigen Bürgers) und starb ebendort am 20.9.1896. In Plock (das von 1793 bis 1807 Ostpreußen gehörte) erfuhr er seine Schulbildung, studierte dann Philosophie in Warschau, anschließend in Berlin Theologie und war hier vom 21.10.1825 bis zum 19.7.1828 immatrikuliert. Seit 1829 war er dann Pastor in Wyszogrod und seit 1837 in Plock, zugleich Superintendent für die Diözese Plock. Die evangelisch lutherische Gemeinde in Plock war 1804 für die zahlreichen deutschen Kolonisten gegründet worden. 85 Die am Institut für Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich aufbewahrte Nachschrift Sprüngli umfaßt (unter dem Titel ,Hermeneutices et critices praecepta‘) 206 Seiten; sie ist außerordentlich schwer lesbar, so daß auch sie nur an wenigen schwierigen Stellen zum Vergleich herangezogen wurde. Johann Jakob S p r ü n g l i aus Zürich (4.11.1801 bis 6.2.1889), Sohn eines kurz vor der Geburt des Sohnes verstorbenen Leinwarenhändlers, studierte Theologie (sowie Philosophie und Philologie) in Zürich und wurde am 13.3.1826 als reformierter Pfarrer ordiniert. Zunächst aber ging er auf europäische Bildungsreise nach Berlin, Bonn, Paris und Genf, unterrichtete zeitweise in Genf, Yverdon und Basel und wurde sodann 1829 (nach kurzem Vikariat und nach der Hochzeit mit Emilie Tobler am 31.8.1829) Pfarrer in Schlieren bei Zürich (erste Predigt am 4.10.1829), später (1835–79) in Thalwil (Thalweil). Dabei hat er sich besonders für die Pflege und Reform des Schulwesens eingesetzt (besonders durch Einrichtung einer privaten Knabensekundarschule in Schlieren), mehr aber noch für das Gesangwesen, wodurch er auch in Deutschland bekannt wurde. 86 – Am 12.4.1826 trug der Schweizer Theologe sich als ,Jacob 85
Einzelheiten sind entnommen der 1929 erschienenen „Gedenkschrift zur 125 jährigen Jubiläumsfeier der evangelisch-lutherischen Pfarrgemeinde Plock“ von Pastor Robert Gundlach.
II. Editorischer Bericht
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Sprüngli‘ aus Zürich und Sohn eines Kaufmanns in der Berliner Matrikel ein und ging nach Ablauf eines Jahres, am 17.4.1827, wieder ab. Offenbar hat er in diesen beiden Semestern vier Vorlesungen Schleiermachers gehört und nachgeschrieben; jedenfalls besitzt das Zürcher hermeneutische Seminar die mit seinem Namen bezeichneten Nachschriften der Pädagogik und der Praktischen Theologie (beide aus dem Sommersemester 1826) sowie der Hermeneutik und der Christlichen Sitte (beide aus dem Wintersemester 1826/27). 87
2.4. Die Vorlesung von 1828/29 Die Nachschrift Spangenberg (SN 573) umfaßt 69 Blatt 4° und macht weniger den Eindruck einer authentischen Nachschrift als vielmehr den einer auffällig unverständigen (womöglich kommerziellen) Abschrift einer fremden Nachschrift; aus diesem Grund wurde auf die Wiedergabe verzichtet. Julius Albert S p a n g e n b e r g wurde geboren am 18.3.1807 in Blankensee bei Stettin als Sohn des Pastors Christoph Leonhard Ludwig Spangenberg und der Charlotte Amalie geb. Philippsborn und war als Student der Theologie immatrikuliert vom 15.11.1826 bis zum 2.9.1829. Er wurde 1831 Subrektor in Wriezen, 1832 Konrektor und 1838 Rektor ebendort und zugleich seit 1838 Pastor von Alt Bliesdorf; er hatte sodann weitere Ämter, die er jedoch 1862 allesamt niederlegte und nach Amerika auswanderte.
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Er fand später in Edgar Refardts Historisch-biographischem Musikerlexikon der Schweiz (Leipzig: Hug, 1928) Aufnahme; Refardt wiederum fußt weithin auf Hermann Schollenberger: Sängerpfarrer J. J. Sprüngli, Zürich 1922, wo auch mehrere Publikationen Sprünglis genannt sind. Im Jahre 1845 wurde die Kirche in Thalweil abgerissen und durch einen Neubau ersetzt; Sprünglis (vorläufige) Abschiedspredigt aus Thalweil 1845 wurde im selben Jahr gedruckt; das Heft enthält im Anhang eine autobiografische Skizze des Predigers: „Joh. Jakob Sprüngli – Sohn von Hs. Sprüngli sel., ordinirt den 13. März 1826, Vicar nach Riffersweil den 1. Mai 1829. zum Pfarrer nach Schlieren erwählt im gleichen Monat, dorthin gezogen den 26. Sept., Einsegnung und erste Predigt den 4. Oct. 1829, zum Pfarer nach Thalweil gewählt den 18. Januar 1835 von der Gemeinde selbst auf einen Sechservorschlag des Kirchenrathes und einen Dreiervorschlag von Wettingen, dem bisherigen Collator. […] Aufzug in Thalweil den 16. Mai 1835, Einsegnung und erste Predigt den 24. Notar des Capitels Horgen vom Jahr 1838 bis 1844. Im Jahr 1836 zählte die Gemeinde 1738 Seelen.“ (J. Jakob Sprüngli: Die alte Kirche zu Thalweil. Predigt zum Abschied von derselben gehalten ... den 21 Sept. 1845 nebst geschichtlichen Notizen über die Kirchgemeinde. Zürich 1845, S. 58)
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Einleitung des Bandherausgebers
2.5. Die Vorlesung von 1832/33 Die Nachschrift Calow (SN 575) im Umfang von 143 Blatt 4° ist die vollständigste des letzten Semesters und ist darum komplett wiedergegeben. Ferdinand C a l o w aus Stettin, Sohn eines (1840 verstorbenen) Justizrats, lebte vom 2.6.1814 bis zum Jahr 1872 und war vom 24.10.1832 bis zum 2.9.1836 in Berlin immatrikuliert als Student der Philologie. Später wurde er Gymnasialprofessor in seiner Heimatstadt (Marienstiftsgymnasium), hat aber sein reiches altphilologisches Wissen nur seinen Schülern vermittelt. Als Schriftsteller ist er daneben hervorgetreten unter dem Namen Ferdinand Friedrich Calo. Die Nachschrift Henke (UB Marburg, Ms 649) umfaßt 72 Blatt; sie bietet die Hermeneutik sehr zusammengedrängt, ja auszugsweise, und es ist deutlich, daß Henkes Interesse weit überwiegend der Kritik galt, deren Vortrag er entsprechend breit wiedergibt. Auf Blatt 73–92 folgt „Schleiermacher über die Poesie. (Schluss seiner Vorlesungen über Ästhetik, Berlin im März 1833.)“ Ernst Ludwig Theodor H e n k e aus Helmstedt lebte vom 22. Februar 1804 bis zum 1. Dezember 1872. Der Sohn des Kirchenhistorikers Heinrich Henke studierte von 1822 bis 1824 in Göttingen Theologie und Philosophie, promovierte 1826 in Philosophie und wurde 1827 als Theologe habilitiert. Ab 1828 hielt er als Professor am Braunschweiger Collegium Carolinum theologische und philosophische Vorlesungen. – Anfang 1833 nutzte einen vierteljährigen Urlaub, um in Berlin bei Schleiermacher und Neander Kollegien zu hören; die als Professor in Jena sowie als Konsistorialrat in Braunscheig wurden gefolgt von einer Professur in Marburg, wo Henke sodann seit 1839 bis zu seinem Tod unterrichtete. Seine Publikationsliste ist lang, und er wird in den gängigen Nachschlagewerken ausführlich gewürdigt. Die Nachschrift Kalb (SN 546) umfaßt (im Anschluß an eine exegetische Vorlesung) 65 Blatt; sowohl die Hermeneutik (Bl. 80–121) als auch die Kritik (Bl. 124–144) brechen vorzeitig ab und enden jeweils mit der Bemerkung „Reliqua desunt“. Philipp Leonhard K a l b aus Frankfurt am Main (Sohn eines Bürstenmachers) war als Student der Theologie in Berlin immatrikuliert vom 28.4.1832 bis zum 28.2.1834. 1839–1852 war er Pfarrer an St. Otto in Wechselburg (Sachsen) und zugleich 1849/50 Abgeordneter im Sächsischen Landtag. *
II. Editorischer Bericht
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Dieses vor etwa drei Jahrzehnten begonnene Editionsprojekt war zunächst ein privates Nebenbei und wurde durch die generöse mehrjährige Förderung der Thyssen Stiftung eine professionelle Hauptsache, deren vielfache Verzögerung durch das energische Engagement der Forschungsstelle schließlich überwunden werden konnte. Kurt-Victor Selge hat stets mit klarer Einsicht in die Bedeutung und Notwendigkeit der Publikation seine Unterstützung gewährt, besonders aber hat Andreas Arndt als Kollege und später als Leiter der Forschungsstelle mit viel Energie, unbegreiflicher Geduld und mancherlei Ratschlägen zum Gelingen beigetragen, ebenso wie die jüngeren Kollegen Sarah Schmidt und Simon Gerber, aber auch Frau Isabelle Lüke, die seit Jahrzehnten all unsern Projekten ihre Aufmerksamkeit und Erfahrung widmet. Hermann Patsch hat gerade in der Spätphase die Textherstellung und die Einleitung durchgesehen, korrigiert und wesentlich verbessert, so daß seine auf dem Titelblatt genannte Mitarbeit weit über das geplante Maß hinausging. Berlin, 20. Juni 2012
Wolfgang Virmond
Erster Teil Manuskripte Schleiermachers
Zur Hermeneutik Manuskript zu den Kollegien 1805 und 1809/10
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 81
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10 Einleitung Eigentlich gehört nur das zur Hermeneutik was Ernesti Prolegomena § 4 5 subtilitas intelligendi nennt. Denn die [subtilitas] explicandi sobald sie mehr ist als die äußere Seite des Verstehens ist wiederum ein Object der Hermeneutik und gehört zur Kunst des Darstellens. Daher auch die Anweisung zum rechten Gebrauch der Commentare in die Hermeneutik gehört als besondere Anwendung der allgemeinen Regeln; nicht aber An10 weisung zum Schreiben der Commentarien
Sein erster Theil der subtilitas intelligendi ist ganz recht Analyse dessen was zum Verstehen gehört, also Aufstellen der Aufgabe; der Andre die Lösung und die Hülfsmittel
3 Einleitung] am rechten Rand 4–5 „Ioannis Augusti Ernesti Institutio Interpretis Novi Testamenti. Editionem quartam suis observationibus auctam curavit Christophorus Fridericus Ammon. Lipsiae in Libraria Weidmanniana 1792“ (SB 614). Ernesti beginnt mit den „Prolegomena de interpretatione universa“ (§ 1–13), also keinesfalls begrenzt auf das Neue Testament, und gliedert dann den ersten Teil seines Buches, in dem die „subtilitas intelligendi“ behandelt wird, in die Hauptabschnitte „Partis Primae Sectio 1: Contemplativa“ und „Sectio 2: Praeceptiva“; der zweite Teil erörtert die „subtilitas explicandi“; der dritte Teil heißt „De instrumento hermeneutico eiusque legitimo usu“. – „§ 4. Interpretatio igitur omnis duabus rebus continetur, sententiarum (idearum) verbis subiectarum intellectu, earumque idonea explicatione. Vnde in bono interprete esse debet subtilitas intelligendi, et subtilitas explicandi.“ (S. 7 f.) 8 Zur Erörterung der Kommentare bei Ernesti vgl. Pars II, 1. 11–13 „§ 5. Subtilitas intelligendi et ipsa duabus rebus cernitur: quarum altera est, videre, quid intelligas, nec ne, et difficultates intelligendi, earumque caussas, ex arte animaduertere: altera autem, sensum eorum, quae difficilia sunt, rite indagando inuenire.“
SN 81, 1
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Allgemeine Einleitung Zwei entgegengesezte Maximen beim Verstehen 1.) Ich verstehe alles bis ich auf einen Widerspruch oder Nonsens stoße 2.) ich verstehe nichts was ich nicht als nothwendig einsehe und construiren kann. Das Verstehn nach der lezten Maxime ist eine unendliche Aufgabe. 5
Einleitung zum ersten Theil Das Nichtverstehen einzelner Elemente geht nicht nur auf fremde Sprachen; es ist aber auch nicht bloß „daß man nichts denkt als das Wort“, sondern man construirt nur nicht die ganze schematische Anschauung des Wortgebietes, sondern begnügt sich nur mit irgend einer Einzelheit. 10
Die Eintheilung § 4 stimmt nicht mit der § 5. Wenn es sich nicht im Verfolg besser findet.
Allgemeine Einleitung Die grammatische Interpretation ist wol eigentlich die objective die historische die subjective. Also von Seiten der Construction angesehn jene 15 die bloß negative, die Grenzen angebende, diese die positive. Sie können nicht immer coincidiren weil dies vollkommne Kenntniß und vollkommen richtigen Gebrauch der Sprache voraussezte. Die Kunst ist nun zu wissen wo man welche aufopfern soll.
Die Principien vom Sprachgebrauch vom Parallelismus p (Morus p. 16) 20 sind keinesweges Axiomen sondern sehr wohl zu demonstriren. [
1 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 13 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand
]
6 Einleitung ... Theil] am rechten Rand
2–5 Vgl. dazu Ernesti Prolegomena § 5. 7–10 Wohl Bezug auf § 6: „[…] partim ab diligentia et consuetudine distinguendi ideas verum ab ideis sonorum, cum consideramus in omnibus verbis an aliquid praeter verbum cogitemus […]“. 11–12 „§ 11. Inventio, qua est subiecta praeceptis, habet partes duas: quarum altera est contemplatiua, altera praeceptiua. Illa continet generales obseruationes de sensu et generibus verborum, a quibus vel praecepta interpretandi ipsa, vel eorum rationes ducuntur; haec autem praecepta de modo sensus indagandi. […]“ 20–21 Sam. Frid. Nathan. Mori […] Super Hermeneutica Novi Testamenti Acroases Academicae. Editioni aptavit praefatione et additamentis instruxit Henr. Carol. Abr. Eichstädt […] Volumen Primum. Lipsiae: Koehleri 1797; Volumen Secundum. Lipsiae 1802. Wie man der Praefatio Eichstädts entnehmen kann, hat Morus das Werk von Ernesti seinen Vorlesungen zu Grunde gelegt, was die gleichen oder ähnlichen Fragestellungen
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Zweiter Theil Eine Hauptsache beim Interpretiren ist daß man im Stande sein muß aus seiner eignen Gesinnung herauszugehn in die des Schriftstellers. Exemplum confer Morus p 18 Auslegung von Römer 15, 23 ist das pa Än 5 ganz verfehlt, weil er nicht in die strenge moralische Idee eingehn konnte sondern nur an das Resultat des Handelns dachte.
Erster Theil Eigentlich hat doch jedes Wort nur Eine Bedeutung selbst die Partikeln, und man versteht die Vielheit gewiß nicht ohne Reduction auf die ur10 sprüngliche Einheit.
Erster Theil Wenn man nur das Verstehen als die Aufgabe der Hermeneutik ansieht, und der Anschauung treu bleibt die Gedanken nicht als ein Objectives[,] als Sache, sondern als factum zu behandeln so kommt man gar nicht auf 15 alle die falschen dialektischen Unterschiede von den verschiedenen Sinnen.
1 Zweiter Theil] am linken Rand 11 Erster Theil] am linken Rand
7 Erster Theil] am linken Rand
10 Einheit] korr.
erklärt. Schleiermacher hatte das Werk in seiner Bibliothek (SB 1308). – „Ad indagandum eorum, quae difficilia sunt, sensum porro requiritur scientia praeceptorum de modo interpretandi. […] Principia vero exegetica sunt propositiones, de quibus convenit inter omnes eos, qui libros interpretantur; quales sunt: contra loquendi usum nil fieri debere in interpretando, omnem veritatem interpretationis pendere ab loquendi consuetudine, contextu verborum et consilio scriptoris, parallelismum esse certissimum explicandi praesidium, e loco corrupto nullum posse dogma demonstrari, nec posse illud duci e loco spurio. Haec principia, quae sunt veluti axiomata in interpretando, qui nescit aut in dubium vocat, cum eo ne disputari quidem in hoc genere potest.“ (Morus, Bd 1, S. 16 f.) 4–6 „Quoties v. gr. ex isto Pauli dicto, Rom. xv, 23. [recte xiv, 23] paÄn, oÊ oyÆk eÆk piÂstevw, aëmartiÂa eÆstin, conclusa sunt, quae plane non insunt! Nam contextus docet, non ibi esse sermonem de fide, sed de mentis certa persuasione: Wenn man nicht aus Ueberzeugung handelt, kann man sich leicht dabei vergehen.“ (Morus Bd. 1, 17 f.) 8 Vgl. Ernesti § 4 (S. 16): „varius aut multiplex esse sensus possit“. 15–16 Die Annahme eines mehrfachen Schriftsinnes hat in der Geschichte der Hermeneutik eine große Rolle gespielt. Bei der „ambiguitas“ der Sinne erörtert Ernesti den sensus „allegoriae“ (S. 20; § 9) und „sensus typicus“ (§ 10) und bemüht sich, die verschiedenen Sinne auf den sensus literalis als den sensus grammaticus zurückzuführen. Vgl. § 14: „Vnde sensus literalis idem g r a m m a t i c u s dicitur; […] nec minus recte h i s t o r i c u s vocatur […].“
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Erster Theil So wie Ernesti unterscheidet kann doch Sinn nichts anderes sein als die nähere Bestimmung der Bedeutung, ein besonderes aus der allgemeinen Sphäre.
Allgemeine Einleitung 5 Man muß suchen der unmittelbare Leser zu werden um Anspielungen zu verstehen, um die Kraft und das besondere Feld der Gleichnisse zu verstehen
Zweiter Theil Die Eintheilung in Werke Studien und Gelegenheitsschriften ist auch her- 10 meneutisch wichtig, weil sich die Verhältnisse des Schriftstellers und Lesers danach richten.
Zweiter Theil Eine große Schwierigkeit ist zu finden welche Gedanken selbst nur als Zeichen anzusehen sind. Zum Exempel Amplificationen Hyperbeln sind 15 nur Zeichen des Eindruks, Einfälle sind oft nur Zeichen der Gemüthsstimmung. Kurz oft gehört nur die Form eines Gedankens zum Dargestellten, sein ganzes Materiale nur zum Darstellungsmittel
Zweiter Theil Das Construiren des Schriftstellers ist sehr verschieden von dem gewöhn- 20 lichen Construiren der Schrift nach Unterabtheilungen
1 Erster Theil] am linken Rand 5 Allgemeine Einleitung] am linken Rand 9 Zweiter Theil] am linken Rand, Zweiter unter 〈Erster〉 13 Zweiter Theil] am linken Rand, Zweiter unter 〈Erster〉 19 Zweiter Theil] am linken Rand 2–4 „§ 1. Omni verbo respondere debet, in sacris quidem libris semper et haud dubie respondet, idea seu notio rei, quem sensum dicimus, quod eius rei, quae verbo exprimitur, sensus audiendo verbo instaurari in animo vtcumque debet. § 2. Eum sensum consuetudo doctorum literalem appellauit, quod ita consuetudine coniunctus est cum verbo, vt verbo audiendo in animum primus reuocetur“. (Ernesti S. 14 f.)
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Erster Theil Gewöhnliche flüchtige Art sich mit einem dunkeln Eindruk des Einzelnen zu begnügen wenn man nur glaubt im Zusammenhange zu sein. [
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Erster Theil 5 Barbarismen zumal in Wortbedeutungen entstehn aus mangelhafter
Kenntniß der Wortsphären in der eigenen und der fremden Sprache. Beispiel besonders von den moralischen Begriffen (dikaiosynh. Hellenistisch)
Erster Theil 10 Einfluß der Polemik auf den Gebrauch nicht hinlänglich bestimmter Worte denen man eine schlechte Nebenbedeutung beilegt Zum Exempel Mysticismus.
Allgemeine Einleitung Einleitung Erklärung der Hermeneutik. Verweigerung der Ernestischen 15 Erweiterung des Gebietes. Schwierigkeiten die aus der Behandlung entstehn (zum Exempel Zweideutigkeit der Beziehung.) und Schwierigkeiten die aus der Sache entstehn. – Eintheilung 1. Verständniß des dem Schriftsteller und Leser gemeinschaftlichen 2.) des dem Schriftsteller eigenthümlichen, indem man [als] Leser ihn nachconstruirt. 3. Des dem Leser 20 eigenthümlichen worauf der Schriftsteller als auf ein besonderes und Aeußeres Rüksicht nimmt.
Zweiter Theil Das Wesen des dritten Theils ist eigentlich der wahre Gedanke der Accomodation. Ist nicht allgemein; gehört nur für Reden, Gelegenheits25 schriften, bestimmte Didaktik
1 Erster Theil] am linken Rand 4 Erster Theil] am rechten Rand 9 Erster Theil] am rechten Rand 13 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 19 Leser] korr. aus Ð Ñ 22 Zweiter Theil] am rechten Rand
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Zweiter Theil Im zweiten Theil ist ebenfalls ein allgemeines und ein besonderes. Das Erforschen der Idee, der combinatorischen Einheit, der Individualität ist das Allgemeine. Das Erforschen der combinatorischen Vielheit, des psy5 chologischen und persönlichen ist das besondere.
Allgemeine Einleitung Die Sprache muß nicht als ein Allgemeines fluctuiren sondern als ein bestimtes zwischen beiden fixirt werden. – Auch die einer bestimmten Zeit eignen Aberrationen gehören zum gemeinschaftlichen.
Allgemeine Einleitung 10 In der Einleitung auch noch vom Verhältniß der allgemeinen Principien zur heiligen Schrift.
Zweiter Theil Manches kann der Schriftsteller anorgisch gemeint haben, manches auch organisch. Schwierigkeit dies zu bestimen; hier also aus dem zweiten 15 Theil das Gebiet des ersten. (Tiek, Schlegel p) Hieher das musikalische sowol Ton als Numerus und das Emphatische, was aus den Formen der Sprache entsteht (oyÆranow, Elohim p.)
Allgemeine Einleitung Consequenz in der Lehre von der Inspiration des Exegeten. Was in der 20 Hermeneutik antikatholisch ist und was allgemein christlich.
1 Zweiter Theil] am rechten Rand 6 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 10 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 13 Zweiter Theil] am rechten Rand 19 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 20–21 Was … christlich.] am rechten Rand 16 Gemeint ist die romantische Lyrik bei Ludwig Tieck („Romantische Dichtungen“, 1799/1800) und August Wilhelm Schlegel („Gedichte“, 1800) oder Friedrich Schlegel (besonders „Lucinde“, 1799). 18 Beide Dreisilber haben Endbetonung.
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Erster Theil Das emphatische wie es oben beschrieben wurde ist immer nur im höhern Styl zu suchen; im niedern müßte man ja voraussezen daß es übersehn würde.
5 Erster Theil
Je tiefer in die Elemente hinein desto unerforschter ist noch die Sprache. [
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Erster Theil Verkehrte Ansicht von den Tropen aus der Objectiven Ansicht der Worte hergenommen. facies rosea planta serpens scandens –
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Erster Theil Es muß auch eine similitudo intelligibilis geben, und so sind alle göttlichen Eigenschaften tropen. [
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Erster Theil Es ist toll eine eigentliche Bedeutung der Zeit nach vor die tropische zu 15 sezen. – weiß und schneeweiß.
1 Erster Theil] am rechten Rand 5 Erster Theil] am rechten Rand 7 Erster Theil] am linken Rand 10 Erster Theil] am linken Rand 13 Erster Theil] am linken Rand 8–9 Schleiermacher bezieht sich hier, wie die lateinischen Beispiele zeigen, auf Morus 1, 2, 4: „De dictione tropica iudicanda et interpretanda“; „Troporum notio, fundamentum, species.» „Alia igitur verba sunt p r o p r i a , alia t r o p i c a . P r o p r i i s verbis uti nihil aliud est, nisi uti iis verbis, quae adsunt et inventa sunt, ut certa res certo nomine appelletur. Tr o p i c i s verbis uti, erit permutare nomen rei certum cum alio nomine rei similis vel relatae vel coniunctae. Ita qui dixit roseam faciem, cutem niveam, haud dubie tropice loquutus est, quia permutavit certum rei verbum usurpavitque de alia re, cui proprie non conveniret. Quia igitur usus vocabularum hoc modo invertitur et transfertur ad aliam rem; ideo dicuntur talia verba tropoi, inversiones, conversiones. Sed quum homines aliquod verbum de alia re usurpant, fundamento nituntur duplici: alterum est similitudo, alterum coniunctio, seu relatio rerum mutua. Similitudo – […] qui dixit p l a n t a m s e r p e r e , is nonne serpere, quod proprie animantis est, de planta dixit improprie, ideo, quoniam similitudo est? Aut qui dixit p l a n t a m s c a n d e r e , quando planta circumvoluta bacillo altius crescit, nonne eodem modo similitudinem expressit?“ (Morus Bd. 1, S. 260 f.) Im Verfolg unterscheidet Morus nochmals zwischen ,coniunctio rei sensibilis‘ und ,coniunctio rei intelligibilis‘ (S. 261 f.). 14–15 Das Beispiel findet sich bei Morus nicht. – Morus Bd. 1, S. 260 bezieht sich auf Ernesti, S. 31 (1, 1, 2, § 2), wo es heißt: „Prima autem distributio, quae maximum momentum facit in interpretatione sacrorum inprimis librorum, est in p r o p r i a et t r o p i c a vocabula.“
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Erster Theil Auch im innern, in der Bedeutung der Worte wird manches ursprünglich organische durch die Zeit wieder anorgisch, und man muß also wissen in welche Periode der Schriftsteller fällt. Eben darum aber das Etymologische nie aus den Augen verlieren (wie Spalding) weil man sonst das An- 5 orgische als ewig und beständig sezt.
Erster Theil In späteren Perioden werden aus einfachen Worten die anorgisch geworden sind Zusammensezungen gemacht die ursprünglich unsinnlich sind. 10 zum Exempel Befugniß
Erster Theil Auch in den gemeinsten Tropen liegt doch ursprünglich etwas besonderes zum Grunde zum Exempel nicht über die Schwelle kommen. Man muß also sehr auf die Zeiten sehen und auf die Genauigkeit des Gebrauches.
Zweiter Theil 15 Es giebt mystische Tropen, die ihrer Natur nach unerschöpflich sind wie Licht und Erkentniß. Hier muß allein die Behandlung entscheiden wie sie gemeint sind.
1 Erster Theil] am linken Rand 7 Erster Theil] am linken Rand 11 Erster Theil] am linken Rand 13 muß] korr. aus Ð Ñ 15 Zweiter Theil] am linken Rand 5 Bezieht sich wohl auf Gespräche mit Spalding. Vgl. auch G. L. Spalding: Vorrede zu ,Platonis Dialogi quatuor‘ (Platonis Dialogi selecti, Bd. 1), ed. Lud. Frid. Heindorf, Berlin 1802 (SB 1491), S. V–VIII, bes. VI f. Spaldings Vorrede vom 5. Mai 1802 erinnert an die grundlegende Mitarbeit Schleiermachers als eines „vir ingeniosissimus“. 8–10 Ernesti S. 33 (§ 5); auch Morus Bd. 1, 264: „Nam primum in quibusdam illa prima et, subtiliter accepto verbo, propria significatio obsolevit, et a multo tempore desiit usurpari. […] Abundat et nostra lingua talibus verbis, v.c. Befugniß, behelligen, in quibus nemo quaerit propriam significationem, i. e. eam, quam ab initio habuerunt aut per etymologiam habere debuerunt, sed ampectitur eam, quae nunc facta est propria.“ – Im Manuskript ist bei ,Befugniß‘ vor der dritten Silbe eine kleine Lücke, die aber ohne Bedeutung sein mag.
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Zweiter Theil Aus der Verschiedenheit des Styls entstehn allerdings verschiedene Auslegungsregeln aber lex narratio und dogma sind schlechte Abtheilungen
Erster Theil 5 Ein wunderliches Erklärungsprincip für die Allegorie ist die Geschichte.
Darum hat auch Morus das von Petrus ganz falsch erklärt. So auch das vom alten Lappen wenigstens keinesweges adaequat.
Erster Theil Wenn man zu zeitig vom Ursprung einer Redensart absieht kommt man 10 in Versuchung einen Schriftsteller der Doppelsinnigkeit zu beschuldigen wie Heindorf den Platon mit eyË prattein und oë ti maûvn
1 Zweiter Theil] am linken Rand linken Rand
4 Erster Theil] am linken Rand
8 Erster Theil] am
2–3 Als verschiedene Gattungen, die bei der Erklärung von Tropen zu berücksichtigen sind, unterscheidet Morus ,leges‘ (Bd. 1, S. 281 f.), ,narrationes‘ (S. 282–290) und ,dogmatici loci‘ (S. 290 f.). 6–7 Vgl. (mit Kimmerle) Morus, Bd. 1, S. 311 f. den Abschnitt „In allegorico loco consulenda historia est“. S. 312 zieht Morus Johannes 21, 18.19 als Beispiel heran, wo von Petrus geweissagt wird, welchen Todes er sterben werde: „Joh. ult. 18. scriptor ipse digito monstrat, historiam adeundam esse. Sermo est de Petro: Dico tibi, te iuniorem cinxisse temet ipsum, et ambulavisse, quoqunque velles; sed ubi ad senectutem perveneris, extendes manus, et alius te ducet, et invitum te ducet eo, ubi tu non voles ire. Additur v. 19. Haec dixit Christus significans, quo mortis genere Petrus obiturus esset. Historia vero indicat, Petrum violenta morte sublatum esse.“ Im nächsten Abschnitt findet sich bei Morus (S. 313) das Beispiel Lukas 5, 36 („Niemand setzt einen alten Lappen auf ein neues Kleid.“) „Luc. V, 36. Vestimento novo nemo assuit pannum veterem, ne novus pannus una cum vetere rumpatur. Nihil additur explicationis. Praecesserat id: cur tui discipuli non solent multum ieiunare, sed vivere laxius et liberius? His respondet ad istum modum. Nihil hic in viam ducere potest, nisi natura rei. […] Igitur quoniam, ait Christus, nemo in vita communi solet libenter agere inepte, ego nec discipulos meos sic agere volo.“ 11 Zur ersten Phrase s. Platonis Dialogi selecti, ed. L. F. Heindorf, Bd. 1, Berlin 1802, S. 105 Anm. zu Charmides 172a (§ 42): „ëAmartiÂaw gaÁr eÆjhrhmeÂnhw – eyÆdaiÂmonaw einai. Argumenti huius vim positam apparet in duplici dictionis ey praÂttein significatu, quum vulgo sit felicem esse, non recte facere. Hoc aliaque eiusdem generis saepius sic ansam praebuerunt sophismatis magis, quam iusti syllogismi.“ sowie Bd. 2, Berlin 1805, S. 208 Anm. zu Gorgias 507c: „toÁn dÆ eyË praÂttonta etc.“ mit Zitat Routhius: „,Vult philosophus, consequens esse necessario ex antecedentibus, eum, qui recte agit, felicem esse. Vix enim potest credi, Platonem duplici sensu verborum ey praÂttein ad argumentum probandum abuti voluisse, quae fallacia esset amphiboliae.‘ Non meminerat vir doctus cetera in Platone loca, ubi eodem modo ex duplici illa potestate argumentatio ducitur, cuiusmodi plura attulimus ad Charmid. § 42.“ Die Erklärung von oÏ,ti maûvÁn eÆmoyÄ findet sich erst in dem in Berlin 1806 erschienenen Bd. 3, S. 338, zu Euthydemus 283e: eÍfh, hËn eiÆpeiÄn, eiËpon aÃn, soi eiÆw kefalhÁn, oÏ,ti maûvÁn eÆmoyÄ; eine lange Anmerkung diskutiert die Bedeutung der Phrase. Die Noten zu den drei Dialogen des Bandes lagen im August 1805 fertig vor (KGA V/8, S. 281); Schleiermacher erhielt vorweg Korrekturbögen für seine Übersetzung (Band 2,2, Ostern 1806).
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Erster und Zweiter Theil Die Emphasis temporaria ist gar keine Emphasis denn sie ruht nicht auf dem Wort sondern nur durch das Versezen in die Stimmung des Schriftstellers wird sie bewirkt. Man vergleiche bei Morus audivi und urbs.
Erster Theil 5 Vir summus ohne Namen ist dagegen eine Emphasis um ein herunter gekommenes Wort wieder zu Ehren zu bringen. [ 7
]
Erster Theil Es giebt ein Mißverstehn in den gemeinsten Dingen. Kant zum Exempel hat unterthänigster Diener nicht verstanden, also eine ganze Klasse von 10 Wörtern, einen ganzen Theil der Sprachbildung nicht gekannt. Die Scheinworte sind ein Zeichen der modernen Zeit.
1 Erster ... Theil] am linken Rand rechten Rand
5 Erster Theil] am linken Rand
8 Erster Theil] am
2 Vgl. Ernesti I, 1, 2 § 17: „Sunt autem emphases vel t e m p o r a r i a e , vel c o n s t a n t e s . Temporarias dicimus, quae certo loco ac tempore verbis accedunt”. Vgl. auch Morus Bd. 1, S. 321–336: ,De emphasibus iudicandis‘; zu ,Temporiae emphases‘ siehe S. 323 f. 4 Zu audivi vgl. den Abschnitt über emphases temporariae: „Ex affectu dicentis. V.c. cui narratur res tristissima, is perculsus dolore, ac suspirans, respondet: a u d i v i . Dicere voluit, rem proh! dolor iam dudum in suam venisse notitiam.“ (Morus Bd. 1, 323) – Zu urbs siehe in dem vorhergehenden Abschnitt ,Emphaseos notio‘ (S. 321): „Vrbs interdum dicitur de urbe primaria, v.c. Roma“. 6–7 Zu ,summus vir‘ vgl. Morus, Bd. 1, S. 323 f. unter ,Temporariae emphases‘: „Ex gravitate rei interdum quoque ad verbum aliquid accedit. Huc pertinet narratio de Caesare, qui ad gubernatorem navis, tempestate maris oborta, dixit: noli timere: Caesarem vehis. Pariter in illo ayÆtoÁw eÆfa, h.e. ille summus vir, Pythagoras, tamquam errare nescius, dixit.“ 9–11 „Schleiermacher bezieht sich wohl auf die Äußerung Kants, daß er aufgrund des Einspruchs des preußischen Königs Friedrich Wilhelms II. gegen seine Schrift ,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ (Königsberg 1793/94) ,als Ew. Königl. Maj. getreuester Unterthan‘ erkläre, sich ,fernerhin aller öffentlichen Vorträge die Religion betreffend‘ zu enthalten, wobei er späterhin – in der Vorrede zur Schrift ,Der Streit der Facultäten‘ (1798) nach dem Tode Friedrich Wilhelms II. – betont: ,Diesen Ausdruck wählte ich vorsichtig, damit ich nicht der Freiheit meines Urtheils in diesem Religionsproceß auf immer, sondern nur solange S. Maj. am Leben wäre, entsage.‘“ (Kimmerle, Nachbericht, S. 11) – Diese Passage, in der es ja nicht um eine bloße Unterschriftsfloskel, sondern um die mögliche Lebensdauer der Herrschers und das erhoffte Ende der Zensur geht, paßt freilich nicht recht zu Schleiermachers Notiz; dort geht es möglicherweise um die (schon den alten Lateinern vertraute) uneigentliche Verwendung des Superlativs als eine Art von Intensivum, besonders in Floskeln wie ,gnädigste Frau‘, ,unterthänigster Knecht‘, ,most humble servant‘, ,mit größter Bestürzung‘ im Gegensatz zum eigentlichen Superlativ ,der höchste Berg‘, ,die älteste Galaxie‘, ,das kleinste Säugetier‘. Es ist also eine Erscheinung weniger der Grammatik als vielmehr der Rhetorik. Kant aber als Feind der Rhetorik konnte dafür kein rechtes Verständnis aufbringen (auch wenn er konventionelle Floskeln durchaus und oft verwendete). Eine bestimmte gedruckte Stelle von oder über Kant, die diese Auffassung plausibel machen könnte, hat sich bislang nicht finden lassen.
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Erster Theil Man kann eine Epoche einer Sprache nicht verstehn ohne ihre ganze Geschichte und das Wesen der Sprache, und dieses nicht ohne die Sprache im Allgemeinen.
5 Allgemeine Einleitung
Man kann ein Gesprochenes nicht verstehn ohne das Allgemeinste aber auch nicht ohne das persönlichste und besonderste.
Zweiter Theil Wie überhaupt das Sprechen ein Verbreiten ist: so giebt es auch zum 10 Behuf der Sprache ein Verwandlen eines intensiven in ein extensives.
Allgemeine Einleitung Wenn jedes Sprechen ein lebendiges Reconstruiren wäre so brauchte es keine Hermeneutik zu geben, sondern nur Kritik der Kunst.
15
Erster Theil Man kann die verschiedenen Strata von Anschauungen und Anschauungsweisen in einer Sprache bemerken. Wie der Teufel Unkraut unter den Weizen säet.
Erster Theil Ueber den Werth der Definitionen in der Sprache. Es kann eigentlich 20 keine andern geben als von den combinatorischen und derivativen Formeln der Sprache selbst.
1 Erster Theil] am rechten Rand 5 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 8 Zweiter Theil] am rechten Rand 11 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 13 nur] oder eine 14 Erster Theil] am rechten Rand 18 Erster Theil] am rechten Rand 16–17 Matthäus 13, 25
16
Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Erster Theil Ellipsen sind Zeichen des zunehmenden Lebens. Man hat nicht mehr soviel Zeit sich aufzuhalten. Charakteristischer Unterschied im Deutschen zwischen der Kürze im gemeinen Leben (viel Säze, abgekürzt.) und im 5 Geschäftsstyl (wenig Säze complicirt.)
Erster Theil Wenn man alles Gesprochene aus dem Mittelpunkt der Sprache ansieht verschwindet aller persönliche Werth ausgenommen bei dem eigentlichen Sprachkünstler, der die Sprache neu individualisirt.
Allgemeine Einleitung 10 Die bisherigen Behandlungen der Hermeneutik gehn aus von der Kunstlosigkeit des Verstehens das nicht eher der Kunst bedarf bis es auf Nonsens gestoßen ist. So erscheinen alle Regeln als ein willkührliches, als ein eigentlicher Nothbehelf und müssen auch großentheils schief erscheinen, weil sie auf vorhergegangene Fehler des Auslegens hinweisen. Zum Ex- 15 empel wenn man einzelne Stellen aus dem Zwekke des Schriftstellers erklären soll.
Allgemeine Einleitung Die große Behandlung scheint einen Widerspruch zu enthalten, weil man das subjective erst durch das Verstehen selbst kennen lernt. Hieraus ent- 20 steht nun die Forderung der wiederholten entgegenstehenden Proceduren. Eben dies gilt vom Erlernen der Sprache überhaupt. [ 8
]
Wenn man alles Gesprochene aus dem Mittelpunkt eines Künstlers ansieht so verschwindet Alles Gegebene und objective im Werth der Sprache, außer in so fern sie den Künstler selbst ergreift und in seinem Denken 25 bestimmt.
1 Erster Theil] am rechten Rand 6 Erster Theil] am rechten Rand 10 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand 18 Allgemeine Einleitung] am rechten Rand
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Das Christenthum hat Sprache gemacht. Es ist ein potenzirender Sprachgeist von Anfang an gewesen und reiche Providenz darin daß es sich nicht an Hellenische Weisheit anschließen konnte.
Die Hermeneutik ist das Umgekehrte der Grammatik, und noch mehr.
5 Ableitung der technischen Bedeutung aus der Einheit der Wortsphäre und
Regeln nach denen man sie voraussezen darf. Gebrauch vorhandener technischer Bedeutungen und Entstehung neuer.
Vom Verhältniß der Bedeutung zur Vermehrung des unter ihr begriffenen objectiven in Beziehung auf juridische Auslegung. Vom Unterschiede des 10 Auslegens und Einlegens.
Alles vorauszusezende in der Hermeneutik ist nur Sprache und alles zu findende, wohin auch die andern objectiven und subjectiven Voraussezungen gehören muß aus der Sprache gefunden werden.
15
20
Die sinnlich sehr genau und eng bestimmten Worte sind wol alle technisch denn da ist eine kurze und einfache Bezeichnung zu wünschen. – Zum Exempel die Araber haben, als Jäger, unsere Bauern als Viehzuchttreibende so viele Worte für geringe Abstufungen von Thieren, nicht als uncultivirte. Der Bauer wird eben so oft Füllen unter Zugvieh subsumiren als unter Pferd.
Beispiel wie leicht man zu wenig verstehn kann ist Schlegel Gedichte P. 189.
18–19 Der … Pferd.] am linken Rand 20–21 In August Wilhelm Schlegel: Gedichte. Tübingen: Cotta 1800, S. 189 findet sich das Sonett ,Die Flucht der Stunden‘: „O daß ihr stille stündet, sel’ge Stunden! / Weil ihr verdient zu weilen, müßt ihr eilen, / Was euch vervielfacht, scheint euch zu zertheilen: / Endlos Entzücken macht euch zu Sekunden. // ,Was klagst du? Wie gefunden so verschwunden. / Befiedert trugen wir mit Amors Pfeilen / Die Lust herbey, und süße Gunst, zu heilen / Die Wunden, die dein Herz kaum überwunden.‘ // So seyd denn, Stunden, meiner Wonne Musen! / Lehrt mich, von eurem Flug nicht fortgerissen, / Ruhig die hohle Gegenwart zu saugen. //
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Die Synecdoche ist selten eine Figur. contento pro continuo wird gewöhnlich die Verbindung in der Anschauung vorausgesezt, und die Trennung müßte vielmehr ausdrüklich bezeichnet werden. pars pro toto will man gewöhnlich nur die bestimmte Anschauung erregen.
Wie man bei den Menschen um sie zu verstehn vom Moralgesez ausgehn 5 muß: so auch bei den Sprachen vom Bildungsgesez.
So lange man noch zusamengeseztes vor sich hat muß man auf das einfache zurükgehn, so lange noch eine Vielheit muß man höher hinauf zur Einheit reduciren.
Vom Sprachgebrauch im Gegensaz vom Sprachgesez. Rechte Grenze die 10 Ehrfurcht vor dem Sprachgebrauch.
Sogenannte Synonyme gehen oft von ganz verschiedenen Anschauungen aus. Hügel und Berg. Thal und Schlucht
Alles was Begriff ist im Gegensaz von Anschauung hat sich in die Flexion zurükgezogen. 15 [ 9
]
S Ð a c Ñ h e n als Beispiel wie sich die tropische Bedeutung in die eigentliche auflöst. Eben so L e i t e r ,Lausch dem Sekundenschlag am schönsten Busen, / Und zähle jeden Odemszug nach Küssen, / Ein Augenblick blitzt manchen Blick der Augen.‘“ – Es ist nicht offenkundig, welches ,mehr‘ Schleiermacher hier sieht. 1 Zur Synecdoche vgl. Morus, Bd. 1, S. 266 f.; Ernesti 1, 1, 2, § 8, S. 34 f. 12 Über Synonyme als Teil der Tropen handelt Morus 1, S. 271–273, mit Hinweis auf Ernesti; vgl. dort S. 38 f. (1, 1, 14): „Atque ab hoc maxime fonte fluunt verba s y n o n y m a , in quibus ipsis diligentia quaedam interpretis desideratur, ne diuersitatem sententiae exquirat alieno loco: quod fit non raro. Nam proprie, in vna eademque saltem linguae eiusdem dialecto, aut eadem gente, eademque aetate, non sunt synonyma verborum propriorum; sed si talia sunt in lingua aliqua, vt sunt profecto, velut in graeca inprimis, ea sunt diuersarum vel dialectorum vel aetatum. Maximus autem numerus est e tropica ratione, quae vel ornandi vel variandi caussa easdem sententias cum pluribus verbis communicat.“ 14 Zu dem geläufigen Zusammenhang von Begriff und Anschauung vgl. Kants ,Kritik der reinen Vernunft‘. 16–17 Da S...hen deutlich lesbar ist und die zwei oder drei Buchstaben dazwischen keine erkennbare Ober- oder Unterlänge aufweisen, kommen von den in Adelungs Wörterbuch verzeichneten Wörtern nur ,Sachen‘, ,Seihen‘, ,Seichen‘, ,Seuchen‘ und ,Suchen‘ in Frage; bei den beiden Substantiven würde man den Singular erwarten; gegen das
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Tiefe der Sprache in der Identität des Ausdruks für die reale und ideale Anschauung Man muß die Lehre von den Synonymen und von der Vielheit der Bedeutungen zusammen nehmen um sich richtige Vorstellungen von der 5 Natur eines Wortes zu machen.
Bei zweideutiger Beziehung je gramatischer und correkter der Schriftsteller ist, um desto mehr muß man die natürlichste und prägnanteste vorziehen. Bei den NeuTestamentischen [Schriftstellern] oft gar nicht auszumachen 10 apo toy kalesantow ymaw en xariti Xristoy Galater 1, 6.
Man versteht bald metatiûesûe apo toy kalesantow aber man versteht es nicht vollkommen wenn man nicht die ganze ursprüngliche Bedeutung inne hat.
15
Beispiel von plözlich getheilter Anschauung des Wortes oder übergehn aus einer Bedeutung in eine andre Galater 1, 10 anûrvpoyw peiûv h ton ûeon
Aus sich besprechen mit Fleisch und Blut hat man eine asketische Redensart gemacht, mit der Sinnlichkeit zu Rathe gehn
Verb ,suchen‘ spricht, daß im Ms. kein u-Bogen(so wenig wie ein i-Punkt) erkennbar ist und überdies eine von der eigentlichen deutlich unterschiedene uneigentliche Bedeutung nicht bekannt ist. Die Lesung Sachen ist immerhin sinnvoll, denn ,Sache‘ bedeutet eigentlich ,Zank‘ oder ,Streit‘ (oft vor Gericht). – Morus gibt als plausibles Beispiel den Beschreibstoff ,Papyrus‘, ,Papier‘ an, der sich auf die eigentliche Papyrus-Pflanze zurückführen läßt. „Sed horum tropicorum verborum diversa et multiplex ratio est […]. Nam primum in quibusdam illa prima et, subtiliter accepto verbo, propria significatio obsolevit, et a multo tempore desiit usurpari. In quibus planum est, alteram, quae olim tropica videri potuit, propriam factam esse. […] Papyrus proprie indicavit plantam et fruticem Aegypti; tunc dicta est de materia, cui litteras inscribimus. Abundat et nostra lingua talibus verbis, v.c. Befugniß, behelligen, in quibus nemo quaerit propriam significationem, i. e. eam, quam ab initio habuerunt aut per etymologiam habere debuerunt, sed amplectiter eam, quae nunc facta est propria.“ (Morus Bd. 1, S. 264) – Bei ,die Leiter‘ ist die ,tropische‘ Bedeutung nicht offenkundig, denn die Leitern des Leiterwagens sind den eigentlichen Leitern zu nah; ähnlich ist es bei ,der Leiter‘, und auch die einschlägigen Bibelstellen helfen nicht weiter. 14–16 Schleiermacher deutet wohl so, daß das Verb („überzeugen, überreden“) in Bezug auf die Menschen und auf Gott in anderer Weise verstanden werden muß. 17–18 Vgl. Galaterbrief 1, 16
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Tropische Bedeutungen sind nur die, die aus einem wirklichen bestimten Bilde hervorgegangen sind, subjektive die objectiv geworden sind.
Jedes Kind kommt nur durch Hermeneutik zur Wortbedeutung.
Der Grundsaz der Einheit des Sinnes ist Gesez der grammatischen Interpretation, und ist zugleich Grundsaz der Bestimmtheit des Sinnes; folgt 5 aber nur aus der ursprünglichen Einheit der Bedeutung. Das scheinbare der entgegengesezten Behauptung von Vielheit des Sinnes rührt nur her von Verwechslung des Geschäftes der technischen Interpretation von dem der grammatischen.
Man kann sagen Paulus ist der einzige der Gebrauch von dem Schaz der 10 griechischen Conjunctionen gemacht hat, ohnstreitig weil er dialektisch ist.
Die Gen. conseq. sind ein in den Genitiv sezen eines ganzen Sazes durch den ein anderer bedingt ist.
Das en dia dyoin geht vom substantiiren der Ideen aus.
15
Von uneigentlicher Bedeutung kann man nur da reden, wo das Angedeutete schon einen eigentlichen Ausdruk hat.
Bei Gelegenheit der Erörterung über die technische Bedeutung davon ob die Sprache vollkomner werde wenn sie logischer wird. Geschichte der 20 griechischen
6–9 Das … grammatischen.] auf den rechten Rand überlaufend nachgetragen tiiren] Kimmerle liest substantiviren
15 substan-
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Die Frage von der Unendlichkeit des Sinnes gehört, wie sie aufgestellt wird in Beziehung auf Gott als Verfasser, in die technische Interpretation, hat aber mystisch einen vortrefflichen Sinn, wobei sie sich aber natürlich in die Untersuchung der Sprache überhaupt verliert.
5 Die eigentliche und uneigentliche Bedeutung. In tela solis und comae ar-
borum bedeutet doch nicht telum Strahl oder coma Blatt sondern das eigentliche nur nicht objectiv, sondern über die Construction, es ist eben um den todten objectiven Schein zu heben und die lebendige Anschauung zu erhalten. Daher kann man es auch häufig umkehren zum Exempel 10 Liebe und Blume. In andern Fällen giebt es Objecte die die Anschauung kat ejoxhn repräsentiren. Dies ist das Reproductionsvermögen der Sprache.
Bei einem und demselben Beispiel (petere) führt Morus P 42 die Syntaxis als Bestimmungsmittel an dagegen p. 46 ad causas ambiguitatis
15
pistiw aÆgaûh Titus II, 10 ist ungriechisch weil fides vox media ist das griechische pistiw aber keinesweges.
13 (petere)] ohne Klammern über der Zeile 2 Vgl. Ernesti p. 29 (I, 1, 1, § 23) zur Theopneustie: „Quoniam autem libri sacri scripti sunt a viris ûeopneyÂstoiw, facile intelligitur, veram dictorum repugnantiam in iis esse non posse. Neque enim Deus aut non videt, quid fit consequens aut consentaneum cuique, aut ita obliviscitur sui, vt non satis memor sit eorum, quae ante dixerit. Itaque si talis repugnantiae species offeratur, conciliationis aptae ratio indaganda est: de cuius modo locus proprius erit praecipiendi.“ 5–6 Siehe Morus Bd. 1, 42: „In poe¨ta t e l a s o l i s significant radios solis, c o m a e a r b o r u m sunt folia, etsi t e l a et c o m a e alias etiam notiones habent.“ 13–14 „petere aliquem et petere ab aliquo, definiuntur ipsa syntaxeos ratione“ (Morus 1, S. 42); „Vltimam ambiguitatis caussam dico esse syntaxeos diversitatem. Aliud est: petere aliquem, aliud: petere ab aliquo“ (Ebd. S. 46) 15–16 Vgl. Morus Bd. 1, S. 42 f.: „III. Judicanda etiam est e consilio seu scopo scriptoris. Etsi interdum in loco aliquo habere vocabulum potest significationem, quae ab interpretibus ei tribuitur: tamen per se non habet, sed per consilium et scopum dicentis, unde non raro res conficitur ac lis omnis dirimitur. Hinc saepe iudicandum est de notione piÂstevw, de notione eÍrgvn et aliorum. V.c. ubi servi a Paulo monentur praestare dominis suis paÄsan piÂstin aÆgaûhÁn (Tit. II, 10.), non modo contextus, verum etiam scopus et consilium scriptoris docet, intelligendam nunc esse, quae vulgo dicitur bona fides. Nam quum Paulus id agat, ut servos commonefaciat de officiis erga dominos, prohibeatque malam fidem, furta et fraudes: sponte patet, eum nunc id velle: Die Knechte sollen ihren Herren treu und redlich dienen.“
10
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Im griechischen giebt es Worte die auf theoretisches und praktisches zugleich gehn wie dokei, eÆoike und also nur den Grad bezeichnen, so auch pistiw im Deutschen ist dieser Gegensaz dominirend. Für die Construction geht Morus P. 45
Die Geschichte ist nur ein Auslegungsmittel für das was als schon ge- 5 schehen besprochen wird; nicht also für das vom Fasten (Morus P 43 Lucas V, 35) was weit besser ohne Historie zu verstehn ist.
Die Meinung daß ein Saz aus Subjekt Prädikat und Kopula besteht hängt zusammen mit der Ansicht von der objectiven logischen Bedeutung der Worte; nach dieser ist das Prädikat nur ein abstractes. Das Summum 10 dieser Ansicht ist die Verwandlung des Verbi in Kopula und Participium. Die Frage nach der Copula läßt sich aber immer erneuern wenn man nicht eine absolute Synthesis meint. Die Copula kommt in jeder Sprache desto häufiger vor, je mehr schon in ihr ertödtet ist, zumal Zeitwörter.
Eigentlich muß bei Bestimung des Besonderen aus dem Allgemeinen zu- 15 erst vom Formellen Element die Rede sein weil dadurch bestimt wird wie jedes zusammengehört.
3–4 Für … 45] am linken Rand 3–4 „Altera ambiguitatis caussa reperitur in neglecta constructione verborum omissisque adiunctionibus necessariis (determinationes philosophi vocant): quo pacto non satis cavetur, ne lector erret incertus, sed perspicuam ansam habeat, per quam tenere veram significationem verborum possit. Neglectae constructionis legitimae exempla praebebunt oracula multa paganorum, in quibus inest studio quaesita ambiguitas. Quale est illud: Aio te Romanos vincere posse.“(Morus Bd. 1, 45) 6 „Facit denique ad iudicandam singulis in locis significationem verborum historia et natura ipsius rei. Primum de historia, ubi facile haec lex ab omnibus agnoscetur. Quod factum est, id significare illa verba nunc debent, etiamsi per se vario modo poterant intelligi. Contra facta enim et historiam interpretari non licet. Jesus dicit Luc. V, 35. se nolle discipulos suos cogere ad multa ieiunia; venturum enim esse tempus, quo iis ieiunandum sit. Id potest sane proprie accipi: verum si historia consulatur, ea manifeste declarat, vitam apostolorum sic non fuisse transactam, ut illi saepe et sedulo ieiunarent; docet potius, eos transegisse vitam tristem, duram ac molestam, Historia igitur duce intelligimus, id Christum hoc loco dicere velle: se nolle in praesenti suos adstringere ieiuniis crebris; nam tempus esse venturum, quo satis crebro vitam tristem et molestam sint transacturi, interea igitur se iis parcere et libertatem indulgere.“ (Morus Bd. 1, S. 43)
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Es giebt zwei Arten von Bestimmung, die Exclusion aus dem ganzen Zusammenhang und die thetische, aus dem unmittelbaren
Das formelle Element, besonders Partikeln wird selbst wieder durch das materielle bestimmt. Anknüpfende zum Exempel können sowol Theile 5 des vorigen Subjects hinzufügen als auch ein neues einführen.
Der Griechen eigne Partikeln um die Organisation der Rede zu bezeichnen, weit besser als unsre Interpunction.
Die ursprünglichen Partikeln können einen objectiven Sinn haben oder einen subjectiven. Dies ist ein Grenzpunkt der technischen Interpretation.
10
Zu wenig und zu viel kann man verstehn dem Gehalt und dem Grade nach.
Partikeln können [sich] nach eingeschobenen Säzen auf das lezte fortbeziehn oder zum ursprünglichen zurükkehren.
15
Die Harris Wolfische Theorie des griechischen Verbi ist schwerlich die richtige, weil sie es gar zu begriffsmäßig und abstrakt und zu wenig als ein Lebendiges behandelt. Sie rührt auch ursprünglich her von den dia1 ganzen] über der Zeile 10 Gehalt] Kimmerle liest ,Inhalt‘ 16 behandelt] wohl korr. aus behandelte
14 Harris] Harrus
14 James Harris: Hermes oder philosophische Untersuchung über die allgemeine Grammatik von Iakob Harris. Übersetzt von Christian Gottfried Ewerbeck, nebst Anmerkungen und Abhandlungen von F. A. Wolf und dem Uebersetzer. Erster Theil. Halle, bey Johann Jacob Gebauer, 1788 (Reprint 1987). – (Die erste englische Ausgabe war 1751 in London erschienen, die vierte 1786: Hermes or a philosophical inquiry concerning universal grammar. „Neuntes Kapitel. Von den Arten der Zeitwörter, und ihren noch übrigen Eigenschaften“ (S. 143–151): „Alle Verba, im engeren Sinne des Worts, bezeichnen Kraftäußerungen“. In der Folge werden unterschieden Verba activa, verba passiva und – bei den Griechen – verba media (bei denen activa und passiva zusammenfallen), sodann verba transitiva, verba neutra. Die verba media („er liebt sich“) werden auf das Griechische beschränkt. – Der Anteil Wolfs ist im deutschen Text nicht ausgewiesen, vermutlich handelt es sich besonders um die Vermehrung der umfänglichen philologischen Anmerkungen, die ausschließlich Beispiele aus den Klassikern bringen. – Die falsche Schreibung des Autornamens im Manuskript ist auffällig.
11
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
lektischen Stoikern. Auch löset sie die Aufgabe des griechischen Verbi nicht ganz und findet nicht vollkommene Bestätigung in der Flexion Die Theorie des absoluten und conditionellen die man bei den neueren Sprachen angewendet hat ist schwerlich die richtige für diese Sprachen, die mehr auf eine Potenziirung des Verbi vermittelst der Hülfsverben hin- 5 auslaufen müßte.
Viele Anomalien im Griechischen Gebrauch der Modorum rühren her von der epischen Bildung der Sprache. Die Bedingung wird gleich als wirklich gesezt, und so schreitet alles im Indicativ fort ganz objectiv
Wenn Subjekt und Prädikat einander gegenseitig auf eine bestimte Art 10 beschränken, das ist eine Phrasis.
Die Unermeßlichkeit der Bedeutsamkeit des heiligen recht verstanden ist gar kein Gegensaz gegen die hermeneutische Beschränkung.
Es lassen sich Beispiele geben in denen es sehr täuschend so erscheint als hätten sich die Bedeutungen eines Wortes allmählich vermehrt und wären 15 Erweiterungen. Aber es ist doch nur Täuschung.
Die unmittelbare Struktur als Begrenzungsmittel petere aliquem und ab aliquo
Für die technischen Beschränkungen muß man sich Hauptstellen aufsuchen. Es giebt aber dergleichen oft in einem Schriftsteller nur zufällig. 20
In wie fern mehrere Schriftsteller als einer können angesehen werden. Hermeneutischer Begriff der Schule. In der Philosophie dienen selbst die Veränderungen welche sich innerhalb einer Schule entspinnen als Parabeln zur Erklärung.
17–18 Vgl. Morus 1, S. 42 und 46.
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Allgemeiner Nuzen der Parallelstellen 1) Nebenbestimmung 2) Einzelnes zum Allgemeinen hinzugefügt 3) tropisches erklärt oder vertauscht
Man muß besonders wo man einen Tropus parallel aufgelöst hat nicht bei einer allgemeinen Aehnlichkeit stehn bleiben sondern nun auf die Natur 5 des Ausdruks zurükgehn.
Was in Einleitungen vorgetragen wird enthält größtentheils die Prämissen der technischen Interpretation.
Man muß den Menschen schon kennen um die Rede zu verstehn, und doch soll man ihn erst aus der Rede kennen lernen. [ 10
]
Die allgemeinen Combinationsgeseze, modificirt durch den besondern Charakter und dann den der Rede vorhergehenden Stoff. ist diese Modification erweiternd oder einschränkend
Die subjective Combination ist entweder frei und willkührlich im vertraulichen im gelegenheitlichen oder modificirt durch eine Form, gebun15 den, im künstlerischen. Der Gegensaz ist freilich nicht strenge zu nehmen darin liegt eben das Verderben.
Die Ankündigung des Gegenstands und der Form im allgemeinen erregt eine Erwartung, die aber freilich nicht geschlossen ist, wie ein Schematismus. Diese gründet sich bloß auf das subjective
11–12 ist … einschränkend] am linken Rand combinirt
14 modificirt] über (nicht gestrichenem)
1 Von den Parallelen handelt Morus, Bd. 1, S. 84–110, der dabei auf Ernesti verweist. Vgl. Ernesti S. 31–46 (I, 1, 2): De Verborum generibus et vario usu. 3–5 Vgl. Morus, Bd 1, S. 104: „ P r o p r i a e t t r o p i c a in parallelis membris permutantur […] Veluti in notissimis illis: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sey dir gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht auf dich, und gebe dir Friede, in illis igitur priora sunt propria, posteriora tropica.“ Auf der folgenden Seite (105) finden sich weitere biblische Beispiele.
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Es giebt Etwas, was man erwartet sobald der Schriftsteller genannt wird ohne daß man den Gegenstand kennt; diese ist das subjectivste.
Schriftsteller in denen man Alles findet was man erwartet und nichts mehr sind die absolut logischen und persönlichen, d. h. sehr schlechte. Der productive Geist bringt immer etwas, was man nicht erwarten konn- 5 te.
Die Lyriker die am subjectivsten sein sollten sind am schwersten bei den Alten technisch zu interpretiren. Sie reden aus epischen und gnomischen Massen.
Dem Gegensaz zwischen den freien und gebundenen Combinationen ent- 10 spricht der technische und der gemeine Wortgebrauch.
Die Frage ob das Combiniren eine Passivität ist oder eine Activität entspricht der: ob die Sprache Begriffe bezeichnet oder Anschauungen.
Die Behauptung der Willkührlichkeit des Styls entspricht der gewöhnli15 chen Ansicht des Sprachgebrauchs.
Eine feststehende Eigenthümlichkeit welche die Verschiedenheiten der Gattungen nicht beobachtet ist keine innere sondern eine angewohnte, keine Individualität sondern eine blinde Persönlichkeit, kein Styl sondern Manier.
Die Einheit ist die Art der Combination, die also in verschiedenen Gat- 20 tungen sich verschieden aeußern muß. Das Erste ist die Aeußerung in der Gliederung des Ganzen, das lezte ist die Sprachbildung zum Behuf jener 2 diese] Kj dieses
10 Dem] Der
4 Kimmerle in seinem ,Nachbericht‘ (S. 9) möchte statt ,und persönlichen‘ lieber ,unpersönlichen‘ lesen.
Zur Hermeneutik. 1805 und 1809/10
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Combination. A n m e r k u n g Statt Combination ist überall besser Darstellung zu sagen. Man nimt gewöhnlich auf das erste keine Rüksicht sondern fängt vom lezten an.
Aus dieser Beschränkung entstehn die trügerischen unbegründeten Ob5 servationen über den individuellen Sprachgebrauch.
Durch Herausreißen einer Stelle aus ihrem Zusammenhange in der Nachahmung wird sie eben Blume, Manier. Alles Blümeln ist Produkt einer nachahmenden Unfähigkeit das Individuelle aufzufassen
10
Die Gliederung des Ganzen wenn man auch die Individualität nicht darin erkennt ist doch Basis der technischen Interpretation für das Einzelne, weil nun schon allgemeine CombinationsGeseze eintreten
Ueber die Beschränkung der Alten auf Eine Gattung. Großentheils in der Meisterschaft und im Mechanischen gegründet Platon über Tragödie Komödie
Das in irgend einem Stil nothwendige Rüksichtnehmen des Redenden auf die Gedankenverbindung und das Verstehen der Hörenden muß man im Neuen Testament eben so gelten lassen wie anderwärts. Es kann nichts so gemeint sein wie es die Hörer unmöglich haben verstehen können Exempel confer Stange Erklärung von Matthäus 8, 20 Siehe Jenaische 20 Allgemeine LiteraturZeitung 1805 N° 183. 15
18 unmöglich] über 〈nothwendig〉
19 confer] oder siehe
13–14 Vgl. Symposion 223 d: „die Hauptsache aber wäre gewesen, daß Sokrates sie [Agathon und Aristophanes] nöthigen wollte einzugestehen, es gehöre für einen und denselben Komödien und Tragödien machen zu können, und der künstlerische Tragödiendichter sei auch der Komödiendichter. Dies wäre ihnen abgenöthiget worden, sie wären aber nicht recht gefolgt und schläfrig geworden.“ (Schleiermacher, Platons Werke 2, 2, Berlin 1807, S. 452) 19–20 In der Jenaischen Allgemeinen LiteraturZeitung (JALZ) vom 2.8.1805, Spalte 227 wird Th. Fr. Stanges Werk: ,Theologische Symmikta‘ (Halle: Hendel 1802–1805) rezensiert; mit dem unterschriebenen Kürzel ,T. D.‘ signierte gewöhnlich der Doktor und Prediger Heinrich Adolf Grimm aus Duisburg (vgl. Karl Bulling: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung im ersten Jahrzehnt. Claves Jenenses 11, Weimar 1962, S. 88). Stanges Aufsatz „Über Christi Armuth“ in Band 3 wird folgendermaßen referiert (Sp. 227): „Matth. 8, 20 erklärt er die Worte oyÆk eÆxei poy thn kefalhn klinh als eine Weissagung Jesu
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Bei historischen Schriften zu bestimmen was reine Erzählung und was eingemischtes Urtheil sei gehört allerdings für die technische Interpretation in so fern sich der Schriftsteller selbst des Unterschiedes bewußt gewesen sein soll. Die Eigenthümlichkeit in der Sprache muß sich auch zeigen in einer Ten- 5 denz aus dem Charakter der Rede herauszuweichen dadurch die Gattung bestimmt wird. Denn wer sich ganz einer bestimmten Form hingeben kann muß nicht eigenthümlich sein
Wo man von einzelnen Worten und Redensarten sagen kann: das ist nicht Platonisch, Xenophonisch p das hat gewöhnlich mehr seinen Grund im 10 Sprachgebiet als in der Eigenthümlichkeit
Hugo Grotius nennt Parallelstellen coniuncta origine et loco –
Am Anfang der grammatischen Interpretation noch einmal über die Wechselwirkung zwischen Grammatik und Hermeneutik. Dann erst darüber daß jeder Einzelne auch sprachbildend ist. Daß jedes Verstehn ein- 15 zelner Rede fortgeseztes Sprachverstehn ist; also das Princip dasselbe in beiden.
von seinem künftigen Kreuzestod, und glaubt sie am besten aus Joh. 10, 30 erläutern zu können. Der Sinn soll seyn: Die Füchse haben Gruben und die Vögel Äste und Zweige, wo sie sich verbergen und sichern können; hingegen der Messias ist vor nichts geschützt, er wird nicht einmal auf seinem Lager ruhig sterben können, er wird eines grausamen Todes sterben müssen. Schwerlich wird ein unbefangener Ausleger dem Vf. hier beystimmen können. Die Erklärung ist gar zu künstlich ausgedacht. Auf diese Weise hat gewiß der Schriftgelehrte die Antwort nicht verstanden, und nicht verstehen können, und wozu sollte sie dann gegeben seyn? Sie stimmt auch gar nicht zu dem Vorhergehenden.“ – Stange, Professor der Theologie und Ephorus des reformierten Gymnasiums zu Halle, bot übrigens im gleichen Sommersemester 1805 unter der Rubrik „Lectiones Gymnasii Reformatorum“ an: „Hermeneuticen et isagogen in N. T. ad Ernestii institutionem interpretis N. T. docebit h. xi–xii.“ (siehe auch Allgemeine Literatur-Zeitung (Halle) vom Jahre 1805, Intelligenzblatt Nr. 56, 6. April 1805, Sp. 449). Ob dieses Kolleg zustande kam, ist ungewiß. 1–4 Vgl. Ernesti p. 59 (I, 2, 1, § 17): „Ac de aetate quidem res expedita est: genus autem iudicatur argumento (nam alius character est historicorum, alius poetarum, oratorum etc.) et charactere maxime orationis, quem vocare solemus: qui est vel certae aetati aut genti communis, aut a certi scriptoris imitatione ortus: quod in latinis et graecis frequens est.“ (Hinweis Kimmerle) 9–11 Vgl. Morus, Bd. 1, S. 142f: „Venimus ad characterem scriptoris imitatoris. Etiam hic res ad exempla redit. […] Pariter historici versantur in Thucydidis aut Xenophontis imitatione. Qui ornate scribere voluerunt, omnes sequuiti sunt imitatione Platonem.“ 12 Diese Stelle ist bislang nicht nachgewiesen; zu denken ist besonders an Grotius’ ,Opera omnia theologica‘, Bd. 1–3, Amsterdam 1679 (SB 808) bzw. Bd. 1–4, Basel 1732. 13 Möglicherweise beginnen hier die Notate aus dem Jahr 1809.
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Jedes Verstehn einer gegebnen Rede gründet sich auf etwas früheres von beider Art – vorläufige Kentniß des Menschen vorläufige Kentniß des Gegenstandes ÐVerstehnÑ einer Schrift entweder im Studium des Schriftstellers oder im Studium des Gegenstandes.
5 Jedes Verstehn des Einzelnen ist bedingt durch ein Verstehn des Ganzen
Wer einen Gegenstand anfangen will zu verstehn muß ihn auch mit dem anfangen was für den Anfang geschrieben ist, wo die besondere Sphäre erst aus einer allgemeinen herausgehoben wird. [
]
Dies ist im allgemeinen Kanon des rein historischen Studiums. – Auch Regel für alle die welche verstanden sein wollen. – Wie sie sich auch auf dem gemeinen Gebiet bewährt. Wo dieses fehlt erste Hülfsmittel. Idee einer Einleitung ins Neue Testament Das Ganze wird ursprünglich verstanden als Gattung – auch neue Gat15 tungen entwikkeln sich nur aus einer größern Sphäre, zulezt aus dem Leben. 10
Die Einheit des Wortes ist ein Schema, eine verrükbare Anschauung Man muß ja nicht den ersten Gebrauch mit der Bedeutung verwechseln. So wie das Wort durch die Beugungen von den Umgebungen afficirt 20 wird, so auch seine Bedeutung Besonders scheut man sich für Aufsuchung der Bedeutung wenn man sie an ein sinnliches Ding heften will
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Für die Richtung auf das unbestimmte: Je weniger man noch der Bedeutung sicher ist um desto strenger muß man sich im gegebenen Gebrauch halten
In der Muttersprache folgen wir alle dem natürlichen Fortschritt im Ganzen und in einzelnen Sprachgebieten. In fremden sollten wir es eben so 3–4 ÐVerstehnÑ … Gegenstandes.] am rechten Rand; ÐVerstehnÑ oder ÐVonÑ rigiert 27 alle] Kimmerle liest aber
24 Für] kor-
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
machen und das WörterBuch nur die Stelle des ÐaufzeigendenÑ Menschen ersezen. – Späterer Gebrauch des Wörterbuchs.
Die Richtung auf das mannigfaltige ist eben so wesentlich als die auf das BestimmÐteÑ
Ehe die gramatische Operation anfängt geht schon das Ausscheiden von 5 Seiten des Ganzen an. Fehler des Anfängers aus der Vernachläßigung Bedenklichkeiten gegen seltene Bedeutungen
Wovon geht nun die Bestimmung aus? erstlich materielles Element. Unmittelbarer Zusammenhang. Wesentliche Bestandtheile des Sazes. Zusammenziehung der erweiterten Säze. Subject und Prädicat durcheinander 10 und jedes durch seine Beisäze. Alles bedingt durch das formelle welches bestimen muß wie jedes zusamengehört
Vom Ganzen aus wird das Subject beschränkt in wiefern es Theil des Gegenstandes ist; das Prädicat in wiefern das Subject Nebenvorstellung 15 ist [ 15
]
Die beiden Haupttheile der technischen Hermeneutik stehn auch in Oscillation. Je mehr es darauf ankomt den Gedanken ganz zu erforschen um desto mehr steht die unmittelbare Hülfe für die Grammatische Interpretation zurük und umgekehrt. – Wenn anders diese Eintheilung überhaupt stattfindet. Denn alle Hülfe komt ja aus der Kenntniß des Gedankengan- 20 ges.1
1
Voller Sinn der Aufgaben Verhältniß zur grammatischen Deshalb im Cyclus mit sich selbst. Die Einheit reducirt sich auf den Styl, im höhern Sinn. Maximum der Kenntniß ist Nachahmung Allgemeinheit oder Eigenthümlichkeit beides muß sich zugleich ergeben 25
1 aufzeigenden] oder aufziehenden 6 Seiten … Ganzen] über 〈der technischen Seite〉 16 Die] davor Fragezeichen 23–24 Maximum] oder Maxime 24 Kenntniß] oder Kenntniße; möglich ist auch die Lesung: Kontext oder Kontexte 24 oder] Kimmerle liest und 22–25 Voller ... ergeben] am rechten Rand
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Das Erforschen der Eigenthümlichkeit des Styls p verhält sich zu dieser Aufgabe grade so wie die Einheit der Worte zur grammatischen Aufgabe.2
Der Schriftsteller findet sich einerseits in der Gewalt des Gegenstandes, objective Seite, anderntheils frei, subjective Seite.3
5 Das freie ist überall entweder das populäre, wenn es sich frei macht zu
Gunsten fremder Subjectivität oder das lyrische wenn zu Gunsten seiner eigenen.
Wie die erste Seite umgekehrte Gramatik, so diese umgekehrte Composition.
10
Wie allmählig durch die einzelnen Gebrauchsweisen die Einheit so auch erst durch die einzelne Erforschung des Gedankenganges die Eigenthümlichkeit
Daß eben so wie die Elemente der Composition die Gedanken in das Gebiet des Ausdruks übergehn, auch die Elemente des Ausdruks die Wor15
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Plutarch adversus Colotem 1115 Scythinus Stobaeus Eclogae Physicae p. 264. politischer Zwek S. 347 Melancholie S. 325 Widerspruch 407 und 441 Vorbereitung vorausgesezt Zwiefaches Element technisch Uebersicht ist Sonderung beider
15 Stephanus-Ausgabe, Frankfurt am Main 1599 (SB 1520), Nr. 74, S. 1115 15 In seiner Ausgabe „Ioannis Stobaei Eclogarum physicarum et ethicarum libri duo“ (Göttingen 1792–1801) gibt Arnold Hermann Ludwig Heeren als Nr. 43 (Bd. 1, 1, 1792, S. 264–267) den griechischen Text des Scythinus nebst einer lateinischen Ubersetzung: „Tempus est ultimum ac primum omnium, cunctaque in se complectitur, ac semper unum est, nec revera existit praeteritum – – –. Crastinum enim nobis re ipsa hesternum est, hesternum vero crastinum.“ Die nicht übersetzte (durch drei Striche bezeichnete) Stelle ist laut Kommentar in der griechischen Überlieferung zu entstellt, um verständlich zu sein. – Nach Heerens biographischer Notiz (Bd. 2, 2, S. 216 f.) ist Scythinus „obscuri nominis atque incertae aetatis scriptor“; aus Diogenes Laertios sei bekannt, daß sein Werk peri fysevw (de natura) eine Versbearbeitung der Herakliteischen Prosaschrift sei. – Ungewiß sei seine Identität mit einem lyrischen Dichter gleichen Namens, von dem Plutarch (Opera 2, 402) drei Verse zitiert habe. – Die folgenden 3 (bzw. 4) Stellenangaben beziehen sich wohl nicht auf Stobaeus (dort findet sich nichts Entsprechendes), sondern möglicherweise auf Plutarch. 15–16 Plutarch ... 441] am rechten Rand 17–18 Vorbereitung ... beider] am rechten Rand; Kimmerle liest Verbreitung statt Vorbereitung
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
te in das Gebiet der Composition übergehn kann man wol nur in so fern sagen als gewissermaßen jedes Werk darauf ausgeht eine eigne Terminologie zu bilden.
Freitag 2t. Merz. Von der Uebersicht geht Kentniß der eigenthümlichen Sprachbehandlung aus. 1.) der materiell logischen in dem Maaß als der 5 Vortrag theoretisch ist (eigenthümlicher Sprachgebrauch kann auch im andern Fall da sein coincidirt aber nicht mit der allgemeinen Uebersicht) 2.) der formell rhythmischen in dem Maaß als die Spanung zwischen dem objectiven und subjectiven Element groß ist. Geringe Spannung macht Gleichförmigkeit, lyrisch episch Aristotelisch große Spanung 10 macht Differenz philosophisch historisch. Uebersicht wird oft falsch gemacht, Irrthum muß darin möglich sein.
Nach erkanntem Thema muß man sich hüten vor partheiischer Stimmung für oder wider. [ 16
]
Freitag 9t. Merz. Object ein Unendliches, herausgreifen subjectives Prin- 15 cip.
Sonnabend 10t. Merz. Objectives allein gibt nur die materielle Seite der Schriftstellerischen Gesinnung. In Absicht auf Ideengang praeparatorisch die objective Combination, die man als das ruhende denken muß. Subjectives Element für sich. Angeknüpft an Erklärung Erstes ist ausbrei- 20 tende Vorstellung der Totalität alles möglichen (das wirklich vorkommende wird daraus verstanden indem man seine Objectivität versteht) a. Negative Seite Cautel, Beweis ihrer Nothwendigkeit. b. positiv. Studium des Zeitalters. – (Richtung nach Construction der individuellen Einheit und des Ideenganges sind durch einander bedingt, müssen also zu- 25 gleich gefördert werden. Zur individuellen Einheit was nicht vorkommt, was eines besonderen Reizes bedarf was nur unter leicht zu erklärenden Umständen vorkommt, was auch unter schwierigen.) – Beide Richtungen 4–5 (eigenthümlicher … Uebersicht)] ohne Klammern mit Einfügungszeichen am rechten Rand 4–12 Freitag … sein.] im Ms. in Klammern 15 Freitag] davor eine öffnende Klammer 21–22 (das … versteht)] ohne Klammern mit Einfügungszeichen am linken Rand
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sind bedingt durch den Charakter der Gattungen strenge und leichte, wenig und viel subjectives zulassende, was aber freilich nur zu bestimmen ist durch die Entfernung oder objective Allgemeingültige und populäre, subjectives mit besonderm Zwek nicht zulassende. (Beide Eintheilungen 5 sind nicht zu verwechseln, jedes Glied der lezten kann gleich gut jedes der ersten sein) Allgemein zwar auch bedingtes Publicum, aber nicht durch etwas vorübergehendes.
Auch in Werken müssen populaire Elemente vorkomen wenn der Schriftsteller neue Ansichten eröfnet für welche er erst empfänglich machen 10 muß.
Aus neu erfundenen Worten ist oft gar nichts zu schließen.
Was objectives Element in einer Darstellung ist, wird subjectives in andern. Also die materielle Behandlung des subjectiven schließt sich der des objectiven an – dies gilt vorzüglich von Wörtern in etwas abweichender 15 Bedeutung (denn was hierin Mißverstand ist gehört wol zur Manier.)
Rhythmische Gesezwidrigkeiten die schwer zu behaupten sind, sind fast immer eigenthümlich.
Sonnabend 17ten Merz Aus den subjectiven Elementen muß der Sprachgebrauch im Einzelnen gefunden werden. – Vieles was man dafür hält 20 gehört einer Zeit oder Klasse an die für uns nur noch Einen Repräsentanten hat – Man kommt zu einem Gefühl etwas für eigenthümlich zu halten, es will aber schwer Rede stehn. Dem objectiven Sprachgebrauch muß etwas allgemeines im subjectiven entsprechen. – Was sich rhythmisch ausmitteln läßt sind wol nur Verhältnisse der Rhythmen gegen 25 einander. – Schwierigkeiten und Gesezwidrigkeiten Wortspiele Anacoluthien pp.
4 zulassende] zulassende, zulassende 5 gleich gut] über 〈zugleich〉 Sonnabend … vorübergehendes.] in Klammern 9 machen] über 〈werden〉 12 Was] korr. aus Die 16 Gesezwidrigkeiten] korr. aus Ð Ñ 18 Sonnabend 17ten] am linken Rand 18 Merz] über der Zeile 19 im] über 〈des〉
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Freitag den 23ten. 1. Combination des objectiven und subjectiven daß man sich dadurch in den Schriftsteller hineinbildet (2. Vom den Schriftsteller besser verstehn als er selbst a. erhöhendes b. berichtigendes) 3. Vom Unterschied zwischen schwer und leicht Objective und subjective Ursachen 4. Verhältniß der speciellen Hermeneutiken zur allgemeinen 5 a. Verschiedene Beziehungen in beiden Theilen b. Unterschied in der Sicherheit c. Schwierigkeit der scientifischen Form.
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Exempel zur Hermeneutik Plato Republik II p. 366. a. aÆll’ v Ë fiÂle, fhÂsei logizoÂmenow, aië teletaiÁ ayË meÂga dyÂnantai kaiÁ oië lyÂsioi ûeoiÂ, vëw aië meÂgistai poÂleiw leÂgoysi, kaiÁ 10 oië ûev Ä n paiÄdew poihtaiÁ kaiÁ profh Ä tai tv Ä n ûev Ä n genoÂmenoi oiÊ tayÄt’ oyÏtvw eÍxein mhnyÂoysin.
Goethe Claudina: Daß wenig vieles sei schafft nur die Lust herbei
Plato Republik III 388. b mhdeÁ alla klaionta, osa kaiÁ oiÎa ekeinow epoihse Wolfs Mißverständnis, ob das Subiect geändert sei oder nicht. 15 cf. aber 388 e. oÏtan tiÁw eÆfih iÆsxrv Äì geÂlvti, iÆsxyraÁn kaiÁ metabolhÁn zhteiÄ toÁ toioyÄton. Beispiel eines unbestimmten Gedankens; auch eines solchen der ohne Parallelstelle nicht zu verstehen ist.
9–12 In Schleiermachers (späterer) Übersetzung (Platons Werke, Dritten Theiles Erster Band, Berlin 1828, lautet die Stelle: „Allein, o Bester, wird einer sagen der seine Rechnung macht, die Sühnungen vermögen auch wieder viel und die lösenden Götter, wie ja die größten Städte behaupten, und die Göttersöhne, welche Dichter und Propheten der Götter gewesen, welche uns kund machen daß es sich so verhalte.“ (S. 135 f.) 13 In Goethes Singspiel ,Claudine von Villa Bella‘, und zwar nicht in der Fassung von 1776, sondern in der nachitalienischen Version von 1788 sagen (oder singen) die mit Würfeln spielenden Vagabunden: „Mit vielem läßt sich schmausen; / Mit wenig läßt sich hausen; / Daß wenig vieles sey, / Schafft nur die Lust herbey.“ (Schriften, Bd. 5, Leipzig: Göschen 1788, S. 226; siehe auch Weimarer Ausgabe 1, 11, S. 216 f.) 14–15 „noch auch sonst weinend und jammernd wie jener ihn viel und mannigfaltig dargestellt hat“ (Platons Werke, 3, 1, Berlin 1828, S. 169); „Denn wenn sich jemand in heftigem Lachen gehn läßt, so sucht dergleichen auch immer wieder eine heftige Umwendung.“ (ebd., S. 170)
Hermeneutik. Erster Entwurf (1805)
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 82
Hermeneutik
SN 82, 1
Erster Entwurf Einleitung 1. Ausgehn von dem beschränktesten Zwekke der Auslegung der heili5 gen Bücher
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a Sind die heiligen Bücher als solche in einem andern Falle als die Profanen Daß sie heilig sind weiß man nur dadurch, daß man sie verstanden hat. Die ersten Leser glaubten dies entweder und waren in demselben Fall oder nahmen es ganz menschlich und konnten sie also nur auf die gewöhnliche Weise verstehen. Alles weshalb man gewöhnlich glaubt der heilige Geist sei den Auslegungsregeln nicht unterworfen ist nur schiefe Ansicht Katholische Lehre vom inspirirten Interpreten. Warum aber nehmen sie nur den Klerus dazu? Freilich kann man den heiligen Geist nicht verstehn ohne den heiligen Geist. Aber dies ist etwas ganz andres und beruht eben auf dem rechten Auslegen. b Haben nicht die heiligen Bücher vermöge ihrer besondern Beschaffenheit auch eine besondre Hermeneutik? Allerdings. Aber das Besondre ist nur zu verstehn durch das Allgemeine. Sonst ist es wieder nur Aggregat. Es muß nur Verworrenheit herrschen wenn der vortragende selbst nicht sich zu der Hermeneutik erhoben hat. Ernesti Es kann auch nicht zureichen die Regeln selbst kommen in Collision. Zur Nothwendigkeit einer allgemeinen Hermeneutik. 4 Ausgehn von] über 〈Erklärung nach〉
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2. Erklärung der Hermeneutik a Die gewöhnliche verbindet was nicht zusammen gehört und umfaßt also zu viel Das Darlegen des Verstehens für Andere ist wiederum ein Darstellen, also Reden, also nicht Hermeneutik sondern Object der Hermeneutik. Dieser Mißverstand ist vom Namen ausgegangen. 5 b. Dagegen sagt sie zu wenig sofern sie auf fremde Sprache hinweist oder auf Stellen die in der eignen einer Uebersezung bedürfen. Ueber den großen Umfang des Mißverstehens auf jedem Gebiete. Schwierige Stellen in bekannter Sprache entstehen nur weil man auch 10 das Leichte nicht recht verstanden hat. Einzelne Regeln über das Verstehn des Einzelnen weisen immer selbst auf diesen Mangel zurük. Zwiefache Maxime des Verstehens. Alles verstanden wo kein Nonsens auffällt. Nichts verstanden was nicht construirt ist. Beispiel 3. Analyse der Aufgabe. a Sie geht von zwei ganz verschiedenen Punkten aus Verstehen in der Sprache und Verstehen im Sprechenden Wegen dieses zwiefachen Verstandes ist das Auslegen Kunst. Keines kann für sich vollendet werden Gramatisches Verstehen und technisches. Nur relativ kann jenes niedere Hermeneutik heißen, dieses höhere. Vergessen des Schriftstellers beim gramatischen und der Sprache beim technischen. bis auf die Extreme. Lob der Religion als eines bildenden Sprachgeistes. b Erörterung über das Verhältniß. Es giebt ein Minimum von grammatischer und ein Minimum von technischer, jedes neben dem maximum des entgegengesezten. Mannigfaltige Oscillation zwischen beiden. Je objectiver der Vortrag desto gramatischer je subjectiver desto technischer. Ueber die Combination beider. Da jede Operation die andere voraussezt müßten sie unmittelbar verbunden werden dies gilt auch wo die eine nur im minimo stattfindet weil ich das nicht vorher weiß. Der Hauptpunkt der grammatischen Interpretation liegt in den Elementen durch welche der Centralgegenstand bezeichnet wird; der HauptPunkt der technischen im großen Zusammenhange und seiner Vergleichung mit den allgemeinen Combinationsgesezen. Daher muß 33 Der] davor 〈〈4〉〉
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man beim ersten Anfang gleich den Zusammenhang auffassen. Einzig mögliche Lösung durch cursorische Lection. Verhältniß zur Philologie Umgekehrte Grammatik. Umgekehrte Composition Nicht besser als beide c Indirecte Analyse. Das Mißverstehen. Qualitativ Falschen Theil der ganzen Sphäre – kann aus beiden Operationen entstehen. Quantitativ Zu wenig verstehen. Zu viel verstehen ebenfalls zwiefach Jeder Irrthum ist productiv Man muß so gut verstehn und besser verstehn als der Schriftsteller
4 Eintheilung Die Combination beider Operationen ist in der Anwendung. In den Vorschriften muß man es trennen weil jedes seinen besondern Mittelpunkt hat. 15 Also Hauptabtheilung bleibt zuerst gramatische Interpretation dann technisch. Grammatische zuerst weil doch am Ende alles vorauszusezende und alles zu findende Sprache ist. Jede einzelne ist so weit zu treiben als möglich aber auch die natürlichen Verbindungspunkte aufzuzeigen welche auf die andere füh20 ren Das Augenmerk einer jeden ist nun das Vermeiden des qualitativen und quantitativen Mißverstandes Grammatische Interpretation. Sie ist also die Kunst aus der Sprache und mit Hülfe der Sprache den 25 bestimmten Sinn einer gewissen Rede zu finden Der erste Kanon ist Man construire aus dem gesammten Vorrath der Sprache, des gemeinschaftlichen des Schriftstellers und Lesers und suche nur in diesem die Möglichkeit der Interpretation In diesem Kanon erscheint also die Sprache als ein Theilbares. Das ist 30 sie auch, Niemand hat sie ganz. Sie ist ein getheiltes der Zeit nach, auch ein Getheiltes dem Raume nach, in der Zeit durch Zuwachs i. e. Aneignung des fremden, Zusammensezung und Theilung des eignen und durch Obliteration, dem Raume nach durch Provincialismen und Dialekte. Vorläufige Anwendung auf die Sprache des Neuen Testaments. Jargon 35 von der Grenze zweier Sprachen und zweier Zeitalter. Der Kanon bezieht sich auf das qualitative und auch auf das quantitative Mißverstehn denn die Reichhaltigkeit der Bedeutsamkeit hängt ab vom Alter und von der Nähe.
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Mehr ins einzelne kann man nur gehn wenn man ihn auf die einzelnen Theile anwendet. Diese sind die Worte und die Construction
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Der Kanon ist deshalb der oberste weil jenes Bestimmen und Fixiren des einzelnen besondern aus dem Inbegriff des besonderen eine fortgehende Operation sein soll welche zulezt den Sinn des einzelnen durch alle seine Umgebungen genau bestimmt. Dies ist aber nur möglich wenn der mannigfaltige Gebrauch desselben Elements sich gegen einander eben so verhält wie die Veränderungen der Sprache im Ganzen d. h. wenn alle besondern Bedeutungen doch so unter ein gemeinschaftliches Schema befaßt werden können wie alle Abwechselungen und Veränderungen der Sprache überhaupt doch einen Charakter darstellen. Dies gilt von dem formalen Element sowol als dem materialen Hiegegen streitet nun zuerst die gewöhnliche Ansicht von der Mehrheit der Bedeutungen, nach welcher oft die ursprüngliche zulezt nur als eine entfernte Veranlassung übrig bleibt Die Ungültigkeit dieser Ansicht offenbart sich zunächst wenn man die beiden entgegenstehenden Lehren combinirt von der vielfachen Bedeutung Eines Wortes und von der fast gleichen Bedeutung ganz unterschiedener Worte. Man sieht hiernach würde die ganze Bildung der Sprache etwas höchst verkehrtes sein. Es erhellt aber hieraus daß diese Ansicht zusammenstellt was die Sprache entfernt und umgekehrt, also daß sie von einem ganz andern Standpunkt ausgeht. Nemlich diese Beurtheilung geht aus von Standpunkt der Logik des Begriffs, die Sprache selbst aber hält sich in ihrer Bildung an die Anschauung; jede Wortsphäre wird durch eine Anschauung bestimmt. Namen der organischen Körper, Zeitworte und Beiwörter die sämtlich von einem Schema ausgehn. Hieraus erklärt sich zunächst sowol die vielfache Bedeutung der Worte weil nemlich das mannigfaltige woraus dieselbe Anschauung wiederkehrt unter sehr verschiedenen Begriffen kann subsumirt werden als auch die Synonymie aus dem umgekehrten Verhältniß Ferner erklärt sich hieraus die Individualität der Sprachen weil die Gesichtspunkte nach denen sich die Anschauungen bestimmen sehr verschieden sein können, und was nach diesen construirt ist nicht mehr ausgeglichen werden kann. Dagegen Begriffe sich rein in einander müssen auflösen lassen. Daher in der Regel, wenn man von Ursprachen spricht 19 hiernach] korr. aus hierÐausÑ
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kein Wort in der einen irgend einem in der andern vollkommen entspricht.
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Dieser Gesichtspunkt hilft nun über die sogenannten vielfachen Bedeutungen ins klare komen. – Aufzählung derselben nach den gewöhnlichen Gegensäzen. Sie lassen sich für den Gesichtspunkt der Anschauung auf folgendes reduciren 1. daß man einen besondern Fall weil er der gewöhnliche ist als den ganzen Umkreis der ursprünglichen Bedeutung ansieht. Dies ist häufig bei der Metapher der Fall und überall bei der Metonymie zum Exempel a. Bewegung und Gestalt ist für die Sprache identisch wo sie die Gestalt genetisch verfolgen kann planta serpens. b. das theoretische und praktische ist für die Sprache oft identisch zum Exempel dokein, eoike weil das Erkennen eben auch als ein Handeln angeschaut wird c. eben so auch das ideale und reale. Viele sinnliche Ausdrükke zum Exempel oben und unten, hell und dunkel tragen in der Art wie bestimmt das eine Glied des Gegensazes positiv das andre negativ genommen wird die deutlichen Spuren daß sie nicht blos sinnlich sind, sondern ihnen eine allgemeine Anschauung zum Grunde liegt. Daher der allgemeine Gebrauch von Licht und Finsterniß für das intelligible sowol theoretisch als praktisch in fast allen Sprachen. 2. Daß der Inhalt der Anschauung beschränkt wird für eine bestimmte durch den Zusammenhang schon gegebene Sphäre. Hieher gehört a. was von der Synecdoche unter die Formel continuo pro contento fällt. Die Sphäre in welche die Verbindung des continuo mit dem contento fällt ist schon gegeben und das Ganze ist nur anzusehn als eine Ellipse dessen im Einzelnen was schon im Ganzen als bekannt voraus gesezt wird. b. gehört hieher vorzüglich alles technische gleichviel ob wissenschaftlich oder religiös oder politisch oder demiurgisch. In lezterem ist der Ursprung mancher Worte zum Exempel Namen von Instrumenten, so auch von Handlungen schwer zu erklären, größtentheils auch weil sie von Ungebildeten herrühren. Dasselbe gilt von den Terminologien aller Spiele. – Beim Wissenschaftlichen ist zu bemerken daß es großentheils nach Begriffen behandelt wird und also der Kürze wegen die einzelnen Begriffe durch einzelne Worte sollen dargestellt werden. Was also im Allgemeinen von jeder Sphäre gilt, welche zum ausdrüklichen Gegenstand gemacht wird, daß man größere Genauigkeit im Unterscheiden erwartet und auch das Aehnliche als Gegensaz behandelt wissen will, das nimmt hier die Wendung daß man den Zusammenhang in einer gemeinschaftlichen An-
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schauung für aufgehoben erklärt und Bestimmungen der Worte durch Definitionen erwartet. – Auch entsteht eine Pretension auf eigentliche Ausdrükke für die Wissenschaft, die aber nie erfüllt werden kann. Sie sind immer das was man gemeinhin bildlich nennt, und wenn es nicht so scheint kommt es nur daher weil sie gar nicht mehr genetisch aufgefaßt werden. Dies ist ein Absterben also ein Verderb der Sprache, wogegen die Hülfe nur in den sich immer wieder erneuernden Ansichten der Wissenschaft vom Mittelpunkt der Anschauung selbst zu finden ist, welche wieder neue und lebendigere Terminologien schaffen. – Wenn die Philosophie das Centrum aller Wissenschaft und diese doch nur auf Anschauungen höherer Art beruht, so sieht man daß die Herrschaft des Begriffs nur ein Durchgangspunkt für die Sprache ist. Die Ansicht daß das logisch werden die wahre Vollkommenheit der Sprache ist hängt also zusammen mit der, daß der Begriff das höchste in der Wissenschaft ist. 3. Daß man was zur technischen Interpretation gehört mit dem verwechselt was zur grammatischen gehört. Hieher die meisten Metaphern die als Epexegese stehn wie coma arborum tela solis, wo die übertragenen Worte ganz ihre eigentlichste Bedeutung behalten und ihre Wirkung nur durch eine Ideencombination thun auf welche der Schriftsteller rechnet. Eben dahin die historischen Anspielungen, die Wortspiele, der Gebrauch der Sprichwörter, die Allegorie, wo die grammatische Auslegung ganz eigentlich ist und die Frage was der Schriftsteller eigentlich gemeint hat zur technischen gehört. Das Allgemeinste ist hier daß der Gedanke selbst so wie er sich durch die gramatische Interpretation ergiebt nicht zum Dargestellten gehört sondern nur zur Darstellung, selbst wieder Zeichen ist. Wo nun und wie dieses Statt finde ist nur durch die technische Interpretation zu finden
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Ob nun der Grundsaz der Einheit der Bedeutung auch für das formelle Element, die Structur gilt. Es ist unwahrscheinlich an und für sich selbst eben weil Gegensaz zwischen beiden stattfindet, und die Worte doch im- 30 mer Objectives bezeichnen, fixirtes, die Structur hingegen die bloße Beziehung des ewig fließenden. Es ist unwahrscheinlich auch in der Erfahrung, weil jede Structur jeder Sprache fast in alle homogenen aller andern eingreift 35 Diese Voraussezung ändert sich wenn man betrachtet
2 auf] korr. aus für
29 Element] korr.
31 fixirtes,] ohne Komma über der Zeile
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1. daß der Gegensaz zwischen dem materiellen und formellen Element vermittelt wird durch die formellen Worte oder Partikeln, welche ebenfalls nichts als Beziehungen bezeichnen und doch den Charakter selbstständiger Worte haben, also wol unter ihrem Gesez bestehen müssen. 2. daß in einigen Sprachen das was in andern durch Partikeln bezeichnet wird nur durch die Structur bezeichnet werden kann und umgekehrt, in manchen auch dasselbe durch beides, was auf Identität hinweiset. Wie es denn überhaupt ein wesentliches Stük der individuellen Charakteristik verschiedner Sprachen [ist] daß die eine Armuth an Partikeln hat und Reichthum an Flexionsmethoden zum Exempel hebräisch, die andere Reichthum an Partikeln und Armuth an Flexionen zum Exempel deutsch, eine dritte Reichtum an beiden zum Exempel griechisch. 3. Es sind nicht nur die Partikeln welche ein solches verbindendes Glied sind, sondern ein großer Theil der Pronominen und Adjective können gleichfalls und werden durch Structur ersezt. (Anmerkung Da wo beides statt findet ist freilich auch hier keine wahre Synonymie anzunehmen, aber in Beziehung auf den vorausgesezten Gegensaz doch Gleichartigkeit. Im hebräischen thut man Unrecht die Suffixe als pronomina die praefixe als Partikeln anzusehn, es sind nur Flexionsmethoden. Woraus andere Sprachen Adjectiva und Pronomina machen, das wird hier nur für den bestimmten Fall dem Wort angebildet und es ist nichts bestehend als die Bildungsweise, was eben Charakter der Structur ist. Uebergang sind dazu in andern Sprachen die unseparabeln Partikeln.) Der Gegensaz erscheint also auch in der Wirklichkeit schon aufgehoben. 4. Betrachtet man die Sache an sich und erinnert sich an das über die Wortbedeutung aufgestellte, daß nemlich die materiellen Elemente auch ihre sogenannten Gegenstände nicht als ein fixirtes objectives fassen, sondern als ein lebendes, werdendes und daß demnach auch viele materielle Elemente nur Beziehungen ausdrükken so sieht man der Gegensaz existirt zwar in der Sprache und ihrem Gebiet zwischen ewigem und fließendem aber er ist (man darf kaum die Worte Gott und ewig ausnehmen) nicht an die einzelnen Elemente der wirklichen Sprache vertheilt sondern in diesen immer beides schon mit relativer Differenz vereinigt. Hieraus folgt nun daß der Grundsaz der Einheit der Bedeutung eben so von dem formellen Element gilt als von dem materiellen. Jede Partikel und jede Flexion hat eine einzige wahre Bedeutung zu der sich jeder Gebrauch verhält wie das besondere zum Allgemeinen, und also jeder Gebrauch zu dem andern wie ein Besonderes zum Andern.
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In jedem Gebrauch also ist nur ein besonderes, worin die wesentliche Einheit mit einem zufälligen vermischt ist. Die wesentliche Einheit also kommt an sich als solche niemals vor. Man kann also ein Besonderes für einen bestimmten Fall nicht aus einem andern Besonderen, nicht einen Gebrauch aus dem andern bestimmen, wegen der darin enthaltenen Ver- 5 mischung. Sondern einen unbekannten Gebrauch kann man nur mit Hülfe der wesentlichen Einheit bestimmen. Diese findet man aber nie an sich; es ist also auch nicht Voraussezung daß man sie habe, sondern sie gehört unter das zu suchende. Daher theilt sich die Aufgabe der grammatischen Interpretation in 10 zwei Theile 1.) Aus dem gegebenen Gebrauch die Bedeutung zu bestimmen 2.) Aus der Bedeutung den als unbekannt aufgegebenen Gebrauch zu finden.
Wie bemächtigt man sich der Bedeutung? d. h. wie kommt man ursprünglich zu einem gegebenen Gebrauch, und dann weiter. Wie lernt man ursprünglich verstehen? Es ist die schwerste Operation und die Grundlage aller andern und wir vollbringen sie in der Kindheit. Unbestimmt muß dem Kinde allemal erscheinen worauf im Gegenstand der Name geht. Auch hiezu kommt es erst durch viele Vergleichung, und dieses ist doch nur ein Besonderes. Nur durch Zusammenstellung und Vergleichung des Besonderen gelangt man zur innern Einheit. Sie ist dasjenige was in allem Besonderen der Anschauung dasselbe ist. Vollständigkeit des Besonderen ist aber nie zu erlangen, also ist die Aufgabe eine unendliche. Wie kann die Vollständigkeit ersezt werden? und wenn man sie auch hätte welches wäre die Bürgschaft für die Richtigkeit der Auffassung der innern Einheit? die Bürgschaft könnte nicht wiederum eine methodische Regel sein, sondern nur das Gefühl; und eben dies Gefühl muß auch die Vollständigkeit ersezen. Die Sicherheit dieses Gefühls kann nun nur darauf beruhen daß jeder aufgegebene Gebrauch sich leicht in die angenommene Einheit auflöset, daß diese selbst dem Charakter der Sprache angemessen ist. Dieses bestätigt sich selbst aber nur durch die Analogie mit mehreren Einheiten, also gewinnt jede nur Sicherheit mit den übrigen. Daß man aber den Charakter der Sprache gefaßt hat ergiebt sich nur bei bloß nationellen Menschen aus der Auflösung des ganzen Denkens in die Sprache, bei andern aus der Vergleichung mehrerer Sprachen 1 In jedem] korr. aus Ein jeder
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Wer seine philologische Unschuld verloren hat, kann auch für das gewöhnlichste nur in der philologischen Wissenschaft Heil finden. Die Lösung der Aufgabe ist also auch so nur durch Approximation möglich. 5 Da es nun jedem Einzelnen ursprünglich genommen schwer ist zur Einheit der Worte hindurchzudringen so muß es auch jedem Volke schwer sein. Hieraus folgen drei Perioden einer jeden Sprache die ihr ganzes Ziel erreicht. 1.) die wo sie sich der Einheit ihrer Worte noch nicht klar bewußt ist 2.) die wo das Bewußtsein die Sprache vollständig durch10 drungen hat 3.) die wo dieser Reichthum wieder Verwirrung und falsche Anwendung hervorbringt. So ist demnach auch die Einheit der Worte etwas geschichtliches und hat ihre Blüthe. Und es gilt auch für dies vorläufige Geschäft der oben aufgestellte Kanon Man muß bei der Ableitung eines bestimmten besonderen nur von derjenigen Klarheit und Be15 stimtheit der Einheit der Worte ausgehn, welche dem Schriftsteller und ursprünglichen Leser gemeinschaftlich sein konnte.
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Um den Reichthum eigner Analogie des Besonderen entweder überhaupt oder für den Moment zu ersezen dienen die Wörterbücher. Sie können also nur aus einem von zwei Gesichtspunkten gemacht sein 1. Entweder die Einheit wird als ein Unbekanntes gesezt; dann sind sie nur Sammlung einer Menge von besondern Gebrauchsarten mit Nachweisung damit jeder über die Richtigkeit urtheilen könne. Muster in dieser Art sind wol Buddaei Commentarii 2. Oder sie sezen die Einheit als gefunden dann führen sie den einzelnen Gebrauch als Beweis an. So wollen die meisten Wörterbücher sein. Aber anstatt der wahren Einheit, die selbst nie erscheint und für die es also keine Beispiele giebt erheben sie einen besondern Gebrauch entweder den gewöhnlichsten oder den sinnlichsten zur sogenannten eigentlichsten Bedeutung und leiten von diesem ab. Dies ist nun Verwirrung und die erste Regel ist jedes Wörterbuch dieser Beschaffenheit nur als eines von der ersten Art zu gebrauchen und alles was darin Urtheil ist vorläufig zu vernichten. Ein Wörterbuch aus dem zweiten Gesichtspunkt müßte sich des Geistes seiner Sprache vollkomen bemächtigt haben, und indem es die Einheit der Worte angäbe müßte es zu einer systematischen Darstellung der Anschauungsweise der Sprache alle Data enthalten. Je mehr es aber hiezu gelangt um desto weniger würde es wollen eine Sprache durch eine bestimmte andere, nemlich durch Gleichsezung der Wortsphären erklären sondern entweder in seiner eignen Sprache bleiben oder das Comparative
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ins Große treiben mit BeWußtsein der Differenz und immer nur fürs Einzelne. Das durchgängige Vergleichen mit Einer Sprache geht nur bei abgeleiteten mit einer nah verwandten oder mit der Ursprache. Demohnerachtet haben die meisten Wörterbücher diese einseitige Comparation weil man dabei nie das SprachStudium als Zwekk betrachtet sondern nur als Mittel. Zweite Regel also daß man in unter ursprünglichen Sprachen jede Gleichsezung der Wortsphären von vorn herein vernichte. Hat man nun durch eigne gesammelte Analogien oder durch Hülfe der Wörterbücher eine Menge von ungezweifelten einzelnen Gebrauchsweisen so ist die Regel zum Auffinden der Einheit die Zusammenstellung des entgegengeseztesten Einzelnen. Je vollständiger sich dieses in einer vorausgesezten Bedeutung auflöst, um desto sicherer ist sie die rechte (Auch hiebei ist der Schematismus der Wörterbücher nicht unmittelbar zu gebrauchen sondern erst nach Berichtigung der angezeigten allgemeinen Fehler. Aus diesem Schematismus müßte denn auch am besten, ebenfalls durch Vergleichung des entgegengeseztesten formellen[,] die Einheit der eigenthümlichen Anschauungsweise des sprechenden Volkes hervorgehen.) Cautelen bei diesem Verfahren ergeben sich von selbst aus dem gesagten. Vorzüglich darf man die Unterscheidung der aufgestellten SprachPerioden nicht vernachläßigen, sie aber auch nicht bloß in der Zeit suchen, denn während der Blüthe und dem höchsten Leben der Sprache coexistiren sie alle
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Dem Obigen zufolge gilt nun dasselbe auch von Aufsuchung der Einheit des formellen Elements. 25 Man muß ebenfalls jede Sprache für sich behandeln und nicht die Elemente gleichsezen wollen. Die Grammatiker begehen dieselben Fehler wie die Lexicographen, sowol mit den Partikeln als mit der Flexion. Ausführlich in verschiedenen Beispielen und Anwendung der oben angegebenen Regeln auf das formelle Element in seinem ganzen Umfange. 30 Die Comparation verschiedner Sprachen wenn man nur gleich von der absoluten Verschiedenheit ausgeht ist freilich ein vortrefliches Mittel die eigenthümliche Anschauungsweise einer jeden in dieser Hinsicht, nemlich die Anschauung der Verhältnisse zu finden.
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Die Hauptaufgabe der gramatischen Interpretation ist nun nach voraus- 35 gesezter Kenntniß der Bedeutung für jeden gegebenen Fall den wahren
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Gebrauch den der Schriftsteller im Sinn hatte zu finden mit Vermeidung sowol des falschen als auch des Zuviel und zu wenig. In Erinnerung gebracht den Hauptgrundsaz vom Verhältniß des Einzelnen Mannigfaltigen zur Einheit daß es nemlich nicht Erweiterung ist oder Ableitung sondern nur Beschränkung des ganzen Gebietes. Hieraus die allgemeine Regel für die grammatische Interpretation daß nemlich die Beschränkung bestimmt wird durch die Umgebungen. Alles was Aufgabe der Hermeneutik sein kann ist Glied eines Sazes. Ein jeder Saz besteht im Allgemeinen aus dem Materiellen und Formellen. Also jedes ist die Bedingung zum Verständniß des Andern. Also auch diese Aufgabe eine unbestimmte durch Approximation zu lösende. 1. Von Auffindung des bestimmten Gebrauchs des formellen Elementes. a Bestimmbarkeit des formellen Elementes durch das materielle. Sie hilft besonders die Größe des Verbundenen bestimmen ob nur ein untergeordneter Saz sich an einen andern reiht oder eine neue Masse angeht, also das Zuviel oder zuwenig verhindern, nemlich durch Identität oder Verschiedenheit des Subjectes oder Prädicates1 b Bestimmbarkeit des formellen Elementes durch seine beiden entgegengesezten Bestandtheile. Nemlich Partikeln und Flexion bilden oft gemeinschaftlich ein Ganzes welches dadurch schon ein beschränkteres ist. Auch wird durch Dazwischenkunft der Partikeln der Gegensaz der Flexionsweisen modificirt. Allgemeine Cautel für beide. Man muß nicht glauben das Aufgegebene bloß aus dem Vergangenen bestimmen zu können, sondern das künftige mit zu Hülfe nehmen. Demonstration an a und b vorzüglich an a. Schwierigkeiten dabei erstlich Nebenschwierigkeiten von der freien Struktur oft schwer zu bestimmen welches formelle zusammengehört oder welches formelle zu welchem materiellen gehört oder welches materielle sich auf welches andere materielle bezieht – noch vermehrt durch die Homonymen der Grammatik oder durch das Mißverhältniß zwischen Flexionen und Partikeln. Man muß hier die Unkentniß des Sprechenden von den Eigenthümlichkeiten der Sprache immer verhältnißmäßig als ein veränderliches Moment mit einrechnen. 1
Ursprünglich wird dem Formellen sein Gebiet bestimmt durch die ausdrüklich oder nicht ausdrüklich bezeichnete Art und Weise der Behandlung episch, historisch, philosophisch, familiär, lyrisch.
32–34 Man … einrechnen.] in der Zeile und mit Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen 35–37 Ursprünglich ... lyrisch.] am linken Rand
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Beiläufig über den Werth der gebundenen und der freien Struktur. Die erste kann unmöglich die Sprache als ein Lebendiges behandeln, wenigstens ist eine solche Sprache taubstumm was man auch von der französischen wörtlich sagen kann. Sie kann also nur Werkzeug sein und zwar nur der Persönlichkeit. Die französische Sprache ist Ideal der Verderbtheit durch Begriffswesen und durch dominirendes Heraustreten der Persönlichkeit. Der Gedanke allgemeine Sprache werden zu wollen ist die Verrüktheit, die aus diesen beiden Kanones natürlich entsteht. Hauptschwierigkeit. Je viel umfassender die Einheit um desto schwieriger ist der beschränkte einzelne Gebrauch herauszufinden. Wenn das vielumfassende bis zum vagen und unbegrenzten geht so muß man aber auch kein bestimteres Verstehen verlangen als den Sprechenden nach der Natur der Sprache selbst einwohnen konnte. Tendenz der neuen Sprachen die Einheiten zu vervielfältigen und zu verklamern. Diese geht aber auch oft auf die Behandlung der alten Sprachen über. Anwendung auf das Neue Testament 1.) Die Schriftsteller haben durchaus ein unklares BeWußtsein der Sprache. Also muß man überall auf Fehler mitrechnen 2.) Da die Einheit gemischt ist aus griechischen und hebräischen allgemeinen Bildern so ist oft zweifelhaft wovon die Beschränkung ausgehn soll; daher so oft verschiedene gleich wahrscheinliche Erklärungen. 3.) Auch die ursprüngliche Bestimmungsart geht oft verloren, weil was zB im hebräischen äußeres Charakter der Poesie ist es im griechischen nicht mehr ist. Parabeln Sentenzen. Schwierigkeit den Werth der Zeitpartikeln in den historischen Schriften zu bestimmen. Stunde 23.
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2. Von Auffindung des bestimmten Gebrauchs des materiellen Elements 25 a Bestimmbarkeit durch das formelle. Die Structur giebt Anweisung auf die bestimte Beschränkung. Construction des HauptWorts und ZeitWorts mit verschiedenen Präpositionen und Casus. A n m e r k u n g . Es liegt nicht soviel daran als man gewöhnlich glaubt, nicht ganz verschiedne Bedeutung (zum Exempel petere aliquem, und ab aliquo) aber 30 doch erhellt immer welches Element der gesammten Anschauung hervor oder zurüktritt) Daher dieses Mittel vorzüglich gegen das qualitative Mißverstehn gilt und nicht sowol im Großen als bei den unmittelbaren Umgebungen vor35 kommt.
7–8 Der … entsteht.] in der Zeile und mit Einfügungszeichen am linken Rand nachgetragen 27 Beschränkung] korr. aus Beschränktheit
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Anwendung aufs Neue Testament. Es ist hier weniger hülfreich und muß mit größerer Behutsamkeit gebraucht werden wegen des incorrecten Gebrauchs der formellen Elemente b Bestimmbarkeit durch die materiellen Umgebungen. Diese ist eine zwiefache im Großen und im Einzelnen 1.) Im Großen. Der Hauptgegenstand und die angegebene Behandlungsart bestimmen das Verhältniß in welchem ein Nebensubject gegen das Hauptsubject steht und daraus kann die Beschränkung der Sphäre desselben bestimmt sein. 2.) Im Einzelnen bleibt die Hauptregel daß Subject durch Prädicat und Prädicat durch Subject erklärt werden muß A n m e r k u n g . Wo sich beide gegenseitig auf eine bestimmte Art begrenzen da entsteht das was man eine Phrasis nennt. 2. Die Erklärung aus den erweiternden Theilen der Rede gehört auch hieher denn diese lassen sich allemal auf einen einfachen Saz aus Subject und Copula zurükführen. 3. Die Bestimmbarkeit aus dem Großen ist mehr exclusiv, die aus den unmittelbaren Umgebungen mehr thetisch. Erweiternde Hülfsmittel. 1. Kann nicht unmittelbar Subject durch Prädicat bestimt werden, dann mittelbar durch Prädicat des Gegensazes. Man muß nur sicher sein, einen wahren Gegensaz zu haben. Großer Vorzug der unmittelbaren Nähe vor der Entfernung. Die alten Sprachen haben ihn mehr in der Nähe und strenger durch die Sprache selbst bezeichnet. A n m e r k u n g . Zu finden muß einer sein überall wo es einen strengen Zusammenhang giebt denn es läßt sich nichts ohne Gegensäze behandeln. Nur ist es schwer sich seines genauen Calculs und auch sich der ununterbrochen identischen Ansicht des Schreibenden bewußt zu werden. Nothwendigkeit der vorläufigen Lectüre um die Gliederung des Ganzen zu erkennen und zu wissen ob und wo man Hülfe dieser Art zu erwarten hat. Anwendung aufs Neue Testament Viele unmittelbare Gegensäze bietet es dar wegen der eigenthümlichen Art der hebräischen Composition. Aber auf die entfernten ist wenig Verlaß wegen ungenauen Verfahrens der Schriftsteller. Auch sind die HauptGegensäze Geist und Fleisch, Geist und Buchstabe Licht und Finsterniß Himmel und Erde p so groß und viel umfassend daß sie wieder auf mancherlei Weise bestimmbar sind. 2. Kann nicht die Umgebung des Wortes an seiner unmittelbaren Stelle zur Erklärung gebraucht werden, so können es Umgebungen desselben Wortes an einer andern Stelle oder Parallelstellen. 2 des] korr. aus ÐderÑ 3 Elemente] folgt Einfügungszeichen, dem ein entsprechendes Zeichen ohne Text am rechten Rand entspricht. 13 auch] korr. aus nicht 13 einfachen] über 〈Ð hendenÑ〉
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Bedingungen ihrer Anwendbarkeit. Die Identität ist freilich nie eine lokale. Also ist jede Stelle gut wenn man nur gewiß weiß daß der Gebrauch derselbe ist. Wie kann man aber dies wissen da er an der einen Stelle = x ist? 1. Parallelstellen aus derselben zusammenhängenden Rede. Sie sind entweder nahe oder entfernt. Dies wird auch nicht lokal bestimmt, sondern nach der Gliederung der Rede. Nahe was noch in Einer ununterbrochenen Gedankenreihe mit dem vorigen liegt; entfernt wo ein bestimter großer Abschnitt zwischen das vorige tritt.2 Je strenger und zusammenhängender wissenschaftlich p der Vortrag, desto leichter ist beides von einander zu unterscheiden. In der Natur liegt daß a.) ein subjectartig gebrauchtes Wort in fortlaufender Gedankenreihe auch auf dieselbe Weise bestimmt gebraucht sei Ausnahme bei allem was Wortspielen ähnlich ist da wird aber der Gegensaz der Bestimmung ausdrüklich angezeigt b.) ein prädicatartiges, wo es mit demselben Subject verbunden ist mit gleicher Bestimung gebraucht. Hier ist aber die Identität des Subjects mehr überhaupt Identität der Sphäre in Beziehung auf den Hauptgegenstand der Rede. Entfernt sind die außer dem Zusammenhang mit der zu erklärenden Stelle. Hier also ist Acht zu haben auf die Identität der Gedankenreihe oder des Gedankens, und der Beziehung des zu erklärenden Ausdruks auf den Gedanken. Je wissenschaftlicher der Vortrag desto leichter zu entscheiden. Je freier desto mehr beruht der Entscheidungsgrund des Parallelismus auf einem Aggregat von einzelnen weniger zusammenhängenden Momenten. Erweiterung der Anwendbarkeit Wenn man einmal über den unmittelbar fortlaufenden Zusammenhang hinausgeht so braucht man unter Beobachtung derselben Regel auch weder bei derselben Schrift stehn zu bleiben, noch bei demselben Schriftsteller. Nur muß man aus der Sphäre der aufgestellten Regeln nicht hinausgehn. Daher Ein Schriftsteller als mehrere anzusehn ist wenn er in mehreren Gattungen geschrieben hat, ausgenommen in Beziehung auf seinen besondersten Sprachgebrauch Dagegen mehrere Schriftsteller als einer anzusehen sind und einander erläutern wenn sie zu derselben Sphäre, Periode, Schule gehören. Anmerkung 1. Dies führt wieder darauf zurük daß in der gramatischen Interpretation der Redende ganz als Organ der Sprache gedacht wird 2. Man kann auch Erläuterungen nehmen aus verschiednen Schulen p der selben Periode um an der Differenz noch das Gemeinschaftliche zu messen, auch aus verschiedenen Perioden Einer Schule welches aber natürlich zu dem höhern Verstehen gehört, das den Schriftsteller selbst überbietet. 2
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Anmerkung. Zum Nahen gehört auch das was nur durch einen Zwischensaz getrennt ist. Also auch hier wieder Nothwendigkeit einer Uebersicht des Ganzen 40
39–40 Anmerkung ... Ganzen] am rechten Rand
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Wie gebraucht man Parallelstellen? 1.) Je technischer der Ausdruk ist, desto mehr Hülfe findet man a) Weil hier Mehrere können zu Hülfe gerufen werden b) Weil man eher auf Stellen stößt wo ordentliche Erklärungen gegeben werden. 2.) Je mehr aus der Sphäre der untechnischen Bequemlichkeit desto schwieriger. Anwendung hievon aufs Neue Testament. Es ist grade besonders schwierig. Zwar bilden Alle Ein Ganzes, als Produkt Einer Idee, und als Schule Eines Meisters. Zugleich aber ist noch keine Technik da, sondern erst das Bestreben eine zu bilden aus einer alten der Idee nicht genügenden und aus der gemeinen Sprache. Die eigentliche Hülfe besteht nun darin daß 1) die Sphäre eines allgemeinen Ausdruks bestimmt wird durch ein hinzugefügtes Beispiel oder 2) durch eine die Grenzen der Sphäre bezeichnende Nebenbestimmung oder 3) der Saz wiederholt [wird] mit andern Worten von gleichem Gehalt oder 4) das unverständliche eines Ausdruks der aus der Ungeschiedenheit der Gegensäze hergenomen ist erklärt [wird] durch einen einseitigen. Anmerkung Nur muß man sie deshalb nicht gleich sezen sondern auch den Grund der Differenz suchen. Dies Alles bezieht sich mehr auf Vermeidung des qualitativen Mißverständnißes. Es ist nun noch zu reden Von Auffindung der richtigen Bestimmung des quantitativen der Bedeutsamkeit, daß man nirgends zu viel oder zu wenig suche. Anm. 1. Dies wird gewöhnlich vorgetragen in der Lehre von der Emphase umfaßt aber eigentlich weit mehr. 2. Auch hier hat man wol zu unterscheiden das Verstehen des Schriftstellers al pari und das wodurch man ihn übersezt. Die verschiedenen Grade der Bedeutsamkeit hangen ab von dem Zustande der Sprache. In dem einen sind noch nicht Differenzen genug gefunden; also ist auch die Duplicität des Ausdrukkes noch nicht da, worauf die höhere Bedeutsamkeit beruht. Im zweiten sind die Differenzen gefunden aber der Gebrauch der ursprünglichen Einheit noch nicht verloren gegangen. Hier kann also ein klares Bewußtsein des unterschiedenen Verfahrens und seiner Gründe bewußt sein. Im dritten sind alle Gegensäze ausgebildet, die ursprüngliche Identität aber in ihnen verloren ist. Hier werden dann Ausdrükke die noch aus jener herstammen wie für eine müßige Künstelei gehalten und so gebraucht. Ursachen falscher Auslegungen der Bedeutsamkeit im Neuen Testament 1.) Analogisch mit andern alten Dokumenten Moses und Homer soll es Quelle aller Weisheit sein. Daher die erkünstelte Auslegung und die 5 Bequemlichkeit] korr. aus G
33 ist] davor 〈ÐhabenÑ〉
35 müßige] korr.
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Neigung nichts unbedeutendes darin leiden zu wollen. 2.) Aus der Vorstellung von der buchstäblichen Inspiration a. die Meinung von der Unendlichkeit des Sinnes und b. die Maxime keine Tropen als nur im höchsten Nothfall darin gelten zu lassen. In Absicht auf die religiöse Sphäre stand das Neue Testament eigent- 5 lich in der ersten Periode. Die Gegensäze auch der gegen das Judenthum hatten sich noch nicht völlig gebildet. Man sieht auch überall das Anstreben gegen die Sprache um bei der Identität der Ausdrükke doch auf die Differenz des Bezeichneten zu führen. Freilich folgte auf diese sehr bald die dritte, nach einem Uebergang durch die zweite der zum Theil 10 noch ins Neue Testament selbst fällt, jene selbst aber ist nie ins Neue Testament zu sezen und der Ausleger muß sich desto fester auf die zweite stellen. Allgemeine Regeln für die rechte Bestimung der Bedeutsamkeit lassen sich wenig angeben. Die Umgebungen sind hier Accent und Ton des Gan- 15 zen. Mit diesen muß die Auslegung in Mißverhältniß kommen wenn man zuviel oder zu wenig darin sucht. Anhang 1. Von verkehrten AuslegungsMaximen auf die man im zusammenhängenden Verlauf gar nicht kommen könnte a Analogie nach Geschichte Erfahrungen Gesundem Verstande. Es kann einer falsch erzählt haben, über den Umfang der Erfahrung ist kein Richter eben so wenig über den gesunden Verstand b Nach der Analogie der Lehre, also mit der Aufgabe Widersprüche zu heben NB Beides muß doch mehr auseinander gehalten werden. So war es auch in den Vorlesungen denn beides fiel in zwei verschiedene Stunden. ÐDiese beidenÑ, noch dazu mit der Erweiterung die sich aus dem Parallelismus folgern läßt daß mehrere für eine stehn. Die Anwendung ist aber unrecht denn das könnte nur auf die Sprachbedeutung gehn. Innerhalb jeder bestimten Schule können Abweichungen Statt finden, weil jede sich wieder mannigfaltig modificirt. 2. Von Aufhebung der Widersprüche 1.) Dogmatisch Wenn der Widerspruch nur ein scheinbarer ist, und also eine unrichtige Interpretation zum Grunde liegt so muß sich diese auch noch anders merken lassen. Ist er ein wahrer so hilft das Künsteln und Drehen an der Interpretation nichts denn je gekünstelter desto sichrer falsch. Es ist also nicht einmal 1 wollen] korr. aus ÐköÑ 12 desto] folgt 〈später angreifen〉 27 ÐDiese beidenÑ] oder ÐDaher tratenÑ 24–27 also … beidenÑ] mit Einfügungszeichen am linken Rand 32 2. … Dogmatisch] mit Einfügungszeichen am linken Rand
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ein Fingerzeig außer kritisch, und da müssen sich doch auch noch andre Schwierigkeiten in der Auslegung finden. Widerspruch eines Schriftstellers mit sich selbst ist eben so anzusehn, wenn er nicht gleichzeitig ist. Denn jeder muß das Recht haben seine Meinung zu ändern. 2.) historisch. Trifft besonders Augenzeugen. Es ist natürlich daß einer andere Umstände erzählt als der andere. Bei Erzählung mehrerer gleichartiger Begebenheiten zum Exempel ÐKriegsÑvorfälle wizige Anekdoten p ist es natürlich eins mit dem andern zu verwechseln. Es ist auch natürlich daß Einer dieselbe Sache verschieden erzählt nach der Stimmung nach den Zuhörern nach den Endzwekken. Anwendung aufs Neue Testament In dogmatischer Hinsicht als Schule zu betrachten. Die meisten Widersprüche sind nur scheinbar aus Mangel an gehöriger Bestimmung. pistiw haben Paulus und Jakobus in verschiedener Bedeutung gebraucht. In historischer [Hinsicht] hat man der Inspiration zuviel eingeräumt. Es giebt doch keine vollkomne Erzählung denn die würde ins Unendliche gehn. Auch wenn die Schriftsteller nur Organe des heiligen Geistes wären müßten Differenzen stattfinden. Construction der Harmonien gehört nicht für die Hermeneutik sondern für die historische Kritik. Sie können aber Hülfsmittel werden für die technische Interpretation. 3. Vom Gebrauch fremder Auslegungen. a. Commentatoren und Scholiasten haben immer nur eine Meinung, welche hermeneutisch muß bewiesen werden. Sie dienen daher eigentlich nur dazu die Aufmerksamkeit auf Gegenstände zu lenken die man sonst übersehen hätte. b. Glossatoren können nur in dem Maaß als wirkliche Zeugnisse dienen als sie entweder noch in der Identität des Sprachgebrauchs gelebt haben was nicht der Fall ist weder bei den profanen noch NeuTestamentlichen, oder als man glauben kann sie haben gültige Parallelstellen gehabt. 4. Von der Uebung in der grammatischen Interpretation. Entschuldigung wegen unterlassener Beispiele da in concreto die entgegengesezten Operationen immer müssen verbunden werden waren doch die data zur Beurtheilung nie beisammen. Daraus folgt daß die Uebungen nur können elementarisch sein. Lexicographisch und grammatisch. Jede Lection und selbst das tägliche Leben giebt Veranlassung dazu.
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Zweiter Theil Von der technischen Interpretation
I.
Einleitung. Parallele mit der grammatischen Interpretation Grammatisch. Die Rede verstehen als Zusammengeseztes aus der Sprache. Technisch Verstehen als Darstellung der Gedanken, zusammengeseztes durch den Menschen. Also auch aus dem Menschen. Grammatisch. Der Mensch mit seiner Thätigkeit verschwindet und erscheint nur als Organ der Sprache. Technisch Die Sprache mit ihrer bestimmenden Kraft verschwindet und erscheint nur als Organ des Menschen, im Dienst seiner Individualität, so wie dort die Persönlichkeit im Dienst der Sprache. Grammatisch. Nicht möglich ohne technisch. Technisch nicht möglich ohne grammatisch. Denn woher soll ich den Menschen kennen als nur durch seine Rede, zumal in Beziehung auf ÐdasÑ Reden? Grammatisch. Dennoch Ideal der Aufgabe in ihrer Einseitigkeit das Verstehen bei gänzlicher Abstraktion vom technischen. So auch technisch das Ideal: Verstehen bei gänzlicher Abstraktion vom grammatischen. (Erläuterung Nemlich so daß man 1. bei Kenntniß des Schriftstellers schon eine bestimmte Art und Weise erwartet auch abgesehen von der Sprache; er könnte in einer andern geschrieben haben 2. daß man Verbindung und Inhalt, eigentlich Object der grammatischen Interpretation versteht lediglich aus dem Combinationsgesez des Menschen. Grammatisch. Das Verstehen nur erreicht aus dem Zusammennehmen aller Umgebungen. Technisch. Das Nachconstruiren der Combination vollendet sich nur mit dem Fortschreiten ins Detail zugleich, erst an Ort und Stelle. Grammatisch theilt sich in zwei entgegengesezte Aufgaben; ebenso technisch. Die Einheit des Menschen soll gefunden werden und die Aeußerungen dieser Einheit sollen bestimmt erkannt werden. Grammatisch. Die eine ist als Einheit eine allgemeine Anschauung, die andere als Vielheit eine partielle Beschränkung. Eben so technisch die Einheit allgemeine Anschauung der schriftkünstlerischen Totalität eines Menschen, die Vielheit beschränkte Anwendungen derselben auf bestimmte Fälle. Grammatisch. Jede sezt die andere voraus. Technisch ebenfalls. Denn woher soll man die allgemeine Anschauung bekommen als aus Zusammenstellung der entgegengesezten partiellen. Diese muß man also ver-
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standen haben, und woher ihren Gehalt verstehen als aus der allgemeinen Einheit. Grammatisch. Das Object ist die Sprache nicht als allgemeiner Begriff auch nicht als Aggregat von empirischen Einzelheiten, sondern als individuelle Natur. Technisch. Object das Combinations und Aeußerungsvermögen nicht als allgemeiner Begriff, logische Geseze; auch nicht als empirisches Aggregat, sondern als individuelle Natur (Erläuterung. 1. Bei der Sprache als allgemeinem Begriff bleibt nichts übrig als die nothwendigen Formen für Subject Prädicat und Syntax. Diese sind keine positiven Erklärungsmittel, sondern nur negative nemlich was ihnen widerspricht kann gar nicht verstanden werden. Eben so das Denkvermögen als allgemeiner Begriff die logischen Geseze; was ihnen widerspricht kann gar nicht als Denkvermögen angeschaut aber aus ihnen selbst das Denkvermögen keinesweges verstanden werden. 2. Die Sprachobservationen als empirisches Aggregat sind keine Erklärungsmittel sondern Produkte zu denen durch neue Erklärungen immer mehreres hinzugefügt werden kann. Ebenso technisch. Die Observationen über das CombinationsVermögen oder die psychologischen Geseze. Sie sind nur höchstens Winke um auf das ihnen widersprechende als auf ein Besonderes und eignes aufmerksam zu machen. Grammatisch. Die individuelle Natur der Sprache ist Darstellung einer bestimmten Modification des Anschauungsvermögens. Technisch. Der Charakter als individuelle Natur ist ebenfalls eine bestimmte Modification des Denkvermögens. Vergleichung mit Naturwesen. Jede Pflanze harmonisch durchgeführte besondere Modification des vegetabilischen Prozesses. Grammatisch. Die Individualität der Sprache einer Nation hängt zusammen mit der Individualität aller ihrer andern gemeinschaftlichen Werke. Mit diesem Zusammenhang aber und seinem gemeinschaftlichen Centrum haben wir es nicht zu thun. So auch technisch. Die Individualität der Combination und Darstellung hängt zusammen mit jeder andern Aeußerung der Individualität und je genauer man Einen kennt desto mehr findet man die Analogie. Aber wir haben es mit diesem Zusammenhang und seinem Mittelpunkt nicht zu thun, sondern nur mit der Eigenthümlichkeit der Darstellung = Styl. (Erläuterung daß man in allen Künsten p Styl eben so braucht.) Grammatisch. Die Elemente einer Sprache als Darstellungen eines besonders modificirten Anschauungsvermögens können nicht a priori con36 braucht.)] braucht.
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struirt werden, sondern nur durch Vergleichung einer großen Menge von einzelnen Fällen erkannt. Eben so technisch kann man die verschiedenen Individuen nicht a priori construiren Grammatisch kann man keine Individuen in einem Begriff zusammenfassen sondern sie wollen angeschaut sein. Technisch eben so. Von keinem Styl läßt sich ein Begriff geben. Grammatisch würde das völlige Verstehen der Sprache nur das Verstehen des Mittelpunktes. Technisch eben so wird der Styl nur verstanden durch die völligste Kenntniß des Charakters. Dies ist aber in beiden Fällen unzugänglich und nur durch Annäherung zu erreichen. Grammatisch hob das gegenseitige Voraussezen der entgegengesezten Operationen die Möglichkeit nicht auf sondern bestimmte sie nur genauer, so auch technisch. Es giebt leichtere einzelne Aeußerungen (leichter i. e. zu denen es nicht erst einer technischen Interpretation bedarf, sondern die bloß grammatisch verständlich sind) durch diese bekommt man die erste allgemeine Anschauung der Eigenthümlichkeit. Diese macht schwerere Aeußerungen verständlich, welche wieder die Anschauung vervollkommnen und so ins Unendliche. Hiegegen könnte man sagen was grammatisch verstanden werden könne das könne auch die Eigenthümlichkeit nicht zur Anschauung bringen. Allein es kann verstanden werden grammatisch aber nicht die Nothwendigkeit eingesehn: sondern es könnte grammatisch mit eben solchem Recht vielfältig anders sein. Daher haben doch solche Stellen ihren Bestimmungsgrund in der Eigenthümlichkeit, die also auch durch Vergleichung näher in gewissem Grade kann erkannt werden. Sagt man die grammatische Interpretation bedürfe selbst der technischen so gilt dies doch nur von dem ersten vorläufigen Auffassen des Zusammenhanges im Großen, welches jedem Verstehen eines Einzelnen Besonderen als solchem vorangeht. Dies macht die Operation möglich und erhebt sie zu einer künstlerischen Die Eigenthümlichkeit zugegeben könnte man einwenden sie säße nicht in dem Einzelnen. 1. Nicht jeder Schriftsteller hat sie – freilich nicht dann machen aber ganze Klassen eine Individualität aus, und die einzelnen verhalten sich nur als Organe oder als einzelne Aeußerungen 2. Sie liegt mehr im Object, in der Kunstform als im Schriftsteller, historischer Styl ist anders als philosophischer. Antwort. Die Aufgabe die man sich macht besagt doch alle Kunstform durch den Styl des Schrift13 so] davor möglicherweise getilgter Buchstabenansatz, ähnlich einem e 20 zur] korr. aus 〈Ð Ñ〉 25 Sagt] davor 〈Ueber der Ð Ñ〉 27 Auffassen] Auffassens; davor 〈Ð Ñ〉 28 Großen] korr. aus großen 28 Besonderen als] korr. aus besonders als; davor 〈Ðbis jeztÑ〉; folgt 〈ÐnüzlichÑ〉
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stellers zu erkennen und dies traut man sich auch bei genauer Bekanntschaft zu. Man kann sogar recht gut wissen wie zum Exempel Platon würde geschrieben haben wenn er Geschichte geschrieben hätte. Die Eigenthümlichkeit des Styls besteht also bei der Verschiedenheit der Formen. Dasselbe erhellt noch aus folgendem. Wenn Einer gewisse Besonderheiten durch verschiedene Formen gegen den Charakter derselben durchführt: so halten wir dies nicht für die wahre Eigenthümlichkeit des Styls sondern tadeln es unter dem Namen der Manier. Die Individualität des Styls also soll sich modificiren lassen durch die Formen aber doch dieselbe bleiben. Ferner, wenn Einer was einer fremden Eigenthümlichkeit angehört hat in sein eigenes der Form nach ganz analoges Produkt überträgt so erkennen wir es als fremd durch das auffallende gezierte, was nicht möglich wäre wenn die Eigenthümlichkeit der Form angehörte. Dies ist der Ursprung aller Blümeleien, flos orationis. Man könnte vielleicht beweisen die Alten hätten gemeint die persönliche Eigenthümlichkeit müsse mit der einer bestimmten Form coincidiren, weil sich ÐnieÑ Einer über Eine Form hinauswagte. Dagegen läßt sich nicht nur die neuere Zeit aufstellen, wo man das Gegentheil verlangt und bei dem nur ein untergeordnetes Talent voraussezt der sich nur durch Eine Form ausspricht sondern es läßt sich auch der Grund des Gegensazes auffinden. Nemlich bei den Alten trat überall mehr das Nationale hervor; deshalb hingen sie an den Formen worin dies für gewisse Beziehungen niedergelegt war, und an der Vollkommenheit des Mechanischen darin welche eine ausschließende Uebung fodern. Bei uns hingegen soll mehr die Individualität heraustreten und gesehen werden. Darum will man sie durch vielseitige Erscheinungen herauslokken und giebt nach von der mechanischen Vollkommenheit. Daher bleibt die individuelle Einheit die HauptSache. Das andere muß sich dabei mit finden.
Vo n A u f f i n d u n g d e r E i n h e i t d e s S t y l s . G r u n d S a z . Jeder Schriftsteller hat seinen eignen Styl. Ausnahmen von denen welche überhaupt keine Individualität haben. Diese bilden aber Massenweise eine gemeinschaftliche
12 der … nach] mit Einfügungszeichen über der Zeile
18 Eine] korr. aus Ðd Ñ
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IV.
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B e s t i m m u n g . Da nun diese Einheit nicht kann als ein Begriff aufgefaßt werden, sondern nur als eine Anschauung: so lassen sich zuerst nur im Allgemeinen die Grenzpunkte bestimmen. Diese sind: Eigenthümlichkeit der Composition, der großen Gliederung als das erste und Eigenthümlichkeit der Sprachbehandlung zum Organ der Individualität als das lezte. E r l ä u t e r u n g . 1. Daß jene das erste sein muß geht schon aus der Natur der hermeneutischen Operation hervor, die bei der Uebersicht des Ganzen anfangen muß. Man übersieht aber dies erste gewöhnlich ganz und fängt beim lezten an. Urtheile über den persönlichen Sprachgebrauch sind aber ganz unzuverlässig wenn sie nicht aus der Analogie mit der Composition hervorgegangen sind, und gehen auch gewöhnlich viel zu sehr ins Kleine. 2. Diese beiden Endpunkte umfassen zugleich das Ganze. Es giebt nichts im Styl als Composition und Sprachbehandlung. 3. Diese beiden Elemente sind auch nicht als Gegensäze schlechthin zu betrachten, denn die Gedanken, welche eigentlich Elemente der Composition sind, sind auch Theile des Darstellungsmittels, wirkliche Sprache. Umgekehrt die Sprache wird oft wesentliches Element der Composition. M e t h o d e Zwiefache, durch Vergleichung mit andern, und durch Betrachtung an und für sich. Die erste hält man für die bessere aber man braucht sie doch nicht bei der Physiognomie und dgl.3 Sie muß das Ganze wieder zerstükken um die entsprechenden Theile im Andern aufzusuchen und ist also nichtig. Man kann sie nur als Hülfsmittel für die Aufmerksamkeit gebrauchen, um das zu finden woraus man am besten die Eigenthümlichkeit erkennen kann. Auch dazu aber ist bei weitem besser als Vergleichung mit einem andern Einzelnen Vergleichung mit dem Ganzen, woraus eben die Eigenthümlichkeit vermöge ihres Princips dies und dies so und so ausgesondert hat. Also für die Sprachbildung Vergleichung mit dem ganzen Gebiet der Sprache, für die Composition mit dem Totale des Objects.4
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NB Es hätte der Anfang gemacht werden sollen mit der an und für sich be- 30 trachtenden Methode. Die Rüksicht auf das verworfene spiele mit ein.
19 Betrachtung] oder Beobachtung 20 doch] oder noch 24 als] mit Einfügungszeichen über der Zeile 30–31 NB ... Methode.] am linken Rand 32 Die ... ein.] am rechten Rand, vor Rücksicht 〈Ð Ñ〉; Kimmerle liest: verwerfen spielt statt verworfene spiele 28 Das Total, das Ganze, die Gesamtheit (Campe 6, 589b); ,das Total der menschlichen Natur‘ (Schiller)
Hermeneutik · Erster Entwurf (1805)
1.
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Auffindung der Eigenthümlichkeit in der Composition.
Der Gang im Allgemeinen ist so: Die Einheit des Ganzen wird aufgefaßt und dann gesehn wie sich die einzelnen Massen im Großen dazu verhal5 ten. Jenes zeigt die Idee des Verfassers als Basis, dieses seine eigne Art sich ihrer zu bemächtigen und sie darzustellen. Die Idee des Verfassers bürgt nur für seine Dignität nicht für seine Individualität, wol aber thut dies die Art wie er sie darstellt denn diese hängt ab von der besonderen Organisation seines Anschauungsvermögens. Hat man die erste allgemeine An10 sicht gewonnen: so geht man damit weiter ins Detail. Der Grad der Harmonie desselben mit jener bestimmt die Vollkommenheit des Verfassers in seiner Dignität. Die Art der Ausführung bestätigt oder berichtigt die erste Anschauung der Individualität und so ins Genauere weiter.
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Erste Aufgabe. Die innere Einheit oder das Thema eines We r k e s z u f i n d e n . A n m e r k u n g 1. Man nennt dies gewöhnlich den Zwekk; mit Unrecht. Der Zwekk entfernt sich um so weiter von der Idee je mehr Willkühr in der Production ist. Es kann etwas mit der Idee verglichen sehr untergeordnetes sein, und doch grade wenn man sich auf den Standpunkt des Zwekkes stellt die Idee sich zu ihm nur wie sein Mittel zu verhalten scheinen. 2. Man hält gewöhnlich für den geradesten Weg dazu zu gelangen die eigne Angabe des Verfassers zu Anfang oder zu Ende. Fälschlich. Viele Schriften geben etwas dem eigentlichen Thema weit untergeordnetes als Gegenstand an. Auch wird weit öfter der Zwekk dargestellt als die Idee. Beispiele vom ersten zumal in der neueren Litteratur. Vom lezten auch in der alten. Die epischen Ankündigungen enthalten nur den Zwekk, nicht die Idee. A u f l ö s u n g . 1. Man vergleiche die entgegengesezten Punkte Anfang und Ende (Anmerkung Die erste Uebersicht fängt also so elementarisch an als möglich.) Fortschreitendes Verhältniß = Charakter der historischen und rhetorischen Composition. GleichheitsVerhältniß = Charakter der intuitiven Composition. Cyclisches Verhältniß = Charakter der dialektischen Composition. C a u t e l e n . 1. Man unterscheide wol was an beiden Punkten auf den Zwekk sich bezieht, und was auf die Idee 2. Man unterscheide wol den rechten Anfang und das rechte Ende a. der Anfang 24 Gegenstand] über 〈Bestandtheil〉
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des Ganzen ist zugleich Anfang seines ersten, das Ende des Ganzen zugleich Ende seines lezten Gliedes. Exemplum Das Ende des Johannes könnte leicht nur auf seinen lezten Abschnitt gehn; nur die Identität mit dem Anfang zeigt daß es auf das Ganze geht. b. Man unterscheide ja die Grenzen des Ganzen. Wieviel Tollheiten dadurch in die Poetik gekommen sind daß man die Iliade als ein ursprüngliches Ganze angesehen hat, so auch den Pentateuch, den Jesaias pp. Eben so kann ein Brief, wiewol sonst ein Eines aus vielen Ganzen bestehen, die man von einander sondern muß. 2. Wenn Anfang und Ende nichts oder nicht genug für die Einheit geben so vergleiche man die accentuirten Stellen. Die gleich accentuirten müssen zur Idee in gleichem Verhältniß stehen und daher diese daraus hervorgehn. (Anmerkung. Man sieht wieder wie hier die grammatische Interpretation vorausgesezt wird denn diese muß lehren die accentuirten Stellen unterscheiden. Auch die andre Aufgabe der technischen Interpretation nemlich die Bestimmung des individuellen Sprachgebrauchs. Denn Jeder hat seine eigne Art zu accentuiren) C o r o l l a r i u m 1. Es kann auch Compositionen geben in denen nichts accentuirt ist. Dann gilt aber doch dasselbe negativ weil man bei jeder Voraussezung findet, es müßte so oder so accentuirt sein. Diese Abwesenheit findet statt a. bei allem was sich der epischen Structur nähert, wo aber wie bei der unmittelbaren sinnlichen Anschauung nichts hervortreten darf b. bei einer gewissen edeln Einfalt zumal in praktischen Darstellungen. c. bei troknem Wiz und Ironie. 2. Es kann auch hie und da absichtlich falsch accentuirte Stellen geben wie bei der Persiflage. Man giebt uns Deutschen Schuld daß wir am wenigsten im Stande sind dieses zu finden. Allein der eigenthümliche Accent kann vorzüglich dazu helfen über den materiellen Ernst zu verständigen 3. Man geht immer weiter ins Einzelne und Untergeordnete der einzelnen Massen um den Accent zu verfolgen bis man auf das gleichsam stillstehende kommt was die blosse Umgebung bildet. – Je genauer nun das Abnehmen des Accents übereinstimmt mit der Entfernung von der vorausgesezten Idee, desto mehr bestätigt sich die Voraussezung. Dagegen je mehr Abweichungen und accentuirtes was nicht zusammenstimmt, desto mehr Verdacht gegen die Voraussezung. C o r o l l a r i u m . Oft ist demohnerachtet keine andere Voraussezung zu machen. Dies sezt eine 4 ja] folgt 〈Ð hÑ〉 16 die Bestimmung] über 〈Ð Ñ〉 25 hie] oder hier; korr. aus 〈Ð Ñ〉 26 wir] mit Einfügungszeichen über der Zeile 33 Voraussezung. Dagegen] korr. aus vorausgesezte Ð Ñ
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Unvollkommenheit des Schriftstellers voraus daß ihm seine Idee nicht nur gleich klar bewußt geblieben, sondern er sich von andern Dingen hinreißen läßt: auf welche doch hernach beständig muß Rüksicht genommen werden. 5 Z w e i t e A u f g a b e . Die Eigenthümlichkeit der Composition zu finden.
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E r l ä u t e r u n g . Sie ist erst die wahre subjective. Durch mehrere ganz verschiedene Ideen kann ein Schriftsteller seine Eigenthümlichkeit durchführen. Bei einer und derselben Idee werden zwei verschiedene Schriftsteller auch ganz verschiedene Eigenthümlichkeiten offenbaren. A u f l ö s u n g . 1. Es giebt zwei Wege, den der unmittelbaren Anschauung, und den der Vergleichung mit anderm. Keiner von beiden hält sich allein. Die unmittelbare Anschauung kommt nicht zur Mittheilbarkeit; die Vergleichung kommt nie zur wahren Individualität. Man muß beide mit einander vereinigen durch die Beziehung auf die Totalität des möglichen. 2. Man suche diese Totalität des möglichen die freilich nur durch verständige Vergleichung des Einzelnen zu Stande kommt. 3. Man sehe nur wie sich aus dieser Totalität die HauptMassen des zu erklärenden zusammenfinden. Das im Ganzen und Einzelnen anschauliche Gesez dieses Zusammengehörens ist die Eigenthümlichkeit. E r l ä u t e r u n g . 1. Das vorläufig zu findende ist die Totalität dessen was diesem Schriftsteller zu Gebote stand. Man muß sich also halten an die Grenzen der Nation und des Zeitalters. (Wo der Schriftsteller schöpferisch darauf gewirkt hat findet sich von selbst) Die National und SaecularIndividualität ist die Basis der persönlichen. Zum Exempel Man darf bei alten Dramatikern nicht sagen daß ihnen unsere charakterisirende Composition zu Gebote gestanden oder die Sentimentalität der Lyriker. (Anmerkung. Der Schriftsteller ist also nur aus seinem Zeitalter zu verstehen.) 2. Diese Totalität findet man a. durch Vergleichung des Gleichzeitigen und Gleichartigen b. Zu Hülfe nehmen der Analogie aus Fremdartigen und Fremdzeitigen nach den allgemeinen CombinationsGesezen. Zum Exempel wenn wir nur Einen hebräischen Historiker hätten könnten wir doch die Totalität finden aus den Lyrikern. 3. Von hier aus wendet sich nun das Verfahren in verschiedenem Grade nach den entgegengesezten Seiten oft mehr zur Vergleichung mit dem Einzelnen oft mehr zur unmittelbaren Anschauung. Unter welchen Bedingungen beides? R e s u l t a t . Die Eigenthümlichkeit als Einheit ist nicht wiederzugeben; es bleibt immer etwas nicht zu beschreibendes darin was nur als 3 läßt] davor 〈Ð
Ñ〉
6 die] Kimmerle liest das
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Harmonie kann bezeichnet werden. Die Hauptgesichtspuncte aber sind folgende 1. Die eigenthümliche Art wie der Schriftsteller seine Idee ausbildet, materielle schriftstellerische Gesinnung wird erkannt durch Auswahl und Andordnung im Großen 2. Das Hinneigen zur Strenge oder Anmuth in der Composition formelle schriftstellerische Gesinnung wird erkannt durch das Verhältniß des ausfüllenden zum Großen durch die Massenverhältnisse des Details. Anmerkung Dies halten die meisten für Charakter der Individualität des Zeitalters. Dies ist nur gegründet in wie fern überhaupt entweder Mangel die Ursache der Strenge ist oder Luxus und Weichlichkeit die Ursachen der Anmuth. Beispiele von gleichzeitigen großen Verschiedenheiten. 3. Das Abweichen von dem eignen objectiven Gedankengang durch Einfluß der Vorstellung vom Gemüthszustand oder Gedankengang der Leser, oder die Popularität der Composition. (Anm. Viele halten dies für Charakter der Gattung; es findet sich aber als Element in allen Gattungen. Auch muß man freilich Rüksicht darauf nehmen in wie fern der Gegenstand Veranlassung giebt oder nicht an ein bestimmtes Publicum zu denken. Eintheilung in Werke und Gelegenheitsschriften ist die größte Ansicht dieses Punktes; dasselbe findet sich nun ganz im Detail auch. Es sind aber nicht untergeordnete Arten. Platon und Lessing waren durchaus Gelegenheitsschriftsteller (in der deutschen Literatur gab es eine Zeit wo man es für eine Anmaßung hielt etwas anderes sein zu wollen) jezt will jeder Lump ein Werk schreiben. Die Hinneigung zu einem oder dem andern liegt also mit im Charakter. Anwendung aufs Neue Testament
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A u f g a b e . Die Eigenthümlichkeit der Composition aus der Idee des 25 Werkes zu finden E r l ä u t e r u n g 1. Die Auswahl bezeichnet das CombinationsVermögen in Verbindung mit der Anordnung 2. Digression, Beiwerk Ausfüllung bezeichnen die schriftstellerische Gesinnung. Hieher vorzüglich a. die Strenge des Stils – diese scheint oft ÐdieÑ 30 gemeinschaftliche Individualität eines Intellekts zu sein b. die Popularität – diese hält man für einen Charakter der Gattung. Es geht aber ins Elementarische hinein. Auf den Gegenstand muß man freilich Rüksicht nehmen Eintheilung in Werke und Gelegenheitsschriften. 35 B e d i n g u n g . Man muß die Totalität dessen was ihm zu Gebote stand kennen – Hülfsmittel dazu Analogie, gleichartige Schriftsteller, Gegensaz. – Große Vorsicht wegen der Zeit.
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Man könnte sagen die Individualität müsse unmittelbar angeschaut sein. Dies ist der andre Gegensaz. Beides in verschiednen Fällen in verschiednem Grade Anwendung aufs Neue Testament 5 Die Eigenthümlichkeit des Sprachgebrauchs.
Einleitung 1. Je freier und reicher die Sprachen desto größerer Spielraum 2. Umfang von den erläuternden Gedanken bis zum fixirten in der Sprache 10 3. Es theilt sich nemlich in zwei Aufgaben. E r s t e A u f g a b e das Sprachgebiet des Schriftstellers zu bestimen 1.) durch den Charakter der Rede historisch p philosophisch pp Diese hat selbst noch nichts mit der Eigenthümlichkeit zu thun 2.) durch den Charakter der Zeit. Dieser wirkt beschränkend. Man15 che gehören der Gegenwart und der Zukunft in größerem Maaß als sie durch die Sprache zeigen können 3.) Durch die herrschenden Vorurtheile und Ansichten über die Sprache theils als selbst davon beherrscht ohne dennoch die Eigenthümlichkeit zu beschränken; theils genöthigt sie als Darstellungsmit20 tel zu gebrauchen. Mittel um das Sprachgebiet zu bestimmen 1.) Aus der Theorie – und allgemeinen Regeln die nie bis zum individuellen kommen am wenigsten 2.) Aus der Vergleichung des in einem Gebiet gegebenen und des 25 entgegengesezten. Xenophon, Thucydides, Platon Corollarium: Schwierig bei einmal vorkommenden wie Pindar und in mancher Hinsicht Plato. Bestandtheil des Sprachgebietes.5 1.) Auswahl Worte gehn unter, Worte sind ausgeschlossen 30 2.) Gebrauch ebenso. Anwendung auf das Neue Testament
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Dasselbe vom höheren Element in Beziehung auf
62,30–63,4 Hieher … Testament] durchgestrichen (Erledigungsvermerk); es folgen ca. 6 Zeilen Leerraum 18 ohne] über 〈ÐwennÑ〉 18 dennoch] korr. aus Ð Ñ 19 beschränken] Kimmerle liest beschreiben 32 Dasselbe ... auf] am linken Rand
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Z w e i t e A u f g a b e die Eigenthümlichkeit aus dem Sprachgebiet zu bestimmen E r l ä u t e r u n g Sie ist erst die wahre Subjectivitaet. Sie kann bei einem durch mehrere Sprachgebiete durchgehn, bei mehreren in demselben 5 ÐverschiedenÑ sein M e t h o d e zweifach. Unmittelbare Anschauung und Vergleichung. Beide müssen einander zu Hülfe kommen. Vergleichung allein kommt nie zur Individualität selbst. Anschauung kommt nie zur Mittheilung. Vermittlung ist die Vergleichung mit der Totalität des Sprachgebietes H a u p t m o m e n t e . 1.) Auswahl von Elementen, Worten, Wortbe- 10 deutungen formellen Elementen oder Structuren. 2. Anordnung a des Einzelnen nach Verhältniß der Freiheit der Sprache ins Ganze. 1.) Wo die grammatische Interpretation im Stich läßt. a. apaj legomenon oder dgl. 1.) Wenn die nächsten Stükke des Gedankenganges zusammen gehören. Was dazwischen stehen kann: ÐnaheÑ 15 Hypothesen mit deÐmÑ ÐgrammatischenÑ vergleichen. 2.) Wenn sie nicht zusammengehen a. Beziehung aufs vergangene Frage womit kann dieser Complexus schließen b. Beziehung aufs künftige. Frage Wie pflegt dieser Schriftsteller vorzubereiten. Anmerkung. Nicht bloß logisch 20 sondern individuell. b. Tropen. 1) Nicht falsch – gewöhnlich durch den Zusammenhang bestimmt 1.) über die logischen Zusammenhänge 2.) Parallelen mit Analogien 3.) Am Ende treffen die Extreme noch auf die beste Weise zusammen. Im ÐProblemÑ ist beides Eins, die Gewalt der Sprache und die Gewalt des 25 Menschen.
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Montag den 2ten September 1805
Anwendung der Kenntniß der Eigenthümlichkeit des Schriftstellers auf die Interpretation. A l l g e m e i n e U e b e r s i c h t . I. Durch die Eigenthümlichkeit ÐhilftÑ man der grammatischen Interpretation wo diese allein nicht zureicht. II. Sie 30 muß den subjectiven Grund der Verbindung des Einzelnen reproduciren, den Gedankengang begreifen lehren. (Anmerkung. Gewöhnlich sieht man hierauf zu wenig sondern nur auf den subsidiarischen ersten Gebrauch. 1 Z w e i t e A u f g a b e ] im Ms. nicht hervorgehoben
15 ÐnaheÑ] oder ÐmehrereÑ
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Daher das halbe Verstehen.) Ad I. hiebei ist zu sehen a. auf das Falschverstehen qualitativ b. Auf das quantitativ zu viel und zu wenig ad a. Hiebei hat die grammatische Interpretation die Hegemonie und die technische darf nur Hülfe leisten wo jene zweideutig bleibt oder wo ihr Bedingungen fehlen. Dies liegt im natürlichen Verhältniß des Schriftstellers zur Sprache. ad b. Hierauf kommt nun die grammatische Interpretation für sich allein nicht. Bei Anspielungen zum Exempel beruhigt sie sich bei dem unmittelbaren Verständniß und sieht was nicht grammatisch nothwendig ist als willkührlich an, übersieht also die Hinweisungen auf das rechte. (Anmerkung. Hiedurch geht nun wieder der subsidiarische Gebrauch über in den autokratischen und der Gegensaz hebt sich auf.) Das zuviel suchen kommt aus falscher Anwendung der Eigenthümlichkeit oder falscher Auffassung überhaupt her. ad II Hiebei ist zu sehn a auf den objectiven Gedankengang. Hieher alles was das unmittelbare Verhältniß des Schriftstellers zum Gegenstande ausdrükt, alles was wesentlich Glied der Composition ist b auf den subjectiven, die Nebenvorstellungen a. Bestimmung des Feldes woraus er seine Nebenvorstellungen hernimmt. b.) Erklärung ihres Erscheinens auf bestimmten Stellen. Beides 1.) aus der Totalität seiner Persönlichkeit 2.) aus den Verhältnissen derer welche er im Auge hatte. (Anmerkung Dies geht wieder auf den objectiven Gang zurük, denn es hat auch Einfluß auf die Anordnung des objectiven Ganges)
I Von Auffindung und Reproducirung des Gedankenganges. (Anmerkung Man muß hievon anfangen, weil hievon auch die Hülfe an25 fängt welche der grammatischen Interpretation zu leisten ist) E r l ä u t e r u n g . 1. Das Maximum dieser Reproduction ist Nachahmung so schreiben können wie ein anderer denselben Gegenstand würde behandelt haben. Schlechte Nachahmer sind sind nur Nachbildner eines einzelnen Gliedes der HauptGegensäze und zwar mehr des äußeren Glie30 des Nachahmer des Gebrauchs mehr als der Composition, des subjectiven Gedankenganges mehr als des objectiven. So wie nur das Nachbilden des vollkommenen ist was die Identität in diesem Entgegengesezten nachbildet, so auch das Erkennen welches die Identität darin erkennt. 2. diese Identität muß in einer dreifachen Combination gefunden werden a 35 das Gesez nach welchem die HauptGedanken zusammenhängen, das Gesez nach welchem die Nebengedanken zusammenhängen, das Gesez nach 64,32–65,1 (Anm … Verstehen.)] im Ms. in Klammern Klammern 28 Nachbildner] korr. aus Nachah
10–11 (Anm … auf.)] im Ms. in
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Mittwoch den 4ten September
Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
welchem die HauptGedanken mit den NebenGedanken zusammenhängen und in einander übergehen. ( C o r o l l a r i u m 1. Die erste Aufgabe ist also die objectiven Gedanken von den subjectiven zu unterscheiden. 2. Schwere Schriftsteller sind also in Beziehung auf den unmittelbaren Gegenstand der technischen Interpretation die bei welchen diese Unterscheidung schwer ist. A n m e r k u n g Das sind nicht die tiefsinnigsten, auch nicht die leichtesten, sondern die confusen.) 3. Der Zusammenhang der HauptGedanken unter sich ist gegeben zugleich mit der eigenthümlichen Ansicht des Schriftstellers zum Gegenstande. Der Zusammenhang der Nebenvorstellungen ist gegeben mit dem Verhältniß dessen was er überhaupt in seinem Vorstellungsvermögen hat zu seinem Gegenstande und mit dem Interesse was dies oder jenes vorzüglich hat zur Zeit der Verfertigung seines Werks also mit dem ganzen Verhältniß seiner Persönlichkeit zu seinem Werk. Besonders zu suchen ist also nach dem eigentlichen Gedankengang, die Succession der Haupt und Nebenvorstellungen in ihrer Vermischung. 1. A l l g e m e i n e B e d i n g u n g e n d e s U e b e r g a n g e s . 1. Nach einem klar und vollständig ausgedrükten Hauptgedanken ist keine Vermuthung daß Nebenvorstellungen folgen werden, denn es ist dazu weder Bedürfniß noch Reiz vielmehr Reiz die entstandene klare Einsicht sogleich zum Verfolgen der Hauptgedanken zu benuzen (Anmerkung Wenn also auch etwas heterogenes nach einer solchen Darstellung folgt, so muß man dies nicht für Nebenvorstellung halten sondern für Vorbereitung zum nächsten Hauptgedanken) Sondern a wo die Darstellung des Hauptgedankens zerstükkt und durch Details gegeben werden muß, weil diese von selbst theils in Nebenvorstellungen ausarten theils sie veranlassen b Wo mann an der Darstellung sieht, daß der Verfasser sich etwas aus der Gewalt des leitenden Gegenstandes herausgerissen und dem freien Gedanken ganz hingegeben hat. Denn da wird er auch den Nebenvorstellungen nachgeben, die sich zudrängen. 2. Rükweg zu der objectiven Reihe. Zwiefach a Rükkehr zu demselben Hauptgedanken von dem man abgesprungen war b. Fortschreitung zu einem neuen Hauptgedanken. – Hat eine Nebenvorstellung zu einem Aggregat von Erläuterungen gehört so kann die Rükkehr ganz abgebrochen sein[.] Ein Uebergang durch das Ungleichartige ist allemal künstlicher und muß mehr von weitem eingelegt werden. Durch alle ist immer was erfolgen wird zu ahnden.
8–9 eigenthümlichen] korr. aus Eigenthümlichkeit 14 dem] der 18–19 Vermuthung] korrigiert 31 von] über der Zeile 31 man] folgt 〈überhaupt〉 33 Erläuterungen] über 〈Nebenvorstellungen〉
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2. A l l g e m e i n e Vo r k e n n z e i c h e n d e s I n h a l t s . 1. Die Hauptgedanken sind a ihrem Inhalte nach gegeben durch Idee und Thema des Werkes; in der ersten nemlich liegt schon die eigenthümliche Ansicht des Schriftstellers. b. nimmt man noch den Umfang der Nebenvorstellungen und den Geschmak des Schriftstellers dazu: so sind die HauptGedanken auch ihrem Umfang und Ausführlichkeit nach bestimmt weil auf dem Geschmak das Verhältniß beruht. 2. Die Nebenvorstellungen sind wenn auch die ganze Persönlichkeit gegeben ist nie von Anfang herein nach Auswahl und Art zu errathen. Der Schriftsteller selbst hatte sie nicht, sondern sie werden erst successive angeregt; und auch für das „ihn besser verstehen als er selbst“ wird die Aufgabe zu complicirt. Das Diviniren muß sich also nur auf das nächste erstrekken. Da sie aus 2 Elementen bestehn[,] Kenntnisse und persönliche Verhältnisse, so muß man wissen aus dem Charakter des Schriftstellers wie sich jedes von beiden bei ihm zu jedem Gegenstande verhält, wo man das Uebergewicht von diesem und wo von jenem zu erwarten hat. Anmerkung. Im gemeinen Leben ist dieses Diviniren weit gewöhnlicher als im Studiren der Werke und doch in mancher Hinsicht schwerer. 2. Rüksicht auf besondere Verhältnisse. a Man muß unterscheiden einfache Nebenvorstellungen zur Erläuterung und Belebung statt deren auch andere hätten gewählt werden können von Anspielungen die noch einen besonderen Nebenzwek erreichen sollen. (Anmerkung 1. Anspielungen heißen sie im allgemeinen weil sie eine doppelte Beziehung haben die eine welche sie berechtigt im Zusammenhange zu stehen, und die andere, welche den Nebenzwek erreichen soll der außer dem Zusammenhange liegt. 2. Dieser Nebenzwek kann liegen entweder in andern Theilen der Darstellung zu denen etwas nebenbei und außer der Reihe der Hauptvorstellungen beigetragen werden soll nachholend oder vorbereitend oder in äußeren Verhältnissen des Gegenstandes, oder in äußeren Verhältnissen des Verfassers.) Denn es entsteht ein ganz anderes Verhältniß wenn die Nebenvorstellungen nur aus dem Bedürfniß oder Reiz des Augenbliks entstehn, und wenn sie als Aufgaben immer vorschweben. In diesem Fall muß nothwendig eine künstliche Anordnung entstehen, an der aber der Siz jener Vorstellungen zu erkennen ist[.] Corollarium. Dies Verhältniß überhaupt tritt ein 1. bei eitlen Schriftstellern die ihre Persönlichkeit überall wollen hervortreten lassen. 2. bei Darstellung eines Gegenstandes der sich nicht von seinen äußeren Verhältnissen trennen läßt. 3. Unter beschränkenden Umständen, wo nicht Alles grade heraus darf gesagt werden. 3 eigenthümliche] korr. aus E
11 selbst“] selbst
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Freitag den 6ten September.
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b Man muß unterscheiden den Charakter der reinen Darstellung und den der gelegentlichen Ergießung, Werke und Gelegenheitsschriften, Objectives und Populäres. Einfluß auf den Gedankengang. 1.) Das gelegentliche (größeres Verhältniß von Nebenvorstellungen) Gebiet aus besondern Beziehungen die man oft nicht erfahren kann. Dagegen aber auch sind sie einförmiger weil nur die vorkommen die mit dem gelegentlichen Interesse zusammenhängen. Das objective geringeres Verhältniß aber aus der ganzen Masse von Vorstellungen und Kenntnissen gestreut. 2 Im objectiven wird die Anordnung der HauptGedanken nur durch die eigenthümliche Ansicht bestimmt. Im gelegentlichen will nicht nur jene, der Natur der Sache nach Mittelpunkt sein, sondern auch das Interesse der Veranlassung will dasselbe, aus welchem Streit als Resultat eine andere Anordnung hervorgeht. ( A n m e r k u n g . Wo das Gelegentliche nicht herrschend genug ist dient der Eingang dazu den Streit zu vermitteln, dem veranlassenden Interesse gleich vorn sein Recht zu gönnen und das Ganze dadurch zugleich als Product einer mechanischen Succession darzustellen.) C o r o l l a r i u m . Mit Befolgung aller dieser Vorschriften erhält man also einen zwiefachen Blikk auf das folgende, auf den Faden der Hauptgedanken und auf die unmittelbare Succession. Nur muß man ja beide immer vereinigen, sonst wird man endlich über dem Reiz des Detail das Interesse des Totalverständnisses versäumen, oder um des Details willen den Zusammenhang des Großen schlechter würdigen als er ist.
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A n w e n d u n g a u f d a s N e u e Te s t a m e n t . 1. Nachahmung im Einzelnen ist auch hier leicht. Johannes abgebrochene Schreibart, Paulus verwikkelte Perioden Complication. Aber der Charak- 25 ter liegt nur in der Einheit dieses Aeußern mit einem Innern und mit dem materiellen Aeußeren. 2. Verwirrte Schriftsteller, die selbst keinen Faden ihrer Hauptgedanken festhalten und in denen deshalb schwer zu erklärende Stellen sind, giebt es nur einen, Petrus. Er ist immer außer der Gewalt des Gegenstan- 30 des. 3. Anordnung der HauptGedanken6 wieder Gegensaz zwischen Johannes und Paulus, lezter mehr fortschreitend in einer Reihe von Ideen und daher alles darunter gehörige mehr in Eines zusammenfassend. Ersterer mehr verweilend bei denselben Ideen, also das Einzelne neben einan- 35 der legend. 6
Die Aufgabe sich gleich ein Bild zu machen Unterschied zwischen historischen und didaktischen, zwischen frei didaktischen und veranlaßten.
4 (größeres … Nebenvorstellungen)] im Ms. ohne Klammern 15 sein … gönnen] über 〈ÐÑ〉 37–38 Die ... veranlaßten.] mit Einfügungszeichen am linken Rand
Hermeneutik · Erster Entwurf (1805)
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4. Gebiet der Nebenvorstellungen bei Allen dasselbe a. Persönliche Verhältnisse der Schreiber und Leser, auf welche die Ideen angewendet werden b Umfang der jüdischen Litteratur und Geschichte woraus sie erläutert werden. – Ungleiches Verhältniß beider bei verschiedenen Paulus 5 und Matthäus zusammen gegen Johannes. Johannes im Evangelio mehr persönliche Verhältnisse Christi in 1. Epistola mehr seine eignen. Paulus constituirt die Persönlichkeit wo er ihrer erwähnen muß gleich als HauptGedanken.
7 erwähnen] korr. aus Erwähn
Allgemeine Hermeneutik 1809/10 (Abschrift von Schleiermachers verlorenem Manuskript)
Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Twesten (Abschrift)
Die allgemeine Hermeneutik.
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von Dr. Fr. Schleiermacher. Geschrieben im Winter 1809–10. (angefangen den 24sten November 09.)
Einleitung
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Erklärung E 1. Die Hermeneutik beruht auf dem Factum des Nichtverstehns der Rede. In seiner größten Allgemeinheit genommen auch in der Muttersprache und im gemeinen Leben. E 2. Das Nichtverstehn ist theils Unbestimmtheit theils Zweydeutigkeit des Inhalts. Nämlich ohne Schuld des Redenden gedacht. E 3. Die Auslegungskunst ist also die Kunst, sich in den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen. E 4. Andere rechnen mit Unrecht auch die Darlegung des Verständnisses dazu. Daher in Ernesti das Kapittel vom Schreiben der Kommentare. Diese Darlegung ist aber selbst eine Art von Komposition, also wieder Object der Hermeneutik. – Ursache in der griechischen Etymologie des Wortes. E 5. Zuviel scheint aber die Erklärung zu enthalten, weil Kenntniß der Sprache und Sache beym ursprünglichen Leser und Hörer vorausgesetzt wird. Die Hermeneutik schickt also zuerst zur Grammatik und zu den Wissenschaften, sonst müßte sie allen Unterricht selbst übernehmen. 6 Erklärung] am rechten Rand
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E 6. Allein zur Sprache selbst und zur Kenntniß der übersinnlichen Dinge kommt man nur durch Verständniß menschlicher Rede. Die Hermeneutik ist also nicht auf die Sprachkunde gebaut, sondern es ist ein Wechselverhältniß zwischen beiden, welches die Gränzen schwer zu bestimmen macht. E 7. Da wir in diesem Sinne die Auslegung von Kindheit an üben, könnte man die Theorie für überflüssig halten. Das Gemeinere versteht sich von selbst; das Höhere ist Sache des Talents und Genies, das sich auch selbst hülfe. E 8. Die Bearbeitungen rühren meist von solchen her, wo ein Nebenzweck obwaltete. Theologen und Juristen. Bey letztern ist die Hauptsache die logische Interpretation, die über den eigentlichen Inhalt der Rede hinausgeht. Beyerstern nothwendig geworden durch Zusammenschmelzung der Schriftsteller in einen Codex, und die daraus entstandene dogmatische Exegese und andere Misbräuche. E 9. Die eigentlichen Sprachforscher und Kunstkenner der Rede haben sie nicht bearbeitet, sondern sich mit der Praxis begnügt. Durch genauere Bestimmung des Sprachgebrauchs und durch Herbeyschaffung des historischen Apparats suchen sie das Gebiet der Hermeneutik zu verringern. Was noch übrig bleibt, ist Genie, dem die Analyse nicht hilft (Siehe Wolf) E 10. Das Verhältniß ist wie bey allen Kunsttheorien. Sie bilden den Künstler nicht. Je mehr aber der Ausleger Künstler ist, um desto interessanter ist es, sein Geschäft zu beobachten. – Für ein unmittelbares be stimmtes Bedürfniß ist freylich durch practische Anweisungen besser gesorgt. E 11. Das Geschäft der Hermeneutik darf nicht erst da anfangen, wo das Verständniß unsicher wird, sondern vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine Rede verstehn zu wollen. Denn das Verständniß wird gewöhnlich erst unsicher, weil es schon früher vernachlässigt worden. E 12. Das Ziel der Hermeneutik ist das Verstehn im höchsten Sinne. Niedrige Maxime: man hat alles verstanden, was man, ohne auf Widerspruch zu stoßen, wirklich aufgefaßt hat. Höhere Maxime: Man 22 „Noch sucht sie [die Hermeneutik] für die Kunst, die Gedanken eines Schriftstellers aus dessen Vortrage mit nothwendiger Einsicht aufzufinden, mancherlei Begründung in Untersuchungen über die Natur der Wort-Bedeutungen, über Sinn eines Satzes, über Zusammenhang einer Rede, über viele andre Punkte der grammatischen, rhetorischen und historischen Interpretation. Jedoch zum Glück für die Ausübung wird durch dergleichen Analysen das Geniale des Auslegungs-Künstlers nicht eben geweckt, […]“ (Wolf S. 37).
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hat nur verstanden, was man in allen seinen Beziehungen und in seinem Zusammenhange nachconstruirt hat. – Dazu gehört auch, den Schriftsteller besser zu verstehn, als er sich selbst. E 13. Das Verstehn hat eine doppelte Richtung, nach der Sprache und nach den Gedanken hin. 1. Die Sprache ist Inbegriff alles in ihr Denkbaren, weil sie ein geschlossenes Ganze ist, und sich auf eine bestimmte Denkweise bezieht. Alles Einzelne in ihr muß aus der Totalität können verstanden werden. 2. Jede Rede ist einer Gedankenreihe des Redenden entsprechend, und muß also aus der Natur des Redenden, seiner Stimmung, seinem Zweck, vollkommen können verstanden werden. Jenes nennen wir die grammatische, dies die technische Interpretation. E 14. Dies sind nicht zwey Arten der Interpretation, sondern jede Auslegung muß beides vollkommen leisten. Man hat oft von Arten der Interpretation gesprochen; Art ist aber das, was den Begriff der Gattung vollkommen in sich faßt. Dies findet hier nicht Statt. Wer nur grammatisch verstehn will, will immer nur unkünstlerisch verstehn. Wer nur psychologisch verstehn will (man nennt das nicht übel a priori) wird immer unphilologisch verstehn. E 15. Die Compassibilität beider Aufgaben erhellt aus dem Verhältniß des Redenden zur Sprache; er ist ihr Organ und sie ist seines. 1. Die Sprache ist für jeden leitendes Princip, nicht nur negativ, weil er aus dem Gebiet des in ihr befaßten Denkens nicht herauskann, sondern auch positiv, weil sie durch die in ihr liegenden Verwandtschaften seine Combination lenkt. Jeder kann also nur sagen, was sie will, und ist ihr Organ. 2. Jeder, dessen Rede Object werden kann, bearbeitet selbst oder bestimmt die Denkweise auf eine eigenthümliche Art. Daher ja die Bereicherung der Sprache mit neuen Objecten und neuen Potenzen, die immer von der Sprachthätigkeit einzelner Menschen ausgehn. 3. Weder die Sprache noch der Einzelne als productiv-sprechend können anders bestehn, als durch das Ineinanderseyn beider Verhältnisse. E 16. Eben weil bey jedem Verstehn beide Aufgaben müssen gelöst werden, ist das Verstehen Kunst. Jede einzelne könnte vielleicht durch Regeln erlernt werden, und was so gelernt werden kann, ist Mechanismus. Kunst ist das, worüber 32 die] über 〈eine〉
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es zwar Regeln giebt, deren combinatorische Anwendung aber nicht wieder unter Regeln steht. So ist es nun mit dieser doppelten Construction, und dem Ineinandergreifen beider Aufgaben. E 17. In jeder Seite der Interpretation ist ein anderes von jenen beiden Verhältnissen das dominirende. Die grammatische Seite stellt den Redenden in den Hintergrund, und sieht ihn nur als Organ der Sprache an, diese aber als das eigentlich genetische der Rede. Die technische umgekehrt den Redenden als den Realgrund der Rede, und die Sprache nur als das negative beschränkende Princip. E 18. Nicht aber ist eine Seite mehr dem niedern und eine andere dem höhern Verstehn zugewendet. So hat man von einer höhern und niedern Interpretation geredet, und dann die grammatische die niedere genannt; aber diese entdeckt auch sehr vieles dem Schriftsteller selbst Unbewußtes, und führt also zum höchsten Verstehn, so wie es die technische oft mit Gegenständen zu thun hat, bey denen nur ein niederes Verstehn lohnt. E 19. Beide Seiten stehn nicht bey allen Objecten im Gleichgewicht. Bey allem, was nur Wahrnehmung wiedergeben soll, tritt der Redende zurück; bey allem, was Empfindung wiedergiebt oder sich als Willkühr ankündigt,tritt er vor. In den höchsten Objecten, Philosophie und Poesie, sind beide im Gleichgewicht, denn in beiden ist die höchste Subjectivität und die höchste Objectivität. E 20. Ueberall aber muß man sich vorsetzen, es mit jeder so weit zu bringen, als ob die andere fehlte. Die grammatische, als ob man vom Redenden nichts wüßte, oder ihn erst hieraus sollte kennen lernen; die technische, als wenn man erst vermöge der Sicherheit dieser Seite aus der gegebenen Rede sollte die Sprache kennen lernen. E 21. Das Verstehn ist in beiden ein zwiefaches, qualitativ und quantitativ. 1. Wort und Sache, Rede und Gedanke einander richtig entsprechen lassen; 2. die Währung und den Gehalt richtig auszumitteln, nicht Nebensache für Hauptsache, Bedeutsames für Unbedeutsames, Höheres für Niederes zu nehmen und umgekehrt. – Dies also die Hauptabtheilung für jede Seite. E 23. Daher ist e r s t l i c h keine gegebene Rede durch sich selbst allein zu verstehn. 35–36 also ... Seite] Ein Satz E 22 findet sich in Twestens Abschrift nicht.
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Denn die Kenntniß des Schriftstellers, welche der grammatischen Interpretation zu Hülfe kommen muß, muß anderswo herkommen. Die Kenntniß des Gegenstandes, welche der technischen zu Hülfe kommen soll, muß anderswo herkommen. E 24. Jede Rede oder Schrift ist nur in einem größern Zusammenhange zu verstehn. 1. Entweder ich bin im Studium des Schriftstellers begriffen, und bringe seine Kenntniß schon mit; oder ich bin im Studium des Gegenstandes begriffen, und kenne ihn schon so weit, daß ich das Verständniß einer bestimmten Darstellung anknüpfen kann. 2. Wenn ich zu einem Redenden zuerst komme, finde ich ihn in bestimmten Verhältnissen. Wenn ich zu einem Schriftsteller auf die rechte Weise hinzukomme, finde ich ihn da, wo er sich selbst aus der Masse in bestimmten Beziehungen aussondert. Eben so wenn ich zuerst zu einem Gegenstande komme, muß ich mit dem anfangen, was zur ersten Bekanntschaft bestimmt ist als Unterricht, oder ich muß ihn da auffassen, wo er sich zuerst entwickelt, d. h. als eigne Sphäre aus einer größern aussondert; so Philosophie aus Poesie, und die andern Arten der Poesie aus dem Epos. 3. Wo nur eins von beiden stattfindet, muß das andre supplirt werden. E 25. Es giebt kein rechtes Verstehn als im Fortschritt eines gründlichen Studiums. Jedes gründliche Studium ist historisch und fängt von Anfang an. Alles unzulängliche Verstehen hat im Mangel desselben seinen Grund. Wo man nun so zu Werke geht, muß man wissen, daß man nur partial und unvollkommen versteht. E 26. Wo die historische Reihe unterbrochen ist, muß die Lücke auf anderweitige Art ergänzt werden. Dies ist der eigentliche Zweck aller Einleitungen ins Neue Testament als Beyspiel. Nachtheiliges Uebergewicht des kritischen Theils mit Versäumung des hermeneutischen. Der Zweck müßte seyn, so viel möglich die Welt, aus der das Neue Testament unmittelbar entstanden ist, darzustellen. Jeder wird den Unterschied fühlen, den es macht, ob er diese Kenntnisse nur gelegentlich bey einzelnen Stellen bekommt, oder ob vorher, und mit ihnen eine Totalanschauung.
26 nun] oder nur 29 anderweitige] davor 〈ande〉 30 Dies] folgt 〈Ð Ñ〉 31 als … Nachtheiliges] korr. aus Als Beyspiel: nachtheiliges 33 unmittelbar] davor 〈verstanden ist〉
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E 27. Daher ist z w e y t e n s nicht nur das Verständniß des Ganzen bedingt durch das des Einzelnen, sondern auch umgekehrt das des Einzelnen durch das des Ganzen. Denn wenn das Einzelne als Glied der Reihe verstanden werden soll, muß auch der Exponent, die Tendenz, Art und Weise des Ganzen bekannt seyn; und wenn als Product der Sprache, so muß schon bekannt seyn, in welchem Sprachgebrauch überhaupt man versirt. E 28. Das Ganze ist vorläufig zu verstehn als Individuum einer Gattung, und die Anschauung der Gattung, d. h. das formelle Verständniß des Ganzen muß dem materialen Verständniß des Einzelnen vorangehn. Man kann freylich zur Kenntniß einer Gattung ursprünglich auch nur kommen durch Kenntniß eines darunter gehörigen Individuums; aber dann auch historisch der frühsten, und in diesen sieht man auch die Gattung als neue aus einer bekannten ältern Sphäre entstehn. Willkührliche Productionen werden nie Gattungen, und sind immer nur aus einem untergeordneten Gesichtspuncte zu verstehn. E 29. Das Ganze ist auch materialiter vorläufig zu verstehn als Skizze. Nämlich nur unter den bisherigen Voraussetzungen. Bey lebendiger Rede muß der Redende, je ungeübter die Zuhörer sind, um so mehr diese Uebersicht selbst veranlassen, und je weniger er es kann, um desto mehr so sprechen, daß alles im Gedächtniß bleibt, und also das Nachverstehn erleichtert wird. – Predigten. Gerichtsreden. Bey geschriebener Rede ist dies die cursorische Lectüre. Erste Bedingung. E 30. Das Verstehn entsteht, indem beide Operationen einander ergänzen, das Bild des Ganzen vollständiger wird durch Verständniß des Einzelnen, und das Einzelne immer vollständiger verstanden wird, je mehr man das Ganzeübersieht. Auch dies beweist, daß das Verstehen Kunst ist. Dürfte man nur das Einzelne aneinander fügen, so wäre es eine mechanische Operation. Man kann aber das Experiment machen, daß man mit dieser nicht weit kommt, sondern immer wieder zurück gleiten muß.
4 Reihe] neben 〈Sache〉; dies über 〈Rede〉 5 Exponent,] davor 〈Ep〉 6 bekannt] davor 〈verstanden〉 9 der] korr. aus einer 21 desto] korr. aus so 25–26 ergänzen,] folgt 〈daß bald das Ganze〉
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I 1. Es liegt uns am nächsten, mit dieser anzufangen. Die Sprache ist das sinnlich und äußerlich vermittelnde zwischen dem Redenden und Hörenden. Die technische für sich kann nur anknüpfen an die Analogie im innern Proceß des Denkens, also nur unsinnlich und innerlich. I 2. Die Aufgabe ist, aus der Sprache den Sinn einer Rede zu verstehn. Gegeben muß seyn Gesetze der Sprache, Gehalt ihrer Theile. Gesucht wird dasselbe im Gedanken, was der Redende hat ausdrücken gewollt. I 3. In der Sprache sind zwey Elemente zu unterscheiden, das Materielle und Formelle. Die Wörter und die Verbindungen. Die einzelnen Tonelemente gehn uns nicht an, weil sie nicht als bedeutend zu betrachten sind. I 4. Soll das Auslegen eine eigne Kunst seyn, so müssen die Elemente der Sprache in ihrer Bedeutsamkeit an und für sich unbestimmt seyn. Wenn man sich bey jedem Wort und Formel nur einerley denken könnte: so wäre nichts nöthig, als die Elemente zu kennen; es gäbe nur Grammatik. I 5. Die Auslegung besteht immer darin, das grammatisch unbestimmte zu bestimmen durch das grammatisch bestimmte. Diese Erklärung ist dieselbe für die entgegengesetztesten Glieder des Wechselverhältnisses (Siehe Einleitung 5.6.) Denn da, je mehr die Rede Object der Auslegung ist, um so mehr auch der Redende selbst sprachbildend ist (Einl. 15, 2.) so ist jede Auslegung fortgesetztes Sprachverstehn. Die Principien müssen also dieselben seyn bey jedem Grade vorausgesetzter Sprachbekanntschaft. Viel zu lernen aus der hermeneutischen Operation der Kinder. Allmähliges Fortschreiten ist auch hier natürliche Bedingung. I 6. Die Elemente der Sprache können nicht ganz unbestimmt seyn, aber auch nicht ganz bestimmt. 1. Sonst wäre die Sprache selbst weder Totalität noch Einheit, weder Erlernen noch Sicherheit des Gebrauchs für die unnachläßlichen Forderungen des wissenschaftlichen Strebens. 2. Letzteres kommt unmittelbar aus der Erfahrung entgegen. Auch wo die Elemente der Sprache aus ihr selbst erklärt werden, zeigt sich jedes als eine Vielheit. 23 mehr] folgt 〈auch〉
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I 7. An jedem ist also zu unterscheiden die Vielheit des Gebrauchs und die Einheit der Bedeutung. Das wirkliche Vorkommen der Wörter ist in den meisten Fällen ein verschiedenes; der Sinn ist durch den Zusammenhang bestimmt und afficirt. Aber es giebt Eine Sphäre des Worts, unter welcher alle jene, wiewohl auf verschiedene Art, müssen begriffen seyn. I 8. Jedes einzelne Vorkommen eines Elements ist eine von den Vielheiten des Gebrauchs; die Einheit der Bedeutung erscheint nirgends in einem einzelnen Falle. Sie ist eigentlich die Idee des Worts, jenes sind die Erscheinungen desselben. Diese sind immer vom Zusammenhange afficirt; es ist in ihnen schon etwas durch andere Wörter gesetzt, oder die ganze Sphäre des Elementes auf eine kleinere beschränkt. I 9. Dies gilt von den formellen Elementen der Sprache eben so gut als von den materiellen. Der Gegensatz zwischen beiden ist vermittelt durch die Partikeln, welche dem Gehalt nach zu den formellen Elementen gehören, der Gestalt nach zu den materiellen. Zwischen ihnen und den reellen Wörtern stehn noch andere Redetheile, welche sich den Partikeln nähern, wie Pronomina und manche Adjective; und sie selbst nähern sich auch wieder der bloßen Form dadurch, daß diese theils ihnen nothwendig folgt, theils auch ihnen synonym ist. I 10. Die Einheit eines materiellen Elementes ist ein weiter bestimmbares Schema einer Anschauung; die eines formellen ein Schema einer Beziehungsweise. Diese Ansicht ist der gewöhnlichen entgegengesetzt, nach welcher jedes reale Wort ursprünglich ein bestimmtes sinnliches Ding bedeute, und alle andern Bedeutungen von dieser abgeleitet oder übertragen wären. Dies Ableiten und Uebertragen würde aber dann eine ganz willkührliche und unerklärliche Operation. I 11. Die Vielheit des Gebrauchs beruht im Allgemeinen darauf, daß dasselbe Schema in ganz verschiedenen Sphären vorkommen kann. Gegensatz von Raum und Zeit (Gestalt durch Bewegung vorzustellen) Aeußerm und Innern (Reden und Denken, Begehren und Greifen gleichgesetzt) Theoretischem und Practischen, (Meinen und Beschließen) Ideellemund Reellen, (Erkenntniß und Sinnenoperation) (das weitere im ersten Entwurf)
14 eben] über der Zeile
29 würde] oder wurde
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I 12. Jedes Element kommt nicht gleich Anfangs in allen seinen verschiedenen Sphären vor. Weil die Sprache sich der Identität des Schema nicht gleich überall bewußt wird. Hierher gehören auch die Fälle, wo man zu einem hernach in realen Sphären vorkommenden Wort einen bestimmten sinnlichen Gebrauch als den ersten nachweisen kann. Das darin liegende Schema tritt immer stärker heraus, wird überwiegend, und der einzelne Fall behält nur noch den Werth eines Beyspiels davon. I 13. Wenn die Combinationsweise eine andere Richtung bekommt, muß ein Wort entweder veralten, oder das Schema muß sich etwas verrücken. Z.B. Fremdling und Feindseeligkeit kann als veranlassende Ursache und innere Wirkung in Einem Wort gebunden gewesen seyn. Trennt sich dieses, so muß das Wort veralten, oder es kann nur noch Eins von beiden bedeuten. I 14. Manches kommt in die Sprache vom geringeren Volk aus durch misverstandene Anwendung. Dies ist eigentlich, wenn es einwurzelt, ehe es recht erkannt wird, das Gebiet des usus tyrannus. Gegenwirkung von oben bleibt dann ein Wagestück. Im Einzelnen etwas für bloßen Sprachgebrauch erklären ist voreilig, bis man den Entstehungsgrund darlegen kann. I 15. Der Sinn eines einzelnen Elements ist also in keiner Rede an und für sich klar, und die grammatische Seite der Interpretation eine wirkliche Aufgabe. Denn wenn das innere Wesen eines Wortes auch bekannt ist, aber nie selbst erscheint, so muß das Verhältniß des wirklichen Vorkommens zu dem innern Wesen allemal erst ausgemittelt werden. Es muß aber aus dem Zusammenhang erkannt werden können, weil dieser die Sphäre bestimmt, in welcher das Wort eben spielt. I 16. Das jedesmal zu bestimmende ist eine einzelne Gebrauchweise, diese muß zurückgeführt werden auf eine Einheit, welche also als bekannt vorausgesetzt wird. Wir können aber zur Kenntniß der innern Einheit nur allmählig gelangen, durch Verständniß einzelner Reden, also wird auch die Auslegungskunst vorausgesetzt, wenn die innere Einheit soll gefunden werden. Die schon oben (Siehe Einleitung 6) berührte Schwierigkeit. Sie löst sich durch das (Einl. 15) bemerkte Verhältniß des Redenden zur Sprache. Jedes Verstehn einer Rede ist ein fortgesetztes Verstehn der Spra3 Identität] Indentität
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che. Sprache verstehn heißt die Einheit der Worte kennen. Also ist beides eine und dieselbe Operation. I 17. Man kann nur sicher seyn, die innere Einheit gefunden zu haben, wenn man die Totalität aller Gebrauchsweisen zusammenstellen kann. Diese ist aber nie geschlossen; also ist die Aufgabe in der Strenge unendlich, und nur durch Approximation zu lösen. Die ersten Theile dieser Approximation stehn also unter denselben Gesetzen wie die letzten, und das Verfahren muß also im Wesentlichen dasselbe seyn. Von den Proceduren der Kindheit ist also viel für die Hermeneutik zu lernen. Aber eben weil das Verstehn eine Reihe ist, kann man nur durch jedes vorige Glied zum folgenden kommen, und nur in der stufenweisen Fortschreitung ist das wahre Verstehn möglich. I 18. Jedes einzelne Element in der Rede für sich giebt eine Richtung auf ein Mannigfaltiges. Weil es für jedes eine Vielheit von Gebrauchsweisen giebt, die dem Worte gleich sehr zukommen. I 19. Das Verstehn des Einzelnen ist also bedingt durch das Verstehn des Ganzen. Nach Einl. 27 folgt dies also auch besonders für die grammatische Seite. I 20. Das Ganze für ein einzelnes Element ist zuerst die ganze Rede, dann der einzelne organische Theil in dem es unmittelbar vorkommt. K a n o n : das Grammatisch-unbestimmte in einzelnen Elementen muß bestimmt werden durch den Zusammenhang. Denn dieser ist in dem Herabsteigen vom Ganzen durch die einzelnen organischen Theile zum Elemente, und umgekehrt. Die Bestimmung muß vom Ganzen, als dem dem Element am meisten entgegengesetzten anfangen, weil eben in dem Gegensatz die Hülfe liegen soll. I 21. Die allgemeine Vorstellung des Ganzen beschränkt schon die Mannigfaltigkeit des Einzelnen, indem sie es einer bestimmten Gattung einverleibt. Denn sowohl materiale als formale Elemente haben eine andere Sphäre in der Poesie und Prosa, im wissenschaftlichen und familiären Vortrag. I 22. Dann auch dadurch, daß sie es in eine bestimmte Periode der Sprache setzt. 25 in einzelnen] davor 〈im Einzelnen〉
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Schon nach I 12. Man kann vorzüglich in einer Sprache, die ein volles Leben erreicht, drey Perioden annehmen; 1. die vorwissenschaftliche, wo noch nicht alle Gegensätze entwickelt sind, also Lizenz, Ungenauigkeit herrscht, die Bedeutsamkeit 5 noch nicht erschöpft ist; bey den Griechen bis Sokrates, wegen der Constitution der Philosophie. 2. eigentliche Blüthe. Beweis: Philosohie und Kunst neben einander. Griechen bis zu den Macedoniern. 3. Künsteley, Verbildung, Hinneigung zum Fremden. 10 Der Unterschied der großen Perioden kommt auch in jeder einzelnen wieder in kleinern Formen vor, und zu jeder Zeit tragen einzelne Gebiete den Charakter einzelner Perioden. – Für jeden dieser Fälle ist jedem Element ein eigner Kreis der Bedeutsamkeit bestimmt. I 23. Die völlige Bestimmtheit aber kann nur aus dem kleinern Ganzen 15 erwachsen, in welchem das Element unmittelbar vorkommt. Denn hier müssen erst die genauern Begränzungen hinzukommen, und hier ist erst der Begegnungspunct der verschiedenen hermeneutischen Operationen.
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Bestimmung der materialen Elemente.
I 24. Das Mannigfaltige (§ 18) ist bestimmter, wenn auch vielleicht umfassender, wenn die Vorstellung von dem Wesen des Wortes schon geschlossen ist. Weil sie dann in den Gränzen eines ziemlich bestimmten Schema eingeschlossen ist. 25 I 25. Es ist unbestimmter, aber vielleicht minder umfassend, wenn man erst eine geringe Anzahl von Gebrauchsweisen beysammen hat. Weil man dann die Unkenntniß des Wortes stärker fühlt, aber noch nicht weiß, nach was für Richtungen hinaus man andere Gebrauchsweisen zu suchen hat. 30 I 26. Je weniger einzelne Gebrauchsweisen man noch zusammen hat, um desto weniger darf man sich leicht von den schon bekannten entfernen. Je sicherer man schon des Schema ist, um desto leichter darf man annehmen, was sich unter dasselbe subsumiren läßt. ad. 1. Weil man nämlich aus Unbekanntschaft mit dem Schema ins 35 Unbestimmte getrieben wird. Die Gewalt des Zusammenhangs muß 20
17 Begegnungspunct] davor 〈Begrenzungspunct〉 〈bey〉
21 von] vom
30 zusammen] zu über
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also dann sehr stark seyn; oder man muß sich fremder Hülfe erfreuen. Beides gewöhnlich der Fall beym Erlernen der Muttersprache, und also auch nachzuahmen beym Erlernen fremder. Gefahr eines zu zeitigen Gebrauchs der Wörterbücher, wenn man das Verwandtschaftsprincip noch nicht zu finden oder die Sphären nicht zu trennen weiß. Das w e n i g e r ist aber nicht der Zahl nach zu verstehn, sondern der Verschiedenheit nach. Wenige Gebrauchsweisen aus entgegengesetzten Sphären führen eher auf das wahre Schema, als mehrere aus derselben. Die rechte Nachahmung fremder Hülfe für Anfänger sind die Indices, welche in diesem Sinne gearbeitet seyn müssen. ad. 2. Bisweilen kann man aus einer einzigen Stelle mit der größten Sicherheit eine noch unbekannte Gebrauchsweise ausmitteln. Je weniger man aber noch das Schema kennt, um desto mehr muß man sich mit seltenen Gebrauchsweisen in Acht nehmen. – Gemeine Interpretationsfehler der Anfänger. Jenes Fortschreiten, wenn man sich nur allmählig einzelne Gebrauchsweisen geben läßt, ist das rein empirische. Dieses, indem man vom Schema heraus neue annimmt, ist das constructive, die selbstthätige Nachzeichnung der allmählichen Spracherweiterung. Man sieht wie beide durch einander bedingt sind, wie aber schon der erste Anfang des empirischen in der Kindheit zum constructiven führt. I 27. Die Supplemente der eignen Erfahrung, um der Vollständigkeit der Gebrauchsweisen möglichst nahe zu kommen, sind die Wörterbücher. Sie gehn entweder selbst von der empirischen Ansicht aus, als Sammlung des Sprachgebrauchs, oder sie wollen constructiv seyn. Gewöhnlich nur wie I, 10 Anmerkung Man muß beym Gebrauch alles, was Urtheil ist, möglichst bey Seite stellen, und das Construiren selbst übernehmen. Man muß wenigstens aus ihnen auch lernen können, welcher Gebrauch aus welchen Sphären ausgeflossen ist. I 28. Die Vorstellung des Ganzen beschränkt die Mannigfaltigkeit des Einzelnen auch als skizzirte Uebersicht, inwiefern sie einen Gegenstand bestimmt. Natürlich werden hiebey diejenigen Elemente, welche den Hauptgegenstand unmittelbar bezeichnen, als bekannt vorausgesetzt, (nach Einl. 24) durch diese wird dann eine bestimmte Sphäre gezogen, in welche sich alles einordnen muß.
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I 29. Ein Wort, was als Subject auftritt, ist auf diese Art bestimmbar, wenn sein Satz einen Theil des Gegenstandes selbst behandelt. Denn alsdann muß es in eine Verwandtschaft mit den bekannten Hauptelementen gehören. I 30. Wenn ein Satz einen solchen Theil nicht behandelt, so ist nur das Prädikat darin auf jene Art bestimmbar. Denn dieses allein kann dann den Grund enthalten, warum er mit in die Darstellung gekommen ist. I 31. Die Vorstellung des Ganzen hat einen Einfluß auf die Bestimmung eines Elementes, inwiefern sie von dem Verhältniß des musikalischen Momentes zum grammatischen abhängt. Die Sprache als eine Totalität von Klängen ist ein musikalisches System. Das Musikalische ist auch wirksam in jeder Rede, und da diese Wirksamkeit einen andern Grund hat als die des Bedeutsamen, so können beide in Streit kommen. Das Musikalische der Sprache wirkt theils unmittelbar auf das Gefühl, theils auch einprägend auf das Gedächtniß. Je mehr also der Redner auf das Gefühl wirken will, oder genöthigt ist, sich an das Gedächtniß zu wenden, um desto öfter wird er in den Fall kommen, der musikalischen Stärke die grammatische Genauigkeit aufzuopfern. Die Gattung muß also bestimmen, wo bey hervortretender Musik eine solche Abweichung vorauszusetzen ist, und wo nicht. Für die prosaische Seite ist der Typus der hervortretenden Musik das Sprichwort; der Typus der zurücktretenden die mathematische Formel. Im höhern didaktischen Vortrag darf das Musikalische nur Spiel seyn, und nie der grammatischen Genauigkeit Abbruch thun. I 32. Jeder Satz besteht ursprünglich nur aus zwey Elementen, Subject und Prädikat. Das ist die Theorie des Platon und gewiß auch der Frühern. Aristoteles hat erst die Copula erfunden. In der Anschauung ist die Verbindung zwischen beiden nicht vermittelt, sondern unmittelbar. Nur das Zeitwort ist die einfache Form des Prädikats. Adjective sind erst aus den Verbis abgeleitet, und nach dieser Ableitung bleibt dann eine bloße Form des Verbi (das copulative seyn) als caput mortuum zurück. Viele ursprüngliche Verba gehn auf diese Art verloren. Verkehrtheit, das Verbum in ein Participium mit seyn aufzulösen. I 33. Die letzte Bestimmtheit muß das Subject erhalten durch das Prädikat, und das Prädikat durch das Subject. 35 Verba] davor 〈Worte〉 ( )
36 mit] folgt 〈S〉
36 aufzulösen.] daneben am rechten Rand
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Denn nachdem ihre Sphären schon enger begränzt sind, erhellt, daß nur derjenige Theil der einen der gültige ist, der zugleich ein Theil der andern seyn kann. I 34. Jeder erweiterte Satz muß eben so behandelt werden. In einem erweiterten Satz sind die beiden Hauptglieder entweder in mehrere Theile zerfällt, oder durch Nebenbestimmungen genauer ausgeführt. Zerfällt die Sphäre des einen Gliedes in mehrere kleine, so ist es um so leichter, diese, da sie doch unter sich verwandt seyn müssen, mit einander zu vergleichen. Nebenbestimmungen lassen sich auflösen in Sätze, worin sie das Prädikat sind, und geben also noch mehrere Hülfsmittel an, so daß das verwikkeltere zugleich wieder vortheilhaft ist. I 35. Jeder zusammengesetzte Satz muß in einen einfachen aufgelöst werden. Bey allen Perioden, die eine wahre Einheit sind, ist dies zwar schwer, aber immer möglich, und ein gründliches verstehn ohne dies nicht möglich. I 36. Prädikat und Subject des Satzes sind denn auch aus Prädikat und Subject des Gegensatzes zu bestimmen. Beides zu verstehn in dem ganzen Sinn des erweiterten Satzes. Ueberall im zusammengesetzten Satz ist die Form des Gegensatzes herrschend, Umfang desselben vom Parallelismus, wo der zweyte Satz bloß Echo des ersten und der Gegensatz nur räumlich ist, bis zum strenglogischen, und vom Partiellen (Subject mit entgegengesetztem Prädikat und Prädikat zu entgegengesetztem Subject) bis zum Totalen. Verschiedenheit der Gattungen auch hier zu beachten, so wie Verschiedenheit der Sprache. In den modernen nicht so große Rolle des Gegensatzes als in den antiken. I 37. Die zuletzt angegebenen Regeln sind nicht Stückwerke. Sie vertreten nur zusammengenommen die Stelle der auf den einfachen Satz sich beziehenden (33) und bilden also in sich ein Ganzes. In der Anwendung setzen sie aber das Verständniß des formellen Elementes voraus, weil nur hiedurch die Glieder des erweiterten Satzes richtig vertheilt und der zusammengesetzte Satz richtig aufgelöst werden kann, und die Aufgabe ist also eigentlich immer nur durch Approximation zu lösen. Auch die Beurtheilung, welches von mehreren einzelnen Gliedern oder Theilen das stringenteste ist, hängt theils von den Indicationen des Formellen ab, theils von dem hermeneutischen Kunstgefühl. 2 gültige] folgt 〈seyn〉 〈Satz〉
6 Nebenbestimmungen] Neben〈s〉bestimmungen
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I 38. Die hieraus entstehende Bestimmtheit reicht nur hin für die tadellose Composition. Der Redende setzt sich selten vollkommen an die Stelle des Hörers, am wenigsten des nicht unmittelbaren; sondern er glaubt, manches müsse auch dem Hörer ganz klar seyn, was es nur ihm ist. Von den beiden Formen des Fehlerhaften, der Zweydeutigkeit und der Unbestimmtheit, haftet jene mehr an dem formellen Element, diese mehr an dem materiellen. Denn Zweydeutigkeit kann einem Wort nur anhaften, inwiefern man noch zwischen entgegengesetzten Gebrauchsweisen (I. 11) schwankt, welches nach Anwendung der gegebenen Vorschriften nicht mehr möglich ist. I 39. Wenn Unbestimmtheit übrig bleibt, muß man Erklärungsmittel außer dem Satze suchen, dessen Glied das Element ist. Unbestimmtheit haftet dem Wort an, wenn noch ein Schwanken zwischen Allgemeinem und Besondern übrig bleibt; wenn man nicht weiß, ob dieganze einzelne Sphäre oder nur ein Theil derselben dem Redenden vorschwebte, oder wenn man nicht weiß, ob er nicht ein allgemeines Wort brauchte, da er doch nur einige einzelne Fälle bezeichnen wollte. I 40. Auch wenn der Hörer nicht durch das stufenweise Fortschreiten zum Verstehen kommt, kann ihm der unmittelbare Zusammenhang ungenügend seyn. Dieser Fall ist sehr ausgebreitet, sowohl bey fremden Sprachen als in der eignen. Wir kommen fast überall hin durch Sprung. I 41. Je mehr das Unverständliche der bestimmten Rede besonders angehört, um desto mehr muß man die Erläuterungsmittel auch nur in ihrem Umfange suchen. Weil dann ein durch den Zusammenhang besonders bestimmter Gebrauch vorauszusetzen ist. I 42. Kanon für diesen Fall: Je näher der zu erklärenden Stelle das Erläuterungsmittel, um desto sicherer die Hülfe. Die Nähe ist nicht mechanisch zu verstehn. Die Regel, daß ein Wort in derselben Gedankenreihe auch nur in einerley Bedeutung dürfe angenommen werden, ist tausend Ausnahmen unterworfen, und sehr beschränkt. I 43. Wie die Periode auf den einfachen Satz, so ist jede ganze Rede auf die Periode zu reduciren. Stellen, welche sich so nach dem ganzen Bau der Rede entsprechen, sind natürliche Parallelstellen. 3 selten] korr. aus selber
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Die Differenz zwischen der freyesten und strengsten Composition bildet doch nur einen relativen Gegensatz. Ein Analogon von rhythmischem Bau ist in jedem Ganzen, welches nicht ganz in die Gränzen des Gesprächs fällt. I 44. Sie sind zwiefacher Art, Wortparallelen und Gedankenparallelen. 1. Wo dasselbe Wort in andern Umgebungen, aus denen es verstanden werden kann, vorkommt, und so, daß der Parallelismus entweder die Identität der Bedeutung nothwendig macht, oder eine bestimmte Analogie. 2. wo das schwierige Wort gar nicht vorkommt, aber durch den Parallelismus der Gedanke als derselbe oder als auf eine bestimmte Weise analog erkannt wird. I 45. Um sie richtig zu bestimmen, muß man unterscheiden, ob das zu erklärende zum Subject oder zum Prädikat der ganzen Rede gehört. Denn anders ist die Anordnung wie der Gegenstand zerfällt, und anders, wie das Resultat allmählig producirt wird. I 46. Größere oder geringere Sicherheit entsteht aus der Differenz der Gattungen und aus der Vollkommenheit der Schriftsteller. 1. Auch die freyeste im Ganzen nicht einmal strophische Composition hat etwas cyclisches, wodurch sich eine Reihe von Beziehungen bildet. 2. Je weniger sich der Schriftsteller an die Regeln der Composition hält,um desto weniger ist Verlaß auf ihn. I 47. Je weniger das Unverständliche der bestimmten Rede angehört, um desto mehr wird man im Suchen der Erklärungsmittel über sie hinausgetrieben. Denn der Grund der Unverständlichkeit liegt dann in einem größern Gebiet und muß aus diesem gehoben werden. – Allgemeines Zeichen: dasselbe unverständliche hätte mir auch anderswo vorkommen können als hier. I 48. Was in einer Rede beygebracht wird aus einem fremden Gebiet, kann erklärt werden aus allen Reden deren Hauptgegenstand dieses ist. Das ist ein mittlerer Fall. Die Unverständlichkeit kann hier auf Rechnung des Schriftstellers kommen, auch auf Rechnung des Lesers. I 49. Auch was dem Wesentlichen der Rede angehört, kann, wenn es objectiv unverständlich ist, erklärt werden aus allen, welche zu demselben Gebiete gehören.
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1. Hier ist schon die Voraussetzung, daß die Unverständlichkeit auf Rechnung des Lesers komme. 2. Die Erklärungsmaxime bleibt dieselbe, denn alle diese bilden doch gleichsam Einen logow I 50. Alle Schriftsteller sind in Beziehung auf diesen Parallelismus als Einer zu betrachten, welche dasselbe Object behandeln. Kanon für die wissenschaftliche Unverständlichkeit. Man muß aber nicht über seine Gränze hinausgehn und ihn auf die rein philologische anwenden. Allgemeines Schema die Philosophie. Alles in jeder Nation Eine Bildung, aber belebt durch eine Menge von Individualitäten und relativen Gegensätzen. Je mehr ein Schriftsteller gehaltreich ist und unverständlich, um desto mehr darf dieser Kanon nur Supplement der vorigen seyn. I 51. Nur diejenigen sind in realer Hinsicht Einer, welche denselben Typus der Behandlung haben. 1. Begriff der Schule im Schema der Philosophie. 2. Je vielfältiger ein Gegenstand behandelt worden ist, um desto mehr muß der vorige Kanon beschränkt werden durch diesen, und die kleinere Einheit die Oberhand behalten. I 52. Nur diejenigen sind als Einer anzusehn, welche ihn in Einer Sprachperiode behandelt haben. Bezieht sich theils auf die Hauptperioden der Sprache überhaupt, (Uebergang aus Poesie in Prosa, aus Ungeschiedenheit in Gegensätze) theils auf die Perioden jedes technischen Sprachgebiets insbesondere. I 53. Alle sind als Einer anzusehn, welche aus den mehr in das Gebiet der Kunst fallenden in Eine Gattung gehören. Kanon für Poesie Geschichte und Beredtsamkeit. Die bindende Einheit ist theils der mythische und gnomische Cyclus, theils der gleiche Antheil an dem musikalischen der Sprache. I 54. Auch hier sind Unterarten und Perioden zu unterscheiden. Die Perioden gehn nicht strenge nach der Zeit, sondern die wiederkehrenden nachahmenden sind zu den ursprünglichen zu rechnen. – Alexandrinische Dichter und Homer. I 55. Beide Ansichten vereinigen sich, wenn man der Sicherheit wegen zunächst nur von der kleinern Einheit ausgeht, und nur in Ermangelung auf das weitere über, und wenn man zu unterscheiden sucht, was in das Gebiet einer jeden gehört.
24 Sprachgebiets] biets über 〈brauchs〉
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Letzteres setzt wieder genaue Kenntniß der Sache voraus, die nur hermeneutisch erworben werden kann, also der alte Cyclus mit seiner Auslegung. I 56. Was in einer Rede rein als Sprache unverständlich ist, kann erklärt werden aus allem, was in dasselbe Sprachgebiet gehört. Allgemeines Kennzeichen ist das Gefühl: dasselbe unverständliche könnte auch anderwärts vorgekommen seyn. Ferner Ahndung des Sinns aus dem Zusammenhang, dem aber grammatisches Bedenken entgegensteht, der also grammatische Bestätigung erfordert. Hier kommt offenbar die Unverständlichkeit auf Rechnung des Lesers, außer bey ganz ungebildeten Schriftstellern. I 57. Auch hier gilt in Absicht der größern und kleinern Einheit dieselbe Cautel. Die kleinste ist persönlicher Sprachgebrauch; die größte allgemeine Sprachperiode oder Dialekt. Einseitigkeit, wenn man einer von beiden zu viel einräumt. Auch hier gilt die Regel: jeder Schriftsteller ist sein bester Ausleger, d. h. man muß damit anfangen, Parallelen in ihm selbst zu suchen. Von diesem Bestreben aus construirt sich dann am sichersten das Gebiet der größern Einheiten – Reichstes Beyspiel ist das Griechische. Auch hier dürfen die Parallelen nicht immer wörtlich seyn, sondern man muß sich allmählig eine Analogie bilden.
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Bestimmung der formellen Elemente.
(Anmerkung fast in Absicht auf alle hermeneutischen Verhältnisse im Gegensatze gegen das materielle Element.) I 58. Bey dem formellen Element ist es weit schwerer, zur Einheit des 25 Schema zu gelangen. Fast die einzige Ausnahme machen die Personen des Verbi, diese enthalten aber das verkappte Subject. – Casus, Präpositionen, Tempora, Modi, fast überall sehr schwer auch aus der größten Mannigfaltigkeit von Gebrauchsweisen zu eruiren. 30 I 59. Man darf sich daher hier gar nicht durch Muthmaßungen aus dem Zusammenhang geleitet vom streng grammatisch erweislichen entfernen. (Vgl. I. 9 und 26) Das ist fast das Hauptmerkmal, wodurch sich das philologische Lesen von dem unphilologischen unterscheidet. Hauptquelle der Un- 35 gründlichkeit.
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I 60. Die Observationen der Grammatiker sind das der eignen Erfahrung zu Hülfe kommende; aber sie müssen selbst erst hermeneutisch gebildet werden. Viel Voreiligkeit; man legt zu leicht bey einem dem Sinn nach deutlichen Satz in ein formales Element etwas, was einem andern angehört. Daher nie ungeprüfter Gebrauch bey irgend schwierigen Fällen. I 61. Der einfache Satz hat nur Ein formelles Element, die Art wie das Prädikatwort, Verbum, auf das Subjectwort, Nomen, bezogen wird. 1. Es ist hier nur an Modus und Tempus zu denken. Numerus und Person sind nur das nichtausgedrückte Subject oder das dem ausgedrückten entsprechende. (über den Satz durch Ein impersonales Verbum.) 2. Der Nominativ als das einzige natürliche – im einfachen Satz ist [er] nicht als ein Casus anzusehn, und bietet also nur eine scheinbare Duplicität dar. Der Artikel ist wol nur dieser Scheinbarkeit zu Gefallen nach Analogie des Verbalartikels gebildet, oder gehört lediglich der Geschlechtsduplicität an. I 62. Erweiterte und periodische Sätze können also auch nicht in Bezug auf das formale Element auf den einfachen reducirt werden. Denn dieses wird nicht wie das materielle von innen heraus erweitert, sondern von außen her vervielfältigt. Vielmehr setzt die materiale Reduction schon das Verständniß aller formellen Elemente voraus. I 63. Die hinzukommenden Elemente bezeichnen also theils die Beziehung der nähern Bestimmungen auf Subject und Prädicat, theils die Beziehung der correspondirenden Sätze auf einander, und der untergeordneten auf das Ganze. Inwiefern die ganze Rede als auf den einfachen Satz reducirbar angesehn werden muß, gehört auch hierunter das die größern Sätze verknüpfende Element, da diese ebenfalls coordinirt und subordinirt sind. I 64. Wo ohne Schuld des Redenden für den qualificirten Hörer Schwierigkeiten entstehn, ist man mit den Erklärungsmitteln gar nicht vorläufig an den Zusammenhang der Rede selbst gewiesen. Denn im formellen Element ist nichts der bestimmten Rede besonders angehöriges zu suchen, und eben darum kann auch in dieser Beziehung der Redende weniger die Sphäre auf eine eigenthümliche Art bestimmen. Wie es in sich das schwankendere ist, so ist es auf der andern Seite das, was die wenigste Freyheit für den einzelnen zuläßt. 9 an] über der Zeile
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I 65. Das Gebiet der Parallelen ist die Analogie der ganzen Sprache, begränzt nach ihren Dialekten, Perioden, und Gattungen des Vortrags. 1. Die Begränzung ist freylich selbst wieder begränzt, denn es giebt vieles ohne Unterschied durch die ganze Sprache hindurch gehendes. 2. Man kann alle Sprachen in 3 Klassen abtheilen; a. solche, die eine reine Einheit der Formen darbieten, so daß man sie eben so gut als eine größere Einheit ansehn kann, als eigne Sprache, als auch als kleinere, Dialect, aber unvermischt geblieben unter einer größern (Hebräisch). b. Solche, die aus einer Mischung mehrerer kleinern Stämme entstanden sich eine Zeitlang als ein Chaos von vielfältigen gleichgeltenden Formen zeigen, und sich dann erst allmählig zur Bestimmtheit ausbilden. Schema: Griechisch (ursprünglich aus hellenisch und pelasgisch, vielleicht noch zusammengesetzten) In dieser sind 3 Perioden zu unterscheiden, die chaotische, der Uebergänge, und die ausgebildete. c. Solche, die erst auftraten, nachdem sie auch Sprachen von fremden Stamme in sich aufgenommen haben. Schema: Deutsch (hier verschwindet die periodische Eintheilung mehr in die gewisser Schriftsteller, welche suchen Bestimmtheit herauszubilden, und solchen, die nur der Gewohnheit und dem gemeinen Gehör folgen.) 3. Extreme der Gattungen sind didactisch und lyrisch. In jenen muß der Sinn des formalen Elements aufs genauste bestimmbar seyn, in diesen wird er relativ vag. In jenen sind die Gegensätze der Bedeutung (I, 11) die hier in Betracht kommen, streng aus einander gehalten, In diesen fließen sie in einander. I 66. In dem schwierigen Theil des formellen Elements muß man Partikel und Flexion nur als Ein Ganzes ansehn, und über dieses die Analogie vornehmen. Die größern Einheiten sind schwer als solche zu bestimmen, z. B. epi und prow oder Coniunctiv. Häufige Fehler daher, daß man die Schemata zu diesen zu früh aufsuchte. Die richtige Maxime ist daher, vorläufig die Ganzen so klein zu machen, als die Natur der Sprache zuläßt. Dieses aber liegt mehr oder weniger in jeder. I 67. Eigenthümlichkeiten einzelner Schriftsteller im formellen ElementGebrauch sind gewöhnlich Unvollkommenheiten. Weil es an deutlichem Bewußtseyn fehlt und die Selbstthätigkeit nur untergeordnet ist, gewöhnt man sich leicht an etwas. Oder man folgt wie die Kinder einer Analogie, welche sich als strenge aufdringt, und 8–9 (Hebräisch)] am rechten Rand 19 folgen.)] folgen. 31 Ganzen] zunächst in Klammern nach Gränzen; später Gränzen samt Klammern gestrichen
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doch nicht die rechte ist. Inwiefern man sprachbildend seyn darf auf diesem Gebiet. (Vergl. I. 14.) Auf dieser Verwöhnung beruht großentheils der Unterschied zwischen klassischen Schriftstellern und nichtklassischen, aus dem, wenn er auch kein klares Bewußtseyn hat, doch der Genius der Sprache als Instinct rein herausspricht. I 68. Auch den besten Schriftstellern ist es nicht möglich, hermeneutische Schwierigkeiten zu vermeiden. Die Zweydeutigkeit ist hier das herrschende, wie im Materiellen die Unbestimmtheit. Ursachen sind 1. die grammatischen Homonyme, mehr oder weniger in jeder Sprache; 2. daß nicht zu unterscheiden ist, ob eine Verbindungspartikel einen untergeordneten Theil, oder ein größeres Ganzes afficirt. Je mehr der Schriftsteller im Zustande der Begeisterung ist, um desto leichter kann er die subjective Klarheit mit der objectiven verwechseln. Geleckte Schriftsteller ohne eigentlichen Gehalt bekommen durch diese Leichtigkeit einen Schein des Klassischen. Kritische Leser finden diese Schwierigkeit mehr; andere lesen oft mit Glück darüber hinweg. Je freyer die Structur ist, um desto mehr häufen sich die Schwierigkeiten. I 69. Für diese liegt die einzige Hülfe im Zusammenhange. An Parallelen ist hier natürlich nicht zu denken. Die Hülfe liegt theils im combinirten grammatischen Verstehn des Ganzen, theils in den Resultaten der technischen Interpretation. I 70. Man muß sich alle Möglichkeiten der Beziehung zusammenstellen, und nicht eher ruhen, bis überwiegende Leichtigkeit der einen mit höchster Unwahrscheinlichkeit aller übrigen vereint sich darstellt. Sonst bleibt Gefühl von Unsicherheit zurück. – Kenntniß vom Gedankengang muß sehr viel thun. Je weniger sich die technische Interpretation ausbreiten kann, desto schwieriger bleibt es I 71. Die den Sprachen selbst einwohnende Differenz der freyeren und gebundenen Structur ist dabey von geringerm Einfluß. Denn je freyer die Structur, desto weniger grammatische Homonymie und umgekehrt. I 72. Aber je gebundener die Gattung der Rede, und je weniger fehlerhaft der Schriftsteller, um desto sicherer die Entscheidung. 11 Homonyme] davor 〈Synonyme〉 13 einen] folgt 〈kleinern Theil〉 〈gewisses〉 16 er] über der Zeile 16 objectiven] folgt 〈vergleichen〉 höchste〈n〉 36–37 fehlerhaft] folgt 〈die Rede〉
13 größeres] über 27–28 höchster]
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Denn die überwiegende Wahrscheinlichkeit beruht immer darauf mit, daß in den übrigen möglichen Fällen der Ausdruck ungenauer wäre.
[C.] Vo m q u a n t i t a t i v e n Ve r s t e h n b e i d e r E l e m e n t e . 12v
XIV
A n m e r k u n g Anknüpfung an Einl. 21. Die Schwierigkeit beruht auf Vorkommenheiten in der Geschichte der Sprache, welche erläutert werden müssen. I 73. Bey allen sogenannten Synonymen ist ein zu viel oder zu wenig verstehen möglich. Zu viel, wenn man die Differenz zwischen dem einen und dem andern accentuirt, wo der Schriftsteller sie vernachlässigt; zu wenig im umgekehrten Fall. Erläuterung über die Synonyme. Das a l l e n beruht auf dem Satz, daß es keine strenge Synonyme giebt; 1. daß nicht in einer und derselben Sprache ein und dasselbe Schema durch zwey Zeichen ausgedrückt wird, ist ein eben so nothwendiger Grundsatz, als daß nicht einem und demselben Worte zwey Schemata zum Grunde liegen. Es ließe sich kein Princip für das Gegentheil auffinden. 2. Wenn eine Sprache aus einer Mehrheit von Dialecten entstanden ist, so scheinen mehrere Zeichen für dasselbe Schema zusammenkommen zu müssen. Allein theils wird dann sehr bald die gemeinsame Einheit des Schema getheilt, und es entwickelt sich eine besondere Bestimmtheit jedes Zeichens für eine gewisse Sphäre, theils hat jeder Dialect wie jede Sprache seine eigne Anschauungsweise, also sind auch schon von Anfang an die Schemata nicht gleich. 3. Die gewöhnliche Entstehung der Synonyme ist die, daß sie ursprünglich von ganz verschiedenen Beziehungen ausgehn, aber oft auf denselben empirischen Gegenstand zusammentreffen, und daher am Ende verwechselt werden, freylich immer in einem mehr oder weniger unbestimmten Sprachgebrauch.Sie gleichen Kreisen, deren Mittelpuncte weniger als um die Summe ihrer Radien entfernt sind. Der äußere Theil ihrer Sphäre fällt also zusammen, während der innere getrennt bleibt. 2 übrigen] folgt 〈menschlichen〉 4 E l e m e n t e . ] davor 〈73. Bey allen sogenannten〉, folgt 〈Bey allen sogenannten Synonymen ist nie zu viel und zu wenig.〉 10 einen] einem 25 also] davor 〈s〉
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I 74. Man versteht das Verhältniß der Synonyme zu einander, wenn man die Fälle, wo sie einander substituirt werden können, mit denen vergleicht, wosie es nicht können. Alsdenn muß auch in jenen die verborgene Verschiedenheit entdeckt werden und das Oberflächliche in der Verwechselung zu Tage kommen. Diese Linien der verschiedenen Gebrauchsweisen von der gemeinsamen Sphäre aus bis an das Ende eines jeden Kreises zu verfolgen, und daraus hernach den Mittelpunct eines jeden zu konstruiren, ist das einzige systematische Verfahren. I 75. Die Strenge im Gebrauch muß vorausgesetzt werden im innern Theil eines jeden didactischen Vortrags. Um so mehr, je mehr hier alles construirt, jedes auf ein gewisses inneres bezogen werden muß. Wo alles innerlig ist, muß sie also überall seyn, wie beym Aristoteles. An äußeres aber, wenn es auch dem Innern materiell verwandt ist, wie häufig bey Platon, darf auch diese Sonderung nicht gemacht werden. I 76. Je weniger technisch der Charakter der Rede, um desto eher ist die Nichtberücksichtigung des Unterschiedes anzunehmen. Also bey allem was als bloßes Beywerk vorkommt, oder was sich ganz und gar dem Kreise des gemeinen Lebens nähert, wo man sich mit einer bloß empirischen Bezeichnung begnügt. I 77. In dem Maaß, als das musikalische Element vorwaltet, ist auch möglich, daß das minder adäquate sogar mit Bewußtseyn gewählt werde. Weil dann der rhythmische Effect oft von größerer Bedeutung ist, als ein kleiner Vorzug in der Genauigkeit des Ausdrucks. I 78. Die Anwendung dieser Regeln wird modificirt durch die Kenntniß von der Vortrefflichkeit des Schriftstellers. Der gute Schriftsteller auch im freyesten Dichtergebiete gebraucht diese Freyheit nur wo in dem musikalischen Verhalten der Grund zu Tage liegt und der Zusammenhang sicher leitet. Der mittelmäßige ist immer geneigt, die Gränzen zu erweitern. I 79. Z w e y t e r F a l l . Bey allen Wörtern, die ein mehr und minder zulassen, denen eine Intension beywohnt, ist auch ein zuviel oder zu wenig hineinlegen möglich. E r l ä u t e r u n g . fast alle Wörter, die keine substantiellen Formen ausdrücken, gehören mehr oder minder hieher. Auf irgend eine Weise lassen sie sich alle unter die Idee einer Thätigkeit subsumiren. (Die 19 Beywerk] zunächst in Klammern nach Beywort; später Beywort samt Klammern gestrichen 23 werde] oder wurde
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Verba sind die nächsten dazu, dann die Adverbia, die Adjectiva, und zuletzt die von Adjectiven abgeleiteten Substantiva) Jedes solches gehört einer Reihe zu, deren Glieder verschiedene Uebergänge oder Abstufungen der Intension begränzen. Der Werth der Gliederin dieser Reihe schwankt, weil von Zeit zu Zeit einige als zu schwach oder als gemein und unedel absterben. Beyspiele: vorzüglich Höflichkeitsbezeugungen und poetische Ausdrücke. Aber nicht überall ist die Corruption Ursache des Schwankens. Gewöhnlich wird hiebey nur abgehandelt, was unter die Emphase gehört. Allein dies ist nur ein für einen besondern Fall einem Worte gegebener Nachdruck, nicht das Schwankende in dem natürlichen Werth. I 80. Man muß eine Vorstellung haben von dem intensiven Durchschnittswerth eines Wortes, und deshalb bey jedem seine ganze Reihe vor Augen haben. Der Durchschnittswerth ist aber ein anderer in verschiedenen Perioden der Sprache, auch in verschiedenen Gattungen der Rede. I 81. Jeder directe einzelne Gebrauch verhält sich zu dem Durchschnittswerth entweder als ein Gehobenwerden zur höhern Stufe oder als ein Sinkenlassen zur niedrigern. Man kann die Schriftsteller einer jeden Periode und Gattung selbst eintheilen in solche, denen das eine, und solche, denen das andere Maxime und Praxis ist. – Die Mäßigung im Ganzen ist das hebende Princip des Einzelnen, die Gewaltsamkeit im Ganzen das senkende Princip. I 82. Außerdem giebt es einen indirecten Gebrauch, welcher das höchste unmittelbar dem niedrigsten annähert und umgekehrt. Das niedrigste auf eine negative Art ausgedrückt ist oft die größte Steigerung; bey den Griechen fast Regel. Das höchste kann ironisch dem niedrigsten gleichgesetzt werden. Letzteres zu verstehn werden wir Deutsche als besonders unfähig gesetzt, und es muß etwas daran seyn. I 83. Jedes kann im Einzelnen nur sicher erkannt werden an der Accentuation. Diese richtig zu fühlen erfordert hermeneutische Uebung, anfangend von der Inversion als dem fühlbarsten und gröbsten Mittel, bis zu den feinsten rhythmischen und musikalischen Verhältnissen. – Das rhythmische ist in unserer Sprache besonders bestimmt, das Intensive 5 schwankt] schwebt
7 poetische] korr. aus poetischste
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des Ausdrucks zu bezeichnen. Man sieht dies unter andern aus den komischen Effecten, welche gleich entstehn bey einer entgegengesetzten Behandlung. I 84. Was aus dem Wiederkehren desselben Schema unter verschiedenen Potenzen entsteht, gehört unter diesen und den vorigen Fall gemeinschaftlich. Erläuterung. Potenzen der Naturkraft, des Lebens, des Bewußtseyns. Da diese Potenzen erst allmählig entdeckt werden, so werden dann dieselben Ausdrücke promiscue für sie gebraucht. Feste Bestimmungen können erst sehr allmählig sich bilden, nicht einmal überall, und bleiben für diejenigen gültig, welche auf dem Standpuncte stehn, alle zu übersehn. Das Misverstehn auf dem Gebiete der Philosophie hat größtentheils hierin seinen Grund. Hier kommt alles darauf an, daß die herrschenden Vorstellungen aus dem Zusammenhange des Ganzen richtig gefaßt werden, daß man sich nicht durch die Gleichheit des Klanges verführen lasse. I 85. D r i t t e r F a l l . Es kann zweifelhaft seyn, ob Nebenvorstellungen, welche sich erzeugen, beabsichtigt sind oder nicht, und dann kann man zu wenig herausnehmen oder zuviel hineinlegen. E r l ä u t e r u n g . Jedes Wort ist zwar mit einer Einheit des Gedachten verbunden, aber nach den gewöhnlichen Gesetzen der Combination kann es doch durch Erinnerung Vorstellungen erregen, welche nicht in jene Einheit gehören. Bey jedem Hören und Lesen sind wir voll von solchen Vorstellungen. Die meisten geben sich zu erkennen als lediglich aus unserer Subjectivität entstanden; von diesen ist nicht die Rede, sie müssen vielmehr entfernt werden. Andere hat man zwar Ursach zu glauben habe der Schriftsteller auch gehabt, aber es bleibt ungewiß, ob sie bey ihm auch solche gewesen, die er wieder entfernt, oder ob er sie mit in die Absicht der Rede verwebte. I 86. Nebenvorstellungen, welche aus dem dem Schriftsteller und Leser gemeinschaftlichen subjectiven Gebiet von selbst entstehn, sind nur für beabsichtigt zu halten, wenn eine besondere Aufforderung dazu nachzuweisen ist, und wenn sie einen bestimmten Effect herbeyführen. Denn will der Schriftsteller sie, so will er auch sicher gehn, und muß etwas thun für diejenigen, welche weniger gestimmt seyn könnten, sie selbst zu finden. Da er aber eigentlich allen sich einschleichenden Vorstellungen entgegen arbeiten muß als Zerstreuungen, so kann er sie nur wollen, um etwas bestimmtes zu erreichen. 7–8 Bewußtseyns] korr. aus Bewegens 14 daß] folgt 〈eine herrschen〉 aus verwebt 36 allen] korr. aus ÐältereÑ
29 verwebte] korr.
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I 87. Unter die beabsichtigten Nebenvorstellungen gehört zuerst der bildliche Ausdruck, welcher außer der allgemeinen Aehnlichkeit auch ein besonderes Merkmal von einem Gegenstand auf den andern übertragen soll. E r l ä u t e r u n g . Nach dem obigen I. 11.12. rechnen wir vieles zum eigentlichen Ausdruck, was andern bildlicher ist. Aber eben weil wir behaupten, daß zugleich in coma arborum wirklich Haar soll vorgestellt werden, so soll wirklich das Laub unter einem fremden Schema gedacht und alle Merkmale von diesem darauf angewendet werden, also nicht nur herausgewachsene Extremitäten, sondern Ueppigkeit, Schmuck etc. I 88. Die Kraft des bildlichen Ausdrucks nimmt ab durch die Gewohnheit, und daraus kann Ungleichheit entstehn in den Vorstellungen des Lesers und Schriftstellers. 1. z. B. unter Augenweide denkt sich niemand mehr die ursprüngliche, sondern die Nebenvorstellungen sind alle verschwunden, und nur die allgemeine Aehnlichkeit ist übrig geblieben. Dies geschieht allmählig durch den Gebrauch, theils indem der Redende den Ausdruck anwendet, wo die Nebenvorstellungen nicht hingehören, theils indem die Hörenden sie übersehen, so daß hier alles anzuwenden ist was oben gesagt wurde von dem Herunterbringen starker Ausdrücke. 2. Wenn also der Ausdruck für den Hörer noch neu ist, für den Redenden aber alt: so wird jener mehr hineinlegen, als dieser will. Es kann aber auch der entgegengesetzte Fall eintreten, daß dem späteren Hörer das Bild schon alt geworden ist, und er also weniger herausnimmt. Auch aus der nationellen Vorstellungsart kann Differenz entstehn im Effect, weil dem einen hart und gezwungen vorkommt, was dem andern natürlich ist. Hier kann also nur durch Bekanntschaft mit der ganzen Denkweise richtiges Verständniß des Einzelnen hervorgebracht werden. – Zwiefaches falsches Verfahren beym Orientalismus. – Auch die Verwöhnung an das Künsteln späterer Schrifsteller, welche die Bilder nur als flores orationis brauchen, erschwert das Verständniß solcher, denen sie wirklich auf natürliche Art entstehn. I 89. Um den bildlichen Ausdruck richtig zu schätzen, muß man die ganze Reihe der Veränderungen in dem betreffenden Gebiet und so auch den Charakter des Schriftstellers vor Augen haben.
1 beabsichtigten] beabsichtigen 7 daß] folgt 〈wirklich〉 10 nur] folgt 〈〈heraus-〉〉 25 das] folgt 〈bald schon alt〉
7 wirklich] korr. aus wirkliches 30 Verfahren] Ver〈stehn〉fahren
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Das erste, um den Durchschnittswerth des Ausdrucks zur Zeit eines jeden Gebrauchs richtig zu beurtheilen (vgl. I. 80.) das andere um zu wissen, ob er zu den hebenden oder senkenden (I, 81) und ob zu den künstelnden oder natürlichen (I, 88) gehört. I 90. Im Einzelnen muß hieraus und aus den Umgebungen beurtheilt werden, wieviel sich nach der Absicht des Schriftstellers an die allgemeine Aehnlichkeit anschließen solle. Beyspiel. Wenn wir Schwarm, welches bey uns gar kein bildlicher Ausdruck ist, auch dadurch zu einem solchen machen, daß wir es von Bienenschwarm ableiten, so verstehn wir doch nur die unordentliche bewegliche Menge; die Griechen unter smhmow wo es bildlich gebraucht wird auch die Lust anzugreifen und zu stechen. I 91. Ferner gehört hieher die Art der A n s p i e l u n g , welche nicht bloß aus der subjectiven Combination des Redenden zu erklären ist, sondern objective grammatische Veranlassung hat. Jene gehört unter die technische Interpretation; die grammatische allein kann nur die Anschauung hervorbringen, daß da sich etwas findet, sie aber nicht erklären. I 92. Die objective Anspielung ist allemal verborgene Citation entweder einer Schriftstelle oder einer Thatsache aus klassischem Gebiete. E r l ä u t e r u n g . So wie die Nebenvorstellungen aus dem bildlichen Ausdruckauch könnten daneben hingestellt werden und dann das ordentliche Gleichniß entsteht, eben so könnte auch das in Erinnerung zu bringende daneben gestellt werden, und dann wäre es eine vollständige Citation. 2. Das classische Gebiet ist das, welches der Redende bey allen unmittelbaren Hörern als bekannt voraussetzen kann, wie Bibel, Homer und ein gewisses Gebiet von Geschichte. I 93. Das Zuvielherausnehmen ist hier nur möglich durch Verwechslung eines Allgemeinen mit einem Besondern oder durch reine Fiction. 1. Eben so wie die Kraft eines bildlichen Ausdruckes allmählig verlohren geht, so auch die gewisser Anspielungen durch allzuofte Wiederholung. Einzelne Redensarten aus gewissen Stellen so auch Erinnerungen an einzelne Begebenheiten werden sprüchwörtlich, wie zum Exempel wenn einer sein Weib seine Rippe nennt, macht es nur noch den Eindruck einer beständigen Sphäre, worin solche Ausdrücke üblich seyn können. Die Begebenheiten können sogar so verlohren gehn, daß sie mythisch scheinen, zum Exempel wie jene zur Ohrfeige. Wer dann noch die bestimmte Anspielung darin sucht, legt zu viel hinein. 11 smhmow] smhmew
22 könnten] oder konnten
24 gestellt] folgt 〈zu〉
38 jene] jener
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2. Das vollkommenste Schema der Fiction in diesem Sinn ist die Kabbala, der mehrfache Sinn p.p. Der eigentliche Grund ist übertriebene Meinung von dem Gehalt einer Rede, daß man in allem besondre Bedeutsamkeit sucht. Fast jeder kabbalisirt gewissermaßen mit seinem Lieblingsschriftsteller. I 94. Das Zuwenigherausnehmen ist das natürliche, weil die Citation etwas sich verbergendes ist. Wir sind besonders, weil alles für die Augen gearbeitet wird, sehr an die groben Erkennungsmittel verwöhnt, und darum wo diese fehlen, zumal bey den Alten, nur zu sehr gewiß, darüber hinwegzugehn. Darum sind hier auch noch so viele Entdeckungen zu machen. I 95. Jeder Schriftsteller muß auch in seinem unmittelbaren Kreise auf solche rechnen, denen die Verbindung nicht so leicht kömmt, und also darauf hinweisen. Irgendwo muß die Hand mit dem Finger stehn. Oft ist eine einzige Partikel eine verborgene Citationsformel. Aber freylich muß man sich erst in dieselbe Sphäre mit dem Redenden versetzt haben. I 96. Da das klassische Gebiet der Anspielung immer ein der Zeit nach entferntes ist, muß sich auch schon in der Sprache ein Kennzeichen ergeben. Das gilt freylich von den Alten mehr als von uns, wo gleichzeitige Geschichte und Philosophie der Ort wird, und mehr von Verbalcitationen als von realen. Des neuen Testaments Griechisch ist zu sehr der Septuaginta nachgebildet, und hier muß die genaue Bekanntschaft alles ersetzen. I 97. Sowol die wesentlichen Bestandtheile der Aufgabe der grammatischen Interpretation als auch der Cyclus der Hülfsmittel sind hiemit erschöpft. Es giebt nichts grammatisch streitiges mehr, als das durchgeführte, und bey dem letzten haben wir uns schon dem Gebiet des technischen genähert. Weil aber diese überall, wenn gleich von weitem mitwirken mußte, giebt es keine rechte Exemplification als nach allem durch lebendige Betrachtung eines Ganzen der Rede.
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23 Des] folgt 〈N.T. Griech.〉
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II 1. Der Sinn der Aufgabe ist, das Einzelne einer zusammenhängenden Rede als in die bestimmte Gedankenreihe des Schriftstellers gehörig zu verstehn. Natürlich nicht nur der Möglichkeit nach, sondern als eben so bestimmt nach dieser Nothwendigkeit zu erkennen, wie es grammatisch aus der Sprache erkannt wird. II 2. Als Fortschreitung von einem Einzelnen zum andern setzt die technische Interpretation die grammatische voraus. Denn es müssen wenigstens zwey Sätze erkannt seyn, um ein Element der Combination zu haben, und diese müssen also mit ihrer Verbindung zuvor grammatisch verstanden seyn. II 3. Zur Vollendung der grammatischen Seite wird die technische vorausgesetzt. Denn um das Grammatischunbestimmte zu bestimmen, wird Kenntniß des Ganzen vorausgesetzt, welches nur als Gedankenreihe da ist und nur so verstanden werden kann. Und auch im Einzelnen bey Zweydeutigkeit ist immer die Gedankenreihe einer von den bestimmenden Factoren. II 4. Die technische Operation umfaßt also auch das ganze Auslegungsgeschäft. D. h. sie muß gleich mit beginnen, und es ist nicht eher vollendet, bis sie vollendet ist. Das Inhaben des ganzen Geistes der Rede wird nur durch sie erreicht; denn bloß grammatisch behandelt bleibt sie immer nur ein Aggregat. II 5. Das technische Verstehen der Sätze beruht auf der Kenntniß der Eigenthümlichkeit des Vortragenden als auf ihrer innern Einheit. Die allgemeinen logischen Regeln der Combination sind nur negativ, Gränzpuncte über welche hinaus nichts kann verstanden werden. Eben so die besondern technischen Regeln für die einzelnen Gattungen, auch nurengere Gränzpuncte, außerhalb derer das Werk nun nicht mehr nach dem zuerst gefaßten Begriff könnte verstanden werden. Aus beiden kann nicht verstanden werden, weil aus beiden nicht combinirt wird, sowenig wie nach den musikalischen Regeln. Das einzige positive ist die individuelle Thätigkeit des Menschen in dieser bestimmten Richtung aufgefaßt.
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Eine jede geschlossene Gedankenreihe ist nur völlig zu verstehn als eine Aeußerung dieses individuellen Princips nach einer bestimmten Richtung hin, und das Erkennen der Nothwendigkeit des Einzelnen in der Rede findet nur Statt in dem Maaß als man sich das Princip selbst nachgebildet hat. II 6. Noch näher angesehn kommt alles an auf die Eigenthümlichkeit des Menschen in seinem unmittelbar auf die Darstellung gerichteten Denken. Alles Eigenthümliche in dem Menschen hängt zusammen, und trägt Einen gemeinschaftlichen Charakter. Aber dessen überall vorauszusetzenden Zusammenhang zu verstehn und nachweisen zu können, ist die höchste Probe von der Einsicht in die Individualität. Man muß also zunächst bey der Function stehn bleiben, deren einzelne Aeußerungen man betrachten will, und dies ist hier die beschriebene. Denn das Denken ohne Bezug auf die Darstellung gehört nicht hieher, weil wiederum nur sehr mittelbar aus der Composition auf die Meditation kann geschlossen werden. Eben so bilden Darstellungen anderer Art, welche nicht vom Denken ausgehn, eine ganz andere außerhalb des Gebiets der Hermeneutik liegende Function, zum Exempel wenn einer zugleich Schriftsteller und Maler ist. Was man von der übrigen Eigenthümlichkeit vorher weiß, ist immer zu brauchen, aber vorzüglich nur materiell als Notiz von in Beziehung auf das zu erklärende selbst nur äußeren Verhältnissen. II 7. Diese Eigenthümlichkeit nennen wir die Eigenthümlichkeit des Styls. Der Ausdruck Styl ist auch in andern Künsten schon üblich von der ganzen Art wie das innere Urbild der Darstellung sich allmählig verwirklicht, und also auch hier in diesem höhern Sinne zu gebrauchen. So wie Geist die Denkungsart ist, so Styl die Darstellungsart. II 8. Das Maximum der Kenntniß der Eigenthümlichkeit in ihrer Anwendung auf das Verstehn ist die Nachbildung. Das technische Verstehn selbst ist das Nachconstruiren des gegebenen; ist man nun dabey des rechten Gebrauchs des individuellen Princips ganz sicher, so muß man es auch analog auf ein anderes gegebenes anwenden können. Nachahmen von Einzelheiten im Aeußern aber ist bloß ein phantastisches Spiel. II 9. Der Styl eines Einzelnen muß einer und derselbe seyn in allen Gattungen, modificirt durch den Charakter derselben. 1. Denn da die Eigenthümlichkeit desselben von der innern Individualität ausgeht, und die Darstellung durch Sprache doch überall
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dieselbe Function ist, so muß sie dieselbe seyn. Auch ist es Aufgabe, in verschiedenartigen Werken eine Identität des Schriftstellers am Styl zu erkennen. 2. Dagegen wenn Einzelheiten in der Darstellung unverändert auch in verschiedenen Gattungen vorkommen, so tadeln wir sie als Manier, als Ziererey oder Verwöhnung, weil sie doch nicht in verschiedenen Gattungen dieselbe Bedeutung haben können. II 10. Jeder Redende hat eine überall erscheinende Eigenthümlichkeit des Styls. In der gemeinen Schriftstellerey scheint er zu verschwinden, es ist aber damit nur wie mit aller Eigenthümlichkeit. Wenn man das Gemeine erst Massenweise nimmt so gruppirt es sich doch wieder, und so findet man auch noch weiter Unterschiede. Indeß wo sie zu sehr verschwinden, muß man sich freylich an die nächsthöhere Eigenthümlichkeit halten. II 11. Die Eigenheit des Styls ist theils Eigenheit der Composition, theils Eigenheit des Sprachgebrauchs. Jenes ist die mehr nach innen liegende Seite, Wahl und Anordnung der Gedanken, dieses die mehr nach außen. Die beiden Endpuncte, weil die Composition schon bey dem primitiven entwerfen beginnt und die Sprache schon alles mimische in sich schließt. Aber nicht entgegengesetzt sondern in einander übergehend, denn es giebt Gedanken die selbst zum Ausdruck gehören, und auf der andern Seite ist in jedem bedeutenden Werk ein Bestreben Sprache eigenthümlich zu fixiren, Terminologie zu bilden, welches unmittelbar mit dem innersten selbst zusammenhängt und der eigenste Gedanke ist. II 12. Die Kenntniß dieser Eigenheit ist selbst wieder bedingt durch das vorhergegangene Verstehen einzelner Gedankenreihen. Denn aus andern Aeußerungen der Eigenthümlichkeit diese zu construiren ist noch schwieriger und vielleicht die letzte Probe. Noch weniger sind dergleichen immer gegeben. Ein drittes aber giebt es nicht. Darum nimmt die Kenntniß der Eigenheit zu mit dem Studio der einzelnen Werke, aber auch nur das erste kann den ersten Begriff von der Eigenthümlichkeit geben. Das Verhältniß ist grade wie zwischen dem Grundschema der Worte und der einzelnen Gebrauchsweise. Daher muß ein technisches Verständniß des Einzelnen und Kenntniß der Eigenheit mit Einem Act anfangen, und sich dann allmählig gegenseitig bestimmen. 1 muß] folgt 〈dieselbe〉
4 Darstellung] folgt 〈immer〉
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II 13. Vorläufige Uebersicht der Gliederung des Ganzen ist der erste Grund zu beiden, so daß auch hier Verstehen des Ganzen und des Einzelnen zugleich anfängt. Anmerkung. Durch diese Uebersicht wird zugleich das cyclische Verhältniß zwischen der technischen und grammatischen Seite aufgelöset, denn alle Andeutung auf nähere grammatische Bestimmung der Elemente geht von hier aus. Aus der Gliederung erhellt die Idee des Ganzen, und in dieser muß die Eigenthümlichkeit liegen, weil sie die besondere Art ist, den Gegenstand zu fassen. Auf der andern Seite wird das Einzelne nur technisch verstanden durch die Beziehung auf die Idee des Ganzen, Nachconstruction. Nur darf man das so entstandene Bild nicht anders als für wandelbar halten. Es muß seine Bestätigung erst erhalten durch das Studium des Einzelnen. Das Gelingen auf den ersten Wurf ist Werk der hermeneutischen Fertigkeit. Man muß also aufmerksam seyn auf jeden Widerspruch der sich beym fortschreitenden Studium entdeckt. II 14. Die vorläufige Uebersicht kann ihren Zweck nur erreichen, wenn man gehörig vorbereitet dazukommt. Nur im zusammenhangenden Studium (Siehe Einleitung) Ohne Kenntniß der Gattung kann man nicht die Eigenthümlichkeit der einzelnen Production finden, und so auch nicht ohne Kenntniß der Sprachperiode. II 15. Technisch angesehn besteht jede Rede aus zweyerley Elementen: überwiegend objectiven und überwiegend subjectiven. Auch die allersubjektiveste Rede hat ein Object. Wenn es auch nur darauf ankömmt eine Stimmung darzustellen, so muß doch ein Gegenstand gebildet werden an dem sie dargestellt wird. Wenn auch ursprünglich in der Fantasie frey erzeugt, schwebt er doch alsdann dem Dichter vor als Gegenstand und bindet ihn. Alles nun was unmittelbar auf die Darstellung dieses Gegenstandes sich bezieht, gleichsam aus ihm hervorgeht, gehört zu den objectiven Elementen; alles übereinkommende, wodurch der vortragende mehr noch auf eine andre Art sich selbst ausspricht als den Gegenstand, zu den subjectiven. Streng ist aber auch dieser Gegensatz nicht. Es giebt kein rein objectives in der Rede; es ist immer die Ansicht des Vortragenden, also subjectives darin. Es giebt kein rein subjectives, denn es muß doch der Einfluß des Gegenstandes seyn der grade dieses herausgreift. 4 Anmerkung] davor eine öffnende Klammer
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II 16. Die Uebersicht ist das Herausgreifen der wichtigsten objectiven Elemente in ihren organischen Verhältnissen. Denn das Subjective ist im Vergleich mit diesen nur Nebensache, und das einzelne objective wird zu dem Verstehn der einzelnen Theile verwiesen. Die organischen Verhältnisse sind die Verbindung in welcher die Hauptelemente das Ganze darstellen sollen. II 17. Das Nachconstruiren des Gedankenganges ist durch die allgemeine Uebersicht bedingt. Der Vortragende ist in einer zwiefachen Function; er ist in der Gewalt des Gegenstandes im objectiven Element, und er ist außer dieser Gewalt, sie hemmend, unterbrechend im subjectiven Element, welches das retardirende Princip in der Darstellung ist. Das Nachconstruiren beruht vorzüglich darauf, daß man das Verhältniß beider Functionen und ihr Ineinandergreifen verstehe. Dazu gehört aber zuerst die allgemeine Sonderung ihrer Resultate, und dann, daß dem Verstehenden das jedesmal nächste objective vorschwebe um die Abweichung bemerken zu können. II 18. Die Eigenthümlichkeit der Composition erhellt zunächst aus der allgemeinen Uebersicht. Aus der Einheit des Bildes um desto mehr, je mehr schon das objective selbst subjectives in sich hat, eigenthümliche Ansicht enthält. Aus der organischen Gestaltung desselben, je mehr nur die Behandlung das Individuelle enthalten kann. Beides ist nie ganz von einander gesondert aber es relativiert sich. II 19. Je mehr die Rede in das Gebiet der Theorie fällt, um desto mehr muß sich schon in der allgemeinen Uebersicht die Eigenthümlichkeit der materiellen Sprachbehandlung oder des Wortgebrauchs entdecken. Denn die eigenthümliche Anschauung muß sich dann am meisten in der Uebersicht schon zeigen und kann sich je deutlicher sie sich zu entwickeln anfängt, um desto mehr nur in einem eigenthümlichen Wortgebrauch aussprechen. Der Mittelpunct dieses Gebiets ist die transcendentale Philosophie, von da aber verbreitet es sich durch die realen Wissenschaften zu jeder philosophirenden Behandlung irgend eines auch empirischen Gegenstandes. Der eigenthümliche Sprachgebrauch muß nach Maaßgabe der Vollkommenheit des Schriftstellers darin bestehn, daß nach einer bestimmten Analogie die Worte in einem gewissen Theil ihrer Sphäre gebraucht werden, oder Gegenstände nach gewissen in der gewöhnlichen Benen24 nie] über der Zeile
27 Sprachbehandlung] Sprach〈elemente〉behandlung
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nung gar nicht aufgenommenen Beziehungen benannt werden. (Beyspiele; entgegengesetzter Sprachgebrauch über die elektrischen Pole) Je mehr von Theorie entfernt, um desto mehr kann sich die Eigenthümlichkeit der formalen Sprachbehandlung nur in dem zeigen was für die gegebene Rede Nebensache ist und zufällig, doch aber wieder als eigenthümlich in irgend eine andere Theorie hineingehören muß. II 20. Die Eigenthümlichkeit des formellen, rhythmischen Sprachgebrauchs erhellt aus der allgemeinen Uebersicht um desto mehr, je größer, und um desto weniger, je geringer die Spannung ist zwischen dem objectiven undsubjektiven Element. Die Größe der Spannung beruht eines Theils auf dem starken immer qualitativen Auseinandertreten der Gegensätze, wo z. B. das objective selbst schon einen großen Theil von Subjectivität hat, ist sie gering; andern Theils darauf, daß nicht quantitativ das eine Element zu sehr zurückgedrängt ist. Also wo qualitativ starke Objectivität mit einem quantitativ auch starken Antheil Subjectivität zusammenkommt. Im Fall der starken Spannung nun müssen eben die einander entgegengesetzten Glieder auch rhythmisch herausgehoben werden, und sich dadurch die Art aussprechen wie sie in dem Vortragenden Eins sind. Geringe Spannung bezeichnet sich daher durch Gleichförmigkeit der rhythmischen Behandlung und in dieser kann die Eigenthümlichkeit sich nicht so zeigen daß sie schon in der Uebersicht heraustrete. z. B. a. lyrisch großperiodisch und dystichialisch b. Philosophisch in Aristotelischer Manier wegen ganz mangelhafter Subjectivität gleichmäßig zerschnitten. Dagegen in starker Spannung platonische und viel historischer und philosophischer. Der Rhythmus muß dann den Gegensatz zwischen beiden Elementen verfolgen und also schon in der Uebersicht heraustreten. II 21. Da die allgemeine Uebersicht ihren Endzweck nicht immer erreicht, muß die Möglichkeit zu einem Irrthum darin liegen welcher zu vermeiden ist. Falsche Ansichten von Werken der Rede herrschen oft. Ist aber durch die allgemeine Uebersicht ein Bild des Ganzen entstanden, so läßt man sich das nicht leicht durch Einzelheiten verderben, sondern trachtet vielmehr sie in Uebereinstimmung mit jenem zu bringen. Also rührt die Unrichtigkeit schon von jenem her. 27 Dagegen] folgt 〈ist〉
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II 22. Die objective Einheit wird nothwendig gefunden durch Zusammenhalten von Anfang und Ende. Jeder Anfang ist auf gewisse Art Ankündigung oder giebt wenigstens vom ersten Punct aus eine Richtung im Allgemeinen an. Das Ende muß nicht immer das buchstäbliche seyn, denn es können noch einzelne Ausführungen hintennach kommen, so daß es vielleicht fast als Culminationspunct in der Mitte steht. Aber das vollendende Rückweisen auf den Anfang auf irgend eine Art ist immer entscheidend. II 23. Die objective Einheit ist aber nicht immer das Thema des Werkes. Das Thema ist das was der Redende in denen für welche er darstellt hervorbringen will, und selten ist dies nichts anderes als daß er sie die objective Einheit will kennen lehren. Das findet nur statt in der rein objectiven Kunstvorstellung wo alles im Gegenstande aufgehn muß und kein äußerer Zweck der Darstellung stattfindet, und in der rein empirischen, wo der Darstellende nur der niedere Sinn für andere seyn, ihnenErfahrungsstoff suppeditiren will. Nun giebt es freylich kein absolutes Object und objective Einheit; jedes Object wird für jeden und also liegt nothwendig das Gesetz nach welchem es ihm geworden ist mit in der Darstellung. Aber wenn dies nur Eins für ihn mit dem Object ist, so fallen doch Object und Thema zusammen. Jedes Object aber läßt sich zugleich behandeln als Schema, woran etwas andres dargestellt wird. Dies ist immer in gewissem Sinne das Gesetz seines Werdens aber in dem Maaß als es besonders heraustritt treten doch auch objective Einheit und Thema aus einander. zum Exempel Schillers dramatische Darstellungen als Exempel seiner Theorie des Erhabenen etc. Viele historische als Exempel von großen Begebenheiten aus kleinen Ursachen, oder um politische Lehren zu geben oder moralische Wahrheiten ins Licht zu setzen. Selbst bey philosophischen Darstellungen findet dies statt, die objective Einheit kann eine Begriffsreihe seyn oder aus einem untergeordneten realen Gebiet, und das Thema eine höhere Anschauung oder ein methodisches Gesetz. II 24. Wenn man das Thema hinter dem Object nicht gefunden hat, so hat man einen falschen Totaleindruck. Es verbirgt sich oft absichtlich theils um Inconvenienzen zu vermeiden und desto sicherer zu überreden, theils damit die Darstellung den vornehmeren Schein reiner Objectivität gewinne.
26 seiner] über 〈sind〉
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Der Irrthum ist um so gefährlicher, weil das Verhältniß der Nebensachen zu den Hauptsachen nicht kann erkannt werden, wenn man das übersehen hat, was dem Redenden am meisten die Hauptsache ist. II 25. Wer selbst in einer speciellen Ansicht befangen ist sucht leicht ein besonderes Thema wo es keines giebt oder ein falsches. Zu letzterem gehört schon große Verblendung und ist fast nur möglich wenn wie bey den gekünstelten Erklärungsarten das Subjective objectivirt wird. Ersteres begegnet den rein objectiven Darstellungen sehr leicht. Es giebt ein Supponiren der eigenen Ansicht aus Vorliebe so wie der entgegengesetzten aus Verdacht. Die Erklärung muß ganz falsch werden, weil man immer in der Combination und im Nebenwerk fortfährt zu suchen was nicht da ist. II 26. Jedes besondre Thema ist zu erkennen theils an der Art, wie es das Gebiet des subjectiven beherrscht, theils an polemischen Beziehungen. Ersteres weil es wenn es sich verbergen will und den Verdacht entfernen als habe es das Objective getrübt, es doch irgendwo heraustreten muß, nämlich im Subjectiven. Letzteres weil jeder besondern Ansicht eine andre feindlich gegenübersteht, und je mehr jene nur unbemerkt wirken will um desto mehr ausdrücklich geschehen muß, um diese zu entfernen. II 27. Das Eigenthümliche in der Composition eines Werks wird erlangt wenn man das Subjective in dem Objectiven erkennt. Nämlich das Eigenthümliche im Geiste, in der Anordnung. – Wenn man sich ein reines Object denkt, so ist es ein Unendliches der Darstellbarkeit. Denn alles ist, wie sichtbares, anzuschauen Eins, wiederzugeben aber als Successives wie unendlich Theilbares. Das Princip also wornach Einiges herausgenommen wird um das Ganze zu repräsentiren, ist ein subjectives. So weit man mit dem Scheidungsproceß beider Elemente und dem Auffassen des objectiven herabsteigt ist immer dasselbe gültig. II 28. Die nächste Probe ob man es erkannt hat ist, wenn man in den einzelnen, organischen Theilen des Ganzen es als dasselbe erkennt, wie in der allgemeinen Uebersicht des Ganzen selbst. Denn da jeder organische Theil, in welchem einer von jenen schon gefundenen Hauptpuncten eine objective Einheit, das Centrum ist, sich wieder eben so verhält, so muß auch das Subjective in beiden sich einerley verhalten. Wo das nicht ist zeigt der Schriftsteller große Unvollkommenheit und sein Werk ist nur eine zusammengeworfne Masse, wenigstens aus heterogenen Imitationen zusammengesetzt oder der
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Leser hat etwas für einen Hauptpunct genommen, was keiner ist. Solche Gefahr entsteht vorzüglich aus großen stückähnlichen subjectiven Massen, Episoden, Digressionen, etc. II 29. Eigenthümliches jeder Art zu erkennen müssen zwey Methoden verbunden werden, die unmittelbare und die comparative. Man will gewöhnlich mit der letztern allein ausreichen; allein es ist eigentlich nie etwas unmittelbar zu vergleichendes da, sondern alles in zwey Werken Einer Art ist heterogen, denn der Organismus wird in jedem durch das subjective Princip bestimmt. Was also in dem einen ein organischer Theil ist, dem steht in dem andern nur ein anorganischer gegenüber. Also wird entweder der eine zu Grunde gelegt, geschont, und der andere zerstückelt oder aus beiden nur anorganische Einzelnheiten verglichen. Die unmittelbare ist die, daß man durch Gegeneinanderhaltung des Werks und der reinen Idee seiner Gattung physiognomisch das subjective Princip zu erkennen suche. Denn die reine Idee der Gattung ist ein rein objectives, unter welchem alle Individuen als nähere Bestimmungen implicite enthalten sind. Die letztere verschafft ein Gefühl welches sicher genug seyn kann, für sich aber nicht zur Klarheit der Mittheilung erhoben werden kann. Daherbeide zu combiniren sind, nämlich physiognomisch angeschaute Werke im Einzelnen also unter der gemeinschaftlichen Idee der Gattung mit einander zu vergleichen.1 II 30. Eigenthümlichkeit ist also nicht zu erkennen ohne vollständiges Studium. 1. Nur in dem Maaß als man mehrere Werke derselben Art vergleicht, kann die Kenntniß des Einzelnen sich vervollständigen. 2. Wenn Einer in mehrern Gattungen componirt muß man auch seine Werke verschiedener Gattung vergleichen und die Identität des subjectiven Prinzips der Structur darin auffinden. Eine der schwersten Aufgaben aber auch der besten Uebungen.2 1
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(Das Subjective nachzukonstruiren hat man 3 Haltungspuncte; 1. die allgemeinen Gesetze der Phantasie, (Ideenassociation) 2. die besondere Bestimmung durch einen gewissen Zweck (durch eine gewisse Stimmung, z. B. wenn jemand im Begriff ist eine gerichtliche Rede zu schreiben, oder eine phantastische Erzählung) 3. die persönliche Eigenthümlichkeit der Phantasie.) (Zusaz während des mündlichen Vortrags) (Die Probe der gelungenen Operation ist die Nachbildung, oder Zutreffen des im voraus von ihm divinirten)
32 Das ... man] korr. aus Man hat hier 36 (Zusaz] folgt 〈d〉 rechten Rand 38–39 (Die ... divinirten)] am linken Rand
32–37 (Das ... Vortrags)] am
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II 31. Die Eigenthümlichkeit zeigt sich nicht nur in der materiellen Seite der schriftstellerischen Gesinnung sondern auch in der formellen. Alles Bisherige betrift also nur ihre eine Hälfte, und die Betrachtung des objectiven allein führt auch nicht weiter. Die formelle Seite zeigt sich nur durch das Verhältniß des Objectiven zum Subjectiven. II 32. Das Herausgreifen der objectiven Elemente ist die Basis für die Nachconstruction des Gedankengangs. Man sieht nur den Schriftsteller in so fern er sich in der Gewalt des Gegenstandes befindet (Siehe 17) Jedes Fortschreiten von einem objectiven Element zum andern ist das Product dieser Function. Diese ist als die Gewaltthätigkeit zu denken, in welche sich alle Unterbrechungen von der subjectiven Function aus fügen müssen, und welche also die Rückkehr vom Subjectiven zum Objectiven bestimmt. Man muß sie also während der Unterbrechung nur als gehemmt denken. II 33. Alle subjectiven Elemente der Rede haben ihren Grund in der fließenden individuellen Combination welche den objectiven Proceß hemmt. Man sehe § 15. – Der objective Proceß ist gleichsam das starre im Gegensatz des fließenden. Beide sind durch einander bedingt. Jeder objective Proceß entwickelt sich nur aus dem Fließenden. In diesem entsteht die erste Idee jeder Darstellung. Wenn der objective eingeleitet ist, dann ist der fließende untergeordnet. Alles gebildete ist eine lebendige Einheit von beiden. II 34. Es kann nicht als Zufall oder Willkühr angesehen werden was für subjective Elemente in einer Rede vorkommen. Denn dann gäbe es gar keine technische Interpretation. Dennoch ist die Meinung ziemlich allgemein. Sie ist entstanden durch das große Heer der nachahmenden und gezierten Schriftsteller, von deren Verfahren eine seichte Theorie ihre Regeln abstrahirt. II 35. Die subjectiven Elemente werden in ihrem Vorkommen nur verstanden in wiefern ihre Objectivität erkannt wird. Denn warum kommt von allem möglichen gerade nur dieses vor, als weil der Gegenstand nach der Eigenthümlichkeit des Schriftstellers darauf führt. Diese im großen verstehen heißt die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers in dieser Hinsicht verstehen; in der Anwendung auf einzelne Fälle, den Ideengang nachconstruiren.
36 in] davor 〈verstehen〉
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II 36. Die erste Bedingung ist die Kenntniß der Totalität alles dessen was bey einem Schrifteteller als subjectives Element vorkommen kann. Natürlicher Gegensatz mit dem Objectiven. Dort mußte man zuerst die Einheit auffassen, hier die Totalität alles Manigfaltigen, um die Wahl auch als Ausschließung zu verstehn. Die n e g a t i v e Seite davon ist, daß man sich nicht unbewußt oder indirect bey ihm als möglich denke, was nur bey uns möglich ist, seinem Materiale das unsrige unterschiebe. Gewöhnliche Fehler. Bey Alten und Fremden erscheinen uns oft deswegen die subjectiven Elemente hart, weil für uns vieles zwischen ihnen und dem Objectiven liegt, was für sie gar nicht da war. Die p o s i t i v e Seite ist also die Kenntniß seines Zeitalters, seiner persönlichen Verhältnisse, alles desjenigen was er wissen mußte, wenn es auch nicht wirklich vorkommt. II 37. Der Grad wie einen jeden das Materiale seines Bewußtseyns interessirt erhellt aus der Art, wie es als subjectives Element vorkommt. 1. Eines nämlich kommt so theils gar nicht vor, theils nur bey dringenden kaum zu umgehenden Veranlassungen. Dies ist also Vernachlässigung, Mangel an Interesse, wenn nicht besondere Gründe da sind es als absichtliche Vermeidung anzusehn. 2. Anderes kommt häufig oder selten (denn dies kann rein vom Objectiven abhängen) vor, aber immer bey leicht zu erklärenden Veranlassungen. Dies ist das gemeine Element des Bewußtseyns welches sich von selbst darbietet wenn man es braucht, oder welches man sehr leicht brauchen kann wenn es sich darbietet. 3. Anderes kommt ebenfalls häufig oder selten vor, aber so daß es gesucht scheint und die Veranlassung zu [ ] ist. Dies sind die Gegenstände, welche fast immer nur zu gewisser Zeit das Bewußtseyn intriguiren. II 38. Der Grad in welchem bey einem Schriftsteller die objective und die subjective Function (Kunst im engern und Leben im weiteren Sinn) auseinander treten, erhellt daraus, wie nach Maaßgabe der Gattung das subjectiveElement häufig oder sparsam eintritt. 1. Nach Maaßgabe der Gattung. Denn einige vertragen mehr und andre weniger subjectives, strenge und anmuthige. Aber jede läßt Spielraum nach beiden Seiten. Also ist es der Charakter des Schriftstellers der in diesem Spielraum jedes Werk nach der einen oder andern Seite neigt. 15–16 interessirt] interressirt 27 [ ]] Lücke im Manuskript; am rechten Rand ein Versuch (wohl von Twestens Hand), den Befund wenigstens abzubilden, wobei nur als etwa dritter Buchstabe (von 6 oder 7) ein h erkennbar scheint. Es mag aber auch ein (unlesbarer) Ergänzungsvorschlag von anderer Hand sein. 31 die] über der Zeile
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2. Kunst und Leben. Wem dieser Unterschied nun am klarsten vor Augen tritt der reißt sich auch am meisten von der subjectiven Combination los im Componiren. Plebeje Schrifsteller sind die welche dies gar nicht vermögen. II 39. Jedes Werk, der Kunst im weitern Sinn angehörig, ist zugleich Handlung, dem Leben im engern Sinn angehörig. Je mehr es dem Schriftsteller nach Maaßgabe der Gattung so erscheint, um desto mehr bekommt das subjective Element Nebenbeziehungen welche etwas im Leben bewirken sollen. 1. Nach Maaßgabe der Gattung. Es giebt solche die es weit weniger vertragen zugleich ins Leben einzugreifen; dies sind allgemeingültige Werke. Solche in denen die Beziehungen aufs Leben dominiren sind Gelegenheitsschriften. Werke die außer der objectiven Einheit noch ein Thema haben, gehören oft in die Mitte zwischen beiden aber auf der objectiven Seite liegend. Außer der Gattung wirkt auch noch die Zeit. Oeffentliches Leben bringt sich die Kunst näher. Unterschied zwischen Platon und Aristoteles. Ueberall aber bleibt auch hier freyer Spielraum für den Schriftsteller. A n m e r k u n g . Diese Eintheilung und die im § 38 sind nicht mit einander zu verwechseln; jedes Glied der einen kann zu jedem Gliede der andern gehören. 2. Zu den Nebenbeziehungen aufs Leben läßt sich auch alles rechnen was eine Schrift als populair charakterisirt, d. h. alle Berücksichtigung und Benutzung besonderer Stimmungen um den Zweck des Werkes zu erreichen. Bey jedem Worte denkt sich zwar der Schriftsteller ein gewisses Publicum und befindet sich mehr oder weniger im Dialog mit demselben, aber was in diesem vorübergehend ist im Auge haben heißt immer ins Leben eingreifen. Strenge ist dieser Gegensatz auch nicht. Denn in dem Maaß als der Schriftsteller neues, neue Wahrheiten vorträgt, wird er auch populäre Elemente anbringen müssen. II 40. Die aus dem objectiven nicht unmittelbar hervorgehende Eigenthümlichkeit des Sprachgebrauchs ist aus der Totalität des subjectiven Elements nicht sicher zu schließen Beym Zusammenfassen des Subjectiven kann sich mancherley in der Sprache finden was eigenthümlich erscheint. Theils aber kann man 32 auch] folgt 〈Ðmeh Ñ〉
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beyAlten und Fremden zumal nie wissen, ob es nicht Gemeingut einer Zeit oder einer Gattung ist; theils wenn es sich nur im subjectiven Elemente als solchem offenbart, also rein aus der Persönlichkeit hervorgeht, so kann man es nur als Manier bemerken. II 41. Was als subjective Eigenthümlichkeit des Sprachgebrauchs soll gelten, muß fundirt werden können in einer objectiven. Was zum objectiven in Einem Werk gehört kommt je mehr es eigenthümliche Anschauungsweise enthält also auch Sprachgebrauch fundirt, auch wieder als subjectives in andern. Alles [ ] eigenthümliche des Sprachgebrauchs muß aber von einer eigenthümlichen Anschauungsweise herrühren, die in den meisten Fällen wohl ein objectives gebildet hat, vielleicht in einem verlorenen Werk; wenn sie aber auch wirklich nur so fragmentarisch aufgestellt ist, muß doch die Analogie zwischen ihren einzelnen Elementen aufgefunden werden können, und dies ist der einzige wahre Beweis. II 42. Die Sprache selbst ist eine Anschauung; also kann auch Eigenthümliches des Sprachgebrauchs gegründet seyn nur auf eine eigne Anschauung der Sprache. Das meiste was wir einem Gefühl zufolge für eigenthümlich halten ohne uns genau davon Rechenschaft geben zu können beruht hierauf. Eigene Anschauung der Sprache ist meist eine besondere Ansicht von der Relation ihrer organischen Theile gegen einander und kann die Relation formeller und materieller Elemente zu einander so wie auch des musikalischen und grammatischen in der Sprache betreffen. Einzelne Schriftsteller scheinen bestimmt die Kraft gewisser Wendungen zum Bewußtseyn zu bringen, 1. veredelt oder gemildert etwas aus einer Sphäre der Sprache in die andere zu verpflanzen; 2. überwiegende Neigung Worte nach einer gewissen Seite hin zu gebrauchen, oder die nur einer bestimmten Sphäre angehörten allgemein zu machen, rhythmische Spiele und Combinationen, Wortspiele, Anakoluthien. Im Allgemeinen muß man als Element dieser Eigenthümlichkeit etwas ansehn, was einen Schein von Sprachgesetzwidrigkeit hat und jedem andern schwer zu finden und schwer durchzuführen scheint. Soll es aber von allem Vorwurf Manier zu seyn ganz befreyt werden, so muß man das gemeinsame Princip davon aufsuchen, und einigermaßen entwickeln können. 9[ ]] Lücke im Ms.; statt des fehlenden Worts hat Twesten (oder ein anderer) wiederum eine Art Abbildung des Befunds wiedergegeben, wobei weder Ober- noch Unterlängen erkennbar sind und nur am Ende das Kürzel für ,lich‘ lesbar scheint. 29 angehörten] angehör〈igen〉ten
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II 43. Das lebendige Zusammenwirken aller bisher angedeuteten Momente erzeugt das vollkommene Verstehn. Zusammenwirken ist nothwendig: denn streng genommen kann keine Stelle durch Anwendung Eines Verfahrens allein verstanden werden. Wenn man wo objectives und subjectives auch nur als ein minimum ist übersieht,vergrößert sich der Fehler immer mehr. Daher so oft ein sehr klares Verstehen einzelner Stellen ohne wahres Verständniß des Ganzen. Dagegen Dunkelheit einzelner Stellen bey richtigem Verständniß des Ganzen immer ihren Grund haben wird in der mangelhaften Kenntniß von etwas außer dem Werke selbst. II 44. Das vollkommene Verstehn in seinem Gipfel aufgefaßt, ist ein den Redenden besser Verstehen als er selbst. Weil es nämlich theils eine Analyse seines Verfahrens ist, welche zum Bewußtseyn bringt, was ihm selbst unbewußt war, theils auch sein Verhältniß zur Sprache in der nothwendigen Duplicität auffaßt welche er selbst nicht darin unterscheidet. Eben so unterscheidet er auch [nicht] was aus dem Wesen seiner Individualität oder seiner Bildungsstufe hervorgeht von dem was zufällig als Abnormität vorkommt, und was er nicht producirt haben würde, wenn er es unterschieden hätte. Die Wahrheit geht daraus hervor, daß wenn ein Schriftsteller sein eigner Leser wird, er mit den andern in eine Reihe tritt und ein anderer es besser seyn kann als er selbst; auf jeden Fall wenigstens auch ihre Schwierigkeiten und Dunkelheiten entstehn aus dem unbewußten Theil seiner Arbeit. II 45. Der Unterschied zwischen leichten und schweren Schriftstellern besteht nur dadurch daß es kein vollkommenes Verstehn giebt. Nemlich ein solches welches zugleich mit einem vollkommenen Gegebenseyn aller nothwendigen Bedingungen anfinge müßte diesen Unterschied aufheben; denn weder ist ein Einzelnes als Sprache schwerer zu verstehn als das andere, wenn die Sprache vollkommen gegeben ist, noch auch ist eine Subjectivität an und für sich unverständlicher als die andere. Das Unüberwindliche dieses Unterschiedes liegt aber außer dem unvollkommenen Gegebenseyn der Sprachen zumal der alten in allen ihren Perioden und Formen 1. theils in den Schriftstellern selbst; die schweren nämlich sind die confusen welche theils die Idee ihrer Gattung nicht rein aufgefaßt theils die Sprache nicht genug in ihrer Gewalt theils ihre Individualität nicht rein genug herausgearbeitet haben, so daß man vor Ausnahmen nicht zur Regel kommen kann. Diese ist es
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nicht möglich vollkommen und sicher zu verstehn. 2. theils in den Lesern, weil nemlich nicht jeder eine gleiche Verwandtschaft hat zu allen Gebieten, sondern wie die Composition selbst so auch das Verstehen neigt sich bey den meisten auf eine Seite hin, oder wo es nach allen gleich gerichtet ist, da umfaßt es gewiß mehr die grammatische Seite als die technische. Das Verstehen in seiner Totalität ist also immer ein gemeinsames Werk.
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II 46. Die Vorschriften der Auslegungskunst sind näher bestimmbar, wenn sie auf ein bestimmtes Gegebnes bezogen werden, woraus die speciellen Hermeneutiken entstehn. Da in jedem einzelnen Fall eigentlich alle hier gegebenen Vorschriften in Anwendung kommen und sich also gegenseitig bestimmen müssen, welches immer eine Aufgabe ist, die sich nur unmittelbar practisch genau, durch die Theorie aber und analytisch nur vermöge der Annäherung auflösen läßt, so liegt in der Natur eines jeden Ganzen schon theils ein negativer Grund gewisse Wechselbestimmungen auszuschließen, theils ein positiver, gewisse andere dominirend hervorzuheben. Diese vorher zusammenzufassen erleichtert die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften, und ist also ein fast unentbehrliches Mittelglied zwischen diesen und der Ausübung selbst. II 47. An die grammatische Seite schließen sich an die Specialhermeneutiken der verschiednen Sprachen, an die technische die der verschiednen Gattungen. Denn für jene sind die Sprachen die höchste gegebene Einheit, welcher ihre Dialekte und Perioden untergeordnet sind; für diese eben so die Ideen der Gattungen. Bey der Auslegung selbst müssen wiederum beide in Bezug auf ein gegebenes Individuum combinirt werden. II 48. Die Specialhermeutiken sind einer weniger strengen scientifischen Form fähig. Weil sie wesentlich einen empirischen Theil haben. Denn weder die einzelnen Sprachen in ihrer Eigenthümlichkeit noch auch die wirklich bestehenden Gattungen sind deducibel. 14 bestimmen] besinnen 18–19 auszuschließen] aus〈sch〉zuschließen 〈aber〉 29 wiederum] korr. aus wieder, um
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Insofern der empirische Theil überwiegt, stellen sie sich nur als eine Masse von Observationen dar. Insofern man aber in dem gegebenen die Einheit zu finden und es in eine reine Anschauung aufzulösen sucht, wird ebenfalls alles mit Nothwendigkeit gesagt. Beide Verfahrungsarten müssen verbunden werden in der Idee, daß sie allmählig zusammenfallen, was aber freylich niemals geschieht. II 49. Wie die grammatische Seite der Hermeneutik sich auf die Sprachlehre bezieht, so die technische auf die Kunstlehre. Nemlich jene werden mit und durch einander sich gegenseitig bedingend und so auch diese. Kunstlehre nämlich auf die redende Kunst bezogen. Vernachlässigung der Hermeneutik muß Fehler in beiden hervorbringen. Grammatische Observationen werden zu allgemein wenn man den Elementenselbst zuschreibt was nur durch und für einen bestimmten Zusammenhang gilt, und zu zaghaft, wenn man die Objectivität einzelner Beyspiele nicht anerkennt. Von der Theorie der Composition gilt dasselbe, denn sie ist doch Nachconstruction welche voraussetzt daß man die Componirenden als solche nicht richtig verstanden hat. – Beyspiele von der Theorie der Franzosen die fast überall in den alten Kunstwerken das subjective und objective Element verwechselt haben. II 50. Die Kritik ist mit ihren beiden Zweigen auf die beiden Seiten der Hermeneutik und die ihr correspondirenden Disciplinen gepfropft.
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BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 83
Hermeneutik
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Einleitung
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angefangen den 19ten April 1819 in 4 wöchentlichen Stunden 1. Die Hermeneutik als Kunst des Verstehens existirt noch nicht allge5 mein sondern nur mehrere specielle Hermeneutiken Asts Erklärung S. 172, Wolf S. 37 1. Nur Kunst des Verstehens; nicht auch der Darlegung des Verständnisses. Dies wäre nur ein specieller Theil der Kunst zu reden und zu schreiben der nur von den allgemeinen Principien abhängen könnte 10 2. Aber auch nicht nur schwierige Stellen in fremden Sprachen. Bekanntschaft mit dem Gegenstand und der Sprache wird vielmehr vorausgesezt. Ist beides so, so werden Stellen nur schwierig weil man auch die leichteren nicht verstanden hat. Nur ein kunstmäßiges Verstehen begleitet stetig die Rede und die Schrift 15 3. Man hat gewöhnlich geglaubt wegen der allgemeinen Principien sich auf den gesunden Menschenverstand verlassen zu können, aber dann kann man sich auch wegen des besondern auf das gesunde Gefühl verlassen. 2. Es ist sehr schwer der allgemeinen Hermeneutik ihren Ort anzuweisen. 1. Eine Zeitlang ist sie allerdings als Anhang der Logik behandelt worden aber als man alles angewandte in der Logik aufgab mußte dies auch aufhören. Der Philosoph an sich hat keine Neigung diese Theorie aufzustellen weil er selten verstehen will selbst aber glaubt nothwendig 25 verstanden zu werden. 2. Die Philologie ist auch etwas positives durch unsre Geschichte geworden. Daher ihre Behandlungsweise der Hermeneutik auch nur Aggregat von Observationen ist
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2 Einleitung] am rechten Rand; darüber die Datierung angefangen ... Stunden logie] logie über 〈sophie〉
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5f Die Notiz zu Ast und Wolf mag 1819, 1828, 1832 oder dazwischen gemacht sein; vgl. auch den Apparat auf S. 730
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3. Da Kunst zu reden und zu verstehen einander gegenüberstehen, reden aber nur die äußere Seite des Denkens ist so ist die Hermeneutik im Zusammenhange mit der Kunst zu denken und also philosophisch. 1. Jedoch so daß Auslegungskunst von Composition abhängig ist und sie voraussezt. Der Parallelismus aber besteht darin daß wo das 5 Reden ohne Kunst ist bedarf es zum verstehen auch keiner 4. Das Reden ist die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens, und hieraus erklärt sich die Zusammengehörigkeit von Rhetorik und Hermeneutik und ihr gemeinsames Verhältniß zur Dialektik. 1. Reden ist freilich auch Vermittlung des Denkens für den Ein- 10 zelnen. Das Denken wird durch innere Rede fertig und in so fern ist die Rede nur der gewordene Gedanke selbst. Aber wo der Denkende nöthig findet den Gedanken sich selbst zu fixiren, da entsteht auch Kunst der Rede, Umwandlung des ursprünglichen p und wird hernach auch 15 Auslegung nöthig 2. Die Zusammengehörigkeit besteht darin daß jeder Akt des Verstehens ist die Umkehrung eines Aktes des Redens, indem in das Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen 3. Die Abhängigkeit darin daß alles Werden des Wissens von bei- 20 den abhängig ist 5. Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers: so besteht auch das Verstehen auf den zwei Momenten die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Thatsache im Denken- 25 den 1. Jede Rede sezt voraus eine gegebene Sprache. Man kann dies zwar auch umkehren, nicht nur für die absolut erste Rede sondern auch für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden; aber die Mittheilung sezt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der 30 Sprache also eine gewisse Kenntniß derselben voraus. Wenn zwischen die unmittelbare Rede und die Mittheilung etwas tritt also die Kunst der Rede anfängt: so beruht dies theils auf der Besorgniß es möchte dem hörenden etwas in unserm Sprachgebrauch fremd sein. 2. Jede Rede ruht auf einem früheren Denken. Man kann dieses 35 auch umkehren aber in Bezug auf die Mittheilung bleibt es wahr, denn die Kunst des Verstehens geht nur bei fortgeschrittenem Denken an. 1 verstehen] über 〈schreiben〉
15 nöthig] folgt 〈ist〉
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3. Hiernach ist jeder Mensch auf der einen Seite ein Ort in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigenthümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber auch ist er ein sich stetig entwikelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen
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6. Das Verstehen ist nur im Ineinandersein dieser beiden Momente. 1. Die Rede ist auch als Thatsache des Geistes nicht verstanden wenn sie nicht in ihrer Sprachbeziehung verstanden ist, weil die Ange10 borenheit der Sprache den Geist modificirt. 2. Sie ist auch als Modification der Sprache nicht verstanden wenn sie nicht als Thatsache des Geistes verstanden ist weil in diesem der Grund von allem Einfluß des Einzelnen auf die Sprache liegt welche selbst durch das Reden wird1
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7. Beide stehen einander völlig gleich und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen.2 1. die psychologische ist die höhere wenn man die Sprache nur als das Mittel betrachtet wodurch der einzelne Mensch seine Gedanken 20 mittheilt: die grammatische ist dann bloß Hinwegräumung der vorläufigen Schwierigkeiten 2. die grammatische ist die höhere wenn man den einzelnen Menschen nur als einen Ort für die Sprache betrachtet und seine Reden nur als das worin sich diese offenbart.3 Alsdann wird die psychologische völlig untergeordnet wie das Dasein des einzelnen Menschen über25 haupt. 3. Aus dieser Duplicität folgt von selbst die vollkommene Gleichheit
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8. Die absolute Lösung der Aufgabe ist die, wenn jede Seite für sich4 behandelt die andere völlig ersezt die aber eben so weit auch für sich 30 behandelt werden muß.
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NB Verhältniß der grammatischen und psychologischen Interpretation zu der dialektischen und rhetorischen Richtung Sie brauchen einander[.] Grammatische und psychologische bleiben Haupteintheilung. und die Sprache weil sie das Denken aller Einzelnen bedingt. so behandelt wird, daß die Behandlung der andern keine Aenderung im Resultat hervorbringt.
12–14 weil … wird] nachgetragen 31–32 NB ... Richtung] am rechten Rand Haupteintheilung.] am rechten Rand 35 und ... bedingt.] am rechten Rand hervorbringt.] mit Einfügungszeichen am rechten Rand
33–34 Sie ... 36–37 so ...
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1. Nothwendig ist diese Duplicität, wenn auch jede Seite die andere ersezt wegen 6. 2. Vollkommen ist aber jede nur dann wenn sie die andere überflüßig macht und Beitrag giebt um sie zu construiren weil ja die Sprache nur erlernt werden kann dadurch daß Reden verstanden werden 5 und der innere Zusammenhang des Menschen nebst der Art wie ihn das äußere aufregt nur verstanden werden kann durch seine Reden.
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9. Das Auslegen ist Kunst. 1. Jede Seite für sich. Denn überall ist Construction eines endlichen bestimmten aus dem unendlichen unbestimmten. Die Sprache ist 10 ein unendliches weil jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen Eben so ist auch die psychologische. Denn jede Anschauung eines Individuellen für sich ist unendlich. Und die Einwirkungen auf den Menschen von außen sind auch ein bis ins unendlich ferne allmählig abnehmendes. Eine solche Construction aber 15 kann nicht durch Regeln gegeben werden welche die Sicherheit ihrer Anwendung in sich trügen 2. Sollte die grammatische Seite für sich allein vollendet werden so müßte eine vollkommne Kenntniß der Sprache gegeben sein, im andern eine vollständige Kenntniß des Menschen. Da beides nie gegeben 20 sein kann: so muß man von einem zum andern übergehen und wie dieses geschehn soll darüber lassen sich keine Regeln geben. 10. Die glückliche Ausübung der Kunst beruht auf dem Sprachtalent und dem Talent der einzelnen Menschenkenntniß. 1. Unter dem ersten nicht etwa die Leichtigkeit fremde Sprachen 25 zu lernen; der Unterschied zwischen Muttersprache und fremder kommt hier vorläufig nicht in Betracht. Sondern das Gegenwärtighaben der Sprache, der Sinn für die Analogie und die Differenz u.s.w. – Man könnte meinen auf diese Weise müßten Rhetorik und Hermeneutik immer zusammen sein. Allein wie die Hermeneutik noch ein an- 30 deres Talent erfordert, so auch ihrerseits die Rhetorik eines, und nicht beide dasselbe. Das Sprachtalent allerdings ist gemeinsam, allein die hermeneutische Richtung bildet es doch anders aus als die rhetorische.5 5
Das überwiegende Talent ist nicht nur der schwierigen Fälle wegen erforderlich, sondern auch um nirgends bei dem unmittelbaren Zweck allein stehen zu blei- 35 ben, vielmehr überall das Ziel der beiden Hauptrichtungen zu verfolgen
27 Sondern] korr. aus sondern korr.
34–36 Das ... verfolgen] am linken Rand, überwiegende
2 Gemeint ist § 6 dieser Einleitung.
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2. Die Menschenkenntniß ist hier vorzüglich die von dem subjectiven Element in der Combination der Gedanken. Eben so wenig ist deshalb Hermeneutik und künstliche Menschendarstellung immer zusammen. Aber eine große Menge hermeneutischer Fehler sind in dem Mangel dieses Talents oder seiner Anwendung gegründet. 3. Insofern nun diese Talente allgemeine Naturgaben sind ist auch die Hermeneutik ein allgemeines Geschäft. In so fern es einem an der einen Seite fehlt ist er auch lahm, und die andere kann ihm nur dienen um richtig zu wählen was ihm andere in jener geben.
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11. Nicht alle Rede ist gleich sehr ein Gegenstand der AuslegungsKunst; einige haben für dieselbe einen Nullwerth, andere einen absoluten, das meiste liegt zwischen diesen beiden Punkten 1. Einen Nullwerth hat was weder Interesse hat als That noch Bedeutung für die Sprache. Es wird geredet weil die Sprache sich nur 15 in der Continuität der Wiederholung erhält. Was aber nur schon vorhanden gewesenes wiederholt ist an sich nichts. Wettergespräche. Allein dies Null ist nicht das absolute Nichts sondern nur das minimum. Denn es entwikelt sich an demselben das bedeutende. 2. Auf jeder Seite giebt es ein maximum, grammatisch nämlich 20 was am meisten productiv ist und am wenigsten Wiederholung; k l a s s i s c h . Auf der psychologischen Seite was am meisten eigenthümlich ist und am wenigsten gemein o r i g i n e l l . Absolut ist aber nur die Identität von beiden, das g e n i a l i s c h e . 3. Das klassische aber muß nicht vorübergehend sein sondern die 25 folgenden Productionen bestimmen. Eben so das originelle. Aber auch das absolute darf nicht frei davon sein, bestimmt worden zu sein durch früheres und allgemeineres.
18 IV.
12. Wenn beide Seiten überall anzuwenden sind so sind sie es doch immer in verschiedenem Verhältniß 30 1. Dies folgt schon daraus, daß das grammatisch unbedeutende nicht auch psychologisch unbedeutend zu sein braucht und umgekehrt, sich also auch nicht aus jedem unbedeutenden das bedeutende gleichmäßig nach beiden Seiten entwickelt. 2. Das minimum von psychologischer Interpretation wird ange35 wendet bei vorherrschender Objectivität des Gegenstandes: reine Geschichte vornämlich im Einzelnen, denn die ganze Ansicht ist immer subjectiv afficirt. Epos. Geschäftliche Verhandlungen welche ja Ge-
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10 alle] korr. aus alles
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schichte werden wollen. Didaktisches von strenger Form auf jedem Gebiet. Hier überall ist das subjective nicht als Auslegungsmoment anzuwenden sondern es wird Resultat der Auslegung. Das minimum von grammatischer beim maximum von psychologischer in Briefen nämlich eigentlichen. Untergang des historischen und didaktischen in 5 diesen. Lyrik. Polemik? 20
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13. Es giebt keine andere Mannigfaltigkeit in der Auslegungsmethode als das obige. 1. Beispielsweise wunderliche Ansicht aus dem Streit über die historische Auslegung des Neuen Testaments entstanden als ob es mehrere Arten der Interpretation wären. Die Behauptung der historischen Interpretation ist nur die richtige Behauptung vom Zusammenhang der NeuTestamentlichen Schriftsteller mit ihrem Zeitalter (Verfänglicher Ausdruck Zeitbegriffe.) Aber sie wird falsch wenn sie die neue Begriffbildende Kraft des Christenthums läugnen und alles aus dem schon vorhandenen erklären will. Die Abläugnung der historischen Interpretation ist richtig wenn sie sich nur dieser Einseitigkeit widersezt und falsch wenn sie allgemein sein will. Die ganze Sache kommt aber dann auf das Verhältniß der grammatischen und psychologischen Interpretation heraus. Denn die neuen Begriffe gingen aus der eigenthümlichen Gemüthserregung hervor. 2. Eben so wenig wenn man historische Interpretation von der Berüksichtigung von Begebenheiten versteht. Denn das ist sogar etwas vor der Interpretation hergehendes, weil dadurch nur das Verhältniß zwischen dem Redner und ursprünglichen Hörer wiederhergestellt wird, was also immer vorher sollte berichtiget sein. 3. Die a l l e g o r i s c h e I n t e r p r e t a t i o n . Nicht Interpretation der Allegorie wo der uneigentliche Sinn der einzige ist, ohne Unterschied, ob wahres zum Grunde liegt wie in der Parabel vom Säemann oder Fiction wie in der vom reichen Mann. Sondern welche wo der eigentliche Sinn in den unmittelbaren Zusammenhang fällt doch neben demselben noch einen uneigentlichen annimmt. Man kann sie nicht mit dem allgemeinen Grundsaz abfertigen daß jede Rede nur Einen Sinn haben könne, so wie man ihn gewöhnlich grammatisch nimmt. Denn jede Anspielung ist ein zweiter Sinn; wer sie nicht mit auffaßt kann den Zusammenhang ganz verfolgen es fehlt ihm aber doch ein in die Rede gelegter Sinn. Dagegen wer eine Anspielung findet, welche nicht hineingelegt ist, hat immer die Rede nicht richtig ausgelegt. Die Anspielung ist dieses wenn in die Hauptgedankenreihe eine von den begleitenden Vorstellungen verflochten wird von der man glaubt sie könne
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in dem andern eben so leicht erregt werden. Aber die begleitenden Vorstellungen sind nicht nur einzelne und kleine; sondern wie die ganze Welt ideal in dem Menschen gesezt ist, so wird sie auch immer, wenngleich nur als dunkles Schattenbild wirklich gedacht. Nun giebt es einen Parallelismus der verschiednen Reihen im Großen und Kleinen also kann einem bei jedem etwas aus einem andern einfallen: Parallelismus des physischen und ethischen des musikalischen und mahlerischen p. Die Aufmerksamkeit darf aber hierauf nur gerichtet werden wenn uneigentliche Ausdrücke dazu Anzeichen geben. Daß es auch ohne solche Anzeichen besonders beim Homer und bei der Bibel geschehen ist beruht auf einem besondern Grunde. Dieser ist bei Homer und dem Alten Testament die Einzigkeit jenes als allgemeinen Bildungsbuchs [und] des Alten Testaments als Litteratur überhaupt, aus welchem alles mußte genommen werden. Dazu noch bei beiden der mythische Inhalt der auf der einen Seite in gnomische Philosophie auf der andern in Geschichte ausgeht. Für den Mythus giebt es aber keine technische Interpretation weil er nicht von einem Einzelnen herrühren kann und das Schwanken des gemeinen Verständnisses zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen Sinn macht hier die Duplicität am scheinbarsten. Mit dem Neuen Testament hat es freilich eine andere Bewandniß, und bei diesem erklärt sich das Verfahren aus zwei Gründen. Einmal aus seinem Zusammenhang mit dem Alten bei dem diese Erklärungsart hergebracht war und also auf die anfangende gelehrte Auslegung übertragen wurde. Dann aus der hernach mehr als beim Alten Testament ausgebildeten Vorstellung den heiligen Geist als Verfasser anzusehen. Der heilige Geist kann nicht gedacht werden als ein zeitlich wechselndes einzelnes Bewußtsein; daher auch hier die Neigung in jedem Alles zu finden. Allgemeine Wahrheiten oder einzelne bestimmte Vorschriften befriedigen diese von selbst aber das am meisten vereinzelte und an sich unbedeutende reizt sie 4. Hier drängt sich uns nun beiläufig die Frage auf Ob die heiligen Bücher des heiligen Geistes wegen anders müssen behandelt werden. Dogmatische Entscheidung über die Inspiration dürfen wir nicht erwarten weil diese ja selbst auf der Auslegung ruhen muß. Wir müssen 1.) Unterschied zwischen Reden und Schreiben der Apostel nicht statuiren. Denn die künftige Kirche mußte auf die erste gebaut werden. Eben deshalb aber auch 2.) nicht glauben daß bei den Schriften die ganze Christenheit unmittelbarer Gegenstand gewesen denn sie sind ja alle an bestimmte Menschen gerichtet und konnten auch in Zukunft nicht richtig verstanden werden, wenn sie von diesen nicht waren rich-
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tig verstanden worden. Diese konnten aber nichts anderes als das bestimmte einzelne darin suchen wollen weil sich für sie die Totalität aus der Menge der Einzelheiten ergeben mußte. Also müssen auch wir sie eben so auslegen und deshalb annehmen daß wenn auch die Verfasser todte Werkzeuge gewesen wären der heilige Geist durch sie doch nur 5 könne geredet haben so wie sie selbst würden geredet haben. 5. Die schlimmste Abweichung nach dieser Seite hin ist die Kabbalistische Auslegung die sich mit dem Bestreben in jedem alles zu finden an die einzelnen Elemente und ihre Zeichen wendet. – Man sieht, was irgend seinem Bestreben nach noch mit Recht Auslegung 10 genannt werden kann, darin giebt es keine andere Mannigfaltigkeit als die aus den verschiednen Verhältnissen der beiden von uns aufgestellten Seiten 14. Der Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und Kunstlosen in der Auslegung beruht weder auf dem von einheimisch und fremd noch auf dem von Rede und Schrift, sondern nur darauf daß man einiges genau verstehen will und anderes nicht. 1. Wenn es nur ausländische und alte Schriften wären die der Kunst bedürften: so müßten die ursprünglichen Leser ihrer nicht bedurft haben, und die Kunst beruhte also auf dem Unterschiede zwischen diesen und uns. Der wird aber durch Sprache und Geschichtkenntniß p erst aus dem Wege geräumt und nach erfolgter Gleichsezung geht erst die Auslegung an. Der Unterschied zwischen diesen Schriften und einheimischen gleichzeitigen liegt also nur darin daß jene Operation des Gleichsezens nicht ganz vorhergehn kann, sondern sie wird erst mit dem Auslegen und während desselben vollendet, und dies ist beim Auslegen selbst immer zu berüksichtigen. 2. Es ist auch nicht bloß die Schrift. Sonst müßte die Kunst nur nothwendig werden durch den Unterschied zwischen Schrift und Rede d. h. durch das Fehlen der lebendigen Stimme und durch den Mangel anderweitiger persönlicher Einwirkungen. Die lezten aber bedürfen selbst wieder der Auslegung und diese bleibt immer unsicher. Die lebendige Stimme erleichtert freilich das Verständniß sehr aber der Schreibende muß diese Rüksicht nehmen. Thut er dies so müßte die Auslegungskunst dann auch überflüßig sein welches doch nicht der
2 wollen] wollten 10 Auslegung] korr. aus Auslegungs 15 beruht] ruht über steht 16 sondern] folgt 〈ist〉 31 Einwirkungen] Einwir über 〈Eigenthum〉 34 müßte] über 〈bleibt〉 35 dann] davor 〈doch〉
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Fall. Also beruht ihre Nothwendigkeit auch wo er es nicht gethan nicht nur auf diesem Unterschiede6 3. Wenn nun Rede und Schrift sich so verhalten so bleibt kein anderer Unterschied als der bezeichnete übrig, und es folgt daß auch die kunstgerechte Auslegung kein anderes Ziel hat als welches wir beim Anhören jeder gemeinen Rede haben.
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15. Die kunstlose Praxis geht davon aus daß sich das Verstehen von selbst ergiebt, und drükt das Ziel negativ aus „Mißverstand soll vermieden werden“. 10 1. Ihre Voraussezung beruht darauf daß sie sich vornämlich mit dem unbedeutenden abgiebt oder wenigstens nur um eines gewissen Interesse willen verstehn will und sich daher leicht auszufüllende Grenzen sezt 2. Auch sie muß indeß in schwierigen Fällen zur Kunst ihre Zu15 flucht nehmen; und so ist die Hermeneutik aus der kunstlosen Praxis entstanden. Weil sie auch nur die schwierigen Fälle vor Augen hatte: so wurde sie ein Aggregat von Observationen. Und aus demselben Grunde immer gleich Specialhermeneutik weil sich die schwierigen Fälle auf einem bestimmten Gebiet leichter ausmitteln lassen. So die theologi20 sche und juristische entstanden, und die Philologen haben auch nur specielle Zwecke vor Augen gehabt. 3. Der Grund dieser Ansicht ist also die Identität der Sprache und der Combinationsweise in Redenden und Hörenden 16. Die Kunst geht davon aus daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.7 1. Beruhend darauf, daß sie es mit dem Verstehen genau nimmt und die Rede von beiden Seiten betrachtet ganz darin aufgehen soll 2. Sie geht also von der Differenz der Sprache und der Combina30 tionsweise aus, die aber freilich (E14) auf der Identität ruhen muß und nur das geringere ist, welches der kunstlosen Praxis entgeht. 25
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Daß sich die Kunst mehr auf Schrift als Rede bezieht kommt daher weil man – besonders von den vereinzelten Regeln, die man nicht im Gedächtniß festhält, bei der vorübergehenden Rede keinen Gebrauch machen kann Grunderfahrung daß man keinen Unterschied bemerkt vor Ð Ñlichem Eintreten eines Mißverständnisses
2 nicht] über 〈Ð Ñ〉 7 kunstlose Praxis] später verändert zu laxere Praxis in der Kunst 9 werden“] werden 24 Kunst] später verändert zu strengere Praxis 32–34 Daß ... kann ] am linken Rand 35–36 Grunderfahrung ... Mißverständnisses] am rechten Rand
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17. Das zu vermeidende ist ein zwiefaches, das qualitative Mißverstehen des Inhalts, und das Mißverstehen des Tons oder das quantitative. 1. Objectiv betrachtet ist das qualitative die Verwechselung des Ortes eines Theils der Rede in der Sprache mit dem eines andern, wie zum Exempel Verwechselung der Bedeutung eines Wortes mit der eines 5 andern. Subjectiv Verwechselung der Beziehung eines Ausdruks. 2. Das quantitative ist subjectiv die Entwiklungskraft eines Theils der Rede, der Werth den ihm der Redende beilegt, und analog objectiv die Stelle die ein Redetheil in der Gradation einnimmt. 3. Aus dem quantitativen welches gewöhnlich minder beachtet 10 wird entwickelt sich immer das qualitative 4. Alle Aufgaben sind in diesen negativen Ausdrüken enthalten. Allein ihrer Negativität wegen können wir aus ihnen die Regeln nicht entwickeln, sondern müssen von einem positiven ausgehn aber uns 15 beständig an diesem negativen orientiren 5. Es ist auch noch passiver und activer Mißverstand zu unterscheiden. Lezterer ist das Einlegen welches aber die Folge eigenes Befangenseins ist, in Bezug worauf also nichts bestimmtes geschehen kann. 18. Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer positiven Formel entwickeln, und diese ist „das geschichtliche und profetische objective und subjective Nachconstruiren der gegebenen Rede“. 1. „Objectiv geschichtlich“ heißt einsehn wie sich die Rede zu der Gesammtheit der Sprache und das in ihr eingeschlossene Wissen als ein Erzeugniß der Sprache verhält. – „Objectiv prophetisch“ heißt ahnden, wie die Rede selbst ein Entwiklungspunkt für die Sprache werden wird. Ohne beides ist qualitativer und quantitativer Mißverstand nicht zu vermeiden 2. „Subjectiv geschichtlich“ heißt wissen wie die Rede als Thatsache im Gemüth geworden ist[;] „subjectiv prophetisch“ heißt ahnden wie die darin enthaltenen Gedanken noch weiter auf ihn und in ihm fortwirken werden. Ohne beides eben so mißverständlich. 3. Die Aufgabe ist auch so auszudrüken „die Rede zuerst eben so gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber“. Denn weil wir keine unmittelbare Kenntniß dessen haben, was in ihm ist, so müssen wir vieles zum Bewußtsein zu bringen suchen was ihm unbewußt bleiben kann außer sofern er selbst reflectirend sein eigner Leser wird. Auf der objectiven Seite hat er auch hier keine andern Data als wir. 9 Redetheil] korr. aus Theil tische] darüber divinatorisch
17 aber] mit Einfügungszeichen über der Zeile 22 Rede“] Rede 34 Urheber“] Urheber
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4. Die Aufgabe ist so gestellt eine unendliche, weil es ein Unendliches der Vergangenheit und der Zukunft ist, was wir in dem Moment der Rede sehn wollen. Daher ist auch diese Kunst ebenfalls einer Begeisterung fähig wie jede andere. In dem Maaß als eine Schrift diese Begeisterung nicht erregt ist sie unbedeutend. – Wie weit nun aber und auf welche Seite vorzüglich man mit der Annäherung gehen will, das muß jedesmal praktisch entschieden werden, und gehört höchstens in eine Specialhermeneutik, nicht in die allgemeine.
19. Vor der Anwendung der Kunst muß hergehn daß man sich auf der objectiven und subjectiven Seite dem Urheber gleich stellt. 1. Auf der objectiven Seite also durch Kenntniß der Sprache, wie er sie hatte; welches also noch bestimmter ist, als sich den ursprünglichen Lesern gleich stellen welche selbst sich ihm erst gleich stellen mußten. Auf der subjectiven in der Kenntniß seines inneren und äu15 ßeren Lebens 2. Beides kann aber erst vollkommen durch die Auslegung selbst gewonnen werden. Denn nur aus den Schriften eines jeden kann man seinen Sprachschaz kennen lernen, und eben so seinen Charakter und seine Umstände. 10
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20. Der Sprachschaz und die Geschichte des Zeitalters eines Verfassers verhalten sich wie das Ganze aus welchem seine Schriften als das Einzelne müssen verstanden werden, und jenes wieder aus ihnen. 1. Ueberall ist das vollkommne Wissen in diesem scheinbaren Kreise daß jedes Besondre nur aus dem Allgemeinen dessen Theil es ist 25 verstanden werden kann und umgekehrt. Und jedes Wissen ist nur wissenschaftlich wenn es so gebildet ist. 2. In dem genannten liegt die Gleichsezung mit dem Verfasser; und es folgt also erstlich daß wir um so besser gerüstet sind zum Auslegen je vollkommner wir jenes inne haben 2. aber auch daß kein auszu30 legendes auf einmal verstanden werden kann; sondern jedes Lesen sezt uns erst indem es jene Vorkenntniß bereichert zum besseren Verstehen in Stand. Nur beim unbedeutenden begnügen wir uns mit dem auf Einmal verstandenen
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21. Wenn die Kenntniß des bestimmten Sprachschazes erst während des 35 Auslegens durch lexikalische Hülfe und durch einzelne Bemerkungen zusammengerafft werden soll, kann keine selbständige Auslegung entstehn. 1. Nur die unmittelbare Ueberlieferung aus dem wirklichen Leben der Sprache giebt eine von der Auslegung mehr unabhängige Quelle für die Kenntniß des Sprachschazes. Dergleichen haben wir bei der
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griechischen und lateinischen Sprache nur unvollkommen. Daher die ersten großen lexikalischen Arbeiten von solchen herrührten welche die ganze Litteratur zum Behuf der Sprachkenntniß durchgearbeitet hatten. Daher aber bedürfen diese Arbeiten auch beständiger Berichtigung durch die Auslegung selbst, und jede kunstmäßige Auslegung muß dazu ihrerseits beitragen. 2. Unter bestimmtem Sprachschaz verstehe ich Dialekt, Periode und Sprachgebiet einer besonderen Gattung, lezteres ausgehend von dem Unterschied zwischen Poesie und Prosa. 3. Der Anfänger muß die ersten Schritte an der Hand jener Hülfsmittel thun, aber selbstthätige Interpretation kann nur auf verhältnißmäßiger selbstthätiger Erwerbung jener Vorkenntniß ruhen, denn alle Bestimmungen über die Sprache in Wörterbüchern und Observationen gehn doch von besonderer, und oftmals unsicherer Auslegung ab. 4. In dem NeuTestamentischen Gebiet kann man besonders sagen, daß die Unsicherheit und Willkührlichkeit der Auslegung großentheils auf diesem Mangel beruht, denn aus einzelnen Observationen lassen sich immer entgegengesezte Analogien entwickeln. – Der Weg zum NeuTestamentischen Sprachschaz geht aber vom klassischen Alterthum aus durch a. die makedonische Gräcität b. die jüdischen Profanschriftsteller Josephus und Philo c. die deuterokanonischen Schriften, und d. die Septuaginta als die stärkste Annäherung zum hebräischen.
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22. Wenn die nöthigen Geschichtskenntnisse nur aus Prolegomenen genommen werden, so kann keine selbständige Auslegung entstehen. 25 1. Solche Prolegomena sind nebst den kritischen Hülfen die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsperson sein will. Sie können aber selbst nur ruhen auf einer Kenntniß des ganzen einer Schrift angehörigen Litteraturkreises, und alles dessen was in späteren Gebieten über den Verfasser einer Schrift vorkommt. Also sind sie selbst von der 30 Auslegung abhängig; und vorzüglich für den berechnet dem die ursprüngliche Erwerbung in keinem Verhältniß stände zu seinem Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allmählig alles aus den Quellen selbst schöpfen, und eben darum kann sein Geschäft nur von dem leichteren zum schwereren – in dieser Hinsicht – fortschreiten. Am 35 schädlichsten aber wird die Abhängigkeit wenn man in die Prolegomena solche Notizen hineinbringt die nur aus dem auszulegenden Werke selbst können geschöpft werden. 30 einer] korr. aus seiner
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2. In Bezug auf das Neue Testament hat man aus diesen Vorkenntnissen eine eigne Disciplin gemacht die Einleitung. Diese ist kein eigentlicher organischer Bestandtheil der theologischen Wissenschaften; aber praktisch ist es zwekmäßig, theils für den Anfänger theils auch für den Meister, weil es nun leichter ist alle hieher gehörigen Untersuchungen auf Einen Punkt zusammenzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder beitragen um diese Masse von Resultaten zu vermehren und zu berichtigen
Aus der verschiedenen Art diese Vorkenntnisse fragmentarisch anzulegen und zu benuzen bilden sich verschiedene aber auch einseitige Schulen der Interpretation, die leicht als Manier tadelhaft werden. 23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es muß deshalb eine cursorische Lesung um einen Ueberblick des Ganzen zu erhalten der genaueren Auslegung vorangehn 1. Dies scheint wieder ein Cirkel; allein zu diesem vorläufigen Verstehen reicht diejenige Kenntniß des Einzelnen hin, welche aus der allgemeinen Kenntniß der Sprache hervorgeht. 2. Inhaltsverzeichnisse, die der Autor selbst giebt, sind zu trocken um den Zweck auch auf der Seite der technischen Interpretation zu erreichen; und bei Uebersichten wie Herausgeber sie auch den Prolegomenen beizufügen pflegen kommt man in die Gewalt ihrer Interpretation. 3. Die Absicht ist die leitenden Ideen zu finden nach welchen die andern müssen abgemessen werden; und eben so auf der technischen Seite den Hauptgang zu finden, woraus das Einzelne leichter gefunden werden kann. Unentbehrlich sowol auf der technischen als grammatischen Seite, welches aus den verschiedenen Arten des Mißverstandes leicht ist nachzuweisen 4. Beim unbedeutenden kann man es eher unterlassen, und beim schwierigen scheint es weniger zu helfen, ist aber desto unentbehrlicher. Dieses wenig helfen der allgemeinen Uebersicht ist sogar ein charakteristisches Merkmal schwerer Schriftsteller.
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Soll nun das Auslegen des Einzelnen angehn so müssen zwar in der Ausübung beide Seiten der Interpretation imer zusammen verbunden werden aber in der Theorie müssen wir nun trennen und von jeder besonders handeln. Bei jeder aber darnach trachten es so weit zu bringen, daß uns die andere entbehrlich werde, oder vielmehr daß ihr Resultat in der ersten 5 mit erscheine. Die grammatische Interpretation geht voran.
Erster Theil. Die grammatische Auslegung 1. Erster Kanon. Alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf in einer gegebenen Rede, darf nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden. 1. Alles bedarf näherer Bestimmung und erhält sie erst im Zusammenhang. Jeder Theil der Rede, materieller sowol als formeller ist an sich unbestimmt. Bei einem jeden Wort isolirt denken wir uns nur einen gewissen Cyclus von Gebrauchsweisen. Eben so bei jeder Sprachform. 2. Einige nennen das was man sich bei dem Wort an und für sich denkt die B e d e u t u n g , das aber was man sich dabei denkt in einem gegebenen Zusammenhang den S i n n . Andere sagen ein Wort hat nur eine B e d e u t u n g keinen Sinn; ein Saz an und für sich hat einen S i n n aber noch keinen Ve r s t a n d sondern den hat nur eine völlig geschlossene Rede. Nun könnte man freilich sagen auch diese würde noch vollständiger verstanden im Zusammenhang mit ihrer angehörigen Welt; allein das geht aus dem Gebiet der Interpretation heraus. – Die leztere Terminologie ist insofern freilich vorzuziehn als ein Saz eine untheilbare Einheit ist und als solche ist auch der Sinn eine Einheit, das Wechselbestimmtsein von Subject und Prädicat durch einander. Aber recht sprachgemäß ist auch diese nicht. Denn Sinn im Vergleich mit Verstand ist ganz dasselbe wie Bedeutung. Das Wahre ist daß das Uebergehn vom unbestimmbaren in das Bestimmte bei jedem Auslegungsgeschäft eine unendliche Aufgabe ist. – Wo ein einzelner Saz ein abgeschlossnes Ganze für sich allein ausmacht, da scheint der Unterschied zwischen Sinn und Verstand zu verschwinden wie bei Epigramm und Gnome. Diese soll aber erst bestimmt werden durch die Association des Lesers, jeder soll sie machen zu was er kann. Jenes ist bestimmt durch die Beziehung auf die einzelne Sache. 5 entbehrlich] über 〈unmöglich〉
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3. Das Gebiet des Verfassers selbst ist das seiner Zeit seiner Bildung und seines Geschäfts – auch seiner Mundart, wo und sofern diese Differenz in der gebildeten Rede vorkommt. Aber es wird nicht in jeder Schrift ganz sein, sondern nur nach Maaßgabe der Leser. Wie erfahren wir aber was für Leser sich der Verfasser gedacht? Nur durch den allgemeinen Ueberblick über die ganze Schrift. Aber diese Bestimmung des gemeinsamen Gebietes ist nur Anfang, und sie muß während der Auslegung fortgesezt werden und ist erst mit ihr zugleich vollendet. 4. Es kommen von diesem Kanon mancherlei scheinbare Ausnahmen vor. a. A r c h a i s m e n liegen außer dem unmittelbaren Sprachgebiet des Verfassers also eben so seiner Leser. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu vergegenwärtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poesie mehr als in der Prosa. b. Te c h n i s c h e A u s d r ü k e selbst in den populärsten Gattungen wie zum Exempel in gerichtlicher und berathender Rede, lezteres auch wenn nicht alle Zuhörer es verstehn. Dies führt auf die Bemerkung daß ein Verfasser auch nicht immer sein ganzes Publikum im Auge hat, sondern auch dieses schwankt. Daher auch eben diese Regel eine Kunstregel ist deren glükliche Anwendung auf einem richtigen Gefühl beruht. 5. In dem Ausdruk, daß wir uns des Sprachgebietes müssen im Gegensaz gegen die übrigen organischen Theile bewußt werden liegt auch jenes daß wir den Verfasser besser verstehen als er selbst denn in ihm ist vieles dieser Art unbewußt was in uns ein bewußtes werden muß, theils schon im Allgemeinen bei der ersten Uebersicht theils im Einzelnen sobald Schwierigkeiten entstehen. 6. Das Auslegen kann nach der allgemeinen Uebersicht oft lange Zeit ruhig fortgehn ohne eigentlich kunstlos zu sein, weil doch alles an das allgemeine Bild gehalten wird. Sobald aber eine Schwierigkeit im Einzelnen entsteht entsteht auch der Zweifel ob die Schuld am Verfasser sei oder an uns. Das erste darf man nur nach dem Maaß voraussezen als er sich schon in der Uebersicht sorglos und ungenau oder auch talentlos und verworren gezeigt hat. Bei uns kann sie doppelte Ursach haben entweder ein früheres unbemerkt gebliebenes Mißverständniß oder eine unzureichende Sprachkunde, so daß uns die rechte Gebrauchsweise des Wortes nicht einfällt. Von dem ersten wird erst späterhin die Rede sein können, wegen des Zusammenhangs mit der Lehre von den Parallelstellen. Hier also zunächst von dem andern. 15 Gattungen] über 〈Ð Ñ〉
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7. Die Wörterbücher welche die natürlichen Ergänzungsmittel sind sehen die verschiedenen Gebrauchsweisen als Aggregat eines mannigfaltigen lose verbundenen an. Auch das Bestreben die Bedeutungen auf ursprüngliche Einheit zurükzuführen ist nicht durchgeführt weil sonst ein Wörterbuch real nach dem System der Begriffe müßte geordnet sein welches unmöglich ist. Die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen ist dann in eine Reihe von Gegensäzen zu zerlegen. Der erste ist die eigentliche und uneigentliche. Dieser Gegensaz verschwindet bei näherer Betrachtung. In Gleichnissen sind zwei Parallele Gedankenreihen, das Wort steht in der seinigen und es soll damit nur gerechnet werden. Also behält es seine Bedeutung. In Metaphern ist dies nur angedeutet, und oft nur Ein Merkmal des Begriffs herausgenommen, zum Exempel coma arborum das Laub, aber coma bleibt Haar. – König der Thiere = Löwe: der Löwe regiert nicht, aber König heißt deswegen nicht ein nach dem Recht des Stärkeren zerreißender. Solch ein einzelner Gebrauch giebt keine Bedeutung, und habituell kann nur die ganze Phrasis werden. Man führt diesen Gegensaz zulezt darauf zurük, daß alle geistigen Bedeutungen nicht ursprünglich wären, also bildlicher Gebrauch sinnlicher Wörter. Dies ist aber eine Untersuchung welche jenseit des hermeneutischen Gebietes liegt. Denn wenn ûeoÁw von ûein abgeleitet wird (eben so Gott) so kommt das in der gegebenen Sprache nicht vor, sondern es gehört zur Urgeschichte mit der die Auslegung nichts zu thun hat. Es kommt darauf an ob die geistigen Vorstellungen überhaupt eine zweite Entwiklung ist, die erst nach Abschließung der Sprache kann stattgefunden haben, und das wird wol niemand wahrscheinlich machen können. Unläugbar giebt es geistige Wörter welche zugleich leibliches bedeuten aber hier waltet auch der Parallelismus, weil beide, wie sie für uns da sind, in der Idee des Lebens Eines sind. Eben dies gilt für den Gebrauch derselben Wörter im Gebiet des Raumes und dem der Zeit. Beide sind wesentlich eins, weil wir nur Raum durch Zeit bestimmen können und umgekehrt. Gestalt und Bewegung lassen sich aufeinander reduciren und kriechende Pflanze ist daher kein bildlicher Ausdruck. Nicht besser ist es mit dem Gegensaz zwischen ursprünglicher und abgeleiteter Bedeutung. hostis Fremder, hernach Feind. Anfänglich waren alle Fremde Feinde. Hernach sah man die Möglichkeit mit Ausländern Freund zu sein und der Instinkt entschied dafür daß man bei dem Worte mehr an die Gesinnungstrennung gedacht hatte als an die Raumtrennung, und so konnten zulezt auch 6 ist] über 〈wird〉
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einheimische Feinde hostis heißen, vielleicht aber doch nur weil sie verbannt zugleich waren. Gegensaz zwischen allgemeiner Bedeutung und besonderer, jene im vermischten Verkehr diese in einem bestimmten Gebiet. Oft wesentlich dasselbe oft elliptisch wie Fuß, für Fußlänge und Fuß in der Metrik für Schritt oder Fuß vorwärts. Oft auch weil jede Kunst ein niederes Gebiet durch Mißverständniß der ungebildeten Masse. Oft auch sind es entstellte und bis zum Schein der einheimischen umgebildete fremde Wörter. So wird es mit allen andern Gegensäzen auch gehn. 8. Die ursprüngliche Aufgabe auch für die Wörterbücher die aber rein für den Ausleger da sind, ist die die wahre v o l l k o m m e n e E i n h e i t d e s Wo r t e s zu finden. Das einzelne Vorkommen des Wortes an einer gegebenen Stelle gehört freilich der unendlich unbestimmten Mannigfaltigkeit, und zu dieser giebt es von jener keinen andern Uebergang als eine bestimmte Vielheit unter welcher sie befaßt ist; und eine solche wieder muß nothwendig in Gegensäze aufgehn. Allein im einzelnen Vorkommen ist das Wort nicht isolirt: es geht in seiner Bestimmtheit nicht aus sich selbst hervor, sondern aus seinen Umgebungen, und wir dürfen nur die ursprüngliche Einheit des Wortes mit diesen zusammenbringen um jedesmal das rechte zu finden. Die vollkommene Einheit des Wortes aber wäre seine Erklärung und die ist eben so wenig als die vollkommene Erklärung der Gegenstände vorhanden. In den todten Sprachen nicht, weil wir ihre ganze Entwicklung noch nicht durchschaut haben, in den lebenden nicht, weil sie wirklich noch fortgeht. 9. Wenn bei vorhandener Einheit eine Mannigfaltigkeit der Gebrauchsweise möglich sein soll: so muß schon in der Einheit eine Mannigfaltigkeit sein; mehrere Hauptpunkte auf eine in gewissen Grenzen verschiebbare Weise verbunden. Dies muß der Sprachsinn aufsuchen, wo wir unsicher werden, bedienen wir uns des Wörterbuchs als Hülfsmittel um uns am gemeinsamen Schaz der Sprachkenntniß zu orientiren. Die verschiedenen dort vorkommenden Fälle sollen nur ein verständiger Auszug sein, man muß sich die Punkte durch Uebergänge verbinden um gleichsam die ganze Kurve vor sich zu haben und den gesuchten Ort bestimmen zu können. 10. Es hat dieselbe Bewandniß mit dem formellen Element; die Regeln der Grammatik stehn ebenso wie die Bedeutungen beim Wörterbuch. Daher auch die Grammatik bei den Partikeln Wörterbuch wird. Das formelle ist noch schwieriger. 5 vorwärts] über 〈ÐschreitenÑ〉
13 gehört] korr. aus geht
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11. Der Gebrauch beider Hülfsmittel ist wieder der Gebrauch eines Schriftstellers und also gelten alle Regeln auch wieder davon nebenbei. Beide umfassen auch nur einen gewissen Zeitraum von Sprachkenntniß und gehn auch gewöhnlich von einem bestimmten Gesichtspunkt aus. Die ganze Benuzung beider durch einen wissenschaftlichen 5 Menschen muß auch wieder zu ihrer Berichtigung und Bereicherung dienen durch das besser verstehen. Also muß auch jeder Fall atwas dazu beitragen 54 19 XVII.
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2. Anwendung desselben auf das Neue Testament. 1. Die Neutestamentische Specialhermeneutik muß aus allen uns jezt noch nicht genau bekannten Punkten construirt werden. Eine Specialhermeneutik überhaupt ist nur ein abgekürztes Verfahren indem ausreichen müßten die allgemeinen Regeln auch. Die Abkürzung geschieht aber auf Kosten der Wissenschaftlichkeit und also auch der Sicherheit wenn die SpecialHermeneutik in eine Sammlung von Observationen ausartet. Sie muß also ordentlich construirt werden und das geschieht nur dadurch, wenn man bei jedem Punkt betrachtet was in Bezug auf einen bestimmten Gegenstand dadurch von selbst gesezt wird oder ausgeschlossen. – Jede Sprache könnte eine eigene Specialhermeneutik haben wenn man sie in ihrem eigenthümlichen Charakter aus der Idee der Sprache überhaupt construiren und mit andern vergleichen könnte. Allein dieses vermögen wir nicht. Dagegen haben alle Sprachen gemein die drei Perioden Entwiklung, Blüthe und Verfall. Diese haben in allen Sprachen jede einen bestimmten Charakter. Dem parallel steht nun aber schon den Uebergang zur technischen Interpretation bildend das Verhältniß der Schriftsteller selbst zur Sprache, ob einer mehr die Sprache gebildet hat, oder mehr durch sie geworden ist. 2. Die NeuTestamentische Sprache muß unter die Totalität der griechischen subsumirt werden. Die Bücher selbst sind nicht übersezt, nicht einmal Matthäus und Hebräer. Aber auch die Verfasser haben nicht gradehin hebräisch gedacht und nur griechisch geschrieben oder schreiben lassen. Denn sie konnten unter ihren Lesern überall bessere Uebersezer voraussezen. Sondern sie haben wie jeder Verständige (im Einzelnen wenigstens denn die erste niemals ausgeführte Conception gehört nicht hieher) in der Sprache auch gedacht in welcher sie schrieben.8 8
Ich habe das Sprachgebiet zusammengesezt aus 1. Altes Testament (Ð Ñ ÐundÑ Psalmen) 2. Macedonische Griechheit 3. Uebersetzungen aus dem hebräi-
38–39 Ð
Ñ ÐundÑ ... Psalmen] Kimmerle liest Hiob und Psalmen
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3. Es gehört aber in die Periode des Verfalls. Diese kann man schon von Alexander an rechnen. Einige Schriftsteller nun nähern sich dem guten Zeitalter oder suchen es herzustellen; unsere Verfasser aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemeinen Lebens, und haben dieseTendenz nicht. Aber auch jene sind zuzuziehen wo sie sich am Charakter ihrer Zeit ruhig gehen lassen. Daher richtige Analogien aus Polybius und Josephus. Bemerkte Analogien aus attischen Schriftstellern, wie Thukydides Xenophon p haben einen negativen Nuzen, und es ist eine gute Uebung sie zu vergleichen. Nemlich man denkt sich oft die verschiedenen Gebiete zu abgeschlossen und meint einiges könne im klassischen nicht vorkommen, sondern nur im hellenistischen und makedonischen, und dies wird so berichtiget. 4. Der Einfluß des Aramäischen ist nur zu bestimmen aus der allgemeinen Anschauung von der Art sich eine fremde Sprache anzueignen. Volksthümlichkeit und Neigung zum allgemeinen Verkehr sind überall auch im Gebiet der Sprache bei einander. Häufig verschwindet die lezte als Minimum. Wo zu sehr die lezte überwiegt da ist gewiß die Volksthümlichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber sich viele Sprachen kunstmäßig anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der Sprache Muttersprache und fremde verglichen werden ist ein Talent. Dieses Talent ist unter den Juden niemals bedeutend gewesen, jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum Verschwinden der Muttersprache gediehen ist, war schon damals vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Verkehrs ohne Grammatik und Litteratur schleichen sich bei der Aneignung Fehler ein, welche bei wissenschaftlicher Gebildeten sich nicht finden, und dies ist der Unterschied zwischen Neuem Testament und Philo oder Josephus. Diese Fehler sind in unserm Falle zwiefach. Einmal aus dem Contrast der Reichthums und der Armuth an formalen Elementen entsteht daß die NeuTestamentischen Schriftsteller den griechischen Reichthum nicht zu gebrauchen wissen; dann indem bei der Aneignung die fremden Wörter auf Wörter in der Muttersprache reducirt werden entsteht leicht die Täuschung, daß welche sich in mehrerem entsprochen haben sich auch überall entsprechen werden, schen 4. Griechisch jüdische Schriften (diese verschieden nach der Analogie von Philo und Josephus. Dann noch in wie fern die patristische Gräcität dazu gehört. 8 Bemerkte] davor 〈a.〉 14 des Aramäischen] korr. aus der Mutterspra 18 lezte] über 〈erste〉 21 Muttersprache] Muttersprachen 28 in … Falle] über 〈gewöhnlich〉 136,38–137,37 Ich ... gehört.] am linken Rand
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und aus dieser Voraussezung dann im Schreiben falscher Gebrauch. A n m e r k u n g : In beiden Punkten stimmt nun die Septuaginta mit dem neuen Testament sehr überein, und ist also fast das reichste Erläuterungsmittel. Aber als Quelle der NeuTestamentischen Sprache sie anzusehn, aus der sich diese selbst gebildet hätte ist zu viel. Einmal hatten die NeuTestamentischen Schriftsteller, wie sie sehr verschieden sind in dem Grade der Aneignung des griechischen und in dem Beschränktsein durch die angeführten Mängel auch einen sehr verschiedenen Zusammenhang mit der Septuaginta. Dann läßt sich auch für Alle eine andere Quelle nemlich das gemeine gesellige Verkehr nachweisen 5. Ein anderes ist die Untersuchung wie weit wegen des religiösen Inhalts das Neue Testament noch besonders von den Septuaginta abhängt. Hier kommen besonders die jüngeren Schriften, die Apokryphen, in Betracht; und so hat die Beantwortung dieser Frage den größten Einfluß auf die ganze Ansicht von der christlichen Theologie, nämlich auf die Principien der Interpretation sofern diese selbst der Dogmatik zum Grunde liegt. – Die NeuTestamentischen Schriftsteller führen für ihre religiösen Begriffe keine neuen Wörter ein, und reden also aus dem Sprachgebiet der Bibel und der Apokryphen. Es fragt sich also haben sie demohnerachtet andere religiöse Vorstellungen und also andere Gebrauchsweisen der Wörter? oder haben sie auch nur dieselben Gebrauchsweisen? Im lezteren Falle wäre nichts neues in der christlichen Theologie und also, da alles religiöse, was nicht bloß momentan ist, sich in der Reflexion fixirt auch nichts in der christlichen Religion. Die Frage aber läßt sich unmittelbar hermeneutisch nicht entscheiden und zeigt sich also als eine Sache der Gesinnung. Jeder beschuldigt dabei den andern daß er seine Principien aus vorgefaßten Meinungen geschöpft habe; denn richtige Meinungen über die Bibel kann es nur geben durch die Interpretation. Es liegt freilich ein Lösungsgrund im hermeneutischen Verfahren. Nämlich eines Theils müßte eine durchgreifende Parallele des Neuen Testaments und der Apokryphen doch zeigen, ob Gebrauchsweisen in dem einen vorkommen, die dem anderen ganz fremd sind. Allein da bliebe immer die Ausflucht übrig das Sprachgebiet sei größer als diese Ueberreste. Zu Hülfe müßte also kommen auf der andern Seite die Aussage des Gefühls darüber ob das Neue Testament für sich erscheint als eine Entwiklung neuer Vorstel12 5.] korr. aus 6. 30 geben] gegeben
15 die] korr. aus dies
22 Gebrauchsweisen] korr. aus Gebrauchswort
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lungen. Diese kann aber nur Kredit bekommen durch eine allgemeine philologische und philosophische Bildung. Nur wer beweiset, daß er ähnliche Untersuchungen mit Erfolg auch anderwärts geführt habe, und daß er sich nicht gegen seine eigne Einsicht bestechen lasse kann hier leitend werden. 6. Wenn es nun einen nach unserer Ansicht freilich nur untergeordneten anomalen Einfluß der hebräischen Abstammung auf die NeuTestamentische Sprache giebt so fragt sich wieviel Rüksicht darauf bei der Interpretation zu nehmen sei. Zwei einseitige Maximen sind sich mit dem einen allein zu begnügen bis Schwierigkeiten eintreten und dann diese aus dem andern zu lösen. Dadurch wird das erste Verfahren kunstlos und gar nicht geeignet das zweite daran zu knüpfen. Auch kann man dann eben so leicht versuchen aus dem andern Moment zu erklären, was seinen eigentlichen Erklärungsgrund ganz anderswo hat, und man ist überhaupt mit der Kenntniß des andern wieder nur auf einzelne Observationen verwiesen. Sondern nach unsrer vorläufigen Regel daß die Kunst von Anfang an eintreten muß, soll man sich eine allgemeine Anschauung vom Verhältniß beider Momente, abstrahirt von allen einzelnen Schwierigkeiten, zu bilden suchen durch vorläufiges Lesen und durch Vergleichung mit Septuaginta Philo Josephus Diodor Polybius Unläugbar aber ist daß der Einfluß des hebräischen bei den eigentlich religiösen Terminis vorzüglich groß ist. Denn im ursprünglich hellenischen – vorzüglich so weit es den NeuTestamentischen Schriftstellern bekannt war – fand das neu zu entwickelnde religiöse keinen Anknüpfungspunkt sondern auch das ähnliche wurde durch die Verbindung mit dem Polytheismus abgestoßen. 7. Es ist daher die Vermischung des anomalen in dem mannigfaltigsten Verhältniß vorhanden und bei jedem einzelnen Schriftsteller wiederum verschieden. Die Hauptregel bleibt also immer sich für jedes Wort aus dem griechischen Wörterbuch und aus dem hellenistischen und für jede Form aus der griechischen Grammatik und aus der comparativen hellenistischen ein Ganzes zu bilden, und nur in Bezug auf dieses den Kanon anzuwenden. – Rath an den Anfänger das doppelte Wörterbuch oft auch da wo man keinen Anstoß findet zu Rathe zu ziehn, um aller kunstlosen Gewöhnung im voraus abzuhelfen
6 6.] korr. aus 7.
35 zu Rathe] über 〈zurükzu〉
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3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muß bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen die es umgeben. 1. Der erste Kanon ist nur ausschließend, der zweite scheint bestimmend zu sein; ein Sprung der gerechtfertigt werden muß. a. Man kommt von dem ersten auf den zweiten. Jedes einzelne Werk hat ein bestimmbares Sprachgebiet. Denn was man in diesem nicht glaubt erwarten zu können zieht man auch bei der Erklärung nicht zu; eben so aber gehört mehr oder weniger die ganze Schrift zum Zusammenhang und Umgebung jeder einzelnen Stelle. b. Eben so nun kommt man vom zweiten zum ersten. Denn wenn die unmittelbare Verbindung von Subject, Praedicat und Beiwörtern nicht genügt, muß man zu ähnlichen Stellen Zuflucht nehmen, und dann unter günstigen Umständen eben so wol außerhalb des Werkes und außerhalb des Schriftstellers, aber immer nur innerhalb desselben Sprachgebietes. 2. Darum ist auch der Unterschied mehr scheinbar als wahr, daß jener ausschließend ist und dieser bestimmend. Sondern in allem einzelnen ist dieser auch nur ausschließend. Jedes Beiwort p schließt nur manche Gebrauchsweisen aus, und nur aus der Totalität aller Ausschließungen entsteht die Bestimmung. Indem nun dieser Kanon in seinem weiteren Umfang auch die ganze Theorie der Parallelen enthält so ist in beiden zusammen die ganze grammatische Interpretation beschlossen. 3. Es ist nun hier zu handeln von Bestimmung des formellen und des materiellen Elementes; beides aus dem unmittelbaren Zusammenhang und aus Parallelen und auf qualitatives sowol als quantitatives Verstehen gerichtet. Man kann jeden von diesen Gegensäzen zum Haupteintheilungsgrund machen, und es wird immer etwas für sich haben. Aber am natürlichsten ist doch der erste weil es eine durch das ganze Geschäft hindurchgehende constante doppelte Richtung ist. 4. Die Erweiterung des Kanons welche im zu Hülfe nehmen der Parallelstellen liegt ist nur scheinbar, und der Gebrauch der Parallelen wird durch den Kanon begrenzt. Denn nur das ist eine parallele Stelle, welche in Beziehung auf die vorgefundene Schwierigkeit als identisch mit dem Saze selbst also in der Einheit des Zusammenhanges kann gedacht werden. 5. Sind nun die beiden Elemente Haupttheile so ist es zwekmäßig von Bestimmung des formellen Elementes anzufangen weil sich unser 34 vorgefundene] über 〈den Zusammenhang〉
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Verstehen des Einzelnen an die vorläufige des Ganzen anschließt und der Saz nur durch das formelle Element als Einheit herausgehoben wird. 5
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4. Von Bestimmung des formellen Elementes. Das formelle Element selbst müssen wir uns theilen in das Säze verbindende, und in das die Elemente des Sazes verbindende. 1. Hiebei muß aber auf den einfachen Saz zurükgegangen werden. Denn die Verbindung einzelner Säze in der Periode, und die Verbindung der Perioden unter sich ist vollkommen gleichartig, wogegen sich die Verbindung der Glieder des einfachen Sazes bestimmt unterscheidet. Zum ersten gehört Conjunction mit ihrem Regimen und was deren Stelle vertritt; zum andern ebenso Präposition. Es kommt dabei an auf die Art der Verbindung[,] auf den Grad derselben, und auf den Umfang des verbundenen. Es giebt wie überall so auch in der Rede nur zwei Arten von Verbindungen die organische und die mechanische, d. h. innere Verschmelzung und äußere Aneinanderreihung. Der Gegensaz ist aber nicht streng, sondern die eine scheint oft in die andere überzugehn. Eine Causal oder Adversativpartikel scheint oft nur anreihend zu sein; dann hat sie ihren eigentlichen Gehalt verloren oder abundirt. Oft aber auch eine anreihende real zu werden und dann ist sie gesteigert oder emphatisch geworden. Auf diese Art geht die qualitative Differenz in die quantitative über; allein dies ist oft nur Schein und man muß doch immer auf die ursprüngliche Bedeutung zurükgehn. Oft auch entsteht der Schein nur wenn man sich den Umfang oder den Gegenstand der Verknüpfung nicht richtig denkt. Also darf niemals über das eine entschieden werden ohne alle andern Fragen mit in die Betrachtung zu ziehen. a. Die organische Verbindung kann zwar fester sein und loser, aber man darf nie vermuthen daß sie ganz ihre Bedeutung verloren habe. Man vermuthet dies, wenn das unmittelbar verbundene nicht zusammen zu gehören scheint. Aber a) Der lezte Saz vor der Partikel kann Zusaz sein und die Verbindung auf den rükwärts liegenden Hauptsaz gehn. Eben so kann der erste Saz nach der Verbindung Vorrede sein und die Verbindung auf den folgenden Hauptgedanken gehn. Immer sollten dergleichen Nebensäze in Zwischensäze verwandelt werden um das Gebiet einer jeden Verknüpfung anschaulich zu machen. Allein jede Schreibart verträgt dergleichen nur in gewissem und 9 unter] korr. aus f 13–15 Es kommt … nur] Im Ms. zunächst nach dem Hauptsatz des Paragraphen; durch Verweisung verschoben. Vor Es giebt im Ms.: 1. 25 Umfang] folgt 〈und〉
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sehr verschiedenem Maaß und je leichter ungebundner die Schreibart desto mehr muß darin der Verfasser auf die Leser rechnen. b) Es kann aber auch die Verknüpfung oft nicht einmal auf den lezten Hauptgedanken gehen sondern auf eine ganze Reihe weil auch ganze Abschnitte nicht anders verbunden werden können. In bestimmter gegliederten Schriften geschieht es daß man beim Uebergang das Resultat eines Abschnittes wiederholt und die Verbindung wol in einen ganzen Saz verwandelt, der zugleich den HauptInhalt des folgenden Abschnittes enthält, und schwerfällige Formen vertragen darin bestimmte Ankündigungen und Wiederholungen, wiewol auch das nicht übertrieben werden darf, aber in leichteren Formen muß der Leser selbst achten und darum ist allgemeine Uebersicht vor dem einzelnen Verstehen doppelt nothwendig. b. Daß die bloße Anknüpfung auch kann gleichsam emphatisch gesteigert werden geht schon daraus hervor, daß alle unsere organischverknüpfenden Partikeln ,denn‘ ,weil‘ ,wenn‘ p ursprünglich nur Raum und Zeitpartikeln sind. Also können auch die jezigen noch einzeln so gesteigert werden. Der Kanon dazu geht daraus hervor daß bloße Anknüpfung im Ganzen nicht vorausgesezt werden darf. Sie herrscht vor in Beschreibung und Erzählung, aber auch da nicht rein, weil der schreibende sonst bloßes Organ wäre. Wo also dies nicht stattfindet da kann sie nur untergeordnet sein d. h. in organischer Verknüpfung eingefaßt, oder aus derselben gefolgert oder sie vorbereitend. Wo also keine organische Verknüpfung vorhanden ist außerdem da muß sie in der aggregirenden latitiren (s. N. 5, 7.)
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5. Anwendung auf das Neue Testament. 1. Da wenn auch in der Sprache der Schrift gedacht wird was man schreibt[,] doch das Entwerfen oft in der Muttersprache geschieht, und schon im ersten Entwurf die Gedankenverknüpfung liegt, so ist hier besonders an Vermischung des griechischen und hebräischen zu den- 30 ken. 2. Diese ist auch um so mehr von großem Einfluß als beide Sprachen hierin sehr verschieden sind. a. Den Reichthum der griechischen Sprache konnten sie sich nicht aneignen auf dem ungelehrten Wege da man hierauf am wenigsten achtet und durch flüchtiges Hören sich den 35 Werth der Verbindungsformeln weniger aneignet, was dann auch zaghaft im Gebrauch der wirklich bekannten macht. b. Griechische Zei3 oft] über der Zeile 6 es] über 〈dies zwar〉 16 ursprünglich] korrigiert 25 (s. ... 7.)] ohne Klammern auf den rechten Rand überlaufend 26 XXIII] über 〈XXIV.〉
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chen die in mehreren Fällen einem hebräischen entsprechen wurden dann um so leichter für gleichbedeutend gehalten 3. Es ist daher nothwendig aus der griechischen Bedeutung eines Zeichens und den ihnen entsprechenden hebräischen Ein Ganzes zu bilden und daraus eben so wie vorgeschrieben zu urtheilen 4. Die leichte Schreibart erlaubt den freiesten Spielraum im Gebrauch dieses Elements weil die Säze selbst am wenigsten künstlich verschlungen werden. 5. Große Verschiedenheit unter den Schriftstellern auch hier nicht zu verkennen. Paulus baut am meisten griechisch Johannes am wenigsten9 6. Die Hülfsmittel sind noch wenig zwekmäßig eingerichtet. Am besten ist immer zusammenzunehmen Neutestamentische Wörterbücher und die über Septuaginta. Vorzüglich wichtig das Achtgeben auch da wo sich keine Schwierigkeiten finden, sonst bekommt man nie einen Takt für das was man sich erlauben darf. Daher auch hier so sehr häufig gefehlt wird 7. Besonders noch nachzuholen (was ich sub 4.a vergessen niederzuschreiben) daß es auch subjective Verbindungen giebt nemlich Grund anzugeben warum das vorige gesagt worden welche sich in der Form von den objectiven nicht unterscheiden. Dann glaubt man dies sei Verringerung der Bedeutung bloßer Uebergang.
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6. Die Lösung der Aufgabe das Sazbindende Element zu bestimmen geschieht durch allgemeine Mitwirkung. 25 1. Im Zurükgehn auf den allgemeinen Inhalt wirken zunächst die Hauptideen, in der Betrachtung der unmittelbar verbundenen Säze ihre Subjecte und Prädicate also das materielle Element. 2. In der allernächsten Umgebung wirkt das combinirte formelle Element nämlich das Regimen erläutert die Partikel, und umgekehrt 30 3. Im folgenden hat man noch zu sehn auf coordinirte oder subordinirte Verbindungsformeln 4. Die Anwendung muß der richtige Sinn machen. Die lezte Bestimmung muß doch immer von dem unbefangenen Nachconstruiren ausgehn. 35
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Ueber die Verbindung von Neuem Testament und ÐRedenÑ
3–4 eines Zeichens] über der Zeile am linken Rand
27 materielle] über 〈formelle〉
35 Ueber ... ÐRedenÑ]
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7. Bei der Verbindung im Saz ist das schwierigste die Präposition und das unmittelbare Abhängigkeitsverhältniß. 1. Gleich ob Saz aus Subject und Prädicat oder auch aus Copula: die unmittelbare Verbindung beider ist nie zu verkennen und auch ihre unmittelbaren Erweiterungen Adjectiv und Adverbium concresciren 5 durch die Form zu Einem Ganzen mit ihnen. Praeposition aber knüpft nähere Bestimmung des Verbi seiner Richtung, seines Gegenstandes p an dasselbe an und ÐGenitivÑ, status constructus p nähere Bestimmung des Subjects. Der Sinn der Praeposition wird leicht durch Subject und 10 Object bestimmt. Das materielle Element entscheidet. 2. Im Neuen Testament ist hier das hebraisirende eben so vorherrschend und man muß immer die correspondirende Form mit im Sinn haben. 8. Nachträglich zu bemerken zur Verbindung der Säze 1. U n v e r b u n d e n e S ä z e können nur vorkommen wenn ein Saz sei es nun nach Causalverknüpfung oder nach Aneinanderreihung als Eins mit dem vorigen gesezt wird ad a. unmittelbar aus demselben heraus genommen so daß der Hauptpunkt schon in jenem enthalten war ad b. genau coordinirtes neben einander gestellt. Daher selten Fehler 2. Alle Bindewörter können bis zu einer enclitischen Unbedeutenheit in gewissen Fällen sinken und dann ist jenes dadurch anzudeutende das loseste 3. Bei Mangel an kritischem Bewußtsein kann die Verbindung selbst unbestimmt gedacht sein 4. Bei den NeuTestamentischen Schriftstellern kommt alles zusammen, die Lockerheit der Perioden, sowol in den didaktischen Schriften wo die Causal als in den historischen wo die erzählende Verknüpfung herrscht; schlechte Gewöhnungen und Gebrauch aus Unkenntniß. Daher beides so schwierig oft nicht wie weit eine didaktische Reihe geht, oft nicht wieweit ein historisches Ganzes. Nur Paulus und Johannes ragen hervor jener didaktisch dieser historisch. Das Interesse genauer zu bestimmen als die Verfasser selbst gethan hängt von dem dogmatischen ab und von dem der historischen Kritik. Daher alles philosophirend sowie kritisch schwierige von der Interpretation abhängt. 24 3] 2
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5 „Concresciren, heißt zusammenwachsen. Es wird aber auch als Kunstausdruck in der Sprachlehre gebraucht, und sagt alsdann, daß ein Begriff, den man vorher bloß als eine abgezogene (abstracte) Beschaffenheit betrachtete, nun als eine an einem Dinge befindliche Eigenschaft (als etwas Concretes, Einverleibtes) angesehen werden soll.“ (Campe 6, 213)
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oyÍpv hËn pneyÄma agion confer 16, 7 Johannes 7, 39 Johannes 20, 15 G a l 1 , 1 6 prosaneûeÂmhn sarkiÁ kaiÁ aiëmati 1 Corinther 15, 32 eÆûhriomaÂxhsa Römer 8, 1 oyÆden katakrima toiw en Xristv Äì Wegen unvollständiger SÐ ungÑ oder Ð Ñ quanta potest ex praedicatis Ebräer 1, 14 Oyxi pantew (exûroi oder aggeloi) eisi leitoyrgika pneymata Matthäus 5, 14. 16 fvw toyÄ kosmoy. Ob ÐdoctoresÑ Epheser 5, 8 hte pote skotow nyn de fvw en kyriÂv – hernach erga toy skotoyw und karpoi toy fvtow. Römer 2, 19 Beweis Ð ÑÐ Ñ Galater 1, 15. 16 Schwierigkeit den Umkreis näher zu bestimmen Canon: Verba ÐexprimendaÑ in tota propositione Wegen des weiter um sich ÐgreifensÑ 1 Johannes 3, 8 confer 2, 29. (ÐgehörtÑ zum Gegensaz) Johannes 12, 32 Ðd Ñ Ð Ñ Ð Ñ ÐerscheinenÑ aus eëlkyÂsv confer 8, Ð28Ñ Johannes 1, 29 ÐPrädicatÑ aus ÐSubjectÑ Nach Reckenberger ÐeinÑ ÐconcinnatusÑ
9. Es giebt Fälle wo man die Schwierigkeit eben so wol auf das materielle als auf das formelle Element zurükführen kann. zum Exempel die hiphilische Bedeutung der Verben und ähnliches 25 kann angesehen werden als Beugung und als eignes Wort, und dies gilt von allen abgeleiteten Formen des Zeitwortes und Hauptwortes so daß der Gegensaz auch nicht rein ist sondern durch Uebergang. – In solchen Fällen muß man sehen durch welche Behandlung man ein reineres und reicheres Ganze erhält aus welchem man construiren kann.
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10. Subject und Prädicat bestimmen sich gegenseitig jedoch nicht vollständig 1. Die genaueste gegenseitige Bestimmung beider ist die Phrase die im technischen den engsten und festesten Kreis hat. Der entgegengesezte Punkt ist auf der einen Seite der Einfall, wo einem Subject ein 35 seltenes Prädicat beigelegt wird außerhalb des gewöhnlichen Kreises
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17 Gegensaz)] Gegensaz 21 ÐconcinnatusÑ] folgt gestrichenes Wort ÐconcinnatusÑ] am linken Rand
1–21 oyÍpv ...
21 Gemeint ist möglicherweise Johann Leonhard Reckenbergers ,Liber radicum sive Lexicon hebraicum‘ von 1749.
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und auf der andern die Gnome welche auch keine näheren Bestimmungsmittel hat aber eben deshalb an sich unbestimmt bleibt und durch die jedesmalige Anwendung bestimmt wird.
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11. Beide werden an sich und also auch gegenseitig näher bestimmt 5 durch ihre Beiwörter. 1. Adjectiva und Adverbia deuten auf eine bestimmte Richtung und scheiden mehreres aus. Auch die Verknüpfungen durch Präpositionen sind noch nähere Bestimmungen des Verbi wie man daraus sieht daß die Präposition von selbst auch Bestandtheil des Verbi wird. 2. Jedoch ist auch dies nicht hinreichend, sondern das recht posi- 10 tive Element kann nur gegeben werden dadurch daß man in der allgemeinen Nachconstruction der Gedankenreihe begriffen ist 12. Für das Neue Testament die Aufgabe von großer Wichtigkeit wegen der neuen und einzigen Begriffe.10 13. Wenn die unmittelbare Bestimmung nicht ausreicht muß die mittel- 15 bare eintreten durch Identät und Gegensaz11 a. Identität. Ueber den Kanon in scriptura sacra tautologia non est admittenda. Rom X, 9 Rom 4, 25 confer 5, 9 – 1 Cor 6, 14–19 Joh 10, 11–14 cf. 15. – Ebr 3, 1 cf. 4, 14. 7, 22. 8, 6. 1 Cor 2, 14. – ibidem 3, 2 p (Joh 5, 31 cf Joh 8, 14 vgl. mit Rom 3, 28 cf Jac 2, 24 20 Rom 4, 2 coram deo coram nos) – 1 Cor 3, 1. cf Ebr 5, 13. – 1 Cor 10, 23 cf Tit 1, 15 1 Cor 8, 5. Rom 16, 16 1 Joh 5, 14–20 – Joh 4, 24 cf. 6, 63 en pneymati anbeten und ta rhmata pneyma esti 14. Gegensaz ist überall aber in der dialektischen Composition am 25 meisten. panta ejestin all oy panta symferei vgl. mit panta kaûara toiw kaûaroiw
30 XXVIII
15. Die Regeln zur Auffindung sind dieselben für das identische und entgegengesezte.12 10
Laxere Form des zusammengesezten Sazes muß auf die strengere reducirt wer- 30 den. 11 Zwischen beiden Aehnlichkeit und Unterschied auf sie zurükzuführen. Identität des Gegensazes von pneyÄma und saÁrj 12 Indem auf diese Art fast alles in der Schrift vorkommendes in den Umkreis der 11 kann] über 〈darf〉 18 confer 5, 9] am rechten Rand 23 en ... esti] am rechten Rand 30–31 Laxere ... werden.] am rechten Rand 32–33 Zwischen ... saÁrj] am rechten Rand 26–27 Siehe 1. Korintherbrief 6, 12 (auch 10, 23) sowie Titusbrief 1, 15.
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1. Denn es giebt kein Urtheil über das entgegengesezte als in Bezug auf eine höhere Identität: und eben so erkennt man die Identität nur an einem gemeinschaftlichen Gegensaz 2. Gleichmäßig kommt es bei beiden an auf die Gewißheit daß wir das Verhältniß zweier Säze so stellen wie der Verfasser es selbst gestellt hat
16. Ein Saz in welchem ohne Unterbrechung noch dasselbe Subject herrscht oder dasselbe Prädicat ist noch als zum unmittelbaren Zusammenhang gehörig zu betrachten 10 Identität des Subjectes Matthäus 16, 18 17. Wenn das nach einer Unterbrechung wiederkehrende zum Hauptzusammenhang der Rede gehört das unterbrechende aber nicht: so hat die Identität die größte Wahrscheinlichkeit
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18. Wenn das Wiederkehrende Nebengedanke ist und das Unterbre15 chende Hauptgedanke: so kann man von der Identität nur überzeugt sein nach Maaßgabe der Gleichheit im Zusammenhange mit dem Hauptgedanken und der Identität des Typus in der Wendung des Gedankens selbst.13
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19. In Absicht der Hauptgedanken kann man über eine Schrift selbst hinausgehn auf die desselben Verfassers, welche sich als Eines mit jener ansehn lassen, und so auch auf Schriften Anderer welche sich anschließen durch Identität der Schule und Ansicht
20. In Bezug auf Nebengedanken kommt es bei Beobachtung von I 18 mehr auf Identität des Sprachgebietes und der Schreibart an als auf Per25 sonen und Ansicht.14 Erklärungsmittel gezogen wird so folgt daß das Geschäft um desto vollkomener von Statten gehen wird je mehr der Erklärer an jedem Punkte das Ganze gegenwärtig hat Resultat für unser Gebiet ist davon ein vollständiges und wohlorganisirtes Wörterbuch der Schrift Idee eines solchen am Beispiel des Plato dar30 gestellt. Wie weit die NeuTestamentischen WörterBücher hinter dieser Idee zurükk sind. –– Für die Fälle wo die Schrift selbst nicht genügt ist der Uebergang zu andern Schriften desselben Verfassers das natürlichste. Aber nicht allgemein da sie zwar in Bezug auf die psychologische Interpretation eine Einheit bilden, in Rüksicht auf die Sprache aber nur so wie sie zur selben Gattung der Composition gehören 35 13 Parabeln lassen sich als Nebengedanken ansehn Matthäus 13 p 146,34–147,35 Indem ... gehören] am linken Rand 10 Identität ... ,18] am Rand 26 das] korr. aus alle 29 Schrift ] folgt 〈〈ÐgeÑ〉〉 36 Parabeln ... 13 p] am rechten Rand
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
21. Je mehr man in Absicht der Aufsuchung sich auf andere verläßt um desto mehr muß man im Stande sein ihr Urtheil zu controlliren15 22. In der Anwendung aufs Neue Testament stehn einander entgegen die philologische Ansicht, welche jede Schrift jedes Schriftstellers isolirt und die dogmatische welche das Neue Testament als Ein Werk Eines Schrift- 5 stellers ansieht.
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23. Beide nähern sich wenn man bedenkt daß in Absicht des religiösen Inhaltes die Identität der Schule und in Absicht der Nebengedanken die Identität des Sprachgebietes eintrift 24. Falsch bleibt aus der dogmatischen Ansicht der Kanon „Man müsse 10 nur im höchsten Nothfall bildlichen Gebrauch annehmen“, der von einer bestimmten Persönlichkeit des heiligen Geistes als Schriftstellers ausgeht
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25. Die philologische Ansicht bleibt hinter ihren eignen Principien zurük wenn sie die gemeinsame Abhängigkeit neben der individuellen Bildung verwirft. 15 26. Die dogmatische geht über ihr Bedürfniß hinaus wenn sie neben der Abhängigkeit die individuelle Bildung verwirft, und zerstört so sich selbst. Weil nämlich sie dann dem heiligen Geist den unläugbaren Wechsel 20 der Stimmung und Modificationen der Ansicht zuschreiben muß.
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27. Es bleibt noch die Frage welche von beiden über die andere gestellt werden soll, und diese muß die philologische Ansicht selbst zu Gunsten der Abhängigkeit entscheiden. Theils ist ihre Individualität erst Product ihres Verhältnisses zu Christo, theils die individuelleren (Paulus und Johannes, jener dialek- 25 tischer dieser gemüthlicher) hat der eine sich ganz umgewendet so daß er doch besser aus andern Neutestamentischen Schriftstellern zu erklären wäre als aus eignen vorchristlichen Schriften; der andre ist offenbar jung zu Christo gekommen und hat erst als Christ seine Eigen30 thümlichkeit entfaltet. 14
In wie fern Nebengedanke erklärt werden kann aus andern Stellen wo dasselbige Hauptgedanke ist? Qualitativ aber nicht quantitativ, verschwimmend aber nicht prägnant 15 Dies darf erst später kommen –– Zuletzt in diesem Theile von der Reconstruction der Sprache Daran schließt sich für Neues Testament die dogmatische 35 Zusammenstellung. 31–33 In ... prägnant] am linken Rand
34–36 Dies ... Zusammenstellung.] am linken Rand
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28. Wenn die philologische Ansicht dieses verkennt vernichtet sie das Christenthum. Denn wenn die Abhängigkeit von Christo Null ist gegen die persönliche Eigenthümlichkeit und die vaterländische Wurzel so ist Chri5 stus selbst Null 29. Wenn die dogmatische den Kanon von der Analogie des Glaubens über diese Grenze ausdehnt vernichtet sie die Schrift. Denn ein consensus aus den deutlichen Schriftstellen kann nicht zur Erklärung der dunkeln gebraucht werden ohne daß die Schrift aus 10 dogmatischen Begriffen erklärt wird, welches ihre Autorität vernichtet und also gegen die Principien der dogmatischen Ansicht selbst streitet. Denn die Aufstellung eines solchen Consenses ist eine dogmatische Operation wobei außer der bezweifelten Eigenthümlichkeit der Person auch von der unbezweifelten Besonderheit der Veranlassung abstrahirt 15 werden muß. Jede Stelle ist ein Ineinander von Gemeinsamen und Besonderen und kann also nicht aus dem Gemeinsamen allein richtig erklärt werden. Das Gemeinsame ist auch nicht eher richtig aufzustellen bis alle Stellen erklärt sind, und der schwankende Gegensaz von klaren und 20 dunkeln läßt sich darauf zurükführen daß ursprünglich nur Eine klar ist.
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30. Die Analogie des Glaubens kann also erst aus der richtigen Auslegung hervorgehn und der Kanon kann nur heißen: es ist irgendwo falsch erklärt wenn aus allen zusammengehörigen Stellen nichts gemeinsames 25 übereinstimmend hervorgeht. Man kann also nur sagen: die Wahrscheinlichkeit der unrichtigen Erklärung liege dann auf derjenigen Stelle, welche allein der Ausmittlung eines solchen gemeinsamen sich widersezt. Zwei Stunden zusammengezogen. In der Einen 31.) die Einheit des 30 Neuen Testaments verglichen mit der Einheit der Sokratischen Schule. In der andern gesprochen (32) von dem Unterschiede zwischen der vorangehenden rein philologischen Erklärung, und dem nachfolgenden zusammenstellenden Gebrauch. (33.) Andere Grundsäze des Parallelismus für diesen. 35 Wesentlicher Unterschied zwischen Hauptstellen und Nebenstellen. Möglichkeit des gleichen Inhaltes bei ganz verschiedenem Sprachge-
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16 Gemeinsamen] über 〈Allgemeinen〉 33 (33.)] über der Zeile
29 31.)] über der Zeile
31 (32)] über der Zeile
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brauch. So Johannes und Paulus indem der eine mehr historisch anknüpft der andre mehr bildlich. 34. Wesentlich ist gänzliche Scheidung des Verfahrens und bestimmtes Bewußtsein darüber in welchem man ist. XXXIV
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35. Wenn die Auslegung unter vorausgesezter Sprachkenntniß eben so 5 betrieben werden muß, wie die durch welche die Sprachkenntniß zu Stande kommt: so muß durch den Gebrauch der Parallelstellen in dem Kreise eines Wortes ein bestimmtes Sprachgebiet abgesteckt werden Eigentlich muß alles in Lexicis unter bestimmten Bedeutungen als Autorität angeführte eine Sammlung von Parallelstellen sein. 10 36. Hiedurch wird die alte Regel: wenn sich noch Spuren in der Schrift selbst fänden die Erklärungsmittel nicht außerhalb derselben zu suchen, gar sehr beschränkt. 1. Denn wenn nun doch Worte in gleicher Bedeutung vorkommen: so würde man solche Stellen doch ins Wörterbuch aufnehmen. Der Unterschied zwischen leichten und schweren Stellen kann nicht hiegegen angeführt werden; aber freilich ist er es von dem man bei jener Regel ausgegangen ist. 2. Bei Hauptgedanken besonders würden sie beschränkt dadurch daß theils die religiöse Umwandlung nicht alles betroffen hat sondern manche Vorstellungen blieben wie die Zeitgenossen sie hatten, theils auch Vorstellungen der Zeit angeführt werden im Gegensaz gegen die christlichen. 3. Bei Nebengedanken ist offenbar daß einem NeuTestamentischen Schriftsteller die andern nicht näher verwandt sind als andere welche Gedankenkreis Bildungsstufe und Sprachgebiet mit ihnen gemein haben 4. Noch weniger ist die Regel werth, wenn man unter heiliger Schrift auch das alte Testament mit versteht. Denn dieses enthält in Absicht der HauptGedanken manches irrige was schon dem ganzen NeuTestamentischen Zeitalter fremd geworden; und in Absicht der Nebengedanken gehört es einer Zeit an von der nur wenig in das Leben der damaligen übergegangen war
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37. Da der Sinn nicht in den einzelnen Elementen sondern nur in ihrem Zusammensein ist: so sind die nächsten Parallelen die, welche dasselbe 35 Zusammensein darbieten. 8 abgesteckt] ab über 〈fest〉
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Es ist immer eine Art Willkühr Ein Wort für das dunkle zu erklären; denn es kann eben so gut das andere sein. Vgl. Johannes 7, 39 wo man sich vergeblich mühen würde wenn man auf Gerathewohl wollte unter den verschiedenen Bedeutungen von pneyma agion herum suchen sondern die rechte Parallele ist Acta 19, 2. und man kann wirklich sagen die Schwierigkeit liegt in dem eiÆnai welches hier nicht streng zu nehmen ist, sondern heißt: in der Erscheinung vorhanden sein, geoffenbart sein. 38. Auf das quantitative Verstehen ist überall eben so zu achten wie auf das qualitative. Also nicht erst damit anzufangen bei schweren Stellen sondern auch bei leichten, im formellen und materiellen Sprachelement, in Wörtern und ganzen Säzen
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39. Das minimum des quantitativen ist das abundiren, das maximum ist 15 die Emphase. 1. Das Abundiren besteht darin wenn ein Theil nichts beiträgt zum Ganzen. Doch findet dieses niemals schlechthin statt. Die Emphase besteht darin Einmal wenn das Wort in dem größten Umfang zu nehmen ist, in welchem es gewöhnlich nicht vorkommt; dann auch wenn 20 alle Nebenvorstellungen welche es erregen kann mit beabsichtigt sind. Das lezte ist etwas unendliches 2. Da nun die Endpunkte nicht eigentlich gegeben sind: so geht man aus von einem Durchschnitt als dem gewöhnlichen[;] was darunter ist nähert sich dem Abundiren, und darüber der Emphase. 40. Alles mehr oder weniger abundirende da es doch einen Grund haben muß, muß entweder aus Rüksicht auf das musikalische der Sprache oder aus einer mechanischen Attraction entstanden sein; und eines von beiden muß man nachweisen können wenn man etwas als abundirend ansehn will. 30 1. Mechanische Attraction kann fast nur stattfinden wenn die Verbindung zweier Redetheile Formel und Phrase geworden ist 2. Aus musikalischer Rüksicht kann etwas abundirendes nur stehn in solchen Gattungen wo dieses Element mehr vortritt und an solchen Stellen wo das logische mehr zurüktritt, welches lezte der Fall ist wenn 35 die Form des Gegensazes ganz fehlt 3. Abundiren können auf diese Art Theile des Subjects oder Prädicates wenn es in eine Mehrheit zerfällt ist[;] ferner Nebenbestim25
34–35 welches … fehlt] nachgetragen
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
mungen des einen oder andern, wenn sie keinen bestimmten Gegensaz gegenüber haben.
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41. Was emphatisch sein soll muß sich durch die betontere Stellung und andere Hinweisungen zu erkennen geben. 1. Ueber das gewöhnliche Maaß der Bedeutsamkeit kann einer 5 nicht bewußtlos hinausgehn, und muß auch bemerkt sein wollen, da der emphatische Gebrauch eines Wortes immer eine Abkürzung ist, etwas bloß hineinzulegen was sonst daneben stehn könnte. Kann also das erste nicht mit gehöriger Deutlichkeit geschehen so wählt doch 10 jeder das andere 2. Es muß immer ein anderer Redetheil da sein in Beziehung auf welchen einer emphatisch ist und dies muß sich durch die Zusammenstellung deutlich machen lassen. 42. Die Maxime soviel als möglich tautologisch zu nehmen ist eben so falsch als die soviel als möglich emphatisch zu nehmen 1. Die erstgenannte ist die Neuere; man glaubt sie im Neuen Testament durch die vorherrschende Form des Parallelismus und durch die größtentheils geringere logische Strenge hinreichend gerechtfertigt; aber mit Unrecht und man muß nach den oben gestellten Säzen davon wieder zurükkommen. Besonders glaubt man sich durch jeden leichten Schein von Synonymie gerechtfertigt. 2. Die leztgenannte ist die ältere zusammenhängend mit der Ansicht daß der heilige Geist Autor sei, und daß der nichts vergebliches thun werde; daher kein Abundiren, keine Tautologie und zunächst also alles verwandte emphatisch. Dann aber auch alles überhaupt; denn in jedem Wort ist etwas zu viel wenn es nicht ganz an jeder Stelle erschöpft ist. Allein da den ursprünglichen Hörern und Lesern die Person des Schriftstellers nie verschwand, und sie Rede und Schrift nur nach den gewöhnlichen Voraussezungen beurtheilen konnten, auch die Ausflucht daß der heilige Geist die ganze inspirationsgläubige Christenheit, welche ihn nur nach der aufgestellten Maxime beurtheilen darf im Auge gehabt, nichts hilft, indem diese Christenheit nur durch das richtige Verständniß, welches sich den ersten Christen mittheilte entstehen konnte, so ist diese Maxime schlechthin verwerflich 3. Indem nun die Wahrheit in der Mitte liegt läßt sich keine andere allgemeine Regel der Beurtheilung angeben, als daß man beide Abweichungen immer im Auge habe, und sich frage welche mit der we29 beurtheilen konnten] korr. aus beurtheilt Ð Ñ
30 Ausflucht] folgt 〈nicht hilft〉
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nigsten Unnatur könnte angewendet werden Besonders kommt hier zur Sprache das Urgiren bildlicher Ausdrüke indem emphatisch betrachtet jede Metapher ein Compendium eines Gleichnisses ist, und eben so kann man auch ein Gleichniß selbst noch emphatisiren. Auch dies muß lediglich nach den aufgestellten Regeln beurtheilt [werden]: ob das was man noch in einem Gleichniß suchen will auch in demselben Gebiet liegt worin das Gleichniß spielt, denn sonst bekäme man doch nur Anwendungen und Einlegungen. Auf der andern Seite aber wie nahe die Metapher der Phrasis läge, denn in demselben Maaß ist keine Emphasis zu erwarten. Am meisten dominirt die Emphasis im streng dialektischen Vortrag und im wizigen 43. Das Maaß in welchem abundirendes oder emphatisches vorauszusezen ist hängt nicht nur von der Gattung der Rede ab, sondern auch von der Entwiklungsstufe des Gegenstandes Wenn ein Gegenstand für das Gebiet der Vorstellung schon gehörig bearbeitet ist, dann kann man von dem mittleren Durchschnitt ausgehen, und es hängt nur von der Redegattung ab wann und wo man mehr Emphase oder Abundanz zu erwarten hat. Ist aber der Gegenstand noch neu, und die Sprache für denselben noch nicht gebildet so entsteht eine Unsicherheit ob die gewählten Elemente auch den Zwek erreichen, und wo diese sich im einzelnen auf etwas bestimmtes gründet, da entsteht dann eine Neigung das nicht genug gesicherte durch einen andern Ausdruk zu sichern. Dies ist die Entstehung der Häufungen welche dann bald für Tautologie genommen wird bald für Emphasis. Das Wahre aber ist man muß sie nicht als Einerlei aber auch nicht als entgegengestellt, sondern als Eins ansehn und aus ihnen zusammengenommen die Vorstellung entwikeln. Im Neuen Testament ist dies der Fall bei Paulus am wenigsten weil seine Terminologie auf einer Masse mündlicher Unterweisung beruhte, in Johannes am wenigsten. Aus der falschen Emphase ist hernach entstanden daß man alle einzelnen Ausdrücke, Erneuerung, Erleuchtung[,] Wiedergeburt in das dogmatische BegriffsSystem aufgenommen hat woraus ein verwirrender unwissenschaftlicher Ueberfluß entstanden ist. Aus der falschen Tautologie ist entstanden daß man den Ausdrücken das minimum von Gehalt zugemessen und also den Begriff selbst aufgehoben hat.
29 mündlicher] münd über 〈gleich〉
29 wenigsten] korr. aus Ð
Ñ
27–28 wenigsten … wenigsten] Kj meisten … wenigsten oder wenigsten … meisten
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
44. Das quantitative Verstehen der Säze führt sich zurück auf das der Elemente und auf das der Verbindungsweisen. Säze haben ein Verhältniß unter sich und eins zur Einheit der Rede. Im lezten kommt alles auf den Gegensaz H a u p t u n d N e b e n g e d a n k e n an, im ersten alles auf c o o r d i n i r t und s u b o r d i n i r t . Alles ist H a u p t g e d a n k e was um sein selbst willen gesagt ist, alles N e b e n g e d a n k e was nur zur Erläuterung gesagt wird, wenn gleich lezterer oft weit ausführlicher sein kann als ersterer. Hauptgedanken zu erkennen an den darin vorkommenden Begriffen. Da Nebengedanken Abundanz sind und im Ideal des streng wissenschaftlichen Vortrags keinen Plaz finden so ist das Verhältniß von Haupt und Nebengedanken eben so zu beurtheilen, wie das von Abundanz und Emphase. Ob Säze coordinirt oder subordinirt sind, daß muß aus den Partikeln und Verbindungsweisen hervorgehn; aber der Inhalt ist ergänzend. Je mehr in einer Sprache oder einer Redegattung die Verbindungsformeln bestimmt sind um desto weniger braucht man erst nach dem Inhalt der Säze zu fragen, und umgekehrt je klarer der Zusammenhang ist, desto weniger komt auf eine Anomalie im Gebrauch der Verbindungsformeln an. In losen Formen aber wie die Neutestamentischen überhaupt sind ist es schwierig Haupt und NebenGedanken aus dem Sprachgebiet zu unterscheiden weil dieser Gegensaz selbst nicht stark gespannt ist sondern beim leichten Wechsel der Materien eins in das andere übergeht. Dann muß das andre zu Hülfe komen, und indem man das Verhältniß eines Sazes zu einem andern erkennt muß man vermittelst dessen auch das zum Ganzen finden.16
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Schlußbemerkung Die zuletzt behandelten Gegenstände haben uns am meisten auf die technische Interpretation hingewiesen. Nicht als ob die Maxime daß eigentlich jede Seite für sich hinreichen müßte an sich unrecht wäre; aber sie 30 sezt eine so vollkommene Sprachkenntniß voraus, wie ohne vollendete Auslegung nicht möglich ist. 16
Hieraus ist auch die unrichtige Klassification dogmatischer Stellen zu erklären welche eigentlich auf der Maxime ruht, daß in NeuTestamentischen Schriften alles dogmatische gleich müsse Hauptgedanke werden. Unhaltbarkeit dieser 35 Maxime.
4 alles] folgt 〈〈an〉〉
33–36 Hieraus ... Maxime.] am linken Rand
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Da nun wenn Sprachkenntniß mangelt ich zwar die Sprachkenntniß Andrer zu Hülfe nehmen muß aber diese selbst nur mit meiner mangelhaften Sprachkenntniß benuzen kann: so muß in jedem solchen Fall die technische Auslegung Ergänzung sein. Und eben so umgekehrt kann ich 5 die Kenntniß Anderer vom Verfasser nur mittelst meiner mangelhaften Kenntniß von ihnen selbst benuzen also muß mir die grammatische Auslegung zur Ergänzung dienen.
Zweiter Theil
Die technische Interpretation.
1. Der gemeinsame Anfang für sie und die grammatische ist die allgemeine Uebersicht, welche Einheit des Werkes und Hauptzüge der Composition auffaßt. Aber die Einheit des Werkes, das Thema wird hier angesehn als das den Schreiber bewegende Princip, und die Grundzüge der Composition als seine in jener Bewegung sich offenbarende eigenthümliche Natur17 15 Die Einheit des Werkes ist in der grammatischen Construction des Sprachgebietes und die Grundzüge der Composition sind Construct der Verknüpfungsweise. Hier ist der Gegenstand das wovon der Verfasser zur Mittheilung in Bewegung gesezt wird. Die objectiven Differenzen zum Exempel ob die Behandlung populär ist oder scien20 tifisch, sind hier schon mit inbegriffen. Aber der Verfasser ordnet sich nun die Gegenstände seiner eigenthümlichen Weise nach, die sich also in dieser Anordnung abspiegelt. Eben so da jeder immer Nebenvorstellungen hat und durch diese auch die Eigenthümlichkeit bestimmt wird so erkennt man die Eigenthümlichkeit aus der Ausschließung ver25 wandter und der Aufnahme fremder 10
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Einheit des Werkes. – Abtheilungen ÐsindÑ oft bloß äußerlich und müssen dann zerstört werden. Dagegen auch oft die Gliederung absichtlich verdeckt. – Einheit desto fester je künstlerischer und umgekehrt. – Das kunstmäßige ist nicht allein aus der Sprache zu beurtheilen zum Exempel bei Dialogen und Briefen –– Die äußerste Lockerheit und die äußerste Festigkeit fallen außer der Grenzen eigentlicher Auslegung –– Vorläufige Aufgabe was man vorher wissen muß Zweck individuelle Denkweise Gedankenvorrath
2 muß] über 〈Ð Ñ〉 21 Gegenstände] Gegenstand 23 und] über 〈und〉 23 auch die] über der Zeile 24 wird] über 〈welche〉 26 ÐsindÑ] oder ÐhierÑ 26–32 Einheit ... Gedankenvorrath] am rechten Rand 27 Dagegen ... verdeckt.] mit Einfügungszeichen oberhalb der Randbemerkung 7 Lücke (SW I/7) geht hier zur Wiedergabe von Calows Nachschrift von 1832/33 über.
SN 86, 1
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Indem ich den Verfasser so erkenne, erkenne ich ihn wie er an der Sprache mit arbeitet: denn er bringt theils Neues hervor in ihr, da jede noch nicht gemachte Verbindung eines Subjects mit einem Prädicat etwas neues ist, theils erhält er das was er wiederholt und fortpflanzt. Eben so indem ich das Sprachgebiet kenne erkenne ich die Sprache wie 5 der Verfasser ihr Product ist und unter ihrer Potenz steht. Beides also dasselbe nur von einer andern Seite angesehen.
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2. Das lezte Ziel der technischen Auslegung ist auch nichts anderes als der entwikelte Anfang nämlich das Ganze der That in seinen Theilen und in jedem Theile wieder den Stoff als das bewegende und die Form als die 10 durch den Stoff bewegte Natur anzuschauen. Denn wenn ich alles Einzelne durchgeschaut habe so ist nichts weiter zu verstehen übrig. Es ist auch an sich offenbar daß der relative Gegensaz vom Verstehen des Einzelnen und dem Verstehen des Ganzen vermittelt wird dadurch daß jeder Theil dieselbe Behandlung zuläßt 15 wie das Ganze. Aber das Ziel ist nur erreicht in der Continuität. Wenn auch manches allein grammatisch zu verstehn ist: so ist es doch nicht in seiner Nothwendigkeit zu verstehen, die man nur inne wird, wenn man die 20 Genesis nie aus den Augen verliert. 3. Das ganze Ziel ist zu bezeichnen als vollkommnes Verstehen des Styls. Gewohnt sind wir unter Styl nur die Behandlung der Sprache zu verstehen. Allein Gedanken und Sprache gehen überall in einander über, und die eigenthümliche Art den Gegenstand aufzufassen, geht in 25 die Anordnung und somit auch in die Sprachbehandlung über. Da der Mensch immer in einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen ist: so ist jedes entstanden aus Aufnehmen und Ausschließen. – Ist aber dieses oder sonst etwas nicht aus der persönlichen Eigenthümlichkeit hervorgegangen, sondern angelernt oder angewöhnt oder auf den Effekt gearbeitet: so ist das Manier, und manierirt ist immer schlechter 30 Styl. 4. Es ist nur durch Annäherung zu erreichen. Wir sind ohnerachtet aller Fortschritte noch weit davon entfernt. Streit über Homer wäre nicht möglich. Ueber die drei Tragiker: Un35 vollkommenheit ihrer Unterscheidung. Individuelle Anschauung ist nicht nur niemals erschöpft, sondern auch immer noch Berichtigung fähig. Man sieht dies auch daraus daß 13 verstehen] folgt 〈Ð Ñ〉
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die beste Probe ohnstreitig die Nachahmung ist. Da aber diese so selten gelingt, und die höhere Kritik noch immer Verwechselungen ausgesezt ist so müssen wir noch ziemlich weit von dem Ziel entfernt sein. 5. Vor dem Anfang der technischen Auslegung muß gegeben sein die Art 5 wie dem Verfasser der Gegenstand und wie ihm die Sprache gegeben war,
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und was man anderweitig von seiner eigenthümlichen Art und Weise wissen kann. Zu dem ersten ist mit zu rechnen der Zustand, in welchem sich die bestimmte Gattung der das Werk angehört vor seiner Zeit befand; zu dem zweiten was auf diesem bestimmten und den nächstangrenzenden Gebieten üblich war. Also kein genaues Verständniß dieser Art ohne Kenntniß der gleichzeitigen verwandten Litteratur, und dessen was dem Verfasser als früheres Muster des Styls gegeben war. Ein solches zusammenhängendes Studium kann in Beziehung auf diese Seite der Auslegung durch nichts ersezt werden. Das dritte ist zwar zu wünschen aber da es nicht leicht anders als aus der dritten Hand also mit Urtheil vermischt welches erst durch ähnliche Auslegung geschäzt werden kann so muß man es entbehren können. Lebensbeschreibungen der Verfasser sind ursprünglich wol aus dieser Absicht ihren Werken beigefügt worden, allein gewöhnlich wird diese Beziehung übersehen. Auf das nothwendigste von den andern beiden Punkten sollen allerdings zwekmäßige Prolegomena aufmerksam machen. Aus diesen Vorkenntnissen entsteht bei der ersten Uebersicht des Werkes eine vorläufige Vorstellung davon worin das eigenthümliche vorzüglich zu suchen sei.
6. Für das ganze Geschäft giebt es vom ersten Anfang an zwei Methoden: die divinatorische und die comparative, welche aber wie sie aufeinander zurükweisen auch nicht dürfen von einander getrennt werden. 30 Die divinatorische ist die welche indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das individuelle unmittelbar aufzufassen sucht. Die comparative sezt erst den zu verstehenden als ein allgemeines, und findet dann das Eigenthümliche indem mit anderm unter demselben allgemeinen befaßten verglichen wird. Jenes ist die weibli35 che Stärke in der Menschenkenntniß, dieses die männliche Beide weisen aufeinander zurük. Denn die erste beruht zunächst darauf daß jeder Mensch außer dem daß er selbst ein eigenthümlicher 14 diese] korr. aus dieses
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
ist eine Empfänglichkeit für alle andern hat. Allein diese selbst scheint nur darauf zu beruhen daß jeder von jedem ein minimum in sich trägt, und die Divination wird sonach aufgeregt durch Vergleichung mit sich selbst. Wie aber kommt die comparative dazu den Gegenstand unter ein allgemeines zu sezen? Offenbar entweder wieder durch Compara- 5 tion und dann ginge es ins unendliche zurük, oder durch Divination. Beide dürfen nicht von einander getrennt werden. Denn die Divination erhält ihre Sicherheit erst durch die bestätigende Vergleichung, weil sie ohne dieses immer fantastisch sein kann. Die comparative aber gewährt keine Einheit; das allgemeine und besondre müssen einander 10 durchdringen und dies geschieht immer nur durch die Divination 7. Die Idee des Werkes welche als der der Ausführung zum Grunde liegende Wille sich zuerst ergeben muß ist nur aus den beiden Momenten dem Stoff und dem Wirkungskreise zusammen zu verstehen. 1. Der Stoff allein bedingt keine Art der Ausführung. Er ist zwar in 15 der Regel leicht genug auszumitteln auch wenn er nicht gradezu angegeben wird, dafür aber kann er auch angegeben zu einer falschen Ansicht verleiten. – Was man hingegen Zwek des Werkes in einer engeren Hinsicht nennen kann, das liegt auf der anderen Seite, ist oft etwas ganz äußeres und hat nur auf einzelne Stellen einen beschränkten Ein- 20 fluß, der doch noch gewöhnlich aus dem Charakter Einiger für die das Werk bestimmt ist erklärt werden kann. Weiß man aber für wen der Gegenstand soll bearbeitet werden, und was die Bearbeitung in ihnen bewirken soll: so ist dadurch zugleich die Ausführung bedingt, und 25 man weiß alles was man nöthig hat.
Randbemerkungen (1828 und 1832) zur Hermeneutik 1819
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 83, Seite 2
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Hermeneutik und Kritik nacheinander als verwandt, so nämlich daß die Ausübung einer jeden die andere voraussezt. In beiden die Beziehung auf den Verfasser in allgemeiner Beziehung und in universeller Hermeneutik wird billig vorausgesetzt weil sie auch da nöthig ist wo Kritik fast gar nicht stattfindet, überhaupt weil Kritik aufhören soll ausgeübt zu werden, Hermeneutik aber nicht. Die hermeneutische Aufgabe kehrt immer wieder. Doch ist der Zustand noch wie Saz 1. 2. Specielle Hermeneutik sowol der Gattung nach als der Sprache nach ist immer nur Aggregat von Observationen und genügt keiner wissenschaftlichen Forderung. Das Verstehen erst ohne Besinnung treiben und nur in einzelnen Fällen zu Regeln seine Zuflucht nehmen ist auch ein ungleichmäßiges Verfahren. Man muß diese beiden Standpunkte wenn man keinen aufgeben kann mit einander verbinden. Das geschieht durch eine doppelte Erfahrung. 1.) Auch wo wir am kunstlosesten verfahren zu können glauben entstehen oft unerwartete Schwierigkeiten, wozu die Lösungsgründe doch im früheren liegen müssen. Also sind wir überall aufgefordert auf das zu achten was Lösungsgrund werden kann. 2.) Wenn wir überall kunstmäßig verfahren so kommen wir doch am Ende zu einer bewußtlosen Anwendung der Regeln ohne daß wir das kunstmäßige verlassen hätten. Allgemeine Hermeneutik gehört so wie mit Kritik so auch mit Grammatik zusammen. Aber da es nicht nur keine Mittheilung des Wissens, sondern auch kein Festhalten desselben giebt ohne diese drei und zugleich alles richtige Denken auf richtiges Sprechen ausgeht so sind auch alle drei mit der Dialektik genau verbunden. Nun kam § 5. 3. Erläuterungen über § 5. und § 6. – Zu § 7 Es ist kein Unterschied des leichteren und schwereren im allgemeinen, wol aber ist dem Einen dieses leichter und dem andern jenes. Daher auch zwei verschiedene 22 bewußtlosen] folgt 〈Regel aufgeben〉
28 Dialektik] korr. aus Ð
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Hauptrichtungen und Hauptwerke, Sprachbemerkungen und Einleitungen 4. Forsezung von § 7. Auch nicht die eine die höhere § 6. 8. 9 5te Stunde § 10. 11. Zu 11 minimum Gemeine Rede als a geschäftliche b Gespräche; maximum dominirend für die Sprache und urbildlich in der Gedankenproduction = genial. Dazwischen liegendes nähert sich an eines von beiden, a an das gemeine der relativen Inhaltswichtigkeit und die anmuthige Darstellung, b an das geniale[,] die Classicität in der Sprache die aber nicht original zu sein braucht und die Originalität in der Verknüpfung die aber nicht classisch zu sein braucht. 6. § 12 und 13 angefangen 7te Stunde Fortsetzung von § 13 Dogmatische und allegorische Interpretation haben als Jagd auf inhaltreiches und bedeutsames den gemeinsamen Grund, daß die Ausbeute so reich als möglich sein soll für die christliche Lehre und daß in heiligen Büchern nichts geringfügig und vorübergehend sein soll Von diesem Punkt aus auf die Inspiration. Bei der großen Mannigfaltigkeit von Vorstellungsarten ist das beste erst zu versuchen auf was für Folgerungen die strengste Vorstellung führt. Also Wirksamkeit des Geistes vom Entstehen der Gedanken bis auf den Act des Schreibens erstrekt. Diese hilft uns nicht mehr wegen der Varianten. Diese waren aber gewiß vorhanden schon vor Sammlung der Schrift. Hier wird also schon Kritik erfordert. – Aber auch die ersten Leser der apostolischen Briefe hätten müssen von dem Gedanken an die Verfasser und von Anwendung ihrer Kenntniß derselben abstrahiren und wären mithin in die tiefste Verwirrung versunken. Fragt man nun noch dazu, weshalb entstand nicht die Schrift ganz wunderbarer Weise ohne Menschen anzuwenden so muß man sagen der göttliche Geist kann diese Methode nur gewählt haben wenn er wollte daß alles solle auf die angegebenen Verfasser zurükgeführt werden. Darum kann auch das nur die richtige Auslegung sein. Von der grammatischen Seite gilt dasselbe Dann aber muß auch alles einzelne rein menschlich behandelt werden und die Wirksamkeit des Geistes bleibt nur der innerliche Impuls Andere Vorstellungen welche einiges einzelne (zum Exempel Bewahrung vor Irrthümern) dem Geist zuschreiben das übrige aber nicht, sind unhaltbar zum Exempel Bewahrung vor Irrthümern wobei der Fortgang als gehemmt gedacht werden muß das richtige an die Stelle tretende aber dann wieder dem Verfasser zufällt. 8 und] korrigiert
26–27 Verwirrung] davor 〈Ð
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8. Ob der Inspiration wegen alles sich auf die ganze Kirche beziehen muß? Nein, die unmittelbaren Empfänger hätten dann immer unrichtig auslegen müssen und viel richtiger hätte dann der Geist gehandelt, wenn die heiligen Schriften nicht Gelegenheitsschriften gewesen wären. Also grammatisch und psychologisch bleibt alles bei den allgemeinen Regeln. Inwiefern sich aber unter diesen eine Specialhermeneutik ergiebt, das kann erst später untersucht werden. § 14–16. Wir stellen uns nun auf den Punkt des relativen Gegensazes zwischen kunstlos und kunstgemäß. Wenn man zum lezten erst übergehen will wo Schwierigkeiten aufstoßen, so kommt man auf Einzelheiten von Observationen. – Das genaue Verstehen schließt in sich daß man auch das leichteste in dem Sinn auffaßt daß es den Schlüssel zu künftigem schweren enthalten kann. 9. Auseinandersezung der Differenz (36, 2) der subjectiven ÐanÑ künstlich und der objectiven per se. § 17 Negative Auffassung der Aufgabe: materielles und formelles Mißverständniß zu vermeiden. 10te Stunde § 17, 5. Doch hergehörig als maximum weil ganz falsche Voraussezungen zum Grunde liegen § 18. 19. 11te Stunde § 19. 20. 21. 22, leztes nur angefangen und die beiden lezten noch ohne Anwendung auf das Neue Testament. 12te Stunde § 21. 22. in Bezug auf das Neue Testament. 13te Stunde § 23 Allgemeine methodische Regel. a. Anfang mit allgemeiner Uebersicht. b. Gleichzeitig begriffensein in beiden Richtungen c. nur wenn beide genau zusammentreffen in einer einzelnen Stelle kann man weiter gehn d. Nothwendigkeit des Zurükgehens wenn sie nicht zusammenstimmen bis man den Fehler im calculus gefunden hat. § 1 Der Kanon zuerst negativ als Cautel
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Hermeneutik 1832. E r s t e Wo c h e 1–4. Erhebung der Aufgabe auf den allgemeinen Standpunkt verglichen mit Ast und Wolf. Wie Hermeneutik und Kritik zusammen gehören und beide zur Grammatik. Hermeneutik und Grammatik aber auch zur Rhetorik und Dialektik. – Daß sie in einen 35 doppelten complexus gehört, hat sie mit allen Techniken gemein – aus 14 ÐanÑ] folgt 〈bezieh〉
26 nur] davor 〈Beruhigung〉
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diesem entwikkelt sich die sprachliche und die gemüthliche Seite. – Jede so weit, daß am Ende das Resultat der andern auch mit erreicht sei Z w e i t e Wo c h e 5–9. Keine von ihnen ist höher oder niedriger – sie beruhen auf Sprachtalent und Menschenkenntniß. – Skala des Werths der Gegenstände für beide, nach 11. – Die Regeln müssen mehr Methode sein um Schwierigkeiten zuvorzukommen als Observationen um solche aufzulösen. – Ueber die Grenzen zwischen allgemeinem und speciellem: grammatisch nach Sprachen, nach Prosa oder Poe¨sie; psychologisch nach Gattungen. – Die b i b l i s c h e ist weder eine specielle nach Sprache noch nach Gattungen, auch nicht wegen zwiefachen Sinnes, ob wegen Inspiration? Aufsuchen des maximum und minimum in diesem Begriff. 1832. Stunde 10. Die Inspiration als Einflößung der Gesinnung hat keinen Einfluß mehr auf die Auslegung. Wenn das Ziel der Hermeneutik auch hier nur sein kann zu verstehen wie die ersten Leser verstanden haben: so hat auch die totale Inspiration keinen Einfluß auf die Auslegung. – Die NeuTestamentliche Hermeneutik ist also auch durch die Inspiration keine specielle und es bleibt nur das zusammengesezte Sprachgebiet übrig. Hier ist übergangen eine Digression über die juristische Hermeneutik die in ihrer Specialität über das hinausgeht was der Autor wirklich gedacht hat, indem sie in der Regel fragt ob er Fälle an die er nicht denken konnte subsumiren würde. – 1 1 . 1 2 . Das natürlich specielle auf beiden Seiten schließt sich aber so an das allgemeine an daß wir von diesem aus sehr weit kommen können. Auf der sprachlichen Seite wird doch die Kenntniß der Sprache vorausgesezt und so auch wie sich in ihr der Gegensaz zwischen Prosa und Poesie ausbildet. Auf der andern die allgemeine Erfahrung von Gemüthszuständen und Stimmungen
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Vor dem Anfang des Verfahrens muß man wissen in welchem Verhältniß man beide Seiten anzuwenden hat (12) dann muß man zwischen sich und dem Autor dasselbe Verhältniß herstellen wie zwischen ihm und seiner ursprünglichen Adresse. Also Kenntniß des ganzen Lebenskreises und des 30 Verhältnisses beider Theile dazu. Ist dieses nicht vollständig geschehn so entstehen Schwierigkeiten die wir vermeiden wollen. Commentare sagen dieses voraus und wollen sie lösen. Wer sie gebraucht ergiebt sich einer Autorität und erhält sich nur das selbständige Verstehen wenn er diese Autorität wieder seinem eignen Urtheil unterwirft. 1 3 . Ist die Rede an 35 11 des] korrigiert 12 Einflößung] folgt 〈ÐwahrÑ〉 zeichen am unteren Rand
18–21 Hier ... würde.] mit Einfügungs-
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mich unmitelbar gerichtet: so muß aber auch vorausgesezt werden, daß der Redende mich so denkt wie ich mir bewußt bin zu sein. Da nun schon das gemeine Gespräch oft zeigt, daß sich dies nicht so verhält so müssen wir skeptisch vorgehn. K a n o n Die Bestätigung des Verständnisses welches sich am Anfang ergiebt erst vom folgenden erwarten. Daraus folgt daß man den Anfang nicht eher versteht als am Ende, also auch daß man den Anfang noch haben muß am Ende und dies heißt bei jedem über das gewöhnliche Maaß des Gedächtnisses hinausgehenden complexus daß die Rede muß Schrift werden. Der Kanon gewinnt nun die Gestalt „um das erste genau zu verstehen muß man schon das Ganze aufgenommen haben“ 1832 Fortsezung von 13. Natürlich nicht in so fern es der Gesamtheit des einzelnen gleich ist, sondern als Skelett Grundriß wie man es fassen kann mit Uebergehung des einzelnen. Diesen nämlichen Kanon erhalten wir auch wenn wir von der Fassung ausgehen den Prozeß des Autors nachzubilden. Denn bei jedem größern Complexus hat dieser auch das Ganze eher gesehen als er zum Einzelnen fortgeschritten. 14. Um nun in möglichst ununterbrochenem Gang zu bleiben müssen wir das was dadurch vermieden werden soll näher betrachten nämlich das Mißverstehen. Säze können quantitativ mißverstanden werden wenn das Ganze nicht näher aufgefaßt ist[,] qualitativ wenn Ironie für Ernst genommen wird und umgekehrt. Saz als Einheit ist auch das kleinste für das Verstehn und Nichtverstehen. Mißverstand ist Verwechselung des einen Ortes in dem Sprachwerth eines Wortes oder einer Form mit dem andern. Der Gegensaz zwischen qualitativ und quantitativ geht genau genommen durch alles durch, auch Gott ist demselben unterworfen und die formellen wie die materiellen. 1 8 3 2 F o r t s e z u n g v o n 1 4 . Die Genesis des Nichtverstandes ist zwiefach, durch Nichtverstehen oder unmittelbar. An der ersten ist eine Schuld des Verfassers eher möglich, die andere ist wahrscheinlich ganz eigen. (vgl § 17.) 15. Wir können die ganze Aufgabe noch auf diese negative Weise ausdrücken auf jedem Punkt das Mißverstehn zu vermeiden. Denn beim bloßen Nichtverstehen kann niemand stehen bleiben, also muß das völlige Verstehen herauskommen wenn diese richtig gelöst wird. Soll nun nachdem die Aufgabe gefaßt und die Vorbedingungen erfüllt sind das Geschäft beginnen: so ist nun zwischen beiden ÐSeitenÑ eine Prio10 Ganze] folgt 〈Ð Ñ〉 11 haben“] haben 17 fortgeschritten] folgen mehrere unleserliche, verwischte und möglicherweise gestrichene Wörter. 27 materiellen.] folgt auf eigener Zeile rechtsbündig die
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rität zu bestimmen. Sie fällt auf die grammatische Seite theils weil diese am meisten bearbeitet ist theils weil man hiebei am leichtesten auf die vorhandenen Vorübungen rechnen kann 1832. Stunde 15. Grammatische Auslegung Kanon wie 1. Das gemeinsame Sprachgebiet ist der Ort in der Sprache Stunde 16 erläutert 1, 3.4.a.b. Und von neuen Wörtern, die Nothwendigkeit sie dafür zu erkennen; ihre Wichtigkeit zumal wo ein Gebiet zuerst behandelt wird. Stunde 17. Neue Wörter sind eigentlich auch keine Ausnahmen von der Regel, da ihr Sinn doch beim ersten Vorkommen aus dem Zusammenhang muß verstanden werden können. Bedingung des ungestörten Fortschreitens im Saz ist die vollständige Bestimmbarkeit jedes Elements durch die Gesamtheit der übrigen. Wo das nicht eintritt, da wird die zweite Hülfe aus Lexicis nothwendig. Doppelter Charakter derselben die alphabetischen die Etymologischen. 18. Ueber Gegensaz und Uebergang in den Bedeutungen. Uneigentlich existirt nicht in Fällen wie coma arborum; wer Laub übersezt veranlaßt ein qualitatives Mißverständniß. 19. Uneigentlich also ist entweder gar nicht oder nicht als Gegensaz. Aber freilich ist die Einheit eines Worts nicht immer dieselbe, es können später Entdeckungen gemacht werden oder Beziehungen entstehn auf die es ausgedehnt wird. Dann ist nothwendig zu wissen nicht nur daß eine ÐBedeutungÑ noch in Ðdem EignenÑ eines Verfassers gelegen hat sondern auch ob sie ihm noch neu war oder schon geläufig; sonst ebenfalls quantitatives Mißverständniß 25 Nachdem das Erweiterungsprincip des Zusammenhanges schon vorher im allgemeinen deutlich gemacht worden war, wurde gezeigt daß es sich ÐandersÑ modificire für HauptGedanken, Nebengedanken und solche die nur Darstellungsmittel sind. Diese Unterscheidungen treten aber am stärksten nur hervor wo ein logisches Verfahren herrscht. Die äußersten Enden sind lyrische Poesie wo der Gedanke nur Darstellungsmittel, und die systematische wissenschaftliche Darstellung wo alles HauptGedanke ist und das einzelne sich nur wie Theil verhält. Beim ersten muß gleich einzeln fortgeschritten, das lezte muß möglichst auf einmal verstanden werden. 26. Abstufungen zwischen beiden bilden die epistolarische Form dem lyrischen am nächsten, die historische dem systematischen, die didaktische wie sie auch rhetorisiren kann, die Mitte darstellend. 13 Elements] folgt 〈Ð
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27 25] korr. aus 24
37 26] korr. aus 25
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Für die Hauptgedanken ist die Erklärungssphäre die Identität des complexus, parenthetisches hebt denselben nicht auf. Nächstdem der ähnliche Complexus im andern und man muß in ÐandernÑ Punkten der Identität des Sprachgebrauches sicher sein, weil sich dieser oft sogar auch partiell ändert. – Für Nebengedanken sind ÐimmerÑ analoge Stellen, wo sie Hauptgedanken sind brauchbar, zunächst um den Totalwerth zu finden, dann nach Maaßgabe der Verwandschaft. Man muß aber hiebei auf die psychologische Thatsache sehen zu welchem Grad der Klarheit diese in einem Schriftsteller gelangen. 27. Ueber Erklärung aus entgegengeseztem analog dem Verstehen des einzelnen aus dem Ganzen. Aber es giebt auch Begriffe die durch Uebergänge in einander gehen (jenes vom Nomen aus, dieses vom verbum aus) 28 Schwieriger die Uebergänge. Der ganze Kreis muß gegenwärtig sein, und Erläuterungen können nur genommen werden von einem der nur dieselben Glieder des Kreises braucht Von Gedanken die nur Darstellungsmittel sind. Der allgemeine Typus ist Vergleichung: Endpunkte die ausgeführte Allegorie und der einfache bildliche Ausdruck. Einige sind verwandtschaftliche andre willkührliche. Bei den lezten ist die Aufgabe das tertium comparationis zu finden, nur zu lösen wenn der Gegenstand seine Mannigfaltigkeit und seinem Verlauf nach bekannt sind (Häufungen davon bei Jean Paul Schwierigkeiten welche hätten vermieden werden können bei Hamann.) 29 Auch die willkührlichen wenn Wahrheit drin ist müssen sich in eine durchgreifende Analogie zurükführen lassen. Ist diese zu versteckt und wird doch die Vergleichung als wirklicher Theil der Beschreibung gebraucht (wie Hamann) so ist der Schriftsteller schwer
Hier abgebrochen um das bisherige auf das Neue Testament anzuwenden. Die Identität des Zusammenhanges ist schwer zu bestimmen in der epistolarischen Form, schwer auch in den historischen weil sie können zu30 sammengetragen sein. Also alles nicht zu derselben Erzählung gehörige ist nur wie Stellen eines andern Schriftstellers zu gebrauchen Die Hauptfrage nun in wiefern das Neue Testament Ein Ganzes ist gehet auf Johannes zurück
5 ÐimmerÑ] oder nur stocksche ÐUnterÑ〉 21 statt ,sind‘ lies ,ist‘.
22 Hamann.)] folgt 〈das physische und ethische für einander Klop-
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
30. Hierüber auf das frühere berufen. Aber als Sammlung betrachtet muß man auf allgemeine Principien zurükgehn. a Sammlung von Schriften desselben Verfassers über verschiedene Gegenstände haben nur Einheit in Bezug auf seine individuelle Sprachbehandlung b Sammlung verschiedener über denselben Gegenstand durch Gegensaz zu brauchen wenn im Gegensaz mit einander. Mit großer Vorsicht wenn sie nichts von 1832 Fortsezung von 30. einander wissen. So größtentheils das Neue Testament. Analogie mit jenen haben die Reden Christi 1828 habe ich das materielle Element vorangenommen. Warnung vor übereilten aus dem Zusammenhange herausgerissenen Stellen. 31 Beispiele einfacher Bestimmung von Prädicat und Subject im Neuen Testament in einfachen Säzen und ihrer nächsten Umgebung a. Joh 7, 39 dazu Joh 14 p und 16 p wie sich oyÍpv eiÆnai und pneyÄma stellt, desgleichen daß Johannes wegen oyÍpv hËn nicht kann an alttestamentlichen Gebrauch gedacht haben sonst hätte er sagen müssen „der Geist war noch nicht wieder da“. b. 1 Cor 15, 32 daß ûhriomaxomai nur kann als einzelner Fall zu kaû’ hëmeÂran apoûnhÂskv stehn. – cf. Matthäus 5, 14.16. fvw aus kala erga vgl. Epheser 5, 8. 32 Beispiele ausführlich Johannes 8, 28 und 12, 32. In vers 33 will Johannes nur eine Anspielung andeuten; der eigentliche Sinn bezieht sich auf krisiw toy kosmoy und ycvûeiw eëlkysv ist Gegensaz zu arxvn ekblhûhsetai. Beides die Momente von krisiw toy kosmoy wie auch das asyndeÂkvw wiederholte nyÄn andeutet (vgl. Tittmann p. 453) Die erste Stelle 8, 28 scheint ausschließend auf den Tod bezogen werden zu können, weil den Juden dabei eine Activität zugeschrieben wird, und weil, geistig verstanden, das erkennen dem yëcvsai scheint vorangehn zu müssen. Allein 1.) gehört zu dem gnvsesûe alles folgende und dieser Erkenntniß muß doch die subjective Hochschäzung vorangehn, welche Activität ihnen denn auch wol kann beigelegt werden. Vom Tode hingegen verstanden müßte Christus (wenn man auch oëtan als ungewiß ÐgeltenÑ läßt. – Ein Beispiel übrigens von oÏtan mit toÂte wo lezteres regiert führt Ð Ñ p. 436 aus Plato an –) gesagt haben, wenn ihr mich tödtet
10 1828 ... vorangenommen.] links neben S. 140,37–141,3
18 da“] da
15 Gemeint ist Johannes 14, 16–18; 15, 26; 16, 7–15 (über die kommende Sendung des Geistes). 25 Gemeint ist Tittmann, Karl Christian: ,Meletemata sacra sive commentarius exegetico-critico-dogmaticus in Evangelium Ioannis‘, Leipzig 1816 (SB 2006).
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werdet ihr gläubig werden 2. hat Christus vorher gesagt wenn sie nicht glauben werden sie in ihren Sünden sterben, und dazu gehört als weitere Ausführung in der Form des Gegensazes „Wenn ihr ihn aber hochschäzt, dann werdet ihr zu dieser Erkenntniß gelangen“. Die Parallelstelle 3, 14 handelt vom Erhöhen als Zeichen. 33 Beispiele von Erklärung aus entgegengeseztem nach 13. 34 Allgemeine Erklärungen über das formelle Element. [ad 13] NB. Ich bin 1 8 2 8 gleich von § 10 allmählig fortgeschritten a.) Zu beiden gehören mit alle Nebenbestimmungen von beiden. Wenn dann noch Umbestimmtheit bleibt ist Fehler oder Mangel vorhanden. Behutsamkeit in der Voraussezung 1. daß dem Verfasser nur unbestimmte Vorstellungen vorschwebten wird empfohlen. Richtige Behandlung der psychologischen Seite muß hier aushelfen. b. Sinnverwandte Stellen in derselben Schrift – denn darauf führt die allgemeine Uebersicht zunächst – sind als zur Stelle gehörig anzusehen. Behutsamkeit dabei a.) das Verhältniß des Ausdruks zur Einheit der ganzen Schrift muß dasselbe sein. Also bei Hauptgedanken am sichersten b.) Bei Nebengedanken nur sicher wenn sie entweder ein sehr bestimtes Gebiet gemeinschaftlich haben oder wenn man sie als ein Ganzes construiren kann und zu diesem das Verhältniß dasselbe ist. Vom Verhältniß zwischen Identität und Gegensaz[.] Aehnlichkeit und Differenz ist ein zusammengeseztes von beiden. Fast gleich dem ursprünglichen wenn nämlich das Maaß irgendwie bestimmt werden kann; fast gleich Null wenn dem Gebiet näher wo mit ähnlichen Vorstellungen gespielt wird, weil dies die unbedeutendsten Nebengedanken sind 1833 Am 3ten Januar 44te Stunde Recapitulation des relativen Gegensazes zwischen psychologisch und technisch. Erstere mehr das Entstehen der Gedanken aus der Gesamtheit des Lebensmoments, lezteres mehr Zurükführung auf ein bestimmtes Denken oder Darstellenwollen woraus sich eine Reihe entwickelt. – Am nächsten kommen sich beide Fälle, wenn ein solcher Entschluß nun festgehalten wird und die gelegentliche Wirksamkeit abgewartet. Sonst ist die technische das Verstehen der Meditation und das der Composition. Die psychologische ist das Verstehen der Einfälle (unter welche aber dann jene Grundgedanken aus welchen sich ganze Reihen entwickeln auch gehören) und das Verstehen der NebenGedanken. – Zur psychologischen gehören Zwei Momente. Sie wird desto leichter und sicherer je mehr Analogie zwischen meiner Combinationsweise und seiner und je genauer 4 gelangen“] gelangen
18 gemeinschaftlich] =schaftlich
35 jene] folgt 〈Ð
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SN 85, 5
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meine Kenntniß von seinem Vorstellungsmaterial ist. Beide Momente aber können sich gegenseitig auslegen wie es mit grammatischer und technischer Interpretation geht. 45. Meditation und Composition sind immer zweierlei. Die Meditation kann den Entschluß bisweilen nur auf eine ruhende Weise fest halten so daß er nur gelegentlich wirksam ist, und dann wird gewiß die Composition als ein zweiter Act postulirt. Dieser Fall aber ist im Grunde immer da. Denn auch wenn im ersten Entschluß die Form schon mit gegeben ist, und diese schon sehr viel Ausschließungen und positive Bestimmungen enthält, wird doch im Componiren einzelnes so entstehn daß es provisorisch muß zur Seite gelegt werden 46. Die Theilung beider Theile macht zweifelhaft ob die Hauptseite beibehalten werden soll oder die Unterabtheilungen in der Ordnung des Componisten betrachtet. Auffindung des Entschlusses d. h. der Einheit und eigentlichen Richtung des Werkes (psychologisch) alsdann Verständniß der Composition als der objectiven Realisirung von jenem dann Meditation als genetische Realisirung (beides technisch) Dann NebenGedanken als fortwährende Einwirkung des Gesammtlebens. Wir wollen aber doch die HauptTheile beibehalten und indem wir natürlich beim Verständniß des Impulses anfangen, gehen wir zum Fortwirken des Gesammtlebens auf die Entwicklung des ÐGanzenÑ über, wobei wir voraussezen können was dabei von Composition erwähnt werden muß als aus dem litterarischen Leben schon bekannt. 1833 Fortsezung von 46. Man könnte zwar glauben die erste Aufgabe werde schon gelöst durch die Ueberschrift. Aber das ist Täuschung. Erstlich ist die Ueberschrift nichts wesentliches und hat im Alterthum fast immer gefehlt. Dann kann sie aber auch ganz zufällig sein zum Exempel Ilias wenn auch ächt giebt doch nichts zu erkennen. Die Lösbarkeit der Aufgabe die Einheit des Werks zu finden ist zwischen zwei Grenzpunkten eingeschlossen: wenn sie sich immer schon von selbst versteht und wenn es unmöglich ist sie zu lösen. 47. Das Wesen des Unterschiedes zwischen beiden Seiten beruht darauf daß da im Compositionsentschluß die Form schon mit liegt sofern diese schon etwas bestehendes ist, der Autor dann eben so Organ dieser Form als eines Typus im geistigen Gesamtleben ist, wie wir ihn in der grammatischen Interpretation als Organ der Sprache ansahen. Dies än2 gegenseitig] folgt 〈Ð Ñ〉 17 Realisirung] folgt 〈dann Neb〉 36 Gesamtleben] Gesamtlebens
21 ÐGanzenÑ] oder ÐGangesÑ
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dert sich auch nicht wesentlich selbst wenn wir auf den Erfinder einer Form stoßen, denn sie muß doch auch einen Grund im Leben haben und dieser ist also dann das außer ihm leitende.
Psychologischer Theil 5 Erste Aufgabe: die Einheit des Werkes als Thatsache des Autors zu finden.
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Je mehr das Werk seiner Form nach in seinen Beruf gehört, desto mehr versteht sich allgemein die Frage von selbst und sie wird nur eine specielle 48 Man muß unterscheiden die Frage unter welchen Umständen ist der Autor zu seinem Entschluß gekommen, von der[:] Was bedeutet dieser in ihm. Jene ist die äußerliche, und auch nur das äußerliche aus ihr zu erklären. Dasselbe was einmal in Gemüth und Leben angelegt ist würde doch auch unter andern Umständen auch zu Stande gekommen sein. Weit wichtiger ist die zweite Frage. Sie erledigt sich im allgemeinen von selbst wenn das Werk in den Beruf des Autors gehört und es bleibt dann nur die besondere über; sie ist schwieriger wenn das Werk für den Verfasser mehr ÐetwasÑ. Nur bei eigentlichen Kunstwerken geht sie auf in der Beziehung zwischen Stoff und Form. Die hermeneutische Aufgabe ist aber an vielen Werken zu lösen bei denen ein Zweck vorwaltet. 49. Hier kann nicht selten in sehr vielen Fächern der Autor seinen Zweck verbergen wollen, und auch wo derselbe den Zeitgenossen deutlich genug war kann er entfernten Lesern räthselhaft erscheinen. Dann muß man sich daran halten die Einheit des Ganzen erst aus dem einzelnen zu finden und zwar vermittelst der Composition aber nur soviel davon vorausgesezt als hier schon verstanden werden kann. Das Verbergen des Zwekks auseinandergesezt aus der Hypothese von der antichristlichen Tendenz eines Werks wie Gibbon. 50. Wenn das einzelne nicht alles in der Einheit von Stoff und Form aufgeht und zwar so daß das übrig bleibende eine gemeinsame Beziehung hat so liegt in dieser die verborgene Einheit Der Keimentschluß kann im Verfasser selbst einen dreifachen Werth haben, Werk (maximum wenn ein das ganze Leben ausfüllendes) Gelegenheitsstück (minimum wenn es mit keinem Theil seines Berufs in Zu-
7 sich] folgt 〈die Frage als Ð
Ñ〉
13–16 Sie ... etwasÑ.] gestrichen (Erledigungsvermerk)
26 Siehe besonders die Kapitel 15 und 16 in Edward Gibbons ,History of the decline and fall of the Roman Empire‘ (vol. 1, 1776), die seinerzeit viel Empörung hervorgerufen haben.
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sammenhang steht sondern rein zufällig ist.) Studium als auch gewöhnlich von Gelegenheit ausgehende Uebung auf die Werke. 51–55. Dies gilt nun zunächst nur auf dem eigentlichen Kunstgebiet, im wissenschaftlichen nur sofern Kunst daran sein soll. Auch nur so fern kann ein fremder nicht rein didaktischer Zweck dasein, der sich verbirgt. 5 Außerdem aber kann auch die Einheit selbst im Keimentschluß stärker oder schwächer gedacht sein. Die schwächste ist wenn der Keimentschluß nur lautet, Sich in der GedankenMittheilung gehen lassen. Hierin ist der Gegensaz zwischen HauptGedanken und Nebengedanken ganz aufgehoben, mithin ist jedes einzelne für sich von innen heraus zu verstehen. Aber 10 auch hievon kann ein Schein da sein und ein Zusammenhang sich absichtlich verbergen. Auch dies ist nur nach der allgemeinen Formel (50) zu erkennen.
Anwendung auf die Neutestamentische Hermeneutik.
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Mit vorläufiger Weglassung der Apokalypse haben wir es hier nur mit historischer und epistolarischer Form zu thun. Zuerst die h i s t o r i s c h e n und zwar zuerst die vier Bücher, deren gemeinschaftlicher Gegenstand das Leben Jesu ist. Gemein haben diese einen Gegensaz zwischen Continuität der Leidensgeschichte und Vereinzelung des frühen Theils doch ist dieser Gegensaz im Johannes nicht so stark als in den drei andern. Verschieden daß einige von der Geburt anfangen andre von dem öffentlichen Leben. Sezt diese Verschiedenheit eine andere Grundeinheit voraus? Ja, 1833. 51–55 wenn die Einen ausließen weil es nicht in ihren Plan gehörte oder wenn die andern aufnahmen weil das wunderbare in Jesu dadurch ans Licht trat. Nein wenn die Einen nur ausgelassen haben weil sie wegen der nachherigen Lücke die Ungleichmäßigkeit scheuten, die andern nur aufgenommen weil sie nichts auslassen wollten. Im früheren Theil ein Gegensaz zwischen den dreien und Johannes, ÐdaÑ dieser absolute Zeitbeziehungen hat, die ersteren ganz fehlen. Mit lezterem stimmt nicht die Voraussezung der biographischen Idee, sondern ihre Einheit ist wol nur der Wille Einzelnes zu sammeln. Wobei aber noch die Frage entsteht nach dem Gesichtspunkt, so wie auch bei Johannes.
12 dies] korrigiert
20 den] folgt unleserliches Wort.
2 lies: auf die Werke hin
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Suchen wir nun die epistolarischen eben so weit zu bringen: so ist hier die Möglichkeit einer großen Annäherung an eine strenge Form, aber auch die eines gänzlichen Gehnlassens. Leztere wieder kann überwiegend aus dem Gesichtspunkt des Schreibenden handeln, oder aus der Lage 5 derer an die er schreibt. Beides kann auch zusammen sein bald mehr getrennt bald mehr durcheinander. Eben so können auch die beiden HauptFormen mit einander verbunden sein theils so daß sie auf einander folgen, theils so daß die eine zwischen eintritt 56–59. Wenn das Gehenlassen an bestimmten Punkten zwischen ein10 tritt entsteht eine D i g r e s s i o n .
Kritik (wohl 1826)
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 88
Niedere Kritik.
SN 88, 1
A. Allgemeine Grundsäze
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1. Zeichen welche etwas sinnloses oder der Sprache ganz zuwiderlaufendes darstellen haben nicht können gewollt werden – der Sprache a.) im allgemeinen b) in dem bestimmten Gebiet des Verfassers. Hieraus schon sehr verschiedne Ansichten. Leichtsinnige Kritik oder stumpfsinniges Uebersehen bei unvollkomner Sprachkenntniß. 2. Von verschiednen Lesearten kann nur Eine die wahre sein. a. Kann, nicht muß; denn die wahre kann eben so gut auch in der lezten Handschrift untergegangen sein und noch immer fehlen. b. Nur Eine außer wenn der Verfasser selbst in irgend einem Sinne zweimal geschrieben hat (Revision) was wir aber bei alten Schriften wol Niemals werden nachweisen können Hieraus entstehn die Zwei Aufgaben 1. An die Stelle des falschen das möglichst allgemein anerkannte richtige zu sezen 2. Aus dem Vorhandenen das beste zu wählen. Das Verfahren dabei richtet sich aber nach Beschaffenheit der Zwecke zu denen die kritische Entscheidung gesucht wird. 1. Ausgaben zum bequemen Lesen. Hier wird nur vorherrschend Sparsamkeit (der ändernde Leichtsinn findet sonst hier viel Vorschub) bei leichter Sprachgemäßheit gefordert. 2. Ausgaben für kritisches Lesen mit Apparat. Hier ist nöthig a. Leichtigkeit aufzufinden wo eine Entscheidung steckt b. Anzeige des Grades von Werth der auf sie gelegt wird. Hieher die doppelte Maxime a. Leicht in den Text zu sezen. Tadellos wenn das Vergleichen nur nicht benommen wird. b. Nichts in den Text. Tadellos wenn entweder gar keine Entscheidung gegeben wird oder das Urtheil mit der Differenz doch hervorgehoben 2 A. ... Grundsäze] mit Einfügungszeichen über Niedere Kritik.
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3. Kritische Samlungen Hier muß die Begründung des Urtheils dominiren.
Die beiden Hauptaufgaben sind also Emendation und Recension hier in abstracto streng geschieden in concreto gewöhnlich verbunden Die Aufgabe der Emendation ist der ursprüngliche Fall; die ersten Editoren hatten nur Ein Manuscript E m e n d a t i o n Doppelter Anfang. Nothwendigkeit des Zusammenhanges und Aehnlichkeit der Züge. Abwesenheit eines giebt immer Mangel a. Aehnlichkeit der Züge. Doppelte Art zu fehlen Mit dem Sinn und mit der That. Sinn doppelt Auge und Ohr. Auge mehr am Copiren Ohr mehr am Dictiren; aber auch beim Copiren können Fehler des Ohres vorkommen, nicht aber beim Dictiren Fehler des Auges. Vorkenntnisse dazu in beiden Hinsichten Aussprache Palaeographie. Leztere giebt oft ganz andere Resultate. b. Nothwendigkeit des Zusammenhanges. An sich unstätt; Am meisten gebunden in der Poesie. Dann in strenger paralleler Construction. Innerlich in strenger logischer Verbindung Höhere Gewißheit erst durch das individuelle. Vorkenntnisse dazu. Als Bewährung müssen die Züge mit dazu genommen werden. Maximum ist die Gewißheit bei der man sich nicht darum zu kümmern braucht wie der Fehler entstanden ist Von Lücken und Einschränkungen in ausschließlicher Emendation. Einschub als überfließen von ÐFeldge heitÑ Nachtrag. a. Fehler aus Abbreviaturen b. Fehler aus falscher Correctur c. Fehler aus undeutlich gewordener Schrift. R e c e n s i r e n d e K r i t i k Verschiedene Gesichtspunkte und Verfahrungsarten bei der Kritik einzelner Stellen und bei der zusammenhängenden Constitution eines ganzen Textes. Daher auch auf den Antheil beider besondere Rüksicht zu nehmen Die jezt bestehenden Canones sind theils aus dem einen theils aus dem andern entstanden
7 E m e n d a t i o n ] im Ms. nicht hervorgehoben, aber als Stichwort am linken Rand 16 unstät oder unstätt, heute unstet
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In der Constitution des Textes haben vorzüglich die Schäzungsregeln der Handschriften ihren Grund; im Einzelnen die Anwendung der Regeln der emendirenden Kritik auf den Fall der Auswahl. Daß die Voraussezung außerordentlicher göttlicher Obhut hier nicht mehr ausrichtet als bei der niederen Kritik Ueber die Unmöglichkeit eines authentischen Textes. Wichtigkeit der Geschichte des Textes a. Paläographie b. Geschichte der Kritik und der Handschriftenfabrication. Taxation des kritischen Werthes der Uebersetzungen und Citationen, auf Handschriften zurükgeführt. 1. Canon für Handschriften Je weiter von der Urschrift entfernt desto mehr Möglichkeit von Fehlern. NB Entfernung ist nur nach der Zahl der Wiederholungen der Operation zu schäzen. 2. Canon Von Uncial und CursivSchriften Ueber mechanische und reflectirende Handschriften. Ueber die secunda manus. Verschiednes System von Text Constitution a. Lesung einer bestimmten Zeit b. Aggregat von wahrscheinlichen Verbesserungen Deren Regeln Günstige Präsumtion a. Aus welcher sich die meisten andern erklären lassen b. die längere wenn ein Fehler des Auges zu entdecken ist c. die kürzere wenn ÐdieÑ längere das Ansehn einer Erklärung hat d. die schwierigere Ungünstige [Präsumtion] a. Leichte Verbesserung e i n e r schlechten b und c umgekehrt d NB Erleichterte Entscheidung über längere Lesarten bei mehreren HandSchriften
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Neutestamentische Kritik
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Doppelter gedrukter Text von Anfang an. Stephanus 1530 Walton Mill Küster Birch 4–5 Daß ... Kritik] am rechten Rand 9 Taxation] folgt 〈der Güte der Handschriften〉 26–27 NB ... HandSchriften] am rechten Rand 29–30 Zu den frühen Ausgaben siehe Schleiermachers Hinweise in seiner (späteren) Einleitung ins Neue Testament (Sämmtliche Werke 1, 8 (1845), hg. Wolde), S. 111–118, aber auch die Notizen de Wettes in seinem ,Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments‘, Berlin 1826, S. 52–61. Hilfreich ist oft der gedruckte Katalog des British Museum (heute British Library), in dem die Bibelausgaben unter dem Stichwort ,Bible‘ zusammengestellt sind. – Die dritte und wichtigste Ausgabe des Robert Estienne (Stephanus), die ,editio regia‘, erschien erst 1550, ihr Text ist cum grano salis der
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Erster Teil · Manuskripte Schleiermachers
Elzevirsche 1624 eigentliche recepta Morinus Curcellaeus Fell, Gregor, Maestricht Wetstein Etwa 100 Abweichungen. – Beide aus Complutense und Erasmus. Elzevir mit Zuziehung des neuen Textes von Beza. Man verließ sich auf Elzevirs [Ausgabe] der Drukfehler wegen Emendirende Kritik im Neuen Testament möglich aber wenig accr- 5 editirt Grund des lezten Ueber den Werth der recepta und die Principien der Constitution
Kritik: Wie sich von den ältesten Zeiten bis jezt die Aufgabe verschieden gestaltet
Präsumtion haben gegen sich a. fromme emphatische orthodoxe Lese- 10 arten b. Aus patristischen Commentarien zu erklärende Lesearten c. Aus Uebersetzungen besonders der lateinischen eingeschlichene d. Aus Lectionarien zu erklärende Präsumtion für sich a. Die nur aus Hebraismen zu erklären sind
5–6 accreditirt] folgt 〈ab〉 5–9 Emendirende ... gestaltet] am rechten Rand 10–11 Lesearten] folgt 〈b längere Lesearten c. Aus Schreibfehlern leicht zu erklärende〉 ,textus receptus‘. – Die ,Biblia Sacra Polyglotta‘ des Brian Walton (Waltonus) erschien 1653–57. – John Mills Ausgabe des ,Novum Testamentum Græcum cum lectionibus variantibus MSS. Exemplarium, Versionem, Editionum, SS. Patrum et Scriptorum Ecclesiasticorum, et in easdem notis‘ erschien 1707, sie verzeichnet über 30000 Textvarianten. – 1710 hat Ludolph Küster in Rotterdam eine verbesserte Neuausgabe von Mills Edition mit neuerlichen Textvarianten aus 12 Handschriften herausgegeben. – Die ,Quatuor Evangelia Graece, cum variantibus‘ von Andreas Birch erschienen 1788. 1–4 Die bei Elzevir zuerst 1624 erschienene Leidener Ausgabe gibt ausdrücklich den ,textum ab omnibus receptum‘ und kann darum als ,eigentliche‘ recepta angesehen werden. – Johannes Morinus (Jean Morin, 1591–1659) widmete sich besonders der Philologie des Alten Testaments. – Stephanus Curcellaeus (Etienne de Courcelle, 1586–1659) gab 1658 bei Elzevir ein ,Novum Testamentum. Editio nova‘ heraus. – John Fell (1625–86) gab seine Edition des Novum Testamentum 1675 in Oxford heraus. – John Gregory (Joannes Gregorius) gab seine Edition des Novum Testamentum 1703 ebenfalls in Oxford heraus. – Gerhard von Mastricht publizierte sein Novum Testamentum graecum cum variantibus lectionibus in Amsterdam 1711. – Johann Jakob Wettstein (1693–1754) publizierte seine grundlegende und variantenreiche Edition 1751–52 in Amsterdam. – Die sechsbändige ,Biblia Poliglota Complutense‘ (Alcala´) erschien 1514–1517. – Die (auch für Luther) grundlegende Edition des Erasmus erschien zuerst 1516 bei Froben in Basel. – Elzevirsche Ausgaben erschienen seit 1624 vielfach. „Dieser Text aber verdankt sein Ansehen bloß dem Ruhme Beza’s … nicht seiner inneren Güte“ (de Wette S. 55). – Die Edition des Theodor Beza (1519–1605) erschien zuerst 1565 in Genf und war sehr erfolgreich.
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Höhere Kritik. In neuesten Zeiten entsteht kein neuer Stoff mehr. In ältesten (als die Schrift anfing Verbreitungsmittel zu werden) absolute Unsicherheit. Hier also muß alles erwiesen; dort kann nur auf ganz besondere Gründe bezweifelt werden Bestimmte Zwischenpunkte, wo es ausgemittelt werden kann, die Zeit wann die Werke mit Namen publicirt worden sind. Alles frühere nähert sich dem Charakter des Anfangspunktes alles spätere dem des Endpunktes. Wenn der Name späteren Ursprungs ist so giebt es zwei Gesichtspunkte für die Untersuchung. 1.) Was sind für Gründe vorhanden der Zusammenstellung zu trauen. 2. Was hat man für Gründe sie zu bezweifeln. Erster beruht auf dem Charakter des Anfangspunktes lezter darauf daß es doch ursprünglich eine Notiz vom Verfasser gegeben haben muß. Da diese ursprüngliche Notiz nur im Lebenskreise des Verfassers liegen kann: so ist ein Zeugniß aus diesem das maximum der Begründung Jede Tradition wird desto zweifelhafter je weiter sie von diesem Zeugniß entfernt ist. Die Entfernung ist jedoch nicht nach Zeit zu messen sondern nach Leichtigkeit einen Zusammenhang nachzuweisen Je mehr dies bloß hypothetisch geschehn desto mehr müssen innere Gründe zu Hülfe genommen werden. Je gültiger das Zeugniß ist, desto näher dem Charakter der authentischen Epoche.
Innere Gründe für haben nur in dem Maaße Gewicht als sie den äußeren ähnlich sind. Beziehungen in andern Schriften desselben Verfassers (Cautel dabei) oder im Leben des Verfassers gegenseitig. Andere können den Status causae nicht ändern sondern wirken nur 30 wie Vermuthungsgründe bei anonymen. Aehnlichkeiten des Styls wie schwer sie als wirklich persönliche zu beweisen sind. – wie leicht sie auch dann Nachahmungen sein können Wie weit dem Umfange nach erstrekt sich das Zeugniß. Collectionen, strenge ÐGanzenÑ Ueber das Verhältniß einzelner Stellen 35 Ueber die Quellen des Unterschiebens. Identität der Rollen einer genannten und einer anonymen – Imitatorische Studien (fingirte Briefe) 24 näher] oder mehr
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Absichtliches Unterschieben Sybillinische ÐWorteÑ philosophische Autoritäten Je mehr Möglichkeiten dieser Art sich finden desto mehr nimmt die Unsicherheit der Tradition zu Aber nicht die Wahrscheinlichkeit des Unterschiebens weil jede eine andere ist und sie nicht addirt werden können. 5 Diese Beurtheilung inwiefern indicia addirt werden können, also sich gegenseitig unterstüzen ist das Wesen des kritischen Gefühls. Zweifel an der Aechtheit unterstüzen sich, wenn sie sich gleichartig auf verschiedne Theile beziehen.
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Wenn die anerkannte Unsicherheit zu einer kritischen Untersuchung führen soll muß noch eine Bestimmung hinzukommen und das ist der Verdacht. Specielle Interessen von denen die kritische Untersuchung ausgeht dogmatische oder Vorliebe für einen Schriftsteller machen partheiisch und geben nur ein richtiges Resultat sofern sie sich in das allgemeine historische Interesse verwandeln Je näher der Verdacht einem absprechenden Zeugniß desto sichrer das Urtheil Allgemeiner Verdacht welcher sich auf den Lebenskreis bezieht und dessen Identität bezweifelt wegen a. Sprache b. Vorstellungen c. Gegenständen. Sämtlich nicht mehr da seiend oder noch nicht. Nicht mehr bildet keinen bestimmten Verdacht. Archaismen in Sprache nachzuweisen daß diese bestimmte Gebrauchsart nicht mehr gewesen. – Ansichten welche nicht mehr im Gange waren und Gegenstände welche nicht mehr existirten – Nachzuweisen daß sie hier nicht bloß historisch behandelt werden Rein persönlich noch weit schwieriger und immer nur sicher sofern man doch wieder auf Klassen reducirt. Auf die Gattung die Schreibart, auf die Schulen Beispiel von Aristoteles und Theophrast Eigenthümlich persönliche Gründe. Aus dem Ganzen Inhalt und Form und Grad der Vollkommenheit Gründe aus dem Einzelnen. Verhältniß der Addirbarkeit der Gründe und Gegengründe. – Positive Gründe und negative. Kritik von Werken die durch mehrere Hände gegangen sein können. Akroasen; Anthologien 181,35–182,2 Ueber ... Autoritäten] auf den rechten Rand überlaufend nachgetragen; folgt 〈Ueber Gründe des Absprechens〉 27 nur] korr. aus s 35 Akroasen sind mündliche Mitteilungen, insbesondere auch Hochschulvorlesungen.
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Akroasen. In vielen Fällen kommt es darauf hinaus, daß die Persönlichkeit nur eine collective ist, auf das einzelne aber nichts ankommt. Beispiele aus der scholastischen Theologie Anthologien. Relativer Gegensaz von minimum und maximum – eigne 5 Composition in Plutarch de placitis philosophorum und Diogenes Laertius. Leichte Veränderlichkeit solcher Sammlungen und deren Verhältniß als eigne Composition ÐwenigÑ ist. Schwierige Beurtheilung der Aechtheit einzelner Fragmente vorzüglich 10 wo man später nach anderm Princip verfahren hat Zum Exempel auch Nichtjonische Stellen des Demokrit können ächt sein wenn sie aus der zweiten Hand sind
Neutestamentische höhere Kritik. Das Ganze anonym und dies factum nicht zu ÐsezenÑ Gewiß daß die 15 Sammlung erst allmählich identisch geworden ist Bei dem Einzelnen zu unterscheiden ursprüngliche Publication Allmähliche Verbreitung, Eintragung in die Sammlung Classification der aneignenden Ueberschriften. a. Die mit in den Text verwebten b. Die die Form des Ganzen zugleich an sich tragenden c. 20 Die reinen. Erstere völlig authentisch so daß sie unter die erste Klasse gehen und es besonderer Gründe bedarf. b. die zweiten können später sein, auch ohne Nachtheil. c. die dritten sind es gewiß. Unter den lezten besonders die Evangelien
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Erste Aufgabe. Wenn Verdacht eines mechanischen Fehlers entsteht Erster Fall wenn er im Lesen selbst entsteht. Zweiter wenn durch Vergleichung
3 Beispiele ... Theologie] am linken Rand ... Vergleichung] am rechten Rand
26 mechanischen] davor 〈Ð Ñ〉
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Allgemeiner Ausdruck: Wenn ein Saz keinen geschlossenen Sinn giebt. a. Wenn er logisch nicht geschlossen ist b. Wenn nicht grammatisch. Beide theilen sich wieder in allgemeine und in specielle Begründung. Die Aufgabe kann gelöst werden durch Urkunden oder durch Divination Allgemeine Vergleichung beider Methoden. Für die unmittelbar hermeneutische Aufgabe kann man sogar ohne beide ausreichen. Wenn der Sinn feststeht kann man weiter lesen, gesezt auch man wüßte nicht was ursprünglich gestanden. Jede irgend ansprechende Vermuthung ist dann um so mehr genug. Stellt man sich aber auf den allgemeinen philologischen Standpunkt, daß immer auch gelesen wird um der Sprache willen: so wird durch mehrere Fälle wo verschiedene Lösungen möglich sind wenn sie unentschieden bleiben auch der Sprachgebrauch des Verfassers ungewiß. Daher die beurkundende Methode schon für sich aufgegeben Dogmatisches Interesse bei dem kritischen Verfahren. Die urkundliche [Methode] kann sich nicht immer das Ziel stecken die ursprüngliche Schreibung des Verfassers herzustellen. Nicht nur bei Homer, sondern überall wo die Vervielfältigung nicht schnell auf das Schreiben folgt sondern durch die zweite Hand vermittelt ist Auf dem Standpunkt des Lesers, der nicht bloß die unmittelbare hermeneutische Aufgabe im Auge hat muß man zuerst wissen wie sich das was man vor sich hat zu dem ursprünglichen verhält. Für eine erste gedrukte Ausgabe giebt es keine andere Recension als die Divination oder den Autor. Oft kann er auch im Deutschen die erste allein nicht ausmachen. Bei einer isolirten Handschrift ist man in demselben Fall. Bei einer Ausgabe der Alten muß ich ÐzunächstÑ wissen was der Verfasser hat leisten wollen. Am ungünstigsten wenn er ohne genaue Rechenschaft eignes mit urkundlichem vermischt. Demnächst wenn er dem ungewissen mit dem gewissen dem verschiedenen mit dem gleichartigen denselben Plaz anweiset. Am günstigsten wenn der Text nach Einer möglichst guten Handschrift gemacht und alles andre auf diese bezogen wird. Der Editor muß sein Verfahren auch danach einrichten wie die Vervielfältigung entstanden ist. Fast gleichzeitig in dem einen Fall erst lange nachher oder aus der zweiten Hand in einem andern zum Exempel bei Briefen die erst nachher gesammelt worden 4 Divination] am rechten Rand folgende offenbar nicht zugehörige Literaturnotiz: Weinlig Was drückt das hannoversche Volk. Hamburg Nestler 1832 [Was drückt das hannoversche Volk und wie könnte ihm vielleicht geholfen werden? Ein durch die revolutionairen Attentate des letzten Jahres veranlaßter critischer Versuch von Eduard Weinlig Stadtsyndicus in Soltau] 14 Dogmatisches ... Verfahren.] am rechten Rand 23 er] oder es 34 worden] oder werden
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Anwendung aufs Neue Testament Die Theologen dürfen nicht bei der einfachen Ueber die Entstehung und Beschaffenheit der recepta. Ueber die ersten kritischen Ausgaben
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Kritik Mannigfaltiger Sprachgebrauch – doctrinale Kritik – aesthetische oder rhetorische Kritik (nach Wolf) – philologische Kritik Philologische Kritik Wolfs Erklärung. Erforscht Alter Aechtheit und Authentie der schriftlichen Werke, beurtheilt ihre Richtigkeit und ihre Verderbnisse, absichtliche oder zufällige. Ast ähnlich nur unterscheidet er Schriften Theile Stellen und Worte Eintheilung Wolf in beurkundende und divinatorische. Ast giebt Schriften und Theile für höhere, Stellen und Wörter für niedere Zurükführung der Erklärung wie sie auch für die doctrinale paßt und aus dem Wort abgeleitet ist auf das Verhältniß zur hermeneutischen Aufgabe. Das Ideal ist hier das was ich hermeneutisch nachconstruiren will, das wirkliche das was ich vor mir habe. Hierauf lassen sich alle Aufgaben der höhern und niedern Kritik zurükführen Ueber die Eintheilungen. Da Wolf eine aus beiden zusammengesezte annimmt so taugt seine Eintheilung nicht. Es kann nur an dem Gegenstand liegen wenn beide nicht können verbunden werden. – Die Astsche theilt auch nicht Stellen und Worte sondern auch Theile. – Anders wenn man die Wolfsche Eintheilung auf die Entstehung der Aufgabe anwendet, zur niedern Kritik rechnend die Aufgaben die sich bestimmt auf einzelne Urkunden beziehen, zur höheren die welche nur durch Divination entstehn. 1–2 Die ... einfachen] mit Einfügungszeichen am linken Rand; bricht ab 8–10 „Die philologische Kritik aber erforscht vornehmlich das Alter, die Echtheit und Authentie der schriftlichen Werke, und beurtheilt deren originale Richtigkeit oder ihre bald zufälligen, bald vorsetzlichen Verderbnisse“ (Friedrich August Wolf, Darstellung der Alterthums-Wissenschaft, in: Museum der Alterthums-Wissenschaft, 1807, S. 1–145, hier S. 39) 12 „so unterscheidet man hienach eine niedere Kritik, besser eine beurkundende, und eine höhere, die man lieber die divinatorische nennen sollte.“ (Wolf S. 40) 12–13 Kritik „als Forschung über die Aechtheit der Schriften, ihrer einzelnen Theile, Stellen und Wörter. Die Untersuchung der Aechtheit einer einzelnen Stelle oder eines Wortes ist die grammatische oder historische Kritik, die Erforschung der Aechtheit oder Unächtheit eines ganzen Werkes oder einzelner Theile die sogenannte höhere Kritik.“ (Ast S. 215)
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Vorläufig sind ohne auf eine Eintheilung zu sehn die verschiednen Fälle der Aufgabe stufenweise zu construiren. Als Hauptunterschied ergeben sich Differenzen welche nur aus dem Mechanismus des Sprechens und Schreibens entstehn. Versprechen[,] Verschreiben ohne Versprechen, Verschreiben mit Bezug auf ein inneres Versprechen. Dann beim Abschreiben. Verhören und Versehen, Verschreiben aus einem von beiden, Verschreiben war das ursprünglich einfache. Differenzen welche aus einer zwischeneintretenden Willenshandlung eines Andern entstehen. Absichtliches Einschwärzen von Gedanken welches auch zum Unterschieben ganzer Schriften führen kann ist Kritik einer That welche an die gerichtliche Kritik grenzt und liegt also am Uebergang ÐausÑ ÐunsererÑ Disciplin Es giebt ein absichtliches welches keine Verfälschung ist, wenn Einer für seinen eignen Gebrauch Einschaltungen macht von denen er weiß daß sie dem Verfasser nicht angehören und ein solches Exemplar wird hernach von einem der Sache unkundigen in die Öffentlichkeit gebracht. Daran schließt sich das Einschieben von Zusäzen welche anfangs von dem Werk unterschieden waren, nun aber aus Unkunde mit demselben vermischt werden, welches aber doch eine freie Handlung bleibt Wollte man weiter gehn: so käme man wieder in das vorige Gebiet zurük denn eine Aenderung bei der gar nichts gedacht und gewollt würde könnte doch nur auf die organische Operation zurükgeführt werden. Hiedurch nun bewährt sich als die beste Eintheilung in Bezug auf die Gegenstände der Kritik die in die Berichtigung der aus der mechanischen Operation hervorgegangenen Fehler und der aus einer dazwischen getretenen freien Handlung entstandenen Die Aufgabe selbst besteht nun aus zwei Momenten dem Erkennen des Fehlers und dem Wiederherstellen des ursprünglichen. Da nun die Erkennungsgründe bei jenen beiden verschieden sind so muß auch jenes die Haupteintheilung bleiben
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Erster Theil Kritik der mechanischen Fehler Aufstellung der Fälle Erste Klasse solche wo das vorliegende Document selbst Zeugniß von der Corruption ablegt[:] bedeutungslose Zeichen, Sprachwidrige Wörter und Formen. Solche die anerkannt nicht der Zeit oder Gattung des Verfassers angehören. Wenn man weiter geht kommt 35 6 Verhören] davor 〈Verschr〉
9 Einschwärzen] davor 〈Verfäls〉
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man zurück auf das andere Gebiet nemlich was gegen des anerkannten Verfassers Art die Sprache zu gebrauchen streitet. Zweite Klasse Solche die nicht würden zur Kenntniß gekommen sein wenn nicht mehrere Handschriften wären ÐalsoÑ Verschiedenheiten deren keine sinnlos oder sprachwidrig ist und doch keine freie Handlung vorauszusezen Behandlung der ersten Klasse erstlich wenn es nur Eine Quelle giebt 2. wenn mehrere da sind und alle die gleiche Irrung haben. Maxime: Behandlung einer jeden für sich und was davon als natürliche Verkürzung ausgehen kann. – Behandlung der zweiten Klasse. Sie besteht in Verwechslungen des Gedächtnisses und Irrungen des Auges Die erste Klasse hat zwei gegeneinander tretende Entdeckungsgründe, die Entstehung des Fehlers und das hermeneutische Bedürfniß. Bei der zweiten kann nur das lezte wirksam sein Vom Unterschied in der Handhabung der Kritik. Emendirende – fragmentarisch und recensirende im Großen. Verschiedene Gesichtspunkte von beiden Von den verschiedenen Maximen der recensirenden Kritik. recepta, ÐfreieÑ Recension, einzelne Codificationen. ÐZwischenÑMaaßregeln Unterschied zwischen Conjectur und SchreibÐversehenÑ. Ueber die Sparsamkeitsmaximen in Aufstellung des kritischen Apparates. Was der Vergessenheit darf übergeben werden, was darf zusammengezogen werden.
Anwendung auf die Behandlung des Neuen Testaments Unwerth der recepta Mangelhaftigkeit des Apparats in dieser Beziehung. 25 Aus constanten Aehnlichkeiten der Handschriften und einzelnen historischen Andeutungen die Hypothese der Recension – Wahrscheinlichkeit ursprünglicher Verschiedenheiten zur Zeit des gleichförmigen Kanons (höher hinauf nicht zu steigen) aber ohne Absicht. – Allgemeine Eintheilung in orientalische und occidentalische. Verwerfung aller Eintheilung ist 30 ein chaotischer Zustand
12 Entdeckungsgründe] korr. aus Entscheidungs
16 Gesichtspunkte] über 〈Ð Ñ〉
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Zweiter Teil Vorlesungsnachschriften
Kolleg 1819 Nachschrift Jonas
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 574
Hermeneutik
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nach dem Vortrage des Herrn Dr. Schleiermacher. Sommer 1819. Jonas. 5
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[Einleitung] Wir beschäftigen uns mit der Auslegungskunst: freilich in Beziehung auf die heiligen Bücher, allein wir können doch nicht mit dem Besonderen beginnen, sondern wir müssen auf die allgemeinen Principien zurückgehn. Es ist auch weit wichtiger, daß diese aufgefaßt werden. Die Anwendungen ergeben sich leichter. Das umgekehrte Verfahren kann nur höchst fragmentarisch und unsicher seyn. Was gehört dazu, um überhaupt menschliche Rede und Schrift zu verstehen? Das ist der Gegenstand in seinem ganzen Umfange. Gewöhnlich rechnet man zur Auslegungskunst nicht nur das richtige Verstehen einer Rede und Schrift, sondern auch die Kunst, den gefundenen Sinn einer Rede und Schrift andern mitzutheilen. Es ist aber nicht Schleiermachers Absicht, das letztere dazu zu nehmen, denn das ist etwas ganz Heterogenes. Es ist bloß die Mittheilung seiner eignen Gedanken und es giebt da keine andern Regeln als die, wenn man seine eignen Gedanken ausdrücken will und sie gehört zu dem Reden und Schreiben überhaupt aber nicht zum Verstehen. Wir wollen bloß die Frage beantworten, worauf es ankomme, wenn man eine gegebene Rede und Schrift verstehen will. Kann das als eine Kunst angesehen werden? Die gewöhnliche Ansicht ist nicht dafür, sondern selbst wo die Kunst behandelt wird findet man sie so erklärt: sie sey die Kunst schwierige Stellen vorzüglich aus fremden Sprachen zu verstehen. Das ist aber eine ganz falsche Ansicht und so kann
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nichts daraus werden. Woher kommen denn schwierige Stellen in einer Rede? Das Schwierige ist etwas völlig Relatives. Es kann etwas mir schwierig seyn, weil ich den Gegenstand nicht kenne. Dann muß ich mich erst damit bekannt machen. Es kann etwas schwierig seyn, wenn der Schreibende keine Klarheit gehabt hat und dann hilft mir die Auslegungskunst auch nicht. Aber gesetzt es ist kein Fehler in dem Schriftsteller und der Gegenstand mir nicht unbekannt, so kommen doch schwierige Stellen vor; woher die? Dann wird nicht leicht eine Stelle schwierig seyn, wenn man das andere verstanden hat, und darum kann man vom Verstehen schwieriger Stellen keine Regeln machen, sondern man muß nur das Verstehen überhaupt haben. Bin ich nur immer im Zusammenhang, so werden mir keine schwierigen Stellen entstehn, außer wiefern ich selbst nicht richtig verstehe und die Kunst, wie man dabei zu Werke gehen muß, nicht kenne. Eben so ist es mit dem Punct, daß man die Auslegungskunst nur auf fremde Sprachen bezieht. Wenn die Schwierigkeit in der Sprache liegt, dann ist die Aufgabe, sie zu lösen auch nicht für die Auslegungskunst, sondern die kann nur sagen: lerne erst die Sprache, dann wollen wir über die Auslegung reden. Die Auslegungskunst setzt die Bekanntschaft mit der Sprache voraus, wie die mit dem Gegenstand. Ist die Bekanntschaft mit der Sprache da, dann ist in Beziehung auf das Verstehen kein Unterschied zwischen den Sprachen. Fassen wir nun die Sache in dieser Allgemeinheit, daß die Rede seyn soll vom Verstehen überhaupt und setzen wir dabei die Bekanntschaft mit der Sprache voraus, so könnte man nun fragen; ja auf diese Weise könnte man an der Nothwendigkeit der Auslegungskunst überhaupt zweifeln und sagen: wenn man die Bekanntschaft der Sprache und des Gegenstandes voraussetzt und alle schwierigen Stellen auf den Verfasser zurückwirft: was soll sie dann noch? Man brauchte ja dann bloß das Talent, aufmerksam zu bleiben. Aber sehen wir nur, wie es im täglichen Leben geht, so giebt es sehr viel Gelegenheit für das unangenehme und traurige Wort: Mißverständniß, und daß dies im gewöhnlichsten Gespräch statt hat. Fassen wir dies große Factum in seiner Allgemeinheit ins Auge, so ist es doch wenigstens wünschenswerth, daß es eine Kunst des Verstehens giebt wie des Redens und des Schreibens. Diese Ansicht hat Schleiermacher immer von dem Gegenstand gehabt und er glaubt, man könne nicht aufs Reine kommen, wenn man ihn nicht in dieser völligen Allgemeinheit auffaßt. So wird denn die Aufgabe eine sehr große. Gewöhnlich wird die Hermeneutik als eine theologische Disciplin angesehen. Das ist aber eine falsche Ansicht. Das Theologische dabei ist etwas ganz Besonderes und
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Einzelnes, das aber nicht eher eintreten kann, als bis das Allgemeine abgemacht ist. Das Theologische kann nur seyn die Beantwortung der Frage: was sind für besondere Schwierigkeiten in den theologischen Schriften? Darauf werden die allgemeinen Regeln angewandt. Das ist gewiß nichts Unbedeutendes, aber es kann nicht für sich allein vorgetragen werden. Man müßte sich doch immer auf eine allgemeine Hermeneutik berufen. Es ist aber bis jetzt die Lage der theologischen Hermeneutik, weil diese Theorie im Allgemeinen so wenig bearbeitet ist. Dies hat seinen natürlichen Grund. Wohin gehört denn die Theorie im Allgemeinen? Die Frage ist sehr schwierig und darum hat sich niemand der Theorie recht bemächtigt. Man kann freilich sagen: sie ist eine philologische Disciplin, weil sie es mit der Sprache zu thun hat, allein da ist eine schwierige Sache, daß das was wir Philologie nennen selbst kein rechtes corpus ist, sondern ein bloß auf eine geschichtliche Weise unter uns entstandenes. Wir verstehen unter Philologie die Beschäftigung mit dem Alterthum und das bezeichnet schon etwas bloß Geschichtliches. Sie ist nicht auf rein wissenschaftliche Weise zu construiren, sondern sie ist da, weil unsre Bildung von der ÐeinenÑ Seite vom klassischen Alterthum abhängt. Von dieser Abhängigkeit ist die Philologie das Bewußtseyn. Dabei freilich wird die Auslegung für die Philologie unnachläßlich nothwendig. Aber es ist das wieder nur eine Spezialhermeneutik, die sich bezieht auf unser Verhältniß zum Complexus der Schriften aus dem classischen Alterthum. Darum ist von der Philologie die Hermeneutik auch speciell behandelt. Wem soll nun die allgemeine Behandlung anheim fallen? Nur dem Philosophen. Die Kunst zu reden und zu schreiben und die Kunst zu verstehen sind sich gegenüber und als correlata liegen sie in etwas Höherem zusammen. Nun sagt der Philosoph: die Regeln des Schreibens und Redens habe ich nicht mehr nöthig als jeder andre. Die Kunst davon liegt auch nicht in meinem Gebiet. Meine Kunst ist die des Denkens. Weisen also die Philosophen die Kunst des Redens und Schreibens ab, so werden sie noch viel mehr die Hermeneutik abweisen, zumal alle Philosophen nicht verstehen sondern nur verstanden seyn wollen. Aber wir müssen doch die Hermeneutik an die Philosophie anknüpfen und so ist sie denn auch immer der Logik angereiht. Als die Philosophen aber die angewandte Logik vertrieben, wurde die Hermeneutik heimathlos und ist es noch. Wenn sie nun nirgends hingehört, so mag sie vielleicht überflüssig seyn und wir können uns mit dem gesunden Menschenverstand behelfen und bloß die specielle Hermeneutik behandeln. Aber dann kann aus der spe32 verstehen] folgt wollen
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ziellen Hermeneutik nichts werden als ein Aggregat von einzelnen Observationen. Diese Gestalt tragen auch alle Spezialhermeneutiken, die auf diese Weise entstanden sind. Solche kann man zu nichts gebrauchen. Kommt man für das Allgemeine aus mit dem gesunden Menschenverstand, so kommt man für das Besondere mit dem gesunden Gefühl aus. Entweder lasse man sie also ganz fahren oder gehe auf die allgemeinen Principien zurück. Aber woher die Principien nehmen für das Allgemeine? Es ist allgemeine Erfahrung: es giebt einen Mangel im Verstehen. Es giebt Geredetes und Geschriebenes theils nicht verstanden, theils mißverstanden, ungeachtet des Verstehens der Sprache und des Gegenstandes. Woher die Principien? Wir müssen erst den Ort haben, wo man den Gegenstand hinstellt und nur erst mit dem Ort finden sich die Principien. Die Kunst zu verstehen steht nun der Kunst zu reden und zu schreiben gegenüber, daher gehören beide in dasselbe Gebiet. Wohin gehört nun die Kunst zu reden und zu schreiben? Haben wir eine Theorie davon? Nein. Auch hier weist jeder das Allgemeine davon ab und begnügt sich mit dem Speciellen. Wir haben eine Poetik und eine Rhetorik, aber nicht die Theorie der Kunst die Sprache im Allgemeinen productiv zu behandeln. Beide Aufgaben laboriren also an demselben Mangel. Schleiermacher weiß keinen andern Rath, als daß wir zurückgehn auf das allgemeinste Gebiet und sagen: die Sprache ist es doch, worauf beide zurückgehn. Die Sprache ist aber die äußere Seite des Denkens. Alles was sich also auf die Sprache bezieht ist annexum des Denkens. Die Sprache freilich hat auch eine musicalische Seite, aber mit der haben wir hier nichts zu thun. Abstrahiren wir davon, so ist die Sprache nichts als die äußere Seite des Denkens und es ist ein analoger Zusammenhang des Denkens und Sprechens und des Sprechens und Verstehens. Nun giebt es doch auch ein Sichselbstverstehen und also wiederum einen Reflex aus der Sprache ins Denken, der nicht aus dem Einzelnen herausgeht und dann können wir den Philosophen nöthigen, daß er Stand halten und beide Theorien, die des Redens und Schreibens und die des Verstehens ÐaufnehmenÑ muß, denn die Absicht des Redens ist Festhaltung des Gedankens und Aufgabe des Verstehens. Es ist Absicht des Redens, weil vorher gesagt ist, daß es kein Denken ohne Reden giebt, in dem Ausspruch: die Sprache ist die äußere Seite des Denkens. Durch die Rede kann der Gedanke nur vollendet werden und auch nur durch die Rede wird der Gedanke fixirt. Was nun die Sprache für das Denken ist, daraus müssen sich alle Regeln entwickeln für die Art, wie die Sprache verstanden werden soll, weil doch selbst die Sprache und das Denken nur ein Selbstverstehen ist. Hiermit ist der Ort und die Principien für unsre Wissenschaft gegeben.
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Die Auslegung setzt gar nicht die Duplicität voraus des Denkenden und Redenden, sondern der Redende selbst muß sich selbst verstehen und in beiden Fällen wo einer sich selbst und wo einer einen andern verstehen soll, bleibt das Verhältniß des Redens zum Denken dasselbe. Dies wird noch vorzüglich klar dadurch, wenn wir bedenken, daß alles Denken entweder ein gemeinsames ist, oder werden soll. Wir stellen alle vor eine Identität des Denkenden in uns allen und das Bestreben, daß das Denken in dem einen ein Denken in allen werden soll, ist eben in der Rede gegeben. Auf diese Weise also steht die Rede in der Mitte zwischen dem Denken des einen und dem Verstehen des andern, damit, indem beides durch die Rede zusammenkommt, der Gedanke des einen mit dem des andern identisch werde. Von diesem Punct aus können wir in seiner Nothwendigkeit einsehen, was vorher angedeutet ist, nemlich die Kunst zu reden und zu verstehen. Das eine ist nichts andres, als die Art, wie in Beziehung auf das Verstehen des andern die Mittheilung geschehen soll und das andre ist nichts andres als die Art, wie in Beziehung auf die Rede des andern sein Denken herausgebracht wird. So ist nun die Kunst der Rede das erste, die Kunst des Verstehens ist nur die Umkehr. So ist die Auslegung nichts als die Umkehr der Redekunst. Nemlich zunächst findet dies nur statt in der Anwendung. Es entstand ein Reden aus einem Denken. Durch das Verstehen soll aus dem Reden wieder ein Denken werden. Daß aber dieselben Regeln statt finden sollten, ist jetzt noch nicht klar. Damit eine bestimmte Rede werde muß vorhergegeben seyn eine bestimmte Sprache und dann ein bestimmtes Denken. Was das erste betrifft, so ist nicht nöthig, viel darüber zu sagen, denn das sieht wohl jeder ein, daß wir nicht nöthig haben, uns zu vertiefen in die Entstehung der Sprache, denn dann könnte einer die Sache umkehren. Ursprünglich mag es gewesen seyn wie es will, aber für den, der verstehen will, muß die Sprache voraus gedacht werden. Scharf genommen ist das auch noch unrichtig und gerade wenn wir das Dilemma finden, daß die Sprache eher gewesen seyn muß als eine bestimmte Rede und umgekehrt, so setzen wir nun zwar voraus die gegebene Sprache, aber jede Sprache selbst wird doch auch nur durch das Reden gelernt. Wir müssen also auch hier sagen, von dem ursprünglichen Verstehen der Sprache, wo uns das erste Verständniß erst kommt, von dem kann nicht die Rede seyn, sondern das ist ein Naturprozeß, sondern ein gewisses Verstehen der Sprache wird vorausgesetzt um eine Rede zu verstehen. Ferner wenn eine Rede entstehen soll, so wird ein gegebenes Denken vorausgesetzt. Man könnte sagen: die Rede wird mit dem Denken zugleich. Wir denken gar nicht eher, bis wir innerlich reden, alles was vor-
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her da ist, ist nur conatus. Nun kann diese Rede auch gleich äußerlich werden und dann ist die Rede gleichzeitig mit dem Gedanken geworden. Aber wir werden uns gleich vereinigen, daß die Rede, die schlechthin gleichzeitig mit dem Gedanken entsteht nicht diejenige ist, die ein Gegenstand der Auslegung wird; denn wenn ich mit einem so stehe, daß meine Rede nichts ist als der gewordene Gedanke selbst, daß ich mich gleich in ihn hineindenke durch meine Rede, da ist keine Auslegung nöthig, sondern da wird die Rede so unmittelbar verstanden, wie sie unmittelbar der gewordene Gedanke selbst ist. Sobald wir aber eine Ahnung davon haben, daß so der Gedanke nicht unmittelbar in den andern übergehen kann, so kommt etwas dazwischen, es wird eine zusammengesetztere Rede, wozu die Auslegung nöthig wird. Es ist da erst vieles Denken vorausgegangen und die Gedanken selbst sind anders geordnet, als sie ursprünglich waren. Hier nur ist die Auslegung an ihrem Ort. Wo das Minimum von Differenz ist zwischen dem ursprünglichen Gedanken und seiner Mittheilung, da muß Auslegung seyn. Wir denken vielerlei wirklich bis zum innern Sprechen ohne uns weiter darum zu bekümmern. Das sind die vorübergehenden Acte des Denkens, das ist das Fließende im Bewußtseyn. Es giebt andre, die nicht von dieser Art sind, sondern die wir wirklich fixiren, aber ohne daß wir etwas besonderes dazu thäten, ohne alle besondere Ueberlegung, weil wir wissen, daß wir für den Gegenstand und der Gegenstand für uns immer wieder dieselben seyn werden. Das ist völlig kunstloses Fixiren. Nun aber denke man sich in irgend einem speculativen Act des Denkens, so müssen wir sagen, jeder Gedanke, der in ein Fach des Denkens gehört, wenn er ursprünglich in uns entsteht, so entsteht er zufällig als Einfall und so wie er als Einfall entstanden ist, hat er noch nicht den Anknüpfungspunct an diejenigen Gedanken mit denen er wesentlich zusammengehört in Beziehung auf das bestimmte Gebiet des Erkannten. Nun haben wir oft solche Einfälle, die wir gar nicht fixiren. Oft aber wollen wir ihn gleich an seinen Ort im Bewußtseyn hinstellen und oft kommt dann derselbe Einfall wieder nur etwas anders und je öfter er sich aufdringt, desto mehr sehen wir, daß er in unser Denken gehört. In beiden Fällen nun wird er umgeformt, er bekommt irgend wie eine andre Gestalt und da ist die Kunst der Rede rein in Beziehung auf uns selbst. Dies schließt sich an die in die Kunst des Denkens wesentlich gehörige Behandlung unsrers combinatorischen Denkens, und hier sehen wir den Zusammenhang der Kunst zu reden und zu verstehen mit der Kunst zu denken, mit der Dialectik.
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Sehen wir nun von hier auf die Voraussetzung der Sprache zurück, so werden wir da nun das Aehnliche finden. Schleiermacher nimmt den Gedanken noch einmal auf, daß jedes Verstehen einer Rede etwas zu unsrer Kenntniß der Sprache hinzufügt. Verfolgt man dies bis ins allereinzelste, so erscheint es lächerlich, es behaupten zu wollen, aber das ist nur ein Schein, denn bei solchem Minimum ist es nur ein Minimum, aber jedes Einzelne giebt seinen Beitrag dazu, wie klein er auch sey. Also jede Rede trägt bei zu unsrer Kenntniß der Sprache wenn sie verstanden wird. Was heißt das anderes, als jede Rede ist Modification der Sprache selbst und wie die Kenntniß der Sprache wird durch das Verstehen der Rede, so wird die Sprache selbst durch die Rede gebildet, das Werden der Rede ist also nichts, als das Werden der Sprache selbst. Nun wird die Rede nur durch einzelne Menschen und für das Werden der Sprache ist die Wiederholung nothwendig aber nur wiefern jede Wiederholung der Rede eine andre ist, die Elemente darin andre geworden sind im unmittelbaren Gebrauch und so können wir sagen: jeder einzelne Mensch ist gleichsam ein eigenthümlicher Ort, in welchem die Sprache wird. So sind wir also zu der Anschauung gekommen, daß die Kunst der Rede, der Composition aus 2 Elementen besteht 1. aus dem mehr objectiven, wiefern sich die Rede auf die Sprache bezieht 2. aus dem mehr subjectiven, in wie fern sich die Rede auf den bestimmten Act des Denkens bezieht. Wir knüpfen wieder an den Punct, wo die Kunst der Rede minimum ist. So wie wir eine Ahnung bekommen von einer Differenz zwischen uns als Redenden und einem andern uns Verstehenwollenden, so wird die Differenz 2erlei Art seyn, der Sprache und der Combination. Die Kunst der Rede besteht also aus 2 Elementen 1. aus dem, das sich mehr auf die Sprache bezieht, aus dem mehr objectiven, materiellen 2. aus dem psychologischen, was sich auf die genesis der Gedanken, auf ihr Aufeinanderfolgen im Bewußtseyn bezieht und dies ist offenbar das mehr formelle oder auch subjectivere. Wiefern wir dies auf die Auslegungskunst anwenden, so müssen wir sagen, weil diese das Umkehren davon ist, so wird auch die Duplicität ins Verstehen kommen. Eine jede Rede muß verstanden werden 1. in Beziehung auf die Sprache auf objective Weise, sie muß aus der Sprache heraus verstanden werden 2. auf eine subjective Weise als ein factum in demjenigen, der die Rede hervorgebracht hat, aus seiner Rede muß uns das innere factum, wovon die Rede der Spiegel ist, klar werden und nur in wiefern dies beides der Fall ist, hat man eine Rede verstanden. Nemlich man kann nicht sagen, daß eins das andre ersetze oder daß man an einem genug habe, sondern beides muß seyn. Beide Seiten stehen sich völlig gleich. Man pflegt zwar die sich bloß auf die Sprache beziehende Inter-
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pretation die niedere zu nennen, die andre als die höhere, aber das ist nichts, denn man kann es recht gut umkehren. Fragen wir: was ist das Bleibende von aller Rede als solcher? Alles was in die Sprache übergeht, alles, was die Sprache bildet. So ist also die Beziehung auf die Sprache das höchste und der Einzelne erscheint so nur als eigenthümlicher Ort für die Sprache. Stellen wir uns auf den entgegengesetzten Standpunct, so ist die Sprache Organ des Menschen, aber der Geist ist das thätige Princip und den erkennen wir als unmittelbar productiv nur in dem einzelnen Menschen, und so ist die Auslegung die sich auf die Sprache bezieht, die niedere, weil sie sich bloß auf das Organ bezieht, die, welche sich auf den Verfasser bezieht, die höhere, weil sie sich auf das lebendige Princip bezieht. Aber eben weil die Sache so und so angesehen werden kann, sind beide Arten ganz gleich. Man muß suchen, jede Rede und Schrift vollkommen zu verstehen von beiderlei Art und von beiden Orten aus, und also muß die objective und subjective Interpretation immer ineinander seyn. D. h. wir müssen suchen eine jede Rede und Schrift durch die Sprache allein vollkommen zu verstehen, so daß wir im Stande sind, von allem zu abstrahiren, was wir vom Urheber wissen, bloß aus der Sprache die Rede zu verstehen und das Subjective daraus zu construiren. Aber eben so müssen wir auch jede Schrift aus dem Character, Absichten, äußeren Verhältnissen des Verfassers so genau verstehen, daß wir auch im Stande sind die grammatischen Schwierigkeiten hieraus zu lösen, so daß also jede der beiden Seiten die andre vollkommen ersetzen kann. Das ist die vollkommene Aufgabe der Auslegung in ihrem ganzen Umfange. Was gehört aber hiezu? Wenn uns die grammatische Interpretation so weit bringen soll, daß wir die andre entbehren können, so muß uns auch die ganze Sprache gegenwärtig seyn und außerdem muß uns die Rede selbst als unzweifelhaftes Factum gegeben seyn d. h. mit einem reinen und fehlerlosen Text. Was muß uns aber gegeben seyn, wenn die subjective Interpretation soll die grammatische ersetzen können? Ja dann muß uns eine vollkommene Kenntniß des Urhebers gegeben seyn, seine Seele, sein ganzes Leben, alle seine Relationen, der Moment, wo seine Schrift geworden ist im Zusammenhange seines ganzen Daseyns muß klar vor uns liegen. Nun ist aber offenbar, daß uns dieses beides niemals gegeben, auch niemals gegeben seyn kann wegen der schon angeführten Wechselwirkung, denn zu solcher Sprachkenntniß kann man nur durch die Rede selbst kommen, es muß also die Rede verstanden werden, ehe man die Sprache in ihrer höchsten Vollkommenheit kennt. Eben so wenig kann uns jemals solch vollkommene Kenntniß vom Urheber einer Schrift gegeben seyn, denn woher sollten wir die Kenntniß haben? Die Rede eines Menschen ist ein
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großer Theil von dem Leben eines solchen, dessen Rede werth ist, daß man sie versteht, darum muß man auch erst seine Rede haben und verstehen. Dazu kommt, daß die Verhältnisse und Factoren seines Lebens niemals vollkommen angeschaut werden. Wir sehen also hieraus, wie nothwendig es ist, von beiden Seiten immer zugleich auszugehen, damit die eine die andre ergänzen kann. Hieraus geht aber am bestimmtesten hervor, daß dies Geschäft eine Kunst ist im eigentlichsten Sinne des Wortes. Nemlich der eigentliche Sinn des Wortes interessirt uns hier von der Seite, wie sich die Kunst vom Mechanischen unterscheidet. Nemlich jedes Mechanische ist das, wo wenn einer die Regeln weiß, er es auch gleich machen kann. So ist das Rechnen das allgemeine Schema eines mechanischen Geschäfts. Aber mit einer Kunst ist es ein ander Ding, da schließen die Regeln nicht die Richtigkeit der Anwendung von selbst in sich, sondern es gehört zur Anwendung, was mit den Regeln nicht gegeben werden kann, der Sinn für die Sache, das Talent. Für ein mechanisches Arbeiten gehört bloß das Organ, womit man arbeitet, kein Talent. Das Auslegen gehört offenbar zur Kunst, weil sie von solchen Puncten aus construirt wird, die schon an und für sich von der Art sind und am meisten in ihrer Verbindung, daß mit den Regeln die Anwendung nicht mit gegeben ist. Die Sache ist diese, daß wenn wir ausgehen von jeder Seite der Interpretation an und für sich, so ist die Voraussetzung eine unendliche. Man muß also aus dem Unendlichen einen Punct herausconstruiren. Dazu können keine Regeln gegeben werden, die die Sicherheit der Anwendung in sich schließen. Die Sprache ist unendlich und das Wesen jedes Einzelnen auch, denn alles Individuelle ist innerlich unendlich und dazu kommen die unendlichen Anregungen und Verhältnisse des Individuums. Betrachten wir gar erst beide Puncte in Beziehung auf einander, dann wird es gar unmöglich, Regeln zu geben, die eine Sicherheit der Anwendung geben. Die allgemeinen Regeln sind leicht gegeben: wenn dich die eine Seite im Stich läßt, so nimm die andre, aber nur das Gefühl, wenn einen eine Seite im Stich läßt, wenn nichts herausgenommen werden kann, ist ein Talent. Wo dies Talent nicht ist, da helfen alle Regeln nichts. Was sind denn nun die innern Bedingungen, unter denen allein von diesen Regeln ein zweckmäßiger Gebrauch gemacht werden kann? d. h. welche Talente gehören zum Auslegen? Die Antwort folgt natürlich und nothwendig aus dem vorigen. Das eine ist das linguistische Talent, das der Sprache. Was verstehen wir darunter? Wir haben bei der ganzen Aufgabe 30 andre] eine
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des Auslegens keinen Unterschied gemacht ob die auszulegende Rede in der Muttersprache abgefaßt sey oder in der fremden. Unter dem linguistischen Talent ist also hier auch ÐmitÑ das Talent gemeint, fremde Sprachen zu lernen. Hier ist im Allgemeinen nur das Talent der Sprache gemeint, daß in dem Einzelnen immer die Totalität der Sprache gegenwärtig sey. Das ist die Seite der Receptivität. Dazu die Seite der Spontaneität, daß man die Sprache auch zu beherrschen und zu gebrauchen wisse. Die Sprache für sich ist Element der menschlichen Natur, und in sofern kann kein Mensch gedacht werden ohne ein Minimum dieses Talents. Aber wir nennen es dann nicht Talent, wenn die Sprache den Menschen hat und er nicht die Sprache. Sie ist für solche nichts als etwas Aeußerliches, die Scheidemünze für ihr kleines Lebensverkehr und darum hat die Sprache wenig an ihnen, wie sie wenig an der Sprache. Ein Talent entsteht erst, wenn der Mensch auf lebendige Weise in die Sprache selbst eingeht und von diesem Talent hängt die Auslegung ab. Das kann auf den ersten Blick mißverstanden werden. Nemlich man könnte denken, es läge darin, daß nur jeder auslegen kann in dem Maaß, als er selbst reden und schreiben könne. Das ist auch in gewissem Sinne wahr, aber nicht ganz. Es ist dies im Reden und Verstehen das Identische. Aber außer diesem lebendigen Talent der Sprache braucht man für das Reden und das Schreiben noch etwas andres und fürs Verstehen auch noch etwas andres. Das Fundament beider aber ist der lebendige Besitz der Sprache, der Composition der Rede, wie des Verstehens der Rede. Die Sprache selbst muß im Menschen lebendig seyn, er muß den Sinn haben, sie aufzufassen, im Ganzen das Einzelne, im Einzelnen das Ganze, alle Analogien der Sprache müssen in ihm lebendig seyn, wenn er auslegen will. Hat er diese lebendige Sprache nicht, so muß er sich in der Auslegung von andern leiten lassen. Das andre Talent der Auslegung kann ihm nur helfen, das beste auszusuchen von dieser Seite, die ihm fehlt. Das andre Talent aber ist das Mimische, das Talent, den Menschen nachzuconstruiren und aus seinen Aeußerungen zu wissen, wie ihm zu Muth ist und daraus wieder zu wissen, wie er sich äußern würde. Auch hier haben wir Naturgabe und Talent zu unterscheiden. So wie kein Mensch ohne Sprache ist, so ist er auch nicht ohne Liebe, ohne Auffassen des andern Menschen, ohne Bedingung aller Theilnahme. Das ist reine Naturgabe, die aber immer bloß auf den äußeren Moment geht. Aber das Verstehen des Uebergangs von einem Moment auf den andern, das ist das Talent der Menschenkenntniß. Dies kann nicht gelehrt werden. Man kann freilich leicht sagen: die Menschenkenntniß muß von der Selbstbeobachtung ausgehen, allein dadurch kommt man nicht weiter, die
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Regel trägt die Sicherheit der Anwendung nicht in sich, denn viele, die die Regel haben, verstehen sich doch selbst nicht einmal. Aber für die Interpretation ist dies Talent sehr wesentlich und der Mangel daran ist dasjenige, was oft alle grammatische Virtuosität unnütz macht, weil man oft dann falsche Combinationen macht und sich so darin verfitzt, daß man mit aller Grammatik nicht auskommt. Was Verkehrtes beim Mangel dieses Talents herauskommt, sieht man am meisten bei den Auslegungen des Neuen Testaments. Wem dies Talent fehlt, der muß sich leiten lassen und hat er die grammatische Interpretation, so kann er critisiren, was er in Beziehung auf das Psychologische von andern annehmen kann. Sehen wir auf alles dies, so werden wir uns nicht wundern, daß es so wenige große Interpreten giebt. Alle haben auch nur bedingt Vortrefflichkeit, weil ihnen bald mehr das eine, bald mehr das andre abgeht. Indem wir nun die Aufgabe als Kunst constituirt haben, so fragt sich, ob diese auch überall geübt wird und geübt worden ist? Ja, nur in verschiedenem Verhältniß. Die Auslegung ist in Beziehung auf die Gemeinschaftlichkeit des Denkens und in dem Maaß, als für diese etwas wichtig ist, muß die Auslegungskunst darauf gewendet werden, in dem Maaß, als es dafür nicht wichtig ist, bedarf es keiner Auslegung. Es giebt schlechthin Unbedeutendes in menschlicher Rede. Das ist das, was Null ist für die beiden Hauptbeziehungen, auf die wir die Kunst der Auslegung bezogen haben, was Null ist für die Eigenthümlichkeit des Redenden und was Null ist für die Sprache. Wo aber eine Schwierigkeit des Verständnisses entsteht, da entsteht ein Interesse und umgekehrt. Das geht immer von diesem Nullpuncte [aus] und das Interesse wird dann zwiefach mit der Schwierigkeit. Es wird interessant und schwierig entweder weil der Redende uns unverständlich ist oder weil seine Sprache. Eine Rede wird Gegenstand der Auslegungskunst, wenn sie bleibende Veränderungen in der Sprache schafft. Was wirkt aber bleibend in die Sprache ein? Die Sprache läßt sich betrachten auf 2fache Weise 1. von ihrer logischen, 2. von ihrer musicalischen Seite. Was bleibend auf die Sprache einwirkt in Beziehung auf ihre logische Seite das muß auch im Erkennen ein neues seyn. Nemlich es giebt wol Neuerungen in der Sprache, die aber vorübergehend sind, auf bleibende Weise wird nur auf die Sprache gewirkt dadurch, daß ein neues Gebiet der Erkenntniß aufgeschlossen, oder ein bisheriges stark umgestaltet wird. Das ist das maximum auf diesem Gebiet. Was das Musicalische Element der Sprache betrifft, so ist das nun nicht dasjenige, was sich auf das Verstehen bezieht, sondern auf das Wohlgefallen. Es ist die Kunstseite der Sprache, wie das logische die wissenschaftliche Seite der Sprache. Aber das Wohlgefallen steht in Bezie-
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hung auf das Verstehen und diese kann nachtheilig seyn und vortheilhaft. Nachtheilig, wiefern man durch das Musicalische gegen das wissenschaftliche bestochen werden kann; vortheilhaft, wiefern es das Verständniß unterstützt. Es steht also hier nur in mittelbarer Beziehung auf unser Gebiet, die aber nicht zu vernachlässigen ist. Nun steht alles zwischen beiden Puncten auch in Beziehung auf beide. Die Sprache ist ein werdendes und jede Aeußerung und Erscheinung derselben ist auf der einen Seite ein Reproduciren des schon da Gewesenen, auf der andern Seite muß es Anfänge und Keime enthalten zu dem, das da wird. Je mehr das letzte der Fall ist, nähert es sich dem Maximum, je mehr das erste, dem Minimum. Ein verschiedenes Interesse giebt es also für die Auslegungskunst. Aber sobald wir absehen von dem schlechthin Unbedeutenden, das bloß der Lückenbüßer ist, so ist alles ein Gegenstand für die Kunst und bedarf alles der Hülfe der Kunst und nichts ist ohne sie verständlich, wenn auch keine neue Anstrengung der Kunst nöthig ist. Uebrigens entsteht dem ganzen Auslegungswesen dadurch ein großer Schade, daß zu vieles für unbedeutend gehalten wird. Wie oft finden wir es nicht, und zwar in Beziehung auf Gegenstände, die in dem Moment ein unmittelbares Interesse haben, daß gewisse Ausdrücke, Formeln ein Schild sind, hinter dem sich Unklarheit und Undeutlichkeit verbirgt, wie das in den politischen Verhandlungen immer ist. Das sind nun keine Ausdrücke, die in wissenschaftlicher Münze ausgeprägt sind, sondern sie sind so aus dem gewöhnlichen Verstehen und nun weiß man ihre Bedeutung nicht mehr. Das geht besonders mit allem so, was als Bezeichnung gebraucht wird für ein gewisses Parteiwesen. Alle solche Ausdrücke sind auf ungesetzlichem Wege entstanden, sie sollen eine Opposition anzeigen, aber gegen was, weiß man nicht. Wenn man die Menschen gleich nöthigte, ihre Meinung zu sagen, so würden sie nicht in Cours kommen. Verallgemeinern wir dies Beispiel, so sehen wir, wie üble Folgen es hat, wenn die Auslegung nicht überall und ganz besonnen geführt wird. Man muß also eigentlich davon ausgehen, daß nichts absolut unbedeutend ist für die Auslegung. Dies ist nichts andres, als eine Maxime der Sicherheit, um sich und andre vor Mißverständnissen zu hüten, eine Maxime der größten Aufmerksamkeit auf alles, was in der Sprache vorkommt. Jener Nullpunct ist also nicht das reine Zero sondern das Minimum. Sehen wir auf die subjective Auslegung, so ist das Minimum, worin die Eigenthümlichkeit des Redenden und die Bedeutsamkeit des Moments ganz zurücktritt. Dies Minimum tritt nicht mit jenem zusammen. Eine Rede kann auf die Sprache gesehen schon bedeutend seyn, aber für die subjective Interpretation Null, zB. alle Verträge sind etwas, worin die
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subjective Seite ganz zurücktritt, aber sie können doch sehr interessant seyn in Beziehung auf die Sprache. Das maximum hier ist das eigentlich Künstlerische, das Ausprägen persönlicher Eigenthümlichkeit in der Sprache; denn in dem Maaß eine Rede dieses in sich trägt, kann sie nur verstanden werden aus der Kenntniß dessen, der sie hervorgebracht hat. So wie nun das absolute minimum ist für die Auslegung dasjenige, was in beiden Rücksichten minimum ist, so ist das maximum dasjenige, was in beiden Rücksichten das maximum ist und das ist das Geniale. Hieraus folgt nun, daß es zwar dabei bleibt, daß das Auslegen selbst nur in der Combination beider Verfahrungsarten, der objectiven und subjectiven vor sich gehen kann, aber daß nun das Maaß, in welchem jede beider Richtungen gerade angewandt wird, in jedem Falle ein verschiedenes ist. Die subjective Seite tritt zurück in allem Historischen. Es hat freilich immer auch sein Subjectives, einer erzählt nicht wie der andre und einer hat nicht dieselbe historische Ansicht. Aber das sind nicht die Puncte, von denen die Interpretation ausgeht, sondern das wird ihr Resultat mit seyn. Eben so gehört dahin alles was Geschäftssache ist, das correlarium zu jenem, denn es ist das, was Geschichte werden will. Das Gegenstück dazu wird vorzüglich seyn alles Briefliche, in wie fern es das ist. Da tritt immer das Persönliche heraus und die Bekanntschaft wird immer vorausgesetzt. Die subjective Interpretation muß da also die Hauptsache seyn. Jeder hat nun zwar auch seine eigne Sprache, aber davon kann die Interpretation hier nicht ausgehen, sondern es wird erst ihr Resultat, wie der Einzelne seine Eigenthümlichkeit darstellt in der Sprache. Das Zusammenseyn beider Richtungen ist aber die Hauptsache. Giebt es denn aber in der That mehrere Auslegungsweisen? In der theologischen Welt ist seit langer Zeit gestritten über die historische Interpretation. Der eine sagt, man müße sie anwenden, der andre nicht. Soll man die historische nicht anwenden, so muß man eine andre anwenden, dann muß es also 2 geben. Wenn es aber 2 giebt, warum nicht 3? ich muß sie also construiren und sehen, wo ich die oder die anwende. Was ist denn nun der Ausdruck? Er ist auch auf verworrene Weise in der Polemik entstanden. Man sagt: es ist die Interpretation aus Zeitbegriffen. Zeitbegriffe aber sind auch ein verwirrtes Wort wie der Zeitgeist. Aus Zeitbegriffen interpretiren heißt aber aus den in der Zeit des Verfassers herrschenden Ansichten interpretiren. Aber sollte man jemals nicht daraus interpretiren? Was hat also dies für einen Sinn? Die christliche Religion ist ein sprachbildendes Princip gewesen. Es sind neue Vorstellungen entstanden. Wenn man nun tadelt, daß das Neue Testament aus Zeitbegriffen interpretirt wird, so tadelt man, daß die Sprachbildende Kraft des Chri-
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stenthums übersehen wird und daß die Interpreten voraussetzen, man müße nichts suchen im Neuen Testament als lauter bekannte Vorstellungen. Das ist freilich nicht gut. Aber man muß nur nicht sagen, daß man dadurch der historischen Interpretation entgegentrete, denn man beförderte sie eben, indem man zeigte, in welcher Zeit das Neue geworden ist und was Neues und wenn das gezeigt ist, dann ist es für die folgende Zeit ein Zeitbegriff. Der Streit dreht sich also nur um unsern Punct. Das Christenthum machte die NeuTestamentlichen Schriftsteller zu eigenthümlichen Menschen. Wende man also nur die subjective Interpretation ordentlich an, so wird sich alles finden. Aber eine historische Interpretation anzunehmen, und dagegen eine grammatische und dann eine historischgrammatische ist höchst unnütz, denn es ist bloß etwas Einzelnes, das man gleich als solches hätte erkennen sollen, dann würde man nicht geglaubt haben, eins ausschließen zu können und eine große langweilige und unnütze Litteratur wäre uns erspart. Man hat unter historischer Interpretation nicht bloß das Verständniß des Zeitalters des Schriftstellers begriffen, sondern auch das, wenn Begebenheiten vorkommen. Aber es ist dies auch nichts besonderes, denn es ist ja weiter nichts, als daß ich mir die Kenntniß verschaffen muß von demjenigen, was der Schriftsteller bei seinen ursprünglichen Lesern voraussetzte. Das Rücksichtnehmen auf die Begebenheit ist also bloße Bedingung des Verstehens. Dies ist so wenig eine eigne Art der Interpretation, denn wenn eine Rede ursprünglich an mich gerichtet ist und Begebenheiten dabei vorausgesetzt werden, die mir bekannt sind, so fallen mir die ohne alle Kunst bei. Es muß also vor der Interpretation vorhergehen, daß ich mich in die Lage des ursprünglichen Lesers hineinsetze, bei der Interpretation selbst wird es dann keine Kunst seyn. Die historische Interpretation in diesem Sinne kann keine eigne Art der Interpretation seyn. Eine andre Art der Interpretation ist die allegorische. Es ist dies nun gar nicht etwas der theologischen Hermeneutik eigenthümliches, so wenig als die historische Interpretation, nur daß man sonst nirgends so viel Aufsehens gemacht hat. Die allegorische Interpretation finden wir bei den Alten auch. Homer ist bei den Alten so häufig allegorisch interpretirt als die Bibel. Was ist denn nun diese eigentlich? Das Wesen davon ist dieses, daß man meint, mit demjenigen, was in einer Rede enthalten sey, sey noch ein andres zugleich angedeutet und die Interpretation lege sich nun darauf, dieses andere zu finden. Allegorien kommen wirklich vor. Wo sie vorkommen, findet da eine allegorische Interpretation statt? Nein, son2 Neuen Testament] A.T.
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dern da ist eben die Interpretation die Interpretation der Allegorie. In dieses Gebiet gehört gehört denn auch alles Parabolische und es ist ganz gleichgültig, ob es ein wahres Fundament hat oder ein erdichtetes. Die Parabel vom Sämann hat ein wahres Fundament, denn mit dem Saamen geht es so. Die Parabel vom reichen Mann ist Fiction. Was macht das für einen Unterschied? Christus hat in der Parabel vom Sämann dies eben so wenig lehren wollen als ein Geschichtliches als er in der Parabel vom reichen Mann hat lehren wollen, daß es einen solchen gegeben und dazu einen Lazarus. Man kann hier keinen Unterschied annehmen. Man kann nicht sagen, die Parabel vom Sämann habe einen doppelten Sinn, einmal daß es so zugehe mit dem Samenkorn und dann daß es eben so sey mit dem Reiche Gottes, sondern er hat bloß das letztere sagen wollen. Die allegorische Interpretation hat es aber nicht mit solchen Stellen zu thun, sondern mit solchen, die im Zusammenhange ihren wirklichen Platz und Verstand haben und es wird gesagt, dies habe außerdem noch einen andern Sinn. Kann man darüber im Allgemeinen etwas bejahen oder verneinen? Man hat dieser Interpretation das allgemeine Gesetz entgegengesetzt, jede Rede könne nur einen Sinn haben. Das ist nun wahr, aber auch falsch. Wir wissen zB. was man eine Anspielung nennt. Da existirt doch ein Sinn für denjenigen, der die Anspielung nicht merkt und der unmittelbare Zusammenhang der Rede verliert nicht dadurch. Kann man nun nicht sagen, daß hier ein doppelter Sinn ist? Allerdings, der eine ist eine Zugabe. Der allgemeine Grundsatz führt uns also gar nicht weiter, denn da wir Ausnahmen von ihm machen wollen, kann er uns gar nicht mehr schützen gegen das Verkehrte der allegorischen Interpretation. Man muß also fragen: wie weit kann solcher zweiter Sinn gehen und wie fern kann er statt finden? Zwei Leute hören eine Rede, worin eine Anspielung ist. Der eine versteht sie der andre nicht. Haben nun beide die Rede verstanden[?] Ja, nur der eine vollkommner. Daran grenzt nun, daß der eine eine Anspielung findet in der Rede, die der Redende nicht gemeint hat und dann hat dieser das factum in der Rede des Redenden falsch verstanden. Alles was man nun sagen kann von einem Sinne hinter dem eigentlichen Sinn, fällt nun hieher, entweder hat ihn der Redende gehabt oder nicht. Wir aber können immer wieder das Gesetz festhalten, jede Rede hat nur einen Sinn; denn wenn ich sie bloß von Seiten der Sprache betrachte so hat sie 2 Sinne, aber betrachte ich sie als factum im Redenden, so hat sie nur einen Sinn. Wie entsteht denn die Anspielung? Wir 4–5 Siehe die beiden Parabeln im Evangelium Matthäus 13, 3–23 (Markus 4, 3–20, Lukas 8, 5–15) und im Evangelium Lukas 16, 19–31.
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finden immer wenn wir auf uns selbst achten, ausgenommen die Zustände der allerhöchsten Anspannung, und auch da ist es als minimum, im Denken neben der Hauptreihe in der wir begriffen sind, begleitende Gedanken, die manchmal ganz im Dunkeln bleiben, je weniger wir unsre Aufmerksamkeit auf sie richten, je mehr wir nach einer Seite hin aufmerksam sind. Je weniger wir das sind, desto weniger sind wir Herr über sie. Die ganze Welt ist idealiter im Menschen und nicht bloß die Möglichkeit dazu ist da, denn eine bloße Möglichkeit giebt es gar nicht, und der Mensch trägt in dem Bewußtseyn die ganze Welt. In seiner Beschränktheit liegt zwar, daß einer immer vorzüglich heraustritt, aber er muß immer nolens volens mehr denken und das ist ein freies Spiel, wovon er selbst wenig weiß. Ist nun der Mensch am wenigsten aufmerksam, so ist das der Zustand der Zerstreuung, wo es keine herrschende Reihe von Gedanken giebt, wo also auch kein Gedanke sich vollständig ausbildet. So wie einer sich ausbildet, wird er Primus einer Reihe. Wo die nicht hervortritt ist auch keine Ausbildung einer Reihe. In der Zerstreutheit ist also die Mannigfaltigkeit groß aber chaotisch. Nun denken wir in der Aufmerksamkeit begleitende Gedanken und daraus entsteht die Anspielung. Das factum aber ist nur aufgenommen, wenn die Anspielung mit aufgenommen ist. Habe ich so gesprochen, daß sie keiner merkt, so ist das eine ungeschickte Rede. Der selige Hamann war einer der geistreichsten Leute. Seine Schriften sind voller Anspielungen, die aber niemand versteht, weil er das Publicum mit seinen innigsten Freunden verwechselte. Es kommt darauf an, zu beurtheilen, ob es die Absicht des Redenden gewesen sey, begleitende Vorstellungen in die Rede zu verweben. Aber diese Duplicität braucht nicht auf dem Gebiet der Anspielung stehen zu bleiben. Es giebt einen großen Parallelismus von Vorstellungsreihen, der viel bedeutender ist. Man nehme nur die Parallele zwischen dem im engern Sinne Physischen und im engern Sinne Ethischen. Man hat immer Analogien zwischen ihnen gesucht. So kann es einem leicht begegnen, daß wenn einer in der Reihe physischer Gedanken ist, der Parallelismus mit der Ethik ihn schlägt und dadurch eine Reihe ethischer Gedanken mit hineinkommt. Wenn er nun das ethische allein für sich behält, das physische aber mittheilt, in dem Lesenden aber entsteht auch das Ethische, was sollen wir dann sagen? Soll es mit zur Auslegung der Rede gehören? Nein, das ist ein factum ganz andrer Art, das gar nicht mit zur Rede gehört. Es würde nur zur Auslegung gehören, wenn ich nachweisen könnte, daß der Verfasser das gewollt habe. Dieses ist aber das Wesen der allegorischen Interpretation, daß sie nach diesem Parallelismus geht und sagt: was mir einfällt bei der Rede, das liegt auch mit darin, weil der Schreibende oder
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Redende diese Einfälle auch gehabt. Aber ohne Indicien darf man das nicht. Eine andre Frage ist, wie man darauf gekommen ist, es mit dieser allegorischen Interpretation so weit zu treiben als es mit dem Homer und der Bibel geschehen ist. Im Kleinen finden wir es sehr häufig, daß die Menschen geneigt sind, hinter einer Rede noch etwas andres zu suchen. Wenn die Neigung eine herrschende ist, so ist es eine fixe Idee, die an den Wahnsinn streift. Aber es so im Großen anzuwenden, wie es geschehen ist, setzt noch eigne Verhältnisse voraus und weil es auf beiden Puncten vorzüglich ist, so müssen sie auch etwas Aehnliches haben. Es ist bekannt, daß Homer eine lange Zeit hindurch das einzige Buch war, das in die ganze Volksbildung überging, womit jeder, der irgend eine Art von Erziehung genoß bekannt war. Alle andern dagegen hatten nur einen kleinen Kreis und namentlich galt das von allen philosophischen. Sehen wir nun darauf zurück, was über den Grundtypus der Allegorisation gesagt ist, so geht er darauf hinaus, daß man über jedes alles sagen kann und das ist wahr, aber dann ist es nicht mehr Auslegung der Rede, sondern die Rede ist dann nur Veranlassung. Das ganze Mißverständniß scheint nun darauf hinauszukommen, daß man solche Behandlung als Auslegung betrachtet hat. Man kann durch solche Behandlung jede Rede zu einem Inbegriff von allem machen. Dies ist auch jede in gewissem Sinn, denn jede Rede hängt zusammen mit dem Gesammtdenken der Menschen und das Gesammtdenken ist nichts, als die ganze Welt, und man kann das allerdings in der Rede finden. Sie verliert aber dann ihre individuelle Natur und stellt das Gesammtdenken dar. Nun hat man also um so weniger Veranlassung dazu, je mehr Reichthum an Schrift und Rede da ist, denn dann kann man durch die Gesammtheit der einzelnen Reden das Gesammtdenken auch aufweisen. Darum muß sich unter diesen Umständen jeder davon entfernt halten. Aber wenn nur eine Schrift ist, dann muß doch wenigstens der Wunsch entstehen, daß in ihr das Gesammtdenken sey und das Bestreben es zu finden, wäre es auch nur möglich mit dem Untergang ihrer Eigenthümlichkeit. Nun freilich giebt sich nicht jede Rede gleich dazu her. Es muß ungeheuer viel in ihr angeregt seyn und es muß eine solche Gliederung in ihr seyn, daß man auf jedem Punct eine Parallele findet. Die homerischen Gedichte tragen den ersten Character offenbar an sich und sie wurden dadurch das Buch aller Bücher, weil eine Unendlichkeit der Anregung in ihnen ist, der Anregung der phantastischen Combination. Betrachtet man aber wieder den Homer aufgenommen in die Totalität der hellenischen Litteratur, so muß man sich doch auf das bestimmteste sagen, daß man diese Behandlung ganz scheiden
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muß. Man kann die allegorische Behandlung gelten lassen als Methode, was nicht darin steht, daraus zu finden. Aber so wie Homer Glied der ganzen Litteratur ist, darf sich diese Behandlung nicht einmischen, denn da soll gerade gefunden werden, was sie sind in ihrer Eigenthümlichkeit. Wie verhält es sich mit der Bibel? Wir müssen zurückgehen auf das Alte Testament und sagen, daß sich dieses zum jüdischen Volk eben so verhält, wie der Homer zum griechischen, nur noch auf ausschließendere Weise, denn es hat im Hebräischen keine solche Litteratur neben der Bibel gegeben, wie im Griechischen neben Homer. Da galt es also, den Inbegriff des Wissens darin zu finden und es ist ganz natürlich, wenn aus dieser Einzigkeit das allegorische Verfahren sich entwickelte. Die starke Beimischung des mythischen Elements hat Homer und das Alte Testament gemein. In diesem liegt ein unwiderstehlicher Reiz zu solcher Behandlung und es ist eigentlich das Mythische dasjenige, was nur so verstanden werden kann. Es hat eine historische Form, ist aber nicht historisch, ist aber mit dieser historischen Form in das allgemeine Bewußtseyn aufgenommen als etwas Buchstäbliches. Aber es will offenbar nicht so verstanden seyn, sondern auf jene Art. Dazu kommt, daß man alles Mythische auf keinen bestimmten Urheber zurückführen kann, sonst ist es eine ordinäre Allegorie, eine förmliche Parabel, wo jedes Glied seine bestimmte Allegorie hat. Das Mythische muß aus dem allgemeinen Bewußtseyn des Volks hervorgegangen seyn, in welchem der Mythus wohnt, also kann der Mythus nach der subjectiven Seite hin gar nicht interpretirt werden in Beziehung auf einen einzelnen Urheber, sondern in Beziehung auf den ganzen Volkscharacter. So ist er also ganz klar der Repräsentant des Nationalerkennens. Es folgt hieraus, daß je mehr Mythisches in einer einzigen Schrift ist, desto mehr der Reiz zur Allegorie entsteht. Das Mythische geht ins Geschichtliche, das Parabolische ins Gnomische und es giebt keine gewisse Grenze und darum kann man sich nicht wundern über diese Behandlung des Homer und des Alten Testaments. Aber reden wir vom Neuen Testament, so hat das nie ein einzelnes Buch seyn wollen, sondern mit seiner Bekanntwerdung legt sich auf demselben Gebiete eine andre Litteratur an und es hat auch [nicht] das überwiegende mythische Element an sich und auch nicht jene Fülle lebendiger Anregungen aus allen verschiedenen Gebieten des menschlichen Denkens, noch hat es die architectonische Structur, die zu solcher Behandlung aufforderte. Nun ist das Neue Testament auch so behandelt. Wie ist dies entstanden? Das eine ist der Zusammenhang desselben mit dem Alten Testament. Dieser hat sich freilich auch auf eine allmähliche und bewußtlose Weise gebildet und ist erst ausgesprochen, nachdem er sich gebildet
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hatte, aber es ist doch bald die herrschende Ansicht geworden, daß diejenigen die auf gelehrte Weise das Neue Testament bearbeiten wollten, ins Alte Testament mußten auf gelehrte Weise eingeweiht seyn. Sie brachten also die allegorische Interpretation vom Judenthum mit. Das andre ist, was das Neue Testament auch mit dem Alten Testament gemein hat, was aber im Neuen Testament mehr zum Bewußtseyn gekommen ist, daß man nemlich das Neue Testament mehr als Werk des göttlichen Geistes, denn als Werk seiner Urheber angesehen hat. In diesem kann man sich ja kein Bestimmtes denken, er kann kein einzelnes Bewußtseyn seyn, also durch einzelne ZeitMomente hindurchgehendes sondern man kann ihn nur denken als ein gleichzeitig Alleswissen. Daher die Seite der Interpretation des Neuen Testaments, die sich auf die einzelnen Urheber bezieht, zurücktreten mußte. Wir können aber diese Betrachtung nicht verlassen ohne uns die Frage vorzulegen über das Neue Testament insbesondere. Was alle andern Werke betrifft, mögen sie von Einzelnen herrühren oder nicht, so können wir bestimmt unterscheiden die wirkliche Auslegung, die die Rede als Einzelnes verstehen kann und die anderweitige Behandlung, die an dem Faden der Rede alles aufsucht. Die eigentliche Auslegung will also nichts als die Rede in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit verstehen. Wie ist es aber mit dem Neuen Testament in der Voraussetzung, daß es wirklich mehr ein Werk des göttlichen Geistes gewesen ist? Es giebt sehr verschiedene Ansichten hierüber auch in der wahrhaft christlichen Welt. Wir könnten uns also vielleicht die Frage ersparen, wenn wir sehen wollten, ob die Ansichten selbst richtig sind. Aber das geht nicht, denn alles Dogmatische kann zuletzt nur aus dem Neuen Testament entschieden werden, also muß man erst Principien zur Erklärung desselben haben, die allgemein gültig sind, man mag über die Inspiration denken, wie man will. Der Punct von welchem man hier allein ausgeht ist der, daß wir uns in den Zustand der ursprünglichen Hörer und Leser versetzen. Wie waren denn diese in dieser Beziehung gestellt? Ja sie gingen allerdings auch davon aus, daß der heilige Geist durch die heiligen Menschen rede. Das ist der gemeinsame Glaube gewesen. Aber diese Reden gingen doch ursprünglich in das unmittelbare Leben hinein und sie waren so vielfältig, daß eben deswegen der Reiz, eine jede zu einem Bilde des Ganzen zu machen, sich ganz verlieren mußte, zumal da wol zwischen Rede und Schrift der Apostel kein Unterschied gemacht wurde. Die ursprünglichen Leser konnten also schwerlich ein andres Interesse haben, als die Schrift 32 Menschen] folgt gestrichener oder jedenfalls unleserlicher Wortansatz
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ganz als etwas Einzelnes zu betrachten. Nun mag also der heilige Geist die Schrift ganz und gar verfaßt haben, so daß alle andern nur Werkzeuge gewesen sind, er mußte doch so schreiben, wie die damaligen Leser es verstanden. Nun sagt man freilich: der heilige Geist habe bloß für uns, für die ganze Christenheit geschrieben. Dann kann es nur gelten von den Büchern, die wir bekommen haben und der heilige Geist mußte die Apostel in den verlornen Schriften anders inspiriren als in denen, welche noch sind. Wenn man das auch lassen will, so entwickelte sich doch aus dem ersten christlichen Geschlecht und seinem Verstehen das zweite Geschlecht mit seinem Verstehen, und darum mußte dem heiligen Geist an dem richtigen Verstehen der ersten Generation das meiste gelegen seyn und der Zweck im Ganzen für die ganze Christenheit wurde doch erreicht und jenes Uebel vermieden. Der heilige Geist mußte also ganz schreiben, wie die Einzelnen würden geschrieben haben, wenn sie verstanden seyn wollten. Also haben auch wir gar keinen Grund das Neue Testament anders zu nehmen, als jede andre menschliche Rede und Schrift. Die schlimmste Ausweitung der Interpretation nach dieser Seite hin ist offenbar die Cabbalistische. Man kann sie zwar selbst der Absicht nach nicht mehr zur Interpretation ÐrechnenÑ, aber sie will doch auch das Individuelle aufheben und in jedem alles finden. Aber sie unterscheidet sich doch dadurch, daß sie ans alleräußerste sich macht, ans einzelne Wort und dessen Elemente und zwar von der äußern Seite, wo die Buchstaben zugleich als Zahlen betrachtet werden u.s.w. Wo also noch eine Interpretation seyn soll und keine Mißgeburt, da ist sie nur ein verschiedenes Verhältniß der von uns angegebenen Momente und verschiedene Interpretationen giebt es also nicht. Wenn wir nun gesehen haben, wie eben wegen dieses Zusammenseyns zweier verschiedener Ansichten und wegen der Unmöglichkeit Regeln aufzustellen, die die Sicherheit ihrer Anwendung in sich tragen und deswegen die Auslegung Kunst ist, so fragt sich: was ist denn das Resultat, das durch sie erreicht werden soll? Eine Kunst soll eigentlich etwas hervorbringen, was ohne sie nicht seyn würde. Nun aber ist das Reden und Hören etwas ganz Natürliches. Es fragt sich also, geht noch etwas andres vor durch die Auslegung, als wenn man das Hören kunstlos betreibt? Wir müssen hier den Unterschied des Kunstlosen und Künstlichen aufsuchen. Wo wir im Gebiete der Schrift uns befinden, wird sich uns gleich das Kunstgemäße darstellen, da will auch die Auslegung ordentlich gehandhabt seyn. Können wir nun auch eben so sagen: wo wir mit der unmittelbaren Rede zu thun haben, da bedarf es der Kunst nicht? Es scheint wir haben nichts andres gegenüberzustellen und das eine muß eben so wahr
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seyn als das andre. Das erstere tritt uns deßhalb als wahr entgegen, weil es unserer Ausübung gemäß ist. Dagegen können wir jenes nicht sogleich behaupten. Wir müssen uns das Verhältniß etwas klarer machen. Wir fangen beim Gebiete der Schrift an. Am nothwendigsten erscheint uns die Auslegung als eigentliche Kunst wenn die Rede ist von einer Schrift aus einem andern Volks- oder Zeitgebiet oder beides zusammen. Ist hingegen von einem vaterländischen Schriftsteller und noch dazu von einem gleichzeitigen die Rede, so erscheint es der Auslegung nicht zu bedürfen. Diesen Unterschied haben wir von Anfang an bei Seite gelegt, damit wir anfangs etwas Allgemeines hatten. Aber hier müssen wir darauf zurück. Haben wir nun ein Recht, auf vorzügliche Weise nur die Schriften fremder Völker und früherer Zeiten als Gegenstände der Auslegungskunst anzusehen? Schleiermacher sieht den Grund davon nicht ein. Hatten diejenigen für welche die Schrift unmittelbar aufgezeichnet wurde, die Auslegung derselben als Kunst zu betreiben oder nicht? Wird sie bejaht, so müssen wir sie nicht deswegen daß sie von einem fremden Volk ist, künstlich auslegen. Wird die Frage verneint, dann wird die Entstehung der Auslegungskunst so nachgewiesen, daß sie erst hervorgehe, nachdem das ursprüngliche Verhältniß nicht mehr statt findet zwischen dem Schreibenden und denjenigen für welche er geschrieben hat. Hieraus würde aber folgen, daß wir der Auslegung ganz entbehren könnten, wenn wir das Verhältniß wieder herstellen, wenn wir uns die vollkommene Sprachfertigkeit, die vollkommene Anschauung vom Urheber verschaffen und eine Anschauung von allen Umständen und Verhältnissen der Zeit. Wie ist es nun damit? Dies sind alles erst Vorbereitungen, die erst der Auslegung vorangehen. So ist es auch in unsrer ganzen Praxis und das müssen wir jedesmal zur Auslegung haben, Kenntniß der Sprache, Kenntniß des Autors und der ursprünglichen Leser. In der Theologie geht dies alles voraus in der Einleitung zum Alten und Neuen Testament. Die verneinende Antwort müssen wir also ablehnen. Wir müssen suchen uns den ursprünglichen Lesern erst ganz gleich zu stellen. Haben die dann auslegen müssen, so müssen wir es auch. Es giebt also entweder gar keine Auslegungskunst oder sie gehört auch für einheimische und gleichzeitige Schriftsteller. Ja noch mehr man kann dies nicht einmal als specifisch verschiedene Fälle aufstellen, daß besondre Regeln nöthig wären für die Auslegung alter und fremder Schriftsteller und für die Auslegung gleichzeitiger und einheimischer, vielmehr muß der ganze Unterschied vor der Auslegung in der Praxis abgemacht seyn. Der Irrthum geht nur daraus hervor, daß man sich in die Stelle der ursprünglichen Leser nicht setzen kann ehe man das Werk gelesen, sondern es erst beim Lesen und
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nach dem Lesen bestimmen kann. Dies muß also durch die ganze Auslegung hindurch gehen, gehört aber nicht eigentlich zur Interpretation. Man muß nur Acht haben wo einem im Lesen etwas fehlt an der genauen Kenntniß der ursprünglichen Leser und da muß man denn inne halten, bis man es gefunden und dann weiter gehen kann. Es kann nun auch kein Gebiet geben, wo man etwas vollständig verstehen könnte ohne die Anwendung der Kunstregeln und so scheint gar kein Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und Kunstlosen zu liegen, sondern letzteres ist nach demselben Typus aber nur das Unvollkommne. Was ist nun für ein Unterschied zwischen Rede und Schrift? Auf den ersten Anblick wird jeder den Unterschied leugnen, denn die Schrift ist nichts als Wiederholung der Rede und die Schrift ist nur 1. sofern in jeder Rede etwas ist, was nicht geschrieben werden kann, 2. indem bei der Rede der Verfasser persönlich gegenwärtig ist. Abstrahiren wir davon, so ist gar kein Unterschied. Aber die Rede hat es unmittelbar mit dem Unwichtigeren zu thun und so hat man da nicht viel darauf zu achten und die Auslegungskunst kann unvollkommner seyn. In der Schrift ist alles, was über den Moment der unmittelbaren Rede hinausgehen soll. Die Rede muß also in dem Maaße kunstmäßig verstanden werden, als ein Volk darin wichtige Gegenstände verhandelt. Könnte nun aber jede Schrift verstanden werden gleich ohne Kunst, wenn nicht jene beiden Unterschiede wären zwischen der Schrift und der Rede? Die persönliche Gegenwart giebt offenbar Hülfsmittel der Auslegung. Von der Art, wie die Rede ein factum in der Seele des Redenden ist, muß sie uns deutlicher werden, wenn wir ihn selbst sehen. Hat jemand seine Rede ins Gedächtniß aufgenommen, dann werden wir weniger durch seine persönliche Gegenwart zum Verständniß gebracht und es ist gleich, ob wir ihn sehen oder nicht. Aber producirt er im Augenblick, so sehe ich noch an andern Indicien, als die welche in der Rede sind, ob er bewegt ist oder ruhig und sein Zustand geht da mehr in mich über. Hier kommt also der Auslegung etwas zu Hülfe. Aber kann man sagen, daß das in den Fällen, wo wir sonst die Auslegung anwenden, uns der Auslegung überheben kann? Unmöglich, wir haben vielmehr ein Mißtrauen gegen den Redner und dann auch ein Mißtrauen gegen uns selbst, ob wir auch die Indicien richtig auffassen, die nicht in der Rede selbst liegen und die Beurtheilung dessen, was in der persönlichen Gegenwart des Redenden ist auch nichts als eine Auslegung auf einem andern Gebiet, die der eigentlichen Auslegung nur zu Hülfe kommt. Je mehr die eine ist, desto weniger bedarf man der andern. Aber sicherer ist immer die Auslegung der eigentlichen Rede, als die der Persönlichen Gegenwart, weil letztere ganz subjectiv ist.
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Was hat denn die unmittelbare Rede noch, das sich durch die Schrift nicht wiedergeben läßt? Die lebendige Stimme und alles was darin liegt damit kann einer allerdings seiner Rede sehr aufhelfen und sie gleich sehr verständlich machen. Dieser Unterschied ist nicht zu leugnen. Aber er ist ein Unterschied um dessenwillen die Kunst zu schreiben noch etwas anderes ist als zu reden und es ist ein Irrthum, als ob etwas eben so kunstgemäß wäre, wenn es so geschrieben ist, als gesprochen, denn der Redende muß auf die lebendige Stimme rechnen. Der Schreibende muß durch die bloße Sprache alles dies zu ersetzen suchen. Betrachten wir aber die Sache von dieser Seite, so liegt die Sache so, daß der Schreibende nur seine Schuldigkeit gethan hat, wenn er durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen die lebendige Stimme zu ersetzen [sucht]. Hat der Schreibende das gethan, so ist man in gleichem Fall bei der Schrift wie bei der Rede. Aber deßhalb können wir doch nun nicht sagen, die Auslegung höre auf und so bleibt hier Rede und Schrift wieder eins. So verschwindet auch der Unterschied zwischen dem Kunstgemäßen und Kunstlosen, sondern es ist nur ein Mehr und Minder, woraus aber unmittelbar folgt, daß auch das vollkommene Verstehen nichts andres seyn soll, als die allernatürlichste und sich gleich von selbst aufdringende Auslegung. Es ist natürlich, daß wir uns verstehen, das Gegentheil erscheint als Ausnahme und wir gehen dann auf den Grund des Mißverständnisses zurück. Wir dürfen nur sagen, daß man die Mißverständnisse vermeiden müsse, das Verstehen findet sich von selbst. Aber das ist bloß etwas Negatives, worauf niemand so lange es so gestellt ist, ausgehen kann. Wir müssen also hier zu der allgemeinen Negation ein Positives suchen, die Negation muß aber uns immer leiten, weßhalb wir es zuerst betrachten. Auf wie vielerlei Weise kann denn der natürliche Erfolg des Redens, daß es verstanden wird, gehindert werden? Es giebt ein zwiefaches Mißverstehen, ein qualitatives und ein quantitatives. Das erste ist allgemein dafür erkannt, das zweite ist weniger beachtet. Schleiermacher meint es so: Nach unserer bisherigen Untersuchung muß jede Rede bezogen werden als Theil auf 2 Ganze, auf das Wissen, das im System einer jeden Sprache ausgedrückt ist, sie besteht aus Sprachelementen, die in dem Wissen liegen, das in der Sprache ausgedrückt ist und dann muß jede Rede bezogen werden auf die successive Entwickelung des Denkens in ihrem Urbilde. Was Schleiermacher nun das qualitative Mißverstehen nennt ist in beiden Beziehungen das wirkliche objective Verwechseln. Wenn ich im Ganzen einem einzelnen Theil der Rede einen andern Werth zuschreibe in der ganzen Sprache, als er gehabt hat in dem Verfasser selbst, so ist das das qualitative Mißverstehen in einer Beziehung. Ferner wenn ich glaube,
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daß der Verfasser etwas anderes beabsichtigt hat, als er wirklich beabsichtigt hat, so lege ich die Rede auch in ein ganz andres Gebiet und das ist das andere qualitative Mißverständniß. Das quantitative Mißverstehen sieht man weniger an, aber es ist eben so wichtig. Wir können nemlich voraussetzen, das qualitative Mißverstehen sey nicht da, sondern man habe die Absicht der Rede gar wohl aufgefaßt, so hat doch jeder Gedanke in seinem Urbilde außer seinem Inhalte auch eine gewisse Intensität und auf diese bezieht sich das quantitative Mißverstehen; wenn ich zwar einen Gedanken seinem Inhalt nach verstehe, ich lege aber eine ÐgrößereÑ Deutung hinein, als der Urheber, oder auch eine geringere, so ist dies das quantitative Mißverstehen. Dies ist auch in der andern Beziehung[,] denn die Elemente der Sprache, die Wörter wie die Verbindungen, die haben auch außer ihrem Inhalt einen solchen Grad der Bedeutung im Ganzen und wenn der falsch angesehen wird, so ist auch das quantitative Mißverstehen da. Es wird dies am besten anschaulich, wenn wir einzelne Elemente verschiedener Sprachen vergleichen. Da ist immer Identität und Differenz. Wie oft halten wir nun nicht die Differenz für geringer als sie ist? Das ist das quantitative Mißverstehen, was verhindert, daß der Gebrauch des Elements jedesmal richtig gefaßt wird, wenn auch der Inhalt gefaßt ist, der richtige Ton, die Farbe geht verloren. Dies bleibt am ersten unbeachtet. Aber wir müssen uns darauf sehr einlassen, da sich leicht zeigen läßt, daß der Unterschied des Quantitativen und Qualitativen hier in einander übergeht. Fangen wir beim Subjectiven an. Legen wir einem Gedanken einen geringern Grad bei, als der Urheber, so vergessen wir ihn auch eher und so geht der Zusammenhang verloren und damit auch der Inhalt. Je mehr man also das quantitative Mißverstehen einschleichen läßt, desto mehr findet sich auch das qualitative. Dasselbe auf der objectiven Seite. Jedes Sprachelement hat seinen bestimmten Ton. Beachte ich es nicht recht, so werde ich es entweder für zu gering oder für zu hoch halten. Im erstern Fall wird auch der Einfluß verloren gehen, den es in der Folge noch ausübt. Im andern Fall, wo man den Gedanken zu hoch schätzt ist dasselbe. Man wird immer noch darauf ausgehen, Folgen des Gedankens zu machen, aus dem der Urheber keine gemacht hat. Beide Arten des Mißverständnisses sind also zwar verschieden, aber sie erzeugen sich gegenseitig. Dies ist das Wesentliche was wir im negativen Ausdruck der Aufgabe feststellen können. Man kann auch unterscheiden einen passiven Mißverstand und einen activen. Der erste ist das eigentliche Nichtverstehen, welches aber auch ein Falschverstehen ist, nur daß es aus dem Nichtverstehen entsteht, der andere ist ein solcher, der sich aus einer fremden
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Thätigkeit mit hineinlegt. Der erste ist falsche Auslegung, der andre falsche Einlegung. Das liegt aber schon mit in dem vorher Gesagten. Diese negative Ansicht kann nun zu keinem System von Regeln führen. Wir müssen uns nun also das Verstehen vorstecken, von dem man im gewöhnlichen Leben gar nicht ausgeht, sondern nur vom Mißverstehen. Aber indem wir dieses Positive zum Ziel machen, das erreicht werden soll durch die Kunst, so müssen wir von der entgegengesetzten Ansicht ausgehn, daß das Mißverstehen das Natürliche ist und das Verstehen erst die Kunst. Die Kunst geht offenbar von dieser Ansicht aus, von jener Ansicht die kunstlose Praxis. Wir haben gesehen, daß beide sich in einander verlieren, also müssen wir auch den Gegensatz der Ansichten aufheben. Die kunstlose Praxis nimmt es nicht genau wie die Kunst. Das kunstlose Verstehen bewegt sich nur im gewöhnlichen Leben und dann wo man redet und versteht, nicht an und für sich, sondern eines bestimmten Zwecks wegen. Man will da die Rede nicht genauer verstehen, als des Geschäfts wegen nöthig ist. Betrachten wir nun die Ansicht, daß das Verstehen hier das Natürliche ist, das Mißverstehen das Unnatürliche, so können wir nun diese Ansicht limitiren und sagen: die kunstlose Ansicht hat auf ihrem Gebiete Recht, weil es da gar nicht genau genommen werden soll. Eben so kann aber auch die künstlerische Ansicht Recht haben auf ihrem Gebiet und so sind beide nicht im Gegensatz. Kommt es aber darauf an, die Regeln der Kunst zu entwickeln, so darf man nicht ausgehn von der Ansicht der kunstlosen Praxis, die bloß in schwierigen Fällen zu Regeln ihre Zuflucht nimmt. Das ist der Fehler, der in der ganzen Disciplin immer dominirt hat, daß man ausgegangen ist von der Ansicht der kunstlosen Praxis und bloß eine Auslegung annahm für die schwierigen Stellen. So wie aber die schwierigen Stellen herumschwimmen, ist auch die Hermeneutik nichts gewesen als ein Aggregat von Beobachtungen, worin auch das Richtige ein Unwissenschaftliches war. Damit hing auch zusammen, daß man mit Spezialhermeneutiken angefangen hat und so lange dies fortdauert, kann die Hermeneutik zu nichts kommen, denn das ganze Bestreben, gleich eine Spezialhermeneutik zu machen, geht eben schon von der Ansicht aus, daß sie nur sey für die schwierigen Stellen. So ist es in der Theologie und Jurisprudenz gegangen und eben so auch in der Philologie. Alle haben die Hermeneutik nur auf ihr spezielles Fach bezogen. Die Philologen lesen auch nicht um zu lesen, sondern der Geschichte der Sprache wegen. Darum gehen sie aus von der kunstlosen Praxis und brauchen bloß Regeln in den schwierigen Fällen. Die Kunstansicht aber geht eben daraus hervor, daß alles der strengen Regeln bedürfe. Worauf beruht das? Auf den beiden Beziehungen. Das Verstehen
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einer Sprache, wenn es soll sich von selbst ergeben, geht aus von der Identität der Sprache und auf der subjectiven Seite beruht die Ansicht des von selbst Verstehens darauf, daß die Succession der Gedanken auf Regeln beruht, die für alle Menschen dieselben sind, daß also das Verfahren in der Combination der Gedanken überall dasselbe ist. Die Kunstansicht beruht auf der entgegengesetzten Ansicht, daß nemlich die Identität der Sprache für alle die daran Theil nehmen, nur eine relative ist. In dem Maß als die Differenz übersehen wird, wird das Mißverstehen eingeleitet, in dem Maß, als sie aufgesucht wird, wird das Verstehen eingeleitet, dieses Suchen der Differenz muß aber überall seyn an jedem Puncte. Die Differenz ist in das Identische hineinverwebt, also auf jedem Puncte beisammen. So ist es auch mit dem Gesetz der Combination auf der subjectiven Seite. Die Kunstansicht muß auch davon ausgehen, daß dies nicht überall dasselbe ist. Nemlich es werden unter den Combinationsgesetzen nicht die reinen logischen verstanden, die als ein Soll ausgesprochen werden, sondern die Naturgesetze, die Associationsgesetze, die Heuristik jedes Menschen, wenn in ihm ein Gedanke sich aus dem andern bildet. Hier ist allerdings ein Identisches, aber auch ein Differentes. Die Kunstansicht geht davon aus, daß jeder eine besondere Eigenthümlichkeit ist, die zu verstehen eine Aufgabe ist. Die kunstlose Ansicht dagegen hält es für leicht, eines jeden Gedankengang zu finden. Indem nun die Kunst sich auf die vorhandene Differenz bezieht, diese aber nur aufgelöst werden kann durch das Zurückgehen auf das Identische, so ist der Grundcanon aller Hermeneutik, daß man erst die Identität zwischen sich und andern aufsuchen und feststellen muß, daß überhaupt immer erst die Identität festgestellt werden muß. Das ist dasjenige, was eigentlich dem Auslegen vorhergehn muß. Das Auflösen der Differenz in diese Identität ist hernach die eigentliche Lösung der Aufgabe. Was liegt nun darin? Wenn wir eine Rede ansehen als aus der Totalität der Sprache hervorgegangen, so muß ich sie auffassen in ihrem Entstehen. Dann aber muß ich sie auch ansehen in Beziehung darauf, wie sie auf die Sprache zurückwirkt, d. h. was sie beiträgt, gewisse unvollkommene Ausdrücke der Begriffe zu antiquiren und andre vollkommnere festzusetzen u.s.w. Wer das nicht vollkommen erkannt hat in einer Schrift oder Rede, der hat auch nicht das maximum des Verstehens und wo das nicht ist, da ist die Möglichkeit des Irrthums gesetzt. Dasselbe ist der Fall auf der subjectiven Seite. Wie die Rede als Thatsache im Gemüth verstanden ist, so ist sie Resultat des Lebens von der einen Seite und Entwickelung des32 zurückwirkt] zurückwirft
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selben auf der andern Seite. Wer sie so nicht versteht, was alles zusammengewirkt hat im Schriftsteller zu solcher oder solcher Darstellung und wer nun nicht die Folgen für ihn daraus entwickeln kann, hat auch noch nicht verstanden. Der höchste positive Ausdruck des vollkommenen Verstehens ist also nichts anderes als jenes Negative: hebe das Mißverständniß auf, denn wo nicht das reine und vollkommene Verstehen ist, da ist gleich qualitativer und quantitativer Mißverstand. Aber man sieht auch, was es zu sagen hat, eine Rede Ð Ñ zu verstehen. Jedes Gegenwärtige ist Product der Vergangenheit und Keim der Zukunft. Darum gehört zum Verstehen auch gleichsam ein prophetisches Talent und es ist klar, daß das Verstehen im höchsten Sinne des Wortes Kunst ist. Das Zurückgehen von der Rede in die unendliche Vergangenheit führt auch gleich auf den unendlichen Inhalt. Das ist die Begeisterung, wo sich uns in dem Endlichen die Totalität aufschließt. Aber nur eine Schrift die solche Begeisterung erregt macht das Verstehen zur Kunst. Bei den andern ist das Verstehen ganz kunstlos. Haben wir nun die Art der Construction der Rede vollkommen nachconstruirt, dann können wir der Autor selbst seyn und verstehen sie so gut als er. Das ist aber noch nicht der vollkommene Ausdruck, sondern wir müssen die Rede besser verstehen, als der Autor, sofern er der Hervorbringende ist, weil wir auch das in ihm Unbewußte zum Bewußtseyn bringen müssen. Der Zusammenhang der Handlung mit dem ganzen Daseyn ist im Handelnden ein Unbewußtes. Im Erkennenden muß er ein Bewußtes werden. Sofern nun dies geschieht, verstehen wir ihn besser, als er sich selbst versteht, nur nicht, als er sich selbst verstehen kann, denn wenn er selbst seine Rede zum Gegenstand des Verstehens macht, und auch ein Künstler im Verstehen ist, so hat er weit mehr data zum Verstehen. Die objective Seite, das Verhältniß der Rede zur Totalität der Sprache ist dem Verfasser der Rede gar nicht klar, sondern er erfährt es erst nachher. Hier ist also das Verstehen ein ursprünglicher Act. Somit ist klar, daß die Aufgabe des Verstehens, da es ein unendliches ist, niemals ganz vollendet seyn kann, sondern man ist immer nur in der Approximation dazu. Aber für die Approximation können wir keine Regeln der Auslegung geben in der allgemeinen Hermeneutik. Höchstens kann man sie in der speciellen bringen. Wir sollen also nun eine gegebene Rede oder Schrift so gut und besser verstehen als der Autor selbst 1. im Verhältniß zu ihrer Sprache 2. zu dem ganzen Daseyn des Autors. Wir haben also gleich eine vorläufige Aufgabe, daß wenn wir dem Verfasser gleich kommen wollen, wir uns gleich setzen müssen mit ihm auf den Punct, wovon seine Handlung an-
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fängt. Dasselbige in Beziehung auf das Verhältniß der Rede zur Totalität der Sprache. Da müssen wir uns auch erst dem Verfasser gleich stellen. Er hat die Rede aus der Totalität der Sprache herausgearbeitet und darum müssen wir die Sprache auch in ihrer Totalität haben. Dies also muß jedem Verstehen vorausgehen 1. dieselbe Kenntniß der Sprache, welche dem Urheber innewohnt. Bei Reden aus andern Sprachen und Zeiten müßten wir uns dem ursprünglichen Hörer gleichsetzen. Nun haben wir die Aufgabe noch höher gefaßt, denn die Höhrer mußten das auch erst thun. Dies muß also vorausgesetzt werden und dazu gehört die Sprachkenntniß. Eine absolute Sprachkenntniß kann aber nicht vorausgesetzt werden. Wir sollen aber auch nur die Sprache so kennen, wie sie der Verfasser der Rede gekannt hat. Nun aber will jede Rede und Schrift auch wieder auf die Sprache hin [wirken] und dies sollen wir auch auffassen in seinem Umfange und in seinen gehörigen Grenzen und das ist auch nur möglich, in wie fern wir uns rein daran halten, die Sprache zu kennen wie der Urheber, wobei aber gleich eine Kenntniß seyn muß vom Verhältniß der Sprache zu ihrem absoluten Umfang. Daraus folgt nun, daß wir die Sprache nicht eher kennen können, als bis der Schriftsteller gelesen ist und da scheinen wir mit dem Resultate anfangen zu müssen. Wie kommen wir da heraus? Wir haben bisher überall zu thun mit einem Theile eines Ganzen. Jede Rede ist nur ein Theil der Sprache und der Gedankenentwickelung des Urhebers. Zwischen Ganzem und Theil ist überall dieses Wechselverhältniß, daß das Ganze nur aus seinen Theilen und der Theil nur aus seinem Ganzen kann begriffen werden. Jedes Erkennen, das rein von den Theilen aus das Ganze zusammensetzen will ist nur einseitig. Es muß nothwendig das Ganze dazu kommen und das Verstehen des Theils durch das Ganze, denn in jedem Theil muß sich die Idee des Ganzen manifestiren. Alles philosophische Erkennen hat in sich diese Wechselwirkung, weil in ihm alles auf die Totalität bezogen wird. Wir müssen überall das Ganze, das Absolute gleichsam voraussetzen, um zu den Theilen zu kommen und umgekehrt und indem man von beiden Seiten anfängt und von der einen immer auf die andre geht, ist man in der Annäherung zur Vollendung. Aber wie sollen wir uns gleich setzen in Kenntniß der Sprache mit dem Verfasser? Er ist Theil eines Ganzen. Wir müssen ihn also als Theil des Ganzen aus dem Ganzen zu erkennen suchen, d. h. wir müssen die Sprache kennen wie sie in seiner Zeit war. Kennen wir sein Verhältniß zu seiner Zeit dazu, so werden wir uns sein Verhältniß zur Sprache construiren können. So wird es noch unvollkommen bleiben, aber es wird erzeugt durch das Verstehen der Schrift selbst. Diese Vorbereitung kann
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aber immer nur eine unvollständige seyn. Dann aber 2. müssen wir uns ihm gleichsetzen in der Kenntniß seiner Beschaffenheit und seiner Verhältnisse. Diese Aufgabe ist auch eine unendliche und wir können sie auch nicht vollkommen gelöst haben, ehe wir seine Schriften verstanden haben. Wir müssen also auch hier mit einem unvollkommenen Anfang uns begnügen, wie vorher. Das heißt aber, je vollkommener wir die Sprache und den Verfasser kennen, desto leichter wird uns das Verstehen. Hieraus schon ein Resultat, daß wir nemlich niemals darauf rechnen können eine Rede oder Schrift nach Maaßgabe ihrer Bedeutsamkeit auf einmal verstehen [zu] können; denn offenbar der erste Versuch zum Verstehen, der von unvollkommener Sprachkenntniß und unvollkommener Kenntniß des innern Lebens des Verfassers begleitet ist, kann nur unvollkommen seyn. Durch jede Lesung aber gewinnt man an Sprachkenntniß und an Kenntniß vom Verfasser. Wo wir mit e i n e r Lesung genug haben, da ist das Kunstlose, wo aber eine Unendlichkeit ist und diese uns reitzt, da ist wahre Kunst. Das erste also ist Kenntniß der Sprache, wie sie der Verfasser wirklich gehabt hat. Jede Sprache ist bekanntlich auf mancherlei Art in sich getheilt. Es giebt in den meisten eine Mannigfaltigkeit von Dialecten, das ist eine Localtheilung. In der Zeitreihe antiquirt dies und jenes und erzeugt sich Neues und so sind absolute Perioden der Sprache. Die innerste Identität der Sprache ist, daß man nicht willkürlich neue Wurzelwörter schaffen kann. Man kann nun mit der Theilung noch weiter gehen. Jede Gattung von Werken hat ihre eigne Sprache, Prosa und Poesie sind getheilte Gebiete und diese theilen sich wieder. Es ist nun offenbar, daß man eine Schrift nicht verstehen kann, ohne daß man diese Theilung der Sprache kennt, ohne daß man das Gebiet kennt mit dem man es zu thun hat und das Verhältniß dieses Gebiets zur ganzen Sprache. Wo soll die Kenntniß herkommen? Nur aus der Auslegung der in diesem Gebiet vorhandenen Rede und Schrift und so müssen wir gestehen, daß, was anfänglich mit gutem Bedacht geleugnet ist, doch ein Unterschied [ist] zwischen einer Schrift die in unsre Zeit fällt und der, die in eine frühere fällt. Kommt mir jetzt eine Schrift in gutem Deutsch in die Hand, so verstehe ich die Sprache auch selbst gleich aus meiner eignen Productivität in der Sprache. Am besten vorbereitet kommt der, der schon immer oscillirt zwischen seinem eignen Sprachgebiet und der ganzen Sprache. Das ist nun bei Sprachen aus fremden Zeiten nicht der Fall. Und da ist ein Cirkel. Ich kann nicht verstehen ohne Sprache und Schrift und doch bekomme ich Kenntniß von der Sprache und Schrift erst durch das Verstehen selbst. Es tritt aber hier an die Stelle des eignen Lebens in der Sprache, die Continuität der Tra-
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dition, das Fortpflanzen der Productivität in der eigenthümlichen Sprache auf diejenigen, die nicht mehr productiv sind. Durch eigne Uebung können wir sie sprechen lernen. Bei todten Sprachen ist aber die Continuität der Tradition nicht geradezu möglich, denn dann wäre die Sprache nicht tod, sondern das ist sie nur, wenn die Schriftsteller in der Sprache selbst, über die Sprache schon nachgedacht und das Resultat in Werken niedergelegt haben. Wenn wir die alten Grammatiker nicht hätten, so würden wir mit dem Verstehen der Alten viel übler daran seyn und es ist nicht zu verkennen, daß die Sprache sehr aufgeschlossen ist, seitdem man zu dem vernachlässigten Studium der alten Grammatiker zurückgekommen ist. Denkt man sich aber die Continuität der Sprache ohne die Grammatiker erhalten, so ist es geschehen durch die großen nicht genug zu preisenden Männer, die eine unmittelbare Tradition noch habend an den geflüchteten Griechen, eine ungeheure Arbeit übernahmen, die ganze Tradition der Sprache in sich aufzusammeln und dann in Werken zu hinterlassen. Das sind die Lexicographen Buddeus, Geßner. Jeder Einzelne muß aber selbst die Vorbereitungen zum Verstehen machen. Es giebt ein vorläufiges Verstehen, das jeder hat. Wollen wir einen Autor verstehen, müssen wir seinen Stil, die Gattung, in der er geschrieben u.s.w. kennen. Diese Kenntniß läßt sich nur gewinnen durch den allgemeinen Ueberblick. Diesen muß man sich verschaffen. Dabei kommt es aber gar nicht auf das Einzelne an. So erhält man aber eine unmittelbare, selbsterworbene Basis für das Verstehen. Mit der Sprache des Neuen Testaments hat dieses seine besondere Schwierigkeit. Wir sollen von der classischen Kenntniß der Sprache erst zur Behandlung des Neuen Testaments kommen. Das ist aber ein großer Sprung und darin liegt der Grund, daß die Auslegung des Neuen Testaments noch so schwankend ist, daß wenige recht vorbereitet dazu kommen. Man muß sich erst vom classischen Alterthum die Brücke bauen zum Neuen Testament. Dieses ist aber etwas zusammengesetztes. An das classische Alterthum nemlich schließt sich die macedonische Gräcität zB. Polybius, Pausanias, Lucian, dann ist die nächste Annäherung die jüdi16 Nicht gemeint ist Johann Franz Buddeus (1667–1729), der als Philosoph und Theolog in Jena und Halle lehrte, sondern vielmehr der französische Philologe, Humanist, Diplomat und Bibliothekar Guillaume Bude´ (Guglielmus Budaeus, 1468–1540), der Begründer der altgriechischen Lexikographie; er publizierte seine ,Commentarii linguae graecae‘ 1529. Sein ,Dictionarium graeco-latinum‘ erschien offenbar erst postum; es wurde oft bearbeitet und gedruckt; im Basler Druck von 1572 ist unter anderen auch „C. Gesner“ als Mitautor genannt, also (wie das Vorwort des Verlegers klarstellt) Conrad Gesner, der Schweizer Arzt, Naturforscher und Altphilologe (1516–1565). – Nicht gemeint ist hier wohl der Göttinger Altphilolog und Bibliothekar Johann Matthias Gesner (1691–1761), der mit seinem vierbändigen ,Novus linguae et eruditionis Romanae thesaurus‘ von 1749 (SB 776) großen Einfluß hatte.
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sche Profanschriftstellerei, wo wir schon finden wie das Eingeborenseyn in der fremden Sprache auf die Sprache gewirkt hat und dann die deuterocanonischen jüdischen Schriftsteller, d. h. die Apocryphen und dann erst die Septuaginta. So erst ist die Brücke vom classischen Alterthum zur Sprechweise des Neuen Testaments. Ohne diesen Weg kommt man nicht zur gründlichen Auslegung. Die bloß einzelnen Observationen geben große Unsicherheit. Die zweite Vorbereitung zur Interpretation ist die Kenntniß des Verfassers. Dazu gehört die Kenntniß der Geschichte, sofern sie im Zusammenhang steht mit dem Verfasser, die Kenntniß seines Lebens, sofern sie Einfluß hat auf seine Schriften, also die Kenntniß der ganzen Litteratur und der ganzen Geschichte seiner Zeit. Hier ist derselbige Fall als vorher. Diese Kenntnisse können wir immer nur haben durch übrig gebliebene schriftliche Monumente, also wieder nur durch das Auslegen und da ist wieder jeder Schriftsteller Theil des ganzen Litteraturgebietes seiner Zeit. Dem Verständniß des Einzelnen muß nothwendig ein gewisses Verstehen des Ganzen vorausgehen. Hier ist auch der Fall der, daß eben deßwegen alles Interpretiren in seinen ersten Anfängen nur sehr unvollkommen seyn kann, weil diese Kenntnisse immer nur vorläufig erst auf sehr fragmentarische Weise mitgetheilt werden. Nemlich die Thätigkeit des Herausgebers eines Schriftstellers ist das Verstehen zu erleichtern. Dazu muß er sich 1. beschäftigen mit dem Text. Das gehört in die Kritik. 2. muß er den Leser in das Verständniß des Schriftstellers hineinleiten und das geschieht durch die prolegomena. Wer diese nicht giebt, ist nur ein halber Herausgeber. Diese sind aber nichts, als dasjenige, wovon ein jeder glaubt, daß es das nothwendigste ist aus der Kenntniß des allgemeinen Litteraturkreises und der geschichtlichen Kenntnisse, die auf das Verstehen der Schrift einen Einfluß haben, was zum Verstehen des Schriftstellers gehört. Ein selbstständiger Ausleger kann man aber nur seyn, wenn man den ganzen Weg selbst macht. Da kommt es wieder so, daß jede Auslegung einer einzelnen Schrift eine gewisse Kenntniß des Ganzen voraussetzt. Weil doch nun der erste Schritt in der Auslegung gethan werden muß in solchen fragmentarischen Einleitungen, muß Schleiermacher auf einen Fehler aufmerksam machen. Wenn nemlich in die Prolegomena dasjenige mit aufgenommen wird, was man nur aus der Kenntniß derselben Schrift weiß, so ist dies ein großer Fehler, der vorzüglich auch begangen ist beim Neuen Testament. Das ist ein großes Verderben, denn es ist schon schlimm genug, daß derjenige, der solcher Einleitung sich bedient, 31 gewisse] oder grosse
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immer abhängig wird von dem, der sie giebt. Bedenklicher wird aber die Sache, wenn schon bestimmte Auslegungen mit aufgenommen werden. Diese geben nur ein praejudicium, was nothwendig sehr nachtheilig wirken muß. Was das Neue Testament betrifft, so sind da diese prolegomena so schwierig und vielschichtig, daß man eine eigne Disciplin daraus gemacht hat, in der man das vereinen soll, was der Autor thun soll, der ein Werk herausgiebt, nemlich 1. die Geschichte des Textes und 2. die geschichtlichen Anwendungen und die Kenntniß von dem Zusammenhange der in den Büchern vorkommenden Ideen mit dem, was sonst in der Zeit feststand. Diese Disciplin ist also nur etwas in Beziehung auf die Anfänge in der Interpretation. In einer andern Hinsicht ist sie gar nichts. Eigne theologische Disciplin kann sie also gar nicht seyn. Es muß also auch keiner glauben, daß er jemals ein selbstständiger Ausleger werden kann, wenn er nicht mehr oder weniger die Resultate solcher Untersuchungen selbst gemacht hat. Das geht aber nur aus dem ganzen angegebenen Litteraturkreise. Wer ein Interpret auf seine eigne Hand werden will, muß nothwendig alles selbst angesehen haben. Man muß eine vorläufige Kenntniß der ganzen Sprache haben, ehe man an irgend etwas geht. Es wäre unbillig, die Leute zu tadeln, die Notizen sammeln für dies Verstehen. Aber jeder soll nur einsehen, daß er bloß für Anfänger schreibt, daß jeder andre selbst an die Quellen muß. Der selbstständige Ausleger kann nie zu einer bestimmten Schule der Auslegung gehören und auch nie solche bilden wollen. Das Interpretiren ist an sich nur eins. Weil es aber unendliche Aufgabe ist, modificirt es sich verschieden. Nur eine strenge Critik kann die etwanigen Abweichungen immer entfernt halten. Angenommen nun, alles Vorbereitende sey da, was haben wir für das Verstehen selbst zu thun? Wir müssen es hier als ersten Grundsatz aufstellen, daß das Einzelne nur könne aus dem Ganzen verstanden werden, wie die einzelne Schrift aus der ganzen Litteratur. Sehen wir auf den negativen Ausdruck im kunstlosen Gebiet, daß das Mißverstehen soll vermieden werden, so hatten wir das Mißverstehen eingetheilt in das qualitative und quantitative. Solches Verstehen giebt es auch. Ein quantitatives Verstehen ist, daß ich jedem Einzelnen in der Rede das gebe, was ihm gerade zukommt. Das kann ich nur aus der Kenntniß des Ganzen. Gehen wir auf die subjective Seite, so soll über den ganzen Proceß der Gedankenentwickelung übersehen werden. Das heißt auch nur, ich soll finden, wie sich ein einzelner Gedanke zum Gesetz in dem Ganzen verhält, d. h. ich muß im Großen den Gedankengang des Verfassers kennen, dann nur 5 vielschichtig] oder weitschichtig
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kann ich das Einzelne verstehen. Das läßt sich durch alle einzelnen Puncte durchführen. Eben so beim qualitativen. Jedes Wort hat in jedem Gebiet eine Stelle, aber in jedem eine andre. Ich muß also das ganze Gebiet erst kennen, wenn ich das Einzelne verstehen will. Das erscheint nun wieder als ein Cirkel; denn ich kann das Ganze nur verstehen durch das Einzelne. Wenn ich aber das Einzelne nicht verstehe, wie will ich das Ganze verstehen. Jenes aber ist eben so wahr. Wie ist der Cirkel aufzulösen? so, daß wir sagen, eine gewisse Kenntniß des Einzelnen haben wir schon in der Kenntniß der Sprache und der gemeinschaftlichen Combinationsgesetze. Das ist gerade soviel als nöthig ist, um eine allgemeine Kenntniß des Ganzen zu erhalten, wenn wir auch bloß das Einzelne durchgehen. Haben wir dann die allgemeine Kenntniß des Ganzen, dann kann man daraus das Ganze verstehen. Es ist also an kein Verstehen zu denken, wenn man nicht erst eine Uebersicht des Ganzen hat. Eine solche ist also überall das erste. Nun freilich scheint es, als ob einem auch dieses könnte erspart werden, indem ein andrer die Uebersicht des Ganzen giebt, wie das oft auch die Verfasser selbst thun. Wo es der Verfasser nicht selbst gethan hat, wie denn die Alten dergleichen nicht kannten, da thun es wohl die Herausgeber und verbinden mit den Prolegomenis eine Uebersicht des Ganzen. Aber das kann nie die Stelle einer flüchtigen Lesung ersetzen, die der eigentlichen Interpretation vorangeht und Schleiermacher wird immer zu dieser rathen. Es ist offenbar, eine Uebersicht des Inhalts vom Verfasser selbst ist mehr objectiv. Das Subjective verbirgt sich dabei, weil alle Juncturen verloren gehen und der Ton des Ganzen nicht zu einem gelangt. Es wäre also für die eine Seite nichts dadurch gewonnen. Dazu müssen wir gestehen, daß wenn wir ein Werk flüchtig durchlesen, so bekommen wir doch schon weit richtigere Ansichten vom Ganzen, als durch einen allgemeinen Ueberblick. Wir sehen die Schwierigkeiten vorher und zwar ihren Zusammenhang, wodurch ihre Hebung schon immer leichter wird. Sehr viel allerdings kommt an auf den Character und die Bedeutsamkeit der vorliegenden Schriften. Bei einigen erkennt jeder gleich als nothwendig, erst eine allgemeine Uebersicht zu nehmen, bei andern erkennt man es zwar für nothwendig, man mögte es sich aber gern ersparen wegen des großen Umfangs, und bei andern findet es sich, daß man ihnen nicht gern die Ehre anthun mögte, bei noch andern findet man, daß es einem gar nicht geholfen hat, wenn die Operation vorgenommen. Nur bei ganz unbedeutenden Schriften braucht es solcher Vorbereitung nicht, auch nicht bei Gelegenheitsschriften, wenn man ihre Veranlassung kennt, aber wo der Gegenstand ein wissenschaftlicher und das ganze Werk artistisch ist, da muß man die cursorische Lesung anstellen. Dazu kommt noch der
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Gegensatz der Leichtigkeit und Schwierigkeit, der nicht eins ist mit der Bedeutung und Unbedeutenheit. Man muß sich das Gefühl davon zu verschaffen suchen, denn wenn das Gefühl der Leichtigkeit das richtige ist, so ist die Interpretation eine ganz andre. Wie steht es aber mit diesem Gegensatze? Ist er bloß subjectiv? Daß jeder Schriftsteller, der für einen leicht ist, oder für den andern schwer ist, dem der Gegenstand oder die Sprache fremd ist, versteht sich von selbst. Wer gehörig verstehen will muß die Kenntniß der Sprache und des Gegenstands mitbringen. Nun aber wird auch derjenige Schriftsteller uns leicht, der eine Verwandschaft mit uns hat in der Combination, schwer der, der sich hierin von uns am weitesten entfernt. Das ist nun auch noch subjectiv, aber jeder hat doch das Recht, nach dieser Verwandschaft zu verfahren und wer eine Leichtigkeit hat, sich des andern Gedanken zu construiren, kann die Vorkehrungen immer seyn lassen. Aber ist das nun alles, oder giebt es auch Schriftsteller, die absolut leicht und andre, die absolut schwer sind? Allerdings. Ein Schriftsteller, bei dem es einem nicht hilft, wenn man sich auf alle Weise vorbereitet, ist ein schlechthin schwerer Schriftsteller und einer, den man leicht versteht, selbst wenn man dies nicht gethan hat, ist ein absolut leichter Schriftsteller. Worauf beruht das? Denn wenn wir uns dies klar machen, können wir uns ein sichres Gefühl ÐerwerbenÑ über die Leichtigkeit und Schwierigkeit der Schrift. Es giebt eine objective Combination, und eine subjective. Das letzte ist unübertragbar und es wird nur verständlich aus dem andern, es sey denn, daß eine Aehnlichkeit in der Subjectivität selbst sey. Aber die subjective Combination ist immer nur verständlich durch die objective. Nun kommt alles darauf an, wie dies beides in einem Redenden steht und wie er sich selbst dieses Verhältnisses bewußt geworden ist. Wenn einer während des Schreibens die Ahnung hat, daß einer seine Gedankenverbindungen nicht verstehen mögte, dann wird er ihnen schon zu Hülfe kommen dadurch, daß er seine subjectiven Combinationen in die objectiven auflöst und dann kann der Schriftsteller niemals ein absolut schwerer seyn. Es kann aber auch einer das Gefühl im voraus haben, daß er nicht schwer ist, daß seine Subjectivität eine Allgemeingültigkeit hat und solcher ist ein absolut leichter Schriftsteller. Aber wer weder solche Allgemeinheit in sich hat, noch sich seiner Subjectivität und ihrer Differenz bewußt ist, der ist ein absolut schwerer Schriftsteller. Wir können dies nur herausfinden, indem wir uns den Schriftsteller anprobiren und durch die allgemeine Combination die besondere erforschen. Eben so auf dem Gebiet des Gegenstandes. Da ist auch ein Schweres und Leichtes, nicht bloß weil einem das Gebiet ferner ist, sondern es giebt Gegenstände, wo die Mittheilung schwer ist, wo
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dieser also muß zu Hülfe gekommen werden. Geschieht das nicht, so ist auch Schwierigkeit da. Wir sehen also die Nothwendigkeit der vorläufigen cursorischen Lesung ein, zugleich aber, daß es einen verschiedenen Erfolg haben wird. Beim Schwierigen wird weniger herauskommen, als beim Leichten, aber wir gewinnen dadurch doch, daß wir die Schwierigkeit kennen. Was sollen wir nun eigentlich durch diese allgemeine Uebersicht gewinnen? Auf der Seite der grammatischen Interpretation sollen wir eine Kenntniß gewinnen von den herrschenden Vorstellungen und also vom bestimmten Sprachgebrauch und von den Hauptideen, worauf sich das Ganze beziehen muß. Auf der andern Seite sollen wir ÐaufÑ der subjectiven Seite der Interpretation gewonnen haben, daß indem wir die leitenden Ideen des Werks kennen gelernt haben, auch die Hauptgesetze im Verfahren des Schriftstellers selbst müssen gefunden haben. Wir haben ja durch solche Lesung die Succession der Gedanken aufgefaßt, und für jeden Haupttheil den Anfang und das Ende. Wir müssen uns also daraus erklären können, wie der Verfasser von dem Einen auf das Andre gekommen ist. Alsdann müssen wir gewonnen haben einen allgemeinen Ueberblick über die Nebenvorstellungen, über das Gebiet, aus dem die Gleichnisse, Bilder, Verzierungen hergenommen sind, also ist auch schon eine Ansicht gefunden von dem Totalleben des Verfassers, also dem Grundton seines Werkes und dem Act des Nachconstruirens seiner Gedanken giebt dies eine große Haltung. Wenn aber dieses nun geschehen ist, dann geht die eigentliche Interpretation an. Es müssen zwar hier beide Seiten der Interpretation auch immer zusammen seyn, aber für die Theorie müssen wir beides trennen, doch mit der Bevorwortung, daß es für die Praxis nicht 2 verschiedne Verfahrungsarten begründen soll, sondern daß da beides wieder eins werden muß. Weil wir sie aber trennen müssen, müssen wir auch suchen, jede Seite so zu behandeln, daß das Resultat der andern mit daraus hervorgehen muß. Es wird dessen ungeachtet nothwendig seyn, die andre ebenfalls zu betrachten und zwar eben so. Wir sehen zuerst darauf: wie versteht man eine Schrift aus der Sprache so daß man mit Sicherheit die Gedanken bekommt, die der Verfasser wollte, daß ich sie bekomme? Wenn ich dies zur größten Vollkommenheit gebracht habe, dann habe ich die ganze That des Verfassers auch vor mir und ich müßte das ganze Bild seines Zustands mithaben und auf der andern Seite: wenn wir hernach davon ausgehen, jede gegebene Schrift zu verstehen als eine Handlung ihres Verfassers, genau zu bestimmen, was in seinem Gemüth vorgegangen ist, wie seine Gedanken sich entwickelt haben und wie er sie selbst zu einander gestellt hat, ja dann haben wir eben
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so vollkommen das ganze Verhältniß der einzelnen Schrift zur ganzen Sprache. Jede Aufgabe ist aber unendlich also können wir in der Praxis nur dahin kommen, wenn wir beide Wege combiniren. In der Theorie müssen wir aber das Höchste aufstellen, das nur irgend gedacht werden 5 könnte für jede besondere Art.
[Erster Theil. Grammatische Auslegung]
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W i r f a n g e n a n m i t d e r g r a m m a t i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n . Schleiermacher kann hier keinen andern Gang gehen, als den, der in der Formel schon vorgeschrieben liegt, daß das Einzelne ÐnurÑ kann aus dem Ganzen und umgekehrt verstanden werden. Im Lesen kommt ein Einzelnes zum andern. Verstehen wir jedes Einzelne für sich richtig, so fügt sich das Ganze natürlich und leicht zusammen. Die Kunst bleibt also, jedes Einzelne aus dem Ganzen zu verstehen. Dann entsteht selbst erst die Kenntniß des Ganzen vollkommen. Daraus entsteht selbst der Gang, daß wir das Bestreben, das Einzelne zu verstehen, von vorn herein auf das Ganze beziehen und dann erst rückwärts gehen, bis wir beides vollkommen haben ineinander. Schleiermacher stellt also den ersten Canon auf diesem Gebiet so: D e r S i n n j e d e s E i n z e l n e n i n d e r R e d e m u ß n u r b e stimmt werden aus demjenigen Gebiet der Sprache, welches zwischen dem Urheber der Sprache und denjenigen, welc h e n e r s i e b e s t i m m t h a t t e , d a s g e m e i n s c h a f t l i c h e w a r . Hiebei ist nun das erste, daß wir uns über das Bedürfniß, den Sinn eines einzelnen Theils der Rede zu bestimmen, verständigen. Wir wollen hier mit dem, was an und für sich das Einzelne[,] anfangen. Was ist das absolut Einzelne in einer Rede? In Absicht auf das Verstehen: die Wörter. Die Sylben und Buchstaben sind nicht mehr Elemente des Verstehens. Zu fragen, warum ein Wort ÐnurÑ aus so vielen Elementen bestehe ist Theil der philosophischen Sprachlehre, ist eine Untersuchung über die physiologische Seite der Sprache. Für das Verstehen ist das Element der Rede schlechthin das Wort. Einem einzelnen Wort schreiben wir schon an und für sich eine Bedeutung zu und daraus muß uns der Sinn der Rede hervorgehen. Nun aber sind es doch nicht die Wörter allein, sondern es ist in der Rede noch ein andres Element, nemlich die Art und Weise, wie die Wörter aufeinander bezogen werden. Die Verbindungsweisen müssen wir also eben so gut zu verstehen suchen als die Wörter zB. wenn wir alle Wörter in einer Rede für sich verständen, wir verständen aber nicht, was bei den Haupt- und Zeitwörtern der Sinn der verschiedenen Beugungen
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ist. Diese sind nun zwar an dem Wort, aber nicht zum Wort gehörig, denn sie gehören allen Wörtern. Das Wort an sich, wollen wir das materielle Element nennen, die Verbindungsweise wollen wir das formelle Element nennen, weil dadurch kein Neuer Inhalt entsteht, sondern nur ein Ganzes wird, was sonst zerstreut liegt. Die Beziehung, die hier gegeben ist, ist allerdings unvollkommen, denn es können ganze Wörter Verbindungsweisen seyn. Das ist aber etwas zufälliges, daß sie für sich losgerissen dastehen, die Präpositionen zB. könnten als praefixa und suffixa bloß Anhängsel seyn. Sie gehören also doch vorzugsweise zu dem, was wir Verbindungsweisen nennen. Worauf gründet sich nun das Bedürfniß, den Sinn der einzelnen Theile einer Rede erst zu bestimmen? Wir sind nemlich davon ausgegangen, daß man die Sprache kennen muß. Ist denn damit nicht das Verständniß der Wörter und der Verbindungsweisen gegeben? Hat denn nicht der Mensch in sich sein Lexicon und seine Grammatik? und muß nicht ersteres ihm die Bedeutung des Wortes, letztere ihm die Verbindungsweise angeben? Es heißt dies also, daß es beim Auslegen noch einer näheren Bestimmung bedarf. Die Sache ist diese, daß die einzelnen Elemente auf die Totalität der Sprache bezogen etwas Unbestimmtes sind; der Sinn einer gegebenen Rede muß aber etwas absolut und durchaus bestimmtes seyn. Ich muß wissen, was darin liegen soll und was davon ausgeschlossen seyn soll. In meinem innern Wörterbuche ist es aber nicht bestimmt. Eben so ist es mit den Verbindungsweisen. Wenn wir uns nun ein Wort denken, ein Hauptwort oder Zeitwort, so wie es isolirt ist, ist es unbestimmt. Man findet zwar gleich einen Gegensatz dazu, also auch etwas davon Ausgeschlossenes, aber man findet gleich mehrere Gegensätze und dann ist es schon unbestimmt. Darauf brauchen wir nicht einmal zu erwähnen, daß jedes Wort noch einen bildlichen, übertragenen Gebrauch hat. Jedes Wort an und für sich ist also immer noch unbestimmt, nicht vollkommen unbestimmt, denn dann gäbe es keine Sprache, sondern unbestimmt in seinen Grenzen, nicht in seinem Kern. Diese Wortbestimmung brauchen wir nun auch im ganz kunstlosen Interpretiren. Jeder fühlt das Unbestimmte eines einzelnen, isolirten Wortes. So wie man es im Zusammenhang eines bestimmten Satzes giebt, so hat das Wort seine Geltung bekommen. Wir aber, die wir das Verstehen kunstmäßig treiben wollen, müssen sagen: wenn das Wort durch den einzelnen Satz bestimmt ist, so kann auch nur durch das Verstehen des Satzes das Wort verstanden werden. Wie bin ich nun dazu gekommen? So kommen wir weiter[.] Wir können also den 34 Geltung] oder Haltung
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ganzen Prozeß nur anknüpfen an das zwischen dem Verfasser und seinen Lesern gemeinsame Sprachgebiet. Der hermeneutische Sprachgebrauch hat hier etwas sehr Verworrenes. Man unterscheidet so, daß man sagt, die Bestimmtheit des Wortes im Zusammenhange ist der Sinn des Worts und dasjenige, was ich in Gedanken verbinde mit dem Worte an und für sich, das ist die Bedeutung des Wortes. Andre haben einen andern Sprachgebrauch und sagen: ein Wort an und für sich hat eine Bedeutung aber keinen Sinn, ein Satz hat Sinn, aber keinen Verstand, eine ganze Rede hat Verstand. Worauf beruht diese Terminologie? Wenn wir sagen: in einem gegebenen Zusammenhange kann ein Wort nur Einen Sinn haben, wenn ich aber das Wort allein höre, so verbinde ich keinen Sinn damit, so ist das richtig. Aber giebt denn das Wort eine Bedeutung? Nein, es giebt gleich mehrere Bedeutungen und da kann man auch gleich sagen, es giebt mehrere Sinne. Man sagt hier hat das Wort die und die Bedeutung und wenn man also das so und so auffaßt, so hat die Terminologie nichts Bestimmtes. Wie steht es nun, daß man sagt, nur der Satz hat Sinn? Der Satz ist etwas Abgeschlossenes und man hat etwas festes daran. Beim Wort hat man das nicht. Es ist also gut, wenn man einen ganzen Gedanken unterscheidet von einem Element davon. Nenne ich nun das Sprachzeichen eines Theils dieses Gedanken Sinn, dann kann ich von dem einzelnen Worte nicht mehr den Ausdruck: Sinn gebrauchen, sondern dann giebt es den Ausdruck Sinn nur für den Satz, denn Sinn drückt dann Bestimmtheit aus und Bestimmtheit haben die Wörter erst in ihrer Beziehung aufeinander, im Satz. So könnte man sagen, diese Terminologie sey vorzüglicher, denn ich kann gleich sagen: der Sinn bezieht sich auf einzelne Sprachelemente des Satzes. Bedeutung können wir dann auf diese Weise nicht im Satze ÐsuchenÑ, Bedeutung kommt den Elementen für sich zu, aber das ist nichts andres, als daß sie einen Sinn bekommen können in Verbindung mit andern. Aber wenn wir es genauer betrachten, so verliert diese Scheidung wieder. Ist es denn wol sprachgemäß, daß wenn ich einem andern ein Wort gebe, er mir sagen wollte: es hat ja keinen Sinn; denn es ist ihm doch schon eine bestimmte Richtung gegeben, es ist schon vieles ausgeschlossen. Es wird mit dem Wort die Möglichkeit vieler Sätze, aber nicht unendlich vieler gegeben. Mit dem Hauptwort fallen einem gleich die Prädicate bei, die ihm allein gegeben werden können. Alle Prädicate passen nicht dafür. Eben so umgekehrt, für jedes Prädicat giebt es nur gewisse Hauptwörter. Wenn mich also jedes Wort in einen bestimmten Kreis führt, so kann ich auch nicht mehr sagen, es habe keinen Sinn. Es giebt nur ein unbestimmteres und ein bestimmteres. Das Wort allein ist unbestimmter, im Satz ist es bestimmter und wenn der Satz in einer gan-
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zen Rede ist, völlig bestimmt. Daß aber in beiderlei Sprachgebrauch etwas Wahres liegt ist richtig. Das einzelne Wort, der einzelne Satz haben noch keinen Verstand, sondern der liegt erst in der ganzen Rede. Wenn aber eine ganze Rede nur ein Satz ist, da ist eben die Unbestimmtheit gesetzt, wie in den Gnomen und Epigrammen. Nun kann man noch weiter gehen, daß die einzelne Rede auch nur verstanden werden kann aus ihrem Verhältniß mit allen übrigen. So hat also der Sprachgebrauch von Bedeutung, Sinn, Verstand, seinen Grund, nur muß man dies nicht ansehen als eine Gradation, als subordinirte Dinge, sondern es ist nur ein Uebergang vom Unbestimmtern zum Bestimmteren. Wir fragten zuerst, was einer näheren Bestimmung bedürfe und wir fanden, daß alles einer solchen bedarf. Nun fragen wir: was ist denn eigentlich das einem Verfasser mit seinen ursprünglichen Lesern gemeinsame Sprachgebiet? Jede Sprache ist ein Theilbares und ein wirklich Getheiltes. Diese Theilung ist zuerst eine zeitliche und dann eine räumliche. In der zeitlichen ist dieses gesetzt, daß eine Sprache sich allmählich verändert, einiges veraltet und andres wird neu, einiges wird unrichtig, andres richtig. Die räumliche ist die Theilung in verschiedene Mundarten. So wie jede Sprache die erste Differenz in sich trägt nur die eine mehr die andre weniger, so ist auch jede Sprache in diesem Sinne räumlich getheilt, doch auch in andern anders. In einigen sind viele Dialecte, in andern weniger, in einigen ist bloß der Unterschied der Sprache des gemeinen Lebens und des höheren. Eine andre räumliche Sprachtheilung ist die an dem Gegenstande und eine andre, die an der Behandlung hängt. Jedes bestimmte Geschäft hat außer der gemeinsamen noch seine eigne bestimmte Sprache, die theils aus Elementen besteht, die sonst nicht vorkommen, theils andern Elementen eine Bedeutung giebt, die sie anderswo nicht haben. Dann giebt es auch eine Theilung, die aus der Behandlungsweise der Gegenstände entsteht. Das Hauptschema dazu ist der Gegensatz zwischen dem Populairen und Scientivischen. Der Unterschied beider geht freilich gewissermaßen auf den vorigen Gegensatz zurück, denn in dem Populairen darf man sich nicht der Kunstsprache bedienen und technischer Ausdrücke, aber das ist nur der Mittelpunct dieses Gebiets, das nachher viel weiter geht durch alles hindurch, was zum Vortrage der Gedanken gehört. Das sind die Differenzen, aus denen das ursprüngliche Sprachgebiet des Verfassers mit seinen Lesern aufgenommen werden muß. Woher kann uns diese Kenntniß kommen? Das ist eine schwierige Frage. Nemlich das Sprachgebiet des Verfassers kennen wir wol aus demjenigen, was wir vorher wissen müssen, ehe wir an ein Verstehen seiner Rede gehen, aus den
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Prolegomenen, die sich auf das Subjective, auf die technische Seite der Interpretation beziehen. Wir müssen da wissen, wann der Verfasser gelebt hat und dadurch haben wir die Periode der Sprache; dann wissen wir, in welchen Kreisen er gelebt hat und können also seine ungefähre Bildung [er]schließen. Aber was ihm in der Sprache mit seinen Lesern gemein gewesen, das ist schwer zu bestimmen. Wir können die Bestimmung nur hernehmen aus der Lesung des Werkes selbst, denn nur daraus kann ich finden, ob er gelehrte oder ungelehrte Leser gehabt u.s.w. Aber wie wird denn nun das Einzelne aus diesem Sprachgebiet bestimmt? Das ist dieselbe Frage mit jener: was ist das Sprachgebiet? Wir haben gesagt, das gemeinschaftliche Sprachgebiet zwischen Verfasser und Leser ist zuerst das Gleichzeitige. Können nun aber in einer Schrift keine Archaismen seyn? Allerdings, das kommt oft genug vor. Das heißt aber nichts andres, als daß unter gewissen Umständen und Beziehungen ein Schriftsteller sich sein Sprachgebiet erweitert. Bei den Dichtern ist diese Licenz etwas Hergebrachtes, sie wollen mit den Archaismen eine vergangene Zeit gleichsam vergegenwärtigen. Das erscheint als Ausnahme. Wir müssen sie aber mit in den Canon hineinbringen. Sofern nemlich ein Gedicht allgemeingültig seyn soll in Beziehung auf die Sprache, so muß auch die zeitliche Totalität der Sprache sich darin zeigen. Das hat freilich seine Grenzen, denn jetzt zB. kann man das Gothische nicht mehr aufnehmen, aber er wird nicht nur Ausdrücke aufnehmen dürfen, die nicht mehr im gewöhnlichen Sprachgebrauch sind, sondern auch solche, die schon mehrere Jahrhunderte lang nicht gebraucht sind. Der Redner hat darin einen geringeren Kreis, weil er seinen Hörern eine unmittelbare Besinnung zumuthen muß. Der Schriftsteller kann seinen Lesern in gewissem Grade das Sichbesinnen zumuthen. Daß er dies nun auf die rechte Art thut, ist seine Vollkommenheit oder Unvollkommenheit als Schriftsteller. Wir sehen, hier kommen wir wieder nicht aus, das gemeinschaftliche Sprachgebiet zwischen Verfasser und Lesern können wir erst finden aus der vorläufigen Lesung des Werkes selbst. Wir haben geschieden das Populaire und Technische. Auch verschiedene räumliche Ausnahmen. Das Populairste ist eine Rede an ein versammeltes Volk. Aber auch da brauchen die Alten gewisse technische Ausdrücke, aber nur solche, die in dem Gebiete der Versammlung liegen. Sollen wir nun sagen: der Redner darf sich da nie eines Ausdrucks bedienen, von dem er nicht gewiß weiß, daß ihn alle verstehen, so würden wir das nicht durchführen können, weil sonst der Redner manches gar nicht würde sagen können. Daraus folgt nun, daß das zwischen dem Verfasser und den Lesern und Hörern gemeinsame Sprachgebiet ein unbestimmtes
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ist. Es giebt Theile der Rede, wo das Differente zurücktritt, wo der Redner allgemein anregen will, andere wiederum, wo er denkt, wenn nur eine Klasse es versteht, dann ist es schon gut, wo also das Differente heraustritt. Hieraus sehen wir, daß das Auslegen eine Kunst ist, denn hier machen die Regeln allein nichts. Fassen wir nun zusammen, so kann das einzelne Sprachgebiet nur verstanden werden aus dem allgemeinen, aber auch das allgemeine wird nur vollkommen verstanden, wenn man erst die Rede in allen ihren Theilen in sich hat. Indem nun der Ausleger das ganze Sprachgebiet seines Schriftstellers kennt im Gegensatz gegen die Totalität der Sprache, versteht er auch besser die Schrift, als der Verfasser selbst, denn in ihm wird vieles ein Bewußtes seyn, was im Verfasser nur unbewußt lag. Aber wenn wir nun fragen: wie kommt es denn, daß dem Ausleger so oft Unsicherheiten entstehen beim Verstehenwollen des Einzelnen? so müssen wir sagen: es liegt oft an ihm, es fehlt entweder an den Vorkenntnissen oder er giebt sich nicht ganz hin, läßt seiner eignen Production zu viel Spielraum, aber oft liegt es auch am Schriftsteller. Was hat nun der versehen, wenn er schwer oder gar nicht zu verstehen ist? Dann hat es ihm gefehlt entweder an der Kenntniß der Sprache im Allgemeinen, oder er hat das bestimmte Sprachgebiet, in dem er versirte, nicht rein gehalten. Bewußtlos kann der Schriftsteller bleiben, sofern ein Bewußtseyn dahinterliegt. Wo das nicht ist, da muß er es sich verschaffen und zwar das, was der Ausleger auch haben muß und dies ist die Brücke zwischen beiden. Das ist es auch, was man meint, wenn man sagt, man müsse etwas revidiren, nachdem es geschrieben. Man will entweder etwas Verschönern und davon reden wir nicht, oder er will das Unverständliche wegschaffen, was unbewußt entstanden ist. So steht der Schriftsteller also schon selbst zwischen sich und seinen Lesern. Je mehr der Schriftsteller dies thut, desto weniger ist es seine Schuld, wenn nachher noch Unverständliches bleibt. Wir gehen also davon aus, in dem Verstehenwollen des Einzelnen nach der vorläufigen Uebersicht des Ganzen entsteht die Schwierigkeit beim Einzelnen. Es ist früher gesagt, man könne keine ordentliche Theorie der Auslegung zu Stande bringen, wenn man die ganze Aufgabe ansehe als etwas, das nur an einzelnen Puncten vorkommt, sondern man müsse sie ansehen als allgegenwärtig in jedem Act des Verstehens. Nun sagt Schleiermacher hier selbst: die Schwierigkeit entsteht nur an einzelnen Puncten, sonst [kann] das Verstehen bewußtlos fortgehen. Aber hier ist kein Widerspruch, denn die überall vorauszusetzende Uebersicht des Ganzen ist immer nur aus dem Gesichtspunct der Kunst zu betrachten. Wenn ich nun sage: je vollkommener ich die Kenntniß des Ganzen vorläufig habe, desto
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ruhiger kann ich fortlesen, so ist das gar kein kunstloses mehr und dann, wenn mir eine Schwierigkeit kommt, muß ich auf alles frühere Einzelne zurückgehen, um zu sehen, ob nicht vielleicht das Nichtverstehen aus dem Mißverstehen oder Nichtverstehen eines früheren Punctes folge. Wenn mir eine Schwierigkeit aufstößt, so kann ich nicht wissen, ob ich daran Schuld bin, oder der Verfasser, daß sie mir entsteht. Bin ich Schuld daran und der Verfasser gar nicht, dann kann auch die Schuld nicht im einzelnen Punct liegen, sondern das frühere muß schon nicht rein verstanden seyn und von jedem Puncte des Nichtverstehens aus sind 3 Wege 1. die Schuld in dem Verstehen des Früheren zu suchen 2. sie zu suchen im Nichtkennen des Sprachelements 3. im Fehler des Verfassers. Wir haben es hier nur mit den beiden ersten Puncten zu thun. Hier ist der Ort, wo wir klar werden müssen über das Verhältniß des einzelnen Vorkommens zum Ð stimmtenÑ ÐDaseynsÑ eines einzelnen Redetheils. Bisher haben wir uns begnügt, zu sagen, jedes Wort an sich, ist ein unbestimmtes. Durch die Verbindung mit allen übrigen aber in einer Rede wird es vollkommen bestimmt. Das müssen wir aber genauer erwägen. Was ist denn nun ein Wort an und für sich? worin liegt seine Unbestimmtheit? was ist das Positive zu diesem Negativen der Unbestimmtheit? Wir haben uns das Positive so ausgedrückt[:] wenn das Wort für sich gegeben wird, so stellt sich eine Mannigfaltigkeit dar von Arten, wie es gebraucht werden kann. Das scheint ein Positives zu seyn, ist aber auch nur ein Negatives, so lange wir kein Princip haben, woraus wir uns die Mannigfaltigkeit construiren können. Existirt das nicht, so ist es mit der Sprache ein schlimmes Ding. Sagt man, wie gewöhnlich, jedes Wort hat viele Bedeutungen, so ist das solche Mannigfaltigkeit, die ganz zufällig ist und damit wird das Wort selbst zufällig. Das geht aber nicht. Sprache und Begriffe gehen doch ineinander auf. Wir müssen doch nun voraussetzen, daß das gesammte Denken eines Volks eine wirkliche organische Einheit ist. Wäre das nicht, so müßten wir alles Verstehen aufgeben. Wenn nun das Gesammtdenken, das in der Sprache niedergelegt ist, ein organisches Ganze ist, eine wahre Totalität, so muß auch jedes einzelne Glied darin seine Bestimmtheit haben und die Mannigfaltigkeit muß sich auf eine Einheit reduciren lassen. Wenn ich nun unsicher bin über die Art, wie ein Wort an einer bestimmten Stelle vorkommt, so muß ich zuerst zu der Sprachkenntniß selbst meine Zuflucht nehmen und weil ich mir hier nicht trauen kann, weil ich sonst keine Schwierigkeit gefunden hätte, so muß ich mich an andre Leute wenden, oder ans Wörterbuch. Wie ist dies organisirt? Die Wörterbücher gehen mehr oder weniger alle davon aus, das Wort als eine unbestimmte Mannigfaltigkeit anzusehen. Haben sie
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auch wirklich das Bestreben, alle verschiedenen Bedeutungen auf eine Grundbedeutung zurückzuführen, so ist das doch ein Prozeß, dem man nicht trauen darf, sondern man muß ihn nachmachen. Wir können darauf sagen, es ist nur ein Aggregat von Einzelnen im Wörterbuch. Aber es muß doch auch hierhinter die Einheit stecken. ich muß nemlich voraussetzen, daß nie die ganze Sphäre des Worts im Lexicon gegeben ist. Dadurch kann ich ja das Wort in seiner Totalität auffassen, d. h. als Einheit und Vielheit. Sehen wir nun auf das einzelne Wort, so unterscheidet man eine eigentliche und eine uneigentliche Bedeutung desselben. Letztere soll seyn, wo das Wort in bildlichen Darstellungen vorkommt. Aber ist denn da eine Grenze zu setzen zwischen dem eigentlichen und uneigentlichen? steht nun der eine Gedanke als reines Bild für den andern da, so sind ja die einzelnen Wörter gar nicht aus ihrem natürlichen Kreise herausgerissen. Man denke sich ein eigentliches Gleichniß. Man kann doch da nicht sagen, wenn Christus sagt: das Himmelreich ist einem Kaufmann gleich, der Perlen kauft, daß Kaufmann hier nicht Kaufmann und Perle nicht Perle sey. Die Worte haben keine andre Bedeutung, sondern aus der allgemeinen Vorstellung Himmelreich sollen sie solche Elemente herausfinden, die das Gleichniß lösen. Ein anderes ist es freilich, wenn beides nicht so genau gegenübersteht, sondern sich in einander verbindet. Wenn man sagt: der Löwe ist der König der Thiere, so ist das freilich [nicht] wahr, der Löwe ist kein König. Man muß sich das aber nur immer auflösen. Wenn das Laub der Bäume das Haar derselben genannt wird, oder ihr Kopfputz, so soll man sich das Animalische denken, damit es paßt, aber Haar soll doch keine andre Bedeutung haben, als gewöhnlich. Bei jenem Beispiel soll ich mir die ganze Reihenfolge der Thiere denken. Den ganzen Begriff kann ich aber nicht anwenden, denn der Löwe regiert die andern Thiere nicht. Aber das Wort König bleibt doch in seiner Bedeutung, denn ich kann doch nicht sagen: weil es heißt, der Löwe ist König der Thiere, so kann ein K ö n i g a u c h d e r s e y n , d e r s e i n e U n t e r t h a n e n z e r reißt. Nun aber sagt man, alle Wörter zeigen zuerst etwas Sinnliches an. Sollen sie das Geistige bezeichnen, so müssen sie erst darauf übertragen werden. Das ist eine schlechte Ansicht für eine Sprache. Es ist dies auch eine sehr üble Sache, denn von vielen Wörtern kann man die sinnliche Bedeutung nicht mehr finden. Verkehrt ist es zB., wenn man ûeow ableiten will von ûeein l a u f e n , sagend, das sey von den Gestir15–20 Siehe Matthäus 13, 45 f.
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nen früher gebraucht und so habe sich die Bedeutung von ûeow Gott gebildet. Das geht aber über alle geschichtliche Kenntniß der Sprache hinaus. Dagegen ist von vielen Wörtern dies nicht zu leugnen, zB. pneyma offenbar von pnev. Jene ganze Hypothese aber kommt nur daher, daß man sich die Bemerkung des Geistigen als das Spätere, die Abrundung der Sprache aber in ihren Stammwörtern als das Frühere denkt. Die Untersuchung hierüber liegt außer unsern Grenzen. Der Interpret als solcher kann es nur mit 2erlei zu thun haben. Er hat Wörter, die nur Geistiges bedeuten und da geht ihn jene Frage nichts an. Er hat aber auch Wörter, die Geistiges und Leibliches zusammen bezeichnen und es fragt sich: muß er sich auch hier die Einheit des Wortes machen und wie soll er den Uebergang finden? Das Geistige und Leibliche sind 2 verschiedene Sphären die oft ineinander übergehen. Aber auf dem sinnlichen Gebiete finden sich auch davon viele Beispiele. Raum und Zeit verwechseln beständig ihre Bezeichnungen. Es giebt Bezeichnungen, die an und für sich zweifelhaft lassen, ob eine Raumbestimmung oder Zeitbestimmung gemeint sey. Soll man nun das eine als das Ursprüngliche, das andre als das Abgeleitete setzen? Das geht nicht. Die Gleichheit der Bezeichnung ist aus der Analogie beider entstanden. Der Raum wird bestimmt durch die Zahl, d. h. durch Zeit, denn Zahl ist Succession, die Zeit wird gemessen durch den Raum. Beide sind also dasselbe und man kann nicht sagen, die Ausdrücke seyen von einem Gebiet auf das andre übertragen. Beide Gebiete vielmehr liegen in dem Ausdruck Größe. Eben so sind das Geistige und Leibliche eins in der Idee des Lebens und es ist nur ein Vorurtheil, wenn man behaupten will, das Geistige sey später wahrgenommen, denn das Geistige ist ja im Menschen. Der Gegensatz des Eigentlichen und Uneigentlichen geht also größtentheils verloren. Es giebt andre Uebertragungen, figurirte Bedeutungen, die man nur anders auffassen muß, zB. bei der Synekdoche wird oft das gesetzt, was enthält, für das Enthaltene. Aber Faß wird deßhalb nicht für Wein und Glas nicht für Wasser verstanden, sondern das ist bloße Ellipse. Worauf führt aber dies? Wir müssen eine Einheit des Wortes voraussetzen, aber der unmittelbare Gebrauch einer Stelle ist nur eins in der unendlichen Vielheit. Von der einen Stelle muß man aber nicht in die unendliche Vielheit hineingehen, sondern man muß eine bestimmte Vielheit unter der Einheit der Bedeutung des Wortes im Geiste haben und darunter den einzelnen Fall subsumiren. Es ist also das Richtige, daß man eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen aufsucht. Dagegen ist freilich wahr, eine Mannigfaltigkeit läßt sich nicht denken ohne Gegensatz. Stellen wir nun zwischen die ursprüngliche Einheit des Wortes und die unendliche Mannigfaltigkeit eine bestimmte Vielheit, so muß sie
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durch Gegensätze construirt werden, nur will dies nicht gehen auf den Gegensatz des Eigentlichen und Uneigentlichen. Ein andrer Gegensatz ist der des Ursprünglichen und des Abgeleiteten. Das Wort hat früher einen bestimmten Kreis gebildet. Von diesem ist etwas verloren gegangen und etwas hinzugekommen, das Wort hat also seine Stelle etwas verschoben. Das erste nun nennt man das Ursprüngliche das letztere das Abgeleitete. Aber man kann da nur sagen, das Wort war erst unbestimmt, nachher ist es bestimmter geworden. hostis hieß anfangs ein Fremder überhaupt. Das kommt daher, daß ursprünglich alle Fremden Feinde waren. Nachher trat das ins Bewußtseyn, daß einer ein Fremder seyn könne ohne Feind zu seyn. Das Wort blieb nun, weil die Leute nicht so sehr gedacht hatten an die Differenz des Raumes, sondern an das gegenseitige Abstoßen und dies behielt denn den Namen hostis. Das Wort ist also dasselbe geblieben, es hat sein ursprüngliches Element festgehalten und eben daraus, daß hostis nachher ,Feind‘ hieß, beweist man, daß das ursprüngliche Element festgehalten sey. Ein andrer Gegensatz ist zwischen allgemeiner Bedeutung und besonderer Bedeutung eines Worts. Man versteht darunter den Unterschied, wie ein Wort gebraucht wird im allgemeinen Verkehr und dann in einem gewissen Gebiet. zB. das ist eine besondere Bedeutung von Fuß, daß es ein Maaß ist in der Meßkunst und Verskunst. Das Maaß ist von der Größe genommen und da ist es bloß Ellipse, ein Fuß statt ein Fuß lang. Bei der Verskunst scheint es anders. Der Vers ist aber auch eine discrete Größe. Jedes Einzelne darin ist ein Schritt, ein Fuß vorwärts und so ist auch hier keine andre Bedeutung. Bei den technischen Wörtern wird man aber die Brücke oft gar nicht finden. Das müssen wir aber mehr im Allgemeinen betrachten und so werden wir sagen müssen: das finden wir überall, daß sich in einem abgeschlossenen Gebiet eine ganz besondere Sprache bildet. Woher es kommt, ist nicht zu bestimmen, auch ist es nicht überall gleich. Wo ein Kastengeist ist, da sind alle technischen Worte reine Freimaurer oder Diebssprache, die kein Mensch verstehen soll und so giebt es oft in der ganzen Gesellschaft keinen mehr, der den Ursprung der Wörter kennt. Die sie noch kennen, sind die hochgeehrten Leute, die den Ursprung der Gesellschaft haben. Auf der andern Seite hat es Analogie mit etwas anderem. In jeder Sprache nemlich finden wir ein verworrenes Gebiet in der ungebildeten Masse, die, wie die Kinder, sich oft die Wörter falsch construirt und sich erst allmählig von selbst rectificirt. Je weniger Gleichheit im Volke ist, desto größer diese Masse und je mehr diese immer nur zusammenbleibt, entsteht eine fehlerhafte Sprache, die sich nicht rectificiren kann. Jedes höhere Gebiet nun hat einen untergeordneten
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Theil, den die Masse inne hat und hierin sind die Ausdrücke am wenigsten verständlich. Eben so sind oft fremde Worte in Analogie mit Einheimischen gebracht und so sind im ÐWerdenÑ der Künste fremde Wörter oft so umgeformt, bis sie einen anlogen Klang haben mit der Muttersprache und diese sind dann die crux der Etymologie. Aber die abgeschlossenste technische Sprache hat überall ihr eigenthümliches Gebiet Wenn wir nun durch diese Gegensätze nicht zur bestimmten Vielheit kommen, woher sollen wir sie nehmen? Ursprünglich sind uns nur diese beiden Puncte gegeben. Eine Einheit müssen wir in jedem Worte suchen, sonst hätte es keine Constanz. Außerdem ist uns der Gebrauch des Wortes in einzelnen Fällen gegeben und es ist eine unendliche Vielheit. Dazwischen müssen wir eine bestimmte Vielheit suchen. Diese muß auf Gegensätzen beruhen. Diese haben wir nun alle durchgenommen und sie nicht haltbar gefunden. Wir müssen also einmal die Aufgabe selbst ansehen, ob es denn nothwendig sey, eine solche bestimmte Mannigfaltigkeit aufzufinden. Das scheint nun Schleiermacher aber gar nicht nöthig, denn jedes Wort wird ja aus seinem Zusammenhang davon bestimmt. Wenn wir uns genöthigt sehen, ein Wort ganz durchzugehen nach seiner ganzen Mannigfaltigkeit in der Einheit, so verstehen wir entweder die Sprache nicht, oder wir haben das früher Gelesene nicht verstanden, oder der Verfasser hat schlecht geschrieben. Fehlt keines von allen diesen, so ist alle Bedingung zum Verstehen gegeben und wir brauchen nichts, als die Einheit der Bedeutung im Wort, die wir aber recht kennen müssen. Könnte man von jedem Wort eine richtige Definition geben, so brauchte man weiter nichts, sondern man würde dann jedes Wort in seinem Zusammenhange richtig verstehen. Solche Definition ist aber nicht möglich. Warum nicht? In der Sprache liegt unser ganzes strenge Denken. Das strebt doch nach Definitionen und setzt Definitionen voraus. Wenn 2 Menschen sich verstehen wollen, müssen sie doch jedes Wort auf dieselbe Weise definiren. Es kommt Schleiermacher gerade so vor, ob wir sagen, Wort und Begriff, es ist dasselbe. Wie ist es denn mit den Definitionen auf dem Gebiet des Denkens? Die einen sagen, sie ist das erste, die andern sie sind das letzte. Beide haben recht. Man muß mit der vorläufigen Definition anfangen. Wenn die ganze Wissenschaft fertig ist, sind alle Definitionen fertig. Wie ist es nun mit der Sprache? Das Wort hat eine Definition, aber immer nur eine vorläufige. Die Sprache aber bewegt sich. Im Denken ist diese Bewegung der Uebergang vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. In der Sprache kann sie sich nur darstellen durch Veränderung der Wörter und so ist in einer lebenden Sprache keine vollkommene Definition eines Wortes möglich und in einer todten Sprache nur, wenn wir die
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ganze Entwickelung des Volkes im Denken kennen. So weit haben wir es aber nie gebracht in einer todten Sprache und in einer lebenden Sprache bewegt sich das Wort noch immer, also ist die Definition unmöglich. Es fragt sich nun: wo wir auf eine Schwierigkeit stoßen, wie gelangen wir zur Einheit des Wortes, da wir doch mit dieser allein operiren müssen? In den Wörterbüchern ist immer nur die Mannigfaltigkeit der Bedeutungen und aus allen diesen zusammen müssen wir die Einheit suchen. Wie muß denn die Einheit des Wortes beschaffen seyn um die große unendliche Verschiedenheit des Gebrauchs eines Wortes zuzulassen? Eine absolute Einheit kann sie doch nicht seyn, sondern sie muß das Princip zu dieser Mannigfaltigkeit in sich tragen. Das ist aber hier, wie überall, in der wesentlichen Einheit des Wortes sind gleich wesentliche Puncte gebunden aber nicht auf feste und unverrückbare Weise und wie sich das Verhältniß derselben verschieben läßt, so entstehen daraus die verschiedenen Bedeutungen, daß das eine mehr hervorgetreten, das andre mehr zurückgetreten ist. Das Wort soll die Anschauung ausdrücken nach seiner eigentlichen Bestimmung. Diese ist aber niemals fertig, sondern sie entsteht allmählig und bildet sich immer aus. Es muß also ein werdendes seyn, ein wechselndes, denn es hängt immer und ewig an der Anschauung. Die Anschauung ändert sich und darum die verschiedene Beziehung des Wortes darauf. Was finden wir denn nun in den Wörterbüchern, die das Complement sind, die mangelhafte Sprachkenntniß zu ergänzen? Wir finden die Mannigfaltigkeit der Bedeutung darin sehr verschieden, bald mehr empirisch, bald mehr philosophirend. Was sollen diese verschiedenen Bedeutungen eigentlich sagen? Betrachtet man die Sache genauer, so kann man niemals solcher Anführung trauen, wenn keine Autoritäten dabei sind. Sind solche dabei, so sind das nur einzelne Gebrauchsweisen. Je mehr Autoritäten dafür, desto mehr Beweis, daß die Gebrauchsweise oft wiederholt sey, aber sie bleibt immer eine einzelne. Die Wörterbücher müssen also vorzüglich das Differenteste angeben und dann kann man sich das dazwischen liegende leicht construiren. Das können sie leisten und so muß man sie hermeneutisch gebrauchen. Es gilt nun was von den Wörtern als materiellen Sprachelementen gemeint ist, ebenfalls und in demselben Maaße von den formellen, d. h. von den Verbindungsweisen, sie mögen nun wieder Wörter seyn, wie die Partikeln, oder nicht. Der Sinn hängt eben so ab von der Verbindung der Wörter, wie vom Verstehen der Wörter selbst. Die Grammatik nun soll die Gebrauchsweise ausdrücken in der Verknüpfungsform, wie das Lexicon in der Gebrauchsweise des Wortes in seiner Bedeutung. Die Grammatik hat ein systematischeres Ansehn als das Wörterbuch, aber ihre
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Leistung ist nicht größer. Das Gebiet einer Verbindungsformel kann in der Grammatik nicht bestimmter gegeben werden, als das Gebiet eines Wortes im Wörterbuche. An und für sich ist es schwieriger eine Grammatik zusammenzutragen als ein Lexicon, wenn gleich letzteres mühsamer ist. Die Bedeutung einer Partikel im ganzen Umfange zu bestimmen ist weit schwieriger als die Bedeutung eines wirklichen materiellen Wortes, denn die Bedeutungen einer Partikel sind dasselbe, als die Bedeutungen einer Flexionsform. Hierin mögte wol niemand ausgelernt haben. Regeln sind hier weiter nicht zu geben. Es liegt dies noch im Gebiet der Sprachkenntniß und kommt bloß durch den Sprachsinn, durch die philologische Regsamkeit und Lebendigkeit das Identische und Differente gleich aufzufassen. Zur Hermeneutik gehört hier nun wieder der Canon, man soll den Autor eben so gut und besser verstehen, als er sich selbst. Der Grammatiker und Lexicograph sind aber auch Autoren. Wir brauchen sie, um uns anzueignen, was es außer uns an Sprachkenntniß giebt. Dazu brauchen wir eine Uebung mit der Sprachkenntniß umzugehen. Aber jede Operation soll zur Erweiterung unsrer Kenntniß und zur Erweiterung der ganzen Sprache beitragen. Jeder gebildete Mensch also der das Lexicon oder die Grammatik gebraucht, soll es vervollkommnen und den Autor besser verstehen und nur in dem Maaß, als jeder dies kann, kann er überhaupt eine Grammatik und Lexicon ordentlich gebrauchen. Aber wir stellen uns auf den Punct, wo dieses geschehen ist, und dann wird es uns möglich seyn, aus der Stelle des einzelnen Wortes richtig seine Bedeutung zu finden. Ohne daß man auf das eigentliche Gebiet eines Wortes zurückgeht und dies auf ähnliche Weise sich theilt, wie man die ganze Sprache getheilt hat, ist es nicht möglich, das Auslegen fortzusetzen, wo eine Schwierigkeit entsteht. Die Grammatik und das Wörterbuch dabei sind nur Nebensachen. Aber in jeder Stelle muß uns das ganze Wort vor Augen seyn, so daß wir diesen Artikel des Wörterbuchs und der Grammatik schreiben könnten. Das ist immer die conditio sine qua non. Wie ist es aber mit der Bestimmung des streitigen Satzes? Wir haben gesagt, wo eine Schwierigkeit entsteht, da ist die Bedeutung des Wortes nur auszumitteln aus der Kenntniß des einzelnen Sprachgebiets, worin die Schrift versirt. Angenommen nun dieser Canon wäre erfüllt, so ist doch hieraus allein, aus dem einzelnen Gebiet das Wort nicht allein zu verstehen. Die Kenntniß des Sprachgebiets, in dem die Schrift liegt, weist mich nur darauf an, manches gar nicht zu berücksichtigen. Der ganze Canon ist also nur ausschließend. Nun aber muß er sehr cum grano salis angewendet werden, sonst kann er einen sehr irre führen. Das Ausschließen ist freilich die erste Operation, aber man muß sich auch sehr hüten,
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daß man nicht zu viel ausschließe. Es ist schlimm, daß in schwierigen Fällen die Hülfsmittel hier wenig leisten. Das historische Gebiet der verschiedenen Gebrauchsweisen im Wörterbuch findet man sehr selten. Anwendung des vorläufigen Canons auf die Interpretat i o n d e s N e u e n T e s t a m e n t s . Wozu soll es eine Interpretation geben, die speciell ist? Wenn nur die allgemeine Hermeneutik gut da ist, so braucht man sie ja nur auf jeden Fall anzuwenden. Die Spezialhermeneutik wäre bloß Abkürzung, daß man nicht brauchte auf das Allgemeinste zurückzugehen. Da ist aber große Gefahr, das Allgemeine ganz zu verlieren, denn bisher ist eine Spezialhermeneutik bloß ein Aggregat von Observationen gewesen, die der eigentlichen Hermeneutik vorangehen mußten. Soll das nicht seyn, so müssen die Specialhermeneutiken immer den genauen Zusammenhang zeigen mit den allgemeinen hermeneutischen Regeln. Dies kommt hier gleich in Anwendung. Wir müssen fragen: in welchem Sprachgebiet versirt denn das Neue Testament? Haben wir das gefunden und constituiren wir uns dann die Gesetze dafür aus der allgemeinen Hermeneutik, so ist die spezielle Hermeneutik fertig. Hier entsteht uns also zuerst die Frage vom Verhältniß der speziellen und allgemeinen Hermeneutik, die wir aber hier noch nicht beantworten können. Wir haben eine objective und subjective Interpretation angenommen. Die spezielle Hermeneutik muß aus beiden abgeleitet werden. Von der subjectiven Interpretation ist aber noch nichts gesagt. Wir können aber aus der Einleitung übersehen, welches Verhältniß ist. Die Aufgabe ganz allgemein hat es bloß zu thun mit dem Verstehen der Rede, und von der grammatischen Seite, mit dem Verstehen der Rede als Sprache. Dadurch wird eine Hermeneutik, die auf eine bestimmte Sprache Rücksicht nimmt, schon selbst eine spezielle. Wir müssen also die eine Sprache aus der Sprache im Allgemeinen verstehen. Nun ist eine Sprache ein vollkommenes Individuum und von solchem hat man eigentlich niemals eine Kenntniß, die sich in allgemeinen Formeln mittheilen läßt, und darum hat man es auch nicht unternommen, Auslegungsregeln zu geben in Beziehung auf gewisse Sprachen. Was aber vorzüglich in Betracht zu ziehen ist und was in allen Sprachen vorkommt, ist daß in jedem Zeitalter die Sprache ein anderes Verhältniß zu ihrer Totalität hat und da kann man allerdings sagen, es lassen sich schon weit eher spezielle Regeln der Auslegung denken für die verschiednen Perioden der Sprache. Das zweite, wovon sie ausgeht, ist das ungleiche Verhältniß des Einzelnen zur Sprache. Der Einzelne producirt von der einen Seite mit der Sprache, von der andern Seite 38 producirt] produisirt
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ist er durch die Sprache selbst geworden. Das ist aber in verschiedenen Menschen verschieden. Daraus folgt, daß man ganz anders interpretiren muß einen Menschen, der die Sprache weiterbringt. Es muß dies aber geschehen nach der Analogie mit dem ersten Entstehen der Sprache, es muß also interpretirt werden nach der Analogie, wie die Periode der Kindheit der Sprache interpretirt wird. Andre Erklärungsmittel müssen seyn für den Schriftsteller, der bloß Organ der Sprache ist. Auch das Verhältniß in welchem grammatische und historische Interpretation anzuwenden sind, ändert sich hiernach. Nun wird es auch von der psychologischen Seite Theilungspuncte geben, von wo aus man spezielle Hermeneutiken construiren kann. Man muß sich also von jedem Punct aus die Hermeneutik des Neuen Testaments construiren. Hier fragen wir: wie haben wir das Sprachgebiet des Neuen Testaments zu construiren? Hierüber ist sonst viel gestritten. Der Streit ist jetzt eingeschlafen. Es fragt sich aber, ob wir auf dem richtigen Standpunct sind stehen geblieben. Wir müssen uns aber das Gebiet selbst construiren. Das Neue Testament ist griechisch geschrieben. Wir müssen es also zunächst und ursprünglich in seinem Verhältniß zur Totalität der griechischen Sprache beurtheilen. Es hat einige gegeben, die auch dieses geleugnet haben, es sey nichts als eine beständig fortgehende Uebersetzung aus dem Hebräischen. Das ist schon ein Theil des langen Streits. Wir wollen einen Augenblick zugeben, das Neue Testament sey im eigentlichsten Sinne eine Uebersetzung aus dem Hebräischen, müßten wir nicht dessen ungeachtet das Neue Testament zuerst aus der Totalität der griechischen Sprache betrachten? Es hat dies allerdings eine gewisse Beziehung, aber nur auf dem Gebiet der psychologischen Interpretation, wo wir denn das Eigenthümliche des Verfassers finden müssen. Nun aber hat man gesagt: die NeuTestamentlichen Schriftsteller haben zwar alle griechisch geschrieben, aber sie haben hebräisch gedacht; wir müssen uns also das hebräische Original erst nachconstruiren. Dies kann man schwer behaupten. 1. jeder, der in einer ihm fremden Sprache schreiben will, der wird sich wohl hüten, erst in seiner Sprache zu denken. Wenn nun die NeuTestamentlichen Schriftsteller selbst griechisch geschrieben haben, warum sollten sie das gethan haben, wenn sie nicht so fertig darin waren, griechisch zu denken? Sie konnten überall darauf rechnen, Uebersetzer zu finden. Es waren überall in den christlichen Gemeinen hellenistische Juden und Heiden miteinander vermischt. Die hellenistischen Juden mußten unter sich immer solche haben, die ihrer eigentlichen Volkssprache mächtig waren und so hätte es an Uebersetzern schwerlich fehlen können, und wenn wir nun sagen, Paulus hätte selbst nicht griechisch schreiben kön-
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nen, so hatte er doch Freunde genug, die es konnten. Nimmt man an, Paulus hätte aramäisch dictirt, sein Schreiber gleich griechisch übersetzt, so ist das schwer anzunehmen, denn das wäre eine große Pein gewesen. Lieber hätte Paulus selbst aramäisch geschrieben und seinen Schreiber dies nachher übersetzen lassen, denn das ist weit leichter. Wir müssen also das Neue Testament aus dem griechischen Sprachgebiet verstehen. Daß freilich, daß die Verfaßer desselben fremden Volkes waren, großen Einfluß hat und muß sehr berücksichtigt werden, ist klar, aber jene Ausdrücke sind viel zu stark. Wenn nun das Neue Testament aus der griechischen Sprache verstanden werden soll, wo hat es seine Stelle? Die Sprache war damals schon im Verfall. Das Neue Testament muß also als Product angesehen werden der im Verfall begriffenen Sprache und zwar als Product solcher, die kein Interesse daran hatten, die Sprache in ihrem Verfall aufzuhalten. Der Verfall muß sich also darin ganz besonders offenbaren. Durch die Verbreitung der Griechen mit Alexander fing eine andre Sprache der Griechen an. Man spricht von einem macedonischen Dialect. Das sollte man nicht thun, sondern von einer macedonischen Periode der Sprache. Darin versirt nun das Neue Testament, seine Sprache ist nur aus dem Gebrauch der Sprache im damaligen Leben zu verstehen, also in Analogie derjenigen Schriftsteller, die gar kein Bestreben äußerten die alte Würde der Sprache wieder herbeizuführen. Polybius zB. trägt die Eigenthümlichkeit der Sprache in der damaligen Zeit. Wo er aber attisirt, da kann man aus ihm nicht mehr die Analogien mit dem Neuen Testament hernehmen. Wenn man nun eben so auch zur Erklärung des Neuen Testaments einen Apparat gesammelt hat aus Schriftstellern anderer Art, zB. aus Thucydides, Xenophon, wie verhält sich dies zum Sprachgebiet des Neuen Testaments? So etwas kann nur einen negativen Nutzen haben, zu zeigen, wie manches, was man für der neueren Zeit Eigenthümliches hält, schon in den ältesten, classischen Schriftstellern steht. Dieser negative Nutzen ist nicht zu verachten. Nemlich wenn wir nun unsern Canon wieder aufnehmen, daß alles Schwierige soll verstanden werden aus dem Sprachgebiet, das zwischen dem Schriftsteller und den ursprünglichen Lesern war, so kommt es darauf an, daß man sich dasselbe nicht zu eng abstecke. Dies gilt ganz besonders von der NeuTestamentlichen Sprache. Man hat sich da eine Vorstellung vom sogenannten Hellenismus gebildet, die bei manchen äußerst hölzern gerathen ist, so daß die lebendige Anschauung von der Sprache nicht wiederzuerkennen ist. Man denkt sich den Hellenismus wie eine Druse, die in den Stein eingewachsen ist und nichts mit ihm gemein hat. So ist es aber nicht. Die Sprache des Neuen Testa-
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ments ist mit der Sprache von feinen und guten Schriftstellern verwandt und man kann darthun, wie sie aus dem allgemeinen Leben der griechischen Sprache hervorgewachsen ist. Darum haben all jene Bemühungen guten Nutzen und der Interpret muß auch das sich suchen, wie das Neue Testament Anklänge habe vom Besten aus der Sprache. Verfolgen wir nun unsre Frage weiter: allerdings muß das Neue Testament betrachtet werden in seinem Verhältniß zur ganzen griechischen Sprache, und es ist übertrieben, wenn man es für hebräisch ausgiebt, so fragt sich: wie ist denn das Verhältniß des Hebräischen zum Neuen Testament zu construiren? So wenig man Ursach hat, von einigen Büchern des Neuen Testaments zu sagen, sie seyen übersetzt aus dem Aramäischen, so wenig hat man Ursach zu sagen, sie seyen ursprünglich aramäisch gedacht, denn man muß annehmen, daß wer griechisch schreibt, auch griechisch denkt. Aber was hat nun aber dieser Umstand, daß das griechische doch nicht die Muttersprache der NeuTestamentlichen Schriftsteller war, auf ihre Art in der griechischen Sprache zu denken und zu schreiben für einen Einfluß gehabt? Diese Frage ist auf allgemeine Weise nicht zu beantworten. Das allgemeine Factum, wovon wir ausgehen ist das Denken und Schreiben in einer fremden Sprache. Ursprünglich ist dies ein fremder und gewaltsamer Zustand. Der Mensch ist so hineingewachsen in seine Sprache, daß es nicht viel leichter ist, aus seiner Sprache, als aus seiner Haut herauszugehen. Es ist hier eine Differenz, die als solche ins Auge zu fassen ist. Jeder Mensch gehört seinem Volk an und der ganzen Welt. Es ist in jedem eine Beharrlichkeit für sein Volk, und eine Neigung, mit der ganzen Welt zu verkehren. Letztere kann sich ausbilden zu einer fast absoluten Leichtigkeit in fremde Sprachen hineinzugehen, so leicht, daß man Bedenken tragen muß, ob er nicht aufgehört habe, seiner Nation anzugehören und wo ein ganzes Volk ist, das diese Leichtigkeit hat, da ist die Nationalität im Absterben, da ist sie vom Triebe nach dem allgemeinen Verkehr verdrängt. Eine andre Differenz in dieser Hinsicht liegt in der Fähigkeit und Bildung. Es ist ein Talent, sich in fremde Sprachen hineinzudenken und aus diesem bildet sich eine größere Leichtigkeit Ð Ñ. Das ist die eigentliche Aufgabe des Linguisten, die verschiedenen Sprachen sich so anzueignen und in die eigne aufzulösen, daß die allgemeine Idee der Sprache, die sonst nur ein Abstractes erscheint, wirklich in ihm lebendig ist. In beiden Beziehungen wollen wir einmal das NeuTestamentliche Sprachgebiet betrachten. Wie steht es denn mit dem Volk, dem die NeuTestamentlichen Schriftsteller angehören? Es hatte damals schon einen Theil seiner Nationalität verloren. Es war schon unter die übrigen Völker zerstreut und es hatte in vielen Gegenden selbst schon auf dem
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religieusen Gebiet den Gebrauch der griechischen Sprache angenommen, woraus zu schließen ist, daß die Kenntniß der Muttersprache den Juden nicht recht geläufig war und nur selten unter ihnen sich fand. Die Muttersprache war freilich verschieden von der Sprache des Alten Testaments, aber hätten die Juden nur an ihre Landessprache eine Anhänglichkeit gehabt, so hätten sie doch ihren Gottesdienst gehalten in der Uebersetzung des Alten Testaments in das Aramäische. Das Interesse des allgemeinen Verkehrs hatte aber schon über das religieuse gewonnen und darum der Verkehr mit allerlei Menschen das Uebergewicht über die Nationalität. Hier müssen wir uns nun die Abstufung des Fremden und Einheimischen denken und dazu nehmen, wie schon seit der macedonischen Herrschaft das Griechische die öffentliche Sprache geworden, und wie sich dies bis in die Römische Zeit hinein erhalten hatte. Wir müssen noch hinzunehmen, daß in Hinsicht auf die Sprache auch ein großer Unterschied gewesen zu seyn scheint zwischen Judäa und Galliläa und daß im letzteren das Griechische mehr die Oberhand gewonnen, so daß sehr die Frage aufgeworfen werden kann, ob nicht auch Christus in Galliläa in dem Fall gewesen seyn kann, griechisch zu sprechen und ob nicht manche Reden hier von ihm griechisch gehalten sind. Daher kann man nicht sagen, daß den Aposteln als Galliläern die griechische Sprache ganz fremd gewesen und daß sie gar nicht die Gewohnheit gehabt, in der griechischen Sprache zu denken, ja daß sie nicht auch über religieuse Gegenstände griechisch denken und sprechen konnten. Vom Paulus ist gar nicht zu glauben, daß er keine Gewöhnung griechisch zu denken und zu sprechen gehabt habe, ehe er nach Jerusalem kam, da ja in Tharsus eine berühmte griechische Schule war. So bekommen wir also mehr Raum für die griechische Ursprache des Neuen Testaments. Aber auf welcher Bildungsstufe standen die Apostel? Im Ganzen genommen können wir ihnen keine große Fertigkeit zuschreiben, sich in Fremdes hineinzuversetzen. Die Differenz der griechischen und aramäischen Sprache ist so in die Augen fallend, daß es mehrere Kennzeichen giebt, die nicht irre führen. Die griechische Sprache hat großen Reichthum an formellen Elementen, also auch an Structuren. Die hebräische Sprache ist daran sehr arm. Wo nun einer die Armuth des Hebräischen in der griechischen Sprache nachahmt, da ist keine Gewöhnung, sich in die griechische Sprache hineinzudenken. Hierin sind die NeuTestamentlichen Schriftsteller bedeutend verschieden. Paulus nähert sich dem Griechischen so weit, daß Schleiermacher nicht begreifen kann, wie man auf den Gedanken gekommen ist, daß er ur31 führen] führt
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sprünglich Aramäisch dictirt habe, da aus dieser Sprache solche Perioden gar nicht gebildet werden können, als im Paulus sind. Ueberdies sind ganz eigenthümlich griechische Stellen, die auch ursprünglich griechisch müssen gedacht seyn. Johannes dagegen hat eine geringere Leichtigkeit dieser Art gehabt, denn da ist die aramäische formelle Armuth vorherrschend. Was das Materielle nun betrifft, kann es sehr leicht begegnen, ohne daß einer in der Muttersprache denkt, er doch Wörter braucht in der fremden Sprache, die nur in der Muttersprache so gebraucht werden. Wer die Sprachen kunstmäßig verglichen hat, dem wird das nicht begegnen. Wer aber zur Kenntniß der Sprache auf ganz kunstlose Weise kommt, dem muß es nothwendig begegnen. Aber man darf deßhalb nicht sagen, der Autor habe nicht in der fremden Sprache gedacht. Man gewinnt auch nichts, wenn die Apostel ursprünglich aramäisch geschrieben haben, denn dann haben sie schlecht übersetzt. Konnten sie das, so konnten sie auch schlecht gedacht haben in der fremden Sprache. Die NeuTestamentlichen Schriftsteller stehen also darin zurück hinter andern Nichtgriechen, wie Syrern u.s.w., daß sie die Bildung nicht hatten, sich ins Fremde hineinzugewöhnen. Doch ist zwischen Paulus und allen übrigen ein großer Unterschied. Sie waren nicht in der Lage, sich den Reichthum der griechischen Sprache in ihrem Griechischdenken zu Nutz zu machen, sondern sie waren auf das beschränkt, was die meiste Analogie mit der Muttersprache hatte. Das andre ist dieses, daß sie, ehe sie zur Schriftstellerei kamen, sich einen falschen Gebrauch mancher Wörter und Structuren angewöhnt hatten. Dies zusammengenommen ist der sogenannte Hellenismus des Neuen Testaments, welcher Ausdruck eben daher seinen Ursprung hat, daß man die griechisch redenden Juden Hellenisten genannt hat. Man hat gewöhnlich dies in genauen Zusammenhang gebracht mit der Septuaginta und ihrem Gebrauch. Das gehört aber wieder noch mit zur Einseitigkeit des Denkens über diesen Gegenstand. Die Septuaginta erläutert das Neue Testament gar sehr, aber wenn man sich die Sache so denkt, als ob die Septuaginta der Kern der ganzen sogenannten hellenistischen Sprache sey, [so geht man fehl,] sondern sie ist eben so ein Product der ganzen Lage der Dinge, wie die Sprache des Neuen Testaments, so daß einer damals gar nicht brauchte die Septuaginta gelesen zu haben und doch Analogien davon an sich haben mußte. Die Septuaginta ist also nur Hülfsmittel, das als gleichzeitiger Schriftsteller angesehen werden kann. Nun tritt freilich noch die Betrachtung des Einflusses des Inhalts der NeuTestamentlichen Schriften auf die Sprache ein und wenn man da sagen will, eben des Inhalts wegen nähert sich die NeuTestamentliche Sprache noch mehr der Septuaginta und die Septuaginta ist die Quelle des
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Neuen Testaments, so ist das nur eine Einseitigkeit andrer Art. Man dürfte nemlich hiezu nicht allein die Schriften der Neuen Testaments, sondern auch die Apocryphen mitnehmen, weil diese der Sprache des Neuen Testaments am nächsten sind. Die Behauptung wäre nun: das Neue Testament ist aus der religieusen Sprache derselben Zeit und der kurz vorhergehenden zu erklären. Diese Sprache enthalten die Apocryphen. Diese beruhen auf dem Alten Testament, beziehen sich aber noch besonders auf die Culturgeschichte des jüdischen Volkes. Wenn nun dieses von der Sprache gesagt werden soll, so kommt alles darauf an, ob es auch von den Begriffen gesagt werden soll. Sagt man es nur von der Sprache, dann ist es Recht, aber dann ist der Satz auch ganz unfruchtbar, denn das ist wahr, im Neuen Testament sind keine fremden Wörter. Drücken aber diese Wörter dasselbe aus, was vorher, oder ist durch das Christenthum eine neue Gebrauchsweise hineingekommen? Will man das erste, so ist auch im Christenthum gar nichts Neues gegeben, das sich in der Vorstellung fixiren ließe, es giebt dann keine christliche Geschichte, keine christliche Theologie, keine christliche Religion. Wenn man aber sagt: allerdings ist die Sprache des Neuen Testaments aus der Sprache hergenommen, aus der die apocryphen Bücher sind, allein mit dem Christenthum ist eine ganz neue Entwickelung ins religieuse Princip gekommen und diese, nachdem sie sich fixirt hatte, ist in die religieusen Vorstellungen gegangen und daß dies geschehen[,] ist erst der Grund unsres Neuen Testaments, so ist die Sache eine ganz andre, aber dann kann auch die Septuaginta und die Apocryphen nicht als Quelle des Neuen Testaments angesehen werden. Es erinnert dies an die verschiedenen Arten der Interpretation und was gesagt ist von der historischen Interpretation, wie sie nicht für sich sey, aber überall ein Element der Interpretation sey, weil man den Einzelnen nur verstehen kann durch seine Zeit und sein Sprachgebiet. Das gilt auch vom Neuen Testament. Seine Schriftsteller können nicht verstanden werden ohne Kenntniß der Zeitideen, wenn sie aber daraus allein sollen verstanden werden, so führt das die gänzliche Ableugnung alles Eigenthümlichen im Christenthum unmittelbar mit sich. Wir stehen also hier auf einem Punct, wo es rein von der Ansicht vom Christenthum überhaupt abhängt, welchen Canon wir uns machen sollen und von der andern Seite können wir keine Ansicht vom Christenthum bekommen, ohne die heilige Schrift. So scheint es sind wir wieder im Kreise. Eine Lösung liegt in dem, was der Interpretation vorhergehen muß, isolirt für sich ist sie aber unendlich. Es komme nemlich an auf eine constant durchgeführte Parallele zwischen dem Christlichen und dem Vorchristlichen im Judenthum. Daraus müßte sich ergeben, ob von den wichtigsten
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Ausdrücken eine andre Vorstellung im Neuen Testament angenommen werden müsse oder nicht. Solche durchgeführte Parallele wäre aber etwas Unendliches und man könnte immer sagen, wir haben nur Fragmente von jenem Sprachgebiet[;] also könnte auch, was allein im Neuen Testament steht, schon vorausgesetzt werden in dem ganzen Sprachgebiet, nur daß es uns nicht übrig geblieben. Man kann ein Gefühl darüber haben, ob eine Rede sprachbildend ist oder ÐnurÑ sprachgebrauchend, ob sie was Neues giebt oder nicht. Aber nun kann man sagen: dein Gefühl ist durch diese oder jene Gesinnung afficirt und dann hat aller Streit ein Ende. Daher sieht man, wie sehr der Theolog in der allgemeinen Bildung seyn und leben muß. Je vielseitiger er sich wissenschaftlich darstellt, um desto mehr Critik hat er und desto mehr muß man seinem Gefühl trauen. Je einseitiger er ist, desto weniger kann man ihm in solchen Fällen trauen, weil man annehmen muß, daß eine bestimmte Gesinnung ihn leite in seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Der Punct worauf es ankommt ist hier dieser: hat man Ursach das Neue Testament als sprachbildend anzusehen oder als sprachgebrauchend? Wie genau dieses mit der allgemeinen Ansicht über das Christenthum zusammenhängt ist offenbar, denn denken wir uns das Christenthum als eigenthümliche Entwickelung des religieusen Princips so hat es auch müssen sprachbildend seyn. Denken wir es uns nicht so, dann fällt alle Ursach weg, es so anzusehen. Wer davon ausgeht, daß das Christenthum eigenthümliche Entwickelung ist, muß einen Parallelismus finden in der Art, wie der Gebrauch der Sprache für das Neue anschließen läßt an das Alte. Wir gehen nun auf den Punct zurück, wo wir abschweiften, wie sich nemlich das Hebräische verhalte zum Neuen Testament. Wir sahen, wir müssen das Neue Testament als griechisch ansehen, aber daß sich die NeuTestamentlichen Schriftsteller das Griechische nur angeeignet haben auf mittelbare Art und auch nur durch das gewöhnliche Leben muß auf die Sprache Einfluß haben. Wir hatten das zu beziehen auf den formellen und materiellen Theil der Sprache. Wie verhalten sich nun beide Momente? So lange ich erklären kann aus dem allgemeinen griechischen Sprachgebrauch jenes Volkes, so muß ich daraus erklären und erst wenn es so nicht geht, darf ich den Versuch machen, ob sich die Schwierigkeit lösen läßt durch angenommene Anomalien, die durch das Hebräische hineingekommen sind. Ueberall diese Anomalien vorauszusetzen ist unrecht. Aber jenes, so wie es gesagt ist, ebenfalls, denn beides ist einseitig. Das rechte Verstehen muß von Anfang an anheben. Diese Arten der Inter2 durchgeführte] oder ausgeführte
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pretation wollen aber erst anfangen bei schwierigen Stellen. So lange alles gut geht denken die Einen gar nicht daran, auf den Einfluß des Hebräischen zu achten. Aber woher soll man die Anomalien bei schwierigen Stellen nehmen? Nur aus ander Leute Schriften und das ist ganz kunstlose Interpretation. Die andern sagen: ich denke mir lauter Hebraismen und alles gut Griechische als Anomalien. Das ist eben so einseitig, nur daß man das nicht so gut durchführen kann, wenigstens nicht mit dem Ausdruck Anomalien. Aber sie sagen: ich übersetze immer erst ins Aramäische und auch dies ist ganz jene Einseitigkeit, denn diese können ja die Gewalt der Sprache, die auch nicht Muttersprache ist, gar nicht begreifen. In diese Einseitigkeiten hat man nur kommen können durch den Streit. Das Wahre ist, daß man da, wo es gar keine Schwierigkeit giebt, und ÐmanÑ auch bei der vorläufigen Operation, wo man von allen Schwierigkeiten abstrahirt, eine richtige Vorstellung zu bestimmen sucht von der Art, wie der natürliche Gang der Sprache zu den Anomalien steht. Hier sind aber keine Regeln aufzustellen, die die Sicherheit der Ausführung nothwendig in sich tragen, sondern es kommt alles an auf das sichere Gefühl, das jedesmal die Regeln richtig anzuwenden weiß. Das zu erlangen, erfordert eine Parallelisirung des NeuTestamentlichen Sprachgebiets mit dem, was ihm mehr oder weniger verwandt ist. Ohne dies kann keiner in der Interpretation auf seinen eignen Füßen stehen. Man muß eine Vermittelung der classischen Gräcität und der Sprache des Neuen Testaments haben. Sonst bekommt man gar kein Gefühl von dem Hebraisiren im Neuen Testament. Dazu kommt, daß wer es nicht thut, andern folgen muß, ÐdemÑ Gefühl andrer trauen. Er muß vergleichen diejenigen welche von den verschiedenen Ansichten ausgehen und dann die Critik anwenden. Dazu müssen sich denn leider die meisten Theologen entschließen. Die christlichen Vorstellungen, wiewol eigenthümlich waren doch im jüdischen Boden gewachsen. In der ursprünglichen griechischen Sprache fanden sie für sich keine Ausdrücke. Darum mußten die ursprünglichen griechischen Ausdrücke eine andre Bedeutung bekommen, oder sie mußten dem Hebräischen angepaßt werden, wo sie denn gar keine Elemente in der ursprünglichen griechischen Sprache waren. Es bleibt also hiebei, daß die Grundsprache des Neuen Testaments griechisch ist, daß man aber immer sehen müsse, wie der Umstand, daß die Verfasser Hebräer waren, auf die Sprache gewirkt hat. Man darf weder sagen, daß man alles so lange suchen müsse aus dem Griechischen zu erklären, bis es nicht mehr gehe, noch daß alles aus dem Aramäischen zu verstehen sey. Man muß vielmehr beides verbinden und bei jedem materiellen oder formellen Element beides vor Augen haben, das eigenthümlich Griechische und dann
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auch die Modificationen, die aus dem Einfluß des Hebräischen entstanden seyn mögen. Es könnte scheinen, als ob so der Interpret sich viel unnütze Arbeit mache, aber sie ist nicht unnütz und auch da wo gar keine Schwierigkeit vorkommt muß man überall wo man irgend eine Vermuthung hat, daß das Wort könnte aus seinem ursprünglichen Kreise herausgegangen seyn, sehen, wie es wohl vorkommen kann und man muß nicht [nur] das Lexicon der griechischen Sprache, sondern auch das der Hellenistischen [zu Rate ziehen], damit man sich im Auslegen selbst immer eine genauere Vorstellung von der ganzen Sphäre des Wortes schaffe. Es muß dies freilich der Auslegung vorhergehen, aber es muß auch durch die Auslegung erweitert werden. Bei den formellen Sprachtheilen muß man eben so die griechischen wie die durch das Hebräische entstandenen Modificationen des Griechischen betrachten und dann aus beiden zusammen in jedem einzelnen Falle bestimmen, wie die Sache zu verstehen sey. Wir sind hierin noch nicht so weit als wir seyn sollten wegen des Reichthums der griechischen Sprache. Der NeuTestamentliche Interpret braucht aber noch mehr, die Modification des Griechischen durch die Muttersprache der Verfasser. Es muß uns also dies ein ungetheiltes Ganzes werden, der rein griechische Sprachgebrauch und seine Modification durch das Hebräische und nur aus diesem ist in jedem einzelnen Falle alles zu erklären und jede Frage wie, ob man dann und wann etwas griechisch oder hebräisch verstehen müsse ist unnütz. Jetzt gehen wir einen Schritt weiter und sehen, was von unserm ersten Canon aus weiter zu thun ist. Nemlich wenn gesagt ist, jedes Sprachelement müsse ÐerklärtÑ werden aus dem Gebiet der Sprache zwischen dem Verfasser und seinen Lesern, so ist dies eine bloß limitirende Vorschrift. Das Positive dazu ist, daß wir im Allgemeinen sagen müssen, es kann an einer jeden gegebenen Stelle ein Wort nur verstanden werden durch sein Zusammenseyn mit den ÐübrigenÑ, nemlich vorausgesetzt die anschauliche Kenntniß von der Totalität seines Gebietes. Hier machen wir nun einen Sprung von dem Sprachgebiet zwischen Verfasser und Lesern zu dem Zusammenhang, in dem ein Element vorkommt. Einen jeden Sprung muß man rechtfertigen, so auch hier. Es kann immer nur ein Sprung seyn von einer ausschließenden Regel zu einer productiven. Wir müssen aber den Sprung vermitteln und das geschieht, indem wir das eine auf das andere beziehen können. Wir sollen bloß aus dem Gebiete ein Wort bestimmen, das dem Verfasser und den Lesern gemein gewesen ist. Das fällt also in eine Periode der Sprache. Man bedient sich aber doch oft der 25 ÐerklärtÑ] oder verstanden oder dgl.
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Archaismen, von denen man aber muß voraussetzen, daß die Leser sie verstehen werden. Nun wird eben so auch bestimmt dadurch eine gewisse Gattung der Sprache, nemlich diese wird bestimmt durch den Verfasser und durch das Geschäft, welches er mit seinen ursprünglichen Lesern und Hörern treibt. Diese Bestimmungen verengen das Gebiet schon immer mehr. Gehen wir noch weiter, so wird das gemeinsame Sprachgebiet zwischen Verfasser und Lesern noch sehr bedingt durch das Geschäft, das sie gerade jetzt miteinander treiben, und den Inhalt der Rede. Unser erster beschränkender Canon lautet nun schon so, daß man jedes Wort nur bestimmen kann aus dem Sprachgebrauch, der in der Schrift selbst vorkommen kann. So verwandelt sich also unser Canon vom ersten in den zweiten. So verwandelt sich auch der zweite in den ersten und löst sich darin auf, und darin wird die ganze grammatische Interpretation bestehen. Wir wollen nun einmal den Canon in seinem engsten Sinne nehmen: jedes Wort muß bestimmt werden durch seine Umgebung. Das Nächste ist: wenn das auszulegende Wort ein Subjectwort ist, so muß sein Gebrauch bestimmt werden durch die ihm beigelegten Prädicate, und wenn das auszulegende Wort ein Prädicatwort ist, so muß es bestimmt werden durch das ihm beigelegte Subject. Alle andern Wörter im Satz sind Beiwörter des einen oder des andern, Nebensätze des einen oder des andern und da ist wieder nähere Bestimmung. So angesehen bekommt der Canon doch wieder den negativen Character, den der erstere auch hat, denn durch das Prädicat werden nur einige Gebrauchsweisen des Subjects ausgeschlossen, der Canon ist also auch nur ein ausschließender. Es läßt sich nun aber der Fall denken, daß alles was in einem Satze vorkommt nicht hinreicht, uns Aufschluß zu geben. Nun müssen wir also einen andern Zusammenhang aufsuchen, den wir als diesem identisch ansehen müssen und den finden wir zunächst in derselbigen Schrift. Wenn also ein Wort nicht klar ist, so müssen wir sehen, wie es noch in derselben Schrift gebraucht wird. Wir können auch Stellen gebrauchen aus demselben Schriftsteller, wenn auch nicht aus derselben Schrift, doch aus denen, die einen verwandten Inhalt haben, dann auch solchen, die von andern über ähnliche Gegenstände geschrieben sind. Darin sind alle Hülfsmittel für die grammatische Interpretation beschlossen. Es kommt dies auf 2erlei hinaus 1. auf die Bestimmung des Sinnes und 2. auf die Bestimmung aus Parallelstellen. Ehe wir ins Einzelne gehen, müssen wir noch über die Aufgabe des ganzen Canons uns verbreiten. Die Schwierigkeit der Interpretation liegt immer in einzelnen oder mehreren Elementen des Satzes. Diese sind von 2facher Art, materielle, d. h. solche, welche wirkliche Begriffe ausdrücken, die Bestandtheile des Gedankens sind, das sind wesent-
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lich diejenigen Wörter, welche das Subject und das Prädicat bezeichnen, d. h. das Hauptwort und das Zeitwort, dann diejenigen, welche genauere Bestimmungen des Subjects und Prädicats enthalten d. h. die Adverbia und Adjectiva, und dann formelle, welche nicht Begriffe aussagen, die Bestandtheile des Satzes sind, sondern an denen man nur die Art und Weise erkennt, wie die Begriffe verbunden sind. Dazu gehören alle Partikeln und alle Flexionen an den Wörtern, durch welche wir Beziehungen deutlich gemacht haben. Wir brauchen also das qualitative richtige Verstehen, d. h. daß der Antheil eines Elementes an dem Sinn des ganzen Satzes in Uebereinstimmung ist mit der Sphäre, die diesem Elemente überhaupt zukommt und zwar so, daß dieser Antheil in Uebereinstimmung ist mit dem Antheil des Elementes an dem Sinn des Satzes, dann das quantitative Verstehen, daß jeder Begriff ein Wandelbares der Stärke und Schwäche in sich trägt und in seinem Gebiete selbst eine Gradation statt findet von großem Nachdruck zum geringen. Dasselbe gilt von den formellen Elementen, wiewol es da nicht so deutlich ist. Dasselbe formelle Element kann dieselbe Verbindung bald loser bald fester ausdrücken und der Satz wird auch nur verstanden, wenn dies mit verstanden ist. Es wird also am besten seyn, daß wir die beiden Elemente trennen und abgesondert handeln von der Bestimmung der materiellen Sprachelemente und von der Bestimmung der formellen. Ein andrer Gang ist eben so möglich und es ist schwer zu entscheiden, welchen man vorziehen soll. Wir hätten auch als Hauptabtheilung setzen können die Erklärung der streitigen Elemente aus dem unmittelbaren Zusammenhang und dann aus den Parallelstellen und darin dann in jedem als Unterabtheilung die materiellen und formellen Sprachelemente. Die Parallelstellen richtig zu gebrauchen ist zB. sehr schwer und es gehört eine große Kunst dazu. Der Unterschied der materiellen und formellen Sprachelemente verschwindet da, weil jedes ein allgemeines ist. Dagegen sind die formellen und materiellen Sprachelemente so verschieden, daß es wünschenswerth ist, jede besonders zu behandeln. Womit fangen wir nun am zweckmäßigsten an? Die materiellen Sprachelemente scheinen die Hauptsache zu seyn, aber das ist doch nur Schein, denn wenn ich wissen will, wie Subject sich auf Prädicat und umgekehrt bezieht, so muß ich doch erst wissen, was ich als Subject und Prädicat aufeinander zu beziehen habe. Das geht aber aus den formellen Sprachelementen hervor. Man soll vorher eine Uebersicht des Ganzen haben. Wodurch hebt sich ein Satz heraus im Ganzen? doch nur durch formelle Sprachelemente, wodurch das Spätere an das Frühere angereiht 21 möglich] oder nüzlich
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wird. Die Bindewörter und Bindeweisen bedingen also die Gliederung des Ganzen und da das Einzelne nur kann aus dem Ganzen verstanden werden, so hängt es ja von den Gliederungen ab. Wir werden also wohl thun, von den formellen Sprachelementen anzufangen.
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Formelle Sprachelemente. Wir haben Rücksicht zu nehmen auf ihre Qualität und Quantität, auf die Art wie und auf die Stärke und Schwäche mit der sie binden. Wir müssen aber gleich eine andre Theilung dazu nehmen. Weil nemlich alles ankommt auf die Gliederung, die durch das formelle Sprachelement gefördert werden soll und wir gesehen haben, die Einheit des Verstehens ist im Satz, jede Rede aber eine Mannigfaltigkeit von verbundenen und aufeinander bezogenen Sätzen. Der Satz aber ist eine Mannigfaltigkeit von verbundenen und auch aufeinander folgenden Sprachelementen. Indem also der Satz unsre ursprüngliche Einheit ist, haben wir auf 2erlei zu sehen, auf die Verbindung der Sätze zur Rede und auf die Bildung zum Satze. Dieser Gegensatz ist aber auch nur ein relativer. So wie ein ganzes Werk eins ist, aber doch aus verschiednen Abschnitten besteht, deren [jeder] eine untergeordnete Einheit ist, so hat dieser wieder Sätze, die eine untergeordnete Einheit sind. Aber es findet auch diese Duplicität im Satze statt und das Wort hat 2erlei Bedeutung 1. den einfachen Satz 2. die Verbindung der Sätze, die in ihrem Zusammenhang nicht getrennt werden können und das ist dann eine Periode, ein geschlossenes Ganzes, aber aus mehreren Sätzen bestehend. Die Periode aber verhält sich zum Abschnitt auch nur wie ein einzelner Satz. So ist also hier eine Abstufung und ein Uebergang von einem Gebiet zum andern. Im einzelnen Satz ist das Eigenthümliche das Bezogenseyn des Prädicats auf das Subject, wornach sich ordnen die Beziehungen der Nebenbestimmung beider auf beide. Wollen wir nun unterscheiden das formelle Element wie es satzbildend ist, so müssen wir das bis zu der Periode verfolgen, welches Element aber die Elemente selbst zum Satz zusammenfügt, müssen wir im einzelnen Satz suchen.
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Vo m f o r m e l l e n E l e m e n t , d a s S ä t z e z u s a m m e n f ü g t .
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Das ist nun die Conjunction. Wir müssen hinüber gehen in die Theorie des Denkens und der Rede und fragen: wie können die einzelnen Sätze miteinander verbunden werden? Es giebt nur 2erlei Verbindungsweisen im Allgemeinen. Es kann also auch im Denken und in der Rede nur diese geben. Entweder werden mehrere Dinge verbunden durch bloße Aneinanderreihung, d. h. überwiegend auf mechanische Weise, oder durch Ineinanderschlingung d. h. überwiegend auf organische Weise. Das finden wir auch in der Sprache und diese beiden Haupttypen haben wir zu unterscheiden. Ist nun diese verschiedene Art der Verbindung immer von selbst zu unterscheiden? Ja wenn streng getheilt wären diejenigen Partikeln, die organische Verschlingung und die bloße Zusammenstellung anzeigen, dann wäre keine Schwierigkeit, aber das ist der Sprache nicht angemessen und in allen Sprachen finden wir es mehr oder weniger, daß die Conjunctionen einen großen Spielraum haben, ja welche gewöhnlich das eine bezeichnen ihrer Natur nach, bezeichnen doch oft das andre. Man sagt dann, die Partikel habe ihre Bedeutung verloren. So schimmert also dieser wichtige Theil der Verständigung von Natur schon in Unbestimmtheit. Wie ist nun hier zu verfahren? 1. muß man nur das factum recht verstehen und da mögte Schleiermacher es nun zunächst als allgemeinen hermeneutischen Hülfscanon annehmen, daß man nicht so leicht daran glauben muß, daß irgend ein Sprachelement seine Bedeutung verloren habe und ein leeres Zeichen geworden sey, sondern man muß sich das nur darin auflösen, daß es ein Mehr und Weniger giebt. Dies wäre also eine Reduction der Zweifel über das qualitative Verstehen in die Zweifel über das quantitative Verstehen. Eben so wenn man meint, Sätze seyen bloß aneinandergereiht durch Bindewörter, so muß man dies als Steigerung ansehen. Wenn aber auch die Partikel bloß das Aneinanderreihen bezeichnet, so müssen wir doch eine Steigerung annehmen und da kommt es dann wieder auf eine Emphasis hinaus, d. h. auf ein Reduciren des Qualitativen auf das Quantitative. Woran erkenne ich aber, was durch eine Partikel verbunden werden soll? Das ist wichtig in doppelter Beziehung. Jede Partikel schließt an an das Vorige und leitet über zum folgenden. Dies aber ist nicht immer ein Einleiten der Verbindung zwischen zwei Gleichen, zwischen 2 Einzelnen, sondern was angeknüpft wird kann ein einzelner Satz seyn, der in der Periode liegt, ein Satz, der außer der Periode liegt, es kann eine Periode geknüpft werden an eine Periode, eine Periode an einen Satz, ein Abschnitt an einen Satz. Das alles kann durch Eine Verbindung geschehen, wenn sonst die Verbindungsweise nur
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dieselbe ist. Hier ist also das Was und Wie gar nicht zu trennen. Wir müssen es immer und ganz im Allgemeinen als Canon ansehen, daß ein Element der Sprache [nie] aus seinem eigenthümlichen Gebiet so herausgeht, daß es gleichsam verschwindet. So ist zB. dieses, daß eine Partikel, die einen Zusammenhang andeutet, ihn nicht andeuten soll, nicht zulässig. Einmal haben wir schon im Voraus auf allgemeine Weise anerkannt, daß es für jedes Element in der Sprache, wie ein Gebiet qualitativer, so auch quantitativer Verschiedenheit giebt. Das gilt auch von unserm Gebiet. Wir denken uns dies freilich in der Regel sehr leicht. Wir wissen daß denn und weil den Causalzusammenhang anzeigt und denken oft, das ist eins. Aber das ist nicht wahr, denn der Zusammenhang ist fester und loser, aber es bleibt doch immer ein Causalzusammenhang. Dies sieht man am deutlichsten, wenn man versucht sich die quantitative Differenz auf etwas anderes zu reduciren. Was meine ich damit, daß ein Causalzusammenhang kann fester und loser seyn? Die Nothwendigkeit des Zusammenhangs kann fester seyn oder geringer. So wie ich Nothwendigkeit sage, hört der Gegensatz des Größeren und Geringeren auf. Wenn sie mir also geringer erscheint, so kommt das daher, daß Mittelglieder fehlen, oder daß die Nothwendigkeit des Zusammenhangs nicht recht herausgehoben ist. Dann liegt also die Schuld nicht in der Partikel, sondern die bleibt dieselbe. Wir müssen also immer sagen, so wie jemand sich einer Partikel bedient, die den Zusammenhang anzeigt, so will er auch den Zusammenhang andeuten, nur daß er ihn oft mehr andeutet, als daß er ist. Wenn es also scheint, als ob die Partikel die Bedeutung verloren, muß man sie erst recht darauf ansehen und zu finden suchen, was durch sie verbunden werden soll, was nicht. Nemlich was oft bei der Interpretation begegnet ist, daß man die Verbindung zu unmittelbar nimmt und dann sagt es ist gar keine da. Jeder Satz steht in organischem Zusammenhang mit dem größeren und darum fragt es sich immer, ob die Verbindung zwischen dem Kleinern ist oder Größern. Ein Satz nemlich, der unmittelbar vor solcher Verbindung hergeht, kann sich zu einem früheren verhalten wie ein Zusatz und die Verbindung kann dann mit Vernachlässigung des Zusatzes auf den unmittelbaren Zusammenhang zurückgehn. Sehe ich nun bloß auf den Zusatz, so finde ich den Zusammenhang nicht und meine, die Partikel hat ihre Bedeutung verloren. Das ist aber falsch. Ich muß nur darauf zurückgehen, ob nicht der Verfasser noch den Gedanken des großen Satzes in seiner Seele gehabt hat und ob dann nicht der Nexus gefunden wird. Es ist aber dies bei verschiedenen Schriftstellern verschieden. Der Schriftsteller selbst muß auch den Nexus des Hauptgedankens ausdrücken, so weit er geht und es läßt sich gar nicht denken, daß der
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Zusatz, der zuletzt kommt, nicht hätte als Zwischensatz gemacht werden können und dann wäre die Verbindung anders gekommen. Aber nicht jede Art zu schreiben läßt solche Behandlung zu, sondern manche erfordert das Gegentheil, indem sie ein vielseitiges Einschieben der Zwischensätze nicht erträgt. Solche Fälle können in jeder Art der Schrift vorkommen denn wenn die Schrift auch verwickelte Zwischensätze verträgt, so hat doch das sein Maaß und der Schriftsteller kann nicht jeden solchen Fall vermeiden. So kann ich also einen Zusatz machen, der ganz so abgemacht werden soll als Zwischensatz und weiter keinen Einfluß haben soll auf die Verbindung im Großen. Eben so ist es, wenn wir sehen auf das, was angeknüpft wird. Es kann nemlich da so seyn, daß der Gedanke, der angeknüpft werden soll, nicht unmittelbar hinter der Partikel steht, sondern daß erst ein anderer Satz vorhergeht. Dann ist es noch viel verführerischer. Hieraus wird aber besonders klar, wie das Verständniß des Ganzen dem des Einzelnen vorhergehen muß. In jenem Fall brauchte ich bloß das Vorhergegangene zu wissen, hier aber muß ich auch das Kommende wissen. Dieser schwierige Fall kann aber eigentlich auch nur in der leichteren Schreibart vorfallen. Nemlich ein solcher Gedanke, welcher vor demjenigen eigentlichen Gedanken hergeht der mit dem vorigen in Verbindung seyn soll, eine solche Vorrede also kann weit eher als Zwischensatz behandelt werden. Die Frage über die Bedeutung der Partikeln läßt sich also nur entscheiden durch die Frage über den Umfang dessen, was verbunden werden soll. Umfang müssen wir sagen, denn jeder Nachsatz hätte eigentlich Zwischensatz seyn sollen. Dies wird nun schwieriger bei den größeren Abtheilungen der Rede. Diese müssen auch verbunden werden. Dazu hat die Sprache nur dieselben Partikeln. Auch hier hat man es nicht immer in seiner Gewalt, den ganzen Umfang der Verbindung klar zu machen durch die natürlichste und einfachste und gleich verständliche Stellung, denn dabei kommt immer eine Recapitulation heraus. Zu verzeihen wäre dies am meisten bei den Predigten, man muß da die großen Abschnitte herausheben und verbinden dadurch, daß man den Hauptgedanken am Ende jedes Abschnitts immer recapitulirt. Geschieht das immer, wie bei Reinhart, so wird das eine bloße Manier, die unausstehlich wird. Wer aber redet, der kann nicht verlangen, daß sich die Hörer gleich eine Uebersicht fingiren. In den Predigten wird sie darum gegeben. Die alten Redner haben nie eine Gliederung gegeben. Sie konnten aber auch mehr vorausset33–34 Gemeint ist wohl Franz Volkmar Reinhard (1753–1812), der besonders viele Predigtbände publiziert hat, von denen Schleiermacher wenigstens einen von 1795 besaß sowie auch die „Geständnisse, seine Predigten und seine Bildung zum Prediger betreffend, in Briefen an einen Freund“ (2. Auflage 1811) (SB 1751 und 1753).
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zen in dieser Hinsicht. Als sie aber ihre Reden schrieben, haben wir viel Ursach zu glauben, daß sie gar manches anders gemacht haben, und die Gliederung, die vielleicht in der ursprünglichen Rede war, beim Aufschreiben wieder verwischt haben. Im Allgemeinen aber hat der Schriftsteller ein Recht, daß der Leser in der richtigen Construction seiner Gliederung begriffen sey. Nun aber giebt es auch Uebergänge der bloß aneinanderreihenden Verbindungen in die organische Verknüpfung. Wir können uns keine Rede denken, welche aus lauter Aneinanderreihungen besteht, die bloßes Aggregat ist. Die Beschreibung und Erzählung ist am meisten bloßes Aggregat. Allein wir können uns nicht denken, daß jemand etwas schreibt, ohne es auf eine Einheit in sich selbst zurückzuführen. Wer das ganz unterläßt, der erscheint bloß als Instrument. Er will nicht Gedanken wiedergeben, sondern nur Materialien. Aber die das auch wollen, haben die Enthaltsamkeit doch nicht ganz üben können und wenn sie sie recht geübt haben wollen, hat es etwas Komisches. Gehn wir von diesem maximum des Aneinanderreihens aus, je mehr wir uns davon entfernen, desto mehr ist das Aneinanderreihen der Causalverknüpfung untergeordnet. Je mehr aber das Aneinanderreihen heraustritt, desto mehr muß auch in dem Aneinanderknüpfenden der organische Zusammenhang latitiren. Alles Aneinanderreihen ist im Raum und in der Zeit, die organische Verknüpfung ebenfalls. Jenes ist aber das Sinnliche, dieses das Unsinnliche. Es hat nun wirklich eine Basis, daß das Sinnliche das erste ist, also beim organischen Zusammenhang = das Aneinanderreihen. Je mehr sich die Sprache ausgebildet hat, desto mehr tritt das heraus und da sondert sich denn beides. In der Sprache selbst ist aber die Identität von beiden und so kann es kommen, daß ein Causalzusammenhang gemeint ist, aber bloß ein Aneinanderreihen angedeutet ist durch die Partikel. Diese Steigerung kommt eher vor, als jenes Herabsinken aus seiner Bedeutung und darum hat man sehr darauf zu achten. Doch kommt alles auf den Sinn an. Was den realen Zusammenhang einer Rede betrifft ist noch folgender Unterschied zu beobachten, der nicht selten übersehen wird. Es giebt eine objective und eine subjective Verknüpfung. Die erstere zeigt einen nothwendigen Zusammenhang einen Zusammenhang des Inhalts, die andre einen Zusammenhang im Innern des Redenden selbst und diese subjective Verknüpfung mischt sich, besonders im kleinern Stil, immer unter die objective. Viele knüpfen zB. einen Satz an durch denn, ohne daß man objectiv die Nothwendigkeit davon einsähe. Dies wird sehr oft übersehen und wenn man keinen Realzusammenhang findet, so wird das so ausgelegt, als ob alles eine bloße Aneinanderreihung wäre, weil man das Mittelglied übersieht, das in der Seele des Schriftstellers liegt.
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So wie Schleiermacher die Sache dargestellt hat ist sie begründet im normalen Zustande und in dem normalen Gebrauchszustande der Sprache. In solchem normalen Zustande ist aber die Sprache nie. Es ist aufgestellt, daß ein Wort nie seine Bedeutung verliere. Aber nun müssen wir sagen, es liegt auch in der Natur der Sprache, daß einzelne Ausdrücke ihre Geltung verändern. Wenn ein Wort edel werden kann, was früher unedel war, nachdrücklich, was früher gar nicht emphatisch war, so ist dasselbe auch auf das formelle Element der Sprache anzuwenden, namentlich wiefern es sich in Worten ausbildet. Da fragt sich nun: ist nicht darauf Rücksicht zu nehmen und muß man nicht dieses doch in gewissen Fällen voraussetzen? Schleiermacher glaubt aber doch, daß man doch die Betrachtung anstellen muß, daß aber die Vorsicht nicht muß aufgehoben werden und daß das auch eine gefährliche Regel werden kann. Nemlich wenn dies wirklich statt findet, so muß es häufig wiederkehren. So lange das aber eine Hypothese ist, zu der man seine Zuflucht nimmt, um Schwierigkeiten aufzulösen und um sich den Knoten zu zerhauen, so muß man auch gar nicht glauben, daß etwas dahinter ist. Wenn solche Anomalien einmal einreißen zumal bei den Partikeln, die so oft wiederkehren, da muß sich das aufdrängen und so lange das nicht ist, darf man es auch gar nicht setzen. Bei den materiellen Sprachtheilen wechselt zwar die Bedeutung oft, aber bei den formellen ist das gar nicht vorauszusetzen. Ein einzelner Schriftsteller kann aber auch fehlerhafte Gewöhnungen an sich haben. Das sollte eigentlich nicht seyn, denn jeder sollte so gebildet seyn, daß nichts Fehlerhaftes ihm Gewohnheit wird, wenigstens jeder Schreibende. Diese fehlerhaften Gewöhnungen schleichen sich am meisten in die formellen Sprachelemente. Aber sie müssen sich bald verrathen, weil sie oft wiederkehrend gleich auffallen. Bei den ÐgriechischenÑ Schriftstellern der Römischen Zeit giebt es solche Angewöhnungen, von denen man nicht weiß, ob es Ziererei ist und etwas vorstellen soll oder ob es Mangel an Sprachkenntniß ist. Anwendung hievon a u f d a s N e u e T e s t a m e n t . Hier ist nun gerade dies Gebiet der Verbindung dasjenige, wo die VerÐ Ñung mit der Muttersprache, den größten Einfluß haben mußte. Es ist allerdings eine falsche Ansicht, wenn man sagt, man muß das Griechische des Neuen Testaments mehr als Uebersetzung ansehen. Aber wir haben es nur auf beschränkte Weise geleugnet. Wir dürfen nur auf uns sehen. Wenn wir im Act des Schreibens sind in einer fremden Sprache, da denkt man nicht mehr in der Muttersprache, sonst kann die natürliche Farbe der Sprache nicht herauskommen. Aber wenn wir sagen: der Act des Schreibens ist nur der letzte Moment und es geht eine ganze Reihe der allmählichen
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Ausbildung der innern Composition voran, da können wir nicht sagen, daß diese Reihe auch schon in der fremden Sprache wäre vollzogen worden. Der Anfang der Composition geht aus dem unmittelbaren Leben hervor, es ist eine That, die man bei sich bespricht und natürlich in seiner Muttersprache. So geht es allmählig fort bis zum Act des Schreibens. Im weiteren Ueberdenken und Auffinden des Einzelnen, das in die Rede verwebt werden soll, in der inneren Anordnung, die nun den Grund enthält zu allen Verknüpfungen wird alles noch in der Muttersprache vorgehen, wenn man nicht der fremden außerordentlich Meister ist. Ist nun so die Verknüpfung im Genius der Muttersprache, so muß das einen großen Einfluß haben auf den formellen Sprachtheil. Wir haben auch schon gesagt, daß die NeuTestamentlichen Schriftsteller sich die ihnen ursprünglich fremde griechische Sprache nicht auf gelehrte Weise, sondern aus dem unmittelbaren Verkehr angeeignet haben. Da kommt nun in diesem gemeinen Verkehr das meiste vor vom bedingten Denken, das auf eine Handlung geht, das Denken bezieht sich also auf eine That. Diese ist ganz im materiellen Lebenskreise und alles was sich auf das Thun bezieht, wird immer in der Muttersprache gedacht und wird dann in der fremden Sprache producirt, so kommt der Character der Muttersprache immer mehr hinein. Dies hat großen Einfluß auf die Verbindung der Gedanken. Jeder Mensch hat [seine] Art, wie er sich den Menschen deutlich macht in seinem Geschäft. Verrichtet er dies nun am öftesten in seiner Muttersprache, zuweilen in einer fremden, so muß die fremde Sprache sich beugen. Eignet man sich so eine fremde Sprache an, so eignet man sich das Eigenthümliche ihrer Verbindungen nicht recht an. Im Gebrauch der Partikeln und Flexionen hebraisirt also das Neue Testament am meisten. Worin aber wird dieses Hebraisiren bestehn? Die Allgemeine Formel wird auch auf dieses Gebiet angewendet werden können, d. h. wenn eine griechische Partikel einer hebräischen entspricht in einer großen Menge von Fällen, sie dann auch gebraucht werden wird in denjenigen Fällen, wo der griechische ursprüngliche Gebrauch nicht derselbe ist, wo sie also eigentlich auch nicht stehen kann. Daher ist es hier besonders nothwendig, daß man hier aus dem ursprünglichen Gebrauch der Partikeln in der griechischen Sprache selbst und aus der Zusammenstellung derjenigen hebräischen Präfixe denen sie entsprechen, ein Ganzes bildet und daraus bestimmt, wo der Sinn liegt. Hiezu kommt noch, daß man im Neuen Testament ganz besonders darauf achten muß, was demselben abgeht. Denn gerade aus diesem, daß 7 inneren Anordnung] über 〈Composition〉
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sich in dieser Hinsicht besonders die Sprache des Neuen Testaments gebildet hat, daß das Hebräische vorschwebt[,] mußte kommen, daß ein großer Theil der formellen Elemente der griechischen Sprache gar nicht vorkommt. Die griechische Sprache ist so reich an Partikeln, als die hebräische arm. Da nun die NeuTestamentlichen Schriftsteller die griechische Sprache nicht grammatisch hatten, so kamen sie auch zu keiner Kenntniß dieses großen Reichthums. Darauf muß man sehr achten. Unmittelbar kann man freilich durch dies bloß Negative keine Schwierigkeit lösen, aber es muß ein besonderer Gegenstand der Aufmerksamkeit seyn, weil es zum richtigen und genauen Verstehen eine gute Vorbereitung ist. Wenn wir gesagt haben, der eigentliche Werth einer Verbindung ist nicht auszumitteln mit Sicherheit als nur wenn man von der Uebersicht des Ganzen ausgeht, was heißt das anderes, als das Formelle wird bestimmt durch das Materielle, denn was uns hier leitet sind die Hauptideen des Ganzen, die wir durch eine allgemeine Uebersicht gewonnen haben. Wenn wir diese uns vergegenwärtigen, wissen wir, wie sie müssen verbunden werden. Eben so auf der andern Seite. Wenn ein Satz in Verbindung gebracht ist mit einem andern, so steht er wiederum in Verbindung mit andern folgenden, die sich also auf irgend eine Weise aus ihm entwickeln, d. h. die Verbindung selbst wird wieder auf irgend eine Weise getheilt und aus der Art wie sie getheilt ist, kann ich schließen wie sie gewesen. Aus dem Zusammennehmen der Verbindungen muß sich also das einzelne Unbestimmte bestimmen. Im formellen Element selbst fanden wir schon den Gegensatz, daß die Verbindung der Sätze auf der einen Seite gemacht wird durch selbstständige Wörter, Partikeln und durch die Form der Wörter, die Flexion. Nun aber bestimmen sich diese auch gegenseitig, die Partikeln bekommen einen bestimmten Werth, wenn sie mit einer bestimmten Flexion in Verbindung gesetzt sind. Das eine erzeugt also das andre. Aber wenn wir nun über alle diese Hülfsmittel eine bestimmte Regel aufstellen wollten, so ist solche Regel nicht zu geben, sondern das fällt in die Kunst, in die Anwendung. Es muß nicht eher geruht werden, bis die Ueberzeugung vollständig ist. Das ist die Hauptvorschrift. Das Positive in der Seele ist das Nachconstruirenwollen der Gedanken des Schriftstellers. Diese Operation können die negativen Vorschriften und die ausschließenden Verfahrungsarten leiten, bis man auf das richtige kommt. Man sieht beim Neuen Testament dies am deutlichsten. Ist einmal einer auf einem falschen Wege, so kommt er gar nicht zu Recht. Die Regeln können ihm immer nur sagen, was einzeln falsch ist oder recht. Wenn man nemlich bei der Interpretation ausgeht, Bestimmungen über dogmatischen Streit zu finden, so ist man auf solchem unrichtigen Gange.
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Wir müssen zwar auf die Schrift zurückgehen bei den dogmatischen Bestimmungen. Aber meint man das so, als ob alle ohne Ausnahme in der Schrift stehen müßten und macht man Jagd auf Stellen und Wörter in dieser Hinsicht, so muß man irren, denn wie sollen die Wörter in der heiligen Schrift das bedeuten, was sie nachher im System bedeuteten? Wie soll man die Schriftsteller verstehen, wenn man gleich etwas bestimmtes in ihnen sucht? Wir haben nun auch zu reden von der Verbindung innerhalb des einzelnen Satzes. Dieser Gegensatz ist kein ganz strenger, sondern wir finden in der einen Sprache wol mehr, in der andern weniger, aber immer finden wir etwas, was ihn vermittelt und wovon man eben so gut sagen kann, es ist eine Verbindung im Satz, als eine Verbindung der Sätze unter sich. Nemlich es giebt (in den alten Sprachen ganz bestimmt) gewisse Structuren, die eigentlich einen Satz in den Theil eines andern verwandeln. Dann ist die Structur bloß Verbindung im Satz, sofern eben der Satz als einer angesehen wird dem Inhalt nach und sofern nun beide Sätze einzeln sind der Form nach, ist sie Verbindung zweier Sätze. Der accusativus cum infinitivo ist seinem Inhalt nach ein eigner Satz, der Form nach nicht. Was ist denn nun innerhalb des Satzes selbst? Hier müssen wir auf die Structur des einzelnen Satzes zurückgehen, um zu verstehen, worauf es hier ankommt. Das Wesen jedes Satzes ist Subject und Prädicat. Beides gehörig verbunden ist zwar ein wirklicher Satz, aber selten finden wir einen Satz in dieser Simplicität, sondern das Subject und das Prädicat, beide können ihre Nebenbestimmungen haben. Hierin liegt aber gleich eine erstaunende Mannigfaltigkeit, vorzüglich in dem Quantitativen der Bedeutung. Wenn man zum Substantiv als Subject ein Adjectiv fügt als Epitheton, so ist das nichts, als ein abgekürzter Satz, der in den andern hineingeschoben ist, zB. die feste Stadt ist eingenommen macht eigentlich 2 Sätze 1. die Stadt ist fest und 2. sie ist dennoch eingenommen. Soll nun das ausgedrückt werden, so hat das Wort seine schärfste Bedeutung. Oft aber soll so etwas nicht ganz scharf ausgedrückt werden und dann nimmt die Bedeutung ab und wird Verschönerung, entfernte Anspielung, ja oft bedeutungslos. Eben so hat das Prädicat auch seine Bestimmungen bei sich, mit denen es völlig dieselbe Bewandniß hat. Subject und Prädicat werden durch die Flexion verbunden. Was Erweiterung des Subjects ist und des Prädicats muß also aus der gleichen Flexion hervorgehen. Es giebt aber ein Sprachelement, das bloß in der Verbindung des Satzes existirt, das ist die Präposition, welche es durchaus mit der Verbindung der entfernten Elemente der Sätze mit den Hauptelementen zu thun hat. Eigentlich muß man sagen, alles was durch eine Präposition gebunden ist,
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ist an das Verbum gebunden und das Verbum ist dadurch näher bestimmt. Man sieht dies dadurch, daß eben die Präpositionen auch Bestandtheile des Verbi werden und überall, wo ein Substantiv von einer Präposition regiert wird, hängt diese am Verbo. Wir werden also sagen müssen: das Prädicat hat 2erlei Arten von nähern Bestimmungen bei [sich] 1. die welche es bekommen kann durch das Adverbium und beide verhalten sich wie das Adjectiv zum Substantiv, 2. die, welche dem Verbo seine Richtung giebt auf einen bestimmten Gegenstand, die Präposition und diese entspricht dem, was auf der Seite des Subjects durch die bloße Flexion ausgedrückt wird. Oft freilich vertritt die Präposition die Stelle der Flexion, dann könnte sie aber auch durch den bloßen Casus ausgedrückt werden, zB. der König von Preußen. Auf dieses alles müssen wir also unsere Aufmerksamkeit richten. Es kann nicht leicht vorkommen, daß man zweifelhaft sey, welches Adjectiv dem Substantiv und welches Adverbium dem Verbo zuzuschreiben sey. Aber die Verbindung, welche durch die Präposition vermittelt ist auf der Seite des Prädicats und welche durch die bloße Flexion vermittelt ist auf der Seite des Subjects, macht Schwierigkeit. Was für verschiedene Bedeutungen hat nicht der Genitiv? Dagegen bei den Präpositionen macht einem der Reichthum öfters sehr viel zu schaffen. Die reine Sprachkenntniß ist aber hier das Schwierige. Die Interpretation ist selten von großer Schwierigkeit, sondern durch das Materielle wird sie immer von selbst bestimmt. Weil aber die Schwierigkeit gewöhnlich im Beisatz liegt, so müssen die Haupttheile des Satzes erst bestimmt werden, nicht umgekehrt. Die Haupttermini des Satzes muß man nicht aus seinen Umgebungen, aus seinen Nebentheilen verstehen, sondern lieber aus dem ganzen Sprachgebiet, aber alles, was Nebensatz ist, wird aus dem Hauptsatz und muß aus ihm verstanden werden. Bei der Erklärung des Neuen Testaments tritt hier das Hebräische am meisten heraus, und aus der Analogie der hebräischen Formen, denen griechische entsprechen, müssen hier viele Ausdrücke verstanden werden. Folgendes Specielle ist nachzuholen über das Verständniß der Verbindung der Sätze, daß nemlich auch Sätze vorkommen, die gar nicht miteinander verbunden sind, die man asyndeta zu nennen pflegt, und wo man ganz an den Zusammenhang gewiesen ist, um zu wissen, wie sie sich verhalten. Es kommt dieses freilich auf die verschiedenste Weise vor. Bei unsrer Art zu schreiben, wo man nicht selten durch Ueberschriften die Theile des Werks sondert, da ist es natürlich, daß sie als Anfänge auftreten, wo die Verbindung dann überflüssig ist. Da ist nun die Verbindung nur auf scheinbare Weise aufgehoben, da sie eben durch die Ueber-
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schriften bestimmt ist. Dergleichen, was etwas schlechthin Modernes ist, findet sich bei den Alten nicht, aber es kann uns doch dienen als Analogie, Asyndeta zu verstehen. Es kann nemlich ein asyndeton nicht vorkommen, wenn der Schreibende nicht überzeugt ist, daß der Leser gar nicht irren kann. Daher finden sich asyndeta am meisten, wenn ein Satz aus dem vorhergehenden unmittelbar herausgenommen wird, theils auch wenn Sätze auf unmittelbare Weise aneinandergereiht werden. Nun noch einiges Allgemeine nachzuholen. Es ist schon früher gezeigt, wie sich die Möglichkeit des Irrens sehr häufig über das Quantitative zurückführen läßt und selbst, wo ein Zweifel entsteht darüber, ob eine Verbindung innerlich oder äußerlich gemeint sey, so läßt sich das auf dasselbe reduciren. Dieses Quantitative, weil es im beständigen Uebergange liegt ist schwer zu fixiren. Aber hier ist ein Punct, von dem wir auf die ganz andre Seite der Interpretation gehen müssen, weil hier erstaunlich viel ankommt auf die Beschaffenheit des Autors. Der Uebergang dazu ist freilich die Beschaffenheit des Werkes, das reicht aber nicht hin. Nemlich es giebt in demSchreibenden selbst eine große Differenz des Bewußtseyns über die Bestimmtheit der Verbindung. Man muß also erst ein Bewußtseyn davon haben, wie der Autor seine Gedanken ausgebildet hat und wie er sie zusammenreiht und verknüpft. Diese Beschaffenheit giebt sich oft schon in der Natur des Werkes selbst zu erkennen. Wenn dieses den Character einer wissenschaftlichen Strenge hat, so ist ja einer dessen nur fähig, der eine Klarheit in seinem Bewußtseyn hat, aber es kann in einer losern Form dasselbe vorkommen, und da ist es dann schwer zu bestimmen. Hab ich es erst fort, daß ein Werk auf strengen Zusammenhang Anspruch macht, da muß in dem Wichtigsten das maximum von Strenge der Verbindung seyn und wo das nicht ist, da weiß man denn gleich, daß es nur Nebensachen betrifft. In der losen Schreibart kommen aber öfters Zweifel über die Auflösung einer Verbindung und man bedarf dazu nothwendig der Kenntniß von der Beschaffenheit des Verfassers. Bei einem gewissen Mangel an Strenge in der Reflexion tritt eine Unbestimmtheit in die Verbindung der Gedanken selbst und dann kann man kein bestimmtes Resultat der Interpretation finden und es kann nichts herauskommen, als daß die Gedankenverbindung wirklich auf einen gewissen Grad unbestimmt ist. Wo nun diese Unbestimmtheit in der Verbindung selbst ist, da sind auch Unrichtigkeiten im Gebrauch der sich hierauf beziehenden Sprachtheile vorauszusetzen. Falsche Angewöhnungen überdies sind fast bei jedem. Dies trifft beim Neuen Testament alles 26 von] oder an
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ganz besonders zusammen. Die Form zuerst ist lose, denn selbst das Didactische hat den brieflichen Character, wo man, wie im Gespräch, oft vom Faden abgerissen wird. Mit dem historischen Theil ist es eben so. Nur vom Evangelio Johannis kann man sagen, daß ÐgewisserÑ Zusammenhang darin ist, alles übrige ist fragmentarisch mehr oder weniger. Zu der losen Form kommt nun noch die Beschaffenheit der Schriftsteller selbst, deren die meisten solche sind, denen man die Strenge in der Reflexion und also die Klarheit im Bewußtseyn der Verknüpfung absprechen muß. Sehen wir auf das Historische, so ist außer Johannes keiner darauf ausgegangen einen klaren historischen Zusammenhang für sich selbst auszubilden. Sehen wir auf das Didactische, so unterscheidet sich hier Paulus von den übrigen, wie Johannes von jenen. Wie aber wollen wir eine Verbindung suchen, wo sie nicht in dem Schriftsteller ist? Wir würden das nicht thun, wenn nicht der Zusammenhang wäre der Schrift mit unserer Dogmatik, wo es sehr oft auf den Zusammenhang ankommt und wir fragen müssen, welches bestimmte ist denn unbestimmt geworden durch die lose Schreibart. Nur durch die Lösung dieser schwierigen Aufgabe ist für die Dogmatik etwas zu gewinnen. Auf jedem andern Gebiet würden wir sagen: das ist nicht zu entwirren. Wir haben aber keine andern Hülfsmittel als die verzeichneten und wir müssen nun also nur unser Möglichstes thun, außerhalb seiner diese Hülfsmittel zu finden. Da sind sie aber nur 1. in der allgemeinen Kenntniß von einer gewissen Stufe der Geschichte im Denken und in der Sprache und 2. in der richtigen Schätzung des den Schriftsteller bewegenden Princips. Beide Gesichtspuncte muß man beständig vereinigen.
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Materielles Element der Sprache. Bestimmung des Gehaltes derjenigen Sprachelemente, die bestimmte Gedanken ausdrücken. Schleiermacher macht wieder aufmerksam auf die Relativität dieses Ge- 30 gensatzes und auf den Uebergang aus dem einen in den andern. Wir sehen darauf wenn es Aufgaben giebt, wovon man sagen kann, daß man den Sinn des Wortes finden soll, als auch daß man die Art und Weise der Verbindung bestimmen soll. Man sehe nur auf Zeitwörter im Griechischen, die verschiedenen Stämmen angehören und vergleiche damit die 35 verschiedenen Formen im Hebräischen, das Kal und Hiphil, so ist das
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schon ein Fall, wo man die Frage so und so fassen kann. Es ist doch nur eine Beugung, ob ein Verbum Kal sey oder Hiphil und es kann darauf ankommen, welche Beugung sey und also welche Verbindung. Dadurch aber entsteht auch die andre Aufgabe der verschiedenen Bedeutung, denn man kann eben so gut fragen, was bedeutet hier das Wort im Hiphil, als man fragen kann, wie ist hier der Hiphil gebraucht. Eben so im Griechischen kann man fragen: was heißt hier die Beugung av, ov, izv? Aber mit den verschiedenen Beugungen bekommt das Wort auch einen andern Sinn und so geht das formelle und materielle Element in einander über und es ist oft vortheilhafter die Aufgabe von der einen Seite zu fassen, als von der andern, je nachdem sich auf der einen oder der andern Seite ein bestimmtes Gebiet darstellt. Wir setzen nun das Formelle voraus, nehmen den ursprünglichen Satz an, der aus Subject und Prädicat besteht und suchen, nachdem die Verknüpfung beider vorausgesetzt wird, bloß die materielle Bedeutung. Da ist nun der ursprüngliche Canon: das Subject kann nichts heißen, was das Prädicat nicht duldet und so umgekehrt. Dies geht zurück auf die Subjectbegriffe und Prädicatbegriffe selbst und wir müssen in die Dialectik zurückgehen. Nemlich jeder Prädicatbegriff vertheilt sich in viele Subjectbegriffe, weil ein Prädicatbegriff ursprünglich eine Thätigkeit oder einen Zustand ausdrückt und jede Thätigkeit und jeder Zustand niemals aus dem Seyn und Wesen des Dinges, sondern immer nur mit aus dem Zusammenseyn hervorgeht und eben dieses Element in den verschiedensten Dingen dasselbe seyn kann. Nun haben wir gesehen, daß ein Wort eine unbestimmte Einheit ist. Jeder Prädicatbegriff ist also auch eine unbestimmte Einheit. Beschränkt wird er durch die Verbindung mit einem bestimmten Subject. Vollkommen wird er dadurch noch nicht bestimmt, es kann immer noch eine Wahl statt finden, weil dies nur eine negative Bestimmung, eine Ausschließung ist. Eben so ein Subjectbegriff. Das Wort, das ihn ausdrückt ist auch unbestimmte Einheit. Es wird näher bestimmt durch das beigesetzte Prädicat. Mehrere Gebrauchsweisen werden ausgeschlossen und es bleiben nur einige zur Wahl übrig. Aber Vollkommenheit der Bestimmung ist nicht da. Im Satz aber ist die Bestimmung der Sinne. Folglich muß im Ineinanderseyn von Subject und Prädicat der Sinn vollkommen seyn. Woher nun kommt uns die positive Bestimmung? Wir wollen zuerst nur wieder die Endpuncte ins Auge fassen in Beziehung auf die völlige Bestimmtheit des Subjects und Prädicats durch einander. Wo die völlige Bestimmtheit ein maximum ist, so daß ein Prädicatbegriff in Verbindung mit einem Subject nur eine Bedeutung haben kann und umgekehrt, da haben wir eine Phrase, ein völlig Einsge-
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wordenseyn von aufeinander bezogenem Subject und Prädicatbegriff. Darum ist solcher Satz aber auch ein vollkommen Einzelner zB. consulem creare. Hier hat creare einen vollkommen bestimmten Sinn, consul ebenfalls. Wenn der König von Preußen einen Handelsconsul ernennt, so kann man nicht sagen consulem creavit, denn in creare liegt die bestimmte Handlung mit einem bestimmten und in consul liegt der nur auf diese Weise consul gewordene. Je mehr gegenseitige Bestimmtheit ist, desto mehr Annäherung an die Phrase, je mehr verschiedene Verbindungen möglich sind, desto mehr ist Entfernung von der Phrase, aber wenn da ein Cyclus statt findet, so wissen wir auch schon die Differenz, wenn dem Subject am liebsten dies oder jenes Prädicat und umgekehrt beigelegt wird. Wir haben also hier einen sich in der Mannigfaltigkeit bestimmt schematisirenden Sprachgebrauch. Je mehr aber eine Verbindung von Subject und Prädicat von der Bestimmtheit eines herrschenden Sprachgebrauchs herausgeht um so mehr ist alsdann der Satz ein Einfall, etwas was vielleicht nicht gerade so wieder kommt, ein unicum seyn kann. Aber um desto schwieriger wird dann auch die Interpretation an und für sich, wenn wir auf nichts, als auf Subject und Prädicat sehen. Aber der Satz braucht deßhalb nicht unbestimmt zu seyn, weil die Sicherheit aus andern Momenten kommen kann. Bei Phrasen aber brauchen wir zum Verstehen keiner fremden Momente. Wir werden aber noch einen andern Gegensatz zur Phrase finden, wenn wir darauf sehen, wie die Phrase ein schlechthin einzelner und in dieser Einzelheit völlig bestimmter Satz ist. Nemlich wenn man eine Gnome oder auch ein Sprichwort betrachtet, so bestehen diese auch aus einer einfachen Verbindung von Subject und Prädicat oder aus einer Gegenübersetzung zweier solcher Verbindungen. Aber der Satz ist bloß ein allgemeiner und bleibt also immer etwas unbestimmtes. Seine Bestimmtheit bekommt er nur in der Anwendung. Wie jede Phrase, so auch jede Gnome und jedes Sprichwort nur e i n Wort, aber es ist ein unbestimmtes. So wie also von der einen Seite der Gegensatz ist das nothwendige und willkürliche ÐVerbindenÑ und in der Mitte die Mannigfaltigkeit des sich bestimmt ordnenden Sprachgebrauchs, so ist auf der andern Seite der Gegensatz zwischen einem völlig bestimmten und einem völlig unbestimmten Satze, so daß die näheren Bestimmungen nicht in ihnen selbst liegen. Nach diesen verschiednen Gegensätzen werden wir uns die Mittel der näheren Bestimmung verschieden construiren müssen. Je mehr sich der Satz der Phrase nähert, desto mehr kann er nur auf geschichtliche Weise verstanden werden, weil er reine Einzelheit ist als Satz. Je mehr ein Satz ein Einfall ist, um desto mehr wird er auch Bestimmungsmittel in sich selbst tragen müssen, er wird nicht schlichte Verei-
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nigung von Subject und Prädicat seyn, sondern je weniger beide verwandt sind, desto mehr müssen sie vermittelt seyn durch nähere Bestimmungen des Prädicats und des Subjects. Je mehr aber ein Satz sich auf der andern Seite vom schlechthin Einzelnen entfernt und ein allgemeiner ist, um desto mehr kann er dann nur verstanden werden durch solche Bestimmungsmittel, welche außerhalb des Satzes liegen, indem man dasjenige in Betracht zieht, worauf er hier bezogen ist, er ist also dann nur Prädicat. Wir haben also auf 2erlei die Aufmerksamkeit zu richten 1. auf solche, welche die Hülfsmittel zum Verstehen ihrer Elemente in sich tragen 2. auf solche, welche sie außer sich tragen. Alle Elemente, welche in einem Satz noch vorkommen können sind entweder des Subjects selbst, oder des Prädicats selbst, oder der Art, wie beide aufeinander bezogen werden. Letztere gehören ins formelle Gebiet, in die Präpositionen. Hier haben wir es also nur zu thun mit den näheren Bestimmungen des Subjects und Prädicats selbst. Wir können aber nichts thun, als jenen Canon hier anwenden, daß das Prädicat nur so verstanden werden darf, wie es nicht mit dem Subject in Wiederspruch steht und umgekehrt. Wir dürfen ihn nur erweitern und sagen, unter Subject ist das Subject mit allen seinen näheren Bestimmungen, unter Prädicat das Prädicat mit allen seinen näheren Bestimmungen zu verstehen. Alles was dem Subject und Prädicat nemlich beigefügt ist, ist immer nur nähere Bestimmung beider. Wenn ein Subject ein Beiwort hat von allen möglichen, so soll doch das Subject so betrachtet werden, wie die Bestimmung, die durch das Beiwort gegeben wird, ÐdominirteÑ denn man muß sich doch einen Zweck denken bei jedem, was der ursprünglichen Einfachheit hinzugefügt wird. Dieser Zweck kann oft als Null erscheinen. Oft wird man ÐsolemniterÑ dem Subject dieses oder jenes Beiwort beilegen. Dadurch wird das Subject schon ein mehr einzelnes. Dies muß aber auch in Verbindung stehen mit dem Prädicat. Ist also das eine deutlicher, so verstehe ich dadurch das andre und umgekehrt. Nicht allemal aber werden solche näheren Bestimmungen nothwendig seyn. Manchmal werden sie nur zur Fülle der Rede gehören, aber man will doch da auch die näheren Bestimmungen nur hernehmen aus derjenigen Sphäre des Subjects und des Prädicats, wo dem Subject dies Prädicat, diesem Prädicat jenes Subject zukommt. Ist das noch unbestimmt, so wird die Bestimmtheit durch nähere Bestimmungen klar gemacht werden. Man muß also wohl Acht haben auf die Abstufungen des Nothwendigen und des Schmucks der Beifügung und gerade darin wird der verschiedene Ton bestehen, daß dies oder jenes vorherrsche. Durch 11 des] oder dieses
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den allgemeinen Zusammenhang aber können die näheren Bestimmungen eines Satzes nur classificirt werden. Ueberall wird man sagen müssen, daß Subject und Prädicat mit allen ihren Bestimmungen eine eigentliche Zusammensetzung bilden, wo man das Einzelne ordnet nach Maaßgabe des allgemeinen Zusammenhanges. Je mehr Nebenbestimmungen in einem Satz, desto verständlicher. Wo sie gänzlich fehlen, am meisten Unbestimmtheit. Es mögen aber viele oder wenige seyn, so muß immer der allgemeine Zusammenhang klar seyn, denn sind keine Nebenbestimmungen, so muß man gewiß aus dem allgemeinen Zusammenhange verstehen, sind sehr viele, so können wir sie nur aus dem allgemeinen Zusammenhange ordnen. Eine völlige Bestimmtheit wird aber nicht herauskommen. Man muß sich also noch nach andern Hülfsmitteln umsehen. Das sind die indirecten. Diese aber müssen mit den Verbindungen des Subjects, oder des Prädicats oder der Verbindung beider in solchem Verhältniß stehen, daß man daraus den Satz verstehen kann. Welche sind diese nun. Vorher aber Anwendung des vorigen aufs Neue Testament. Diese Aufgabe ist für die NeuTestamentliche Exegese von besonders großer Wichtigkeit, indem hier gar vieles zusammenkommt, die Interpretation zu erschweren. Schleiermacher hat schon früher erwähnt, wie die Religion im Menschen besonders als sprachbildendes Element auftritt und indem sich neue Vorstellungen erzeugen nicht sowol neue Wörter gemacht als alte in neuer Bedeutung genommen werden, so daß die Sprachkenntniß hier gar nicht so hinreicht, wie bei andern Dingen, die schon in der ÐMitteÑ einer Welt und Weltansicht liegen. Die Interpretation des Neuen Testaments ist beständig noch im Werden. Sieht man zB. auf pistiw, agaph, elpiw u.s.w., so sind das Wörter, die auch sonst vorkommen. Hier aber in einem ganz andern Sinne, welchen zu finden wir freilich einen Führer haben an unserm religieusen Bewußtseyn, aber das gehört nicht zur Interpretation, denn das religieuse Bewußtseyn hat sich nur fortgepflanzt durch die Rede, also muß man immer fragen, ob es auch richtig fortgepflanzt ist. Die besondere Dignität, die dem Stifter des Christenthums zugeschrieben wird, ist auch sehr schwierig. Alles kommt zuletzt auf das Neue Testament hinaus. Wir haben keinen Grund sie zu behaupten und keinen andern Stützpunct dafür als die Interpretation. Als Dogma wird dies nun nicht in der Schrift behandelt. Man muß also die ganze Lehre schöpfen aus den Prädicaten, die Christus beigelegt werden.
9–10 verstehen] bestehen 25–27 1. Korintherbrief 13, 13; 1. Thessalonicherbrief 1, 3.
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Es fragt sich aber, ob diese Wörter, die auch schon sonst vorkommen, so oder anders zu verstehen sind. Umgekehrt giebt es auch Fälle, wo die Schwierigkeit im Subject liegt. Es ist darüber gestritten, ob der Teufel eine christliche Idee sey oder nicht und ob im Neuen Testament von ihm als von einem wirklichen Wesen geredet sey. Wenn man dies nicht a priori entscheiden will, so hat man nichts als die Interpretation. Nun aber kommt der Teufel vor im Neuen Testament. Woran also können wir erkennen, daß von ihm als von einem bestimmten Wesen, das ein religieuses Bewußtseyn constituirt die Rede sey? Nur aus den Prädicaten. Die Bestimmung der einzelnen Sprachelemente ist also von der größten Wichtigkeit. Das giebt aber der allgemeine Zusammenhang und wir müssen deßhalb den ganzen Complexus der Erklärungsmittel umfassen. Nun nehmen wir jene Frage wieder auf: was giebt es als Ergänzung für dasjenige was im unmittelbaren Zusammenhange mangelt? Offenbar können wir nur auf das ÐzählenÑ, was in einem bestimmten und unmittelbaren Zusammenhange steht mit dem gegebenen Sprachelement. Nun giebt es kein andres Verhältniß als Identität und Gegensatz, ich muß also für das Sprachelement, das ich aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Rede nicht verstehen kann, entweder die Identität oder den Gegensatz suchen. Man muß andre Stellen suchen, wo das Subject eben so mit denselben Prädicaten oder mit neuen vorkommt. Das ist aber auch deutlich, daß Gegensätze sich erläutern. Dieser Fall kann aber nur selten eintreten; denn wenn ich A verstehe, B nicht, so kann ich ÐeinmalÑ aus dem Zusammenhange sehen, daß ein Gegensatz da ist, aber A und B verstehe ich daraus noch nicht. Aber vorzüglich auf mittelbare Art ist der Gegensatz ein sehr fruchtbares Erklärungsmittel, nemlich wenn ich ÐeinmalÑ A und B verstehe als Gegensatz, und verstehe das Prädicat von A, aber nicht das von B, so werde ich letzteres aus ersterem verstehen können. Eben so wenn an verschiedenen Orten ein Subject sich selbst entgegengesetzt wird, indem es in seiner Verbindung betrachtet wird und ÐwennÑ ihm in Beziehung auf den einen Punct des Gegensatzes das eine Prädicat, in Beziehung auf den andern Punct des Gegensatzes das andre Prädicat beigelegt ist, so kann eben daraus das Subject verstanden werden. Eben so ist es mit einem Prädicat, das sich auf einen Gegensatz von Subjecten bezieht. So ist der Gegensatz ein weit reicheres Interpretationsmittel, als die Identität. Der Gegensatz muß aber in seiner ganzen Schärfe gefaßt werden, oder noch richtiger, ich muß den Gegensatz nur in derselben Schärfe auffassen, als der Schriftsteller selbst. Es kommt also alles darauf an, wie richtig ich den Gegensatz aufgefaßt habe. Jede Differenz ist auf einen Gegensatz zurückzuführen, was aber in der Rede nicht allemal geschieht,
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sondern oft spricht man von Differenzen, wo in der Form gar kein Gegensatz heraustritt. Darauf hat man sehr zu achten. Je mehr eine Rede alles vollkommen auf Gegensätze zurückführt, desto strenger ist sie und dialectischer. Je loser aber ihre Form ist, desto mehr verbirgt sich der Gegensatz und die Differenzen werden bloß aneinandergereiht. Hier kann man dann aus den Differenzen weniger verstehen, man müßte denn erst vollkommen eingesehen haben, wie in der Rede die Differenzen genommen sind. Wenden wir dies auch gleich auf das Neue Testament an, so werden wir sagen müssen: es ist überhaupt schon der ganzen antiken Form der Rede schärfere Entgegensetzung mehr eigen, als uns. Im Griechischen hängt das zusammen mit dem größeren Reichthum der Partikeln. Im Hebräischen begünstigt dies der Parallelismus. Er führt freilich an und für sich mehr auf Identität, aber die Ausdeutung desselbigen auf verschiedene Weise bringt doch immer auf den Gegensatz. Dagegen ist im Neuen Testament die Form eigentlich immer etwas loses in den historischen, wie in den didactischen Büchern und da verlieren wir wieder, was wir auf der andern Seite gewonnen haben. Schwierig ist also die Anwendung dieser Regel auf das Gebiet des Neuen Testaments, aber nothwendig. Es kommt nur auf die richtige Bestimmung der Gegensätze an. Wie kommt man auf diese? Diese Frage führt wieder auf Identität und Gegensatz. Es kommt auf richtige Berechnung an, und diese beruht auf der richtigen Beurtheilung der Art, wie die gesonderten Stellen in der Rede im Verfasser ÐsichÑ auf einander bezogen haben. Denn wenn ich eine Stelle für verwandt erkläre mit einer andern, ohne daß der Verfasser dies gewollt hat, so muß ich unrichtig interpretiren. Der andre Punct der Berechnung beruht darauf, daß ich mir auch die Form des Gegensatzes nicht loser und nicht strenger denke, als der Verfasser. Es kommt also alles wieder an auf die Nachconstruction. Hier kommen wir nun auf die große und wichtige Lehre von den Parallelstellen. Wir müssen auf die ersten Principien zurückgehen, daß die Interpretation auf Sprachkenntniß beruht, die Sprachkenntniß aber wieder kommt durch die Interpretation. Es fragt sich also, wie letzteres geschehe? und das ist die rechte Theorie von den Parallelstellen. Hier kommt es aber nicht bloß auf die absolute Identität an, sondern auch auf den Gegensatz und darum auch alles, was dazwischen liegt. Wo sind denn nun die Parallelstellen zu suchen? Ob die Erklärung aus dem Gegensatz oder aus der Identität kommt ist gleich, denn jeder Gegensatz beruht doch auf einer Identität und die Principien für beide Erklärungsarten müssen dasselbe seyn. Wir gehen aus von dem, was wir
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eben voraussetzen als nicht genügend, nemlich vom unmittelbaren Zusammenhange. Dabei hatten wir immer den einfachen Satz im Sinne, denn wir waren nur ausgegangen vom Zusammenhange des Subjects und des Prädicats. Wenn wir also den Fall voraussetzen, daß der unmittelbare Zusammenhang nicht entscheidet, so meinen wir den unmittelbaren Zusammenhang im Satz. Nun tritt es oft ein, daß dasselbe Subject durch mehrere Sätze geht. Da ist also auch noch der unmittelbare Zusammenhang, und das ist nur immer etwas zufälliges, da es Formen giebt, wodurch alles dies hätte in einen Satz gebracht werden können. Der nächste Fall ist nun dieser: wir denken uns in derselben Rede den Zusammenhang unterbrochen, aber nun denselben Gegenstand zurückkehrend. Haben wir nun auch ein Recht, dies anzuschließen an den unmittelbaren Zusammenhang? Hier ist der Fall schon nicht mehr derselbe. Wenn der Gegenstand, der nach einer Unterbrechung zurückkehrt im ganzen Zusammenhang der Rede wesentlich ist, die Unterbrechung selbst nur Abschweifung, dann kann durch sie der wiederkehrende Gegenstand nicht alterirt und verschoben seyn. Wenn aber das Wiederkehrende Nebensache, die Unterbrechung der Rede wesentlich, dann werde ich das Folgende nicht können an und für sich als identisch mit dem vorigen ansehen, weil es auch an sich an der früheren Stelle nur ein Nebengedanke war. Je mehr der Character der Unterbrechung also hervorragt, desto weniger erkenne ich den Zusammenhang als ununterbrochen an. Nun tritt eine andre Beurtheilung ein. Woran erkenne ich nun, ob ein Subject und Prädicat noch dasselbe sey? Hier bleibt kein andres Mittel als das der Analogie. Daher die Aehnlichkeit in den Verhältnissen. Je mehr diese Statt findet, desto mehr Recht hat man, die Stelle eben so zu verstehen, je weniger, desto weniger. Wir haben nun angesehen das Wiederkehren des Analogen nach einer Unterbrechung. Diese können wir uns nun vergrößern, wie wir wollen, nur im Zusammenhang derselben Rede geblieben. Sobald mir ein Gedanke wiederkommt, wo mir ein Wort oder das entgegengesetzte unter demselben Verhältniß vorkommt, so erkläre ich es für identisch. Nun fragt sich: sollen wir an den Zusammenhang einer und derselben Rede gebunden seyn? Wir müssen nothwendig weiter gehen, denn die Sprachkenntniß überhaupt kann gar nicht verlangt werden, wenn man nicht über den Zusammenhang derselben Rede und Schrift hinausgeht. Hier gilt nur die Regel: je größer die Unterbrechung, desto ÐwahrerÑ muß die Analogie heraustreten. Dürfen wir nun auch über die Identität des Verfassers hinausgehen? Ja, aber nur indem diese beiden selbst wieder als identisch gesetzt werden können in einer Beziehung, die für den vorliegenden Fall
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hinreicht. Je mehr ein Wort in die Reihe des Werks eigenthümlich gehört, desto mehr muß es aus dem Werk heraus selbst klar ÐwerdenÑ. Es kann das Hinausgehn also nur erfordert werden in dem Maaß, als das Schwierige im Nebengedanken liegt. Wie fern können nun 2 Menschen in Beziehung auf die Nebengedanken für identisch erklärt werden? Ein Nebengedanke hängt an einem Hauptgedanken. Je mehr ich nun das Verhältniß beider als nicht subjectives ansehen darf, sondern als solches, das eine gewisse Objectivität hat, so kann ich auch hierin 2 Menschen gleich setzen. Je mehr die Beziehung eine subjective ist, desto mehr muß ich mich hüten, und desto schwieriger wird mir der Parallelismus seyn. Von der andern Seite, wenn nun die Schwierigkeit den Hauptgedanken betrifft, so müssen schon gewaltige Schwierigkeiten seyn, wenn man über das Werk selbst hinausgehn will. Dies könnte seyn, wenn eine Schrift auf jede Weise formlos gebildet ist, so daß man sie nicht recht nachconstruiren kann, oder wenn sie ihrem Inhalte nach schwierig zu beurtheilen, wo die Sprache sich noch nicht dem Gegenstand angepaßt hat, sondern wo der Gegenstand erst die Sprache fixiren muß. Da kann es nun kommen, daß derselbe Gedanke ausgedrückt wird durch verschiedene Worte, was aber wieder ausgeglichen wird dadurch, daß er doch immer denselben Gedanken von einer andern Seite darstellen will. Dann kann auch der Gebrauch des Wortes nicht recht klar seyn in Beziehung auf den neuen Gegenstand. Da wird man nun auf andres hinausgetrieben, aber nicht ins Blaue hinein, sondern zunächst auf spätere Werke desselben Schriftstellers. Ueber die Werke desselben Schriftstellers kommen wir hinaus, wenn dieselbe Denkungsweise in Beziehung auf dieselben Gegenstände im andern ist, wenn er zB. zu seiner philosophischen Schule gehört. Eine gewisse Begrenzung tritt hier allerdings ein, denn es sind immer noch Differenzen. Aber sie werden nicht leicht vorkommen, ohne daß sie sich bestimmt aussprechen. Man muß aber die Parallelstellen auch immer in ihrem Zusammenhange betrachten. Dies setzt also die ganze Litteraturkenntniß des ganzen Gebiets voraus. Darum ist es wünschenswerth, daß man hiebei nicht allein arbeitet, sondern andre einem in die Hände arbeiten durch Zusammenstellung der Parallelstellen. Solche Hülfsmittel sind auch überall aufgestellt, wo man die Interpretation ins Große hinein betrieben hat. Man muß aber wissen, wie fern man sich auf jeden verlassen kann. Sonst muß man selbst zurückgehen. Der Hülfsmittel sind verschiedene, 1. allgemeine 2. besondre. Erstere sind lexicalische, die andern diejenigen, die sich auf Erklärung einer bestimmten Schrift selbst beziehen. Es ist dies kein bestimmter Gegensatz, da es auch Lexica über einzelne Schriften und Schriftsteller giebt. Aber es
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ist doch ein verschiedener Character. Die Lexica wollen doch immer den Beitrag liefern zum ganzen Umfang der Sprache und nicht einzelne Stellen erklären. Man muß aber die Lexica auch gebrauchen zur Aufsuchung von Parallelstellen. Man schlägt das Lexicon auf, wo man mit der gewöhnlichen Bedeutung nicht auskommt. Man will sich dadurch überzeugen, ob die Gebrauchsweise, die man aus dem Zusammenhange divinirt von Wörterbüchern so aufgefaßt ist und ob es andre Beispiele dazu giebt. Diese Beispiele sind Parallelstellen. Es ist freilich wahr, daß die meisten Wörterbücher in dieser Hinsicht noch sehr unvollkommen eingerichtet sind. Für die lateinische Sprache sind solche Hülfsmittel. Das Geßnersche und von Facciolati sind schon ganz verständig. Im Griechischen ist nur der Commentar über die griechische Sprache von Buddeus und der Thesaurus von Stephanus. Alle andern, selbst Schneider sind sehr unvollkommen. Man muß also die mehr individuellen Hülfsmittel dazu nehmen, die exegetischen Beiträge, die gelehrte Leser gegeben haben, entweder ÐeigeneÑ Construction und Deduction des Sinnes oder Verweisung auf Parallelstellen. Man muß sich nun nur vorsehen, daß diese Hülfsmittel nicht fehlerhaft sind. Man muß sie prüfen, ob sie richtig sind. Jede angeführte Stelle muß man in ihrem Zusammenhange nachsehen. Wir wenden dies aufs Neue Testament an. Wenn man über das einzelne Werk hinausgehen kann, wie ist es mit dem Neuen Testament? Ist es eins oder vieles? und wenn ich aus einer NeuTestamentlichen Schrift herausgehe, um in einer andern NeuTestamentlichen Schrift die Erklärung zu suchen, bin ich in demselben Werke geblieben? Jede rein philologische Betrachtung der Sache muß sagen, ich bin alsdann in ein andres Werk gegangen. Aber nun kommt eine dogmatische dazu, die ein ganz anderes Resultat geben will. Es ist die, welche sagt, der heilige Geist hat sie geschrieben, woher sie, wenn gleich verschieden, doch in demselben Zusammenhange sind. Man kann weiter gehen in dieser Ansicht; denn wenn man sagt, daß diese ÐverschiedenenÑ schon von Anfang an vom heiligen Geist bestimmt gewesen sind, eins zu werden, müssen sie auch als eins angesehen werden und jede einzelne Schrift nur als andrer Abschnitt, von einer andern Person geschrieben, angesehen werden. Das ist die höchste Spitze der dogmatischen Ansicht. Wir müssen nun zwischen beiden Ansichten entscheiden. Wir müssen aber erst sehen, wie sich denn beide verhalten. Wir bleiben bei der philologisch natürlichen Betrachtung ste11–14 Der französische Philologe, Humanist, Diplomat und Bibliothekar Guillaume Bude´ (Guglielmus Budaeus, 1468–1540), Begründer der altgriechischen Lexikographie, publizierte seine ,Commentarii linguae graecae‘ 1529. Der Drucker und Verleger Robert Estienne, (latinisiert Robertus Stephanus, 1499– 1559) konnte seinen ,Thesaurus graecae linguae‘ nicht vollenden; erst sein Sohn Henri Estienne (Henricus Stephanus) hat ihn 1572 publiziert (SB 627).
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hen und sehen, wie weit wir kommen, wenn wir jede als eine einzelne ansehen, aber doch wieder als zusammengehörig. Wir haben unterschieden solche Elemente, die wesentlich in den Zusammenhang der Schrift gehörig und solche, die nur als Nebensachen dastehen. In Beziehung auf das erste hatten wir gesagt, daß wir in andere Schriften desselben Verfassers in derselben Gedankenreihe hinübergehen könnten, Ferner daß wir auch könnten ganz aus den Werken desselben Verfassers hinausgehen und die Erklärungsmittel suchen in den Werken andrer, welche dieselben Gegenstände und zwar nach derselben Ansicht behandelt haben. Das geht bloß darauf hinaus, daß nun auf diese Weise und in dieser Begrenzung verschiedene Schriften in einem höhern Sinne doch ein Ganzes ausmachen können. Dieses Ganze erscheint nicht als Einheit in den von einander ganz unabhängigen Werken, oder in der Sprache, die sich von jeder andern unterscheidet. Sehen wir auf die Nebensachen, so kann man dafür aus allen Schriften Erklärungshülfsmittel suchen, sofern sie als eines angesehen werden können in Beziehung auf eine gewisse Gewöhnung der Gedanken und Wortverbindung. Dies nun aufs Neue Testament angewandt, wie stehen die NeuTestamentlichen Schriftsteller zu einander? Die dogmatische Ansicht sieht bloß auf den religieusen Inhalt. Wo wir einen Verfasser haben im Neuen Testament, da müssen wir doch sagen, daß alle Schriften von ihm in derselben Gedankenreihe sind. Die Schriften des Lucas sind historisch und die eine ist Fortsetzung der andern. Paulus ist bloß didactisch. Johannes ist freilich historisch, und didactisch und Werke verschiedener Gattung können nicht als eines angesehen werden auf dieselbige Weise. Aber hier ist die Sache schon anders, denn das Evangelium ist freilich eine Geschichte, aber eine Geschichte des Lehrens Christi. Das Didactische tritt also auch sehr hervor. Ferner der erste Brief des Johannes ist zwar didactisch aber doch nur in Beziehung auf die Geschichte des Lehrens Christi. Also kann man aus dem einen für das andre Erklärungsmittel hernehmen. In sofern sind wir also schon sichergestellt und wir können diese unbedingt als eins ansehen. Dadurch sind wir freilich der dogmatischen Ansicht nur um ein weniges näher gerückt, die alle als gleich setzen will. Nach unsern Principien ist hier allerdings eine Identität der Ansicht und der Schule in einem gewissen Sinne in den Verfassern. Sie sind von demselben Impetus getrieben und der ist eben der göttliche Geist, den die dogmatische Ansicht auf eine andre Weise als Verfasser ansieht. Nun stehen also die philologische und die dogmatische Ansicht gar nicht mehr weit auseinander. Aber wir müssen uns hüten, sie deßhalb nicht ganz zu identificiren, der Folgerungen wegen, die gezogen werden können. Diese Folgerungen nemlich werden dann erst klar, wenn
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man den heiligen Geist als bestimmte Person aufführen will, die auch ihren eigenthümlichen Character hat, denn dann entstehen Zumuthungen, welche die philologische Behandlung ganz von der Hand weist. Nemlich wenn wir auch gelten lassen, daß in den NeuTestamentlichen Schriftstellern solche Verwandschaft sey, wie die Identität der Schule und des Gegenstands es mit sich bringt, so bleibt doch jeder Verfasser eine eigne Person, und wir können also jenes nur ausdehnen auf die Hauptgedanken. Was die Nebengedanken betrifft, so kann und muß jeder dieser Verfasser seine eigne Art und Weise und seine Gewöhnung gehabt haben und darin kann man sie gar nicht als eins ansehen. Die philologische Ansicht läßt sich also der dogmatischen nur nahe rücken in Beziehung auf die unmittelbaren religieusen Ansichten. Will man die dogmatische Ansicht auch auf andre Dinge bringen, so entsteht Verwirrung. zB. In mehreren NeuTestamentlichen Hermeneutiken, zB. der Rambachschen, ist der Canon, daß man im Neuen Testament nur im höchsten Nothfall eine sogenannte bildliche Bedeutung der Worte annehmen müsse. Dasselbe müßte aus der Gleichsetzung für das Alte Testament gelten. Was hat denn nun das für einen Grund? Warum soll hier das Minimum seyn? Die Verfasser sind doch verschiedene gewesen, kann nicht der Ausdruck des einen mehr dialectisch, der des andern mehr poetisch gewesen seyn? Diese Verschiedenheit liegt ja zu Tage. Ist nun der heilige Geist der Verfasser, so hat er das Alte und das Neue Testament geschrieben, den Brief an die Römer so gut als die Offenbarung Johannes. Soll nun darin ein gleiches Maaß von bildlichem Ausdruck seyn? Das kommt daher, daß man den heiligen Geist als eine Person gedacht hat. Man hat gefunden, der bildliche Ausdruck hat etwas Sinnliches, das kann man dem heiligen Geist nicht zuschreiben, er wird sich also der sinnlichen Mittel nur da bedient haben, wo er der Absicht des Belehrens wegen es mußte. Daraus ist der Rambachsche Canon, den wir nicht annehmen können. Wir sehen aber, welcher Grad von ÐVerbindungÑ dazu gehört haben muß, diesen Canon aufzunehmen. Der Unterschied wird also immer bleiben zwischen der philologischen Ansicht, die alle Schriftsteller als verschieden setzt nur als einig in der religieusen Ansicht, und zwischen der dogmatischen Ansicht, die die Persönlichkeit der Schriftsteller vernichten will. Wir sehen noch einmal auf die Annäherung beider Ansichten. In einem Schriftsteller ist alles was dem religieusen Inhalt angehört, so zu verstehen, wie es die Analogie des Glaubens mit sich bringt, d. h. alle Aeußerungen in andern Gegenden der NeuTestamentlichen Schriften die sich 14 Johann Jacob Rambach: ,Institutiones hermeneuticae sacrae‘, Jena 1723 (SB 1556); editio quarta, Jena 1732.
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auf denselben Gegenstand beziehen, stimmen mit der gegebenen Stelle zusammen und die gegebene Erklärung muß nichts in sich enthalten, was mit anderweitigen Erklärungen über andre Gegenstände der Lehre in Widerspruch stände. Dieses beides ist die dogmatische analogia fidei. Man könnte ein drittes hinzufügen: ein jeder Punct muß so erklärt werden, wie er zusammenstimmt mit dem Complexus der Lehre aus dem Neuen Testament zusammengestellt und sich darauf beziehend. Dann treten also außer den NeuTestamentlichen Schriftstellern noch andre Personen auf, die die Zusammenstellung gemacht haben. Den Canon der analogia fidei werden wir also zu prüfen haben als Resultat der dogmatischen Ansicht mit dem Resultat der philologischen Ansicht. Letztere geht davon aus, daß die NeuTestamentlichen Schriftsteller allerdings in der Identität der Ansicht und der Schule sind. Sie sind alle vom Geist des Christenthums durchdrungen und wollen ihn darstellen und verbreiten. Da dies durch Gedanken geschieht, wodurch religieuse Vorstellungen fixirt werden, so müssen wir dies von der Belehrung Christi ableiten. Das ist die Identität der Schulen, wie jenes die der Gesinnung. Folgt daraus nun jenes, was durch die analogia fidei gemeint ist? Wenn die dogmatische Ansicht die Verfasser des Neuen Testaments bloß zu Maschinen macht, so sind beide Ansichten nicht zu vermitteln und das Neue Testament ist dann von allen verständlichen Productionen ausgeschlossen. Wenn wir einen Schriftsteller haben, so können wir ihn erklären aus andern bei schwierigen Stellen. Wenn nun der heilige Geist allein die Schrift geschrieben hätte und diese etwas ganz verschiedenes wäre, so gäbe es kein Hülfsmittel für die Erklärung. Die dogmatische Ansicht so gefaßt ist mit sich selbst in Widerspruch, denn wenn der heilige Geist als Person der Urheber der heiligen Schrift kann geworden seyn, so muß man ihn völlig zum Menschen machen, weil in der Schrift ein beständiger Wechsel menschlicher Zustände ist, wie der 1te und 2te Brief an die Corinther einen Wechsel haben von Freude und Schmerz und diesen Wechsel im 2ten Brief an den Timotheus innerhalb desselben Briefs. Wenn wir also dem heiligen Geist den Wechsel menschlicher Zustände zuschreiben, so machen wir ihn rein zum Endlichen. Eben so, wenn er der Verfasser ist, so muß auch der Gedankenwechsel seyn. Ist dieses beides aber, so bleibt die philologische Erklärung, denn das ist eben die Eigenthümlichkeit des Verfassers der Wechsel der Zustände und die Reihe der Gedanken. Das Religieuse ist das allen Identische. Es ist also 2erlei, worauf sich die Interpretation des Neuen Testaments beziehen muß 1. eben die gemeinsame Abhängigkeit der Schriftsteller von diesem treibenden bewegenden Princip, das in allen dasselbe ist und alsdann 2.
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ihre individuelle Bildung. Wenn die dogmatische Ansicht die individuelle Bildung und ihre Thätigkeit leugnen will, so muß man sie fahren lassen. Wenn die philologische Ansicht neben der individuellen Bildung die Identität des treibenden Princips nicht anerkennen will, wenn sie einen Widerspruch als möglich annimmt in dem, was das Religieuse ist, so ist das ihre Extravaganz. Die religieusen Ansichten der Apostel hingen von Christus ab und die Verklärung desselben durch den heiligen Geist hat sie in der Einheit derselben erhalten. Das kann man auch ansehen als hervorgegangen aus der Einheit der Schule. Hier kommen also beide Ansichten zusammen. Kommen sie nicht zusammen, so hat jede etwas in sich, was nicht zu rechtfertigen ist. Die dogmatische Extravaganz hebt alle Erklärung auf und die philologische Extravaganz hebt alles Interesse am Religieusen in der Schrift auf. Sie will alles erklären aus einem Früheren, das vor Christus da gewesen ist. Die philologische Ansicht auf diesem Punct, vernichtet Christum, es wird dann von ihm bloß erzählt im Neuen Testament, nicht ist er der Mittelpunct und er muß dann eben so erklärt werden, wie die Apostel, d. h. aus dem früheren. Beide Extravaganzen sind gleich falsch. Also dieses soll die philologische Ansicht nicht thun, sie soll die gemeinschaftliche Abhängigkeit der Schriftsteller des Neuen Testaments von Christo anerkennen und die dogmatische Ansicht soll die individuelle Bildung derselben anerkennen. Ist nun noch eine Differenz zwischen beiden? Ja in der Unterordnung ist noch eine möglich. Man kann die individuelle Bildung oder die gemeinschaftliche Abhängigkeit oben anstellen und dann immer das andre Glied als untergeordnet. Was ist hier das Rechte? Es kommt rein auf die Frage an: was sind die NeuTestamentlichen Schriftsteller gewesen, ehe sie in die bildende Hand Christi und des heiligen Geistes gekommen sind und wenn wir nun sagen müssen, sie haben vorher keine individuelle religieuse Bildung gehabt, sondern ihre ganze religieuse Dignität hatte nur einen universellen Character, so muß der Character Christi erst Bildungsprincip ihres individuellen Characters geworden seyn. Dies ist aber auch die philologische Ansicht, denn diese erkennt die Spuren des Mangels ihrer individuellen Bildung auch in ihren Schriften selbst, wie in mehreren derselben die Identität eines rÐ Ñhen Sprachgebiets das dominirende, persönliche Eigenthümlichkeit das Zurücktretende ist. Wir können aber in dieser Hinsicht nicht alle NeuTestamentlichen Schriftsteller in eine Klasse stellen. Die Verfasser der catholischen Briefe und der 3 Evangelien sind mehr in der Masse; Johannes und Paulus treten eigenthümlicher hervor, Paulus auf dialectische, Johannes auf gemüthliche Art. Dieser Gegensatz wird aber gemildert durch folgendes: Paulus war allerdings ein gelehrter Mann
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als er ins Christenthum trat. Was hat aber diese Frage für einen Werth für uns, ob ÐnunÑ die persönliche Differenz oder die allgemeine Abhängigkeit vorherrschen soll? doch nur das Interesse an den religieusen Vorstellungen. Gesetzt nun wir hätten Schriften von Paulus vor seinem Uebertritt ins Christenthum, würde man nun seine christlichen Schriften mehr verstehen können aus den alten Schriften oder aus andern Schriften des Neuen Testaments? Direct offenbar aus letzteren, aus ersteren nur unter der Form des Gegensatzes. Frühere Schriften von ihm würden gewiß auf die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und von Israel dem Fleisch nach hinweisen, wogegen die im Christenthum die Gerechtigkeit aus dem Glauben und die Lehre von Israhl kata pneyma aufstellten. Also kann bei Paulus das Individuelle auch nur untergeordnet seyn. Es besteht nur in der Form. Sehen wir auf den Johannes, so ist nicht zu leugnen, daß dieser einen sehr eigenthümlichen Character hat. Im Historischen Gebiet erscheint der Verfasser so ähnlich ÐmitÑ dem Johannes verglichen, daß ihre Differenz fast ganz verschwindet. Auch im Didactischen ist Johannes von Paulus sehr wesentlich verschieden. Nun ist aber auch wiederum nicht zu verkennen, daß Johannes als ein Jüngling in die Schule Christi gekommen ist, wogegen die andern schon Männer gewesen sind, so daß also seine individuelle Bildung zusammenfällt mit seinem Ergriffenwerden von jenem allgemeinen Princip und wenn wir uns denken sollten Schriften des Johannes vor seiner Verbindung mit Christo, so können wir sie uns freilich nicht denken, als die des Paulus müßten gedacht werden, sondern wir können uns gar nicht denken, daß er solche könnte verfertigt haben. Man hat also nicht bloß auf das Unterscheidende der Vorstellungen aufmerksam zu machen, sondern vorzüglich auch auf die Identität. Es ist zwar keine vollkommene Identität der Vorstellungen unter den verschiedenen Verfassern gewesen, denn diese ist nicht möglich, weil alle Vorstellungen bei allen Menschen nur auf aproximative Weise identisch sind. Dies ist aber so völlig untergeordnet, daß man sagen kann, diese Differenz sey durchaus der Identität des sie beseelenden Geistes untergeordnet, ihre Differenz gehe darin auf und sie könne nur eine eigenthümliche Art seyn, wie der Geist sich ausdrücke, jeder ist nur ein besonderer Ort für denselben Geist. Dagegen steht jene Verirrung der dogmatischen Ansicht. Indem sie immmer noch im Sinne hat, die constitutive Persönlichkeit der Schriftsteller zu vernichten, stellt sie den Satz so auf: es könne in den Vorstellungen der NeuTestamentlichen Schriftsteller gar keine Differenz seyn, sondern sie müssen alle vollkommen aufgehen in dem nachfolgen15 Hier kann man ein Versehen des Nachschreibers vermuten.
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den Lehrgebäude, das eben das Eine und alles Eigenthümliche aufhebende sey. Es ist eine hermeneutische Regel des Neuen Testaments, daß alles darin müsse nach der analogia fidei ausgelegt werden. Der Ausdruck ist sehr weitschichtig und hat einen guten Sinn, wenn man es recht versteht. Die Exegeten meinen aber das: wenn man klare Stellen hat, so wird angenommen, daß diese durchaus übereinstimmen von dem Princip aus, daß der heilige Geist sich nicht widersprechen könne, und diese Uebereinstimmung bildet die analogia fidei, nach welcher die dunkeln Stellen sollen erklärt werden, d. h. man soll für keine schwierige Stelle einen Sinn annehmen, welcher dem Klaren widerspricht. Das ist das Negative. Das Positive: derjenige Sinn einer dunkeln Stelle wird der richtige seyn, welcher am meisten mit den klaren Stellen zusammenstimmt. Das ist der Canon. Er beruht auch auf einem Vagen, das nicht gebilligt werden kann, indem er einen Gegensatz macht zwischen klaren und dunkeln Stellen und zwar so, daß die klaren gar keiner Interpretation bedürfen. Aber zugegeben den Gegensatz, woher das Zusammenfassen der klaren Stellen? Die Hermeneutik hat es bloß zu thun mit der Interpretation der einzelnen Stellen, das Zusammenfassen ist also schon das Dogmatische. Darin muß allemal von einem Theile des wirklichen Inhalts der Schriftstellen abstrahirt worden seyn. Nemlich jede Vorstellung, wie sie in einer Schriftstelle vorkommt ist sie auf der einen Seite aus der einzelnen bestimmten Seele des Schriftstellers hervorgegangen, auf der andern Seite ist sie Element einer bestimmten Gedankenreihe und dadurch modificirt. Das erste giebt die einseitige Ansicht, daß das Eigenthümliche der Schriftsteller nichts sey, nicht zu, aber das zweite muß sie zugeben, daß jede Schriftstelle eine Beziehung hat auf Ðdie VeranlassungÑ. Von dieser muß in der dogmatischen Operation abstrahirt werden, damit man rein auf den Begriff kommt, wie er allen zum Grunde liegt. Das ist eine nothwendige Operation, die die Basis der ganzen Dogmatik ist. Aber wenn ich nun sage, aus dieser schon dogmatisirten Vorstellung soll ich die dunkeln Schriftstellen erklären, so kann das unmöglich richtig seyn, denn die dogmatische Aufstellung soll aus der Totalität der Schriftstellen hervorgehen und ehe ich nicht alle Stellen erklärt habe, soll ich noch gar keine Dogmatik aufstellen, denn es ist doch nur eine Unvollkommenheit in mir, daß ich nicht alles verstehe. Die Zusammenstellung der klaren Vorstellungen ist also nur das Provisorische und man kann sagen, daß man eben dies Provisorische ergänzen muß aus der Erklärung der dunkeln Schriftstellen, aber nicht letztere verstehen aus dem Provisorischen. Wenn man nun auch gelten läßt den Unterschied zwischen dem Klaren und Dunkeln in
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der Schrift, so ist er doch nur relativ und dem einen ist klar, was dem andern dunkel ist und umgekehrt. Wenn nun dies aufs Extrem gebracht wird, was geht daraus hervor? In den klaren Vorstellungen für sich allein wird wieder derselbe Unterschied entstehen, die einen werden klarer seyn, die andern dunkler. Am Ende müßte man auf eine einzelne kommen, die ursprünglich klar wäre und dann müßten daraus alle erklärt werden. Kann es aber irgend solche absolut klaren Stellen irgendwo geben? Unmöglich, denn das Verständniß des Einzelnen hängt ab von dem Verständniß des Ganzen und in diesem sind eben die dunkeln. Man kann nun zwar die klaren Stellen mit anwenden zum Verstehen der dunklen, aber es gehört noch mehr dazu, als dieses allein und dann wird das Klare erst klar, wenn alle dunkeln Stellen es selbst bestätigt haben als richtig. Der Fehler ist nun nur, daß man die Analogie des Glaubens immer als etwas Dogmatisches ansieht, das Dogmatische nun soll aus der Schrift begründet werden und alles Dogmatische ist in sofern nur provisorisch, als es durch die Schrift bestätigt seyn soll und die Schriftauslegung ein unendliches ist. In dieser Rücksicht ist also der Canon falsch, daß man die Schrift aus der Analogie des Glaubens erklären müsse. Dagegen ist es richtig, daß die Analogie des Glaubens nur aus der Totalität der Schriftstellen muß gebildet werden. Wie steht nun die Anerkennung des Individuellen der Schriftsteller damit in Widerspruch? Wenn ich das Individuelle anerkenne, aber in der Dogmatik davon abstrahire, die Schriftsteller aber erst verstanden habe, wenn ich das Ineinanderseyn des Gemeinsamen und Eigenthümlichen gefaßt habe, so kann ich aus dem Gemeinsamen das Eigenthümliche nicht verstehen. Für die Auslegung hat also dieser Canon gar nichts Richtiges. Für die Dogmatik aber ist er richtig, nur daß man nun nicht das richtige Verständniß überspringe und erst nach genauer Forschung das Gemeinsame ganz von dem Individuellen losmacht. Aber auch auf dem dogmatischen Gebiet hat dieser Canon nichts Gutes bewirkt, weil er eben das richtige Verständniß überspringt indem er das Verfahren abkürzen will. Eine negative Gültigkeit werden wir ihm aber zuschreiben. Die richtige philologische Ansicht muß nur zugestehen, daß das Eigenthümliche der NeuTestamentlichen Schriftsteller das Untergeordnete ist, daß ihre Persönlichkeit aus Christus entstanden ist und also der Geist Christi in allem dominirt. Das muß aus der Persönlichkeit der Menschen selbst zugestanden werden. Wenn nun dies überall ÐbestimmtÑ ist in ihnen, so ist es auch in jeder Stelle, die noch ausgelegt werden soll. In jeder Stelle ist also zusammen das Eigenthümliche als das Untergeordnete, das Gemeinsame als das Dominirende. Wenn also etwas streitet gegen ein Gemeinsames, so
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ist wahrscheinlich, daß es nicht recht verstanden ist. Man könnte es nur annehmen, wenn der Verfasser aus seiner Denkunsart selbst herausgegangen wäre. Das kann man nun aber nicht ganz wegleugnen. Wo sich eine neue Denkungsart im Menschen anfängt zu regen, ehe sie vollständig ist, geschieht es oft, daß er sich selbst widerspricht. Nur auf diese Formel läßt sich ein Widerspruch des Menschen mit sich selbst reduciren. Die NeuTestamentlichen Schriftsteller sind dem auch unterworfen gewesen. Paulus beschuldigt ja den Petrus eines Widerspruchs mit seinen Grundsätzen. Das war aber im Privatverhältniß des Petrus. Im Lehren aber wird ihm das nicht vorgekommen seyn, sondern da müssen wir annehmen, daß das Neue sie so lebendig ergriffen habe, daß kein Widerspruch sich fand. Was wir ehe einmal als das Identische in mehreren Schriftstellern gefunden haben, dem kann das Identische in einer noch zu erklärenden Stelle nicht widersprechen. Das ist aber für die Auslegung nur ein unvollkommener Canon und wenn man ihn zu einem vollkommenen machen will, so ist er falsch. Das Vollkommene ist ÐnurÑ das Auffassen des Identischen und Differenten in jeder Stelle. Es muß aber das Identische im Canon aufgefaßt werden und das ist das eigentlich Canonische, das Differente ist das Historische. Aber dies ist nun gar nichts mehr, was in die Auslegung gehört, sondern die faßt überall das Identische und Differente auf. Auf die Erklärung kann dies Canonische nur jenen negativen Werth haben und auch da nur den partiellen, daß nur das Identische daraus in einer dunkeln Stelle verstanden werden kann das Individuelle gar nicht. Wir können nun also thun, als ob die dogmatische Ansicht gar nichts besonderes wäre. Wir sind in einem philologischen Geschäft und fahren fort mit dem, was aus dieser selbst hervorgeht und da ist noch einiges für die Interpretation des Neuen Testaments zu sagen, indem wir uns noch näher zu bestimmen haben, wie sich die Erweiterung kraft derer wir fremde Stellen zu Hülfe nehmen können, auf dem Gebiet des Neuen Testaments eigenthümlich gestaltet. Es giebt nun also für die Interpretation des Neuen Testaments kein besonderes Princip der Auslegung und bei der Anwendung der Parallelstellen aus der Schrift selbst ist es nichts, als die Ansicht der Schule, natürlich im religieusen Sinne. Daß es aber eine Schule ist im religieusen Sinn ist das Eigenthümliche des Neuen Testaments, was von der wissenschaftlichen Schule sehr verschieden ist. Parallel damit ist im Alterthum die Socratische Schule in der Philosophie. Von Christo setzen wir voraus, daß er die eigenthümlich christliche Religiosität vollkommen begründet hat und daß alles andre nur vollständigere Entwickelung war. Das Ganze war in der höchsten Vollkommenheit in ihm, ausgesprochen hat er die
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Principien. Dasselbe müssen wir auch voraussetzen von Socrates, weil sonst nicht zu begreifen ist, wie eine ganz neue philosophische Ansicht von ihm hätte ausgehen und an ihn sich anlehnen und auf ihn zurückgehen können, wenn nicht die Principien dazu in ihm ausgesprochen waren. Aber nicht können wir von Socrates sagen, daß er die Philosophie in ihrer höchsten Vollkommenheit in sich getragen habe, sondern es ist nur die Idee der Philosophie im Gegensatz gegen die Sophistik und Poesie in ihm, ÐvorÑ und von ihm aus hat sich die Philosophie in diesen Gegensätzen consolidirt. Da wir aber im Neuen Testament was die Apostel geschrieben haben nur ableiten können von dem, was sie von Christo gehört haben, aber nicht was er gewesen ist, so ist hier eine vollkommene Parallele. Was ist der Unterschied? Die Socratische Schule ist gar nicht so eins geblieben, als die christliche Kirche, aber jene Idee der Philosophie im Gegensatz gegen die Sophistik und Poesie ist immer festgehalten, nur ohne wirkliche Einheit. Es haben sich aus diesem Gemeinschaftlichen gleich viele Eigenthümlichkeiten ausgesondert. Das Gemeinschaftliche ist das leitende geblieben, aber in der Ausführung wird es untergeordnet. Die verschiedenen socratischen Schulen waren eins in Beziehung auf jene Gegensätze, unter sich aber hatte jede eine andre Form und einen andern Gehalt. Das ist nun in der ersten Zeit des Christenthums nicht der Fall und erst später sind individuelle Gestalten desselben entstanden. Dies ist ein Punct, der die Interpretation des Neuen Testaments erleichtert in Beziehung auf die Form. Aber auf den Inhalt gesehen tritt ein ganz andrer Unterschied ein, denn auf jenem philosophischen Gebiet ist nicht ein so ursprünglich Neues geschaffen, als im Christenthum. Es ist also von dieser Seite hier wieder ein größeres Feld. Die Socratische Philosophie wollte den philosophischen Gehalt von dem sophistischen und die Form von der poetischen Form scheiden und da ist das ganze Sprachbildungsprincip dieser Philosophie gegeben. Aber die religieusen Ideen, wie sie im Christenthum sich finden, waren vorher eigentlich gar [nicht] und es ist kein bestimmtes Zurückgehen auf ein Früheres. Paulus geht zwar auf das Abrahamitische zurück, aber doch bloß um den Gegensatz mit dem Gesetz festzuhalten. Wo er über diesen Gegensatz hinausgeht, da ist kein Zurückgehen und niemand wird im Paulus finden und noch weniger nachweisen können, die christlichen Ideen seyen schon im Patriarchalischen Zustande gewesen. In der Schrift selbst ist noch gar keine Tendenz zur Dogmatik, es war nicht die Absicht der NeuTestamentlichen Schriftsteller, eine Dogmatik zu bilden, sondern sie wollten nur die Gesinnung mittheilen und dazu war die Sprache nur ein Mittel, das sie eben nach dem jedesmaligen Zweck handhab-
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ten, aber in sich selbst nicht fixirten und so können in der Lehre selbst in demselben Schriftsteller Enantiophanien vorkommen. Vergleichen wir Johannes und Paulus, so können wir an kein Bemühen denken und gar nichts davon nachweisen, eine gemeinsame Sprache zu bilden, sondern ihre Sprache ist vielmehr ganz verschieden und beide sind nur indirect ineinander aufzulösen in der Hinweisung auf den Einen Geist, der sie trieb. Sehen wir auf jeden einzeln und vorzüglich auf Paulus, so können wir gewisse Hauptideen verfolgen und auf bestimmte Art sie in Beziehung setzen mit andern, aber ein eigentliches Sprachbilden, das Bilden eines festen normalen Ausdrucks für die religieusen Ideen im Christenthum ist gar nicht aufzuzeigen, sondern wo die Polemik gegen das Judenthum heraustritt ist eine ganz andre Sprache, als da, wo sie mehr gegen das Heidenthum auftritt und Paulus ist ganz unbekümmert gewesen, das auszugleichen. Dazu kommt, daß die NeuTestamentlichen [Schriftsteller] gar nichts in der Sprache Gegebenes vorfanden, worauf sie sich beziehen konnten. Das scheint nun eine kühne Behauptung zu seyn, die erklärt werden muß. Alle religieusen Begriffe des Neuen Testaments kann man nicht aus der vor Christus geläufigen religieusen Ansicht ableiten, denn dann wäre die Erscheinung Christi kein Mittelpunct. Aber die Beziehung ist doch auch da. Jedoch in den terminis, worin die früheren religieusen Ansichten ausgedrückt waren ließen sich die christlichen gar nicht ausdrücken, oder man mußte ihnen eine andre Bedeutung beilegen. Diese geänderte Bedeutung müssen wir uns überall construiren. Auf dem philosophischen Gebiet ist das gar nicht so der Fall, weil da auf die Bildung der Sprache selbst gesehen wird. Die NeuTestamentlichen Schriftsteller selbst aber konnten neue Wörter nicht bilden, weil das nur hätte hervorgehen können aus einem wissenschaftlichen Interesse, das sie nicht hatten. Durch bloße Sprachgelehrsamkeit ist also das Neue Testament gar nicht auszulegen, sondern man muß selbst im Complexus der religieusen Vorstellungen stehen. Man kann sich ihren Sprachgebrauch bei allen verschiedenen Gelegenheiten nur dann construiren, wenn man einerlei Gesinnung mit ihnen ist und die Unzulänglichkeit in der Sprache selbst, das Christliche auszudrücken, so fühlt, als sie es fühlten. Daher also tüchtige Sprachkenner schlecht erklären, weil sie das christliche Princip nicht in sich tragen. Neue Schwierigkeiten, wenn wir uns einen weiteren Umkreis denken und das Neue Testament mit den patristischen Schriften zusammenhalten, in welchen die dogmatische Sprache, welche im Neuen Testament 2 Enantiophanie ist ein scheinbarer Widerspruch.
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angelegt ist, Consistenz gewonnen hat. Die dogmatische Sprache hat sehr verloren, daß man hat wollen alle bildlichen Ausdrücke des Neuen Testaments in dem Schulgebrauch fixiren wollen. Da mußte man nun das Bestreben haben, die Ausdrücke zu sondern, aber da entsteht auch gleich eine ganz andre Bedeutung, als im Neuen Testament, und man irrt sich immer fort, wenn man die dogmatischen Bestimmungen über die bildlichen Ausdrücke als Definitionen dafür ansieht. Eben so, wenn man auf das andre Gebiet geht, wo sich die Darstellung mehr anknüpft an die Polemik gegen die bestehenden Vorstellungen. Eine Scheidung der Sprache und eine Einheit waren nicht gegeben. Nun entstand aber erst nach der Zeit der Apostel eine Polemik innerhalb des Christenthums, worin die dogmatische Sprache sich erst fixirt hat. Diese Polemik ist auch auf das Neue Testament zurückgegangen, weil sich immer beide Theile darauf berufen haben, aber in Beziehung auf die Sprache hat sie ganz anders gewirkt und wieder eine Bestimmung hineingebracht, die im Neuen Testament nicht war. So ist die NeuTestamentliche Sprache hier auch wieder die Begriffe fixirend geworden und wenn man das auf die Erklärung des Neuen Testaments anwenden will, so ist das falsch. Beide, die Orthodoxen und die Heterodoxen haben darin geirrt, daß sie wollten das Unbestimmte im Neuen Testament, was da natürlich ist und ganz in der Ordnung zu einem fest dogmatisch Bestimmten machen. Aus dem patristischen Gebrauch kann man also nichts erklären. Dagegen ist die Entwickelung einer philosophischen Schule etwas Stätiges, so daß aus dem letzten das erste erklärt werden kann weil immer dasselbe Streben da ist. Aber Gesinnung und religieuse Vorstellung fixiren ist nicht eins und darum kann man das eine nicht in das andre auflösen. Wir müssen nun unterscheiden den mehr philologischen Gebrauch und den mehr dogmatischen des Neuen Testaments bei Benutzung der Parallelstellen. Beim philologischen Gebrauch sind das nur Parallelstellen, die dieselben Worte enthalten. Aber für den dogmatischen Gebrauch sind auch das Parallelstellen, wo dieselben Ausdrücke gar nicht vorkommen, aber doch dieselben Gegenstände abgehandelt werden. Das Verfahren beim eigentlich philologischen ist auseinandergesetzt, jetzt müssen wir sehen was im dogmatischen Gebrauch Parallelismus ist. Es ist nemlich aus den Mißverständnissen neuerer Zeit eine wichtige Frage geworden: haben die NeuTestamentlichen Schriftsteller wirklich einerlei oder verschiedene Vorstellungen von den religieusen Beziehungen? Bei großer Verschiedenheit des Ausdrucks kann große Uebereinstimmung der Gedanken seyn. 28–29 Beim philologischen Gebrauch] Bei Benutzung des philolog. Gebrauchs
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Freilich ist ein Gedanke nichts, abgesondert von seiner Stelle, denn für sich ist er immer unbestimmt. Darum ist der Gedanke an 2 verschiedenen Stellen niemals derselbe. Dessen ungeachtet kann aber solche Uebereinstimmung in der Ansicht seyn und solche Verschiedenheit des Schreibenden, daß das verschiedene Gemeinsame durch die eigenthümliche Sprache eines jeden kann ausgedrückt seyn. Paulus und Johannes sind im Ausdruck sehr verschieden. Paulus ist polemisch, Johannes mehr für eine unmittelbare Darstellung. Daraus entsteht eine andre Combinationsweise und ein andrer Sprachgebrauch. Das Identische ist aber völlig dasselbe. Weil nun aber jetzt die Ansichten so verschieden sind und weil man, wie man früher die Differenz übersehen, so jetzt die Einheit übersieht, so fragen wir: wo und wie finden wir das Richtige? Daß beide Extreme falsch sind ist uns schon klar. Wir müssen sagen, die grammatische Interpretation in dieser Hinsicht wie fern es darauf ankommt, um sowol die einzelne Stelle zu verstehen, als zu vergleichen, was über denselben Gegenstand an andern Orten gesagt ist, die grammatische Interpretation in dieser Hinsicht ist ganz abhängig von der subjectiven Interpretation, denn es kommt hier darauf an, wie fern die Darstellung die Thatsache eines eigenthümlichen Gemüths ist und seiner eignen Combinationsweise. Nun aber können wir jede Gedankenreihe als Thatsache der Seele des Producirenden wieder nur verstehen aus dem Zweck, den er bei seiner Rede gehabt hat und dann aus allem zusammengenommen, was wir von diesem selbst als Person wissen. Die erste Regel ist also hier die, daß man die verschiedenen Stellen nur nach ihrem Zweck und ihrer Stellung in der gegebenen Stelle beurtheile. Man muß zB. irren, wenn man zusammennimmt solche Stellen, wo von denselben Gegenständen die Rede ist ex professo und solchen, wo von ihnen nur die Rede ist im Vorbeigehen. Im letzten Falle ist er in bestimmte Beziehung gesetzt, der er dient und in der er nicht kann hervortreten. Sofern ex professo von ihm die Rede ist, muß er aus des Schriftstellers Seele, wie er sich da gebildet hat, ganz und bestimmt heraustreten. Wir dürfen also die Stellen, wo die Gedanken Hauptgedanken sind ja nicht gleich stellen mit denen, wo sie Nebengedanken sind. Aber wenn wir nun die Hauptgedanken eines Schriftstellers mit denen eines andern zusammenstellen und einen ganz andern Sprachgebrauch finden und damit, je mehr man ins Einzelne geht eine bedeutende Verschiedenheit, wie kann man in Klarheit kommen über das Verhältniß des Identischen und Differenten in beiden? Wenn man 2 Menschen hat, die sich über denselben Gegenstand an derselben Stelle äußern und wenn sie noch so einig sind, so ist doch die Äußerung ein Zusammenseyn von dem, was beiden gemeinsam ist und dem, was jeder für sich
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hat. Aber aus dem Ausdruck des Allgemeinen das Identische zu finden, ist eine unbestimmte Aufgabe und das Identische, wie das Differente sind unbekannte Größen. Um die Erklärung aber zu finden, muß man zurückgehen auf die Quelle des Ausdrucks. ÐzB.Ñ Im Ganzen genommen müssen wir sagen hat der Ausdruck pistiw seinen Hauptsitz in den Paulinischen Schriften. Da ist er dogmatisch. In den Evangelien ist er es nicht in demselbigen Maaße. Nun müssen wir auch das Band finden zwischen beiden Gebrauchsweisen, daß sie einen gemeinschaftlichen Punct haben müssen, von dem sie ausgegangen sind. Aber das lassen wir und betrachten nur, wie der dogmatische Gebrauch des Worts gewöhnlich ausgemittelt wird. Wenn ÐwirÑ das ansehn in den NeuTestamentlichen Wörterbüchern, so finden wir eine ungeheure Verwirrung, eine solche Menge von verschiedenen Bedeutungen ohne Bestimmtheit in der Differenz und ohne Uebergang aus der einen in die andre. Das kommt aber daher, weil man sich die Grundstellen nicht gehörig gesondert hat und also nicht auf die rechten Sprachquellen zurückgegangen ist. Man kann den Paulinischen Ausdruck nicht verstehen ohne seinen Gegensatz, in dem er bei diesem vorkommt. Man muß auf die Ideen zurückgehen in deren Darstellungen dies Wort gebraucht wird. Die Idee aber ist die Gerechtigkeit aus dem Glauben im Gegensatz von der Gerechtigkeit aus dem Gesetze. Ueberall steht beim Paulus dieser Gegensatz im Hinterhalt. Ist denn nun dieser Sprachgebrauch etwas Neues? Paulus hat freilich dies Wort aus dem Alten Testament herüber genommen und diesen Uebergang muß man nun finden. Gehen wir nun wieder auf die Idee zurück, so finden wir indem Paulus den Gegensatz feststellt zwischen beiden Gerechtigkeiten so nimmt er wieder eine Einheit an, daß nemlich Abraham schon die dikaiosynh ek pistevw gewesen sey. Das ist also eigentlich die Grundstelle. Nur freilich daß der Glaube des Paulus sich bezieht auf die basileia toy ûeoy, der Glaube des Abraham aber nur der Glaube an eine einzelne göttliche Verheißung, wir sehen aber die Analogie und das Potentiirte. Dieselbe Analogie konnte auch anders angewandt werden und so war es ein andrer Fall, wenn von der pistiw der Kranken geredet wird, das ist auch nicht dieselbe pistiw aber sie steht in Analogie damit. Es bleibt aber nun dessenungeachtet möglich, daß das Wort auch vorkommen kann ohne auf diese Weise potentiirt zu seyn, sondern so wie sie im gemeinen Leben vorkommen und wenn man so verfährt, dann kann man sich alles viel 35 potentiirt] poetentiirt 16–27 Siehe Römerbrief 3, 21–23; 9, 30 f.; 10, 5 f. 31–32 Siehe Matthäus 9, 22; Markus 5, 34 u.ö.
27–30 Siehe Römerbrief 4, 1–5.
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bestimmter sondern. Dies ist nun ein natürlicher Ausdruck für die Idee, aber es ist denkbar, daß dieselbe Idee, dieselbe Anhänglichkeit an Christum, dasselbe Nichtsseynwollen durch das Einzelne auf ganz andre Weise ausgedrückt werden kann und daß nur diese in dem ganzen dogmatischen System den Vorzug bekommen hat, weil sie auf einem bestimmten Gegensatze beruht und also weniger bildlich ist, als andre Ausdrücke im Neuen Testament, wo dasselbe Verhältniß anders ausgedrückt ist. Wenn man also das Neue Testament dogmatisch verstehen will, muß man jede Stelle an ihrem Hauptorte ansehen und dann hat man die verschiedenen Ausdrucksarten auf ihre Idee reducirt. Jedes muß erst vollständig als Gebrauch verstanden werden, der bildliche Ausdruck, wie der geschichtliche und dialectische. Aus dieser ÐVergleichungÑ wird sich dann die Identität finden aller verschiedenen Ausdrücke und Gedanken, denen wirklich eine und dieselbe Idee zum Grunde liegt. Ungeachtet also beide von verschiedenen Principien ausgehen, sehen wir doch, wie die philologische Erklärungsart sich unterscheidet von der dogmatischen. Die eine will bloß die einzelnen Stellen verstehen, die andre den ganzen Zusammenhang und für letztere ist alles Parallelstelle, was denselben Gedanken hat, wenn auch andre Ausdrucksweise ist. Viel Unheil ist daraus gekommen, daß man sich beide Operationen nicht recht von einander geschieden hat darum ihre Gesetze auch nicht recht getrennt hat und eins wie das andre behandelt, wodurch jedes verloren hat. Wenn man beim philologischen Gebrauch voraussetzt, keiner widerspreche dem andern, so kommt schon das Verkehrte der falschen analogia fidei mit in die Erklärung hinein. Man muß erst jede Stelle für sich zu verstehen suchen, einerlei ob sie stimme mit andern oder nicht und dann erst kann man zur Vergleichung gehen und nicht bloß muß dann gesehen werden, ob sie dasselbe Wort auf dieselbe Art gebraucht haben, sondern ich muß sehen, was sie, und wie sie etwas auf differente Art ausgedrückt haben, was dasselbe ist. Wenn man im Streit den Jacobus und Paulus erst gefragt hätte, ob sie dasselbe meinten, wäre man auf diesen Streit gar nicht gekommen. Nun freilich ist fürs Neue Testament der dogmatische Gebrauch das Ziel, und der philologische nur das Mittel. Aber wir erreichen das Ziel nicht, wenn wir nicht den philologischen Gebrauch ohne Beziehung auf das Ziel für sich so vollkommen handhaben wie möglich und diese Basis macht eben den Unterschied zwischen dem Theologen und dem Laien. Durch unsre Trennung der biblischen Dogmatik von der Exegese haben wir also die Interpretation des Neuen Testaments mit allen andern 29–31 Siehe Jakobusbrief 2, 18–26 sowie Römerbrief 4, 1–5.
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ganz in Analogie gestellt. Wir fügen nun nur noch einiges über die Parallelstellen hinzu. Es giebt da einen Canon: so lange noch aus den Schriftstellern der heiligen Schrift selbst ein Punct zur Verständigung herbeizubringen ist, muß man keine andern Stellen von andern Schriftstellern dazunehmen. Durch das Verstehen der Schriften fördern wir auch die Kenntniß der Sprache. Von hier aus den Punct betrachtend müssen wir sagen: durch den Gebrauch von parallelen Stellen zur Erklärung einer wird ein besonderer Sprachgebrauch bestimmt. Was hat denn diese Bestimmung des Sprachgebrauchs für wesentliche Grenzen? Hier werden wir auf 2erlei geführt 1. auf ein in der Zeit absteigendes und 2. auf ein in der Zeit gleiches Verhältniß. Es kann etwas in der Sprache identisch seyn aus ganz verschiedenen Zeiten durch Beziehung auf denselben Gegenstand. Es giebt aber wiederum auch in der Sprache etwas, das sich in der Zeit verändert, aber in dem Raum der Sprache dasselbe ist, und von diesen beiden Puncten aus muß man ÐwissenÑ, welche Parallelstellen zu nehmen sind. Wie steht es nun mit jenem Canon [in] dieser Beziehung? Einige sehen die Schrift ganz als eins an, das Alte und das Neue Testament. Es ist aber gar nicht in beiden dieselbe religieuse Ansicht. So werden wir es wunderbar finden, wenn uns jemand anmuthen wollte, wir sollten die Erklärung des Neuen Testaments aus dem Alten Testament vorziehen der Erklärung aus mit dem Neuen Testament gleichzeitigen Schriftstellern. So können wir also den Canon nicht aufnehmen. Die Regel ist nicht auf äußerliche Weise, sondern auf innere zu fassen. Was innere Verwandschaft hat, kann ich zu Hülfe nehmen. Wir haben einen Unterschied gemacht zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken. Sehen wir auf die Nebengedanken und sehen wir was geschehen ist schon seit langer Zeit, den Sprachgebrauch des Neuen Testaments aufzuhellen, so wie manches, was jenem Canon ganz zuwider läuft, denn wie hätte man sich damit abgeben können, Beweise aus Philo und Josephus und dann auch aus den Classikern herzunehmen für die Erklärung des Neuen Testaments, wenn man von jenem Canon ausgeht? Jede gegebene Rede soll aus der Totalität der Sprache verstanden werden. Diese Totalität muß man sich scheiden und die Scheidung ist nicht überall gleich. Also muß man untersuchen, ob nicht das Identische auch in solchen Gebieten vorkommt, die man sonst zu trennen pflegt. Zu einer richtigen Vorstellung der Hebraismen wäre man nie gekommen, wenn man sich nicht bemüht hätte, das Identische dieser Ausdrücke, das keine Hebraismen umfaßt, herbeizubringen, denn man fand, daß viele Hebraismen oft nur daher zu 38 daher] oder dahin
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erklären sind, wo an gar kein Hebraisiren gedacht ist. Der Canon ist also auch von dieser Seite etwas höchst beschränktes. Ferner die griechische Sprache des Neuen Testaments hat einen Character, der die macedonische Periode ausdrückt. Das ist ein Sprachgebiet, das wir auch verstehen müssen. Dazu müssen wir die Analogie gar nicht allein in der Uebersetzung des Alten Testaments suchen, sondern in allen Schriftstellern, welche den Character dieser Periode an sich tragen. Wird also der Canon auch bloß auf das Neue Testament erstreckt, so ist er doch falsch. Der ganze Canon ist daraus hervorgegangen, daß man klare Stellen angenommen hat und nun daraus alle dunkeln zu erklären gesucht hat. Es ist aber um die klaren Stellen eine schlimme Sache, wenn man fragt: woher denn die Klarheit der Stellen komme? Wir sind davon ausgegangen, daß der Sinn eines Satzes nur in dem Ineinanderseyn von Subject und Prädicat gegeben ist, daß aber jedes für sich nur unbestimmt ist. Wenn sich beides nicht genügend durcheinander bestimmt, dann muß man das eine oder das andre erklären durch analoge Stellen. Wir scheinen nun eine Schwierigkeit übersehen zu haben. Wenn der Sinn nur durch Subject und Prädicat bedingt ist und durch die Beziehung beider aufeinander, woher weiß ich denn, ob die Schwierigkeit im Subject oder im Prädicat liegt? Man muß sich sehr hüten, ÐvonÑ dieser Beziehung vorherzubestimmen, was dunkel oder klar ist. Oft ahnen wir bloß die Schwierigkeit in dem einen oder dem andern allein und das ist nicht begründet, oft glauben wir, das eine Wort sey nicht vielbedeutig, weil man es noch nicht so genau kennt, andre setzt man schon als vielbedeutig voraus. Das ist auch ganz falsch. Im Johannes zB. wird gesprochen vom Wasser des ewigen Lebens, das Christus gebe durch das pneyma. Johannes fügt aber hinzu oy gar hn to pneyma aëgion. Der heilige Geist ist aber doch von Anfang an gewesen. Nun sucht Niemand die Schwierigkeit im hn, sondern im vieldeutigen pneyma aëgion. Lesen wir aber in der Apostelgeschichte, daß als einige gefragt wurden, ob sie den heiligen Geist schon hätten, sie sagten: oyde gar hkoysamen, oti esti t o p n e y m a t o aë g i o n . Die Juden wußten aber wol, daß ein heiliger Geist sey. Also muß hier wol die Schwierigkeit in dem einai liegen. Was ist nun das esti? Man kommt auf die Meinung, daß der heilige Geist nach Annahme der Juden verstummt war. einai heißt also da: unter uns seyn, unter uns sich manifestiren. Man muß sich also sehr hüten vor einer voreiligen Annahme, welches das Dunkle sey, das Subject oder das Prädicat. Dazu ist Vorsichtsmaaßregel, erst Stellen aufzusuchen, wo dasselbe 25–29 Siehe Johannes 7, 38 f.
30–36 Siehe Apostelgeschichte 19, 2
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Subject mit demselben Prädicat verbunden ist. Eben so mit den Nebenwörtern, da ist auch der Sinn nur in den Hauptwörtern und in den Nebenwörtern, und wenn eines dunkel ist, ist das andre auch dunkel und es kann die Schwierigkeit in dem einen so gut liegen, als im andern. Wir werden nun zum quantitativen Verstehen kommen, daß man nem- 5 lich keinem Theile der Rede einen größeren oder geringeren Nachdruck beilege, als er wirklich hat.
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Q u a n t i t a t i v e S e i t e d e s Ve r s t e h e n s . Diese ist das Maaß der Bedeutung, welches jeder einzelne Theil der Rede in seinem Zusammenhange hat. Es geht dies eben so sehr auf das Einfache, wie auf das Zusammengesetzte, auf ganze Sätze und einzelne Redetheile. Wenn aber so erst das Maaß der Bedeutung jedes Theiles der Rede bestimmt ist, so ist der Zusammenhang des Ganzen, aus dem man doch alles verstehen muß, erst da. Das ganze Maaß der Bedeutung eines einzelnen Theils der Rede ist aber wieder nur durch das Ganze zu bestimmen. Es hat zwar den Anschein, als ob, wenn auch nicht alle, wenigstens gewisse Wörter in Beziehung auf die Quantität ihrer Bedeutung bestimmt wären, weil man Reihen aufführen kann von Wörtern, die qualitativ dasselbe sind und sich nur quantitativ unterscheiden. Man denke sich den allgemeinen Begriff der Bewegung eines organischen Wesens auf der Erde, so wird dieser ausgedrückt durch viele Wörter, wodurch die Quantität der Bewegung ausgedrückt wird, schleichen, gehen, laufen, rennen. Allein man wird sich gleich überzeugen, daß im Gebrauche selbst jedes dieser Wörter ÐquantitativÑ verschieden ist, weil man oft hyperbolisch redet. Diese Verschiedenheit finden wir in allen Wörtern und in allen Sätzen. Das Maaß ist nur mit dem Zusammenhange gegeben. Wir handeln nun hievon erst in Beziehung auf die einzelnen Redetheile und dann in Beziehung auf die einzelnen Sätze.
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Quantitative Seite der einzelnen Redetheile. Einige sind materiell, andre formell. Letztere sind bald einzelne Wörter, 30 bald bloß die Gestalt der Wörter, die ihnen gegeben wird durch die Flexion. Wir bleiben erst beim formellen Redetheil stehen und machen uns ein Bild von der möglichen quantitativen Verschiedenheit. Man denke an die verschiedenen Formen des Zeitworts, an die Theilung in Indicativ und
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Conjunctiv und wie letzterer wieder geschieden ist in Subjunctiv und Optativ. Der Indicativ ist die überwiegende Bestimmtheit, der Conjunctiv die überwiegende Unbestimmtheit. Aber es giebt Fälle, wo wir zweifelhaft sind, was wir suchen wollen. Die Bestimmtheit also und die Unbestimmtheit beide können verschieden seyn dem Grade nach. Wenn also der unbestimmte modus in einer Rede gebraucht ist, so kommt es erst darauf an, wie der Verfasser sich die Unbestimmtheit gedacht hat. Diese unbestimmte Form tritt nun zusammen mit den Verbindungswörtern. Die quantitative Unsicherheit verschwindet also oft schon, wenn man auf die Partikeln sieht, die mit dem Verbo in Verbindung stehen und dann scheint es, daß ich nicht zu sehen habe auf den modus, sondern auf den Sinn und von da auf die Unbestimmtheit des Verbi. Oft ist es auch umgekehrt. Die Partikeln haben oft selbst solche quantitative Mannigfaltigkeit, die oft erst bestimmt wird durch das Verbum, das mit ihnen verbunden wird zB. ist sehr andrer (quantitativ) Sinn: wenn das so ist und wenn das so wäre. In beiden Fällen ist Ungewißheit, aber im ersten Fall ist sie mehr nach der Gewißheit sich neigend. Bei andern Fällen bestimmen sie sich aber nicht vollständig gegenseitig und dann bedarf man noch eines andern. Was nun die Partikeln betrifft und besonders die, welche Sätze verbinden, so ist schon bemerkt, wie hier das Qualitative in das Quantitative übergeht. Das minimum der quantitativen Bedeutung ist, wenn ein Wort abundirt. Das maximum ist das, was man durch den Ausdruck Emphasis andeutet, wenn ein Wort das maximum andeutet, was es andeuten kann. Das Abundirende kommt am meisten zur Anschauung bei verbindenden Wörtern, die Emphasis am besten bei den materiellen Redetheilen, aber jenes kommt auch vor bei den materiellen und dieses auch bei den formellen Redetheilen. Um die Aufgabe zu übersehen, wollen wir auch den Gegensatz betrachten in den materiellen Elementen. Das minimum ist hier wieder das Abundiren. Ein Hauptwort kann dies Abundiren nicht treffen, weder das Subject noch das Prädicat, die den Satz constituiren, denn wenn dies wäre, abundirte der Satz. Aber wenn das Subject oder das Prädicat im Satz eine Vielheit ist, so ist das Abundiren schon denkbar. Wenn das Subject eine Vielheit ist und ich nicht voraussetzen kann, daß der Verfasser den ganzen Umfang klar machen will in allen seinen einzelnen Theilen, da kann jeder einzelne Theil der Vielheit abundiren. Auf dieselbe Weise kann man es mit dem Prädicat denken. Gehen wir vom Subject und Prädicat ab, so kommen wir auf die Adjectiva und Adverbia. Subject oder 20 hier] folgt 〈ein Uebergang〉
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Prädicat sollen dadurch näher bestimmt werden. Aber man unterscheidet doch in der Rede beständig zwischen wesentlichen Beiwörtern und zwischen zufälligen. Wesentlich sind sie, wenn die Sätze nicht hätten verstanden werden können ohne sie; aber hier haben wir nicht immer das gleiche Gefühl, sondern von Zeit zu Zeit kommen uns auch einige vor, die zufällig sind. Bisweilen ist die Verbindung etwas Solennes geworden und da kann oft das Hauptwort mit dem Beiwort vorkommen, weil es schon so gewöhnlich ist, ungeachtet das Hauptwort ohne das Beiwort schon seine Wirkung würde gethan haben. Oft sollen die Beiwörter dem Satz nur die gehörige Fülle geben und dann sind sie auch zufällig für den Sinn, obwohl sie wesentlich seyn können für den Wohlklang. Ist dies Zufällige in hohem Grade, so abundiren sie. Was ist nun das Emphatische, das über den Durchschnitt hinausgehende? Hier ist vorzüglich 2erlei. 1. jedes Wort haben wir gesehen, ist in sich selbst ein mannigfaltiges. Das ist es nicht nur in der qualitativen Verschiedenheit, daß es an einem Ort so am andern so gebraucht wird, sondern es ist es auch auf quantitative Weise, es zieht sich oft mehr zusammen, oft dehnt es sich mehr aus. 2. jedes Wort eben als Zeichen einer Vorstellung ist zugleich eine erregende Kraft, weil jede Vorstellung andere erregt. Nun kann der Redende auf die Productivität der Vorstellung Verzicht thun, ein andermal nimmt er die Productivität des Wortes in Anspruch und will, daß es manche andern Vorstellungen mit erregt, die es wohl zu erregen pflegt. Wenn nun alle Nebenvorstellungen mit urgirt werden sollen und auf der andern Seite, wenn das Wort alles in sich schließen soll, was es in sich schließen kann und nicht nur auf ein engeres Gebiet beschränkt seyn soll da ist das maximum der Bedeutung, die Emphasis. Man sieht nun leicht, daß man im Verstehen auf beiden Seiten fehlen kann, daß man also einen Canon braucht. Man fehlt, wenn man eine Emphasis sucht, wo keine ist, und wenn man eine vernachlässigt, wo eine ist. Eben so auf der Seite des Abundirens. Das ist das Wesentliche, worauf es bei dem quantitativen Verstehen ankommt, daß diese Gegensätze und ihre Abstufungen richtig aufgefaßt werden. Es giebt aber weder ein absolutes Abundiren noch eine absolute Emphase. Man muß also ein mittleres Maaß annehmen, das im Gefühl ruht, das ist die allgemeine, gewöhnliche Sprache. Wir betrachten die materiellen Redetheile noch genauer in dieser Beziehung. Zuerst wollen wir von den Nebenbegriffen reden, die zum Subject oder Prädicat gefügt werden. Fassen wir diese in der gewöhnlichen Bedeutung, so sind sie nähere Bestimmungen des Subjects oder des Prädicats. Was liegt nun auf der Seite des Abundirens hin? Hier müssen wir uns an ein früheres erinnern, daß es nemlich gewisse Verbindungen von
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Nebenbegriffen und Hauptbegriffen giebt, die man solenne nennt und die Phrasen geworden sind. Indem sie so geworden sind, kann man wol sagen, daß sie unter das gewöhnliche Maaß der Bedeutung gesunken sind und auf diese Art sind viele Wörter um ihre eigentliche Bedeutung gekommen. Ein andres ist, wenn einem Hauptbegriff ein Nebenbegriff hinzugefügt wird, der zur Bestimmung des Sinnes nichts beiträgt, sondern nur dasteht als Verzierung, was die Rhetorik epitheton ornans nennt, aber es schließt sich dies sehr genau an jenes an und alle solche sind im Begriff Phrasen zu werden. Ein drittes ist dieses: die Sprache hat außer dem logischen ein musicalisches Element, wohin der Rythmus, der Numerus, und der Wohlklang überhaupt gehört, d. h. eine gute Folge der Wörter in Beziehung auf ihre Betontheit oder Unbetontheit und auf den Klang der Wörter. Dies hat einen Einfluß nicht nur auf die Stellung sondern auf die Wahl der Ausdrücke. Wie können wir aber nun das erkennen? Wenn wir einen Schriftsteller ordentlich verstehen wollen, müssen wir wissen, was er [um] der rythmischen oder euphonischen Beziehung willen gewählt hat. Aber das ist sehr schwer zu erreichen. Am ersten werden wir es noch erreichen, wenn der rythmische oder euphonische Effect sehr auffallend ist. Unter welchen Umständen aber darf es vorkommen, daß man des Wohlklanges wegen ein andres Wort wählt? Je mehr ein Theil des Satzes in den ganzen Zusammenhang hineingehört, um desto weniger darf er geändert werden des Wohlklangs wegen, weil dann an der Deutlichkeit weit mehr verloren ginge, als in der Schönheit gewonnen wäre. Nun giebt es ganze Gattungen, wo der Wohlklang sehr zurücktritt und da wäre es ein großer Fehler, wenn des Wohlklangs wegen etwas dem Inhalt Nachtheiliges wäre aufgenommen. Man darf dies also nur vermuthen in allen Reden epideiktischer Art und im Dichterischen. Im Didactischen ist dergleichen weit weniger erlaubt. Man muß aber nicht nur auf die Gattung sehen, sondern auch auf die einzelnen Stellen. Wo man in einzelnen Stellen didactisch ist, kann der Schönheit wegen kein Wort gewählt werden, das seine volle Bedeutung nicht haben kann. Was am meisten an die Abundanz grenzt ist, wenn man ein Wort braucht, das man ohne den Wohlklang zu berücksichtigen, nie gesetzt haben würde in diesen ÐVerbindungenÑ. Dasselbe kann nun vorkommen in den Subjecten und Prädicaten selbst. Je mehr die verschiedenen Theile, aus denen Subject und Prädicat bestehen in die Form des Gegensatzes treten, desto weniger darf man vermuthen, daß ein Theil als Gegensatz demselben müßig gegenüber stehe. Wo eine Mehrheit solcher Gegensätze ist, da sind diese sich wieder coordinirt und diese brauchen nicht mehr in ihrer Bedeutsamkeit völlig
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gleich zu seyn. Je mehr man nun den Verdacht hat, daß da etwas abundire, desto mehr muß man auch einen Grund und ein Bedürfniß zum Rythmischen und Euphonischen nachweisen. Je weniger dies zu finden ist und je mehr die coordinirten Glieder auch in einem gewissen Verhältniß stehen, desto weniger ist eine Abundanz zu erwarten. Hier ist also dasselbe: je strenger die Form, desto mehr muß jeder Theil der Rede seine Bedeutung haben, je mehr die Schönheit, desto mehr das Abundiren. Ja es giebt eine bestimmte Form, die am meisten Veranlassung giebt, so etwas vorauszusetzen. Das ist der Parallelismus. Einen gewissen Parallelismus hat jede Rede, es muß ein gewisses Verhältniß der Glieder unter sich seyn und das Verhältniß der coordinirten Theile muß sich gleich seyn. Man darf es aber nicht als Grundsatz festsetzen in der orientalischen Poesie, daß der Parallelsatz dasselbe bedeuten müsse. Was nähert sich nun der Emphasis an? Wir können gleich anknüpfen an das eben Gesagte. Wenn 2 gleichbedeutende, oder sinnverwandte Redetheile in einem und demselben Satze vorkommen, wie soll man sie ansehen? Die eine Maxime ist, man soll sie als Synonime, also als Wiederholung ansehen. Das ist falsch. Sagt man dagegen, man muß genau ihren Unterschied aufsuchen und alles auffassen, was nur irgend einen Unterschied darbietet, so würde man es emphatisch nehmen und das wäre eben so falsch. Jedes ist in einigen Fällen wahr, aber in welchen? Hier muß nun das Rythmische der Rede sehr zu Hülfe kommen, denn will er den Unterschied zweier Wörter, die sinnverwandt sind urgiren, so muß er sie in ein bestimmtes Verhältniß des Gegensatzes stellen und muß sie entweder so ÐumgebenÑ, daß der Gegensatz klar wird, oder er muß ihn durch die Stellung herausbringen. Es giebt kein Mittel sich vor beiden Abwegen zu hüten, als sich ein sicheres Gefühl zu erwerben vom Verhältniß des Logischen und Musicalischen in der Rede. Die Emphase auf die heilige Schrift angewandt hat Veranlassung zur Maxime gegeben, alles sey im Neuen Testament emphatisch. Dies kommt aus der Ansicht von der Inspiration. Wir können nun diese Ansicht nicht loben, so wenig als die, welche alles als abundirend annimmt. Die ursprünglichen Leser konnten die Schreibenden und Redenden nicht anders beurtheilen, als nach den angegebenen Gründen, sie hatten nur Recht eine Emphasis zu vermuthen, wenn eine indicirt war. Die aber die Ansicht vom heiligen Geist übertreiben und die Persönlichkeit der Schriftsteller vernichten setzten sich auch sehr leicht darüber ÐfestÑ, die Eigenthümlichkeit der ursprünglichen Leser zu vernichten und zu sagen, der heilige Geist habe für die ganze Christenheit geschrieben. Aber so wenig die Persönlichkeit der Apostel verschwindet vor dem heiligen Geist, so wenig
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die Persönlichkeit der ursprünglichen Leser vor der ganzen Christenheit, denn aus den ursprünglichen Lesern hat sich ja die Christenheit gebildet. Damals konnte die Ansicht von dem persönlichen Untergange der Schriftsteller nicht seyn, denn diese Ansicht kann man erst nach einigen Tausend Jahren fassen, wenn bloß der Buchstabe da ist und nicht mehr die Person. Die Schrift muß von den Späteren ausgelegt werden, wie von Früheren und von den Früheren wie von den Späteren, wenn wir nicht die Einheit der Schrift und der Kirche zerstören wollen. Die ursprünglichen Leser konnten aber nach einer erkünstelten Inspirationstheorie nicht auslegen, wir müssen also auch auslegen, wie sie, indem was der einzelne Mensch redete und schrieb als getrieben vom heiligen Geist doch als Rede und Schrift des Einzelnen an Einzelne angesehen wurde. Für die heilige Schrift als solche kann es also keine besondere Regel geben, sondern die besonderen Regeln für die heilige Schrift gehen aus etwas ganz anderem hervor, als daß die heilige Schrift heilige Schrift ist. Nun aber fragt sich, ob nicht allgemein so etwas Emphatisches angenommen werden könne. Wir haben gesehen, daß das Abundiren statt finde in verschiedenen Gattungen in verschiedenem Maaße. In dem Maaß aber als das Abundiren abnimmt, nimmt die Emphasis zu. Ein emphatischer Satz ist nichts, als eine Abkürzung, nemlich ich lege das durch die besondere Stellung in ein Wort hinein, was ich bei einer andern Art zu reden darneben legen müßte. So wie also das Abundiren am meisten statt findet im blühenden Stil, so findet da die Emphasis am wenigsten statt. Das Abundiren kann am wenigsten statt finden im dialectisch strengsten Vortrage und da muß die Emphasis das Natürliche seyn. Wo also alles in strengster Emphasis genommen werden muß, das ist der philosophische Ausdruck. Nun aber ist auch emphatisch, wenn gewisse Nebenvorstellungen sollen mitgedacht werden. Im philosophischen Gebiet sollen alle Nebenvorstellungen entfernt werden und es soll bloß die ganze Diction so seyn, daß keine entstehen, da die Seele des Lesers immer nur den Faden festhalten soll. Wohin gehört aber jene andre Emphasis? in eine gewisse Art des spielenden Vortrags, der aber den Character der Kürze mit in sich haben muß. Diese Emphasis ist also die, wo die ÐWirkungÑ dominirt. Dieses beides liegt nun ganz außerhalb der heiligen Schrift. In wiefern also diese Maxime, daß alles emphatisch genommen werden müsse, Wahrheit hat, so liegt eben die heilige Schrift auf diesem Gebiet gar nicht. Eben so ist die Maxime der Abundanz auf die Schrift nicht anzuwenden, denn sie geht auf keinen rhetorischen Effect aus, wo die Abundanz allein ihren vornehmsten Sitz hat. Letzteres ist die verkehrte Maxime der neuern Ausleger, wie die erstere der älteren. Mit dem bloßen Aufstellen einer Mitte ist aber nichts
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gewonnen, denn das ist eben so unbestimmt. Allgemeine Regeln, wie beide Maximen zu vermeiden und die Mittelstraße zu halten ist lassen sich nicht aufstellen. Wir haben uns nur das zu Nutze zu machen, was uns in den Irrthümern unsrer Vorgänger und unsrer Zeit gegeben ist. Man muß jede Stelle darauf ansehen, wie sie würde verstanden werden von jedem entgegengesetzten Puncte aus und dann wird sich in der bestimmten Anwendung das bestimmte Gefühl ÐbekommenÑ, auf welche Seite der Satz sich mehr hinneigt. Da wir aber gewisse Gattungen aufgestellt haben, wo die eine oder die andre vorherrscht, so ist auch im Voraus angedeutet, daß in einzelnen Stellen überall die eine wie die andre seyn kann. Wo der ganz leichte Briefstil vorwaltet, da hat man keine Emphasis zu erwarten, sondern weit eher ist die Abundanz an der Stelle. So wie aber der Vortrag sich mehr dem Dialectischen oder dem Gnomischen nähert oder so wie eine leidenschaftliche Schärfe hineinkommt, so hat man die Emphasis mehr vorauszusetzen. Was den bildlichen Ausdruck betrifft, so ist man da leicht in Versuchung, es nach der emphatischen Seite hin zu übertreiben. Nemlich wo ein bildlicher Ausdruck vorkommt im Vorübergehen als bloße Metapher, da kann man denken, dies hätte ja ausgeführt werden können in einer Parabel oder Allegorie ganz im Einzelnen durchgeführt. Jeder bildliche Ausdruck ist nun ein Compendium eines Gleichnisses, das sich auf das Verwandte ausdehnen läßt und nun kann es leicht geschehen, daß man sich das Bild ganz auseinanderlegt und dann kommt die Emphasis, der Reichthum der Vorstellungen, der mitgedacht werden kann. So wie man darin zu weit geht, kann aus der Auslegung leicht eine Einlegung werden. Möglich ist es aber, daß auch der Verfasser alles in ein Bild zusammengedrängt hat und woraus ist nun das zu erkennen? Es giebt gewisse Metaphern, die auch nichts sind als Phrasen. Bringt einer solche Metapher vor, so kann man sich unmöglich denken, er wolle, man solle sie sich denken als Compendium des Gleichnisses, das sich daraus machen läßt. Wenn er es will, so muß er es andeuten. Je näher die Metapher diesem Phrasenwesen liegt, desto thörichter ist die Jagt auf die Emphasis. Je mehr aber die Metapher selten ist oder neu, desto mehr hat man Grund, die Emphasis hineinzulegen. Dazu muß aber kommen die Untersuchung, ob der Verfasser wohl in einem Zustande war, daß er das ganze Gleichniß abkürzt, und wenn dann der Verfasser in der Kürze begriffen ist, wenn er feurig so schreibt, daß jedes Wort dreimal unterstrichen ist, dann kann man es annehmen. Nun aber denke man sich ein ausgeführtes Gleichniß und dann kann man auch da noch über das unmittelbar ausgesprochene hinausgehen und es bleiben Aehnlichkeiten übrig, die noch nicht ausge-
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sprochen sind. In der Parabel vom göttlichen Wort als Saame ist viel ausgeführt, aber wie schöne Erweiterungen lassen sich noch machen, wenn man sagt: der Saame hat noch Hülle u.s.w. Wenn einer sagt: das liegt auch noch im Gleichnisse und Christus hat sich das mitgedacht, so muß man doch sagen: mag auch die Ausführung des Gleichnisses noch so wahr seyn, Christus hat doch keinesweges hier eine solche Emphasis angelegt, weil die Aehnlichkeiten auf einer ganz andern Seite lagen, als er damals anregte und man kann also die Ausführungen die vom eigentlichen Zwecke abweichen nicht als mitgedacht annehmen. Aber da jeder Theil der Rede ein Maaß hat, das nicht überschritten werden darf, so kann nach gefundener Andeutung das in dem Gleichniß selbst noch Liegende mitgedacht werden. Dagegen kann auch vieles im Gleichniß liegen, was gar nicht ausgeführt werden soll, was bloß Schmuck ist und da tritt die Abundanz ein. Man muß nun also sehen, was von beiden statt findet. Wenn der Gegenstand sich für die Vorstellung schon recht gesetzt hat, dann kann man sicher seyn, durch den gewöhnlichen Ausdruck verstanden zu werden. Hat sich aber der Gegenstand noch nicht für die Vorstellung recht fest gesetzt, so wird man unsicher und man kommt so ab von der reinen Durchschnittslinie bald in die Abundanz, bald in die Emphasis. Das geht nun nur hervor aus diesem Zustande der Unsicherheit. Da muß man sich nun in Acht nehmen beim Neuen Testament. Die Vorstellungen der Gottseligkeit waren noch nicht fixirt und den Schriften des Neuen Testaments war bloß die mündliche Rede vorausgegangen, da war also jene Sicherheit noch nicht. Im Johannes zB. ist sehr häufig das Bestreben, dem Ausdruck durch Häufung von scheinbaren Synonimen nachzuhelfen. Pauli Briefe hatten alle ein bestimmtes Publicum, und seine Schriften konnten sich verlassen auf seinen eignen mündlichen Unterricht. Dadurch entstand bei ihm das Gefühl von Sicherheit, das sich auch in allen seinen Schriften ausspricht. Um also Abundanz und Emphasis im Neuen Testament recht zu betrachten, müssen wir diese Umstände und Zustände immer vor Augen haben. Aber das ist gewiß falsch, wenn man meint, der Schriftsteller hat sich nichts gedacht bei der Häufung, sondern das eine soll das andre ergänzen. Eben so falsch ist die ältere Maxime, alles als Emphasis anzusehen, denn die Wörter hatten damals diese Bestimmtheit noch nicht. Das Richtige für das Neue Testament ist dieses, daß wo scheinbar Tautologien und Synonimien vorkommen, man dies da als ein Ganzes ansehe, eine Einheit des Gedankens voraussetzt, aber nicht, daß der Gedanke in jedem einzelnen Element liege, sondern daß der ganze Gedanke in jedem theilweise zerstreut liege, daß aber auch die Ausdrücke nicht ganz und gar zu urgiren sind, weil damals ihr Gebrauch noch nicht
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so fixirt war. Sehen wir auf den dogmatischen Gebrauch des Neuen Testaments, so ist leicht einzusehen, wie unrichtig das ist, daß man den Sprachgebrauch des Neuen Testaments hat in die Dogmatik bringen wollen. Daraus ist eine ungeheure Verwirrung entstanden. In der Lehre von der Wiedergeburt zB. hat man Wiedergeburth, Erneuerung, Erleuchtung u.s.w. ganz scharf trennen wollen und in ein System bringen. Das ist ausgegangen von der Ansicht der Emphasis. Soll die Sache ins Reine kommen, so muß man die NeuTestamentlichen Ausdrücke fahren lassen, wenn man bestimmte Begriffe geben will. Die entgegengesetzte neuere Maxime hat etwas anderes hervorgebracht, nemlich, daß allmählig der ganze Begriff ist annihilirt worden. In wie fern es nun bei diesem quantitativen Verstehen nicht bloß auf einzelne Elemente ankommt, sondern auch auf ganze Sätze, fassen wir die Sache ins Auge im Großen. Jeder Satz hat ein Verhältniß zu den einzelnen Sätzen mit denen er zusammenhängt und dann zu der Einheit der Rede selbst, zu ihrem ganzen Inhalt. In Beziehung auf das letzte ist der wesentliche Gegensatz zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken. Jeder Gedanke, der um seiner selbst willen hingestellt wird und der im Leser bleiben soll, als wesentlicher Bestandtheil der Gedanken, die mitgetheilt werden sollen, ist ein Hauptgedanke, mag er noch so klein und kurz seyn. Dagegen jeder Gedanke der bloß erläutert, er mag noch so weitläuftig seyn, ist Nebengedanke. In Beziehung auf das erste ist der Hauptgegensatz der zwischen coordinirten Sätzen und subordinirten. Nemlich ein Satz, welcher mit einem andern in gleichem Verhältniß steht zur Idee des Ganzen ist coordinirt, der aber vermittelst andrer Sätze und vermittelst seines Verhältnisses zu andern Sätzen erst ein Verhältniß hat zum Ganzen ist ein subordinirter Satz. Ein Nebengedanke hat nun nie eine Emphasis in Beziehung auf das Ganze, im Gegentheil nähert er sich mehr der Abundanz und wir können das zurückführen auf das von der Abundanz gesagte. Ferner an der Art, wie die Sätze miteinander verbunden sind, erkennen wir den Gegensatz des Coordinirten und des Subordinirten und wir können also dies zurückweisen auf das Verstehen der Verbindungsweisen überhaupt. Aber hier noch einiges zur Erläuterung. Indem alle Gedanken in der ganzen Rede sich verhalten wie Hauptgedanke und Nebengedanke so kann das ganze zurückgeführt werden auf das über die Abundanz und über die Emphasis Gesagte. Denkt man sich einen recht streng wissenschaftlichen Vortrag, so sollen da eigentlich gar keine Nebengedanken seyn, sondern jeder soll durch die Stellung im Einzelnen und im Ganzen vollkommen verständlich seyn. Daraus folgt, daß gar kein einzelner Satz auf irgend eine Weise kann als abundirender angesehen
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werden und daß jeder in seiner ganzen Strenge zu nehmen ist, d. h. daß jeder emphatisch ist und das heißt auf der andern Seite, daß keiner emphatisch ist, weil der Ausdruck den Vergleich ausdrückt. Wenn es nun einen Vortrag gäbe, von dem wir sagen könnten, er bestände aus lauter Nebengedanken, so ist das nicht möglich, denn dann hätte er gar keinen ÐGehaltÑ. Das nächste Wirkliche ist das gewöhnliche Gespräch, was gar keinen Hauptgedanken wirklich hat, sondern eine Leichtigkeit setzt, von dem einen Gedanken auf den andern überzugehen. Je weniger wir uns einen bestimmten Zweck denken, desto mehr abundirt jeder Gedanke, weil eben so gut ein andrer Satz hätte stehen müssen. Eine zusammenhängende Rede oder Schrift kann aber nicht bestehen ohne Zweck, darum hat sie Hauptgedanken. Aber je mehr der Inhalt Nebensache ist und der Ausdruck, die Rede Hauptsache, desto mehr Abundanz wird seyn. Nun wird es auch einzelne Stellen geben in Schriften, wo mehr Abundanz oder mehr Emphasis zu erwarten ist und es kommt also darauf an, welche Vorstellung man vorläufig vom Werke habe. Das Verständniß der subordinirten und coordinirten Sätze auf das Verständniß der Verbindungsweisen zurückzuführen, ist mehr an und für sich klar. Je strenger die Verbindungsweisen gehalten sind, desto weniger brauchen wir auf die Sätze selbst zu sehen, nur zu finden, ob sie coordinirt sind, oder subordinirt, je looser, desto mehr. Was den Gegensatz zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken betrifft, so sind die Schriften am schwierigsten, wo der Gegensatz nicht recht heraustritt und darin sind besonders die Schriften des Neuen Testaments sehr schwierig. Man weiß ja noch nicht, welches Grundes halber die historischen Schriften geschrieben sind und in den didactischen Schriften ist auch keine Einheit, so daß was früher Nebensache war kurz hinterher Hauptsache wird. Hier also aus dem Character der Sprache das richtige Verständniß zu fassen, ÐhörtÑ auf. Hieraus können wir einen Entschuldigungsgrund hernehmen für die Irrthümer, die im dogmatischen Gebrauch des Neuen Testaments sich finden, denn für diese macht es am meisten aus zu wissen, ob etwas in der Hauptreihe der Gedanken [ist] oder nicht. Was in der Hauptreihe steht, das muß dem immer näher stehen, was in die Wissenschaft aufgenommen werden kann. Man hat sich hier eine Maxime gemacht, von der viel Irrthum ausgegangen ist. Sie liegt in der Praxis einer gewissen Zeit sehr zu Tage. Nemlich daß wenn ein NeuTestamentlicher Schriftsteller auf einen Lehrgegenstand komme, dieser dann gleich Hauptsache werde und alles andre daneben als Nebensache verschwinde. Diese Ansicht hängt genau zusammen mit der verkehrten Ansicht vom Neuen Testament, daß es von Anfang an dazu be-
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stimmt sey, die Grundlage des christlichen Glaubens zu seyn. Wenn man den heiligen Geist als auctor principalis setzt und wenn man meint, er habe für die ganze Christenheit geschrieben, so muß natürlich wenn er auch bloß eine einzige Gemeine über ihre Ansichten belehren wollte alles gleich zurücktreten, sobald er die ganze Christenheit belehren will. Was das Verhältniß der Sätze untereinander betrifft, so haben wir uns dies zurückgeführt auf das vom leichten Verstehen der Verbindungswörter und -weisen Gesagte. Wo ein vollkommenes System ist in diesen, so werden wir daran genug haben und auf den Inhalt der Sätze brauchen wir nicht weiter zu sehen. Wo aber die coordinirenden und subordinirenden Verbindungsformeln in einander übergehen, da kann man aus den Verbindungswörtern allein das Verhältniß nicht bestimmen, sondern man muß auch auf den Inhalt sehen. Dies sind also hier 2 Verfahrungsarten die sich ergänzen, das Verhältniß der Sätze zu verstehen durch die Art, wie sie verbunden sind und durch das Verständniß des Inhalts. Dies aufs Neue Testament angewandt müssen wir sagen, daß wir mit den Verbindungswörtern allein hier schwerlich auskommen, weil die griechische Sprache sehr ist verdunkelt worden und von ihrem ursprünglichen Reichthum sehr viel verloren hat, indem diese einzelnen Elemente auf einzelne hebräische sind reducirt. Daher haben wir auch kein bestimmtes Bewußtseyn im Gebrauch der Verbindungsformeln im Neuen Testament zu erwarten und es muß hier der Inhalt am meisten entscheiden. Dies wird aber auch wieder sehr erschwert durch die Form der NeuTestamentlichen Schriften, denn wo eine Reihe der Gedanken nicht festzuhalten ist, da giebt es auch Sprünge und gerade an solchen Orten, welche Sprünge der Gedanken enthalten wird es schwer seyn, aus dem bloßen Sprachinhalt das Verhältniß der Sätze zu entscheiden und dies sind eben Aufgaben, über die man oft erst ins Klare kommt, wenn man die Operation von dem Einzelnen auf das Ganze und umgekehrt mehrmals gemacht hat und im Neuen Testament ist die Kenntniß vom Verhältniß der einzelnen Sätze das Letzte, was wir erfahren. Dies führt uns nun ganz und gar auf die mehr subjective oder psychologische Erklärung, welche die Rede als das factum in der Seele des Redenden zu verstehen sucht und wir sehen deutlich, wie diese überall die grammatische begleiten muß. Als wir uns beide Geschäfte der Auslegung zuerst vor Augen stellten und sonderten, 1. die Aufgabe alles in der Rede rein aus der Sprache und 2. aus dem Gemüth und seinen Operationen heraus zu verstehen, so setzten wir uns zum Ziel, daß eigentlich jede einzelne das Geschäft so müßte vollbringen können, daß die andre überflüssig würde. Die Angaben, diese Aufgabe zu lösen, sind auch gegeben. Wenn aber so die gram-
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matische Interpretation ganz für sich allein bestehen soll, dann müssen wir eine vollendete Kenntniß der Sprache überhaupt und eine vollendete Kenntniß von der Construction der Sprache in deren Gebiet jede einzelne Schrift versirt, besitzen. In der Praxis kann also die grammatische Interpretation allein nicht zureichen. Darum haben wir im Einzelnen auf die andere Seite auch schon immer mit hinübergesehen. Wir sind auch immer auf das vorläufige Verstehen des Ganzen zurückgekommen, in diesem haben wir aber nicht getrennt das Grammatische und das Psychologische. In einer Schrift von geringem Umfange gewinnt man die Uebersicht am zweckmäßigsten durch eine cursorische Lectüre. Bei Werken von größerem Umfange ist solche cursorische Lectüre zu zeitraubend und verwirrend, weil man zu viel Schwierigkeiten muß liegen lassen. Darum hat man von jeher auf Erleichterungsmittel hierüber gedacht. Oft geben die Schriftsteller solche, oft die Herausgeber. Das Nächste sind die Ueberschriften. Wo es solche giebt, da muß man sich diese bekannt machen. Was ist denn solche allgemeine Uebersicht von der grammatischen Seite? Nichts als die Constitution des Sprachgebietes in welchem die ganze Schrift versirt. Was von der psychologischen Seite? Wir wollen sehen, was der Verfasser durch die Schrift hat ausrichten wollen, wie sich die Gedanken in ihm verbunden haben. Dabei bleibt die Sprache ganz aus dem Spiel, sondern wir haben ganz rein das Denken vor uns, das Denken an und für sich und dann als Action auf andre durch die Mittheilung.
[Zweiter Theil.] P s y c h o l o g i s c h e A u s l e g u n g . Wir mußten zurückgehen auf das allgemeine vorläufige Verständniß, wir 25 mußten daraus das Thema kennen lernen und die Grundzüge der Composition. Dasselbe leistet uns diese Uebersicht für die grammatische Interpretation, aber hier wird es von einer ganz andern Seite gefaßt. Das Thema einer Rede, die Einheit des Gegenstandes ist dasjenige, wovon in grammatischer Hinsicht die Constitution des Sprachgebietes ausgeht, in 30 dem die Rede versirt. Nemlich das Thema eines Werkes, wenn ich mir das ganze Werk als einen Satz denke, das Subject des Satzes mit der Totalität der Prädicate die hier vorkommen können, aber ganz allgemein gedacht. Da nun in jedem Satz nichts seyn kann als Subject und Prädicat und was zu beiden gehört, so ist hiemit alles was in der Rede vorkommen kann im 35 Allgemeinen indicirt. Eben so wenn wir die Composition in grammatischer Hinsicht betrachten, so giebt uns dies den Hauptpunct in der Verknüpfung an und ist für das formelle Element was das Thema für das
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materielle, denn wenn ich die Grundzüge der Composition habe, so habe ich die Hauptglieder, sofern sie coordinirt sind und subordinirt. Davon hängen nachher die untergeordneten Verknüpfungen ab. Was ist nun aber dieses in Hinsicht auf die psychologische Interpretation? Da ist das Thema des Werkes, die Einheit des Gegenstandes das bewegende Princip, wodurch die einzelnen Theile seiner Handlung bestimmt werden, der Gegenstand in seiner Totalität und Mannigfaltigkeit ist das Seyn des Verfassers und es muß nun alles, was in der Schrift vorkommt, aus dem Interesse, was der Verfasser an dem Gegenstande nimmt erklärt werden können. Wenn wir nun davon ausgehen, daß in dem Menschen beständig eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zugleich ist, nur so, daß immer eine die dominirende ist, die andern in den Hintergrund treten, so liegt in dieser richtig aufgefaßten Einheit des Gegenstands der Bestimmungsgrund, was für Vorstellungen, so lange der Verfasser in diesem ÐActÑ ist, die Centralvorstellungen seyn werden und welche Vorstellungen ihren Platz noch in der Rede ÐmitÑnehmen werden und welche ganz davon ausgeschlossen werden. Das ist also das Subjective. Die Verbindung mit der grammatischen Interpretation ist hier leicht zu finden, denn jeder Mensch ist auf der einen Seite Product der Sprache, auf der andern Seite ist die Sprache Product des Menschen. Indem ich mich nun an die psychologische Seite halte, will ich das bestimmte ÐSeynÑ der Sprache in dem Werke verstehen aus der freien Thätigkeit des Verfassers, dagegen wenn ich mich an die grammatische Seite halte, will ich die That des Menschen verstehen aus der Sprache. Das ist die Art, wie sich beides wieder als eins und dasselbe darstellt. Die Grundzüge der Composition ferner, die auch schon in der allgemeinen Uebersicht müssen gewonnen werden, was geben nun diese von der subjectiven Seite? Die Einheit des Gegenstandes ist das bewegende Princip, aber es ist doch offenbar, daß sich derselbe Gegenstand auf verschiedene Art behandeln läßt und zwar von der eigenthümlichen Beschaffenheit des Verfassers aus. Die Grundzüge der Composition zeigen mir also eben die eigenthümliche Behandlungsweise des Verfassers und aus der Einheit des Gegenstandes als Princip und aus der eigenthümlichen Natur des Verfassers, als das, was ÐbewegtÑ wird von der Einheit des Gegenstandes, aus beiden zusammen kann ich mir die Schrift als Thatsache des Verfassers erklären und beides muß mir in der allgemeinen Uebersicht werden, damit nachher im Verständniß beides sich immer weiter entwickeln kann. Was ist ÐdennÑ aber das letzte Ende, das eigentliche Ziel dieser Seite der Composition? Es ist nichts andres, als dasselbe, was der erste Anfang auch ist, denn das allgemeine Verständniß des Ganzen ist der erste Keim und dadurch muß das Verständniß des
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Einzelnen möglich gemacht werden. Aber indem das Verständniß des Einzelnen vollendet ist, ist erst das Verständniß des Allgemeinen vollendet. Wir haben dann verstanden den Gegenstand als bewegendes Princip und die eigenthümliche Natur des Verfassers, und wie aus beiden zusammen nichts andres hervorgehen konnte. Wir müssen im Einzelnen zu verstehen suchen, wie der Verfasser seinen Gegenstand so und nicht anders zerlegt hat und wir müssen alles Einzelne reduciren können auf die Einheit des Gegenstandes, wie sie in dieser bestimmten Natur sich entwickeln mußte. Nur wenn wir auf diese Weise alles Einzelne verstehen und wir in dem Zusammenhang der Gemüthsbewegung eine jede Stelle eingesehen haben, so daß wir aus dem Einzelnen zusammengenommen das vollkommene Bild von der eigenthümlichen Natur des Verfassers bekommen, so ist das die genaue Kenntniß der Rede und Schrift von dieser Seite. Das ist nun zwar nichts andres, als was das Ziel der grammatischen Seite auch ist, nur von einer andern Seite. Indem wir bei der psychologischen Interpretation ganz von der im Denken begriffenen Seele ausgehen, so wird durch das Denken die Sprache producirt und indem jeder Einzelne zu der Production der Sprache beiträgt und wir gefunden haben, wie dieser Verfasser über diesen Gegenstand sich nur so ausdrücken konnte, so haben wir gefunden, ob und was er zur Bildung der Sprache beigetragen. In der grammatischen Interpretation, was wir aus der Sprache selbst verstehen wollen, wo diese also das Substrat ist, wovon wir ausgehen, ist die Aufgabe die, daß wir die Schrift, in wiefern sie die That eines bestimmten Menschen ist, aus der Sprache verstehen wollen. Hier wird der Mensch aus der Sprache verstanden, wie dort die Sprache aus dem Menschen. Daher ist das Verhältniß beider Arten der Interpretation dieses, daß jede die Probe der andern ist. Denken wir uns, wir könnten eine Schrift vollkommen verstehen durch die grammatische Interpretation, so würde hernach die psychologische Interpretation hiezu die Probe seyn und indem wir nun vom entgegengesetzten Puncte ausgingen, so hätten wir erst die volle Sicherheit. Das zweite Verhältniß ist dieses, daß in jedem Augenblicke jede die andre ergänzen muß, denn indem uns eine Schwierigkeit aufstößt, können wir niemals dÐabeiÑ sicher seyn, wenn wir nicht gleich die Probe der einen Auflösung machen. Wenn absolute Kenntniß der Sprache wäre, dann müßte vollkommenes Verständniß seyn. Sobald wir aber eine unvollkommene Sprachkenntniß voraussetzen, können wir ja nicht verstehen. Wir nehmen dabei unsre Zuflucht zu andrer Sprachkenntniß, aber nur nach dem Maaße unsrer Sprachkenntniß können wir die Sprache andrer verstehen; es bleibt also nothwendig eine Lücke, die nur aus der psychologischen Interpretation zugemacht werden kann.
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Eben so wenn mir eine Unsicherheit entsteht, wenn ich die Rede betrachte als zusammenhängende That des Verfassers, dann kann ich aus meiner Kenntniß von ihm dies nicht gut machen. Ich kann nun denn auch auf andre mich hinwenden, aber deren Sprache verstehe ich ja auch nur eben so. Ich muß mich also hier auf die grammatische Seite wenden. Wir müssen also suchen, den Schriftsteller selbst zu verstehen und aus ihm seine Schrift. Man kann sich aber nicht genug vorhalten, daß ein vollkommenes Verstehen nie möglich ist, sondern daß immer nur Annäherung dazu statt findet. Auf die alten Classiker ist viel Fleiß verwandt, aber doch immer fehlt noch viel. Fangen wir beim Homer an, so ist man ja nicht einmal einig, ob ein Verfasser oder mehrere sind. Wenn irgend eine Vollendung wäre von dieser Seite, so müßten wir das wissen, weil man einsehen muß, warum der eine, der das eine geschrieben, das andre nicht kann geschrieben haben. Wäre aber das Werk wirklich als die That eines Menschen verstanden, so hätte ja jene Hypothese gar nicht aufgestellt werden können. Man denke an unsre 3 Tragiker. Es ist viel für sie gethan und auch vieles festgestellt und wir sagen, es ist ein Unterschied zwischen Aeschilus und Sophocles und Euripides, aber können wir wol sagen, daß die innere Nachconstruction vollendet ist? Haben wir klar vor uns das Bild der Tragödie des Aeschilus und des Euripides? Diese Art von Kunstverständniß ist noch gar nicht weit gediehen und wir sind hier noch nicht so weit, als wir kommen können. Die Grammatiker selbst müssen diese Seite der Interpretation mehr herausheben, denn ohne Grammatik ist gar keine Sicherheit. Wenn aber der Grammatiker bloß vergleicht zwischen dem was er findet und der Idee der Sprache, dann wird aus den grammatischen Resultaten auch kein Verlaß seyn, denn indem er sich den Schriftsteller nicht recht nachconstruirt, kann er ihn doch ganz falsch verstehen. Das Ziel kann also nur durch beide zusammen erreicht werden. In der Einseitigkeit wird alles unsicher. Wollen wir nun das Ziel der technischen Interpretation in ein Wort fassen, so werden wir alles begreifen unter dem Wort Stil. Der Stil des Verfassers soll uns klar vor Augen stehen. Nur müssen wir das Wort in einem etwas weitern Sinne nehmen, wie es gebraucht wird in der bildenden Kunst. Zunächst nemlich verstehen wir unter Stil die eigenthümliche Art, wie einer die Sprache behandelt. So wie die Offenbarung dieser Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Sprache gehemmt ist durch Angewohnheiten u.s.w., so ist kein Stil mehr da, sondern Manier. Nun aber soll die Art und Weise der Composition und der Gedanken uns klar werden und das versteht man gewöhnlich nicht unter Stil. Indem Schleiermacher es aber darunter begreift, muß er sich näher erklären über den
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Zusammenhang beider Theile. Wir unterscheiden freilich Gedanken und Sprechen, das eine als das innere, das andre als das äußere, aber näher betrachtet ist beides nicht zweierlei, sondern eins und dasselbe und zwar nicht nur deswegen, weil wir uns kein Denken ohne Sprache vorstellen können und auch die Sprache nicht ohne Denken, sondern auch deswegen: wenn wir uns Gedanken und Sprache als 2erlei denken, so ist doch offenbar die Sprache das Darstellungsmittel für die Gedanken. Nun aber wenn wir uns irgend ein Werk betrachten so sehen wir doch jeden einzelnen Satz Ð ÑÐ Ñ von der einen Seite als innern Gedanken an und wenn wir uns nun fragen: wie viele Gedanken sind nicht in jedem Werke, von denen man nicht sagen kann, daß sie das sind, was der Verfasser darstellen will, sondern daß sie nur Mittel sind dasjenige darzustellen, was er hat darstellen wollen, d. h. sie sind Erläuterungen, Beweise dessen, was er hat darstellen wollen. In sofern gehören sie mehr dem Aeußeren als dem Inneren, und wir sehen wie beides in einander übergeht. Aber wenn wir nun auch alle Erläuterungen und alle bloßen Erklärungen weglassen und uns bloß an die Hauptgedanken halten, sind diese es, welche der Verfasser eigentlich darstellen will? Sie sind immer ein Mannigfaltiges und kein Schriftsteller erreicht seine Absicht, wenn dieses Mannifaltiges als solches in die Gemüther geht. Er will das Unausgesprochene, die Idee darstellen und alles dazu ist nur Mittel. Wenn er alles auch noch so genau aufgestellt hat, so wird er sagen, er habe seine Mühe verloren, wenn diese Idee nicht aufgefaßt werde. Wir sehen also, wie die Gedanken selbst Darstellungsmittel sind. Von hieraus können wir also folgern, daß die Behandlung der Sprache und Gedanken nur verschiedene Gradationen sind von dem Bestreben, das Innre äußerlich zu machen und daß beides zusammen die Selbstdarstellung des Verfassers ist. Wenn wir nun nicht in der Differenz von Sprache und Gedanken bleiben wollen, müssen wir beides zusammenfassen unter Stil. Die Art, wie der Verfasser das Material herbeiholt und anfaßt, ist die Composition, der höhere Stil. Habe ich das Innerste, die Einheit aufgefaßt und ich könnte nun mir selbst vorlegen den ganzen Umfang alles brauchbaren Materials und ich sähe nun, was einer wirklich gebraucht hat und was nicht, und was er vorzüglich gebraucht hat und was weniger, dann habe ich ja die eigenthümliche Art, wie er in der Behandlung des Gegenstands zu Werke gegangen ist, denn nur durch die Eigenthümlichkeit des Verfassers wird die Wahl der Darstellungsmittel und der Werth, den er dem einzelnen beilegt bestimmt. Es ist zB. offenbar eine verschiedene Sache, ob ich einen Gegenstand jemandem zum Bewußtseyn bringe durch eine lebendige sinnliche Darstellung oder durch eine von innen herausgehende Construction, durch dialecti-
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sche Sonderung von innen heraus und speculative Zusammenstellung. Das gehört doch nun zur Eigenthümlichkeit eines Menschen, ob er mehr auf diese oder mehr auf die andre Art die Sache zur Anschauung bringt und jeder wird dazu sein ganz besonderes Material haben. Nun wird dies freilich bedingt durch die Art, wie sich der Verfasser die ersten Leser denkt, aber dies wird auch wieder Gegenstand unsrer Betrachtung, denn hier sind 2 Arten, die ganz von der innern Eigenthümlichkeit des Menschen abhängen, denn der eine kann sich leichter assimiliren, der andre mehr andre zwingen, sich ihm zu assimiliren, die Composition geht also lediglich immer aus der Eigenthümlichkeit des Verfassers hervor. Es kommt also nun nur alles darauf an, auf welche Art der Weg zum Ziel erreicht werden kann. Hier knüpft Schleiermacher zunächst wieder an das vorher Gesagte, daß der erste Anfang schon das Ganze in sich schließt und wenn wir am Ende sind, wir nichts haben, als die vollständige Entwickelung dessen, was wir beim Anfange schon hatten, denn indem wir durch die allgemeine Uebersicht die Einheit des Ganzen und die Composition vor uns haben, so haben wir nichts zu thun, als beides immer in jedem Einzelnen zu verfolgen. Auf diese Weise wird die Hauptfrage die: wie kommen wir dazu, daß in solcher allgemeinen Uebersicht, wo doch vieles unklar bleibt, doch schon die Grundzüge des Bildes des Verfassers entstehen, die wir nachher nur mehr ausgeführt haben? Es ist hier große Analogie mit dem, was uns im Leben begegnet. Wenn wir einen Menschen zum ersten Male sehen, bekommen wir ein allgemeines Bild von ihm in seinen ersten Grundzügen. Ist das richtig, so ist die vollkommene Kenntniß nachher nichts als dasselbe. Es ist also nichts als die individuelle Anschauung. Wie kommen wir zu solcher überhaupt? Es ist dies auf jedem Gebiet etwas Unendliches, die individuelle Anschauung ist etwas Unendliches. Nun aber ist dies nicht nur unerschöpflich auf eine äußerliche Weise, sondern auch auf eine innerliche, indem in jedem Theile unsrer Anschauung immer noch etwas zu berichtigen ist und in Beziehung auf diese Richtigkeit ist die Aufgabe unendlich, nicht bloß kann die Rede seyn von der unÐ Ñischen äußerlichen Seite. Den Beweis dazu finden wir leicht, wenn wir bedenken, wie man niemals etwas wieder lesen kann, wo man nicht noch Uebersehenes entdeckte. Was man nun dieser Art erreichen kann, davon wäre das höchste die Imitation, wo einer den Verfasser so verstanden hätte, daß er nun selbst so schreiben könnte, daß der Leser dafür hielte, jener habe es geschrieben. Solche Imitationen sind zwar da, aber auch hier ist es doch klar, daß es immer nur approximativ geschehen kann. Um aber so weit wie möglich in dieser Art des Verständnisses zu kommen, wie haben wir es anzufan-
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gen? Wir müssen damit beginnen: was muß vorausgehen, ehe wir mit dieser Interpretation beginnen können? Bei grammatischer Auslegung mußte die Sprachkenntniß vorausgesetzt werden. Da hier vorzüglich die Rede ist von der Anordnung der Gedanken und von der Darstellung der Gegenstände, so ist freilich nothwendig, daß der Auslegung eine Kenntniß vorausgeht von dem Gegenstand, wie er gegeben war vor dem Werke, von welchem die Rede ist und eben so auch eine Kenntniß davon, wie die Sprache gegeben war, als das Werk entstand, denn dies ist etwas Gemeinsames und geht in einander über, die Anordnung der Gedanken und die Erfindung sogar und dann dasjenige, was man nur den Ausdruck nennt. Um zu wissen, wie sich die Eigenthümlichkeit des Verfassers zum vorliegenden Gedanken und zur vorliegenden Sprache verhält, muß man wissen, wie beides vor seiner Schrift gegeben war, damit wir sehen, wozu er beides gemacht hat. Dies sind nun aber 2 Bedingungen, die nicht überall in gleichem Maaße eintreten. Allerdings muß man überall wissen schon bei der grammatischen Interpretation, was in der Sprache vorher gegeben war, man muß die schon vorhandenen und in Uebung seyenden Verbindungen in der Sprache sehen, um zu finden, was er sich angeeignet, was nicht und daraus seine Eigenthümlichkeit finden, woraus man nachher seinen ganzen Prozeß sich nachconstruiren muß. Den dies hier entspricht dem auf der grammatischen Seite so ausgedrückten, dem Verstehen des Einzelnen müsse das des Ganzen vorangehen. Das Ganze ist die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers. Die Kenntniß davon müssen wir aus der flüchtigen Uebersicht gewinnen und das geht nicht ohne Kenntniß jenes Vorausgesetzten. Dies wird aber von desto größerem Werth, je eigenthümlicher der Verfasser die Sprache behandelt. Das andre, wie er eigenthümlich den Gegenstand behandelt habe, ist auch bald mehr, bald minder da. Bei der einzelnen Rede zum Beispiel ist es unendlich, wenn ich den Gegenstand wollte am einzelnen Falle suchen. Aber so ist es nicht zu verstehen, sondern der Inhalt ist der Gegenstand. Ist sie eine dikastische, so sind die Rechtsverhältnisse hier der Gegenstand und da müssen wir denn fragen: worin zeigt sich hier die Eigenthümlichkeit des Verfassers? und so gehört schon, wie die ganze Gattung der Rede beschaffen gewesen ist, als der Verfasser redete[,] zum Gegenstand und dann werden wir nicht zweifelhaft seyn, was dies ist, das uns im Voraus muß gegeben seyn. Je weniger aber sich die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers im Großen zeigt, desto weniger kommt darauf an, weil dann nichts daraus zu entdecken ist. Aber man muß erst herausfinden, ob der Verfasser bloß im 24 gewinnen] gewonnen werden
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alten Geleise geblieben ist oder nicht und die Betrachtung muß auf jeden Fall angestellt werden. Beide Bedingungen sind also in jedem Falle unerläßlich. Wünschenswerth ist nun, wenn man, ehe man an das Geschäft der Auslegung selbst geht, von dem Verfasser anderwärtsher etwas weiß, woraus sich ein allgemeines Bild von ihm oder einzelne Züge davon entwerfen lassen; können wir aus dem öffentlichen Leben den Character des Schriftstellers kennen und aus seiner LebensÐgeschichteÑ seine Entwickelung, dann werden wir einen großen Vorsprung gewinnen, seine Eigenthümlichkeit zu verstehen. Allein dies ist etwas, was man mehr wünschen als allgemein postuliren kann, weil dergleichen Kenntniß in den allerwenigsten Fällen nur zu haben ist, denn wir stecken hier immer in einem Dilemma: ist von einem Menschen die Rede, der uns noch in der Nähe steht des Raumes oder der Zeit, so ist das Urtheil immer in sehr hohem Grade schwierig und unsicher, denn man kommt immer auf entgegengesetzte Bilder, man erhält lauter einzelne Nachrichten von ihm, worin schon das Urtheil des Erzählenden mit steckt und daraus ist es schwer ein Urtheil zusammenzusetzen und jeder wird es sichrer halten, sich ein Bild zu entwerfen von dem Menschen aus dem, was er in der Schrift findet, als aus ÐjenenÑ Nachrichten eine Grundlage der Interpretation zu bilden, wie wichtig jenes auch wäre. ZB. Es wird uns Deutschen wenig Sinn zugeschrieben für Ironie und Persiflage, woraus nachher entsteht, daß man etwas dafür hält, was ganz ÐgutÑ gemeint ist. Das ist ein Mangel an Interpretation. Hätten wir nun eine Kenntniß des Verfassers, so würden wir wissen, wo er wohl Ironie und Persiflage vorbringt. Aber solche Kenntniß ist bei Zeitgenossen und Landsleuten gar nicht zu haben als aus äußerer Kenntniß und sind sie sehr weit von uns, dann fehlt es wieder an allen Nachrichten in dem Maaße, als der Verfasser keine in die Geschichte eingreifende Person gewesen ist. Darum muß man es in der Interpretation darauf anlegen, sich ohne dies zu behelfen, und in dem Stil selbst die Grundlage des Characters zu finden, so wie diese sich in einer Handlung, wie eine Schrift ist, manifestiren kann. Giebt es aber so etwas, nun dann benutzt man es. Man muß also mitbringen zur Erklärung einer Schrift die Kenntniß einer ganzen Volkslitteratur bis zur zu erklärenden Schrift, denn darin liegt die Kenntniß der Sprache und des Gegenstandes. Hier wieder der alte Kreis. Diese Kenntniß entsteht erst durch die Auslegung und muß doch der Auslegung vorangehen. So kann dieser ganze Prozeß erst allmählig fortschreiten. Jede hermeneutische That bringt größre Kenntniß des Gegenstands und der Sprache hervor. Nun aber geht es noch wieder
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jedem Einzelnen so, wie dem Ganzen, daß er erst sich allmählig erwerben muß, was er mitbringen kann. Da muß man denn der Tradition trauen und jeder mit vom fremden Gute zehren. Dem Anfänger in der Interpretation müssen diese Vorbereitungen gegeben werden. Wenn also ein Schriftsteller für die Interpretation zubereitet wird, so ist es ein compendiarisches Hülfsmittel, wenn man die Vorbereitung voranschickt. Das sind die Prolegomena. Indessen diese Seite ist bei weitem mehr vernachlässigt, als die Analogie auf der grammatischen Seite. Es steht zwar vor den meisten Werken eine vita des Schriftstellers, aber es wird darauf gar nicht das rechte Gewicht gelegt, es erscheint viel mehr als eine Zugabe, als daß man es auf die Auslegung beziehen sollte. Entstanden ist diese Gewohnheit gewiß aus dem richtigen hermeneutischen Gefühl, daß die Kenntniß von der Art, wie der Mensch geworden ist und in andern Gebieten des Lebens gewesen ist, ein sehr wünschenswerthes Hülfsmittel zur Erklärung sey. Wir haben aber gesagt, dies sey doch nur sehr selten. Das andre nun, zu wissen, wie der Gegenstand im weitern Sinne des Wortes dem Verfasser gegeben war, vermißt man fast immer. Es ist wahr, es scheint dies auf den einzelnen Schriftsteller bezogen zu viel zu seyn. Wenn wir vor einer Rede des Cicero den ganzen Zustand der Beredsamkeit, wie sie Cicero gefunden hat, [dargestellt erwarten], so hält man das für zu klein dazu und meint, das sey etwas, was sich etwa paßt zu einer Ausgabe aller Reden. Darum setzt man dies immer von anderswoher voraus. Zweifelhafte Fälle sind hier immer, man wird immer auf Stellen kommen, wo einem die Nachconstruction des Verfassers ausgeht, weil man nicht weiß, wie es mit diesem Gegenstande zu seiner Zeit stand. Wenn man auf solche Stellen stößt muß man solche Kenntniß nachholen, wenn man kann. Daraus geht hervor, daß das rechte Verständniß immer nur kommen kann, wenn man in Masse studirt, wenn man alle gleichartigen Schriftsteller einer Zeit oder eines Volkes im Zusammenhange liest, dann versteht man jeden einzelnen viel besser. Noch vollkommener wirds, wenn man die früheren Schriftsteller liest, in Beziehung auf die Späteren. Dies führt immer ins Weitere und nur im großen Zusammenhange kann die individuelle Anschauung erworben werden. Das gilt nicht bloß von den gleichartigen Schriftstellern, denn das wäre bloß in Beziehung auf den Gegenstand, sondern es kommt auch auf die Kenntniß des ganzen analogen Sprachgebiets an, um die Kenntniß der Sprache zu bekommen. Je mehr diese Kenntniß fehlt, desto mehr gehört ein ausgezeichnetes hermeneutisches Talent zum Verstehen einer Schrift, und je mehr dieses fehlt, 20 hat] wäre
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desto breitere und größere Basis von Sach- und Sprachkenntniß muß vorÐanÑgehen. Das ganze Interpretationsgeschäft ist ein Fortschreiten vom Allgemeinen zum Besonderen und dann von da zum Allgemeinen. Es kommt also alles an auf die erste Auffassung. Wir müssen anfangen mit einem allgemeinen Bilde und dieses bis aufs Einzelne hinein durchgeführt ist die vollendete Interpretation. Es ist aber hier die Rede von dem Bilde der That des Verfassers, aus der jedes Einzelne erklärt werden muß. Hieraus müssen wir uns nun das ganze Verfahren in seiner Fortschreitung erklären. In jeder That haben wir 2erlei zu unterscheiden die Idee und die Ausführung. Die Ausführung einer Handlung ist ohne die Idee nicht zu verstehen und keiner kann Gewißheit haben über die richtige Auffassung der Idee, wenn er nicht auch die Ausführung verstanden hat. Daher muß beides schon in der ersten Auffassung seyn und sich in der Folge nur weiter entwickeln. In so fern haben wir also nur ein und dasselbe Geschäft. Daher wird es zweckmäßig seyn, ehe wir in die Unterscheidung gehen von der ersten allgemeinen Auffassung zur Erklärung des Einzelnen, daß wir uns über die Methode dieses Verfahrens verständigen. Wir wissen, daß alles Verstehen eine individuelle Anschauung ist, daraus haben wir abgesehen, daß sie niemals könne vollendet werden. Wir müssen uns nun die Frage vorlegen: wie kommen wir zu einer lebendigen Anschauung des Individuellen an und für sich? Hier giebt es 2 Wege 1. der der unmittelbaren Intuition 2. der der Comparation. Der erste besteht darin, wie wir uns unmittelbar in das handelnde Wesen verwandeln können und nun uns das Gesetz seiner Handlungsweise unmittelbar produciren. Dies ist bei aller Menschenkenntniß das eigenthümliche Talent. Jeder Einzelne ist etwas für sich, er hat aber auch eine allgemeine Empfänglichkeit für die ganze menschliche Natur und es kommt nur darauf an, wie einer in der Betrachtung sich selbst ganz verleugnen und diese allgemeine Empfänglichkeit kann hervortreten lassen. In dem Maaß als einer das kann, kann er solche Anschauung von einem andern gewinnen. Dies beruht nun darauf, daß jedes Lebendige ein Freies, ein sich selbst Bedingendes ist und also auch nur aus dieser Unmittelbarkeit verstanden werden kann. Das comparative Verfahren geht von der entgegengesetzten Seite aus, nemlich daß alles Einzelne mit mehreren unter einem Gemeinsamen ist und daß man seine Existenz theilen kann 1. in dasjenige, was es mit den Verwandten gemein hat 2. wodurch es sich davon unterscheidet. Das erste ist eine ganz einfache Subsumption und dieser Theil ist 24 uns] folgt 〈können〉
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bald abgemacht. Und nun sagt man, die Kenntniß der Eigenthümlichkeit des Menschen geht daraus hervor, daß ich finde, der Mensch gehört zu der Klasse und indem ich nun noch suche, wodurch er sich von allen unterscheidet, habe ich seine ganze Eigenthümlichkeit. Offenbar ist das erstere Verfahren weit lebendiger, aber es ist instinctmäßiger und unsichrer. Es ist mehr die weibliche Form der Menschenkenntniß. Die Weiber halten sich immer mehr heraus aus dem Gegensatz des Allgemeinen und Besonderen, weil sie mehr durch den Sinn sind als durch die Reflexion. Daher ausgezeichnete Weiber sich den Menschen genau nachconstruiren können und zwar auf dem Fleck. Es giebt aber dabei kein Vertrauen, als das auf dem Instinct beruhende. Wogegen das letztere Verfahren am leichtesten sich nachweisen läßt und prüfen. Aber es wird nie so lebendig seyn, denn ich habe mir immer den Menschen zerfällt in das Allgemeine und das Besondere. Nun läßt sich aber auch nachweisen, wie beides von einer andern Seite dasselbe ist und jedes im andern enthalten. Denn wenn wir das erste nur begreifen können, wenn wir sagen: jeder Mensch hat Empfänglichkeit für alles Menschliche und er kann sich in seinem Bewußtseyn unmittelbar jede Eigenthümlichkeit im Bilde gestalten und wir haben dem entgegengesetzt die eigne Eigenthümlichkeit, so ist das gar kein Gegensatz, denn der Mensch hat doch in sich den Keim alles Differenten. Jeder Mensch zB. hat sein eignes Temperament, aber jeder hat auch Momente, die ins entgegengesetzte Temperament hineingehören und das Ausschließen dessen was in der menschlichen Natur überhaupt gesetzt ist, aus dem Daseyn eines Einzelnen kann nie vollkommen seyn. Die Intuition hat also doch ihren Grund im geschärften Selbstbewußtseyn, also ist doch die Vergleichung damit im Spiel und so können wir dieses Verfahren auf jenes reduciren. Das comparative Verfahren geht davon aus, daß ich erst das Allgemeine setze, das Temperament, Geschäft, Bildungsstufe u.s.w. Woher habe ich ihn aber erst im Allgemeinen als einen solchen gesetzt? Da können wir nicht wieder die Comparation als Grundform ansehen, wir müssen also die Identität, die bei der Vergleichung gesetzt werden muß, aus der unmittelbaren Anschauung hernehmen und so ist dieses Verfahren nicht ohne jenes und jenes nicht ohne dieses. Daraus geht hervor, daß wir jede der beiden Methoden an sich so vollkommen ausbilden müssen als möglich, im Gebrauch aber beide vereinigen. Sehen wir nun auf das Geschäft selbst, so kommt es schon bei dem ersten allgemeinen Ueberblick an auf die Idee der ganzen Handlung und dann auch wiederum in den Grundzügen der Composition und Ausführung. Es ist schon gesagt, daß auch dieses beides eines ohne das andre nicht zu denken ist und darum muß auch eines wieder völlig im andern
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aufgehen. Denn die vollendetste Ausführung ist doch nichts als die vollendete Entwickelung der Idee selbst und die Idee als bewußtes muß zugleich das Gesetz der Ausführung in sich enthalten. Aber auf der andern Seite ist der relative Gegensatz in solcher bewußten Handlung als das Schreiben und Reden ist, gar nicht zu verkennen. Wir müssen uns also als die erste vorläufige Aufgabe stellen, die eigentliche Idee des Werkes zu finden. Es ist dies nicht so leicht zu bestimmen und festzuhalten, wie es auf den ersten Augenblick scheint und wir müssen uns wol darüber verständigen, was denn eigentlich im Verhältniß von Idee und Ausführung unter der Idee verstanden sey. Offenbar ist die Idee etwas andres als der Gegenstand, der die Ausführung durchaus nicht bedingt. Wenn einer sich hinsetzt mit der Absicht über diesen oder jenen Gegenstand zu schreiben, so kann er noch gar nichts schreiben, weil er noch nicht weiß, was, denn der Gegenstand allein bestimmt gar nichts. Auf der andern Seite liegt etwas jenseits der Idee, das ist der Zweck des Schreibens, der etwas ganz Fremdartiges seyn kann. Dieser kann wieder auf die Ausführung keinen Einfluß haben, außer auf einzelne Dinge. Was ist aber das, was zwischen diesen beiden Puncten liegt, was die Ausführung mehr bestimmt als beides? Wir müssen auf einen andern Punct sehen, auf diejenigen, für welche geredet wird oder geschrieben und durch diese Beziehung ist die Idee etwas anderes als der Gegenstand und was der Zweck außer der Idee ist, das ist, daß er außerhalb dieser Beziehung ist. Nemlich wenn ich über einen Gegenstand reden will für bestimmte Menschen, dann habe ich die Idee des Werkes, dann ist die Bestimmtheit des Gegenstandes da und die Bedingtheit der Ausführung und nur aus beiden Puncten ist die Idee der Schrift zu construiren. Auf diese Weise sehen wir, wie die Grundzüge der Ausführung in der Idee gegeben sind, und wie sie eine bestimmte wird durch die Beziehung auf diejenigen, für welche die Schrift gemacht ist, denn wenn ich zB. unrichtige Meinungen über einen Gegenstand wegschaffen will, oder wenn ich eine Seite des Gegenstands herausheben will in Beziehung auf die Menschen, welche es interessirt, so ist offenbar die Idee der unmittelbare Keim des Ganzen. Das Thema ist gar kein lebendiger Keim, aus dem an und für sich gar nichts weiter werden kann. Wie kann man nun dazu kommen, in diesem Sinne die Idee des Werkes zu finden, dasjenige, was der Verfasser eigentlich gewollt hat? Manchmal sagt es einem der Verfasser ganz ehrlich, aber das sind die seltensten Fälle und es giebt viele Productionen, wo das gar nicht seyn kann, wie zB. bei allen poetischen Kunstwerken. Da kann der Verfasser seine Idee nicht sagen, sie läßt sich nicht sagen, sondern sie muß aus der Ausführung herausgeholt werden. Eben so läßt es sich auch auf andern Gebieten nur sehr schwer ausmitteln, was die Idee davon sey.
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Die Idee der Fabel zB. ist das typische Verhältniß gewisser Wesen. Die Lehre ist nur Nebensache. Dasselbe beim Drama. Die Idee davon ist, gewisse menschliche Verhältnisse und Charactere neben ein ander zu stellen. Alles andre ist nur etwas Einzelnes. Der Gegenstand allein bestimmt also nichts, der Zweck auch nicht. Es kommt auf diejenigen an, an welche der Verfasser schreibt oder für welche und dann dasjenige, was er bei diesen will hervorbringen, dann auch auf die Kenntniß des Gegenstandes. Aus diesen 3en besteht die Idee des Werkes. Was nun zuerst den Gegenstand betrifft, so verräth sich dieser sehr leicht. In der neuern Zeit wird er gewöhnlich angegeben. Dennoch finden wir oft Zweifel über den Gegenstand eines Werkes. Wir dürfen nur an die Iliade denken, wo der eigentliche Gegenstand ganz entgegengesetzt ist angesehen 1. daß der Achilles die Hauptperson des Gedichts sey 2. daß es die Geschichte des Trojanischen Krieges sey. Diese beiden entgegengesetzen gleich falschen Ansichten betreffen doch nur den Gegenstand und wir können an dies Beispiel eine allgemeine Betrachtung anlehnen. Nemlich die eine Ansicht hat sich verführen lassen durch den Anfang und indem man dazu die Odyssee nahm und beide für Haupttypen alles Epischen hielt, ist eine ganz falsche Ansicht davon entstanden. Die andre Ansicht geht aus der falschen Construction hervor. Man sucht die Einheit der Handlung und diese war der trojanische Krieg. Man hat da das Rechte verfehlt, weil man geglaubt hat, ein episches Gedicht müsse eben so eine Einheit haben, als ein dramatisches. Wenn man der bloßen Ueberschrift folgt, kann man sich also leicht täuschen, denn der Anfang der Ilias und Odyssee sind wie Ueberschriften. Das werden wir öfter finden und zwar werden wir es natürlich finden, wenn wir sehen, wie ganz zufällig dies ist, denn der Inhalt der Ueberschrift ist ja im Werke selbst. Der Titel ist auch nicht allemal die Bezeichnung der innern Einheit des Ganzen, sondern oft nur bloße Benennung. In den poetischen Werken ist es immer nur die dramatische Form, die solche Bezeichnung zuläßt, welche an einem einzelnen Namen klebt. Wenn wir auf den Roman sehen, so ist da das Verhältniß schon anders. Die meisten werden auch nach einer Person benannt. Wenn man nun meint, das ganze Werk drehe sich um diese, so ist das ganz falsche Vorstellung. Eben so ist es mit den Novellen, wo auch die Bezeichnung hergenommen ist von einem einzelnen Umstand. Die Bezeichnung ist immer nur das Zufällige und der Verfasser kann dabei ganz andre Rücksichten haben, als den Mittelpunct des Werkes aufzuschließen. Hat man aber durch fleißige Lesung den Gegenstand 17 Ansicht] Betrachtung
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erkannt, so muß das andre hinzukommen, die Kenntniß derer, für welche der Verfasser schreibt und dessen, was der Verfasser in ihnen erregen will. Was ist das Verhältniß des letztern zum Gegenstand? Der Gegenstand kann ganz dominiren. In jeder geschichtlichen Darstellung ist immer der Gegenstand die Hauptsache. Nun aber kann ein Geschichtsschreiber einen bestimmten Gesichtspunct haben. Er kann rein nur den Gegenstand vorbringen, die Leser mögen daraus machen, was sie wollen. Das kann aber fast nie rein bestehen, weil eben so wie man einen Gegenstand aufgefaßt hat, als Einheit, er doch eine Mannigfaltigkeit in sich hat und damit hat man dann schon einen bestimmten Gesichtspunct. Will ich also bloß den Gegenstand darstellen, so muß ich meinen Gesichtspunct verleugnen, oder alle übrigen möglichen Gesichtspuncte mit angeben. Die Relation ist aber nun zu trennen von der Auffassung und alle möglichen Gesichtspuncte mitzutheilen ist unmöglich, weil die Aufgabe unendlich ist. Die epische Darstellung geht rein aus auf die bloße Darstellung, darum kann sie den Gegenstand auch nicht als Einheit ansehen, sondern der Dichter hat da immer nur das Einzelne im Auge, nie die Einheit des Ganzen. Im Einzelnen selbst aber kommt immer eine Ansicht mit vor, weil aber das Einzelne für sich ist, so tritt die Ansicht im Ganzen nicht heraus. Im eigentlichen geschichtlichen Gebiet wäre die Chronik dieser reinen Objectivität am nächsten. Das ist aber die unvollkommenste geschichtliche Betrachtung weil eine Hauptsache in der Geschichte ist, die Verbindung darzustellen, die ohne Urtheil nicht seyn kann. Es kann nun auch seyn, daß dasjenige, was der Verfasser in seinem Publicum bewirken will, die Hauptsache ist, und daß der Gegenstand ganz zurücktritt. In diesem Minimum bekommt dann der Gegenstand eigentlich nur den Character eines Exempels. Das ist das minimum. Zwischen beiden Enden können aber große Abstufungen seyn. Man muß aber jedesmal den Ort zwischen beiden aufsuchen, das Verhältniß des Gegenstands zur Tradition. Offenbar wird dadurch die ganze Ausführung bestimmt. Denkt man sich das eine maximum, so ist alles an dem Gegenstande überflüssig, was nicht die Wirkung hervorzubringen dient und es wird also alles durch die Tendenz bedingt und nur daraus begreifen wir, warum dies erwähnt, jenes ausgelassen ist. Auf der andern Seite wo die Tendenz das minimum ist, dann wird sie eben nur eine Begrenzung des Gegenstands seyn, oder der Art und Weise, ihn zu behandeln d. h. indem der Verfasser nichts will, als daß sein Publicum den Gegenstand richtig auffasse, so denkt er sich sein Publicum als ein gewisses und bedenkt dabei die Schwierigkeiten und Hindernisse, die sein Publicum haben könnte und diese schafft er fort. Aber das macht dem Gegenstande so viel nicht.
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Dies Verhältniß wirkt zurück auf das Verhältniß des Gegenstandes und seiner Bezeichnung, denn je mehr der Gegenstand in der Idee des Werkes zurücktritt, desto zufälliger wird die Bezeichnung, da man doch sehr selten sagt, was man ganz kurz will. Man muß sich also sehr hüten, auf die Bezeichnung etwas zu geben, da man erst das Werk lesen muß, um das Verhältniß der Bezeichnung und des Gegenstandes zu finden, und erst aus diesem Verhältniß gehen die Principien der Bezeichnung hervor. Selbst auf dem philosophischen Gebiet, wo der Gegenstand mit der Tendenz ganz zusammenfällt, weil der Verfasser nichts will, als die Erkenntniß des Gegenstandes, sind Mannigfaltigkeiten derselben Art und wenn gleich in kleinerem Umfange, so finden wir doch diese Gegensätze wieder, denn es ist auch ein untergeordneter Gegensatz im philosophischen Gebiet zwischen der Art des Philosophirens und dem Inhalt. Will nun der Verfasser die Leser in eine bestimmte Idee der Gedankenverknüpfung bringen, so kann ihm der Gegenstand auch nur Beispiel seyn. Das Philosophiren freilich im strengsten Sinne, wo nichts Einzelnes ist, da ist immer alles, was sich ÐauchÑ mit einem einzelnen Gegenstande beschäftigt, die ganze Philosophie. Da ist soviel als irgend möglich der Gegensatz zwischen dem Gegenstande und der Tendenz verschwunden. Der Philosophie ist nun hier 2erlei entgegengesetzt 1. die Kunst, 2. das Formlose. Im ersten wird die Schwierigkeit erleichtert durch die Form, denn die begrenzt schon die Idee des Gegenstandes und wenn man den Character der Form im Allgemeinen gefaßt hat, so weiß man schon, daß im lyrischen Gedicht nicht die Einheit ist, als im dramatischen. Die Idee wird also da bestimmt durch das Zusammenseyn des Gegenstandes mit der Form. Kommen wir aber auf das Formlose, da ist die größte Schwierigkeit die Idee des Werkes zu bestimmen. Am meisten tritt diese lose Form hervor im Brief. Indem wir nun wissen, worauf es ankommt, müssen wir es auch finden können. Es kommt nur sehr darauf an, ob man es mit einem Kunstwerk zu thun hat, oder mit einem Werk, das einen bestimmten Zweck hat. Ersteres steht als Objectivität zwischen der Subjectivität des Verfassers und der Leser, woraus jeder machen kann, was er will. Die Richtung auf das Gemüth der Zuhörer geht hier rein auf in der Form und alles andre soll nicht in dem Kunstwerk liegen, sondern es soll erst aus der freien Aufnahme desselben hervorgehen. Darum hat ein Kunstwerk kein beschränktes Publicum, sondern es hat keine Grenze als die Sprache und soweit dieselbe Sprache geht, geht sein Publicum. Dies gilt nun freilich nicht von allen insgemein. Damit hängt nun zusammen, daß die Absicht in der Form aufgeht, d. h. der Verfasser will nichts, als daß nur diejenigen, denen sein Werk vor Augen kommt, die ganze Form auffassen und so ist
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die Absicht des Künstlers, der im Epos einen Argonautenzug dichtet, desjenigen der ihn lyrisch darstellt und desjenigen, der daraus ein Drama macht, allerdings verschieden, aber sie geht auch rein in der Form auf. Die Auffassung der Idee des Werkes beruht hier also auf der richtigen Auffassung der verschiedenen Kunstformen. Betrachten wir aber die Werke, die einem bestimmten Zweck dienen, sie mögen seyn, welche sie wollen, dann müssen andre Indicien da seyn, woraus man die Idee des Werkes wirklich erkennen kann. Hier ist nun die Sache die: der Verfasser muß gleich seinen Gegenstand vor Augen stellen. Der Gegenstand also bestimmt sich durch den Anfang. Eben so natürlich ist, daß dasjenige, was der Verfasser erreichen will, sich am Ende manifestirt, denn er ist erst ÐdannÑ am Ende, wenn er seinen Zweck erreicht hat und er kann fast nicht von seinen Lesern scheiden, ohne eben durch Ziehung eines Resultats dies gethan zu haben. Allerdings kann es Fälle geben, wo ein Schriftsteller es gar nicht zu Tage fördern will, welche Wirkung in den Gemüthern er eigentlich beabsichtigt. Das setzt aber schon erkünstelte Verhältnisse voraus, dabei ist natürlich die Auslegung sehr erschwert. Nun lassen sich aber auch noch andre Fälle denken, warum der Verfasser sich am Ende nicht über seinen Zweck erklärt, nicht weil er dunkel bleiben wolle, sondern weil er glaubt, ein jeder müsse das von selbst finden, besonders, wenn er schon bei den einzelnen Theilen der Schrift die Idee angegeben. Will aber der Verfasser seine Absicht verbergen, so wird er am Ende der Theile auch nichts sagen. Aber das bleibt gewiß wahr, daß er von den einzelnen Theilen nicht eher abgehen kann, als bis er darin seine Idee erreicht und dargestellt zu haben glaubt. Es ist also hier nur eine Abstufung von unmittelbarem Gegebenseyn der Absicht bis zu der auch gegebenen aber nicht ausgesprochenen. Alle Werke, die einem bestimmten Zweck dienen, müssen aber auch eine gewisse Form hervorrufen, aus der man ihn schon erkennen kann. Eine dialectische Schrift, die es mit der Construction einer allgemeinen Anschauung zu thun hat, kann unmöglich anders als einen cyclischen Gang nehmen, sie muß am Ende wieder auf den Anfang zurückkommen. Wo also solch cyclisches Verfahren ist, da ist die Absicht der bloß ÐreinenÑ Entwickelung an und für sich klar. Denken wir uns ein Rhetorisches. ÐDaÑ sollen die Hörer zu etwas bewegt werden. Wir können aber uns da keinen andern als einen rein steigenden Fortschritt denken. Zuerst wird einer die Hindernisse aus dem Weg räumen müssen, die der Bewegung 29 Alle] In allen
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entgegenstehen könnten, die er hervorbringen will und nun muß er im Steigen bleiben, bis er das Gefühl hat, es müsse nun das Gefühl in allen erregt seyn. Wo das ist, da kann man auch keine andre Absicht voraussetzen. Endlich haben wir das Geschichtliche. Je mehr dies rein, desto mehr ist ein Gleichgesetztseyn aller Theile, weil die Geschichte nichts will, als die Aufeinanderfolge. Der Geschichtsschreiber schildert alles und zwar mit gleicher Liebe. Eine geschichtliche Darstellung freilich kann rhetorisch seyn und dialectisch, aber ÐdannÑ ist sie nicht rein geschichtlich. Hieraus kann man am sichersten die eigentliche Idee der Schrift finden. Dies findet aber nur statt in dem Maaß, als die Form streng ist. Bei den lose gehaltenen Schriften wird das nicht ausreichen. Wir werden also da noch einen andern Gegensatz suchen müssen, um ÐdarinÑ zum Ziel zu gelangen. Wenn auch eine Schrift nicht so getheilt ist, daß man sie daraus klar übersehen kann, so muß doch immer eine Art von Theilung seyn und die Theile müssen immer besonders accentuirt seyn. Wo also auch keine bestimmte Theilung ist, da werden wir doch den Unterschied finden zwischen accentuirten und nicht accentuirten Sätzen. Die letzteren müssen am wenigsten zur Absicht des Verfassers beitragen, in ersteren muß die Idee sich abnehmen lassen, wenn man nur die Accentuation richtig herauszubringen weiß. Führt uns aber dieses durch das ganze Gebiet der Rede hindurch, daß wir sagen, eine Rede wird entweder getheilt auf organische Weise, oder auf rythmische? Giebt es nicht eine Rede, wo auch gar keine Accentuation ist? Im Allgemeinen ist die Möglichkeit davon nicht zu construiren. In welchen Fällen könnte es wol möglich seyn? In dem gewöhnlichen Gespräch sind am wenigsten die Spuren einer organischen Abtheilung, aber von der andern Seite erscheint es völlig unaccentuirt, so ist es ganz leer und unbedeutend, und wenn sich die Leute unterhalten um die Zeit zu tödten und sich mit ganz leeren Dingen Spießruthen jagen, dann ist keine Accentuation da, am wenigsten aber kann man sich eine solche Schrift denken. Sollte es da einmal vorkommen, so muß es Kunst seyn. Auch im gewöhnlichen Gespräch kommt das vor, daß Leute, die den trocknen Witz verstehen, auf ganz accentlose Weise aussprechen, was eben sehr accentuirt werden müßte. Wenn davon ein Analogon in der Schrift seyn soll, so kann das nur im Einzelnen geschehen, auf die Hauptsätze bezogen ist es nie zu denken, es sey denn, daß der Verfasser gleich sich verbergen müßte und das Höchste in seiner Schrift auf accentlose Weise vortragen. Darnach muß aber auch die Totalität des Einzelnen eingerichtet seyn und diese wird immer die Absicht errathen lassen.
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Es kann aber Umstände geben, unter denen verschiedene Ansichten heraustreten können über die Idee des Werks. Es muß aber jeder Schrift ein Typus zum Grunde liegen. Aber es kann wirklich so stehen, daß die Einheit einer Schrift aus ihr selbst nicht zu finden ist, sondern daß eben, sofern sie eine That ist, ihr Grund in etwas andrem liegt. Wenn zB. eine Schrift sich auf eine andre bezieht, wie das in Streitschriften und Briefen der Fall ist, da gehören beide zusammen. Dann aber kann auch die Schwierigkeit eine solche Einheit zu finden in der Unvollkommenheit des Verfassers begründet seyn, denn diese kann so groß seyn, daß sie eigentlich den Act des Schreibens wieder aufhebt. Wir müssen uns dies klar vor Augen halten, denn wenn man das Fehlen des Schriftstellers voraussetzt, so ist alles Suchen zur Auflösung zu gelangen vorbei. Man muß also wissen, unter welchen Fällen man dies voraussetzen kann. Wir haben vorausgesetzt: in der zusammenhängenden Rede muß eine Idee zum Grunde liegen, es muß eine Einheit des Gegenstandes und des Interesses darin geben. Dazu muß es in der ÐSeeleÑ immer etwas Verbindliches geben. Im Menschen ist aber niemals ein Gedanke allein, auch nicht eine Gedankenreihe allein, sondern immer ist der relative Gegensatz da von Hauptgedanken und Nebengedanken. Nun ist also nothwendig, wenn sich der Zusammenhang in einer überlangen Rede erhalten soll, daß von Nebengedanken nur das hineinkomme, was sich mit der Idee des Werks vereinigen läßt. Beides aber, das Entwickeln des Hauptgedankens und das relative Abweisen alles dessen, was nicht dahin gehört, muß immer angenommen werden. Wie vollständig der Mensch dieses könne hängt ab von der Selbstständigkeit, die der Mensch über sich selbst hat. Darin sind auch die verschiedenen Gattungen der Schriften verschieden, daß einige ein größeres Abspringen gestatten, oder ein geringeres. Es kann also einer in einer Gattung recht gut seyn, in der andern aber sehr schlecht, die ein [un]unterbrochenes Festhalten der Idee verlangt. Woran erkennen wir denn dieses? Dazu gehören eine Menge von Vorkenntnissen und Verbindungen. Es wird sehr schwer seyn, aus einer einzigen Schrift des Verfassers seine Fähigkeit oder Unfähigkeit zu bestimmen. Wenn man aber nur eine Schrift von einem Schriftsteller hat, dann ist kein anderes Mittel, als daß wir das Mannigfaltige, das wir gern hätten, in der Schrift selbst suchen. Es ist offenbar, daß es möglich ist, daß man die Idee einer Schrift gar nicht auffaßt, aber doch die einzelnen Theile der Schrift versteht, man kann alle Theile als einzelne verstehen, aber den Zusammenhang des Ganzen, die Einheit darin nicht. Dann kann man die einzelnen Theile als Ganze ansehen und diese vergleichen und so wird man daraus sehen, ob man darin eine Unfähigkeit des Zusammenhaltens findet und ob viel-
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leicht die Theile differiren, wie ganze Schriften desselben Verfassers würden differirt haben. Merken wir nun, daß man selbst da, wo eine strenge Form seyn müßte, doch keine Strenge findet, so können wir Verdacht in den Verfasser setzen. Anwendung auf die Interpretation des Neuen Testam e n t s . Unterscheiden wir die historischen und didactischen Schriften, so gehören letztere ihrer Form nach großentheils zu derjenigen Klasse von Schriften, wo man noch etwas anderes haben muß, um die Einheit der Schrift zu finden. Wir haben dies zwar von der Briefform selbst nur ausgesprochen, so fern der Brief eine Antwort ist, aber dies Negative hilft uns nichts. Es giebt zwar nur wenige Briefe im Neuen Testament, die eigentliche Antworten wären, aber in gewissem Sinne ist jeder Brief eine Antwort, d. h. er setzt die Kenntniß des Verhältnisses voraus, in welchem der Briefsteller steht zu demjenigen, an den er den Brief schreibt, und auch wie beide zum Gegenstande stehen. Das ist im Neuen Testament immer. Wenige Briefe sind, von denen man sagen kann, das Briefliche ist bloße Form, zB. der 1. Brief des Johannes und der Brief an die Römer. Valckenaer zieht auch dahin den Brief an die Hebräer. Aber die briefliche Form hat doch immer Einfluß gehabt auf die ganze Schrift, sie hat schon immer und giebt immer Neigung zum Spatzierengehen. Je mehr aber im Neuen Testament die Briefe wirkliche Briefe sind, fehlt uns die ganze andre Seite und wo die Briefe weniger Briefe sind, wissen wir nicht, wieviel wir auf die Briefform zu geben haben. Da von der Auffassung dieses Verhältnisses die ganze Construction der Schrift ausgeht, so kann man sich denken, wie unendlich die Verschiedenheit der Meinungen seyn muß über Hauptgedanken und Nebengedanken. Sehen wir auf die historischen Schriften so sollte man freilich denken, da könnte es nicht eben so der Fall seyn, aber wir finden es doch. Die große Differenz der Meinungen ist auch hier. Wie viel verschiedene Meinungen über die Grundidee der Apostelgeschichte, des Evangelii Johannes und aller Evangelien, d. h. wie viel verschiedene Meinungen über das Princip, nach welchem sie einiges aufgenommen, anderes ausgeschlossen haben. Die verschiedenen entgegengesetzten dogmatischen Ansichten haben aber diese Verschiedenheit sehr mit constituiren helfen. Das soll nun nicht seyn, denn das dogmatische ÐwarÑ nicht eher Maaß und ÐAnwendungÑ, bis ein gewisses Verstehen da ist, und darum muß man sich von 18 Lodewijk Caspar Valckenaer (1715–1785); Schleiermacher besaß seine ,Opuscula philologica, critica, oratoria‘ (1808 f.) sowie seine ,Selecta e scholis in libros quosdam Novi Testamenti‘ (1815–17) (SB 2052 und 2053). In letzterem finden sich (S. 343–600) ,Selecta e scholis in epistolam ad Hebreaeos‘; dort insbesondere die Prolegomena S. 345–354.
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allem dogmatischen Interesse so lange frei halten, bis man über den ersten Punct in der Interpretation hinaus ist. Aber nicht alle Differenzen liegen in der Verschiedenheit der dogmatischen Ansichten, sondern viele auch in der Natur der Sache. Viel trägt auch dazu bei die Ungewißheit, in wie fern die Schriften Einheiten sind oder nicht. Es hat Zeiten gegeben, wo davon gar nicht die Rede gewesen ist, das hat aber bloß seinen Grund in der Langsamkeit der Critik, aber das Recht die Frage aufzuwerfen und die Schwierigkeit sie zu entscheiden liegt klar zu Tage. Man kann nicht sagen, daß alles dies in der Unvollkommenheit der Schriftsteller liegt, sondern es liegt in unserm Mangel an Kenntniß über die damaligen Verhältnisse und die Motive der Schrift. Die Interpretation ist also sehr schwierig, weil ihre Basis, die höhere Critik nicht recht fort kann und dann ist das Unglück, daß die höhere Critik gar keine andre Quelle hat, als die Interpretation selbst. Die Erklärung des Einzelnen hängt durchaus ab von der Grundidee des ganzen Stücks und man kann nicht sagen, daß man sich um die Idee der Schrift nicht zu bekümmern habe. Sieht zB. eine Stelle dogmatisch aus, so muß sie verglichen werden mit dem dialectisch festgesetzten Lehrbegriff und dazu ist nothwendig, daß man genau den Gehalt der Stelle an und für sich angiebt. Dazu muß man aber sehen, wie der Inhalt der Stelle sich zum Inhalt des ganzen Stücks verhält und dazu muß man nothwendig die Grundidee der Schrift kennen. Wie soll nun aber der Ausleger verfahren, indem er an diesen Punct kommt? Es fehlen ihm die Data zur Construction der Idee der Schrift und also können sich ihm auch nur eine Mannigfaltigkeit von Meinungen darbieten. Man könnte sagen, wenn er das Einzelne erst recht verstanden habe, so werde nur eine Meinung stehen bleiben. Aber wie soll er das Einzelne verstehen als aus einer vorweg angenommenen Meinung? Das Fehlerhafteste ist, zu interpretiren nach einer willkürlich angenommenen Hypothese. Wie man dazu kommen soll, ist nicht zu begreifen. Aber man muß sich auch hüten, sich von etwas Fremdartigem bestimmen zu lassen. Es ist nun entweder eine Autorität, auf die man solche Meinung annimmt, aber dann ist auch nur die Rede von dem, der die Meinung zuerst gegeben, oder es bleibt folgendes: man wählt entweder eine Meinung, weil sie einem geeignet scheint, alle Schwierigkeiten zu umgehen, oder weil man durch seine Subjectivität zu ihr angezogen wird. Beides ist ein Uebel. Das erste hat einen gewissen Schein für sich, denn wenn wir die Grundidee richtig aufgefaßt haben, müssen alle Schwierigkeiten verschwinden, aber daraus folgt nicht, daß nicht auch alle Schwierigkeiten verschwinden könnten durch eine falsche Erklärung und eine falsche Hypothese. Dazu kommt noch: wir haben uns freilich die Regel gemacht, daß die eigentliche Kunst des
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Auslegens überall geübt werden muß. Diese Regel aber wird nicht befolgt und darum entdeckt man nicht einmal die Schwierigkeiten, die gegen die Hypothese statt finden. Auf diese Weise die Geltung so vieler critischer Hypothesen, weil ein jeder sie aufstutzt durch Erklärung einzelner schwerer Stellen. Das Unglück ist nur, daß andern Leuten so viel Arbeit gemacht wird, die ihnen erspart werden könnte. Eben so auf der andern Seite, wenn man einer Hypothese wegen einer subjectiven Verwandschaft den Vorzug giebt. Wenn man sich auf solche Art entscheidet, so hat man sich noch mehr gefangen als auf die vorige Art, weil man sich selbst gefangen hat. Denn bei der andern Art kann einer noch gut Glück haben, daß er eine oder mehrere Stellen gegen seine Hypothese findet, hier aber kommt der Mensch gar nicht los und das ist die phantastische Art, die Sache zu behandeln. Dazu rechnet nun Schleiermacher noch, wenn man deswegen eine Hypothese gewählt, weil sie schon mit andern von mir gewählten Hypothesen zusammenstimmt. Alle die Nachtheile nun und Gefährlichkeiten sind klar zu zeigen, aber wie soll man es machen? Der einfachste und sicherste aber langweiligste Weg ist der, daß man alles Einzelne in dem Ganzen aus allen möglichen Hypothesen betrachte. Das ist die erschöpfende Art und wenn man das könnte, dann würde aber zweifelhaft ob einige oder gar keine Hypothesen bleiben. Nun aber können manche Hypothesen noch gemacht werden und darum macht man sich ein Verdienst neue zu finden, wodurch aber die Sache ins Unendliche gespielt wird. Es giebt nun doch kein andres Mittel, als die möglichste Annäherung an den langweiligen Weg. Geht man nun davon aus, daß die einzelne Interpretation nur Sicherheit haben kann, wenn sie auf einer richtigen Ansicht des Ganzen ruht, und daß die richtige Ansicht des Ganzen nur sicher ist, wenn alles Einzelne sich darin auflöst und gehen wir davon aus, daß die Bedeutung des Einzelnen im Neuen Testament die Hauptsache ist für den Theologen, so fangen wir am besten an mit dem Bestreben, das Einzelne zu verstehen, dabei aber achtend auf die verschiednen Ansichten. Es ist hiebei etwas ganz Unerläßliches, wenn man seine Aufmerksamkeit hierauf recht gespannt hat, immer die verschiedenen Ansichten des Ganzen im Auge zu behalten. Es ist dies auch eine verläßliche Uebung in der Beurtheilung der Art, wie critische Hypothesen aufgestellt und vertheidigt sind. Denn es ist ein undankbares Geschäft, einen jeden selbst abzuhören und seine Gründe zu vernehmen, es giebt sich daraus nicht, weil man nicht vor Augen hat, was er nicht gesagt hat und darum muß man das corpus delicti immer vor sich haben und es selbst vergleichen mit der aufgestellten Hypothese.
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Angenommen nun aber, wenn wir weiter gehen wollen in unserer Wissenschaft, angenommen, wir hätten die Grunddaten des Werkes, so müssen wir auf das nächste Mittelglied kommen und die Grundzüge der Composition richtig auffassen. Schleiermacher versteht darunter die Gliederung des Ganzen im Großen angesehen und die Art, wie diese sich auf die aufgestellte und angenommene Grundidee des Werkes bezieht. Dies wird eben die Probe seyn für die aufgestellte Grundidee, denn die Idee kann nur entwickelt werden durch Entfaltung der Gedanken und dabei kommt in Anschlag die Auswahl und die Gliederung der Gedanken. Ob die Auswahl oder die Gliederung früher gewesen ist, ist so noch nicht zu entscheiden, ist überhaupt nur eine untergeordnete Betrachtung. Aber wenn ich sehe, wie die Gliederung der Gedanken ist, so muß ich daraus auch die Grundidee prüfen können, denn wenn die Gliederung zur aufgestellten Grundidee nicht paßt, so wäre eins von beiden falsch. Die grammatische Interpretation setzt die Kenntniß der Grammatik voraus, die psychologische setzt die Regeln der Composition voraus. Diese sind aber bei weitem nicht so ausgebildet als die Grammatik. Bis jetzt haben wir da immer nur Individuelles. Das soll nun zwar die Interpretation auch nur finden, die Schrift erklären, wiefern sie That des Menschen ist, aber es würde das weit schärfer geschehen können, wenn man erst etwas Allgemeines hätte, von wo man tiefer ins Einzelne geführt würde. Die Hauptsache ist hier, daß wir erst das Verhältniß der beiden Thatsachen recht ins Auge fassen, mit denen wir es jetzt zu thun haben. Die erste war die Idee des Werks, die in Beziehung auf ihre erste Entstehung wir nachconstruiren wollen, die zweite die Grundzüge der Composition, die wir auch als Thatsache auffinden wollen, also als den Entwurf des ganzen Werks. Diese beiden Thatsachen in ihrem gegenseitigen Verhältniß müssen wir erst auffassen. Wir können nicht anders, als sie auf die Idee der Kunst zurückführen. Alles Reden und Schreiben, das im Großen Gegenstand der Auslegung ist, ist auch Product der Kunst. Das gewöhnliche Gespräch freilich hält uns immer schon im Geschäft des Auslegens. Aber da tritt die psychologische Seite der Interpretation weit mehr hervor, die grammatische soll uns im Gespräch gar nicht nöthig seyn. In dieser Einseitigkeit aber liegt schon, daß das Gespräch dasjenige ist, worin das Minimum von Kunst im Reden überhaupt ist. Alles aber, was besonders Gegenstand der Auslegung wird, ist ein Besonderes, vorher Ueberlegtes, wo also ein Zwischenraum ist zwischen der Idee des Werks und ihrer Ausführung. Die Grundzüge der Composition, wenn wir uns denken, daß der Verfasser sich ihrer abgesondert bewußt gewesen, sind schon Anfang der Ausführung. Dies ist dasjenige, was wir in jedem
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Kunstwerke finden. Wir unterscheiden das Urbild, die Idee und die Darstellung selbst, die Ausführung. Jene ist immer ein durch die lebendige Kraft der Seele freiwillig Gewordenes und Gewachsenes, was nicht unmittelbar von etwas anderem abgeleitet werden kann, diese ist das Werk der Besonnenheit und da ist der Entwurf das erste, die Idee ist die absolute Einheit des Ganzen, die Darstellung ist die absolute Mannigfaltigkeit des Ganzen, worin aber die Einheit liegt und der Entwurf ist die ursprünglich bestimmte Mannigfaltigkeit die nachher alles übrige bestimmt. Nun unterscheiden wir eigentliche Kunstwerke und solche die es nicht sind. Nur bei den eigentlichen tritt jenes Verhältniß zwischen Urbild und Ausführung ein. Die meisten Werke aber sind nicht Kunstwerke in diesem engern Sinn, sondern sie sind im Gegensatz gegen das eigentlich Künstlerische Practisch, worunter das Theoretische mitgehört. Alsdann sind sie im Zusammenhange mit andern Thätigkeiten geworden und aus diesen unmittelbar abzuleiten. Das ist eine Differenz, aber sie ist nicht so groß, daß sie den ganzen Typus unsrer Ansicht ändern könnte, denn wenn ich nun freilich sage, ein Gedicht, ein eigentliches Kunstwerk steht frei für sich da, es ist frei und unabhängig vom übrigen Leben geworden. Betrachten wir dagegen ein wissenschaftliches Werk, so können wir das nicht in demselben Sinne sagen, sondern weil der Verfasser sich mit der Wissenschaft beschäftigt, darum schreibt er auch solche Werke. Aber die Analogie ist doch da in der Production. Wenn wir nemlich auf den Zweck sehen, so giebt es eine unendliche Art, wie derselbe erreicht werden kann und die Bestimmung dazu ist immer eben so unwillkürlich als die Kunst. Wenn einer noch so lange umgegangen ist mit der bestimmten Absicht eines theoretischen Werkes: Das ist ein Zustand von Verworrenheit, so lange er sich dieser Absicht bloß bewußt ist, indem ihm eine Menge von Bildern vorschwebt, wie er das am besten anfinge. Nun vergleicht der Mensch diese nicht, er stellt keinen calculus an und das ist das Schwanken und Schweben. Aber mit einem Male steht der Entschluß da und dies Werden des Festen ist aus dem Schwanken und Schweben gar nicht zu verstehen. Die Bestimmung scheint nun ein rein ursprüngliches zu seyn, wie bei der Kunst. Am größten ist die Analogie mit der Conception des Kunstwerks, wenn mit dem Zweck sich die Idee zugleich findet. Zwischen die Conception der Idee und die Ausführung, deren Anfang der Entwurf ist, das Bewußtseyn der Grundzüge[,] tritt wieder ein leerer Raum, so daß man das eine nicht kann aus dem andern unmittelbar ableiten. Dieser ist aber doch durch ein Positives ausgefüllt, denn so wie die Idee gegeben ist, so muß die Ueberlegung, die vorher schwankend und negativ war, ein Positives werden, und weil der Grund nun gegeben ist, so
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ist von diesem Augenblick alles ÐeinÑ Bewußtes. Von da an ist auch alles ein Werk der Ueberlegung und der Besonnenheit. Dies ist auch in sehr verschiedenem Grade wahr und hängt von verschiedenen Umständen ab. Je kleiner ein Werk ist, desto weniger treten die Hauptzüge des Werks mit der Ausführung auseinander und desto weniger giebt es einen Entwurf abgesondert von der Ausführung, vielmehr der Entwurf steckt schon immer in der Idee. Man wird also einen gewissen Umfang gebrauchen, wenn man dies dazwischen schieben will. Es kommt aber auch auf den Gegenstand an, denn ein eben so großer Complexus von bloßer Erzählung wird weit weniger eines Entwurfes bedürfen, als ein eben so großer von speculativen Vorstellungen. Der Moment aber ist immer ein wesentlicher, denn selbst da, wo man sagen kann, der Verfasser ist sich keines Entwurfes bewußt gewesen, so muß doch in seiner Seele ein Unterschied gewesen seyn zwischen den Hauptpuncten und den Nebenpuncten, denn ohne das, wäre die Rede völlig accentlos. Das finden wir aber nie und wo wir das nicht finden, da werden wir nicht sagen können, der Unterschied hat sich erst im Augenblick der Production entwickelt, vorher hat er gar keine solche Differenz gesetzt. Es wird Fälle geben, wo wir das bemerken, aber dann hat sich der Verfasser ablenken lassen von dem was er wollte in dem Maaße, als er ÐbeimÑ Schreiben aus seiner ursprünglichen Auffassung herausgetrieben ist. Je mehr aber das Werk ein zusammengesetztes ist, das nicht in einer Zeitreihe ausgeführt werden kann, desto mehr macht sich der Verfasser einen Entwurf. Da giebt es nun eine Menge von Stufen, wie der Verfasser die Grundzüge der Composition vorher hat oder nicht. Mit den Grundzügen müssen wir also den Grad ihrer Klarheit im Verfasser finden. Das ist auch so gar schwer nicht, denn das sieht man einer Schrift gleich an, wie bewußt vorher die Grundzüge gewesen und wie nicht. So steht es der Form nach. Wie steht es nun dem Inhalt nach? was muß im Entwurf im Verhältniß zur Idee gesetzt seyn? In der Idee eines Werkes liegt nicht nur das Bewußtseyn des Gegenstands sondern auch derjenigen, für welche die Schrift ist und desjenigen, was in ihnen soll erweckt werden. Diese Idee kann man sich vollständig ausbilden, ohne daß die Grundzüge der Composition darin gegeben sind, denn die ganze Ausführung ist unbestimmt gelassen, wenn gleich die Idee fest bestimmt ist. Der Gegenstand also und was der Gegenstand für den Verfasser ist, und sein Publicum, wie er es auffaßt und dann was er durch seine Auffassung für sein Publicum werden will, constituiren die Idee des Werkes. Darin liegt nicht nur der Inhalt sondern auch die Form und die Tendenz des Werks. Die Art, wie ich die Menschen erregen will, ist die eigentliche Tendenz und die Art, wie ich
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den Gegenstand behandle in Beziehung auf sie, auf die Art, wie ich mir ihr Auffassungsvermögen construire, das liegt in der Idee. Dieses alles aber muß man aus der allgemeinsten Uebersicht ohne alles Verstehen des Einzelnen zusammenfassen können. Aber in dem Entwurf, in den Grundzügen liegt eine weit größere Bestimmtheit und es ist auch etwas andres im Verfasser selbst, woraus sich dies constituirt, denn jenes alles geht auf des Verfassers Auffassungsweise zurück und ungeachtet die ursprüngliche Conception rein ursprünglich ist, so liegt eben darin, daß sie nicht aus einer andern Production, sondern aus der Receptivität des Verfassers hervorgegangen ist. Man sieht daraus bloß des Verfassers Auffassungsweise. Aber in den Grundzügen muß sich eben die Methode des Verfassers zeigen und diese ist hier der Hauptpunct, wie die Auffassung bei der Construction der Idee. Alles Einzelne in dem Werke ist aus diesen beiden zusammengesetzt. Haben wir also beides in seinem ersten Keim, dann haben wir eine sichere Basis für das ganze übrige Geschäft und wer hierin nicht geirrt hat, wird auch nachher in dem ganzen Geschäft der technischen Interpretation nicht irren können. Es hat die Art, wie ein Gegenstand aufgefaßt wird, um mitgetheilt zu werden, 2 verschiedene Seiten 1. die objective, die den Inhalt bestimmt, mehr die Seite der Wahrnehmung 2. mehr die subjective, die Seite der Empfindung, welche den Ton bestimmt. Beides gehört zur Grundidee des Werkes. Der Inhalt für sich ist immer unendlich. Darum muß ausgeschieden werden. Darin offenbart sich eben sehr die Verschiedenheit der Schriftsteller. Einiges freilich werden alle vorbringen müssen, die den Gegenstand behandeln, aber vieles wird seyn, was der eine vorbringt und der andre nicht. Das ist nur zu erklären aus der eigenthümlichen Auffassungsweise. Von dieser bekommen wir also eine Vorstellung 1. durch die Divination 2. durch die Vergleichung. Beides muß verbunden seyn, wenn man die Auffassungsweise des Verfassers wissen will. Dies ist die erste Basis von dieser Seite der Interpretation. Das zweite, was auch ursprünglich in der Grundidee des Werkes mitgegeben seyn muß, ist der Ton desselben. Auf diesem beruhen die einzelnen Theile und die Schattirungen der Rede. Er beruht auf dem Interesse, das der Verfasser an dem Gegenstande nimmt und auf der Stimmung seiner Phantasie, welche überall im Hervorbringen des Typus der Production beschäftigt ist. So unterscheiden wir eine verschiedene Intensität des Tons, eine stärkere oder schwächere in der Behandlung desselben Gegenstands von mehreren. Der eine behandelt ihn ruhig und gleichmäßig, der andre auf erregtere Weise mit einem bestimmten Interesse. Davon hängt hernach die ganze Composition ab, daher man mit dem Ton gleich
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muß gerichtet seyn, wenn man den Gedankengang und die Perioden des Verfassers nachconstruiren will. Dies ist der Theil der Sache, der mehr auf das Einzelne geht und mit dem Einzelnen spielt. Der Inhalt, das Objective führt uns erst allmählig durch die Grundzüge der Composition, durch die einzelnen Theile zum Einzelnen hin. Der Ton aber liegt im Einzelnen selbst unmittelbar. Die Klarheit der Darstellung, wodurch nun dem Leser der Gegenstand gegeben wird und die Lebendigkeit des Vortrags, wodurch die Selbstthätigkeit des Lesers angeregt wird kann sich auf die mannigfaltigste Art entgegenstehen; denn will man die Klarheit im Einzelnen bis auf einen gewissen Grad treiben, so wird sie langweilig und will man die Selbstthätigkeit, das Interesse der Leser bis auf einen gewissen Grad anregen, so verliert der Gegenstand und die Klarheit. Beide begrenzen sich also und die Art, wie sie sich begrenzen bringt den Ton des Ganzen hervor. Wer es aber auf dieses oder das andre angelegt hat, der wird dieses oder jenes auslassen und andres aufnehmen. Wer mehr die Klarheit des Gegenstands will muß ganz andres aufnehmen, als der, welcher mehr anregen will. Der Ton also bestimmt den Inhalt wieder. Der Ton aber ist auch durch den Inhalt bestimmt; denn er wird immer ein andrer seyn, wenn der Verfasser sich eine andre Klasse von Menschen denkt, denen er die Sache mittheilen will. Hier ist also eine völlig gegenseitige Bestimmung. Wir brauchen eine Idee von der Totalität des Inhalts und vom Ton, wenn wir die Idee eines Werkes verstehen wollen. Wie verhält sich nun zur Grundidee das allgemeine Schema der Composition? Offenbar muß sich uns in dem Bestreben die Einheit des Werks aufzufassen, dieses schon darstellen. Wenn wir aber bloß haben die Einheit des Werks sehen wollen, so haben wir davon gleichsam abstrahirt. Hier fragt sich nun: ob das Schema der Composition dem Verfasser ein Bewußtes gewesen ist, oder ob er in einem ununterbrochenen Fluß der Rede gewesen ist und diese Haupttheile nur heraustreten. Jedes Werk muß ein Kunstwerk seyn. Darin ist Begeisterung und Besonnenheit, die ursprüngliche Production der Idee ist Act der Begeisterung. Wenn wir uns nun von diesem Puncte an den Verfasser denken in einer Stetigkeit der Composition, so tritt Begeisterung und Besonnenheit wenig auseinander. Wenn wir aber denken, das Schema sey ins Bewußtseyn aufgenommen, so tritt die Besonnenheit jenem ursprünglichen Act der Begeisterung gegenüber. Wir können uns hiervon die verschiednen Formen denken, daß da einige Ð Ñ Gedanken im Schriftsteller gewesen sind vor dem Daseyn des Schema, oder das Schema kann unmittelbar aus dem Verfasser entstanden seyn und erst aus diesem kann sich allmählig das Einzelne herauswickeln. Das sind 2 sehr verschiedene Formen der Composition.
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Wenn man sich das Schema denkt aus der Grundidee des Werkes entstanden und daraus das Einzelne, so erscheint das Ganze als ein Stetiges von dem Allgemeinen ins Besondere Gehendes. Das Einzelne, das auf diese Weise entsteht, wird das Gepräge davon an sich haben, es wird nicht die Lebendigkeit des Einzelnen haben. Der Vortrag wird, wo das Allgemeine dominirt, trocken seyn. Daher denken wir uns das Einzelne ist eher da gewesen in der Seele, die Grundidee, so wie sie aufgenommen war, hat das Einzelne producirt, aber dessenungeachtet ist das Schema nachher ins Bewußtseyn getreten, so ÐdientÑ das Schema nur dazu, das Einzelne zu ordnen. Das Einzelne aber wird so die sinnliche Kraft der einzelnen Anschauung haben nur gebändigt und in Harmonie gebracht durch das Schema. Gewisse litterarische Werke haben immer eine trockne Natur. Aber doch ist ein großer Unterschied. Wer davon ausgegangen ist, sich ein bestimmtes Schema zu machen und das dann allmählig auszufüllen, so wird die Trockenheit des Schemas sich noch mehren durch die Trockenheit der Procedur. Wer hingegen ausgegangen ist von der Auffassung und Anschauung des Einzelnen und sich das Schema nur stellt der bessern Ordnung wegen, der wird alles Einzelne weit lebendiger und anschaulicher darstellen und die Trockenheit des Gegenstands mäßigen. Gehen wir auf das eigentliche Kunstgebiet, so ist da alles schwerer zu sondern. Aber doch giebt es in jedem Kunstwerk einen Plan. Ist der Plan erst da gewesen in einem Drama, ehe dem Künstler die einzelnen Charactere lebendig geworden sind, so wird das eine trockne Tragödie seyn. So denkt sich Schleiermacher den Alarkos. Dagegen denkt man sich einen recht lebendig durchglühten Künstler, so ist alles Einzelne in ihm gleich lebendig geworden, die bestimmten Abschnitte in der Handlung sind erst gekommen ins Bewußtseyn, als schon das meiste Einzelne herausgetreten war. Der dritte Fall nun ist, wenn der Verfasser gar kein bestimmtes Schema gehabt hat. Dann tritt das Ganze heraus wie aus dem Stehgreif, da wechselt ganz Ð Ñ miteinander Begeisterung und Besonnenheit. Da es also verschiedene Abstufungen giebt, so ist das nicht immer leicht zu erkennen. Alle Abstufungen können wir nicht durchnehmen, wir müssen also die Gegensätze betrachten. Wir sind nun hier in dem Fall, daß das eine eine bloße Negation ist und die ist an sich nicht zu erkennen. Wir können also nicht damit anfangen zu fragen: woran kann man erkennen, daß ein Verfasser gar keinen Plan gehabt hat? Wir können das Negative nur am Positiven erkennen und müssen also fragen: woran kann man erkennen, daß einem Verfasser ein bestimmter Entwurf vorgeschwebt hat. Wenn 24 Friedrich Schlegels ,Alarkos. Ein Trauerspiel‘ erschien 1802 bei Unger in Berlin.
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einer nach Beendigung des Werks die Uebersicht hinstellt, so muß sie ihm auch schon vorher vorgeschwebt haben. Viele Gattungen der Rede lassen das aber gar nicht zu und haben wir nun ein Recht, wo dies nicht geschieht, anzunehmen, daß der Verfasser keinen Plan im Bewußtseyn gehabt? Das kann man nicht sagen. Wenn nun also keine Ueberschrift, kein Inhaltsverzeichniß gegeben ist, woran erkennen wir, daß der Verfasser einen bestimmten Plan gehabt habe? Das erste worauf wir zurückkommen müssen, sind die Uebergänge. Von jedem einzelnen Satze muß ein Uebergang statt finden zu dem andern. Wenn nun das Werk nicht auf sichtbare Weise getheilt ist, so hängt jeder Satz am andern. Denken wir uns in einem Werke alle Uebergänge gleich, so können wir dann nicht das Uebergehen eines Theils auf den andern unterscheiden von dem eines Satzes auf den andern. Ist aber dem Verfasser der Plan vorgeschwebt, so ist auch ihm der Uebergang von einem Theil zum andern verschieden gewesen von dem Uebergange von einem Satze zum andern und diese Verschiedenheit muß er ausgedrückt haben. Wenn dieses sich nicht findet, so muß es absichtlich überstrichen seyn. Auf jeden Fall aber muß das judicium des Lesers hinzukommen und vergleichen und durch Vergleichung das Verhältniß der Theile herausbringen. Man könnte sagen, es giebt noch eine andre Art, wie man den Plan ÐvermuthenÑ ÐkannÑ, wenn man nemlich im Früheren Andeutungen und Beziehungen auf das Spätere sieht. Aber das so für sich giebt nichts. Das Schema kann man eher haben als das Einzelne oder das Einzelne eher als das Schema und letzteres wird am häufigsten der Fall seyn. Der erste ist nur bei streng wissenschaftlichen Werken. Ich kann also aus jenem Fall nur erkennen, daß im damaligen Moment dem Verfasser das Einzelne deutlich war und gegenwärtig. Aber wenn einem das Einzelne gegenwärtig ist und der Verfasser sich auf ein Späteres bezieht, so folgt noch nicht, daß er gewußt habe, an welchem Ort das Spätere erscheinen werde. Hat er aber den Ort zugleich angegeben, dann ist mit Sicherheit auf den Plan zu schließen. In der Exposition aller dramatischen Dichtungen soll man nicht nur die Grundzüge der Handlung sehen, sondern auch die Art der Entwickelung und auch die verschiedenen Abschnitte. Etwas Aehnliches findet sich dann in vielen andern Werken auch, wo an und für sich der Plan nicht deutlich heraustritt, er ist aber sichtbar in der Einleitung und so in den einzelnen Theilen ist die Structur sichtbar gemacht. Nun müssen wir auch darauf sehen, da wir gesagt haben, es gebe verschiedene Abstufungen in diesem Unbewußtseyn, welches der Verfas10 wir] folgt uns
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ser über den Plan seines Werkes habe, daß wir die Principien dafür finden und da müssen wir vom Entgegengesetzten anfangen. Wir sagen: angenommen der Verfasser hat gar keinen Plan, wie er anfing zu schreiben, aber er hat ein gesundes Bewußtseyn der Sache, so wird es sich doch auf eine gute Art organisiren, es können also die Andeutungen des Bewußtseyns eines Planes in der Rede seyn, ohne daß ein bestimmter Plan vorher da war. Aber hierin liegt doch immer schon ein Bewußtseyn von dem Entwurf, oder vielmehr ein Bewußtseyn vom verschiedenen Werthe des Einzelnen in seinem Zusammenhange mit dem Ganzen und von dem Zusammenhange des Einzelnen selbst. Es ist sehr oft der Fall, daß wenn man einen Plan machen will, sich einem ganz verschiedene Arten hinstellen, wie man das Ganze anordnen will. Allmählig aber tritt die eine mehr hervor, die andre mehr zurück und so entscheidet man sich. Dasselbe kann zu Stande kommen ohne die Acte der Reflexion, wenn auf dem Fleck über die Ansicht des Ganzen entschieden ist. Das ist ein hoher Grad von Virtuosität in diesem Fall und hier wird es schwer zu scheiden seyn, ob ein Plan vorher gewesen ist oder nicht. Je größer aber die Virtuosität, desto weniger ist es nothwendig, ein bestimmtes Urtheil darüber zu haben, denn wir haben die bestimmte That, durch die der Verfasser sein Bewußtseyn geordnet und daraus läßt sich alles Nöthige folgern. Wo kein bestimmter Plan ist, wo aus dem Stehgreif geredet oder geschrieben ist, müssen wir immer den Verdacht haben, daß vieles nicht an seiner rechten Stelle steht. Dagegen wo ein Plan vorherrscht, müssen alle Gedanken genau verbunden seyn und diese Verbindung muß schon in der Composition geschehen. Wenn aber in der Composition die rechte Stelle für einen Gedanken versäumt ist und er bietet sich hernach dar, so kann der Schriftsteller nichts thun, als ihn ganz weglassen oder ihn an einer ÐmindergehörigenÑ Stelle zu bringen. Da er aber dahin nicht gehört wird er etwas Fremdes haben. Daß dieses Dilemma allein übrig ist, erscheint am meisten unmittelbar einleuchtend nur bei den Rednern. Der Schreiber könnte ihn doch wohl noch einschalten an seiner rechten Stelle. Aber das ist kein neuer Fall. Denn diese Gedanken sind doch so dargestellt, wie sie dargestellte sind in ihrer unmittelbaren Verbindung. Es muß also die ganze Stelle umgearbeitet werden und dann paßt das Vorige und das Folgende nicht mehr. Es kann nur bei einer völligen ÐVerwaschungÑ ausgeglichen werden. Die Schwierigkeit bleibt also dieselbe beim Schreiben und beim [Reden] und die Beurtheilung einer aus dem Stehgreif gegebenen Rede hat das Schwierige, daß man darauf immer achten muß. Man muß die 26 kann] folgt er
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Grundzüge der Composition in allen Theilen verfolgen, und sehen, ob und wie sie vorher überlegt sind oder wo nun das aus dem Stehgreif Geschriebene angeht. Hierunter subsumirt sich ein Früheres. Es ist niemals in dem Menschen eine Reihe von Gedanken allein da, sondern es ist immer eine Mannigfaltigkeit. Jede Rede ist aber eine zusammenhängende Reihe die aus demselben Princip entstanden seyn soll durch und durch. Weil aber dieser Zustand auch bei den Hörern und Lesern ist, der Schreibende und Redende also besonders dafür sorgen muß, daß auch die Leser die Gedankenreihe als die dominirende in sich behalten und sich nicht von den gleichzeitigen stören lassen. Dazu gehört aber nicht nur dieses, daß er nicht nur seinen Gedanken die gehörige Kraft giebt, sondern daß er jene mit in das Interesse an diesen hineinziehe, nemlich daß er lieber mit der Rede in Verbindung bringe, was sich von Nebengedanken am dringendsten darbietet, damit sie nur nicht stören. Können die Theile die aus dieser Rücksicht entstehen auch im Entwurf vorher angelegt seyn? Niemals können wir das behaupten. Indem der Verfasser seine Gedanken ordnet, kann er wohl ahnen, welche Nebengedanken seyn werden, was öfters auch am Ausdruck liegt, der erst in der Composition gemacht wird. Ein gewisses aus dem Stehgreif arbeiten ist nothwendig. Schon früher haben wir nun gesehen, wie nothwendig es ist, die Hauptgedanken zu trennen von den Nebengedanken. Diese muß man nun finden indem man die Grundzüge der Composition sucht. Dies ist also auch wieder eine Aufgabe, in der genau betrachtet die ganze Aufgabe der Interpretation aufgeht; denn wir können sie bis in die einzelnen Theile verfolgen und wenn wir auf etwas kommen, was auch nicht aus den Nebengedanken zu verstehen ist und das ist jedesmal die Darstellung und der Uebergang von den Hauptgedanken zu den Nebengedanken oder umgekehrt. Wenn wir nun erst gesehen haben, ob die Gedanken nach einem Entwurf geordnet sind und ihre ganze Reihe, was haben wir dann erreicht für die technische Interpretation? Vergleichen wir dies mit dem Finden der Idee des Werks, so ist das Finden der Grundzüge der Composition einer vollkommnern Zeichnung die ganze That des Verfassers, so daß wir zuletzt das Skelette der ganzen Rede finden, in dem der Zusammenhang und die Bedeutung aller gegeben ist. Die Absicht aller bestimmten Anordnung ist, daß ein jedes in sein gehöriges Licht treten soll, in dem Maaße, als es der Idee des Ganzen wesentlich ist, also auch einen Theil des zu erreichenden Zwecks in sich enthält. Indem wir diese Aufgabe bis ins Einzelne hinein verfolgen, so haben wir gesehen, daß wir dann zuletzt auf den Unterschied zwischen
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Hauptgedanken und Nebengedanken kommen, ÐundÑ diesen Unterschied werden wir auch finden in jedem Gedanken selbst. Eins ist immer der Mittelpunct in jedem Theile und dieser Mittelpunct geht aus der Anwendung hervor. Indem man diese aufsucht, kommt man darauf, was der Verfasser als bedeutend oder unbedeutend ansieht und wir erkennen so den Werth, den er auf alle Gedanken gelegt hat. Wenn aber in jedem organischen Ganzen alles zugleich Mittel ist und Zweck, so ist auch diese Einsicht von der Anordnung des Ganzen und von dem Werth des Einzelnen nothwendiges und unentbehrliches Mittel, das Einzelne zu verstehen. Nemlich die Rede als Sprache hat außer ihrem logischen auch einen musicalischen Theil. Durch diesen bringt sie auch eine Wirkung hervor und diese kann der Hauptwirkung störend oder förderlich seyn. Eine übelklingende Rede ermüdet und zerstreut. Wer also redet oder schreibt muß auf diesen musicalischen Theil Rücksicht nehmen. Er muß das Uebelklingende vermeiden. Nun ist es nicht bloß das Negative, sondern der musicalische Theil hilft auch dem Logischen, denn wie ja aus einer Stellung das gewisse Verständniß hervorgeht, so auch giebt die richtige Stellung allein die richtige Accentuation, welche das Musicalische ist. Wenn die übelklingende Rede abspannt, so erholt aber auch die musicalische Rede und ÐmuntertÑ auf. Jede Rede muß also durch diesen musicalischen Theil der Rede auch wirken wollen. In vielen Fällen entsteht eine Collision zwischen dem Logischen und Musicalischen. Der vollkommene Redner muß sie vollkommen vermeiden. Aber nur der vollkommenste kann es und weil keiner der vollkommenste ist, ist es bei jedem unvollkommen. Eines kommt daher immer zu kurz. Wo aber das Logische dem Musicalischen aufgeopfert ist, da entsteht eine Lücke, die eine große Schwierigkeit giebt in der Interpretation und es ist dies eine Aufgabe, in der nichts bestimmtes liegen kann, denn wenn ich auch die Lücke bemerke und mir die Frage vorlege, warum dies Wort so gestellt sey, da doch ein andres könne erwartet werden, so sind immer mehrere Antworten möglich, ja es ist möglich, daß der Verfasser in das dastehende Wort gerade rechte Bedeutung gelegt hat. Dieses Schwanken bleibt immer und es verschwindet erst, wenn man das Bewußtseyn hat von dem Werthe, den der Verfasser auf das Einzelne legt und den Werth findet man nur, wenn man die Grundzüge der Composition erkennt. Zu der richtigen Auffassung der Einheit des Werks gehört auch die Einheit des Tones. Wenn wir irgend das Gefühl bekommen, daß in einem Werke diese Einheit des Tones fehlt, so halten wir es auch nicht mehr für 15 das Negative] oder die Negation
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eins, wir können nicht anders glauben, als daß das Interesse des Verfassers sich geändert habe, daß der Gegenstand für ihn in andre Beziehungen getreten sey. Wenn nun die Grundidee des Werkes auch die Einheit des Tones in sich fassen muß, so muß auch die Auffassung der Theile die Differenz des Tones finden. Nemlich beides ist sehr wohl zu vereinigen. Die Einheit besteht nur in einem gewissen Maaß und der Ausgleichung der Differenz. Wie der Ton überhaupt, so auch der Ton der Schrift ist der Spannung und des Nachlassens fähig und dieser Gegensatz steht in der unmittelbarsten Verbindung mit dem Ganzen und es ist eine tüchtige Probe, wenn mit der Auffassung der Grundzüge des Werks der Ton zusammenstimmt. Aus den Grundzügen der Composition muß man den Werth der einzelnen Theile finden. Dieser Werth muß sich auch offenbaren durch den Ton. Wesentliche Fehler kann der Schriftsteller nicht gut darin begehen, so wenig einer seine eigne Rede falsch accentuirt. Nun aber ist dies nicht bloß Hülfsmittel, sondern wesentlicher Theil der Aufgabe selbst, denn die That im Schriftsteller besteht eben auch in der Art, wie diese Differenzen wechseln, denn es sind ja verschiedene Grade der Anstrengung, die man verstehen muß, wenn man seine That verstehen will. Das sind aber nicht die einzigen Differenzen des Tones, die bei der Einheit bestehen können, sondern dies sind bloß die quantitativen. Es kann aber auch recht gut eine qualitative Differenz seyn. Nemlich das Interesse des Schriftstellers an seinem Gegenstande ist selten völlig einfach. Die Mittheilung soll dies Interesse darstellen, aber auch andern dasselbe mittheilen. Beides wird immer auseinandertreten. Das ganze muß darstellen das Gleichgewicht zwischen dem, was der Schriftsteller in sich trägt und der Bearbeitung, die er auf die Leser Ð Ñ. In den einzelnen Theilen ist aber dies Gleichgewicht nicht. Die Einheit des Ganzen wird immer ein auf diese Art verschieden Modificirtes seyn. Diese Duplicität ist überall in der Kunst und in allen Kunstfächern können wir nur dieses denken, daß das Werk vollkommene Darstellung dessen ist, was der Urheber in sich trägt, und daß es doch nicht mit Vollkommenheit die Betrachter ergreift und das folgt ÐnatürlichÑ, wenn der Künstler die Differenz zwischen sich und ihnen ganz übersehen hat. Man drückt das auch so aus: Es kann ein Werk sehr vortrefflich seyn, aber es läßt kalt. Diese Kälte liegt bloß in der Nichtberücksichtigung derer, für die das Kunstwerk gemacht ist. Das Gegentheil davon ist der, den man durch den Ausdruck andeutet: mit dem Effect arbeiten. Der besteht darin: wenn die Bearbeitung der Betrachtenden durch eigne Elemente bewirkt werden soll und nicht aus der Modification der reinen Anschauung hervorgehen. Zwischen beiden Fehlern muß sich jedes reine Werk in einer gewissen Mitte halten, d. h. die ganze
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Auffassung des Gegenstandes muß dadurch modificirt werden in dem Künstler selbst, daß sie durch die Darstellung eine gemeinsame werden solle. Dieser in gewissen Grenzen gehaltene Wechsel ist die Differenz des Tones, die in jeder Schrift ist und diese ist ein wesentlicher Theil des 5 Verständnisses selbst, denn nur indem wir den Verfasser begleiten und sehen wie sich in ihm Darstellung und Bearbeitung verhalten auf jedem Puncte, können wir die That des Verfassers auffassen. Die Sache ist aber noch so sehr bloß Sache des Gefühls, daß man Regeln noch nicht darüber geben kann. Was nun noch vom Ganzen gesagt ist, gilt auch wieder von 10 jedem organischen Theil des Ganzen, wohinein sich der Gegensatz von Darstellung und Bearbeitung verfolgen läßt.
Anwendung auf das Neue Testament.
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Die Einleitungen ins Neue Testament geben eine Analyse des Werks. Aber der eine bekommt da ein ganz andres Werk heraus, als der andere. Hätten wir aber solche Analyse von Schriftstellern anderer Art, so würde die Differenz eben so groß seyn. Diese Differenz sehen wir überall auch schon in der Critik, wo zwar nicht das Auseinandersetzen ganz da ist, aber das ist eben das vermittelnde Glied, denn wenn 2 Critiker über den Werth einzelner Theile ganz verschiedene Ansichten haben, so muß die Construction verschieden seyn. Woher die große Differenz? Sie kann nicht anders, als eine Unvollkommenheit seyn, aber wir können im Voraus und im Allgemeinen nicht darüber urtheilen, ob es eine Unvollkommenheit des Schriftstellers oder des Lesers sey; denn wenn ein Schriftsteller seine Construction nicht gleichmäßig und nicht ganz ausgeführt hat, dann liegt es an ihm, wenn er den Lesern das rechte Maaß nicht hat in die Hände gegeben. Es kann aber auch eben so sehr der Fehler der Leser seyn, der darin bestehen kann, daß sie beim Einzelnen stehen bleiben und gar nicht mit dem Ganzen anfangen. Dann ist es natürlich, daß das sich verschieden in sehr verschiedener Beleuchtung zeigen kann und daher die verschiedenen Ansichten über den Werth, den der Verfasser auf das Einzelne gelegt hat, dann über den Zweck u.s.w. Da nun beim Neuen Testament dies auch eintritt, an wem liegt der Fehler? an den Verfassern oder an den Lesern? Man ist es ganz gewohnt, die NeuTestamentlichen Schriftsteller als höchst unvollkommene anzusehen. Das ist auch nicht zu leugnen, sofern man von einer gewissen Kunstvollkommenheit spricht, und nicht bloß im Machen eines Werks, sondern auch in der mehr dialectischen Seite des Auffassens und Darstellens. Aber die Verfasser des
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Neuen Testaments einer solchen Zusammenhangslosigkeit zu beschuldigen, wie man es thut, davor sollte man sich doch sehr hüten ohne die größten Beweise. Und hier liegt die Schuld an den Lesern. Je weniger ein Schriftsteller Künstler ist, desto mehr ist alles bloß Naturproduct. In der Natur ist aber immer Zusammenhang, wenn immer das Interesse gegenwärtig ist. Dies war aber bei den Schriftstellern des Neuen Testaments sehr lebendig. Eigenthümlich aber ist dem Neuen Testament, daß die Leser ein besonderes Interesse haben, beim Einzelnen stehen zu bleiben und das Ganze mehr zu vernachlässigen. Das ist das rein theologische Interesse, wovon man so lange geglaubt hat, daß man damit ausreichen könne. Dies hängt zusammen mit der Ansicht vom canonischen Ansehen und in der ganzen constituirten kirchlichen Praxis ist etwas der Interpretation sehr Gefährliches. Diese canonische Authorität ist nemlich, daß man überall auf einzelne Stellen geht, irgend etwas nachzuweisen. Daraus entsteht eine Neigung, das Einzelne aus jedem gegebenen Zusammenhang herauszureißen. Davon muß man sich ganz losreißen und das ganz vergessen. Der Umstand, daß man ein großes Interesse am Einzelnen des Neuen Testaments hat, macht es nicht allein, daß so verschiedene Ansichten über die einzelnen Bücher sind. Es sind nemlich Gelegenheitsschriften, wovon wir die Gelegenheit nicht vollständig mehr beurtheilen können. Ist es aber einmal so, welches besondere Verfahren ist anzuwenden, um eine richtige Ansicht von ihrer Structur zu bekommen? Es sind hier keine allgemein anerkannten Regeln zu geben, denn dann würde der Streit aufhören, sondern man kann hier nur subjective Ansichten geben. Wir müssen nun trennen die historischen Schriften und die didactischen. Was erstere betrifft, so ist die Composition darin eben so schwierig zu erkennen, wie in den didactischen und das hängt zusammen mit der Schwierigkeit, die Grundidee derselben aufzufassen. Die Hauptfrage über die Composition bei einem historischen Werke ist ebenfalls die Auswahl und die Anordnung. In jedem historischen Werke ist schon ein doppeltes Princip der Anordnung gegeben. Nemlich auch nicht die geringste Begebenheit steht für sich allein. Daraus entsteht die mehr synchronistische oder mehr chronologische Ordnung. Sofern die einzelne Geschichte Lebensbeschreibung ist, ist die Person die Einheit. Aber es können die Begebenheiten einer Person nicht entwickelt werden, ohne auch diejenigen darzustellen, die darauf Einfluß gehabt haben. Darum erscheint uns die Geschichte ganz unvollständig, weil von diesen viel zu wenig vorkommt. Wäre dies nicht verabsäumt, so würde sich auch dieses doppelte Princip der Anordnung mehr gezeigt haben. Eben so ist nicht angegeben, was Christus gewirkt
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hat auf andre. Daraus sehen wir daß sie die Geschichte Christi nicht haben als ein Ganzes hinstellen wollen. Stellen wir nun dies in den Hintergrund und fragen nach dem Stoff, den die Evangelien behandeln, so sind es mehr Reden Christi und Begebenheiten die abgerissen als Anecdoten dastehen. Da kann nun mehr befolgt seyn die Zeitfolge oder es hat sich einer mehr leiten lassen durch den Zusammenhang, in dem ihm die Geschichten erzählt sind. Davon muß man sich bestimmte Rechenschaft geben. Nun ist in den Evangelien wieder so große Uebereinstimmung und solche Differenzen, daß man nicht weiß, wie man sie von einander sondern soll und daß man sie auch nicht aus einer und derselben Regel ansehen kann. Das ist die Schwierigkeit in der Sache. Man kann sich da kein anderes Princip aufstellen, als man muß einen solchen Erklärungsgrund suchen, der die Abweichung und Uebereinstimmung zugleich erklärt. Geht man aber dabei so zu Werke, daß man erst einen Erklärungsgrund sucht für die Uebereinstimmung (wie die Hypothese vom Urevangelio) und dann einen andern für die Abweichung, so wird die Sache rein mechanisch behandelt und das ist keine critische Procedur mehr. Daraus entsteht ein solches Einschieben von Zwischengliedern, so daß wenn man sich das Ganze zusammen betrachtet, so sind die Erklärungsmittel als Thatsache eben so erklärungsbedürftig, als das, was man ursprünglich erklären will. Je mehr die Sache von einem Augenzeugen herrührt, desto mehr werden beide Bestimmungsgründe ineinander seyn. Sie wußten auch gewiß nachher oft nicht mehr, wann etwas vorgefallen sey. Bei dem Aehnlichen fällt einem aber das Aehnliche bei und so werden in der Darstellung mehrere dem Inhalt nach ähnliche Dinge zusammen[gestellt]. Von der andern Seite mußten die Begleiter Christi ein bestimmtes Bild von dem Verlauf seines Lebens Ð Ñ der Zeit, daß sie bei ihm waren. Sein Aufenthalt in ÐGalliläaÑ, die Festreise und mehreres bilden bestimmte Massen die dem Gedächtnisse nicht entgehen können. Kommen die Evangelien von Jüngern Christi, so herrscht die Zeitordnung im Ganzen vor in den ersten Massen. – In Beziehung auf Einzelnes so wird das beigebracht seyn da wo es einem eingefallen ist. Da kann es nun chronologisch wirklich seyn, oder erwähnt bei einem Aehnlichen. Aber die Voraussetzung, daß die Evangelien von Begleitern Christi herrühren ist nicht sicher. Man muß erst suchen, hierüber bis auf einen gewissen Punct ins Reine zu kommen. Angenommen nun, sie rühren nicht von Begleitern Christi her, so muß man fragen: nach welcher Ordnung ist der 15–16 Seine These vom Ur-Evangelium erörtert J. G. Eichhorn ausführlich in seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘, Bd. 1, 1804, S. 148–415 (zugleich ,Kritische Schriften‘ Bd. 5).
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oder der zu Werke gegangen? und dann muß man die Spuren, wo man das Inhaltsgleiche und die, wo man das Chronologische suchen kann, zusammenstellen und daraus sehen, wie der Verfasser zu Werke gegangen ist. Weiter läßt sich nichts thun. Man muß nur immer die individuelle und comparative Methode verbinden. Wenn das aber richtig seyn soll, so muß das noch mehr leisten, und das Verhältniß dieser Bücher untereinander mit klar machen. Was nun die didactischen Schriften betrifft, so liegt die Schwierigkeit auch darin, daß wir bei vielen dieser Schriften die verschiedensten Aufgaben durch dieselbe Operation lösen müssen. Die Ansicht über den Verfasser, die Idee der Schrift, die Grundzüge der Composition, alles dies müssen wir aus den Werken selbst schöpfen. Es sind Briefe. Man kann einen bestimmten Plan bei Briefen annehmen. Einige im Neuen Testament gehen zwar über das Nachahmen eines Briefes hinaus und je mehr sie Didactisches enthalten und Entwickelndes, desto mehr können sie vorher überlegt seyn. Man muß zu unterscheiden suchen: was ist in dem Briefe das Planmäßige, was das Planwidrige? Beides ist wahrscheinlich der Natur der Sache nach in jedem Brief von größerem Umfang. Das Verhältniß aber hängt mit ab von dem Ton der ganzen Schrift, von der Gemüthsstimmung, in der sie verfaßt ist. Zuletzt muß übereinstimmen die Veranlassung zur Schrift, die Gemüthsstimmung, die einzelnen Störungen im Plan und die Durchführung des Ganzen. Das ist ein sehr mühsames Geschäft, wozu man sich nur gedrungen fühlen kann beim völligen Gefühl vom Werthe der heiligen Schrift. Weil man aber an der Mühe es hat fehlen lassen, so ist sehr viel Willkürliches in die Erklärung des Neuen Testaments gekommen. Alles Uebel kommt daher, daß man glaubt, die Auslegungskunst trete erst ein bei schwierigen Stellen, denn dies macht eben die Hypothesen bei einzelnen Stellen, die gar nicht richtig seyn können. In der Erklärung des Neuen Testaments ist man weit vom Ziele. Es sind bloße Observationen da, die man sehr schätzen muß, aber eine durchgehende ÐwahreÑ Interpretation fehlt fast ganz. Die Einleitungen in die didactischen Schriften sind alle erstaunend nackt. Es kommt kein vollständiges Bild der Handlung heraus. Die Schuld wird dann auf die Schriftsteller geschoben. Künstler sind die freilich nicht gewesen. Darum soll man auch nur ihre That verstehen als die gesunder Menschen. Was vom Ganzen gilt, gilt auch vom Einzelnen. Darum muß man auf dieselbe Weise ganz genau in alles Einzelne hineingehen. Wenn wir also noch zum Einzelnen übergehen wollen, so wird nur eine besondere Betrachtung nöthig seyn über dasjenige, was aus dem Totalzusammenhange nicht kann begriffen werden, sondern was auf irgend eine Art ins Ganze
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hineinkommt. Wo wird denn dergleichen vorzüglich zu suchen seyn? Wir werden ausgehen müssen davon, daß uns die Composition des Ganzen und des Einzelnen klar seyn muß. Da haben wir den Hauptgedanken und die Nebengedanken fixirt. Das Verständniß des Einzelnen was nicht unmittelbar aus der Composition des Ganzen verstanden werden kann müssen wir also an diese Puncte anknüpfen. Das Einzelne kann nun zuerst sich ganz rein als Einzelnes verhalten und dann ist es bloßer Nebengedanke. Darum kann es auch zu keinen Hauptgedanken im Verhältniß eines einzelnen Theiles stehen. Nemlich jeder Gedanke ist selbst Einheit und Vielheit. Wird er als Einheit ausgedrückt, so können einzelne Theile nicht davon abgelöst werden, wird er als Vielheit ausgedrückt, so muß jeder einzelne Theil davon abgelöst werden. Man betrachte nur den dialectischen und poetischen Ausdruck[;] letzterer will alles so bildlich als möglich geben. Das Bildliche ist das Einzelne. Dem Einzelnen ist entgegen das Allgemeine. Das Allgemeine ist das Dialectische. Da ist alles nothwendig und es läßt sich kein einzelner Theil ausscheiden. Im poetischen Theil wird das, was dialectisch mit einem Zuge ausgedrückt wird mit mehreren, die gar nicht unter sich zusammenhängen ausgedrückt. Man nehme einen Gemüthszustand eines Menschen. Der dialectische Ausdruck giebt davon wo möglich eine Definition. Der poetische Ausdruck zeigt denselben Gemüthszustand in seiner Thätigkeit und weil jedes Einzelne das Ganze nicht erschöpfen kann, macht er ein Mannigfaltiges daraus um so viel als möglich alle Modificationen zum Bewußtseyn zu bringen. In dieser Darstellung, die aus einem Aggregat von Einzelheiten besteht, ist jede für sich überflüssig. So kann selbst in die Darstellung der Hauptgedanken vieles hineinkommen, was aus dem Zusammenhange des Ganzen nicht zu verstehen ist, denn warum dieses oder jenes Einzelne so und nicht anders gesagt oder warum dafür nicht ein anderes steht, das läßt sich aus der Idee und aus der Composition nicht begreifen. Je mehr nun der Ort sich findet, desto mehr hat dies Einfluß auf die Construction. Wenn einer vorher es gegenwärtig hat, daß er über einen besonderen Theil recht viel Einzelnes hat, so wird er schon das Ganze so einrichten, daß gerade auf diesen Theil der Accent fallen muß. Haben wir das nicht eingesehen, so haben wir auch die Composition nicht verstanden. Wir verstehen also die Composition nicht, wenn wir nicht das von ihr Unabhängige verstehen. Es kann nun etwas wirklicher Theil einer Einheit seyn, wenn dieses eine Mannigfaltigkeit ist. Es kann etwas ganz außerhalb des Hauptgedankens liegen und ein Einzelnes für sich seyn und das ist der eigentliche Nebengedanke.
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Wo hat man die eigentlichen Nebengedanken zu suchen? Hier ist im Voraus auf etwas aufmerksam zu machen, worauf in der Folge Rücksicht genommen werden muß. Nemlich die Nebengedanken können ganz außer der Darstellung eine selbstständige Existenz haben und sie können in die Darstellung verflochten seyn. Im letzteren Fall schweben sie, man kann sie sowol für Ausdrücke halten als für Gedanken selbst. Wir wollen zunächst wiederum nur es zu thun haben mit den selbstständigen Nebengedanken. Wir gehen aus von den Hauptgedanken. Angenommen wir stehen bei einem Hauptgedanken und haben ihn klar herausgebracht, haben wir neben ihm Nebengedanken zu erwarten, oder nicht? Schleiermacher glaubt, wir werden sagen müssen: eigentlich haben wir keine zu erwarten, denn der Hauptgedanke ist ein wesentlicher Theil des Ganzen. Wenn der recht klar herausgetreten ist, so ist ein Theil des Zwecks des Ganzen erreicht und vermöge der ganzen Composition ist der Leser dadurch vorbereitet, ins Ganze einen Schritt weiter zu gehen. Da ist nun kein Grund zu erwarten, daß ein verständiger Schriftsteller sich werde in Nebengedanken einlassen. Es ist aber dies nicht ganz einerlei überall. Allerdings wird einer nicht gern die Wirkung eines Hauptgedankens durch Nebengedanken schwächen wollen. Aber es kann doch etwas seyn, was gar nicht zum Hauptgedanken gehört, aber es kann Vorbereitung seyn zu einem eben so wichtigen Hauptgedanken. Wir müssen unterscheiden eine fortschreitende, rapide Darstellung und dann wiederum eine gleichmäßige, wo alles mehr coordinirt steht. Im ersten Fall wird eintreten, daß so wie der Hauptgedanke heraus ist, der Leser gleich weiter muß auf andre Hauptgedanken. Im andern Falle wird gar nicht dieselbe Nothwendigkeit seyn das unmittelbare Fortschreiten von einem Hauptgedanken zum andern, sondern wenn der eine heraus ist, dann steht die Rede still und nun wird eine Einleitung gemacht zum folgenden Hauptgedanken. Wenn nun der Hauptgedanke als eine Vielheit ist dargestellt, als ein Aggregat von Einzelnen, dann ist er niemals vollständig, weil jedes Aggregat etwas Zufälliges hat. Da wird es nun ganz natürlich seyn, daß auf solche Darstellung Nebengedanken folgen, die den Uebergang machen. Nebengedanken als Uebergangsgedanken sind allgemein da zu erwarten, wo das vorhergehende nicht bestimmt abgeschlossen ist. Wir müssen nun die Herrschaft, die eine vorgesetzte Gedankenreihe, also die Idee des Ganzen, über den Verfasser ausübt immer nur ansehen als eine relative, nie als eine absolute. Der Verfasser geht nie ganz darin 19 wollen] will
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auf. Was noch außerdem in seinem Bewußtseyn ist, wird sich nicht immer gleich verhalten zu seiner Hauptreihe, d. h. es wird bald mehr bald weniger Gewalt haben, ihn aus der Hauptreihe herauszureißen. Wo der Verfasser anfängt, herausgerissen zu werden, da muß dies entweder in ihm selbst sich sogleich aufheben und dann bleibt keine Spur, oder er giebt sich der andern Gedankenreihe ganz hin und läßt die Darstellung der Hauptreihe seyn. Dann ist es aber schon großer Zufall oder Kunst, wenn die Unterbrechung keine Spur übrig läßt. Oder es geht dies in die Darstellung selbst über und dann entstehen eben Nebengedanken. So können sie mit in die Darstellung des Hauptgedankens kommen. Will aber eine ganze Reihe und Herrschaft von Nebengedanken entstehen, so müssen schon vorher Indicien dazu seyn in dem Hauptgedanken, auf die man nur wohl zu achten hat. Wir nennen etwas in Rede und Schrift Episode und darunter verstehen wir eine in sich selbst zusammenhängende Gedankenreihe, deren Zusammenhang mit der Hauptreihe nicht da ist. Dies meint nun Schleiermacher hier nicht bei den Nebengedanken, sondern was Episode ist kann nach unserm Ausdruck auch Hauptgedanke seyn. Für den Gegenstand kann etwas Episode seyn, für die Darstellung und für das, was wir in den Gemüthern anregen wollen, nicht. Das nennt man auch Episode, aber unrichtig, denn man bezieht da alles Hauptsächliche auf den Gegenstand, gar nicht auf die Idee. Also nur solche Episoden, die nichts mit dem Gegenstand und überhaupt nichts mit der Idee des Werks zu thun haben, sind solche zwischentretenden Reihen von Nebengedanken. Zur Mittheilung kann sie der Verfasser aber auch nur bringen, wenn er glaubt, sie werden auch in andern entstehen. Kann er sie nun wieder in guten Zusammenhang bringen mit der Hauptreihe, so hat er sich großen Vortheil geschafft indem er alle Störung beseitigt durch eine richtige Leitung. Je mehr dabei auf den Leser selbst Rücksicht genommen ist, desto mehr werden dies wieder Hauptgedanken und Episoden der andern Art. In der Einleitung und im Schluß des Ganzen und der Theile ist das Vorkommen der Nebengedanken im Großen. Daneben giebt es noch ein parenthetisches Vorkommen derselben. Unter dem Parenthetischen versteht man alles das, was so in den Zusammenhang der Rede geschoben ist, daß es herausgenommen werden kann ohne dem Zusammenhange des Ganzen Schaden zu thun. Dies kann vorkommen auch ohne daß der Verfasser aus dem Gegenstande heraus ist. Die Verwandschaften, die dies hervorbringen können nun mehr subjectiv, mehr objectiv seyn und darnach bestimmt sich die Schwierigkeit des Verstehens derselben. 13 Episode] Epilog
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Dies sind nun die Arten, wie Nebengedanken vorkommen können. Nun wird es darauf ankommen, daß wir die Beschaffenheit der auf diese Weise möglichen Nebenvorstellungen selbst kennen lernen und dazu müssen wir von ihrem Verhältniß zu dem Hauptgedanken ausgehen. Auch eigentliche Bestandtheile des Hauptgedankens bekommen manchmal das Ansehen des Zufälligen, wenn nemlich eine Vorstellung deutlich gemacht wird durch eine Menge von Einzelheiten. Dann können wir uns denken, es giebt ein Verhältniß der Aehnlichkeit unter den Vorstellungen, weil eine jede Vorstellung ein Hinaufsteigen zum Allgemeinen und Herabsteigen zum besonderen ist und also in einem Verhältniß steht mit etwas anderm das ihr gleich ist, mit anderm von dem sie abgeleitet ist und mit anderm, das aus ihr abgeleitet ist. Aus dieser Aehnlichkeit kann dann manches erklärt werden. Wenn wir uns die Succession der Vorstellungen denken, so ist dadurch selbst bestimmt ein Uebergang aus den so entstandenen Vorstellungen in andre. Das ist es, was Schleiermacher im weitern Sinne die Folgerung nennt. Es ist aber bei jedem Gedanken eine Mannigfaltigkeit der Folgerungen gesetzt. Was nun am wesentlichsten in den Zusammenhang gehört, das ist der Hauptgedanke. Aber hier kann sich nun zwischenschieben eine Folgerung auf etwas anderes gehend, die sich aber im Gemüthe des Redenden oder Schreibenden specifisch ausbildet, so daß er ihrer Mittheilung nicht widerstehen kann. Das kann aber nur parenthetisch geschehen. Dies kann wieder etwas mehr Subjectives, oder mehr Objectives seyn und darnach wieder die Bestimmung der Schwierigkeit des Verständnisses. Soweit führt uns die Verwandschaft, die Erläuterung aus dem Aehnlichen und Folgerungen aus dem Wesentlichen geht hervor aus dem objectiven Combinationsgesetz. Nun giebt es auch ganz persönliche Combinationen der Vorstellungen und durch diese kann auch wiederum eine Nebenvorstellung in ein vorzüglich helles Licht treten. Dann ist die Neigung da, sie mitzutheilen und dadurch, daß beim Menschen die subjective Combination stark vorherrscht, entsteht eben der Fehler, daß sehr leicht der Hauptgedanke verdrängt wird. Aber auch als minimum betrachtet muß sich nicht ein jeder zurückhalten, einen Gedanken mitzutheilen, der gar nicht in ostensivem Zusammenhange mit dem Gegenstande der Rede steht. Freilich so wie man das Gefühl hat, daß das etwas rein Persönliches ist, wird man sich hüten, diesen Gedanken mitzutheilen. Aber man kann sich doch dann des Wunsches nicht enthalten, daß sich dieser Gedanke jedem aufdrängt und dadurch entsteht eine Modification des Ausdrucks, die sonst nicht
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entstanden wäre und die bloß ein Erinnerungsmittel an einen Nebengedanken ist. Wenn dies rein persönlich ist, so ist das ein Fehler, man stellt den Lesern ein Räthsel hin, das sie nicht lösen können. Aber ein andres wird dies, wenn der Verfasser dies voraussetzen kann, daß dieser Gedanke der Aehnlichkeit der Verhältnisse wegen, wenn auch aus keiner Verwandschaft, entstehen werde und dann kann er einen Fingerzeig geben, daß er ihn auch gehabt hat. Das ist die A n s p i e l u n g im engern Sinne. Es ist die bloße Hinweisung auf einen Nebengedanken, der nicht selbstständig ist hingestellt. Wer sich in dem Falle befindet, den der Verfasser voraussetzt, der wird die Stelle leicht verstehen. Wer sich nicht in demselben Verhältniß befindet, dem wird auch der Gedanke nicht erregt durch die Anspielung. Aber er wird merken, daß eine Anspielung ist, ungeachtet sie ihre Wirkung auf ihn nicht thun kann. Nun versteht er freilich das Ganze nicht, aber es entsteht doch in ihm eine Vorstellung von der lebendigen Bewegtheit des Schriftstellers selbst und so bekommt er immer den wahren Eindruck, wenn auch nicht den vollständigen. Darum braucht sich der Redende auch nicht zu scheuen, Anspielungen zu machen, wenn sie auch nicht alle verstehen. Aufmerksame Leser merken immer die Anspielung, die sie, wenn sie dieselbe auch nicht ganz verstehen, doch weiter bringt in der Kenntniß vom Schriftsteller. Wenn wir von hier aus alle verschiedenen Formen noch einmal betrachten, so lassen sich alle hierin auflösen und obgleich die Anspielung das minimum ist, so lassen sich doch alle jene Formen darauf substituiren. Wenn ein Begriff durch viele Einzelheiten repräsentirt wird, und wenn ein Gedanke durch das Princip der Aehnlichkeit erläutert wird, so ist letzteres schon dem ersteren sehr ähnlich, denn die Aehnlichkeit wird auch durch Einzelnes dargestellt, das unendlich ist. Eben so ist es mit den ÐfremdartigenÑ Folgerungen. Diese sind auch unendlich. Im Redenden und Schreibenden aber ist ein Princip, warum er dies oder jenes nimmt und kein andres, es mag ihm nun bestimmter seyn im Bewußtseyn, oder nicht. Dieses Princip kann nicht in der Construction des Ganzen liegen, weil die Gegenstände selbst nicht darin liegen. Dies Princip muß also anderswo liegen. Die Auswahl und ÐBe ungÑ solcher Nebengedanken ist aber eine Anspielung auf jenes Princip und es liegt eine Aufforderung für den Hörer oder Leser darin, dies Princip aufzusuchen. So lösen sich alle Nebengedanken in den Begriff der Anspielung auf, nur wo eigentlich keine Anspielung ist, sondern ein ausgeführter Nebengedanke, da ist die Anspielung potentiirt. Eine Nachconstruction der ganzen Handlung des Schreibens und Redens ist nicht möglich, wenn man nicht auch jeden Nebengedanken in seiner Genesis versteht. Ja hierin muß der Leser den Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat.
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Es ist offenbar, daß kein Nebengedanke in eine Rede kommen soll ohne Rücksicht auf die Hörer oder Leser. Nimmt er solche gar nicht, so wird sein Vortrag verworren werden. Nimmt er sie nicht auf, sondern spielt er bloß an, so versteht ihn gar keiner. Dies ist der Grund, warum nothwendig durch die Zeit in jeder Schrift viel verloren gehen muß und zwar in demselben Maaß, als sie lebendig ist. Die Lebendigkeit liegt eben in den Nebengedanken. Der Verfasser nimmt aber dabei immer nur seine ÐSacheÑ ÐeinÑ auf die Mitlebenden. Stirbt die Mitwelt allmählig aus und die Schrift erhält sich, so sind vielleicht die Bedingungen, die in der Zeit lagen verloren gegangen, unter welchen allein die Nebengedanken konnten verstanden werden. So haben wir zu scheiden Schriftsteller und Dinge, wobei auf die Nachwelt mehr Rücksicht genommen wird, andre wobei weniger. In den lebendigsten Schriften aber wird immer die Rücksicht auf die Mittheilung dominiren. Es giebt aber Schriften, die sich so auf die Mitwelt abschließen, daß sie für die Nachwelt gar nichts sind, wenn nemlich das Princip der Anspielung ganz im besonderen Kreise des Lebens liegt, nicht im großen geschichtlichen Zusammenhange. Wir haben überall eine doppelte Aufgabe zu lösen 1. die Handlung des Schriftstellers nachzuconstruiren 2. aus der Schrift selbst die Handlung des Schriftstellers zu erkennen. Das letztere erfolgt wenn wir das zu deuten suchen, was in allen Nebengedanken die eigentliche Anspielung ist, wenn wir das Interesse aufsuchen, das auf eminente Weise in ihm gewesen ist und was Einfluß auf seine Composition gehabt hat. Hiebei kommt es an auf das verschiedene Verhältniß worin die Nebengedanken zu dem Hauptgedanken stehen und theils die Zusammensetzung davon, um sich daraus eine Einheit zu bilden. Also wenn eine Vorstellung durch ein Aggregat von Einzelheiten ausgedrückt wird, so müssen wir uns die fehlenden ergänzen dadurch, daß wir uns den Umkreis ziehen, innerhalb dessen das einzelne nicht Gesagte liegen muß und dann müssen wir fragen: was kann denn wohl die Ursache seyn, daß der Verfasser dies herausgehoben hat, jenes nicht? Wenn der Verfasser den Gegenstand erläutert aus einem andern Gegenstande, so muß man fragen: warum hat er daraus Erläuterungen genommen? Eben so wenn Folgerungen gemacht, die sich nicht mehr auf den Gegenstand beziehen, müssen wir fragen: warum diese Folgerung und nicht eine andre? Indem wir nun dies alles zusammenstellen, so bekommen wir nicht nur eine divinatorische Anschauung von den Nebengedanken des Schriftstellers, sondern wir bekommen auch eine Vorstellung von demjenigen, was er für das gemeinschaftliche Gebiet der Nebenvorstellungen gehalten hat, das er mit seinem Publicum theilt; denn je besonnener ein Schriftsteller ist, desto mehr muß er sich Rechen-
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schaft davon geben, daß das Einzelne, was er anderswoher, als aus dem Gegenstande, beibringt, allen gemeinsam sey, oder durch die Mittheilung seyn werde, denn er muß sie hernach von den Nebengedanken auf den Hauptgedanken zurückführen. Ihm wird das leicht seyn, weil der Hauptpunct bei ihm immer vorherrscht. Hat er dies durch zweckmäßige Darstellung der Hauptgedanken in den Lesern zu erwecken gesucht, dann werden sie auch leicht auf die Hauptgedanken und Nebengedanken zurückkehren können. In dem Maaße als dies nicht ist, wird ihnen jeder Nebengedanke ein Räthsel seyn. Es giebt allerdings Schriftsteller, bei denen Nebengedanken vorkommen, von welchen sie nicht Ursach haben zu glauben, daß sie eben so auch ein Interesse für ihre Zuhörer haben. Dies ist eine sehr schwierige Sache in der Composition und wer sich das erlaubt, giebt sich eine große Aufgabe. Jean Paul thut dies im Uebermaaß. Dadurch geht eine Durchsichtigkeit und Verständlichkeit des Einzelnen verloren. Er will aber dadurch afficiren, daß gleichsam auf diese mechanische Weise die ganze Welt angeregt wird. Es ist dies nur verzeihlich bei ihm durch die große Masse. Aus den Nebengedanken manifestirt sich auch der Character des Schriftstellers am meisten. Aus dem Hauptgegenstande sehen wir nur den Menschen in Beziehung auf den Gegenstand. Aber in der Totalität der Erregtheit seines Bewußtseyns, die repräsentirt wird durch die Nebenvorstellungen giebt die den Totalcharacter des Schriftstellers und vorzüglich, was ihn bewegen konnte in seiner schriftstellerischen That. Wenn einer in derselben poetischen Gattung, als Jean Paul hat, ein besonderes practisches Interesse hätte, nicht wie er, ein solch allgemeines Interesse, so könnten alle die Nebenvorstellungen unmöglich vorkommen und das einzelne Interesse müßte gleich auf das ganze Werk und seine Anlage wirken. Man kann deßhalb aber gar nicht von der Schrift auf alle Zustände des Verfassers schließen, sondern nur auf den Zustand des Schriftstellers als er die Schrift schrieb[,] in Beziehung auf die Schrift. Gehen wir wieder ab zu denjenigen Nebengedanken, die gar nicht weder als einzelne Theile, als Subsumption, noch als Erläuterung, noch als Folgerung auftreten, sondern die nur in ihrer Differenz von ihnen erscheinen, so können solche nur wirklich ausgesprochen vorkommen, wenn der Verfasser vollkommen überzeugt ist, daß seine Leser sie vollkommen so in sich haben werden, als er, und daß in seinen Lesern rückwärts dieselbe Operation nothwendig von selbst hervorgebracht wird, die seinen Gedanken und seinen Ausdruck veranlaßt hat. Das ist das Gebiet der eigentlichen Anspielung, des Mitteldinges zwischen Sagen und
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Nichtsagen. Nehmen wir zuerst den Uebergang aus dem Sagen ins Schweigen, so findet sich das Schweigen im Abnehmen, je mehr sich die Nebengedanken von dem Hauptgedanken entfernen. Je mehr ich auseinandersetze, desto mehr nehme ich die Aufmerksamkeit in Anspruch. Wer weitläufig ist bei einem Gegenstand ohne Interesse, kann nicht fesseln. Die Sicherheit, breit seyn zu dürfen, kann also der Verfasser nur in Beziehung auf den Hauptgedanken haben. Die Nebengedanken, je weiter ab, desto flüchtiger. Werden sie nun so flüchtig, daß sie gar nicht eigens heraustreten, aber doch angedeutet werden durch die Art der Darstellung eines andern, so ist das die Anspielung im engern Sinne. [Für] diese Regel der Abnahme der wirklichen Darstellung der Nebengedanken giebt es noch einen andern Factor. Nemlich sie dürfen sich heben, je größer die Sicherheit ist, daß ihr Gegenstand und ihre Verbindung mit dem Hauptgegenstande dem Verfasser und den Lesern gemeinsam ist. Deutet er aber die Nebengedanken bloß an, so ist Unsicherheit darüber da. Die Anspielung kann also nur statt haben, wenn der Verfasser sich sein Publicum verschieden denkt. Je mehr Sicherheit aber ist, desto gewissere Vorstellungen in den Lesern sind, desto leiser dürfen sie berührt werden, und man kann sicher seyn, daß der Leser sie faßt und das ist das entgegengesetzte Motiv für die Anspielung. Beide sind in der Natur der Sache gegründet. Wo sich eine findet, muß man nur das Motiv aufsuchen, ob sie entstanden ist aus dem Bewußtseyn, daß jeder sie gleich verstehen müßte, oder aus der Ueberzeugung, daß derjenige, der sie nicht gleich verstände, durch ihre Auseinandersetzung aus dem Zusammenhang würde gebracht werden. Dazu gehört aber die genaueste Kenntniß aller Umstände. B e z i e h u n g a u f d a s N e u e T e s t a m e n t . Wir haben es hier nur mit den didactischen Schriften zu thun, so lange wir die Idee und die Grundzüge der Composition von den historischen Schriften nicht haben. Die didactischen Schriften sind aber alle mehr oder weniger von der Art, daß man sie Gelegenheitsschriften nennen kann. Es ist also eine ursprüngliche Duplicität in ihnen, ein allgemeiner Inhalt und ein besonderer. Es liegt schon in der Natur der Sache, daß hier Fälle vorkommen können, wo es zweifelhaft ist, was denn die Hauptsache und was die Nebensache sey. In jedem einzelnen Falle muß es aber doch nöthig seyn, sich darüber ins Klare zu bringen und beides das Allgemeine und das besondere genauer zu scheiden, als der Verfasser selbst. Der Natur der Sache nach geht dies immer in einander über und das Religieuse und die moralische Verschiedenheit tragen den Character des Speciellen und durch die besondere Lage Bedingten. Constituiren wir nun in einem Briefe das Verhältniß des Schreibenden zu den Lesern, so ist er entweder historisch, d. h.
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der Schreibende theilt von sich mit, wo eine rein historische Basis vorherrschen muß, oder es dominiren diejenigen, an die geschrieben wird und dann ist der Brief immer mehr oder weniger didactisch. Allein wenn in solchem Vortrage das eine das dominirende ist, so kann das andre niemals Null seyn. Ist aber das Eine das dominirende, so ist das Andre das Gebiet der Nebengedanken. Wir finden in dem Neuen Testament sehr gewöhnlich, daß ein allgemeiner Begriff dargestellt wird durch eine Menge von Einzelheiten zB. der Begriff der christlichen Frömmigkeit ist durch ein Verzeichniß allerlei Tugenden hingestellt, worin gar nichts Systematisches ist. Es ist nur ein Aggregat und die Einheit davon soll also bloß dem Leser ins Gemüth kommen. Wornach sind aber die Einzelheiten gewählt? Da findet man im Neuen Testament gewöhnlich, daß das auf eine ganz willkürliche Art geschehen sey und eben dies rechnet man mit zur Unvollkommenheit der Schriftsteller. Damit muß man sich aber sehr in Acht nehmen. Man muß immer sehen, alles der Art unter ein Gemeinschaftliches zu bringen, die Idee davon aufzufassen und das wird einem auch meistens gelingen. Was die Folgerungen aus dem Gesagten betrifft auf etwas außer dem Gegenstand Liegendes, so hat es da dieselbe Bewandniß. Es liegen auch Anspielungen zum Grunde, die auf das Princip hinweisen, woraus die Folgerung geflossen. Es sind entweder Anspielungen auf die Lage des Schriftstellers, wenn das Objective dominirt, oder auf die der Leser, wenn das Subjective dominirt. Erläuterungen die von einem Fremden hergenommen sind, sind dem vorigen so analog, daß besonders darüber zu reden nicht nöthig ist. Aber man kann den gänzlich bildlichen Ausdruck, alles Parabolische kann man darunter subsumiren. In sofern wollen wir aber dieses bei Seite legen, weil wir darüber noch aus allgemeinen Principien und dann auch besonders reden werden. Was die eigentliche Anspielung betrifft, so giebt es da im Neuen Testament ein eigentliches Gebiet, das Alte Testament. Es finden sich dergleichen auch reichlich und zwar unter allen verschiedenen Formen. Jedoch sind die Neu Testamentlichen Schriftsteller sehr ungleich darin, sich durch Anspielungen zu Anführungen verleiten zu lassen. Wenn dies dem Petrus begegnet, ja wenn er ganz abkommt von seinem Thema durch solche Anführung, so kommt das daher, daß er gar keinen besonderen Zweck gehabt hat, sondern es war bloß ein freies religieuses Phantasiren. Wenn man dasselbe sagt vom Apostel Paulus oder vom Verfasser des Briefes an die Hebräer, so wäre das hier eine weit größere Unvollkommenheit, aber man muß sich sehr bedenken, ehe man dies glaubt, sondern
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es liegt meistens darin, daß man sich den Hauptgang der Gedanken nicht recht construirt hat. Was nun die Anspielungen auf das Alte Testament selbst betrifft, so geben sie einen Aufschluß über die ganze Art, das Alte Testament zu gebrauchen und dadurch kann am leichtesten jeder bei sich den Streit schlichten, der darüber geführt ist. Fragt man nemlich, ob die Stellen selbst authentisch angeführt werden, so ist das schwierig. – Es ist aber klar, die NeuTestamentlichen Schriftsteller brauchen das Alte Testament auf eine unhistorische Weise, sie erklären die Stellen nicht aus ihrem Zusammenhange. Nun aber haben die NeuTestamentlichen Schriftsteller gewiß das Alte Testament zu ihrem Studium gemacht, wenigstens in der ausgedehntesten messianischen Beziehung und wenn man ihre specifische Dignität nicht ganz aufheben will, so kann man doch nur annehmen, daß das religieuse Princip sie hätte richtig leiten sollen. Davon finden wir aber sehr oft das Gegentheil und da scheint es, daß man entweder sagen müßte, wir irren uns und es ist doch eine richtige Erklärung des Alten Testaments, wie sie im Neuen Testament ist (so haben viele Ausleger entschieden) oder wir müssen sagen: unsre Auslegung ist richtig; die heiligen Schriftsteller haben unsre Auslegungskunst noch nicht gehabt. Das ist auf dem religieusen Gebiet aber immer mißlich wegen der Inspiration. Das ist der Streit. Er schlichtet sich am meisten, wenn wir auf die Anspielungen auf das Alte Testament merken. Was motivirt die Anspielungen? Das ist ganz etwas andres, als wenn AltTestamentliche Stellen als Beweis angeführt werden. Wir müssen nur annehmen, ein gewisses Bewußtseyn des Alten Testaments war das NeuTestamentliche Schriftsteller begleitende Bewußtseyn, das ihnen nie ausging. Es war ihnen immer gegenwärtig und vertrat bei ihnen alle andre Litteratur. Da ist es ganz natürlich, daß einem Anklänge in die Rede kommen, die gar nicht bedingt sind durch eine Beziehung des Gedankens auf den Hauptinhalt der Stelle. Dasselbe müssen wir von den AltTestamentlichen Anspielungen im Neuen Testament sagen. Dies kann man auf dieselbe Weise auf die eigentlichen Anführungen anwenden und hier einen 2fachen Character unterscheiden 1. den eigentlich berufenden und 2. den, vermöge dessen eine Anführung entstehen kann, wie eine Anspielung. Das ist der richtige Begriff der Accomodation, Theile einer andern Rede denen, mit welchen man es zu thun hat, zu accomodiren. Das erlauben wir uns beständig, wir brauchen Worte aus klassischen Schriftstellern, wenn sie auch im Zusammenhange etwas andres bedeuten. Es ist ein Unterschied zwischen Wort und Gedanke, wenn sie auch von der andern Seite identisch sind. Wenn uns aber der Gedanke einfallen kann, ohne die Worte, so können uns auch die Worte beifallen, die von
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dem Gedankenzusammenhange abstrahiren. Das liegt im musicalischen Effect der Sprache, wo uns etwas der Art gegenwärtig bleibt. Der Gedanke als solcher kann uns nur gegenwärtig bleiben in seiner Verbindung. Die Ausdrücke aber können wir gegenwärtig behalten eben vermöge des 5 Musicalischen. Darum behalten alle Menschen eher Poesie als Prosa, darum suchen alle Sprichwörter eine Assonanz oder Alliteration. Je geringer der Umfang an Litteratur ist, desto weniger streng darf man seyn. Dazu kommt, daß die ganze hebräische Form des Parallelismus dies ungemein begünstigt, denn der ist auch in gewissem Sinne bloß Assonanz. In dieser 10 Art von Gebrauch müssen wir sagen, daß das religieuse Princip da gar keine Aenderung macht. Sie haben gar nicht die Sachen falsch anführen wollen, ja sie haben sie auch nicht falsch verstanden, sondern sie haben nur den ihnen vorschwebenden Gedanken modificirt dargestellt, wie das einem jeden ja sehr oft geschieht.
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Vo m b i l d l i c h e n A u s d r u c k . Er läßt sich nicht unter die Nebengedanken subsumiren. Alles vom Kleinsten an bis zur Parabel und Allegorie gehört dazu. Die Möglichkeit des bildlichen Ausdrucks beruht auf der Correspondenz des Physischen und Ethischen, des Leiblichen und Geistigen überhaupt. Nun aber mögen wir uns denken was wir wollen, als eigentlichen Gegenstand der Rede, so wird es eine große Menge solcher Correspondenzen geben und die erste Frage ist hier immer über die Auswahl und warum denn aus diesem und nicht aus jenem Gebiet der Vergleich genommen sey. Die zweite Frage ist nach dem Bedürfniß. Was klar gedacht ist muß einer Erläuterung aus einem fremden Gebiet nicht bedürfen, es fragt sich also: was kann solchen Verfasser bewegen, zu solchen Erläuterungen seine Zuflucht zu nehmen. Die dritte Frage ist diese: dasjenige, wovon die Erläuterung hergenommen ist hat Correspondenz mit demjenigen, was es erläutern soll. Es hat aber auch seine eigentliche Natur und man kann nicht trennen, was die Correspondenz ausmacht und die eigenthümliche Natur und um jene zu geben, muß man diese mitnehmen. Sieht man nun den Vergleich selbst als Moment an, so hat dieser wieder eine unendliche Mannigfaltigkeit, die man auch mitnehmen muß. Es fragt sich also: wie weit geht das Erläuternde und was ist nicht das Erläuternde, das aber gesagt werden mußte, wenn die Sache gesagt werden sollte? Das ist der Spruch: omne simile claudicat. Alle diese Fragen gehen von der bloßen Wortmetapher an bis zur Parabel und Allegorie durch.
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P r i n c i p i e n f ü r d i e B e a n t w o r t u n g d e r F r a g e n . Die ersten Fragen sind nicht gut zu trennen. 1. wie entsteht das Bedürfniß der Erläuterung aus einem fremden Gebiet? und 2. was bestimmt die Auswahl? Wir müssen hier denken 1. an die Stimmung, in der sich der Verfasser befindet bei der Composition selbst und 2. an die Art, wie ihm seine Zuhörer und Leser gegenwärtig sind, wie er sie sich construirt und was er um ihretwillen thut. Das erste hängt wiederum sehr zusammen mit der Form der Darstellung überhaupt. Die Form der Darstellung hat einen objectiven Character und läßt sich wieder so ansehen. Aber sie geht hervor aus dem subjectiven Character, aus der That des Schriftstellers, die doch durch die Temperatur der Stimmung bedingt ist. zB. wenn wir sagen, ein streng didactischer Vortrag verträgt gar nicht so viel Bildliches, als ein anderer, so scheint das bloße Observation zu seyn. Wir verstehen es erst, wenn wir die That des Verfassers ansehen und seinen Gemüthszustand. Er befindet sich da ÐnunÑ in bloßer Abstraction und diese Strenge vertreibt weit mehr alle Nebenvorstellungen und verdrängt alles, was außerhalb der Hauptreihe von Vorstellungen liegt. Darum kommt weniger davon hinein. Es kann nun ein Vortrag eben so streng seyn, aber schon durch Bilder sehr lebendig, aber der Verfasser ist dann nicht vollkommen in der Abstraction gewesen, sondern es war schon mehr Raum in ihm für Nebenvorstellungen. Weil nun nur der größte Virtuose den streng didactischen Vortrag vereinigen kann mit der größten Lebendigkeit, so stellen wir uns als Regel, daß der didactische Vortrag am freisten von Bildern sey. Der rhetorische Vortrag ist in beständigem Umherschauen begriffen. Daher wird hier die Quantität des Bildlichen im Gegensatz stehen gegen das Didactische, weil es hier nicht auf das Erkennen, sondern auf die Bewegung des Gemüths ankommt. Nun sehen wir auf die Art, wie dem Verfasser seine Hörer gegenwärtig sind. Seine Richtung mag seyn welche sie wolle, so muß er ihr Bewußtseyn immer beherrschen und er erreicht seinen Zweck nur, sofern er sie beherrscht. Wenn er glaubte, sie wären schon von selbst mit ihm zu demselben bewegt, so würde er nicht reden und wenn er glaubte, sie dächten alle, wie er, so würde er auch nicht didactisch ihnen etwas vortragen. Er setzt also, wenn er sich rednerisch mittheilt, eine Differenz der Bewegtheit des Gemüthes und wenn er sich didactisch mittheilt, so setzt er eine eigenthümliche Denkart in sich voraus und hat die Ueberzeugung, daß die Leser ohne ihn nicht könnten so klar denken. Diese Differenz muß er aufheben und wollen, daß sein ganzes Publicum mit ihm denselben Beschluß faßt und dasselbe Resultat des Denkens. Zum Mittel hat er nun nichts, als das Bewußtseyn, er kann also nur durch dieses zur Aufhebung
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der Differenz wirken. Daher immer mehr oder weniger die Widerlegung falscher Ansichten mit hineinkommt. Das könnte nicht seyn, wenn nicht dieses Verhältniß bei der Mittheilung zum Grunde läge. Von der Vorstellung aus, die ein Schriftsteller von seinen Lesern hat, muß es sich ihm bestimmen, wie weit er sie kann im didactischen Vortrag zB. in strenger Folge halten, oder wie weit er ihrer Schwäche kann zu Hülfe kommen durch Exemplification und Bilder. Das Bedürfniß also bestimmt sich aus dem Gemüthszustande, den sich der Schriftsteller bei seinen Lesern denkt. Bei der Auswahl müssen wir ganz auf dieselben 2 Elemente zurückkommen. Wenn man einen Schriftsteller fragt: warum hast du dies Bild gerade gebraucht? so wird er sehr oft sagen, weil mir kein anderes eingefallen ist und dann liegt der Grund davon in seinem eignen Zustand. Hat er aber mehrere gegenwärtig, so wählt er aus nach seiner Einsicht. Dies macht den Uebergang zum zweiten denn wenn er einen Kreis weiß, der allen seinen Lesern gemeinsam ist, so wird er unbedingt aus diesem Kreise die Erläuterung nehmen. Hier tritt nun ein andrer Unterschied ein, wie viel Raum auf ihn ÐgewandtÑ wird und wie viel Fleiß; denn wenn man die Correspondenz ganz ausführt, so braucht der Gegenstand nicht so bekannt zu seyn. Wird aber die Correspondenz mehr vorübergehend ÐangegebenÑ, so hat der Leser keine Zeit, sie sich erst herauszusuchen und darum darf das kein fremdes Gebiet seyn. Es giebt nun aber auch eine wechselnde Bewegtheit der Menschen, in welcher sie für dies oder jenes Gebiet mehr Interesse haben und Erläuterungen aus diesem Gegenstand hergenommen werden am wenigsten ihren Zweck verfehlen. Es ist also nicht nur der constante Zustand der Leser, wo bloß das Verhältniß der Gegenstände in Betrachtung kommt, sondern auch der wechselnde Zustand der Leser, der benutzt werden muß. Ja letzterer muß benutzt werden, wenn kein Schade entstehen soll, denn je mehr etwas lebendig ist, desto mehr wirkt es auf den Leser ein und zieht ihn ab. Dieses Abziehen muß aber der Schriftsteller nicht nur unschädlich, sondern förderlich machen. Was ist nun dasjenige, was der Verfasser eigentlich hat mit dem andern vergleichen wollen? Wie weit geht eigentlich das Vergleichende? Das ist die dritte Frage, deren Princip zu suchen ist. Es giebt Fälle, wo es leicht in die Augen springt. Wenn das Laub das Haar der Bäume genannt wird, so fällt niemandem ein, daß die Form, oder die Farbe, sondern jeder weiß gleich, daß bloß das Verhältniß das tertium comparationis ist. Nun aber sind die Haare einziehende und ausziehende Theile des Körpers, sie neh-
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men Feuchtigkeit auf und lassen sie heraus. So ist es mit den Blättern auch und es fragt sich, ob dieses gemeint sey. Solche Puncte werden nun immer mehrere kommen und das ist die Schwierigkeit für die Auslegung dieser ganzen Partie. Im Allgemeinen muß nun der Zusammenhang entscheiden und oft entscheidet er sehr leicht und erst wenn man aus dem Zusammenhang die Richtung der Vergleichung speciell erkennen kann, dann ist die Regel diese, daß man in den Bildern nichts suchen soll, als was in dieser Richtung liegt. Wenn in einer poetischen Darstellung jenes Bild gebraucht wird, das Laub ist das Haar der Bäume, so wird niemand an die aufnehmende und ausdünstende Thätigkeit des Haares denken. Oft aber ist die Richtung gar nicht so klar und der bildliche Gegenstand ist für sich allein da. Die Fabel zum Beispiel ist bildlicher Ausdruck und bloß das. Vieles aber geht gewiß über das tertium comparationis hinaus und dann wird in dem Maaß, als der Zusammenhang fehlt, schwierig. So wie das bei der Fabel ist, so auch bei der Allegorie und so kann es auch seyn in der fortlaufenden Rede, wo der Zusammenhang klar ist, denn wenn ein Bild ausgeführt ist, so gehört vieles nicht in den Zusammenhang hinein, aber je mannigfaltiger dies ist, desto schwerer ist es zu entscheiden. Im epischen Vortrag z. B. ist alles bildlich, alles aber gleich unmittelbar, also jedes Bild ein den Verfasser selbstständig beschäftigender Gegenstand, bei dem er so lange bleibt, bis er fertig ist und da fragt sich immer: wie weit hat er denn die Aehnlichkeit gemeint? Wird nun die Parallele durchgeführt, dann ergiebt sich daraus das Einzelne von selbst. Ist aber die Parallele nicht vollständig, so fragt sich, ob der Verfasser manches ausgelassen hat, weil er glaubte, jeder werde es schon von selbst finden oder weil er es für unwichtig hielt. Das wird sich aber immer noch finden lassen. Am schwierigsten wird die Lösung seyn, wenn die Parallele gar nicht durchgeführt ist und der Zusammenhang gar nicht angegeben. A n w e n d u n g a u f s N e u e T e s t a m e n t . Die jüdische Lehrform hat das Bildliche eigenthümlich. So völlig selbstständig, als wir manche Parabeln im Neuen Testament ÐfindenÑ sind sie schwerlich vor[ge]tragen, sondern wie sie sollten die höchste Anschauung in der Rede geben, so ist uns auch wol bloß das Parabolische aufbehalten. Den unmittelbaren Zuhörern mußte aus dem unmittelbaren Zusammenhang der Rede alles klar seyn. Die Frage war zu beantworten: wie soll man die Grenze finden zwischen dem, was zur Parallele gehört und dem was nicht, das aber in die Darstellung mit aufgenommen ist? Diese Frage ist ganz allgemein. Beantworten wir sie aber für die höchste bildliche Darstellung, so wird sie 18 aber] folgt es
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nach denselben Principien überall beantwortet werden können. In dem Gleichniß ist das, was zur Parallele gehört die Hauptsache, was nicht dazu gehört ist entweder nur wider den Willen des Schriftstellers da oder doch nur als Nebensache. Wider seinen Willen ist es immer dann da, wenn es kein Abgesondertes ist, sondern ein der Hauptsache Anhängendes, d. h. wenn der Leser bei dem, was die Parallele ausmacht sich noch etwas anderes denken kann. Wäre dies dem Verfasser bewußt, so würde er es verändern können. So aber können Zweideutigkeiten entstehen, aber in verschiedenem Maaße. Nemlich wenn es wahr ist, daß man zur Erläuterung jedes Gegenstandes auf jedem Gebiet Parallelen zieht, was die Nothwendigkeit der Erklärung der Auswahl giebt, so kann man sagen, jede gewählte Parallele läßt sich noch weiter fortsetzen, und auch sie ist unendlich. Das ist keine Sache der Kunst, denn die Sache der Kunst ist die Auswahl des Reichsten, sondern es ist bloß Sache der Natur, der Verbindung des ganzen Seyns. Der speculative Grund des Bildlichen ist eben der Trieb, diese Verbindung aufzusuchen. Wenn man nun nicht weiß, wie weit die Parallele geht, so kann da nur entscheiden das Bewußtseyn, wie weit man darin gehen könne. Die Hauptregel ist, daß die Erklärung des Gleichnisses natürlich seyn muß. Alles Erkünstelte ist falsch. Das Natürliche ist aber immer nur eine einfache Erklärung und die Auffassung der Parallele nur von einer Seite. Wenn der Schriftsteller mehrere Seiten will herausgehoben haben, so müssen dazu in ihm die Indicien liegen; denn dies ist etwas Spielendes, wozu er sonst schon Neigung muß gezeigt haben. Wie entsteht der einfache bildliche Ausdruck? Ganz von selbst, ganz ungekünstelt. Es trifft ein Bild die Seele und dann entsteht ein bildlicher Ausdruck. Weil der Ausdruck also ganz momentan ist, ist nichts Spielendes, Gesuchtes, Erkünsteltes darin, außer wenn der Mensch selbst eine Richtung darauf hat. Wer bei Jean Paul ein Bild liest, der kann sich gar nicht denken, daß nicht mehr sollte verglichen werden, als das bloß auf den ersten Blick Gegebene und da kann keine Erklärung gekünstelt erscheinen. Das ist der einzige Canon. Es ist bloße Gefühlssache. Es ist wahr gesagt, der einzelne bildliche Ausdruck entsteht durch die rein momentane Production. Er kann aber daraus so oft entstehen, daß er eine Art von Phrasis, von stehender Formel geworden ist. Da findet man denn denselben bildlichen Ausdruck wieder und dann kann man nur Fälle suchen, wo der Zusammenhang vollkommen entscheidet. Solche Bilder also, die in die Sprache übergehen, haben immer ihre Grenzen und über ihren allgemeinen Typus in den klarsten und unzweideutigsten Fällen soll man nicht hinausgehen.
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Z w e i t e r F a l l , wo da Bild ganz für sich behandelt wird. Wir finden dies besonders im Epos, aber auch im Neuen Testament, in der Parabel, in der allegorischen Erzählung. Da kommt dann tausenderlei mit hinein, was nicht in die ursprüngliche Absicht gehört. Wir wollen hiervon das maximum annehmen, wie wir es bei jüdischen und judaischen Schriftstellern finden. Je mehr der Reichthum solcher Dinge zunimmt, die nicht zum Gleichniß gehören, desto mehr wird die Erzählung selbstständig und der eigentliche Zweck des Ganzen, die eigentliche Vergleichung ist dann die epigrammatische Spitze desselben. So finden wir es auch. Dadurch sondert es sich aber auch von dem übrigen, das zur bloßen Ausführung gehört und man wird dann beides unterscheiden können. Ist aber der Schriftsteller unvorsichtig, so kann man leicht mehr hineinziehen in die Parallele als er gewollt hat und dies wird immer der Fall seyn, wenn er nicht beides genau scheidet. Denken wir nun dies Verhältniß sich verschiebend, das Bedeutsame auseinander tretend und ganz umgeben von einer unbedeutsamen Masse, so wird es, wenn beides das Gleichgewicht hat, sehr schwierig auszulegen. Der besonnenene Schriftsteller aber vermeidet jede Zweideutigkeit. Weiß man, daß der Schriftsteller besonnen ist, so kann man sich darauf verlassen, was sich bedeutsam nehmen läßt, ist gewiß auch bedeutsam, und was unbedeutsam sich nehmen läßt, ist gewiß auch Nebensache und bloßer Schmuck. Je mehr aber diese Art zu reden im Volk liegt, desto eher wird einer das Gleichniß so halten können, daß keiner mehr hineinlegt, als gemeint ist. Alles Parabolische war Lieblingsform des jüdischen Volks. Jeder wußte damit Bescheid. Darum können wir den Canon auf das Neue Testament anwenden: was bedeutsam entgegentritt ohne Grübelei, ist bedeutsam gemeint gewesen, was nicht gleich bedeutsam entgegentritt ist unbedeutsam. Dieser Canon ist hier gewiß richtig in Beziehung auf die ursprünglichen Zuhörer. Wir sind aber gar nicht in derselben Stimmung, wir sind gar nicht mehr so lebendig in dieser Form und darum können wir leicht darin fehlen. Es fragt sich auf welcher Seite? Wir sind nicht so geübt, die Vergleichung zu finden. Wir müssen also den Canon nach dieser Seite so modificiren: wir müssen schon etwas nach der Bedeutsamkeit suchen. Wenden wir aber diesen Canon an, dann können wir auch eben deswegen, weil wir nicht so geübt sind, eben so leicht auch falsch schließen und etwas für bedeutsam halten, was es gar nicht ist. Da hilft nichts. Wir müssen nur suchen uns so viel möglich in den Zustand der ursprünglichen Hörer Christi [zu] versetzen: d. h. der große Tact hierin ergiebt sich nur aus der genauesten Bekanntschaft mit dieser ganzen Form. Dieser Tact erwirbt sich nur durch die Bekanntschaft mit der ganzen Litteratur. Nach dieser sind die Maximen
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sehr verschieden. Einige meinen, man müsse nichts nehmen, als was unmittelbar zu Tage liege. Das ist die Analogie mit der allgemeinen Verflachungstheorie in der Interpretation. Andre gehen ganz ins Gekünstelte über und das ist die Analogie mit der auch schon von uns getadelten 5 Maxime, daß im Neuen Testament jedes Jota die größte Bedeutung habe. Schleiermacher hat alles nur auf die allgemeinen Principien zurückführen wollen, die einzelnen Regeln sind hier immer unglückliche Mitteldinge zwischen den allgemeinen Principien und dem richtigen Tacte.
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Neutestamentliche Hermeneutik. von Herrn Dr. Schleiermacher. Berlin, im Sommerhalbjahr 1822. Hagenbach 5
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Einleitung. Hermeneutik heißt zunächst wenn wir es übersetzen, Auslegungskunst; aber der Umfang in dem das Wort genommen ist, ist einerseits weiter, anderseits enger, als sich verantworten läßt. Auf der einen Seite verstehn die meisten darunter zugleich oder vorzüglich das Talent, warum man das Eine so oder so versteht, mitzutheilen. Das ist etwas schon sehr zusammengesetztes, was nicht scheint in ein und dieselbe Kunst zu gehören; denn da ist 2erlei zu unterscheiden: 1. ich habe meine Gründe, warum ich etwas so verstehe und 2. ich bin im Stande sie darzulegen und lege sie wirklich dar; das letztere geschieht wieder nur durch Reden und Schreiben selbst. Das Reden und Schreiben selbst ist aber eine Kunst für sich und ein Theil von der Kunst, seine Gedanken mitzutheilen, unabhängig von dem Verfahren, wodurch ich zum Verständniß einer Stelle gekommen bin. Fragen wir: mit welchem von beiden wollen wir es zu thun haben, so beantwortet sich wohl die Frage von selbst. (Das letztere ist ein Theil der Didaktik oder der schriftlichen Kunst insbesondere) Wir wollen nur wissen, wie wir auf eine gehörige Art zum Verständniß dessen kommen, was in Rede und Schrift schwierig ist. – Sagen wir dieß so sagen wir zu wenig; denn wir können uns nicht vorstellen, wie man das Verstehn des Schwierigen in Rede und Schrift isoliren kann. Das ist aber eine gewöhnliche Ansicht daß es die Hermeneutik nur mit der Kunst zu thun habe, schwierige Stellen auszulegen. Das führt uns aber auf die Frage wo geht denn eigentlich die Kunst an? Es geht hier wie mit den meisten Dingen, daß es schwer ist, das Kunstlose und das Kunstgemäße voneinander zu trennen. Betrachten wir die Künste im engeren Sinn, so machen diese ein geschlossenes Gebiet für sich; aber schon ganz anders ist es schon mit dem Reden
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und Schreiben, das glaubt jeder von selbst in einem gewissen Sinne zu lernen und zu verstehn, und bis auf einen gewissen Grad lehren zu können; aber ohne daß man es als Kunst ansieht; dann schließt man sich ein andres Gebiet aus: „so und so zu reden und zu schreiben ist Kunst.“ – Wie bestimmen wir hier die Grenzen? Es gibt in der Konversation und im gemeinen Leben etwas was roh ist und etwas was ans Anmuthige und Schöne gränzt. Es ist nicht möglich das Künstlerische und nichtkünstlerische zu trennen; es vergeht jede Grenzscheidung. Wenn wir sie doch aufstellen wollen, so entsteht daraus Affektation und Ziererei in der absichtlichen Vermeidung alles Kunstlosen. Die Kunst ist entweder überall oder nirgends; sie ist in einem gewissen Grade und mit gewissen Abstuffungen von Foderungen überall. – Auf unsre Kunst angewendet, ist das Verstehen überhaupt etwas Kunstloses, das so sehr die allgemeine Tendenz des Lebens ist, welches sich ohne jenes gar nicht denken läßt; das schwierige Verstehn sieht man nur an als Ausnahme und auf diese Ausnahme sollte sich unsre Kunst beziehn. Aber auch hier verlieren sich die Grenzen ganz und gar ineinander. Wenn man unsre Kunst so begränzen wollte, daß sie nur auf das Schwierige gehn sollte, so läßt sich nicht einsehn, wie sich dieß isoliren läßt; schon der Begriff des Schwierigen ist eng und in den wenigsten Fällen objektiv. Es ließe sich auflösen, daß man verschiedne Abstuffungen von Behandlungsweisen in der Kunst annähme. Aber wie läßt das Verständniß des Schwierigen sich isoliren? Wir wollen eins antizipiren. Was schwierig erscheint, erscheint oft nur schwierig im gegebenen Zusammenhang und hört umgekehrt oft durch den gegebenen Zusammenhang auf schwierig zu sein; je gründlicher der Zusammenhang in einer Schrift aufgefaßt wird von Anfang an, um so leichter werden sich Schwierigkeiten lösen; wir müssen also das Schwierige immer in einen Zusammenhang mit dem Größeren setzen, und das Verständniß des schwierigen Einzelnen beruht nur auf dem möglichst richtigen Auffassen des Zusammenhangs. Ein spezieller Unterschied zwischen einem kunstlosen Verstehn des Leichten und einem kunstgemäßen des Schwierigen, existirt nicht. – Geht man davon aus, daß das Schwierige die Ausnahme sein soll, und das Verstehn in Rede und Schrift eine kunstlose Ausübung, und führt doch auf der andern Seite [dazu] die Auflösung das Schwierige zu verstehn, auf den Zusammenhang zurück, so ist nichts andres übrig, als daß man das Zurückgehen auf den Zusammenhang sucht kompendiarisch zu betreiben. Die erste Methode von der obigen Ansicht aus ist die daß man die schwierigsten Stellen klassifizirt; Gemeinsames und Differentes und da sucht man sich für die verschiednen Fälle verschiedne Methoden. Wie sich die Klassen von Schwierigkeiten gegen-
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einander verhalten und die Regelung liegt in dieser Behandlungsart nicht, und die Kunst wird nicht eine teÂxnh sondern eine triÂbh oder empeiriÂa. Sagen wir: wir wollen davon ausgehn, daß man das Verstehn des Schwierigen sich nicht isoliren kann, und von Anfang an beim Verstehen auf eine solche Weise zu Werke geht, daß uns keine Schwierigkeiten entstehn außer durch die Schuld des Schreibenden oder vermöge des Zusammenhangs, auf den wir von Anfang an nicht Rücksicht nehmen konnten, dann bekommt die Kunst eine Allgemeinheit. Indem wir hier z.E. von vorneherein vom Verhältniß des Einzelnen, ohne Unterschied zum Ganzen und vom Verhältniß des Zusammenhangs ausgehn, so können wir nicht zu einem Aggregat von einzelnen Regeln gelangen, sondern die ganze Aufgabe erhält eine allgemeine Gestalt. Da müssen wir aber den ganzen Unterschied zwischen kunstlosem und kunstgemäßem Verstehn ganz aufheben; es wird wohl eine große Menge von Abstuffungen geben, aber es ist etwas womit wir uns in Acht nehmen müssen, weil uns ein leichtes Verfahren in der Folge den Prozeß erschweren kann. Es gibt auch viele Abstufungen im Verhältniß des Verstehenden und dessen der verstanden sein will; aber diese Unterschiede sind keine spezifischen, sondern nur allmähliche Übergänge. Fragen wir, wie steht es gegenwärtig mit der Behandlung dieser Kunst, so steht die ganze Sache noch gar sehr auf dem Übergang von einem Verfahren zum andern; es ist eins von den Gebieten, wo noch etwas Bedeutendes zu ihrer Vervollkommenung zu thun ist. Wir können uns eine Analogie aufstellen zwischen dem Verhältniß derer, die einander verstehn und derer, die miteinander leben wollen. In der letzten Hinsicht gibt es 2 Voraussetzungen: die eine, alle Menschen schlagen einander todt, die andre, alle Menschen sind gute Freunde. So ist es hier auch, wir können von der Ansicht ausgehen: kein Mensch versteht den andern; jeder steckt in seiner eignen Haut; und können von der entgegengesetzten Voraussetzung ausgehn, es ist nichts Natürlicheres als daß sich alle Menschen verstehn. Mögen nun die Sachen ursprünglich so oder so entstanden sein, so müssen wir sagen, die Bestrebungen die Störungen zu meiden und das Zusammenleben zu organisiren, sind die immer fortgehenden. Die Theorie, dieß zu bewerkstelligen ist aber noch nicht vollendet. So ist es auch mit unsrer Aufgabe. Ob das Verstehen die Regel oder die Ausnahme ist, brauchen wir nicht ausmachen zu können; das ist aber klar: die Operationen, die Störungen im Verstehn zu vermeiden gehn immer fort, und wir sind hier so wenig ans Ende gekommen wie dort. Es 5 geht] 〈zu〉 gehn
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wird die Kunst nur entstanden sein, in dem Maße als man sich der Schwierigkeiten bewußt worden ist; und zwar von dem Gebiet aus, wo man den Urheber der nicht verstandenen Rede nicht unmittelbar konstituiren kann, wie im gemeinen Leben; d. h. sie ist entstanden e i n m a l auf dem Gebiet des Übergehens aus einer Sprache in die andre, 2. aus einer Zeit in die andre 3. der Beschäftigung mit der im geschriebenen Buchstaben befestigten Rede überhaupt. Über das Geschichtliche in dieser ganzen Angelegenheit. Das Verstehn wie das Reden fängt als ein kunstloses an und erst durch Schwierigkeiten wird die Aufmerksamkeit erregt; dieß beginnt erst mit dem schriftlichen Verkehr (wie schon oben gesagt). In den ältesten Zeiten z. B. bei den Griechen, wie Homer ein allgemeines Volksbuch wurde, wurden die einzelnen Schwierigkeiten am wenigsten betrachtet; die eigentlichen Schwierigkeiten die aus Unsicherheit oder Vieldeutigkeit der Rede entstanden wurden immer nicht beachtet. Das war natürlich da beim Dichter der Eindruck des Ganzen über das Einzelne dominirt. Die eigentliche Auslegungskunst mußte also durch etwas andres geweckt werden. Das historische schließt sich hier an das Poetische an. Die Schwierigkeiten auf diesem Gebiet liegen auch nicht der Auslegung zunächst. Die philosophische Darstellung aber (im weitesten Sinn des Worts) und die Beschäftigung mit Werken aus fremden Sprachen haben die Auslegungskunst Ðge tÑ. Für die letzteren ist die Auslegungskunst deswegen unentbehrlich weil wir da nicht dieselbe Sicherheit über die Herrschaft der Elemente haben, wie in der Muttersprache. Was die philosophische Darstellung betrifft, so kommt es da in jedem Augenblick auf das Einzelne an, wir müssen hier den räsonirenden Schriftsteller Schritt für Schritt verfolgen, daß uns keine Kombination entgehe. Die Hermeneutik ist daher von diesen 3 verschiedenen Punkten aus am meisten betrieben worden 1. die philologische Hermeneutik betrachtet aus dem Gesichtspunkt der Differenz der Sprachen; ihr Eigenthümliches ist, daß ausgegangen wird von den Schwierigkeiten, die aus der Differenz der Sprachen hervorgehn, und Anleitung gegeben wird sie entweder zu verhindern oder zu lösen. Dieß war bis jetzt vorzüglich beschränkt auf die klassischen Schriftsteller des Alterthums; ein Aggregat von Bemerkungen über die Schwierigkeiten die in Auslegung der alten Schriftsteller aus der Differenz der Sprachen entstehen 2. die juridische Hermeneutik hat es zu thun mit den Schwierigkeiten die bei Auslegung der Gesetze entstehn, und welche in das philosophische Gebiet (im weitesten Sinn) fallen; bis eine allgemeine Hermeneutik da ist, kann auch die juridische Hermeneutik nur in einem Aggregat von Regeln bestehn 3 . d i e t h e o l o g i s c h e H e r m e -
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n e u t i k . Auch hier macht die philosophische Darstellung (im weitesten Sinn) die Basis; denn wenn wir Religion und Philosophie schon trennen müssen, so ist es doch etwas andres, wo das Religiöse aus seiner Unmittelbarkeit heraustritt und sich in Worten kundgibt, die nicht poetisch, sondern mehr räsonirend sind. Bei der alttestamentlichen Auslegung unter den Juden mußten sich Auslegungsregeln bilden; hier war aber die Vermischung des juridischen und des religiösen Gesichtspunkts natürlich und nothwendig. Die thalmudische und rabbinische Auslegung ist fortwährende Kommentation über das Gesetz; auf der andern Seite ging die Auslegung in das Gnomisch-Didaktische über; das war mehr Nachahmung. An eine eigentliche Auslegungskunst war nicht zu denken. Daß sich beim Alten Testament alles um das Gesetz drehte, ist im Christlichen nicht dasselbe. Die Auslegung der Schrift entwickelte sich hier im Zusammenhang mit dem Bestreben, die christlichen Vorstellungen in 1 Ganzes zu bringen, d. h. mit der Feststellung des theologischen Lehrbegriffs. In dieser Beziehung sah man das Neue Testament welches eine Kollektion von Schriften ist immer überwiegend als ein Ganzes an. Die ganze Bemühung bekam auf eine überwiegende Weise die Richtung, die Elemente des Neuen Testaments welche den Elementen des Lehrbegriffs zum Grunde gelegt werden könnten, richtig auszulegen. Das hat Analogie mit der juridischen Hermeneutik; denn die Lehre leidet dieselbe ÐBeschränkungÑ und Ausdehnung, wie das Gesetz; man wollte also den Umfang der Begriffe in Beziehung auf den Lehrbegriff bestimmen. Da aber die Formen so verschieden sind, die Lehre oft einzeln im historischen Zusammenhang, oft in Reden, oft in Gleichnissen etc. erscheint, so wurde die theologische Hermeneutik zusammengesetzter, als die juridische. Auch hier kann, solange keine allgemeine Hermeneutik zum Grund liegt, nur ein Aggregat von Regeln stattfinden. Es ist offenbar, daß wenn man auf diesem Wege allein fortgeht, das Gefühl der Unsicherheit auch bei der vollkommensten Anwendung solcher Regeln nicht kann überwunden werden; das klebt dieser Methode an; das zu Erklärende ist ein Konkretes, in welchem eine Menge Beziehungen vereinigt sind, die Regeln sind ein Abstraktes. Die Auflösung des Einen in das andre ist also immer unsicher, weil das Verhältniß des Abstrakten zum Concreten immer irrational ist. So lange die Auslegungskunst diese Gestalt hat, daß man eigentlich nicht weiß woher die Regeln sind, muß ihnen selbst eine Unsicherheit einwohnen. Ohne Zurückgehen auf eine allgemeine Hermeneutik sind die einzelnen Regeln nur Resultat der Erfahrung. – –
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W i e s t e h t e s n u n u m d i e a l l g e m e i n e H e r m e n e u t i k ? Es sind allerlei Ansätze gemacht worden, die sich schon von Aristoteles herschreiben; man sah die Hermeneutik an in Verbindung mit der Logik, und sah sie als Anhang derselben an; man kam aber später von dieser Art und Weise zurück. Wenn wir einen Schritt weiter kommen wollen, müssen wir die allgemeine Hermeneutik reproduziren welches die ÐBahnÑ würde zu einer Reproduktion der philologischen juridischen und theologischen Hermeneutik. – P l a n . Wir werden uns in unseren Vorträgen 1. ganz an das Allgemeine halten, ohne Rücksicht auf das Neue Testament (blos etwa beispielsweise) und 2. dann sehen wie sich die Anwendung der allgemeinen Regeln durch das Eigenthümliche des Neuen Testaments besonders modifizirt. Es ist jetzt weit nöthiger auf die Seite des Allgemeinen zu treten, und den 1ten Punkt vorzüglich zu bearbeiten; der letztere muß sich mehr bei der Exegese herausbilden. Es fragt sich woran wir denn unsre Untersuchung knüpfen wollen, da wir sie nicht an das einzelne Schwierige knüpfen können? Wir müssen die Aufgabe in ihrer ganzen Allgemeinheit fassen. Wir denken uns das Verstehen aller Reden überhaupt sei eine Operation, wozu es gewisser Erfahrungsregeln bedürfe, wenn sie zum Ziel gelangen soll. Reden und Verstehn steht sich also hier einander gegenüber (Reden und Schreiben ist uns hier dasselbe.) Das Reden ist in unmittelbarer Verbindung mit dem Denken; das Verstehn ist also nur vermittelst der Rede das Verstehn des Gedachten; nur durch das Verstehn und nach Maßgabe desselben, entsteht eine Gemeinschaft des Gedachten. Das Verstehn der Rede ist also das, worauf alle Gemeinschaft in Beziehung auf das Gedachte und das Denken beruht. Wir sehn also zunächst folgendes: So wie wir voraussetzen, daß das Verstehn der Rede eine Operation ist, die gewisser Verfahrungsregeln bedarf, so folgt auch, daß desto leichter verstanden werden wird, je besser gedacht worden ist. Das scheint nicht so klar an und für sich als es sich einschmeichelt, wenn man es hört; aber Reden ist allemal ein Zusammenhang; und nur das im Zusammenhang Gesprochene kann verstanden werden; also muß auch das Verstehn immer auf den Zusammenhang sehn; wenn schlecht gedacht ist, so ist dem Zusammenhang etwas Auflösendes beigemischt. Sind wir also an den Zusammenhang gewiesen, so befördert ein Zusammenhang der sich leicht wieder auflöst nicht so das Verstehn, wie ein guter Zusammenhang. Das Verstehn und die Kunst des Verstehens ist also in einem bestimmten Verhältniß mit der Kunst des Denkens, d. h. mit der dialektischen Kunst. Die vollkommenste Ausübung der Kunst des Denkens macht am meisten die Kunst des Aus-
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legens entbehrlich; je besser gedacht worden, desto weniger Schwierigkeiten. Ziehn wir aber in Betrachtung, daß wir das Schwierige nicht berücksichtigen, so müssen wir auf ein andres Verhältniß sehn. Fragen wir was das vollkommenste Verstehn sei, so ist es das, vermöge dessen der Verstehende das Denken des Redenden genau so aufgefaßt, wie es gewesen ist. Sehn wir das Denken selbst als eine Kunst an, so ist das vollständige Verstehn das, wodurch wir das Verhältniß einer in der Rede mitgetheilten Gedankenreihe zur Kunst des Denkens vollkommen auffassen, so daß das Vollkommene als solches und das Unvollkommene als solches aufgefaßt ist; Nun aber ist jede Rede immer zu gleicher Zeit etwas andres, als eine Reihe verbundener Gedanken; sie hat auch das Verstehen der Andern mit in sich aufgenommen, ist darauf eingerichtet. Wenn wir auf unsre eigne Denkoperation zurückgehn, so gestaltet sich das was wir uns verschlossen behalten, nicht so in uns wie das was wir mittheilen. Das hat 2 verschiedne Gründe, 1. wir sind uns bewußt für uns selbst brauchen wir manches nicht was zu Mittheilung an die Andern nothwendig ist. 2. wir sind uns bewußt, es läßt sich das nicht mit glücklichem Erfolg mittheilen was nicht eine gewisse Reife in uns erlangt hat. Das erstere kommt vor im Geschäftsleben, das andre im Lauf des Umgangs und Gesprächs. Es tritt also ein Mittelglied zwischen die Operation des Denkens und die Kunst des Verstehens; das ist das, was wir im allerweitesten Sinn die Kunst der Composition nennen, die Zubereitung der Gedanken zum Behuf der Mittheilung. Die Kunst der Auslegung geht zurück auf die Kunst des Denkens, in sofern als sie das Verhältniß eines jeden Gedachten zu dieser Kunst des Denkens auszumitteln hat, aber auf der andern Seite geht sie zurück auf die Kunst der Composition, indem sie die Rede als den Mittheilungs-Akt dessen der da spricht zu verstehn hat. Darin ist die Aufgabe des Verstehens erreicht, wenn wir jede Rede als Mittheilungsakt verstehn und das Verhältniß der Elemente der Rede zur Kunst des Denkens zu schätzen wissen; d. h. wenn wir ein richtigeres Bild davon haben wie kunstmäßig oder kunstlos der Sprechende oder Schreibende gedacht und wie kunstmäßig oder kunstlos er sich mitgetheilt hat. – Die Kunst der Composition ist was man im weitern Sinne des Wortes R h e t o r i k zu nennen pflegt. Zurichtung der Gedanken zum Behuf der Mittheilung; dieß also ist das rhetorische Verständniß. Die Kunst des Denkens wollen wir für einerlei mit der Dialektik erklären, und diese Seite des Verständnisses das dialektische Verständniß. Die Hermeneutik hat also 2 verschiedene Seiten, die eine ihre Beziehung auf die Rhetorik; eine Rede zu verstehn in Rücksicht dessen was der Verfasser der Mittheilung wegen
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gethan hat, auf das was ihm geworden ist zwischen dem ursprünglichen Denken und dem Akt der Rede; die andre Seite ist die dialektische; die Rede in Beziehung auf den Werth der Gedanken zu verstehn. – Wir haben die Rede bisher nur als Mittheilung an andre betrachtet; aber können wir denken, ohne Reden? Denken ohne Worte ist Unsinn; es ist etwas gebildet, wenn es sich an ein Bild hängt, empfunden wenn es sich an ein Aeußres hängt; aber gedacht ist es nicht, wenn es nicht gesprochen ist. (Auch beim Taubstummen wenn er denkt, müssen wir ein ähnliches System von Bezeichnung, wie die Sprache voraussetzen – Zeichensprache &c.) Sprache ist also nicht nur Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des Denkens, sondern für jeden einzelnen selbst. Jeder Gedanke wird nur durch eine innere Rede fertig. Je klarer und vollständiger sich diese innere Rede ausbildet desto fertiger ist auch der Gedanke. Die Rede ist auf diese Weise genommen nichts andres, als der gewordene Gedanke selbst. Aber wir können nicht läugnen, daß ein Unterschied ist zwischen dieser und der mitgetheilten Rede; das Aussprechen ÐhörenÑ wird ins Subtile gehn. Gehn wir davon aus, daß das Denken nur vollständig und fest wird durch das Reden, und fragen: braucht einer für seine eignen Gedanken auch die Auslegungskunst, so werden wir dieß nicht ganz verläugnen können. Bekommen wir z. B. etwas, das wir aufs Papier geworfen, nach 10–20 Jahren wieder vor uns, so müssen wir denselben Prozeß an ihm vornehmen, wie an einer andern Schrift. ÐRückenÑ wir uns aber die Punkte zusammen dann läßt sich nicht gut denken, wie ÐdaÑ einer erst auslegen soll, was er gedacht hat; aber wir haben gesehn, daß wir uns in dieser Hinsicht auch bei andern täuschen, so müssen wir sagen: für uns selbst machen wir uns die Rede nicht rhetorisch zurecht; – aber ist nicht jede Prüfung unsrer Gedanken ganz dasselbe wie daß wir sehn wollen, welchen dialektischen Werth unsre Gedanken haben. Die Prüfung ist eine andre Operation als die Produktion der Gedanken, und nichts andres, als das sich selbst verstehn wollen. Wir haben also eine Bestätigung unsrer Ansicht über das Geschäft des Verstehens überhaupt. Hiernach werden wir uns eine kürzere Formel entwerfen können. Ein jeder Akt des Verstehens ist nichts andres als die Umkehrung eines Akts des Redens; nämlich was in dem Einen das erste ist, ist im andern das letzte & vice versa, abgesehn davon aber müssen sie identisch sein. Für den Akt des Denkens ist das Fertiggewordensein der Rede das letzte. Das Verstehn fangen wir aber bei diesem letzten an.
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Wir gehn hiebei von der Voraussetzung eines Verhältnisses zwischen 2 Menschen aus, wo sich der Gedankenprozeß des einen im andern abspiegeln kann. Dieses Verhältniß ist aber nicht zwischen allen Menschen dasselbe. Die ÐnächsteÑ Abgrenzung, die wir da machen müssen, ist die S p r a c h e . Die Bedingung unter welcher allein ein solcher Prozeß stattfinden kann ist der der Identität der Sprache. Betrachten wir jede Sprache die einer Masse von Menschen gemeinsam ist als ein Ganzes und fragen wie verhält sich dieses Ganzes zur einzelnen Rede? Wir haben gesehn, der Prozeß des Verstehens ist das Umgekehrte vom Prozeß des Redens dessen, den wir verstehn sollen. Betrachten wir das Verhältniß der Rede zur Sprache, so bekommen wir darin eine andre Seite; wie auch jede Rede eine Beziehung hat auf das gesammte Denken ihres Urhebers und ich sie nicht verstehe bis ich von dieser aus auf das letztre gekommen bin, so steht jede einzelne Rede im Verhältniß zur Gesammtheit der Sprache. Gehn wir davon aus, daß jede einzelne Rede auf der gegebenen Sprache ruht, und nur entstehen konnte, in wiefern wir uns den Redenden im Besitz der Sprache denken, so haben wir die Rede nur in sofern verstanden, als wir die Beziehung ihrer einzelnen Elemente und deren Zusammensetzung auf die Gesammtheit der Sprache verstanden haben; jeder Theil der Rede hat seine Bedeutung in der Gesammtheit der Sprache und kann für sich allein nicht verstanden werden. Ich kann also das Denken des Andern nur verstehn, wenn ich mir des Unterschieds jedes Worts von allen ihm in der Sprache verwandten bewußt werde; dieß scheint ein unendlicher Prozeß zu sein; aber wir müssen nur bedenken, daß wir in diesem Prozeß beständig versiren, und in dem Verstehn des Einzelnen bildet sich ein Totalbewußtsein der Sprache in welchem vieles schon antizipirt ist. Insofern hängt das Verstehen einer Rede ab von der möglichst genauen und möglichst lebendig gegenwärtigen Kenntniß der Sprache woraus die Rede genommen ist. Es scheint dieß ein Kreis: um eine gegebne Rede zu verstehen muß ich die Sprache haben, und das Haben der Sprache setzt aber das Verstehn der gegebenen Rede voraus: gibt es nicht eine Art sich in den Besitz der Sprache zu setzen, als durch das Verstehn einzelner Reden? Schwerlich wird einem etwas andres einfallen, als ich will das Verstehen der Sprache damit anfangen, daß ich mich in Besitz des ganzen Wörterbuchs setze: aber wenn man dieß auch nicht scheuen wollte, als etwas Machbares, so müßten wir wieder fragen: wie kommt man dazu ein Wörterbuch zu verstehn; es ist immer das, daß das Verhältniß der Wörter zueinander in wenn auch unvollständigen Sätzen und Kombinationen vorgetragen wird. Es müßte also etwas erfunden werden, wodurch ein Schematismus der Sprache gegeben würde, wobei aber die Sprache nicht
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zu Hülfe genommen würde. Daran hat man schon lange vergeblich gearbeitet; und ist unmöglich. – Ein solcher Kreis ist etwas Unauflösliches, das aber die Grenzen angiebt, innerhalb welcher allein die Aufgabe gelöst werden kann. Wir müssen uns den Besitz der Sprache und die Kunst einzelne Reden zu verstehn als 2erlei denken; aber als g egen s e i t i g d urch e i n a n d e r b e d i n g t , d. h. das eine ist unvollkommen so lange das andre unvollkommen ist. Jedes anfängliche Verstehn ist ein unvollkommenes und muß als Verstehen einer einzelnen Rede zum Theil auf dem ruhen was in der Sprache Verschiednes ist; und jedes Unvollkommene des Verständnisses der Sprache muß ÐaberÑ ruhen auf dem was im Verständniß der Sprache etwas andres ist als im Verständniß der einzelnen Rede. Denke ich mir das Verständniß der Sprache Null, dann müßte auch das Verständniß der einzelnen Rede Null sein; das Verstehn der einzelnen Rede ist aber ein bestimmter Denkact und kann aus der Kenntniß der ganzen Person verstanden werden; in je höherm Grade dieß gegeben ist, um so weniger braucht hinzuzukommen, um die Rede zu verstehn. Umgekehrt: die Kenntniß der Sprache ist um so unvollkommener je weniger man einzelne Reden verstanden hat. Aber es gibt ein Verstehn der Sprache unabhängig hievon und einseitig, was nur das Skelet gibt. Die Sprache ruht in ihrer Eigenthümlichkeit auf der Identität des menschlichen Denkens; deshalb gibt es eine Vergleichung ihrer Elemente mit den Elementen einer andern; aber dieß ist immer unvollkommen. Wir können also unerachtet des scheinbaren Kreises, nur die beiden Seiten unserer Aufgabe deutlich machen. Die Aufgabe ist 1. die Rede zu verstehen in Beziehung auf die Totalität der Sprache 2o. die Rede zu verstehn als ein ÐMomentÑ und im Leben sich darstellend desjenigen von dem sie gegeben wird; da beruht sie auf der Kenntniß des Mannes selbst. In wie fern sind denn das 2 verschiedene Aufgaben? wie verhalten sich diese beiden Seiten unsrer Aufgabe zu den beiden, die wir uns oben dargestellt haben? (die dialectische und die rhetorische) Eben deswegen weil jede von den beiden Seiten der Aufgabe in diesem Kreis begriffen war, ist es wohl nicht möglich daß wir dieß als 2 voneinander trennbare Aufgaben betrachten können; das Verstehn besteht nun im Ineinandersein dieser beiden Momente. In der Theorie können wir es trennen, aber in der Praxis ist es immer verbunden. In jeder Rede eines Menschen ist ein innerer Grund von ursprünglichen Gedanken des Redenden; aber diese sind anders geordnet zum Behuf der Mittheilung, als sie in ihm stehn, das ist das Rhetorische. Ist dieser Unterschied in der Handlung des Denkenden, und sind es also 2 verschiedne Momente in ihm? ja, es kommt ein neues Element in seine
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Handlung. Die beiden Richtungen der dialektischen und rhetorischen Produktion finden sich also wieder in dem Streben, die Rede des Handelnden zu verstehn, oder in der p s y c h o l o g i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n . Was das Verstehn in Beziehung auf die Totalität der Sprache betrifft, müssen wir fragen, gibt es in der Sprache etwas, einmal was besonders den Gedanken bezeichnet, und zum andern was zum Behuf der Mittheilung kann benutzt werden? Dieß werden wir zugeben vorzüglich wenn wir auf die Zusammenstellung der Elemente sehn. Wir nehmen in der Sprache gleichgeltende Elemente an, gleichbedeutende Wörter, und Formen, welche Gleiches ausrichten. Das gleichbedeutende bezieht sich nur auf das, was wir den dialectischen Gehalt der Rede genannt haben. Der bestimmte Grund aber, das eine oder das andre zu wählen, wird im rhetorischen Zweck liegen. Wenn wir also eine Rede in ihrem Verhältniß zur Sprache der sie angehört, richtig unterscheiden wollen, werden wir unterscheiden müssen, was der Inhalt der Rede selbst ist, und was nur Mittel ist, die Rede zu erleichtern. Es durchkreuzen sich also diese Eintheilungen, und wenn wir das zuletzt gefundene als Haupteintheilung annehmen, so werden wir in jedem Theil wieder die beiden Elemente, das dialectische und rhetorische finden. Wir wollen also zu dieser zuletzt gefundenen Eintheilung zurückkehren, und eine andre Untersuchung über das Verhältniß dieser Zweige anknüpfen, ob sie einander gleich stehn oder ob der eine höher oder geringer ist? Es ist eine gewöhnliche Meinung ungefähr nach der Analogie wie man von höherer und niederer Kritik redet, daß man die grammatische Interpretation als niedere, und die psychologische als höhere Interpretation ansehe. Dieß ist einseitig und falsch. Es kommt immer darauf an, welchen Gesichtspunkt man im Auge hat. Der gewöhnliche Gesichtspunkt über das Verhältniß des Menschen zur Sprache ist der, die Sprache ist ein Mittel, sich gegenseitig zu verstehen und ihre Gedanken sich gegenseitig anzueignen; dann ist auch die ganze Richtung, die Sprache zu verstehn, untergeordnet, so wie das Mittel dem Zweck untergeordnet ist, und das grammatische Verstehen der Rede ist nur das was vorangehn muß; aber dieß ist eben nur eine einseitige Ansicht, und man kann auch umgekehrt sagen: es ist uns kein einzelner Mensch wirklich gegeben anders als so, daß uns die Sprache, in welcher sich sein Denken entwickelt, schon vorher gegeben ist. Vergleichen wir die verschiedenen Sprachen, so haben sie im Ganzen genommen denselben Zug; aber er ist in jeder modifizirt; jede Sprache enthält eine in gewisser Hinsicht eigenthümliche Weltansicht, und so erscheint uns die Sprache nicht als ein Mittel für den einzelnen Menschen; sondern der Mensch erscheint uns als einer durch die Sprache so und so gebildeter,
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und nur als ein Ort, an welchem sich die Sprache so modifizirt. Der einzelne Mensch ist an die Sprache gebunden, was er produzirt, produzirt er im Gebiet der Sprache; ich verstehe die Sprache nur vollkommen wenn ich die Handlungen aller der Menschen, in welchen die Sprache lebendig geworden ist, verstehe. Das Bestreben, einzelne Reden und Schriften als Thatsache zu verstehn, ist hier dem untergeordnet, die ganze Sprache zu verstehn, und von diesem Gesichtspunkt aus wäre die psychologische Interpretation der grammatischen untergeordnet. – Beide Ansichten müssen wir aber verbinden, wenn uns das ganze Geschäft in seinem Umfang soll klar werden. Einmal ist der einzelne Mensch Organ der Sprache, ein andermal ist sie sein Organ. Im Zusammenfassen ist ÐdabeiÑ eine Gleichsetzung beider Seiten des Verfahrens. So wie in der Vollendung eine die andre in sich schließen muß, so in der Annäherung an die Vollendung. Wo die Grammatische unvollständig ist, werde ich die Psychologische zuziehen & vice versa, aber in der Theorie müssen wir beides trennen. Welches wird nun die Vollkommenheit der Theorie sein, auf die wir es anlegen müssen? Wenn wir denn doch in der That isoliren müssen, so können wir uns kein andres Ziel setzen, als dieß: jede Seite der Interpretation muß für sich so behandelt werden, daß durch die Ausübung der Regeln, welche sich auf die eine Seite beziehen, die andre Seite ergänzt werden kann. Das folgt daraus, daß nur im Ineinandersein beider Richtungen das vollkommene Verstehen ist. Es gibt kein vollkommenes grammatisches Verstehn, als das welches das psychologische in sich schließt, & vice versa. Diese Ergänzung ist aber in seine Grenzen eingeschlossen; man könnte sich leicht zu der Meinung verleiten lassen, als ob man wirklich eine Rede verstehn könne, wenn man das eine hätte, weil das andre drin mitbegriffen ist. Wenn es uns gelingt, die psychologische Interpretation 1seitig zur absoluten Vollkommenheit zu bringen, so haben wir die Elemente zu einer Kenntniß des Verfassers so beisammen daß wir uns in einem Moment ein Bild von ihm machen können; und allerdings wenn wir von einer möglichst vollkommenen Kenntniß des Verfassers selbst ausgehn, so führt uns dieß in alle Beziehungen, in denen wir uns die ganze Sprache vergegenwärtigen müssen, und auch dann werden wir ebenso aber nur in einem Aggregat von Elementen die Kenntniß der Sprache haben von welcher aus wir die grammatische Interpretation auch nur in Einem Nu vollenden können, aber nur indem wir uns einen Zusammenhang der Sprache konstruiren; wir werden aber nie im Stande sein, diesen Übergang von einer Interpretation zur andern zu machen, wenn wir uns nicht in beiden geübt haben. Es ist also keineswegs so, daß irgendeiner könnte zu einem vollständigen Verständniß kommen, der nur von einer
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Seite ausgeht. Die ganze Gestalt, welche das Geschäft des Auslegens gegenwärtig trägt, zeigt dieß deutlich. Wir können 2 verschiedne Gebiete unterscheiden, wo das eine mehr von einem, das andre mehr vom andern Punkt aus gebildet ist, was in einem hervorgehoben, ist im andern vernachlässigt. Die Interpretation wird bei uns auf der einen Seite überwiegend in Beziehung auf Gelehrsamkeit getrieben, indem man den Schriftsteller behandelt, um zu gewissen Kenntnissen zu gelangen, das ist überwiegend der Charakter der philologischen Interpretation. Das Resultat derselben ist eine große Menge von historischen Kenntnissen über den Zustand der Zeiten, in welche die studirten Werke gehören und ein Vorrath von Observationen über die Sprache. Aber die lebendige Anschauung der Schriftsteller als Personen, deren Thaten nun die Schriften sind, tritt hier mehr zurück. Nun haben wir ein andres Gebiet, wo die Interpretation auch geübt wird, aber mehr in Beziehung auf den Genuß. Viele gebildete Menschen genießen dieselben Schriftsteller, aber ohne mit der Gelehrsamkeit ausgerüstet zu sein, die das Resultat jener Bemühungen ist, und ohne darauf zu steuern, den Schatz der Gelehrsamkeit zu vermehren, sie wollen blos geniessen. Die welche sich auf dieser Seite auszeichnen, sind solche von welchen Gelehrte und Philologen mit einer gewissen Geringschätzung sprechen, aber eben diese sind die, in welchen die Menschen, deren Werke sie sich angeeignet haben, auf eine lebendigere Weise leben, als in jenen. Ein vollkommenes Verstehn ist aber weder im einen noch im andern, sondern nur in dem Maaß, als beide ineinander gearbeitet sind. In der theologischen Interpretation scheint es noch ein 3tes zu geben. Es gibt da auch solche, die die neutestamentliche Exegese mehr in theologischer Beziehung behandeln, und wieder solche, welche die einzelnen Bücher suchen als die Handlungen der Schriftsteller zu verstehn; aber diese beiden sind die Minderzahl; die Mehrzahl sind die, welche das Verständniß der Schriftsteller behandeln zum Behuf des Verständnisses der christlichen Lehre. Wie verhält sich dieser Punkt zu den beiden ersten? Man zerlegt sich die Lehre auch in ihre einzelnen Elemente, und behandelt die Stellen in Beziehung auf die einzelne Lehre, wo sie aus ihrem sprachlichen und psychologischen Zusammenhang herausgerissen werden. Die Lehre ist die den neutestamentlichen Schriftstellern Gemeinschaftliche, und in Beziehung auf die grammatische Seite ist sie ein sich neu gestaltendes Sprachgebiet, welches eine gewisse Region der Sprache in Anspruch nimmt, und kann nur verstanden werden im Zusammenhang mit der Sprache. Dadurch müßte die neutestamentliche Exegese vor andern gewinnen, weil etwas darin gesetzt wäre, wo sich beide Elemente in jedem Augenblick vereinen. Sowie man es aber auf die verkehrte Weise
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auffaßt, so wird die neutestamentliche Exegese mehr hinderlich als förderlich sein. – Aus diesem Verhältniß der beiden Seiten der Interpretation werden wir erst recht sehn in welchem Sinn es wahr ist, daß das Geschäft, wozu wir hier die Regeln suchen, eine Kunst ist. Auf der einen Seite ist allem was Kunst heißt, ein Bewußtloses, Kunstloses entgegengesetzt; aber das Wort selbst brauchen wir in einem gar vielfältigen Sinn. Wie sich die Regeln zur Ausübung verhalten, darin liegt ein großer Unterschied. Mit allem was wir eine mechanische Kunst nennen hat es die Bewandtniß daß wenn die Regel gegeben ist, die Art, wie sie angewandt werden muß, schon immer mitgegeben ist. Aber es gibt auch eine Kunst, wo wenn schon die Regel gegeben ist, es mit der Anwendung noch eigne Schwierigkeiten gibt, das ist die schöne Kunst, oder wenn wir unsre auch hineinziehn sollen, die h ö h e r e K u n s t (man vergleiche die Aufgabe einen Cubus oder eine Kugel zu bilden, – oder einen menschlichen Kopf). Von welcher Art ist die Auslegung, als Kunst betrachtet? Wenn auch die Regel gegeben und durch Übung eine Fertigkeit in der Anwendung entstanden ist, so kommt es doch auf 2erlei an, was durch die Regel nicht gegeben werden kann; das S p r a c h t a l e n t , das der grammatischen Interpretation zum Grunde liegt, und die M e n s c h e n k e n n t n i ß welche der psychologischen Interpretation zum Grunde liegt. Die Regeln müssen immer diese beiden Talente voraussetzen. Es gibt etwas was man im gemeinen Leben Menschenkenntniß nennt, die Fertigkeit kleinlicher Beobachtung der Menschen, und aus gewissen Handlungen eines Menschen zu schließen, was er hier und da thun wird, aber unsre Menschenkenntniß ist die individuelle Anschauung, wie die Functionen des Menschen im Einzelnen sind; die Kunst in einem die individuelle Einheit aufzufassen, uns in ihn zu versetzen, wodurch wir allein seine Produktivität verstehn können. Aus der innern Einheit seines Wesens heraus den Menschen zu verstehn, das muß hier zum Grund liegen. Was wir hier Sprachtalent genannt haben, ist auch nicht die Leichtigkeit Sprachen zu lernen, sich Regeln zu abstrahiren &c.; sondern die Leichtigkeit eine Sprache in ihrem ganzen Umfang und Charakter, sich zu vergegenwärtigen, so daß sich in jedem gegebenen Einzelnen die Totalität der Sprache sich uns darstellt. Beide Talente gehören zu einem vollkommenen Exegeten. Das Psychologische [Talent] hat keine Regeln, sondern geht aus dem Leben selbst und der Beobachtung hervor; beim Sprachtalent muss aber eine gewisse Sprachkenntniß vorausgesetzt werden, wenn die Auslegung gelingen soll. Wir haben uns das Geschäft selbst als ein ganz allgemeines gedacht. An und für sich ist die Kunst des Auslegens auf alles anwendbar, was überhaupt gesprochen wird; aber
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nicht in demselben Grad; es gibt etwas, wobei wir die Kunst gänzlich vernachlässigen, das ist 1. das, wobei man glaubt, daß das Verstehn von selbst komme, 2. das was für die Auslegungskunst selbst den geringsten Werth hat; denn sowie es für die Auslegungskunst Werth hat, entsteht die Besorgniß, ob das Verfahren das richtige sei, und deshalb entstehen die Regeln. Wir können uns 2 Grenzpunkte setzen. Wenn wir sagen, es gibt etwas, was für das Geschäft des Verstehens einen Nullwerth hat, so muß es auf der andern Seite etwas geben, was einen absoluten Werth hat. Das meiste von dem was gesprochen wird, liegt zwischen diesen beiden Punkten. Dieß können wir nur aus den beiden Hauptgesichtspunkten der Interpretation fassen. Es hat etwas Nullwerth was keine Beziehung auf die Sprache hat, und Nullwerth hat, was keine Beziehung auf die That des Geistes hat. Eine Rede, die etwas sagt, was schon so gesagt ist, hat für die grammatische Interpretation kein Interesse; ebenso was kein Interesse als That hat, was keinen psychologischen Zusammenhang hat, sondern nur im Gebiet einzelner Gedanken liegt, hat Nullwerth für die psychologische Interpretation, z. B. ein Aufsatz in welchem die Phraseologie die Hauptsache ist, würde kein Interesse haben für die grammatische Interpretation, und ein Gespräch vom Wetter und dgl. hat kein Interesse als That, und also kein Interesse für die psychologische Interpretation. Aber der Nullwerth ist nur das Minimum, woraus sich das andre entwickelt (das Gespräch über das Wetter z. B. wird eine andre geistigere Wendung bekommen, wenn ein geistreicher Mensch dabei ist.) Was ist also wohl auf jeder von diesen beiden Seiten das Maximum? Das läßt sich aus dem Vorigen leicht entwickeln. Dasjenige was in der Sprache noch nicht dagewesen ist; aber nicht in wiefern es etwas Vorübergehendes ist und nicht blos eine Grille, das ist das Maximum des grammatischen Werths für die Interpretation; weil wir da die Entwicklung der Sprache mitbeobachten. Das ist was wir in dieser Beziehung unter dem Ausdruck klassisch verstehn. Wer in der Entwicklung der Sprache etwas hervorgebracht hat, das nachher bleibend geworden ist, ist klassisch in Beziehung auf die Sprache. Wir nennen das klassische Zeitalter in einer Sprache das, wo die Entwicklung zu einer gewissen Fülle der Schönheit und Beweglichkeit der Sprache entstanden ist und sich festgesetzt hat; klassische Schriftsteller sind hier die, in welchen sich diese Entwicklung am meisten ausgesprochen hat. Was ist das Maximum für die Aufgabe der psychologischen Interpretation. Der Nullpunkt ist da, wo man die Gedanken nicht als Eigenthümlichkeit des Redenden ansehen kann, sondern wo sie aus dem Gemeingut 29–30 verstehn] bstehn
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genommen sind, und wo ein andrer dasselbe auch hätte sagen können. Steigen wir von da hinauf, so wächst das Interesse für die psychologische Interpretation in dem Maße, als eine Gedankenreihe ausschließend nur aus der Eigenthümlichkeit dessen begriffen werden kann, der sie vorträgt, und das ist das Originelle. Das ist das Maximum für die psychologische Interpretation wie das Klassische für die Grammatische. Aber diese Vollkommenheiten sind wieder relativ; eine klassische Schrift ohne Originalität ist dürftig, eine originelle Schrift ohne Charakter des Klassischen ist auch mangelhaft. Das Absolute ist in der Identität von beidem. Die Verbindung des Klassischen und Originellen ist das Geniale. Auf dieß maximum werden wir also die beiden Richtungen der Auslegungskunst gleichstark ausrichten und das minimum auf jeder Seite wird sein, wo die völlige Gleichgültigkeit oder das Maximum der Unthätigkeit des Geistes beim Verstehn gesetzt ist. Das Zusammenwirken der beiden Elemente ist in verschiednem Verhältniß. Einige Schriften ziehen uns mehr zur psychologischen Interpretation andre mehr zur grammatischen. Es entsteht uns also hier im Allgemeinen die Aufgabe das Verhältniß zu finden, in welchem in Beziehung auf eine gegebne Rede, die beiden Richtungen der Interpretation gegeneinander stehn? Thut man dieß nicht gleich so thut man in der Folge falsche Schritte. Fragen wir, was können wir hiezu für Regeln geben, so ist dieß eine solche Regel, welche noch ganz an der Grenze der eigentlichen Kunst liegt. Das Verfahren schließt sich an die Grundvoraussetzung an, daß das Sprachtalent und das Talent für die Auffassung der geistigen Thätigkeiten gegeben sein muß; es kommt lediglich darauf an wie von einer gegebenen Rede diese Funktionen afficirt werden; es kommt also an auf die Gesundheit dieser Funktionen selbst. Es wird z. B. einer der Freude hat an falschen und bizarren Richtungen der Sprache; dieser wird bei einem originellen Schriftsteller, bei welchem das Klassische zurücktritt, dennoch sein Augenmerk auf das Grammatische richten und so das Bessere versäumen; das ist aber eine krankhafte Richtung. Wir können uns die Gattungen klassifiziren, wo überwiegend das 1 und überwiegend das andre eintrifft. Wenn eine Rede von rein objektiver Natur ist, so ist sie weniger von der Eigenthümlichkeit der Gedankenproduktion des Redenden abhängig, und dann wird die psychologische Interpretation ein weniger wichtiges Moment. (z. B. bei der blos erzählenden und beschreibenden Gattung der Rede) Der Standpunkt aber, von welchem aus erzählt wird, ist That des Geistes, und hier ist das Psychologische vorherrschend; bei einzelnen Bemerkungen tritt die psychologische Interpretation ein, bei der Masse tritt sie zurück. Alle Geschäftsverhandlung und dgl. ist von derselben Art. Das
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didaktische Gebiet schließt sich gewissermaßen an das erzählende und beschreibende an, aber in einem andern Ton, so wenn dort die einzelnen Dinge das Vorherrschende sind, so sind es hier die allgemeinen Begriffe und Ideen; diese sind nicht so äußerlich gegeben, wie die Dinge sondern werden jedem nur vermöge des Gesichtspunkts auf dem er steht. Eine gewisse Objektivität die alles Didaktische hat, ist immer da, und da muß die grammatische Interpretation auch als vorherrschend betrachtet werden; aber sowie im didaktischen Gebiet nicht so leicht einzelne Bemerkungen vorfallen können, wie im vorigen Gebiet, so muß sich doch der Standpunkt, auf dem der Redende steht, sich durch die ganze Verhandlung durchziehn, und die psychologische Interpretation muß die grammatische begleiten, und hier haben wir eine Annäherung an die absolute Behandlung. Indem sich bei einer originellen Produktion neue Begriffe erzeugen, so muß dieß bestimmend für die Sprache werden und hiemit auch ein maximum für die grammatische Interpretation. Betrachten wir dagegen die Produktion die in einem freien Gedankenspiel versirt, und am wenigsten objektive Haltung hat, so ist das das Gebiet, wo die psychologische Interpretation vorherrscht; aber je bedeutender die Sache, um so mehr schließt sich das Grammatische an. Z.B. Briefe, die nicht Geschäftsbriefe sind, sondern freie Herzensergießungen sind Ausdruck und Produkt von der Eigenthümlichkeit des Menschen; je mehr der Faden, an welchen diese Ausdrücke gehen, unbedeutend ist, wird nur das Originelle der Zusammenstellung interessiren, aber das Grammatische dabei ist zu unbedeutend, um es hervorzurufen. Denken wir dieß gesteigert zur Poesie und für die allgemeine Mittheilung bestimmt, da wird auch eine andre Bedeutung in Beziehung auf die Sprache eintreten. Wenn schon das Ganze einen lyrischen Charakter hat, wird doch die Bedeutsamkeit für die Sprache wachsen, es wird Anspruch haben, beurtheilt zu werden, ob es klassisch ist oder nicht. Hier gibt es also auch ein maximum wo psychologisches und grammatisches Interesse gleich stehn. Es gibt also Gattungen, die vorherrschend auf einer Seite stehn, diese sind untergeordnet, und andre, wo die Identität beider Interpretationen nöthig ist, und diese sind die bedeutenderen. Wenn wir das Gesagte auf das Neue Testament anwenden, und fragen, was ist da die vorherrschende Art der Interpretation so liegt die Antwort in der aufgestellten Klassifikation; indem die neutestamentischen theils Schriften sind historischer Art, aber kunstlos, theils didaktischer Art, aber in der subjektivsten Form, der brieflichen. Es kommen uns aber noch 11 durchziehn] durchzieht
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andre Fragen entgegen, die sich bei der Behandlung des Gegenstands entwickelt haben. Es wird gestritten über den Werth und Unwerth einer grammatisch-historischen; einer dogmatischen; ja auch einer allegorischen und sogar wenn wir die Sache in ihrem ganzen Umfang betrachten, einer kabbalistischen Interpretation? Woher kommen diese Arten der Interpretation? wenn in der grammatisch-historischen Interpretation das Grammatische und Psychologische verbunden ist, wie kann da noch gefragt werden ob das das Rechte sei oder nicht. Aber die zum Theil wunderlichen Klassen sind Folgen von dem kunstlosen und fragmentarischen Verfahren, das man auf keine Theorie zurückbringen kann. Ziehen wir den Streit in Betracht über die grammatisch-historische Interpretation so kommt es vorzüglich darauf an, ob man die Ausdrücke und Sätze der neutestamentlichen Schriftsteller aus ihrem natürlichen Zusammenhang mit der Denkungsart der damaligen Zeit interpretiren soll oder nicht; da kommt der verfängliche Ausdruck von Zeitbegriffen u.s.w. zum Vorschein. Das ist doch etwas an und für sich klares, daß die Sprache eines Einzelnen nicht isolirt ist, und wie kann da gezweifelt werden, daß man die neutestamentlichen Schriftsteller in ihrem geschichtlichen Zusammenhang erklären soll? Diese Sache liegt zum Theil an einem andern Ort, und genauer betrachtet, handelt sichs davon, ob das Christenthum, wie es in den neutestamentlichen Büchern dargestellt, ganz und gar als ein Produkt der Zeit angesehen werden soll oder als produzirend in der Zeit? Die grammatisch-historische Interpretation sagt gar: wir habens hier mit einzelnen Schriftstellern zu thun, mit Leuten aus dem Volk, sie hatten die Begriffe, in denen sie von Jugend auf erzogen wurden &c. Dieß scheint Opposition dagegen, daß das Christenthum eine göttliche Anstalt sei, die nicht beschränkt werden kann auf die beschränkten Ansichten eines beschränkten Volkes. – Der scharfe Gegensatz spricht sich so aus. Die Einen sagen, wir haben es hier zu thun mit Petrus von Bethsaı¨da, dem Johannes u.s.w., die Andern sagen: nein! wir haben es mit keinem zu thun, sondern mit dem heiligen Geist. – Sowie 1mal diese Elemente so auseinander getreten sind, ist ein Streit, der gar nicht geheilt werden kann; das eine ist eine beschränkte und dürftige Ansicht des Christenthums, das andre öffnet der Willkür Thor und Thür. Wir wollen das letzte gelten lassen; d. h. wir wollen die neutestamentlichen Schriftsteller nur zu verstehn suchen aus dem eigenthümlichen Geist des Christenthums heraus; da müssen wir aber fragen, wo ist uns dieser Geist gegeben? kommt er wo anders her als aus dem Neuen Testament? aus späteren Produktionen? die können doch 29 Nach Johannes 1, 44 ist Bethsaida die Stadt des Petrus.
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nicht dienen, um das Neue Testament zu erklären; sondern müssen als unvollkommnere aus dem vollkommnern erklärt werden. Wir wollen uns nun ebenso gutwillig auf die andre Seite stellen, und sagen, wir begreifen wohl, daß die Apostel die Zeitbegriffe in sich aufgenommen haben, und ihre Sprache sich in der ÐLebensspracheÑ des Volkes gebildet hat, und daß sie kein Medium zur Mittheilung ihrer religiösen Grundsätze hatten, als diese Sprache; aber wenn doch wahr ist, daß in der Zeit auch ein Fortschreiten ist, wie soll man überall dasjenige was die Fortschreitung bezeichnet aus dem erklären, was die Fortschreitung nicht in sich schließt? Wenn man jene Maxime in ihrer Allgemeinheit aufstellt, muß man überhaupt läugnen, daß irgendetwas Neues im menschlichen Geist aufgeht und sich in Schriften darstellt; und wo wird einer läugnen, daß das Christenthum grade etwas Neues gewesen sei, daß sich neue Gedanken und Empfindungen in der Christenheit gebildet haben; wir müssen also ein andres Prinzip zu Hülfe nehmen; diese Nothwendigkeit gilt nicht nur fürs Neue Testament sondern für alle Erscheinungen, welche als neue Entwicklungsstuffen angesehen werden müssen. Eine jede begriffbildende Kraft, die sich in irgend einer Beziehung entwickelt, kann aus dem Alten nicht begriffen werden. Da entsteht uns eine Aufgabe eigenthümliche Subsidien der Auslegung zu finden für einen solchen gegebenen Fall. Nirgends ist das Neue, und religiös Ursprüngliche auf dem Gebiet des Begriffs allein, und am wenigsten wo es nicht auf das eigentliche Wissen an und für sich ankommt; denn jede neue Epoche, je tiefer sie eingreift, um desto mehr verbreitet sie sich über die verschiednen Gebiete des menschlichen Seins überhaupt. Keine eigenthümliche Entwicklung ist blos einseitig politisch oder künstlerisch; das Christenthum ist ein geschichtliches Lebensganze geworden, wo es nicht nur auf Gedanken ankommt; sondern da sind Thatsachen auf der einen Seite, und Vorstellungen auf der andern; und da muß die eine der andern zur Ergänzung dienen. Wir müssen beim Christenthum die Parallele finden zwischen dem Eigenthümlichen und dem schon Gegebenen. Aber fragen wir: ist nun das das Einzige, und soll die Erklärung der Schriftsteller aus Zeit und Sprache aufhören? so müssen wir dieß verneinen. Die neutestamentlichen Schriften bildeten den Verkehr zwischen denen in welchen der christliche Geist sich ausgebildet hatte, und denen in welchen er schon war, aber in welchen er erst sollte ausgebildet werden; aber sie bildeten auch den Verkehr mit solchen, die noch gar nicht christlich waren (Reden Christi und Missionsreden der Apostel). Wie konnten sie sich denen, in welchen der christliche Geist nicht war, verständlich machen, als nur durch das Medium der gemeinsamen Vorstellung. Und so werden wir immer wieder 40 Vorstellung] 〈christlichen〉 Vorstellung
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zurückgeführt auf das Verständniß der herrschenden Sprache und Vorstellung. Derjenige für welchen überhaupt die Erklärung des Neuen Testaments einen Werth hat, der will eigentlich das Neue, eigenthümlich Christliche darin kennen lernen; und wer die Aeußerungen dieses Eigenthümlichen in ihrer Ursprünglichkeit verstehn will, der muß sie im Zusammenhang mit der unmittelbaren Absicht der Redenden verstehen, und da ist das Zurückgehn auf den Charakter der Zeit u.s.w. etwas Unerläßliches. Der Streit ist zwischen denen, welche das Eigenthümliche des Christenthums hervorheben wollen, und denen, in welchen dieß zurücktritt, und die im Eigenthümlichen die allgemeine Geltung heraussuchen und sich aneignen. Dieser Streit geht durch die ganze Theologie und auch durchs Praktische durch. Man muß sich also üben, daß man nicht das Eigenthümliche des Christenthums aus dem früher Gegebenen erklären will; aber man muß sich auch hüten, daß man nicht das, was Erklärungsmittel und Offenbarungsmittel ist, für das Eigenthümliche des Christenthums selbst nimmt. Auf der richtigen Anwendung jeder Methode beruht allein die richtige Interpretation des Neuen Testaments. Hieher gehört die Frage ob jede Vorstellung, die als neutestamentliche ausgemittelt werden kann, ebensolchen Werth hat für alle Zeiten des Christenthums, oder ob man sagen muß, es haben sich die christlichen Vorstellungen bei den neutestamentlichen Schriftstellern selbst verschieden gestaltet in Beziehung auf die Umstände? In jeder menschlichen Rede ist Allgemeines und Besonderes, nur in verschiednem Verhältniß, im aller Speziellsten ist das Allgemeinste, und im aller Allgemeinsten das Speziellste. Also gibt es kein wahres Verstehn, als indem man beides ineinander, aber in seinem relativen Gegensatz begreift. Es wäre ein gänzliches Herausnehmen des Neuen Testaments aus der Analogie mit menschlichen Büchern, wenn man sagen wollte, das Neue Testament sei absolute Norm des Christenthums, und alles müsse für alle Zeiten gleiche Geltung haben. Kein einziges neutestamentliches Buch ist ein ganzes Buch; sondern alle sind auf einen besonderen Moment berechnet, und so auch die didaktischen Elemente im Historischen. Man kann also unmöglich mit einem gesunden Sinn diesen Character vernachlässigen. Aber auf der andern Seite kann nichts so Spezielles im Neuen Testament sein, was in einer christlichen Gedankenreihe liegt, worin nicht der Typus der christlichen Ansicht müßte mitgegeben sein, aus dem es hervorgegangen ist. Durch das Gesagte ist keine eigenthümliche oder besondre Art der neutestamentlichen Exegese begründet, sondern nur ein andres Verhältniß der Elemente die bei allen andern Arten vorkommen. Wenn das klassisch ist, worin neue Begriffe entwickelt werden, so können wir dem Neuen Testament das Klassische
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nicht absprechen: aber jede Schrift ist begriffbildend und hat dieß Element in sich nur in verschiednem Grad; so bald sie nur interessant ist. In dieser Hinsicht sind also auch andre Schriften, z. B. solche, die neue philosophische Begriffe eingeführt haben, dem Neuen Testament parallel zu stellen. – Außer dieser Ansicht finden wir noch einen Streitpunkt, in der neuen Zeit zwar größtentheils beseitigt; aber wir stehn an einer Schwelle der Alten, so daß wir es nicht übergehn können, d.i. die a l l e g o r i s c h e I n t e r p r e t a t i o n . Das ist an und für sich betrachtet, ein wunderliches Ding. Wo Allegorie ist, muß sie ausgelegt werden, wo keine ist, da ist es falsch eine hineinzulegen. Die Sache ist aber die: es gibt in den heiligen Schriften manches, was an und für sich betrachtet von geringem Werth ist, und was in der heiligen Schrift keinen Platz zu verdienen scheint. Die Ehrfurcht vor der heiligen Schrift suchte einen Ausweg, und wollte etwas andres in den Stellen finden, als dem augenscheinlichen Zusammenhang nach darin lag; deshalb entstand die Ansicht was in der heiligen Schrift unbedeutend erscheint, hat ausser diesem buchstäblichen Sinn noch einen andern (das Unbedeutende ist etwas durchaus nur relatives), es müsse jede Stelle in der Schrift nicht verlassen werden, bis sie als ein unendliches erscheint, und daß man außer dem Zusammenhang, den der Buchstabe angibt, noch einen andern hineinlegt. (z. B. das Gleichniß vom guten Samen und vom Unkraut, das ist eine Allegorie an und für sich. Die Erzählung wird um einer bestimmten Anwendung willen erzählt. Die Anwendung ist selbst zugefügt. Der gute Same sind die Kinder des Reichs, das Unkraut sind die, welche nicht innerlich am Reich theilnehmen, sondern nur in den äußeren Raum gebracht sind. Nun kann einer sagen, und so thut es Origenes, man kann das auch anders auslegen, die Kinder des Reichs sind die Gedanken in jeder einzelnen Seele, die aus dem Göttlichen entspringen und vice versa. Da ist die Auslegung selbst wieder zu einem Bild gemacht, und auf diese Weise würde man dieß ad infinitum fortführen können.) Dieser Maxime hat man entgegengestellt: jede Stelle könne nur 1 Sinn haben; es sei unsinnig einen doppelten Sinn anzunehmen, einen buchstäblichen und einen mystischen. Gegen eine solche Erweiterung der Anwendung, wie das obige Beispiel, ist nichts einzuwenden; aber man muß nur nicht sagen, der welcher das Gleichniß erzählt selbst, habe sich diese Auslegung gedacht, und die Erzählung sei um eines andern Zwecks willen erzählt. Das andre aber, daß jede Stelle nur 1 Sinn habe ist eine dürftige Behauptung. Es gibt etwas, das uns allen bekannt ist unter dem Namen der Anspielung; ein andrer Sinn, der neben dem Hauptsinn 20–21 Siehe Matthäus 13, 4–9. 18–23. 24–30. 36–43.
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hergeht; wer also die Anspielung nicht versteht, dem ist etwas entgangen. Es kommt in tiefsinnigen Schriftstellern oft vor, daß indem eine Gedankenreihe auseinandergesetzt wird, Anspielungen vorkommen auf eine andre Gedankenreihe; da ist ein doppelter Sinn, der eine ist für alle, der andre für die, welche ihn verstehn. Es läßt sich dieß gut auf Prinzipien zurückbringen. Wir sind beständig nicht in einer einzigen Reihe von Vorstellungen begriffen, neben dieser gehn immer andre her, die aber bleicher sind, diese Gedankengespenster begleiten auf eine luftige Weise die Hauptbilder beständig, es sind Nachklänge von Vorstellungen, die wir abbrechen mußten, Nachklänge früherer Lebensmomente, die im Gegenwärtigen mitgegeben sind. Sagen wir nun, die Aufgabe eine Rede zu verstehn, ist den ganzen Gedankenzustand des Verfassers in dem er diese Rede konzipirte zu verstehen, so haben wir ihn nicht vollkommen verstanden, bis wir in die Nebenvorstellungen eingedrungen sind, die ihn begleitet haben. So erscheint es uns freilich als ein unendliches (es wäre auch eine schlechte Kunst, die nicht ein Unendliches hätte). In Beziehung auf diese Nebenvorstellungen befindet sich der Redende oder Schreibende in einer verschiedenen Verfassung; auf der andern Seite muß er die Nebenvorstellungen bekämpfen; aber wie es mit jedem Kampf geht, es sind immer Oszillationen von Sieg und Nachgeben. Der Schreibende ÐwebtÑ von den Nebenvorstellungen in die Hauptvorstellungen und daraus entsteht alles was in den Begriff der Anspielung und in die prägnante Schreibart hineingehört. Jemehr in der Darstellung das Bestreben sich ausdrückt, die Nebenvorstellungen zu entfernen, desto größer ist die logische Reinheit der Rede, je mehr ich von den Nebenvorstellungen in die Rede ÐwebeÑ desto größer ist der Reichthum. Es gibt verschiedne Gattungen der Darstellung. Wenn ich mich also nicht genau in der Kenntniß der Vorstellung befinde, in welcher der Verfasser war, so kann ich ihn nur unvollkommen verstehen. Wo aber eine Verbindung der Hauptvorstellungen und Nebenvorstellungen ist, da ist ein doppelter Sinn. Also ist die Maxime daß jede Rede nur 1 Sinn haben [solle] unwahr in dem Maß als sie gegen jene Maxime von der allegorischen Auslegung ÐnichtÑ streitet. Der 1 Sinn ist nur der volle; aber den kann ich nur erreichen wenn ich mir den Sinn theile, die Hauptvorstellungen von den Nebenvorstellungen sondre, also den Sinn theile. Gehn wir auf das obige Beispiel des Origenes zurück. Dem Origenes fiel dabei ein, daß die Söhne des Lichts und der Finsterniß auch die eignen Gedanken seien; läßt sich wahrscheinlich machen, daß Christus dieß mitgedacht habe, so hat Origenes eine richtige 36–37 Matthäus 13, 38 spricht von den Kindern des Reichs und des Bösen.
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Auslegung. Wir sehen also, daß durch die entgegengesetzten Ausdrücke ein Theil der allgemeinen Aufgabe der Auslegung bezeichnet ist. Aber das eine zu behaupten, jede Rede hat einen unendlichen Sinn, und das andre jede hat nur 1 Sinn ist falsch, wenn es einander entgegengesetzt wird, und ist nur richtig, wenn beides als 1 gesetzt wird. Um dieß gleich auf eine Spitze zu stellen, haben wir als Auswuchs von diesem Bestreben noch die kabbalistische Interpretation. Das ist die, welche, was in der Rede an und für sich betrachtet, bedeutungslos ist, zum besondern Gegenstand der Auslegung macht. Die einzelnen Elemente der Sprache in wie fern sie kein Ganzes sind, sind für sie das Bedeutungsvollste; wenn mir bei einem Wort ein andres einfällt, das dasselbe bezeichnet, habe ich einen Grund, zu fragen: warum hat der Verfasser das Wort und nicht das andre gewählt? Aber das Wort an sich die Buchstaben des Worts sind für uns bedeutungslos. Wenn man aber willkürlich mit den Buchstaben Bedeutungen verbindet, die [in] eine andre Reihe gehören, wenn ich z. B. die Buchstaben in Beziehung auf ihren Zahlwerth oder in Beziehung auf ihre Figur ansehe, so geht dieß aus dem Gebiet der Rede hinaus und ist die absolute Willkürlichkeit auf dieser Seite, so wie auf der andern Seite, wenn man sagen will, alle Nebenvorstellungen sind ein Fehler selbst im Deuten, und man muß sie in der Auslegung eliminiren, das Extrem auf der andern Seite ist. Die kabbalistische Interpretation und die trockene sind die Extreme zwischen welchen die Wahrheit eingefaßt ist, in ihnen aber ist verloren gegangen. Fragen wir woher es gekommen daß die allegorische Interpretation bei der heiligen Schrift grade ist übertrieben worden, so finden wir eine Analogie beim Homer. Da haben auch viele eigene Philolopheme hineingetragen und für die Ansichten des Dichters ausgegeben. Homer war eine Zeitlang die einzige schriftliche Quelle aller Kenntnisse, der Unterricht wurde mit [ihm] begonnen, er hatte das größte Publicum; deshalb das Bestreben alles im Homer zu finden. Dasselbe Verhältniß fand mit dem Alten Testament statt bei den Juden. Die allegorische Interpretation bei den Christen war auf die jüdische basirt. Wahrscheinlich ist das Alte Testament das Einzige, was aus den Trümmern der hebräischen Literatur nach der Gefangenschaft ist gerettet worden. Bei der Neigung des Volkes, sich von andern Völkern getrennt zu halten, waren sie um so mehr blos an ihre Schriften gewiesen, und sie mußten da alles zu finden suchen. Im Neuen Testament wollte man nichts unbedeutendes gelten lassen; dieß verwandelte sich bald in das Bestreben (was auf die Idee gegründet war, den heiligen Geist als Verfasser zu betrachten) jeden Satz in der heiligen Schrift als ein Unendliches anzusehn. Dieß führt auf die Frage, in wie fern der eigenthümliche Charakter der heiligen Schrift und das
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Verhältniß derselben zum heiligen Geist eine andre Interpretation erfordere, als andre menschliche Reden. Wir müssen uns ins ursprüngliche Verhältniß zurückversetzen und weniger an die heilige Schrift als ein Ganzes als vielmehr an die einzelnen ursprünglich selbstständigen Theile derselben denken. Betrachten wir da einen apostolischen Brief, gerichtet an eine einzelne Person oder an eine Gemeinde sich anknüpfend an die bekannten Verhältnisse, so konnten die ursprünglichen Leser eine solche Schrift nicht anders behandeln, als wie jeder andre einen Brief behandelt, den er empfängt, und auch die Schreibenden konnten aus keinem andern Gesichtspunkt schreiben: unmöglich konnten die Leser den Gedanken haben, „das ist für die ganze Kirche aller folgenden Jahr100e und nicht für uns geschrieben, wir sind nur die proÂfasiw.“ Die Schriftsteller hätten also müssen unter einer falschen Voraussetzung schreiben; dieß kann man ihnen doch um so weniger zuschreiben, wenn sie vom heiligen Geist inspirirt waren! Die Apostel selbst konnten also unter keiner andern Voraussetzung schreiben. Wenn vermöge der Inspiration in ihnen ein Bewußtsein gewesen ist von der künftigen Allgemeinheit der Schrift, so konnte dieß nur so sein, daß das Gesetz in ihnen gewesen ist, im Speziellen das Allgemeine auszusprechen, daß es mit Leichtigkeit könne herausgenommen werden. Man könnte einwenden: wenn man die ganze Bestimmung der Schrift betrachtet, so sei wenig darauf angekommen, daß die ersten Leser sie richtig verstanden hätten, der Hauptgesichtspunkt der Apostel hätte sein müssen über das unmittelbare Bedürfniß hinwegzusehn. Hätten sie aber dieß gethan, so hätten sie auch die Anknüpfung an die Verhältnisse müssen aufgeben und eine allgemeine didaxh aufstellen: das haben sie aber nicht gethan, und wir können nur in der Form, die sie ihren Schriften selbst gegeben haben, die Anleitung zu ihrem Verständniß finden. Die Schrift könnte auch gar nicht verstanden werden, wenn die ursprünglichen Leser die Schrift nicht verstanden hätten; das Gefühl vom Werthe der Schriften konnte sich wenn sie nicht verstanden worden wären, nicht in den Lesern festsetzen und so konnte auch keine Tradition entstehn von der Heiligkeit der Schrift. – Das vollkommene ursprüngliche Verstehn der ursprünglichen Leser ist die Basis des Verstehens der heiligen Schrift, da die ursprünglichen Leser daran gewiesen waren, die Schrift aus den Verhältnissen zwischen ihnen und dem Schreiber zu verstehen, so konnten sie sie auch nur nach den Grundsätzen verstehn, die wir uns im Allgemeinen schon verzeichnet haben. Das Verhältniß der Apostel zum heiligen Geist bestimmt den Werth und die Autorität ihrer Schriften; aber in der Art sie zu verstehn, kann dieß nichts ändern. Was vom Sohn gilt, gilt vom heiligen Geist. Der Sohn Gottes mußte Mensch werden, um
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etwas zu bewirken, und so muß auch der heilige Geist Mensch werden, wenn er etwas bewirken will, und nur wenn er in menschliche Thätigkeit übergegangen ist, ist er zu verstehn. Nachdem uns nun die Aufgabe ihrem Inhalt nach deutlich geworden ist, müssen wir zurückgehn zu dem Unterschied zwischen dem Kunstlosen in dem Geschäft des Verstehens und dem Kunstmäßigen. Das Kunstlose haben wir, und üben es beständig aus, wir suchen aber, weil uns dieß nicht genügt, ein kunstgemäßes Verfahren. Wir haben schon oben festgestellt, die kunstlose Praxis, die wir beständig festsetzen, geht davon aus, daß das Verstehn sich von selbst ergibt, und daß es Ausnahmen sind, wenn man etwas nicht versteht, sieht also kein andres Ziel, als im Verlauf des sich von selbst Verstehens das Mißverstehn, wo es möglich ist, zu vermeiden. In der Zwischenzeit haben wir uns schon deutlich gemacht, ÐwieÑ nicht alles Geredete und Gesprochene für unsre Kunst gleiches Interesse hat. Von je weniger Interesse etwas für die Kunst ist, um so mehr fällt es dem Kunstlosen anheim. (solches Reden und Schreiben muß seinen Zweck außerhalb der Gedankenmittheilung haben, entweder im bloßen freien Spiel mit den Gedanken, oder es muß seine Beziehung haben auf äußere Geschäfte wo die Rede nur als Mittel gebraucht wird.) Unter diesem Verhältniß kann man allerdings annehmen, daß das Verstehen sich von selbst gibt. Im gewöhnlichen Gespräch werden die Kombinationen gleich gemeinschaftlich, es ist eine gemeinsame Gedankenentwicklung, wo jeder eigentlich sich selbst hört, nur aus einem andern Munde, hier ist also das minimum von Kunstinteresse und von Schwierigkeit. Auf dem Geschäftsgebiet geht die Rede unmittelbar aus der That hervor, und der Mißverstand muß sich gleich geben in der unmittelbaren Anwendung auf das Geschäft; auch hier können indessen Mißverständnisse vorkommen, die nur auf dem Gebiet der Kunst gelöst werden können. Hieraus haben sich auch die ersten Regeln der Auslegung entwickelt unter der Form von Observationen und Bemerkungen über einzelne Fälle. Aus diesem Gesichtspunkt können wir uns die Geschichte der Kunst fortentwickeln. Was ist der Grund der Voraussetzung, worauf die Praxis beruht, wenn sie glaubt, der Auslegung entbehren zu können? Das Sprachgebiet und die Art und Weise die Sprache zu behandeln und die Art und Weise 380,37–381,3 Variante Saunier S. 100r: „In die Lage der ersten Leser müssen wir uns zurückversetzen; das Verhältniß der Apostel zum göttlichen Geist bestimmt den Werth ihrer Schriften, zum vollständigen Verstehen derselben kann dies aber gar nichts thun; der Sohn Gottes wurde Mensch um zu wirken; der heilige Geist muß auch Mensch werden in jedem Act durch den er wirken will, so ist er auch im Act des Schreibens menschlicherweise thätig. Dies bringt uns also nicht von unserm Wege ab, sondern wir werden unsre angelegten Grundsätze verfolgen können, und sie dann aufs Neue Testament anwenden wie auf jedes andre Buch.“
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der Gedankenverknüpfung sei im Redenden und Verstehenden dasselbe. Dann muß auch das Verstehen sich von selbst finden. Wir wollen aber auf den entgegengesetzten Punkt gehn: wovon geht das Bedürfniß der Kunst aus? Davon, daß das Natürliche was einem immer bevorsteht das Mißverstehn sei; daraus ist das Bedürfniß der Kunst entstanden. „Das Mißverständniß kann nur vermieden werden wenn auf jedem Punkt die Kunst angewendet wird“, dieß beruht darauf, daß jeder seine Art und Weise der Sprache und der Gedankenverknüpfung hat. Die Kunst geht also aus von der Differenz der Sprache und der Gedankenverbindung. Diese Differenz muß aber auf einer Identität ruhen, sonst wäre kein Auskunftmittel vorhanden. Es müssen Grenzen sein, in welchen beide ÐGebieteÑ der Kombination ÐundÑ der Sprache eingeschlossen sind. Wir müssen die Aufgabe ausschließlich aus dem Gesichtspunkt der kunstlosen Praxis anschauen, weil dies ÐunserÑ ursprünglicher Zustand ist. Wir wollen also unsre Aufgabe zurückführen auf die Ansicht der kunstlosen Praxis. Da ist die 1te Frage die: wie vielfältig ist denn das Mißverstehn an sich? Wir sagen, es gibt nur ein 2faches Mißverstehn, ein qualitatives und ein quantitatives (entweder glaube ich, einer hat etwas ganz andres ausgesagt, als er gesagt hat, oder ich mißverstehe den Ton und das Verhältniß welches ein Theil der Rede zum Ganzen hat.) Nur wenn beide Arten des Mißverständnisses fehlen, dann ist das vollkommene Verstehn gesetzt. Das Mißverstehen des Inhalts ist theils die Verwechslung eines Worts oder einer Form mit einer andern, theils die Verwechslung der Beziehung eines Ausdrucks auf einen andern: ich kann im Ganzen eine Form kennen, aber ich kann mich im Gebrauch derselben an einer gegebenen Stelle irren. Das 2te ist das Mißverstehen des Tons oder des Werths, den ein Ausdruck im Gedankengang des Redenden hat. Dieser Theil wird am wenigsten berücksichtigt; weil jedes Einzelne nur Theil der Rede ist, so ist ein beständiges Zurückgehn auf das Ganze nothwendig. Wir können hier den Bezug auf die biblische Auslegung ins besondere machen. Wir sehn häufig, daß einer die Bedeutung eines Ausdrucks zugibt; aber er sagt, das wird nur als Phrasis gebraucht und es kommt wenig darauf an ob es so oder so gefaßt wird. Der Mißverstehende ist dabei manchmal mehr passiv, manchmal mehr aktiv; es läßt sich nicht läugnen, daß allemal ein Theil des Mißverständnisses auf den Schriftsteller oder auf den Redenden fällt. Je mehr die Schuld am Schriftsteller liegt, um so weniger liegt sie am Leser, um so mehr ist er passiv; und eben so umgekehrt. Dieses ist um so mehr der Fall, als wir uns 20–21 Variante Saunier S. 101v: „Ein vollkommenes Verstehen ist nur möglich wenn der Mißverstand beider Art auf jedem einzelnen Punkt vermieden wird.“
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im Lesen in einem befangenen Zustand befinden; dann entsteht eine Neigung alles so genau wie möglich an die eigne Ansicht anzuschließen, das ist ein beständiges Suchen der eignen Gedanken in den fremden: in demselben Maß als man in seiner persönlichen Ansicht befangen ist, um so geneigter ist man zum Mißverstehn. Dazu kann im Geschäft des Auslegens nichts weiter geschehen, und dazu sind keine Regeln zu geben; sondern dieß muß der Auslegung vorangehen. Dieß gibt uns den Übergang von einem negativen Punkt zu einem positiven, der kann nur aus dem kunstgemäßen Standpunkt selbst genommen sein. Gehn wir auf das festgesetzte zurück, daß es darauf ankomme, eine jede Rede zu verstehen im Verhältniß zum Zusammenhang der Sprache und als ein Moment des Redenden, so brauchen wir nur noch folgende Betrachtung um eine möglichst vollkommene Formel zu erlangen. Wir haben schon gesehen daß jede Rede sich in einem 2fachen Verhältniß zur Rede befindet; jede Rede ist nämlich 1. ein Produkt der Sprache; in sofern sie das ist, reproduzirt sie zugleich in einem gewissen Grade die Geschichte der Sprache. In einem andern Verhältniß ist aber 2. jede Rede produzirend in der Sprache. Blos dadurch, daß die Rede ist, wenn sie auch nichts neues enthält, so erhält sie die Sprache, die doch nichts andres ist, als wenn sie gebraucht wird; inwiefern sie aber neue Zusammenstellungen von Elementen enthält, ist sie positiv produzirend in Beziehung auf die Sprache und so ist die Zukunft der Sprache in dieser gegeben. Wir werden also 2erlei hierin unterscheiden, ein geschichtliches und ein prophetisches, welches sich im Verständnis der Rede vereinigt und es zu seinem maximum bringt. Dasselbe gilt wenn wir darauf sehen, den Zusammenhang der Rede zu verstehn als ein Moment in der Gesammtthätigkeit ihres Urhebers. Jeder Augenblick schließt in seiner Sphäre die ganze Vergangenheit in sich. Wenn ich nicht in jeder Rede die ganze Vergangenheit in Beziehung auf sie anschaue, so kann ich sie unmöglich vollkommen verstehn. Jeder Moment im Leben hat auch eine gewisse größere oder geringere bestimmende Kraft für die Zukunft; und ich verstehe auch eine Rede unvollständig, wenn ich die bestimmende Kraft für die Zukunft nicht verstehe. Jede Rede ist nur wichtig, wenn sie auf das Denken des Redenden selbst einen Einfluß hat; verstehe ich also diese Rede nicht, so verstehe ich auch nicht das was in ihm für die Zukunft bestimmend vorgegangen ist. – Im Neuen Testament sehn wir eine eigenthümliche Modifikation der Sprache sich entwickeln, das ist was ihm seine große Dignität gibt. Die unmittelbaren ersten Hörer waren in demselben Zustand nicht; wie mögen sich die ur12–24 so ... bringt.] In dieser Passage beginnt jede Zeile mit einer Art Gedankenstrich.
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sprünglichen Hörer, die das Christenthum hernach annahmen sich zu denen verhalten, die es nicht angenommen haben? Die welche es annahmen können die Reden nicht für vorübergehend, sondern für wichtig angesehn haben und umgekehrt; an diese prophetische Seite des Verstehens knüpfte sich eine besondere Richtung des Gemüths an. – Wir haben gesehn die vollkommene Auslegung besteht im geschichtlichen und prophetischen Moment sowohl im Verständniß der Sprache als im Verständniß des Lebensmoments des Redenden. Dieß können wir durch eine andre Formel auch so ausdrücken: daß man jede gegebne Rede ebenso vollkommen verstehe als ihr Urheber; aber dann auch noch viel besser. Die ersten in sofern als jedem Einzelnen indem er redet oder schreibt, das Geschichtliche seines Daseins in demselben Maße gegenwärtig ist, als er beim Reden und Schreiben in vollkommener Besinnung sich befindet, und seine Reden mit dem Akt der Reflektion begleitet; aber das Prophetische kann man ihm nicht zumuthen, daß es in ihm sein soll, wie es im Hörer und Leser sein kann; d. h. in dem spätern; aber auch der gleichzeitige Hörer und Leser kann das in dem Augenblick besser, als der Redende und Schreibende selbst; denn es gehört dazu etwas was sich fast nur mit dem Zustand des reinen Auffassens vereinigen läßt. – Denken wir uns die Apostel in ihrem Amt das Evangelium zu verkünden, so war es ihre innerste Überzeugung, daß das etwas Neues und Ewiges sei, das war aber die Überzeugung die ihrer ganzen Existenz zum Grund lag; denken wir sie aber in einem Moment ihrer Rede, so waren sie in einem unmittelbaren Akt, sie wollten gewissen Menschen eine Überzeugung beibringen, und da ging ihre Thätigkeit im unmittelbaren Zweck auf; aber keineswegs können sie sich dessen bewußt gewesen sein in Beziehung auf die ganze Entwicklung des Christenthums. Das Bewußtsein des Ganzen mußte in diesen einzelnen Momenten bei ihnen zurücktretend sein; aber die Hörenden selbst, wenn sie 1mal im Allgemeinen diese Kraft des Christenthums lebhaft erkannt hatten, so konnten sie, die nicht an den Moment gebunden waren das Gefühl haben von der Kraft dieser Sprachentwicklung für die Zukunft, und wir, die wir es aus der Form sehn, können es noch besser. Die Aufgabe wie wir sie uns gestellt haben erscheint als ein Unendliches. Das ist natürlich und wenn wir bedenken, wie das richtige 383,14–384,10 Variante Saunier S. 101v: „Jede Rede ist Produkt der Sprache und zugleich producirend die Sprache; selbst wenn sie nichts Neues enthält hilft sie die Sprache erhalten, enthält sie Neues so ist sie positiv producirend und giebt der Zukunft die Sprache. Wir können also hier das Geschichtliche und Prophetische der Sprache unterscheiden; dasselbe gilt für die Auslegung in psychologischer Hinsicht. – Jede gegebene Rede muß man so vollkommen verstehen als der Urheber; ja man muß sie besser verstehen, das Prophetische in der Rede kann nur der spätere, schwerer schon der gleichzeitige Leser verstehen.“
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Verstehn gegenübersteht der Produktion der Rede, so muß das eine ebenso unendlich sein als das andre; und das Bestreben eine Rede vollkommen zu verstehen ist nichts andres als das Bestreben das Ganze des menschlichen Bewußtseins in sein eignes aufzunehmen. Dieß gibt den Schlüssel in 5 dem Interesse, womit wir dieß große Geschäft behandeln. Daraus entsteht freilich eine neue Schwierigkeit. Wenn die Geschichte der Interpretation ein unendliches ist, scheint es, müssen wir aber auch fragen, wie weit wir jedesmal in der Annäherung dazu gehn wollen? Dieß ist aber eine Vorfrage, für welche keine allgemeine Entscheidung möglich ist; das 10 muß immer praktisch entschieden werden. Um uns diese Frage in Beziehung auf das Neue Testament besonders zu beantworten, dazu sind wir jetzt noch nicht im Stande. –
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Jetzt wollen wir von der zuletzt aufgestellten Formel aus, daß die Auslegungskunst geschichtlich und prophetisch sei in objektiver und subjektiver Beziehung, der Sache etwas näher gehn, und fragen: auf welchem Punkt müssen wir stehn, um das Geschäft des Auslegens zu beginnen? was muß der Auslegung nothwendig vorangehn? Gehn wir von der Hauptvorstellung aus, daß die Auslegung eine Nachkonstruktion sein soll des Verfahrens beim Abfassen der Schrift (nur umgekehrt) so müssen wir uns zuerst in Beziehung auf alles was vorkommen kann dem Urheber der Rede oder Schrift gleichstellen; d. h. wenn wir auf die objektive Seite sehn, wir müssen mit derselben Kenntniß der Sprache ausgerüstet sein, wie der Verfasser der Schrift sie hatte, und subjektiv wir müssen dieselbe Kenntniß von seinem Leben und Zustand haben, wie er sie selbst hatte. Dieß ist aus dem vorigen klar. Es ist oft Streit geführt worden über das Verhältniß des neutestamentlichen Sprachgebiets zur Totalität der hellenischen Sprache überhaupt; bringen wir unsre Kenntniß der klassischen Sprache mit zur Auslegung des Neuen Testaments und können nicht davon abstrahiren und beziehen alles auf das klassische Griechisch so bekommen wir ein falsches Bild und müssen häufig irren. Eben so schwierig ist, daß wir zur Auslegung mitbringen sollen eine Kenntniß vom innern und äußern Leben des Verfassers; es kann sich einer ÐklarÑ und gleich bleiben, ohne Kenntniß von allen Elementen seines Innern zu haben; aber ein dritter muß dieß haben; was in jenem nur als Agens und Motiv sein 33 Leben] Lebens
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kann, muß in ihm als Kenntniß sein. Wo soll uns aber die Sprachkenntniß hergekommen sein? ÐhierÑ ist sie uns wieder nur aus den Schriften selbst gekommen; und so sind wir wieder in einem Kreis befangen. Wir werden nur in Approximation im einen fortschreiten, in dem Grad als wir im andern Fortschritte gemacht haben. Mit der andern Bedingung (der Kenntniß des Autors) steht es auch so: die Bedingung ist auch bedingt durch das was uns die Bedingung erst leisten soll. Wir sollen eigentlich den ganzen Sprachschatz mitbringen, der dem Verfasser zu Gebot stand, das ist nicht zu trennen vom Volkszustand, in welchem er eingewurzelt war, ich muß wissen zu welchem Dialekt, zu welchem Stand u.s.w. hat der Verfasser gehört? Dazu gehört noch: ich muß das Gebiet kennen, in welchem die besondere Rede liegt, auf deren Verständniß [es] mir ankommt, das literarische Ganze, wovon dieß ein Einzelnes ist und dem es angehört; ich muß die technischen Ausdrücke kennen, deren sich der Verfasser bedient. Darin liegt schon die aufgegebene Gleichsezung mit dem Verfasser. Wenn ich mich ganz ihm gleichgestellt habe in Beziehung auf die Sprache, die Volksmäßigkeit u.s.w. der er angehörte, um so vollständiger wird die Auslegung. Hier ist wieder etwas mitgesagt, was aus der Kenntniß der Schrift hervorgehn muß. Wenn ich auch aus andern Notizen den Sprachschatz, das Publicum u.s.w. des Verfassers kenne, so kann ich doch seine Absicht &c. nur aus der Schrift selbst wissen. Daraus folgt, daß wir nie eine Schrift auf 1mal ganz verstehn können; wir müssen erst etwas von ihr verstanden haben, soviel als nöthig ist, um sie uns zu bestimmen, dann können wir erst zur Auslegung im Einzelnen gehen. Nun wollen wir uns gleich einen nachtheiligen Standpunkt vorstellen, auf dem wir uns oft befinden. Wenn ich das Sprachgebiet schon besitze, kann ich gut zur Auslegung schreiten; aber in dem Maß als mir wenn ich zur einzelnen Auslegung gehe, an der Kenntniß des Sprachschatzes fehlt, um so unvollständiger wird die Auslegung. Ehe wir uns der ganzen Literatur eines Volkes bemächtigt haben, sind wir immer im Fall, daß uns am Sprachschatz fehlt; da müssen wir zu andern Mitteln, zum Lexicon, zu einzelnen Bemerkungen sprachkundiger Männer Zuflucht nehmen. Das alles ist aber reine Unterbrechung des Auslegungsgeschäfts; so oft wir so etwas beginnen müssen, setzen wir uns auf den Zustand der Vorbereitung zurück. Alles was wir bisher gethan haben, muß uns dadurch zweifelhaft werden, weil wir nicht wissen, wie dieser Mangel auf frühere Theile der Auslegung eingewirkt hat. Jede Operation des Auslegens also welche noch unterbrochen werden muß ist an sich selbst unvollkommen. Da theilt sich uns das Geschäft des Auslegens in 3 Cursus: 1. sich eine allgemeine Übersicht von dem Sprachschatz der Schrift zu verschaffen 2.
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die Auslegung des Einzelnen unter der Voraussetzung daß uns noch manches vom Sprachschatz fehle, zu beginnen; und 3. noch einmal die ganze Operation zu wiederholen und die Revision dessen anzustellen, was wir glaubten verstanden zu haben. Was [von] den Sprachkenntnissen gilt, gilt auch von den geschichtlichen Verhältnissen in Beziehung auf die psychologische Interpretation. Je mehr in einer Rede Specielles vorkommen kann, kann vorkommen etwas das Kenntnisse voraussetzt, die wir nicht haben; und es tritt hier dieselbe Nothwendigkeit der Revision ein. – Was die Seite der Sprache betrifft, knüpfen wir an das früher Gesagte an, daß wir zur Sprachkenntniß auch nur durch das Wörterbuch gelangen; in fremden Sprachen durch kunstgemäße Auslegung, im gewöhnlichen Leben durch kunstlose, in der Überlieferung. Es ist zu wünschen, daß er, ehe er zur kunstgemäßen Auslegung kommt, schon in der Sprache bewandert ist. Wenden wir dieß aufs Neue Testament an. Dieses ist griechisch. Die Sammlung dieses Sprachschatzes ist Vorbereitung. Der Unterricht in den Sprachen auf den höheren Schulen hat diesen Zweck; das kunstmäßige Auslegen kann da nur im beschriebenen Sinn geübt werden. Unser ganzer Sprachschatz in den alten Sprachen ist von der Art, daß er nicht in der Überlieferung des Lebens sondern durch das kunstmäßige Auslegen entstanden ist. Wir können annehmen, daß im Mittelalter die Kenntniß der griechischen Sprache ausgestorben war; von dieser Zeit ÐentwickeltÑ sich unser Sprachschatz im Griechischen. Das klassische Griechisch war aber schon damals nicht mehr Sprache des Lebens, wir müssen also voraussetzen, daß ein großer Theil des Sprachschatzes in Wörterbüchern und Grammatiken dieser Zeit auf unvollkommener Kenntniß beruht, weshalb dieser Sprachschatz einer fortgehenden Berichtigung bedarf. Je mehr die Lage eine solche ist, um so gewisser ist, daß jeder Anfänger die ersten Schritte an der Hand dieser Hülfsmittel thun muß; aber sie werden erst sicher, als eine Erwerbung des Sprachschatzes durch den Gebrauch dieser Hülfsmittel stattfindet. Wir erfahren die Unsicherheit noch immer, wenn wir sehen, wie die Grammatiken den Gebrauch der Formen und die Wörterbücher den der Wörter bestimmen; deshalb muß ein beständiges kritisches Mißtrauen den Gebrauch dieser Hülfsmittel begleiten. – Der griechische Sprachschatz steht zum Neuen Testament in einem eignen Verhältniß, das Neue Testament hat in einigen Stücken abweichende eigne Grammatik und eignes Lexikon; das beruht darauf, daß die Verfasser die Sprache nur kunstlos hatten und darauf weil die Sprache keine reine ist; dabei war sie der jüdischen Nation und Religion erst angeeignet worden und hatte eine Beimischung von der Ursprache des Volkes und der Religion an sich. Diese Erscheinung findet sich überall wo durch histo-
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rische Umstände sich eine Sprache in dem Gebiet einer andern verbreitet. Für das Neue Testament müssen wir [uns] also um besondere Hülfsmittel umsehen; aber nicht als ob wir sagten, der Sprachschatz des klassischen [Griechisch] könne uns nicht helfen. – Im hellenischen Sprachschatz ist die Periode der mazedonischen Gräzität. Wo wir griechische Schriftsteller finden, welche Juden waren, so werden wir bei diesen am meisten das finden was ins religiöse Gebiet gehört, und deshalb ansehn müssen als auf besondere Weise mit dem Neuen Testament verwandt; vorzüglich da die ganze Vorstellungsweise auf die der Juden bezogen ist, so werden wir im Alten Testament (der Septuaginta) und den Apokryphen des Alten und Neuen Testaments die meisten Hülfsmittel hernehmen müssen. – Was die Geschichtskenntniß in Beziehung aufs Neue Testament betrifft, so ist auch dieß eine allgemeine Aufgabe und gilt auch von Schriften in unsrer Muttersprache; aber mit den Schriften aus dem Alterthum ist dieß ein besonderer Fall. Bei Werken aus dem Alterthum ist der Herausgeber gewöhnlich in Beziehung auf den Sprachschatz und die Geschichtskenntniß eine Mittelsperson zwischen dem Leser und dem Schriftsteller; aber damit kann man sich weder vollkommen begnügen, noch sich vollkommen drauf verlassen. Im Neuen Testament können wir die geschichtlichen Verhältnisse nur aus den Schriften selbst kennen lernen; z. B. die Verhältnisse der Gemeinden u.s.w. hier muß also die historische Konjekturalkritik zu Hülfe kommen und die Hülfsmittel der Auslegung ergänzen; es ist also wieder ein großer Unterschied in der Selbstständigkeit des Verfahrens. Die Herausgeber und Kommentatoren des Neuen Testaments sind nicht sparsam in Angaben von historischen Verhältnissen. Hier muß man sehn, haben sie die Nachrichten anderswoher oder blos aus dem Neuen Testament? Ist man hier nicht vorsichtig, so ist man oft in Gefahr, etwas als geschichtliche Angabe anzusehn was nur ein Schluß aus den historischen Notizen des Neuen Testaments ist. – Man hat die geschichtlichen Vorkenntnisse zu einer eignen theologischen Disziplin gemacht, Einleitung ins Neue Testament. So wie man vorsichtig sein muß im Gebrauch der Hülfsmittel so muß auch jede kunstgemäße Auslegung einen Beitrag liefern zu diesen Hülfsmitteln, wenn nicht als Bereicherung, doch als Berichtigung. Je fragmentarischer, einseitiger, unkritischer hierin verfahren wird, um so mehr wird die Auslegung gefährdet. – Jedes Einzelne in einer Rede und Schrift selbst kann nur wieder aus dem Ganzen der Rede und Schrift verstanden werden; jeder abgebrochene Satz hat etwas unbestimmtes, selbst der altäglichste und allerall10 (der Septuaginta)] der LXX ohne Klammern am Rand
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gemeinste hat wenigstens die Unbestimmtheit der Tendenz; um also das Einzelne genau verstehn zu können, muß der Zusammenhang gegeben sein, wir müßten also um das Einzelne zu verstehn die ganze Schrift verstanden haben, die wir doch selbst wieder nur durch das Einzelne verstehn. Das ist der engste und zauberischste Kreis, aus dem wir nicht heraus können. Wir müssen beim Auslegen von 2 verschiednen und entgegengesetzten Gesichtspunkten ausgehn; wir müssen das Einzelne aus dem Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen zu verstehn suchen, und beides kann sich nur allmählig vollenden. Der allgemeine Zusammenhang gibt uns die leitenden Ideen an, an die wir uns beim Verstehn halten müssen, wir sehen wo der Verfasser hinaus will; dadurch wird die Unsicherheit im Verstehn des Einzelnen in engere Grenzen eingeschlossen. Es gibt hier auch Erleichterungsmittel, welche Schriftsteller und Herausgeber anwenden, dergleichen sind systematische Inhaltsverzeichnisse. Diese sind allerdings gut; aber niemand glaube, daß ihm ein solches Verzeichniß dasselbe leisten kann was ihm eine vorläufige Durchsicht des Ganzen leistet. Was die vorbereitende Übersicht betrifft, da bedarf es wohl keiner besonderen Regeln, bei ganz unbedeutenden Schriften macht sie sich überflüssig, was auch beim Reden der Fall ist. Die Aufmerksamkeit soll hier darauf gerichtet sein den Hauptfaden zu finden. Je schwieriger das Verständniß einer Schrift desto weniger scheint durch eine vorläufige Übersicht gewonnen zu werden; man kann sagen, es bezeichnet den schwierigen Charakter einer Schrift wenn die schnelle Übersicht ganz fruchtlos ist. Je weniger eine bestimmte Ordnung vorherrscht, um so schwieriger ist eine Schrift zu verstehn; desto mehr ist man an die 2te Operation gewiesen, daß man durch Verstehung des Einzelnen zu einem Totaleindruck gelangt. Wir wollen uns also gleich auf den 2ten Punkt stellen, die Aufgabe das Einzelne zu verstehn. Da müssen wir uns die allgemeinen Formeln wieder zurückrufen, daß man suche qualitatives und quantitatives Mißverständniß zu vermeiden, und daß wir von Anfang an müssen suchen zu einem geschichtlichen und prophetischen Resultat zu gelangen. Dabei sind wir verwiesen auf das Einzelne. Wie verhält sich in Rede und Schrift das Einzelne zum Ganzen? Alles Einzelne in der Rede an und für sich betrachtet, ist unbestimmt; und es muß ein Verfahren der Bestimmung auf den vorliegenden Fall eintreten. Daß jedes Einzelne an und für sich unbestimmt ist, können wir uns aus der Praxis klar machen; wir kennen ein Wort, eine Form nicht, da nehmen wir Zu11 will] wird
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flucht zu den Wörterbüchern; da finden wir immer eine Erklärung durch mehrere einander nicht ganz gleiche Wörter, also eine Unbestimmtheit; auch wenn wir ein Wörterbuch nehmen, das in der Sprache die es erklärt selbst versirt (Glossar) so finden wir immer das eine Wort durch mehrere erklärt; also wieder eine Unbestimmtheit. Bei unbekannten Formen nehmen wir Zuflucht zu den Grammatiken; da finden wir ein Paradigma, wir werden verwiesen auf den ÐKörperÑ der Sprachlehre, wir finden eine Mannigfaltigkeit von Regeln, ein Mannigfaltiges von Bedeutungen, von Fällen, also immer wieder das Unbestimmte. Jedes Element der Rede an und für sich ist also ein Unbestimmtes. – Woher soll das Unbestimmte bestimmt werden? Das ist die erste Regel, die wir uns aufstellen müssen. Die allgemeinen Hülfsmittel die wir zum Verständniß mitbringen, zeigen uns nur die Unbestimmtheit; und das gibt keine Anleitung zum Gebrauch im einzelnen Fall. Die 1te Regel ist also die, daß alles was in einer Rede einer näheren Bestimmung bedarf, darf nur bestimmt werden aus dem dem Verfasser und seinem Publikum gemeinsamen Sprachgebiet. Wenn ich im Wörterbuch einem Wort eine Bedeutung beigelegt finde, die außerhalb dem Gebiet liegt, in welchem die Rede versirt, so werde ich diese Bedeutung nicht gebrauchen. Die Regel gibt an sich immer noch kein bestimmtes Resultat, sie ist nur negativ, es wird nur ausgeschlossen was jenseits des Sprachgebiets liegt, innerhalb des Sprachgebiets bleibt noch die Unbestimmtheit. Um uns eine möglichst klare Vorstellung vom Verhältniß des Unbestimmten zum Bestimmbaren in der Rede zu machen, müssen wir noch etwas tiefer in den Gegenstand hineingehn, und fragen, was ist die Bestimmbarkeit und Unbestimmtheit eines Einzelnen in der Rede. Als ein ganz Einzelnes ist uns gegeben das Wort seiner Form und seiner Bedeutung nach; ein kleineres Einzelnes als das Wort haben wir nicht; die Formen der Beugung könnten wir uns trennen, sie sind aber nur am Wort. Die einzelnen Sylben als Formal-sylben erscheinen auch nur am andern. – Das Wort erscheint uns als ein Unbestimmtes und zugleich als ein Bestimmbares. Ein Wort hat keinen andern Ort als in irgend einem Zusammenhang, außer dem ist es nichts, seine Existenz in den Wörterbüchern ist eine abstrakte. Was ist es aber in dieser abstrakten Existenz? da erscheint es uns als ein auf mannigfache Weise verschiebbares zu sich ziehbares und ausdehnbares. Wenn wir das Wort für sich zurückführen auf sein Vorkommen in einem Zusammenhang, und wir können dem
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Wort seinen Antheil an dem Sinn eines Satzes bestimmt zumessen, und wir nehmen uns eine Menge solcher Fälle zusammen, so ist das was das Wort in den verschiednen Fällen geleistet hat, nicht immer dasselbe; es hat hier mehr, hier weniger geleistet, d.i. wenn wir sagen, es ist im engern oder weitern Sinn gebraucht; oder es ist dem Wort mehr oder weniger beigemischt, indem es im Verhältniß mit andern Worten mehr oder weniger an sich zieht, das haben wir das Verschiebbare genannt. Wenn ich den Werth eines Worts in einem Zusammenhang beschreibe, so kann ich ihn nicht trennen vom Einfluß der andern Wörter auf dasselbe im Zusammenhang. – Dieß zusammen genommen, was ein Wort von seinen Umgebungen anzieht, und wie es oft bald eine engere bald eine weitere Bedeutung hat, ist der ganze Umfang des Worts; hätten wir alle diese Fälle erschöpft, so hätten wir die ganze Kraft des Worts erschöpft. Es ist nur eine Einheit im Ciclus dieser Gebrauchsweisen. So erscheint uns also das Wort an und für sich als ein Bewegliches und als ein wirklich in der Bewegung begriffenes in der Sprache. Man pflegt dieß so auszudrücken: die eigentliche Einheit, was man sich beim Worte an und für sich denken soll, ist die B e d e u t u n g , was die Beweglichkeit ausdrückt, ist der S i n n desselben. Wenn wir bei diesen Ausdrücken stehn bleiben, so kann man sagen, ein Wort an und für sich betrachtet, hätte keinen Sinn, und nur Bedeutung: aber auch die Bedeutung ist keine völlige Einheit; denn wenn wir zurückgehn, so können wir das Verhältniß der Wörter zur Totalität der Sprache nur in einer Mannigfaltigkeit ausdrücken. Es kommt also jedem Wort eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen zu, die wahre Einheit des Worts ist gar nicht zu bestimmen, diese kann nicht zur Erscheinung gebracht werden; und da sehn wir wie das ganze Wesen des Worts in dieser unbestimmten Bestimmbarkeit besteht, und wie nur aus dem Zusammenhang die Bestimmung selbst erfolgen kann. Man sagt, das Wort hätte im Satz seinen Sinn. Der Satz hat aber auch noch keinen Verstand ohne Zusammenhang; also erst im Zusammenhang der völlig geschlossenen Rede hat das Wort seinen Sinn. Man könnte weiter gehn, und sagen die Rede selbst hätte auch für sich keinen Sinn wenn wir sie nicht im ganzen Zusammenhang ihrer Welt denken; allein dieser muß uns schon gegeben sein, und fällt also außer dem Gebiet der Interpretation. Wir sehen also wie das Verstehen des Einzelnen bedingt ist durch das vorausgegebene Verstehen des Ganzen. Beide Richtungen können sich nur gegenseitig ergänzen. In einer Rede sind einige Sätze gebundener, andre abgerissener; sie werden [als] in einem andern Zusammenhang gegründet 7 Verschiebbare] Verschiedbares
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angesehn. Im ersten Fall müssen sie mehr aus der Rede, im letzten mehr aus der allgemeinen Bedeutung bestimmt werden. Das Sprachgebiet jedes Schriftstellers ist das Sprachgebiet seiner Zeit, seiner Bildungsstufe und seines Geschäfts. Jeder Schriftsteller ist zu denen an die er schreibt durch das Geschäft gebunden, im ersten ist das nicht so der Fall. Im Neuen Testament ist das Geschäft der Schriftsteller die Mittheilung der christlichen Religion und die Anwendung davon auf das Leben. Dieses war ein neues; wie standen die Verfasser zu denen, an die sie schrieben; wie konnten sie bei ihnen Bekanntschaft der Sprache voraussetzen. In dieser Hinsicht kann die Sprache der neutestamentlichen Schriften unmöglich gleich sein; anders mußte die Sprache an die sein, denen das Christenthum erst sollte beigebracht werden, und anders an die, denen es schon mitgetheilt war. – Von diesen allgemeinen Regeln gibt es verschiedne Ausnahmen, die sich die Schriftsteller erlauben; nicht immer reden alle Schriftsteller in der Sprache ihrer Zeit, es gibt Archaismen und Neoterismen, das letztere ist Produkt des Bedürfnisses. Die Archaismen sind nicht so sehr Ausnahmen als es scheint; es bedient sich einer derselben nur inwiefern er voraussetzt, daß die Erinnerung an das alte Sprachgebiet noch lebendig ist, und also mit ins jetzige Sprachgebiet hineingehört. Manchmal will die Sprache nur im Moment leben, dann fallen die Archaismen weg, manchmal gibt es Zeiten, wo man die Erinnerung ans Alte in der Zeit erwerben will, und da sind die Archaismen häufig; das ist also immer wieder der Ausdruck einer Zeit. Bei den Neoterismen ist auch 2erlei zu unterscheiden. Nicht selten bedient sich ein Schriftsteller eines neuen Ausdrucks blos für das Bedürfniß des Moments, ohne die Absicht daß der Ausdruck bleibend in der Sprache sein soll; alsdann ist man darauf verwiesen, den Ausdruck aus der allgemeinen Sprachanalogie und aus dem unmittelbarsten Zusammenhang zu bestimmen; Nur ist es rathsamer sich an das letztere zu halten, weil es nicht ungewöhnlich ist, daß selbst Männer von einer gewissen wissenschaftlichen Bildung doch unrichtige Vorstellungen haben von der Bedeutung der einzelnen Formen. – Eine andre Ausnahme sind die technischen Ausdrücke; die sind an ihrer Stelle, wenn sie im Geschäftsgebiet selbst vorkommen; aber es kommen dergleichen oft vor aus fremden Gebieten, oft in der Voraussetzung, daß sie nicht von allen verstanden werden. Dieß finden wir bei den Alten in gerichtlichen und 14–16 Zusatz Saunier S. 105v: „und wenn man sie gebraucht erfindet man neue Ausdrücke, doch gehören die noch nicht zur Sprache der Zeit und können nicht bestimmt werden aus dem Sprachschatze selbst, sondern regelten ihre Bestimmung erst aus der Stellung selbst.“ 23 Zusatz Saunier S. 105v–106r: „In einer Zeit wo die Archaismen Mode geworden sind, hat man bei ihrem Gebrauch keinen besondren Nachdruck zu suchen, es spiegelt sich nur der Brauch der Zeit darin ab.“ 28 Zusatz Saunier S. 106r: „oder aus der Kenntniß der Sprachbildung überhaupt.“
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berathenden Fällen; das Mittelglied zwischen dem Redenden und den Zuhörern bilden hier die sachkundigen Männer. Das Publikum wird so dem Redner bald ein engeres, bald ein allgemeineres. Eine gewisse Analogie hiemit hat das früher Erwähnte von den Anspielungen. – Betrachten wir diesen Kanon noch in Beziehung auf seine Anwendung, so fragt sich wo kommt denn die Regel eigentlich an? Denken wir uns die allgemeine Übersicht ist schon vorangegangen, also ist man im Ganzen über das Gebiet in der Rede einig, und so kann das Geschäft lang vorwärts gehn, ohne daß man den Kanon anzuwenden hat; das ist dadurch bedingt, daß man das Einzelne an das allgemeine Bild hält, das man durch die allgemeine Übersicht erhalten hat. Wo wird eine ausdrückliche Anwendung dieser Regel vorkommen? Nur in den Fällen, entweder wenn ich mir den Ausdruck gar nicht aus dem Sprachgebiet zu erklären weiß oder wenn ich zwischen verschiedenen Erklärungen schwanke. Betrachten wir den Fall im Allgemeinen, das Verstehen einer Schwierigkeit. Wo eine Schwierigkeit entsteht, muß der Zweifel entstehn, ob die Schuld am Verfasser oder an mir liegt. Man ergreift im erstern Fall andre Maßregeln als im letztern. Nun haben wir aber nichts was wir vorläufig mitbringen, als in Beziehung auf den Verfasser die Kenntniß, die wir aus der allgemeinen Übersicht bekommen haben und die, die uns ÐschonÑ aus frühern Schriften oder Reden einwohnt. Wenn ich behaupte, die Schuld liegt am Verfasser muß ich es rechtfertigen können. Wenn entweder aus andern Schriften oder schon in der allgemeinen Übersicht man die Ansicht bekommen hat, daß er sorglos und ungenau, und kunstlos ist, dann liegt bei vorkommenden Schwierigkeiten die Schuld an ihm. Wann haben wir vorzüglich Ursache voraus zu setzen, daß die Schuld an uns liegt? Entweder wenn wir uns einer unzulänglichen Sprachkenntniß oder wenn wir uns einer unzureichenden Aufmerksamkeit bewußt sind. Dem ersteren vorzubeugen haben wir nie ganz in unsrer Macht; es gehört dazu ein planmäßiges Studium der ganzen Literatur, der Sprache; und zwar fortschreitend vom Leichteren zum Schwersten, wir müssen uns aber oft an Bücher wenden, zu deren Verständniß wir nicht hinlänglich ausgerüstet sind; hierin ist bei Ungewißheit kein andres Mittel, als für den gegebenen Fall unsre Sprachkunde zu revidiren. Diese Revision läge für jeden Fall zunächst im Zurückgehn auf Schriften aus demselben Gebiet; das ist was man den Gebrauch der Parallelstellen nennt; dieß ist in vielen Fällen zu schwierig und weitläufig, deshalb ist das kürzere Mittel, daß wir die Wör4 Zusatz Saunier S. 106r: „Dasselbe gilt für die Anspielung; sie ist nur für diejenigen welche sie verstehen und wesentlich spricht der Verfasser zu einem engeren Publicum.“ 6 Variante Saunier S. 106r: „wo kommt denn die Regel eigentlich in Anwendung?“ 24 Variante Saunier S. 106v: „talentlos und ungenau, oder sorglos und nachlässig“
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terbücher zu Rathe ziehn. Das Geschick im Gebrauch derselben ist ein nothwendiges Hülfsmittel zur Auslegung. Dieses Geschick setzt auch wieder andre Operationen der Auslegung voraus. Die eigentlich wissenschaftliche Behandlung ist noch gar nicht so in die Wörterbücher eingedrungen, wie es zu wünschen wäre. Natürlich ist man zuerst darauf gekommen, Wörter zusammenzutragen über den Schatz fremder Sprachen; dann aus der Muttersprache entweder aus fernen Zeiten, Glossarien, oder in Beziehung auf einzelne Provinzen oder auf einzelne Ausdrücke, Idiotica. Ein Wörterbuch über die eigne Sprache ist das späteste was zu geschehn pflegt, aber nur aus diesem könnte die Kunst zu ihrer Vollkommenheit gedeihen. Es könnte schon 2 verschiedene Arten geben, wie ein Wörterbuch geordnet wäre 1. die alphabetische 2. die etymologische. Man könnte sich noch eine 3te Art denken, die Ordnung nach den Begriffen, wo die Buchstaben als Ordnung bestimmend verschwänden; ein solches würde noch eine vollkommenere wissenschaftliche Durchdringung haben. Dergleichen haben wir noch nicht, und daraus entsteht ein relativ noch größerer Mangel im wissenschaftlichen Gebrauch des Einzelnen. Man sieht allerdings hie und da ein Bestreben die verschiedenen Bedeutungen eines Wortes in relativen Gegensätzen zu fassen, in eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung. Man muß aber darauf zurückkommen, daß dieser Gegensatz so an und für sich keine Realität hat. So wie man entgegensetzt eigentliche und uneigentliche Bedeutung, so substituirt man auch bisweilen den Gegensatz zwischen eigentlicher und bildlicher Bedeutung. Denken wir nur das Wort in größerem Umfang so verschwindet der Gegensatz. Das Wesentliche des bildlichen Ausdrucks kommt hinaus auf 2 parallele Gedankenreihen, daraus folgt nicht, daß das einzelne Wort aus seiner natürlichen Bedeutung herausgerissen würde. Man macht auch den Gegensatz zwischen Eigentlichem und Geistigem; daß jede Bezeichnungsweise des Übersinnlichen eine später hinzugekommene Bedeutung ist. Darin liegt eine Voraussetzung, daß zwischen sinnlichen Gegenständen und zwischen den Wörtern, die sie bezeichnen eine Analogie stattfinde. Man hat dieß häufig als Grundsatz aufgestellt, daß jedes geistige Wort ursprünglich eine sinnliche Bedeutung müsse gehabt haben. Will man dieß auch zugeben, so liegt diese Untersuchung jenseits des hermeneutischen Gebiets. Geht man davon aus alles Gesprochene muß erst etwas sinnlich Wahrgenommenes sein, so ist dieß in sofern wahr, als die sinnliche Wahrnehmung dem Intellekt vorangeht; 12–16 Variante Saunier S. 107v: „alphabetisch oder etymologisch; dadurch kommen die Formen der Sprache am besten zur Anschauung, und bei jedem einzelnen Stamm hat man gleichsam die ganze Sprache beisammen; so lernt man den Sinn der Formen auch am besten kennen.“
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aber wir können nicht glauben, daß die Sprache sich gebildet habe, ehe der intellektuelle Prozeß begonnen war, dieß führt in das Vorgeschichtliche der Sprache. Beim hermeneutischen Prozeß ist Leibliches und Geistiges nicht früher und später, sondern gleichzeitig, und es kann nur darauf ankommen festzustellen, daß die Niederlegung des Geistigen ein 2tes sei; wie wir die Sprache finden, finden wir solche Wörter, wo uns die rein geistige Bedeutung als die ursprüngliche erscheint, die Wörter Seele, Geist, Gott. – Eine ähnliche Parallele finden wir in Beziehung auf Raum und Zeit. Dieselben Ausdrücke die den Raum bezeichnen bezeichnen die Zeit. Wer wollte sich hier anmaßen zu behaupten, was das frühere und was das spätere sei. Sollen uns die Wörterbücher einen solchen Dienst leisten, daß zu gleicher Zeit die im Fall liegende Schwierigkeit gehoben und unsre Sprachkenntniß bereichert werde, so müssen wir das was im Wörterbuch unvollkommen ist ergänzen, und die einzelnen zerstreuten Punkte zu konstruiren suchen. Sicherheit bekommen wir nur in dem Maße, als es uns gelungen ist, die vollkommene Einheit des Worts zu konstruiren. Haben wir diese, so ist freilich die Mannigfaltigkeit, wie es vorkommen kann, etwas Unbestimmtes; aber nun kann es immer noch eine Kunst sein, und das ist das eigentlich Lexikographische, aus der Einheit des Worts und der Mannigfaltigkeit in der es vorkommt im entgegengesetzten Prozesse zu konstruiren. Dieß brauchen wir nicht jedesmal zu ergänzen; sondern wir müssen nur sehn, was die Bedeutung des Worts in dem bestimmten Zusammenhang sei. Wenden wir dieß aufs formelle an, auf die Bedeutung einer Sprachform oder einer Partikel, da müssen wir voraussetzen wenn die Sprache ein Ganzes ist, muß es hiemit eine Bewandtniß haben wie mit den Wörtern selbst. Jede Sprachform &c. muß ihre bestimmte Einheit haben auf der einen Seite und die Mannigfaltigkeit ihrer Gebrauchsweisen. Die Sprachlehre hat in dieser Beziehung einen lexikographischen Theil. Die Sprachlehren stehn in keinem höheren Grad der Vollkommenheit, als die Wörterbücher; auch hier muß dieser Ergänzungsprozeß von unsrer Seite eintreten. Die Einheit eines Wortes ist immer zusammengesetzt; die Grammatiker und die Lexikographen sind selbst Schriftsteller und bedürfen deshalb selbst wieder der Auslegung, das ist ein Übelstand. Aufs Neue Testament 32 Die Einheit] am Rand: Das hier in Klammern eingeschlossene [nämlich bis p. 44 unten] ist blos ein Auszug. 32–34 Variante Saunier S. 109r: „Die Einheit eines Wortes ist nie eine ganz reine, sondern immer eine zusammengesetzte und auf der Verschiebbarkeit der verschiednen Elemente der Wörter beruht die Möglichkeit des mannichfaltigen Gebrauchs. Ein Übelstand ist daß die Lexicographen und Grammatiker selbst Schriftsteller sind und der Auslegung bedürfen; je mehr sie die Kunst verstehen nicht Schriftsteller zu sein, sondern ihr Geschäft in bloße Formeln zu fassen um desto sichrer und leichter ist der Gebrauch. Auf den Standpunkt des Verfassers muß man aber doch Rücksicht nehmen und dies bestimmt die Wahl aus den verschiedenen Worten dieser Art.“
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angewendet. Das Neue Testament ist in der Idee als Neues Testament eine Einheit, literarisch eine Vielheit; daraus entstehen 2 Fragen: 1. wie es in dieser Hinsicht mit der geschichtlichen Einheit [stehe], 2. und wie mit der sprachlichen? Soll bei einer Schrift die Übersicht des Neuen Testaments oder der einzelnen Schrift vorangehn; und hat das Neue Testament 1 Sprachgebiet oder jeder Schriftsteller sein Eignes? Das Sprachgebiet ist immer dasselbe die geschichtlichen Vorkenntnisse für jede Schrift sind besondere. – Von einigen Schriftstellern des Neuen Testaments kennen wir das Sprachgebiet und ihr Vaterland, von andern blos das Vaterland aber nicht das Sprachgebiet, von andern keines von beiden; in dieser Hinsicht wird die Sache ungewiß und erfordert Lesung des Ganzen. Es ist das hellenistische, vor diesem allgemeinen Charakter verschwinden die persönlichen Abweichungen; das Neue Testament gehört in die Zeit des Verfalls der griechischen Sprache. Es ist der Sprachgebrauch derer zu unterscheiden, die der Abstammung [nach] griechisch sprachen, und derer die die griechische Sprache erst annahmen, die neutestamentlichen Schriftsteller gehören zu den letzteren, doch haben sie die Sprache nicht kunstgemäs erlernt, auf keine Weise hatten sie die griechischen Schriften aus der Blütenzeit gehandhabt, höchstens hat Paulus die Sprache nach Regeln gelernt. Die Hauptsprache ist die, welche sich der Organe bemächtigt hat, und so ist im Neuen Testament das Griechische die Hauptsache, der Einfluß des Aramäischen untergeordnet. Verwandt sind Josephus und Philo; beide gebildeter als die neutestamentlichen Schriftsteller, sie bilden einen weitern Kreis, die mazedonische Gräzität bildet den weitesten. Was die Frage betrifft, ob man bei der allgemeinen Übersicht 1 Zusatz Saunier S. 109r: „Wenden wir die bisher entwickelte Regel nun auf das Neue Testament an; bei einer schwierigen Stelle soll zur Vervollständigung der Sprachkenntniß auf die sprachlichen Hilfsmittel Rücksicht genommen werden.“ 8 Zusatz Saunier S. 109v: „besondre. Jede NeuTestamentliche Schrift ist ein Ganzes für sich und läßt sich behandeln unabhängig davon daß sie ein Theil der Collection ist.“ 8–25 Variante Saunier Bl. 110: „In dieser Hinsicht wird uns die Sache also ungewiß und nur durch Lesung des Ganzen können wir zur Anschauung kommen zu welchem SprachGebiet das Neue Testament gehört; es ist das hellenistische und vor diesem allgemeinen Karakter verschwinden die persönlichen Abweichungen. Die NeuTestamentliche Sprache ist unter die allgemeine Einheit der Griechischen Sprache zu subsumiren. Jede Sprache hat ihre KindheitsPeriode, ihre Zeit der Blüthe und des Verfalls; je mehr die Sprache sich kunstgemäß in schriftstellerischen Werken fixirt desto mehr bestimmen und unterscheiden sich diese Perioden. Das Neue Testament gehört in die Zeit des Verfalls der Griechischen Sprache hat also eine Analogie mit andern Productionen aus der Griechischen Sprache dieser Zeit, mit den Werken aus der macedonischen Graecität. Jede Sprache hat auch ihre verschiednen Regionen und ist local modificirt; die Dialecte bildeten bei den Griechen diese Verschiedenheit aus; diese waren aber jetzt verschwunden und im Zustande des Verfalls Null. Der Ort des Neuen Testaments im Gebiet der Griechischen Sprache liegt eigentlich außerhalb derselben und kommt aus einer Gegend wo nie ein
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das ganze Testament und die einzelne Schrift berücksichtigen müsse, so braucht man es bei geschichtlichen Schriften nur in letzteren, weil man doch die übrigen historischen Subsidien bei der Hand haben muß, die didaktischen Schriften sind Gelegenheitsschriften, also ist das wenigste 5 Interesse die einzelne Schrift selbst; denn ihre Einzelheiten muß man auffassen um in ihnen die allgemeinen christlichen Ideen zu finden. Man macht gewöhnlich den Fehler die einzelnen Stellen statt in ihrem Zusammenhang im Complex der ganzen christlichen Lehre als Beweisstellen zu betrachten; erst in neuerer Zeit bildete die grammatisch-historische 10 Auslegung den Gegensatz. Bei den einzelnen Schwierigkeiten in der Sprache fehlt uns entweder das Griechische an sich oder wir nehmen nicht genug Rücksicht auf die Vermischung des Griechischen mit der Muttersprache. Es gibt noch keine neutestamentliche Sprachlehre. Plank hat dazu Hoffnung gemacht. Was 15 die Lexica betrifft, so soll man allerdings nicht nach rein griechischen Lexica greifen, allein man thut hierin oft zu viel. Es gibt Speciallexica des
4 wenigste] Kj allernächste (Saunier) Griechisches Volksleben gewesen ist. Hier muß man den SprachGebrauch derjenigen unterscheiden die der Abstammung nach der Sprache angehören und derjenigen die der Abstammung nach ihr fremd sind und welche sie nur angenommen haben. Die NeuTestamentlichen Schriftsteller stehen auf der Seite derjenigen denen die Sprache nicht angeboren war, denn die meisten unter ihnen waren Juden von Geburt (von Lucas und Marcus z. B. ist es ungewiß). Dennoch gehören sie nicht zu denjenigen welche die Sprache kunstmäßig erlernt haben (höchstens Paulus) auf keinen Fall haben sie die Griechischen Schriften aus der Blüthezeit fleißig gehandhabt. In einem solchen Falle ist eine Vermischung beider Sprachen immer natürlich; dies ist in Grenzen eingeschlossen die freilich wandelbar genug sind; immer hat aber die Sprache die Oberhand die sich der Organe bemächtigt hat. So ist im Neuen Testament das Griechische die Hauptsache, der Einfluß der Muttersprache, des Aramäischen nur untergeordnet. Nun haben wir verwandte Schriftsteller bei denen dasselbe eintritt daß sie zu derselben Zeit, Juden von Abstammung, griechisch schrieben: Josephus und Philo. Josephus war aus Palästina und in dieser Hinsicht den NeuTestamentlichen Schriftstellern gleich; Philo war aus Alexandria und in so fern ungleich; beide viel gebildeter, Philo sehr vertraut mit der Griechischen klassischen Litteratur; er gehört deshalb schon mehr der macedonischen Graecität an und das Aramäische übt wenig Einfluß bei ihm aus. Josephus hatte keine so ausführlichen Griechischen Studien gemacht, war aber aus der Priesterfamilie und hat die Bildung der höheren Stände und im Umgang mit der römischen Autorität sich eine reine Graecität aneignen müssen.“ 14 Zu Heinrich Planck (junior) notiert die ADB (Band 26.1888, S. 227–228): er schrieb „ein Antrittsprogramm über die griechische Sprache des Neuen Testaments und beschäftigte sich längere Zeit mit Vorarbeiten für ein neutestamentliches Lexikon und eine Isagoge philologica in N. T., die er in einer Reihe von akademischen Programmen niederlegte“. Der Titel des Programms lautet: ,De vera natura atque indole orationis graecae Novi Testamenti commentatio‘, Göttingen 1810. – Infolge seiner kränklichen Natur und seines verfrühten Todes kam das Lexikon jedenfalls nicht zustande.
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Neuen Testaments, in alten Zeiten Scholiasten, wie Hesych; später schrieb man allgemeine Lexica diese sollten sich auch auf die Septuaginta erstrecken. Schleusner ist zu unwissenschaftlich nur Aggregat. Man abstrahire beim Nachschlagen von der gegebenen Stelle, und verwische sich die Numern im Lexikon so wird man eine klarere Übersicht des Sinnes 5 bekommen. Die Zuziehung der Septuaginta ist besonders wichtig; viele Theologen suchen in den apokryphen Schriften des Neuen Testaments und der Septuaginta analoge Vorstellungen des Christenthums auf, da ist es nöthig zu sehn ob jene Ausdrücke dort wirklich schon dieselbe Bedeutung haben, wie hier. 10 1 Von Hesychius’ Lexikon der griechischen Sprache besaß Schleiermacher zwei Ausgaben: eine von 1785 (SB 898) und eine von 1746 (SB 899). 3 Von Johann Friedrich Schleusners ,Novum lexicon Graeco-Latinum in Novum Testamentum‘ besaß Schleiermacher die 2. Auflage von 1801 (SB 2707) als auch die 4. Auflage von 1819 (SB 1721); ferner den ,Novus thesaurus philologico-criticus, sive Lexicon in LXX et reliquos interpretes Graecos ac scriptores apocryphos Veteris Testamenti‘ (Bd. 1–5, Leipzig 1820–1821; SB 1722). 397,6–398,3 Variante Saunier Bl. 111 f.: „Man macht gewöhnlich den Fehler die einzelnen Stellen statt sie auf ihren unmittelbaren Zusammenhang zu beziehen, gleich auf den Complexus der christlichen Lehre zu beziehen. Dieser Complexus ist aber erst entstanden durch die Würdigung und Zusammenstellung der einzelnen Stellen; wir thun aber Unrecht diesen Complexus bei der Auslegung vorauszusetzen und die einzelne Stelle nach ihrem Ort in dem Complexus d. h. als Beweisstellen zu nehmen. Wir setzen die Wahrheit dieses Complexus voraus die uns erst aus der Auslegung werden soll. Diesen Mißgriff hat man in der neueren Zeit auch mehr und schärfer gefühlt als früher; in den ersten Zeiten des Christenthums und der Reformationszeit dominirte immer das Bestreben den Complexus der Lehre aufzustellen und die dogmatische Behandlung des Neuen Testaments. Die sogenannte Grammatisch-historische Auslegung will eben den Gegensatz dazu bilden; doch ist diese Methode im Ganzen noch so tief gegründet daß wir sie nicht unbeachtet lassen dürfen; unsre erste Kenntniß des Neuen Testaments ist uns meist in dogmatischem Bestreben gekommen. Je mehr wir uns davon losreißen wollen, müssen wir das Individuelle jeder einzelnen Schrift betrachten und uns von jeder isolirt eine Übersicht verschaffen. Bei der Auslegung selbst kann man freilich die übrigen Schriften des Neuen Testaments zu Hülfe nehmen. Haben wir nun das NeuTestamentliche SprachGebiet constituirt und von der einzelnen Schrift uns eine Übersicht verschafft so stellen wir uns auf den Punkt den unser Canon aufgestellt hat. Wir legen aus und stoßen nun auf einen schwierigen Punkt und um die Schwierigkeit zu lösen wenden wir also die angegebenen Regeln an. Der erste Punkt ist hier daß unsre Kenntniß der NeuTestamentlichen Sprache nicht hinreichend sei; wie ist sie nun zu ergänzen. Wir haben hier einen schwereren Stand als beim klassischen Griechisch; denn einmahl kann uns das Griechische an sich fehlen, oder wir können zu kurz kommen in der Berücksichtigung daß das Griechische im Neuen Testament durch die Muttersprache afficirt sei. Unsre Regel wies uns zunächst an Lexica und Sprachlehren; was die letzteren betrifft so giebt es noch keine specielle NeuTestamentliche Sprachlehre die den Namen verdient und das Verhältniß des Einflusses des Aramäischen und des ungebildeten SprachGebrauchs überhaupt auf das Griechische so organisch als möglich darstellt. Der jüngere Plank hat dazu Hoffnung gemacht, will aber seinem Unternehmen eine lexicalische Gestalt geben; die organische ÐVerfolgungÑ ginge dadurch verloren und die Leistung würde der Idee nicht entsprechen. Wir sind also hier an die einzelnen Aussprüche der scharfsinnigsten Commentatoren und Lexicographen des Neuen Testaments gewiesen. Von ersteren werden wir späterhin reden; was die letzteren betrifft so thut man freilich recht nicht zu Lexica des klassischen Griechisch zu greifen, doch thut man oft zu viel und setzt das Klassische oft zu sehr außer Augen. Grammatische Interpreten haben dem entgegen zu arbeiten gesucht und NeuTestamentliche Stellen durch klassische Aussprüche erklärt um die Analogie die so sehr vergessen worden wieder deutlich zu machen. Doch giebt dies zu unendlich vielen Irrungen Anlaß; man geht darauf aus Aehnlichkeiten zu finden und der Leser muß mit solchen Hilfsmitteln sehr behutsam umgehen.“ 5 Gemeint sind offenbar die Einzelbelege, von denen man sich bei der Ermittlung des Bedeutungsspektrums nicht beeinflussen lassen soll.
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Ist unser Sprachgebiet ergänzt, und doch noch die Auslegung schwankend, wie dann? Man soll nicht aus dem Sprachgebiet und nicht aus dem Gedankenzusammenhang des Schreibenden hinausgehn, sondern versteht man das einzelne Wort nicht so muß man auf den Zusammenhang des 5 Satzes, und versteht man es dann nicht auf das Ganze zurückgehn; in diesem Kanon haben wir das ganze Verfahren; aber wir können uns die Regel noch deutlicher machen. Das Einzelne aus dem Ganzen zu verstehn kann doppelter Art entweder aus dem Zusammenhang oder aus Parallelstellen; das Schwierige ist entweder ein Materielles oder ein Formelles, 10 ein Wort oder eine Formel und ihre Verknüpfungsart. 10 Variante und Zusatz Saunier Bl. 113 f.: „Daß die NeuTestamentlichen Lexica die Fehler aller andern theilen, daß sie bei weiten nicht wissenschaftlich genug sind und nicht genug auf die Einheit der Wörter zurückgehen ist eine Sache für sich und man kann mit Nutzen die Lexicographen nicht benutzen wenn man sie selbst nicht immer verbessert. Schleusners Lexicon, das vollständigste das wir besitzen, leidet sehr an dieser unwissenschaftlichen Behandlung; die verschiednen Gebrauchsweisen sind zu sehr als besondre Aggregate neben einander gestellt. Wenn ein Lexicon recht vollständig die Stellen zusammen trägt und man will beim einzelnen Fall rechten Nutzen daraus ziehn, so muß man den einzelnen Fall ganz bei Seite stellen; die Nummer des Lexicons und die verschiedenen Gebrauchsweisen sich deutlich machen. Freilich kann man dies nicht jedesmal thun, thut man es aber doch bisweilen so ist dies ein wesentlicher Gewinn den man für seine Sprachkunde macht. Davon bekommt man auch eine Anschauung der NeuTestamentlichen Sprache selbst wenn man einer solchen Durcharbeitung eines NeuTestamentlichen Wortes eine ähnliche eines klassischen Wortes zur Seite stellt. In diesen Lexica ist die Grammatik zum Theil mit eingeschlossen; die Partikeln im weiteren Sinn behandelt der Lexicograph ex professo. Die eigentlichen Formen, Beugungen und dgl. behandelt er nicht so; die Art wie die hebräischen Formen den Griechischen substituirt werden kommt dabei besonders in Betracht. Die Zuziehung der Septuaginta ist auch richtig in einem andern Betracht. Viele Theologen sind der Meinung was Christus und die Apostel gelehrt seinen alte Vorstellungen die sie erweckt und ans Licht gefördert hätten und suchen besonders aus den apocryphen Büchern des Alten Testaments die Aehnlichkeit mit den Vorstellungen des Christenthums nachzuweisen. Da ist es denn von großer Wichtigkeit bei einem NeuTestamentlichen Worte nachzuforschen ob es in demselben Sinne schon früher da war und deshalb ist die Zuziehung der Septuaginta und der Apocryphen bei den Wortbestimmungen für das Neue Testament unentbehrlich. Ist unsre Sprachkenntniß nun der Regel gemäß ergänzt und unsre Auslegung schwankt noch, wie haben wir dann zu verfahren? Die 2te Regel ist nun daß der Sinn jedes Wortes und jeder Form in einer bestimmten Stelle nur verstanden werden kann aus dem Zusammenhang derjenigen Sprachtheile die mit ihm ein Ganzes ausmachen. Wenn die erste Regel, nicht aus dem Sprachgebiet des Schriftstellers hinauszugehn nur eine negative ist, so ist es die andre auch: wir sollen die Bestimmungsgründe nicht außerhalb der Gedankeneinheit suchen. Die erste Regel hat aber auch ihr positives und wird nur so lebendig für unsern Gebrauch; sie setzt voraus wir könnten uns verirren, dies soll aber nicht sein und wenn ich im Lesen bin, soll mir nur das Sprachgebiet vorschweben in welchem die Rede versirt, das andre soll mir gar nicht einfallen; dies Gebiet und nichts anderes soll mir gegenwärtig sein. So ist die 2te Regel auch etwas positives und ihr wahrer Gehalt beruht auf dem positiven. Kommen wir auf einen andern Gedanken als der Schriftsteller so haben wir seine GedankenCombination verlassen und dazu wären wir nicht gekommen wenn wir immer den nächsten Zusammenhang gefaßt hätten. Daher kommt es daß je besser wir den Redenden kennen, desto besser werden wir ihn verstehen; beim Lesen soll uns die Übersicht des Ganzen dazu bringen immer den Gedankenzusammenhang im Auge zu halten. Für den einzelnen Satz hat man dann immer den nächsten Complex von Gedanken zu beachten; das Wort an sich ist immer unbestimmt, erst der Satz ist organisch und hat seine Bestimmtheit. Jeder Satz, auch der einfachste, ist eine logische Totalität, eine bestimmte Einheit und soll einen bestimmten Gedanken erregen. Aber er thut dies wiederum nur vermöge seines Zusammenhangs mit andern und dadurch wird er erst völlig bestimmt; dasselbe läßt sich wiederum sagen von jedem einzelnen Theil der Rede die wiederum nur ein Einzelnes ist im ganzen Gedankengange des Schriftstellers; die Aufgabe
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F o r m e l l e S c h w i e r i g k e i t e n . Sie sind doppelt, eine Form ist entweder verbindend oder modifizirend, 1. eigentliche Partikeln, 2. Beugungsformeln. Die verbindenden wieder doppelt, theils die Sätze in sich verbindend, theils die Sätze untereinander verbindend, theils mehr innerlich theils mehr äußerlich. Fangen wir an mit der Verbindung der Sätze unter sich mit der äußerlichen verbindenden Form; hier ist 3erlei zu bestimmen: 1. Art und Weise der Verbindung, qualitativ 2. Grad der Verbindung, quantitativ 3. Umfang, den die angelegte Verbindung haben soll. In Hinsicht des 1ten müssen wir einen Gegensatz aufstellen von mechanischen und organischen Verbindungen, durch organische Verbindungen wird aus zweien 1, durch mechanische reihet man äußerlich aneinander, und das Verbundene bleibt 2erlei. Daß dieser Gegensatz existirt, muß in der Sprache nachgewiesen werden. Wird ein Satz dem andern koordinirt, so ist nur eine mechanische Verbindung; ist eine Konstruktion da und wird jeder Satz genetisch aus einer Einheit deduzirt, so hat man eine organische Verbindung. Die Schwierigkeit die beiden zu unterscheiden liegt darin, daß der Gegensatz kein absoluter ist. Die Zeit z. B. ist bloße Nacheinanderstellung, was in der Zeit folgt wird rein mechanisch verbunden, die Form kann aber leicht in eine organische übergehn, wenn 1 aus dem andern abgeleitet wird, und hier sind die Grenzen schwankend. Das Kausalverhältniß manifestirt sich nur in Hinsicht auf die Zeit; oder auf den Raum; dasselbe ist der Fall mit den Adversativpartikeln („sowohl, als auch“; kai im Griechischen ist bald mechanisch bald organisch; a b e r ist bei uns adversativ, und wird auch oft mechanisch gebraucht.) Der Werth der organischen Verbindung oder Trennung ist größer als der der mechanischen; braucht man eine organische Partikel mechanisch so verringert man sie & vice versa. Die Art und Weise der Verbindung geht also über in den Grad der Verbindung und der qualiweist uns also auf das Ganze hin und dann auf das kleinste organische Ganze hin; finde ich im Satz die gesuchte Bestimmtheit so brauche ich nicht weiter zu gehn. Genügt mir aber das Ganze nicht einmal so bleibt die Auslegung unsicher; denn muß ich hinausgehn aus dem Sprachgebrauch der Rede so ist die Auslegung nicht mehr das Geschäft die That des Schriftstellers nachzuconstruiren. Eine sichre Auslegung muß in der Totalität des Zusammenhangs ihre vollkommene Sicherheit finden. Aus dem Gesagten geht hervor daß dieser Kanon das Ganze der Interpretation von ihrer grammatischen Seite aus ist; in ihm haben wir das ganze Verfahren; die Regel selbst ist aber noch einer mannichfaltigen Entwicklung fähig; wir können sie uns noch klar machen und bestimmen. Wir haben hier nur unsre Aufgabe zu theilen; wir sollen eine Schwierigkeit lösen durch die Bestimmung des Ganzen, und können hier eine Erklärung aus dem Zusammenhang oder aus den ParallelStellen [...]; in der ersten wenden wir uns an den nächsten Zusammenhang an die GedankenCombination die der Schwierigkeit vorhergeht; in der 2ten nehmen wir coordinirte Gedanken aus dem Ganzen der Rede zur Erklärung. Das einzelne Schwierige ist entweder materiell oder formell, entweder ein Wort, oder eine Form und eine VerknüpfungsArt. Die Gebrauchsweise der 2 wesentlichen Hilfsmittel kann nicht verstanden werden ohne Beziehung auf die Schwierigkeiten, wir haben also diese zuerst zu betrachten in ihrer Duplicität. Der Bestimmungsgrund für das Einzelne liegt im Ganzen und ist bedingt durch das vorläufige Verstehen des Ganzen. Der Einzelne Satz ist aber nur die Verknüpfung mit dem Ganzen verbunden also durch die Form und die formellen Schwierigkeiten sind also die ersten die wir zu betrachten und durch unsre 2 Hilfsmittel aufzulösen haben.“
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tative Unterschied ist in einen quantitativen verwandelt. Die Regeln für die qualitative Differenz gelten also auch für die quantitative. Die Frage über den Umfang der Verbindung fällt mit diesen beiden in 1 zusammen. Die Frage ob die Sätze subordinirt oder koordinirt sind, organisch oder mechanisch verbunden, kommt auf eins heraus mit der Frage ob z. B. das gaÁr im engern oder weitern Sinn zu nehmen ist; das eine läßt sich nicht entscheiden, ohne das andre zu bestimmen; ist ein Fall entschieden, so sind es auch die andern. Eine jede Partikel hat, obgleich man sie steigern und verringern kann doch ihr Gebiet, aus dem sie nie ganz heraus kann. Diesen Grundsatz hat man in der rhetorischen Praxis immer angenommen; nicht so in der hermeneutischen. Woher entsteht nun die Schwierigkeit bei der Verknüpfung? Oft scheint etwas Causalverbindung was es nicht ist; in alten Sprachen sind oft 2 parallele Sätze, wovon der 1te in die Gedankenreihe gehört, der andre Zusatz ist; dann schreitet die Verbindung so fort, als wenn nur der 1te Satz da wäre, da hat die Partikel nur ihre Beziehung auf den vorhergehenden Satz; ebenso häufig kommt zwischen dem Gedanken der verknüpft werden soll und der eingeleiteten Verbindung ein Satz der nur als einleitend dazwischen geschoben wird, da geht die Partikel erst auf den nächstfolgenden. Diese Beispiele finden wir oft. Daraus entsteht die falsche Meinung, die Bedeutung der Partikeln sei verloren gegangen. – Um ganze Massen anzuknüpfen gibt es kein andres Mittel, als um Reihen zu verknüpfen, deshalb es oft schwierig [ist] den Umfang der Gedankenverbindung zu übersehn. In jeder Gedankenreihe ist eine lebendige Bewegung, in dieser liegt gleichsam ein Heben und Senken des Tons, größrer und geringrer Ton; ehe eine Gedankenreihe in eine andre übergeht, muß der Ton sich in ihr wieder gesenkt haben; die beiden Glieder der Gedankenreihen die unmittelbar aneinander stoßen sind also die schwächsten, die Stärke der Verknüpfung ist aber da grade am größten; habe ich die Stelle der Gedanken nicht erkannt, so werde ich irre an der Verbindung. Unsre Schriftsteller machen es uns bequemer als die Alten, indem sie Abschnitte machen; die antike Manier ist die schönere; die Ursache liegt darin, daß die Alten mehr gewohnt waren die Rede zu hören, wir schreiben mehr fürs Auge. In den neutestamentlichen Briefen hat die Form die größte Freiheit, da ist gar keine Verbindung ÐsichtbarÑ gemacht. – Die bloße Anknüpfung kann durch Verstärkung den Schein der organischen Verbindung erhalten; es bleibt immer 2deutig, ob der Schriftsteller eine organische Verbindung andeuten will oder nicht. Ein allgemeines Bestreben ist hier, daß man nur zu oft das blos aneinan29 ich] ist
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der gereihte organisch verknüpft, und nach dem Argument post hoc ergo propter hoc konstruirt; nur wo eine ausdrückliche Indikation ist, daß blos ÐerfordertÑ werde, haben wir Ursache nichts Organisches anzunehmen. Hieraus folgt, daß in andern Zeiten und in andern Gegenden die Partikeln verschiedne Geltung haben. Wie haben wir unverbundene Sätze anzusehn? In einer Reihe von Gedanken kann eigentlich nur der Anfang unverbunden sein; unverbundene Sätze in der Mitte sind entweder in gewisser Hinsicht Anfänge oder scheinen nur unverbunden zu sein. Bei einem vorher angelegten Schematism kann man unverbunden fortfahren. Der Verknüpfung einzelner Sätze inne zu werden muß man die Übersicht des Ganzen haben, zugleich die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers in Hinsicht der Verbindungen kennen; dieß kann man nur durch fleißiges Sammeln der Analogien. Im Neuen Testament hat die Verbindung der Sätze besondere Schwierigkeiten, entstanden aus der Mischung der beiden Sprachen, im Griechischen großer Reichthum der Partikeln in den semitischen großer Mangel. Die neutestamentlichen Schriftsteller mußten mit dem Reichthum der griechischen Partikeln bekannt sein. Die Armuth der Partikeln in der semitischen Sprache liegt nicht nur in der Armuth der Form, sondern in einer verschiednen Ansicht der Verbindung in der Sprache. Dem Semiten stellt sich als 1 da, was dem Griechen vieles ist; die angeborne Denkweise ist also bei den neutestamentlichen Schriftstellern zu beobachten, sie identifizirten die vielen griechischen Partikeln, weil sie sich nur auf eine ÐeinzigeÑ Verbindung im Semitischen beziehn, und übersetzten so den Griechischen Reichthum in ihre angestammte Armuth. Oft wechseln sie auch die Gebrauchsweise der Partikeln weil sie die Verschiedenheiten nicht aufnehmen, die für ihre Art zu denken nicht existiren. Die Schwierigkeit wird [dadurch] vermehrt, daß in didaktischen Schriften des Neuen Testaments die Form so lose ist, wie die Briefform; die Übergänge sind da so mannigfach und willkürlich daß man sich mit Mühe allgemeine Übersicht verschafft. Philo und Josephus geben dazu keine Analogie, sie sind wissenschaftlicher, es fehlt nicht nur die Analogie nach außen, auch die nach innen ist schwankend, die neutestamentlichen Schriftsteller weichen im Gebrauch der Partikeln selbst voneinander ab, streng genommen kann jeder nur aus sich selbst verstanden werden. Paulus und Johannes sind am zuverlässigsten in der Sprache; bei andern ist es nicht möglich die Aufgabe der Exegese zu lösen, der Grund dazu liegt meist auf dem Gebiet der Verbindungen; man muß sich bei solchen Stellen nicht scheuen das non liquet auszusprechen, sonst macht man sich [der] Willkürlichkeiten schuldig. – 2–3 möglicherweise verhört für „daß bloß gefolgert werde“
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Welches sind die Schwierigkeiten bei den Verbindungen des Satzes in sich? Jeder Satz ist ein Mannigfaltiges, das wieder verbunden werden muß. Der Satz hat nothwendig Subjekt und Prädikat deren Verbindung unmittelbar ist; außerdem ist ein Satz noch mannigfach gegliedert, Vordersatz und Nachsatz. Der einfache Satz hat nur Subjekt und Prädikat und ihre nähere Verbindung. Hier haben wir auf 2 Formen zu sehn 1. die Funktion der Präpositionen 2. des unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnisses sowohl des Hauptworts zum andern als des Zeitworts zum Hauptwort. Die Schwierigkeit findet hier bei der Muttersprache nicht statt, aber bei der fremden Sprache ist eine gewisse Unvollständigkeit des Bewußtseins die nicht an die Kenntniß der Sprache gebunden ist, worin die Schwierigkeiten liegen, die immer unter gewissen Umständen zum Vorschein kommen. Sobald man die Bedeutung der materiellen Haupttheile und den Zusammenhang des Satzes mit den übrigen inne hat, wird man keine Schwierigkeiten finden. Im Neuen Testament sind dieselben Schwierigkeiten wie bei den Verbindungspartikeln; im Hebräischen hat man immer das Suffix b, darnach wird die Einheit der griechischen Präposition bestimmt, und so gebraucht das Neue Testament eÆn und diaÁ durch einander weil beides auf die eine Präposition b bezogen wird. Ebenso schwierig ist das Abhängigkeitsverhältniß wegen Dürftigkeit der hebräischen Grammatik, besondere Schwierigkeiten macht der Genitiv, oft ist der Genitiv explikativ und repräsentirt die mechanische Verbindung, oft deutet er die unmittelbare Abhängigkeit an. Das Sammeln von Analogien hilft auch hier nicht ganz aus. M a t e r i e l l e S c h w i e r i g k e i t e n . Es sind solche wodurch Begriffe selbst schwierig sind. Die Feststellung der Begriffe sollte der Auslegung vorangehn, sonst ist keine allgemeine Übersicht möglich (z. B. beim Römerbrief,); aber die allgemeinen Begriffe entwickeln sich erst aus der Auslegung und dieß ist die Schwierigkeit. Völlige Ausgleichung ist nicht möglich wenn man nicht außerhalb des Briefs einen Stützpunkt nehmen kann. Ist die allgemeine Übersicht gegeben, wie steht es mit den Schwierigkeiten im Einzelnen? Ein Satz ist immer Subjekt und Prädikat; auch beim zusammengesezten Satz ist Vordersatz Subjekt Nachsatz Prädikat; eines wird mir durchs andre klar. Das Subjekt wird durch das Prädikat bestimmt; aber diese Bestimmung ist immer noch unvollkommen, weil unser Vernehmen immer schon so ist, daß es das Subjekt nie allein bestimmt, sondern mit dem Prädikat verbindet. Vollkommen bestimmt sind 37 Zusatz Saunier S. 123v: „Praedicat mit Adverb giebt mehr zur Bestimmung des Subjects als das Verbum allein und Subject mit Adjectiv mehr als das Substantiv allein.“
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nur die sogenannten Phrasen, stehende Redensarten. Den größten Gegensatz der Phrase bildet der Einfall, ein eben erst entstehendes. Die Gegensätze gehn aber ineinander über; was jetzt Phrase ist, kann erst Einfall gewesen sein (z. B. schneidende Kälte, stechende Hitze sie bilden den schwankenden Gegensatz des Alten und Neuen)[.] Um die Unbestimmtheit des Satzes zu heben, muß man auf die andern Theile desselben sehn, dieß sind immer nur nähere Bestimmungen des Subjekts und Prädikats; die natürlichen Bestimmungen des Subjekts sind die Adjektive, die des Prädikats die Adverbien. Alle Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich ansehn als nähere Bestimmungen, Adjektive des oÍnoma, als nähere Bestimmungen und Richtungen; Adverbia des Verbi, rëhma. Die Bestimmung des einen bestimmt das andre (z. B. „der König wird gemißbraucht“ ist schwieriger zu verstehn, als wenn ich sage: der gute König wird gemißbraucht.) Wie ist es in dieser Beziehung im Neuen Testament? Das Christenthum hat ein Sprachbildendes Prinzip, eine neue Art des Seins entsteht, da entstehn auch neue Gedanken und Ausdrücke. Die neu Gewordenen können ganz neue Ausdrücke sein oder neue Gebrauchsweisen schon vorhandener Wörter, letztes das gewöhnlichste im Neuen Testament. piÂstiw, dikaiosynh eÆk pistevw; die neuen Gebrauchsweisen sind aber nicht aus dem einzelnen Satz zu bestimmen, sondern versiren im ganzen Sprachgebiet. Alle Stellen der neuen Gebrauchsweise müssen in Übereinstimmung gebracht werden, die neue Sprachweise muß ein zusammenhängendes Sprachgebiet werden. Dieß ist freilich fließend, es koalesziren Verbindungen und Phrasen z. B. yiëow toy ûeoy ist im Christenthum anders gefaßt als im Judenthum, sonst wäre jenes nichts neues, ebenso basileia tv Ä n oyÆranvn. Die Gewährleistung des richtigen Verstehens der Gebrauchsweisen liegt nicht nur in der Übereinstimmung aller Stellen sondern in der Analogie aller eigenthümlichen Gebrauchsweisen von allen Wörtern die in diesem Ciclus liegen; denn man kann das Eigenthümliche der einzelnen Ausdrücke nicht verstehn ohne das Festhalten der andern; eins ist durch das andre bedingt, wie z. B. piÂstiw und basileia tvn oyÆranvn sonst würde die Sprache der Gedankeneinheit nicht entsprechen und kein Organ sein um das Eigenthümliche des Christenthums zu verkünden. Die vollkommene Auslegung ist also bedingt durch die vollkommene Sprachkunde des Ciclus dieses Eigenthümlichen; letztes 4 Hitze] Hitze)
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403,37–404,1 Variante Saunier S. 123r.: „Vollkommen bestimmt sind eigentlich nur die sogenannten Phrasen, wo eine vollkommene Durchdringung von Praedicat und Subject ist und die Gebrauchsweise so solenn und fest steht (stehende Redensarten, technische).“
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wird durch Auslegung und Verständniß des Einzelnen immer erweitert. Der Schematism im Großen und das Einzelne bedingen sich; immer wird man über die Bestandtheile des einzelnen Satzes hinausgetrieben; aber alles Einzelne wird wieder ein Element, um das zusammenhängende Verständniß vom Eigenthümlichen des Christenthums zu vervollständigen. Das Leitende welches uns Indicationen gibt um Bestimmungen der Gebrauchsweisen im einzelnen Satz zu finden sind die Parallelstellen; wir müssen uns aber diese Begriffe auf wissenschaftliche Weise entstehn lassen. Der Begriff der Parallelstelle ist begrenzt durch das, was nicht mehr in demselben Zusammenhang steht; in wiefern aber eine Stelle der andern substituirt werden kann, ist sie eine Parallelstelle. Wenn ich denken kann daß bei 2 Sätzen die Verfasser dasselbe gesetzt haben, so kann ich eins dem andern substituiren. Wenn an 2 Stellen ein und dasselbe Wort mit mehreren identisch oder mehreren entgegengesetzt wird, dann ist es an beiden Orten dasselbe. Zunächst sind Parallelstellen nur zu suchen in derselben Gattung des Vortrags, wo wir dieselbe Methode des Gleichsetzens und Entgegensetzens Ursache haben vorauszusetzen. Gleiche Zeit und gleiche Schule. Die neutestamentlichen Schriftsteller sind gleichsam als einer Schule gehörig anzusehn, Parallelstellen gelten besonders von feststehenden Subjekten und immer wiederkehrenden Aktionen; nicht aber in Bezug auf den Zusammenhang von Partikeln und fließenden Elementen. – Es kommt bei Unterbrechungen darauf an, ob die Unterbrechung vorsätzlich ist oder nicht, dominirt das eine, so dominirt das Identische; dominirt das andre, die Differenz. Beim Gebrauch der Parallelstellen kommt alles darauf an, wie sich die Hauptgedanken zu den Nebengedanken verhalten. Jemehr ein Satz zusammengesetzt mit dem Hauptsatz, der Struktur des Ganzen, desto verwandter ist er damit & vice versa. Jemehr wir uns von der wesentlichen Gedankenreihe entfernen, desto größer wird die Sicherheit Parallelstellen finden zu können, ich muß nur nachweisen können, daß der Ausdruck denselben Werth hat. Auch bei den unsichern Verbindungspartikeln treten hier die Parallelstellen ein, hiebei kommt es auf die im genus dicendi herrschende Kombinationsweise und Eigenthümlichkeit des Schriftstellers an, die Verbindung ist anders im didaktischen Vortrag; anders in lyrischer Poesie. Der Inhalt mag sein welcher er will, wenn nur der Verfasser der Gedankenglieder derselbe ist, so können für Verknüpfungen Parallelstellen hergenommen werden; z. B. das allgemeine Schema, im didaktischen Vortrag muß wenn ich zwischen 2 Schriften Parallelstellen suchen will der Grad der Strenge oder Laxität derselbe sein; ob aber der Inhalt ethisch oder physisch gilt
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gleich. Ein systematisches Werk aber und ein Brief haben verschiedenes Studium, und also verschiedene Verbindungen und Gebrauchsweisen. Es ist besser, sich im Gebrauch der Hülfsmittel zu beschränken, und sie desto sicherer zur Hand zu nehmen. Man findet in alten Lexicis Stellen beisammen die keineswegs Parallelstellen sein können, man hat zu viel 5 Spielraum genommen für die Ähnlichkeit und die Differenz zu sehr übersehen. Bei den Kommentatoren wird man dasselbe finden, daß man für Gebrauchsweisen und Verbindungsformen Parallelstellen findet, die keine sind. Man sollte immer vor dem Gebrauch dieser Bücher prüfen, auf welche Art sie zu Werke gehn. 10 In Beziehung hierauf treten beim Neuen Testament mancherlei eigenthümliche Schwierigkeiten ein, 1. wird es schwierig, sich den unmittelbaren Zusammenhang so zu erweitern, weil es so schwer ist auf eine vollkommen befriedigende Weise den Hauptgedankengang zu konstruiren wegen der leichten brieflichen Form. Wir haben also beim Neuen 15 Testament weniger Ursache das Gebiet des unmittelbaren Zusammen10 gehn.] am Rand: von hier an wieder vollständig 405,10–406,10 Variante Saunier Bl. 124 f.: „Je mehr eine Parallelstelle in dem Zusammenhang der Rede selbst substituirt werden könnte, um desto zuversichtlicher könnte man sie gebrauchen; je weiter sie sich von dieser Ähnlichkeit entfernt desto vorsichtiger wird man beim Gebrauche sein. An und für sich betrachtet findet dies seine Anwendung vorzüglich auf solche Gegenstände die Hauptpunkte im Gedankengange andeuten. Wenn man sich immer nur recht vergegenwärtigt was Hauptpunkt und was Nebensache ist, die grammatische Interpretation muß hier nothwendig von der psychologischen ergänzt werden. – In welchem Verhältniß stehen nun die Hauptgedanken zu den Nebengedanken? Wir müssen hier auf den Process des Denkens Rücksicht nehmen, wir haben hier immer ein Ineinandersein und Beziehung von Mannigfaltigkeit und Einheit. Eine ganze Rede kann uns als Einheit erscheinen, als Hauptsatz der zerlegt wird; je mehr ein Satz wesentlich ein Glied in der Entwicklung ist um desto mehr ist er verwandt mit dem Ganzen. Dies führt uns auf eine Betrachtung die eigentlich nicht auf das Gebiet der Grammatischen Interpretation gehört, sondern schon anticipirt aus der Geschichtlichen. Bei Anspielungen, einzelnen Beispielen und Erläuterungen liegt die Bestimmung nicht in der Gedankenreihe, sondern in der gleichzeitigen Gedankenreihe. Wenn also von einem Nebengedanken die Rede ist, so erweitert sich sehr der Gebrauch der Parallelen, und es können Schriften zugezogen werden die einen ganz andern GedankenGang zum Gegenstand hat. Dasselbe gilt für Exemplificationen; diese können in andern Schriften als Hauptsache vorkommen. Je mehr wir uns von der wesentlichen Gedankenreihe entfernen, um desto größer wird das Gebiet für die Parallelen. Die größte Bereicherung für diese Regel liegt darin wenn wir dies bis an die Grenze der formellen Schwierigkeiten verfolgen. Hier finden wir viele Schwierigkeiten den Inhalt und Umfang zu bestimmen; hier tritt der Gebrauch von Parallelstellen zu Ergänzungen auch ein und hier kommt es weniger auf den Inhalt als auf die Form der Rede an und die Verbindungsweisen die in jeder Art zu schreiben vorkommen. Die Verknüpfung ist bald mehr subjectiv (z. B. in lyrischer Poesie) bald mehr objectiv (didactische Reden) bald verworren (Conversation wo eins ins andre überspringt). Aus diesen entgegengesetzten Verknüpfungen kann man die Parallelen nicht entlehnen. Was wir für das Materielle Element aufgestellt haben bestätigt sich uns durch das was wir für die Form gefunden, denn was dort für den Inhalt der Schrift gilt im Gebrauch der Parallelen gilt hier für die Form der Schrift. Es kommt also hiebei alles darauf an daß wir uns den einen Fall richtig auf den andern beziehen; dies giebt uns das sicherste Hilfsmittel so wohl für die NeuTestamentliche Interpretation als für die Interpretation des klassischen Alterthums. Man ist mit dem Gebrauche der Parallelstellen gar zu leicht bei der Hand und ohne die nöthige Vorsicht. Lexica und Commentarien berücksichtigen lange nicht genug die Kritik bei der Sammlung der Parallelen.“
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hangs über irgend etwas dazwischen Getretenes hinaus zu erweitern; also müssen wir alles was über den Zusammenhang hinausgeht aus dem Gesichtspunkt der Parallele betrachten. 2. werden wegen der neuen Sprachentwicklung im Neuen Testament Wörter in anderm Sinn gebraucht. Fragen wir: cessirt der alte Ausdruck und ist der neue der ausschließliche? so müssen wir dieß verneinen; ja die Schriftsteller selbst und ihre Zuhörer und Leser waren sich dieser Eigenthümlichkeit nicht einmal auf eine bestimmte Weise bewußt. Dieser Prozeß einer neuen Sprachentwicklung ist ein in einer lebendigen Sprache ununterbrochen fortgehendes, was im gemeinen Leben am meisten vorkommt; weil man Abkürzungen für weitläufigere Ausdrücke erschafft; ohne daß man sich bewußt ist, etwas Neues geschaffen zu haben. Bei den eigenthümlichen Ausdrücken des Neuen Testaments gehn die älteren und neueren Gebrauchsweisen ungeschieden durcheinander; hieraus entsteht eine Schwierigkeit zur Erweiterung des Zusammenhangs. – Was das Auffinden und den Gebrauch der Parallelstellen im eigentlichen Sinn des Worts betrifft (in der engen Bedeutung) so ist sehr zu merken, daß für das Neue Testament ein 2faches Bedürfniß dieser Art entsteht, welches man nicht verwechseln muß. In wie fern wir das Neue Testament als ein Ganzes sehn, berücksichtigen wir seine normale Dignität für die ursprüngliche Darstellung der christlichen Zustände; in dieser Beziehung entsteht die Aufgabe die eigenthümlich christliche Vorstellung als Inhalt des christlichen Denkens in der apostolischen Zeit zusammenzustellen, und Gleiches und Differentes zu sondern; hier ist nicht mehr das reine Geschäft des Auslegens. Das Zusammentragen der Parallelen zum Behuf der eigentlichen Auslegung ist ein anderes als das des Zusammentragens der Stellen zum Behuf der Darstellung der christlichen Vorstellungen. Können wir zum Behuf der unmittelbaren Auslegung solche Stellen gebrauchen, wo derselbe Gedanke durch verschiedene Worte ausgedrückt wird? Das können wir nicht; wenigstens sind solche Parallelen immer untergeordnet; für jenes andre Geschäft hingegen der Zusammenstellung der Gedanken ist kein Unterschied zwischen den Gedanken, wo derselbe anders ausgedrückt ist an einem Ort, als am andern, hier muß ich die kleinen Differenzen vernichten; die Differenz beruht auf dem subjektiven Gedankengang, objektiv ist der Gedanke derselbe. Ein 2ter eigenthümlicher Kanon ist also dieß für das Neue Testament das auf einem andern Gebiet nicht vorkommen kann. Darum ist es überwiegend zweckmäßig [bei] derjenigen Übung im Auslegen des Neuen Testaments die man als die 1te ansehn kann vom Dogmatisiren ganz abzusehn, um sich das Auslegen ganz rein zu halten, und daß man das Zusammenstellen
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der biblischen Vorstellungen besonders behandle, was ein Mittelglied ist zwischen Auslegung des Neuen Testaments und der Dogmatik, und den Namen biblische Dogmatik führt. Aus dieser Sonderung scheint hervorzugehn, daß wir bei der Auslegung an die Ansicht gewiesen sind, welche nur das einzelne Buch als ein Ganzes ansieht; das ist auch hier wirklich der Fall; die normale Dignität existirt für die eigentliche Auslegung nicht; es wird nie ausgelegt das Neue Testament als solches, sondern jedes Buch für sich. Daß Parallelen aus dem Neuen Testament mehr Werth haben als aus andern Büchern liegt bei der unmittelbaren Auslegung nicht in der normalen Dignität sondern nur darin daß jene Bücher dasselbe Sprachgebiet haben. Noch ein Mittelglied bildet die Identität der Schriftsteller. Es ist mit dem Vorigen nicht gesagt, daß man solche Stellen gar nicht brauchen könne; nur muß man erst das Identische und Differente trennen. – In jeder zusammenhängenden Rede herrscht ein bestimmter Typus; durch die Einheit bekommen die Gedanken ein ÐnäheresÑ Verhältniß untereinander und eine bestimmte Verwandtschaft; daraus folgt, daß Stellen aus ein und derselben Rede einander mehr verwandt sind als aus verschiednen, versteht sich caeteris paribus. Es hat auch jeder Mensch seinen eignen Typus und seine eigne Kombinationsweise, caeteris paribus ist eine Parallelstelle aus demselben Schriftsteller mehr werth als eine aus dem andern. Wie begrenzt sich das hier? Könnten wir uns denken, Paulus hätte etwas geschrieben, ehe er Christ gewesen; könnten wir sagen, eine vorchristliche Stelle hätte zur Auslegung des Paulus einen größeren Werth als eine aus Petrus oder Johannes. In Beziehung auf dasjenige was in Paulus durch das Christwerden anders wurde, wird eine Stelle aus dem letztern zweckmäßiger sein; nur da wo es sich am wenigsten um seine Veränderung durch das Christwerden handelt, wäre eine Stelle aus einer vorchristlichen Schrift brauchbarer. Wir müssen also beim eigentlichen Auslegen auch auf das Christliche Rücksicht nehmen; es gibt Punkte wo die Identität der Ansicht die Identität der Person überwiegt. Es gibt im Neuen Testament auch Stellen, wo das Christliche und Nichtchristliche sich ineinander verliert, und auch solche, wo Nichtchristliches angeführt wird, so ist möglich daß ein Wort, welches eine eigenthümliche Bedeutung hat, in derselben Rede das 1 mal christlich und das andre mal nicht in dieser Bedeutung vorkommt, daß es aber in einem andern Schriftsteller immer christlich vorkommt, so ist diese Schrift doch ein besseres Subsidium zur Auslegung, als die Rede selbst, in welcher das Wort vorkommt. Die Rücksicht auf das Gemeinsame der christlichen Vorstellungen greift also allerdings auch in die unmittelbare Auslegung ein; aber diese Verhältnisse sind nicht spezifisch dem Neuen Testament eigen; ähnlich ist
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es bei ÐneuenÑ philosophischen Schulen. Die Eigenthümlichkeiten gehn nicht auf die Idee der Inspiration zurück, sondern auf die neue Ausdrucksweise. – Insofern eine Stelle etwas Unvollständiges enthält, ist sie dunkel; das Dunkle kann nur erklärt werden aus dem klareren Gleichhaltigen; Gesetzt das Geschäft, das jenseits der Interpretation liegt wäre schon vollendet und die gleichartigen neutestamentlichen Vorstellungen zusammengestellt, da müßten auch die dunklen Stellen mit enthalten sein; man könnte also sagen, wir wollten unmittelbar auf diese Zusammenstellung zurückgehn; dadurch würde unsre obige Regel aufgehoben; aber das Falsche dieses Verfahrens liegt in der Voraussetzung, daß dieses spätere dogmatische Geschäft früher vollbracht sei, ehe das exegetische vollbracht ist, das ist aber nicht möglich. Die ganze Aufstellung der analogia fidei beruht auf der Richtigkeit der Auslegung und ist in dem Maße provisorisch, als die Auslegung unentschieden ist; beides kann nur miteinander zu Stande kommen. Wir haben davon eine Analogie vom Beruhen der Auslegung auf der Sprachkenntniß und dem gegenseitigen Verhältniß. Jede Auslegung muß ruhen auf der richtigen Voraussetzung der Analogie des Glaubens; aber jede Auslegung muß auch beitragen, die Analogie des Glaubens selbst auszumitteln und festzustellen. – In der Behandlung der neutestamentlichen Bücher an und für sich hat man nicht darauf zu sehen, wie genau oder ungenau die Analogie des Glaubens über den oder jenen Punkt in den neutestamentlichen Büchern ist. Nun kommt die Dogmatik: in dieser werden die neutestamentlichen Stellen als Beweise angeführt, nebeneinander und durcheinander, und doch ist in der Dogmatik kein Ort, sich darauf einzulassen wie die Stellen zusammenstimmen oder nicht; man hat seit einiger Zeit ein Mittelglied eingeschoben, indem man biblische Dogmatik von kirchlicher getrennt hat; allein dieß geschah mehr aus dogmatischem als hermeneutischem Interesse. Es findet sich bald daß die Begriffe in den biblischen Schriftstellern selbst nicht so gefaßt sind, wie im System. Daraus ist das Bestreben entstanden, die Begriffe wie sie in der Schrift selbst enthalten sind zusammenzustellen nach der Analogie der Anwendung eines Systems mit Vermeidung der späteren Form. Man kann da bald bemerken, daß auch die Begriffe im Neuen Testament nicht überall gleich gefaßt sind, und nirgend ein Begriff in systematischer Beziehung gestaltet ist; deshalb hat man die Aufgabe getheilt, und versucht einen Lehrgegriff des Johannes, und einen des Paulus &c. aufzustellen. Man wollte dadurch die Zusammenstimmung aufsuchen, wie derselbe Schriftsteller die verschiedenen Begriffe faßt. Dieß ist 29 selbst] vielleicht gestrichen
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der Gegenstand einer höheren Kritik aber immer einer philosophirenden oder dogmatischen; das hermeneutische liegt blos in der richtigen Auslegung. Es fehlt ein Entgegenkommen von der hermeneutischen Seite zu diesem Bestreben, eine Zusammenstellung der neutestamentlichen Stellen, wo ein dogmatischer Begriff behandelt wird mit Rücksicht auf die verschiedne Art des Zusammenhangs, auf das verschiedene Vorkommen auf der einen Seite und mit Rücksicht auf die Analogie eines einzelnen Schriftstellers auf der andern Seite. Eine solche komparative Auslegung, die hermeneutische Seite zu einer biblischen Dogmatik fehlt uns noch. Dazu ist kein Ort weder in der Auslegung der einzelnen Bücher, noch in der Dogmatik selbst, noch in der biblischen Dogmatik; sondern ein eigner Ort für sich der aber so gut als noch gar nicht ausgeführt ist. Es ist eine geschichtliche Voraussetzung, die wir machen, daß die religiöse Denkungsart der neutestamentlichen Schriftsteller als 1 gewirkt hat; diese Einheit ist nie eine absolute gewesen, Differenzen in der Vorstellungsweise haben schon unter den 1ten Jüngern Christi stattgefunden, die in dem Individuellen gegründet waren, wo aber auch ein dogmatisches Element verschiedener Ansichten mitspielte. Es muß Übereinstimmung dagewesen sein, sonst hätte auch später keine entstehn können, und es mußte Differenz da sein, sonst wäre auch später keine entstanden. Wenn sich bei der Zusammenstellung der Stellen das Resultat ergibt, daß überall genau dieselbe Ansicht herauskommt, die Begriffe auf dieselbe Weise gebildet sind, so hat man Ursache zu glauben, daß falsch ausgelegt worden ist, weil das eine größere Übereinstimmung ist, als man voraussetzen kann; dasselbe findet umgekehrt statt. Unser Neues Testament ist ja keineswegs ein vollständiges Bild der religiösen Vorstellungsweise jener Zeit in ihrem ganzen Umfang; wir können denken, daß manche Elemente die different waren ihren Sitz anderswo hatten, als wovon im Alten Testament eine Spur ist. Wir sehn daraus, daß die Nothwendigkeit der Differenz die geringere ist, die der Zusammenstimmung die größere; wir können nicht sagen, es wäre möglich daß das Neue Testament uns nur Diferenzen gebe, und die Einheit hätte wo anders her entstehen können, die anderswo ihren Sitz hätte; dieß läßt sich nicht entfernt denken, weit eher könnte man sich denken, daß die Differenzen außerhalb des Neuen Testaments gewesen wären. Indem man die Stellen im Neuen Testament zusammensucht, welche denselben Begriff behandeln, der ein Analogon im dogmatischen System der Kirche hat, so müssen wir voraussetzen, Übereinstimmung und Differenz zu finden; und die Voraussetzung muß 28 waren] folgt ÐinÑ
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sein, daß man beides findet; aber der hermeneutische Irrthum muß größer sein, wenn es an Einheit fehlt, als es sein muß, wenn die Differenzen in Schatten gestellt werden. In neuer Zeit hat es eine Partei gegeben, welche das eine Prinzip übertrieben hat und auf eine absolute Individualität der neutestamentlichen Schriftsteller ausgegangen ist, die Sache hatte ihren Grund, und es ist unrecht, ÐwennÑ man sagt, Zerstörung des Glaubens wäre die Absicht davon gewesen; es ist blos als eine Übertreibung anzusehn; es ist allerdings etwas Zerstörendes darin, aber es ist nicht immer die Absicht. Diese Partei selbst war nur die Reaktion einer früheren Einseitigkeit, wo man stillschweigend übereingekommen war, man dürfte keine Differenz annehmen, weil die neutestamentlichen Schriftsteller vom heiligen Geist getrieben wurden. Diese Einseitigkeit erscheint blos darum weniger als Partei, weil zu einer Zeit sie alleinherrschend war. Von Paulus und Johannes ließen sich Lehrbegriffe aufstellen, von Jacobus Judas und selbst von Petrus nicht so leicht; das letztere liegt nicht nur im Mangel des Materials, sondern weil sie weniger durchgebildet waren, abhängig von dem Moment, nicht so dialektisch durchgebildet wie Paulus, und nicht zu dieser Kraft der innern Anschauung gelangt, wie Johannes. In Paulus und Johannes sind die Begriffe verschieden, obgleich sie in der Hauptsache übereinstimmend sind; die andern haben mehr Schwankendes, weniger Festigkeit im Denken. Es ist immer wieder nur die reine Auslegung des Einzelnen welche die Basis zur komparativen Hermeneutik bildet. – Der schwierigste Fall, der eintreten kann, ist wo es auf die Bestimmung solcher Begriffe wie piÂstiw, dikaiÂvsynh u.s.w. selbst noch ankommt; da dürfen wir keine Parallelen brauchen, wo der Gedanke nicht auf dieselbe Weise, durch dasselbe Wort ausgedrückt ist. Wenn die Frage ist: sind alle Stellen, wo dasselbe Wort vorkommt wirklich geschickt zur Lösung des Zweifels so müssen wir sagen, das Neue Testament schließt den gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht aus, es kommt also auf den Zusammenhang an, in welchem die angeführte Stelle steht. Wir wären z. B. nicht einig, wie der Begriff piÂstiw zu fassen sei, so müssen wir alle Stellen, wo der Begriff vorkommt zu Rathe ziehn; nun ist bekannt die Verschiedenheit der Gebrauchsweise des Worts bei Paulus und Jacobus. Wir setzen den Fall, es würde uns eine Paulinische Stelle gegeben, und wir nehmen Stellen aus Jacobus zu Hülfe; da finden wir ein entgegengesetzes Verhältniß aufgestellt; piÂstiw und eÆrga in Beziehung auf einen 3ten Begriff, hier erscheint der Begriff auf eine entgegengesezte Art bestimmt; es wäre aber schlimm, wenn der eigentlich christliche Begriff nicht darin läge, und jede gemeinschaftliche Erklärung unmöglich wäre. Sehn wir bei Jacobus auf den Zusammenhang, so fällt uns gleich ein, daß er den Glauben auf den Begriff:
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Gott bezieht; und finden hernach, daß er auch den Teufeln Glauben zuschreibt, so sehn wir, hier ist nicht der eigenthümlich christliche Sinn, sondern der gewöhnliche Sprachgebrauch; zur nähern Erklärung des eigenthümlich christlichen Worts kann also hier das Wort nur indirekt gebraucht werden. – Der 2te Fall ist, wenn es nur Bestimmungen sind, die solchen Hauptbegriffen des Christenthums beigefügt werden, Prädikate und Epitheta. Sind wir hier auch beschränkt, daß wir nur die Parallelstellen brauchen können, wo derselbe Begriff mit denselben Worten ausgedrückt ist? Diese Frage ist nicht auf eine allgemeine Art zu [be]antworten. Wir haben Ursache überall verschiedne Modificationen vorauszusetzen; es kommt darauf an ob wir ausmitteln können, in welchem Verhältniß die Epitheta zur Differenz stehn; können wir uns die Differenz auf eine gewisse Weise bestimmen, dann wissen wir auch in welchem Verhältniß die Epitheta dazu stehn; in dem Maß aber als uns die Verschiedenheit dunkel ist und unbestimmt – basileia toyÄ ûeoyÄ und basileia tv Ä n oyÆranvn kann ich eins als Parallelstelle des andern ansehn? –, haben wir nicht das Recht eine Stelle als Parallele zu brauchen, die blos analog ist. Ein 3ter Fall ist, wo das Wort nicht im eigentlichen Gebiet christlicher Vorstellungen liegt. Da kann ich sagen, es wird nichts darauf ankommen, ob ich die Stelle nehme aus demselben Schriftsteller, oder aus einem andern neutestamentlichen, es müßte denn sein, daß das Wort zusammenhinge mit dem Eigenthümlichen des Verfassers, da muß ich hinlängliche Subsidia in ihm selbst finden; ist dieß nicht, so kommt nicht nur nichts darauf an, ob ich die Stelle aus einem andern neutestamentlichen Schriftsteller nehme, sondern auch nichts, ob ich sie aus einem andern hellenistischen Schriftsteller nehme. – Es kommt nun darauf an, sich an die Eigenthümlichkeit jedes Schriftstellers zu halten; wo wir nicht ausreichen, sind wir an das allgemeine Sprachgebiet gewiesen. Es gibt außer dem qualitativen Mißverstehn, wie wir gesehn haben, auch ein quantitatives, wo wir nicht wissen in welchem Ton etwas gesagt sei. Das Gebiet, woraus Erklärungen genommen werden müssen, muß hier wieder anders bestimmt werden. Wenn wir sagen, die Kraft, die ein Wort hat an der einzelnen Stelle kann eine verschiedne sein, so fragt sich in welche Grenzen ist diese Differenz eingeschlossen? Da zeigen sich uns leicht 2 Endpunkte, zwischen denen das Verhältniß sein muß. Das minimum des Werths eines bestimmten Ausdrucks in einem Zusammenhang ist das was man durch den Ausdruck des A b u n d i r e n s zu bezeichnen pflegt, der entgegengesezte Endpunkt ist das was man durch das E m p h a t i s c h e zu 15–17 – basileia ... ansehn? –] ohne Gedankenstriche mit Einfügungszeichen am rechten Rand
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bezeichnen pflegt. Es scheint dunkel zu sein, worin die Kraft eines Wortes liegt? Wenn wir sagen, ein Wort abundire so heißt das: ich bin sonst gewohnt bei dem Wort etwas zu denken, hier bin ich nicht aufgefordert: das und das dabei zu denken, das Wort hat hier keine erregende Kraft, der Schriftsteller hat nicht gewollt, daß man sich etwas Bestimmtes, den Zusammenhang Interpretirendes dabei denken soll. Das Gegentheil ist wenn einem Ausdruck eine solche Kraft beiwohnt, die ihm sonst nicht beiwohnt; das Wort soll an der Stelle außer seinem bestimmten Sinn noch eine Nebenvorstellung erregen, das ist die eigentliche Bedeutung der Emphase. Das kann bis ins Unendliche gehn, es ist nicht zu bestimmen, was für Vorstellungen sich möglicher Weise anreihen und sich entwickeln können. Die Indikation dazu muß mir gegeben sein. Ebenso wenn man durch die Art wie ein Wort gestellt ist an dessen sprichwörtlichen Gebrauch erinnert wird, so ist eine Emphasis. (Analogie aus dem Tonsystem, von mitklingenden Tönen) Woher kommt der Gebrauch des Abundirens, und woher des Emphatischen? Wenn ein Wort abundirt, frage ich warum hat denn der Schriftsteller das Wort gebraucht? Diese Frage zeigt schon an, daß es ein eigentliches Abundiren im strengsten Sinn des Worts nicht gibt; es kommt nirgends ein Wort vor von absolutem Nullwerth; es kann ein Grund gewesen sein, vermöge dessen der Verfasser das Wort gebraucht hat, ohne daß er eine Absicht dabei hatte, etwas zu erregen, da bekomme ich wenigstens eine Vorstellung vom Absichtslosen des Schriftstellers, und lerne deshalb ihn kennen. Es gibt wenig Menschen, die sich nicht gewisser Flickwörter bedienen, dieß geht bei vielen bis zur Karrikatur, ein solches Wort hat keinen bestimmten Sinn, aber es ist begründet in der Gewöhnung des Sprechens. Dieß gehört schon mit zur Kenntniß der Sprache, es werden doch nicht alle Wörter als Flickwörter gebraucht, ich muß wissen, was zu einem solchen herabgewürdigt werden kann oder nicht. Nun ist auch der Gemüthszustand des Redenden verschieden, nicht jeder braucht die Flickwörter überall auf dieselbe Weise; wo ich sie also finde, sind sie ein Indicium von dem Gemüthszustand in welchem der Schreibende sich befand; und dieß ist kein geringer Werth; ich kann weitergehn und sagen, nicht an jeder Stelle der Rede bedient man sich mit gleicher Leichtigkeit dieser Wörter; es charakterisirt also auch die bestimmte Stelle. Wenn ich weiß worin das Abundiren begründet ist, weiß ich auch wo die Entscheidung hernehmen, zu beurtheilen, ob das Wort abundirend ist oder nicht. Wenden wir dieß aufs Neue Testament an. Mit dem eigentlichen Gehalt der christlichen Vorstellung werden die abundirenden Wör26 Sprechens] oder Sprechers
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ter nichts zu schaffen haben; denn das ist der eigentliche Gegenstand, beharrliches Subjekt oder beharrliches Prädikat; das Abundiren im Neuen Testament kann seinen Ort haben auf der einen Seite in einem gewissen subjektiven Zustand der Sprache; je mehr die Sprache kunstmäßig gebraucht wird, um so weniger gibt es ein Abundiren; es kann auf der andern Seite einen objektiven Grund des Abundirens geben, der sich darauf bezieht daß in gewissen Gebieten mit der Zeit gewisse Ausdrücke ihren Werth verlieren; aber die Gewöhnung sie mit einem andern zu verbinden, herrscht noch vor; wo besondrer Werth gelegt wird auf Fülle des Ausdrucks, da werden Kombinationen die schon gehaltlos worden sind deswegen fortgebraucht, weil sie die Fülle des Ausdrucks mehren; da gibt es also einen rhetorischen und musikalischen Grund zum Abundiren, Phraseologien, Verbindungen der Hauptwörter mit Beiwörtern, wo es auf die Abrundung und den Wohlklang gesehn ist; dieß ist von den Flickwörtern unterschieden. Wie ist es mit dem E m p h a t i s c h e n ? Nach der Absicht des Verfassers soll in einem emphatischen Worte mehr liegen als gewöhnlich drin liegt; jede Emphase ist immer eine Abkürzung. Die Zumuthung ist nur richtig, wenn man aus dem Wort ersehn kann, daß es eine Emphase in sich schließe; diese Sache hat in Beziehung auf das Neue Testament besondere Verhältnisse; wir können 2 Maximen unterscheiden. Es hat eine Zeit gegeben, wo man den Grundsatz hatte so viel als möglich im Neuen Testament emphatisch zu nehmen, und eine andre, wo man den Grundsatz hatte, so viel als möglich abundirend zu nehmen. Wie kommt es daß man diese Ausnahmen hat zu Regeln machen wollen? Im Neuen Testament ist weder zum einen, noch zum andern Veranlassung. Es liegt eine gewisse Kunst darin, solche Indizien in die Rede zu legen, daß die Emphasis verstanden werden kann; diese Kunst den neutestamentlichen Schriftstellern beizulegen, haben wir keine Veranlassung. Es ist nur ein einziger Fall, wo eine natürliche Anknüpfung für die Emphase im Neuen Testament liegt. Im Ganzen kann man nicht sagen, daß im Neuen Testament eine große Breviloquenz vorherrschend sei, wir finden eher eine Neigung zum Tautologischen. Die Briefe sind ÐunbestreitlichÑ und auch die Evangelien haben den Charakter mündlicher Erzählung. Inwiefern also Emphase eine Breviloquenz ist, haben wir keine Ursache sie im Neuen Testament zu suchen. Der eigentliche Anknüpfungspunkt ist das Gnomische, welches im Neuen Testament weniger vorkommt; sonst ist kein Ort für die Emphase. Wie kam man dazu die Emphase vorherrschend im Neuen Testament zu suchen? Das kam von der Ansicht der normalen Dignität des Neuen Testaments in Verbindung mit der Inspirationstheorie. Wenn man sich denkt, daß der heilige Geist als Autor
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diktirt, und die Idee damit verband daß er es für alle Zeiten diktirt habe, dann mußte man freilich sagen, weil das Volumen des Neuen Testaments so klein sei, so habe es die Schriftstellerweisheit des heiligen Geistes erfordert, jedes Plätzchen zu benützen; und hinter jedem Unbedeutendscheinenden mußte also eine Emphase oder Allegorie stecken. Die normale Dignität der neutestamentlichen Schriften dürfen wir nicht als Absicht voraussetzen. Die Absicht müssen wir suchen unter den besonderen Verhältnissen, die der Autor vor Augen hatte; da ist wieder die Briefform eine solche, wo es privilegirt ist, daß neben dem Wichtigsten das Unbedeutendste stehn kann; in der Regel schon fängt ein Brief mit dem Unbedeutenden [an] und schließt mit dem unbedeutenden. Dasselbe ist im Neuen Testament mit den historischen Schriften der Fall; weil sie in Analogie mit mündlichen Erzählungen stehn, so ist das Unbedeutende, das oft nur in der Subjektivität des Erzählers den Grund hatte, ganz natürlich. In einem gewissen Sinne ist der Satz allerdings richtig, daß der heilige Geist Autor der heiligen Schrift ist; aber sich die Sache so zu gestalten, daß man sagt, weil er der Autor ist, kann nichts Unbedeutendes drin stehn, so ist das das Verkennen des richtigen Verhältnisses. So wie in den neutestamentlichen Büchern etwas vorkommt was seine Relation zu unbedeutenden Verhältnissen hat, so hört auch die Autorschaft des heiligen Geistes auf. – Bei denen, die alles abundirend ansehn wollen, liegt wieder ein doppeltes zum Grunde. 1. sagt man im Neuen Testament herrscht der hebräische Parallelismus vor, so daß oft Sätze nebeneinander stehn, wo einer abundirt. 2. die neutestamentlichen Schriftsteller sind großentheils als solche ungeübt und ungebildet, der ungebildete Mensch hat eine Tendenz durch Masse zu ersetzen, was der Kraft abgeht, die Ausdrücke zu häufen, um ihnen Nachdruck zu verschaffen. Was den hebräischen Parallelismus betrifft, so kommt er als solcher im Neuen Testament wenig vor; im hebräischen selbst hat er seinen Sitz in der Poesie, und dann im Gnomischen. Einige poetische Stellen im Neuen Testament wie der Lobgesang Mariens &c. haben den Parallelismus, außerdem ist er nur in alttestamentlichen Anklängen, und da wo sich die didaktische der gnomischen Form nähert; das ist aber sehr wenig der Fall. Wo eigentliches Raisonnement ist, da ist kein Parallelismus. Es gibt auch einen Parallelismus der sich in allen Sprachen findet, und der ist auch im Neuen Testament. – Wie viel Werth können wir dem andern Element beilegen von der Unbildung der neutestamentlichen Schriftsteller? Was ihnen auf der einen Seite abging wurde dadurch ersetzt, daß in ihnen eine neue Vorstellungs30–31 Lukas 1, 46–55
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weise sich offenbarte; in dieser Dignität finden wir sie über andre Ungebildete erhaben; je mehr die Rede im Eigenthümlichen der christlichen Vorstellungen versirt, um so weniger Ursache haben wir das Abundirende vorauszusetzen. Man könnte sagen, eben dieß zusammengenommen: das Bestreben neue Gemüthszustände und Vorstellungen zu manifestiren verbunden mit dem Bewußtsein der Ungeschicktheit im Ausdruck, mußte eben dieß hervorbringen, daß sie sich ÐbestrebtenÑ, die Kraft durch Masse zu ersetzen. Wir müssen aber voraussetzen, daß ihren schriftlichen Aufsätzen mündliche Vorträge zum Grund lagen, in diesen hat sich dieß abgesezt; in der Briefform finden sich schon Voraussetzungen des Vorstehenden; in der Rede kann man sich eher in eine Abundanz ergießen. Vergleichen wir z. B. irgend einen paulinischen Brief mit dem 1ten Brief Johannis, so liegt in dem paulinischen Brief immer mehr oder weniger ein bestimmtes anschauliches Bild vom Verhältniß derer an die er schreibt; das ist bei Johannes nicht, deshalb bei ihm mehr Abundanz. Der 1te Brief Johannis steht auf derselben Stufe auf welcher ein mündlicher Unterricht steht: da ist das Gefühl der Unsicherheit und das Bewußtsein des Mangels an Virtuosität. Je mehr in den paulinischen Briefen die Anschaulichkeit der Verhältnisse dominirt, desto weniger Abundirendes finden wir. – Diese Maxime, das Abundirende vorauszusetzen reicht auf der entgegengesetzten Ansicht zu jener welche überall Emphasen finden will; sie verringert die Dignität der heiligen Schrift und das Eigenthümliche des Christenthums: es sind immer die, die alles aus den blos schon bestehenden Verhältnissen erklären wollen, welche eine Neigung haben, alles abundirend zu finden. Wir sind also auch hier in die Mitte versezt; wir brauchen keine Emphase vorauszusetzen, wo sie nicht indizirt ist (z. B. im Gnomischen) und wir werden nicht das Abundirende voraussetzen müssen, außer wo es in dem Sich gehn lassen der Rede seinen Grund hat; dieß läßt die Abundanz auch nur zu, als schon in der Sprache die mechanischen Attraktionen hervorgebracht sind, die die Abundanz ausmachen. Die rhetorische Abundanz werden wir im Neuen Testament nur selten finden; Mit der Emphase ist es schwerer auf eine allgemeine Regel zu kommen; in dieser Hinsicht werden wir es als natürlich ansehn müssen, daß man die Maxime verlassen kann, Emphase zu suchen, ohne in das Extrem zu verfallen, Tautologien vorauszusetzen. Wir müssen uns nur klar machen, welches die Fälle sind, wo man Grund hat, im Worte selbst etwas zu suchen, das höhere Bedeutung hat. Im Gefühl hat das jeder leicht, schwieriger ist die begriffsmäßige Theorie. Wir können nur noch folgende nähere Bestimmung machen: alle Gedanken lassen sich eintheilen in Hauptgedanken und Nebengedanken; dieß ist kein schroffer Ge-
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gensatz; es sind Abstufungen; was wesentlich in die Skizze gehört sind Hauptgedanken, was aus einem andern Gebiet hergenommen ist, sind Nebengedanken. Gehn wir davon aus, daß jede Emphase eine Abkürzung ist, weil das außer dem Wort stehn sollte, was man ins Wort legt, so setzt eine solche ein größeres Verweilen des Lesers beim Ausdruck voraus; wir können uns dieß aus dem Gegensatz des Abundirenden am meisten klar machen. Wo hat man Ursache ein solches Verweilen vorauszusetzen, bei Hauptgedanken oder Nebengedanken? Die Antwort gibt sich von selbst, die Nebengedanken streifen an das Abundirende; es ist ein Fehler des Schriftstellers wenn er uns veranlaßt, bei Nebengedanken zu lang zu verweilen; denn dadurch wird das Verhältniß zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken zerstört. Der Schriftsteller hat ÐnurÑ Recht vorauszusetzen, daß der Leser bei Hauptgedanken verweile. Wollen wir den Kanon vervollständigen, so müssen wir sagen: in einem Nebengedanken wäre durchaus nichts Emphatisches zu erwarten. Das wäre die strengste Form, aber wir werden bald sehn, daß es hier Ausnahmen gibt. Wir haben unter den Begriff der Emphase mitgesetzt die Anspielung. Ein Beispiel ist immer ein Nebengedanke, es kann nur vorkommen in wiefern die Rede eine allgemeine ist, und das Hinzufügen von Beispielen ist eine Nebensache, ÐverschriebeneÑ Verlängerung, oft aber Verkürzung, indessen immer Nebensache. Der Kanon brächte also mit sich daß in einem Beispiel nichts Emphatisches sein soll; das finden wir zu ÐengÑ; wir werden die Emphasis zurückführen auf das Interessante; eine Anspielung werden wir in einem Nebengedanken erlauben, wenn das Verweilen dabei ein minimum ist; aber die gewichtige Emphase, die ein Verweilen erfordert, werden wir den Hauptgedanken zuschreiben. Dieß gibt beim Neuen Testament besondre Schwierigkeiten. Sieht man das Neue Testament überwiegend aus dem dogmatischen Interesse an, so entsteht daraus leicht daß man sich denkt, alles Dogmatische was vorkommt muß Hauptsache sein und da muß man das Emphatische ÐerwartenÑ dürfen; hat man noch dabei die Tendenz die kirchliche Dogmatik buchstäblich aus dem Neuen Testament zu rechtfertigen, so entsteht daraus eine Sucht alles emphatisch anzusehn, da doch im Neuen Testament oft das Dogmatische auch parenthetisch und ÐnurÑ in Beispielen vorkommt. Das 2te worauf es ankommt, den Kanon richtig anzuwenden, ist die richtige Schätzung des Ganzen; ich muß bestimmen, was ich in diesem Ganzen für Haupt- und Nebengedanken zu erklären habe. Hier ist der Exeget übel dran, weil im Neuen Testament so wenig Einheit ist, schon wegen der brieflichen Form des didaktischen Theils. Darum ist es so schwer, dem Einzelnen im voraus den richtigen Werth in Beziehung auf das Ganze beizulegen. Wenn
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wir z. B. den Korintherbrief betrachten, welche Mannigfaltigkeit von Gegenständen und welche Übergänge von Stimmungen? Dieß finden wir in der brieflichen Form natürlich. Da kommt es nicht drauf an, ob etwas Haupt- oder Nebengedanke sei in Beziehung auf das Ganze, sondern nur in Beziehung auf die oder die Region des Briefs, die ein Ganzes für sich ausmacht. Nun ist noch ein besondres Verhältniß, welches eigentlich ganz geschichtlich ist, wo wir die Neigung das Emphatische vorauszusetzen sehn. Das Alte Testament war eigentlich der ganze Inbegriff der hebräischen Literatur und Gelehrsamkeit, wie eine Zeitlang unter den Griechen Homer. Wenn nun in einer späteren Zeit der Reichthum der Kenntnisse und Gedanken sich mehrt und das Bedürfniß entsteht, sich an die Tradition anzuschließen, da entsteht eine Art von Bedürfniß alles was als wahr erkannt wird, aus diesem Schatz von Volkskunde zu ÐbewährenÑ, und eine Neigung alles darin zu finden; darin ist die allegorische Erklärung gegründet; hiemit steht die Emphase in genauer Verbindung, eines geht in das andre über; aus dieser Neigung entsteht die überall mehr vorauszusetzen als was dem ÐreinenÑ Redegebrauch darin liegt. Mit dem Neuen Testament wiederholt sich das; das Heidnische wurde verabscheut, man mußte mit allem aufs Neue Testament zurückgehn, dem man eine Sanktion geben wollte; man kann es so erweitern, daß selbst das Kabbalistische drin beruht. – Es ist also nöthig sich den Kanon zu machen, durchaus keine Emphasis für richtig anzuerkennen, von welcher man sich nicht überzeugen kann, daß der Schriftsteller ein Recht hatte, ihr Verständniß von seinen ursprünglichen Lesern zu erwarten. Wir sind durch die Hauptpunkte, wovon wir ausgingen, nun durchgegangen, freilich auf eine allgemeine Weise; wir haben gesehn, wie dieses Ð Ñ Geschäft ein solches ist was sich nicht theilweise betreiben läßt; das 1te Verhältniß war das zwischen dem vorläufigen Verstehn des Ganzen und dem genauen Verstehn des Einzelnen, eins setzt das andre voraus. Ebenso war es mit dem Gegensatz der formellen und materiellen Elemente, wenn 1 gesucht wird, setzt es voraus, daß die andern gefunden sein, wieder ein gegenseitiges Verhältniß, wo nur in gewissen Fällen das 1 Element über das andre das Übergewicht hat. Dasselbe ist der Fall mit 3. mit der ÐRichÑtigkeit des qualitativen und quantitativen Verständnisses. Ich kann oft den Inhalt eines Satzes nicht finden, wenn ich nicht eine Vorstellung vom Nachdruck habe & vice versa und das findet sich 4. vom Verhältniß zwischen der grammatischen Interpretation und der andern Seite zu der wir hernach übergehen werden. Dieses dient zugleich zur Entschuldigung, daß wir uns bisher zu keinen oder nur wenigen Beispielen gewendet haben. Jedes wirkliche Beispiel in wie fern es eine ein-
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zelne Regel erläutern soll ist aber nur ein problematisches; es gibt keine Exemplifikation für den neutestamentlichen Kanon, als in der Auslegung des Ganzen selbst. Ein andres ist es, wenn wir die hermeneutischen Regeln auf eine andre Stufe herunterführen, und als Observationen ansehn; 5 da versirt man aber auf einem Gebiet, wo es nicht auf Prinzipien ankommt; wir aber wollten uns mit den Prinzipien beschäftigen. (hier wurden mehrere Beispiele aus Keil gegeben und geprüft.) ( D a s B i l d l i c h e im Neuen Testament hat ein eignes Verhältniß; bei neuen Vorstellungen erzeugen sich auch neue Bilder; diese sind uns nicht 10 erst durch die Auslegung gegeben; es ist a priori einzusehen, daß es im Neuen Testament einen Complex von Bildern gibt, der mit den eigenthümlichen christlichen Vorstellungen zusammenhängt. Wie kommen wir dahin, Bilder zu verstehn? Es können uns hier nicht Parallelstellen leiten; das, woraus die Bilder erklärt werden müssen, ist der eigentliche Aus15 druck der christlichen Vorstellungen, das ist aber höchstens eine Realparallele.)
Zweiter Theil. Psychologische Interpretation. Man kann sie mit eben dem Recht die t e c h n i s c h e nennen. Fragen wir was ist eine Rede oder Schrift als Handlung des Urhebers angesehn, so 20 müssen wir sagen, jede Handlung ist eine besonnene Handlung; der 7 Karl August Gottlieb Keil: Lehrbuch der Hermeneutik des neuen Testamentes nach Grundsätzen der grammatisch-historischen Interpretation. Leipzig 1810 (SB 1053); tatsächlich gibt Keil in seinen Anmerkungen zahlreiche selbst gesammelte oder aus der Literatur übernommene Beispiele. 17 Für den 2. Teil gibt Saunier auf Bl. 130 nur eine knappe Zusammenfassung: „Psychologischer oder technischer Theil. Diese Aufgabe geht wie die grammaticalische von einer allgemeinen Übersicht aus; in dieser müssen sich die Zweckbegriffe des Verfassers und die Grundzüge der Composition darthun. Wenn wir die allgemeine Übersicht einer Schrift aufnehmen so giebt sich uns hinsichtlich der Sprache die Region in welche die Schrift fällt, und dies zieht die Grenze, innerhalb der die Schrift liegt. Ferner giebt uns die allgemeine Übersicht eine Vorstellung vom Ton in dem das Ganze gehalten ist; selbst die Kenntniß des Publicums für welches der Verfasser schreibt fällt in die allgemeine Übersicht, obgleich es auf der andern Seite mit in den Zweckbegriff des Verfassers gehört. Und hier trennen sich allmählich beide Seiten, die grammaticalische und psychologische. Für die psychologische Aufgabe ist das die Hauptsache was in der allgemeinen Übersicht nur als Nebensache für mögliche Fälle angemerkt wird. Das einzelne was ich in der psychologischen Interpretation suche, recht genau zu wissen wie sich die Aufmerksamkeit des Verfassers auf den Gegenstand bezogen hat und alle Nebengedanken entfernt worden sind, kann ich nie durch allgemeine Vorkenntniß des Ganzen kennen, durch die Grundzüge der Composition. Beide Aufgaben gehen in einander über und müssen sich gegenseitig ergänzen; es würden immer psychologische Räthsel bleiben wenn man nicht wüßte wie der Schriftsteller zur Sprache sich verhält. Er ist Product der Sprache und zugleich wieder producirend in ihr und seine Gedanken hängen nothwendig ab von der Art wie er seine Sprache inne hat. In der Wirklichkeit gehen beide Seiten der Aufgabe mit einander, in der Theorie trennen wir sie, setzen dann aber bei jedem einzelnen Punkte die andre Seite als vollendet. Beide sind verbunden und bedingt. Das Ende beider ist auch wieder identisch; das Ende der psychologischen Interpretation ist der vollständige Anfang wiederum, nur von einer andern Seite. Die Grundzüge
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Schrift wird nichts anvertraut, was nicht überlegt ist. Einer besonnenen Handlung liegt ein Zweckbegriff zum Grunde, 1. soll ein Zweck erreicht werden 2. ist eine Art und Weise wie er erreicht werden soll. Denken wir uns eine Rede geht darauf aus andre zu einer bestimmten Handlung zu bewegen (bei der gerichtlichen und berathschlagenden Beredsamkeit) so leuchtet uns ein, der Redner will seine Meinung zu der der andern machen, und will die andern zu seiner Handlung bewegen. Wenn eine Schrift als didaktisches Werk auftritt, denken wir uns auch einen Zweck; er will seine Vorstellungsweise über einen Gegenstand so darstellen, daß die andern genöthigt werden, sich ihn anzueignen. Aber z. B. bei der dramatischen Poesie oder dergleichen sagen wir, wenn der Verfasser einen Zweck erreichen will, so ist das untergeordnet, die Kunst soll nicht Mittel sein für ein fremdes Interesse. Sagt man die Kunst will nur reine Darstellung sein, so schließt das die Anwendung der aufgestellten Form nicht aus; wir dürfen uns nur die Geschichte des Kunstwerks denken, den Künstler im Augenblick, wo er das Werk konzipirt, und fragen wie verhält sich die Handlung des Dichtens zum Akt des Entschlusses? so müssen wir sagen, es verhält sich wie Ausführung zum Entwurf. Der Künstler kann das rein in sich selbst, für sich selbst ausarbeiten; daran haben wir nichts auszulegen; sowie er sich aber hinsetzt und niederschreibt, so bildet er es für andre aus. Dieses für andre ist eine Handlung im engeren Sinn des Worts, und wir haben gleich die Neigung einen Zweck unterzulegen. Man kann freilich sagen, es ist nur Fortsetzung des Vorigen, wenn der Dichter niederschreibt, was er früher entworfen sein Urbild aber erhält erst durch die Worte sein Bestehn; so wie das Bild beim Maler erst dasteht, nachdem er es wirklich gemalt hat. so läßt sich auch die Ausführung eines Kunstwerks ohne Rücksicht auf ein Publikum nur für sich selbst ansehn; aber auch das vollkommene Fertigmachen hat doch den Zweck, diese innere Aktion zum Stehen zu bringen. Es gibt sich immer so, daß wir vor der Ausführung Gedanken haben, die wir wieder fahren lassen müssen, und daß das Ding wenn es zum Stehen kommt etwas andres wird, als wo es noch fließend war, da konnte manches vollkommner erscheinen, als es sich zeigt bei der Ausführung; darum läßt der weisere Künstler den alten Entwurf fahren; es kommt also bei der Darstellung des ÐInnerenÑ etwas hinzu. Die Formel eines Zweckbegriffs läßt sich zwar nicht anwenden auf die Form des Prozesses solang er ein innerlicher der Composition in Beziehung auf den Zweckbegriff ist nur dann vollkommen klar und ich habe die Schrift als Handlung des Verfassers ganz verstanden: dies ist aber mit dem Verständniß des Verhältnisses der Schrift zur Sprache real dasselbe. Fassen wir Anfang und Ende zusammen in eine Formel so sagen wir: der Gegenstand, eins mit dem vom Verfasser beabsichtigten Erfolg, ist das eigentlich thätige und die eigenthümliche Natur des Verfassers ist das durch den Zweckbegriff bewegte.“
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bleibt, kommt aber zur Erscheinung, sobald er ein äußerlicher wird. In diesem Fall kann man sagen, jedes Kunstwerk hat eine Methode wie der Erfolg erreicht werden soll in sich; die Methode ist bestimmt durch die Gattung, der das Werk angehört und durch die Eigenthümlichkeit des Verfassers. Sagen wir also: wir wollen Rede und Schrift von der Seite ansehn, wie sie eine Handlung ihres Urhebers ist, bei welcher er sich eines bestimmten Zwecks bewußt war, worauf haben wir zu sehn, was ist der Gegenstand dieses von Seiten der Auslegung? Weil hier 2 Punkte gegeben sind, so ist auch ein Verhältniß dieser beiden Punkte gegeben, und das macht daß diese Seite mehr Verwandtschaft hat mit der Kunst, als die andre. Indem wir etwas als Kunstwerk betrachten, üben wir wesentlich Kritik dabei aus. Diese Seite der Interpretation ist also ihrer Natur nach der Kritik zugewendet. Die grammatische ist dieß auch, aber theils ist es eine andre Art der Kritik theils ein andres Verhältniß. Wir haben gesagt, jede Rede und Schrift ist einerseits Produkt der Sprache, anderseits soll jede beitragen, die Sprache zu bilden; das minimum ist daß sie sich als Aeußerung der Sprache erhält und fortpflanzt; solang die Sprache ein lebendes ist, solang ist sie auch der Bildung fähig und der Läuterung, und etwas davon sollte in jeder Rede und Schrift sein; dieß geschieht auf die verschiedenste Weise; (Erfindungen neuer Wörter, neue Zusammenstellungen &c.) Insofern die Rede ein Produkt der Sprache ist, so hat sie auch nur ihren Ort in einem bestimmten Sprachgebiet. Indem wir dieß beides ausmitteln, üben wir Kritik. Wir können nie ein Werk vollständig grammatisch ausgelegt haben, ohne ein Urtheil gefällt zu haben, in wie fern es sprachbildend ist, und in wiefern ein höheres oder niederes Produkt der Sprache sei. Diese Kritik aber ist anders, als die psychologische. Letztere hat es nicht mit der Sprache sondern mit dem Künstlertalent zu thun; das ist auch nur relativ entgegengesetzt; die Sprache ist das Material des Künstlers, und die Sprache läßt sich vom Künstler nicht trennen. Es wird hier die Kunst der Composition betrachtet, seine Methode im Großen und Einzelnen zur Erreichung des Zweckes den er sich vorgesetzt hat. Diese Kritik hat es damit zu thun, daß wir jedes Einzelne als ein Element der Methode des Verfassers betrachten. Wir können die sprachliche Vollkommenheit nicht abschätzen, ehe wir das ganze Werk vor uns haben: aber auf dieser Seite der Interpretation können wir keinen Schritt thun, ohne daß wir jedes Einzelne auf die dem Ganzen zum Grund liegende Idee beziehn: Wir sind also hier in jedem Augenblick mit dieser Kritik beschäftigt; deshalb das Kritische im höchsten Sinn dieser Seite der Interpretation zugewendet ist. Wir sind ebenfalls anfänglich davon ausgegangen, daß beide Seiten des Geschäfts sich nicht trennen lassen; daraus
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folgt, daß auch beide Seiten einen gemeinschaftlichen Anfang haben müssen; denn sie müssen auch im 1ten Moment zusammenhängen. Der erste Anfang der grammatischen Interpretation war die allgemeine Übersicht über das Ganze; ebenso ist diese allgemeine Übersicht der wesentliche Anfang für die psychologische Interpretation. Beides zusammengenommen, die Einheit des Werkes und die HauptZüge der Methode können wir auf keinem andern Weg erlangen als auf dem einer allgemeinen Übersicht; aber zum Behuf der psychologischen Interpretation wird bei dieser allgemeinen Übersicht auf etwas andres gesehn, als bei der grammatischen; wiewohl auch dieser Gegensatz nur relativ. Wir sagten, wir müssen uns die allgemeine Übersicht aus einem doppelten Grund machen, 1) die Sprachregion zu kennen 2) die Hauptzüge des Zusammenhangs uns fest zu machen. Dieses letztere ist der gemeinsame Grund für psychologische und grammatische Interpretation, für die psychologische Seite hat es den Zweck, daß wir dadurch im Großen, in der Skitze die Methode erkennen, nach welcher und durch welche der Verfasser seinen Zweck erreichen will; denn wer die Gedanken welche Theil des Ganzen sind, im Wesentlichen anders stellt erreicht auch seinen Zweck auf einem ganz andern Weg (z. B. analytische oder synthetische Methode) und also müssen wir erst eine allgemeine Übersicht haben von der Methode des Verfassers im Großen, und dann können wir erst die Handlung der Komposition nachkonstruiren, und diese Nachkonstruktion ist der Hauptzweck dieser Seite der Interpretation. Wir haben schon gesehn wie beides ineinander übergeht. Ich kann aus der Sprache schon den Zweck des Autors in Hinsicht auf sein Publikum erkennen; z. B. wenn er in der Volkssprache oder in der gebildeteren Sprache redet. Nun aber gibt es nähere Zweckbestimmungen, die sich aufs Grammatische gar nicht beziehn. Für die psychologische Interpretation ist die vorläufige Übersicht die Hauptsache, die dort nur untergeordnet ist. Von der ganzen Handlung des Verfassers bekomme ich nur einen Begriff, indem ich mir die Anordnung des Ganzen vergegenwärtige. Das Einzelne, welches ich in der psychologischen Interpretation suche, kann ich nur aus dem Ganzen verstehn. Es ist also ein andres, worauf wir bei der allgemeinen Übersicht in Beziehung auf die psychologische Interpretation achten als in Beziehung auf die grammatische; aber so wenig hier, als in dem andern, sind die beiden Geschäfte getrennt. In Beziehung auf die Sprache ist jede einerseits Produkt der Sprache, auf der andern Seite in der Sprache produzirend. Das letztere gehört wesentlich zu seiner Thätigkeit und ich habe die Thätigkeit nicht verstanden, wenn ich nicht verstehe, wie er zu der und der Phrasis, zu der und der Art des Ausdrucks
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gelangt ist; es gibt also im aller Einzelnsten Punkte, wo beide Seiten der Interpretation identisch werden. Aber auch in wiefern der Schriftsteller Produkt der Sprache ist, kann ich seine Handlungsweise nicht verstehn ohne dieses; denn dieß sind die Schranken seiner Composition. Ausdruck und Gedanke sind eins, keines ohne das andre gesetzt. Die Art und der Grad in welchen die Sprache in einzelnen Menschen lebt, ist bestimmend für die Sukzession und Produktion der Gedanken. Es würde für die psychologische Interpretation unauflösliche Räthsel geben, wenn man nicht vorher klar wäre, wie der Verfasser zur Sprache steht. (z. B. ein Wortspiel kann unmöglich etwas Vorherbedachtes sein; es kommt nur ÐwennÑ sich der Ausdruck mit dem Gedanken zugleich erzeugt; jedes Wortspiel ist entweder Glied der Fortschreitung oder allein für sich bestehend, Hemmung der Fortschreitung; sehe ich von der Sprache ab und betrachte den Gedanken für sich so ist er jedesmal ein Räthsel; aber ich verstehe nicht die Art und Weise seines Vorkommens, wie der Schriftsteller es braucht und der andre nicht; wenn ich nicht weiß wie ein Schriftsteller in seinem Verhältniß zur Sprache steht. Ein Wortspiel kann nicht vorkommen, wo nicht die Sprache als Klang eine Gewalt ausübt. Finde ich 2 Philosophen, wo in einem das Wortspiel prädominirt, im andern ein Mißverhältniß von der Konstruktion des Ausdrucks zum Gedanken oder zum Klang, so werde ich sagen, in dem einen existirt die Sprache als Klang nicht, sie ist bloßes Zeichensystem; vom andern werde ich sagen, er ist vom Klang der Sprache bewegt. cf Plato und Aristoteles. Betrachte ich aber den einen Schriftsteller allein, so werde ich das nicht verstehn. Bei Aristoteles finden wir gänzliche Sorglosigkeit in Beziehung auf den Periodenbau in Beziehung auf die Sprache und in Beziehung auf die einzelnen Wörter als Klang, in Plato finden wir hierin große Sorge. Dieses beides werde ich bei fortgesetzter Vergleichung als Charakteristisches finden, aber jeden für sich betrachtet, so werde ich sagen, es stimmt bei Aristoteles der Gedanke mit dem klanglosen Ausdruck zusammen und bei Plato auch umgekehrt. Wäre Plato wie Aristoteles so müßte man vorkommende Wortspiele aus einem ganz andern Gesichtspunkt betrachten; verstehe ich die Sprache des Plato nicht, so werde ich also auch ein einzelnes Wortspiel, wo es in den Gedankengang eingeht, nicht richtig erklären können.) – Wie wir gesehn haben, daß die psychologische Interpretation denselben Anfang hat, wie steht es um das Ende beider? Auch dieses ist identisch und wesentlich das eine mit dem andern verbunden. Das Ende der psychologischen Interpretation ist der vollständig entwickelte Anfang; von Seiten der grammatischen Interpretation habe ich, wenn ich alles vollständig aufgelöst habe, auch das Verhältniß der Schrift zur Sprache vollständig
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verstanden. Bin ich mit der psychologischen Seite zu Ende, so muß ich sagen, was mir die allgemeine Übersicht nur in einer Skizze gegeben hat, ist mir nun im Einzelnen klar, und ich habe die Schrift als Handlung des Verfassers vollkommen verstanden; ich verstehe, wie er bei seiner Natur nicht anders konnte, als so und so sich ausdrücken und so und so ordnen. Aber dieß ist wieder mit dem Verstehen des Verhältnisses der Schrift zur Sprache real angesehn dasselbe und eins muß in dem andern aufgehn. Fassen wir Anfang und Ende um uns daraus das Gesetz dieser ganzen Seite der Interpretation [deutlich zu machen], in eine Formel zusammen so wird sie so lauten: der Gegenstand, (der ist aber hier eins mit dem vom Verfasser beabsichtigten Erfolg.) sei reine Darstellung oder Wirkung als solche, so ist es Darstellung des Gegenstands und Wirkung in Beziehung auf den Gegenstand; also der Zweckbegriff in Beziehung auf den Erfolg ist das eigentlich Thätige, und die eigenthümliche Natur des Verfassers; sein ganzer Charakter ist das durch diesen Zweckbegriff bewegte; – Alles Einzelne ist etwas, was in seinem Ich in einem bestimmten Grade, und einer bestimmten Ordnung geschieht; habe ich das Ganze verstanden, so habe ich verstanden, wie dieser Zweckbegriff in Bewegung gesetzt worden ist. Der Zweckbegriff erscheint hier bewegend, das Produkt als Bewegung. Habe ich alles Einzelne durchschaut, kann mir nichts weiter zu verstehn übrig sein; aber dazu gehört vieles, was wir nur fassen, wenn wir die Formel dem tiefsten Sinn nach fassen. Dieß bezieht sich auch auf das Negative jeder Composition. Der Zweckbegriff als das bewegende Prinzip angesehen bringt nicht nur Bewegung hervor, sondern es sind auch im Akt der Composition andre Bewegungen gehemmt, und ich verstehe den Zustand des Verfassers nur, wenn ich nicht nur die hervorgebrachten sondern auch die gehemmten Bewegungen verstehe. Diese Seite ist das Schwierigste des Problems; aber wir werden ein Werk nicht vollkommen verstehn ohne diese mitverstanden zu haben. Hier erscheint uns die Aufgabe der psychologischen Interpretation allerdings als eine unendliche. Es muß vieles in uns aufgenommen sein, wovon im Werk keine Spur ist. Die Gedanken, welche während des Schreibens dem Schreibenden durch die Seele gehn, ohne in den Umfang seiner Rede hineinzugehören, lassen mitunter eine Spur zurück, die ein aufmerksames Auge finden kann; am stärksten ist die Spur, wenn der Verfasser sie wissentlich gibt, das ist das Wesen der Anspielung; aber noch leisere Spuren sind da, die nicht in seinem Willen liegen; man kann sich selten Rechenschaft davon geben; wo keine Indikation vom Verfasser gegeben wird, ist schwer zu sagen: „das und das hat dem Verfasser vorgeschwebt.“ Dieser Fall ist nicht selten im Neuen Testament. Es gibt gewollte Anspielungen aufs Alte Te-
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stament; aber oft ist der Ausdruck durchs Alte Testament affizirt, ohne daß der Verfasser es wollte, oft verlieren sie sich beinahe ganz, und gehen blos ins Negative über. Das Negative ist aber ein unendliches, und so ist in den meisten Fällen auch die Unendlichkeit der Aufgabe gesetzt, die nur als Approximation gelöst werden kann. Das Ganze für die psychologische Interpretation ist nicht die Schrift, die vor uns liegt, sondern die Seele des Verfassers in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit; wenn wir jedes Einzelne in seinem Sukzessionszusammenhang betrachten; aber dann dieß wieder ÐüberschauenÑ und eine einzelne Idee wieder betrachten in ihrem Orte, den sie in der Seele des Verfassers einnimmt, so kann nur so die Aufgabe genügend gelöst werden. Dieß sieht man am besten ein, wenn man zusieht, wie weit es darin jeder mit sich selbst bringen kann. Ein großer Theil unsrer Gedankenerzeugung ist etwas Unwillkürliches und also auch in gewissem Sinn unbewußtes, das gilt vorzüglich von solchen Gedanken, die eine Reihe anfangen; von allen unsern Zweckbegriffen können wir selten auf die Spur kommen, wie sie entstanden sind; denken wir uns, jeder Rede liegt ein solcher Gedanke zum Grunde so ist es schwierig, zu bestimmen wie die Schrift entstanden ist. Das quantitative Interesse das der Verfasser an der Schrift gehabt hat, ist schwer zu verstehn, wenn man nicht weiß, wie der Schriftsteller auf den Gedanken gekommen; Wenn also dieses schon nicht erreichbar ist, so ist auch die Lösung der Aufgabe, welche davon abhängt, nie ganz erreichbar. Der 1te Zweckbegriff enthält eigentlich die ganze Aufgabe im Keim in sich; das ist aber nur in einem beschränkten Sinn wahr; die Ausführung entspricht nie ganz der 1ten Idee; wenn die Grundidee etwas Tüchtiges ist, so enthält sie die ganze Ausführung dem Wesentlichen nach in sich aber es werden doch Alterationen vorkommen, manche Verhältnisse treten erst recht bestimmt ins Bewußtsein in der Wirklichkeit. Ausserdem ist in jedem Kunstwerk etwas was wir als Beiwerk vom Hauptgehalt unterscheiden; es gibt zerstreute Elemente, die im Zweckbegriff nicht als Keim gelegen haben, sondern in der Erfindung entstanden sind. Die Erfindung ist affizirt durch den jedesmaligen Gemüthszustand; dieses kann vom Zweckbegriff aus nicht erkannt werden. Was in der Schrift Beiwerk ist liegt im Gebiet der Einfälle welche einen unmittelbaren Grund haben. Wir sollen nun wissen, wie der Verfasser dazu gekommen ist diesen oder jenen Gedanken anzubringen. Wenn der Verfasser selbst, in welchem die Erklärungsgründe liegen, nicht im Stand ist, eine wahre Rechenschaft zu geben, wie viel weniger der Ausleger? Es gibt freilich auf diesem Gebiet auch ein besseres Verstehn als ein Autor sich versteht, wenn in diesem die Reflektion zurücktritt, (das mainoÂmenon der Alten.) Dieß ist aber schwie-
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riger auf dem Gebiet der psychologischen Interpretation. Wir müssen die Aufgabe wenn wir sie lösen wollen unter eine so viel als möglich einfache Formel fassen. Das eigentliche Ziel der psychologischen Interpretation läßt sich am besten zusammenfassen, wenn man sagt, es ist d a s v o l l k o m m e n e V e r s t e h e n d e s S t y l s . Was in der Interpretation Kunst ist, das ist die Sache der Interpretation; was Geschäft oder Konversation ist, gehört nicht der Interpretation an. Wir müssen überall eine gewisse Besonnenheit im Bilden der Rede voraussetzen, die Gegenwart des Zweckbegriffs in der Seele, und das Zurückgehen auf denselben in allem Einzelnen. Jede Schrift hat im Ganzen eine Grundidee, deren Darstellung sie ist; jeder wahrhaft einzeln organisirte Theil hat wieder seine eigenthümliche Kunstidee oder Zweckbegriff. Die Zweckbegriffe des Einzelnen müssen immer auf den des Ganzen bezogen sein. Das Einzelne nun ist ein Aggregat von Gedanken, im dem Maß als es unverstanden vor uns liegt. Fragen wir nun, wie wird der Ausdruk S t y l gewöhnlich gebraucht? so hat dieß freilich die Beziehung auf die Sprache und hiemit haben wir es hier nicht zu thun. Es bezieht sich freilich auf die Sprache aber nicht auf das Grammatische. Es kann einer viele Sprachfehler machen, und sein Styl ist vortrefflich, wenn man die Sprachfehler korrigirt & vice versa. Der Styl hängt freilich mit dem Musikalischen der Sprache zusammen aber dieses ist nicht das Bestimmende; der Grund dazu liegt in der Denkweise; z. B. das Wechseln der langen und kurzen Sätze hat es auch mit dem Musikalischen zu thun; aber ihr Gebrauch beruht auf einem andern Verhältniß der Gedanken, der koordinirten und subordinirten. Es gibt etwas was die Alten kyriolejiÂa nennen, wenn die Rede sich im eigentlichen Ausdruck bewegt ohne Bild; analog dem ist wenn die Rede sich so bewegt, daß nur die Hauptgedanken vorkommen und alles Beiwerk in hohem Grad ausgeschlossen ist. Wir können uns auf der andern Seite ein maximum von Nebengedanken uns vorstellen. Wir nennen das erstere den strengen, das letztere den ungebundenen Styl; dieß ist auch etwas in der Sprache; aber das ist nicht durch die Sprache bedingt, es ist wieder der Charakter des Verfassers und seine Art zu denken und zu kombiniren. Wir müssen unterscheiden Styl und Manier, das 1te bezeichnet in einem Sinn etwas Gutes, das andre etwas Schlechtes; in einem andern Sinn reden wir von gutem und schlechtem Styl, und begreifen das Manirirte unter dem letztern. Wenn wir sagen, der Styl ist das, wodurch sich die Eigenthümlichkeit des Verfassers zu erkennen gibt, so verschwindet uns der Gegensatz zwischen gutem und schlechtem Styl. Nehmen wir an das Wort wird in verschiedenem Sinn gebraucht: 1) in Beziehung auf die
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Sprache und 2) ist es nur der Wiederschein der Eigenthümlichkeit des Künstlers und fragen uns was wir im Gegensatz gegen Styl Manier nennen und manirirt, so müssen wir sagen, es gibt nichts Einzelnes von dem was man Manirirt nennt, was nicht an und für sich untadelhaft wäre, wenn es nur am rechten Ort vorkommt; ist das nun etwas das in unser Gebiet gehört, oder das sich auf die Sprache bezieht? Es ist zwar etwas in der Sprache, hängt aber ab von der Art und Weise eines Einzelnen die Sprache zu behandeln. Gewöhnlich ist es mit dem Manirirten so, daß es einen Mangel verdecken oder eine Leere ausfüllen soll, was aber nicht auf eine unmittelbare Weise geschieht. Was aus dem Ganzen hervorgeht nennt niemand manirirt. Das Manirirte kommt bei einem Schriftsteller auch bei einer ganz andern Aufgabe und in einem ganz andern Zusammenhang wieder, und darum ist es eine schlechte Gewöhnung. Bei dem einen ist es ein Gefühl der Dürftigkeit; bei andern ist es Fehler des Geschmacks, dieser gehört mit zum Gemüthszustand des Schreibenden; wir sollen also nach unsrer Aufgabe auch dieses erkennen, aber es liegt auf der negativen Seite. So wie ein Widerspruch gesetzt ist im Autor zwischen der Art, wie sich der Gegenstand in ihm bildet, und zwischen der Vorstellung, die er sich vom Erfolg macht, so gibt sich das Manirirte kund. Im Verstehn des Einzelnen muß die grammatische Auslegung der psychologischen vorangehn; solang ich mit dem Materiellen nicht im Reinen bin, kann ich nicht an die psychologische Interpretation gehn. Jeder Mangel auf Seiten der grammatischen Interpretation bildet für die psychologische ein Problem, das nicht gelöst werden kann. Ebenso kann umgekehrt eine Stelle nicht grammatisch verstanden werden, ohne Zusammenhang; deshalb muß einer richtigen Erklärung des Einzelnen eine allgemeine Übersicht vorangehn. Die Abhängigkeit ist also eine gegenseitige; je mehr Schwierigkeiten auf der Seite der gammatischen um so mehr auch auf der Seite der technischen; denn ich habe dann nicht was ich haben muß, und muß es suchen zu ergänzen. Aber der Einfluß, den eine Lücke auf die ganze Aufgabe hat, erscheint nicht gleich. Ich kann von Seiten der grammatischen Interpretation in einem gewissen Sinn das Ganze verstehen, ohne das Einzelne alles aufs Reine gebracht zu haben. Wenn ich aber den ganzen Akt des Redens oder Schreibens als Handlung des Urhebers verstehn will, da darf mir keine Lücke bleiben; ich habe es da mit Übergängen zu thun; und wenn ich nicht mehr weiß, woher ich komme, so weiß ich auch nicht mehr wohin ich gehe. Der Fall aber daß wir wirklich den Gedanken nicht verstehn, ist auch selten, oder das Nichtverstehn 22 gehn] geht
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eines Gedankens ist uns ein Zeichen, daß wir in einem großen Nichtverstehn sind, und vieles zu verstehn glaubten, was wir nicht verstehn. Sowie wir aber einen Gedanken grammatisch nicht verstanden und die psychologische Interpretation gäbe uns keinen Schlüssel dazu, dann wären wir wesentlich gehemmt. Der letztere Fall ist nicht selten, aber für die grammatische Interpretation nicht zureichend. Wenn die grammatische Interpretation uns gegeben ist, dann muß beim Nichtverstehn der Fehler in der psychologischen stecken. Die grammatische Interpretation so vollständig als möglich begründet ist also die 1te Bedingung, aber nicht die einzige. Es muß außerdem gegeben sein eine Analogie zwischen dem Schriftsteller und uns, in dem Maß als diese unzureichend, ist es auch unser Verstehn. Es gibt eine allgemeine menschliche Analogie, die logische; dieß ist die 1te Grundbedingung. Wenn einem diese Analogie fehlt, so ist dieß eine merkwürdige psychologische Erscheinung und ich muß sie zu erklären suchen. Es bedarf endlich einer genauen Kenntniß des Schriftstellers als Menschen. Wenn wir andre Schriften des Verfassers kennen, bringen wir das Bild seiner Art und Weise mit; haben wir das nicht, so gibt es keinen Unterschied zwischen einem Allgemeinen das vorausgesetzt werden kann und einem Besonderen das man aus dem Allgemeinen folgern kann. Die Art und Weise wie einer verfährt in seiner Gedankenerzeugung ist eine Erscheinung seiner persönlichen Eigenthümlichkeit. Die Lage des neutestamentlichen Interpreten in dieser Hinsicht ist so ungünstig als [sie] sein kann; aber das Verhältniß ist in Beziehung auf die verschiednen Theile der Schriften ungleich. Theilen wir die neutestamentlichen Schriften in die historischen und in die didaktischen, so stehn sich in den historischen relativ entgegen die 3 ersten Evangelien und Acta auf der einen und Johannes auf der andern Seite; in den didaktischen Schriften sondern sich die paulinischen und katholischen Briefe. Für Johannes auf der historischen und Paulus auf der didaktischen Seite haben wir die meisten Subsidien; – Bei den 3 Evangelien ist die Persönlichkeit des Verfassers uns unbekannt, die ganze Bezeichnung der Schrift hat etwas von der gewöhnlichen Art abweichendes; das kata drückt ein ganz andres Verhältniß aus als das des Verfassers zu seinem Werk. Alle Nachrichten über die Relation des Verfassers zur Schrift sind ungewiß, z. B. daß Matthäus hebräisch geschrieben. – Mit den nichtpaulinischen Briefen hat es dieselbe Bewandtniß mit Ausnahme der johanneischen, aber der 2te und 3te Brief sind ungewiß, nur der 1te wird vom Alterthum dem Johannes zugeschrieben. Das Evangelium hilft uns nicht sehr viel zum 21 Eigenthümlichkeit] folgt am rechten Rand ein unleserliches Wort
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Verständniß des Briefs. – Jacobus und Judas sind unsichere und unbestimmte Personen. Der 2te Brief Petri ist auch ein aÆntilegomenon; den 1ten wollen wir als ächt ansehn: wir haben von Petrus in den Evangelien einzelne Erzählungen, wir dürfen auch annehmen, daß wir Reden von ihm haben in den Actis: allein wenn auch diese Reden einen Charakter der Aechtheit haben, so haben wir keine Ursache zu glauben, daß wir irgendwo den wörtlichen Ausdruck des Petrus haben. Von allem was wir aus dem Leben des Petrus wissen, steht nichts in Zusammenhang mit seinem Brief, die Reden sind aus einem unmittelbaren lebendigen Verhältniß, der Brief ist das nicht, er ist ein Cirkularbrief an ganze Gemeinden in mehreren Gegenden. – Von Paulus wissen wir die Geschichte seines Lebens in Beziehung auf das Christenthum und seine nähern Verhältnisse im Christenthum; von seinem Charakter bekommen wir in den Actis kein sehr deutliches Bild; aber doch eine Basis zur Auslegung; dabei kommt zu Statten, was er selbst über sich sagt in den Reden in den Actis; was theils Geschichte theils Charakterschilderung ist. Paulus ist uns auch außerhalb seiner Briefe eine geschichtliche Person. – Bei Johannes scheint es nicht so günstig, wir wissen von ihm nicht so viel außer seinen Schriften. Was die andern Evangelien und die Acta von ihm sagen ist fragmentarisch. Das meiste und Entscheidendste steht in seinem eignen Geschichtsbuch. Bei Johannes kommt uns aber zu Statten die Art von Gegensatz den er bildet mit den andern Evangelien, bei Petrus hilft uns die Vergleichung mit den andern didaktischen Schriften weniger weil wir die Verhältnisse weniger kennen. Was die Lage ungünstiger macht, ist, daß, wenn wir das Neue Testament als Ganzes ansehn uns keine anderweitige Art den Gegenstand zu behandeln gegeben ist, die sich damit vergleichen ließe. Gehen wir weiter dann finden wir freilich die wenigen apokryphen Reste und die Überreste nach dem apostolischen Zeitalter, die aber nur als Nachahmungen angesehn werden können. Es ist kein neutestamentlicher Schriftsteller von dessen Charakter wir uns von anderwärts her einen bestimmten Begriff machen könnten. – Wir haben nun eine allgemeine Formel für unsre Aufgabe; aber sie theilt sich von selbst wieder in 2 verschiedene. Wenn ich mit Sicherheit soll sagen können, wie hängen die Gedanken einer Schrift im Schriftsteller selbst als eine sich darstellende Produktion zusammen, so muß ich erst eine allgemeine Einheit [erkennen], worauf sich das Einzelne beziehen läßt. Das ist der 1te Theil der Aufgabe. Dann erst können wir die einzelne Kombination als innere Thatsache verstehn. Jene Einheit ist was wir den Zweckbegriff 31 machen] haben
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der Schrift genannt haben, das Thema. Wie kommt man darauf dieß zu bestimmen? Die allgemeine Übersicht ist wieder der Anfangspunkt; von dieser muß man zurückkehren zur Einheit. – Dabei müssen wir gewisse leitende Ideen haben von den verschiednen Formen der Composition. Diese müssen uns gegeben sein. Sie entstehen auch wieder nur durch das Verstehn einzelner Werke, und [wir] sehn auch hier die Unendlichkeit der Aufgabe. Diese leitenden Ideen führen uns aber aus unserm eigentlichen Gebiet hinaus in ein andres, und wir müssen hier etwas antizipiren. Diese Vorstellungen selbst werden auf 2fachem Wege gefunden: auf einem rein spekulativen oder theoretischen und auf einem geschichtlichen. Die Art, wie sie entstanden sind, hat einen wesentlichen Einfluß auf die Interpretation. Was im Gebiet der Rede am meisten abgeschlossen ist als Kunst, ist Poesie. Ein poetisches Werk subsumiren wir unter der Form des Epischen, Lyrischen oder Dramatischen. Gegen diese Form wenden aber viele ein, dieß passe nur auf die Antike; bei Völkern von andrer geschichtlicher Entwicklung sei es anders; dagegen sagen aber die welche mehr vom Theoretischen ausgehn, Poesie sei allgemein menschlich und diese Formen müßten sich wiederfinden wenn auch anders modifizirt. Sowie wir uns diese verschiednen Ansichten gegenüberstellen, müssen wir sagen, die ganze Interpretationsweise wird eine andre sein bei dem der von einer andern Ansicht hierin ausgeht. Die prosaische Rede ist ÐvielÑ weniger ein solches abgeschlossenes Gebiet; da sind alle Klassifikationen schwieriger und unbestimmter. Wollen wir eintheilen in historisches und didaktisches so folgt dieß ursprünglich den Formen des Denkens und hat etwas für sich; aber es muß Werke geben, auf welche diese Eintheilung nicht paßt, weil sie in einer Rücksicht das eine, in der andern das andre sind; z. B. im Neuen Testament eine Parabel ist dem Stoff nach historisch; der Tendenz nach didaktisch. – Nehmen wir die Iliade z. B. und fragen, welches ist die Idee des Werks? so ist eine Erklärung spitzfindiger als die andre; je nachdem einer nun von einer Vorstellung ausgeht, konstruirt er auch den Zusammenhang anders, und legt das Einzelne anders aus. Die ganze Aufgabe von dieser Seite hängt also ab von unsrer ästhetischen Theorie. Wenn wir uns über ein Werk Kommentare denken, wo der eine von diesem, der andre von jenem ausgegangen ist, so wird auch die Interpretation verschieden sein. Je mehr aber die Rede oder Schrift von einem solchen abgeschlossenen Kunstgebiet entfernt, um so größer wird die Schwierigkeit. Im Neuen Testament sind wir überall im Gebiet der Prosa; wir haben im Neuen Testament historische und didaktische Schriften, aber da haben wir z. B. das Evangelium Johannes da sagen viele, es sei der Form nach historisch; aber eigentlich didaktisch. Diese Voraussetzung
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gibt gleich der Interpretation eine andre Richtung. Ein andrer sagt, ein vollkommen historisches ist nicht in den Evangelien, es ist weder ein vollständiger äußerlicher noch ein vollständig innerlicher geschichtlicher Verlauf; man sieht weder die Zeit vollständig ausgefüllt noch die facta begründet. Welches ist nun die Totalität des Werks? Darüber fallen die Antworten mannigfach aus, bis man soweit kommt, daß man sagt, es kann nach keiner Einheit gefragt werden, weil keine da ist, (wie die Hypothese des Ur-Evangeliums) dann wird die Aufgabe erst recht komplizirt. Diese verschiednen Beantwortungen werden wieder Gegenstand der Auslegung, wir müssen nach den Prinzipien dieser Prinzipien fragen, und da ist die Neigung noch neuere Ansichten aufzustellen ein natürliches Resultat, die Hypothesen häufen sich, das Geschäft wird verwickelter. Sieht man an den vorhandenen Kommentaren daß diese Ideen keinen großen Einfluß auf die Interpretation hatten, so ist dieß nur ein schlechter Trost, man sieht eben wie wenig Kraft diese Ideen hatten. Sehn wir auf die didaktischen Schriften, so steht es da noch schlimmer, weil die Form eine laxere ist, und weil uns hier noch viele Voraussetzungen fehlen. Wenn eine Schrift einen didaktischen Gegenstand hat, der von andern bearbeitet worden ist, so kann man sehn, wie sich diese Schrift zu den andern Bearbeitungen verhält; aber die Briefform schließt eigentlich den bestimmten Gegenstand aus, und dadurch wird es schwierig einen Centralpunkt zu fassen aus welchem das Ganze kann gefaßt werden. Es gibt zwar Briefe, die den Gang einer didaktischen Schrift nehmen; dieß sind aber dann keine wirklichen Briefe, und der Brief ist nur Form. Ein eigentlicher Brief ist allemal etwas zwischen 2 bestimmten Menschen, der Stellvertreter des Gesprächs; das Gespräch ist aber das am meisten zufällige. Der Brief hat seinen Einheitspunkt nur entweder inwiefern er Theil des fortgesetzten Gesprächs ist, eine Antwort; oder er hat seine Einheit in der Stimmung des Schreibenden. Geschäftsbriefe haben objektive Einheit, diese sind aber mehr Handlung als Rede, und haben ihr Verständniß im Gange des Geschäfts gegründet, und sind insofern auch nicht eigentlich Briefe. Wenn ich den Schreiber kenne und sein Verhältniß zu dem, an welchen er schreibt, so kann ich den 2ten Theil unsrer Aufgabe lösen ohne den 1ten, d. h. ohne objektive Einheit. Zwischen den Extremen, dem Briefe als Gespräch, und dem uneigentlichen Brief als Abhandlung, gibt es nun mannigfache Abstufungen. Wir können unsre neutestamentlichen Briefe so eintheilen; einige sind an einzelne Menschen gerichtet, und diese 7–8 Seine These vom Ur-Evangelium erörtert J. G. Eichhorn ausführlich in seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘, Bd. 1, 1804, S. 148–415 (zugleich ,Kritische Schriften‘ Bd. 5).
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liegen der Gesprächsform am nächsten, andre sind an bestimmte moralische Personen, einzelne Gemeinden gerichtet, und diese kommen der Gesprächsform nahe in dem Maß als ein näheres Verhältniß zwischen dem Schreiber und der Gesammtheit stattfindet. Nun gibt es aber Briefe, die an Gemeinden gerichtet sind, wo dieß Verhältniß nicht stattfand, diese nähern sich mehr dem Didaktischen. Endlich gibt es solche, die haben eine unbestimmte Richtung, und diese sind am fernsten vom eigentlichen Brief. Die Briefe an einzelne Personen sind die Pastoralbriefe des Paulus, und der 2. und 3. Johannes; Briefe an moralische Personen ersterer Art, sind die kleineren paulinischen Briefe großentheils und die Briefe an die Corinther, Briefe an moralische Personen letzterer Art, sind Römer Colosser und vielleicht auch Epheser. – Briefe in unbestimmter Richtung sind die Petrinischen Briefe, der Brief Jacobi, der Brief des Judas, der Brief an die Ebräer und der 1te Brief Johannes. Jeder hat seine eignen Schwierigkeiten, die Nachrichten dürftig &c. &c. &c. Wir müssen uns die Aufgabe in ihrer ganzen Bestimmtheit denken. Wenn wir z. B. eine historische Composition vor uns haben, so ist der Gegenstand der Composition leicht aufzufassen, aber dadurch bin ich noch nicht im Stande, das Einzelne zu verstehn. Solang ich nur den Gegenstand habe, habe ich noch nicht den Typus der Behandlungsweise, dieser gehört aber mit zur Einheit des Werkes. Dasselbe gilt in vieler Hinsicht auch von der rhetorischen und philosophischen Composition. Die Einheit eines Werks, die wir zum Behuf der psychologischen Interpretation suchen müssen ist eine bestimmte Art und Weise, wie dieser Gegenstand dem Verfasser in Beziehung auf den Akt, in welchem er begriffen ist, gegeben ist, der wieder nur erklärt werden kann aus seinem eigenthümlichen Charakter und aus der Lage, in welcher er sich zu diesem beabsichtigten Erfolg befindet. Dieß zu finden ist wie alles was ins Gebiet des Individuellen fällt, etwas sehr Schwieriges. Es ist immer höchst schwierig, Regeln ÐdarüberÑ zu geben, wie das könne gefunden werden. Wenn wir die Idee eines Werks nur verstehn können aus der Eigenthümlichkeit des Werks überhaupt, so führen die Regeln ÐjeneÑ zu finden, auf die Regeln diese zu finden zurück, und wir ÐlehnenÑ unmittelbar an ein schwieriges, auf kein Wissen gegründetes, Gebiet an. Wir wissen am häufigsten von einem Schriftsteller nichts andres als das Schriftstellerische in ihm; schwieriger noch ist wenn die unmittelbare Rede in die 3te und 4te Hand kommt. Wir haben ein Mittelglied, an das wir uns scheinen halten zu können, d.i. die Form der Schrift überhaupt. Die verschiednen Gattungen der Rede beschränken und bestimmen auf eine gewisse Weise die Produktion des Einzelnen. Wenn ich weiß zu welcher Gattung eine Schrift
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gehört, bin ich schon gesichert; (episches Gedicht und Geschichtserzählung.) Aber wie wenig das zureicht, sehn wir daraus: die Differenz eines epischen Dichters vom andern und eines Historikers vom andern erklärt sich uns nicht. Wollten wir auch hier uns wieder Klassen machen, so würden wir doch bald sehn, daß die Verschiedenheit mehr in einem individuellen, als in einem objektiven Faktor gegründet wäre. Die Form selbst kann etwas Wesentliches aber auch etwas Zufälliges sein. Nicht selten beschuldigt man einen Geschichtschreiber, er trage seine Geschichte vor, um gewisse Zwecke zu erreichen; ist dieß ÐzwarÑ, dann liegt der Zweck des Verfassers außerhalb der Form. Sowie es möglich ist, eine Form einem verschiednen Zwecke dienstbar zu machen, so hat dieß bedeutenden Einfluß. Wir müssen also erst wissen in wiefern es dem Verfasser mit der Form Ernst gewesen. Bisweilen gibt das übrige Leben und die übrige schriftstellerische Thätigkeit eines Mannes Veranlassung zum Verdacht; wenn z. B. eine Form, in der er früher nicht geschrieben, als Ausnahme auftritt. Auch müssen wir dabei auf den Ton, auf die Vertheilung von Licht und Schatten [achten]; überall wo solche Anomalien sind, daß die Form zufällig ist, oder eine ganz andre Vertheilung von Licht und Schatten sein. Auch der reine Geschichtschreiber wird oft veranlaßt sein, politische oder moralische Reflexionen einzuschieben; dieß sind Digressionen; aber wo sie nur Digressionen sind, erscheinen sie auch solche, und da wird der Nachdruck nur auf das gelegt sein, welches Hauptzweck des Werks ist; dort aber werden die Digressionen eine Art Zusammenhang unter sich erhalten, und auf solche Reflexionen wird ein ganz andrer Nachdruck gelegt. – Dieß aufzufinden dazu gehört ein geschärftes Gefühl, und gelingt erst nach vielfältigen Versuchen; deshalb ist es natürlich daß die Auslegung insofern sie Kunst ist, in dieser Hinsicht einer regelmäßigen Fortschreitung unterworfen werden muß, und man beim Leichteren anfangen muß. Haben wir gesehn, wie schwer dieß fürs Neue Testament ist, so sehn wir wie diese Seite des Geschäfts nur gelingen kann auf dem Grund einer tüchtigen philologischen Basis. Um den Gedankengang eines andern nachzubilden, muß immer ein Identisches zwischen ihm und mir vorausgesetzt werden. In der Geschichte der Behandlung der alten Schriftsteller und alten Dichter finden wir dieß am bestimmtesten bewährt. Nachdem man das klassische Alterthum ein Paar Jahrhunderte zum Gegenstand der Beschäftigung gemacht hat, sind wir fähiger geworden uns in die antike Denkweise zurückzuversetzen. Es sind bei weitem nicht so wunderliche Ansichten über die alten Kunstwerke bei den Teutschen entstanden als bei den Franzosen; dieß liegt in der Verschiedenheit der Nationalität. Die Teutschen haben mehr
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Fähigkeit, sich in andre hineinzudenken, sie sind nicht so voreilig, ihr Urtheil abzuschließen, sondern verfahren mehr kritisch. Weil sich aber unsre Neigung, das Fremde sich anzueignen, auch auf die Franzosen bezog, so haben wir auf eine Zeitlang ihre verkehrten Ansichten über das Alterthum mit aufgenommen. – Doch es ist nicht die Nationalität allein was eine Schranke setzt der Fähigkeit in ein Werk einzudringen. – Man muß sich die verschiednen Ansichten über einen Gegenstand der Auslegung selbst zu erklären suchen; bei der krassen Manier von verschiednen Meinungen nur 1 als die wahre zu unterscheiden, wird man wohl früher zu einem Resultat, aber nicht zu einem richtigen gelangen. Unsre Aufgabe wird eine in sich selbst unendliche. Die Meinungen müssen selbst wieder zu einem Gegenstand der Auslegung gemacht werden. Wollten wir uns um die vorhandenen Meinungen nicht kümmern, so thun wir vorläufig nichts andres, als entweder unsre Meinung fällt mit einer schon bestehenden zusammen, oder wir kommen auf eine eigne Meinung. Dadurch ist ein Glied mehr da was in die Kritik hineingezogen werden muß. Im wissenschaftlichen Gebiet ist die Meinung des Einzelnen immer in Verbindung mit allem; man darf auf dem wissenschaftlichen Gebiet keine Meinung nur für sich haben ohne sie darzustellen. – Im neutestamentlichen Gebiet sehn wir dieß auch. Seit den kritischeren Untersuchungen haben sich die Hypothesen immer aufs Neue vervielfältigt. Wir müssen 1. uns Prinzipien suchen wie wir zu einer Ansicht gelangen können, die wir festhalten können 2. Prinzipien, um über die bestehenden Meinungen Kritik zu üben. Das letztere ist zu sehr literarischer Art. Die Hauptsache bleibt also die Frage: wie muß man zu Werke gehn, um die richtige Idee, die einem Werk zum Grund liegt zu finden? Wir müssen uns hier die Fälle theilen. Wenn sich etwas bestimmtes und Zutreffendes ergibt, dann wird nur 1 Vorstellung von der Idee die dem Werk zum Grund liegt, entstehen. Die Zweifel werden uns aber doch entstehn, wenn wir sehn, daß andre neben uns ganz andre Ansichten gefaßt haben. Nehmen wir uns von einem Werk eine allgemeine Übersicht in der Absicht uns den Gedankengang von der Idee aus im Einzelnen zu erklären, so können wir nur diese allgemeine Übersicht nehmen 1mal nach den Indikationen die im Werk liegen und nach der Richtung, die unsre Aufmerksamkeit nimmt. Je mehr Indikationen vom Verfasser selbst gegeben werden, desto mehr sind wir gebunden; je weniger Indikationen der Verfasser gibt, um so mehr Spielraum hat die Willkür. Haben wir uns schon eine Hypothese gemacht, so nimmt auch die Aufmerksamkeit ihren eignen Gang, der 28 wird] folgt sich
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kann aber falsch sein. Wir müssen dafür sorgen, daß wir nicht durch etwas Willkürliches im Gang unsrer Aufmerksamkeit bestimmt werden. Haben wir in einem Schriftsteller keine unmittelbaren Aehnlichkeiten so müssen wir sie weiter suchen; ohne alle Vergleichung wird der Prozeß immer willkürlich. – Es ist nicht zu verkennen, daß die meisten Exegeten des Neuen Testaments ein ganz andres Verfahren beobachten; wenigstens kommt es nicht zu Tage, daß sie die Regeln befolgen. Mit der größten Künstelei werden eine Menge von Einzelheiten zusammengesucht welche eine dargelegte Ansicht bestätigen sollen, ohne darauf aufmerksam zu machen, wie sie in einem andern Zusammenhang eine andre Ansicht begünstigen. Wir haben die Regel aufgestellt, es könne sich die Vorstellung von der Grundidee eines Werks zunächst nur aus der allgemeinen Grundidee entwickeln, am sichersten entwickle sie sich aus dem Grundton und Kolorit des Werks. Hier kommt es an auf 2erlei: 1. auf Identität und Differenz der verschiedenen Elemente der Darstellung, 2. auf die Einheit, welche sich in Farbe und Ton der Darstellung finden. Sind die Elemente gleichartig, so ist es leichter zu urtheilen über die Identität der Abzweckung als wenn sie verschieden sind; erscheint aber die Identität bei der Verschiedenheit der Elemente dennoch, so erhält die Vorstellung eine größere Gewißheit. Im Evangelium Johannes z. B. finden wir 2 verschiedenartige Elemente, Reden und Thaten, dieselben auch in andern Evangelien. Wenn nun eine Idee aufgestellt werden soll über den Gesichtspunkt aus welchem die Schriftsteller ihre Arbeit behandelt haben, so können wir sagen, das geht hervor aus der Art wie die Reden behandelt sind, und das aus der Art wie die Thatsachen erzählt sind. Würden lauter Reden oder lauter Begebenheiten erzählt, so wäre dieß leichter. Im Evangelium Johannes ist eine beständige Beziehung der beiden Elemente aufeinander, in den andern Evangelien ist diese Beziehung geringer, beide sind mehr getrennt, da ist es schwer eine bestimmte Vorstellung von der Abzweckung zu erhalten. Die verschiednen Ansichten über Johannes stehn sich näher als die über die andern Evangelien. Das Auseinandertreten der einzelnen Elemente kann so weit gehn, daß es nicht möglich ist, eine Einheit der Abzweckung zu finden. Wenn mit Recht die Grundidee eines Werks geläugnet werden kann, dann ist es kein Werk und hat keine Einheit in sich. Eine Sammlung von Einzelheiten muß auch eine Einheit haben im Gesichtspunkt aus dem sie angestellt ist. Die Sammlungen zerfallen in 2 Arten, solche bei denen ein bestimmter Gesichtspunkt herrscht und solche wo der nicht herrscht; im letztern Fall hat die Sammlung nur die Tendenz der Voll-
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ständigkeit. In dieser Hinsicht scheinen die 3 letzten Evangelien mehr zum letztern Fall zu gehören, das Evangelium Johannis zum ersteren. Bis zu diesem Extrem kann die Aufgabe getrieben werden, daß man gar keine Einheit finden kann. Dieß beschränkt sich nicht blos auf die historische Gattung. Im Prozeß der Gedankenerzeugung ist auch auf der einen Seite die Herrschaft der Idee, auf der andern die Herrschaft der Natur, eins wirkt gegen das andre; in der Regel ist das Verhältniß so, daß in einem Werk die Herrschaft der Idee dominirt, und was auf die Naturgewalt zurückgeführt werden kann, bleibt das Untergeordnete. Das letzte muß aber immer berücksichtigt werden. Sondern wir aber die beiden Elemente, so kann in jeder Form der Gedankenerzeugung die Naturgewalt gesteigert werden, und wir kommen zuletzt auf einen Punkt, wo sie der Idee das Gleichgewicht hält, und da ist nicht mehr zu unterscheiden was das herrschende Prinzip ist. So können wir uns Kompositionen denken in freier Form der Poesie, wie der Roman, wo die Idee nur der Faden ist, an welchem sich ein Gedankenprozeß krystallisirt, der nur der Naturgewalt folgt. – Denken wir uns die Form des Briefs, da werden wir die Annäherung zum Gleichgewicht immer voraussetzen müssen, und da wird es immer schwer sein, sich die höhere Einheit zu konstruiren, und die Einheit liegt in der Einheit des Menschen selbst, wo das Verhältniß sich auf eine eigenthümliche Weise gestalte Die beiden Corintherbriefe, der Brief an die Galater sind solche, wo eine bestimmte Veranlassung zum Grund liegt, auch den Thessalonicherbrief kann man dahin rechnen; beim Galater und Thessalonicherbrief ist es ein bestimmtes Thema, da ist es leichter sich den Gedankengang nachzukonstruiren. Bei den Korintherbriefen ist es anders; im 1ten Brief ist eine bestimmte Veranlassung hervortretend, aber der Brief zerfällt in mehrere Theile, davon jeder einen besonderen ausmacht. Da ist das Begreifen des Übergangs von einem Thema ins andre schon weit schwieriger. Beim 1ten Brief heben sich die Punkte noch mit einer Sonderung heraus, im 2ten aber ist es schlimmer, es treten viel unbestimmte Verhältnisse heraus. Unsre Aufgabe hat da ganz den Charakter einer unbestimmten. Die andre Klasse von Briefen ist die, wo eine bestimmte Veranlassung nicht zum Grunde liegt; es kommt auch jetzt vor, daß man schreibt, weil man muß oder weil man grade kann, ohne daß ein bestimmter Zweck herausträte; es gab bei den ersten Christen keine regelmäßige Kommunikation und die Gelegenheiten wurden benutzt, ohne daß man besondere Veranlassung hatte. Bei den Paulinischen Briefen läßt uns die Geschichte nicht ganz im Stich; nur da wo die Geschichte außerhalb des
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Bereichs der Acta fällt, wie im Titusbrief, sind wir an den Brief selbst gewiesen. Schwieriger ist es wo die Addresse unbestimmt gegeben ist, oder falsch, wie wahrscheinlich bei den Ephesern. Hätten wir nicht außer dem Epheser den Colosserbrief, wo wir einen bestimmten Gedankengang haben, so würden wir schwerlich [in der Lage sein] den Zusammenhang des Epheserbriefs ÐfestÑzuhalten. Bei den andern encyklischen Briefen, wo wir noch weniger bestimmtes wissen, ist es noch schwerer, und da muß die ganze Seite der psychologischen Interpretation der grammatischen untergeordnet bleiben. Zwischen diesen beiden Arten steht eine 3te in der Mitte, z. B. der Brief an die Römer. Man kann nicht sagen, daß der Apostel ein bestimmtes Geschäft gehabt hätte; aber der Brief nähert sich doch mehr als ein andrer der geregelten Form einer Abhandlung; eben weil kein bestimmtes Bedürfniß da war, den Inhalt zu fixiren, so war eine Sache der freien Wahl. Der ganze 1te Theil des Briefs hat die Form einer didaktischen Auseinandersetzung, der 2te ist mehr geleitet von des Apostels Vorstellung von den allgemeinen Bedürfnissen der christlichen Gemeinden[;] näher bestimmt durch die Vorstellung die er sich machen konnte von dem Zustand der Christen in Rom. Nehmen wir dieß zusammen so gibt es in der Sammlung der didaktischen Schriften des Neuen Testaments nur wenige, wo mit Zuverlässigkeit das Geschäft der psychologischen Interpretation von Anfang an eingeleitet werden kann: die größte Schwierigkeit liegt darin, daß wir eine doppelte Aufgabe haben, von denen die eine die andre voraussetzt. Wenn wir das Geschäft mit Sicherheit vollführen wollen müssen wir erst das Neue Testament als Material zusammenwerfen, um aus diesem die einzelnen Punkte so genau als möglich zu konstruiren. Die Punkte, die man auszumitteln hat, sind der Charakter des Verfassers und die Beschaffenheit und die geschichtlichen Verhältnisse der Gemeinden. Dieß ist eine sparsame Zurüstung; das meiste was wir zu einer Schrift als Material brauchen können liegt in ihr selbst, das Einzelne ist erst zu verstehn nachdem es im Zusammenhang verstanden ist; man muß sich deshalb das Material zerlegen und unterscheiden was eine sichere und eine unsichre Angabe ist. Man braucht oft Stellen als Material die unzureichend oder falsch erklärt sind. Das Zurückgehn auf die grammatische Interpretation ist also unentbehrlich. – Die Chronologie im Neuen Testament hat man auf die Voraussetzung basirt, daß die Apostelgeschichte ein zusammenhängendes Geschichtwerk ist; wäre diese Voraussetzung falsch, so wäre auch ein großer Theil der neutestamentlichen Chronologie falsch. – Es gibt noch eine Menge Interpreten, wie die holländischen welche für die psychologische Interpretation gar keinen Sinn haben, ihr Charakter ist atomistisch; auf der andern
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Seite ist entgegengesetzt die erstaunendste Willkür in Behandlung der psychologischen Interpretation; wo der Einfall alles ist, und die erstaunendste Geduld den Einfall durchzuführen. Es gibt nur wenige Andeutungen zu einem kritischeren Verfahren. Unter der Voraussetzung nun wir hätten die Grundidee eines Werks, wollen wir sehn, welchen Weg wir bei der psychologischen Interpretation einschlagen sollen, um die weitre Entwicklung des Gedankengangs uns nachzukonstruiren. Der Gegenstand mag sein welcher er wolle, so gibt es immer eine Verschiedenheit der Auffassungsweise und der Ansicht. Auf dem historischen Gebiet gibt es immer verschiedne Arten sich die Entwicklung der Begebenheiten zu konstruiren. Um die Eigenthümlichkeit des Styls zu finden gehört das schon mit dazu. Wir unterscheiden fast in allen Gattungen einen strengen Styl und einen weichen. Auf welche Seite sich eine Schrift neige gibt sich schon aus der allgemeinen Übersicht zu erkennen. Wir können Schriftsteller unterscheiden, welche überall dem strengen und solche welche überall dem weichen folgen, und auch solche, welche auf dem einen Gebiet diesen, auf dem andern jenen befolgen. Man muß also auch hier, um den Schriftsteller zu verstehn ein Bild von ihm haben. Im strengen Styl ist eine große Sparsamkeit mit alle dem was Beiwerk ist, wogegen das Wesen des weichen Styls in einer großen Offenheit der Seele gegen die verschiedenartigsten Eindrücke besteht. Ferner muß das Verhältniß berücksichtigt werden in welchem der Schriftsteller gegen Zuhörer oder Leser steht. Er kann von der Foderung ausgehn, daß sie sich auf den Standpunkt stellen auf dem er selbst ist; da redet er blos aus sich heraus. Der entgegengesetzte Punkt ist wenn der Schriftsteller durchdrungen ist von einem bestimmten Bild von der Verfassung und dem Zustand derer zu denen er redet, so daß er sich auf den Punkt stellt, auf welchem seine Leser stehn (das Populäre). Es ist offenbar daß in jedem der beiden Fälle ein andres Prinzip eintritt. Der Gegensatz ist aber auch relativ; die Übergänge sind aber am schwierigsten zu verstehn. Der absoluteste Gegensatz des Populären ist der Monolog, wo der Verfasser blos für sich schreibt. Im Gebiet der Erzählung ist es am meisten der Fall, daß sich der Schriftsteller mit den Lesern gleichstellt, und der Gegensatz zwischen Populärem und nicht Populärem am wenigsten Spielraum findet, weil wir in der unmittelbaren Wahrnehmung uns gleich stehn. Aber eine Erzählung kann nicht leicht ganz ohne Reflexion sein; und da tritt der Gegensatz ein. Es gibt Arten der Erzählung, die ganz durch die Reflexion dominirt werden. Wenn bei philosophischen Schriften ein Schrift20 großen] oder gewissen
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steller von der Voraussetzung ausgeht, daß er allgemein gültige Sätze zum Grund legt, so findet hier ebensowenig ein Gegensatz zwischen Populärem und Nichtpopulärem statt (Populär in unserm Sinn genommen.) Geht er aber von der Voraussetzung aus, daß jede philosophische Darstellung mehr oder weniger etwas Individuelles an sich trägt, da muß er den Gegensatz berücksichtigen; sucht er das Individuelle verständlich zu machen, so ist er populär; aber es wird nicht möglich sein, wenn er nicht in das Extrem des Monologs verfallen will, wo er nicht an Punkte das Populäre anknüpfen muß. – Nur inwiefern wir einen Begriff der Methode des Verfassers haben, können wir hier das Einzelne aus der Grundidee verstehen. Wie es ein Extrem gibt im Monolog, so gibt es eins auf der andern Seite. Das absolut Populäre ist wesentlich das absolut Dialogische, nicht der Dialog als Form, sondern das Dialogische als ein fortgehendes Verhältniß zwischen dem Verfasser und dem Leser. Die Aufgabe ist also zu sehn, auf welchem Punkt zwischen beiden Extremen eine Schrift steht. Das Maximum der Virtuosität des Verstehens ist die Fähigkeit der Imitation. Sie geht über das eigentliche Verstehen hinaus, aber es muß ihr vorausgehn das Maximum des Verstehens aller Werke eines Schriftstellers. Zu dem maximum zu gelangen gibt es ein 2faches Verfahren, 1. das komparative 2. das heuristische. 1 in Analogie mit dem minimum, aber sucht es zu steigern, 2 in Analogie mit dem maximum. Das komparative Verfahren besteht darin, daß wir uns die Gedankenerzeugung gleichsam theilen und die verschiednen Wege denken, auf welchen Ðderselbe ZweckÑ erreicht werden könne, dazu gehört das Vergleichen möglichst analoger Schriftsteller. Das Identische gibt sich unmittelbar zu Tage; das Differente führt auf immer nähere Umgränzungen. Der ganze Weg ist ein limitirender, und führt nicht bis zum maximum. Der andre Weg, der heuristische muß ihn ergänzen; das ist der, welcher eigentlich auf die Imitation lossteuert und ausgeht von einzelnen Merkmalen, an welchen wir die Eigenthümlichkeit des Verfassers kennen. Wenn wir mehreres von einem Schriftsteller schon gelesen haben und wir bekommen dann ein einzelnes Werk von ihm vor, so werden wir Punkte finden die mit Bekanntem zusammenstimmen; je mehr solche Punkte um so anschaulicher unsre Vorstellung von der Eigenthümlichkeit des Verfassers. Die Aufgabe ist unendlich. – Wir finden auf dem profanen und neutestamentlichen Gebiet viele Erklärungen, die rein auf der Seite des Grammatischen stehen, von der wir sagen müssen, sie wären nicht zu Stande gekommen wenn der Erklärer auch die psychologische Interpretation im 37 der] Kj denen
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Sinn gehabt hätte. Den meisten Erklärern fehlt es selbst an Lebendigkeit der Gedankenerzeugung. Im Neuen Testament ist noch der Fall, daß man den Verfasser als Inspirirten aus der Analogie mit andern Schriftstellern heraussetzt, welche Voraussetzung alle Interpretation hemmt; oder man geht in der Auffassung der Grundidee falsch zu Werke indem man ein unrichtiges Verhältniß festsetzt; wenn man die Eigenthümlichkeit des Verfassers dem allgemeinen Zweck zu sehr unterordnet. Der Streit hierüber hat die Interpretation von dieser Seite sehr zurückgehalten. Gesetzt aber auch der Streit sei soweit beendigt, daß man einsähe, daß die Betrachtung der Eigenthümlichkeit des Verfassers doch mit der normalen Dignität stimme, so sind wir doch in der neutestamentlichen Interpretation in großem Nachtheil gegen die übrigen, selbst wenn wir voraussetzen, daß wir mit der Auffindung der Grundidee weiter gekommen wären, als wir gesehn haben. Wir kommen wieder darauf zurück, daß nur Paulus und Johannes eine sichere Einheit der Person und des Charakters darbieten, und einen gewissen Styl und gewisse Methode besitzen. – Der Gegenstand der 3 ersten Evangelien ist das Leben Christi; es gäbe dieß Anlaß genug zum komparativen Verfahren, wir haben 2 Stufen der Komparation, die 3 Evangelien untereinander, und sie wieder mit Johannes. Suchen wir nach Differenzen in den 3 Evangelien in der Art und Weise den Gegenstand aufzufassen, so verschwinden sie uns, wir finden keine Verschiedenheit des individuellen Charakters auf. Vergleichen wir sie mit Johannes, so finden wir eine Differenz aber in ihrer Differenz von Johannes sind sie sich wieder ähnlich. Die Differenz in Beziehung auf das Strenge und Weiche des Styls findet hier auch nicht statt; Grad der Lebendigkeit und Art und Weise der Erzählung ist in allen gleich. Das Beiwerk steht auch in keinem Verhältniß zum Umfang: überall herrscht die einfachste Erzählung; Vergleichungspunkte Christi mit andern &c. finden sich in keinem von allen 3. Wir dürfen aber darum die psychologische Interpretation hier nicht fallen lassen, die Aufgabe besteht immer, den Gedankenerzeugungsprozeß, wovon die Schrift das Bild ist, im Zusammenhang zu verstehn. Dieß können wir nicht lösen, bis die höhere Kritik vorgearbeitet hat. Wie die Evangelien beschaffen sind, theilt sich uns die Aufgabe in 2 Theile: 1. zu verstehn wie in die Lebensbeschreibung Christi grade diese Elemente haben hineinkommen können und keine andern. Wir wissen nicht hat den 3 Verfassern das Leben Christi in demselben Zusammenhang vorgelegen, hat der eine gewußt was der andre? Setzen wir das erste voraus, so wäre es wunderbar, wie sie hier so genau dasselbe erzählen. Setzen wir das nicht voraus, dann wäre das Resultat in jedem ein andres; da wäre aber schwierig zu begreifen, wie sie übereinstimmen.
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Die Anordnung und Auswahl sind etwas, das für die psychologische Seite der Interpretation gar keinen Gegenstand bildet; die zurücktretende Eigenthümlichkeit ist so vorherrschend, daß wir sagen können, die Persönlichkeit habe keinen Einfluß gehabt. Sie sind durch einen Typus gebunden gewesen; da kann man fragen ist der Typus etwas gewolltes oder von selbst entstandnes, und ist er im letzten Fall positiv oder negativ. Das gibt 3 Punkte für unsre Aufgabe; es hängt davon ab was die höhere Kritik in Beziehung auf diese Möglichkeit für 1 Resultat herausbringt. Denken wir uns es habe ein allgemeiner Wille stattgefunden in den schriftlichen Erzählungen vom Leben Christi gewisse Gegenstände vorzüglich hervorzuheben und von andern zu schweigen, so wäre dieß ein solcher Typus; in diesem Fall also wäre die Composition insofern sie Auswahl ist einer moralischen Person angehörend. Dieß ist in der Hypothese des Ur-evangelii die Seite die Einfluß auf unsre Aufgabe hat. Das Wesentliche in der Vorstellung vom Ur-evangelio ist, daß ein allgemeiner Wille über die Bestimmung der aufzunehmenden Elemente stattgefunden hat. Unsre Aufgabe wird hier zunächst diese: zu verstehn das Entstehn einer solchen Übereinstimmung des Willens. Werke der höheren Kritik und unsre Seite der Interpretation dienen hier einander zur Probe. Zur Lösung der Aufgabe dient uns die Vergleichung mit Johannes und das was wir uns zu den 4 Evangelien hinzu denken müssen, als das was gegeben sein mußte, ohne daß es in das Evangelium hineinkam. Wie müssen wir uns also die Vereinbarung denken und die Absicht, wie ein solcher Typus habe entstehen können. Was für eine Vereinbarung war es, welcher Johannes nicht unterworfen war[?] Im Johannes finden wir viele Reden Christi, die einen andern Charakter haben als die Reden Christi in den andern 3 Evangelien 2. wer müssen die gewesen sein, die jene Reden Christi ausgeschlossen haben, und welche Absicht hatten sie dabei? Hier theilt sich die Antwort in 2 Theile. Entweder sie wußten davon, und theilten sie nicht mit, oder sie wußten nicht davon. – Was müssen wir uns denn hinzudenken zu dem was wir in den 4 Evangelien nicht finden? 1. die ganze frühere Bildungsund Entwicklungsgeschichte Christi 2. fehlt die ganze Kenntniß vom Aeußerlichen des Lebens Christi. Es entsteht die Aufgabe zu untersuchen warum hierüber nichts ist; haben die Apostel den Typus bestimmt, so fragt sich warum wollten sie nichts melden; waren es nicht die Apostel sondern solche, die nichts vom Privatleben Christi wußten, so fragt sich wie solche untergeordneten Leute dazu kamen, den Typus zu bestimmen. Wir können sagen, das Evangelium Johannes repräsentirt eine mehr innerliche tiefer gehende pragmatische Ansicht des Christenthums, die 3 andern repräsentiren mehr eine oberflächliche, das Bestreben Einzelheiten
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als solche festzuhalten. Wenn wir uns die Christenheit in der Periode der Entstehung der Evangelien als 1 Ganzes denken, so ist die Sache schwerer zu erklären; es läßt sich nicht denken, wenn das Evangelium Johannis das frühere gewesen sein sollte, was man dann für ein Interesse hätte haben können in dem was die andern Evangelien darbieten; deshalb ist von dieser Voraussetzung aus die Ansicht entstanden daß das Evangelium Johannis später entstanden sei. Auf der andern Seite bietet aber dieß nicht wenige Schwierigkeiten. Um zur Grundlage der Interpretation zu dienen würde das die beste Hypothese sein, aber nun werden wir gequält durch das Verhältniß in welchem Johannes zu den andern Evangelien steht. Die Hypothesen darüber auseinanderzusetzen gehört in die Einleitung des Neuen Testaments. Wir müssen uns die Aufgabe theilen. 1. jede Erzählung als eine Einheit zu erklären, 2. zu sehn wie der Prozeß zu erklären, aus welchem die 3 verschiedenen Bücher entstanden sind. Die hermeneutische Aufgabe im ersten Punkt gestaltet sich ganz einfach; es kommt nur darauf an, die Grundidee jeder einzelnen Erzählung aufzufinden, und aus dieser die ganze Konstruktion sich klar zu machen; die Grundidee kommt darauf hinaus, sich über den Standpunkt des Erzählers zu orientiren; man muß sich vorher entscheiden in wiefern die Erzählung ursprünglich oder abgeleitet ist; dagegen gibt es noch einen Punkt, der mit zur Idee der Erzählung gehört; eine abgeleitete Erzählung geht auf eine ursprüngliche zurück. Diese kann eine sein oder mehrere; es ist leicht auszumitteln, welches jedesmal der Fall ist. Sobald man nur den allgemeinen Typus des Geschehens und das Verhältniß des Geschehens zum Erzähler berücksichtigt, so ist 1. auszumitteln nach welchen Prinzipien der Zusammenstellung der Erzähler verfährt, das ist nothwendig zu entscheiden was Erzählung ist und was Urtheil; schwieriger ist 2. die Prinzipien der Anordnung zu erkennen, woraus die Evangelien als Ganze entstanden sind und bei den einzelnen Erzählungen sich die Differenz zu erklären. Es können 2 Augenzeugen, die gleiche Bildung, Herkommen &c. haben und für das gleiche Publikum erzählen die Sache ziemlich gleichmäßig erzählen, aber doch differiren. Die Differenzen können im ursprünglichen Referenten liegen. Wo die Übereinstimmung aber genau ist, hat man nicht nöthig, verschiedne ursprüngliche Referenten zu setzen, da sind die Differenzen ein Werk der 2ten Hand, das letztere entzieht sich aber leicht der eigentlich hermeneutischen Aufgabe. Einzelne Erzählungen einen sich in einzelnen Umständen in der 2ten Hand; aber eben so läßt sich denken, daß mehr Menschen nach derselben Weise modifiziren; wer die Zusätze gemacht habe &c. läßt sich schwer entscheiden. Die Anordnung selbst zu verstehn ist wieder höchst schwierig. Wir müssen wissen, was hat der
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Verfasser mehr gewußt, als in seinem Buch steht, aus welchen Prinzipien hat er das eine weggelassen und das andre aufgenommen. Sind unsre 3 Evangelien so geworden weil sie so werden wollten oder weil sie blos so werden konnten. Das letztere wäre wahr, wenn wir sagten, der Verfasser habe nichts weiter gewußt, und es bleibt nur auszumitteln nach welcher Art sie sie uns überliefert haben, haben sie nach Zeit oder nach Realfolge geordnet? Denken wir uns aber daß die Verfasser mehr gewußt haben, dann müssen wir das Prinzip konstuiren wornach ausgeschlossen und aufgenommen worden. Dazu fehlt es uns an Datis. – Wie können wir bei den d i d a k t i s c h e n Schriften uns das Prinzip über die Konstruktion des Einzelnen aufstellen? Hier ist mehr Gegenstand für unsre hermeneutische Aufgabe. Die Differenzen sind hier immer größer als beim bloßen Erzählen. Die meisten der kleinen Schriften des Neuen Testaments sind der Art, daß über ihre eigenthümliche Ansicht des Christenthums wenig hervorgeht. Ebenso werden wir z. B. im Brief des Jacobus schwerlich zwischen Haupt- und Nebengedanken unterscheiden können: es ist hier keine bestimmte Einheit des Gegenstands, auch kann man keinen bestimmten Erfolg als Zweckbegriff ansehn. Ebenso was den Grad der Popularität einer Schrift betrifft. Die Verfasser stehen auf derselben Linie der Bildung mit denen, an die sie schreiben und so hört die Frage auf. Wenn man die Vorstellungen in den Briefen genetisch verfolgen will, so muß man ins Auge fassen in wiefern das eigentlich Christliche darin vorherrscht oder nicht; in den kleinen Schriften ist das eigentlich Christliche weniger ausgearbeitet, deshalb hat man den Versuch gemacht, diese Schriften aus einem andern Gedankenkreis zu erklären und sie mit späteren apokryphen Schriften verglichen. Die Verfasser müssen eine gewisse Art von Belesenheit gehabt haben, aber wenig Produktivität und wenig Übung im Vortrag. Ihre vorzüglichste Bildung müssen sie erhalten haben im gemeinsamen Leben des Christenthums, da konnte sich das eigentlich Christliche in der Produktivität entwickeln. Die mündlichen Mittheilungen müssen einen stärkern eigentlich christlichen Charakter gehabt haben; deshalb die Aehnlichkeiten der Manier dieser Schriften mit den apokryphen ÐrichtigeÑ Blicke sind, allein eine zusammenhängende Lösung unsrer Aufgabe gibt es nicht, sondern nur einzelne Observationen. Zum wenigsten muß eine befriedigende Lösung unsrer Aufgabe eine möglichst vollkommene Analyse sein, daß man jeden einzelnen Gedanken im Zusammenhang betrachtet, zerlegt, und nachzuahmen sucht. so viel gehört dem Faden des Ganzen an sich zu, und so viel in der Art und Weise der Darstellung &c. hat seinen Grund im Verhältniß des Verfassers zu seinen Lesern, und so viel darin hat seinen Grund in der nebenherge-
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henden fremden Gedankencombination. Es ist deshalb zu viel, wenn man über den schriftstellerischen Charakter dieser Klasse von neutestamentlichen Verfassern etwas bestimmtes sagen will. Allerdings sind Differenzen nicht zu läugnen; aber wenn man wie Eichhorn mehrere kleine Schriften, wie z. B. den 2ten Brief Petri einer bestimmten paulinischen Schule zuschreibt, so ist darin zu viel gesagt und der Begriff von Schule zu weit ausgedehnt. – Unsre neutestamentlichen didaktischen Schriften haben ursprünglich keine Schule. Man hat die Hypothese aufgestellt, daß die Schriften aramäisch geschrieben und dann ins Griechische übersetzt seien, diese hat aber nicht viel für sich. Es ist natürlich daß die Apostel Christi sofern sie Zöglinge der hierosolymischen und andrer jüdischer Gemeinden waren, ursprünglich im aramäischen Denken und Sprechen gebildet waren. Das hellenistische Christenthum hat sich überwiegend durch Paulus entwickelt. Die dem Petrus Jacobus Judas zugeschriebenen Schriften sind ursprünglich griechisch abgefaßt; die Verfasser haben sich in der Sprache nach ihren Lesern gerichtet; es ist natürlich daß die griechische Sprache innerhalb des Christenthums einen dominirenden Einfluß geübt hat und daß die palästinensischen Christen, die über christliche Gegenstände griechisch schreiben mußten, kein andres Mittel sich zu verständigen hatten als die paulinische Schule. Diesen Einfluß muß man aber vom Unmittelbaren der Schule trennen. Unter Schule versteht man doch eine gewisse Ansicht des Christenthums und Methode der Behandlung. – Vom Apostel Paulus wissen wir nicht in welchem Verhältniß die eigentlich jüdische und die griechische Sprache in ihm gestanden haben vor seinem Apostolat; auf der einen Seite ist er Tharsenser und in sofern Hellenist, auf der andern Seite hat er seine gelehrte Bildung in Jerusalem erlangt unter Gamaliel, diese hat er aramäisch gemacht; es hängt alles davon ab, wie ÐschonÑ ausgerüstet Paulus nach Jerusalem gekommen; es hängt davon ab in welchem Alter er nach Jerusalem gekommen, kam er später etwa erst nach dem 20sten Jahr hin, so hatte das hellenische sich schon fest gesetzt. Bei den andern Aposteln wissen wir daß sie Palästinenser sind. Darin daß sie hellenisch schreiben, sind sie in einem gereizten Zustand. Wie in der Poesie der Raum auf die Gedankenfolge einen Einfluß hat, so geht es auch mit einer fremden Sprache. Auf das Schwierige in der Gedankenverbindung hat das Fremde der Sprache einen bedeutenden Einfluß gehabt; dieß können wir aber nicht nachkonstruiren. Je mehr man dieß ahnen kann, um so mehr muß man schließen, daß sie ursprüng4–7 In seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘ (3, 2. 1814, S. 606–645; SB 582) bringt Johann Gottfried Eichhorn die beiden dem Petrus beigelegten Briefe in Verbindung mit Schülern des Paulus. 27 Laut Apostelgeschichte 22, 3 war der seinerzeit berühmte jüdische Schriftgelehrte Gamaliel Lehrer des zu Tarsus geborenen Apostels Paulus.
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lich griechisch abgefaßt sind. – Wir müssen einen andern Gesichtspunkt fassen und diese Schriften weniger als zusammenhängende Ganze zu verstehn suchen, als vielmehr im Zusammenhang des ganzen Geschäfts, in dem die Verfasser begriffen waren und im Zusammenhang des ganzen Stoffes, der zu bearbeiten war. Die Hauptgesichtspunkte bleiben der dogmatische und historische: zu sehen wie sich die christlichen Vorstellungen gestaltet haben. Bei den paulinischen Schriften ist es leichter geworden, sich über die Grundidee zu einigen, jeder Brief hat seine eignen Seiten, wodurch dieß erleichtert wird. In den Corintherbriefen sieht man die persönlichen Verhältnisse durchspielen, man sieht wie Streitfragen durch die Gemeinde angeregt worden, und wie dem Paulus manches zu Ohren gekommen, &c. wir bekommen also eine Vorstellung der Gemeinde und Paulus gegenüber in der Nothwendigkeit seine Anordnungen zu treffen; man erkennt hierin, wie die Ordnung etwas zufälliges ist. Man kann nur fragen, was hat den Apostel bestimmt, damit anzufangen, womit er anfängt? hat man diesen Punkt, so kann das andre daraus erklärt werden. Bemerkt man einen verschiedenen Charakter in der Behandlungsart, der eine Gegenstand ruhiger, der andre heftiger, der eine konstanter, der andre flüchtiger, da ÐerklärtÑ sich der Grund mit Wahrscheinlichkeit, wenn man den Veranlassungen, die Paulus dazu hatte, nachgeht; und da sehn wir, daß er sehr empfänglich ist, durch Kleinigkeiten, Wortspiele &c. bestimmt zu werden; und aus solchen Merkmalen kann man das Einzelne mit einer gewissen Sicherheit erklären. – In andern Briefen ist weniger Zufälliges, oder dieses sondert sich besser. Wir finden bei ÐeinigenÑ paulinischen Briefen gleichsam als 2ten Theil oder Anhang eine Sammlung moralischer Vorschriften, eine Art 2ten Theil. Fragt man, wie kommt dieser Theil dazu? so steht dieser in einem andern Verhältniß zum ursprünglichen Motiv, als der andre. Die ganze Lage der christlichen Kirche gab dazu Veranlassung; es ist dann immer zu erklären, warum grade dieß und nichts andres gesagt ist. Auf der einen Seite kann der Grund gelegen haben im Apostel selbst, er beschäftigte sich grade mit diesen Gegenständen, und war erfüllt davon; oder die Veranlassung liegt in seiner Kenntniß von der besondern Lage der Gemeinde. Im Ganzen genommen ist die Lage der Aufgabe für die paulinischen Briefe günstiger. Demohnerachtet jemehr man ins Einzelne geht, um so mehr findet man verschiedne Erklärungen. Man findet in dem Prolegomenis und Einleitungen zu Paulus bedeutende Differenzen. Es herrschen noch gar zu verschiedne Vorstellungen über die Persönlichkeit Pauli. Der eine ist ganz durchdrungen von dessen dialektischer Virtuosität, der andre sagt, der Apostel wer-
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de oft von den geringsten Kleinigkeiten bestimmt, und man könne sich den Zusammenhang nicht deutlich machen. Beides hat etwas für sich beides kann aber falsch angewendet werden. Der Eine sagt, Paulus wäre ein leidenschaftlicher Mann, der andre er sei ein Muster von Ruhe und Gelassenheit. Wenn jener die Fortschreitung im Römerbrief erklären will dadurch, daß der Apostel sich durch Kleinigkeiten bestimmen lasse, so kann er leicht dieses schöne zusammenhängende Werk verhunzen; hebt einer dagegen in den gnomischen Stellen grade das dialektische hervor, so müssen da gekünstelte Erkärungen entstehn. Ebenso wird das Einzelne anders erscheinen, wenn man es aus dem Gesichtspunkt der Besonnenheit oder der Leidenschaftlichkeit beurtheilt. – Ein andrer Punkt der Differenz hat seine Mängel in der eigenthümlichen Natur der neutestamentlichen Schriften. Wir betrachten sie überwiegend von ihrem Interesse für das Christenthum überhaupt aus. Dieß an und für sich wirkt zerstörend auf die Seite der psychologischen Interpretation. Es können in eine Schrift Punkte kommen, die für das System der christlichen Vorstellungen Hauptpunkte sind, die aber in der Schrift als Nebenpunkte stehn. Es ist also falsch wenn man diese Nebenpunkte als Hauptpunkte der Schrift ansieht, und das muß auf die Erklärung der übrigen Stellen einen nachtheiligen Einfluß üben. (Die Punkte über Erbsünde und Erlösung im Römerbrief.). – Die neutestamentlichen Bücher sind eigentlich historische data, die didaktischen als Anfangspunkte in der Geschichte der Entwicklung der christlichen Lehre und Verfassung. Diese ganze Reihe hat aber keine Kontinuität, hinter der apostolischen Zeit tritt eine Lücke ein, welche nur sparsam ausgefüllt ist. Es ist z. B. ein Streit, ob die Abweichung des Gnosticismus bis ins apostolische Zeitalter zurückgeht oder nicht; das historische Interesse wünscht ein solches Zurückgehn; geht man davon aus, es hat schon solche Ansichten gegeben und erklärt darnach Ausdrücke; so ist dieß der grammatischen Seite zugewendet; aber es entsteht daraus auch ein bedeutender Einfluß auf die psychologische Seite. Sind solche Abweichungen da gewesen, so müssen sie die Gemüther der Apostel in Bewegung gesetzt haben; es entsteht dadurch ein neues Moment für die psychologische Interpretation. – Es kommt also, wenn die Grundidee gefunden ist, darauf an, daß Analogie mit andern Gedankenreihen des Schriftstellers selbst und andrer Schriftsteller uns leite; die erste Analogie lehrt die Composition auf positive Weise finden, letztre auf negative oder komparative Weise. In Absicht auf einzelne Schriften ist zu berücksichtigen 1. ÐZustandÑ des Verfassers 2. der Leser 3. die Nebengedanken.
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Dieß wären die Hauptgedanken über eine Wissenschaft, welche noch auf schwachen Füßen steht. Gott woll’ ihr aufhelfen! – Geschlossen den 6. August 1822.
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BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 571
Hermeneutik und Kritik nach den Vorträgen des H. Prof. Dr. Schleiermacher. W i n t e r s e m e s t e r 1 8 2 6– 2 7 . J. Braune. stud. theol. jetzt Prediger im Dorfe Witstock bei Zossen.
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Diese Vorträge sind für 2 verschiedene Disciplinen bestimmt, Hermeneutik und Kritik, was einer besonderen Erklärung bedarf. Die Principien der Kritik sind für den Theologen sehr wichtig, will man aber stehn bleiben bei dem, was für das akademische Leben nöthig ist, so füllt sie keine ganze Vorlesung aus; ich fand aber gut, sie besonders zu behandeln, mehr als sonst in einer Einleitung ins N.T. geschieht. Die Hermeneutik wird Raum dazu lassen. Die Verbindung erscheint also zufällig. Übrigens sind es sehr verwandte Disciplinen, zwischen denen ein besonderes Verhältniß. Dabei wird es nützlich seyn, mal nach alter Sitte von der bloßen nominal Erklärung auszugehn, was auf ihren Begriff und Verhältniß hinführt. Der Name Hermeneutik ist noch unbestimmter als Auslegungskunst. Hermeneutik von Hermes und dem Verhältniß dieser mythologischen Person zum Zeus, der die Bothschaften und Befehle an Ort und Stelle bringt, also der Bekanntmacher der Befehle des Zeus. ermeneythw also 1) der bloße Verbreiter von Gedanken und Reden der Andern, 2) das Deuten und Auslegen derselben. Daraus hat sich auch ein mannigfacher Gebrauch für eine Theorie, Hermeneutik genannt, gebildet. Zuerst verstand man darunter, die Kunst seine eignen Gedanken richtig vorzutragen; das ist aus dem philologischen Grund noch abzuleiten. Das eigentliche kunstmäßige Reden hat ein Denken voraus, das das ursprüngliche ist; das ist in jedem für sich, in eine kunstmäßige Rede verwandelt wird es aber eine Kundmachung für Andre. Mit diesem SprachGebrauch haben wir es nicht zu thun. Ein anderes ist, wenn wir auf die Reden und Gedanken von Andern gehn, und haben diese verstanden, so giebt es ein Streben, das gewonnene Verständniß von den Reden Andrer, Andern mitzutheilen. Das ließe sich auf das vorige zurükführen, es kommt darauf an, mein 31 vorige] ant
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Denken über das Denken Andrer, andern mitzutheilen, also vorherzureden. Mit diesem SprachGebrauch haben wir es hier auch nicht zu thun, sondern mit dem, was in der Mitte liegt, die Reden und Gedanken Andrer richtig zu verstehn. wir bleiben bei dieser allgemeinen Erklärung stehn. Sie sehn, daß diese Aufgabe beständig im Leben vorkommt, es giebt kein Reden, das nicht solches Verstehn erfordert. Bilden wir daraus eine eigne Disciplin, so beziehen wir das blos auf das Verstehn der schriftlich vorhandenen Werke. Kritik von krinein, das nimmt man in einem zu beschränkten Sinne wenn man blos an urtheilen denkt: der allgemeine dem Worte zum Grund liegende Typus ist ein Sondern (des Wahren und Falschen, Guten und Schlechten) worin indirekt die Beurtheilung des Ganzen liegt. Blieben wir dabei stehn, so hätten wir ein Geschäft von ungeheurem Umfang. Es bezöge sich auf alle menschliche Produktion. Sagen wir, daß Einiges mehr Handlung, andres mehr Werk ist, so ist die Kritik der Handlung alle sittliche und rechtliche Beurtheilung. Gehn wir auf den Ausdruck Werk, so gehört dahin Alles, was im weitesten Sinne Kunst ist. Mit dem ganzen Umfang haben wir es gar nicht zu thun. Wir wollen alles Ausgesprochne durch den Ausdruck Real-Kritik bezeichnen. Die Kritik, von der wir in Verbindung mit der Hermeneutik reden wird erklärt, Beurtheilung der Ächtheit ganzer Schriften oder einzelner Theile derselben. Das hängt mit dem vorigen so zusammen: Ein schriftliches Werk ist das Resultat von ganz verschiednen Handlungen. gesetzt auch, wir haben die Urschrift des Verfassers, so muß man doch stets unterscheiden, die Handlung die die eigentliche Composition ist, und das Niederschreiben, eine mehr mechanische Handlung. Haben wir die Urschrift nicht, so ist beides getrennt, und bei alten Schriften, eine durch vielfache Wiederholung ganz gesonderte Handlung. Überreicht der Verfasser die Handschrift selbst, so kommt es uns hier zum ersten Mal zur Wahrnehmung, und uns kann kein Zweifel sein. Wenn aber die Überschrift, die ein Werk dem Verfasser zuschreibt, eine vom Niederschreiben des Werks unterschiedene Handlung ist, so ist der Zusammenhang unterbrochen, und es entsteht die Frage wie die hinzukommende Handlung der 2ten Ordnung mit der Abfassung des Werks zusammenhänge. Es ist also die Beurtheilung des Wahren und Falschen mehrerer Handlungen. Fragen wir, wie verhält sich diese Aufgabe zum eigentlichen Begriff der Kritik, so stellt sich die Sache so: Haben wir eine Schrift aus entfernten Gegenden oder Zeiten vor uns, so ist das eine historische Thatsache. Gehn wir auf den Begriff einer 6 das] daß
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solchen, so ist klar, daß jede nur durch eine Reihe solcher verschiednen und zusammengesetzten Handlungen sichtbar war. Eine Handlung, die man nicht selbst geschaut, kann nicht aus einem einzelnen Zeugniß sicher überliefert werden, es müßte denn das schlechthin Einzelne sein. ein historisches Factum, das aus einer Mannigfaltigkeit solcher Einzelnheiten besteht, kann nicht von einem Einzelnen beschrieben werden, weil es nicht von einem Einzelnen schlechthin kann wahrgenommen werden (Schlacht, Tumult). Eine Zusammensetzung solcher Relationen wird Gemeinsames und Verschiedenes haben. Aber auch das Gemeinsame wird nicht von Allen gleich erzählt werden, jeder erzählt ja von einem besondern Standpunkt aus. Bei jeder Thatsache und Erzählung muß daher untersucht werden, was an dieser wahr und falsch ist. Wo man mehrere relationen hat, ist die Aufwerfung dieser Frage unvermeidlich, denn es gilt, diese zu beurtheilen. Also unter diesen Begriff der historischen Kritik, gehört auch die hierhergehörige Kritik, die Beurtheilung des Wahren und Falschen, die in den einzelnen Theilen so gestaltete Kritik auf einen Verfasser zu beziehen. Die Theilung der Kritik in höhere und niedere versparen wir. Jetzt werden wir im Stande sein, das Verhältniß beider Disciplinen abzuwägen. Die Sache befindet sich in einer mißlichen Lage. Eine Disciplin setzt die andre voraus. Wenn mir die Aufgabe entsteht, die Schrift eines Verfassers auszulegen, also ihren Sinn richtig auszulegen, so bin ich, so bald etwas schwieriges vorkommt, an andre Stellen desselben Werks, oder andre Werke desselben Verfassers gewiesen. Das setzt voraus, daß Alles in dieser Schrift von diesem Verfassser herrührt. Die Hermeneutik setzt also die Kritik voraus. Ebenso umgekehrt. Denn entsteht ein Zweifel, ob eine Schrift einem bestimmten Verfasser gehört, oder eine Stelle so von ihm geschrieben, wie wir sie jetzt lesen, so setzt das die Auslegung voraus. Nun giebt es noch eine dritte, beiden eben so verwandte Disciplin, die sich in gleichem Verhältniß befindet, die Grammatik. Hermeneutik und Kritik, wenn sie ausgeübt werden sollen, setzen voraus, daß man die Grammatik in sich hat, und der richtige Gebrauch der Grammatik setzt voraus, daß Hermeneutik und Kritik richtig ausgeübt sind. Grammatik ist die Kenntniß vom Bau und den Regeln der Sprache. Lernen kann man sie nur aus der Schrift, und aus ihr nur unter Voraussetzung einer richtigen Auslegung und Kritik. ist eine Konstruktion in einer Stelle unecht, oder habe ich nicht richtig ausgelegt, so bekomme ich ein falsches Element in meine Grammatik. Ebenso setzen Hermeneutik und Kritik den 3 aus einem] Kj durch ein
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Besitz der Grammatik voraus. Denn fragt man, was sind die wichtigen Kennzeichen, ob in einer Schrift Alles von der Hand des Verfassers herrührt, so ist das nun die Grammatik. Hat ein Schriftsteller ein classisches Ansehn, so wird man ihm nicht eine schlechte Konstruktion zuschreiben; und ebenso um eine Schrift zu beurtheilen, ist man an das SprachGebiet 5 und das Zeitalter des Schriftstellers gewiesen. Das setzt die Grammatik in großer Vollkommenheit voraus. Diese Trias von Disciplinen befindet sich in vollkommenem cyklischem Verhältniß. – Was unsere Vorträge betrifft, müssen wir die Grammatik voraussetzen, und uns mit dem cyklischen Verhältniß der beiden andern suchen müssen abzufinden. Die Aufgabe 10 jeder dieser 3 Disciplinen ist also unendlich, kann also nur durch Approximation, nicht ursprünglich gelößt werden. Jeder ist nur sofern ein guter Grammatiker als er guter Ausleger ist, und umgekehrt, und im Allgemeinen vom Zeitalter, es ist nur so viel richtige SprachKunde als Auslegungskunde ist. Die Idee eines vollkommenen filologow ist, daß er 15 in allen 3 Beziehungen vollkommen sei, also das Unendliche durchgemessen habe, d. h. aber nur, daß jeder in einer Approximation dazu ist.
7 Mi 25.10.
I. Hermeneutik, die Kunst, die das richtige Verständniß der Rede lehrt. Ich nehme es ganz allgemein, nicht blos auf die schwürigen Stellen gehend, denn das hieße, man solle das Verständniß anfangen so gut und so lange es gehn will; erst wenn das nicht geht, solle man nach bestimmten Regeln verfahren. Aber dann hat man sich den Gebrauch der Regeln schon abgeschnitten; eine Stelle wird gewöhnlich erst schwer [dadurch], daß man das vorige nicht richtig verstanden. Fassen wir es allgemein, so fragt sich, ist das Verstehn der Rede eine Sache, die besondere Regeln verlangt, nicht allein auf dem gesunden Verstand beruht. Kann man das im Allgemeinen, so kann man sich im Einzelnen mit dem gesunden Gefühl begnügen. so wird oft, und auch mit Glük verfahren, aber ohne Sicherheit. Es kommt nun darauf an, was Kunst sei. Es giebt in allem meinem Handeln eine Differenz von Bewußtsein und Bewußtlosigkeit, aber nur relativ. Diesem stellen wir den [Gegensatz] zwischen dem Kunstlosen und Kunstmäßigen gegenüber. je kunstloser das Handeln ist, um so bewußtloser und umgekehrt. Das auf die Rede angewandt, giebt es ein bewußtloses Verstehn, wo vorher nichts überdacht ist, und während der Handlung keine reflexion. Das gemeine Gespräch verstehn wir so, aber nicht so, daß nicht zuweilen auch eine Ungewißheit entsteht. So wie sich die Rede durch einen größern Zusam-
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menhang zieht, wird ein besonnenes Verfahren beim Auffassen nöthig sein, nur das atomistische wird so bewußtlos verstanden werden können. Warum faßt man aber den Begriff dieser Kunst so eng, daß man sie nur auf die geschriebene Rede bezieht? ich weiß keinen andern Grund als den: Wenn ich den, mit dem ich rede, bei der Hand habe, brauche ich mich durch das kunstgemäße Auffassen nicht abzumühen, ich brauche ihn blos zu fragen. Dazu kommt noch etwas, was noch weiter reicht: so wie die Rede zusammenhängend ist, und einen Akt bildet, so findet das Geschäft nicht mehr statt; es kommt aber der unmittelbaren Rede viel zur Hülfe, was in der geschriebenen schwer kann ersetzt werden, die Mimik des Tons und Gebehrde. Das giebt die Einleitung, an der gehörigen Stelle die Aufmerksamkeit zu schärfen, um das Ganze richtig zu fassen. Das kunstgemäße Verstehn bei der geschriebenen Rede ist also nothwendiger als bei der unmittelbaren. – Die unmittelbare Rede geht vorüber, die geschriebene steht fest, ich kann vorwärts und rückwärts gehn, kann inne halten und mich besinnen; so scheint die unmittelbare Rede schwerer zu verstehn [zu] sein. Aber die Anwendung der hermeneutischen Regeln erfodern ein solches Stillestehn, sind daher eigentlich nur auf diese anwendbar. Deshalb ist es wohl natürlich, daß wir die Schrift voraussetzen schon bei der Aufstellung der Regeln. Bei der geschriebenen Rede muß man die Fertigkeit in der Handhabung der hermeneutischen Regeln erlernen, und so wie das Verstehn des leichten Gesprächs das niedrigste ist, so ist das Verstehn der vorübergehenden gesprochenen Rede das schwerste. Die geschriebene Rede in der Mitte. Ist diese Kunst des Verstehens eine allgemeine, oder muß man verschiedene Regeln für verschiedene Gebiete geben? das lezte leuchtet ein. Dichterische und Philosophische Werke. Wollten wir aber dabei stehen bleiben, man könne nur specielle Regeln für specielle Gebiete aufstellen, so würden alle diese Regeln blos ein Aggregat von Beobachtungen sein, wobei nichts zum Grunde läge als das Verfahren eines gesunden Verstandes und eines feinen richtigen Gefühls. Viele Theorien haben auch diesen Charakter; sie tragen auch viel Schönes und Richtiges vor; Aber das Befriedigende kann doch erst entstehn durch die Verallgemeinerung. Die Aufgabe würde also sein: Es wird gesprochen oder geschrieben, d. h. es werden Gedanken durch bestimmte Zeichen hingegeben; was ist das Verstehen? wir bleiben bei der gewöhnlichen aber noch unbestimmten Er5 rede] Rede
11 Einleitung] Kj Anleitung
23 gesprochenen] geschriebenen
7 Zusatz Bötticher, S. 6: „so kann er mir selbst das Undeutliche durch authentische Erklärung erläutern“ 18 lies: auf die geschriebene Rede 32 Zusatz Bötticher, S. 7: „aber nichts sicheres“
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klärung, ich verstehe, wenn ich bei diesen Zeichen denke, was jene gedacht. Das Verstehn ist also das rückwärtsnachconstruiren der Handlung des Denkenden. Kann ich das vom ersten Entwurf bis zum vollkommen componirten Niederschreiben ergründen und nachbilden, so habe ich vollkommen verstanden. Kann es nun aber eine und dieselbe Anweisung geben für das Verständniß der Gedanken, die Zeichen mögen sein, welche sie wollen? Denken wir an die Taubstummen, die nicht den Gedanken, sondern nur den Ausdruck der Empfindung geben, so ist das nicht dasselbe. Nun also unsere Kunst soll 1 sein in diesem engen Gebiet, wo blos vom Verstehn in der Sprache die Rede ist. Die Sprache ist aber in einer erstaunlichen Mannigfaltigkeit gegeben, werden die Regeln des Verständnißes für alle dieselben sein? Es muß einen Unterschied machen, ob die Sprache sichtbar wird durch die Buchstabenschrift, oder durch eine andre, wie die chinesische; da stoßen wir wieder auf eine Begrenzung. In unsern Sprachen, die uns vorkommen, woraus wir einen Theil der Erfahrung und Erkenntniß schöpfen, dreht sich der ganze Bau um den Gegensatz zwischen nomen und verbum. Das setzt voraus, daß Haupt- und Zeitwort erkennbar sind in der Form. Denken wir uns Sprachen, wo Haupt und Zeitwort nicht durch die Form unterschieden sind, muß es andre Verfahrungsarten geben, um die Rede auf den Punkt zu stellen, wo sie bei uns von selbst steht. Wir werden uns deshalb noch enger begrenzen müssen, und sagen, jenes lassen wir andern Zeiten aufgespart sein, und halten uns blos an die Sprachen, wo diese beiden Hauptformen geschieden sind, was subject, was prädicat ist, und welche beide zusammen gehören. Weiter haben wir nicht nöthig, die Einheit einzuschränken. Auch wird das Verstehn der abgesonderten Sprachen dem Prinzip nach dasselbe sein, es wird uns nur schwer, uns in dasselbe hineinzuversetzen; die partiellen Aufgaben gehen also von demselben Prinzip aus, die Aufgaben haben wir ganz gleich gestellt, wir machen aber einen Sprung und gehen gleich auf das speciellere, wo die vollkommen organisirte Sprache in einer elementaren Schrift hingestellt wird. Ehe wir diese allgemeine Formel betrachten, und mit ihrer Analyse fortschreiten, müssen wir noch etwas vorausschicken. Ist diese Aufgabe nach bestimmten Regeln zu verfahren, mit denen wir uns beschäftigen sollen, und sehn es als wissenschaftliche Disciplin an, so werden wir diese 12 sein?] sein.
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13–14 Zusatz Bötticher, S. 8: „oder Hieroglyphen ect.“ 16–17 Zusatz Bötticher, S. 8: „alles andere befördert nur eine lebendige Einheit dieser beiden“ 26–27 Zusatz Bötticher, S. 8: „Es muß auch die Auslegung der Nichtbuchstabenschrift sich auf die allgemeinen Principien zurückführen lassen, wenn auch die speciellen Regeln nicht passen“
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Aufgabe nur richtig lösen, wenn wir wissen, wie diese Aufgabe mit allen übrigen zusammenhängt. Das ist nichts leichtes. Gewöhnlich heißt es, diese Aufgabe hängt mit der Philologie zusammen. Nun rechnet man zur Philologie gewöhnlich die Kenntniß alles dessen, was zum klassischen Alterthum gehört. Warum ist aber das classische Alterthum etwas besonderes. Das liegt in unserer Geschichte, ist etwas positives, und das Besondere nachzuweisen ist schwer. Wir können also beim positiven nicht stehn bleiben, sondern müssen weiter gehn. Gesetzt also wir hätten die Regeln gefunden und wenden sie an, was ist das Resultat? Offenbar daß das Denken der einzelnen Menschen ein Gemeingut geworden. Das Höchste wäre, alle wüßten, was jeder gedacht hat, das menschliche Denken wäre eines geworden. Ist das etwas wesentliches? o ja, es ist ein wesentlicher Theil der gesammten menschlichen Aufgabe, diese zusammenzustellen ist die Aufgabe der Ethik. So wie wir den Begriff des menschlichen Geschlechts als eine lebendige Totalität gedacht, so wird in Beziehung auf diese Funktion die Aufgabe realisirt durch ein richtiges Denken. Es wird also nicht gedacht um des wesentlichen LebensBedürfnißes wegen, sondern es ist wesentlich Funktion des Geistes: das soll verstanden und auch Gemeingut werden: d. h. unsere Aufgabe setzt voraus, daß auch auf eine kunstmäßige Weise gedacht wird, und unsere Aufgabe ist eine Begleiterin des ganzen menschlichen Geschlechts um das kunstmäßig Gedachte richtig verstehn zu lassen. Auf diese Weise wird unsere Theorie das Glied einer höheren, sich weiter erstreckenden Trias. Die Aufgabe zerfällt in 3 Theile, von denen unsere Seite die letzte; die Sprache eine an und für sich aus sich herausgehende, auf die Mittheilung gerichtet. Wenn das Denken sich zur Sprache gestaltet, so geschieht es schon zum Behuf der Mittheilung, da das Bewußtsein durch diese Form ein Allen gemeinsames wird. Ein solches Werden des Bewußtseins giebt es auf eine kunstlose und kunstgemäße Form. Das Erste ist also, diese Form für die Form kunstgerecht zu gestalten. Dialectik, das erste Glied dieser Trias. Die Mittheilung selbst ist aber wieder eine eigne Kunst, als sie sich auf einen größeren Umfang bezieht in der Kunst der geordneten Mittheilung durch die Sprache. Dies scheint mehrere Thätigkeiten ohne Einheit unter sich zu begreifen. Denken Sie sich eine rein wissenschaftliche Mittheilung, wenn das Denken an sich vollkommen sich analysirt, so wird zur Mittheilung in wissenschaftlicher Form wenig hinzukommen, und kein eigentliches Hervortreten dieser Kunst der Mittheilung sein. Auf der andern Seite ein poe¨tisches Kunstwerk. wenn auch hier Gedanken 11 hat] hatt oder hätt
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mitgetheilt werden, so wird das Kunstwerk nur so vollkommen sein, je vollkommener die Gedanken sind. Das dialektische muß also darin sein. Die Kunst der Mittheilung ist aber hier etwas anderes, und das wird uns auf eine Duplicität führen; halten wir [uns] an das Äußerliche, so wird das Letzte Poe¨sie, das Erste die strengste Prosa. Betrachten wir es innerlich, so kann zwar der Leser durch das poe¨tische Kunstwerk viele Kenntniße erhalten, aber das ist nicht beabsichtigt, sonst wäre die poe¨tische Form eine verfehlte Wahl. Die Absicht ist also hier eine andre. Die Kunst der Mittheilung wird von dem Bestreben die Wahrheit des Mitgetheilten zu geben, ausgehen. Die andre wird vom Inhalt ganz absehn, und blos auf die Form gehen. Das 2te Glied dieser Trias spaltet sich also. Aber in Beziehung auf das 3te nehmen wir es zusammen, es wird nur in der Ausübung ein 2faches. Unsere Kunst ist nun das 3te, es faßt beides zusammen, was ich verstehe, muß ich der Absicht des Mittheilenden gemäß verstehn. Wir haben also unsern Gegenstand gefunden: eine doppelte Verkettung, einmal in der natürlichen und organischen Verkettung mit Kritik und Grammatik, dann mit der Dialektik und Composition. Worauf deutet das hin? Das Geschäft, dessen Regeln wir suchen ist nur eines, und doch steht die Aufgabe in 2facher Verwandtschaft. Die Aufgabe wird also 2 Seiten haben, die eine mehr im Verhältniß mit der Grammatik und Kritik, die andre mit der Composition und Dialektik. Ehe ich das auseinander setze, etwas Geschichtliches, wie sich die Hermeneutik zu dieser Verwandtschaft verhält. Wenn wir die letzte Verwandtschaft nehmen, so haben wir 3 wesentliche Funktionen des menschlichen Geistes, Denken, Auffassen und Verstehn. Alle 3 in einem cyklischen Verhältniß. Sollen daher Regeln dafür gefunden werden, so ist die Aufgabe eine texnh Kunstlehre, so die Dialectik – Rhetorik und Poetik – die Hermeneutik muß einen gleichen Rang einnehmen. sie erscheint also in diesen Kreis nothwendig gehörig, und in gleichen Prinzipien (die in der Philosophie sind) beruhend; sie ist also eine praktische Disciplin, die aber auf das erste Prinzip des Bewußtseins zurückgeht, und nur in Beziehung darauf kann sie als Kunst-Lehre aufgestellt werden. Da wäre zu erwarten, daß diese Lehre von denen getrieben würde, die sich mit den Prinzipien beschäftigen, die Auslegungskunst müßte also von den Philosophen getrieben werden. Das findet sich nicht bestätigt. Bei den Alten erwarten wir es von der Aristotelischen Schule (die die Kunstlehre der Rhetorik und Poe¨tik behandelte) und von der Stoischen, die in die Tiefe der Sprache eindran26 Variante Bötticher, S. 11: „Denken, Darstellen und Verstehen“
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gen, und die ersten Anfänge einer philosophischen Sprachlehre gaben. Da es aber kein andres Auffassen als in der Muttersprache gab, schien es nicht nothwendig im Auffassen ein so besonnenes Verfahren einzuleiten. Ein anderes wäre es bei den Lateinern gewesen; da liegt der Grund aber in dem sehr zurücktretenden Streben auf die Theorie, und überhaupt diese ein geistiger Luxus war, in der Organisation nicht eintrat. – Woher kommt es aber, daß in der modernen Welt die Hermeneutik nicht behandelt wurde? Das kommt daher, weil schon in den früheren Perioden dieser neueren Zeit in der scholastischen und der späteren wieder, die Beschäftigung mit den Prinzipien von vorn anfing und keine feste Basis da war. Die philosophischen Systeme, jedes als eine eigene Methode die ersten Prinzipien zu fassen, sind so schnell gefolgt, daß das ganze Gebäude nicht hat aufgeführt werden können, ohne daß die Prinzipien schon antiquirt waren. Die Leibnitz-Wolfische Schule hat das längste ruhige Regiment gehabt, führt diese Wissenschaft auch auf, aber auf eine unselige Weise, als Anfang zur Logik, die aber in dieser Schule nur negativ war. Die späteren Systeme haben nur die Hauptwissenschaften, die Prinzipien der Natur-Wissenschaft und Ethik aufbauen können, und sind bis zu dieser nicht gekommen. Sehen wir auf die andre Trias, die Hermeneutik in Verbindung mit Grammatik und Kritik, so scheint sie hier der Philologie angehörig, und da im Vorigen die Hermeneutik als KunstLehre nicht getrieben wurde wo man es mit GedankenProduktionen in der Muttersprache zu thun hatte, so muß es hier geschehn. Die Philologie ist deshalb der recht eigentliche Ort der Hermeneutik. Daß aber das classische Alterthum für uns ein besonderes Gebiet bildet, ist unserer Geschichte angehörig, also etwas positives. Die Hermeneutik, von den Philologen getrieben ist deshalb vom Charakter des positiven imprägnirt. Das positive im geschichtlichen ruhende, und das Geschichtliche irrational zu den Prinzipien a priori, verschmähet das Zurükgehn auf diese Prinzipien. Deshalb geschah es, daß die Philologen viel hermeneutisches Material produzirten, aber die Sache selbst kam nicht zur wissenschaftlichen Ausbildung. Eine etwas ausgeführte unter der wirklichen Gestalt der KunstLehre hervorgegangene Hermeneutik, ist von Ast, die die Philologie und Philosophie verband; aber 18–19 zu dieser] lies zu jener, also zur Logik
22 da] da es
3 Zusatz Bötticher, S. 12: „fremde Sprachen verlangen am meisten kunstmäßige Erklärung“ 7–8 Zusatz Bötticher, S. 12: „nicht auf eine ursprüngliche Art“ 18–19 Zusatz Bötticher, S. 13: „Schon in der immer neuen Darstellung der Principien liegt eine Verachtung der Erklärung des älteren.“ 32–34 Friedrich Asts ,Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‘ erschienen 1808 (SB 97).
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der philologische Charakter ist, daß er sie in der philologischen Trias aufgestellt (Grammatik, Kritik und Hermeneutik). Nun aber finden wir von 2 andern Seiten her besonders der Hermeneutik gewidmete Bestreben, von Theologen und Juristen. Bei den Letzten steht die Sache so: es kommt ihnen an auf die richtige Anwendung der Gesetze, und ist es zweifelhaft, ob ein einzelner Fall unter ein Gesetz zu subsummiren sei oder nicht, so kommt es darauf an, den Umfang eines Gesetzes zu bestimmen. Ihre Bestimmung drehen sie deshalb um diesem Mittelpunkt den mindesten und größesten möglichen Umfang zu bestimmen. Das ist nicht mehr unsere Aufgabe. Das Gesetz ist die Rede des Gesetzgebers, der kann aber nicht an alle einzelnen Fälle denken, das Verstehn geht deshalb nicht auf das ursprüngliche Denken zurück. Bei den Theologen ist es natürlich, Bestrebungen dieser Art zu suchen. Für die ganze Christenheit liegen die Prinzipien in der heiligen Schrift, d. h. in Büchern aus ferner Zeit und in ausgestorbenen Sprachen; es kam also hier auf das richtige Verständniß an, und es wurde die Nothwendigkeit, die Sache auf Prinzipien zurükzuführen klar. Dessenungeachtet kann man nicht behaupten, daß die theologische Special-Hermeneutik auf die ersten Prinzipien kam. Zwar finden sich zerstreut die ersten Canones, aber es fehlt, daß sie im Zurükgehn auf die ersten Prinzipien wären organisch zusammengestellt worden. Die Regeln sind so gefaßt, daß die Sphäre und Art und Weise ihrer Anwendung nicht ausgedrückt ist. Ich muß hier verweilen um aus einander zu setzen, wie ich verfahren will. Ausgehend von der allgemeinen Hermeneutik, und die Darstellung nicht zerstückelnd der Anwendung auf die heilige Schrift zur Liebe. Sondern wir entwickeln die Prinzipien, und machen die Anwendung aus ihnen. Es bleibt dann nichts übrig, als die specielle Beziehung auf die heiligen Bücher als Correlarien zu behandeln; und die Abweichungen zu geben, die aus der eigenthümlichen Natur dieser Bücher folgen. Ich habe [es] bei diesen Vorträgen am meisten auf die Theologen abgesehn, es aber nicht für zwekmäßig gefunden, von dem N.T. ausgehend die specialHermeneutik für sich zu behandeln. Wenn auch nicht aus einer allgemein anerkannten Hermeneutik eine einstimmige Auslegung des N.Ts hervorgehn wird, so ist doch durch Aufstellung der specialHermeneutik, die meist auf Observation beruhete, die meiste Verwirrung darin hervorgegangen. Es ist nun nothwendig, erst die Frage zu beantworten, ob die heilige Schrift und besonders das N.T. einer hermeneutischen Behandlung fähig 28–29 Variante Bötticher, S. 14: „und da wo die biblische Hermeneutik eine eigene Gestalt gewinnt diese angeben.“
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sei nach den Grundsätzen aller Bücher. An sich ist kein Grund diese Frage aufzustellen, da die Aufgabe ganz allgemein auf menschliche Rede gestellt ist. Die Annahme der Inspiration des N.T. stellt aber diese Frage auf, und die Geschichte der Auslegung macht die Beantwortung nothwendig, denn es sind für das N.T. in Beziehung auf diese Theorie Prinzipien aufgestellt worden, die ganz abweichen. Man hat gesagt: Im N.T. müße jedes Wort bedeuten so viel als immer möglich, eben weil es nicht auf menschlichem Wege hervorgebracht wurde. Nun würde es nichts helfen die Theorie der Inspiration selbst zu untersuchen und ein Verfahren danach aufzustellen, denn das würde nur gelten für die, die unsre Ansicht theilten. Es wird deshalb so besser sein: Wir setzen voraus, Alles was einer haben will für die Inspiration des N.T. und untersuchen, was dann für die Auslegung daraus folgt. Wenn wir sagen, das N.T. ist vom heiligen Geist eingegeben und das nicht auf das Innre und den Impuls zur Handlung beziehen, sondern auf die Rede im Ganzen und Einzelnen, so wird das behauptet deshalb, weil das N.T. die Quelle ist, woraus alle göttliche Lehre zu schöpfen. Solche Bücher habe nur der göttliche Geist vorbringen können. Er, wenn man ihm die Allwissenheit zuschreibt, hätte für die ganze christliche Kirche geschrieben, und das vollständige Bedürfniß der christlichen Lehre im Auge gehabt. Das wollen wir zugeben. Nun ist aber nicht zu leugnen, daß jedes N.T. Buch für ein besonderes publicum war. Bei den historischen tritt das nicht so hervor. Aber die didactischen waren bestimmt an einzelne Personen und Gemeinden gerichtet. Sollten sie sie auch verstehn, oder sie blos der Vorwand sein, daß die Bücher auf die Nachwelt kommen! Das Erste kann Niemand leuchnen; sie konnten aber nicht verstehn, was sich auf die christliche Kirche aller saecula bezog. wenn die heilige Schrift sich nicht ohne eine besondere interpretation verstehn läßt, wendeten jene sie auch an? Nein, eine solche Theorie existirte damals nicht, d. h. eine Theorie von der Inspiration des AT existirte unter den Juden, konnte also auch auf die Juden-Christen übergehen; aber das N.T. existirte noch nicht. Sagt Christus, der heilige Geist werde es seinen Jüngern zu Munde eingeben, so ist nicht vorauszusetzen, daß die Heiden-Christen das wußten. Die es hätten aus der tradition wissen können, sind die palaestinischen Christen, an die sind aber diese Bücher nicht. Ferner ist in den Reden Christi nicht die Rede von den Akta der Apostel zu den einzelnen christlichen Gemeinden. Sehen wir auf andere NeuTestamentlichen Stellen, wo Christus sagt, der Geist werde die Apostel in alle Wahrheit leiten, so kann man auch annehmen, so werde [man] 25 lies: leugnen
37–38 Vgl. Johannes 16, 13.
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das angewendet haben auf alle Arten des Lehrens; und es war ihr Interesse dieser Verheißung Raum zu verschaffen; diese Überzeugung unter den Christen ist also eine billige Forderung. Nun fragt es sich aber, wie konnten sie zu Werk gehn, war es möglich die Sache anders zu denken oder zu behandeln als auf die natürliche? Der ganze Akt muß ebenso als vollkommen menschlich verstanden werden, wie er ein göttlicher ist. Diese innige Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen geht durch die ganzen Schriften hindurch. Konnte also den Christen einfallen, beim Verständniß der Schriften der Apostel anders zu Werk zu gehn, als bei jeder andern menschlichen Rede. Sie kann den festen Glauben des Verstehens durch den heiligen Geist haben, nicht aber die Operation des Verstehens umkehren. Von dem Augenblik an, wo der Christ die Apostel anhört, hätte müssen unter der Voraussetzung, daß die inspiration eine andre Art des Verständnißes verlange, hätte müssen eine Schule gegründet werden, und erst die Späteren hätten davon Nutzen gehabt. Das Resultat war also: War ein anderes Verfahren des Auffassens nothwendig, so mußte die rechte Wirkung für die, denen sie zunächst bestimmt war, verloren gehen. Dazu nehme man noch, daß die Schrift ihnen bloß vorgelesen wurde; es wäre das allerzwekwidrigste, das dem heiligen Geist unterzulegen. Man kommt aus diesem Dilemma nicht heraus, man kann keine andern Prinzipien der N.T. Interpretation annehmen als die allgemeinen, oder die ersten Christen sind rein aufgeopfert als Mittel für die Spätern. Lassen Sie uns das Letzte mal annehmen, wie weit wird es sich erstrecken? ist eine wirkliche Theorie der N.T. Auslegung aufgestellt worden, die sich hätte geltend gemacht? nein. die christliche Kirche wäre also als Einheit betrachtet, noch nicht dahin gelangt; also alle Generationen wären bisher aufgeopfert worden. Das läßt sich auf jeden einzelnen zurükwenden. Auch giebt es keinen einzelnen Schriftsteller, über dessen Auslegung in allen einzelnen Stellen man einverstanden wäre. Es wird also durch die Annahme des Wunderbaren nicht mehr erlangt als durch das Menschliche. Nehmen wir andre Regeln des Verständnißes für die N.T. Bücher an, so frage ich, haben die ersten Christen diese Regeln gehabt oder nicht. Das erste wird Niemand zugeben, der heilige Geist hätte also an ihnen seinen Zweck nicht erreicht. Nun nimmt man noch einen Ausweg an: ein doppeltes Verständniß, getrennt und beabsichtigt. Für die Christenheit aller Zeiten liegt noch ein tieferer Sinn im N.T., der erst richtig verstanden werden kann bei der Annahme der Regeln eines besonderen Verständnißes. sie kamen aus dem Judenthum ins Christen11 haben] aber
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thum, ihre höchste Ausbildung die cabbalistische. Die nächste Stufe die sogenannte allegorisirende Erklärungs-Art. Was ist von einer solchen Theorie zu halten? Giebt es einen 2fachen Sinn für inspirirte Schriften, so kann man nicht leugnen, daß es nicht die Möglichkeit eines solchen 2fachen für andre Schriften geben könne. – Man hat das oft in neuerer Zeit pingui Minerva geleugnet. in einem gewissen Sinne ja und nein. Es kommt das alle Tage vor in Anspielungen; das ist nicht ein 2facher Sinn, sondern man kann nur sagen, der Eine versteht was der Andre gesagt, ganz, der Andre nicht ganz. Es giebt aber kein Verstehen der menschlichen Rede, wenn es für einen solchen 2fachen Sinn keine ErkenntnißMittel gäbe. Die Erklärung des N.T. fiele deshalb wieder unter das allgemein Menschliche, und diese Aufstellung führte nicht von den allgemeinen Regeln der interpretation ab. Es ist das etwas allgemein Menschliches. Ein Gesetz muß denen, denen es gegeben wird, verständlich sein. Nach ein Paar saecula wird die Anwendung streitig sein. Der Gesetzgeber kann aber doch auf diese möglichen Fälle Rücksicht genommen haben, vermöge seines erweiterten Gesichtspunkts. Das läßt sich vielfach auf das N.T., als Norm der christlichen Lehre anwenden, ohne daß wir annehmen, die Apostel hätten auf alle folgenden Streitigkeiten Rücksicht genommen, für die wir Hülfe suchen. Das ist die erweiterte Anwendung, nicht der ursprüngliche Sinn. Es ist also dafür gesorgt, von den N.T. Schriften einen erweiterten Gebrauch zu machen, ohne einen 2fachen Sinn anzunehmen. Die disparate Theorie hört also auf. Geht man aber über diese Grenze hinaus, so tritt Willkührlichkeit ein, der wir in der evangelischen Kirche nicht können die Thür öffnen. Hypothetisch gesetzt, es ist eine andre Interpretation des N.T. nothwendig, weil es eine vom göttlichen Geist inspirirte Schrift ist, so kann man fragen, was kann das für ein besonderes Verfahren sein? Bei jeder Schrift sehen wir einen als Verfasser an, und beurtheilen die Schrift selbst nach der anderweitigen Kenntniß vom Verfasser. Beim N.T. müssen wir also nicht A und B als Verfasser ansehn, sondern den göttlichen Geist, und sie nach der Kenntniß von ihm betrachten. Soll daraus also eine KunstLehre oder Theorie [sich] ergeben, setzt das eine besondere Kenntniß des göttlichen Geistes voraus. D. h. man kann die Schrift nur verstehn, wenn man den göttlichen Geist kennt, d. h. das Verständniß der heiligen Schrift ist bedingt durch die Erkenntniß des heiligen Geistes. Wer diese hat, braucht jene aber nicht; wenn er sie hätte, müßte er sie aber haben durch eine innere Erleuchtung. Das führt doch offenbar das Fanatische ein, vor dem wir 38 dem] der 6 pingui Minerva, platterdings, ohne Subtilität (Cicero, Laelius 19)
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uns am meisten hüten müssen, da wir die Wirksamkeit des Geistes durch das Wort bedingt setzen. Wie wollten wir den bestreiten, der sich einer besonderen Eingebung rühmt; diese wäre gewisser maßen postulirt. Wollten wir uns dagegen retten, so müßte es doch auf eine menschliche Weise beurtheilt werden. Wir bleiben also lieber von Anfang an beim Menschlichen. Wollte die göttliche providenz das Verstehn des N.T. sicher stellen, so geschah das besser unter der Voraussetzung des Allgemein Menschlichen; sind wir gleich in dem Verständniß noch begriffen, so verfahren wir doch nach bestimmten Regeln. Allerdings wird sich in dem Folgenden an vielen Orten zeigen, daß sich die hermeneutischen Prinzipien in der Anwendung auf die N. Test. Bücher modifiziren, aber nicht wegen der Inspiration, sondern wegen der Ähnlichkeit derselben mit andern Büchern. Wir kehren zurük zu den ersten Prinzipien, um die allgemeine Anordnung unsers Verfahrens zu finden. Wir fanden eine doppelte Verwandtschaft der Hermeneutik, mit der Grammatik, und in der andern Trias mit der Kunst der Composition. Diese 2fache Art weißt auf eine Gliederung in der Hermeneutik selbst hin. Wenn wir ihre Verwandtschaft mit der Grammatik betrachten, und von der Gegenseitigkeit abstrahiren, daß die Grammatik die Hermeneutik voraussetzt, so liegt darin die Aufgabe, den Inhalt einer Schrift zu verstehn aus der Gesammtheit der Sprache, denn die Grammatik ist nur die wissenschaftliche Kenntniß der Sprache. Die Grammatik einer besonderen Sprache steht in vieler Beziehung unter der allgemeinen Grammatik, ebenso wird auch ein Parallelismus in der Hermeneutik gemacht werden können; es wird aber nicht weit führen, die Hermeneutischen Prinzipien zu behandeln, daß sie auf alle Sprachen paßen; denn wir kämen bald darauf, daß nicht alle Sprachen subjektiven und prädicativen Begriff unterscheiden, und unsre Aufgabe liegt so sehr auf der einen Seite, daß wir uns nicht um die andre Seite zu bekümmern brauchen. Das Hervortreten des Subjects und verbi in der Sprache tritt deutlich hervor in den uns umgebenden neueren Sprachen, und den alten, so daß wir uns hieran halten können. Soll nun der Inhalt einer Schrift aus der Gesammtheit der Sprache verstanden werden, was heißt das? es setzt voraus die Gemeinschaftlichkeit der Sprache zwischen dem Schreibenden und Verstehenden. Nun ist das eigentlich nur der Fall zwischen solchen, die dieselbe Muttersprache theilen, sonst steht jeder Verstehende in dem Verstehn der Sprache hinter dem zurük, der geschrieben hat, wenn nehmlich jener in seiner Muttersprache geschrieben. Wenn ich für solche schreiben will, die nicht meine Muttersprache reden, so kann das 3fach geschehn. 1) ich schreibe in meiner Muttersprache, und lasse es darauf ankommen,
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ob andre, die sich dafür interessiren, die Sprache verstehen werden. So handeln alle neuern europäischen Völker, die eine Litteratur haben. Wir Deutschen sind die Einzigen, die von dieser HandlungsWeise abgehn, und soll etwas geschrieben werden, besonders für Ausländer, geben wir uns nicht selten die Mühe, in ihrer Sprache zu schreiben. Kann das das Verständniß begünstigen? nein, es geht nur an, wenn der Schreibende die fremde Sprache ebensogut versteht. Wenn man sich auch der Germanismen enthält, so hat jene Sprache eine solche Feinheit, daß man, wenn man sie vermeidet, leicht mißverstanden werden kann. Schreibt man nun für solche, die dieselbe Sprache mit uns reden, aber in einer andren Sprache, so muß das den Austausch der Gedanken erschweren. Der Gebrauch der gelehrten Sprache für Sachen, die in Deutschland gelten, ist also eine Fessel. Es entsteht hier die neue Aufgabe, daß der Leser erst erfahren muß, welchen Grad von Sprach-Kenntniß er im Schreibenden vorauszusetzen hat. Also die Gemeinschaftlichkeit der Sprache wird vorausgesetzt. Ist sie nicht ursprünglich da, so entstehn dann Regeln für das Verfahren, die da, wo jene ist, nicht zu sein brauchen. Das sind nicht mehr allgemeine hermeneutische Regeln, sondern nur subsidiarische, sie stellen ja nur den Leser auf den Punkt, auf dem er eigentlich stehn sollte. Sieht man das für die eigentlichen Regeln der Hermeneutik an, so befindet [man] sich nur im Vorhofe, und übersieht die eigentliche Aufgabe. (So wenn man in der Hermeneutik über den richtigen Gebrauch der Wörterbücher spricht). Was uns aber nöthig wird, etwas mehr in die Theorie dieser Sprachkenntniß einzugehn, als sonst geschehn würde. – Die nächste Frage ist nun: Wir setzen die vollständige Kenntniß der Sprache voraus, bleibt die Aufgabe noch übrig, oder nicht? das geht daraus hervor, daß die Kenntniß der Sprache selbst aus dem Verstehn recht hervorgehe. es muß also eine Aufgabe sein, daß aus der geringern Kenntniß das Verstehn hervorgehe, das gilt für die Muttersprache wie für Alle, und der wäre zu bedauern, der behauptet, daß er durch das Lesen der Meister-Werke seiner Muttersprache keine genauere Kenntniß seiner Sprache empfangen hat. Wir gehen nun auf die Verwandtschaft mit der Rhetorik. Jede Rede die Gegenstand der Auslegung ist, ist ein ausgeschnittenes Stück aus dem Gesammtdenken des Menschen. Je mehr die Rede sich nur mit einem gemeinen Geschäfts-Verhältniß beschäftigt, oder sich um einen alltäglichen Kreis dreht, um desto weniger haftet von der Eigenthümlichkeit des Redenden daran. Sehn wir aber auf eine mit Fleiß producirte Rede, so ist das etwas besonders Gestaltendes von [der] Gesammtheit des menschlichen Denkens. also die Aufgabe sich die Rede nachzukonstruiren, um sie
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auf diese Weise als seine Handlung zu verstehn. Wenn die erste Verwandtschaft die Gemeinschaft der Sprache voraussetzte, was folgt aus dieser Verwandtschaft? offenbar die Gemeinschaftlichkeit des Verfahrens im Denken und Darstellen des Gedachten; sonst habe ich nicht das gehörige Fundament, die Handlung dessen, der gedacht hat, nachzubilden. das scheint nicht allgemein zugegeben zu werden. Im allgemein Logischen des Denkens haben wir zwar Alle einen gemeinschaftlichen Schematismus, und je mehr das in einer Rede dominirt, um so mehr ist jeder im Stande sie zu verstehn. Besteht z. B. die Rede in der Darlegung von Wahrnehmung, so ist das Folgende nur aus dem Vorigen zu verstehen; die rein geschichtliche Darstellung auf diesem untergeordneten Gebiet wäre also die verständliche. Was aber das Gebiet der Dichtkunst betrifft, ist das allgemein Logische bloß die conditio sine qua non. Es scheint also die Folge zu sein, daß der den Dichter verstehn will, selbst muß ein Dichter sein, und das möchte sich weiter erstrecken, selbst auf die einzelne Gattung. So weit möchte Niemand es folgern, aber etwas Wahres ist daran; wir geben es zu auf dem Gebiet der Künste. aber es ist ein großer Unterschied, ob ich das Vermögen zu produciren habe, oder die Empfänglichkeit, daß mich der Dichter mit sich fortreißt, so daß ich seinen Prozeß nachconstruiren kann. – Das wären die beiden Haupt-Richtungen für die ganze Aufgabe. Das Eine ließe sich andeuten durch den Ausdruck, grammatische Hermeneutik, das Andre durch die Bezeichnung, technische Interpretation, sofern eine besondere Absicht, und besondere Gesinnung in die Darstellung mit eingegangen ist. Nur ist das nicht anzusehn als 2 verschiedene Arten der Interpretation; wenn das Verstehn Kunst ist, so kann Einer stärker sein in der einen als in der andern. Aber ganz trennen lassen sie sich nicht, und das vollkommene Verstehn ist nur im Ineinander beider. Das Erste, daß sie sich nicht ganz trennen lassen, muß auf 2 Seiten deutlich gemacht werden. Jeder Redende, (der von der Sprache profession macht), thut gewiß etwas zur Sprache hinzu. Jede Sprache gestaltet sich um, so lang sie gebraucht wird, erweitert und verändert sich: das ist nur durch die Produktion in der Sprache begründet; was im gemeinen Gebrauch noch nicht sanctionirt ist, kann ich nur verstehn, wenn ich mich in die Handlung des Darstellenden hineindenke. Je mehr eine Rede vollkommen ist, um so weniger kann man sie grammatisch verstehn, wenn man nicht das Andre hat. Ebenso auf der andern Seite. Jeder in seinem Denken 14–15 Seinen dem ,West-östlichen Divan‘ angehängten Noten und Abhandlungen hat Goethe unter dem Titel ,Besserem Verständniß‘ vorangestellt (1819, S. 241): „Wer das Dichten will verstehen / Muß in’s Land der Dichtung gehen; / Wer den Dichter will verstehen / Muß in Dichters Lande gehen.“
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ist an die Sprache gebunden, und warum Einer im Einzelnen gerade so und nicht anders combinirt und darstellt, und weil die Sprache den Ausdruck nicht darbot, den Gedanken theilen müßte, oder combiniren, das können wir nun durch die Sprache verstehn. Daher ist das Übersetzen etwas so unvollkommenes, so daß man sagen muß, es muß mir erlaubt sein, beim Übersetzen, das Werk ganz umzugestalten, dann thue ich auf das Nachkonstruiren der Handlung Verzicht; oder will ich das nicht, so wird das rechte Verstehn der Übersetzung nie für die sein, die auch die Ursprache kennen. Beides läßt sich also nicht trennen. Das vollkommene Verstehn kann nur gedacht werden im vollkommenen Zusammensein beider Richtungen, der grammatischen, die die Rede aus der Sprache heraus, und der andern, die die Rede aus dem Denken des Autors heraus begreift. Es ist schon gesagt, die Aufgabe sei unendlich, da sich die Glieder gegenseitig bedingen und voraussetzen; dennoch aber ist es nöthig, sich ein vollkommenes Verständniß davon zu machen. Denken wir uns die leichteste Aufgabe. Die Gedanken, in der Rede dargestellt, betrachtet in dem, wo sie entstehn, sind von solchen begleitet, die nicht mit dargestellt werden; die Letzten haben aber einen Einfluß auf den Gehalt der Andern; ich kann nicht sagen, daß ich die dargestellten Gedanken des Andern verstehe, wenn ich die bloß begleitenden Gedanken nicht verstehe. Diese gehen aber ins Unendliche und verlieren sich allmählich ins Bewußtlose. Das ist das Wahre vom dunklen Verständniß. Diesen Prozeß ganz zu machen ist unendlich, und doch ist das Verstehen nicht vollkommen, wenn das nicht mit verstanden ist. Eben so ist es mit dem Verstehn aus der grammatischen Richtung. Nehmlich daß jedes Sprach-Element auch gewissermaßen ein unendliches ist seinem Gehalte nach; es giebt da ein Abnehmen und Zunehmen in der intensität der Bedeutung, ein Verschwinden in der Gebrauchs-Weise und ein Hervortreten, so daß den Umfang eines Sprach-Elements zu bestimmen, eine unendliche Aufgabe ist. Demnach muß das ganze SprachGebiet gegenwärtig sein, die Sicherheit eines Sinnes ist dadurch bedingt, daß alle möglichen Sinne abgewiesen sind. Daraus ergiebt sich leicht, daß das auch etwas unendliches ist, die absolute Vollkommenheit beider Theile der Operation also unerreichbar. Der Ausdruck für die absolute Vollkommenheit wäre, daß eine Seite so vollkommen wäre, daß sie die andre überflüßig machte, daß das vollkommene Verständniß der Rede aus 1 Seite hervorginge. So wie ich aus der Sprache heraus den Sinn einer Rede verstehn will, so hat der Schriftsteller ebenfalls aus der Sprache heraus gebildet. Berüksichtige ich deshalb Alles in der Sprache, so kann ich sagen, es ist nicht möglich, daß
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der Sinn ein andrer sein kann, und mit der ganzen Aufgabe, dem Object nach, bin ich fertig. Ebenso wenn ich die Handlung des Denkenden nachkonstruirt habe, sage, davon ging er aus, dieser Gedanke schwebte ihm vor, das ist das Resultat, so verstehe ich die Gedanken vollkommen, wenn sie auch nicht Sprachgemäß sind. Ist beides zusammen, und von beiden Seiten aus das Maximum zusammen, so wäre die Aufgabe auf eine absolute Weise gelößt. Wenn das in der Praxis nicht erreicht wird, so ist dieses Verständniß schon als ein leitendes Verständniß nützlich, um zu sehn, wie eines durch das andre ersetzt werden kann. Wenn also Mittel zum grammatischen Verhältniß fehlen (hapax legomenon, das seiner Zusammensetzung nach nicht bestimmt ist) wenn ein Wort auch durch den Sinn bestimmt ist, so fehlt uns doch bestimmt der ganze Umfang des Worts, so können wir durch den Gedanken-Gang des Schriftstellers bestimmt auf einen Punkt geführt werden. Ebenso kommen beständig Lücken vor in der andern Seite des Geschäfts, wenn man merkt, daß sich der Schriftsteller auf Thatsachen, oder Aussprüche eines Andern bezieht, so wird nicht bloß die Anspielung selbst dunkel, sondern auch der bestimmte Sinn. Die sprachliche Seite kann aber zeigen, was der Schriftsteller dadurch bejahen oder verneinen will. Ferner sehn wir daraus, wie die Beschränktheiten der Fertigkeit und [des] Talents auf der einen Seite können für die Totalität des Geschäfts ergänzt werden durch das Talent auf der andern Seite. Zu der glücklichen Vollführung des Geschäfts gehören beide Talente, die der Sprachen, d. h. nicht [nur] die größere Leichtigkeit, fremde Sprachen sich anzueignen, auch zum vollkommenen Verstehn der Werke in der Muttersprache gehört ein ausgezeichnetes SprachTalent. Dazu gehört das, daß man die Sprache gegenwärtig hat, d. h. sich das SprachGebiet, worauf es ankommt, mit Leichtigkeit vergegenwärtigen kann, ein Sinn für die Analogien der Sprache in ihren verschiedenen Theilen. es haben einzelne Gebiete der Sprache, einzelne Style, einzelne Perioden ihre Analogien, wodurch sie sich unterscheiden; das Auffassen und gegenwärtig haben, ist das Talent der Sprache in dieser Beziehung. Daraus darf nicht geschlossen werden, daß das Talent zum Verstehn und zum Componiren eines und dasselbige wären. Es ist ganz etwas anderes um das wirkliche Hervorbringen und um das Auffassen; mir scheint der Unterschied nicht der, daß das Hervorbringen als das Größere, das Verstehn als das Kleinere in sich schließe; es hat jedes seine eigene Schwürigkeit und seine eignen subsidien. Diejenigen, die Schwüriges verstehn, schreiben oft nicht so, daß sie leicht verstanden werden. Das 2te Talent weiß ich mit keinem andern Namen zu bezeichnen, als Menschen-Kenntniß, freilich auf das Denken
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angewendet, aber so, daß Alles, was man von einem Menschen weiß, es erleichtert, seine Handlung im Denken nachzubilden. (MenschenKenntniß = die Leichtigkeit sich in Einen hineinzudenken und sich ihn vorzustellen). Alles Eigenthümliche des Menschen wird sich aber auch in seinem Ausdruck abdrücken. Jedes einzelne Leben ist bestimmt durch den gemeinsamen Charakter des Volks, und daraus sind auch die Klassen im Volk zu verstehn; das hängt mit der Eigenthümlichkeit zusammen; es geht also beides in einander über, aber in der praxis ist es doch ein verschiedenes. Hat Einer das Talent, sich in die GedankenWeise eines Einzelnen hineinzubilden, so wird daraus ein divinatorisches Vermögen, wenn man den GedankenGang bis auf einen Punkt kennt, den künftigen GedankenGang zu ahnen. Ebenso wenn Einer das Talent hat, das Einzelne aus der Totalität des Sprach-Schatzes aufzufassen, so wird er sich durch die objective Seite manches ersetzen können, was ihm auf der subjectiven fehlt. Ehe wir weiter gehn, noch ein Paar Bemerkungen. Wie verhalten sich beide Seiten, die grammatische und die technische (psychologische) ihrer Dignität nach? man würde Unrecht thun, eine solche Schätzung absolut auszusprechen, es kommt auf den Gesichtspunkt an; selten wird Einer in einer reinen indifferenz stehn; stehn wir in einer solchen, so werden wir sagen, Beides ist gleich wichtig. Das Denken, wie es sich in dem Einzelnen ereignet, soll ein Gemeingut Aller werden; dazu ist die Sprache als Medium des Gedachten absolut nothwendig; und die Kenntniß des Denkenden ebenso. So wie sich aber Einer etwas einseitig stellt, so gewinnt es ein anderes Ansehn. Will ich aus dem Werk den Menschen kennen lernen, so ist die grammatische Seite die conditio sine qua non, die psychologische Seite die Hauptsache. Will ich aber aus dem, was in der Sprache producirt ist, die Sprache kennen lernen, so ist die grammatische Interpretation die Hauptsache; das Andre, wenngleich auch nothwendig, doch nur Mittel. Um desto mehr erhellt, daß an und für sich, eine vollkommene Gleichheit von beiden Seiten statt findet. Wir sehn aber auch zugleich, wie die Mängel damit in Verbindung stehn. Die Philologen vernachläßigen die psychologische Interpretation, sie sind zwar ohne sie nicht fertig geworden, haben es aber sich nicht so deutlich gemacht, daß sie es bis zur Mittheilung gebracht hätten. Die Kunst-Kenner (Poe¨sie und Rhetorik) ließen es oft am Grammatischen fehlen. – Das ist ein deutlicher Beweis, daß es sich mit der Sache so und nicht anders verhält. Allerdings, beides in seiner Verbindung betrachtet, werden wir sagen können, [daß] das Geschäft, 1 daß] folgt man
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dessen Regeln wir aufsuchen, im engeren Sinne eine Kunst sei, die Zusammenstellung der Regeln eine Kunst-Lehre texnh. Im engeren Sinne nennen wir etwas Kunst, wo sich die Regeln so verhalten, daß ihre Anwendung nicht mechanisch ist. Die Rechen-Kunst ist nur im uneigentlichen Sinne eine Kunst. Die Regeln liegen in der Anwendung so, daß nichts als der rechte Mechanismus zur Ausführung nöthig ist. – Das Letztgesagte ist nothwendig um zu zeigen, was hermeneutische Vorträge leisten können; sie können Niemand zum Ausleger bilden, weil wenn man die Regeln weiß, die Ausübung nicht auf einer mechanischen Fertigkeit beruht. Von der Poe¨sie wird Niemand bezweifeln, daß sie eine Kunst ist, worüber eine Theorie (Poe¨tik) aufgestellt werden kann, aber ihre genaue Befolgung macht nicht den Dichter, nur prüfen danach kann der Dichter sein Werk. Die Metrik ist der am meisten mechanische Theil der Poetik. Da nähern sich die Regeln bei weitem mehr der mechanischen Anwendung. Aber es gehört doch dazu eine großer Sprachschatz, um aus allem möglichen das metrisch Beste herauszufinden; auch das ist Sache der Übung und etwas Angebornes sich der Sprache zu bemächtigen. Wie ist es nun mit der Auslegung; den Sprachschatz geben wir voraus, besteht die absolute Vollkommenheit in der absoluten Vollkommenheit beider Theile der Operation, so muß in jedem Momente auf beide Operationen Bezug genommen werden, und etwas genügendes müssen beide geben. jede Ungewißheit auf einer Seite wird versucht auf der andern Seite zu heben; das ist doch ein lebendiges Verfahren, für das keine mechanischen Regeln gegeben werden können. Das zur rechten Zeit zu thun, ist eine Kunst. Daß man sich ein richtiges Bild mache von der eigenthümlichen Art und Weise eines Schriftstellers zu verfahren bei seiner Composition, und daß auf Seiten der Sprache gegenwärtig sei was man braucht, ist nicht Sache der mechanischen Erfahrung. Einen Rechenfehler kann man sich abgewöhnen, daß aber bei der Auslegung nicht Alles gegenwärtig ist, kann man sich nicht nehmen. – Die Regeln erleichtern also das Verfahren, sind aber nicht das, was man im Augenblik selbst braucht, sondern nur der Ort, wo das zu finden ist. Kommt aber fleißige Übung dazu und ein Vergleichen mit solchen, die darin Meister sind, man also die Genesis in ihnen sieht, so kann eine solche vergleichende Übung viel thun, aber doch bleibt wahr, daß hier ein 2faches Talent im Spiele ist, aber der Unterschied der Ursprünglichkeit dennoch bleibt. Wenn also zu den Regeln zunächst die Übung kommen muß, so entsteht die Frage, ob, woran man sich üben soll, von derselben Art ist als 38 ob] folgt man
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was nachher Gegenstand der Kunst ist. Es ist schon gesagt, daß nicht alles Kunst ist, solches nicht, wo man mit einem ganz kunstlosen Verfahren zum Ziel kommt. Was gehört nun zu unserm Gebiet? das, was sich im Lauf der Dinge unzählbar auf gleiche Weise wiederholt, ist hinlänglich bekannt und ohne Schwürigkeit. Das wäre, was in der Masse seinen ursprünglichen Sitz hat, das Gemeine. Das ist in der Sprache das ganze Gebiet, eines Theils, wo die Sprache dem Geschäft dient, dem alltäglich wiederkehrenden, wo es auf Virtuosität der Sprache nicht ankommt. Ebenso auch wenn wir den ganz alltäglichen geselligen Verkehr betrachten, und Alles, was freies Spiel mit der Sprache ist, ausschließen, so bekommen wir ein großes Gebiet von mechanischer ConversationsSprache, schriftliche und mündliche, die unter dem Gebiet der Kunst steht. Es fragt sich [ob], wenn das nicht die eigentlichen Gegenstände der Kunst sind, es nicht Material für die Übung ist? nein, es giebt daran nichts mehr zu nehmen, ein unendlich Kleines für die grammatische und technische Seite. Räumen wir das aus dem Wege, und fragen, was ist diesem entgegengesetzt, also wesentlich der Gegenstand der Hermeneutik, so werden wir auf 2 verschiedene Seiten getrieben: wo in der Rede ein eigenthümliches Verfahren im Denken sich zeigt, da ist etwas, was Schwierigkeiten für das Auffassen darbieten kann (das eigenthümliche Verfahren im Denken = Originalität). Ebenso giebt es ein eigenthümliches Verfahren für die Handhabung der Sprache; das ist was Gelegenheit giebt zu Observationen über den SprachGebrauch der Schriftsteller; das ist eine Originalität der Schreibart, die je nachdem sich eine Kraft auf die Sprache äußert, bleibend sein kann, oder auch manierirt. Im letzten Fall wird es nur, wenn der Gegenstand selbst wichtig ist, es sich der Mühe lohnen, die Manieren des Schriftstellers kennen zu lernen. Ist nun das Originelle Gegenstand für die Auslegung, so ist es auch Gegenstand der Übung, denn es lehrt das Eigenthümliche vom Alltäglichen zu unterscheiden, den Ort dafür in der Sprache kennen zu lernen, und die gewöhnlichen Regeln des Denkens nur ansehn lernt für die Schranke der production und conditio sine qua non. Nun über diesem aber erkennen wir noch etwas Anderes, das classische, ein Ausdruck, der nicht überall auf dieselbe Weise gebraucht wird. Wenn wir aber fragen, was verstehn wir im wesentlichen Alle darunter, so glaube ich, wenn wir auf dem bisherigen Wege fortgehn, so gilt das Eigenthümliche als solches ist nichts, was sich beständig wiederholt, aber deshalb ist es noch nicht classisch, eben deshalb, weil es seiner Natur nach noch ein Einzelnes ist. Denken wir aber den Gebrauch der Sprache als ein sich in der Zeit Entwickelndes und zur Vollkommenheit fortschreitendes, so bildet sich die Sprache aus dem, was die Einzel-
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nen produciren. Deshalb ein drittes Glied: was in der Sprache so producirt wird, daß es eine Stufe bildet in der Sprache, und sich in unendlicher Production wiederholt, als die Wiederholung erzeugt, so wird das mit im Gebrauch des Wortes classisch liegen. (nicht blos correct, daß er die schon bestehende Sprache in Vollkommenheit wiedergiebt, sondern wir nennen den so, der produktiv ist in der Sprache, und dessen Produktivität in der Sprache angenommen ist). Wenn nun die Sprache eine solche Entwicklung hat, so hat sie auch einen Verfall, so kann man also das die Sprache Herunterbringende auch classisch nennen, weil das folgende sich nach ihm richtete. Allein dann war das Ton Angebende das Sprach-Widrige. Das schließen wir aus. Giebt es nun so etwas auch auf der Seite des Denkens. In jeder Sprache erzeugen sich zusammengesetzte Arten von Reden, die die Untergattungen mit ihren Arten in sich schließen. Diese sind auch nicht zufällig so sondern es muß Punkte geben, und das müssen die lebendigen Produktionen Einzelner sein, wonach sich andre richten als dem Typus. Ein originelles Verfahren im Denken wird also classisch, wenn es sich in unendlicher Produktion wiederholt. Ein Zeitalter ist also classisch, wenn es einen ZeitRaum giebt, worin sich dieses Verfahren so ausbildete, daß sich darin die Typen ausbildeten, die nachher geltend wurden; ebenso auf der andern Seite der Sprache. Das Vollkommenste ist aber auch hier die Vereinigung beider. Eine Eigenthümlichkeit im Denken führt auch eine Eigenthümlichkeit in Behandlung der Sprache mit sich. Das Letzte ohne das erste wäre Ziererei. Der höchste Gegenstand der Auslegung ist also das Classische in beiden Beziehungen. Das Originelle war Gegenstand der Übung; das Classische ist der höchste Gegenstand der Kunst, weil hierdurch das ganze Gebiet gegeben wurde. Ob es ebenso Material für die Übung ist, ist etwas, worüber sich streiten ließe. Das Classische muß das Originelle in sich schließen, sofern ließe es sich nicht leugnen. Lassen Sie uns hier stehn bleiben, und die Frage aufstellen, wie steht es in Beziehung auf die letzte Betrachtung um das N.T. Wir wollen uns erst unpartheiisch stellen, und keine Rücksicht nehmen auf den Werth für die Theologen. Das N.T. ist keine Einheit, sondern eine Collection, also müssen die verschiednen Bestandtheile unterschieden werden. Da treten 2 Formen entgegen, die der Erzählung und des Briefes, beide sind sehr weitläufige Gebiete, und es fragt sich, wie sich die NeuTestamentischen Briefe und Erzählungen zu den Gleichartigen verhalten. Von den ersten giebt es 16 richten] richtet
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eine große Mannigfaltigkeit von Formeln, die sich von der gemeinen Erzählung bis zur kunstmäßigen Geschichtschreibung steigert. Betrachten wir die NeuTestamentischen Erzählungen in den 3 ersten Evangelien, so können wir sie nur als einzelne Erzählungen betrachten, und da tragen sie den Typus, als wären sie nach der mündlichen conversation aufgezeichnet, ohne Streben nach Genauigkeit und Schönheit der Rede, und ohne vollkommene Darstellung der Thatsachen. Abstrahiren wir also vom speciellen Interesse, so scheinen sie kein Gegenstand einer kunstmäßigen Auslegung zu sein. Sie werden es also durch das specielle Interesse (für die Theologen) und 2) weil bei dem Vergleichen der Erzählungen eine Menge von Schwierigkeiten entstehn. Da kommt es also auf die Ausgleichung an. Die Aufgabe wird dadurch eine schwierige, und kann auch ein reines Kunst-Interesse gewinnen ganz abgesehn vom Gegenstand. – Die 2te Form des Sendschreibens läßt eine große Menge von Abstufungen zu, von dem an, wo der Brief in die Stelle des Gesprächs tritt, bis zu dem, daß es blos den Charakter der Anrede trägt, und unter dieser Form bisweilen sehr strenge didaktische Vorträge gegeben werden. Das ist das Sendschreiben bis zum wissenschaftlichen gesteigert, also Gegenstand der kunstgerechten Auslegung. Unter den NeuTestamentischen Briefen nähern sich der an die Römer und Hebräer sehr dem Letzten, der 2te und 3te johanneische dem Ersten. Da sie aber das Christenthum betreffen haben sie nur Interesse für die Christen, ohne religiöses Interesse bliebe nichts übrig, als wenn eines da wäre von Seiten der Sprache. Von Seiten des Technischen wäre also das Resultat, nur um das Interesse an dem Gegenstand selbst können diese Schriften ein Gegenstand der kunstgerechten Auslegung sein. Aus dem sein können, folgt aber nicht das sein müßen. Frühzeitig finden wir aber in der christlichen Kirche eine solche kunstgerechte Auslegung. Wenn wir nun die christliche Kirche betrachten als einen Ort einer fortgehenden Begriffs-Entwicklung, deren Gegenstand derselbe ist wie in den NeuTestamentischen Büchern, und bedenken, daß diese Begriffs-Entwicklung sich so verhält, daß man in der patristischen Zeit schon auf diese Bücher als die Schiedsrichter zurückging. So lange diese Begriffs-Entwicklung also fortgeht, wird man auf das N.T. zurückgehn; wir dürfen durchaus nicht annehmen, daß die kunstmäßige Auslegung zu irgend einer Zeit vollendet gewesen sei. Die Materialien zur Auslegung erweitern sich stets, die Auslegung muß deshalb auch früher unvollkommner gewesen sein. Das Geschäft der kunstmäßigen Auslegung des N.T. muß also stets fortgesetzt werden; es kann aber für keine Andern, als die Theologen von dieser Seite aus Interesse haben. 10 Theologen)] Theologen,
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Sehen wir nun auf die grammatische Seite, so kann ein Interesse nur entstehn, aus dem Verhältniß, in dem diese Bücher zur ganzen Entwicklung der Sprache stehen. Die Sprache der NeuTestamentischen Bücher steht auf dem Gebiet der Conversation, also dem Gebiet, wo die Sprache für das Verstehn und Auffassen keinen Reiz darbietet. Was das didactische betrifft, so ist die NeuTestamentische Sprache wohl productiv, d. h. der Keim zu neuen SprachElementen um Vorstellungen auszudrücken, die vorher noch nicht auf dieselbe Weise im Gange waren. Es ist das ein streitiger Gegenstand als es Theologen gegeben hat, die sich bemüheten eine Analogie nachzuweisen zwischen den religiösen Vorstellungen des N.T. und den religiösen und moralischen in der vorhergehenden Zeit. Das ist etwas Löbliches, nur muß man mit der gehörigen Vorsicht zu Werk gehn. Mit dem Anschließen hat es seine Richtigkeit aber so, daß jenes nicht aufhört. Da ist also die Nothwendigkeit sich der Aufgabe zu stellen, die NeuTestamentische Sprache zu verstehn, das aber außerhalb der christlichen Kirche, und außer Beziehung auf die christliche Kirche nicht entstehn kann. Ich glaube, wir haben auch alle Ursache zu wünschen, daß sich keiner möge mit der kunstmäßigen Auslegung des N.T. beschäftigen, als der von diesem Interesse dazu getrieben wird. Wir gehn nun in der Reihe der allgemeinen Betrachtungen fort. Es giebt beim Geschäft der Auslegung 2 verschiedene Beziehungen, und die vollkommene Auslegung ist erst im Zusammenfall beider, so daß beides dasselbe Resultat liefert. Wir müssen aber noch hinzufügen, daß nicht in Beziehung auf jede Rede oder Schrift, ein vollkommenes Gleichgewicht jener beiden Seiten des Geschäfts statt finden wird. Zwar ist gesagt, daß eine Eigenthümlichkeit beim Verfahren im Denken auch werde eine Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Sprache nach sich ziehn, und umgekehrt. Das wollen wir nicht zurücknehmen, aber so modificiren, daß nicht auf beiden Seiten ein absolutes Gleichgewicht sei. Die Eigenthümlichkeit in der Behandlung der Sprache braucht nicht gleich groß zu sein wenngleich sie nicht ganz fehlen kann. Eine Schrift kann großes Interesse haben durch Klarheit und Schönheit der Sprache, so braucht doch der Gegenstand nicht so groß zu sein. Sehn wir auf den Inhalt. Wo das Objective des Inhalts hervortritt, kann die Eigenthümlichkeit im Verfahren beim Denken weniger hervortreten. (das critische und speculative, die Gesammt-Ansicht der Geschichte schließen wir aus) und reden vom Wiedergeben des Zustands der Wahrnehmung, so ist seine Eigenthümlichkeit beim Verfahren im Denken sehr zurüktretend, und unterbricht er die 18 N.T.] folgt zu
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Darstellung der Wahrnehmung durch Reflexion, so soll sich das doch an das Objective anschließen. In allen RechtsVerhandlungen ist das Objective dominirend und wenngleich Streitigkeiten dabei sind, will sich doch jedes als objectiv geltend machen, nicht die Persönlichkeit des Verhandelnden ausdrücken. Wogegen es ein anderes Gebiet giebt, wo wir Kunst verlangen, z. B. das Drama, wo der Gegenstand aus der eigenthümlichen Combination hervorgegangen ist, also das Objective zurüktritt. Das Gebiet aber, worin sich dieser Anspruch am meisten ausspricht, ist das Lyrische, das will nichts sein als eigenthümliche GedankenVerbindung. Daran schließt sich vieles, was nicht so zur Kunst gehört, bis zu den subjectiven Ergießungen in der Rede. Das Erste also, was zu thun ist, wäre: einen richtigen Entschluß zu fassen, welche Seite des Geschäfts in einer Operation die überwiegende sein wird. (die gleiche Sprachkenntniß zwischen dem Redenden und Verstehenden wird hier stets vorausgesetzt, sonst wäre das Erste, den Mangel zu ersetzen). Das vorausgesetzt, ist es die Gattung der Rede und der Charakter, wonach sich das richten wird. Da kommen wir auf einen Punkt, wo sich wieder das Cyklische in der Aufgabe zu erkennen giebt, ich muß ein Verständniß von dem Kreise des Gegenstands haben, um eine Entscheidung zu treffen; ich setze also voraus, was erst werden soll. Hier giebt es nun ein Hülfsmittel, womit die Schriftsteller ihren Lesern unter die Arme greifen, die Überschrift, wodurch der Charakter der Rede bezeichnet wird. Sie kann ihrer Kürze wegen aber nur einseitig sein, da es zugleich auf Gegenstand und BehandlungsWeise ankommt. Die Überschrift kann also sehr irre führen (Man denke in der neueren Literatur an Yoriks empfindsame Reisen, Thümmels Reisen in Frankreich). Man reicht also damit noch nicht aus. Also bleibt es doch dabei, daß schon etwas vorausgesetzt wird, was erst durch die Auslegung entstehen soll. Lassen Sie uns das allgemein betrachten. Sehen wir auf die allgemeine Entwicklung der Sprache, so ergibt sich, daß der kunstmäßige Gebrauch der Sprache sich aus dem kunstlosen entwickelte. Nach der Analogie müssen wir also sagen, die kunstmäßige Auslegung entwickelte sich allmählig durch das kunstgemäße Verfahren mit der Sprache. Das wiederholt in jedem Fall sich. Ein kunstloses Verstehen muß dem kunstgemäßen vorangehn. Durch ein flüchtiges Lesen oder Durchblättern des Buchs kann man sich ergänzen, was die Überschrift fehlen läßt. Bei der münd24–26 ,A Sentimental Journey Through France and Italy‘ von Laurence Sterne erschien 1768; Moritz August Thümmels ,Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich im Jahr 1785 bis 1786‘ erschien in 10 Bänden 1791–1805. Derlei ,schöne‘ Literatur (auch Goethe, Schiller, Wieland) ist im Auktionskatalog von Schleiermachers Bibliothek meist nicht verzeichnet, da sie im Besitz der Familie blieb.
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lichen Rede geht das zwar nicht, da ist aber auch die Aufgabe noch nicht, sondern aus dem Vorigen entwickelt sich der Charakter des Folgenden. Die Schrift wird aber auf einmal und ohne unmittelbaren Zusammenhang gegeben. Die vorläufige Bekanntschaft ist eine Grundregel, die wir erst ausmitteln müssen, ehe wir auf die erste und dann auf die andre Seite unsres Geschäfts sehen. Machen wir die Anwendung auf das N.T., so ist 2erlei zu bemerken: 1) es ist das anzuwenden auf jede NeuTestamentische Schrift ins Besondere. jede NeuTestamentische Schrift ist eine Schrift für sich. Allerdings findet das eine Ausnahme bei den 3 ersten Evangelien, wo eine so genaue Parallele ist, und wo erst Schwürigkeiten durch die Vergleichung entstehn; nur das läßt festsetzen, daß die einzelne UnterErzählung muß verglichen werden, daß aber jedes Evangelium abgeschlossen in seinen Grenzen betrachtet wird. 2) Diese Bekanntschaft ist schon vorauszusetzen, ehe wir zur wissenschaftlichen Auslegung gehn. Allein sie kann doch nicht ersetzen, was hier gefodert wird, da sie meist auf einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen geht, indem man nicht die Stelle in ihrem natürlichen Zusammenhang gehört sondern in einem andern Zusammenhang der Rede gehört hat. Es ist vielmehr eine große Gefahr, daß eine solche Bekanntschaft der wissenschaftlichen Auslegung schaden möge, da darüber schon etwas festgestellt ist, aber nicht auf die rechte Weise. Es möchte deshalb rathsamer scheinen, das ganz zu vergessen. Dafür scheint durch die Sache selbst auch gesorgt zu sein, da die vorläufige Bekanntschaft meist die mit der Übersetzung war. Wir haben nun freilich schon etwas festgesetzt, daß ein Übergewicht der grammatischen Interpretation bei den historischen Büchern, und ein Übergewicht der technischen bei den didaktischen Büchern. Nun würden wir dazu übergehn können, dieses Verfahren selbst in dieser doppelten Beziehung anzufangen, und den Gang vorzuzeichnen. Indessen scheint mir noch eine ergänzende Betrachtung nöthig. Wir haben gefunden, daß jede Schrift aus der Sprache, und als Thatsache aus ihrem geistigen Umfang zu erklären [ist]. Ist beides zusammengesetzt noch das Ganze, sollte es nichts drittes ebenso nothwendig geben? Wenn wir beim Allgemeinen der Sache stehn bleiben, möchte kein Bedenken einfallen, man nimmt keine 3te Art wahr, wohin die Aufgabe noch gestellt werden kann. Sehn wir aber besonders auf die Art, wie bei der Auslegung des N.T. verfahren worden ist, so finden wir noch anderes. Im Allgemeinen ist freilich schon entschieden. Wenn wir sagten, aus der An32 ihrem] seinem
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nahme einer inspiration der Schrift folgt nicht, daß andre Prinzipien angewandt werden müssen, als bei jeder andern menschlichen Rede oder Schrift[,] in andern fanden wir aber bloß diese beiden Beziehungen. Es wird aber nützlich sein, das abweichende Verfahren vor Augen zu halten, und einer Kritik zu unterwerfen. Es sind besonders 3 Prinzipien, die in die wissenschaftliche Auslegung des N.T. gehörten; die aber weder aus der einen, noch der andern von unsern Beziehungen hervorgehen. Sie sind: das Literale, das Dogmatische und Emphatische. Das Erste besteht darin, daß man die Regel aufstellen muß, in der heiligen Schrift muß weil sie die Regel des Glaubens aufstelle, der Glaube das selig machende sei, nothwendig Alles dem Buchstaben nach verstanden werden. Der Zusammenhang ist der: „Kann man beim Buchstaben bleiben, so ist die Auslegung sicher, im andern Fall tritt die Willkühr ein.“ Das kann nicht aus unsern Prinzipien hergeleitet werden, denn soll jede Schrift aus der Sprache erklärt werden, so ist es thatsächlich der Natur der Sprache des N.T. zuwider, daß Alles soll buchstäblich in ihr verstanden werden. Die NeuTestamentische Schriftsteller müssen deshalb aus der Natur der Sprache heraus gegangen sein, und die spätere Christenheit als das eigentliche Publikum angesehen haben. Es möchte niemand einen griechischen Schriftsteller auffinden, der nicht uneigentliche Ausdrücke hätte. Der Buchstabe hat durchaus gar keinen Sinn, und wenn obige Benennung bei den Aufstellern dieses Prinzips allgemein gelte, kann man damit anfangen, daß dieser Ausdruck selbst nicht buchstäblich ist, denn der Buchstabe hat keinen Sinn. Nun nenne man es wörtlichen Sinn, aber ein Wort hat auch keinen bestimmten Sinn. Bei der Einheit des Worts giebt es immer eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen, und da giebt es keinen bestimmten Gegensatz von eigentlich und uneigentlich im Worte, man müßte denn beim etymologischen stehn bleiben, oder beim ersten Vorkommen des Worts in der Sprache stehn bleiben. Dabei würde die Sicherheit der Auslegung nicht gewinnen. Das Etymologische ist meist höchst streitig, und jedes Wort kam wahrscheinlich gleich in einer Mannigfaltigkeit vor. Unter allen 3 abweichenden Prinzipien ist das das ungelehrteste, weil es die Sprache verkennt. Daß die Gebrauchs-Weisen in einander übergehn ist klar. Das Wort war eher da, als das vollkommene Verständniß von seinem Gegenstand, so das Wort Sonne ehe, als das Verständniß, daß das ein Weltkörper von solcher Größe und Beschaffen-
12 „Kann] Kann
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3 Variante Bötticher, S. 35: „so können wir hier sicher sein, es giebt keine andere Beziehung“
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heit [sei]. Die ganze Bedeutung hat das Wort erst allmählig bekommen. Wenn ich nun sage, an dem Gegenstand muß aber etwas fixirt worden sein, worauf sich das Wort bezog, sei es nun das Leuchtende oder das Beherrschende. Diese Bezeichnung war ebenso eigentlich, als die spätere richtige Bezeichung des Gegenstands. Beide Operationen gingen gleichzeitig fort. So entsteht es, daß wir die Fixsterne Sonnen nennen. Ist das eigentlich oder nicht? eigentlich, als der Ausdruck das für sich Leuchtende bezeichnet. Als man aber das Wort machte, dachte man nur eine Sonne, die Übertragung ist also uneigentlich; jedes andre Leuchtende Sonne zu nennen ist aber nicht weniger uneigentlich. Findet also keine bestimmte Unterscheidung statt, so kann ein solches Prinzip auch nicht aufgestellt werden; Bei der Anwendung dieses Prinzips kommt man im N.T. in jedem Augenblik auf die klarsten Ungereimtheiten. Denken wir an die Parabel vom reichen Mann, so wird man das nach diesem Prinzip als wahre Geschichte betrachten müßen. Das D o g m a t i s c h e : Man soll alle Stellen des N.T. so erklären, daß sie mit der Lehre, die sich in der Kirche ausgebildet, übereinstimmen. Dieses Prinzip ist lange herrschend gewesen, wenn auch nicht stets ausgesprochen. Wie liegt nun die Sache? Wir behaupten, es kann nur etwas christliche Lehre sein, was Lehre der Schrift ist, und weiter soll die Schrift nichts enthalten als was Lehre der Kirche ist. Das ist der vollkommenste Kreis, und um ihn zu lösen, bedarf es eines Punkts außerhalb desselben. Den hat die catholische Kirche an der Tradition; da wir die nicht annehmen, so befinden wir uns in einer beständigen petitio principii. Nun ist freilich die Sache nicht so gefährlich, als sie aussieht; die Lehre der Kirche ist nicht ganz überstimmt, und die streitigen Punkte der Schrift betreffen nicht die Hauptlehre: die Sache klingt deshalb so: die christliche Kirche kann nicht im Wesentlichen den Sinn der Schrift mißverstanden haben, die beiden Sätze können deshalb so verbunden werden: die Schrift erklärt aus sich selbst, und die Schrift erklärt aus der Kirche, das letzte so verstanden, was im Wesen der wesentlichen Übereinstimmung liegt. Dem gegenüber aber nicht zu sagen, was sie als genauere Lehre der Schrift gestaltet, geht in die genauere KirchenLehre über; demnach ist es bloß die genaueste Einwirkung. Aber als Vorschrift kann ich das nicht aufstellen, es macht sich das von selbst. Die Kirche müßte nicht sein, was sie ist, wenn sie nicht den Sinn der Schrift in sich aufgenommen, und umgekehrt, die Schrift ist hervorgegangen aus dem Produkt von Vorstellungen, in dem sie war, und das Produkt von Vorstellungen ist die christliche Lehre. 13–14 Siehe Lukas 12, 16–21
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Die weitere Ausbildung der kirchlichen Lehre und das genauere Verstehn der kirchlichen Lehre müssen deshalb stets in Wechselwirkung bleiben. Allein wenn die Frage so gestellt wird; Hier haben wir es nur mit der 1ten Operation zu thun, und wollen für diese die Regel suchen, so müssen, damit die Wechselwirkung sei, die Regeln unabhängig von jener gesucht werden. Die Auslegung der Schrift hat also ihre unabhängigen Regeln, die dogmatische Entwicklung ebenfalls, beides ist aber in der lebendigsten Einwirkung, und so bin ich der Erste, der die Sache unterschreibt. So hat man aber die Sache nicht gestellt, sondern gesagt, daß die Schrift erklärt werden soll nach einem bestimmten dogmatischen Punkt. Die Schrift erklären heißt den Sinn in sich aufnehmen, den die Verfasser darein legten; dann müßte dieser Komplexus von Vorstellungen schon der Kanon ihres Denkens gewesen sein. Das hieße die Inspiration durch die KirchenLehre bedingen. Wenn nicht geleugnet werden kann, daß bei der Abfassung des N.T. die wichtigsten dogmatischen Lehren, noch nicht entwickelt sein konnten, also die später entwickelten Begriffe dort nicht gefunden werden können, so ist es etwas andres mit einer auf die Auslegung folgenden Operation, wenn man die Frage so stellt da die NeuTestamentische Schriftsteller so und so sprachen, würden sie von den späteren Darstellungen diese oder jene gewählt haben. Gegen diese Operation ist nichts einzuwenden, sie setzt aber voraus eine menschliche von der systematischen Bestimmung unabhängige Erklärung. wodurch sich beide Operationen unterscheiden ist das: derjenige, der die NeuTestamentische Schriften nach der Lehre der Kirche auslegen will, muß bei den einzelnen Stellen auf das System der Kirche Rücksicht nehmen, wer aber hernach fragt, würden die NeuTestamentische Schriftsteller diese oder jene Fassung begünstigt haben, wird hernach alle Stellen zusammennehmen; so daß man über die Operation selbst nicht zweifelhaft sein kann. Das E m p h a t i s c h e . Man könne nie zu viel in einer NeuTestamentische Stelle suchen, jede müsse den größesten möglichen Gehalt haben. Diese Theorie hängt mit der Inspiration zusammen[,] wir werden sie aber beurtheilen können nach einer Theorie, die davon zu abstrahiren erlaubt. Fragt man, ob bei einer Stelle 2 Personen, ich will nicht sagen dasselbe qualitativ sondern gleich viel, quantitativ gedacht, so wird das Niemand behaupten. Denken wir uns nun einen Menschen als den reichesten in der Operation des Denkens, so wird er in einem Satze so viel denken, als ihm ein Andrer nicht nachdenken kann; um so mehr da, wo die willkührliche GedankenKombination mit im Spiel ist. Wie verhält sich nun das zum 4 müssen] folgt wir
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eigentlichen Inhalt der Rede. Es ist zwar sehr schön, wenn man es dahin bringen kann, alle Vorstellungen, die in der Seele des Denkenden geklungen haben, mit zu empfinden; so fern aber darunter solche sind, deren sich der Denkende entschlagen, so können sie keinen Theil zum Inhalt der Rede bilden, sondern gehören nur auf einer Seite zur Rede, auf der andern gar nicht. Betrachten wir nun die NeuTestamentische Schriftsteller in ihrer Persönlichkeit, so ist da ein großer Unterschied, sofern der Eine gedankenerfüllter war als der Andre. Es kann also kein allgemeiner Kanon entstehn, sondern dies nur unter der Voraussetzung, wer der Autor sei; legt man diesem die Unendlichkeit der Gedanken zu, so folgt freilich dieser Satz daraus; aber dann folgt auch daraus, daß eigentlich in einem Satze Alles liegt, weil er die Allwissenheit ist. Dann können wir aber nicht nachdenken, weil wir mit Deutlichkeit nur successiv denken können. Aber der folgende Gedanke enthielte dann wieder dasselbe. Abstrahiren wir aber von dieser absoluten Unendlichkeit, so müssen wir unterscheiden, das was im Faden der Rede ganz untergegangen ist, und nichts einwirkt, und das was Bestandtheil der Rede geworden ist; Fragen wir, wie wir zu dieser Unterscheidung kommen, so sind es die gewöhnlichen Regeln des Auslegens. Ein 3tes zwischen dieser absoluten und relativen Unendlichkeit giebt es nicht. Wenn wir das anwenden, auf die einzelnen Formeln, die das Emphatische bilden, so wird sich das noch genauer ergeben. Wir treffen hier zuerst auf das, was man die emfasiw des N.T. nannte: daß man jeden Ausdruck müße in der reichsten Bedeutung nehmen. Das wäre so, als wenn jemand spräche, wo alle Worte unterstrichen sind. Denn was hier das Maximum der Betonung ist, ist dort das Maximum der Bedeutung. Bei einem solchen Sprechen hört aber alle Physiognomie auf. Der Bau des Satzes dreht sich um 2 Formen, Subjekt und Prädikät; das andre ist aber bloß Bindemittel dazu, und kann deshalb nicht denselben Werth haben. Gehe ich davon aus, Subjekt und prädikat in der reichsten Bedeutung zu nehmen, so sind die andern additamente Beschränkungen dazu; nehme ich aber die epitheta, die beschränken sollen, in der reichsten Bedeutung, so hebe ich das erste wieder auf. Eine besondere Art, wie sich das Prinzip seit alter Zeit entwickelt hat, ist die sogenannte allegorische Interpretation. sie ist nicht etwas besonders NeuTestamentisches, sondern schon von den Alten, und namentlich in spätrer Zeit in Beziehung auf den Homer geschehen. Das Prinzip ist: daß ein Satz, der wenn man bloß bei dem Sinn stehn bleibt, den er durch die Berüksichtigung des allgemeinen Zusammenhangs bekommt, einen ge9 wer] dr
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ringfügigen Sinn bekommt, einen andern uneigentlichen, tieferen Sinn haben müße. Da nun im N.T. besonders so viel aus dem Zusammenhang des alltäglichen Lebens genommen ist, in dem das prägnante liegt, um des willen die Sache mitgetheilt wird, so sieht man, wie diese Erklärung den Zusammenhang ganz aufhebt. Nehmen wir nun ein Beispiel. Christus bei dem Pharisäer zu Gaste, wo sich die Gäste nach oben hindrängen. Die Einleitung dazu giebt der Verfasser, um zu sehn wie Christus auf die Gnomen kam, und wie er diese Veranlassung benutzte. Ist das nun aber etwas alltägliches, und soll das noch einen andern Sinn haben, so wird der Zweck des Verfassers ganz aufgehoben. Der Zusammenhang, der das eigentlich leitende Prinzip ist, wird aufgehoben. Nun müssen wir doch unterscheiden zwischen dem, was Christus gesagt, und dem, was die Erzähler gesagt, die wir oft nicht wissen, wer sie sind; liegt aber in den einleitenden Sätzen mehr, so können oft die Worte der Erzähler mehr enthalten als die Worte Christi. wir können aber doch nicht ihre geistige Kraft über die geistige Kraft Christi stellen. Bei der Behandlung des Homer hatte das seinen guten Grund: es war das seit langer Zeit das einzige Volksbuch, das man zum Unterricht benutzen wollte. Später wollte man dadurch dem Homer, Orpheus etc eine höhere Autorität beilegen, und das kam schon dem N. Testament sehr nahe. – Die vollkommenste Entwicklung dieses Prinzips ist das Kabbalistische, es sagt: die einzelnen in der Sprache bedeutungslosen Elemente, die Buchstaben, selbst die schriftlichen Zeichen müßten noch einen besonderen Sinn haben. Die Erforschung dieser Zeichen in ein System zu bringen, ist die Kabbala. Das ist 2fach möglich: entweder man hält einen Gegenstand fest, über den diese Zeichen einen besonderen Sinn enthalten sollen, und das ist willkührlich, oder man mußte nach Regeln verfahren, daß zu der Zeit, da man schrieb, schon eine solche gleichzeitige Benutzung der Zeichen statt gefunden habe. Jetzt wird freilich Keiner, der auf Wissenschaftlichkeit Anspruch macht, diese Theorie vertheidigen. Dadurch fällt aber eigentlich das ganze emphatische Prinzip der Auslegung. Das N.T. ist nicht anders zu behandeln wie jede menschliche Rede. In jedem Satz giebt es Elemente die prägnant sind, und andre, die zurücktreten und jenen dienen. Selbst der heilige Geist in menschlicher Sprache redend, kann nicht anders als nach den Gesetzen der menschlichen Rede gesprochen haben.
18 das] die
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5–6 Lukas-Evangelium 7,36
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Wir kehren zurük zur allgemeinen Untersuchung. Wir sagten, will man die kunstmäßige Auslegung versuchen, daß ihr ein vorläufiges, d. h. kunstloses Verstehn vorangehn müße. Auf diesen Punkt stellen wir uns, und sagen, das ist nicht unterschieden von dem Prozeß, in dem wir beim Auffassen jeder Rede uns befinden. Wenn das das Allgemeine ist, die Basis, woraus sich in Beziehung auf einige Reden und Schriften die kunstmäßige Auslegung entwickelt, was ist das Prinzip, wonach wir das Eine vom Andern unterscheiden. Was sind das für Gegenstände, die sich für die kunstmäßige Auslegung eignen. Hier kommen wir ex professo dazu, was ich schon gelegentlich gesagt, ob das im Einheimischen und Fremden, im Alten und Gleichzeitigen seinen Grund hat. Allein Einheimisches und Gleichzeitiges bedarf auch der kunstmäßigen Auslegung, dieser Gegensatz kann es also nicht sein. Ich muß anknüpfen an das früher über den Umfang der Hermeneutik Gesagte. Wir müssen 2 Fälle unterscheiden, wenn wir [uns] in Beziehung auf die Sprache und die Umstände, die Rede motiviren, mit dem Redenden völlig gleich stellen können, und die Fälle, wo wir das nicht können. Das Letzte ist nicht der Anfang des Auslegens, sondern diese Gleichstellung muß vorangehn, und wenn das ist, was ist der Unterschied, daß wir es in einigen Fällen mit dem vorläufigen Verstehn bewenden lassen, in andern kunstgemäßes Verstehn einleiten. Nun wäre außerdem noch die Frage, ob der Unterschied ist der der mündlichen Rede und Schrift. Dieses ist es auch nicht, auch manches Schriftliche verstehn wir ohne Anwendung von besondern Regeln. Wenn sich die Rede als ein vorübergehendes nicht zur Anwendung aller Regeln eignet, so werden doch Fälle vorkommen, wo wir sie anwenden. Denken Sie sich einen alten Volksredner in der Volksversammlung, wo Andre sind, die ihm gleich antworten müßen, so wird ein Unterschied sein in dem Auffassen dieser und der bloßen Zuhörer; die Ersten werden gleich von jedem bedeutenden Punkt eine Beziehung auf das Ganze machen, und wenngleich auf eine schnelle Weise doch in einem kunstmäßigen Verfahren begriffen sein. Dieser Fall ist am geeignetsten uns auf den Unterschied zu führen; das kunstmäßige Verfahren hat seinen Grund in dem größern Interesse an der Sache; ist das da, stellt sich jeder die Aufgabe, das Einzelne in seinem vollkommenen Sinn und das Ganze vollkommen zu verstehn; damit ist zugleich das Kunstgemäße auch aufgegeben. Wir werden also das Verfahren so construiren müssen. Haben wir eine geschriebene Rede, so machen wir den Anfang mit dem vorläufigen Verstehn; während dessen entwi8 unterscheiden] ausscheiden
25 Regeln] folgt sich
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ckelt sich das Interesse, und dabei zeigt sich, ob wir in Kenntniß der Sprache und der motivirenden Umstände mit dem Autor auf gleicher Linie stehn. Hat man das durchgehalten und befindet sich nun in der vortheilhaftesten Lage für das Auffassen, so wird die Anwendung der Regeln vor sich gehn, die wir jetzt suchen wollen. Daß in praxi Abkürzung dieses Verfahrens vorkommt, ist natürlich. Haben wir ein Buch in einer fremden Sprache geschrieben vor uns in einem größeren Umfang, so wird man diesen Gang nicht befolgen, es würde da vieles wiederholt werden müssen ohne Noth. Es ist also natürlich, daß man sich das Geschäft abzukürzen sucht, das erste und 2te Verfahren verbinde. Es gehört also wenigstens ein 2faches Lesen zum Verstehen eines Werks. Das erste Lesen wäre das vorläufige Auffassen und das Berichtigen aller Mängel von Seiten der Sprache und der Umstände. Nun ist gewiß, daß die Fälle nicht selten sind, wo das was an der Sprachkenntniß und Kenntniß der Umstände fehlt, erst durch die genaue Auslegung erreicht werden kann. Es werden also Fälle vorkommen können, wo sich die 2te Operation nicht mit der ersten verbinden läßt sondern auf die genauere Interpretation verspart werden muß. Allerdings wenn wir uns z. B. vorstellen ein Werk von großem Umfang, das aber in sich gleichartig erscheint, so wäre es ein bedeutender Zeit-Aufwand, wenn man das Ganze erst einmal und nochmal lesen wollte, die Frucht der ersten Lesung möchte dann oft verloren gehn. Da giebt es also nicht eine Abkürzung sondern Sicherstellung. Kann man eine Übersicht durch bloßes Durchblättern erreichen, oder hat der Schriftsteller Kapitel gemacht, so ist es rathsam, die Verbindung beider Operationen abschnittsweise zu machen. Mit weniger Aufwand von Zeit und Mühe werden wir nicht abkommen. Im N.T. ist kein Buch von so großem Umfang, daß sich nicht die vorläufige Lesung über das Ganze erstrecken sollte, die Verfasser kommen mit keiner Eintheilung zur Hülfe, und die gemachten Abschnitte sind oft willkührlich und ungeschikt gemacht, so daß es rathsam ist sie ganz zu verwischen und völlig zu ignoriren. Nun fehlt es hier nicht an Hülfsmitteln, das Verfahren zu erleichtern. Dahin gehören die prolegomena; sie sollen zuerst eine Übersicht des Ganzen geben, die die vorläufige Lesung ersetzen soll, und die Kenntniß der historischen Umstände mittheilen, also den Leser auf den Standpunkt des Verfassers stellen. Das ist die Idee´ dieser prolegomena. Was aber die Analyse des Ganzen betrifft, wird man schwerlich 2 Editionen finden, die in dieser Kunst ganz übereinstimmen, man muß sich die Sache selbst machen, die verschiedenen Ansichten kön3 durchgehalten] nachgehalten
24–25 Operationen] Kapitel
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nen nur zur Andeutung dienen, nichts zu übersehn. Was das 2te betrifft, müssen wir gewöhnlich die Notizen über den Verfasser selbst aus der Schrift nehmen, über die paulinischen Briefe giebt es noch eine andre Quelle, die Apostel-Geschichte und auch sie reicht nicht immer aus. Da ist also mit solchen Prolegomenen wenig ausgerichtet. Man muß sich nur vorläufig die Stellen merken, wo Notizen liegen, keinesweges soll der Ausleger überhoben sein. Es giebt also nichts, was beim N.T. von diesem Verfahren dispensiren kann. Nun ist das Nächste in der allgemeinen Untersuchung dies: Fodert ein erhöhetes Intresse zum kunstgemäßen Verfahren auf, was ist das Ziel? Es giebt eine laxe und strikte Observanz. Die laxere Methode setzt sich zum Ziele nur das, daß man Mißverstand in seinen verschiednen Formen soll vermeiden und aus dem Wege räumen, die striktere: nichts unverstanden zu lassen, sondern Alles zu erschöpfen. Dadurch entsteht von Anfang an ein verschiedenes Verfahren, und wir müssen zunächst prüfen, von was für Voraussetzungen diese verschiedenen Methoden ausgehen. Die laxere Methode setzt voraus, daß an allen übrigen Orten sich das Verstehn von selbst ergiebt, es schränkt das kunstmäßige Verstehen ein auf das, was sich als Ausnahme hiervon constituirt. Die Andre geht vom Umgekehrten aus, daß sich das Verstehen in diesem höhern Sinne nicht von selbst ergiebt, man also ohne kunstgemäße Erklärung dem Mißverstehn oder NichtVerstehen ausgesetzt ist. Die Eine ist kürzer, wenn nur die nöthige Sicherheit wäre; darüber müssen wir ins Reine zu kommen suchen, um eine Entscheidung zu treffen. Ich habe schon durch die Bezeichnung entschieden, und das ist zu rechtfertigen. Hier kann es nur vorläufig geschehen. Die gegenwärtig hinreichende Entscheidung beruht darauf: Haben wir eine Schrift vor uns und lesen eine Weile fort, so kommt es oft vor, daß man auf einmal findet, man ist nicht mehr im genauen Zusammenhang der Gedanken des Schriftstellers; das ist der Fall, wenn es uns befremdet, daß das oder jenes kommt; wir müssen also schon etwas verfehlt, oder etwas unrecht verstanden haben. Daraus geht hervor, daß man in einem Mißverstehen oder NichtVerstehen begriffen sein kann, ohne es zu merken. Sind nun die hermeneutischen Regeln überhaupt von einem Werth, so muß ihre Anwendung dagegen sicher stellen. Unter Voraussetzung der vollständigen Hülfsmittel, ist es eine falsche Interpretation, wenn ich die Regeln erst anwende, nachdem ich schon in den falschen Gang gekommen bin. Nun sind hier 2 Begriffe zum Verständniß zu bringen, das Mißverstehn, und das NichtVerstehen. Das Erste setzt voraus, daß man einen Fehler gemacht hat, ohne es zu merken; das 2te ist ein Zustand der Hülfs-
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losigkeit (eine aÆporiÂa); es ist die Mahnung, auf eine vollkommene Weise zu Werk zu gehen, und das ist die Anwendung der hermeneutischen Regeln. Wenn man, wo man nicht versteht, beim kunstlosen Verfahren bleibt, entsteht die Gefahr des Mißverstehens. Ich meine das nicht so, als ob das Anwenden der Regeln das Mißverstehn aufhöbe, sondern so, wenn ich von Anfang des NichtVerstehens meine Zuflucht nehme zur Anwendung dieser Regeln, so werde ich auch zur Prüfung noch ein mal auf die Stelle zurückgehn. Das Nicht-Verstehen ist immer das ursprüngliche. So lange ich den Satz noch lese, bin ich immer im NichtVerstehen; ich habe also auch gleich bei dieser successiven Operation die Aufforderung, die Regeln anzuwenden. Das strengere Verfahren also nur ist die Consequenz; das andre inconsequent und unsicher. Wir werden nun wohlthun, auf die beiden verschiednen Ansichten sofern Rücksicht zu nehmen, daß wir auf der einen Seite genauer bestimmen, wie und auf welche Art das negative festgestellt werden muß, d. h. wie man das Ziel verfehlen kann, und worin es besteht. Offenbar muß das Positive dazu die Grundlage geben, und damit fangen wir jetzt an. Nun haben wir schon 2 Hauptrichtungen unserer Aufgabe festgestellt; man kann unterscheiden das Geschichtliche und das im Gegensatz gegen dieses, ich möchte es das Divinatorische nennen. Wenn wir auf das Verhältniß einer Schrift zu der Sprache sehen, um es daraus zu erklären, so kann es ein 2faches Verhältniß der Schrift zur Sprache geben; einmal ist sie ein aus der gegebenen Sprache Zusammengesetztes; dann hat auch, was in einer Sprache geschrieben wird, einen Einfluß auf die Sprache selbst. Denn die Veränderungen der Sprache gehen doch hervor aus einzelnem Gesprochenen oder Geschriebenen. Man versteht offenbar eine Schrift oder Sprache nur, sofern man beides in seinem gehörigen Verhältniß auffaßt. Der Einfluß, den die Schrift auf die Sprache hat, ist nicht vorher gegeben; das wovon wir ausgehen müßen, ist, daß wir uns in die Gegenwart des Schriftstellers stellen; von dem Punkt aus war es noch das zukünftige, das Divinatorische. Nun kann Einer sagen, das liege zu weit hinaus, und gehöre nicht zu unserm Geschäft. Dann wird freilich die Aufgabe enger; der Einfluß den die Schrift auf die Sprache macht, ist der Eindruck den die Schrift auf die Leser machte; es zeigte sich ihm darin ein neues SprachVermögen; es schließt sich das aber gleich an das erste Auffassen an. wenn aber die kunstgemäße Auslegung Alles zum Bewußtsein bringen muß, so muß sie auch dies. Denke ich mir auch eine Schrift hierin gleich Null, so gehört zum richtigen Verstehn auch das, daß ich 1 aÆporiÂa] aÆporriÂa
6 NichtVerstehens] folgt ich
9 lese] lesen
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Mi 8.11.
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weiß, sie ist in dieser Hinsicht Null. – Das geschichtliche Verstehn einer Schrift aus der Sprache ist das richtige Auffassen ihrer, sofern sie aus dem thätigen, lebendigen Schatz der Sprache entnommen ist. Um das zu können, muß ich auch das Verhältniß des Schriftstellers zu diesem GesammtVorrath der Sprache kennen. Etwas ist es, wenn er aus mehreren Constructionen eine wählt, und ein anderes, wenn er nur diese kannte. Im ersten Fall liegt auf dem Worte oder der Construction ein Nachdruck, im letzten Fall kann ich mir denken, daß der Schriftsteller selbst nicht zufrieden war mit seinem Ausdruck. Unsere 2te Hauptrichtung war, eine Schrift zu verstehn als eine einzelne Thatsache aus dem Gesammtbewußtsein des Schriftstellers. So wie wir obige die grammatische nannten, so diese die psychologische oder technische. Darüber muß ich mich erklären nehmlich es ist ein Unterschied, wie sich eine Schrift als Einzelnes aus der Gesammtheit aussondert. Das Letzte um so mehr, als es ein KunstWerk. jedes solche entsteht aus einem Keim, der Conception; an ihn schließt immer mehr, und bildet einen organischen Zusammenhang. Das übrige Leben geht fort, das hat aber sein eigenes; erst wenn es sich ausgebildet hat, geht nun die Ausführung an. Je weniger das der Fall ist, je weniger hängt ein Akt des Schreibens etc an einem andern, und es ist ein wesentlicher Unterschied, ob etwas ein KunstWerk ist, oder ob es in ein Geschäft gehört. von vielen wissenschaftlichen Werken werden wir das Letzte sagen; denn einen Gegenstand des menschlichen Wissens zu erforschen ist ein Kunst-Werk. Je mehr etwas ein für sich bestehendes KunstWerk wird, je mehr lößt es sich aus dem Zusammenhang mit dem Geschäft. Das Erste wird also diese Klassifikation sein. Diese ganze Richtung in der weitern Entwicklung geht davon aus; daß das Verhältniß, wiefern es Theil einer andern Thätigkeit oder für sich bestehendes Kunst-Werk ist, richtig geschätzt wird. Das Eigenthümliche einer kunstthätigen Organisation bezeichnen wir aber durch den Ausdruck Te c h n i s c h . Nun giebt es hier auch ein Geschichtliches und Divinatorisches. Ich verstehe das Werk Jemandes, je mehr ich weiß, warum er es so ausgebildet. Jeder Mensch befindet sich aber fortwährend in einer geistigen Entwicklung, die aus 2 Momenten hervorgeht, einem Äußeren und einem Inneren. Das Eine ist Folge des Vorigen, ein Andres ist fruchtbar für das folgende Leben. Denken wir uns beides in einem sehr weiten Abstand, so werden das Eine der Schrift einen ganz andern Charakter geben als das Andre. Eine Schrift, die einen EntwicklungsPunkt des Schriftstellers selbst bezeichnet, muß eine andre Farbe haben, als eine, die nur wiedergiebt, was ihm schon etwas altes und gewohntes ist. Das Eine ist nun das Rück-
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wärtsgekehrte, das Geschichtliche, das Andre das VorwärtsGekehrte, das Divinatorische. Zur völligen Darstellung der Aufgabe gehört das wesentlich. Es wird aber vieles als Gegenstand unsrer Kunst geben, wo das divinatorische Element als Minimum gar nicht in Betracht kommt, oder wo die Umstände so sind, daß wir es gar nicht ermitteln können. Lassen Sie uns nun das Negative noch genauer betrachten, auf wie vielerlei Weise man das Ziel verfehlen und hinter ihm zurückbleiben kann. Da giebt es erst einen Unterschied zwischen NichtVerstehn und Mißverstehn. Das Eine verhält sich zum andern wie die Unwissenheit zum Irrthum. Wer mißversteht, glaubt zu verstehn, ist befriedigt, und geht in seiner Thätigkeit weiter; es kommt nun darauf an, ob später ihn etwas hierauf aufmerksam macht, so kommt er in das NichtVerstehen zurück, und fängt die Operation von vorn an. Findet sich dergleichen aber nicht, so hat er sein Ziel definitiv verfehlt. Mißverstehn und NichtVerstehn ist 2fach, das ich nicht besser bezeichnen kann als durch qualitativ und quantitativ. qualitativ = das richtige Auffassen des Orts, den eine Schrift einnimmt in Beziehung auf die Sprache und das ganze Bewußtsein des Schriftstellers. Etwas anderes ist, wenn ich einen Ort der Rede in beiden Hinsichten bestimmt habe, irre mich aber, oder bin unsicher in Beziehung auf den Nachdruk oder die Kraft, die in diesem Theil der Rede liegt. Das hat seinen Einfluß auf die grammatische Seite und auch die technische. Ein Beispiel, welche verschiedenen Abstufungen haben bei uns die Superlative; das sind Verschiedenheiten der Gradation, also rein quantitativ. Ebenso jedes Verbum, wo jede Bedeutung noch eine Menge von Gradationen hat. Bin ich unsicher über diesen Punkt, wie sich der Schriftsteller das Wort dachte, so bin ich in einem quantitativen Mißverstehen. oder denke ich mir das falsche, in einem qualitativen Mißverstehen. Das NichtVerstehn ist entweder ein Produkt des Unfleißes oder ein Produkt der Unfähigkeit, entweder in Beziehung auf den Gegenstand, oder in Beziehung auf den Schriftsteller. Es giebt eine gewisse Wahlanziehung, so daß bei einigem Fleiße es weniger begegnet, den einen Schriftsteller nicht zu verstehn als den Andern. Das Mißverstehn, das eine Operation zu eilig abschließt, ist eine Folge der Übereilung, oder der Befangenheit. Das Letzte ist das Schlimmste, das andre ist nur vorübergehend. Die Befangenheit stekt tiefer, es ist die Vorliebe für das, was [in] dem eignen IdeenKreis liegt, und die Abneigung gegen das von ihm Ausgeschlossene; und ebenso entsteht daraus die Neigung, etwas anders zu erklären. es ist also ein wahres hinauserklären wollen dessen, was drin ist, das Erste das hineinerklären wollen dessen, was nicht darin ist. 25 wie] worauf
27 qualitativen] quantitativen
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Machen wir nun die Anwendung auf das N.T. und fangen mit dem Positiven an, so scheint hier das divinatorische keine Anwendung zu finden. Es fragt sich, ob der Schriftsteller ein Bewußtsein von dem Eindruck seines Werks hatte; in diesem Fall gehört das mit zu unserer Aufgabe; hat er aber das nicht gehabt, so kann man sagen, das hieße, den Schriftsteller besser verstehn als er sich selbst verstanden, und je mehr Achtung man vor dem Schriftsteller habe, sei das etwas unzulässiges. Das N.T. hat nun eine normale Dignität, und alle theologischen Vorstellungen sollen aus ihm bewährt werden, darin liegt also die allgemeine Unterredung, und die Beziehung ist ausgeschlossen, daß wir es besser verstehn sollen als der Schriftsteller. Betrachten wir aber beide Seiten. Die NeuTestamentische Sprache steht in Beziehung auf die totalität der ganzen griechischen Sprache auf keinem sehr hohen Punkt. Aber auf der andern Seite hat sich die kirchliche Sprache aus ihm gebildet; Wenn man sich also aus der Lesung NeuTestamentischer Schriften das Verständniß machen kann, daß sich ein eigenes SprachGebiet bilden muß, so läßt sich wohl nicht nachweisen, daß die NeuTestamentischen Schriftsteller eine Ahndung davon gehabt hätten, und kein strenger Verfechter der Theorie der Inspiration möchte wohl das auf diese Theorie anwenden wollen. Es muß sich aber doch eine solche Erkenntniß von der Kraft der NeuTestamentischen Schriften eine solche historische Wirkung auszuüben, davon muß sich doch in dem Verständniß eine Ahndung entwickelt haben, und somit gehört das zur Vollendung [der] interpretation. Damit wird die Vollendung nicht aufgehoben. – Was die andre Seite diesen divinatorischen Theil der Interpretation betrifft, zu konstituiren, wie sich ein Akt der Rede in dem Verfasser selbst als Entwicklungs-Punkt weiter muß gewirkt haben, so haben wir dazu bei den NeuTestamentischen Schriftstellern weniger data, als bei Andern. Es sind nur 2, Paul und Johannes, von denen wir sagen können, es gebe mehrere Schriften, die in einer Differenz der Zeit liegen; aber auch hier ist nur bei Paulus Sicherheit, also die Möglichkeit seinen EntwicklungsGang an gewissen Punkten zu verfolgen. Wenn man damit soweit kommen kann, daß man sagen dürfte, hätten wir vom Apostel noch spätere Schriften, so würde sich noch das und jenes in seiner religiösen VorstellungsArt so entwickelt haben, so wäre das etwas Bedeutendes, aber noch nicht, was in unsrer Aufgabe liegt, danach müssen wir sagen: In dieser oder jener Schrift liegen die Keime von Vorstellungen, die wir nicht weiter verfolgen können, die sich aber gewiß in ihm entwickelt haben. Das wäre das Maximum. Die apostolische Autorität würde diesen Prozeß nicht 15 Schriften] folgt sich
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hemmen können und dann wäre es sehr Bedeutendes, weil wir dadurch Glieder in die christlichen Vorstellungen setzen können, die entweder nicht vorkommen, oder von denen man nicht nachweisen kann, daß sie in dieser Zeit so oder so gewesen wären. Je mehr Vergleichung wir anstellen können über die Ansichten der Apostel über gewisse Gegenstände, um so mehr Analogien hätten wir, und um so gewissere Ansichten über die Norm der Stelle hätten wir. Aber sehen wir, auf welchem Punkt die NeuTestamentische Auslegung steht, so sehn wir wohl, daß man von diesem Ziel noch weit entfernt ist. Es ist aber etwas, was man aufstellen muß; von dieser Seite werden wir also auch sagen müssen, die NeuTestamentische Auslegung ist nicht abgeschlossen. Wenn jemand unternimmt, aus der Sprache Pauli eine zusammenhängende Darstellung seines Lehrbegriffs zu geben, oder zu zeigen, wie sich gewisse Vorstellungen in ihm modifizirt haben, so wären das Sachen für das Gebiet. Aber wenn das Alles abgeschlossen und in Übereinstimmung gebracht wäre, so könnte man das Geschäft erst für vollendet halten. Kommen wir nun auf die geschichtliche Seite, so hat das N.T. eigenthümliche Schwierigkeiten, und kommen wir auf die Sprache, so liegt darin der Grund, daß man die N.T. Hermeneutik als eine special Hermeneutik ansehn kann. Unsre Aufgabe lautete so, eine Schrift aus der Sprache als ein Erzeugniß der Gesammtheit der Sprache construiren zu können. Die NeuTestamentische Sprache kann aber nicht aus der Gesammtheit e i n e r Sprache begriffen werden. Zwar gehört sie einem Dialect wesentlich an, der koinhÁ glvssa, der nachmacedonischen Zeit. Das bezeichnet eine Stufe der Sprache, wo schon der Verfall derselben eingetreten ist. Allein die griechische Sprache war eigentlich für die NeuTestamentischen Schriftsteller eine fremde, aber nicht so, daß sie sie kunstmäßig gelernt hätten (sonst wäre es dem neuLateinischen ähnlich), sondern sie hatten das Griechische inne, wie man es im LebensBedürfniß bekam, es war nicht das Produkt einer durch gemachten Bildung, sondern wie das Bedürfniß es mit sich brachte, in der Sprache verkehren zu können, so mischten sie sich mit der Muttersprache; so daß nicht das Vermögen einwohnte, fremde Wendungen, die aus der Analogie mit der Muttersprache genommen waren, als solche zu erkennen und zu vermeiden. Es muß also, wenn auch das materielle aus dem Griechischen genommen ist, was das formelle betrifft, die Kenntniß des Hebräischen mit zugenommen werden. Wie steht es nun mit dem 2ten, den NeuTestamentischen Vorstellungen; waren die nicht da, wie konnten alle Begriffe aus der 24 koinhÁ] koiÂnh
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Sprache genommen werden. Wir kommen hier auf ein streitiges Gebiet, da behauptet wird, die NeuTestamentischen Vorstellungen seien sammt und sonders unter den Juden damaliger Zeit schon gewesen, aus entgegengesetzten Gründen, theils zu zeigen die Identität der Alt und Neu Testamentischen Ökonomie, theils etwas Höheres im Christenthum abzuleugnen, Andre leugnen das, und nehmen nur eine Analogie dieser Vorstellungen voraus an. Das ist offenbar, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß ein relativ Neues in den NeuTestamentischen Vorstellungen enthalten ist, so muß man auch eine Umbildung der Sprache zugeben, es bleibt nur eine Analogie, und diese muß man festhalten in Beziehung auf die Umbildung des SprachGebrauchs wegen der neuen Vorstellungen. Es geht daraus dann ein reines Ineinander des Geschichtlichen und divinatorischen hervor. Ähnliches möchte sich in dieser Art nicht [in] diesem Grade finden. Das socratische Zeitalter fing auch an eine neue Sprache in Beziehung auf das Philosophische und Mathematische zu bilden. Da wäre also auch eine Analogie. Sehen wir aber auf der andern Seite das Geschichtliche, die NeuTestamentischen Schriften zu begreifen als Thatsachen aus dem Bewußtsein der Schriftsteller. Nun aber wissen wir außer dem N.T. sehr wenig von diesen Schriftstellern; denn die Traditionen aus dem 4ten saeculo sind so unzusammenhängend, unsicher und tragen den Charakter an sich, daß sie aus dem N.T. zusammengesetzt sind, wie die geschichtlichen Angaben in den Prolegomenen. Diese Aufgabe steht aber mit der vorigen in nothwendigem Verhältniß. Waren diese Ideen vorher nicht da, so müssen wir eine Umbildung in ihnen annehmen, ehe sie schrieben, denn das fällt mit der Anerkennung des Christenthums zusammen. Nun läßt sich die Umbildung nur begreifen aus dem Zusammensein dieses neuen und des Vorigen. Daraus lassen sich erst ihre Schriften begreifen. Es wird aber nur wenige Analoga auf andren Gebieten geben. Nehmen wir das zusammen, so werden wir es natürlich finden, daß in Beziehung auf die negative Aufstellung, es mit der NeuTestamentischen Erklärung stehn muß wie es steht, nehmlich soviel Nichtverstehn als Mißverstehn. Zu dem NichtVerstehn trägt noch ein besonderer Umstand das Seinige bei; [daß] ehe man zur kunstmäßigen Beschäftigung der Erklärung des N.T. kommt, wir schon vorher eine Kenntniß desselben haben, die aber sehr verworren ist, zumal in einem Alter, wo man noch nicht fähig ist, die Aufmerksamkeit zu wenden worauf es nöthig ist, wo der SprachGebrauch dieser Übersetzung und das jetzige zu einem verworre16 bilden] folgt an
32 Erklärung] folgt es
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nen Ganzen zusammengefaßt werden. Dazu kommt noch das besonders Schlimme, das zerstückelte Vorkommen dieser Elemente im Jugendunterricht und im öffentlichen Gottesdienst. Kurz hier häufen sich die Schwierigkeiten so, daß sich wohl schwerlich etwas damit vergleichen läßt, und es wäre die erste Regel, bei einer kunstmäßigen Interpretation das Alles ins Vergessen zu stellen, damit man wenigstens auf eine reine Weise anfangen kann. Wenn wir nun auf der psychologischen Seite das geschichtliche Fundament betrachten, so ist was die Form betrifft, keine große Untersuchung nothwendig, weil die NeuTestamentischen Formen keinen kunstmäßigen Charakter haben, sondern der Form am nächsten stehn, wo die Form [die] des Gesprächs ist. Eine Ausnahme macht die Apokalypse, wo die Form des Prophetischen die Form ist, woraus sie verstanden werden kann. Hier ist deshalb auch ein streitiges Gebiet, ebenso wie die Auslegung der Alten Propheten, je nachdem man durch die Inspiration die Absicht zum Grunde legt, künftige Begebenheiten darzustellen, oder die Darstellung eines Geschichtlichen als die Hauptsache anzusehn. Man kann fragen, warum in keiner reicheren und kunstmäßigeren Form die NeuTestamentischen epistolischen Abschnitte und Erzählungen erscheinen. Die Betrachtung der Apostelgeschichte zeigt aber, wie Alles nur auf das erste Bedürfniß berechnet war; wenn sich auch die Schriftsteller kunstmäßiger Formen bedienen konnten, fanden sie keinen Raum und Aufforderung dazu –. Die Hauptsache ist aber: die Entwicklung des Bewußtseins des ganzen Volks ist das, woraus das Bewußtsein des Einzelnen abzuleiten ist. Die ganze Denkweise und ErfahrungsKenntniße damaliger Zeit sind also das Fundament der NeuTestamentischen Schriftsteller, woraus der Zustand jedes Einzelnen aufzufassen ist. Nun entsteht daraus die Frage, ist das ganz menschliche Bewußtsein Christi, das auf die NeuTestamentischen Schriftsteller so mächtig gewirkt hat, auch selbst ganz und gar aus jenem Gesammtzustand zu erklären, oder muß hier zu einer andern Voraussetzung geschritten werden. Es ist hier nicht der Ort, die ganze dogmatische Theorie über die Person Christi abzuhandeln. Es ist leicht einzusehn, daß verschiedene Vorstellungs-Arten doch ein allgemeines Prinzip aufstellen können, Differenzen der Art würden uns also nicht kümmern. Ja wir können der Sache noch von einer andern Seite helfen. Es hat einzelne gegeben, die ihr Zeitalter dominirten, und die den Schlüssel geben, die späteren Zeitalter aus den früheren zu verstehn. Im Gegensatz zu jenem muß es also einzelne Erscheinungen geben, die erst aus sich selbst begriffen werden müssen, wenn gleich das Materiale, worin sich die Kraft eines solchen Einzelnen ausdrükt, durch jenen Gesammtzustand bedingt ist. Nun wird doch Niemand leugnen, daß bei jeder
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Theorie über die Person Christi, er ein solcher gewesen, der einen dominirenden Einfluß auf das Gebiet künftiger Entwicklung geäußert hat. (Es ist ein großer Gewinn, wenn das Prinzip der hermeneutik des N.T. von der Dogmatik unabhängig ist). Nun würde also aber eine richtige Vorstellung von der Art und Weise, wie die Persönlichkeit Christi auf seine Zeitgenossen wirkte, das Supplement sein zum Gesammtzustand der damaligen Zeit, um zu begreifen, was sich in den NeuTestamentischen Schriftstellern entwickelt hat. Es wird nun jeder zugeben müssen, daß bei dem Zusammenhang aller menschlichen Kenntniße, es nicht gleichgültig ist, in welcher Form man sie erwirbt. Man erspart sich das Geschäft alle Mal, wenn nicht das vorausgegangen, was vorausgehn muß. Betrachten wir also die Sache erst im Allgemeinen, was muß vorangegangen sein, wenn das Geschäft der Auslegung auf die leichteste und Naturgemäßeste Weise soll getrieben werden? Man muß zuerst auf dem Punkt stehn, der dem Schriftsteller und seinen ursprünglichen Lesern geschäftlich war. Die Kenntniß der Litteratur wird also vorausgehn müssen, und 2) eine Kenntniß vom Gesammtzustand des Volks, dem diese Litteratur angehörte, in Beziehung auf seine geistige Entwicklung. Da sind wir wieder im alten Zirkel. Die vollständige Kenntniß der Sprache und des Gesammtzustands kann nur aus diesen ursprünglichen documenten entnommen werden. Die Sache liegt also so: Es muß eine solche Kenntniß der Sprache und der Zeit erworben werden in einer Zeit, wo noch keine solche kunstgemäße Auslegung statt findet. Mit der Muttersprache ergiebt sich das von selbst, und auf den gelehrten Schulen werden die Werke des Alterthums nur gebraucht, um die Sprachkenntniß daraus zu erwerben. Ebenso wird in der Zeit eine Kenntniß vom Gesammtzustand des Alterthums erworben. Je mehr sich das ordnet zu einem anschaulichen Bilde, um so mehr ist dem Geschäft der kunstmäßigen Interpretation vorgearbeitet. Je weniger das der Fall ist, je mehr die Kenntniß der Sprache und des Gesammtzustands erst bei der Interpretation soll erworben werden, um so weniger kann das Geschäft gelingen. Das Geschäft geschieht dann nicht bloß nachträglich, sondern schon in Beziehung auf diesen besondern Fall, es fehlt also dann die gehörige Unbefangenheit. man hat eine bestimmte Richtung schon im Voraus, und faßt das Nachzuholende nicht rein objectiv auf. Wie steht es nun in dieser Hinsicht um das N.T.? wenn wir da die Sprache in ihrer Eigenthümlichkeit betrachten, so ist offenbar, daß man gewöhnlich nichts vorher dazu gethan hat, sondern aus der philologischen gymnasialBildung kommt man zur Auslegung der NeuTestamentischen Schriftsteller, und soll sie so betreiben daß die Beurtheilung der
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Schriftmäßigkeit fraglicher Vorstellungen daraus hergenommen werden soll. Das ist also eine ungünstige Lage. Doch wollen wir nicht in den Wunsch stimmen, zum Behuf der theologischen Bildung die Lage unsrer gelehrten Schulen zu ändern. Es ist in neuerer Zeit der Wunsch geäußert worden, für die künftigen Theologen statt der klassischen Schriftsteller des Alterthums die patristischen zu lesen, weil der Ideenkreis und der der Sprache gleich wären. Allein einmal wäre es schlimm, wenn die Theologen bloß patristische Gelehrte wären; das Alterthum ist schon so in die Bildung eingeführt worden, daß eine gewaltige Differenz zwischen der Bildung der Theologen und der Andern eintreten müßte. Man kann es wohl sehr redlich mit der Sache des Christenthums haben und die beste Meinung haben von der Bildung, die es in sich selbst hat, aber doch bedenklich sein den Zusammenhang mit dem heidnischen Alterthum ganz abzubrechen. Die Periode, in der die ausgebildetesten Schriftsteller der christlichen Kirche waren, war die des Verfalls, und die kann doch nicht aus sich selbst verstanden werden, sondern nur im Vergleich mit dem CulminationsPunkt vor ihr. Immer werde ich also sagen, wenn Einer mit der rechten Liebe zum Studium der christlichen Denkmäler kommt, um so mehr wird er sie verstehn, wenn die Kenntniß des Heidenthums allem vorausgegangen ist; und je mehr Liebe dazu vorausgesetzt wird, um so weniger wird ein Nachtheil des Einflusses des antichristlichen Geistes zu besorgen sein. Wenn die Grammatik des N.T. erst soll gelernt werden bei der kunstmäßigen Interpretation, so ist das schlimm, und da ließe sich etwas thun durch eine vor der NeuTestamentischen Exegese vorhergehende Unterweisung in der NeuTestamentischen Grammatik. Aber es fehlt da noch an Hülfsmitteln. (Philologia sacra von Glassius, nachher bearbeitet von Dathe, enthält eine große Deduktion von leerem Gerüst, für die Anfänger deshalb wenig brauchbar. NeuTestamentische Grammatik von Winer; sie hat den unnützen Apparat ausgelassen, sie ist aber noch nicht so verdienstlich, daß man sie für eine vollständige NeuTestamentische Grammatik ansehn kann. Es sind die Abweichungen weder in Beziehung auf die allgemeine Ableitung, noch im Einzelnen richtig angegeben worden). 14 der] die 26–27 Diese Ausgabe der ,Philologia sacra‘ des Salomon Glass (Salomo Glassius), bearbeitet (Teil 1, 1776) von Johann August Dathe und (Teil 2, 1795–97) von Georg Lorenz Bauer, befand sich in Schleiermachers Bibliothek (SB 788). 28–29 Die ,Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese‘ von Georg Benedikt Winer (1822) befand sich in Schleiermachers Bibliothek (SB 2149) ebenso wie die 3., ,durchaus berichtigte und sehr vermehrte‘ Auflage von 1830 (SB 2150).
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Ich habe auf 2erlei aufmerksam gemacht, daß es keine genügende Vorbereitung für die Interpretation des N.T., wie für das klassische Alterthum [gibt]. Das hat denn auf die Behandlung dieses Gegenstands in den akademischen Studien Einfluß gehabt. Ebenso mangelt es an einer gehörigen Kenntniß der religiösen Vorstellungen des jüdischen Volks zur Zeit der Entstehung dieser Schriften. in der Vorlesung über hebräische Alterthümer kommt man selten so weit. Das N.T. enthält zwar Andeutungen dazu, aber es bedarf der Zusammenstellung, und bei der Entlehnung aus andern Quellen bedarf es der Kritik. Dies und was sich auf die Kenntniß des gesellschaftlichen Lebens des jüdischen Volks und der hellenistischen Christen bezieht, würde eine materielle Einleitung in die Schriften des N.T. geben; Nun verhalten sich diese Realien zu der Hermeneutik anders, als was sich mehr auf die Sprache allein bezieht. Bei der gegenwärtigen Lage der Dinge wird es sich nicht trennen lassen, daß die Operation mit der Sprache, mit der Interpretation muß verbunden werden. Wenn aber bei den Realien es vorkommt, daß man sich an den einzelnen Stellen auch auf einzelne Punkte erstrecken soll, so setzte das eine Kenntniß der theologischen Litteratur voraus; und das würde zu weit vom Zweck führen. Fragen wir nun, wie haben wir die ersten Versuche, das N.T. in der Grundsprache zu verstehn, anzusehn? schwerlich als ein kunstgerechtes hermeneutisches Verfahren; denn man muß zu oft aus der Auslegung herausgehn um andres nachzuholen. Wir müssen also gestehen, uns hier nicht in der wünschenswerthesten Lage zu befinden. Wenn aber die dem theologischen Studium sich Widmenden ohne ihre Schuld nicht gehörig vorbereitet kommen, und zuerst nichts geschehn kann, als dem Vortrag eines geübten Lehrers zu folgen, so ist es eine große Frage, wie ein solcher zweckmäßig einzurichten sei. Für die Auslegung selbst giebt es eine ungeheure Menge von Hülfsmitteln. Wenn nun ein solcher exegetischer Vortrag nichts ist, als zu den vorhandenen Commentarien einen neuen hinzufügen, es wäre hier die Form des mündlichen Vortrags ganz unberücksichtigt gelassen. Die andern Commentarien kritisch zu behandeln, wäre etwas, aber es liegt zu weit ab von dem Zustand, worin [sich] die jungen Theologen befinden, zumal da vor der Auslegung keine Anleitung zur Auslegung vorhergeht. Das Einzige was geschehn kann, scheint zu sein, daß die Auslegung in einem solchen Vortrag genetisch entwickelt wird, die Anwendung der hermeneutischen Regeln in jedem Fall zum rechten Bewußtsein gebracht wird, was aber mit Nutzen nur geschehn kann, wenn die Regeln schon in abstracto vorangegangen sind. Die rechte Si23 die] folgt sich
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cherheit ist aber nur da, wenn nun die Auslegung selbst an andern Theilen der Schrift versucht wird. Nun reichen die Anstalten nicht hin, daß jeder künftige Ausleger das Geschäft unter der Anleitung eines Lehrers macht, er versuche es für sich und frage in schwierigen Fällen einen sachkundigen Menschen. Ehedem mag es gut gewesen sein, wenn die exegetischen Vorlesungen auf einen Commentar hinausliefen; ehedem, d. h. zu einer Zeit, als man noch nicht mit Leichtigkeit sich diese Commentarien verschaffen konnte. Ähnliches begegnet mit andern akademischen Vorträgen, wo viel Hülfsmittel sind, auch. Was nun die praktische Übungen betrifft, so ist noch übrig über die zwekmäßige Art sie einzurichten zu sagen. Ich setze voraus, daß die Auslegungskunst bekannt ist. Die Aufgabe ist dann, diese Regeln auf eine Stelle dieser NeuTestamentischen Bücher anzuwenden. Wenn nun der Theologe sie für sich machen muß, sind die NeuTestamentischen Bücher alle gleich, oder giebt es da eine Stufenfolge und Priorität. Nun sind sie sehr ungleich, aber es kommt dazu noch das: Wenn dergleichen Übungen wirklich Übungen sein sollen, so muß das Geleistete geprüft werden können, und das wird nicht anders möglich sein, als indem man das Gethane vergleicht [mit dem], woran sich Meister in der Auslegung versucht haben. Um also in dieser Übung anzufangen, müßte man versuchen, leichtere Schriften zu suchen, und zwar solche, worin es gute Leistungen giebt. Daraus folgt, daß es für den Anfänger in der Auslegung nicht gut ist, gleich von Anfang an die Commentatoren zu Rathe zu ziehn. Dagegen ist aber wahr, daß die Mangelhaftigkeit der Vorkentniße es unmöglich macht, daß der Anfänger zu etwas Bestimmtem gelangt. Beides muß man deshalb wohl unterscheiden. zu den letzten Hülfsmitteln gehören die NeuTestamentischen lexica und Versuche in der Grammatik. Wenn aber die realen Kenntniße fehlen, so findet man diese nicht anders, oder nicht leichter als in Commentarien. in dieser Beziehung ist es nicht zu vermeiden, daß man die Commentarien zu Rathe zieht. Aber dann muß es nur in dieser Hinsicht geschehn, nicht im Zusammenhang, sonst wird die eigene Thätigkeit mit Fremdem vermischt. Besser ist immer auf die in den Commentarien angegebenen Quellen zu gehn, man sammelt sich dann einen Schatz, den man nachher gut brauchen kann. Nach dieser Vorkenntniß durch eigne Anstrengung wird eine Vergleichung mit andern hermeneutischen Verfahren gut sein, nicht in Beziehung auf das Resultat, sondern in Beziehung auf die procedur, um zu sehn, worauf man hätte sehen müssen, und ob man zu einseitig auf eine Seite gegangen ist. Ohne die eigne Anstrengung sind die vorzutra13 anzuwenden] anzustellen
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genden Regeln von keinem Nutzen. Denn will man die Regeln versparen, bis es darauf ankommt, eine Stelle zu einem bestimmten Zweck auszulegen, so wird das nie etwas werden. Die Auslegung ist Sache des Talents und der Übung, das Talent kann aber nur durch die Übung gewekt werden. Wenn man einen Ausleger kanonisirt, so braucht es gar keine hermeneutischen Regeln, und die evangelische Freiheit wäre hin, wir würden alle dem katholischen Prinzip einer autenthischen Auslegung huldigen. Wir schreiten nun zur Sache und entwickeln die Regeln aus den zum Grunde gelegten Prinzipien. Wir fanden schon 2 Richtungen unseres Geschäfts, die wenngleich im Prinzip stets verbunden, doch in Theorie nur nacheinander werden vorgetragen werden können; da eine aber die andre voraussetzt, werden wir stets Beziehungen auf die andre zu nehmen haben. Beide sind deshalb auch coordinirt, und an sich muß es gleichgültig sein, mit welcher von beiden man anfängt. Gäbe es einen vollgültigen Grund, eine der andern Seite vorzuziehn, könnte das aufgestellte Verhältniß nicht das wahre sein. Es ist also die Stellung entweder ganz gleichgültig, oder es muß einen besonderen Grund geben. Ich meine das Letzte, daß es besondere Gründe gebe, die grammatische Seite voranzunehmen. Wir haben schon den Grundsatz aufgestellt, daß das Einzelne nicht kann verstanden werden als zugleich aus dem Ganzen, und daß das eine Schwürigkeit des Unternehmens ist, da das Ganze nur aus dem Einzelnen kann verstanden werden. Wir haben die Schwürigkeit so gelößt, es gebe ein vorläufiges kunstloses Verstehn, worauf sich das kunstgemäße des Ganzen gründet. Das gilt für beide Seiten. Die einzelnen Stellen sollen aus dem Ganzen erklärt werden; jedes einzelne Werk hat aber den Grund seines Verständnißes von der grammatischen Seite aus und auf diese bezogen, muß die Totalität der Sprache, und was die psychologische Seite betrifft, muß die Kenntniß vom Charakter des Mannes selbst ; sollte sich nun aus diesem, nicht aber aus dem Verhältniß beider Richtungen zu einander, etwas über die Ordnung ergeben? Sehn wir auf die Genesis des ganzen philologischen Studiums, so war das Sprachliche das Erste, und aus der Kenntniß der Sprache entwickelte sich die Kenntniß von Charakter der Zeitalter und Völker. Geschichtlich war also das Grammatische das Erste. Sehn wir auf das N.T. besonders, so kommt noch dazu außer dem Allgemeinen, der natürliche Fortschritt vom Leichten zum Schwürigen; da wir was das Grammatische betrifft, die größten sub[si]dien haben. Wir fangen also beim Grammatischen an, und entwickeln aus dem Allgemeineren das Besondere.
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Das allgemeine Prinzip, von dem wir ausgingen, war: wir setzen voraus, daß die kunstgemäße Interpretation nicht erst beginnen darf, wenn sich Schwürigkeiten zeigen, sondern von Anfang an, nachdem man durch eine cursorische Lesung sich eine Übersicht vom Ganzen verschafft hat. Darin liegt also die Voraussetzung, daß man Alles mehr oder weniger unbestimmt ansieht, alles einer nähern Bestimmung bedürftig; danach ist schon die Regel aufgestellt, daß das einer Bestimmung Bedürftige nur erklärt werden kann, aus dem dem Verfasser und seiner nächsten Umgebung angehörigen Sprach-Gebiet. Hier gleich einige nähere Bestimmungen. Es ist schon gesagt, daß wir hier nur mit solchen Sprachen zu thun haben, die die beiden Haupttheile der Rede, Subjekt und Prädikat durch bestimmte Formen unterscheiden. Ich verstehe unter dem Subjekt das nomen, unter prädicat das verbum, und sehe beide als Haupttheile des Satzes an. später hat man der Sache mehr die Wendung gegeben, daß der Satz aus 3 Elementen bestände, nomen, prädicat (ein adjectiv oder partizip) und Copula, das verbum sein als das ursprüngliche, und andre die in seine Stelle treten könnten. Plato sieht durchaus den Satz an auf die erste Weise; schon Aristoteles mehr auf die 2te Weise. Von der 2ten Ansicht aus ist also ein Satz, der nur aus nomen und verbum besteht, unvollständig. Die Gründe, sich für eine oder die andre Ansicht zu entscheiden, liegen außer unserer Sphäre; ich bleibe bei dem, was mir natürlicher scheint, und das ist das Erste. – Wenn nun Alles einer näheren Bestimmung bedarf in einer Rede, was einzeln steht, so wäre das Einzelne zunächst der Satz; da müssen wir also unterscheiden zwischen nomen und verbum, und der Verbindung beider (Zeiten und Bedingungen). Die Art, das verbum auf das substantiv zu beziehn, liegt in der vorliegenden Sprache in der flexion des Verbi. In Beziehung auf das nomen haben wir hier noch nichts dergleichen zu untersuchen. Es wird also zuerst darauf ankommen, uns zu überzeugen, ob ein jedes substantiv, und jedes Verbum und der Gehalt der Formen, die die Beziehung des verbi auf das nomen ausdrücken etwas unbestimmtes sind. Fangen wir vom subject an, so scheint, wenn es ein Einzelwesen ist, ein nomen proprium, durch etwas Andres bestimmt, die Unbestimmtheit aufgehoben; ist aber das subject ein allgemeiner Begriff, so liegt die Unbestimmtheit in der Natur der Sache. Die allgemeinen Vorstellungen sind nicht etwas auf allgemeine Weise gegebenes oder bestimmtes, sie müßten sonst etwas Angebornes sein. Das System von Zeichen, worin in einer Sprache die allgemeinen Vorstellungen ausgedrückt werden, geht nie auf 38 auf] aus
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in dem System von Zeichen, worin sie in andern Sprachen ausgedrückt werden. Das ist eine ganz allgemein anerkannte Thatsache. Da muß man annehmen, daß die allgemeinen Vorstellungen bloß eine Verschiedenheit der Völker sind, und jedem eigenthümlich angeboren. Dagegen spricht aber, daß der Gehalt einer solchen Vorstellung sich mit der Zeit ändert. Die Bezeichnung der allgemeinen Vorstellungen in der Sprache ist also ein veränderliches, mithin also auch unbestimmt. Nun sind die verba auch allgemeine Vorstellungen, mithin gilt von ihnen auch dasselbige. Von den Beugungsformen, Modalitäten des verbi gilt offenbar dasselbe. Die Verhältniße, die dadurch angedeutet werden sollen sind auch allgemeine Vorstellungen, und diese Formen als Zeichen derselben, in ihrer Bedeutung veränderlich. Mithin werden wir unsere Aufstellung in der Natur der Sprache gerechtfertigt finden. Sehn wir auf die Erweiterung dieser einfachen Form des Satzes, und kommen auf die Bestimmung des nomen und verbum, also des Adjectivi und Adverbii, so sind das auch Zeichen für allgemeine Formen, und es gilt von ihnen dasselbe. gehn wir noch weiter, das Ziel der Handlung, oder die Ursache, woher das Leiden des Subjekts herrührt, anzugeben, so bekommen wir ein nomen der 2ten Ordnung, von dem mit seinen Beiwörtern dasselbe gilt. Gehn wir noch weiter, die Verbindung der Sätze, die Conjunctionen, so verhält es sich mit ihnen wie mit der Form des verbi und seiner modalitäten. So führen wir also das, sobald wir an die Erweiterung des einfachen Satzes denken, durch alle SprachElemente durch. Hier also ergiebt sich eine Duplicität. Das Eine ist der Ort eines Worts in der Gesammtheit der Sprache, wodurch die Worte als Einheit angelegt werden, und der Ort einesWorts in der Einheit der Rede, und das Letztere verhält sich zum ersten, wie ein Bestimmtes zum Unbestimmten. Wie kommen wir nun zur Kenntniß von diesen beiden? unabhängig nicht, aber gehn wir auf die Sprache als ein Bestehendes, und den Menschen in sie eintretend, so bekommt er zuerst das Wort in einem Satz, also in einer bestimmten Stellung desselben. Daraus entwickeln sich allmählig die Kenntniß von der unbestimmten Geltung desselben. Es erscheint aber, die verschiedenen GebrauchsWeisen zu einer Einheit zusammenzustellen, als eine subjective Handlung des Einzelnen, und wir können nicht dafür stehn, daß das Alle auf gleiche Weise thun. Ein Wörterbuch ist nichts als eine Zusammenstellung der SprachElemente in Beziehung auf ihren Ort in der Sprache. Vergleichen wir nun die Wörterbücher, und die Behandlung der Wörter in einem und demselben Wörterbuch, so wird sich da die 4 spricht] opp [sic]
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größte Verschiedenheit zeigen; bald wird das Wort als eine Einheit dargestellt, woraus sich alle andern GebrauchsWeisen ableiten lassen. Wenn aber eine solche allgemeine GebrauchsWeise fehlt, und eine Mannigfaltigkeit ohne Einheit hingestellt wird, so erweist sich der Verfasser des Wörterbuchs ist nicht mit dem Prozeß zu Ende gekommen, sondern in demselben stecken geblieben. Wenn wir nun in derselben Sprache finden [daß] ein Lexicograph in mehreren Fällen die Einheit des Worts an die Spitze stellt, der Andre nicht, so sehn wir, wie die HandlungsWeise in dieser Beziehung eine verschiedene ist. Wenn man nun die Sprache nicht als abstractum auffaßt, sondern wie sie geredet und geschrieben wird, so geht daraus hervor, daß in der Sprache selbst nicht die absolute Nöthigung liegt, diese Einheit aufzufassen; jedem SprachElemente muß also eine Unbestimmtheit einwohnen. Es kann allerdings über diesen Prozeß eine Verschiedenheit der Ansichten stattfinden. Sollen wir uns in Beziehung auf die Sprache auf gleichen Punkt mit dem Verfasser stellen, liegt darin nicht auch, daß wir eine gleiche Ansicht von den SprachElementen in Beziehung auf die Art der Sprache haben, und von diesem ausgehn. Denn hat er einen andern Ort für ein Element in der Sprache, als wir, so wird er auch andre GebrauchsWeisen daraus ableiten. Es rechtfertigt sich daraus, da wir diese Voraussetzung nicht machen können, alles als einer näheren Bestimmung bedürftig anzusehn. Wollten wir das nicht, so müßten wir über jeden Schriftsteller ein Lexicon anlegen und die Art jeden SprachElements in der Sprache bestimmen, weil darin alle seine GebrauchsWeisen aufgingen. Dann ständen wir auf gleichem Punkt mit ihm; das setzte aber schon das vollkommene Verständniß seiner Schrift voraus. Da befinden wir uns wieder in diesem Cyklus, und wissen nicht anders, als Alles einer nähern Bestimmung für bedürftig zu halten. Wir müssen aber ausgehn von unsrer Kenntniß der Sprache. Die Lexicographen wollen nun Vermittler sein für die Einzelnen, die sich die Kenntniß der Sprache bilden, und dafür, daß sich Alle einen gleichen Ort in der Sprache für jedes Wort bilden. Das wäre aber erst möglich, wenn ein Wörterbuch eine canonische Autorität erlangt hat. Danach hat man auch in verschiednen Zeiten gestrebt so wenn eine Akademie danach strebt, den Cyklus ihrer Sprache darzustellen. Das ist in Frankreich, Spanien, Italien geschehn; aber nie ist man damit zu Ende gekommen; und wenn das geschehn, würde auch alle freie Entwicklung aufhören. Die Unbestimmtheit ist also etwas wesentliches und unvermeidliches. In Beziehung auf die GebrauchsWeise einer Stelle, muß man deshalb alle subsidien, die der Zusammenhang giebt, anwenden, um zu sagen, das ist die bestimmte GebrauchsWeise hier. Daß diese Fähigkeit des Worts, im einzelnen bestimmten Ge-
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brauch etwas anderes zu werden, nicht immer gleich ist, auf manchen Gebieten größer, auf andern kleiner, und daß die Einheit des Worts bald leichter, bald schwieriger zu fassen ist, versteht sich von selbst. Wenn wir die Frage ganz in den ersten Gründen untersuchen wollten, wie es überhaupt mit der Gemeinsamkeit der Sprache stehe, wie sie entstehe, müßten wir auf die unauflösliche Frage vom Ursprung der Sprache zurückgehn. Schneiden wir das ab, und denken die Sprache als Mittel zur Darstellung der Gedanken, und fragen wie die Sprache bleibt, so geschieht das, indem die folgenden Generationen in diese Gemeinsamkeit einwachsen. Ohne die Sprache ist die Mittheilung ein bloßes Errathen. Auf diese Weise werden wir sagen müssen, die Gemeinsamkeit ist an und für sich durch die Art, wie sie sich erneuert, etwas Schwebendes und nicht absolut fest, so daß man nicht sagen kann, jedes Sprach-Element sei für Alle fest. Ebenso werden wir sagen müssen, daß der Einzelne nicht den ganzen Schatz der Sprache auf gleiche Weise gegenwärtig hat, da er nicht mit allen Vorstellungen in der Sprache verkehrt. Wenn aber Einer schreibt, hat er es besonders mit denen zu thun, die mit ihm in gleichem Gebiet des Denkens und der Sprache versiren. Aber an eine Identität ist hier nicht zu denken, der Kreis ist bald ein bestimmterer, bald ein unbestimmterer. Hier dürfen wir nur von einem bestimmten Punkt ausgehn, um das anschaulich zu machen. Wenn wir an ein bestimmtes System von Thätigkeiten denken, die zum Treiben eines Volks gehören, so hat jedes ein eigenthümliches SprachGebiet, die technischen Ausdrücke. Wenn der Gegenstand der Rede ganz in diesem Gebiet liegt, so werden die SprachElemente der Rede in diesen technischen Ausdrücken versiren. Die Identität wird also eine ganz bestimmte sein, aber der Kreis von Aufnehmenden um so kleiner. Je weiter der Gegenstand von solcher Bestimmtheit entfernt ist, mehr das Allen gemeinsame betrifft, um so allgemeiner wird er, um so unvollkommener aber auch die Identität, die Bestimmtheit bringt eine nähere Ausgleichung des Ausdrucks hervor; es kommen also auch hier die Fälle am häufigsten vor, daß der Ausdruck in größerem und geringerm Umfang, in größerer und minderer Intensität [gebraucht wird]. In jeder Sprache giebt es gewisse GebrauchsWeisen, in jeder Sprache unterscheiden wir einen plebejen SprachGebrauch und einen SprachGebrauch der Gebildeten. Die Schrift-Sprache geht meist auf die Letzten; doch aber giebt es eine Menge von Fällen und Schreibarten, wo Ausweichung auf, und Citationen aus dem plebejen SprachGebiet vorkommen. Der Schriftsteller hatte nicht die plebeje Menge vor Augen, sondern setzte 27 weiter] folgt sich
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voraus, daß der Andre jenes Gebiet auch kannte. Aber er kann dadurch dunkel und unverständlich werden. Die Regel also, daß Autor und Leser auf gleichem Gebiet stehen, findet also von selbst seine Ausnahmen. Denken wir nun an die Wandelbarkeit einer Sprache, diese entsteht so lange eine Sprache im constanten Gebrauch eines Volks ist. Je schneller ein solcher Prozeß vorgeht, um so eher treten Archaismen (die nicht mehr im gemeinen Gebrauch sind) und Neoterismen an einander, je langsamer er vor sich geht, um so bestimmter sondern sich beide Gebiete. Die Gegenwart ist aber immer etwas in einem gewissen Grade unbestimmtes, und es ist nicht vorauszusetzen, daß Schriftsteller und Leser über ein Wort eine gleiche Ansicht haben. Hier sehn wir ebenfalls, daß die Identität des SprachGebiets, das die erste Bedingung des Verstehens ist, immer etwas Schwebendes und Unbestimmtes hat. hier sehn wir uns also wieder auf dem Punkt, etwas vorauszusetzen, was wir noch nicht wissen, was wir erst durch das Lesen lernen sollen. Je mehr man den Schriftsteller kennt, um so eher kann man sich sein SprachGebiet fixiren; das geschieht aber erst durch das Lesen. Für die Aufgabe geht daraus hervor, daß wenn wir auf das Ende sehn, die Aufgabe sich nur durch Approximation erreichen läßt, und sehn wir auf den Anfang, daß das Kunstlose zum Kunstgemäßen hinführt. Auch hier bestätigt sich also, daß ein kunstloses Verstehn vorhergehn muß, um eine vorläufige Kenntniß zu erhalten, vom Publikum, und seiner Art mit der Sprache umzugehn. Je mehr das vorläufige Verstehn, um ein allgemeines Bild zu gewinnen, noch Schwierigkeiten findet, die sich nicht durch die kunstgemäße Auslegung heben lassen, um so mehr reichere Übung muß vorhergehn. – Wenn man dann nun zum Verstehn des Einzelnen geht, kann das lange geschehn, ohne sich bewußt zu werden, wie man bei dem Auffassen zu Werk gegangen. Daraus ist nicht zu schließen, daß wir nach der laxen Methode zu Werk gegangen, daß wir uns aber an das allgemeine Bild gehalten haben, und das Ganze daraus bestimmt haben. Wenn aber, ohne sich vorher zu einem solchen allgemeinen Bilde verholfen zu haben, zum Verstehn geschritten wird, ist man in der laxen Methode begriffen, und da muß es geschehn, daß man Falsches aufnimmt, was zum Mißverstand verleitet. Ich will hier noch die Frage aufnehmen, ob es nothwendig ist, sich durch ein vorläufiges Lesen zu diesem allgemeinen Bilde zu verhelfen. Da kommt es auf Vorbedingungen an. Man kann schon von anderwärts diese Kenntniß herhaben. Denken wir an die alten dramatischen Dichter, so ist das Publikum dasselbe, alles in einen bestimmten Zeitraum und sehr begrenzte localität eingeschlossen. Da kann man durch die Lesung eines das vorläufige Bild von Allen bekommen. Das werden wir auch allgemein ausdrücken können. Je
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bestimmter die Gattung ist, zu der ein Werk gehört, und je bestimmtere Kenntniß wir von einem SprachGebiet haben, um so mehr Recht haben wir, das auf jedes Einzelne dieses Gebiets zu übertragen. Nur muß man es mit der Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit sehr genau nehmen. Nun müssen wir aber auch gleich das dazu nehmen, wovon wir schon zugegeben, es werde uns häufig im Geschäft des Auslegens vorkommen, weil wir die eigentliche Vorbedingung nicht vollkommen erfüllen können, daß wir nehmlich nicht in vollkommener Kenntniß des SprachGebiets uns befinden, daß Einzelnes vorkommen kann, was fremd ist und unbekannt. Das Gebiet woran wir zunächst denken, das der alten classischen Sprachen, [hier] muß es jedem natürlich scheinen, daß Fälle der Art gar nicht selten sind. Einige Ausdrücke kommen höchst selten vor, und es kann da wohl geschehn, daß Einer erst die Kenntniß des Worts sich machen muß rein aus seiner Umgebung. Es ist schon aufgestellt, wenn man ein Wort seinem allgemeinen Ort in der Sprache nach kennt, muß man die GebrauchsWeise an einem bestimmten Ort sich bestimmen durch die Verbindung, in der es vorkommt. Wenn ich aber die allgemeine GebrauchsWeise nicht kenne, muß ich doch ebenso verfahren, und ein allgemeines Bild des Worts voraussetzen; das ist aber etwas rein divinatorisches. Will man den sichern Weg gehn, muß man sich die Kenntniß von dem allgemeinen Ort des Worts in der Sprache zu verschaffen suchen. Da sind die allgemeinen Hülfsmittel die Lexica, aber in ihrem Werth sehr verschieden, entweder mehr oder weniger darauf bedacht, das Wort als eine Einheit darzustellen. Wenn sich ein Lexikograph des Bestrebens, das Wort auf eine Einheit zu reduciren, ganz enthält, nur redlich und treu die GebrauchsWeisen angiebt, so enthält er sich eines Geschäfts ganz; aber um die GebrauchsWeise an einer bestimmten Stelle zu finden, kann das hinreichen. Geht der Lexicograph darauf aus, das Wort auf eine Einheit zu reduciren, so habe ich die Mittel, mir daraus die verschiedenen GebrauchsWeisen zu construiren. er wird aber leicht dahin kommen, die andre Seite zu vernachläßigen. Wenn aber sie beides umfassen sollten, würden sie einen Umfang bekommen, der ihren Besitz und Gebrauch erschwerte, deshalb tragen sie immer einen von beiden Charakteren an sich, jeder Lexikograph wählt sich einen, worin sein Talent am meisten hervortritt. Fragt man nun, bei welcher Einrichtung des Wörterbuchs die mangelnde Kenntniß am sichersten erreicht wird, so liegt die Sache so: ein Wörterbuch, das das Wort auf eine Einheit führt, aber die Classification vernachläßigt, hält sich mehr speculativ setzt aber in die unangenehme Verlegenheit, daß man keinen Übergang hat aus der Einheit in die unbestimm-
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te Vielheit. Dagegen ist aber auch anzuerkennen, [daß] je mehr sich die Einheit des Wortes einer Erklärung nähert, auch einzusehn ist, wie es in einem bestimmten Zusammenhang wohl gemeint sein kann. Ein Wörterbuch, das mit Vernachläßigung der Einheit die verschiednen GebrauchsWeisen zusammenstellt, kann 2 Richtungen befolgen, nehmlich die GebrauchsWeisen nach Analogien zusammenstellen, woraus man sich die Einheit zusammenstellen kann, oder bloß die Einheit als ein Aggregat zusammenstellen. Das Erstehat man auf die divinatorische Art zu finden, wie die GebrauchsWeise an einer gegebenen Stelle sein möge. Das nothwendige Erforderniß ist aber, daß die Autoritäten für die verschiednen GebrauchsWeisen aufgestellt werden. Die Autorität aus dem SprachGebiet des Verfassers entscheidet; hat er keine, so muß ich einen Verdacht zu meiner Divination bekommen; und finde ich mehrere GebrauchsWeisen neben einander, die wohl passen können, so werde ich schwankend. Da ist eine Unvollständigkeit in den meisten Wörterbüchern, die jedem zur Hand sind, und den Gebrauch sehr erschweren. Da giebt es nun ein anderes Hülfsmittel. Wenn wir aus den Notizen über den Verfasser und aus seinem Werk seine Sprache bestimmen können, so wird sich auch angeben lassen, welche Schriftsteller ihm die verwandtesten sind. Für Solche giebt es vielleicht special Wörterbücher und indices, wonach man das Wort prüfen kann. Dann kann aber die Vergleichung mit Schriftstellern von verwandtem SprachGebiet und mit dem Lexikon angeben, was wohl am besten von den vom Lexikon gegebenen Stellen zu brauchen ist. Die Wörterbücher haben es mit den materiellen SprachElementen zu thun. Die formellen geben uns die Grammatiken. Die Zusammengehörigkeit beider zeigt sich in den materiellen SprachElementen, die nur einen formellen Charakter haben, wie die Partikeln, die nur VerbindungsWeisen angeben. In Beziehung auf praeposition und conjunction stehn sich also Lexikon und Grammatik gleich. Wir werden also auch in der Syntax 2 Richtungen zu unterscheiden haben. Die Richtung die GebrauchsWeisen auf eine Einheit zu führen, ist die philosophische, die andre, die Richtung auf die Ergänzung des SprachSchatzes ist die unmittelbarste. Wenn nun von einer kunstmäßigen Auslegung die Rede ist, so muß man mit dem Formellen im Reinen sein, nur in seltenen Fällen muß man die Grammatik zu Rathe ziehen, und dann muß ebenfalls die Autorität für das angehörige SprachGebiet beigefügt sein. Es ist nun noch etwas beizufügen, wie die SprachGebiete zu unterscheiden sind. Das ist in allen Sprachen ein Besondres. Das allgemeine Schema wird sich also in jeder Sprache anders gestalten. Der stärkste Gegensatz ist hier der zwischen Prosa und Poe¨sie, doch wird der Gegensatz in Beziehung auf die Sprache schwä-
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cher (Französische) oder stärker (so daß man in der Poe¨sie vieles gestattet, was man in der Prosa nicht gestattet, wie die griechische Sprache) hervortreten. Ebenso ist das auch in verschiednen Zeiten nicht dasselbe. Jede Sprache hat auch ihre verschiedne Zeit, wo das noch nicht so hervortritt, und eine Zeit, wo beides stärker aus einander tritt, hernach im Verfall der Sprache vermischt sich wieder beides auf eine anorganische Weise. Wir müssen also die SprachGebiete sondern, solche die mehr objectiv sind, vom Inhalt abhängen, und mehr historische, die von der Zeit abhängen. Zu den ersten gehört außer dem Gegensatz zwischen Prosa und Poe¨sie, der Unterschied zwischen dem allgemeinen Gebrauch und dem zu einem besondern Zweck; im letzten giebt es einen Unterschied, je nachdem der Gebrauch sich mehr dem allgemeinen Leben nähert, oder mehr der kunstmäßigen Sprache. Das Letzte nennen wir die Büchersprache. In letzterer Beziehung sind die Sprachen nicht alle gleich. Es giebt auch Sprachen, wo man in kunstmäßiger Darstellung sich auch die Nachlässigkeit des gemeinen Lebens erlauben darf; in andern ist das strenger. Jeder Schriftsteller hat darin aber seine Individualität, und auch dieser Theil der Aufgabe kann nicht absolut, sondern nur durch Annäherung gefunden werden, weil viel auf dem Gefühl beruht. Ich glaube, es wird nun Zeit sein, das auf das N.T. besonders anzuwenden. Da müssen wir zuerst Rücksicht nehmen, wie sich uns das N.T. 2fach darstellt. Einmal ist es eine Sammlung verschiedener einzelner Schriften einzelner Verfasser; dann sind wir auch gewohnt, es als ein Ganzes anzusehen. Da nun die Art eines Wortes bestimmt werden soll aus dem SprachGebiet des Autors und seiner ursprünglichen Leser, so fragt es sich, hat jeder NeuTestamentische Schriftsteller sein besonderes SprachGebiet, oder giebt es ein allgemeines? Einzelnes ist in der bisherigen Erörterung schon vorgearbeitet. Sehen wir die griechische Sprache als den ursprünglichen Ort desselben an, so haben der Zeit nach die NeuTestamentischen Schriftsteller dasselbe SprachGebiet. Das Ganze ist in einem ziemlich begrenzten Zeitraum eingeschlossen, und die Geschichte der Sprache lehrt, daß keine bedeutende Veränderung in dieser Zeit in der Sprache vorgefallen ist. Sehen wir auf den Gegensatz zwischen Poe¨sie und Prosa, so ist da das SprachGebiet des N.T. auch eines und dasselbe. Eine Ausnahme scheint zwar die Apokalypse zu machen; denn die Hauptformen der Darstellung sind aus den prophetischen Schriften genommen, und bei den Hebräern war kein strenger Unterschied in der Sprache, sondern nur ein verschiedenes AccentuationsSystem sollte den Unterschied ersetzen. Das Poe¨tische ist freilich hier nicht in der Sprache, sondern in Bildern und Zusammensetzungen. Das wäre der einzige Un-
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terschied. – Sehen wir auf den Gegensatz zwischen dem allgemeinen, und dem technischen SprachGebiet, so ist hier die Einheit nicht so fest zu halten. Man unterscheidet gewöhnlich im N.T. historische und didactische Bücher. Der Unterschied ist mehr äußerlich, denn in historischen Büchern ist das didactische doch auch. Aber wohl muß man sagen, die historischen sind in einer kunstlosen Form, mehr der ConversationsSprache sich nähernd. Von den didactischen gilt dasselbe, nur wenige Productionen, der Brief an die Römer und Hebräer, machen einen Unterschied; diese haben den Charakter einer strengen, mehr zusammenhaltenden, wissenschaftlichen Durchführung. Da wäre also ein Unterschied zu machen: da man sich bei dem ConversationsTon darauf verläßt, daß Alles durch das allgemeine Bild beleuchtet wird. Wenn deshalb im N.T. licenzen vorkommen, so dürfte man daraus für diese beiden Schriften keine Folgerungen ziehn, und wenn in diesen beiden die Wörter in genauerer Bestimmtheit vorkommen, so darf man daraus keinen Schluß auf die andern Schriften machen. Die Identität des SprachGebiete geht also nicht ganz durch. Dahingegen kann man wohl nicht behaupten, daß jeder NeuTestamentische Schriftsteller sein besonderes SprachGebiet hätte; zwar ist es sehr verdienstlich, das SprachGebiet einzelner NeuTestamentischer Schriftsteller besonders zu fixiren; wollte man es aber ganz durchführen, so würde wenig Gewinn für die Hermeneutik herauskommen. In den didactischen Schriften bildet der Apostel Paulus bei weitem die größte Masse, und da unter seinen Schriften auch solche sind, die den wissenschaftlichen Charakter haben, so bildet das ein strengeres Gebiet; da haben wir auch mehr zusammenzustellen. Die übrigen Schriften sind aber von so geringem Umfang, die Lage der Verfasser so gleich, die gnomischen Sprüche und Ermahnungen so gleich, daß man die Eigenthümlichkeiten nur in Kleinigkeiten suchen könnte. – Innerhalb dieser Grenzen kann man also wohl sagen, daß wir das NeuTestamentische SprachGebiet als eine Einheit behandeln können. Wir werden nun auch die Frage zu beantworten haben, welches das subsidiarische SprachGebiet sei, woraus die Erklärung im Allgemeinen zu nehmen; das NeuTestamentische SprachGebiet ist eine bestimmte Periode der griechischen Sprache, die Eigenthümlichkeit hat, dadurch daß sich bei ihrer Aneignung die Form der Muttersprache einmischte. Was das erste betrifft, so ist das SprachGebiet des N.T. das nachalexandrinische; das ist der Verfall der Sprache, und die diesem Zeitalter gehörigen Schriftsteller, bilden das am meisten dem N.T. homogene SprachGebiet. In diesem 17 Dahingegen] Dahingegegen
35 Aneignung] folgt sich
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herrscht zwar in den kunstmäßigen Schriftstellern eine Nachahmung der Bessern Alten; und das fiele deshalb nicht in unsere Analogie. Es giebt auch Sammlungen aus Schriftstellern zum Behuf der Erklärung des N.T. so über des Polybius Commentar zum Lucian. Nun giebt es ebensolche Arbeiten über Schriftsteller des klassischen Zeitalters zB. Xenophon. Da fragt sich, wiefern diese von wirklichem Nutzen sein können. Es ist dergleichen eine Vergleichung der beiden Zeitalter selbst, woraus hervorgeht, was man bei einem späten Schriftsteller für dieses Zeitalter eigenthümlich halten würde, und doch nicht ist. Es giebt also das Resultat einer Verringerung der Differenz und zeigt, daß sie nicht so groß und streng ist, wie man sie sich denkt. Diese Kenntniß ist etwas Wichtiges für die SprachKunde; für das N.T. kann aber kein wesentlicher Vortheil entstehen. für dasselbe muß man auf mehr homogene Schriftsteller zurückgehen. Deshalb kann man für die eigentliche NeuTestamentische Erklärung diesen Schriftstellern und Sammlungen aus denselben nur einen untergeordneten und bedingten Werth einräumen. – Was nun die Zwitterartigkeit der Sprache betrifft, die deshalb entstand, daß die griechische Sprache nicht den Schriftstellern des N.T. gewöhnlich war, sie sie aus dem gewöhnlichen Gebrauch lernten, und sich in ihrem Denken zu sehr an ihre Muttersprache hielten, fragt es sich, ob es etwas in dieser Hinsicht Analoges giebt. Wir haben Schriften von 2 Juden, Philo und Josephus, jener ein Alexandriner, dieser ein Palästinenser. Daß das Alexandrinische großen Einfluß erhielt auf die Sprache des N.T. ist gewiß. Alexandriner waren früh für die Ausbreitung des Christenthums thätig. Vielleicht ist der HebräerBrief selbst von einem Alexandriner abgefaßt. Ja der Geburtsort des Paulus, Cilicien stand mit Alexandria in lebendigem Verkehr. Die andern NeuTestamentischen Schriftsteller sind aus Palästina wie Josephus. Deshalb hat man beide oft zu Hülfe genommen bei der NeuTestamentischen Erklärung. Allein bei der Sprache ist doch eine große Differenz. Philo und Josephus waren Gelehrte, und hatten die griechische Sprache wissenschaftlich erlernt, mußten deshalb von vielen Unvollkommenheiten frei sein. Paulus wenngleich auch Gelehrter, wurde nach Palästina gesandt, um dort eine rabbinische Erziehung zu erhalten. Daß er früher schulmäßig das Griechische erlernt, steht sehr zu bezweifeln. Da Philo ein wahrer diglvttow war, mußte sich manches Hebraisirende aus dem gewöhnlichen Gebrauch in sein Griechisch einschleichen. – Die
1–2 der ... Alten] oder des Bessern Alten
17 griechische] korr. aus NTische
26 Pauli Geburtsort Tharsus lag in der römischen Provinz Kilikien.
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größte Homogenität mit dem N.T. hat aber die septuaginta. Zwar sind die historischen Untersuchungen über sie noch nicht zu einem positiv genügenden Resultate gediehen; aber man sieht ihr das Bestreben an, den Genius der Sprache wieder zu geben auf Unkosten des Griechischen, und daraus muß etwas Ähnliches entstehn, als aus dem unbewußten Einfluß der Muttersprache. Das homogene SprachGebiet sondert sich also in mehrere concentrische Sphären, wo das Eine näher liegt als das Andre. Die Hauptsache bleibt aber Stellen des N.T. aus dem ganzen NeuTestamentischen SprachGebiet zu bestimmen. Nächst dem wo etwas vorkommt, was einem an das klassische Griechisch Gewöhnten fremd ist, ist die septuaginta, und ihr SprachGebiet das Nächste, besonders da, wo es auf den Einfluß des Aramäischen ankommt. Den nächsten Kreis bilden die nachalexandrinischen griechischen Schriftsteller und besonders die, die in einer Berührung mit dem Römischen standen. Es gab für das Römische keinen andern Verkehr des Staats und Rechts, als das Griechische; da mußte sich aber manches latinisirende in Behandlung des gewöhnlichen Lebens einschleichen. (Polybius und Strabo). Weniger zur Erklärung des N.T., als zur genauen Berichtigung[,] zur Kenntniß der differenzen der SprachGebiete kommen die übrigen Schriftsteller. Nun können wir nicht sagen, daß alle diese Hülfsmittel auf gleiche Weise für den hermeneutischen Gebrauch verarbeitet sind. Sollte ein Commentar Alles das aufnehmen, so würde das schon ein Werk von einem ungeheuren Umfang sein. Deshalb ist schon in allen abgeleiteten Arbeiten das Urtheil dessen, der eine solche Sammlung gestaltet, mit eingemischt, und deshalb der Beruf bei einer kunstmäßigen Auslegung, diese observationen an der Quelle aufzusuchen. Das kann man bei einzelnen Abschnitten sich zur Übung auflegen, es läßt sich aber nicht für das ganze N.T. durchführen, wenn man nicht daraus zugleich das Geschäft des ganzen Lebens machen will. Da man sich hier mehr oder weniger dem Urtheil Andrer unterwerfen muß, erschwert das Geschäft sich, und wo das N.T. nicht kann aus sich selbst erklärt werden, ist die Aufgabe, die Hülfsmittel vollkommen herbeizuschaffen, eine unendliche. Es ist also schon daraus abzunehmen, wie wenig es möglich ist, zu einer übereinstimmenden Erklärung des N.T. zu gelangen. Da es verschiedene Analogien giebt, wird es auch eine Mannigfaltigkeit der Methoden geben, woraus auch verschiedene Resultate entstehn werden. Wir haben ein factum in der Geschichte dieser Angelegenheiten, woran man nur zu denken braucht, um sich die Differenz anschaulich zu machen, einen Streit ge14 dem] oder den
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führt über die Frage, ob das Griechisch des N.T. ein reines oder verunreinigtes sei. Versetzen wir uns in die Stelle der Streitenden, so mußte es denen, die Reinheit der N.T. Sprache behaupteten, angelegen sein, Analogien aus rein griechischen Schriftstellern aufzustellen. Offenbar war das eine einseitige Manier. Da sind denn auch sonderbare Dinge zum Vorschein gekommen, am wenigsten Wahrscheinlichkeit kann es haben, daß in das SprachGebiet dieser Gegenden etwas übergegangen sein kann aus dem ältern jonischen Dialekt. – Auf der andern Seite behauptet man, daß die Sprache des N.T. durch den Einfluß der Muttersprache ganz alterirt worden sei. Deshalb das Extrem, das N.T. sei eher aus dem Hebräischen zu erklären, als aus dem Griechischen. Wie viele Wege muß es nun geben, sich zwischen beiden Extremen durchzuwinden. Je mehr aber dieser Streit mit Lebendigkeit geführt wurde, um so mehr fruchtbares Material kam auch zu Stande. Sobald nur von grammatischen Schwierigkeiten und idiotismen die Rede ist, ist das Geschäft für das N.T. gleichgültig. Etwas andres ist es, sofern die Sprache ein Bezugs-System für eigenthümliche Vorstellungen ist. Hier kommt es auf die Frage zurück, wiefern die NeuTestamentischen Ideen erst durch das Christenthum entstanden, oder schon vorher auf dieselbe Weise wären gegeben gewesen. Da giebt es wieder 2 Extreme: Es sind durch Christum völlig neue Ideen gegeben worden, wie das in einem gewissen Sinn im Ausdruck der Offenlegung liegt. Dann schließt man das N.T. völlig ab, und es folgt daraus, daß ein gemeinschaftliches SprachGebiet nur sein kann, sofern von diesen Vorstellungen nicht die Rede wäre. Das NeuTestamentische versirt aber meist ganz darin. Die Analogien würden also nur auf das formelle und das, was völlig Nebensache ist, beschränkt. Auf der andern Seite ist das Extrem, die NeuTestamentischen Ideen waren schon, so ist das die engste Erklärung von den Identitäten des N. T. und A. T. wir wurden zunächst auf die septuaginta gewiesen, weil sie dieselben Vorstellungen in derselben Sprache enthält, und zugleich die Schriften mit enthält, die den Übergang aus dem A. T. ins N.T. bilden, die Apokryphen. Da muß es also wieder verschiedne Wege geben, sich zwischen beiden Extremen durchzuwinden. Beides betrifft aber mehr die ganze VorstellungsWeise vom N.T., und es ist nothwendig sich darüber etwas festzustellen, da es nothwendig ist, wenn man Andre zu Rathe zieht, zu wissen, wovon sie ausgingen. Das Geschäft ist also auch von dieser Seite ein unendliches, obgleich der Gegenstand der Auslegung selbst gering ist. 4 rein] oder reinen
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Giebt es keine Ausdrücke im N.T. die rein aus ihrem Umfang erklärt werden müssen, wofür es kein identisches SprachGebiet außerhalb giebt? Das muß nothwendig eintreten, wenn es im N.T. Vorstellungen giebt, die vorher nicht vorhanden waren. Es ist das eine wichtige Frage, da es sich um Vorstellungen handelt, wodurch das N.T. das Fundament der Dogmatik wurde. Jede Entscheidung darüber im Voraus würde eine Entscheidung für eine Parthei sein. Wollen wir also die Sache als res integra behandeln, als etwas, was nicht schon auf einem andern Gebiete vorhanden ist, so kann man nichts andres aussprechen, als sich vorher gar kein Prinzip machen, sondern es auf die Sache selbst ankommen lassen. Es ist schwer sich von der einen oder andern Seite loszumachen. Doch aber giebt es für die kunstmäßige Interpretation keinen andern Weg. Wenn man von der Voraussetzung ganz neuer Vorstellungen ausgeht, so wäre es das Natürlichste auch ganz neue Ausdrücke zu erwarten. Darauf kommen wir aber sonst nicht zurück; wenn wir auch der Geschichte eines Begriffs bis auf den ersten Anfang nachgehn, werden wir keine neue Wortbildung dafür finden, höchstens Zusammensetzungen, und die hatten ihre Analogie schon vor sich. (wir nehmen jetzt unsere Zuflucht zu andern Sprachen). Das kommt deshalb weil auf der einen Seite ursprünglich das Wissenschaftliche in einer fremden Sprache getrieben wurde, ehe es in die Muttersprache überging, und weil bei der Communication der verschiedenen Sprachen ein Übergang solcher Elemente sehr natürlich ist. Wenn wir nun fragen, angenommen die christlichen religiösen Vorstellungen wären mehr oder weniger neu gewesen, so wären sie nicht aus dem Gebiet andrer Sprachen herübergenommen, sondern neue Modifikationen, und da es schon ein Gebiet von religiösen Vorstellungen gab, so mußte man neue Ausdrücke nehmen, oder die Vorstellungen durch Umschreibungen ausdrücken, die eine Combination von schon bekannten Elementen wären. Also wenn im N.T. Ausdrücke in einer Bedeutung vorkommen, die sich dort zum ersten Mal finden, wenn wir uns da auf den Punkt des Schriftstellers und der Leser setzen, wie sieht da die Voraussetzung aus? wenn dieser Ausdruck zum ersten Mal vorkommt, wie wird da dem Zuhörer die Sache erschienen sein? Doch so, daß er ihm aus dem SprachGebiet bekannt und verständlich war, hier aber durch den Zusammenhang in einem besondern Sinn auffaßte. Durch die öftre Wiederholung schien nun, was GebrauchsWeise an einem einzelnen Ort war, eine
2 giebt?] giebt. 35 Kj aufgefaßt
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solenne zu werden. Das konnte aber nur [dadurch] geschehn, daß sich eine solche GebrauchsWeise wiederholte. Wenn also auch die christlichen Vorstellungen neu und eigenthümlich sind, so wird doch dadurch nicht ein SprachGebiet abgeschnitten, sondern die Bezeichnung muß auf einen allgemeinen Ort in der Sprache zurückgeführt werden können, es muß also außer dem Christenthum Analogien geben, aus denen die neue christliche GebrauchsWeise abgeleitet wird. Also von der Voraussetzung, daß die Vorstellungen ganz neue sind, entsteht nicht die Forderung, daß das N.T. ganz muß aus sich erklärt werden, wenngleich das bevorwortet bleibt, daß außerhalb, und vor dem Bestehn des Christenthums die Ausdrücke nie in dieser Bedeutung vorgekommen sind. Das wird sich auch von einem andern Punkt aus bestätigen; wenn wir fragen, warum die, die Vorstellungen vortrugen, grade diese und keine andern Ausdrücke wählten. Der Grund muß sich in der Sprache finden, in der Verwandtschaft die Ausdrücke zu gebrauchen wie früher; wenn man sich diese Aufgabe nicht stellt, wird man nur ein unvollständiges Verständniß haben. bei einem vollkommenen Verständniß muß das Gedachte und Gesprochne so zusammen sein, daß sich nichts ändern läßt, ohne das Andre zu alteriren. Daraus geht hervor, um zu einem solchen Verständniß zu gelangen, darf man sich die NeuTestamentische Sprache in Beziehung auf solche Ausdrücke nicht isoliren; je mehr man das wollte, käme man in Gefahr Bestimmungen aufzunehmen, als vom Verfasser mit gedacht, die es doch nicht sind. Natürlich war es nun nothwendig, von dieser Voraussetzung auszugehn, und nicht vom der entgegengesetzten, da versteht es sich von selbst. Aber gehn wir nochmal in umgekehrter Richtung von dem Gegentheil aus. Gesetzt also, die christlichen Vorstellungen wären nicht neu, sondern schon so vorhanden gewesen, das Neue sei nur die Beziehung derselben auf die Person Christi, also die Vorstellung von einem Sohn Gottes wären schon da gewesen, und die Apostel hätten sich nichts dabei gedacht, als was man schon immer gedacht, nur die ausschließliche Beziehung auf Christus wäre das Eigenthümliche, ebenso die Vorstellung von einer Erlösung und einem versühnenden Tod. Die Möglichkeit der Voraussetzung ist also klar. Nun gehn wir vorwärts. Diejenigen, die das behaupten, behaupten auch, wie sich nachher diese Vorstellung in der Kirche fixirt, sei nicht die ursprüngliche, man wäre später davon abgegangen, und habe neue hineingebracht. Wie sollte nun das geschehn sein in derselben Sprache? Man wird doch zugeben müssen, in der späteren kirchlichen Sprache 17 muß] man
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seien neue Bedeutungen diesen Ausdrücken gegeben worden; das konnte aber doch nur in Analogie mit der NeuTestamentischen Sprache geschehn. Wie modificirt [sich] also die Aufgabe? Man mag das Eine oder das Andre voraussetzen, so muß der NeuTestamentische Ausdruck aus dem Vorherigen erklärt [werden], und [ist] auf der andern Seite als etwas Technisches in seiner besondern Bedeutung zu nehmen. Das Geschäft fällt also der Auslegung selbst anheim, und nur die kunstmäßigste wird ausmitteln können, was das eigentlich Neue sei. – Nun werden grade die Ausdrücke im N.T., worin man das Eigenthümliche des N.T. zu suchen hat, nicht solche sein, die ihre nächste Verwandtschaft haben im Gebiet des gewöhnlichen griechischen Lebens, sondern im Gebiet des aus dem Hebräischen Übertragenen. es versteht sich also, daß hier auf das Hebraisirende im SprachGebrauch am meisten muß gesehen werden. Nun wird man sagen müssen, es giebt einen Kreis von Ausdrücken, worin der Cyklus der eigenthümlichen christlichen Vorstellungen niedergelegt ist. Da aber Alles im N.T. von religiösem Gehalt ist, diese neuen Vorstellungen überall hineinspielen, so werden auch andre als diese Ausdrücke nur richtig verstanden werden im Zusammenhang mit diesen, man kann sich also kein Gebiet als Sitz der christlichen HauptVorstellungen isoliren. Das setzt uns in Stand auszusprechen, wie es um die Einheit der SprachElemente in der NeuTestamentischen Sprache steht. Jedes NeuTestamentische Wort mehr oder weniger (keines a priori auszunehmen) hat eine 2fache Einheit. Die eine bestimmt durch die Totalität der GebrauchsWeise im Griechischen, am meisten in [der] Sprache des gemeinen Lebens, die andre bestimmt durch die Analogieen, die es mit dem Hebräischen gemein hat. Es wäre also etwas Eigenthümliches für die NeuTestamentische Sprache, daß die Einheit des Ausdrucks aus 2 solchen Elementen construirt ist. Auf welches mehr Rücksicht zu nehmen ist, ist Sache der Anwendung auf die einzelnen Fälle selbst, und kann erst das Resultat der Auslegung werden.
Die erste Regel der Auslegung war eine limitative: die nähere Bestimmung des, was an einer besonderen Stelle bei einem Ausdruck zu denken ist, darf nur genommen werden aus einem SprachGebiet. Nun also sollen wir zu einem positiven Kanon gelangen. Es ist klar, daß wir auf die entge35 gengesetzte Weise werden zu Werk gehn müssen. Zu dem negativen kamen wir, indem wir die GebrauchsWeise eines Wortes an einer bestimmten Stelle mit dem ganzen SprachGebiet zusammen dachten; hier werden wir sagen müssen, daß der Sinn jedes Worts an einer Stelle bestimmt
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werden muß, was das Zusammensein der übrigen Wörter, die zu dieser Stelle gehören, leidet und zugiebt. Hier muß ich zuerst zugestehn, daß diese Regel schon einen Theil der Operation als geschehn voraussetzt; ich kann die Regel in Beziehung auf einen Ausdruck im Satz nur anwenden, wenn ich das andre als schon bekannt voraussetze. Alles was kunstmäßig ausgelegt werden soll, bedarf einer nähern Bestimmung im Satz; es kann also eigentlich nirgends ÐaufgefangenÑ werden. Da helfen wir uns eben, indem wir sagen, es ist ein kunstloses, also ein an sich ungenügendes Verständniß, das wir voraussetzen. Die Differenz wo sie ein Minimum ist, wird vorausgesetzt, wo sie ein Maximum ist, hier gesucht. Die Aufgabe kann also nur durch Approximation, und durch Voraussetzung eines solchen vorausgehenden ungenügenden Verfahrens erreicht werden. Unsre Formel ist also so auszudrücken: daß die Bestandtheile eines Satzes sich gegenseitig bestimmen, und zwar so, daß die an sich erst durch das Ganze bestimmten dazu beitragen müssen die andern näher zu bestimmen. In dem Verhältniß nun der einzelnen Begriffe zum Ganzen der Rede liegt das, daß Einige durch die vorläufige Kenntniß des Ganzen bestimmter gegeben sind als andre. Hier ist also der natürliche Fortschritt gegeben, wodurch sich die kunstgemäße Auslegung an die vorige kunstlose anschließt. Die Bestandtheile der Rede selbst sind entweder formal oder materiell, und die Bestimmung, die ihnen noch gegeben werden soll, ist theils quantitativ, theils qualitativ. Wenn wir nun voraussetzen, daß eine gewisse allgemeine Vorstellung des Ganzen allemal dem genauren Verfahren mit einer einzelnen Stelle vorangeht, so muß als die erste Aufgabe erscheinen, das formelle Element richtig zu bestimmen, sofern dadurch das Verhältniß der einzelnen Sätze zum Ganzen der Rede bestimmt ist. Das gilt natürlich nur von den formellen Bestandtheilen, die den Satz an den vorigen anknüpfen. Dazu kommen andre, die den Satz selbst bestimmen; jenes das Äußere, dies das Innere. Nun aber müssen wir bemerken, daß unser Verfahren, wie es sich aus diesem Kanon entwickelt, nicht ein allgemeines zu sein scheint. Es giebt ja auch kleinere Ganze, wie gnomische Sentenzen, Sprüchwörter, kurz alles epigrammatische, was auch Gegenstand der kunstmäßigen Auslegung ist. Das nun soll ich ohne allen Zusammenhang für sich verstehn; und das erregt einen Zweifel gegen die Gültigkeit des Verfahrens überhaupt. Denn muß ich solche Sätze einzeln verstehn können, scheint das auch auf Sätze in größerem Ganzen angewendet werden zu können: die angeführten Fälle sind nun schon vollkommen unter sich nicht gleich. Das Epigramm ist 29 dies] das
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seiner Natur nach eine Überschrift, hat aber nicht selten auch eine Überschrift, und die bildet einen Zusammenhang mit einer andern, indem sie den Ort und die Beziehung des Ganzen mit einem factum oder GedankenReihe in Verbindung setzt, das mir schon bekannt sein soll. Darin liegt der Zusammenhang und da ist eine Anknüpfung gegeben zu dem Zusammenhang mit der Kenntniß des größeren Ganzen, in dem ein einzelner Satz liegt. Ein Sprüchwort, ist nicht selten eine schwürige Aufgabe für die Auslegung. das steht rein für sich da, als etwas, was mit Leichtigkeit in einen gewissen Zusammenhang gestellt und auf etwas vorkommendes angewendet werden kann, erscheint aber deshalb ohne Zusammenhang. Frage ich, was ist das Ganze, woraus das zu verstehn ist, so ist das etwas subjectives; sie appelliren einmal an eine Erfahrung, die eine gleiche ist zwischen dem aus dem das Sprichwort hervorgegangen, und denen, die es irgendwie anwenden wollen, und es drückt eine gleiche Art und Weise des Combinirens aus. Je weniger es den Kreis, auf den es angewandt werden will, deutlicher ausdrückt, je schwüriger ist es, aber doch so wie ein Satz, der auch durch den Zusammenhang dunkel bleibt. Der ganze Unterschied ist, daß ich mir die ganze GedankenReihe wozu das Sprüchwort gehört, hinzudenken muß, und wenn ich das kann, wird der Sinn des Sprüchworts auch zu finden sein. Der Unterschied ist nur, daß das größere Ganze latitirt, nicht äußerlich mit gegeben ist. Dadurch bekommt ein solcher Satz einen räthselhaften Charakter, es will als ein unbestimmter Ausdruck gefaßt werden; es kann aber gelößt werden, wenn nur bestimmte facta genug da sind, wie im mathematischen Gebiet. – Was nun eigentlich gnomische Sätze betrifft, so können die ebensogut vorkommen in Verbindung mit einer größeren GedankenReihe, erscheinen doch als ein Einzelnes; sie erscheinen als Conclusionen aus dem Vorhergehenden, die über den Zusammenhang hinausgehn, und bilden als solche digressionen. sie können aber doch aufgelößt werden, nur daß die Auflösung mehr auf der Seite der psychologischen Interpretation liegt, als auf der grammatischen. Das Letzte findet sich besonders im N.T. wo solche gnomische Sentenz, obgleich in Zusammenhang mit einem größeren Ganzen, ganz dissolut auflösend. Was ist da die Aufgabe der Auflösung: Man kann doch nicht denken, daß der Schriftsteller, nachdem er sein Thema vollendet, hier habe einige gute Regeln hinzufügen wollen, und da habe er diese Sätze zusammengewürfelt. Es kommt also zuerst darauf an, die Zusammengehörigkeit dieser Sätze aufzusuchen. Der Zusammenhang kann nur liegen nicht in den Hauptgedanken des 23 unbestimmter] oder unbestimmbarer
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Ganzen, sondern in solchen Nebengedanken, wie sie bei jeder GedankenReihe sind, und sich hier ihre Stelle suchen, oder in der Kenntniß von dem Bedürfniß [jener], an die er schreibt. Bald mehr aus dem Einen, bald mehr aus dem Andern muß die Zusammengehörigkeit erklärt werden. Hat man das versäumt, so giebt es kein Mittel, durch die bloß grammatische Interpretation den Satz zu bestimmen. – Der ganze Unterschied ist also: Bei einem Satz in einer ganzen GedankenReihe, ist[,] mit dem Andern in Verbindung gesetzt, das formelle also gegeben; ein einzelner Satz, der für sich will verstanden werden, ist Bestandtheil eines größeren Gedanken-Ganzen, den ich mir ergänzen soll. Die Aufgabe ist also gleich, nur muß sie in dem einen Fall anders gelößt werden als in dem Andern. Nun noch etwas 3tes zwischen beiden. Auch in zusammenhängenden GedankenReihen werden oft Sätze für sich hingestellt (asyndeÂtvw dastehend) eine Analogie mit dem völligen Isolirtsein einzelner Sätze. Das zu bestimmen hat jede Sprache ihre eigne Weise. Die modernen Sprachen haben der Besonderheiten mehr als die alten. Entweder gehört der Satz nicht in die Verbindung, dann ist er ein besonders auslösendes, das in den Complex nicht gehört, aber als Resultat des Complex angesehn werden muß, oder sich von selbst versteht, eine paroimia, wo vorausgesetzt wird, daß der ganze Kreis, woraus dieser Gedanke gebildet und verstanden werden muß, sich jedem darstellen werde. Diese Ausnahme kann aber erst hinter der Regel verstanden werden. Also setzen wir den Fall, daß eine Verbindung gegeben ist, und es kommt darauf an, sie zu verstehen. Da erscheinen 2 verschiedene Fälle, die aber in der That auf einen zurückgehn. Ein Satz kann ein einfacher oder ein zusammengesetzter sein. Ist er [ein] zusammengesetzter, nennen wir [ihn] eine Periode, ihre einzelnen Glieder sind aber wieder unter sich verbunden, an sich aber vollständig einfache Sätze. Wohin sollen wir nun die Verbindung des einzelnen Satzes rechnen, zu den inneren oder äußeren? Solche Übergänge finden sich überall, wo man es mit etwas Lebendigem zu thun hat, und doch Absätze machen muß. Die richtige Antwort wird sein, daß es Fälle giebt, wo sich diese Verbindung bald als äußre verhält, bald als innere. Die Verbindung der griechischen Genitive z. B. gehört zu den innern. – Nun aber die Verbindungs-Weise selbst. Da möchte ich einen Unterschied machen, der aber auch solche Mittelglieder darbieten wird. Nehmlich es giebt Verbindungen mehr mechanisch, und andre, mehr organisch. D. h. Es können Sätze an einander gefügt werden, so daß sie auf eine besondere Weise durch die Aneinanderfügung be30 mit] folgt einem
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stimmt werden, jeder ist aber nur für sich und an den andern angereiht. Es giebt aber andre, wodurch die Sätze in eine wahre Einheit verschmolzen werden, so daß jeder nur im andern ist. Davon ist das Maximum das, wenn ein Satz durch die Verbindung mit einem andern seine Eigenthümlichkeit ganz verliert, wie bei dem griechischen Genitiv und dem lateinischen Ablativ. Dagegen stellt eine einfache Erzählung nichts als eine succession in der Wahrnehmung dar. Die einzelnen Sätze sind nach einander auftretende Selbstständigkeit. Da sehn wir offenbar qualitative Verschiedenheiten, und jeder wird zugeben, daß in dem bloßen an einander Reihen etwas UnBestimmteres ist; die organische Zusammenfügung etwas Bestimmteres. Leichter wird also sowohl ein Mißverstehn als NichtVerstehn möglich sein bei einer bloß mechanischen Verknüpfung, weniger bei der organischen Verknüpfung. Je mehr das Ganze etwas objectives ist, um so weniger wird es mit dem Mißverstehn auf sich haben; anders, wenn es etwas Subjectives darstellt. Nun ist aber noch ein großer Unterschied, sofern sich eine Sprache mehr zu der einen oder der andern Art hergiebt. Die organische Zusammenfügung scheint ein großes Übergewicht zu haben über die bloß mechanische Zusammenstellung. Dieses letzte kann bloß in Beschreibungen und Erzählungen herrschen, aber auch hier nicht rein, da sich das Urtheil immer einmischt. Die organische Verbindung hat ihren recht eigentlichen Sitz in streng wissenschaftlichen und künstlerischen Darstellungen. hier kann das Mechanische nur vorkommen, sofern etwas von Beschreibung darin ist. Das bloße Aneinanderreihen kann nur in untergeordneten einzelnen Theilen vorkommen. Nun aber ist die Vollkommenheit des Denkprozesses etwas, was sich erst allmählig entwickelte. Deshalb kann es nicht befremden, daß Partikeln einer Sprache, die zur Bezeichnung der organischen Verbindungen stehn, ursprünglich solche waren, die nur Zeit und Raum bezeichneten, also zur elementaren Verbindung dienten. Daraus wird eine Schwierigkeit entstehn zu bestimmen, wo die ursprüngliche mechanische und die spätere Organische Bestimmungs-Weise eintritt. (Beispiele sind nicht nothwendig anzuführen. wir unterscheiden jetzt dann und denn, wann und wenn, was ursprünglich nicht war). Wo die organischen Verbindungpartikeln aus den relativen abgeleitet sind (Griechisch und Latein) ist es eigentlich dasselbe, es ist nur ein zurückgehendes An einander reihen. Wir wollen gleich auch noch hinzunehmen die andre Schwürigkeit, die quantitative. Es ist offenbar, daß nicht alle Sätze in einer zusammenhängenden Reihe von Gedanken gleichen Werth haben, sondern daß dieser sehr verschieden ist. Es giebt Gedanken, die in einem folgenden Complex von Gedanken entwickelt werden; dann ist dieser jenem untergeordnet. Ebenso giebt es Gedanken,
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die das Prinzip der Verbindung für eine große Reihe von folgenden enthalten, diese sind also durch ihn bedingt. Darauf kann nun ein Gedanke eintreten, der auch nur untergeordnet, den vorigen also gleich ist, oder ein Hauptgedanke, der wieder eine Reihe unter sich hat. In dem einen Fall wird eine große Gliederung in Verbindung gebracht mit einem ebenso großen, in dem andern Falle ein einzelner Satz mit einem einzelnen Satz. Nun giebt es keine verschiedenen Zeichen für die Verbindung von so verschiednen Größen; wir haben also die quantitative Unsicherheit, ob die organische oder mechanische Verbindung eine große oder einzelne sei. Hier wird alles beruhn auf einer richtig angestellten Übersicht. Wenn man, ohne das gethan zu haben, von Anfang an gleich weiter liest, so kommt man zu dieser schwierigen Frage, ehe man die Mittel hat sie zu lösen. Bei der vorbereitenden Auslegung kann man das unbestimmt lassen. nur auf diese Weise läßt sich eine lebendige Vorstellung des Ganzen erhalten, die nachher sicher leiten kann. In unserm schriftmäßigen Verkehr bekommen wir dazu viel Hülfsmittel und sehen scheel und sauer, wenn sie der Schriftsteller nicht giebt; früher aber blieb sich der Leser ganz selbst überlassen. Je mehr eine Schrift von organischem Zusammenhang ist, um so mehr erwarten wir eine Angabe des Inhalts. Wenn alsdann noch ein unrichtiges Urtheil des Lesers vorkommt, so muß der Leser als solcher entweder gar nichts taugen, oder ein Mißtraun in den Autor setzen; Wo Einem solche Hülfsmittel gegeben werden, je mehr sie ins Einzelne gehn, um so mehr können sie die vorhergehende cursorische Lesung ersparen. Wenn aber die organischen Kompositionen die wissenschaftlichen und künstlerischen sind, so kann ein solches Verfahren nur auf Seiten der wissenschaftlichen Compositionen gewährt werden. Bei den künstlerischen würde ein solches Skelett schaden. je mehr der Künstler durch die lebendige sinnliche Anschauung einen Eindruck machen will, muß er durch ein solches Skelett nicht stören. Das allgemeine Urtheil über das Werk wird deshalb sicherer sein, je mehr das Werk den Charakter einer wissenschaftlichen Composition trägt, und um so schwerer, je mehr es künstlerische Compositionen sind (die mehr oder weniger Poe¨sie sind). Wenn man für die Letzten die Regel der Vollkommenheit aussprach, man muß sie der poe¨tischen Form entkleiden können, und es muß doch noch recht viel übrig bleiben, das kann ich nicht zugeben. Die poetische Form muß zu genau mit dem Gedanken zusammenhängen, als daß man beides sondern könnte. Wenn wir nun vergleichen, was über die Art des Verfahrens über den quantitativen Gebrauch, mit dem, was über 20 Urtheil] Urtheils
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die qualitative Differenz gesagt ist, so ist klar, daß sich Eines sehr zum Andern hinneigt. So oft die Verbindung zurück geht auf ein früheres Hauptglied, woraus mehrere untergeordnete Glieder hervorgegangen sind, so ist das Erscheinen eines Hauptglieds neben einem untergeordneten ein bloßes Aneinanderreihen. Das bloße Aneinanderreihen kann also eine organische Verbindung werden, wenn ich auf den Satz zurückgehe, zu dem dieser Satz das nächste gleichnamige Glied ist. es wird das auch neutralisirt werden können, dadurch, daß die Verbindung ganz latitirt. Das kommt mehr bei unserer Art zu verbinden vor, da wir mehr für das Auge als das Ohr schreiben (wir machen einen Absatz, ohne daß wir durch eine Partikel einen bestimmten Fingerzeig geben. Zählte man gar die Hauptglieder, so liegt im Zählen schon die Aneinanderreihung und es bleibt mir überlassen, die organische Verbindung nachher herzustellen durch Zusammenschauung der Aggregate). Die Alten schrieben nicht für das Auge, denn so wenig wie sie schrieben, so wenig lasen sie auch selbst. Da muß das Unverbundene viel seltner vorkommen; deshalb treten hier die Schwierigkeiten für den Umfang und die Bedeutung der Verbindungspartikeln viel häufiger ein. Wenn wir nun mit Beiseitesetzung dieses Unterschieds nach den allgemeinen Prinzipien fragen, müssen wir sagen, wo das formale Element unbestimmt ist, muß es durch das materiale ergänzt werden. Der Inhalt muß die Verbindung bestimmen. Und zwar wird sich das auf das quantitative und qualitative anwenden lassen. Wenn der letzte Satz, von dem ich komme, ein einzelner war, und der neue ein allgemeiner, so können diese bloß einander angereihet sein. es müßte denn sein, daß der allgemeine Satz sich durch seinen Inhalt ankündigt als Resultat aus dem vorigen. Das ergiebt sich durch die Verwandtschaft des Inhalts; selbst wenn die Verbindungspartikel auf das Bestimmteste eine bloß aggregirende wäre. Wo die Verwandtschaft des Inhalts nicht so entgegen kommt, so ist das Zurückgehn auf einen früheren Satz von gleicher Geltung das, was unmittelbar indicirt ist. Aber natürlicher Weise kann hier nicht die Rede sein von Aufsuchen einzelner Begriffe, sondern weil wir es zu thun haben mit der Verbindung der Sätze, muß es auch das sein, was mich leitet, das formale Verhältniß derselben aufzufassen. Wenn wir uns denken den relativen Gegensatz zwischen der bloß an einander reihenden mechanischen, und der zusammenschmelzenden organischen Verbindung, und wir bedenken, daß eine Partikel das Eine bedeuten kann und das andre, so erscheint die organisch verschmelzende als eine größere Kraft, die zusammenreihende als eine geringre. Wenn wir nun sagen, daß jedes Wort seinen Ort in der Sprache haben muß, und seine Einheit, so können
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wir dies nur denken als die indifferenz zwischen beiden. Die organische muß sich aber verhalten als eine Steigerung, Emphasis; wenn dagegen eine Partikel, die ursprünglich Raum und Zeit bezeichnete, zu der organischen Verbindung aber durch den Gebrauch gesteigert ist, in der ursprünglichen Bedeutung wieder vorkommt, so müssen wir sagen, die Bedeutung sei hier verringert. Es kommt zu dem Gesagten über die auf und absteigende Geltung der organischen und mechanischen Verknüpfungspartikel, noch das hinzu, daß man unterscheiden muß, ich glaube es wird der bequemste Ausdruck sein, zwischen einer objectiven und subjectiven Verbindung besonders in dem organischen. Zu diesem gehört besonders, wenn etwas als Grund zum Vorigen gesagt wird; dies ist gewöhnlich der objective Zusammenhang; aber es findet sich sehr oft, daß der Schriftsteller in einer Reflexion begriffen ist, die er im Sinne der Leser macht, und er will zeigen, wie er zu dem Satz gekommen, und [statt] zu sagen: ich drücke das so aus, w e i l , sagt er bloß d e n n . Das sind solche Fälle, wo die Erklärer sagen, gaÁr, denn, nehmlich sei eine bloße particula transeundi. Das ist wunderlich, weil es keine solchen giebt, von jedem Satz wird auf eine bestimmte Weise in den andern übergegangen, es müßte denn der Prozeß des Denkens selbst etwas unbestimmtes [sein]; das ist es aber nicht mehr, wenn es sich ausspricht. Das Objektive und Subjektive, oder den elliptischen Gebrauch unterscheiden kann ich nur aus dem Inhalt. Je mehr die GedankenReihe objectiv fortschreitet um so mehr gestaltet sich jeder subjective Fortschritt als bloßer Zwischensatz. Begnügt man sich mit etwas unbestimmtem, wie es bei der Annahme einer mera particula transeundi ist, so kommt man auch zu einem unbestimmten Resultat. – Hierher gehört auch die Art des Fortschritts durch Gegensätze, seien es organische Trennungen, oder mechanische Aussonderungen. Beides wird auch in einander übergehn können. Fassen wir das alles zusammen, so werden wir bei der allgemeinen Formel stehn bleiben, daß diejenigen SprachElemente, die Sätze verbinden, ihre eigentliche Bedeutung erhalten durch den Gehalt dessen, was verbunden wird. Die Hauptformeln werden dabei diese sein: daß wenn Sätze von ungleichem Gehalt mit einander verbunden werden, die Verbindung größtentheils nicht eine unmittelbare sein wird, sondern eine auf einen Satz von gleichem Gehalt zurückgehende. Nun lassen Sie uns die besondere Anwendung auf das N.T. machen. Da ist das Erste das Verhältniß des Griechischen zum hebräischen Sprach22 Gebrauch] folgt zu
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Gebiet. Wenn wir voraussetzen müssen, daß die meisten NeuTestamentischen Schriftsteller von Jugend auf mehr gewohnt waren, hebräisch zu denken, und sie sich das Griechische aus dem Gebrauch des gemeinen Lebens aneigneten, so kann daraus klar sein, wie mehr eine Aneignung der materiellen SprachElemente als der formellen statt finden mußte. Dazu kommt noch, daß diejenigen SprachElemente, die diese Funktion haben, nicht so unmittelbar an etwas sinnlichem haften, wie diejenigen, die Gegenstände oder Thätigkeiten bezeichnen, also auch nicht so leicht eine Haltung bekommen. Dazu kommt, daß beide Sprachen so sehr verschieden sind in Beziehung auf den Reichthum der VerbindungsElemente, sowohl wenn wir auf die Partikeln sehn, als auch, wenn wir auf ihr regimen sehen. Da müßen wir es sehr natürlich finden, wenn im Hebräischen gewöhnlich gedacht wurde, daß eine Gewöhnung entstand, für das hebräische Zeichen ein griechisches zu gebrauchen, so daß die Verbindung im Griechischen viel unbestimmter wurde, da sie im Hebräischen ihr Maximum von Bestimmtheit hatte. In allen ausgebildeten Sprachen ist der Reichthum der Partikeln von Einfluß auf die Flexion der Zeitwörter, mithin also beides eines ist, die conjunction mit ihrem modus verbunden. Denn dieselbe Partikel in Verbindung mit einer andern Flexion ist sie etwas anders. Aus dem Gesagten entsteht deshalb natürlich, daß wir im N.T. die Anwendung vom Gebrauch, den diese Sprache in diesem Element hat, vermissen, was nicht aus einer Unbekanntschaft, sondern aus der Gewöhnung an die einfache Verknüpfung in der Muttersprache zu erklären ist. Bei dieser Partikel-Armuth der hebräischen Sprache, sind die organischen Partikeln gewöhnlich an dieselben Zeichen geknüpft wie die mechanischen Partikeln, so besonders kaiÁ. Das kaiÁ drükt im Hebräischen häufig Kausal-Verbindungen und andre aus. Es ist freilich, wenn man eine Sprache betrachtet, die eine solche Armuth an verbindenden SprachElementen hat, so kann man sich nicht der Frage enthalten, ist das nicht ein Zeichen, von einer unvollkommenen Entwicklung des Denkprozesses selbst, und von einem Mangel an Eindringen in den innern Zusammenhang. und Bedenken wir im Hebräischen das einfache Fortschreiten, höchstens durch eine Antiphonie gehobener Sätze, so können wir es uns nicht erwehren, an eine solche Unvollkommenheit des Denkprozesses zu denken. Nun aber wird die Frage schwürig, sind die NeuTestamentischen Schriftsteller sich dessen nicht bewußt worden, wie es in ihrer Sprache liegt, oder war es bloß die Gewöhnung, verschiedenes an dieselbe Bezeichnung zu knüpfen. Vergleichen wir die NeuTestamentischen Schrift38 zu knüpfen] verknüpfen 32–33 Schleiermacher meint den antithetischen Parallelismus membrorum im Hebräischen.
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steller in dieser Beziehung, so finden wir einen Unterschied, beim Johannes einen großen Mangel des Periodischen, beim Paul einen ausgedehnten Gebrauch der Partikel-Verbindung. Sehn wir auf den Inhalt, so ist überall eine organische Verknüpfung, und bringen wir die Frage auf eine allgemeine Form, hat das Christenthum eine Veränderung für den Denkprozeß hervorgebracht, so werden wir sagen müssen, es ist eine völlige Umschmelzung der organischen Verbindungen. Denn die Befreiung von äußerlichem Zwang des Gesetzes, und das innere Aufnehmen in die Gemeinschaft mit Gott, setzt verschiedene Combinations-Weisen voraus. Denken wir uns Einen, der von diesem Prinzip so tief durchdrungen war, wie Johannes, so können wir nicht glauben, daß er davon kein Bewußtsein solle gehabt haben, und dennoch blieb er in dieser einfachen Form; wir müssen deshalb glauben, er glaubte, alle Leser würden sich aus seiner mechanischen Aneinanderreihung eine organische Verbindung machen; da ist also ein Zurückbleiben der Sprache hinter dem Prozeß des Denkens nicht zu verkennen. Paulus dagegen ist der, der am meisten gräcisirt, mehr Periodisches, mehr Partikeln, und mehr Bewußtsein von einer verbalen Flexion. Das kann in 2erlei begündet sein 1) in einer näheren Bekanntschaft mit dem Griechischen, da er von Geburt ein Hellenist war, und 2) in einer größeren Ausbildung des Dialektischen im Vortrage, wo der genauere Unterschied der organischen und mechanischen GedankenVerknüpfung nothwendig ist. Wir müssen also hier sehr bestimmt unterscheiden die eine und die andre Form, und beim Johannes es uns zur Regel machen, daß wir müssen die organische Verknüpfung unter der Form der mechanischen aufsuchen. hier ist ein Ort, von dem aus wir sehen können, wie nothwendig es ist für die richtige Auffassung des N.T., eine Gewöhnung an das Lesen des alten zu haben. Anderwärts findet sich nicht das, und mit den Regeln ist hier wenig auszurichten. Schon für den eignen Genuß, dann noch besonders für den Gebrauch den wir als Theologen für die hebraisirenden NeuTestamentischen Schriften zu machen haben, ist das nothwendig. Es geht einem sonst der Genuß von der Innigkeit der johanneischen Schreibart verloren. Abgesehen davon, daß man auch nicht den Gebrauch der Sache machen kann, wenn man was mechanisch verbunden hingestellt ist, auch dafür hält; denn der Gebrauch besteht häufig darin, die Verbindung nachzuweisen. – Je mehr nun diese hebraisierende Art der Verknüpfung sich findet, um so weniger unverbundene Sätze kommen auch vor, es ist mehr alles gleich. Beim Paulus, der mehr periodisch ist, finden sich deshalb auch mehr unverbundene 31–32 Innigkeit] folgt von
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Sätze. Sie sind, nach dem früher Gesagten, doch aber immer aus dem vorigen zu verbinden. Die Verbindung kann wegfallen, wenn der Satz auf das unmittelbarste mit dem vorigen Satz verbunden ist, so bei allem, was Epexegese ist, bei Aufzählungen. Schwieriger aber ist es, wenn unverbundene Sätze eintreten, wo ein Absatz ist; denn man kommt hier leicht in Gefahr, die Verbindung ganz zu verlieren. Es fällt uns das weniger auf, als es sollte, da es in unsrer Sprache und in mehreren neuen so häufig ist. Ganz anders im Griechischen. Oft hat das seinen Grund darin, daß ein verwickeltes Zusammenreihen mehrerer Sätze vorhergegangen ist; alsdann ist das Asyndeton eigentlich eine Ellipse. Nehmlich es hätte eine Anreihung dieses Satzes an den zugehörigen Hauptsatz geschehn müssen; das würde aber eine Langweiligkeit hervorgebracht haben, und deshalb tritt das Asyndeton ein. Es gehört das zu dem Recht einer excitirteren Schreibart, eine größere Aneinanderreihung und ein plötzliches Abbrechen und Zurückgehn. Dies bildet also keine Schwierigkeit, sondern ist ein Zeichen, daß man an einem Hauptpunkt ist, der sich nicht durch formelle Zierlichkeit wollte zurückhalten lassen. – Ähnlich diesem Falle ist ein andrer, wenn im vorigen ein Satz aufgestellt ist, der nur als epitheton aufgetreten sein sollte z.B ihr unverständigen Galater, wer hat euch bezaubert, das Eine möchte ich nur wissen: = ich möchte von euch, die ihr euch etc, das Eine nur wissen. Zweitens giebt es noch besonders schwürige Fälle im N.T. beim Gebrauch der bloß an einander reihenden Verbindungen, diese haben ihren Ort besonders in den historischen Schriften. Da hält es besonders schwer den quantitativen Gehalt, wiefern sich die Erzählungen der Zeit nach an einander anschließen zu bestimmen. Paulus in seinem Kommentar zu den Evangelien hebt ein Paar besonders gehaltreiche Tage aus dem Leben Christi heraus, an einigen Stellen mit einigem Grunde, der in den Evangelien selbst angegeben ist, anderwärts aber getäuscht. Nimmt man das im Ganzen, so wird das Ganze sehr ungleich, einige Zeit überreich an Begebenheiten, andre leer. Da bekommt man einen Verdacht, und sieht ein, daß die Ausmittelung der Zusammenknüpfung der Zeit-Umstände sehr schwürig ist. Wenn man in dem parallelen Erzähler Spuren findet, daß der diese Verbindung nicht so nahm, so hat dieser mehr Wahrschein10 Asyndeton] Asyntheton 10 hätte] folgt müssen ect 33 parallelen Erzähler] Parallelen-Erzähler
13 Asyndeton] Asyntheton
21 etc]
19–21 Siehe Galater-Brief 3, 1–2 26–29 Heinrich Eberhard Gottlob Paulus: Philologisch-kritischer und historischer Kommentar über das neue Testament, Bd. 1–4,1, Lübeck 1800–1804 (SB 1439; ein Exemplar erworben 1819); vgl. auch seine ,Introductionis in Novum Testamentum capita selectiora‘, Jena 1799 (SB 1437) sowie KGA I/8, S. 19.
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lichkeit, weil dadurch eine größere Gleichmäßigkeit heraus kommt. Die Hermeneutik fällt also hier mit der niederen Kritik zusammen. Hier muß man sich also vornehmen, höchst skeptisch zu Werke zu gehen, um nicht voraus eingenommen, sich das Geschäft der höheren Kritik gleich zu verderben. – Etwas Ähnliches findet sich in den historischen Büchern des N.T. auch in den Reden, wo sehr häufig wegen des gnomischen Vortrags, die bloß an einander reihende Verbindungsform vorkommt; bisweilen so, daß man auch eine subjektive Causal-Verbindung nicht finden kann. Nun ist aber doch kein Grund vorhanden, auch in einem solchen Vortrage eine reine Willkühr oder Zufälligkeit anzunehmen. Die hermeneutische Aufgabe der Ausmittelung der Verbindungszeichen geht über auf der einen Seite in die psychologische Aufgabe, auf der andern Seite in die höhere Kritik. In der Bergpredigt des Matthäus finden wir das bloße Aneinanderreihen und das Asyndeton herrschend. Die makarismoi sind unmittelbar coordinirt, wo der Prädikat-Begriff derselbe ist. Ebenso auch anderwärts, wo allgemeine Sätze vorangestellt werden, z. B. die Vergleichung der dikaiosynh maûhtv Ä n und farisaiÂvn. Da läßt sich der Zusammenhang unmittelbar konstruiren. Nun kommen aber andre Sätze, die sich unter derselben Form anschließen, aber ohne daß sich ein solcher Faden durch sie hindurchziehen läßt. Daß sich der Charakter der Rede so sollte geändert haben, ist höchst unwahrscheinlich. Stößt man nun darin auf etwas, was andre Schriftsteller in andern Zeiten und Umständen mittheilen, so muß man das nothwendig aus dem Zusammenhang herausheben, und man bekommt die Vermuthung, daß in dieser Rede der Ähnlichkeit des Inhalts wegen etwas eingeschoben wurde, was nicht darein gehört, und man fragt, ob es mit dem, was eben so auftritt, nicht dieselbe Bewandtniß habe. Unsere Aufgabe geht also in die der höhern Kritik über, und man muß sich hüten zu dieser höchst schwürigen Aufgabe sich nicht den Weg zu verschließen, aber festhalten, keine absolute Zufälligkeit in dem Zusammenhang anzunehmen, so daß also einige Stellen wegen der Ähnlichkeit des Inhalts hierher kamen, oder daß hier ausgelassen wurde, was den Zusammenhang vermittelt. Das Letzte ist ebenso möglich als das Erste. Wo der Zusammenhang nicht entschieden ist, muß man es unentschieden hinstellen, und die Auslegung nicht zu zeitig abschließen.
2 niederen] höheren
14 Asyndeton] Asyntheton
14–15 Siehe besonders Matthäus 5, 3–11.
29 verschließen] verschließend
16–17 Vgl. Matthäus 5, 20.
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Unter unsern NeuTestamentischen Schriften haben wir nun auch ein Buch, das weder in die eine noch die andre Klasse gehört, eine Anreihung von Wahrnehmungen, die aber innerlich dargestellt werden. Die psychologische Interpretation und die höhere Kritik entscheiden, ob das bloße Einkleidungsform ist, oder wirkliche Thatsache. Etwas anderes aber ist doch die Verknüpfung. Ob die Aneinanderreihung der Gesichte, wenn man von der Voraussetzung etwas factischen [ausgeht,] so hintereinander vorkommen soll, oder bei der andern Voraussetzung, ob der Zusammenhang der Ideen, die so eingekleidet werden, ein gleichmäßig fortschreitender sei, dazu ist es fast unmöglich den Schlüssel zu finden; auch in dem psychologischen Gebiet, da zu der Exstasis alle Analogie verschwindet. Es bleibt deshalb nichts übrig als die Anwendung der höheren Kritik und die Vergleichung aller hermeneutischen Voraussetzungen. Hier ist die Regel, Alles was nicht ganz genau kann nachgewiesen werden, vorläufig unentschieden zu lassen, besonders anzuwenden. – Sie sehn, von wie großem Umfang die Aufgabe ist, die Geltung der Verknüpfungszeichen auszumitteln. Nun würden wir also überzugehn haben zur andern Art des formellen SprachElements, der innern Verbindung der Sätze selbst. Da haben wir aber schon unterschieden zwischen Verbindung der Sätze in der Periode, und den Verbindungsweisen der einzelnen Glieder des einfachen Satzes. Nur die letzten bilden den strengen Gegensatz gegen das bisher Betrachtete. 1) Was die Gliederungszeichen des zusammengesetzten Satzes, der Periode betrifft, so ist die Aufgabe nie hier von demselben Umfang wie oben, also kann auch die Schwürigkeit nicht so groß sein. So wie die Periode ein völlig abgeschnittenes ist, giebt der Inhalt den Schlüssel zu der Art der Verbindung, wo sie an sich nicht deutlich ist. in dieser Beziehung will ich nun eine Hauptregel aufstellen, die zu oft versäumt wird, nehmlich ja nicht spätere Zeichen mit den ursprünglichen gleichzustellen; ich meine die Interpunction. überall bei Schriften aus dem Alterthum ist es nothwendig, um sich die Auslegung rein zu erhalten, die Interpunction als nicht vorhanden anzusehn, man geht sonst bei dem Interpunctator in die Schule. Bei uns ist das etwas ganz andres. Im Alterthum bestimmt nicht die Interpunktion die Verbindung, sondern die Verwandtschaft des Inhalts und die Gliederung des Satzes. Das ist eine Erschwerung, aber eine durchaus nothwendige. Wir sind also wieder in einer Unbestimmtheit, da die Interpunktion den Umfang der Periode erst bestimmt. In der sogenannten kritischen Ausgabe des N.T. pflegen zweifelhafte Fälle der Inter1–2 Gemeint ist die Offenbarung Johannis (Apokalypse). fallen
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punktion durch kleine Sternchen oder andre Hülfsmittel angegeben zu sein; nur Schade, daß es so selten geschieht, und nur in größeren Ausgaben, da es im gewöhnlichen Gebrauch und für den Anfänger so nothwendig ist. Nehmen wir nun an, ein zusammengesetzter Satz sei constituirt, so ist ein 2faches Verhältniß der einzelnen Glieder möglich, eine Subordination und Coordination. Unter der ersten verstehe ich, was man unter Vordersatz und Nachsatz protasiw und epidvsiw versteht; coordinirte Sätze sind solche, die in dieser Beziehung als gleich geltende neben einander gestellt sind, aber Theile eines gemeinschaftlichen Ganzen sind; denn die gleiche Geltung kann nicht allein die Zusammenstellung begründen, es gehört dazu auch eine Zusammengehörigkeit. Sofern nun in der Sprache beides genau geschieden ist, sofern ist für die Auslegungskunst dabei nichts zu thun. Es giebt aber in allen Sprachen in dieser Beziehung zweifelhafte Fälle, sowohl in den Partikeln als in den Flexionsformen. Hier kann es nicht eine andre Beurtheilung geben, als nach dem allgemeinen Kanon, daß das formelle Element durch das materielle bestimmt werden muß. Ist die Periode bestimmt, so muß sich die Geltung des Satzes ihrem Gehalt nach ausmitteln laßen; wo irgend ein Zweifel entsteht aus dem Gehalt des Satzes, wie das Subordinations und Coordinations Verhältniß sich verhält, muß ein Zweifel entstehn, ob man sich die Periode richtig bestimmt hat. Auch in dieser Beziehung ist es aufs Neue wichtig, der interpunction keinen größeren Werth zu geben als sie hat. Wie sie jetzt besteht, kann man nicht sagen, daß sie hinreichend sei diese Verhältniße auszudrücken. Die Interpunktion ist nicht für den Ausleger gemacht, sondern für den Vorleser, und bezieht sich mehr auf das mechanische Geschäft dieses, zur Erleichterung der Übersicht des Ganzen. Wir müßten freilich mit unserm Interpunktionssystem, da es reichhaltiger ist, auskommen können, wenn wir es nicht selbst verderbt hätten durch einen verschiedenen Gebrauch derselben Zeichen. Die Interpunction im Griechischen ist offenbar ungenügend. zwar hat man 2 Ordinationen und 2 Zeichen, und es scheint, daß das Komma bestimmt sei für die coordinirten Sätze; allein das Komma bekommt gleich verschiedene Dignität und die Interpunktion wird ungenügend. Bei uns ist in dieser Hinsicht eine größere Vollständigkeit; das Kolon scheidet Vorder- und Hintersatz, das Semikolon die coordinirten Sätze in jedem von diesen, und das Komma die einzelnen Gliederungen des letztern. Dennoch wird auch das Beziehungs-System unzureichend werden, und nur aus dem innern Verhältniß, das die Sätze ihrer Geltung nach haben müssen, kann die Zusammengehörigkeit bestimmt werden.
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Es ist schon gesagt, daß diese Trennung nur als eine relative angesehn werden kann; wir haben das indirekt schon von einer andern Seite gehabt. Alle Partikeln sind als Theile des Satzes doch auch materiell, wenngleich dem Inhalt und Form nach formell. Im Hebräischen sind die verschiednen Formen, die dasselbe Verbum annehmen kann, als Flexionen von 1 Stamm gestaltet, da kann ich also fragen, was die Form im Kal, im Hiphil bedeutet, das ist eine Frage über die Flexion. Im Griechischen etwas ähnliches, Endung auf av, zv = die hiphil Form; aber im Griechischen sehn wir das als verbum für sich an, und es wird das eine Frage über das materielle Element, obgleich das eigentlich nicht so sein sollte. Das läßt sich auf Alles im Allgemeinen anwenden, was sich in der Sprache als abgeleitete Form konstituirt, sofern die Ableitung ein großes Gebiet hat, und die Form etwas konstantes. Es ist eine größere Vollständigkeit in der hermeneutischen Behandlung, wenn man Schwürigkeiten dieser Art zuerst so behandelt, daß man sie als formelle ansieht. Wenn wir uns die Aufgabe eines Wörterbuchs in ganzem Umfang denken, so wäre es nicht bloß Raumersparung sondern auch eine tiefere Bedeutung, wenn alle solche inseparable Formen mit darunter befaßt würden, seien sie praefixa oder suffixa, z. B. von den Präpositionen zu sagen, was sie in der Composition für eine herrschende Bedeutung hätten; zwar würde das etwas unvollkommenes sein, aber doch gleich die Aufmerksamkeit auf die Analogie durch die ganze Sprache hindurch heften. Beobachtet man die angegebene Regel, so thut man nichts, als daß man in einzelnen Fällen so verfährt, und sich solche Analogien bildet. Die Aufgabe gestaltet sich also so, daß bei allen abgeleiteten Wörtern, die aus einem Stamm und einer Ableitungsformel bestehn, das Wort auf diese 2fache Weise zu behandeln ist, die allgemeine Bedeutung des Stamms, das materielle, und dann die allgemeine Bedeutung der Ableitungsformel in verschiedenen Ableitungen, und zu fragen, in welchen relationen modifizirt sie das ursprüngliche Stammwort. Das bildet den Übergang zwischen dem ersten und 2ten unserer Haupt-Aufgabe. Überall wo ein abgeleitetes Wort im Spiele ist, werde jenes Verstehen eingeleitet. Bei der Bestimmung des Materiellen verfahren wir also, als hätten wir es nur mit dem Stamm selbst zu thun. Nun fragen wir also, da wir hier von Auslegen reden, also die gegebene Rede voraussetzen, was für materielle Elemente kommen in einem einfachen Satz vor? Da kommen wir auf die Frage, ob ein einfacher Satz 3 gehabt] gehalbt
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ein 2 oder 3gliedriges Ganze ist. Die erste Meinung geht darauf, daß ein Satz besteht aus Haupt und Zeitwort, Subjekt und Prädikat, der Akt der Beilegung ist nichts als Konstruktion des Satzes selbst. Die andre setzt das, wodurch beide mit einander verbunden werden, als ein 3tes; das letztere eine mehr atomistischere Betrachtungsweise, weil man voraussetzt, daß die Verbindung ein neben die ursprünglichen Elemente sich Hinstellendes sei; das Erste eine mehr dynamischere. Wenn man fragt, woher es kommt, daß man über eine solche unbedeutende Frage uneinig sein kann, warum das nicht durch die Sprache selbst gerechtfertigt wird, so muß man sich wundern, da die herrschende Meinung die von der Dreigliedrigkeit des Satzes ist, die Sprache aber für die Zweigliedrigkeit spricht. (Der Baum blüht nur onoma und rh Ä ma). Die Beilegung liegt in der Flexion des rhma selbst. Was folgt eigentlich aus der Behauptung der 3Gliedrigkeit für die Sprache? daß es nur ein verbum giebt, das copulative, die andern eigentlich Adjective, und nur verba gerade um der Abkürzung wegen. Es wird übrigens keine Schwürigkeit haben, was hier auf die 2Gliedrigkeit des Satzes angewandt wird, von der 3Gliedrigkeit auch zu behaupten. Wir gehen also davon aus, daß das Wesen eines Satzes besteht in Subjekt und Prädikat auf einander bezogen; die Beziehung ist aber das formelle, und damit haben wir es nicht mehr zu thun. Es kommt also auf die nähere Bestimmung dieser beiden an, dadurch daß wir ihren Ort in der Sprache als eine schwebende Einheit betrachten, alle Gebrauchs-Weisen darunter zusammen befassen, die aber durch den näheren Zusammenhang bestimmt werden müssen. Indem wir nun zum Verständniß des Zusammenhangs uns auf den einfachsten Satz zurücksetzen, gehn wir nur auf die Verbindung des Subjekts und Prädikats. Diese können aber sehr verschieden verbunden sein. Das Engste sind die eigentlichen sogenannten Phrasen, meist im technischen Gebiet. (so die Phrase: Termine abhalten etc). Giebt es dergleichen auch im N.T.? sehen wir auf den dogmatischen Gebrauch, so nimmt man freilich dergleichen viele technische Ausdrücke an; alles was eigentliche dogmatische Formeln sind. Allein das ist, was wir von Anfang an von der Hand gewiesen; so die Stelle exomen afesin amartiv Ä n dia toy aimatow aytoyÄ würde Einer, der dem dogmatischen Auslegungssystem folgte, für das halten, was wir die Lehre von der stellvertretenden Genugthuung nennen. Allein für die NeuTestamentischen Gegenstände bildete sich erst der SprachGebrauch, und wir dürfen da nicht die spätre Bestimmtheit mit zur Hülfe nehmen, sondern müssen uns 33–34 Vgl. Epheserbrief 1, 7.
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in Acht nehmen, nichts als solenne Phrasis, die einen bestimmten technischen Werth hat, ansehen. Betrachten wir die Wörter, die ihrer Natur nach SubjektBegriffe sind, die nomina, so werden wir sagen diese als allgemeine Vorstellungen haben ihre bestimmten Grenzen, er hat aber eine gewisse Anzahl von Beschaffenheiten oder Zustände, die er durchgeht, und das sind seine solennen prädicate; man ist wenigstens gleich auf ein mehr oder weniger unbestimmtes Verhältniß zwischen beiden gewiesen. Was man nun in der gewöhnlichen Sprache einen Einfall nennt, so ist das eine ungewöhnliche, mehr auffallende Verknüpfung des Subjekts und Prädikats so muß in diesem Fall die bestimmte Geltung erst gesucht werden. Eine andre dem ersten Fall entgegengesetzte VerbindungsWeise ist, wenn die Verbindung zwischen Subjekt und Prädikat nicht die Wirkung eines momentanischen Denkakts ist, aber eine unbestimmte, auf eine Menge von Fällen gerichtete; dahin gehört alles Proverbielle und Gnomische. – Nun werden wir also mit Recht auf das verschiedene Verhältniß zwischen Subjekt und Prädikat im einfachen Satz, auf die Lösung der Aufgabe müssen bedacht sein. Wir gehen vom engsten Verhältniß aus, es selbst aber bei Seite lassend, da es eigentlich keine Aufgabe ist, wir behandeln ihn aber als einen Ausgangspunkt. Je näher ein Satz diesem Charakter einer solennen Phrasis kommt, um so mehr bestimmen sich Subjekt und Prädikat gegenseitig, aber außer diesem ausgeschlossenen Fall werden sie sich nie vollständig bestimmen, sondern es wird nöthig sein zu andern Hülfsmitteln seine Zuflucht zu nehmen. Beispiel Evangelium Johannes cap 7, 37 ist die Rede vom letzten Tage des Festes ean tiw dica. Da sagt Johannes, der da redend eintritt toyÄto eiËpe peri pneymatow. pneyma agion ist Subjekt, und von ihm werden prädicirt oyÍpv h Ä n es war noch nicht. gehn wir nun vom allgemeinen Begriff aus, es war etwas göttlich, dazu nehmen, daß vom heiligen Geist schon im A.T. die Rede ist, wie kann gesagt werden, es war noch nicht. Das Subjekt ist doch nicht anders zu verstehn, als daß das Prädikat davon gesagt werden kann. (die alte Regel: die Subjekte sind in einem Satz nur so zu verstehn, als das dort ihnen beigelegte Prädikat es zuläßt). pneyma aÏgion kann also nicht sein, was wir die 3te Person der Trinität nennen. Nun bedeutet es ferner die göttliche Einwirkung auf die Propheten. Diese waren aber auch schon gewesen obwohl er lange Zeit cessirte. Da muß man seine Hülfe in etwas Andrem suchen. Das nächste in solchen Fällen ist zu fragen, leidet das 8 nennt] hat
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25–26 Johannes 7, 39 26 So in der damaligen Standardausgabe von Johann Jacob Griesbach: Novum Testamentum graece (Bd. 1–4, Leipzig 1800–07), auf deren (von dem heutigen mitunter abweichenden) Text generell verwiesen sei.
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prädicat verschiedene Erklärungen, und ist darunter eine, die der solennen Verbindung nahe kommt. Da das hier nicht ist, muß man außerhalb des Satzes gehen, um die nähere Bestimmung in der Umgebung zu finden. – Hebräer I, 14. oyxi pantew eisi leitoyrgika pneymata. Subjekt ist pantew das Prädikat pneyma eiËnai leitoyrgikon. nun ist das verbum unbestimmt, weil es ein adjectiv ist, da muß man also die Bestimmung im vorigen suchen; vorher geht aber eine Citation aus dem A.T. da wäre das nächste eÆxûroiÁ die Feinde Christi (etwas Geistiges) leitoyrgika, die einen göttlichen Willen zu erfüllen haben, durch das was ihnen Gott bestimmt zu thun. Geht man aber weiter zurück, so ist von einer Vergleichung der Menschen mit den Engeln die Rede. Man sieht also, wie man nicht bloß über die Verbindung des Satzes, sondern auch über den nächsten Satz hinaus gehen muß um die rechte Verbindung zu finden. – Überall wo keine solenne Phrasis ist, indem Subjekt und Prädikat nicht vollständig durch einander bestimmt werden können, muß man also auf andre BestimmungsMittel übergehen. Ist innerhalb eines Satzes noch etwas mehr als Subjekt und Prädikat, so werden oft dem Subjekt noch Eigenschaften beigelegt, dem Substantiv in der Form des Adjektivs, da könnten epitheton und prädikat sich bestimmen. Wo nun beide Bestimmungen des Subjekts zusammentreffen scheint man eine hinreichende Erklärung zu haben, und sich dabei beruhigen zu können. Nun aber ist das oft unzureichend, oder in der Nähe so etwas nicht zu finden, und dann wird sich zeigen, daß auch das nicht überall hinreicht, sondern man überall auf den Total-Zusammenhang sehen muß. 1 Cor xv sagt Paulus von sich selbst vers 32 ei kat’ aÆnûrvpon eûhriomaxhsa, ti moi ofelow; wir wollen beide Sätze als einen ansehn oy moi ofelow toÁ ûhriomaxhsai. nun ist aber eûhriomaxhsa schon Satz. Bei den Griechen heißt ûhriomaxia eine Thierhätze, das verbum in einem solchen Kampfe begriffen sein: Was kann es mir helfen, wenn ich mit den wilden Thieren gekämpft habe in Ephesus. Daraus würde also dieses Factum folgen. Hätten wir nichts als diese Stelle, so würde kein Grund zu einer andern Auslegung sein. Er hätte dazu kommen können, weil das eine Strafe war, die Manchen Verurtheilten auferlegt wurde. Wir wissen aber aus der Apostelgeschichte, daß dem Apostel nichts dergleichen begegnete in der Zeit, wo der Apostel in Ephesus war und dem Punkt wo er den Brief an die Corinther schrieb. Also hier wird man zu einer Auslegung durch den SprachGebrauch getrieben, die ihre Bestätigung in den Umständen findet; Ephesus Sitz der Römischen Obrigkeit, wo solche Urtheile gefällt werden, und solche Spiele 7–8 Hebräerbrief 1, 13 Engel gestellt ist.
10–11 Hebräerbrief 1, 5–12, wo freilich der Sohn Gottes über die
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vorkommen können. Da muß also die nähere Bestimmung ganz außerhalb des Zusammenhangs gesucht werden. Der Ausdruck muß also in einem bildlichen Sinne stehn von Gefahren die einem solchen analog waren, und das finden wir in der Gefahr des Tumults, der des Apostels wegen entstand. Nun ist im Satz noch etwas, was Einen hätte aufmerksam machen können, kat’ aÆnûrvpon, und da kommt man dahin darin eine Andeutung auf den bildlichen SprachGebrauch zu finden, wiewohl das eigentlich noch nicht darin liegt. Es kommen bisweilen Fälle vor, wo Subjekt und Prädikat in einem hohen Grade unbestimmt oder unsicher sind, und im Satz weiter nichts enthalten ist, ein merkwürdiges Beispiel Galater I, 16. eyûevw oy prowaneûemhn sarki kai aÏimati hier ist sarj kai aiëma als eins anzusehn, eine gewöhnliche hebraisirende Verbindung, aber ihre Bedeutung ist unbestimmt, der Mensch überhaupt, oder der Mensch in Beziehung auf den Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft als ein sinnliches betrachtet. Ebenso ist unbestimmt prosanatiûesûai, noch dazu darlegen, was ein früheres voraussetzt. Luther übersetzt es: ich besprach mich nicht mit Fleisch und Blut, und es ist das sogar eine stehende Redens-Art geworden, zur Bezeichnung, wenn einer, der einen Impuls vom göttlichen Geist bekommt, noch das Interesse der Sinnlichkeit berücksichtigt. Es kann aber auch heißen: Ich legte die Sache keinem andern Menschen vor. Eines ist so möglich wie das Andere. Die Bestimmung muß also weiter gesucht werden. Das nächstfolgende spricht dann für die letzte Bedeutung. Man sieht wie es nicht möglich ist, aus dem Satz allein zu einer Entscheidung zu gelangen. Das ist auch der Fall überall, wo ein bildlicher Ausdruck statt findet. Dieser hat oft die Absicht, das Ganze abzukürzen, weil die sinnliche Anschauung eine unendliche ist, die durch abstracte Ausdrücke in langer Reihe erst hätte ausgedrückt werden können. Doch ist [bei] dem bildlichen Ausdruck eine große Verschiedenheit der Auslegung möglich. Epheser V, 8. hte gar pote skotow, nyÄn de fvw eÆn kyriv. ì Nun ist der Brief an Christen gerichtet, und es dringt sich aus dem allgemeinen Zusammenhang das, daß skotow die Zeit bezeichnet, ehe sie Christen waren; in welcher Beziehung das aber gesagt wird, ist aus dem Satze selbst nicht auszumitteln. nimmt man den 2ten Satz hinzu, so ist eÆn kyrivì eine Bestätigung dieser Erklärung. fvw ein Gegensatz zu skotow, und wir werden es als ein wichtiges Mittel zur interpretation finden, wenn fvw außerhalb eine Erklärung findet. Allein fvw und skotow sind ein so bestimmter Gegensatz, daß er sich nicht weiter selbst erklärt, vers 6 und 7 528,33–592,5 Vgl. Apostelgeschichte 19
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kommt logoi vor, das Fassungsvermögen, das auf der Seite der Vorstellung liegt, skotow also die Unwissenheit, fvw die Erkenntniß. Im folgenden wird es auf das Praktische bezogen. Es bleibt also nichts übrig, als sich beides genau vereinigt zu denken, oder dem Letztern, weil es der Zielpunkt ist, den Vorzug zu geben. Wir sehen, wie vom einfachen Satz aus, die Interpretation ein größeres Feld haben muß, ihre Subsidien zu suchen; nur kommt es darauf an zu bestimmen, wie weit man gehn kann und muß. Ehe wir dazu übergehn, prüfen wir noch ein Paar Regeln in den Anweisungen zur biblischen Hermeneutik. Eine von obigen Methoden nannten wir die emphatische. Sie macht in Beziehung auf diesen Punkt folgenden Kanon: [„]Tanta emphasis in verbis, quanta potest ex prädicatis“. Den allgemeinen Satz haben wir müssen gelten lassen, das Subjekt nicht in einem Sinne zu nehmen, wo das Prädikat ihm nicht beigelegt werden kann. Dieser Kanon geht davon aus, soviel als möglich hineinzulegen, weil die Wörter durch den göttlichen Geist gesprochen worden sind. Nun ist es richtig, wenn ich dem Subjekt beilege, was das prädicat aussage, so ist das möglich; da aber das prädicat das Subjekt nie vollkommen bestimmt, so wäre das falsch. Beispiel Römer 8, 1. oië en Xristv Ihsoy, oyden katakrima ayÆtoiÄw d. h. es giebt keine Verurtheilung für sie. Luther übersetzt: es ist nichts Verdammliches in ihnen, katakrima als Adjectiv. Das ist willkührlich, bleiben wir beim ersten stehn, so ist es der Fundamental-Satz des christlichen Glaubens, daß durch die Gemeinschaft mit Christo die Vergebung der Sünde ist. Legen wir aber in katakrima alles hinein, was kann, so ist wenn einer gesündigt hat, und das Gewissen macht Einem Vorwürfe, so ist das auch ein katakrima; legt man das auch hinein, so ist das eine verstärkte Bedeutung, eine Emphasis. Es käme also heraus: diejenigen, die in Gemeinschaft mit Christo sind, sündigen nicht, und es hat immer Menschen gegeben, [die glaubten,] daß der wahrhaft Wiedergeborne nicht sündigen kann, was er thue, sei keine Sünde. – Ein andrer Kanon: Wenn nun dem unmittelbaren Zusammenhang nach einem Worte mehrere Bedeutungen zukommen können, so soll man diese, wenn sie sich nicht widersprechen, mit einander vereinigen. Das ist ein Schutzbrief für die Modifikation des emphatischen Erklärungs-Systems, das wir das allegorische nennen. man kann danach sagen, die Stelle habe einen buchstäblichen und einen bildlichen Sinn, mithin müßen beide Bedeutungen vereinigt werden. So im Evangelium Johannes XII, 32: kaÆgv ean ycvûv ek th Ä w ghw, pantaw elkyÂsv proÁw eÆmaytoÁn. Der erste Satz ist ycoûhsvmai ek th Ä w gh Ä w. Was hat Christus darunter gedacht? möglich scheint die Bedeutung: wenn ich werde in den Himmel erhoben,
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2) wenn ich werde am Kreuze erhoben sein. Jener Kanon sagt, es sind beide Erklärungen möglich, deshalb sind beide zu vereinigen. Dazu sagt Johannes im folgenden tayÄta eiÆpe shmainvn, poivì ûanatv emellen apoûnhskein. Nun sagen sie, die Erklärung des Johannes ist authentisch, die Schrift selbst billige also diesen Kanon, denn shmainvn zeige an, daß noch ein andrer Sinn möglich sei, und proÁw eÆmaytoÁn sei erst nach der Himmelfahrt möglich. Nun können wir das für diese Stelle gelten lassen, eine Anspielung kann es sein; aber daraus einen solchen Kanon zu bilden, ist durchaus unzulässig. Ebensolch eine Conjunction der Bedeutung will man Johannes I, 29 finden iÆde oë amnow toy ûeoyÄ, oë aiÍrvn etc. Was ist Subjekt und Prädikat? es kann sein oytow oë amnow aiÍrei, oder oyëtow oë airvn, estin oë amnow toyÄ ûeoyÄ – airein thn amartian = die Sünde forttragen (seine Bedeutung habend in der jüdischen Cäremonie) oder sie auf sich laden, und nun sagt man, beide Bedeutungen sollen verbunden werden: er hat die üblen Folgen der Sünde zu tragen, und er nimmt sie weg und schafft sie fort. Es ist aber unstatthaft zu glauben, daß ein Schriftsteller sich sollte 2 Handlungen gedacht und nur 1 Ausdruck gewählt haben. Etwas andres, wenn eines (als Besonderes) im Andern (dem Allgemeinen) liegt, oder eine Anspielung auf einen andern Fall. Beides findet hier nicht statt; man muß hier fragen, welches von beiden muß sich hier Johannes dabei gedacht haben. Sind wir also einig, daß die hermeneutische Aufgabe nicht gelößt werden kann, wenn man nicht über den Satz hinausgeht, so fragt sich nun, wie weit soll man hinausgehn, und wo ist da ein abgestecktes Gebiet. Ein Beispiel, Galater I, [15] ote de eydokhsen oë ûeow ... apokalycai ton yiëon en eÆmoi. Der erste Satz eydokhsen oë ûeow ist unvollständig, Gott hatte ein Wohlgefallen entweder daran, daß etwas geschehn war, oder daß etwas geschehn sollte. Im vorigen war die Rede von Pauli Verfolgung gegen die christliche Kirche, da dieser Satz sich dem vorigen entgegenstellt, muß es das Gefallen Gottes sein an etwas, was geschehn solle. Welches ist aber im folgenden die nähere Bestimmung, iëna eyÆaggeÂlizvmai oder aÆpokalycai yiëoÁn ayÆtoyÄ – Also schon eine Unbestimmtheit innerhalb dieser Periode. Das geht hier auf die formelle Aufgabe zurück, denn es kommt darauf an, wie hier zu verbinden sei. Nun ist es möglich, daß diese Nebenbestimmungen, deren Wörter eine verschiedene Auslegungsweise ausmachen, nicht auf einen Punkt hinwei10 amnow] agnow Rede 2–4 Johannes 12, 33 1, 16
11 amnow] agnow 13 3 Mose 16, 22
12 amnow] agnow
29 dieser Satz] folgt durch die
28–29 Galaterbrief 1, 13 f.
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sen. Es wurde danach der Kanon der emphatischen Auslegungsweise gestellt, 2 Erklärungen, wenn sie nicht gradezu gegensätzlich, zu verbinden. Wir sagten dagegen, daß die 2te Bedeutung nur zulässig sei, wenn sie eine Anspielung sei; und ob eine solche Anspielung zulässig, gehöre dem 2ten Theil unseres Geschäfts (technische Interpretation). Wenn ein Satz, Sprüchwort oder Gnome in einem Zusammenhang vorkommt ist er als Resultat des bisherigen GedankenZusammenhangs anzusehn. Ebenso wirkt er auch fort, und bestimmt den folgenden. Jeder Gedanke in einem Zusammenhang muß eine Nothwendigkeit und Natürlichkeit haben. Die Bedeutung eines Worts kann aber hierauf zugleich keinen Anspruch machen, nur sofern als die eine die Hauptbedeutung für diesen Ort ist, die andre eine Nebenbedeutung, die durch die fortgehende begleitende Gedanken-Erzeugung hier zugleich ihren Ort findet, und das fällt unter das Gebiet der Anspielung. – Da die Bedeutungen nicht alle gleich sind, so fragt es sich welcher man folgen soll. Da giebt es in Beziehung auf das N.T. einen Kanon aus der grammatischen Erklärungs-Methode, von der schon früher gesprochen wurde. Etwas ähnliches überall; jeder der einen Lieblingsschriftsteller hat, ist geneigt, in jedem seiner Gedanken das größest Möglichste zu suchen; das ist eine Hinneigung zur emphatischen Methode. Jeder der einen solchen Liebling hat, muß also in dieser Hinsicht besonders mißtrauisch sein. Es findet das besonders auf dem ästhetischen Gebiet statt (Dichter). Ebenso derjenige, der sich über einen gewissen Gegenstand ein abgeschlossenes System gemacht hat, wird jeden Schriftsteller, mit dem er sich nicht in einem polemischen Verhältniß befindet, danach erklären wollen. (besonders auf dem philosophischen Gebiet). Keinesweges sind diese irreführenden Methoden bloß auf dem Gebiet des N.T. entstanden. In religiöser Hinsicht ist das N.T. unser Aller Lieblingsbuch, also die Neigung, das größest Möglichste zu suchen; deshalb auch also die Vorsicht um so nöthiger. Wenn man also den Satz aufstellt, ist auf diejenigen Nebenbestimmungen keine Rücksicht zu nehmen, deren Resultat eine Vorstellung erzeugen würde, die der Analogie des Glaubens entgegen wäre. Wer also eine von der Kirche abweichende Vorstellung hätte, würde ebenso gut davon Gebrauch machen können, als der, der in Übereinstimmung mit der Kirche ist. Die Vorstellungen, die sich in der Kirche festgestellt haben, sollen nichts als Resultate der Schrift-Auslegung sein, können also nicht gegen die Prinzipien sein; ihre Richtigkeit muß deshalb geprüft werden nach den allgemeinen Prinzipien der Schrift-Auslegung, ohne Rücksicht darauf, ob sie von der Kirche ein25–26 Gebiet)] Gebiet
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mal anerkannt sind. Viele Central-Begriffe der Glaubens-Lehre, wie Rechtfertigung, selig machen etc, die im N.T. primitiv sind, nöthigen uns recht von der Wichtigkeit dieses Kanons durchdrungen zu sein; da es sich hier um das Wichtigste des Glaubens handelt, und wir müssen uns nicht durch Geltungen in der Kirche irre machen laßen. Sehen wir auf die DogmenGeschichte, so sind die meisten Bestimmungen, die sich in der Kirche geltend machen, die in dem Streit selbst enstandenen, so war bei der Unbestimmtheit eine vollkommene Ruhe und Sicherheit in der Auslegung und Anwendung, vor der Streitigkeit wie etwa die pelagianische oder arrianische. Hätten ihnen alle bestimmten Auslegungen und Streitfragen vorgeschwebt, so hätten sie ihre Zuhörer auch auf den Punkt stellen müßen, so daß die Streitigkeit schon positiv entschieden war, und dann hätte sie gar nicht entstehn können. Es kann nur die zusammenfassende Betrachtung eines größeren Ganzen, nicht die Auslegung einzelner Stellen sein, zu entscheiden, wie sich die Apostel die Ausdrücke yioÁw ûeoy, dikaiosynh etc dachten. Da wir Protestanten keine authentische Auslegung haben, so werden die einzelnen Ausdrücke stets streitig bleiben; aus der einzelnen Stelle können also beide streitenden Theile für sich folgern. Es entsteht nun die Aufgabe, die Hülfsmittel der Interpretation weiter umher zu suchen; sofern der einzelne Gedanke das resultat des Bisherigen ist, so müßen im Bisherigen schon die indicien zum Verständniß liegen. sofern der Gedanke auch das folgende bestimmt, so muß ich sagen, ist der Zusammenhang dort in seinem Umfang bestimmt, werde ich sagen, an der streitigen Stelle kann der Ausdruck nur so verstanden werden, daß es stimmt mit dem, was sich im folgenden bestimmt ergiebt. Wir werden also vorwärts und rückwärts geführt, eigentlich also auf den ganzen Zusammenhang der Rede. Es ist schon nachgewiesen, wie schwürig es sei, zu bestimmen, wie weit man im Zusammenhang gehn soll, um die Mittel zum Verständniß zu suchen. Es wird aber hier noch nähere Vorschriften geben müßen, um diese Mittel zu suchen. Können wir den einzelnen Satz als Glied eines zusammengesetzten ansehn, so sind wir zunächst daran gewiesen, die Erklärung im Umfange der Periode zu suchen. Diesen Kanon pflegen die Lehrer der Auslegung so auszudrücken, man müße die einzelnen Worte erklären in Gemäßheit mit dem ganzen Satz, verba explicanda in tota propositione. Betrachten wir aber eine Periode, aus subordinirten und coordinirten Sätzen bestehend, so sind in dem einzelnen Satz, wo etwas Unbestimmtes noch ist, 3 Fälle möglich, der Satz kann der erste in der Periode sein, oder der letzte, oder in der Mitte stehn. Ist er der 31 ansehn] ist
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Letzte, so ist er das resultat des vorigen, und wir sind überwiegend an das vorige gewiesen, und der Anfang der Periode bildet die natürliche Grenze. Ist er der Erste, so ist durch ihn die Coordination und Subordination der Sätze eingeleitet, und sind diese deutlich, so wird der erste Satz auch daraus verständlich sein. Ebenso der mittlere Satz, durch den vorigen und folgenden. Wir werden immer sagen, das Nächste wird auch das Erste sein, was man zur Hülfe nehmen muß, jedes Abspringen würde ein unregelmäßiges und kunstloses Verfahren sein. Nun aber kann hier dasselbe begegnen, wie bei dem einzelnen Wort, 1) daß auch hier noch eine Unbestimmtheit bleibt, 2) daß die Periode nicht auf eine Bestimmung hinweißt. Im ersten Falle würden wir über die Periode hinausgehn; im 2ten Falle käme es darauf an zu bestimmen, ob alle Theile des Satzes in gleichem Verhältniß zu dem Unbestimmten stehen, oder in einem ungleichen. Wir sind zunächst hier wieder an die allgemeine Struktur der Periode gewiesen. in einem jeden zusammengesetzten Satz stehn die Glieder in einem doppelten Verhältniß, sie sind coordinirt und subordinirt, und entweder das Eine oder das Andre herrscht vor. Ehe wir suchen, welche Regeln aus diesem Verhältniß hervorgehen, müßen wir fragen, ob diese Darstellung eine allgemeine Gültigkeit hat. Buchstäblich verstanden ist das nicht der Fall. in einem Vortrag wird es nur wenige zusammengesetzte Sätze geben, wo das gehalten ist; nur in der strengern Gattung des Vortrags wird das sein, und auch hier nicht überall. Da kommt bei der Anwendung also es uns gleich entgegen, daß diese Form uns nicht überall gegeben ist. Wir müßen uns also erst über den strengeren oder laxeren Zusammenhang der Sätze erklären. Es wird Jeder beim Schreiben die Erfahrung machen, daß viele Fälle kommen, wo man ungewiß ist, ob man einen Punkt oder Komma setzen soll, d. h. die Abgeschlossenheit der Periode ist ungewiß. Da müßen wir also auf die technische Interpretation zurükgehn und sie voraussetzen; denn aus dem Charakter des Vortrags geht hervor, ob man eine größere oder geringere Bestimmtheit und Strenge zu erwarten hat, und 2) auf die vorläufige Lesung, denn diese wird ergeben, welche Rolle eine Reihe von Gedanken einnimmt. Bedürfen wir nun einer besondern Methode für den strengeren Perioden-Bau und einer für den laxeren? das ganze Geschäft würde dann complicirter. Aber ich glaube wir können ihm auch ganz entrathen. Die Verknüpfung der Gedanken durch Coordination und Subordination ist
15 jeden] jedem 34–35 1.–6. 12. ausgefallen wegen Reise
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wesentlich, es giebt nichts drittes zum Aneinanderreihen und Aus einander ableiten. Die Aufgabe ist also immer, einen laxen Periodenbau auf einen strengen zurükzuführen, und dann wird man auch sehen, worin der Grund dieses laxeren Baus liegt, der gewöhnlich der ist, daß einige Sätze übermäßig ausgesponnen sind. Bleiben wir also dabei stehn, daß die Sätze die zu einer Periode gehören, in Subordinations und Coordinations Verhältniß stehn, so fragt sich, aus welchem werden wir die nähere Bestimmung von etwas einzelnem Streitigen hernehmen? Sehn wir zuerst auf die coordinirten Sätze, und jeder Satz besteht aus der Einheit von Subjekt und Prädikat, so können Sätze coordinirt sein, wenn sie gleiches Subjekt haben, es wird ihm aber in einem ein anderes prädicat beigelegt, als im andern (beide lassen sich zusammenziehn in einen Satz, oder sie können auch auseinandergehalten werden, und dann sind es 2 Sätze). Es kann ein größerer Nachdruk entstehn, wenn die Prädikate im Gegensatz stehn: (der König ist nicht bloß gerecht, sondern auch gut). Oder es können Sätze coordinirte sein, wo verschiedenen Subjekten dasselbe prädicat beigelegt wird. Hier bekommt das Copuliren einen ganz andern Erfolg, es entsteht dann daraus, daß was logisch prädicat ist, grammatisch als Subjekt erscheint; will man das nicht, so müßen die Subjekte in verschiedenen Sätzen aus einander gehalten werden. Oder 3) Sätze können coordinirt sein, wenn verschiedenen Subjekten verschiedene prädicate beigelegt werden, aber beide haben gleiche Beziehungen. Im ersten Falle verwandle ich beide Sätze in einen copulativen, und bestimme das Subjekt durch das prädicat. Wenn aber coordinirte Sätze, wo verschiedenen Subjekten verschiedene prädicate beigelegt werden, etwas erklären sollen, muß ich die Beziehung beider auf den gleichen Haupt-Gedanken kennen; denken wir an die mittlere Form, und fragen, kann also ein Satz, in welchem einem andern Subjekt ein andres prädicat beigelegt wird, kann das Subjekt zum Bestimmen des Subjekts in einem dritten Satz etwas beitragen, so kann das nur geschehen, wenn sich diese Form auf die 3te Form bringen läßt, oder wenn die Bestimmung ein Prädikat betrifft; wir behalten also nur 2 Formen, die erste und dritte. Betrachten wir ebenso im Allgemeinen das Subordinations-Verhältniß. Hier können demselben Subjekt 2 prädicate beigelegt werden, z. B. wenn dem Subjekt a das Prädikat b zukommt, so kommt ihm auch das Prädikat c zu, oder nicht zu. Ein Prädikat zieht also das andre nach sich; das Subjekt muß deshalb auch so bestimmt werden, daß ihm beide Prädikate zukommen können. 2) wenn verschiednen Subjekten verschiedne prädi13 Sätze)] Sätze
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cate beigelegt werden, aber die Beilegung in dem einen Satz ist durch die Beilegung im andern bedingt; Hier tritt derselbe Fall ein, wie im 3ten coordinirten Verhältniß. Wenn a, b ist, muß auch c, d sein; hier muß a so erklärt werden, daß durch die Beilegung von b auch folgt, daß c, d sei. Die Bestimmung liegt nur nicht außerhalb, sondern im Satze selbst. Wir sehen also, beide Verhältniße, können unter gewissen Bedingungen Mittel zur Erklärung abgeben, eines hat soviel Recht hermeneutisch gebraucht zu werden als das andre. Will ich also völlige Sicherheit haben, muß ich beide anwenden. Trifft beides zu, so ist die Operation geschlossen. Tritt aber die Schwürigkeit ein, die im einzelnen Satz selbst eintreten kann, daß die von verschiednen Gliedern des Complexus ausgehenden Forderungen an das Subjekt nicht dieselben sind, so bleibt noch zweierlei übrig, entweder in diesem Complex stehn zu bleiben, oder sich zu entscheiden, welcher man folge, oder noch Erklärungs-Mittel außerhalb des Complex zu suchen. Bleiben wir beim Ersten stehn, worauf wird es ankommen, welchem Verhältniß wir folgen sollen? offenbar dem, das in diesem Complex von Sätzen das dominirende ist. Die Erklärung, die mir durch die fortschreitende Entwicklung aufgedrungen wird, wird die richtige sein, wenn der coordinirte Satz ebenso bloß Zwischensatz war, und ebensogut hätte fehlen können. Nun aber werden wir zugeben müßen, daß diese Regel ihre Grenzen in der Anwendung hat. Je mehr der ganze Vortrag von der Art ist, daß auf das Auffallende, Witzige ein Werth gelegt wird, kann ich glauben, der Schriftsteller hat sich verleiten lassen, um das anzubringen, die fortschreitende Entwicklung zu vernachläßigen. Das wird aber nur in einem bestimmten Charakter des Vortrags liegen. – Nun giebt es andre Fälle, wo die coordinirten Sätze die Hauptsache sind (so in allem Historischen, Beschreibenden und alles das, was in diese Kategorie fällt). Hier werde ich mich an das halten, was die coordinirten Sätze an die Hand geben. Kommt der Fall vor, daß wir genöthigt sind, den wesentlichen indicien nachgehend, die andern [zu]vernachläßigen, so können wir die Operation nicht für geschlossen ansehen, sondern [sind darauf verwiesen] auf den weitern Zusammenhang zu warten. Der weitre Zusammenhang kann die Erklärung bestätigen, und dann wird die Gewißheit größer, oder zeigen, daß der Schriftsteller sich hier etwas erlaubt, was er sich nicht erlauben sollte. Es kann aber auch später sich ergeben, daß man falsch bestimmt hat. Das wird aber nicht leicht der Fall sein, wenn man in der vorläufigen Lesung Alles gehörig bestimmt hat; außer in Digressionen etc. Was nun noch zu sagen ist, kann nur das sein: Wo wir die ErklärungsMittel aus andern Sätzen in einem copulirten Satz ansehn können, geht
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die Aufgabe auf den früheren Fall zurück, Subjekt und prädicat durch einander zu bestimmen. Aber wo nun der andre Fall eintritt, daß aus einem andern Satz ein Erläuterungsmittel nur genommen werden kann, (weil Subjekt und prädicat verschieden sind) aus derselben Beziehung auf den einen HauptGedanken, können wir nicht auf ein schon früher Erläutertes gehn; sondern müßen noch etwas hinzufügen; es ist hier nur eine mittelbare Bestimmung durch ein anderes Drittes gegeben. Das Verhältniß ist entweder Identität oder Gegensatz, denn ein drittes giebt es nicht. Alles was man sich außer beiden denken kann, so kann man sagen Ähnlichkeit ist nicht Identität, Unterscheidung nicht Gegensatz, sondern beides schwebt zwischen diesen Extremen; wir müßen aber auch beides auf den vorigen Gegensatz führen. Unterscheiden sich 2 Dinge nur, daß sie in einer gewissen Beziehung gegensätzlich sind, und umgekehrt. In dem Unterschied tritt der Gegensatz, und die Identität zurük, aber ich soll sie berüksichtigen; und umgekehrt. Es sind also nur diese beiden und ihr verschiedenes Verhältniß zu einander. Sehn wir zuerst auf die Identität, da finden wir in der besonderen Anwendung auf das N.T. einen aus der emphatischen Methode genommenen Canon, den wir einer Prüfung zu unterwerfen haben: nehmlich im N.T. keine Tautologien zuzugeben, (d. h. Subjekt und Prädikat dasselbe). Gehn wir darauf zurück, daß diese Methode nicht dem N.T. ausschließlich eigen ist, werden wir sehn können, wiefern diesem Kanon eine Wahrheit zukommt, wir ihn bedingen können, oder was sonst. Die Tautologie ist nichts als das Maximum der Identität; 2 Sätze sind tautologische wenn sie dasselbe Subjekt und Prädikat auf dieselbe Weise verknüpft enthalten. Oft aber bringt schon eine kleine Veränderung in der Zeitbestimmung, einen Unterschied hervor, der Nachdruck bezweckt z. B. ich habe es gethan und werde es immer thun, so giebt es auch eine rhetorische Emphasis; nun aber in allen solchen Fällen findet es jeder natürlich, daß auch die Ausdrücke dieselben sind; seien diese Sätze zu Anfang oder zu Ende einer Reihe gestellt. Dergleichen Fälle nimmt Jeder gleich aus, der den Kanon aufstellt, den wir beurtheilen. Die Rede kann nur davon sein, wo nicht Absichtlichkeit durch die strenge Wiederholung hervorscheint. Nun kann es oft vorkommen, daß man einen Satz wiederholen muß; dann macht man es aber durch eine Rückweisung bestimmt kenntlich, und erspart sich die wörtliche Wiederholung. Weshalb man aber im N.T. diesen Kanon aufstellt ist das: Man solle nicht Sätze für tautologische halten, wo Subjekte oder Prädikate als Synonime könnten angesehen werden, sondern man soll die Unterschiede aufsuchen, und als vom Schriftsteller beabsichtigt sie ansehen. Sofern man das bloß für einen
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biblischen hermeneutischen Kanon ansieht, muß man ihn wohl dem emphatischen Verfahren zuschreiben, was überall den größest möglichen Umfang sucht. Schon deshalb können wir kein günstiges Vorurtheil für diesen Kanon haben. Wie steht es aber mit ihm im Allgemeinen. Hier beruht schon viel darauf, wiefern man überhaupt viel Synonyme in der Sprache annimmt. Die Beschaffenheit verschiedener Sprachen ist auch hierin verschieden; streng genommen hat man aber keine Ursache, Synonime anzunehmen. 2 Fälle; die Wörter, die verglichen werden sollen, können 2 verschiedene Stämme haben, oder einen. 2 Stämme haben nicht gleiche Bedeutung, also wird auch in der abgeleiteten noch eine Verschiedenheit sein. Wenngleich die Entstehung und Bildung der Sprache noch ein Geheimniß ist, so ist doch nicht zu begreifen, wie 2 Stämme auf dieselbe Weise entstehen und in derselben gleichen Bedeutung sich sollten erhalten können. (Abgesehn davon, daß es 2 gleiche Idiotismen giebt, oder ein Wort mehr prosaisch, das andre mehr poe¨tisch. Aber das Letzte ist schon ein Unterschied, und das Erste hat auch einen verschiedenen Gedanken-Kreis, jedes wird andre Neben-Gedanken erregen, weil ihm eine andre Anschauungsweise und Gedanken-Reihe zum Grunde liegt). Man wird also den Satz zugeben müßen, daß es reine und vollkommene Synonime nicht giebt. Wenn aber Wörter in gleicher GebrauchsWeise stehn können, so daß sie nur selten den Sinn ändern, liegt es in der Natur, daß wenn es einen Unterschied dazwischen giebt, der Schriftsteller auch grade seine Absichten darauf richtete. Um das zu beurtheilen, setzen wir uns in den Akt der Composition zurück, giebt es Fälle, wo man den Satz wiederholen will, aber andre Ausdrücke dafür wählt. In einem großen Complex von Gedanken kann es durch die Analogie postulirt sein, denselben Satz zu wiederholen, ohne daß die Wiederholung emphatisch macht, sondern nur ein Durchgangspunkt ist. Eine genaue Wiederholung kann nur im strengen Gedanken-Gang vorkommen, in einem andern schiene es pedantisch; da wäre also die wörtliche Wiederholung nicht an ihrer Stelle, und wir werden nicht sagen können, dieser Autor habe den Unterschied nicht beabsichtigt, wir sagen daß, man muß den Satz nicht premiren, d. h. den Unterschied nicht geltend machen wollen. Sollten die NeuTestamentischen Schriftsteller anders gehandelt haben, als jeder Andre? Niemand wird einen Grund angeben können, und das emphatische Prinzip wird als ein solches angesehn werden müßen, was die natürliche Interpretation alterirt. Nun kann es noch euphonistische Rücksichten geben, die den Schriftsteller nöthigen einen andern Ausdruck zu wählen, ganz abgesehen davon, um einen Gleichklang zu vermeiden. Nun kann man doch durchaus nicht feststellen, daß die NeuTestamentischen Schrift-
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steller keine Euphonie aufgestellt hätten; es setzte das eine Inspiration voraus, die alle Analogie mit dem menschlichen Verfahren auflösen würde. Diese euphonistischen Rücksichten liegen so in der Natur, daß sich das Handeln danach auf eine unbewußte Weise bildet. Es ist nun in der Sprache allgemein[:] die Sprache und der Verkehr mit der Sprache hat neben dem logischen immer noch einen musicalischen Gehalt. Die hieraus entstehenden Übertreibungen und Künsteleien beruhen auf einer allgemeinen Erfahrung, daß das rechte Maaß getroffen gefällt, die Unterlassung mißfällt. tautologische Sätze werden deshalb in diesem Sinne im N.T. ebensogut vorkommen können wie in allen. Nun wird aber jeder gleich durch Vergleichung die Bemerkung machen können, daß die orthodoxeren Ausleger auf diesen Kanon halten, daß im N.T. keine Tautologien anzunehmen seien; die neoterisirenden dagegen einen großen Gebrauch machen; ich will dadurch nicht behaupten, daß die interpretation nach bestimmten dogmatischen Grundsätzen gemodelt werden müße, aber es ist einmal dieser innere verborgene Zusammenhang. Wir wissen daß wegen der Zusammensetzung der NeuTestamentischen Sprache wir besondere Rücksicht auf die hebräische Sprache nehmen müßen; nun finden wir in der hebräischen Sprache die bekannte Erscheinung, die unter dem Namen Parallelismus bekannt ist. Dies ist anderwärts im Epigrammatischen, Gnomischen, auch, aber nicht so ausschließlich wie im Hebräischen, was daher kommt, daß das hebräische keinen Periodenbau hat. Diese Zusammenkoppelung soll verhindern, daß nicht die Sätze ganz nackt dastehen. Nun können wir weder behaupten, daß die beiden Sätze, die den Parallelismus bilden, sollen für ganz gleich gelten, noch den Unterschied ganz ignoriren. Es wird Fälle geben, wo die Form einen solchen Satz zum ersten hinzuzufügen forderte, ohne daß es dem Schriftsteller eingefallen wäre, den Unterschied zu urgiren. Diese Neigung zum Parallelismus ging auch in das N.T. über, und wir müßen sie als eine Neigung ansehn, die die Gewöhnung zur Muttersprache mit sich führte. Man muß also aus dem ganzen Zusammenhang entscheiden, wieviel Gewalt man dieser Form einzuräumen [gewillt ist]. Haben wir uns auf diese indifferenz gestellt, werden wir jene dogmatische Partheinahme für und gegen den Kanon beurtheilen können. Die NeuTestamentischen Begriffe, die das Wesen des Christenthums ausmachten, sind solche, die einen Kreis von verwandten Ausdrücken haben, wovon einige größer, andre kleiner sind; da ist es das Interesse derer, die die Bedeutung der NeuTestamentischen Begriffe gern etwas verringern woll25 bilden,] folgt weder
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ten, auf die Synonimi zurückzugehn; wogegen die, die in dem Neuen Testament schon die spätre Entwicklung und Bildung der Vorstellungen sehen, gern die Ausdrücke premiren. Wir müßen also feststellen, daß rein der Zusammenhang bestimmt, wiefern eine Tautologie zu gestatten, oder auf dem Unterschied zu bestehen sei. Eine ähnliche Frage ist nun anzustellen über das Maximum des Gegensatzes; dies ist der Widerspruch; er entsteht, wenn wir auf die beiden wesentlichen Glieder des Satzes sehen, Subjekt und Prädikat, wenn einem Subjekt gegensätzliche, d. h. sich ganz aufhebende prädicate beigelegt werden. Ist das von einem Schriftsteller zu denken in einem und demselben Ganzen. An 2erlei wird diese Möglichkeit ihre Haltung finden 1) daß er seine Meinung ändert, die dann zwischen die beiden Wörter fallen muß, wo die gegensätzlichen prädicate stehn. 2) Es kann Einer die Stärke des Gegensatzes zwischen den prädicaten nicht einsehn, entweder daß ihm das Erste nicht mehr gegenwärtig ist, oder sich das Verhältniß nicht so denkt als der Leser. Dann ist der Widerspruch nicht im Schriftsteller, sondern in dem Verhältniß, wie sich der Leser die Begriffe denkt. Was das Erste betrifft, so ist nicht anzunehmen, daß in demselben Satz noch der Schriftsteller seine Meinung ändern wird. Wenn so etwas vorkommt, muß es ein Schein sein, und es ist dann der 2te Fall anzunehmen. Sehn wir den Menschen als eine Einheit an, so ist sein ganzes Denken auch eine Einheit, und Alles was von ihm in dieser Hinsicht ausgegangen, ist Ausdruk dieser Einheit. Das ist das Fundament der Theorie über die Auslegung, die wir bald werden vorzutragen haben, die über den Parallelismus. Indem aber der Einzelne eine Einheit ist, so ist doch das ein successives, ein Entwicklungs-Prozeß, und in dem Früheren ist die Vorstellung in einem unvollkommenern Zustand als im Letztern. Das gilt vom ganzen Verhältniß des Vorstellenden zu allen Gegenständen. Zu dieser Unvollkommenheit gehört aber immer, daß das Wesen nicht aus einander tritt. Es ist alsdann keine Verletzung der ganz allgemeinen Ansicht, wenn wir sagen in einer späteren Thätigkeit, die einer früheren analog ist, tritt das entgegen gesetzt auf, was früher nicht entgegen gesetzt war. Niemals darf sich die Erklärung darauf gründen, daß in demselben Zusammenhang der Gedanke der Schriftsteller demselben Subjekt gegensätzliche prädicate beigelegt habe. Nun giebt es noch ein anderes Extrem auf diesem Gebiet, mit der Identität ungleich. Alles was es von Ähnlichkeit und Unterschied giebt, fällt hierzwischen, zwischen Tautologie und Widerspruch. Es bleibt nun 3 sehen] ist
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noch übrig eine allgemeine Formel zu suchen, auf welche Weise identische und ähnliche, unterschiedene und gegensätzliche Sätze, oder Theile des Ganzen zur Erläuterung eines streitigen gebraucht werden können, wie weit erstrekt sich das Recht daraus zu erläutern. Was das Erste betrifft, so gilt, es kommt hier Alles auf eine allgemeine Formel heraus, die wir eben in Beziehung auf das Streitige aus dem allgemeinen Satz angewandt haben, das subject muß so bestimmt werden, wie es der Natur des prädicats und seiner Neben-Bestimmung gemäß ist, und umgekehrt. Werden also einem subjecte 2 ähnliche prädicate beigelegt, so muß das subject so bestimmt werden, daß ihm beide zukommen können, weil ihm in dem einen Satz dieses, in dem andern das andre beigelegt sind. Nun haben wir in dem andern Falle demselben Subjekt verschiedene prädicate beigelegt oder abgesprochen. Hier sind wir in demselben Falle; der Schriftsteller hat das Subjekt so gefaßt, daß ihm beide prädicate beigelegt werden können; dann müßen wir sie auch copuliren; oder er hat ihm ein prädicat beigelegt, so daß mit aller Gewißheit ihm das 2te abgesprochen werden muß. Wenn wir nun das, nachdem es sich uns in einer so erweiterten Bedeutung darstellt, noch einmal, auf seinen inneren Grund zurück sehn wollen, so ist es das: daß wir denken, in jedem vollständigen Akt, wie ein Satz ist, muß auch eine Wahrheit sein, die in der Zusammengehörigkeit der einzelnen Elemente besteht. Je mehr wir uns denken den Prozeß der Konstruktion, von einem Typus ausgehend den andern anzuknüpfen, um so weniger dürfte unsre Voraussetzung Wahrscheinlichkeit haben. In dieser Zusammensetzung und Verknüpfung kann man auch oft fehlgreifen. Der Satz muß eine lebendige Einheit sein. Diese Voraussetzung in Beziehung auf die Natur des Prozesses, und die Aufstellung unserer allgemeinen Formel als Typus der Nachkonstruktion und Auslegung, gehört nothwendig zusammen, und ist eines und dasselbe. Es scheint allerdings, als seien es 2 entgegengesetzte Prozeße, erklären aus dem Identischen und aus dem Entgegengesetzten, und als müßten beide unter verschiednen Formeln stehn. Aber in unserm ganzen Prozeß des Denkens ist das Identische, rein und absolut gesetzt, das Leere, auf der andern Seite, die absolute Fülle; in der Erscheinung wird es aber nur etwas, dessen sich das Andre bemächtigen kann, sofern es einen Gegensatz in sich enthält. Jeder Gegensatz ferner steht unter einer höhern Einheit; ohne das ist das Entgegengesetzte auch etwas Leeres. Es gilt also von dem Einen dasselbe wie von dem Andern, es muß also auch unter derselben Form stehn, weil jedes nur etwas sein kann, sofern es auf das 37 Einen] Einem
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Mi 13.12.
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Andre bezogen wird. Indem wir nun auf unsre allgemeine Formel zurückgekommen sind, haben wir über die Anwendung weiter nichts hinzuzufügen, als späterhin etwas ganz specielles. Wir gehn deshalb über zum zweiten Punkt, wie weit die Erklärung eines Satzes aus einem andern herzunehmen ist. Wenn der einzelne Satz seine Elemente nicht vollkommen erklärt, so werden wir auch ebenso gut zugeben müßen, die Periode kann auch so geartet sein, daß ihre Elemente sich nicht vollkommen unter einander bestimmen. Da werden wir also noch weiter gehn müßen, und es entsteht die Frage, wie weit sich das erstrecken darf. Indem wir den Satz als abgeschlossenene Einheit verlassen, thut sich uns eigentlich ein Unendliches auf; wir werden nur gewisse Punkte zur Bestimmung ausmitteln können. Die Hauptregel ist gleich, daß man nie zur Erklärung das Fernere aufsuchen darf, ehe man das Nähere so vollständig als möglich benutzt hat. Dieser Canon kann nicht streng genug gehalten werden, ist aber auch die sicherste Bürgschaft, bei der Auslegung nicht in Willkührlichkeit zu verfallen. Beispiel Hebräer III zu Anfang katanohsate ... ton arxierea IhsoyÄn. Da werden Christo die prädicate arxiereyw und apostolow beigelegt, und noch die Nebenbestimmung kataÁ oëmologiaw hëmv Ä n, wo es ungewiß ist, worauf es geht; es steht zunächst bei aÆrxiereyÂw, und doch scheint keine ganze Verwandtschaft dazwischen. Der Verfasser geht aber nun gleich in eine Vergleichung zwischen Christus und Moses über. Cap iv. [14] kommt etwas ähnliches exomen arxierea deiÄn hëma Ä w krateiÄn etc. und es scheint beides gleich verstanden werden zu müßen. Wer diese Indikation übersehen hat, und gekommen wäre bis Cap vii, 22, wo Ihsoyw, eggyow diaûhkhw heißt, dort arxiereyw omologiaw, kann Einer sagen, das Subjekt ist dasselbe, die prädicate ähnlich, so würde er etwas Ferneres aufsuchen zur Erklärung, und das Nähere übersehen haben; und würde er dies Fernere benutzen, so hätte er sich die Bahn zu einer ganz falschen Auslegung gemacht, so cap. 8, 6. mesithw diaûhkhw; so kann er omologia und diaûhkh identifiziren, und es kämen eine Menge überflüßiger Tautologien heraus. Dagegen ist nun auch das Umgekehrte, wenn auch die nächsten Umgebungen die richtige Erklärung zu geben scheinen, man es sich doch offen halten muß, die Erklärung aus dem weiteren Zusammenhang zu modifiziren. Beispiel Römer 4. [25] xristow paredoûh ... egerûh. Zuerst ist der Ausdruck unbestimmt paredoûh diaÁ paraptvmata, weil die Art des paradoûh Ä nai nicht bestimmt wird durch dia mit Accusativ. Wäre nun die Beziehung des dia im 2ten Satz klarer als im ersten, müßte man sagen, diaÁ im ersten 17 katanohsate] katanohsaw
18 beigelegt] folgt werden oder worden
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Satz müßte sich verhalten wie im zweiten, denn die Sätze sind identisch; aber der Satz ist nicht klarer, er ist um unserer Rechtfertigung willen auferwekt worden, als der Erste. Betrachtet man beide zusammen, so ist klar, Paulus nimmt ein ähnliches Verhältniß zwischen unserer Rechtfertigung und SündenLeben, wie zwischen seiner Auferweckung und Hingebung. Wenn man sich die Sache so stellt, so liegt darin auch, daß beides geschieden ist, die Hingebung Christi eine Beziehung auf die Sünde, die Auferweckung auf die Gerechtigkeit. Betrachten wir eine spätere Stelle V, 9 poÂllvì mallon dikaivûentew en tv Äì aiÏmati ayÆtoyÄ, der Satz ist eine Aufnahme der dikaiosynh und paredoûh. Diese 2te Stelle lehrt also, daß Paulus eine solche Stelle nicht beabsichtigt habe, [sondern] auch eine Beziehung des Todes Christi auf die dikaivsiw annimmt. Jener obige Satz muß also in einen einfachen verwandelt werden, oëw paredoûh kaiÁ diegerûh dia taÁ paraptvmata kaiÁ dikaiosynhn. Dieser Satz macht also erst die Begründung, wie Paulus will die Kombination beider Sätze verstanden haben. Nun geht hieraus schon hervor, daß die richtige Anwendung solcher Erklärungs-Mittel darauf beruhe, daß man über die Stellung des Satzes sicher sei, daß man den Satz so stellt, wie ihn der Autor stellte. Es kommt hier auf den Begriff des dikaioûhnai an, wie weit kann man sicher sein, daß dikaioûhnai und dikaivsiw oder sonst 2 synonime Wörter in derselben Bedeutung vorkommen können. Wie weit man hier fehl gehen kann, ein Beispiel aus Matthäus xvi. [16] sy eiË oë xristoÁw. vers 18. Da kommt in Beziehung hierauf, kaÆgv soi legv oÏti syÁ eiË Petrow, kaiÁ epiÁ taythn thn petran. Die catholische Kirche gebraucht die Stelle, um den Primat des Apostels Petrus zu beweisen. Die evangelischen Ausleger haben vorbeugen wollen, sagend, petrow und petra sei nicht gleich, und petra beziehe sich auf Christus, es sei epideiktisch gesprochen. Beide Wörter haben aber doch denselben Stamm, und es müßte Indication da sein, daß mit der 2fachen Bedeutung des Worts gespielt wird. Auch wird damit nichts ausgerichtet, denn der Satz v. 19. dvsv soi taÁw kleiÄw toyÄ oyÆranoyÄ so sind das analoge Sätze. Die Katholiken könnten, wenn sie auch den ersten fahren ließen, doch vollkommen am 2ten genug haben. petra ist daher nicht anders zu verstehn, als oë Petrow; wie nannte aber Christus den Petrus so; niemand kann wohl an etwas anderes denken, als an die Stärke und Festigkeit des Glaubens. Da Petrus ferner im Namen der Andern geantwortet hatte, so muß sich die Rede Christi auch auf alle Jünger beziehen.
33 als ... Petrow;] als es oë Petrow liegt;
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Wenn nun der Zusammenhang nicht so unmittelbar ist, sondern erst nach dem Zwischenverlauf anderer Sätze, dasselbe Wort wiederkehrt, woran erkennt man dann, ob die Identität der Bedeutung noch fortdauert. Jeder einzelne Satz hat nothwendig sein Subjekt und Prädikat, aber das kann ein untergeordnetes sein in Beziehung auf den ganzen Komplex des Satzes, und zwar 2fach, so daß das Subjekt wesentlich in den Zusammenhang gehört, oder so, daß es mehr zufällig ist. Denken wir mehrere Sätze enger oder loser verbunden, aber so, daß das Subjekt ein Ganzes bilde, so wird das Ganze einen Hauptbegriff haben, zu dem das Subjekt und prädicat in einem bestimmten Verhältniß stehn. Kommt nun in diesem Komplexus derselbe Begriff wieder, so ist an der Identität nicht zu zweifeln, man hat selbst nicht einmal Acht zu geben, ob ein Spiel mit der Bedeutung da ist; denn ein solches Spiel wird nur um des Effekts willen gemacht. Jede Abweichung von dieser Regel wird eine erkünstelte Erklärung geben, wobei man nie ein Gefühl von Richtigkeit und Wahrheit haben kann. Wenn z. B. Einer in der Stelle im Römer-Brief behaupten wollte, dikaioûentew diaÁ toÁ aiÏma ayÆtoyÄ, und egerûeiw dia thn dikaivsin, so muß das Wort dikaivsiw in 2facher Bedeutung stehn, weil es sich einmal auf aiÏma, dann auf eÆgerûeiÂw bezieht. Nun aber werden sich in jedem größeren Komplexus leicht Unterbrechungen finden, wie sind die nun zu taxiren. Wir müßen unterscheiden zwischen solchen Sätzen, die zur Entwicklung des Hauptgedankens gehören, und solchen, die nur als Nebengedanken eintreten. Wir nehmen also den Fall einer Unterbrechung an; wenn nun nachher etwas wiederkehrt, was schon da war, so wird, wenn das Wiederkehrende zum HauptZusammenhang der Rede gehört, das Unterbrechende war bloß Zwischen-Gedanke, so hat die Identität des Ersten mit dem Zweiten die größte Wahrscheinlichkeit. Ganz anders verhält es sich aber im umgekehrten Fall, wenn das Wiederkehrende nicht ein wesentliches Glied des ganzen Complexus ist, sondern demselben Subjekte verschiedene prädicate beigelegt werden, so kann ich nicht sagen, daß hier eine Identität der Bedeutung nothwendig sei. Der Unterschied zwischen einem wesentlichen Gliede in einem Komplex von Gedanken, und dem Nebengedanken, ist kein absoluter, sondern ein relativer, denn der Nebengedanke muß doch ein Verhältniß haben, in dem er zum Hauptgedanken steht. Man kann also nicht sagen, daß die differenz der Bedeutung wahrscheinlicher sei als die Identität. Es wird in dieser Beziehung auf die Verwandtschaft des Nebengedankens mit dem Hauptgedanken ankommen. Hier tritt die Gül17 Römerbrief 5, 9
17 Römerbrief 4, 25
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tigkeit des Erklärungs-Mittels nur nach Maaßgabe des gleichen Verhältnißes ein. Dazu kommt noch ein anderes Kennzeichen in der Beschaffenheit dieser Sätze selbst: Ist eine Verwandtschaft in ihrer Beziehung zum Hauptgedanken, so wird auch der ganze Typus des Ausdrucks eine Ähnlichkeit haben; fehlt diese, so kann der Verfasser auch nicht gewollt haben, man solle beim 2ten Gedanken an den ersten zurückdenken. Es sind dies ganz wesentliche Punkte, aber sie werden so oft übersehn, und das ist der Grund, warum so oft Beispiele von Lexicographen und Philologen in observatione aufgestellt werden, die bei genauerer Betrachtung nicht Stich halten. Das sind die Hauptfälle die möglich sind, wenn man zur Erklärung über den einzelnen Satz hinausgeht, aber dabei doch in demselben Komplex von Gedanken stehen bleibt. Geht dieser Komplex über die ganze Schrift, oder wie weit erstreckt er sich? Der Hauptgegenstand der Verhandlung muß derselbe sein. Ist eine Schrift von der Art, daß sie bloß einen Hauptgegenstand behandelt, so wird das mehr oder weniger der Fall sein. In dem Maaß aber, als das nicht der Fall ist, wird dies auch nicht gelten. Machen wir die Anwendung auf das N.T., so müßen wir besonders behutsam sein. Die historischen Bücher bestehn aus lauter getrennten Theilen; alle Aussprüche Christi sind aber in der Identität seiner Person gegründet. Wenn also ein Zusammenhang sich findet in seinen Reden, sofern sie sich auf das Verhältniß seiner Sendung beziehn, so können doch in dieser Beziehung ganze Reden nur bloße Nebengedanken sein. Wenn zum Beispiel in apostolischen Briefen, wo der 2te Theil mehr praktisch ist, während der erste mehr theoretisch ist, wenn der Ausdruck in beiden vorkommt, so würde man Unrecht thun den letzten aus dem erstern zu erklären. Wir nehmen ein Beispiel aus einem Brief, wo dieser Unterschied nicht mal so deutlich ist. Galater V, 22, wo unter der Freiheit des Geistes auch pistiw steht; wenn nun pistiw hier etwas Einzelnes sein muß, Treue, man wollte aber die frühere pistiw, wodurch die Galater das pneyÄma empfangen, ebenso erklären, so würde dieser Schluß sehr unrichtig sein. Evangelium Johannes x [,11–30] enthält eine Gleichnißrede Christi, worin er sich als den Hirten darstellt, der seine cyxhn tiûhsin ypeÁr tv Ä n probaÂtvn, tiûenai kann sein, einsetzen, wagen, es kann aber auch heißen, sein Leben hingeben. Nun wird das erläutert durch die Vergleichung mit misûvtow, der feygei. Aus dem letzten sieht man, daß das Erste nur die Vertheidigung der Heerde mit Gefahr des Lebens bedeutet, ebenso vers 17. Was aber hierher gehört ist das in vers 14 gignvskv taÁ 30–31 Vgl. Galaterbrief 3, 2
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ema, kai gignvskomai yëp’ ayÆtv Ä n, kaûvÁw etc. was auf das kaûvw folgt muß eine Erläuterung sein des vorigen. Das vorige wird also erläutert durch gignvskv und gignvskomai [yëpoÁ toyÄ] patroÁw. jeder denkt hier an die analoge Stelle cap 17. 20 Ïina eÊn v Ë si kaûvw sy pathr en emoi, kaÆgv en soi und nachher kaûvw hëmeiw eÏn esmen, also ein Verhältniß des Glaubens unter sich erläutert durch ein Verhältniß Christi zu seinem Vater, als ein gegenseitiges. ebenso vers 25. Wenn nun jemand sagen wollte, das Bild cap. 10 könne nichts bedeuten, als daß die Schaafe den Hirten kennen sofern er sie ruft und leitet, und kaûvw gignvskv pateÂra = daß Christus den Vater kennt, und der Vater den Sohn ruft und kennt als yiëoÁn eydokiaw. Wollte man nun sagen, cap 17 sei das gignvskein dasselbe, das eÏn esmen damit zu erklären, der Wille des Vaters mein leitender Wille, so würde ein großer Theil von der eigenthümlichen Kraft dieser Rede Christi abgeschwächt werden. Es gehört die Erklärung in die Klasse derer, die das Tautologische zu sehr hervorheben. Es ist zwar hier eine Analogie; da aber cap x vom eÃn eiËnai nichts vorkommt, so kann cap 17 daraus nicht erklärt werden, es muß cap 17 viel prägnanter erklärt werden. Dabei bleibt immer wahr, daß alle Reden Christi als ein Complex anzusehen sind; nur daß das Nähere immer zuerst zu berüksichtigen ist. Einiges in den Reden Christi wird sich zu dem allgemeinen Gegenstand als NebenGedanke verhalten. Es ist nun hier noch etwas Besonderes vorläufig zu erörtern. Wenn wir diesen Unterschied zwischen Haupt- und Neben-Gedanken festhalten, und denken an das, was man gewöhnlich unter dem Namen bildlicher Ausdruk versteht, so wird ein solcher materiell betrachtet als ein NebenGedanke anzusehen sein. Dem Einen fällt bei derselben Beziehung dieses, dem Andern jenes Bild ein. Dasselbe gilt von Allem, was Beispiel heißt. Matthäus xiii finden wir solche Gleichnißreden Christi mehrere hinter einander. Die Formel omoia esti hë basileia tv Ä n oyranv Ä n. Das bringt den Hauptgedanken immer wieder vor, wozu sich die Gleichniße als Neben-Gedanken verhalten. Dieses Verhältniß nun ist nicht überall auf dieselbe Weise zu fassen, wollte man die Stellen so auf einander beziehen, daß man dieselbe Anwendung von der Formel machte, so würde man nur in Verwirrung gerathen. Der Inhalt der Gleichnisse ist keineswegs derselbe, man muß deshalb nur den allgemeinen Sinn der Formel auffassen, daß sie Einführung und Bezeichnung der Neben-Gedanken sein soll mit Fest10–11 eydokiaw.] eydvkiaw.
31 Verhältniß] Formel
2–3 Vgl. Johannes 10, 15 4 vielmehr Johannes 17, 21 Matthäus 3, 17 29 Z.B. Matthäus 13, 31
7–11 Vgl. Johannes 10, 14 f. 27;
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haltung des Haupt-Gedankens. Im 1sten CorintherBriefe vi, finden wir ebenso den bildlichen Ausdruck, d. h. einen Neben-Gedanken. Es ist das Ganze angeleitet durch einen allgemeinen Ausdruck panta eÍjestin all’ oyÆ panta symferei. Da wird zuerst das Verhältniß zwischen brvma und koiliÂa aus einander gesetzt, nachher svma porneiaw und svma xristoy, so ist da ein Spiel mit svma, denn das eine ist ein natürlicher svma, das andre nicht. ebenso nachher vers 15. eÊn svma und eÊn pneyma, wo das Zweite Mal auch eigentlich hätte eÊn svma stehn sollen; aber es tritt eine differenz ein, um den bildlichen Ausdruck recht ins Licht zu stellen. Wenn nun anderwärts die Kirche Christi eÊn svma heißt, das eigentlich gleich eÊn pneyma ist, und man wollte das eÊn svma auch so verstehn, so würde dadurch die Kraft der Stelle sehr verlieren. Denn an den andern Stellen ist xristow die kefalh, da ist eine wahre Lebens-Einheit, die in unserer Stelle mehr zurüktritt. Jene Stelle zu erklären, darf man das Nähere nicht vernachlässigen, das in kefalh liegt. Stellt man aber die dort richtig erklärte Stelle mit dieser zusammen, so wird das den bildlichen Ausdruck in einer vollkommenen Reihe darstellen. Wenn nun in demselben Zusammenhang dieses cap 6 der Ausdruck steht svma hëmv Ä n naow aëgiÂoy pneymatow esti, vorhin aber svma gleich melow xristoy war, so ist man berechtigt zu sagen, naow pneymatow und melow xristoyÄ sei dasselbe, es könne Einer nur melow xristoyÄ sein, als aÏgion pneyÄma in ihm ist, und umgekehrt. Nun ist aber die Sache noch von einem andern Gesichtspunkt zu fassen. Wenn wir bei nicht mehr lebendigen Sprachen stehn bleiben, wo das Ganze entweder nicht mehr vorhanden ist, oder wenn es da ist, es doch nicht mehr dieselbe Lebendigkeit hat so wird man einsehen, daß man oft nicht die ErläuterungsMittel in dem Satz allein findet, sondern oft genöthigt ist, außer ihm herauszugehn. Das ist die eigentliche Lehre von Parallel-Stellen. Wollten wir nun gleich von diesem bestimmt Gegebenen ins Unbestimmte gehen, so wäre das eo ipso ein Übergang aus einem kunstgerechten in ein kunstloses Verfahren; wir müßen nothwendig dazu Mittelglieder suchen, und sagen, es muß Zwischenelemente geben, um aus einer Stelle eine andre zu erklären. Suchen wir nun das Nächste auf: Wenn wir einen größeren Complex von Gedanken sehen, so ist er nur derselbe, sofern derselbe Gegenstand darin behandelt wird. Dieser liegt im Subjekt. Eine zusammenhängende Rede oder Schrift ist ein abge8 svma] pneyma
34 sehen] auf
1–5 1. Korintherbrief 6, 12 f. 7 vielmehr 1. Korintherbrief 6, 15 f. 10 Z.B. Römerbrief 12, 5 12–13 Epheserbrief 1, 22; 4, 15; 5, 23; Kolosserbrief 1, 18 17–19 1. Korintherbrief 6, 19. 15
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Fr 15.12.
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schlossenes Ganze, sie wird aber nicht uno tenore niedergeschrieben; der Zeit nach ist sie also nicht eines. Denken wir nun, in dem Zwischenraum behandelt der Schriftsteller denselben Gegenstand auch anderwärts. Stellen also aus dem Inhalt nach verwandten Werken des Verfassers können also ebensogut gebraucht werden als Stellen derselben Schrift, freilich mit denselben Kautelen als dort. Auf diese Weise bekommen wir einen größeren Umkreis um die Hülfsmittel zur Erklärung zu nehmen; wir sind aber noch an die Identität der Person gebunden. – Es fragt sich nun, wo sich eine solche Identität des Gegenstands findet. Daß ein Gedanken Verkehr desselben Menschen mit denselben Gegenständen vorkommt, ist klar. Wo also dieselbe Behandlung des Gegenstands ist, da ist auch eine Identität des GedankenKomplexus. Wir können aus der andern Seite das abnehmen, daß wenn Jemand auf denselben Gegenstand kommt, er sich des Früheren erinnert. Aus der Natur der Sache giebt es aber hier auch gleich eine Beschränkung. Eine spätere Darstellung, die denselben Gegenstand behandelt, vergegenwärtigt sich das Frühere. Aber nicht läßt sich umgekehrt Früheres aus Späterem erklären. Zwar wird, vorausgesetzt, daß sein Verhältniß zum Gegenstand dasselbe bleibt, eine successive Entwicklung stattfinden, das Frühere enthält den Keim zum Spätern; aber wenn in der späteren Entwicklung sich etwas findet, was das Erste bestätigt, so werde ich in der Erklärung des Ersten sicherer werden; findet sich ein Widerspruch, so werde ich eine andre Erklärung suchen müßen. Aber es bleibt auch die Möglichkeit, daß der Verfasser seine Meinung änderte, und dann wird das Frühere nicht aus dem Späteren erklärt werden können. Wir sehen also, wie nothwendig es ist, die Werke eines Verfassers chronologisch aus einander zu halten; wenn es keine authentische chronologische Anordnung giebt, wird die Bestimmung der Zeit in der Schrift von der Ansicht derer abhängen, die sich mit ihrer Erklärung beschäftigen. Ein Beispiel dazu bieten die platonischen Schriften, wo wegen der verschiedenen Ansichten die Auslegung immer einen gewissen Grad von Unsicherheit behalten wird. Wenn nun hier vom Haupt-Unterschied, zwischen dem was Hauptund was Neben-Gedanke ist, ausgegangen werden muß, und gesagt ist, daß das Frühere aus dem Späteren zu erklären weit mehr Cautelen bedarf, als das Umgekehrte, so bezieht sich das auf den Haupt-Gedanken. Mit den Neben-Gedanken ist es etwas anders. Wir müßen hier vom Prozeß der Nachkonstruktion ausgehn. Die Neben-Gedanken sind solche, die von den mehr dunkeln Vorstellungen, die der Haupt-Reihe sich 32 Wenn] folgt wir
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gleichzeitig in der Seele regen, ausgehen, abhängig von dem, was man gewöhnlich das Gesetz der unwillkührlichen Verknüpfung der Vorstellungen nennt, also auf einer subjectiven Verwandtschaft beruhn. Wenn wir nun auch für sie Erklärungs-Mittel aus denselben Schriften desselben Verfassers hernehmen wollen, fragt es sich: ob wir diese Aufgabe einigermaßen lösen können. Wenn wir den Ganzen Prozeß des Denkens und Vorstellens betrachten und diesen Gegensatz zwischen Haupt- und Neben-Gedanken festhalten, so werden wir wohl sagen müßen, der ganze Komplex des Haupt-Gedankens constituirt den Ort des gemeinsamen Denk-Prozeßes im ganzen Volk, denn es bildet Einer die Vorstellungen besonders aus, mit denen er sich ex professo beschäftigt, und das wird in seinem mündlichen oder schriftlichen Vortrag vorkommen. Die NebenGedanken bezeichnen aber den Ort im allgemeinen Verkehr abgesehn von seinem besondern Beruf im Gebiet des Denkens und Vorstellens. Denn was ihm nebenbei vorkommt, muß er doch irgend woher haben, aus dem Gebiet des gemeinen Lebens, der Erfahrung, der Litteratur. Hat er nun alle Neben-Gedanken zusammen, so werden wir eine Vorstellung davon haben, was in seinem Bewußtsein gewesen ist oder nicht, und wenn man sehen kann, was sich mit einer Vorliebe in seine Haupt-Gedanken einmischt, und sich die Regionen in einer Abstufung denkt, so wird man sich eine Regel bilden können für das Verhältniß der Neben-Gedanken zu den Haupt-Gedanken. Nun ist schon gesagt, daß für die NebenGedanken, nun nach Maaßgabe des Verhältnißes zu den Hauptgedanken, eine Identität für ihre ÐErklärungÑ genommen werden kann. Das werden wir nun hier zu erweitern haben. Ja wir werden sagen müßen, daß diese Abstufung wichtiger ist, als die Nebengedanken, die in einer und derselben Schrift vorkommen. Nebengedanken, wenn auch aus verschiedenen Schriften, nur mit einander verwandt, werden sich eher selbst erklären können, als solche, die in derselben Schrift stehn, aber nicht verwandt sind. Es ist also zuerst auf die materielle Verwandtschaft zu sehn. Es ist schon gesagt, daß aller bildliche Ausdruck, vom Tropus an bis zur Allegorie, materiell als Neben-Gedanke anzusehn sei. Nun hat jeder Schriftsteller ein Gebiet, woraus er seine NebenGedanken nimmt; sind also die NebenGedanken nur materiell verwandt, so ist es ganz gleich, worauf sie angewandt worden sind. Dasselbe gilt von Allem, was Anspielung ist; denn sie setzen voraus, daß das, worauf angespielt wird, sich verwandt 1 gleichzeitig] =zeigtig
28 selbst] auf
22–24 Variante Bötticher, S. 144: „Finden wir also Identität von Hauptgedanken so muß dies nothwendig auch auf die Nebengedanken übertragen werden können.“
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sei. Es ist hier nun allerdings noch ein Fall möglich: Es kann dasselbe, was in gewissen Produktionen als Neben-Gedanke vorkommt, in andern als Haupt-Gedanke vorkommen; das setzt voraus, daß der Gegenstand, womit er sich ex professo beschäftigt, kein einfacher ist, sondern in einem relativen Gegensatz stehen. So, wenn z. B. Einer zugleich ein spekulativer Kopf und ein praktischer Staatsmann zugleich ist. So in der Philosophie selbst ein Gegensatz zwischen dem, was auf der Seite der NaturWissenschaft, und dem, was auf der Seite der Geschichts-Wissenschaft liegt. Das ist eine sehr günstige Position, und wir werden gleich die Regel aufstellen können, daß, da die HauptGedanken durch die Umgegend Mittel zur Erklärung darbieten, die NebenGedanken aber schnell vorübergehn, so wird nichts günstiger sein zur Erklärung der NebenGedanken, als Schriften desselben Verfassers, worin sie als Haupt-Gedanken behandelt sind. Hieraus ergiebt sich schon, daß, wo ein solch bedeutendes ErklärungsMittel fehlt, immer noch Ungewißheit in der Auslegung bleiben können. Das führt zum Letzten Theil der Untersuchung, wie, wenn Alles was wir von einem Schriftsteller haben, das Einzelne nicht erklären will, Stellen aus andern Schriftstellern zu benutzen sind. Unter welchen Bedingungen und auf welche Weise kann das wohl geschehen. Die allgemeine Formel ist: Es wird das nur sofern mit Sicherheit statt finden können, als wir die Gedanken des einen und des andern Schriftstellers als zu 1 Komplexus gehörig ansehn können. Da müßen wir also eine Einheit suchen, die eine andre ist als die persönliche. Welches ist nun diese Einheit? Ich bin schon in der ersten allgemeinen Erläuterung davon ausgegangen, daß jede Sprache ein [in] sich zusammenhängendes System von Gedanken und Vorstellungen ist, dessen einzelne Elemente nie vollkommen adaequat sind den in einer andern Sprache ausgedrükten Elementen. Mithin ließe sich Alles, was in einer Sprache gedacht und dargestellt worden ist, als ein gemeinschaftliches Ganze ansehen. Von diesem Punkt aus aber folgt nichts weiter, als daß Äußerungen in einer Sprache über einen Gegenstand werden gebraucht werden können, um die Eigenthümlichkeiten der Äußerungen über denselben Gegenstand zu unterscheiden von der Eigenthümlichkeit derselben in andern Sprachen. – Nun gingen wir vorhin von der persönlichen Einheit aus. Fragen wir, erfolgt die successive Entwicklung durch die einzelnen Menschen allein? nein, sie erfolgt nur durch den Gedanken-Verkehr mit Andern. Dies ist nun in dasselbige SprachGebiet
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eingeschlossen. Nun werden wir sagen können, daß die Gedanken-Entwicklung in einem Schriftsteller über einen gewissen Gegenstand ein Produkt ist aus dem, was er sich früher gedacht, und aus den Äußerungen derer, die einen Einfluß auf seine Gedanken-Entwicklung gehabt haben. Daraus folgt nun, wenn die Äußerung jener Gedanken einen Einfluß auf diesen hatte, werde ich jene so gut brauchen können als diese. Daraus folgt, daß die ganze nationale Gedanken-Entwicklung über denselben Gegenstand eine Einheit bildet; und diese ist zu behandeln wie die persönliche; aber unter denselben Bedingungen, mit Unterscheidung des frühern und Spätern, sonst aber ist kein Unterschied zu machen zwischen dieser Einheit und der persönlichen. Das leidet aber manche Bestimmungen. Das Nächste, wobei wir stehn zu bleiben haben ist die Schule, im weiten Sinn des Worts und zwar in zweifacher Hinsicht. Es kann nehmlich in der Behandlung eines Gegenstands verschiedene Methoden geben, und das ist der Begriff der Schule im engen Sinn. 2) Der Gegensatz: Wir haben bei allen streitigen Untersuchungen, wenn auch nicht eine Neigung zu Mißverständnißen, jedoch eine behutsame Auffassungsweise vorauszusetzen. Denn sehn wir im theologischen Gebiet auf ältre oder neuere Streitigkeiten, arrianische und athanasianische Theologen, – Rationalisten und Suprarationalisten, so werden wir finden, daß jede Parthei protestirte gegen die Art, wie ihre Behauptungen von den Andern aufgefaßt wurden. Das 2te, was zu bemerken ist, ist das: Überall wo eine Schule ist, erzeugt sich früher oder später ein bestimmter SprachGebrauch, terminologie, der technische Ausdrücke in sich schließt. Nun werden dieselben Gegenstände auch von solchen behandelt, die nicht in einer bestimmten Schule stehn, also auch populärer schreiben. Die kehren sich nicht an einen bestimmten SprachGebrauch. Sie drücken dieselben Begriffe freilich mit weniger Schärfe in andern Ausdrücken aus, aber sie gebrauchen auch dieselben Ausdrücke in einem weitern und weniger bestimmten Sinn. Da treten also eine Menge von Cautelen ein. Hier muß man wieder Personal- und Sach-Kenntniß haben, die aber nicht aus dem Auszulegenden selbst gewonnen werden kann, oder erst nach vollständig geschehener Auslegung. Je bestimmter das Subjekt dieses Komplexus von Sätzen ist, je bestimmter scheiden sich die Gebiete; je weniger, um so mehr geht das ex professo und das gelegentliche Behandeln in einander über. Die ganze Sprache erscheint also als ein Komplexus von solchen Gebieten, und je bestimmter wir die Kreise ziehen können, um so gewisser sind wir. Was nun die Nebengedanken der Schrift betrifft, so werden sich da diese Kreise nicht ziehn lassen. Denn wenn Mehrere denselben Gegen-
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stand ex professo behandeln, so wird das Gebiet von Neben-Gedanken keine Einheit haben, grade wie die NebenGedanken e i n e s Werks, bloß die Einheit in der Persönlichkeit des Autors haben. Das Gebiet wird sich also nicht so bestimmt scheiden wie jenes, weil die Rede ist von etwas Anorganischem; doch aber werden wir eine gänzliche Verneinung aller Bestimmtheiten auch nicht zulassen können. Es ist das ein Ort, wo es sehr auf das Psychologische ankommt, und was also die andre Seite schon voraussetzt. Hier scheint es darauf anzukommen. Worin kann der Grund liegen, weshalb bei verschiedenen Menschen, indem sie in einer GedankenReihe begriffen sind, die nicht dieselbe zu sein braucht, dennoch analoge Gedanken zwischen jenen erzeugen? Zweierlei, ein materielles und ein formelles. Einmal liegt hier überall Erinnerung zum Grunde; wenn dieselbe Masse von Vorstellungen in ihnen leicht erregbar ist, so werden Gedanken daraus auch vorkommen, während der HauptGedanken Prozeß ein ganz anderer ist. Denken wir hier an die HauptDifferenz, so werden wir eine gleiche Gegenwart als Grund zu dieser Analogie annehmen können; ebenso sofern 2 ein gleiches Interesse in die Vergangenheit haben, werden wir Analogie von ihnen erwarten können. Bleiben wir also in derselben Sprache und Volk stehen, so wird es darauf ankommen, ob sie in dieser Hinsicht gleich waren. Das formelle ist die CombinationsWeise, aber nicht die logische, sondern die, die wir im weitern Sinne Phantasie zu nennen pflegen. Es wird also darauf ankommen, wiefern hier eine Stärke und Erregbarkeit solcher Combination ankommt, dann auch in Beziehung auf die Art und Weise, wo der Geschmak ein bedeutendes Moment ist. Analogien werden wir in dieser Hinsicht nur finden bei solchen, wo eine Identität der Erregbarkeit und des Geschmaks stattfindet. Das Letzte möchte vielleicht nicht ganz klar sein. Es giebt in demselben Volk, und Klasse einer Gesellschaft, licenzen, die außer dem, was in der Schrift behandelt wird, als zuläßig angesehen werden. Das ist nun abhängig von der Art der Schrift oder Composition. Das ist nun auch ein Geschmak, aber nicht der persönliche. So z. B. wird Jeder leicht zugeben, daß in einer Predigt oder feierlichen Rede keine Lieder, Beispiele etc vorkommen können in derselben Art, wie in einer leichteren Schrift. Dann aber giebt es auch einen rein persönlichen Geschmak, und da kommt es darauf an, wie weit Schriftsteller in ihrer Bildungs-Weise analog sind oder nicht. Nun scheint das nur eine Nachwei-
5 Anorganischem] Anorganischen
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sung zu sein, wo man etwas zu suchen hat in solch schwürigen Fällen. Aber dieselben Regeln müßen auch zu Rathe gezogen werden, um zu bestimmen, wenn man etwas gefunden hat, wie weit man das identisch ansehen kann. Machen wir nun die Anwendung auf das Verhältniß unsrer heiligen Schrift. Hier haben wir eine Sammlung verschiedener Schriften verschiedener Verfasser. Daß also die Schriften desselben Verfassers, nächst ihnen analoge Schriften anderer Verfasser, zur Erklärung dienen werden, steht fest. Wiefern aber nun verschiedene Schriftsteller sich zur Erläuterung dienen können, so stoßen wir auf große Differenzen in der Praxis, denen auch Verschiedenheiten in der Theorie zum Grunde liegen. Es ist schon gesagt, daß Stellen eines andern NeuTestamentischen Schriftstellers eher dienen können zur Erläuterung, als Stellen desselben, wenn nehmlich die Schriften so beschaffen sind, daß in einem Theil eine strengere DarstellungsWeise herrscht, als in dem andern Theil. Das giebt den Übergang zu der hermeneutischen Ansicht, die die persönliche Differenz zwischen den NeuTestamentischen Schriftstellern aufhebt. Wir können hier 2 entgegengesetzte Ansichten unterscheiden, die überwiegend dogmatische, die, indem sie die NeuTestamentischen Schriften als Entwicklung und Kritik aller christlichen Vorstellungen ansieht; die andre, die philologische, die behauptet, wenn es darauf ankommt, eine Schrift zu verstehn, müße man dergleichen ganz aus den Augen lassen, und die Schrift beurtheilen, wie jede andre. Wie nun eine gewisse Wahrheit in beiden ist, werden wir jeder ein bestimmtes Gebiet anweisen müßen, wo man sich an sie zu halten hat. Betrachten wir den Inhalt dieser Schriften, so werden dieselben Gegenstände ex professo behandelt von verschiedenen Schriftstellern und in verschiedener Form; da werden wir also das N.T. als einen complex von Gedanken ansehn können; die dogmatische Ansicht ruht also auf einem sicheren Fundament. Will man aber so ohne Unterschied verfahren, daß die Person des Autors ganz verschwindet, und man alle Verschiedenheit der DarstellungsWeise im Voraus aburtheilen wollte, sofern ist man abgeirrt von der Wahrheit. Es ist von der inspiration nicht die Rede, sondern es handelt sich bloß davon, wiefern die Identität des Gegenstands einen Grund in sich enthalten kann, alle Verschiedenheit aufzuheben. Eine solche Behauptung würde aber alle Analogie aufheben. Wir können hier ganz beim Begriff einer Schule im engern Sinn stehen bleiben, wo einer der Meister war, der aber nicht als Autor auftritt, die Andern Schüler, so würde wegen der außerordentlichen Kraft des Meisters, auch die der 8 anderer Verfasser] desselben Verfassers
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Schüler steigern, so wird doch ihre auffassende Persönlichkeit einen factor bilden, und wird auch müßen mit in Rechnung gezogen werden. Nun haben wir zwar keine Notizen, sondern Grund eine große Analogie unter den Schülern Christi vorauszusetzen. Aber waren sie auch außer dem nationalen, provinziell identisch, von gleicher Bildung, von gleichem Ort in der Gesellschaft, und solcher Bildung, die keine große Differenz begünstigt, so läßt das nur eine Gleichheit erwarten von den unmittelbaren Schülern Christi. Aber das sind ja nur die wenigsten NeuTestamentischen Schriftsteller. Wir haben mehrere, von denen wir nicht wissen, daß sie diesen unmittelbaren Impuls empfingen, Paulus, der bedeutendste von Allen, kann gar nicht darunter begriffen werden. Wir werden also auf keinem andern Gebiete zu Werk gehn können, als dem der Schule und gleichen Ansichten. Es läuft das fast auf die Betrachtung der Formel hinaus, ob das N.T. eine Einheit sei oder eine Vielheit; man braucht es nur auf diese Form zu bringen, um zu sagen, daß weder ausschließend das Eine noch das Andre behauptet werden kann. Allerdings werden wir sagen müßen, daß was Haupt-Gedanke im N.T. ist, auf die Identität der Schule hinausläuft. Es findet hier eine Analogie statt mit der socratischen Schule, wo der Meister auch nichts schriftliches hinterlassen hat, seine Meinungen durch seine Schüler nur bekannt sind, die aber nach seinem Tode die öffentliche Meinung als ein zusammengehöriges Ganze erkannte. Ebenso waren die Jünger mit Christo verbunden, nur daß nach seinem Tode die Gesellschaft viel bestimmter den Charakter der Gemeinheit annahm. Dort war nur mehr eine Ableitung aus derselben Quelle. Nun ist es Niemand eingefallen, die Eigenthümlichkeit der Sokratiker zu bezweifeln, ebenso wenig die Gemeinsamkeit, die sie von ihrem Lehrer genommen. Im N.T. muß noch mehr Gewicht gelegt werden auf diese Zusammengehörigkeit, weil die Gesellschaft Christi sich nicht gleich in der ersten Generation nach ihm spaltete, wie die Sokratiker in mehrere Partheien. Diesen Grund wird die philologische Ansicht etwas zurückstellen. – Dagegen die andere Ansicht, die die Eigenthümlichkeit ganz will zurücktreten lassen, ist im Gegensatz mit einer Theorie im N.T. des Apostels Paulus im CorintherBrief, wo die Einheit des Geistes zu der Verschiedenheit seiner Gaben dargestellt wird. Diese Ansicht wird also durch etwas aus ihrem eigenen Gebiet geschwächt. – Wenn nun beide müßen verbunden werden, so kommt es nun auch auf das Verhältniß an, in dem dies der Fall sein kann. Wir werden uns müßen alle möglichen Fälle denken. Eine absolute Durchdringung 34 Kj in
33–34 Siehe 1. Korintherbrief 12, 4.
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gleichmäßig im ganzen N.T. wird sich nicht denken laßen, sonst müßten auch keine scheinbaren Widersprüche in den verschiednen Aussprüchen der versch NeuTestamentischen Schriftsteller vorkommen. Das hinweggenommen läßt sich 2erlei denken, eine Unterordnung des Einen unter den Andern, und eine verschiedne Art bei den verschiednen Schriftstellern. Gehn wir von der philologischen Ansicht aus, und verlangen, diese solle eingestehn, daß die Zusammengehörigkeit der NeuTestamentischen Gedanken größer und stärker sei als die in der socratischen Schule. Das liegt durch die Geschichte ausgesprochen. Nehmen wir dazu, daß viele Schüler des Socrates sich nachher mit Gegenständen beschäftigten, mit denen sich Socrates notorisch nicht beschäftigte, so ist keine Sicherheit da, daß sie sie so behandelten, wie er sie würde behandelt haben, da mit seinem Typus vielleicht die Vernachläßigung dieser Gegenstände zusammenhing. Etwas ähnliches ist bei den NeuTestamentischen Schriftstellern nicht. Viele Theologen haben zwar aufgestellt, Christus beschränkte sich in seiner Wirksamkeit auf sein Volk, und wollte nicht, daß sie sich auf etwas Anderes verbreitete; wenn seine Schüler auch das Evangelium den Heiden verkündigten, so kann man nicht wissen, ob das seiner Absicht gemäß gewesen sei. Exegetisch möchte sich aus keiner NeuTestamentischen Stelle hiergegen etwas sagen laßen, denn die Stelle Matthäus 28, 19 kann auch heißen, sie sollten zu denen unter allen Völkern zerstreuten Juden gehn. sowie man dies setzt, setzt man auch gleich eine schwächere Zusammengehörigkeit der Schüler Christi zu einander und zu ihm. Urtheilen wir aber unbefangen, so finden wir keine fremde Kraft, die auf die Jünger sollte gewirkt haben, und man kann keinen fremden Impuls construiren, als den von Christo aus. Wenngleich Paulus, der nicht in persönlichem Verhältniß zu Christus gestanden, zuerst die Theorie aufstellte, den Heiden das Evangelium zu verkünden, so spricht doch das Anerkennen desselben durch die übrigen Apostel sehr dafür, daß das Auftrag Christi war, der nur entfernter war, und man deshalb wegen seines plötzlichen Erscheinens überrascht wurde. Das Nachgeben des Impulses zeugt, daß man das für den Willen und Befehl Christi hielt. Wie steht es nun um das andre Element, die Eigenthümlichkeit? Man braucht sich nur an die Schriften selbst zu halten, um den Eindruck zu bekommen, daß diese müßen sehr verschieden angenommen werden. Gehn wir auf unsere Analogie zurück, so ging da die persönliche Eigenthümlichkeit so weit, den unmittelbaren Zusammenhang mit dem Lehrer aufzugeben. Im N.T. bleibt der Einfluß Christi das überwiegende. Stellen 5 den Andern] oder das Andre
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wir eine Vergleichung beider Schulen an, so müßen wir sagen, das Übergewicht des centri über die Persönlichkeit war in der Schule Christi größer als in der sokratischen. Die Abhängigkeit von Lebens-Punkten also größer. In dem, was ich hier gesagt, liegt keine Begünstigung irgend einer Ansicht über das N.T. Die philologische Ansicht wird das rein aus dem N.T. heraus zugeben müßen. Wenn die philologische Ansicht das verkennen wollte, würde sie das Christenthum selbst aufheben; denn war die Abhängigkeit von Christo geringer als in dem andern Beispiel, und träte das Vaterländische und das Eigenthümliche mehr hervor, so müßte das Christenthum in seiner Erscheinung geringer sein als die sokratische Schule; diese kamen aber bald in seine Opposition, daß sie sich partiell aufhoben. Mithin müßte die Einheit des Christenthums bloß Schein sein, das wahre Wesen in der Differenz bestehn, das hieße aber das Christenthum aufheben. Die dogmatische Ansicht wird als eine NeuTestamentische Theorie also auch eine Persönlichkeit zugeben müßen. Es fragt sich nur, wie weit das gehn wird. Wenn die Persönlichkeit Organ des heiligen Geistes wird, so muß sie es auch auf beiden Seiten, sowohl in der Receptivität als Productivität; es muß also auch schon eine verschiedene AuffassungsWeise Christi statt gefunden haben, freilich nach Maaßgabe ihrer Bildung. Man wird nicht behaupten können, die NeuTestamentischen Schriftsteller verstanden zu haben, wenn ihre Aussprüche über denselben Gegenstand durch die Auslegung als gleich erscheinen. Das müßen wir als Aufgabe stellen; aber wir müßen gestehn, das Material ist uns sehr spärlich zugemessen, um die Aufgabe vollkommen zu lösen, da wir von mehreren dieser NeuTestamentischen Schriftsteller fast keine Nachricht haben, bei Andern die Differenz in diesen Schriften weniger hervortritt, als sie im Leben hervortrat. Diese Aufgabe läßt sich also nicht auf eine vollständige Weise lösen. Es werden aber ein Paar Maximen aus der Aufgabe selbst folgen: [Daß,] wenn verschiedne NeuTestamentische Schriftsteller sich desselben Ausdrucks über gewisse Gegenstände bedienen, daraus nicht gefolgert werden kann, [1)] daß sie dasselbe dabei gedacht haben; da die Klarheit in Beziehung auf die Bedeutung des Ausdrucks (quantitativ) und ihr Verhältniß zu einander (qualitativ) nicht kann dasselbe gewesen sein. Eine Differenz müßen wir uns also hier vorbehalten. 2) [daß,] wenn die Schriftsteller in verschiedenen Ausdrücken redeten, ihre
2 über die] oder oder der 2 wohl die Persönlichkeit der Jünger
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Gedanken nicht sollten dieselben gewesen sein, da die Abhängigkeit von gemeinschaftlichen ÐMittheilungenÑ alles überwog. Also die Aufgabe, die Übereinstimmung nachzuweisen. Ehe wir weiter gehn, hier noch eine besondere Betrachtung, von großer Wichtigkeit für das Geschäft der NeuTestamentischen Auslegung, da sie erst ihren Zweck aufschließt. Das, wovon die philologische Ansicht ausgeht, ist das Verstehn der einzelnen Schriftsteller, das erschöpft aber nicht den Zweck des N.T. Man muß das hinzu nehmen, wovon die überwiegend dogmatische Ansicht ausgeht. Der Zweck der Beschäftigung mit dem N.T. zum Behuf einer richtigen Leitung der christlichen Kirche, ist nicht das Verstehn der NeuTestamentischen Schriftsteller an sich, sondern ihr Verstehn, sofern sie wirklich Organe des göttlichen Geistes waren, ihre Aussprüche also nothwendig zusammengehören. Erst aus der Zusammenfügung werden wir die Kraft des göttlichen Geistes in der Darstellung des Gegenstands kennenlernen. Dieser besondere Zweck kommt für den Theologen besonders hinzu, wozu aber das richtige philologische Verständniß die nöthige Grundlage ist. Es kann das erst geschehn, wenn man die verschiednen Schriftsteller in ihren Eigenthümlichkeiten, und jeden Gedanken in seinem Zusammenhang verstanden hat, ganz wie in jedem andern Complexus von Schriften. Erst nachdem das geleistet ist, kann das Andre hinzukommen; sich eine Zusammenstellung der NeuTestamentischen Vorstellungen über alle Gegenstände zu bilden. Die dogmatische Methode der Interpretation stellt eine entgegengesetzte Regel auf, die einzelnen Stellen zu erklären nach der Analogie des Glaubens; denn wo soll diese zunächst hergenommen werden als aus den NeuTestamentischen Schriften selbst; man soll das, was das oberflächliche Verständniß sämmtlicher Schriften ist zum Grunde legen bei der genauen Erklärung des Einzelnen. Es ist ferner aufgestellt worden, daß Stellen, die dieselben Ausdrücke haben, doch einen verschiednen Sinn geben können. Diese Regel ist nichts andres als eine Zurückweisung auf die Erklärung der einzelnen Schriften; denn die dogmatische Zusammenstellung der Stellen von gleichem Inhalt ist nichts als das Bestreben, sie aus dem Zusammenhang zu vereinzeln und das Gleichklingende zusammenzustellen. Dagegen spricht ein früherer Satz, daß eine Stelle nur aus ihrem Ganzen Zusammenhang heraus richtig verstanden werden kann. Wenn z. B. etwas über den Tod Christi, worin die Opferidee liegt, an solcher Stelle vorkommt, wo eine Vergleichung des Alten und Neuen Testaments zum Grunde liegt, und an einer Stelle, wo das nicht ist, so ist der Inhalt nicht gleich, wenn auch der Ausdruk gleich ist. In der ersten Stelle ist es eine Comparation; in der
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Stelle der 2ten Art müßte man erst nachweisen, daß eine solche Vergleichung zum Grunde gelegen habe. – Aus demselben Fundament geht die andre Cautele hervor: daß nehmlich Stellen von verschiednem Ausdruck, doch denselben Inhalt haben können; denn wenn ein Schriftsteller von einem andern Punkt ausgeht, muß er auf verschiedene Ausdrücke kommen. Die Verschiedenheit des Ausdrucks kann a priori noch nicht die Verschiedenheit des Sinnes beweisen. Es kommt auf die Bestimmung aus dem ganzen Zusammenhang an. Daraus entwickelt sich noch eine 3te Regel, daß man nicht Stellen, wo ein Gegenstand ex professo (didaktisch) behandelt wird, und wo das gelegentlich geschieht, nicht als gleich ansehn kann, zur Begründung einer solchen comparativen Aufstellung. Im ersten Fall hebt der Verfasser alles Wichtige bloß heraus, im andern Fall will er nicht belehren, setzt das Ganze als bekannt voraus, und hebt nur eins heraus, das aber durch die besondere Anwendung ein besonderes Colorit haben kann. So die Stellen, die didaktisch die ausgezeichnete Würde Christi behandeln, und andre die sie behandeln, um eine Folgerung für die Christen daraus zu ziehn (Philipper), offenbar sind die letztern, um die Doctrin festzustellen, von ganz untergeordneter Art. Es giebt in didaktischen und historischen Schriften des N.T. Stellen und Regionen von verschiednem Charakter. Die Einen bilden den Kern, da ist das didaktische schärfer, andre den Eingang, Schluß, Nebengedanken; da ist der didactische Charakter weniger streng, es tritt das Rhetorische hervor. Offenbar thäte man Unrecht die Stellen gleich anzusehen in Beziehung auf die Bestimmung der Doctrin. Denn der rhetorische Charakter giebt das Recht, einseitig hervorzuheben, was den rhetorischen Charakter erhöht, also quantitativ verschieden, und die Ausdrüke nach dem Wohlklang zu wählen, wodurch leicht eine Differenz in Beziehung auf den Inhalt hervortreten kann. Nun setzt aber die richtige Beurtheilung dieser Verhältniße die vollständige Interpretation der heiligen Schrift voraus, und zwar auch besonders die mehr technische, weil daraus die Klassifikation der verschiednen Stellen hervorgeht. Was auf diese Weise gewonnen wird, ist im weiteren Sinn: biblische Dogmatik, die nur auf dem Wege der vollkommenen Interpretation erlangt werden kann; im engeren Sinn ist es, was die dogmatische Methode der Interpretation die Analogie des Glaubens nennt. Es pflegt dann die Sache so gestellt zu werden: die Analogie des Glaubens enthält die Vor-
9 Regel] Regeln 16–17 Vgl. Philipperbrief 2, 5–11
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stellungen über diejenigen Theile und Gegenstände des Glaubens, die aus den klarsten Stellen der heiligen Schrift mit der größten Bestimmtheit hervorgehn. Daraus glaubt man diese mehr zur Erklärung dunkler Stellen benutzen zu können, als die vorwaltende Totalität im Zusammenhang. Wie soll ich nun aber erkennen, welches die klarsten Stellen sind. Die Meinung ist: solche Stellen sollen als Parallelen zusammengestellt, und wenn sie alsdann nur eine Erklärung zu geben scheinen, als klare Stellen betrachtet werden. Ich kann aber erst aus dem Zusammenhang heraus die vollkommene Klarheit der Stelle bestimmen. Der Begriff selbst von einer solchen Analogie des Glaubens ist an sich nicht falsch; sondern das was wir darstellten, daß eine Zusammengehörigkeit der NeuTestamentischen Ideen und eine Harmonie derselben es geben müße, weil es eine gemeinschaftliche ÐMittheilungÑ geben müße, aus der heraus sie erklärt werden, und eine gleiche Entstehung derselben. Lassen Sie uns nun die verschiedenen Fälle betrachten, die dabei vorkommen können. Dazu jedoch werden wir darauf eingehn müßen, ob diese 2te Beschäftigung, die Analogie aufzustellen, dem N.T. besonders eigenthümlich ist. Das ist es nicht. es giebt in der socratischen Schule etwas ähnliches; wollte ich z. B. den Gegenstand wissen, worauf sich der Unterricht des Socrates wird erstrekt haben, so würde ich alle Schriften seiner Schüler zusammentragen müßen; nur müßte ich viel bestimmter hier unterscheiden, was eigne Vorstellungen der Schüler und Lehren des Socrates sind, als bei den Schülern Christi, wo ich nur zu unterscheiden brauche, welche Vorstellungen von den Lehren Christi wohl eigentlich durchdrungen waren, und welche noch aus ihrer früheren VorstellungsWeise herrührten. Ebenso wenn man in Bezug auf die socratischen Schüler wissen wollte, welches ihre eigenthümliche Vorstellungs-Weise war, ehe die Männer Schüler des Socrates wurden. Etwas Ähnliches wird auf allen Gebieten vorkommen, Verschiedenheit im Einzelnen, bei einer großen Übereinstimmung im Wesentlichen. Als eine ganz eigenthümliche Aufgabe haben wir die Sache also nicht anzusehn, sondern stehn auf gemeinschaftlichem Boden. Welches sind nun die verschiedenen Fälle, die hier vorkommen können? Wenn man alle Stellen, wo von demselben Gegenstand gehandelt wird, nach den gegebenen Regeln richtig abschätzt, so wäre es möglich, daß sie sich auf eines reduciren ließen, und wir eine Reihe von Sätzen in wissenschaftlicher Form aufstellen könnten, die sich auf alle diese Stellen, wenngleich sie verschieden scheinen, zurückbeziehn 13 der] dem oder denen 16 Dazu] unsichere Lesung; vom Schreiber korrigiert 26–27 Schüler] Schulen 37 scheinen,] folgt sich
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laßen. Diese Zusammengehörigkeit ist nicht zu erwarten, weil kein NeuTestamentischer Schriftsteller seinen Gegenstand erschöpfend behandelt hat, 2) weil mehr oder weniger die persönliche Eigenthümlichkeit im Auffassen und Darstellen Differenzen hervorbringen würde. Darauf müßen wir also gefaßt sein, daß über einen gleichen Gegenstand die verschiedenen Schriftsteller freilich jeder gleiches aussagt mit den Andern, aber auch verschiedenes. Nun käme es also darauf [an], ob sich das Verschiedne in Zusammenstimmung bringen läßt. Hier wird also die cumulative Erklärung anzuwenden sein, die wir bei der ersten Beschäftigung verwerfen mußten; sie hieß nehmlich, wenn eine Stelle nach allen Seiten hin beleuchtet mehrere Erklärungen zuläßt, so muß man sie alle vereinigen, wenn sie sich nicht widersprechen. Ganz anders heißt sie hier: Was der eine Schriftsteller über diesen Gegenstand sagt, muß ebensosehr christliche Lehre sein, als was der Andre davon behauptet. Wenn nun aber Verschiedenheiten vorkommen, die sich nicht vereinigen laßen, so kann das nur das Document ihrer persönlichen Verschiedenheit sein, was sich nicht vereinigen läßt, eben weil der Eine nicht der ist, der der Andre ist. Gewöhnlich ist man aber anders dabei verfahren, indem man eine Klassifikation der NeuTestamentischen Schriftsteller machte, die meist nach der proto- oder deutero-canonischen Autorität geschah. Das ist aber etwas ganz anderes. Man kann nur eine solche Unterordnung machen, als sich in einem Schriftsteller ein geringeres Vermögen zur schriftlichen Darstellung zeigt als in dem andern. Doch auch das kann nur mit großer Behutsamkeit gemacht werden, und nur in Beziehung auf diesen einzelnen Fall. Fragen wir nun weiter, was werden die verschiedenen Persönlichkeiten für einen Einfluß haben auf das, was wir Analogie des Glaubens nennen? Die Übereinstimmung hat ihre Grenzen, und es giebt gewisse Regionen wo eine Differenz eintritt. Sehn wir nun auf die normale Dignität der heiligen Schrift, so wird folgen, daß diese Differenz mit zur normalen Dignität gehört. Lassen Sie uns nun die bloße Annahme mal in die Wirklichkeit verwandeln. Gäbe es Stellen, die die wirklich gleichen Gegenstände behandeln, aber vollkommen Entgegengesetztes aussagen, so läge dieser Gegenstand ganz in der Differenz, und es gehörte nicht zum Wesen des Christenthums, etwas darüber festzusetzen. Bleibt wenigstens etwas Übereinstimmendes, so ist das das Feststehende. Gesetzt es gäbe im N.T. Bestimmungen über die Würde Christi, die vollkommen athanasianisch, und andre, die ebionitisch (d. h. daß Christus seiner Geburt nach allen andern Menschen gleich wäre) wären, so gehörte die 19 meist] folgt geschah
31 verwandeln] verwandelt
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Lehre von der Würde Christi nicht zum Wesen des Christenthums. Wäre aber nur ein Unterschied von Mehr und Minder, so gehörte diese Vorstellung in das wesentlich christliche, aber es gäbe in der christlichen Kirche differente Arten sie zu verfassen. Was folgt daraus für das Verfahren? gewiß das. Wenn wir gesagt, daß die beiden gegensätzlichen Ansichten darin übereinstimmen, daß es einen Einfluß der persönlichen Eigenthümlichkeit auf die Auffassung und Darstellung geben muß, so wird eine Einseitigkeit im Verfahren sein, wenn man nur die Übereinstimmungen aufsucht; man muß auch die Differenzen aufsuchen, weil nur in beiden zugleich das Ganze ist, und dadurch erst [von] dem Complex von gleichzeitigen Vorstellungen der Jünger Christi die Rede ist. Und wenn überhaupt von einer solchen 2ten Operation außer der eigentlichen Auslegung die Rede sein soll, und das muß, sonst hätte der Begriff vom Canon keinen Sinn, wird der Gegenstand einseitig behandelt, wenn man nur die Analogie des Glaubens, nicht die Differenz desselben aufstellt. Und nun werden wir erst im Stande sein, die Theile, woraus diese Operation bestehn muß, zusammenzustellen und ihre Wichtigkeit abzuwägen. Die ganze Aufgabe der NeuTestamentischen Auslegung steht also so: Wir fangen an mit der Auslegung der einzelnen Schrift. Wie wir aber sagten, es sei ein wesentliches Hülfsmittel für die Auslegung eines Schriftstellers, wenn man die Schriften in der chronologischen Folge verfolgen kann, so wäre es von großer Wichtigkeit für die erste Operation zum Behuf der 2ten, wenn wir die chronologische Folge der NeuTestamentischen Schriften bestimmen könnten. Das ist eine Aufgabe der höhern Kritik. Es fragt sich hier nur, ob es von Bedeutung sein kann, die historischen und didactischen Schriften als ein Ganzes zusammenzufassen, und das Alter der Evangelien mit zu berüksichtigen. Da es bei der 2ten Operation nur auf die Bestimmung des religiösen Gehalts ankommt, und dieser in den historischen Schriften nur an einzelnen Punkten vorkommt, so werden, wenn die Äußerungen Christi buchstäblich enthalten sind, diese voranzustellen sein. Wenn wir aber Ursache hätten zu glauben, daß die Referenten von dem Ihrigen hier hineingetragen hätten, so kann es wohl sein, daß die Episteln früher sind als manche Evangelien, und die Evangelisten auf Äußerungen der Apostel Rücksicht genommen hätten. Das ist aber selbst auch etwas Streitiges, jeder kann deshalb nur nach seiner Hypothese in Beziehung auf diesen Punkt handeln.
29–30 dieser] oder diese
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2) Sehn wir auf die didactischen Schriften, so wird es weniger darauf ankommen, ÐobÑ die Schriften wirklich denen zuzuschreiben, denen sie beigelegt werden. Die Frage nach der chronologischen Folge dieser Schriften wird auch von verschiedener Bedeutung sein; hatten die Verfasser ein bestimmtes Verhältniß zu einander und eine Notiz von einander, so kann in den Einen Rücksicht genommen sein auf die Andern; ist das nicht der Fall, so kommt es bloß auf die chronologische Folge der Schriften jedes einzelnen Schriftstellers an. Aber auch hier sind wir auf dem Punkt genau bestimmen zu können, wie viel Bedeutung dieser Punkt der Aufgabe hat. Das Erste würde also sein, die Schriften jedes einzelnen Verfassers chronologisch zu bestimmen, und dann wenn nach innern und äußern Gründen ein näheres Verhältniß zwischen dem Einen und dem Andern, als mit einem Andern sich findet, die Schriften beider chronologisch zu bestimmen. Sehn wir wiederum auf beide Aufgaben zusammen, so gilt die Regel die wir von Vorn herein machten, daß dem genauern Verständniß des Einzelnen eine vorläufige Übersicht des Ganzen vorhergehn muß, um von dem Gebrauch der einzelnen Stellen zur Erklärung der Andern die rechte Anwendung zu machen, und wiederum Stellen andrer Schriftsteller des N.T. zur Erklärung dienen müßen, so wird besonders zum Behuf der 2ten Operation es nöthig sein, eine allgemeine Übersicht aller NeuTestamentischen Schriften zu haben. Dann folgte die Erklärung der einzelnen Schriften nach der möglichsten Vollkommenheit, die wir haben können. So wie wir eine aber ausgelegt haben, sind wir bei der 2ten besser dran, denn zum Behuf anderweitiger Erklärung sind wir mit dieser nun schon klarer. Dann aber wird es gut sein, gleich zu unterscheiden, was in einer NeuTestamentischen Schrift als Hauptgedanke, und was als Nebengedanke darin vorkam. Erst wenn diese Operation der Auslegung aller NeuTestamentischen Schriften vollendet wäre, könnte die 2te angehn, die Ausmittelung des Gleichen und Differenten in verschiedenen Schriftstellern, oder auch dasselbe zu verschiedenen Zeiten vorzunehmen, um zu sehn, was ist die Analogia fidei, und was ist die normale Differenz, die sich die Schüler Christi selbst zu[ge]standen, und sine ira et studio, und mit Vergessenheit alles Jetzigen muß das geschehn. Dann ist das Geschäft der Auslegung vollendet, wie es nun zur Grundlage aller theologischen Disciplinen dient. Es kommt aber nicht bloß darauf an, was zur Dogmatik gehört, sondern auch zur Sitte und Lehre, und zum Bestehn der Kirche in der Form einer Gemeinschaft, also die Prinzipien der Kirchen35 Auslegung] Aufslegung
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Verfassung, was in dieser Beziehung das Bleibende sein muß, und was das Veränderliche. Ich will hier noch eine Betrachtung hinzufügen, die auf das allgemeine hermeneutische Gebiet uns wieder zurückführt. Die Aufgabe stellt sich uns hier so, weil wir es mit einem Gegenstand von solchem Werthe für alles Künftige zu thun haben. Finden wir anderwärts auch etwas Ähnliches wir haben schon ein Analogon aufgestellt. Wir fanden einen Komplexus von philosophischen Schulen, die ein Ganzes ausmachten, weil der Anstoß von einem Menschen ausging. Giebt es nun eine Geschichte der Philosophie, so wird die 2te Operation höchst wichtig sein, das Gemeinschaftliche aller Sokratiker und ihre individuelle Verschiedenheit zu entwickeln. Die Sokratiker zerspalteten sich hernach in mehrere philosophische Schulen. Die griechische Nationalität in einer bestimmten Zeit ist aber eben eine solche Einheit und wenn auch keine persönliche, doch eine innere und allgemeine, sie veranlaßte auch in verschiedenen Schulen, wie die stoische und epicurische das Gemeinschaftliche und Verschiedne zusammenzustellen. Das läßt sich ebenso auf Alles übertragen, was nur ein Ganzes bildet. Es wird auch eine Geschichte geben des menschlichen Lebens überhaupt, der gesellschaftlichen Verfassung, des geselligen Lebens etc, und da entsteht wieder diese Aufgabe, alles zusammenzufassen, was an Schriften ein Zeitalter lieferte. Es ist das nicht etwas Eigenthümliches des N.T., und etwas aus seiner normalen Dignität Entstehendes, sondern etwas ganz Allgemeines. So erhalten wir nun observationes die Sprache betreffend, zur Charakteristik eines Schriftstellers, und ebensolche in Beziehung auf den Gegenstand. Fragen wir nun, wie sich diese zur Sprache verhalten, so wird die ganze Sprache aus solchen Gebieten bestehn, denn was sich am losesten, und am meisten der Betrachtung sich zu entziehn darstellt, der Verkehr im gemeinen Leben, das stellt sich oft am meisten dar. Nichts liegt also außer einer solchen Organisation. Auf der andern Seite sehn wir, wie die SprachKenntniß, sowohl die grammatische als lexicale, aus dem Resultat der hermeneutischen Interpretation besteht. Das erste wird sein die vollständigen indices über einen Schriftsteller, die die Gebrauchsweise über ein Wort werden angeben müßen. Aus diesen zusammengesetzt, indices über den Gebrauch der Sprache in gewissen Gebieten, Wörterbücher über die einzelnen Wissenschaften und Künste, philosophische, rhetorische, mathematische. In diesen kommt es dann besonders darauf an, diejenigen Ausdrücke, die in Hauptstellen in Beziehung auf den Gegenstand vorkommen, die solennen technischen Ausdrücke über den Gegenstand, und dann das allgemeine Verschleißen in dem unbestimmten SprachGebrauch
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darzustellen. Fragen wir nun, wie muß ein absolutes Wörterbuch aussehn, es muß aus beidem zusammengesetzt sein, und je mehr es so erscheint, als wenn es beides vor sich gehabt hätte, um so vollkommener wird es sein. Es hat also erst anzugeben, den Hauptsitz eines Worts, und dann die verwandten Beziehungen und Anwendungen auf andern Gebieten, und in allen diesen hätte es die Bedeutung des Worts historisch zu verfolgen. Denn die SprachKunde ist nur vollkommen, wenn sie chronologisch ist, und den Gebrauch der Wörter in verschiedenen Beziehungen unterscheidet. – Nun haben wir freilich gesehn, daß die Aufgabe eine so zusammengesetzte ist, daß die Interpretation die SprachKunde schon voraussetzte. Es muß also ein unvollkommenes Verstehn der Sprache vorangehn, das uns in den Stand setzt, das Verstehn des Schriftstellers zu beginnen, und je mehr sich das über die ganze Sprache verbreitet, um so mehr wird sich das vollkommene Verstehn der Sprache entwickeln. – Wenden wir das auf ausgestorbene Sprachen an, so fehlt es ganz an dieser ersten Voraussetzung eines unvollkommenen Verstehns der Sprache; denn das entsteht, wie sich im täglichen Leben die Sprache in die Menschen hineinbildet. Giebt es diesen täglichen Gebrauch nicht, wie soll da die SprachKunde im Menschen entstehn. Nun hat zwar die Aufgabe des de´chiffrirens eine gewisse Analogie damit, aber es laßen sich nur Regeln darüber aufstellen, wenn ich weiß, auf welche Sprache sich diese unbekannten Zeichen beziehn. Nun kommt aber doch die Aufgabe vor, aber nur in Beziehung auf ausgestorbne Sprachen, die in Verwandtschaft mit noch lebenden stehn. Das führt uns auf die weiteste Ausdehnung der Hermeneutik, die weiteste Ausdehnung der ParallelStellen, nehmlich aus den analogen Elementen verwandter Sprachen ErklärungsMittel zu nehmen für solche Sprachen, die nicht ganz aus sich selbst erklärt werden können. Das kommt besonders in Anwendung auf solche Sprachen, wo wenig Monumente uns noch übrig, oder zugänglich sind; sie hat also ihren Ort in den semitischen und andern orientalischen Sprachen. Das ist erst die vollendete SprachKunde, die das Eigenthümliche einer Sprache aus einem bestimmten Typus von Stamm-Sprachen erklärt. Betrachten wir die Sache in Beziehung auf die specielle Aufgabe, so habe ich zunächst nur Rücksicht genommen auf die NeuTestamentische Sprache; wie sie aber nicht zu verstehn ist ohne die AltTestamentische und andere ihr verwandten, so sehn wir, wie die NeuTestamentische Sprache abhängig ist von diesem weitesten aller ErklärungsMittel, dem aus verwandten Sprachen. Es ist aber nicht zu leugnen, daß hier eine 2fache Überhäufung geschehn ist, die man tadeln muß; nehmlich auf der einen Seite zuviel das N.T. aus dem He-
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bräischen erklären wollen, und 2) im Verständniß des Hebräischen selbst zu viel aus andern Sprachen hineinziehn wollen. Es kann hier aber keine Ausnahme von der allgemeinen Regel gemacht werden, die Erklärung werde sich jeder Zeit immer an das Nächste zu halten haben. Was aber einer andern Sprache angehört, ist das Fernste. Alles was innerhalb einer Sprache genommen, ist für die Erklärung einer einzelnen Stelle bei weitem näher, als was außer ihrem Umfang hergenommen ist. Doch leidet die Regel noch eine Beschränkung: Wenn ein Gegenstand theoretisch oder praktisch von einem Volk ist durchgearbeitet worden, und er kommt nun erst einem andern Volk zum Bewußtsein, so geht es bei jenem in die Schule; bildet sich freilich auch der Gegenstand in ihre Sprache hinein; aber je mehr das von solchen geschieht, die nicht Herrn ihrer Sprache vollkommen sind, wird das nach dem Typus jener Sprache geschehn, also entweder selbst SprachElemente aufnehmen, oder nach der VerbindungsWeise jenem nachbilden. Gewisse Regionen wird es also in einer Sprache geben, die mehr aus einer andern Sprache, als aus der eignen zu erklären sind. Diese Ausnahmen werden aber nur in technischen Gebieten vorkommen. So z. B. im nautischen Gebiet viele Ausdrücke aus der Sprache von KüstenVölkern genommen, deren Sprachen nicht mehr in Gebrauch sind. Abgesehn also davon, daß sich eine Sprache zu einem bestimmten Gebrauch etwas aus einer andern einimpft, also die Sprache in ihrer Organisation betrachtet, wird unser Kanon feststehen. Als aber nach dem Mittelalter das Bedürfniß entstand, das Hebräische kennen zu lernen, gab es keine andern Mittel, als mit Hülfe des Übersetzens (analog dem de´chiffriren), oder mit Hülfe andrer SprachDialekte (Arabisch). Der ungünstige Fall ist nun hier: Alles was vom Hebräischen noch übrig ist, ist im AltTestamentischen Kanon eingeschlossen, dessen SprachElemente zur Erklärung nicht immer hinreichen. Da zersprengte man die Kette, und nahm zu allen verwandten Sprachen seine Zuflucht, woraus denn bald eine Art von Liebhaberei entstand, die das Hebräische ganz übersah, und eine Menge von falschen und erkünstelten Erklärungen beförderte. Etwas Anderes ist es bei der Erklärung des N.T. aus dem hebräischen; da ist es nicht die Erklärung einer Sprache aus einer andern, sondern die Art, wie eine erlernte Sprache sich richtet nach der früher gesprochenen Muttersprache. Dasselbe wird überall der Fall sein, wo Einer in einer andern Sprache schreibt, zumal wenn er sie nicht im gemeinen Leben spricht. Ist die Sprache auf eine gelehrte Weise erlernt, so liegt darin zugleich, daß die Eigenthümlichkeiten ÐderselbenÑ aus einander gehalten werden. Ist sie aber nicht gelehrt erlernt, und findet kein täglicher Verkehr in dieser Sprache statt, so daß man darin denkt, so findet das Lesen
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und Sprechen einer solchen Sprache mit dem Denken in der Muttersprache statt. in diesem Verhältniß steht die NeuTestamentische Sprache zur hebräischen. Offenbar hat man das aber auch übertrieben, und es war für die NeuTestamentische Interpretation von großem Vortheil, daß die Gelehrten die Sache von dem entgegengesetzten Gesichtspunkt einmal 5 betrachteten. Nun aber Alles, was wir im grammatischen Theil der Interpretation aufstellen, was sich auf 2erlei zurükführen läßt, 1) auf die Frage, woher und in welchem Verhältniß sind die ErklärungsMittel zu nehmen, 2) welches sind die Verhältniße, wonach die Combination der Elemente eines 10 Satzes zu beurtheilen ist. Da wurden wir darauf geführt, daß sich das überall verschieden stellt, und der Grund davon sei das Eigenthümliche jedes Schriftstellers; wir werden also nun zur psychologischen Seite der Interpretation übergehn.
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Zweiter Theil. Psychologische oder technische Interpretation.
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Alles einzelne in einer Schrift sollte als zusammenhängende Thatsache des Bewußtseins erscheinen, also als Handlung des Redenden oder Schreibenden. Nun ist die erste Frage die, wie ist es überhaupt möglich, das innre factum der GedankenErzeugung, wie sie in Rede und Schrift heraustritt, zu verstehn. Offenbar tritt hier eine Identifikation des Einen und des 20 Andern ein, der Leser soll sich in den Schriftsteller versetzen, und ihm nachconstruiren. Was haben wir für data und Voraussetzungen, das zu bewerkstelligen. Hier wo wir eine Doktrin aufstellen, müßen wir das, was wir beständig, aber bewußtlos thun, auf eine bewußte Weise darlegen. Etwas Ähnliches thaten wir auch im ersten Theil, wo wir sagten, daß 25 Schriftsteller und Leser in derselben Sprache versiren müßten; jeder kommt aber doch auf eine andre Weise zu der Sprache, Alle verknüpfen nicht mit einem Worte denselben Begriff. (Es zeigt sich das besonders an Kindern, die sich aus einzelnen Beispielen falsche Analogien machen; das muß sich erst allmählig ausgleichen; aber weil es allmählig ist, so ist es 30 auch etwas unendliches). Hier in der GedankenErzeugung abstrahiren wir von den Identitäten der Sprache; betrachten die GedankenErzeugung als eine Function des Menschen, und fragen, ist sie in allen gleich oder nicht. Die Frage wird sich nicht einfach beantworten laßen; wir müßen 1 in] an 14 übergehn] am Rand; ferner eine Enddatierung: 22/12 26. darzulegen 32 Identitäten] Identitatäten
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bei großen Differenzen anfangen, um die Sache klar zu machen. Denken wir uns also den Prozeß des Vorstellens durch die Wahrnehmung geleitet. Wird dieser Prozeß in Allen wesentlich und nothwendig derselbe sein? wenn wir uns in Mehren, die dieselben Substrate für Eindrücke von Außen haben, vollendet denken, so daß ihre Vorstellungen die äußre gegebne Masse erschöpfen, so wird das Resultat auch dasselbe sein. Wenn ich aber die Wahrnehmung vor der Vollendung hemme, so wird das Resultat nicht dasselbe sein. Alle werden z. B. nicht in derselben Ordnung auffassen, es findet eine verschiedene Anziehung statt, und erst wenn Alles zusammen ist, wird in der Vorstellung Alles sein, was im Gegenstand ist, denn nun sind die Anziehungen gesättigt. Es giebt ferner kein Vorstellen als unter dem allgemeinen Begriff des Allgemeinen und Besonderen. Sind nun die Gegenstände ganz dieselben, und die auffassenden Organe auch, sind die allgemeinen Fachwerke von besonderen und allgemeinen Vorstellungen in Allen dieselben? wenn sie es sind so wird das Resultat dasselbe sein. In den Wörtern der Sprache, wozu Jeder auf eine besondre Weise kam, sind die allgemeinen und besondern Vorstellungen niedergelegt, und da diese also nicht gleich sind, so wird die Idee der Total-Vorstellung immer nur eine relative sein. Denken wir nun, es soll jemand die Wahrnehmung wiedergeben, was wird das vollständige Auffassen dieser Thatsache des Bewußtseins in sich enthalten. Wir müßen offenbar rückwärts zu Werk gehn, aus dem, was er in der Sprache ausdrückt, den SinnesEindruck nachbilden, und so die ganze Masse der Gegenstände, die auf ihn wirksam gewesen sind. Das ist ein Unendliches, und weil das nicht vollzogen werden kann, ist die Auflösung der Aufgabe nur in einer Approximation zu bewerkstelligen. Es ist nicht möglich, daß ein SinnesEindruck durch die Sprache vollkommen wiedergegeben werden kann. Beides ist irrational, da der Sinnes-Eindruck ein einfacher ist, die Sprache aber immer im Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem versirt, das Einfache also [nicht] wiedergiebt, außer in willkührlichen Bezeichnungen (Eigennamen). Dann aber wird auch dazu gehören, die Auffassung des Einen von der des Andern zu unterscheiden, denn nun verstehe ich es erst als Thatsache des Bewußtseins. Wir sehn also, die Identität des Prozesses ist, wo wir es mit etwas Objectivem zu thun haben, eine begrenzte relative, weil eben die Eigenthümlichkeit der Combinations-Weise mit im Spiele ist. Es ist aber nicht bloß das, sondern wenn wir darauf sehn, daß
33 Prozesses] Prozesses, 14 Fachwerk hier im Sinne von ,Regal‘, Einteilung
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der Total-Eindruk ein unendlicher ist, so ist die Aufgabe die sich Einer in Beziehung auf das Wiedergeben steckt, nicht eine absolute, sondern eine endliche, nehmlich durch das, was er sagt, das nicht Gesagte mit zu verstehn. Diese Aufgabe werden aber Alle auch nicht auf gleiche Weise lösen, weil die Schätzungs-Weise eine verschiedene ist, jeder nur sein Hauptsächliches heraushebt. Denken wir nun den Prozeß in einer andern Richtung, in einer Entwicklung von Vorstellungen, die nicht auf solch äußerliche Weise bedingt sind, so wird die Eigenthümlichkeit noch mehr hervortreten. Haben z. B. Mehrere über irgend etwas eine und dieselbe Überzeugung, so daß eine Identität des Denkens in ihnen ist, und sie sollen die Überzeugung mit Gründen entwickeln, so wird gewiß bei Zweien nicht dasselbe herauskommen, weil in jedem die Überzeugung eine andre geworden ist, wie die Sprache. Es wird also besonders auf 2erlei ankommen. Sofern der Prozeß ein identischer ist, in mir der verstehn soll, und dem, der geredet hat, wird sich die Sache selbst offenbaren, und ich brauche nur meiner Erfahrung nachzugehn. Wo das aber nicht ist, wird es eines kunstgerechten Verfahrens bedürfen, einer Methode, um diese Differenz auszugleichen. 2) Da es sich schon aus der aller allgemeinsten Übersicht der Sache ergiebt, daß das Verhältniß von Identität und Differenz in verschiedenen Richtungen ein verschiedenes ist, werden wir die Methoden auf diese Klassifikation der Differenzen anwenden müßen. – Nun noch eine vorläufige Betrachtung ehe wir zur Sache selbst gehen. Wir haben die Aufgabe gestellt, eine gegebene Rede oder Schrift, als Thatsache des Bewußtseins, als geistige Handlung des Angehörigen zu verstehn. Nun ist aber jeder Gedanke eine solche Handlung, die Schrift besteht also aus einer Mannigfaltigkeit von Handlungen. Wir nennen deshalb eine vorliegende Rede oder Schrift ein Werk; obwohl wir es mehr von der Schrift sagen, als einer mehr festzuhaltenden äußern Erscheinung. Wenn wir aber die Gedanken vergleichen mit dem ganzen fortlaufenden Prozeß des Denkens, so ist diese Einheit auch eine relative, und von verschiedenen Fällen aus eine verschiedene. Soll ich die Rede verstehn als Darstellung des Zustands des Verfassers, so ist der Zustand der Denkfunktionen des Verfassers, nicht ein so abgeschlossner gewesen wie die Schrift. Abgesehn davon, daß die Rede kein continuum war, so hat er manches gedacht, was in die Rede nicht hineinkam. Es wird aber niemand leugnen, daß das mit darauf gewirkt hat, daß ich aber die Rede erst vollkommen verstehe, wenn ich das andre mit hinzudenken kann. Denken wir nur, daß sich Einem verschiedene Arten 25 Des Angehörigen, also dessen, dem die Rede als sein Eigentum angehört; mithin der Redende oder Schreibende.
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darstellen, einen Gedanken ausdrücken zu können, und er schreibt eine hin, streicht sie aus, und wählt eine andre; so werde ich seinen ganzen Gedanken nicht verstehn, wenn ich das nicht mit verstehn kann. Ebenso werde ich das Werk nicht verstehn, wenn ich nicht das mit verstehe, was vorher im Denkprozeß des Schriftstellers war. Wegen dieser Verwandtschaft und wahren Einwirkung dessen, was nicht Werk ist, aber im Denkprozeß des Schriftstellers entweder gleichzeitig oder vorhergehend, wird das Werk nie eine wahre Einheit bilden, sondern in verschiedenen Beziehungen eine verschiedene. Wenn eine Schrift als inneres Werk der denkenden function nie eine vollkommene Einheit bildet, so ergiebt sich dasselbe, wenn man es rein objectiv auffaßt. So das homerische Epos. Eine mit großen Erzählungen durchflochtene Pindarische Ode bildet eine bei weitem strengere Einheit. Wir werden nun weiter gehn können, und Werke unterscheiden können, die viel digressionen haben, und solche, die das streng ausscheiden. Das hängt bald am Charakter der Gattung, bald am Charakter des Autors. Kurz überall giebt sich das Fließende und Schwankende der Einheit zu erkennen. Wir können das auf etwas schon bewährtes zurückführen. Neben einer praedeterminirten GedankenReihe kann eine andre unwillkührlich erzeugte entstehn und nebenher laufen. Sie kann nun durch die andre ganz verschmäht werden, oder ihr etwas mittheilen, und dann viel oder wenig. Aber wenn sie auch von jener ganz verschmäht wird, so wird doch jene einen Anstrich davon bekommen. Je mehr von dieser Gedanken-Reihe mit hervortritt, um so mehr muß man beide trennen, und jeder sich vollkommen bewußt werden. Fügen wir noch eine Betrachtung hinzu: Wenn wir mit einander vergleichen die schriftlichen Produktionen verschiedener Sprachen und Völker, finden wir daß jede unter sich einen gemeinschaftlichen Typus hat, und in jeder Litteratur die Erzeugniße der Gedanken sich unter gewisse Formen subsummiren laßen. Nun wird doch niemand behaupten wollen, daß das Verhältniß ein zufälliges wäre, und wenn man das nicht thut, muß man gestehn, es ist in den Schriftstellern jeder Nation ein gemeinschaftlicher Charakter, dem sich jeder unterordnet; und wenn sich Einer davon entfernt, so denkt Jeder gleich, es ist eine Nachahmung von etwas, was anderwärts vorkommt, oder es ist eine Ausnahme von der Regel, aber nur einer hohen ausgezeichneten Vortrefflichkeit wird man diese Entfernung vom Nationalen verzeihn. Wir modernen Völker befinden uns in einer besondern Lage. Unsere Litteratur würde nicht eine 13 durchflochtene] durchpflochtene
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solche geworden sein, wenn sie sich aus dem ursprünglichen Nationalen entwickelt hätte, und nicht mit der klassischen Litteratur zusammengekommen wäre. Da haben wir also 2erlei, das Gemeinschaftliche der Form, und das persönlich Eigenthümliche des einzelnen Schriftstellers. Die ganze Seite unserer Aufgabe läßt sich nur aus beiden Punkten zugleich begreifen. Die persönliche Eigenthümlichkeit kann nur wirken unter der gegebenen Form, und das gegebene Prinzip kann nur ins Leben gerufen werden durch die persönliche Eigenthümlichkeit, und je mehr sich beides durchdringt, um so mehr ist auf das Werk zu achten. Fehlt die Eigenthümlichkeit in einem Werk, also die aufgeregte Denkfunktion, so erscheint das Werk leer, höchstens die Form könnte noch Interesse erregen. Weicht aber die persönliche Eigenthümlichkeit von der bestehenden Form ab, so wird das Verständniß erschwert, es erscheint alles Einzelne in seiner Verknüpfung als zufällig und eben deshalb unverständlich. Es ist überall in der Funktion des Denkens ein Gemeinsames und ein Eigenthümliches, und wenn in dem Gemeinsamen die ganze repräsentation der Welt liegt, so werden wir sagen können, was schon die Alten sagten: daß alle Menschen in einer gemeinsamen Welt leben, dann aber jeder auch seine besondre hat. Jeder findet sich also in einem Gemeinsamen, und auf dasselbe wirkend. Das Gemeinsame sind die Formen, aber die eigenthümliche Combination ist das, worin sich die Freiheit des Einzelnen und sein eigenthümliches Leben abbildet. Nun dürfen wir beim Geschäft der Interpretation nie von der nationalen Einheit absehen, und also auch nicht von der Form, die sie hervorbrachte. Sehn wir aber rein auf die eigenthümliche CombinationsWeise, so haben wir es da mit der einzelnen Persönlichkeit zu thun, also mit der Zerfallenheit der menschlichen Natur in die unendliche Menge dieser Einzelwesen. – Unser Ausdruck, technische Interpretation weißt zurück auf die Erklärung des Zusammenhangs aus der Form; die Formen zusammengenommen bilden den ganzen Typus der rednerischen Darstellung und da muß jedes Einzelne aus dieser Form begriffen werden. Vermöge des Zusammenhangs aber im Urheber ist jedes die Darstellung seiner eigenthümlichen GedankenProduktion und Combination, und es gehört ebenso wesentlich zu unserer Aufgabe, die ganze Produktion hieraus zu verstehn. Hier kommen wir also freilich zu der Einsicht, daß die Lösung dieser Seite der Aufgabe durch besondere Kenntniße bedingt ist, die wir aber voraussetzen müßen aus einem andern Gebiet, wie wir bei der andern Seite die Grammatik voraussetzten. So müßen wir zurükgehn hier auf die Psychologie, d. h. Auf die Kenntniß der Art und Weise, wie die Funktionen des Geistes in diesem Leben erscheinen, und da haben wir es zunächst
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mit der Funktion des Denkens zu thun. Das Denken müßen wir aber nicht anders beurtheilen, als indem es sich durch die Rede uns mittheilt. Die Psychologie beruht also wieder auf der Interpretation. Ebenso werden wir auf der andern Seite zurükgeführt auf das richtige Verstehn der Formen, in denen sich die Eigenthümlichkeit bewegt. Zu dieser Kenntniß gelangen wir auch nur durch die Kunstwerke selbst, also durch eine von der Idee geleitete Beobachtung. Das setzt aber wieder das Verstehn des Kunst-Werks voraus; das also, was wir Ästhetik nennen, beruht theils auf der Interpretation, theils die Interpretation auf ihr. Wenn ich diese Kenntniß nicht mitbringe, so weiß ich nicht, was vom Werk des Verfassers beruht auf seinem Gebundensein durch die Form, und was bedingt ist durch seine Eigenthümlichkeit. Nun lassen Sie mich noch eine Bemerkung voranschicken, wie diese Seite der Aufgabe sich zu den verwandten disciplinen stellt. Wir stellten als eine Trias zusammen, die Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Wenn in der ersten Seite das Verhältniß der Hermeneutik zur Grammatik hervortrat, so hier ihr Verhältniß zur Kritik. Denn das letzte Resultat unserer Aufgabe hier wird sein, eine richtige Kenntniß von dem Verhältniß in welchem das einzelne Werk zu seiner Gattung steht. Das ist aber ebenfalls Kritik, die Kritik in Beziehung auf das Kunstmäßige, und die Beurtheilung der einzelnen Werke nach diesen Prinzipien. Auf der andern Seite ist es die Eigenthümlichkeit im Geschäft der production betrachtet. Denn wenn etwas streitiges vorkommt, ob in einem Werk etwas von Anfang an stand, oder ob das Werk einem Verfasser soll zugeschrieben werden, woraus soll das beurtheilt werden, als aus der vollständigen Kenntniß der persönlichen Eigenthümlichkeit. Wir sind also bei dem Theil der Hermeneutik, der die Grundlage bildet für die verschiedenen Aufgaben der Kritik. Nun ist schon gesagt, daß sich unsre Aufgabe in 2 Theile spaltet, in die Auffindung der Methoden, um den Zusammenhang des Einzelnen in Gedanken-Produktionen richtig zu fassen und in die Auffindung der Klassifikation in Beziehung auf Einheit eines Werks und Gehalt desselben in der Operation der Darstellung selbst. Wir werden uns also erst verständigen müßen, woher wir dazu gelangen, um dann zu sehen, mit welcher wir werden anzufangen haben. Fassen wir das Gesonderte noch einmal zusammen, so stellt sich die Aufgabe so: Wir sollen uns den Schriftsteller in diesem Verfahren denken, und ihm nachkonstruiren, so daß wir alles Einzelne aus dem Ganzen 6 Kenntniß] Kenntniße 29–30 um ... fassen] am Rand mit Verweiszeichen selbst] am Rand mit Verweiszeichen
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heraus verstehn; aber der Autor ist in diesem Verfahren durch den Charakter der Gattung gebunden. Die Thätigkeit des Geistes ist also das eigentliche agens, der Charakter der Gattung das Beschränkende; Jenes also mehr das positive, das das negative. Doch muß man sich den Charakter der Gattung nicht so äußerlich hinzukommend denken, der Autor will nichts anderes als in diesem Charakter produziren. Es ist also mehr ein Schein, daß der Charakter der Gattung als negativ anzusehn sei. Da entsteht ein Schwanken zwischen beiden Ansichten, und wir müßen uns fragen, was es mit dem zuerst zu bedeuten hat. Nun ging doch die Gattung erst durch das einzelne Werk hervor; vor dem ersten Werk dieser Art war der Typus des Charakters noch nicht da; der Charakter der Gattung war seiner Persönlichkeit untergeordnet. Sollen wir uns dem Ersten gegenüber ein Letztes denken, so muß das im Verfall der Litteratur und der persönlichen Eigenthümlichkeit sein, und dazu ist nöthig, daß in dem Einzelnen die Schwungkraft sich verlor. Dieses Letzte ist nun zu konstruiren als der Nachhall des Frühern; d. h. die individuelle GeistesThätigkeit muß gedacht werden untergeordnet dem Charakter der Gattung. Dieser regt die schwache GeistesThätigkeit die noch da ist, auf, sonst würde ein Solcher gar nichts produziren. Auf diese Weise haben wir ein entgegengesetztes Verhältniß der Coefficienten der geistigen Thätigkeit und des Charakters der Gattung; aber nicht ist das Verhältniß so, daß das Eine positiv und das Andre negativ wäre. Wenn wir uns aber die lebendige GeistesThätigkeit durch den Charakter der Gattung gebunden denken können, so entstand diese beschränkende Ansicht, und es fragt sich, wie es nun damit steht? Offenbar kann das nur wahr [sein] in einem bestimmten Verhältniß zwischen dem allgemeinen Typus und der einzelnen Thätigkeit. Der allgemeine Typus ist etwas nationales; je mehr das Einzelne in dem Nationalen aufgeht, um so weniger wird dieser Schein entstehn. Je weniger aber der Typus etwas positives ist, um so weniger wird das sein. Je weniger die Litteratur in einem Volk einen ganz bestimmten Gang geht, um so mehr muß das Volk in diesem Typus leben; je weniger das ist, um so eher wird das Andre entstehn. wenn also eine Litteratur nicht aus sich selbst [sich] entwickelt, sondern am Leitfaden einer Andern, so ist es eben nichts Natürliches, und da entsteht das Andre. Die Gattungs-Begriffe schweben uns deshalb als etwas äußerlich Gegebenes vor. Dasselbe wird auch auf eine andre Weise entstehn können. Wenn ein Volk einen Unterschied macht zwischen einem Zeitalter, das es 8 ein Schwanken] oder eine Schranke 32 ist] nicht 32 entstehn] entsteht
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als normal setzt, und allen übrigen, dann werden die Prinzipien des klassischen Zeitalters auch als äußerlich gegeben und beschränkend erscheinen (die französische Sprache). Das Verhältniß beider Motive zu einander ist ein ganz andres in dem einen und dem andern Fall, die hermeneutischen Regeln werden also auch in dem einen und dem andern Fall verschieden sein. Was entsteht also hier für eine Aufgabe, wenn unser Geschäft jedes mal nur das Verständniß einer einzelnen Schrift ist? offenbar ehe ich an das Geschäft gehe, muß ich eine Vorstellung haben vom Charakter der Litteratur zu welcher das Werk gehört, und von dem Verhältniß in welchem der Schriftsteller zum ganzen Gang der Litteratur steht. Das Erste wird die Regel geben dafür, ob ich den Charakter der Gattung als positiv mitwirkend oder beschränkend anzusehn habe, das Andre ob der Typus, oder das persönliche Eigenthümliche das dominirende ist. Da kommen wir immer wieder auf das Encyklische zurück, und wer das Geschäft von vorn anfangen sollte, müßte auf beiden Seiten zugleich anfangen. In dem Fall befindet sich aber Keiner, sondern das Traditionelle kommt hier jedem zur Hülfe. Die prolegomenen in der hermeneutischen Vorlesungen werden hier jeden dazu in den Stand setzen. Wiefern darin Falsches ist, wird der Einzelne auf einen falschen Weg geleitet werden können; aber es wird sich das bald in Widersprüchen zeigen. Nun werden wir uns noch auf eine allgemeine Weise verständigen müßen, was für einen Einfluß das auf die Sache hat; dazu wird gehören zu sehn, wo diese Begriffe von der stärksten Kraft in der Produktion selbst sind. Das wird offenbar in der Mitte sein, und die wird die sein, wo der Begriff wirklich ausgebildet ist, aber noch ganz lebendig, und das ist unstreitig in jeder Gattung der Punkt der höchsten Blüthe. Stellen wir uns auf diesen Punkt, und denken uns in verschiedene Litteraturen hinein, oder in derselben aber in verschiedenen Fächern; Also fassen wir einmal ganz allgemeine Gegensätze auf, der Orient und Occident; oder im Occident das Poe¨tische und streng Wissenschaftliche. so wie man da ins Einzelne gehn will mit Vorschriften über unser Verfahren, so werden die in jedem andre sein. Die Art, wie die Hauptgedanken sich aus einander entwickeln, und wie die Nebengedanken sie begleiten, wird in jedem eine andre sein, und das [ist] der Gegenstand der speciellen Hermeneutik, die eine besondere ist für jede Gattung. Darauf können wir uns nicht einlassen; wir werden also dabei stehn bleiben müßen, das auf eine allgemeine Weise geltend zu machen, so daß die Anwendung dem angemessen sei, was im Charakter der Gattung liegt.
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Wenn also die Aufgabe innerhalb dieser Grenzen steht, so denken wir also, für unsere allgemeine Untersuchung, es sei das von welcher Sprache und Litteratur es wolle, so sei die Vorstellung von den verschiedenen Gattungen gegeben. Wenn aber unsere Regeln noch eine Anwendung zulassen sollen, so können wir uns nicht in der absolutesten Allgemeinheit halten; also sagen, wie weit können wir den Zustand des Schriftstellers verfolgen, vorausgesetzt daß wir die verschiedenen Gattungen kennen, so daß wir die Anwendung machen können, und auch das Verschiedene noch verfolgen. Wir müßen also auf das Ursprüngliche zurükgehn, auf die geistige Thätigkeit des Einzelnen. Nun ist schon gesagt, daß unser ganzes Verfahren nur für die klassischen Sprachen gilt, und diejenigen, die sich im Zusammenhang mit ihnen entwickelten. Wenn wir nun fragen, ist ungeachtet der Verschiedenheit des Charakters, ein gleiches Maaß von geistiger Thätigkeit in den Schriftstellern? Differenzen werden wir gewiß annehmen müßen. Wir fanden schon den Unterschied von Haupt- und Neben-Gedanken; und es wird jeder zugeben, daß die GeistesThätigkeit in diesen Nebengedanken eine gleiche ist; denn sie ist eine unwillkührliche, und sie zusammen, oder etwas davon in die Haupt-GedankenReihe aufzunehmen, bedarf es einer eignen GeistesThätigkeit. Wie steht es nun mit den Haupt-Gedanken? Die Differenzen zwischen der Art von Gedanken-Verknüpfung, deren Maximum das streng Wissenschaftliche ist, und derjenigen Art, deren Maximum das Poe¨tische ist, tritt uns gleich in die Augen. Ich habe die Sache nicht schärfer fassen wollen, sondern nur im Allgemeinen 2 Hauptrichtungen angeben wollen. Man wird leicht zugeben, daß es kein drittes giebt, sondern nur etwas wie beides in einem Complex vorkommen kann, nur das Eine auf eine untergeordnete Weise. Das Verfahren in dem einen Gebiet ist nun so verschieden von dem im andern, daß man keine anwendbaren Regeln aufsstellen kann, wenn man auf diese Differenz keine Rücksicht nimmt. Da wir es aber mit dem Gesetz der Composition nicht zu thun haben, sondern nur mit dem des Verständnißes, so tritt die Differenz der Haupt- und Nebengedanken in beiden Gebieten als der Angelpunkt, um den sich das Ganze dreht, hervor. Wie nun unsere Aufgabe darin besteht 1) die Folge der Hauptgedanken genetisch zu übersehn, wozu also die Sonderung in die Nebengedanken gehört, und 2) nun durch das Verhältniß der Haupt- und Nebengedanken die persönliche Eigenthümlichkeit des Autors zu entwickeln, so müßen wir auf beide Punkte nun Rücksicht nehmen. Wenn wir uns das 18 lies: insgesamt
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ganze Gebiet der eigentlichen Prosa vorstellen, so ist das Wesentlichste darin einmal das Rhetorische, wo der Vortrag durch den äußeren Gegenstand, und das Didactische, wo er wesentlich durch einen innern Zusammenhang geleitet wird. Wir können beides den logischen Typus der Gedanken-Erzeugung nennen. Ich meine es so, daß auch beim Historischen die Auffassung und Darstellung des Gegenstands nach dem logischen Werth des Materials gemacht wird, so daß der Begriff am mehrsten hervortritt. Betrachten wir das Poe¨tische so finden wir einen andern Typus der Verknüpfung, den ich im Gegensatz gegen den logischen, am liebsten den phantastischen nennen möchte. ich meine es so, daß die äußeren Gegenstände die Hauptgegenstände des Historischen [sind], und die Art sie aufzufassen, ist etwas relativ Gemeinschaftliches. Im Didactischen hat man es, was das ÐLeitendeÑ betrifft, zwar nicht mit einem äußeren Gegenstand zu thun, aber die Thätigkeit der Denkfunktion ist eine solche, daß man auf allgemeine Regeln zurükgeht, also auch ein allgemeines gemeinschaftliches Verfahren. Im Poetischen giebt es nicht ein solches allgemeines, oben anstehendes, dem sich Alles unterordnete, sondern von der Willkühr der Phantasie geht Alles aus. – Lassen Sie uns noch eins hinzufügen. Betrachten wir den prosaischen Vortrag, so wird in seiner strengen wie in seiner laxern Form, doch der Begriff, sofern der Gegensatz zwischen dem Allgemeinen und Besondern seine dominirende Form ist, die Hauptsache sein; wogegen in der Poesie allerdings auch die Sprache das Element der Mittheilung ist, und diese drükt die Begriffe nur in jenem Sinn aus. Aber die Produktion in der Sprache hat weit mehr Analoges mit der Produktion in andern Künsten, ist also mehr nach der Seite des Bildens hin, als nach der Seite des strengen Begriffs hin thätig. Die Poe¨sie stellt also eine innere Bilder-Erzeugung dar, bald mehr das Plastische, bald mehr das Musikalische. Wir werden also sagen müßen auf der einen Seite: das Prinzip der Verknüpfung ist auf dem Gebiet der Prosa mehr gemeinsam, das Individuelle ihm untergeordnet, In der Poe¨sie umgekehrt. Was entsteht nun hieraus für ein Unterschied, in Beziehung auf unsre beiden Aufgaben? Auf der einen Seite dieser, daß wir in der Prosa das Gemeinsame können geltend machen, um was der persönlichen Eigenthümlichkeit angehört auszuscheiden. In dem didaktischen Vortrag z. B. können wir sagen, das Objective mußte bei Allen dasselbe sein, jenes konnte bei Jedem aber ein Anderes sein. In der Poesie ist das Eigenthümliche das Vorwaltende, das Gemeinsame nur das, was von jenem als Instrument gehandhabt wird. Das Eigenthümliche ist also weit schwerer 22 sein] ist
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festzustellen. 2) Sehn wir auf den Gegensatz von Haupt- und Nebengedanken, so wird in der Prosa der Gegensatz stärker gespannt sein, in der Poe¨sie wird er sich in einander verlieren. Die Gründe sind: Wenn wir uns einen denken in einer eigentlichen GedankenOperation, wo das Logische das vorherrschende ist, so liegt die Einheit außer seiner Eigenthümlichkeit, seien es die äußeren Gegenstände, oder die allgemeinen Regeln des Denkens, durch die er da gebunden ist. Sehn wir dagegen auf die unabsichtliche GedankenProduktion, so bestimmt da nichts Objectives, und der Unterschied fällt weg. Die Poetische GedankenProduktion verhält sich ganz wie die letztere unabsichtlich. Dazu kommt, in der GedankenProduktion die sich mit dem strengen Begriff beschäftigt, werden die unwillkührlichen Gedanken auf der Seite des Bildes liegen, und je mehr die Thätigkeit der Denkfunktionen des andern absolut ist, um so weniger werden überhaupt Bilder vorkommen. In der Poesie dagegen liegt also [das Gewicht] auf der Seite des Bildes. Der 2te Haupt-Unterschied ist also, daß in der Prosa der Gegensatz zwischen Haupt- und Nebengedanken sich stärker spannt, in der Poe¨sie dagegen relativ verschwindet. ich sage relativ, weil er in einzelnen Gebieten, wo ein äußerlicher Gegenstand ist, wie im Epischen und Dramatischen, mehr hervortritt. Wir müßen also dem gemäß auch sagen, daß unsre ganze Aufgabe, Rede und Schrift als factum des Bewußtseins zu verstehn, eine andre Gestalt annimmt, auf dem Gebiet der Prosa, als auf dem Gebiet der Poe¨sie; und es wird viel schwüriger sein, auf dem Gebiet der Poe¨sie diese Regeln der Hermeneutik anzunehmen, als auf dem Gebiet der Prosa. In der Poe¨sie stellt sich gleich von vorn herein [die Aufgabe] die Eigenthümlichkeit des Verfassers zu constituiren, aber es fehlt an datis zur genügenden Auflösung der Aufgabe. Die Methode also, um das Prinzip der Verknüpfung zu entdecken wird deshalb hier eine ganz andre sein, als im Gebiet der Prosa. Um nur gleich hier etwas hinzuzufügen in Beziehung auf die besondere N.T. Hermeneutik, so sind wir fast ganz auf das Gebiet der Prosa verwiesen. Nur ein seinem innern Gehalt nach eigentlich poe¨tisches Buch giebt es, die Apocalypse, die aber als normaler Charakter für die christlichen Ideen lange uns nicht so interessirt, weil die Lehre zurüktritt. Ihre Form hat sie aber nicht durch sich selbst, sondern aus AltTestamentischen Analogis. Deshalb also für das N.T. das Gebiet der Poe¨sie besonders zu behandeln, würde nicht lohnen. – Nun aber ließe sich noch etwas sagen: Es kommt im N.T. eine Form sehr häufig vor, die Parabel, in denen sehr viel Doctrinelles vorgetragen wird. Wenn nun das Eigenthüm10 in] davor daß
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liche der Poesie darin liegt, daß es mehr nach der Seite des Bildes zu liegt, als nach der Seite der Formel, so ist freilich die Parabel ein Bild. Aber das Bild ist das Untergeordnete, und die Parallele die gezogen wird, muß eine solche sein, daß sich die Lehre daraus entwickeln läßt. Es muß also eine Art Gleichung sein, was also auf die Formel zurükführt. Die Aufgabe wird weit weniger die sein, das Untergeordnete als ein poe¨tisches Erzeugniß zu verstehn, als, das eben zu sondern von dem, woraus sich etwas Doctrinales entwickeln läßt. Wir werden also wesentlich vom Prosaischen ausgehn, und die Parabel als besondere Form desselben betrachten. Was die Apocalypse betrifft, so liegt alles, was darüber zu sagen ist, mehr auf der Seite der Kritik. Aber doch wird sich auch hier ein Ort finden laßen, um etwas über die Einheit des Ganzen zu sagen, ohne in das Specielle des Poe¨tischen sehr hineinzugehn. Wir hätten also 2 Aufgaben. 1) in jedem Werk, mag es zur Prosa oder Poe¨sie gehören, die innere Einheit zu finden, d. h. den innern Punkt, von dem aus sich Alles als Thatsache des Bewußtseins verstehn läßt, und auf den Alles zurükzuführen ist, um Haupt- und NebenGedanken zu sondern 2) sich rechte Vorstellungen zu machen von der persönlichen Eigenthümlichkeit eines jeden Schriftstellers, von dem was mehr oder weniger das Prinzip ist, aus dem sich die ganze Wissenschaft entwickelt, und hier war es, wo wir sagten, ob es nicht möglich sei, verschiedene Methoden aufzufinden, von denen sich Einige mehr auf das Poe¨tische, Andre mehr auf das Prosaische beziehen. Wenn wir uns in die Lage hineindenken, daß der Schriftsteller, dessen Werk wir als ein Ganzes verstehn sollen, uns fremd und nicht von anderwärts her bekannt ist, so ist das Erste eine richtige Vorstellung von der Einheit des Werks zu bekommen, und so ist also das die erste Aufgabe, bei der wir anfangen müßen. Wenn wir also eine Schrift vor uns haben, die als Complex von mehr und minder gleichartigen Gedanken erscheint, wie kommen wir dazu, die Einheit zu erkennen? Was wir darunter denken, ist das: es erscheint ein Complexus von Gedanken, aber von den übrigen Thatsachen im Bewußtsein dieses Schriftstellers getrennt, und diese Abgeschlossenheit, wodurch grade diese und keine andern Gedanken zusammengehören, ist die Einheit. Ohne uns in die Differenzen der Gattungen einzulassen, können wir hier 2erlei unterscheiden: entweder es ist nichts in der ganzen Schrift gegliedert, sondern der ganze Complexus als eine Totalität gegeben, oder das Ganze ist getheilt in untergeordnete Ganze, die bestimmt gesondert sind. Nun scheint im letzten Fall die Sache leichter zu sein, denn es ist schon das Verhältniß des ganzen Komplexus der Gedanken zu dem einzelnen Ganzen als Übergang
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zur Einheit gegeben. Hier können wir nicht anders als uns die Aufgabe stellen, diesen Unterschied aufzuheben, und alle Fälle, wo keine solche Organisation ist, auf den andern Fall zurükzuführen, d. h. solche Abschnitte zu machen. Das führt also auch für diesen Theil der Aufgabe darauf, durch eine vorläufige allgemeine Lesung sich solche Abschnitte zu machen. Hierüber ist indeß noch 2erlei wesentlich zu bemerken. 1) müssen wir uns erst vom Recht überzeugen, solche Abtheilungen machen zu können, wo keine sind, 2) untersuchen, ob die Abtheilungen, wo welche sind, dazu gemacht sind, uns zur Einheit des Ganzen zu verhelfen, d. h. ob sie organische Eintheilungen sind. 1) Je mehr eine Schrift unter den Begriff eines Kunst-Werks fällt, um so mehr Recht hat man, eine organisation vorauszusetzen. Darin liegt nicht, daß der Verfasser sie angeben soll; das kann theils in der Praxis der Gattung liegen, theils in der Eigenthümlichkeit des Verfassers, den Punkt zu verdecken, wo die Gliederung zusammenhängt, damit das Ganze nicht skelettartig erscheine. Nur wo die Schrift kein Kunst-Werk sein will, sondern etwas Unvollkommenes ist, würden wir das Recht nicht haben. Wir kommen also auf den Gegensatz zwischen dem Kunstlosen und Künstlerischen im Prozeß der GedankenErzeugung. Daraus folgt die allgemeine Betrachtung: Je mehr eine Schrift künstlerisch ist, um so mehr Mittel haben wir sie aus sich selbst zu verstehen, je weniger, um so mehr Hülfsmittel von Außen brauchen wir. In der künstlerischen muß man durch die Beziehung der Theile auf einander, das leitende Prinzip wahrnehmen können, und das giebt die Einheit des Werks. Wenn aber die Gedanken zufällig zusammen gekommen sind, hebe ich eben den Zusammenhang auf. 2) Ist überall, wo wir in einem Werk Abtheilungen finden, wirklich die Auffindung der innern Einheit des Werks erleichtert? Die Frage erscheint gleich, als habe sie eine bestimmte Veranlassung in der Erfahrung. von selbst würden wir auf sie nicht gekommen sein. Nun findet sich das nicht immer so; es ist nicht selten der Fall, daß man sich die äußere Eintheilung zerstören muß, um nicht durch sie gestört zu werden. Dieser Fall kommt bei den alten Schriftstellern sehr häufig vor. Wenn wir z. B. die beiden großen platonischen Werke, die Republik und die Gesetze betrachten, so sind sie in logoyw getheilt, aber sie sind nicht so gemacht, daß jeder einen bestimmten innerlichen, von den Andern gesonderten Theil zu bezeichnen [hat], sondern sie machen rein äußerlich Abschnitte, wie sie überhaupt wohl spätern Ursprungs sind. Wo aber die Eintheilung bestimmt vom 38 sind] ist
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Verfasser herrührt, sollte man denken, daß diese Eintheilung bestimmt mit der Organisation des Werks zusammenhängen sollte. Wir sehn aber bei neuern Schriftstellern das Gegentheil; wenn ein Werk sehr volumineuse ist, ein Theil nicht stärker sein soll als der Andre, oder ein bestimmtes Ganze bis zu einer bestimmten Zeit fertig sein soll, ja so verträgt sich das nicht immer mit der innern Eintheilung. Wir haben also beide Operationen zu machen, die Gliederung, wo sie besteht, aufzulösen, und sich selbst eine solche zu machen. Wir haben also 2 Aufgaben, was die äußre Form betrifft; wo aber die äußre Form durch nichts bekannt ist, ist die einfache Aufgabe sich der Gliederung des Ganzen zu versichern; und da tritt nun das ein, je weniger eine Schrift künstlerisch ist, um so mehr äußere data braucht man zum Verständniß. Es fragt sich nun, wie kommt man zu dem Urtheil, ob eine Schrift künstlerisch oder unkünstlerisch ist. Sehn wir auf den vorigen Theil zurück, so ist jede Schrift eine Produktion in der Sprache. Erscheint nun die Sprache analog der im gemeinen Leben, und wenn [wir] die innere GedankenErzeugung der Sprache analog finden, so können wir die Regel aufstellen, wo die alltägliche nicht besonnene Sprache ist, ist kein KunstWerk zu erwarten, und umgekehrt. Gesetzt nun, die Regel wäre allgemein anwendbar, wie stände es um die Leichtigkeit der Anwendung. Da wird sich gleich ein Unterschied zu erkennen geben. Sehn wir auf unsre gleichzeitige Sprache, so steht das Urtheil gleich Jedem offen, ob die Sprache gewöhnlich ist, oder sich über das Alltägliche hinaushebt. Bei fremden Sprachen ist die Entscheidung schwürig. Wer möchte z. B. entscheiden, wie sich die Sprache der homerischen Gesänge zu der Sprache des gemeinen Lebens verhalten habe. Da es an gleichzeitigen Produktionen fehlt, kann kein Mensch ein Urtheil darüber haben; es ist dann Sache des kritischen Gefühls, und das ist sehr verschieden. Überall wo wir die dialogische Form in der Komposition finden, ist ein gewisser Anspruch darauf, daß man in der Sprache des täglichen Lebens versire und demnach sehn fast alle Kompositionen dieser Art der verschiedensten Schriftsteller wie Kunst-Werke aus. Betrachten wir die Ciceronischen, so führt er solche Personen auf, die täglich in einer künstlerischen Sprache sich unterhielten. In den platonischen ist dergleichen nicht, und deshalb die prätension auf die alltägliche Sprache, und dennoch ein KunstWerk. Wenn also auch die Sprache in dem Gebiet des Alltäglichen bleibt, das Innere verräth aber etwas Künstlerisches, so wirft das auch ein anderes Licht auf die Sprache. – Nun wenn wir auf die neuern Sprachen sehn, 17 finden] oder fanden
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finden wir viele Kompositionen in einer der eben angeführten sehr analogen Form; nehmlich die epistolarische; denn der Brief ist ein Gespräch, wo nur die Antworten fehlen. Wollte man aber aus dem Alltäglichen der Sprache auf das Unkünstlerische schließen, so würde man sich sehr irren; Also das ist das erste vorläufige, das richtige Urtheil über das Verhältniß einer Schrift zur Idee eines KunstWerks, wobei man sich nicht durch die Form bestimmen laßen muß, wiewohl diese immer ein Bedeutendes in der Schätzung sein wird. Je mehr wir also Ursache haben, eine Schrift als ein Kunst-Werk anzusehn, um so mehr Recht haben wir auch, eine Organisation des Ganzen, wenn sie noch nicht vom Schriftsteller angegeben ist, vorauszusetzen. Dieser Unterschied hat einen Einfluß auf das ganze Verfahren in der Auslegung. Bedarf es, da die Einheit in dem Werk nicht sehr hervortritt, der Verständniß-Mittel von Außen her, muß alles Einzelne erst gegen einander abgewogen sein, ehe man zum Verständniß der Einheit schreiten kann. Bei denen, wo die Einheit hervortritt, wird es mit der allgemeinen Lesung genug sein. – Man kann nun noch unterscheiden zwischen solchen Schriften, die eine äußere Einheit bilden, und solchen, die es nicht sind. Gegenwärtig ist das nicht der Fall, da jedes Werk einen Titel hat, was sein nomen proprium ist. Nun aber kann der Verfasser Ursache haben es zu verheimlichen, und es können überhaupt Fälle vorkommen, wo die äußere Aufschrift wenig oder gar nichts über die Einheit im Innern aussagt. Dasselbe tritt ein, wenn ein Werk 2 Aufschriften hat. Bei den Werken des Alterthums ist sehr häufig die Überschrift des Buchs späteren Ursprungs. Das geht auf die ältesten Urkunden zurück. Die Benennung Ilias und Odysse´e konnte nicht eher entstehn, als die Diaskeuase der homerischen Gesänge gemacht wurde. Eine solche Überschrift sagt nun nichts als eine Meinung über das Werk aus. In den platonischen Dialogen sind die Überschriften, die von den Personen hergenommen sind, die ursprünglichen, die vom Gegenstand hergenommenen, später (politeiÂa und periÁ toyÄ dikaiÂoy). Diese Beispiele werden hinreichen, um die Überzeugung zu begründen, daß man auf diese Bezeichnungen nicht zu viel Werth lege. Wo der Verfasser Ursach haben kann, die innere Einheit des Werks nicht hervortreten zu laßen, (das kann in dem Charakter der Gattung, oder in der Eigenthümlichkeit des Mannes liegen) wird er doch dem bestehenden Gebrauch genügen, und täuscht also auf diese Weise, wenn man zu viel Werth auf den Titel legt. 6 wobei] wodurch
15 zum ... Einheit] korr. aus zur Auslegung
37 legt] liegt
26 Die Diaskeuase (oder Redaktion, Edition) wird durchgeführt von den Diaskeuasten.
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Nun aber werden verschiedene Vorstellungen mit diesem Ausdruk, Einheit verknüpft, bald mehr das materielle, also mehr objective, bald mehr das formelle, in der Art der Verknüpfung, also mehr das subjective. Denken Sie sich, 2 unternehmen die Geschichte eines Streits zu beschreiben, und beide stehn auf verschiedenen Seiten, so werden sie objectiv dasselbe liefern, und denselben Titel wählen, aber der Impuls in beiden ist ganz verschieden; denn beide suchen unter der Form der Geschichte die Sache ihrer Parthei zu führen. Giebt man nun zu viel Werth auf die objective Einheit, so wird man im Verständniß mißgeleitet; es wird also die Haupt-Aufgabe sein, den Unterschied zwischen der objectiven Einheit des Werks (dem Thema) und der subjectiven Einheit (Impuls oder Motiv) recht festzuhalten. Nun ist dieser Unterschied ein größerer und geringerer, wir werden also das Minimum und das Maximum richtig auffassen müßen. Das Minimum wird da sein, wo der Schriftsteller in seinem Verfahren, ganz in dem, was die objective Einheit ist, aufgeht. Denken Sie sich einen Historiker, der ganz in der geschichtlichen Fassung des Gegenstands aufgeht, also nichts will als seine Darstellung mit dem bisherigen Hergang der Sache identifiziren; er will also nichts als sein Thema. Dem ungeachtet, werden 2 Werke von 2 solchen gleichen Historikern in der ganzen Entwicklung verschieden sein, aber diese Verschiedenheit sagt nichts aus als die schriftstellerische Eigenthümlichkeit, aber noch keine Verschiedenheit in den Motiven. Die Differenz kann also fast Null werden, indem alle Verschiedenheit in solchen gleichartigen Compositionen nur die schriftstellerische Eigenthümlichkeit aussagt. – Denken Sie auf der andern Seite, sich ein Werk von speculativem Gehalt, wo er durch keine Objektivität gebunden ist, aber keinen andern Vorsatz hat, als seine BeziehungsWeise auf einem gewissen Gebiet darzustellen, so ist auch hier die Objektivität und die Subjektivität aufgehoben, aber auf verschiedene Weise; dort wollte der Schriftsteller nichts sein als das Objekt, hier ist das Objekt der Schriftsteller selbst, wie er sich in einem Zustand erscheint. Hier tritt also die Einheit am meisten hervor. Gehn wir nun auf [die] entgegengesetzte Seite, wo die Objektivität und Subjektivität ganz aus einander treten, so wird, wenn es noch irgend ein Band giebt zwischen ihnen, es dies sein, daß die Materie nur zum Vorwand dient um etwas andres zu erreichen, das Thema nur zum Mittel für einen andern Zweck dient. Das oben angeführte Beispiel von einer partheiischen Geschichtschreibung liegt hier schon sehr nahe. Der Zweck ist eigentlich, die Vertheidigung ihrer Sache. nur kann man noch nicht sagen, daß die Geschichtschreibung das beste Mittel war. 26 als] also
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Es gehört also mit zur Hauptaufgabe, sich das Verhältniß der Materie zum Motiv klar zu machen. Man könnte zu beiden obigen Fällen, noch einen dritten zufügen, den poe¨tischen, wo das Objektive ganz aus dem Schriftsteller herausgeht, nur daß er nicht nach der Seite des reinen Gedankens hin liegt, sondern nach der Seite des Bildes. Doch aber giebt es auch hier ein bestimmtes Gebiet, wo das Entgegengesetzte heraustritt. Es wird Fälle geben, wo wir schwanken, ob ein Gedicht als ein lyrisches oder episches anzusehn ist. Wo aber das Lyrische hervortritt, ist doch der Zwek, eine Gemüthsstimmung hervorzubringen. Das kann geschehn durch eine Fabel; dann ist das Thema mehr episch, das Motiv aber rein lyrisch. Wollen wir uns den entgegengesetzten Fall recht klar machen, denken wir an das satyrische Gebiet; die Abzweckung sei, welche sie wolle, so bedarf man eines gegebenen Stoffs. Der Zweck wird aber nur dadurch erreicht, und das Motiv liegt in dem, worin die Anspielungen und Beziehungen sind, deren Continuität die Satyre bildet. Da ist also das Objektive bloß die profasiw. Das tritt in neuerer Zeit besonders im Gebiet der satyrischen Romane hervor, wo die Fabel ganz festgehalten wird, das Motiv ist aber doch, die Sitten der Zeit zu verspotten. Das mit dem vorigen zusammengenommen ist der ganze Umfang der Aufgabe, die Einheit eines Werks zu finden, 1) das Verhältniß zwischen der Einheit und den Einzelnen, und 2) das Verhältniß in dem Thema und Motiv stehen. Wenn man einem Werk in beiden Hinsichten seinen richtigen Platz angewiesen hat, so hat man die Einheit desselben erfaßt. Das wird aber nicht der Fall sein können, wenn man sich nicht in den eigenthümlichen Geist der Zeit und des Raums versetzt, dem die Schrift angehört, und da ist für die Auslegung sowohl als für die Kritik, das sich durch allgemeine Namen beherrschen lassen das Gefährlichste. Ein Beispiel. Tragödie ist ein allgemeiner Name. Wollten wir aber alte und neue Tragödien in dieser Beziehung[,] die Einheit zu finden, gleich stellen, so würde man sehr fehlen. Was ist das für ein ungeheurer Unterschied, wenn der Dichter sich einem Volk gegenüberstellt, und wenn er arbeitet für ein zusammengelaufnes publicum. Welch Unterschied, wenn das Stück ein nationales Gepräge trägt, und ein nationales Gefühl aufregt, – und wenn es zum täglichen Amusement dient. Bei alten Tragödien ist das Motiv die nationale Aufregung, die Fabel ist das Gewählte oder Gegebene, woran jenes fortläuft. Bei den neuen ist davon nicht die Rede. Hält man sich deshalb an den allgemeinen Namen, und behauptet man, das Verfahren müße in dem Einen begriffen werden können wie im Andern, ja so täuscht man sich sehr. Dasselbe müßen wir beim Historischen etc festhalten.
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Anwendung des Bisherigen auf das N.T.
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Es wird uns hier auf 2 Hauptformen der prosaischen Rede ankommen, die Historische und die Epistolarisch-Didaktische. Betrachten wir beide Kompositionen im Einzelnen. In dem fortlaufenden Fluß der Geschichte ist es natürlich gewisse Einschnitte zu machen, und das Nächste wäre also, ein fortlaufendes Tagebuch zu halten, denn für den Moment ist alles gleich groß und klein, der Unterschied zwischen beiden kann sich erst später ergeben. Nun aber, das was man erlebt, darzustellen, ist etwas Unendliches; es kommt also darauf an, eine Auswahl aus dem Selbsterlebten zu machen. Da haben wir also gleich ein subjektives Prinzip; wir haben eine große Menge Schriften dieser Art, Memoires, wo das Prinzip mehr objectiv, oder mehr subjectiv sein kann; aber der Schriftsteller hat gleich bei der ersten Abfassung diese Absicht. Wie erkennt man nun das Motiv? doch nur, indem das Ganze eine Reihe bildet, das in einzelnen Darstellungen Identische aufzusuchen. Hier haben wir nun etwas, was dem sehr ähnlich sieht, aber doch ganz verschieden ist. Nehmlich es kann eine solche Reihe entstehn, ohne daß sie beabsichtigt ist, es war bloß auf das Einzelne abgesehn, das Ganze ist ein Aggregat. So wie also eine solche geschichtliche Produktion sich auf die eine oder andre Weise verhält, so daß man eine Gleichheit in der Tendenz des Einzelnen findet, so wird man sagen, es gehört in die Klasse der Denkwürdigkeiten, oder es ist ein bloßes Aggregat. – Nun kann es solche Produktionen geben, die rein local sind, wo der Verfasser wechseln kann, und das Ganze behält doch seine Einheit, so z. B. eine Stadtchronik, wo das Ganze seine Einheit hat gar nicht in dem Schreibenden, sondern in der localen Beziehung. Diese Stufe bildet, weil gar keine vom Zeitfluß verschiedene Tendenz zum Grunde liegt, das eine Ende. Das entgegengesetzte würde sein, wenn Thatsachen als Darstellung einer Ide´e aufgestellt werden. Da ist die Einheit etwas von den Thatsachen Gesondertes, im Schreibenden Lebendes, worauf er aber Alles bezieht, und was darauf [keinen] Bezug hat, übergeht, oder als Äußerliches bloß hinzufügt. Das kann eine speculative Idee sein, und dann ist es das am weitesten Entfernte, oder eine historische, z. B. die Entwicklung einer Thatsache oder eines Zustands zu geben. Das ist die mittelere Region zu der spekulativen Geschichts-Darstellung und der bloß äußerlich an einander reihenden. In diesen 3 Hauptformen werden wir das Ganze umfassen. Wohin werden uns nun die geschichtlichen Bücher des N.T. fallen? Sie haben alle ein gemeineinschaftliches Objective, d. h., wir wollen einmal die Apostelgeschichte absondern, die Person Christi. Sind sie nun ein
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bloßes erschöpft werden, so daß das Eine von dem, das Andre von jenem in fortlaufender Darstellung gegeben wurde? Das kann man nicht behaupten. Ist es nun eine Auswahl, so daß das Fortlaufende hervorzuheben, die Hauptsache ist, oder sind sie eine Auswahl nach einer Idee, oder endlich bloß Aggregate, an einander gereihete Erzählungen ohne allgemeine Absicht. Sehn wir auf das Resultat der bisherigen Forschungen, so zeigen die die größten Differenzen. Woher können die entstanden sein? Entweder, daß man nicht auf den Grund der Darstellung ging, sondern sich am Äußerlichen hielt, Oder auch theils, daß die Sache nicht vollkommen kann ausgemittelt werden, weil es an den nöthigen Indizien fehlt. Da es hier bloß auf die Theorie, nicht auf eine definitive Entscheidung ankommt, so ist es unser Interesse zu sehn, wie sich die Resultate zu der Theorie verhalten. Einige gingen nun aus von der äußern Erscheinung, das eine Bestätigung in manchem geschichtlichen Zeugniß fand. Andre gingen aus von der inneren Betrachtung der einzelnen Theile, und stellten das geschichtliche Zeugniß in Abrede. z. B. das Evangelium Matthäi; da ist neulich von Schulz in Breslau bestimmt aufgestellt worden, daß das Evangelium nicht von dem Apostel Matthäus herrühren kann. Die Ältern gingen davon aus, daß das Evangelium diesen Namen trägt, die ganze Kirche hat das angenommen, und historische Zeugniße bestimmen Zeit und Sprache in der es geschrieben. Die Schwürigkeiten müßen also in der Sache selbst liegen; je mehr Werth man also auf das Eine legt, um so mehr muß man das Andre bei Seite stellen. Giebt man sich den geschichtlichen Zeugnißen hin, so wird man sagen: Ich kann das nicht alles erklären, aber das steht historisch fest. Geht man von der innern Betrachtung der einzelnen Theile aus, so wird man daran zweifelhaft, und man fragt natürlich, wie kam die Kirche darauf, mit diesem Namen Matthäus, der nicht ungewöhnlich war, an die Person des Apostels Matthäus zu knüpfen, der als solcher in diesem Werk gar nicht auftritt, und reihen die geschichtlichen Zeugniße an die Thatsachen selbst an. Dazu kommt die Nachricht, daß Matthäus sein Evangelium ursprünglich hebräisch geschrieben habe, wozu das gar nicht stimmt. – So wie man nun erst daran zweifelt, so wird es einem auch ungewiß, was das Ursprüngliche sei, das Ganze oder die einzelnen Theile. Weil also so entgegengesetzte Prinzipien 19 trägt] beträgt
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17 Siehe David Schulz: Die christliche Lehre vom heiligen Abenmahl nach dem Grundtexte des Neuen Testaments. Ein Versuch. Leipzig 1824 (SB 1785); dort die „Beilage. Bemerkungen über den Verfasser des Evangeliums nach Matthäus“, S. 302–322. 31–32 Vgl. auch Schleiermachers späteren Aufsatz ,Über die Zeugnisse des Papias von unsern beiden Evangelien‘ (1832) in KGA I/8, S. 227–254 samt Sachapparat.
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da sind, so gehört eine große hermeneutische Klarheit, und kritische Unbefangenheit dazu zur Entscheidung, welchen Indizien man den Vorzug geben soll. Ich kann nun nicht unterlassen, hier eine Betrachtung aufzustellen, die etwas keck erscheinen wird. Nehmlich das Prinzip, einen großen Werth zu legen auf die Tradition mit Unterordnung dessen, was aus der inneren Betrachtung folgt, ist die das römische Prinzip hinter sich tragende Neigung. Das Umgekehrte, das evangelische. Wie aber die Reformation nicht überall gleich vor sich schritt, sondern hier stärker, da schwächer, so ist von Anfang an in der evangelischen Kirche eine Duplicität entstanden, die Einen halten die Andern für katholisirend, Jene diese für rationalisirend. Dies ist auch auf diesen Gegenstand angewandt worden, und deshalb die Ausmittelung des Ganzen polemisch geworden. Ehe man das aber nicht ganz bei Seite stellt, kann in der wissenschaftlichen Erledigung und Ausmittelung kein Fortschritt gemacht werden. Lassen Sie uns des Beispiels wegen betrachten, wie sich die Sache stellen wird, wenn wir nach den aufgestellten Regeln in Beziehung auf die 3 ersten Evangelien verfahren wollen. Wir finden keine Kontinuität; ob es nun Auswahl oder Aggregat ist, lassen wir dahin gestellt sein. Nun stellen wir die Hypothese auf, das Evangelium Matthäi sei eine Auswahl aus Leben Jesu, welches Prinzip waltete dabei ob, und welches ist das Motiv. Da die Person Christi die durch das Ganze hindurchgehende Einheit ist, so muß die Auswahl in Beziehung auf die Person Christi sein. Diese Auswahl kann äußerlich oder innerlich sein. Innerlich Christum zu charakterisiren, entweder in Beziehung auf die historische Dignität, oder in Beziehung auf seinen individuellen Charakter. Nun haben die Wunder, wenn wir eine Einheit in ihnen suchen wollen, die Beziehung auf die historische Dignität Christi. Darauf folgen nun Reden; in ihnen kann man aber nicht die Tendenz wahrnehmen, Christum von andern Lehrern zu unterscheiden. Wer aber als sein Begleiter die Absicht gehabt hätte, ihn historisch zu charakterisiren, als einen Lehrer, der auf eine neue Verbindung mit Gott hinwieß, so hätten diese Lehren einen andern Charakter haben müßen, etwa wie die johanneischen Reden; denn diese Reden, wenngleich sie einen andern Charakter haben als die damals gesetzlichen Lehren, so haben sie doch keine Beziehung auf einen neuen GlaubensHelden und KirchenLehrer. – Nun ist noch etwas drittes da, die Leidensgeschichte. Es ist wohl an sich klar, daß die angefangene Untersuchung zu Ende zu bringen, eine Sache der höhern Kritik ist. So lange also die höhere Kritik 13 kann] folgt Zeichen für ,nicht‘
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die Zweifel über die Komposition des Evangeliums nicht heben kann, werden die Prinzipien der Auslegung auf diese Ungewißheit gebaut werden müßen. Es muß uns also ungewiß sein, ob die Einheit des ersten Evangeliums die Einheit eines Aggregates ist, so daß die Theile einzeln eher da waren, oder die Einheit eines Aggregates, also ohne Prinzip, aber so daß die einzelnen Erzählungen gleichzeitig entstanden. Im letztern Falle müßten die andern Evangelien aus ihm geschöpft haben. Auf keinen Fall ist aber der Werth der Einheit höher anzuschlagen als der Werth eines Aggregates. Alles das beruht aber auf der vorausgesetzten Authentie der Reden Christi im Johannes. – Sehn wir nun auf die Einheit des Evangeliums Johannes, hier haben wir nicht solche einzelnen Erzählungen, die in ähnlichen Verbindungen auch bei Andern stünden, auch keine merkliche Differenz im Charakter der mitgetheilten Reden; beides stimmt darin überein, die Tendenz zu verrathen, die höhere Würde Christi darzuthun. Daß das Evangelium nur eine Auswahl ist, darin stimmt es mit den übrigen Evangelien, daß aber eine und dieselbe Tendenz durch das ganze Evangelium durchgeht, ist auch klar. Stellt man nun aber in Beziehung auf die Katastrophe eine Vergleichung dieses Evangeliums mit den übrigen an, so zeigt sich da auch eine Differenz. Nehmlich in allen übrigen Evangelien ist von frühem Aufenthalt Christi in Jerusalem nicht die Rede, die Katastrophe in Jerusalem erscheint unerwartet, während sie sich im Johannes vor unsern Augen entwickelt. Wir müßen also zu dem Motiv noch das hinzufügen, durch eine Auswahl aus dem Leben Christi die Wendung seines Schicksals nach der allmähligen Entwicklung seiner Würde zu zeigen. Erinnern Sie sich an die andre Hypothese vom Zweck dieses Evangeliums, die antignostische, anticorinthische, so haben diese im Evangelium selbst keinen Grund, man hat also die Sache selbst wieder verworren, indem man die Indicien im Evangelium selbst für unzureichend hielt, und welche von Außen suchte. Wenn Johannes auf dergleichen Häresien Rücksicht nahm, so thut das der Einheit keinen Schaden, denn sie steht durch die Beziehung aller Theile auf einander fest. Es gehörte das schon zur Sonderung des Wesentlichen und Unwesentlichen. Ebenso hat man zu viel Werth auf den Eingang gelegt. Der Eingang ist aber nichts Wesentliches, und man muß erst einig sein, wie sich der Eingang zum Körper des Ganzen verhält; je mehr Beziehung im Ganzen auf das im Eingang Vorgetragene genom-
25 Sie] sie 33–34 Siehe Johannes 1, 1–18
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men wird, um so wesentlicher muß er sein. Betrachten wir das Evangelium nach diesem Kanon, so wird kein Bezug weiter darauf genommen. Wenn wir denselben Vergleich mit der Einheit [vornehmen], wie wir sie bestimmt haben, so werden wir sagen, er ist ein Ausdruck der höheren Würde Christi, aber eine von der Geschichte abgesonderte, ideale Darstellung. Somit ist der Eingang also ganz passend, wenn aber polemische Bezüge darin vorkommen, wird im Evangelium selbst weiter kein Bezug darauf genommen. Alles also ist wesentlich im Evangelium, was den Charakter an sich trägt, die höhere Würde Christi zu bestimmen, und der letzten Katastrophe Herbeiführung zu zeigen. Alles Andre, wenn es auch Thatsache ist, kann nur durch das Äußerliche mit jenem verbunden sein. So die Ausführlichkeit im Bericht der Verleugnung Petri, die einen besondern Zweck gehabt haben muß, (wahrscheinlich das Richtige dieser Begebenheit zu liefern). Die Ausführung solcher Nebenumstände hat ein großes Gewicht in der Entscheidung der Frage, ob der Verfasser Augenzeuge war. Denn weil sie eben nicht zum Zweck gehören, läßt sich kein Reiz denken, der den Verfasser zu dieser ausführlichen Behandlung dieser Nebenumstände bewogen haben sollte, wenn er nicht Augenzeuge war. D i e A p o s t e l - G e s c h i c h t e . Die Tendenz wird in der Einleitung angegeben, nehmlich die Geschichte der Apostel zu liefern, als eine Fortsetzung der Thätigkeit Christi. Wenn man aber nach dem Prinzip der Auswahl fragt, und nach der Ursache, warum die Geschichte des palästinensischen Christenthums so vernachläßigt wurde, sobald die des hellenischen Christenthums anfängt, so kommen wir eben auf ein so streitiges Feld. Da wir nun nicht wissen, wo und unter welchen Umständen, und mit welchen Hülfsmitteln versehn der Verfasser schrieb, so wird die Frage hier nicht entschieden werden können. Die Entscheidung ist wieder Sache der höheren Kritik, die ein Resultat der Indicien bei der Auslegung erst sein wird. Der Ausleger wird also das Werk als eine Auswahl ansehn müßen, und sich bescheiden, alles zu erklären, alles aber genau ins Auge fassen, um die Sache auf dem Gebiet der höhern Kritik entscheiden zu können. Da aber die einzelnen Erzählungen den Charakter eines Augenzeugen an sich tragen, der Verfasser aber nicht alles selbst gesehn haben kann, sich auch als solcher zu erkennen giebt, so werden wir das unentschieden laßen müßen, ob die Erzählungen von verschiedenen Verfassern herrühren, und wieviel der Verfasser dazu that, sie zu assimiliren. 7 im] in
23 Christenthums] korr. aus Judenthums
12 Siehe Johannes 18, 12–27 und Parallelstellen. 19 Apostelgeschichte 1, 1–18; vgl auch Schleiermachers nachgelassene Einleitung zur Apostelgeschichte in KGA I/8, S. 181–193.
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Soviel ist also klar, daß die 5 ersten Schriften des N.T. in die Klasse des historischen Vortrags gehören, wo die Einheit zweifelhaft und ungewiß ist, und wo das nicht ist, wie beim Evangelium Johannes, eine Auswahl, wo die Beziehung auf die höhere Dignität Christi dargestellt wird; da 5 diese Beziehung der Glaube ist, so wäre der Glaube die Einheit.
Der didactische Vortrag.
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Hier stellt sich gleich aus mannigfachen Produktionen als die höchste Einheit dar das Systematische, d. h. ein didactischer Vortrag, der einen Gegenstand in organischer Vollkommenheit behandelt. Hierbei, kann man sagen, macht die Größe des Umfangs des Gegenstands keinen Unterschied. Das möchte aber nicht der Fall sein, weil in einem größeren Gegenstand die selbstständige Behandlung organisch heraustreten kann. Was ist nun das Minimum der Einheit im didactischen Vortrag? das Gelegentliche und relative; denn eine solche organische Zusammenstellung von didaktischem Gehalt, die eine im höchsten Sinne wissenschaftliche ist, muß auf einer innern Conception beruhn, und sich bestimmt aussondern. Damit steht im Gegensatz, was das Gelegentliche ist. Je mehr das mit dem relativen zusammentrifft, je größer der Gegensatz gegen das Systematische, und je schwächer die Einheit des Ganzen. Wenn nun bei allen didaktischen Schriften des N.T. das Christenthum der Gegenstand ist, so haben wir solche systematische Behandlung schon im patristischen Zeitalter, aber im N.T. finden wir dergleichen nicht. Schon der Form nach zeigen die meisten dieser Bücher, daß sie gelegentliche sind, ihre Einheit an einem bestimmten Moment hängt; und da sie ein bestimmtes Publikum haben, sind sie nur relativ; sie gehören also zu den Formen des didactischen Vortrags, wo die Einheit die Geringste ist. Nun kommt dazu noch etwas Besonderes, die briefliche Form, die sie an sich tragen. Was hat die für eine Beziehung zu einer absichtlichen Mittheilung von Erkenntniß als solcher (denn das ist der didactische Vortrag.). Betrachten wir diese Form im Allgemeinen so kommt sie dem unmittelbaren Gespräch am nächsten, und ist von ihm eigentlich nur durch die Entfernung verschieden. Vollständig tritt das erst heraus im Briefwechsel; aber es trifft das auch in einem einzelnen Brief zu. es liegt das in der Natur der Sache, daß jeder Autor sucht auf die vermuthliche Gegenrede des Andern eine Antwort zu geben. Jeder wird suchen, die Gegenrede des, an den er schreibt, zu beseitigen, auf die Einwendungen eines Andern wird er keine Rücksicht nehmen. Legen wir nun diese dialogische Form eines jeden
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Briefs zum Grunde, so macht es einen großen Unterschied, ob der Brief der Anfang eines schriftlichen Briefwechsels ist, oder in der Mitte steht. Im ersten Fall wird der Brief weit mehr seine Einheit in sich selbst tragen, im andern Fall wird er aus dem, was vorhergegangen zu erklären sein. Nun gründet sich der Brief auf das Verhältniß des Schreibenden zu dem an den er schreibt; das Bild dieses Verhältnißes bildet die innere Einheit des Briefs, alles was sonst Gegenstand des Briefs ist, die objective. Das geht nun nicht bloß auf die BriefForm, sondern auch auf den didaktischen Vortrag; denn es kann sein, daß Einer in einem Briefe einen Andern zu unterrichten hat; so gehört also jeder Geschäfts-Brief in den didactischen Vortrag. Ebenso kann es sein, daß Einer in seinem Brief bloß seine Stimmung und seinen Zustand darzulegen hat, und das kann mehr nach dem Charakter der lyrischen Poesie geschehn, dann braucht der Brief gar keine objective Einheit zu haben, es kommt dann nur darauf an, das Prinzip zu begreifen, nach welchem er von Einem zum Andern übergeht. Das wird von der Kenntniß dessen, was ihn gleichzeitig bewegt, abhängen. Der Gegenstand der NeuTestamentischen Briefe ist für den theologischen Standpunkt immer didactisch. So sehr verschieden also auch das objective Verhältniß in einem brieflichen Aufsatz sein kann, so macht das hier einen geringern Unterschied als anderswo. Je mehr aber in einem Aufsatz eine allgemeine Einheit herrscht, d. h. je mehr didaktisch das Moment ist (im GalaterBrief der Satz, die Gemeinde über das Verhältniß des Gesetzes zum Evangelium ins Reine zu bringen) je mehr eine solche Einheit herrscht, um so mehr fällt auch das objective und subjective zusammen, und um so mehr muß sich die GedankenFolge aus der Beziehung auf das objective begreifen laßen, und um so mehr nähert sich der Brief einem didactischen Aufsatz. Es ist aber doch das Bild von beiden Theilen und ihrem Verhältniß, worauf das zu beziehen ist. In seltenen Fällen also nur wird der Brief eine didactische Einheit haben; der Schreiber wird sich über diesen oder jenen Punkt noch mit erklären. Die objective Einheit kann also eine zusammengesetzte sein, und das kann theils sein, daß ein Gegenstand dominirt, und der Andre untergeordnet ist; man denkt sich das fehlerhaft oft als Anfang, aber diese untergeordneten objectiven Einheiten sind in dem subjektiven ebenso motivirt als die dominirenden. Auch ist nicht immer die Ausführlichkeit nach der Wichtigkeit abgewogen, weil der Brief kein vorher konstruirtes Ganze ist. Bleibt man in diesem Fall bloß bei der objectiven Einheit stehn, so bekommt man keine deutliche Vorstellung, die kommt nur durch die subjective Einheit, 28 Verhältniß] folgt s
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und die bleibt also die Hauptsache. Es wird also auf das Verhältniß beider Theile, des Schreibenden, und des an den geschrieben wird, ankommen, und dann zu fragen sein, was hier davon hervortritt. Gehn wir noch einmal auf die beiden Hauptformen des Briefs zurück die wo er sich mehr dem didactischen Vortrag, und die wo er sich mehr dem Lyrischen nähert; so wird im ersten Fall das Motiv ein bestimmtes Bedürfniß des andern Theils sein, im 2ten Fall der Zustand des Schreibenden selbst, und das vorausgesetzte Interesse von der andern Seite. Im ersten Falle werden wir mehr den Zustand dessen, an den geschrieben wird, im andern Fall den Zustand und das Verhältniß des Schreibenden selbst kennen müßen. Zwischen beiden Punkten liegen viele andre Fälle, also die Zusammensetzung von beiden. Das ist der Schlüssel zu vielen NeuTestamentischen Briefen. Auch die Briefe, die starken didactischen Zusammenhang haben, schließen nicht, nachdem der Hauptgegenstand behandelt, sondern es tritt dann noch eine objective Mannigfaltigkeit dazu. Da denkt man sich oft das gleichsam wie einen Komplex von guten Lehren, die der Apostel ohne Einheit gleichsam hingewürfelt; dadurch bekommt man aber kein Bild vom Zustand des Ganzen. Daß diese Sache grade in dieser Folge und nicht anders gesagt wird, kann im Verhältniß dessen an den geschrieben wird, oder des Schreibenden selbst liegen, von beidem muß man ausgehn. Wichtiger wird es immer sein, die Auswahl sich zu erklären, als die Aufeinanderfolge; nur hat man das Erste nicht gethan, so wird man das 2te auch nicht thun können, und das quantitative bleibt ganz weg. Nun kann aber noch das Motiv zum Brief in einem dritten liegen; und der Brief scheint aus dem Verhältniß beider Theile unmotivirt. Von der Art sind die Empfehlungsbriefe; denn was hier aus dem Verhältniß beider Theile angeführt wird, hat keinen bestimmten Grund, und kann zufällig erscheinen. Machen wir uns nun den Begriff von CircularSchreiben, oder Briefe mit unbestimmter Addresse klar, so werden wir sie wohl mit unter diese Rubrik bringen müßen. Solche unmotivirten Briefe sind, wenn man auf das Verhältniß der beiden Theile sieht, schwierig zu erklären, denn es kommt darauf an, wieviel wußte der Schriftsteller vom Verhältniß der moralischen Personen, an die er schrieb, und von ihrer Gleichheit. Nehmen wir nun noch dazu im Schreibenden einen Mangel in Beziehung auf das idiom an, in dem er schreibt, so bleibt das Verstehn des Einzelnen in sehr engen Grenzen eingeschlossen. (Der Brief Jacobi. Die Ursache, daß ihm der lebendige Nerv fehlt, war der Grund, daß ihn Luther einen stro27 denn] wenn
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hernen Brief nannte; deshalb etwas Unkräftiges in ihm ist). Eben so kann es sein, daß ein Brief keine Einheit hat, aber einzelne Theile unter sich einen stärkern Zusammenhang haben; daraus entstand die Meinung, daß dieser Brief nicht aus 1 Theile besteht. Aus diesem Grund entstand die Hypothese über den 2ten Brief Petri. Ebenso kann es aber auch sein, daß der Brief ein Ganzes bildet, der Verfasser aber auch keine rechte Vorstellung von der Einheit hatte. Hiermit hängt nun die Sicherheit in der Erklärung des Einzelnen ab; wenn auch die grammatische Seite noch so klar ist, so werde ich, wenn ich das Ganze nicht begreife, auch dem einzelnen Satz nicht seine Geltung in einem gewissen Umfang anweisen können. Fassen wir noch eine Differenz ins Auge. Ich gehe wieder auf die innere Einheit zurück. Das bestimmte Verhältniß zwischen beiden Theilen ist das Identische. Nun hat es aber auch wieder etwas, wodurch es dem Wechsel unterworfen ist. Der Brief wird also einen verschiedenen Charakter haben, je nachdem das Wesen des Verhältnißes, oder der Wechsel darin ihn motivirte. Jenes ist die Ruhe, das die Bewegung. Wenn nun ein Verhältniß bedeutend alterirt zu werden drohet, so wird der Charakter des Briefs ein weit excitirterer sein. Ist aber der Brief in ruhigem Fortschritt geschrieben, so wird kein Grund zu einem solch excitirten Charakter sein. Wir finden in dieser Beziehung im N.T. sehr große Differenzen. Man stelle sich nur den Brief an die Galater und Philipper entgegen; der letzte hat ganz den Charakter der Ruhe, der erste den der Beweglichkeit; deshalb prägt sich auch im Gedanken-Gang des ersten die bewegte Stimmung ab, und ist nur daraus zu verstehen. – Es wird dieser Punkt in den NeuTestamentischen Hermeneutiken unter dem Titel de affectibus indagandis behandelt, also über die Erforschung der Gemüthsbewegungen. Jeder Brief, und jede Schrift, sofern sie ein Kunst-Werk ist, soll aber aus der Ruhe hervorgehn, nicht aus dieser leidenschaftlichen Bewegung. 9 begreife] begreifen
14 ist] hat
21 stelle] stellt
590.38–591,1 Die Stelle findet sich in der ,Vorrhede‘ zum Neuen Testament von 1522 (September-Testament; Weimarer Ausgabe, Abt. 3 [Deutsche Bibel], Bd. 6, S. 10, Z. 29 ff. unter dem Titel „wilchs die rechten vnd Edlisten bucher des newen testaments sind“): „Summa, Sanct Johannis Euangeli vnd seyne erste Epistel, Sanct Paulus Epistel, sonderlich die zu den Romern, Galatern, Ephesern, vnnd Sanct Peters erste Epistel, das sind die bucher, die dyr Christum zeygen, vnd alles leren, das dyr zu wissen nott vnd selig ist, ob du schon kein ander buch noch lere nummer sehest noch horist, Darumb ist sanct Jacobs Epistel eyn rechte stroern Epistel gegen sie, denn sie doch keyn Euangelisch art an yhr hat, Doch dauon weytter ynn andern vorrheden.“ 25–26 August Hermann Francke in seinen ,Praelectiones Hermeneutiae, Ad Viam Dextre Indagandi Et Exponendi Sensum Scripturae S. Theologiae Studiosis Ostendam‘, Halle 1717, hat seine ,Positio VI‘ (p. 192–250) besonders den Gefühlen gewidmet, „ad indagandum, confirmandum & aliis exponendum Scripturae S. sensum plurimum“ (192). Dabei gilt die „Regula generalis: Cognitio Affectuum est necessarium sanae & accuratae interpretationis adminiculum“ (193).
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Es können also nur Schriften von untergeordneter Art sein, wo das statt findet. Nun kommt das nicht bloß in dem Brief vor, sondern auch in der Rede; wo aber der Affekt, höchst gereizt, um einen besondern Zweck zu erreichen, sehr zurücktritt. Es wird also auch immer wieder darauf ankommen, die innere Einheit zu ermitteln, und dadurch den wahren oder verborgenen Affekt kennen zu lernen. Die didactischen Bücher des N.T. sind alle in brieflicher Form, nur daß nicht diese innere Unmittelbarkeit ist in Allen, sondern es findet eine Stufenfolge statt. Das Unmittelbarste ist, wo eine bestimmte Veranlassung war, 2) wo ohne solche Veranlassung aus dem inneren Verhältniß heraus geredet wird 3) wo ein solches Verhältniß erst angeknüpft wird, sei es eine bestimmte oder eine unbestimmte Person. Das eine findet statt im Brief an die Römer, wo der Apostel schon mit mehreren Gliedern dieser Gemeinde in Verbindung stehn konnte. Das Andre in den meisten katholischen Briefen, wo also nichts Anderes als eine aus dem Briefe herausgehende unbestimmtere Einheit zu erwarten ist. es kann hier nichts als das allgemeine christliche Interesse das Bestimmende sein, und es scheint zufällig, wie es grade herausgegriffen und in Verbindung gesetzt wird. Am wenigsten hat die Briefform der Brief an die Hebräer. Im Allgemeinen hat er zwar auch die Form, daß erst ein didaktisches Thema durchgehandelt wird, und hernach mehr allgemeine Ermahnungen folgen. Aber der Schreibende tritt gar nicht persönlich hervor. Man glaubt also erst eine Abhandlung zu lesen, und hernach tritt erst die briefliche Anrede hervor. Man ist aber schon durch die didactische Form so eingenommen, so daß man die briefliche Form für bloß etwas Äußerliches hält. Daraus ist auch die Hypothese gestellt, daß da, wo die allgemeinen Ermahnungen eintreten, auch ein anderer Schreiber eintrete. Nun aber in den historischen Büchern des N.T. finden wir didactische Vorträge mit aufgenommen, die zwar ein Theil dieses historischen Ganzen sind, aber sie sind doch ein selbstständiges für sich gewesen, die Reden Christi in den 4 Evangelien und der Apostel in der Apostelgeschichte. Es kommt also auch darauf an, ihre Einheit zu ermitteln. Nun aber die Frage, die vorher entschieden werden muß, ob diese Reden ihre Ursprünglichkeit behalten haben, ist mehr eine critische als hermeneutische; sofern gehört die Lösung nicht hierher. Die Ausmittelung der Einheit wird aber abhängen von der Art, wie man das, was in den Büchern steht, zu dem factum stellt. Die weiteste Entfernung zwischen beiden nimmt diese Ansicht an: daß die Apostel, wo sie hin kamen, in ihrem Beruf, redeten, ist nothwendig; wenn man aber sagt, der Verfasser der Apostelgeschichte habe sich in die hellenische Art und Weise gefügt, habe
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nicht bloß berichtet, daß geredet worden sei, sondern habe auch, um das factum lebendig zu machen, die Rede selbst gegeben, ohne sie gehabt zu haben; dann haben also factum und Rede nichts mit einander gemein, als daß der Verfasser jeden Apostel nach seiner eigenthümlichen Art reden läßt. Nun können wir nicht entscheiden, ob der Verfasser der Apostelgeschichte diese Rede gehabt habe, man ist also auf das hermeneutisch kritische Urtheil gewiesen, machen diese Reden den Eindruck, oder machen sie ihn nicht. Man führt nun für diese Hypothese an, die Reden tragen nichts Eigenthümliches an sich, der Verfasser habe sich nicht recht können in Jeden hinein versetzen. Wir lassen das unentschieden; wenn der Schriftsteller nur die Rede als ein ganzes Werk darstellt, so ist es doch ein in das Historische hineingelegter didactischer Vortrag, er muß eine Idee dabei gehabt haben: Also kann das Einzelne nur verstanden werden, wenn man die Einheit, die der Schriftsteller beabsichtigte, erkannt hat. Wie steht nun es mit den Reden Christi in den Evangelien. Die Differenz derselben in den 3 ersten Evangelien und im Johannes ist unverkennbar[,] deshalb verschiedene Ansichten darüber entstanden. Wenn man sagt, diese Reden sind getreue Nachbildungen der Reden Christi, wenn auch nicht ganz, doch auszugsweise. Demnach müßte Christus verschiedene Redeweisen gehabt haben. Da hat man nun gesagt, das sei doch zu unwahrscheinlich. Man müße sich den Johannes mehr in der Analogie mit den Schriftstellern denken, die die Reden ihren Helden in den Mund legen. Das ändert aber unsere Aufgabe nicht, es ist nur Johannes, nicht Christus, der die Einheit in die Reden hineinlegt. Rein hermeneutisch bleibt die Aufgabe dieselbe. Nur theologisch würde die normale Idee des N.T. von diesem Buche müßen aufgehoben werden. es würde kein kanonisches Evangelium mehr bleiben. Das Verständniß des Evangeliums bleibt also ganz dasselbe, nur die Anwendung würde sich ändern. In Beziehung auf die Reden Christi in den 3 ersten Evangelien sind die Fragen ganz anders zu verstehn. Da hat niemand behauptet, daß diese Reden gemachte Reden wären, weil sich auch kein Interesse dabei denken läßt. Wiefern aber diese Reden dem factum entsprechen ist etwas Anderes. Es kommen nehmlich Thatsachen vor, die in Beziehung auf diese Reden Zweifel erregen; es kommt nehmlich Einzelnes wörtlich wieder vor in verschiedenen Verbindungen; und es fragt sich, ob es wahrscheinlicher sei, daß Christus in verschiedenen Verbindungen dasselbe mit denselben Worten gesagt habe, oder ob diese Stelle aus einem andern Zusammenhang her geholt und in diesen Zusammenhang gebracht worden sei. Das 25 würde] folgt müßen
29 sind] kommen
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Letzte würde aber noch anderer Analogien zur Bestätigung bedürfen, ehe man darauf etwas bauen könnte. Wenn aber fremde Bestandtheile in eine Rede kamen, so wird die Aufgabe, die innere Einheit zu finden, schwürig, ja fast ganz unausführbar. Wenn wir nun fragen, wodurch soll das entschieden werden, so müßen wir nothwendig deshalb doch die Rede als ein Ganzes behandeln, und ihre innere Einheit suchen; die Entscheidung dieser kritischen Operation wird von der Vollständigkeit und Richtigkeit der hermeneutischen Operation abhängen. Sehe ich keine Einheit, so gewinnt die andre Vermuthung große Wahrscheinlichkeit. Finde ich aber eine Einheit, ohne daß mich etwas disparates stört, so gewinnt die Hypothese keine Wahrscheinlichkeit, und nur einzelne Fälle wird man als Ausnahme hinstellen. Diese verschiedenen Ansichten muß man also vorher haben, aber unsere Operation muß nothwendig vorhergehen, um die Sache zur Entscheidung reif zu machen. Was werden wir nun hier für Grundsätze aufzustellen haben? Bei so manchen in Zweifel gezogenen Compositionen in Beziehung auf die ursprüngliche Zusammengehörigkeit, kommt es auf einen Grundsatz an für die Bestimmung, wie weit die innere Einheit gehn könne. Eine solche wird vorausgesetzt, sofern eine gemeinschaftliche Beziehung in den einzelnen Theilen besteht, theils in der Beziehung aller Gedanken auf einen Grundgedanken, oder in der Gleichmäßigkeit der Fortschreitung. Hört beides auf, so ist auch kein Grund eine Einheit vorauszusetzen; Wenn ein Complex von Gedanken, eine Ausführung eines einzelnen Grundgedankens ist, so verhalten sich alle Gedanken wie Theile zu jenem, indem sie explicite haben, was jener implicite hat. Wenn nun aber darunter einer vorkommt, der seinem Inhalt nach keine Beziehung darauf hat, so ist der Zusammenhang unterbrochen. Soll man das Ganze aber doch als continuum denken, so muß man sich doch eine Erklärung dieses Hineinkommens geben können. solche kann sein, eine Parenthese zu einem einzelnen Gedanken, oder eine Anspielung etc. Die Aufgabe bleibt also immer, das fremdartige Element als Parenthese zu betrachten. Soll diese Einschränkung aber ein verständiger Akt sein, so muß er einen Grund gehabt haben, warum ihm das da eingefallen ist. Je weniger aber ein solcher parenthetischer Zusammenhang aufzufinden, die Zusammensetzung der Art ist, daß Jeder sagen muß, bei diesem geschlossenen GedankenGang ist es unwahrscheinlich, daß der Verfasser das sollte eingeschoben haben, so ergibt sich hier ist die Einheit verletzt. – Ebenso wenn die Einheit sich mehr in der Fortschreitung manifestirt, daß man 6 behandeln] behandelt
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einen ordentlichen Gang der Rede sehn kann, also das Prinzip der Fortschreitung als Einheit der Rede ansieht. Das kann verschieden sein, der Fortschritt kann sehr frei sein, das Ganze mehr dem freien Spiel ähnlich, oder der Fortschritt kann sehr streng sein, wie im Mathematischen oder Logischen. Tritt da nun ein anderer Fortschritt ein, der nachher dem Vorigen wieder Platz macht, so muß das parenthetisch begriffen werden können, oder es kann nicht begriffen werden. Nach diesem Grundsatz müßen die NeuTestamentischen Reden beurtheilt werden. Wenn man nun, ehe man sich mit einer solchen parenthetischen Erklärung abmüht, die Stelle anderswo in einem guten Zusammenhang findet, so muß die Frage aufgeworfen werden, ob das doppelt gesagt sei, oder das dictum aus einer Stelle in die andre kam. Die Wahrscheinlichkeit ist für das Letzte um so größer, als das dictum sich sehr leicht aus diesem Zusammenhang herausreißen läßt, und je mehr sich so etwas findet, desto mehr wird die Wahrscheinlichkeit zunehmen. Diese Ungleichheit in der Beziehung auf den Grundgedanken, oder in Beziehung auf den Fortschritt, begründet also das Urtheil über die Aufhebung der Einheit. Diese Ungleichheit ist im N.T. noch verschieden bald so, daß nur ein Gedanke dazwischentritt, die Einheit dann wieder aufgenommen wird, oder bald so, daß der erste Gedanke nicht wieder aufgenommen wird. Das Letzte scheint mehr ein Zusammenschieben. Im ersten Fall ist der Gedanke aus einer andern Stelle hergenommen, und man braucht da gar nicht auf eine absichtliche Verfälschung zu schließen; sondern wir bleiben bei der leichtern Erklärung, daß die Vermischung nicht das Ursprüngliche, sondern das Spätere war. – Wenn wir nun einzelne GedankenReihen vergleichen, werden wir noch einen Unterschied finden, solche, wo sich die Gedanken vom Grundgedanken leicht ablösen, und solche, wo das nicht ist. Im ersten Fall wird sich auch leicht Manches hinein versetzen laßen; bei einer gnomischen GedankenReihe wird das am meisten der Fall sein. Deshalb offenbar bei solchen Reden dergleichen Vermischung am leichtesten vorkommt. Man darf sich nur die Sache von der entgegengesetzten Seite denken. Wir können uns die Aufgabe stellen, mehrere Stücke so zusammenzusetzen, daß es dem Leser schwer wird, die Zusammenstellung zu merken. Das wird am leichtesten möglich sein, je mehr die Fortschreitung in den einzelnen Hauptstücken sich der Zusammenstellung nähert wie das beim Gnomischen stattfindet. Damit hängt noch das zusammen: Je leichter diese Aufgabe ist, um so eher entsteht auch der Reiz dazu. GedankenReihen dieser Art werden also sehr leicht entstehen 9 abmüht] abmüth
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können. Wenn wir uns auf diese Weise die Form einer Anthologie denken so gilt, je mehr etwas aus einem geschlossenen Zusammenhang kommt, um so mehr vereinzelt es sich auch; ohne erstaunliche Erkünstelung wird sich also da keine Einheit bezwecken laßen. Je mehr das Einzelne sich aber gnomisch gestaltet, um so leichter war diese Zusammenstellung. Denkt man sich nun diese Reden Christi gnomisch, so kann das Einzelne weit eher verloren gehn, als wenn es mit Mehrerem verbunden war. So wird also es sehr wahrscheinlich, daß solche Anthologien in einzelnen Fällen gemacht wurden, und Manches daraus in unsern Evangelien zusammenkam. In der Bergpredigt finden wir Theile, die in der That einen ziemlich geschlossenen Zusammenhang bilden, und eine Zusammenreihung solcher Theile, endlich einen Epilog, der sich sehr schikt zu einer Rede, wo die Grundsätze Christi wären polemisch dargelegt worden. Der Eingang schikt sich auch dazu. Aber mitten drin kommt 1 Anderes, das nicht als Ausführung der einzelnen Theile zu denken ist. Je mehr das Andre eine Einheit bildet, um so mehr scheint das daraus heraustretende von einer andern Hand hergekommen zu sein. Zu dem letztern gehört das Gebet des Heilands, das in den andern Evangelien in einem weit passendern Zusammenhang steht. Daraus allein aber einen Schluß machen zu wollen auf die Entstehung des ganzen Evangeliums, wäre eine große kritische Übereilung. Nun kommen als didactische Vorträge in diesen historischen Büchern noch vor Parabeln, theils für sich, daß sie ein abgeschlossenes Ganze bilden, theils in den Vortrag verwebt, und als Theile desselben. Sofern sie als abgeschlossenes Ganze vorkommen, sind sie einzelne Theile, und die Aufgabe, ihre Einheit zu finden, ist auf eine besondere Art zu lösen. Die größte Aufgabe in Beziehung auf die Auffindung der Einheit möchte nun wohl diese sein. Wir haben zugestanden einen verschiedenen Charakter der Reden und Parabeln im Johannes [und] in den 3 andern Evangelien. Wenn wir die Reden der Letztern betrachten, werden wir finden, daß die Einheit sehr leicht zu fassen ist, und sie hat etwas sehr Übereinstimmendes in Allen. Eben so haben die johanneischen Reden unter sich eine solche, weil das Thema, die objective Einheit, und das innere Motiv, also die subjective auf eine ganz genaue Weise zusammenfallen. Das Thema ist bei den mannigfachsten Veranlassungen die Dignität Christi. Das innere Motiv ist also, das eben gelten machen zu wollen; und so sind alle diese
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Reden Zeugniße Christi von sich selbst. Nun kann man nicht sagen, daß das in den 3 ersten Evangelien gänzlich fehlt, es wird vorausgesetzt, und als abgemachte Sache angesehen. Es entsteht also die Aufgabe, diese verschiedenen Charaktere auf eine Einheit zurückzubringen, und sich klar zu machen, wie derselbe Mensch in derselben Funktion, 2 so verschiedene Charaktere habe entwickeln können. Da kommt es also auf 2erlei an, 1) ungeachtet der äußerlichen Differenz doch die Analogie herauszufinden, und die subjective Einheit in beiden auf etwas Gemeinschaftliches zurückzuführen. Da müßen also auch die äußerlichen Umstände zu Rathe gezogen werden, denn die Verschiedenheit der Momente muß auf jeden Fall in Betrachtung gezogen werden. Nun kommt im johanneischen Evangelium auch die Parabel, und das Gnomische [vor], nur nicht in der ungleichen Aneinanderreihung. Die Gleichheit des Typus ist also doch darin; und es läßt sich wohl denken, daß es von ein und demselben Kompositionen giebt, wo in einer das eine mehr hervortritt, in andern ein andres. Nun kann man auch nicht sagen, daß in den 3 ersten Evangelien [bei] Christus nicht dasselbe Bewußtsein von seiner höheren Dignität vorkomme; es spiegelt sich auch darin ab, ist nur weniger entwickelt. Es kommt nur darauf an zu erklären, wie die öffentlichen Reden Christi das Eine mehr hervorheben mußten, Andre das wieder nicht. Die Differenz der Umstände kommt also sehr dabei in Betracht. Wenn man nun bedenkt, wie die Themata der Reden in den 3 ersten Evangelien, Polemik gegen die Pharisäer, also Darstellung des Sinnes Christi im Gegensatz sind; ferner Beschreibungen der ApostelGeschichte, gnomische und parabolische Andeutungen über einzelne Gegenstände, nun so ist es nicht schwer, sich die johanneischen Reden über die dignität Christi als das Centrum zu denken, die ausführlichen Reden in den 3 ersten Evangelien als Ausführungen dazu, alles Übrige als digression, das nicht weiter vom Centrum entfernt liegt, als in andern Werken. So bedarf man keiner hermeneutischen Hypothese, um die Einheit zu lösen. Der gute Erfolg der hermeneutischen Aufgabe kommt dann wieder der kritischen zur Hülfe. Wenn es nun die Hauptaufgabe ist, die Einheit des Lebens Christi zu zeigen, so ist es gleichgültig, ob einiges auch nicht in der rechten Folge steht, und es thut das der kanonischen Dignität keinen Eintrag. Wir gehn nun über zur Betrachtung der Parabeln, nehmlich um ihre Einheit zu ermitteln. Es beruht das auf der Voraussetzung, daß sie selbst5 derselben Funktion] denselben Funktionen 26 als] davor sich
7 ungeachtet] obgleich
30 lies: ,die Frage der Einheit zu lösen‘ oder ,die Einheit zu finden‘
23 sind] ÐseiÑ
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ständige Vorträge sind. Sie sind im N.T. 3fach, in einer größeren Rede verwebt, einzeln, und mehrere an einander gereiht, so daß es einen großen Schein gewinnt, sie sollen nach einander vorgetragen gedacht werden. Unsere Aufgabe geht auf das 2te[,] die einzelne Parabel. Es fragt sich nun, wie das, was wir finden, auf die andern Fälle anwendbar sein wird? Wenn eine Parabel in einer größeren Rede vorkommt, so ist sie Erläuterung eines dahin gehörigen Gedankens. Erläuterung als solche ist der Gesammtheit subordinirt; deshalb ist sie für den größern Vortrag als wesentlicher Theil anzusehn; sie hat den Charakter einer digression; sie kann deshalb mit Leichtigkeit abgesondert werden, und folgt den Auslegungsregeln der einzelnen Parabel. Das läßt sich noch auf eine andre Weise vom entgegengesetzten Punkt aus deutlich machen. Fragen wir, wie kann es geschehn, daß eine Parabel einzeln vorgetragen wird. Wurde sie ursprünglich schriftlich verfaßt, gehört sie unter die Gattung von Kompositionen, die man epigrammatische nennen möchte; die eine Veranlaßung haben, aber für sich selbstständig dastehn. Dahin gehört auch die Fabel. Denken wir sie uns im mündlichen Vortrag, so wird das Natürlichste sein, sie in ein Gespräch zu versetzen, dann liegt die Veranlassung in einer Frage; die Conception müßen wir uns also immer in einer bestimmten Conception von Gedanken vorstellen; die Parabel ist nur Darstellungs-Form, was auch sonst mehr logisch über den Gegenstand muß gedacht worden sein. Die Angemessenheit zu einer solchen mehr bildlichen Darstellung bedingt das für sich allein Hervortreten der Parabel. – Was nun das 3te betrifft, ein Zusammenhang von Parabeln in Reihen, das läßt sich nur denken, wenn sich die Parabeln auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Aber uns wird das etwas Fremdes haben; wir werden es nur natürlich finden, wenn ein Gegenstand von vielen Seiten beleuchtet wird, daß die bildliche Darstellung in manchen Stellen des logischen erscheint, nicht aber daß die ganzen Darstellungen in solche Einzelnheiten zerfallen. Allein in damaliger Zeit waren die Parabeln und Apologen weit geläufigere didactische Formen. Zwar können wir uns das also denken, aber jede Parabel muß doch aus dem Gesammtnachdenken über den Gegenstand entstanden sein; sie laßen sich also auf denselben Typus zurükführen. Was ist nun der Haupttypus der Parabel? Die Darstellung eines Gegenstandes an einem andern in geschichtlicher Form, also eine allegorische oder symbolische Erzählung. Was sie eigentlich darstellen soll, das 31 Zu ,Apolog‘ sagt Campe (6, 118): „Die Franzosen bezeichnen damit die Äsopische Fabel insonderheit […] so scheint der Ausdruck Lehrfabel […] ganz paßlich zu sein.“
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muß können als allgemeiner Satz ausgedrückt werden, die Darstellung ist aber eine bildliche. Denn eine einzelne Erzählung soll mir immer zum Bild werden, soll die Stelle vertreten, als sähe ich die Begebenheit. Beides ist irrational zu einander, weil das Bildliche als ein Einzelnes, das Logische als ein allgemeines aufgefaßt werden soll. Es ist also auch hier kein reines in einander Aufgehn denkbar. Einmal erschöpft die Parabel nicht den allgemeinen Satz, bleibt hinter ihm zurück; dann muß sie mehr bildliches aufnehmen, als im allgemeinen Satz liegt, und geht also über ihn hinaus. Die Aufgabe die Einheit zu finden ist also 2fach. 1) den logischen Satz zu finden, und das kann nur erreicht werden, wenn 2) das Verhältniß der einzelnen Theile der bildlichen Darstellung mit erkannt wird. thue ich das Letzte nicht, so verfehle ich die Absicht des Darstellenden und lege etwas hinein, was er nicht darein legte. Darin liegt bei allem richtigen Verfahren das Schwürige des Auslegens. Man kann etwas mit zur Abzweckung nehmen, was der Andre bloß als Ausführung ansah, und umgekehrt; das erste wird dem Andern erkünstelt, das Zweite dem ersten oberflächlich erscheinen. Vor beiden Klippen hat sich die Auslegung zu hüten. Einen Grundsatz aufzustellen ist deshalb sehr schwer. Wir können nur sagen, das Beste ist bei dem stehn zu bleiben, wie der Vortragende dachte, daß seine Zuhörer auslegen würden. Von der Auffassung der Maximen seiner Zuhörer hing es ab, ob er richtig verstanden werden würde oder nicht. Die Gattung selbst wird nun noch eine Mannigfaltigkeit zulaßen. Wir können uns einen strengen Stil denken, dessen Extrem ist, alles Unnöthige zu vermeiden selbst auf die Gefahr, daß die bildliche Darstellung die Lebendigkeit verliere. Auf der andern Seite wird es einen reichern Styl geben; das mit dem dazwischen Liegenden wird den ganzen Umfang der Gattung geben. Nun fragt es sich, ist es wahrscheinlich, daß bei demselben Schriftsteller Parabeln von entgegengesetzter Form vorkommen. Wenn man das ableugnen müßte, und einen bestimmten Styl eines Jeden angeben könnte, so würde ich alle Parabeln desselben Schriftstellers nach derselben Maxime erklären können. Das auf den strengen Styl angewendet, begünstigt die erkünstelte Auslegung, und auf den leichtern Styl angewendet, die oberflächliche. Ein Blik auf das N.T. wird zeigen, daß die Maxime nicht richtig ist. Denn kommt eine Parabel in einer größern Erörterung vor, so hat sie da ihre bestimmte Grenze, und darf sich da nicht breit machen, sonst würde das Ganze diffuse erscheinen. Kommt sie dagegen einzeln vor, so muß sie ausführlicher sein, und das Beiwerk mit aufnehmen, weil sie sonst zu schnell am Zuhörer vorübergehen 2 Bild] Bidd
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würde. Beide Arten müßen nothwendig bei demselben Schriftsteller vorkommen. Die Parabel vom armen Lazarus ist in großer Ausführlichkeit, es giebt sich deshalb vieles, wie die Schwäre und die Hunde, als bloße Ausschmückung zu erkennen. Wenn man dagegen in der Parabel vom Sämann sagen wollte, es mache keinen Unterschied, ob der Saame auf den Weg oder auf den Felsen fällt, so ist dasmal durch die Auslegung Christi der Folgerung vorgebeugt, es gebe mancherlei Wege, wie das göttliche Wort unwirksam gemacht wird. Es wird also ein verschiedener exegetischer Geschmak, wonach Einer sich mehr zur Künstelei, der Andre mehr zur Oberflächlichkeit neigt. Da die Maxime nicht festgestellt werden kann, so fragt es sich, welche Klippe am meisten zu vermeiden sei, und da möchte ich mich für die Vermeidung der Oberflächlichkeit erklären, und lieber zu viel hineinlegen. Denn will man alles auf die eigentliche Abzweckung zurückführen, so scheitert man dabei, denn es zeigt sich dann, daß es eigentlich nicht zum Grund-Gedanken paßt. Es giebt überhaupt eine Auslegungsweise, die lange in der Kirche geherrscht hat, die allegorisirende, die den Fehler der Künstelei begünstigt. Doch in dieser Hinsicht muß man sie für unschädlicher erklären, als die neoterisirende, die alles eigenthümlich christliche, also auch hier die Parabel mit Oberflächlichkeit behandelt, uns aber auch dem Verlust von manchem Eigenthümlichen aussetzt. Man könnte allerdings noch eine bestimmtere Regel aufstellen, um die Grenzen der Anwendung einzelner Punkte zu bestimmen; sie ist aber erstens nicht auf alle Fälle anwendbar, und hernach wird es doch Sache des exegetischen Gefühls, ob sie so oder so anzuwenden ist. Das Historische, das, was in der Parabel das Bild ist, ist ein Mannigfaltiges; der Gegenstand, auf den es angewandt wird, auch, und die Form würde ganz verfehlt sein, wenn nicht gewisse wesentliche Punkte in beiden zusammenkämen. Beides ist aber wieder unendlich. Nun kann man sagen, in der bildlichen Darstellung liegt vieles, was nicht mit entwickelt ist, und wovon es ungewiß ist, ob der Urheber sie mitgedacht habe. Je leichter sie sich erzeugen, um so wahrscheinlicher ist es, daß der Urheber sie wolle mitgedacht haben. Die Entscheidung, ob das Auslegungen sind, oder nur weitere Anwendungen und Fortsetzungen, kann nur darauf liegen, ob es wahrscheinlich ist, daß der Urheber sie mitgedacht. Was haben wir da für ein Maaß? Wir können nur von 2 Punkten ausgehn 1) daß diese Gedanken Neben-Vorstellungen des Ur-
35 Maaß] Maas 2 Siehe Lukas 16, 19–31
4–5 Siehe Markus 4, 1–9. 13–20 und Parallelstellen.
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hebers, die er aber nicht mit ausgedrükt, sind. Das ist Sache des subjektiven Gefühls, und schwerlich werden Einige in dieser Hinsicht übereinstimmen 2) je mehr durch ihre ganze Localität die parabolische Darstellung in bestimmten Grenzen eingeschlossen ist, um desto mehr Ursache hat man zu glauben, daß er etwas mitgedacht hat, was er nicht mitgesagt hat. Je mehr er darin frei war, um so weniger Ursache hat man das zu glauben. Wir haben nun zugegeben, jede Parabel bestehe aus 2 Elementen, wesentlichen und solchen, die der figürlichen Darstellung angehören; das hat Analogie mit dem, daß in jeder mehr ausgeführten Rede manches seinen Grund hat im musikalischen Theil der Sprache, was dem logischen Gehalt der Rede entgegensteht. So wie sich der Körper der Rede zum logischen Inhalt verhält, so die bildliche Darstellung der Parabel zur eigentlichen Abzweckung. Nun können diese bildlichen Elemente eindeutig sein, so daß niemand davon eine Anwendung machen will, oder 2deutig d. h. es kann sich eine Anwendung davon ergeben, und zugleich ist die Abzweckung auf das Äußerliche ganz sichtbar, so daß man zweifelhaft ist, ob der Verfasser sie angewandt haben wollte. Einige werden sie für äußerlich, Andre für innerlich halten. Wenn man darauf sieht, daß die Anwendung aus verschiedenen Theilen besteht, könnte man die Regel aufstellen, daß die Entwicklung der Anwendung in verschiedenen Theilen gleich sein müße. Ist die Parabel in dieser Hinsicht nicht gleich, so wird die Gleichmäßigkeit fehlen, und es kommt dann auf die Art an, wie der Verfasser die Parabeln behandelt. man nehme die Parabel vom Sämann, wo die Parabel und die Anwendung ganz gleichmäßig fortgeführt ist. Aber man kann doch die Regel nicht überall anwenden, sondern wie in jeder Komposition die Gleichmäßigkeit an einzelnen Stellen verletzt wird, wo ein besonderer Reiz ist, in einzelnen Gliedern hervorzuheben, was an andern nicht ist. Alles was zu pikanten Stellen gehört, ist von dieser Art. Nun wird das Niemand für einen Fehler halten; dasselbe kann aber auch in der Parabel sein, es kann jemand eine Veranlassung haben, an einer Stelle eine tiefere Entwicklung zu geben, als an andern Stellen. Da wird es also 2 Auslegungen geben. Der Eine wird sagen, das ist etwas so treffendes, daß der Verfasser recht gut das hervorheben kann, obgleich ihm in Andern nichts entspricht. Der Andre wird sagen können, mir tritt die Gleichmäßigkeit so hervor, daß ich mir das nicht gut denken kann. – So weit davon –.
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Wir haben überall unterschieden zwischen der objectiven Einheit oder Thema, und der subjectiven, zu deren Bezeichnung ich mich des Ausdruks Motiv bediente. Es giebt Fälle, wo sich beide von einander entfernen, wo die objective zufällig wird für die subjective. Nachdem wir nun mehr ins Einzelne gegangen sind, wird es leicht sein, hierauf noch einmal zurückzukommen. Die Fälle, wo objective und subjective Einheit ganz zusammenfallen, werden allemal solche sein, wo der Schriftsteller vom darzustellenden Gegenstand ergriffen ist, und je ursprünglicher das ist, je genauer ist die Identität dieser beiden Einheiten. Das Auseinandertreten tritt ein, wenn zu einer schon angelegten Conception sich der Gegenstand erst als ein besonders schicklicher hinzufindet; wenn also die objective Einheit etwas sekundäres ist, nun so treten sie aus einander; überall wo das Wesen der Darstellung ist, eine Idee an einem Einzelnen darzustellen, wird die Idee das primitive sein, denn in dieser Bestrebung schon begriffen, hat der Geist einen Gegenstand als das beste Medium erst gesucht, und der Entschluß entsteht, wenn die Verbindung zwischen beiden lebendig wird. Der Unterschied zwischen beiden ist deutlich. Es wird ein anderes Prinzip: die Entwicklung und Fortschreitung ist [gegeben], wenn beides identisch ist, denn der Redner ist von Anfang an in der Gewalt des Objektiven. Etwas anderes, wenn das Objective für das Subjective ein Äußerliches ist. Denken Sie sich Einen, der eine durch den Hergang interessante Begebenheit erlebt, von ihr ergriffen wird, und in der Anschauung und Interesse aufgeht, wenn der sich mittheilen will, hat er nichts zu thun, als das ihm gewordene Bild heraustreten zu lassen. Willkühr im Verfahren ist hier schlechthin passiv. Nun denken Sie sich einen Andern, der dieselbe Begebenheit braucht, die Wirkung menschlicher Leidenschaft und Folgen zur Anschauung zu bringen, so ist die Lehre sein Motiv, und die Begebenheit verhält sich wie das Beispiel dazu. Der hat die Begebenheit um dieser bestimmten Beziehung willen gewählt, sie ist ihm also nur relativ bedeutend. er wählte das Beispiel nur wegen der Totalität des Eindrucks, und er wird auch die Begebenheit so darstellen, daß die Beziehung hervortritt. Was wir Willkühr nennen ist da das Band zwischen der objectiven und subjectiven Einheit; mehr reflektirende Thätigkeit in der Darstellung. Dagegen wird eine Art von Begeisterung für den Gegenstand im Ersteren sein; im zweiten ist das, was ihn begeistert, das Theorem; Beide werden ganz verschieden sein, und man kann das Einzelne in seinem Verhältniß nur verstehn, wenn man das Innerliche gefunden. Nun giebt es auch Fälle, wo die Sache umgekehrt ist, das Objective das Ge2 subjectiven] object
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gebene, der Darstellende aber noch in einer Indifferenz ist, was er damit machen soll, er also noch nach einem Motiv sucht, um das Ganze zu reguliren. Das findet bei allen aufgegebenen Thematen statt; auf dem rhetorischen Gebiet die Lobreden. Da tritt wieder die Differenz von dem unmittelbaren Einssein beider Einheiten auf; je weniger er das Motiv aus seinem Innersten hernehmen kann, um so kälter wird die Darstellung sein. Dies bildet den Übergang zum 2ten Theil unserer Aufgabe, nehmlich aus der gewonnenen Einheit des Ganzen das Einzelne zu erklären. Wir haben hier auf der grammatischen Seite ein Qualitatives und Quantitatives (wie weit der Grad der Anwendung geht) unterschieden, und gesagt, es muß das aus dem Verständniß des ganzen Zusammenhangs erhellen, das setzten wir dort voraus, und wir hätten hier also das Supplement zu liefern; wenn ich die Einheit des Ganzen erfaßt habe, muß die Beziehung der einzelnen Theile auf das Ganze mir deutlich werden. Es ist auch gewiß, daß man nicht eher ein sicheres Bewußtsein vom Verständniß des Ganzen habe, bis man im Prozeß der Nachkonstruktion zu einer gewissen Sicherheit gelangt ist. Das ist also erst recht die vollkommene Durchsichtigkeit des Ganzen, die von dieser Operation abhängt. Wenn wir aber sehen, wie wenig Einstimmigkeit die gleichen hermeneutischen Operationen haben, so wird daraus hervorgehn, daß wir nicht sagen können, etwas vollkommen Befriedigendes aufzustellen. Wenn wir den ganzen Akt der Composition noch von einer andern Seite betrachten, so haben wir ihn zu subsummiren unter ein allgemeines Gesetz aller Handlung, daß sie zusammengesetzt ist aus einer äußeren Aufforderung und einem innern Impuls. Wenn wir uns Mehrere denken von derselben äußerlichen Aufforderung ergriffen, so werden wir sehr gegensätzliche Impulse finden; aber dann auch wieder unter denen, die auf derselben Seite stehn, wird sich dieselbe Tendenz auf eine verschiedene Weise gestalten. Wenn wir nun diese Differenz auffassen, und sie wieder zerfällen wollen, so werden wir zuerst eine intensive Verschiedenheit in Beziehung auf den Akt der Composition wahrnehmen können, wie nehmlich in Beziehung auf den Akt der Aufforderung sich die verschiedenen Compositionen verschieden klassifiziren. Es giebt solche Compositionen, die bloß bedacht sind, was zu einem bestimmten Moment gehört[,] zusammenzufassen, Sammlung, 2) solche, die was jene sammlen nach einer bestimmten Ordnung gestalten, und 3) solche, die als eine eigene Produktivität erscheinen. Wir können diese Trichotomie auch als Dichotomie gestalten. 1) solche, wo die äußerliche Aufforderung vorherrscht, Sammlung und Gestaltung 2) ist der Impuls die überwiegende
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Produktivität, so erscheint das Ganze als eine Produktion, wozu die äußere Aufforderung bloß die Zeit und die äußerliche Form gab. Wenn wir nun die gleichartigen Compositionen betrachten, so werden wir da noch einen Unterschied machen, und einer einen Vorzug vor der andern geben; z. B. 2 Sammlungen können [sich] bei gleichem Umfang an Genauigkeit unterscheiden; es ist das aber nicht eine Differenz der Produktivität, sondern des Fleißes und Richtigkeit; eben so im 2ten Fall durch Richtigkeit und Genauigkeit in dem, was durch das gestaltende Prinzip hat aufgenommen werden können, und durch die harmonische Gestaltung, in die Alles aufgeht. Das ist eine Differenz des Talents, wenn jenes eine Differenz der Gesinnung war. Sehn wir auf die Werke, die mehr als reine Produktionen erscheinen, so giebt es da auch eine Differenz der Virtuosität wie in den andern. Aber da hier die innere Kraft recht hervortritt, die Differenz der inneren Eigenthümlichkeit, die bei ganz gleichen Fällen eine verschiedene Gestaltung hervorbringt. Denken Sie sich, Mehrere bearbeiten einen dramatischen Gegenstand, so ist nicht bloß die äußere Aufforderung, sondern er soll den geschichtlichen Stoff bearbeiten so, als ob er ihn gereizt hätte, und er dadurch veranlaßt worden wäre. Wir werden also bedeutend verschiedene Compositionen auf diesem Gebiet erhalten, nicht bloß in Beziehung auf den dramatischen Typus, sondern auch Differenzen, die rein aus der persönlichen Eigenthümlichkeit hervorgingen; und das wird eigentlich überall sein, nur daß sie mehr verschwinden in den untergeordneten Gattungen, wo die äußerliche Aufforderung vorherrscht. Wir wollen alle kritischen Fragen über unsre 3 ersten Evangelien bei Seite lassen, so werden wir sie doch wegen der Übereinstimmung für Sammlungen halten, die durch eine äußerliche Aufforderung bedingt wurden. Die innere Eigenthümlichkeit derselben wird also weniger hervortreten, und was am meisten dafür ausgegeben wird hat seinen Grund in der äußerlichen Aufforderung; die Einen waren in der Lage und Ordnung, worin sie sammleten, an die tradition mehr gebunden, weil sie näher an der Quelle standen, die Andern weniger, weil sie weiter entfernt davon waren. Wenn es sich also um die Ausmittelung der innern Eigenthümlichkeit eines Schriftstellers handelt, so muß man das wohl berüksichtigen, und nicht zu viel Werth darauf legen, so daß andre wichtigere Hauptfragen zurükgedrängt werden. Je mehr man in den 3 ersten Evangelien hierauf zurükführen will, um so mehr geräth man in Gefahr, das Wichtigere zu übersehn. Man muß sehr wohl unterscheiden bei Allem wo der Gegenstand geschichtlich ist, zwischen der unmittelbaren hermeneutischen Aufgabe, wo man die Geschichte fassen muß wie sie im Verfasser war, und zwischen dem, aus der geschichtlichen Darstellung das
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factum zu bestimmen. Weil aber bei diesen Büchern das factum uns mehr interessirt, so dominirt diese Aufgabe auch hier. Aber ich werde erst, wenn ich die verschiedenen Relationen mit einander verglichen habe, auf das factum schließen können. Wie weit diese Aufgabe hinter der eigentlichen hermeneutischen Aufgabe zurükliegt, sieht man aus einem andern Fall. Denken Sie sich einen Rechtstreit, und Reden die darüber gehalten werden, so ist meine hermeneutische Aufgabe gar nicht auf die Ausmittelung der Thatsache gerichtet; wohl aber der Richter; der wird dagegen das Hermeneutische auch nicht zur Hauptsache machen, sondern mit dem, was ihm sonst noch bekannt ist, die Thatsache ermitteln. Der Richter weiß schon durch die Seiten, auf welcher sie stehn, das Interesse derselben, braucht also durch hermeneutische Aufgaben nicht hindurchzugehen. Wird aber die Thatsache erst durch die hermeneutische Aufgabe bekannt, so müßen wir sie durchgehn, weil dann vielleicht erst bekannt wird, wie sich der Schriftsteller im Auffassen und Wiedergeben einer Thatsache verhält. Was ich daraus folgern will, ist das, daß die persönliche Eigenthümlichkeit mehr hervortritt, je mehr sich die Darstellung vom Minimum der Produktivität entfernt. Die individuelle Seite des Schriftstellers zu erforschen, wird die hervortretende Aufgabe sein. Das hat noch einen andern Zusammenhang, der tiefer liegt. In diesem letzten Fall wird die Intelligenz im Menschen als etwas beständig Thätiges gedacht. Ein solcher wird auch ein verständiger Beobachter außer seiner Composition sein, wogegen sich dies von einem Sammler oder verständigen Anordner nicht wird sagen laßen. Wollen wir nun darauf ausgehn, von der richtig verstandenen Einheit eines Werks den ganzen Prozeß nachzukonstruiren, so müßen wir das Verhältniß der beiden Faktoren in der Einheit und in dem ganzen Verlauf der Darstellung vorstellen; es werden solche sein, wo der erste Anfang, und das ganze Gesetz des Verlaufs mehr in der äußerlichen Aufforderung, und Andre wo es in der innern Eigenthümlichkeit liegt. Man könnte verleitet werden zu glauben, daß diese Sonderung ganz auf dem Charakter des Werks liegt; also es werde historische Werke von allen diesen Gattungen geben, bloße Sammlungen, pragmatische Werke, und Darstellungen einer spekulativen Idee durch den Stoff. Aber wenn ich mir poetische oder philosophische Compositionen denke, so werden die Alle nur von der letzten Art sein. Nein, denn erstlich giebt es hier das große Gebiet der Nachahmung, und dies wird nur unterschieden werden können, je nachdem es Sammlung oder verständige Anordnung ist. Denken Sie an die alte 10–11 Richter] Richtung 34–38 Variante Bötticher, S. 242: „Doch das ist durchaus nicht der Fall, erstlich haben wir
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dramatische Poe¨sie, so giebt es da Einige, die den ganzen Typus gestaltet, und in verschiedenen Perioden umgestaltet haben; Andre aber haben sich zu ihnen als Nachbildner verhalten, da kann es wohl Werke gegeben haben, die als leichte Umbildung eines schon gegebnen Stücks erschienen; diese werden auf der untersten Stufe stehn. Andre werden einen Stoff eigens bearbeitet haben, aber sie sind dominirt durch die großen Geister dieser Gattung. Die Ausmittelung der innern Eigenthümlichkeit, wenngleich sie nicht Null ist, wird weniger Interesse haben. Es ist etwas ganz anderes die Frage hier nach der persönlichen Eigenthümlichkeit des Schriftstellers auf dem ethischen oder metaphysischen Gebiet, und hier. Auf dem ethischen Gebiet kommt es [an] auf die Stellung der Intelligenz im Menschen zu der allgemeinen Intelligenz, und die Handlungen die daraus hervorgehn. Auf dem metaphysischen Gebiet kommt es auf Differenz des Verhältnißes des Menschen zu dem ganzen MenschenGeschlecht, und auf die Differenz des Verhältnißes auf andern LebensStufen an. Ja, dahin wird Manches andre gehören, als hier in Betrachtung kommt. Wenn wir einem bloßen Sammler weniger persönliche Eigenthümlichkeit zuschreiben, als einem, der selbst concipirt, so folgt daraus, daß der für das ganze Leben weniger persönliche Eigenthümlichkeit überhaupt hat; er betreibt nur den litterarischen Verkehr als Nebensache, und da kann sich seine persönliche Eigenthümlichkeit nicht entwickeln. Auf der andern Seite fassen wir hier mehr unter dem Ausdruk persönliche Eigenthümlichkeit, wir rechnen Schule, frühere Lektüre etc mit hinzu, von einem Unterschied zwischen dem Angebornen und Erworbenen, wie auf dem metaphysischen Gebiet ist hier nicht die Rede. Machen wir uns nun das Wesen der Aufgabe klar. Wenn wir eine Schrift lesen, so werden wir unter den Zuständen, worunter wir uns befinden, leicht den Unterschied machen, daß wir uns eine Zeit lang nicht bloß in Beziehung auf die Sprache, sondern auch auf die Gedanken-Entwicklung ohne Anstoß bewegen. In andern Umständen geht es nicht so, wir sind also in der Operation nicht so begriffen wie der Schriftsteller. Nun kann der Grund im Objectiven, im Gegenstand liegen, oder auch darin, daß wir uns in die Combination der Gegenstände nicht leicht finden können. Woher kommt es nun, daß wir uns einmal leichter in
hier das ganze große Gebiet der Nachahmung in der Poesie sowohl als in der Philosophie, nur je mehr von der Herrschaft eines Anderen in einem gewissen Gebiete zurücktritt kann überhaupt von seiner Eigenthümlichkeit die Rede sein, und nur dann ist die Frage danach die Hauptsache.“ 8 Di 23. 1. ausgefallen
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einen Schriftsteller finden, als nachher? Die Fälle können doppelt sein. Einmal, wir bewegten uns früher in ihm leichter, weil wir weniger Acht gaben und 2) es trat in dem Ersten seine persönliche Eigenthümlichkeit weniger hervor. Das Erste wird zuerst immer zu thun sein, durch eine nochmalige Lesung. Theils konnte auch das Verständniß sich in dem früheren in einer mehr objectiven Behandlungs-Weise sich bewegen, deren Gesetze für Alle gleich sind; hier nun tritt eine mehr subjective Behandlungs-Weise ein. Das Gelingen der Aufgabe hängt von einem solchen Verständniß des Autors ab, daß wir ihm ebenso gut vorkonstruiren können, als nachconstruiren. – Da das die einzig erschöpfende Formel ist, muß ich mich näher erklären. Das factum wird Jeder gegenwärtig haben, wenn Jemand einen Menschen genau kennt, und es kommt etwas Bedeutendes vor, worüber Alle verschieden sich benehmen, so werden wir sagen können, Jener wird so und so sich dabei benehmen. Dasselbe gilt von der GedankenReihe so gut wie von der Handlungs-Weise. Das Weissagen ist der Prüfstein für die ganze Aufgabe, daß man dann alles richtig erkennen wird, was aus diesem Innern hervorgeht. Diese Kenntniß, wie sie überhaupt nicht zwischen jeden 2 statt finden kann, setzt eine große Continuität des Lebens voraus. Unsere Kenntniß der Schriftsteller, wenn sie bloß auf dem Lesen beruht, wird also auch nur allmählig zu erreichen sein. Das Nächste ist das: Wir müßen uns denken 2 Aufgaben als nur durch einander lösbar, 1) eine anschauliche Vorstellung von einem Menschen in seiner Gedanken-Entwicklung zu bekommen, und 2) eine Schrift als Produkt dieses Prozesses zu verstehn. In diesem Cyklus befinden wir uns in der hermeneutischen Aufgabe immer. Daraus geht hervor, daß beide Aufgaben gleichzeitig gelößt werden müßen, daß man also etwas vom Schriftsteller voraushaben muß, ehe man an das Verstehn eines einzelnen Werks geht. Wenn ich nun im Voraus weiß, was ein Schriftsteller sagen wird, so ist das ein Beispiel, daß ich in seiner eigentlichen Verfahrungsweise sehr vorgeschritten bin. Das Nächste an diesem Maximum ist, wenn sich der Fortschritt, mit dem[,] was ich schon habe[,] einigt, so daß ich sagen kann, hätte ich noch ein wenig gewartet, so würde ich dahin gekommen sein. Wenn sich das aber nicht einigt, so entsteht eben die Unsicherheit. Welches ist nun der allmählige Fortschritt in diesem Verfahren? Die eigenthümliche Combinations-Weise liegt in den allgemeinen Gesetzen des menschlichen Denkens, und wenn sie sich darüber entfernt, so schreiben wir dem Verfasser selbst Wahnsinn zu. Nun kann diese Erklärung nicht 29 weiß] weis
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aus einer Stelle allein geschehn, wir lenken, wenn wir nichts andres finden, wieder ein, nun wird die Aufgabe schwerer. Das allgemeine Bewußtsein von der GedankenVerbindung ist also das Erste, was wir mitbringen. Nun können wir nicht an das Lesen eines Schriftstellers gehn ohne Sprach-Kenntniß, und wir machen also die Voraussetzung, daß die eigenthümliche Verfahrungs-Weise innerhalb der nationellen Eigenthümlichkeit liegen werde. Nur ist das nicht mehr so allgemein zugestanden; denn wenn wir in einem französischen Schriftsteller eine wahrhaft deutsche Stelle finden, so halten wir ihn deshalb nicht verrükt, sondern es ist eine Ausnahme. Die Voraussetzung ist aber doch immer, daß die nationelle Eigenthümlichkeit diese fremden Einflüsse dominirt. Nun haben wir 3) zugegeben, daß jede Gattung ihre Grenze habe, d. h. daß die Eigenthümlichkeit durch den Typus der Gattung bestimmt wird. Das 3te was wir voraussetzen ist also, die eigenthümliche Verfahrungs-Weise eines Schriftstellers werde dem Typus der Gattung entsprechen. Dies dritte ist offenbar ein Produkt der beiden ersten, denn jedes Volk hat seine eigenthümlichen Typen. (cfr eine gerichtliche oder deliberative Rede bei Griechen und Römern – und bei den Engländern). Nun bringen wir außerdem noch eine vorläufig reichere oder magere Kenntniß des Schriftstellers mit. Versetzen wir uns nun in das gewöhnliche Leben, hängt das Verstehn eines Menschen bloß von dem Interesse ab, das wir an Einem haben? Nein, wir finden, daß das Interesse an einem Menschen lange mit dem ihn nicht Verstehn kämpft. Endlich aber weicht Eines dem Andern. In dem gewöhnlichen Leben gehn wir also unkünstlerisch zu Werk, hier suchen wir eine bestimmte Methode. Nun sagten wir einmal, der Anfang von dem wir ausgehn müßen, ist daß die CombinationsWeise eines Schriftstellers innerhalb der allgemein menschlichen liegen müße. Ein 2ter Punkt von dem wir ausgingen, war, daß die Aufgabe die persönliche Eigenthümlichkeit eines Verfassers zu verstehn die Continuität des Lebens mit ihm voraussetze. Beide Punkte führen auf zwei verschiedene Methoden. Je größer die Continuität des Lebens ist, um eine desto größere Menge von Vergleichungspunkten haben wir. Je mehr die Continuität des Lebens zunimmt, um desto mehr sieht man, daß die Aufgabe auf der Vergleichung beruht. Dies gäbe die comparative Methode. – Von den allgemeinen Gesetze der menschlichen Combinations[weise] haben wir ein ursprüngliches Bewußtsein. Liegt die besondere menschliche CombinationsWeise innerhalb derselben, so ist sie ein Punkt in einem Kreise. Die allgemeinen menschlichen CombinationsGesetze sind die Totalität von diesem einzelnen Punkt. Wir könnten also sagen, es liege in der Kenntniß der allgemeinen Gesetze der menschlichen CombinationsWeise, eine mögliche 40 CombinationsWeise,] folgt läge
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Kenntniß aller darin enthaltenen einzelnen verschiedenen. Das Wirkliche aus dem Möglichen zu finden ist die divination. Diese Richtung einseitig verfolgt gäbe die divinatorische Methode. Die eine Methode ist also die Formel den Ort den eine Schrift in dem allgemeinen menschlichen CombinationsVermögen hat, zu bestimmen. Die andre ist das Bestreben die eigenthümliche Verfahrungsweise eines Schriftstellers durch differenzen und analogien auszumitteln. Beide erscheinen möglich aufgegeben werden zu können, aber nicht gelöst werden zu können. Die erste Methode, die divinatorische, hat etwas ganz Richtiges, aber es scheint gar keine Sicherheit dabei. Versetzen wir uns mal in das gewöhnliche Leben, so werden alle Menschen in dem Fall sein, mit Ausnahme weniger kritischen und skeptischen, daß sie, wenn sie einen Menschen zum ersten Mal sehen sich ein Bild von ihm machen; das ist eine divination; je länger wir aber mit ihm zusammen sind, um so mehr werden wir an dem Bilde zu ändern haben. Es ist also ein anmaßendes Bestreben. Jedes Schaffen eines Bildes ist Thätigkeit der Phantasie. wenn die Phantasie rein wäre, so ließe sich dabei noch etwas erwarten: Allein jeder ist in seiner Phantasie noch in einer Stimmung, die sein Ich nicht einmal rein setzt. Wir nehmen in jedem Menschen ein persönliches Bewußtsein an, und außer ihm ein allgemein menschliches Bewußtsein, wodurch er sich der Gattung subsummirt. Wenn dies nun in nichts anderm besteht, als daß man die menschliche Natur zu sich selbst setzt, so kann daraus ein solches Verfahren gar nicht entstehen. Schließt aber das Bewußtsein der allgemeinen menschlichen Natur zugleich ein dunkles Bewußtsein aller Individuen in sich, so ist das das Richtige. Nun setzen wir voraus, es sei in uns ein dunkles Bild von allen Einzelnheiten und charakteristischen Differenzen; wenn nun ein Mensch einen Eindruk auf uns macht, so werden die Bilder in uns aufgeregt und stellen sich als eins dar. Daß das Bild nicht bloß natürlich, sondern auch nothwendig ist, werden wir leicht einsehn, wenn wir uns den Fall vorsetzen, wenn Reisende in Länder kommen, wo sie sehr verschieden von sich constituirte Menschen sehn; woher kommt das Urtheil, daß das Menschen sind? Wir sind uns selbst nur als Einzelnheit bewußt, und subsummiren uns mit andern unter die allgemeine menschliche Natur. Das Verfahren ist aber schwüriger, wenn es das Innere, nicht das Äußere betrifft, und nicht eine Masse von Menschen sondern einen Einzelnen. Ist nun am ersten etwas Wahres, so muß es auch an diesem sein. Die Sache erscheint uns also von hier aus als ein eigenthümlicher Sinn oder Talent; das aber nicht eher Sicherheit erhält, als die andre Methode hinzu kommt; und wir sehen, die einzelnen Thatsachen gehn in die [von] uns gemachte Formel auf, die
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eigentlich die Gleichung für das Bild ist. Die divinatorische Methode muß ihre Bewährung erhalten durch eine constante und sich gleich bleibende Reihe von Bejahungen in einzelnen Fällen. Die Methode rechtfertigt sich also nur unter Voraussetzung einer möglichen Kontinuität des gemeinsamen Lebens. Gehn wir von der comparativen Methode aus; sie war das Bestreben die Eigenthümliche Verfahrungsweise im Denken und Darstellen durch differenzen und analogien auszumitteln. Es ist früher gesagt, wie jeder mit seiner Persönlichkeit unter der Eigenthümlichkeit seines Volks und Zeitalters steht. Seine Persönlichkeit muß also von der allgemeinen Eigenthümlichkeit unterschieden werden. ich werde ihn also ermitteln, wenn [ich] ihn von allen andern Einzelnen unterscheide. Dadurch bekomme ich aber nur eine Reihe von einzelnen Angaben, und noch dazu negativen, denn sie sagen nur aus: Ungeachtet dieser Gemeinsamkeit ist er nicht so wie dieser und jener. Indem ich nun die Differenzen suche, bekomme ich zugleich die Analogien mit Andern. Nun würde das ein leeres Unternehmen sein, wenn ich einen einzelnen Gedanken des Schriftstellers vergleichen wollte; aber doch kann man nichts andres als Einzelnes vergleichen; wir müßten also Analogien innerhalb seiner Gedanken aufstellen, um die Differenzen zu finden. Das Ende ist nun unendlich, wir können beide Reihen zunehmen lassen, die der Analogien, aber die setzen das positive als unbekannt, und die Differenzen, die nur etwas negatives geben; nun kommt es also immer darauf an, aus diesem negativen das Positive herauszulocken. Dies können wir aber nicht anders als durch die andre Methode. Je mehr wir aus dem dunklen Bilde der divination von der Verschiedenheit des Volkscharakters und in eine bestimmte Zeit, so werden wir etwas Bestimmteres bekommen. Es wird also keine wahrhaft zum Ziel führende Methode geben, als die Einigung von diesen beiden. Nun mag es wahr sein, daß man nur durch die Einigung beider zum Ziel kommt; kommt man aber wirklich zu einem sicheren Resultat? nein; soll das comparative Verfahren Komplement sein, so ist es unendlich, und ich muß endlich mal aufhören und mich beruhigen, und die Sicherheit ist nur relativ. Soll das divinatorische Komplement sein, so ist zwar das Verfahren in allen Menschen; aber es ist in jedem ein Besonderes; es kommt also darauf an, wie es in jedem zum Talent gebildet ist; in keinem ist es aber absolut, deshalb die Sicherheit nur relativ. Die Auffindung der persönlichen Eigenthümlichkeit ist also etwas Unerreichbares, und nicht werden 2 in ihrem Resultat gleich sein; das Bild, was sich 2 von einem 15 suche] suchen
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Schriftsteller machen, wird in vielen Zügen gleich sein, aber nie werden sie vollkommen übereinstimmen; und ihre Auslegung wird, wenn sie auch in vielen und den schlagendsten Punkten gleicher Meinung sind, doch nie ein und dieselbe sein. Das zeigt auch die Erfahrung; und der Grund ist, daß ihnen ihr Bild von der eigenthümlichen Verfahrungsweise des Schriftstellers nicht gleich ist. Das hat dann auch einen Einfluß auf das kritische Verfahren, wo aus innerer Eigenthümlichkeit etwas entschieden werden soll, deshalb auf diesem Gebiet so wenig allgemein Anerkanntes zu erwarten ist. – Da nun die Aufgabe so geartet ist, daß sie ins Unendliche hin erst erreichbar ist, wenn man aber nicht anfängt, so bekommt man auch nicht einmal die erste Grundlage, die zur Lösung der hermeneutischen Aufgabe nothwendig ist. Was sollen wir also thun? Es ist offenbar, daß die beiden Elemente, die verbunden werden müßen, (ich nenne sie nicht mehr Methoden, weil sie es nicht sind) entgegen gesetzt sind, deshalb auch in der Anwendung eine verschiedene Basis haben müßen. Wir haben nun in beiden Seiten unserer Aufgabe gesehn, daß wir stets von 2 Seiten anfangen müßen, von der einzelnen Verknüpfung des Einzelnen, und von dem Ganzen. Nun giebt die allgemeine Übersicht nur Allgemeines, und in diesem Allgemeinen haben die Analogien und Differenzen ihren Ort, und die allgemeine Übersicht des Ganzen regt am meisten ein komparatives Verfahren auf. Habe ich 2 verschiedene Schriften zu beurtheilen, so werde ich sehen, wie beide verfahren, und das wird das erste Prinzip des comparativen Verfahrens sein. Das Erste des divinatorischen Verfahrens hingegen, daß ich mir das Bild eines Lebens in seinen einzelnen Akten deutlich machen will. Das sehn wir auch im täglichen Leben. Es kann Jemand lange einen Menschen im Leben beobachten und findet keinen Schlüssel zu ihm. Auf einmal kommt ihm ein Licht, das ist aber nur ein einzelner Lebens-Akt, der ihm das Innere des Menschen aufschließt. – Soll man nun beides verbinden, so muß man wissen, an welchem Theil der Operation sich das Einzelne hängt. wer weniger einzelne Eindrücke bekommt, wird weniger am divinatorischen Verfahren hängen, und wer weniger durch die allgemeine Übersicht angeregt wird, der wird weniger durch die Komparation gewinnen. Jeder muß also prüfen, worin er am meisten geübt ist, aber grade nun das Andre zum Gegenstand seiner Übung machen. Das bisher vorgetragene ist mehr in Beziehung auf die allgemeine Hermeneutik, als in Beziehung auf die NeuTestamentische gesagt. Wollen wir aber in dieser allgemeinen Beziehung ein Resultat ziehn, so kommt es auf etwas schon im Alterthum Gesagtes zurück, daß zum gehörigen Verständniß eine Verwandtschaft gehört, und nicht Jeder gleich geschikt dazu ist.
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Das ist seit unserm litterarischen Weltverkehr auch angenommen. Das Erste, was sich dabei darbietet, ist, daß diese speciellere Verwandtschaft zuerst bei denen statt findet, die eine Sprache reden. Das hat doch aber auch seine Grenzen; denn wenn die Sprache selbst ein Produkt des litterarischen Verkehrs geworden, so ändert sich das. z. B. in der 2ten Periode der Römischen Litteratur war die Römische Sprache ganz nach der griechischen geformt worden, und so verstanden die Römer leichter die griechische Sprache als die frühere römische, die ihnen ganz unzugänglich. Dasselbe gilt von modernen Völkern in Beziehung auf die alte Litteratur. Diese Ausnahmen abgerechnet, wird aber die allgemeine Regel feststehen. – Außerdem giebt es aber noch engere Verwandtschaft. Wer einen spekulativen Geist hat, wird eher philosophische Werke verstehn als poe¨tische. und wenn nun das Aufgehn des divinatorischen Vermögens mit dem vergleichenden das eigenthümliche Talent der Hermeneutik ist, so wird [es] sich doch in jedem verschieden nach einer Seite hin verhalten. Nun werden wir weiter sagen müßen: wenn es darauf ankommt, ein litterarisches Produkt zu verstehn, was nicht in der Richtung des Talents und in der erlangten Übung liegt, so kommt es darauf an, die ausgezeichnete Auslegung sich anzueignen als Complement zu dem, was aus der Selbstthätigkeit nicht hervorgehn kann. Dazu gehört aber wieder hermeneutisches Talent, aber leichteres. Denn es kann nicht fehlen, wenn man der Auslegung eines Commentators folgt, zu sehen, ob er rein dem Schriftsteller, oder eignen persönlichen Interessen folgt. Schwerer schon ist es zu sehen, ob er den Gegenstand aus der Tiefe erfaßt, oder oberflächlich darüber hinweggeht. Doch wird das vergleichende Verfahren das Richtige hier an die Hand geben.
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Machen wir nun die Anwendung auf das N.T. so wird es schwürig, weil der Stoff so gering ist. Wenn wir die Eigenthümlichkeit eines Schriftstellers ausmitteln wollen, ist es nöthig sein Verfahren in verschiedenen Akten zu beobachten. Das geht beim N.T. wenig an. Die Collection der 30 Paulinischen Briefe ragt im N.T. sehr hervor, und wenn sie schon die wichtigsten im N.T. sind, so bieten sie auch das wichtigste Hülfsmittel dar. Nächstdem zeigen sich die johanneischen Schriften als die Hervorstechendsten. Aber hier schon mit Beschränkung, denn nur das Evangelium und der erste Brief sind unangefochten. Aber auch diese scheinen 35 sich so wenig zu nähern, so daß man kein gemeinschaftliches Resultat 9 von] vun
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daraus ziehn kann. Abgesehn daß sie verschiedener Gattung sind, trägt der Brief so sehr den Charakter eines höheren Alters, und das Evangelium den des kräftigsten Alters. Außerdem haben wir nur noch 2 Namen, die sich in verschiedenen Produktionen wiederholen: Lucas im Evangelium und in der Apostelgeschichte, und Petrus in 2 Briefen. Die Authentie des 2ten ist aber angefochten, und die Überlieferung der ersten Kirche spricht auch dafür. Wenn wir aber auch den 2ten Brief für authentisch halten, so will das wenige nicht hinreichen, die Eigenthümlichkeit der GedankenVerbindung nur einigermaßen zur Anschauung zu bringen. Die beiden Schriften des Lucas haben eine gewisse Gleichartigkeit, aber die Art der Abfassung ist wieder streitig, und das Material dazu zu gering. Dazu kommt, daß wir von diesen Schriftstellern außer ihren Werken eigentlich nichts wissen, so daß man in Beziehung auf die NeuTestamentischen Schriftsteller eigentlich diese Aufgabe gar nicht mal stellen kann. Und doch wäre es zu wünschen, daß die NeuTestamentischen Schriften hinter den classischen nicht zurück stehen möchten. Da müßen wir also die Schwürigkeit des Unternehmens um so höher anschlagen, da wir so wenig Mittel haben, einen so bedeutenden Theil der Aufgabe zu lösen. – Die paulinischen Briefe befinden sich hier in der günstigsten Lage, da sie unter so verschiedenen Verhältnißen geschrieben sind, und den schriftstellerischen Charakter sehr ins Licht setzen. Die Gegensätze sind diese: Wir haben Briefe, die in einem sehr bewegten Zustand geschrieben sind, der 1. Brief an die Corinther und der an die Galater und Andre, die in sehr ruhigem Zustand geschrieben sind; das erleichtert das comparative Verfahren. Wir haben Briefe, die mehr spekulativer Art sind, und andre, die aus äußern Veranlassungen hervorgingen; und man kann es zum Glück rechnen, daß diese Schriften zu den wichtigsten kanonischen Quellen des N.T. gehören. Sehn wir aber auf Praxis der Kirche, so finden wir sehr wenig dafür gethan, vielmehr große Hinderniß diesem Prozeß in den Weg gelegt. Die Gründe sind die: Einmal, eine lange vor der wissenschaftlichen Beschäftigung hergehende Gewöhnung, einzelne Stellen aus dem N.T. aus dem Zusammenhang zu reißen. Dem können wir uns alle nicht entziehn. Weder kann das N.T. in der Katechese fehlen, noch können die künftigen Theologen in dieser Hinsicht von den Andern ausgesondert werden. Dem Übel ist also nicht abzuhelfen. Es ist also da nichts zu rathen, als bei der eigentlichen technischen Beschäftigung alle Erinnerung zu vergessen. Es liegt hier nicht darin, daß die Anwendungen solcher Stellen in der Katechese oder Predigt, falsch sind; aber indem sie zur Bewährung einer Formel oder eines Begriffs angewendet werden, wird man bei der Rückerin-
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nerung an das Objective, hier aus dem Verfahren, das Subjektive des Schriftstellers zu finden, ganz herausgerissen. Ein Glück ist es noch, daß der frühere Gebrauch der heiligen Schrift in der kirchlichen Übersetzung geschieht, die technische Beschäftigung mit der Ursprache. Die Verschiedenheiten der Auslegung rühren weniger von grammatischen Schwürigkeiten her, als von der Unsicherheit in der Auffindung des GedankenGangs, der zur Ausmittelung des Gedanken-Gehalts von der größten Wichtigkeit ist. Wenn nun hier die gehörige Breite des Fundaments fehlt, um das Verhältniß des divinatorischen und comparativen zu geben, so wird es 2 Auskunftsmittel geben. Das Erste, sich durch das zu stützen und zu suppliren, was diejenigen, die sich[,] mit einem ausgezeichneten Talent begabt, an das N.T. wagten; also ein nach Prinzipien angelegter Gebrauch der Ausleger und Commentatoren. 2) Wenn das N.T. zu klein ist, so muß man den Umfang zu vergrößern suchen, aus solchen Schriften, die in der genauesten Analogie damit stehn. Über diese beiden Punkte wird noch etwas zu sagen sein. I. Gebrauch der Commentatoren. Da kommt es darauf an ein richtiges Urtheil zu haben über den Werth derselben in dieser Beziehung. Da werden wir zuerst uns nur mit Cautelen behelfen müßen. Nehmlich, je mehr ein Schriftsteller in dem Interesse an dem Subjektiven befangen ist, um so weniger ist in dieser Hinsicht, so gut er auch für die Ausmittelung des objectiven Gehalts und die grammatische Erklärung sein mag, für diese Operation durchaus ungeschickt. Wollen wir den Standpunkt der N.T. Interpretation in dieser Beziehung beurtheilen, so ist nicht zu leugnen, daß eine Ð Ñ componirte Einseitigkeit das Herrschende ist. Das Vorherrschende ist das Objective, d. h. die Beziehung auf die Haupt-Idee des Christenthums. Diese InterpretationsWeise findet sich schon bei den Patristikern, nur nach den streitigen Punkten in verschiedener Beziehung; beim Chrysostomos dissertatio gegen die Arrianer, [ist] wieder aus dem N.T. gefolgert worden, und liest man die Schrift mit Aufmerksamkeit so wird jeder inne, daß der Schriftsteller nicht im entferntesten daran gedacht haben kann. Dies dogmatische Interesse, das durch Interpretation gefolgert wird, nicht aber jene fundiren soll, hat diese Seite unserer Auslegung ganz zerstört. Ein solcher commentar wird Niemanden auf die richtige Bahn bringen. Nun kann [man] aber sagen, es ist das doch der Zweck des Lesens des N.T., und daß deshalb die NeuTestamentische Auslegung einer ganz andern Behandlung unterliegen muß. Das Erste hat man bestritten, und gesagt, die Auslegung solle sich nicht nach der dogmatischen Auslegung, sondern sich diese nach jener richten. Aber dies trifft gar nicht den rechten Punkt; denn man
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meinte nur damit, man solle nicht eine Stelle nach Analogie der herrschenden kirchlichen Vorstellung erklären, sondern ich meine, daß man solle bei der Auslegung gar nicht darauf ausgehn, die kirchliche Lehre zu beweisen, auch gar keine Bestimmung der kirchlichen Örter herzunehmen. Man kommt dann auf einzelne Stellen wieder, und ordnet sie nach den ÐdogmatischenÑ Rubriken. Die 2te Einseitigkeit der NeuTestamentischen Commentare ist die philologische oder grammatische Interpretation. Unsre Meinung ist nicht, daß das nicht die eine Seite der Auslegung sein solle, daß die grammatische Interpretation nicht so weit getrieben werden solle, als möglich ist. Wir sagten schon, die Kenntniß des SprachGebiets solle durch die Interpretation erlangt werden, aber wieder die Interpretation des N.T. wird nur richtig, bei der Kenntniß seines SprachGebiets. Die Einseitigkeit ist nun, wenn ein abweichender SprachGebrauch an einer Stelle vorkommt, eine Menge Parallelen aus dem N.T. und der Septuaginta anzuführen, um die Identität des SprachGebiets nachzuweisen. Das ist ganz gut, nur ist der Ausleger dann kein hermeneutischer, sondern ein rein grammatischer, d. h. ein solcher, der durch Fixirung dieser Stelle die Sprache bereichern will. Eine solche Beschäftigung sollte der Interpretation vorangehn. Ein solcher Commentar führt auf das Total-Gebiet der Sprache, nicht in die eigentliche NachKonstuktion des Schriftstellers. – Die Eintheilung der Bücher, die in unsern Ausgaben herrscht, ist eine solche, daß keine hermeneutischen Auslegungen darauf gebaut sind: unsere Kapitel-Eintheilung ist gar nicht nach der Eintheilung der GedankenAbschnitte gemacht; wo das mal geschieht, ist es mehr zufällig. Derjenige Ausleger, der dieser Kapitel-Eintheilung nachgeht, zeigt gleich, daß ihm dies nicht am Herzen liegt. Ebenso wenn das auch nicht geschieht, sondern eine Übersicht gegeben wird, ohne Rücksicht auf die äußern Beziehungen, so wird man selten darauf hingewiesen finden, warum das oder jenes als digression muß angesehen werden, wie sich dieser und jener Haupt-Gegenstand stelle. Es wird dies mehr in einer Folge hingestellt ohne den Schlüssel dazu zu geben. Was bekommen wir also für eine Richtung für das Geschäft selbst? Offenbar, daß man sich die Lücken in der Auslegung allmählig muß zu ergänzen suchen. Wenn man die Geschichte der Auslegung seit der Reformation oder Wiederherstellung der Wissenschaft betrachtet, so sieht man, wie es nicht anders hat sein können, als daß gar einseitige Richtungen zuerst dominirten. Der Streit zwischen der evangelischen und ka10 als] aus
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tholischen Kirche wurde aufs N.T. geworfen, und so wie die KirchenGeschichte, so auch die Exegese wurde Partheisache. Das wiederholt sich ebenso natürlich in allen innern Streitigkeiten der Kirche. Überall wo dergleichen lebhaft ventilirt wurde, mußte die philologische Auslegung, die damals sehr blühte, zurükbleiben. Wenn man danach fragt, warum die NeuTestamentische Auslegung keine Virtuosen aufgestellt, wie die gleichzeitige klassische, so liegt der Grund darin nicht, daß die NeuTestamentische Sprache die Philologen weniger anzog, sondern darin, daß das dogmatische Interesse dies nicht [ver]stattete. Dann ist auch klar, daß die Erklärung des N.T. von der Kenntniß des Hebräischen in seinem Total-Bilde abhängt. In dieser Beziehung war die Richtung auf das Einzelne zu sehr hervortretend. – Alles Kunstmäßige in der N.T. Auslegung hängt also von eine gewissen Ruhe der dogmatischen Streitigkeiten ab, weil sonst das Hermeneutische Interesse gleich das Zweite wird, und von einer gewissen Ruhe und Sicherheit in Beziehung auf das Grammatische, weil sonst die Darstellung des innern Zusammenhangs getrübt wird. Wenn wir nun fragen, wie haben wir es also anzufangen, es auch auf dieser Seite in der NeuTestamentischen Auslegung [so weit] zu bringen, als die Natur der Sache es zuläßt, so ist das Erste, so viel als möglich von allen diesen Einseitigkeiten zu abstrahiren. Nun sind wir aber selbst im Streit befangen. Es wäre wunderlich zu sagen, derjenige sei der beste Hermeneut, der das wenigste dogmatische Interesse hat; man soll nur von diesem ganz abstrahiren. Dann in Beziehung auf die psychologische Seite der Auslegung, die Übersicht des allgemeinen Zusammenhangs so anschaulich als möglich zu machen, das nicht durch eine Übersicht der 2ten Hand geschehn zu lassen. Wenn wir die beiden Elemente, das, was der divinatorischen, und das, was der comparativen Methode angehört, betrachten – die divinatorische, durch unmittelbare Anschauung sich die VerfahrungsWeise des Schriftstellers zu verschaffen, so kann das durch nichts so gut geschehn, als durch eine solche rasche Betrachtung, worin man nur dem ganz allgemeinen Eindruck folgt. Denn man wird nur das herausheben, wovon der Verfasser selbst ist am stärksten bewegt gewesen. Sieht man dagegen auf dogmatische Objektivität hin, so verschwindet dies oft mit einem Male. Nun haben wir am N.T. kein anderes Interesse als das christliche; ihn auffassen heißt also ihn in der Beschäftigung mit dem Christlichen auffassen. Aber der Schriftsteller ist mir hier die Hauptsache; die Lehre will ich mal ganz vergessen. Wenn man den 8 darin] darin,
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Schriftsteller so in seiner Eigenthümlichkeit auffaßt, so bekommt man freilich kein Licht über das Einzelne; aber man hat doch eine vorläufige Meinung, was der Schriftsteller dabei könne gedacht haben. Hätte man das festgehalten, so würde man bei vielen unauflöslichen Stellen des N.T. wenigstens nicht so viel unnöthigen Apparat herbeigeführt haben. Für das comparative Verfahren habe ich in Beziehung auf das N.T. wenig hinzuzusetzen, als folgende natürlich sich ergebende Punkte. Für die didactischen Schriften haben wir wenig Gleichartiges, wir sind da auf den allgemeinen Typus der brieflichen und dialogischen Form gewiesen. Wir haben gleichzeitig nur wenige Schriften der patres in der Cotelier Ausgabe, die aber keine Nachbildungen sind, und auch aus späterer Zeit, als die ihnen vorgesetzten Namen zu deuten scheinen. Für die historischen Schriften haben wir nur die gleichzeitigen apokryphen Erzählungen, von denen im Gebrauch aber gleich ein Element auszuscheiden ist. Denn diejenigen, die auch die Wunder im N.T. leugneten, haben doch stets eine eigenthümliche und natürliche Tendenz derselben, ganz verschieden von denen in den Apokryphen zugegeben. – Es ist nun, was die Nachkonstruktion betrifft, ein eigenthümlicher Unterschied zwischen den didactischen und historischen Büchern. Bei den didactischen kann man nur vom Ganzen anfangend zum Einzelnen kommen, bei den historischen, nur vom Einzelnen zum Ganzen hinaufsteigen. Ich nehme beim Letzten das Johannes Evangelium aus. Nehmlich in den NeuTestamentischen didactischen Schriften ging Alles vom Verhältniß des Schreibenden zu der Gemeinde, und von dem Bedürfniß auch in der Form die apostolische Thätigkeit zu verbreiten, aus. Beides steht in verschiedenem Verhältniß. in den katholischen Briefen ist offenbar das Letzte das Vorherrschende, in den paulinischen Briefen das Erste. Es ist überall zugleich die Anknüpfung eines solchen Verhältnißes, das durch eine Äußerung der apostolischen Thätigkeit gemacht werden soll, und die Tendenz einen Zustand hervorzubringen, und andre abzuwenden, sichtbar. Man könnte aus den paulinischen Briefen eine Reihe bilden, von denen an, wo ganz bestimmte Verhältniße zum Grunde liegen, bis zu denen hin, wo erst solche Verhältniße angeknüpft werden sollen, dem Charakter einer apostolischen Thätigkeit durch das Lehren was sich über das Prinzip verbreitete, und dem Ausgehn von einem bestimmten Gemüthszustand des Apostels. Der RömerBrief, und am andern Ende die CorintherBriefe. Der HebräerBrief steht in dieser Hinsicht in der Mitte zwischen den paulinischen und catholischen Briefen. er nähert sich seiner Form nach den Letz10–11 Sanctorum Patrum opera, ed. Jean Baptiste Cotelier und Jean Le Clerc, 2. Aufl., Amsterdam 1724 (SB 1660)
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tern; ja man muß es sogar unbestimmt lassen, ob er nicht als Buch ausgegeben ist, und bloß die briefliche Form hat. es herrscht darin auch die allgemeine apostolische Thätigkeit vor, vor dem Rücktritt zum Judenthum zu bewahren, aber er geht nicht auf die Anknüpfung eines besondern Verhältnißes wie es die paulinischen Briefe thun, aus. Nun kann man nicht anders, als[,] wenn man durch eine allgemeine Übersicht eine solche Skala der NeuTestamentischen Briefe gewonnen zu einer comparativen Vergleichung, aus den einzelnen Abschnitten, wenn man darauf Acht giebt, was sich daraus hervorhebt, eine Ansicht [zu gewinnen] vom Ton des Schreibenden, ob die Abschnitte sich mehr sondern, oder mehr in Verbindung gebracht sind und in einander übergehn; je mehr man das Erste Grund hat vorauszusetzen, je mehr war eine aufgeregtere Stimmung, die nicht zum Componiren Zeit ließ; je mehr das Zweite, um so mehr scheint das Ganze vorher überdacht und componirt worden zu sein. So gewinnt man das Maaß, wonach man Eines aus dem Andern zu erklären, oder aus dem Allgemeinen zu erklären hat; und je mehr sich dadurch der Eindruk bei der ersten Lesung bestätigt, um so mehr kann man seiner Sache sicher sein. Wenn wir nun die Briefe betrachten, die einen rein dogmatischen Inhalt haben, und doch sieht, wie Alles aus einem bestimmten Gesichtspunkt entstand, aus dem es nur zu verstehn, so sieht man, wie die eigentlich dogmatische Interpretations-Methode auf einem ganz falschen Wege ist. in eine systematische Abhandlung wird ein Gedanke nicht eingehn, der so individuell ausgedrükt ist. so wie sich auf der andern Seite bestätigte, daß jede einzelne Stelle nur aus dem Zusammenhang verstanden werden kann, so wird sich auch hier bestätigen, daß jede Stelle nur entsteht aus dem natürlichen Zusammenhang, aus dem Abschnitt der ihr voranging, vorbereitet, und durch die eigentliche Absicht individualisirt. Verfährt man auf diese Art mit den paulinischen Schriften, so kann man es zu einem hohen Grade bringen, und nur wenige einzelne Stellen bleiben übrig, über die man auf dieser, und auf der grammatischen Seite zu keiner Klarheit kommen kann. Über diese, fürchte ich, wird man sich allmählig zur Ruhe geben müßen, theils weil SprachGebräuche vorkommen, die wir durch nichts anderes erklären können, theils weil Anspielungen auf uns ganz unbekannte Verhältniße vorkommen. Das sind unauflösliche Einzelnheiten, die in jeder Litteratur vorkommen. Was die catholischen Briefe betrifft, so kann man da nicht zu einem solchen befriedigenden Resultat kommen. Doch lassen sich da auch be1 Buch] folgt ist
8 Vergleichung,] folgt als
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stimmte Abstufungen machen. Das Erste sind die johanneischen Briefe. zwar will sich im ersten kein GedankenGang wahrnehmen lassen, denn einzelne kleinere Themata kehren immer wieder. Das scheint mir ein Beispiel von seinem höheren Alter zu sein, dem das eignet, nicht mit so kräftiger Hand mehr geschrieben zu sein. Die beiden andern, es mag um ihre Authentie stehn, wie es will, geben mir den Eindruck, daß wenn man nur die nähern Verhältniße kennte, Alles klar werden würde. Dagegen in den petrinischen und dem Brief des Jacobus muß man eine gewisse Ungeschiklichkeit der brieflichen Abfassung als Erklärungs-Grund mit hinzunehmen. Da ist also unsre Aufgabe, das Verhältniß zwischen dem Impulse und dem Verlaufe, nicht zu lösen; und wo es so steht, ist ein entschiedenes Übergewicht der grammatischen Interpretation über unsere hier. sie stehn zwischen den didactischen und historischen Schriften. Es wird Einem nur leicht die Tendenz einzelner Stellen zu verfolgen. den Übergang aus dem Einen in das Andre zu finden, ist das Schwürige, und es kann deshalb nur von 1 Verstehn der einzelnen Abschnitte die Rede sein. Wenn man sie so isolirt, und nachher wieder zusammensetzt, so findet man das Räthsel wieder ebenso groß als vorher. Was die historischen Schriften betrifft, (so meine ich hier die 3 ersten Evangelien und die Apostelgeschichte) so läßt sich nur zu einem Resultat kommen, wenn man vom Einzelnen ausgeht. Es ist immer noch unentschieden die Frage, die man als entschieden voraussetzen müßte, inwiefern die Schriften ein Ganzes sind, eine jede für sich auf eigenthümliche Weise ein Ganzes geworden. Der Entscheidung kann nicht anders vorgearbeitet werden als durch Betrachtung von Seiten der technischen Interpretation die vom Einzelnen ausgeht. – Meine Schrift über den Lucas ist mißverstanden, als solle das die 3 Evangelien zugleich erklären. Was ich meine ist das[:] die einzelnen Erzählungen sind uns gegeben, und heben sich gleich heraus; nun ist das Evangelium eine solche Aneinanderreihung, die man zugleich als eine Auswahl ansehn muß. Unsere Aufgabe ist also auszumitteln, nach welchem Gesetz der Verfasser ausgewählt und zusammengestellt hat. Wir kennen nur das Letzte, da wir den Umfang, aus dem der Verfasser auswählte, nicht kennen. Es kommt nun darauf an zu suchen, wie weit man mit einem solchen Gesetz kommen kann, sei es pragmatisch etc. Wenn man mit einem nicht weiter kann, so ist es all, und es kommt nun darauf an, diese Erklärungs-Versuche selbst zu kombini-
20 läßt] läßte
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35 ,all‘ im Sinne von alle, erschöpft
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ren. Wenn man nicht glaubt, mit der Sache schon zu Ende zu sein, so wird man wohl die Nothwendigkeit mehrerer solcher Erklärungs-Versuche zugeben müßen. Wir sind hier wieder an einem Punkt, wo Hermeneutik und Kritik in einander übergehn, und eine die andre voraussetzt. Wenn wir nun fragen, was ist denn das letzte Resultat zuerst der letzten Seite der hermeneutischen Aufgabe, und dann in Verbindung mit ihr des Ganzen; so werden wir auf das Erste antworten es sei möglich ein solches Verständniß alles Einzelnen in einem Werk rein aus dem Innern des Schriftstellers heraus, so daß man das Grammatische müße entbehren oder übertragen können. Das größte Resultat der Art, das in der Wirklichkeit vorkommt, liegt schon im Gebiet der Kritik, wenn man behaupten kann von einer einzelnen Stelle der Schrift, der Verfasser könne sie nicht so geschrieben haben, wie wir sie jetzt finden. Das Resultat ist kritisch, die Mittel hermeneutisch. Das Nächste rückwärts ist, eine solche Übereinstimmung mit dem Grammatischen, daß beide mit einander aufgehn; je mehr diese in einander aufgehn, um so mehr ist das Verständniß sicher gestellt. – Wenn wir beide Operationen in ihrer Beziehung auf einander betrachten, so ist was dadurch erreicht werden soll dies: wir können die grammatische Interpretation nicht vollenden als durch eine vollendete Kenntniß der Sprache, und wie sie zum Grunde liegen muß, so wächst sie wieder durch die Auslegung. Was gewinnen wir durch die 2te Seite für die Kenntniß der Sprache? Die Sprache wird und verändert sich durch das, was in ihr geschieht, Reden und Schreiben; und wenn es ein kunstloses verworrenes Verfahren der Sprache giebt, so giebt es ein Regulativ für die Sprache durch den kunstgemäßen Gebrauch, und eine Einrichtung der Sprache für die verschiedenen Fächer. Je mehr man dies beobachtet, je mehr gelangt man zu dieser Kenntniß. Das kann aber nur geschehn durch Betrachtung aller Formen der Production, in denen in einer Sprache producirt wird, und durch einen Unterschied des kunstlosen und kunstgemäßen Verfahrens der Sprache. Wir bekommen also durch das Verfahren eine durchsichtige Anschauung von der Eigenthümlichkeit der Sprache und der Form ihrer Composition. Je mehr das auf Sprachen, die eine Litteratur haben, angewendet wird, um so mehr wächst die Comparation der Sprache, und der durch sie bedingten Form der Composition. Betrachten wir die Sache von der andern Seite, so werden wir sagen, unsre Aufgabe konnten wir nur lösen, sofern wir im Stande waren, durch die völlige Einigung der Divination und Comparation die Eigenthümlich10 in] in in
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keit eines Schriftstellers aufzufinden. Nun ist klar, daß man danach bloß eine Seite der menschlichen Operation aufgefunden, nehmlich das Denken. Allein das hat nur Sicherheit, wenn es mit der Funktion des Menschen auf andern Gebieten nicht streitet. MenschenKenntniß war dazu nothwendig. Wie nun die Eigenthümlichkeit im Denken unter die allgemeinen logischen und dialectischen Gesetze subsummirt werden muß, so auch die menschliche Eigenthümlichkeit unter die allgemeine nationale. Es erwächst also daraus eine Konstruktion der verschiedenen Formen in einer Sprache nach den nationalen Verschiedenheiten d. h. die Auslegungskunst in ihrer Vollendung wird mit der philologischen Grammatik und der Kunst-Lehre, und der allgemeinen und zugleich bis ins Einzelne verfolgten Anthropologie, und das Bedürfniß der Hermeneutik führt also darauf, diese Aufgaben zugleich zu lösen, und es ist ein mächtiges Motiv für die Verbindung der Spekulation mit dem Empirischen und Geschichtlichen. Je größer die hermeneutische Aufgabe ist, die einer Generation vorliegt, wird als ein solcher Hebel auf jene wirken. Eine aufmerksame Beobachtung der Geschichte muß auch lehren, daß seit der Wiederauflebung der Wissenschaft die Beschäftigungen mit der Auslegung, je mehr man auf die Prinzip ging, zu der geistigen Entwicklung nach allen Seiten beigetragen haben. Damit diese Beschäftigung eine solche Wirkung thue, so gehört dazu offenbar ein großes Interesse an dem, was durch menschliche Rede und Schrift hervorging. Das kann von verschiedener Art sein, aber wir unterscheiden 3 Stufen 1) das Geschäftsinteresse, es bleibt stehn bei der Ausmittelung einzelner Thatsachen. Es kann darunter viel Wissenschaftliches begriffen sein. Es lese Einer z. B. die Alten in Natur-historischer Hinsicht, so treibt er die Auslegung um eines besondern Zwecks [willen], wobei weder der große sprachliche noch der große psychologische Zusammenhang berührt wird. Auf dieser niedrigsten Stufe wäre die Auslegungskunst etwas allgemein menschliches. 2) das künstlerische oder Geschmaks-Interesse. Es ist weit beschränkter als jenes, denn das Volk nimmt selten daran Theil, mehr die Auswahl eines Volks, die wir mit dem Namen der Gebildeten bezeichnen. Diese Beschäftigung führt schon weiter. Es ist der ÐGeschmackÑ an der Sprache, der den Reiz giebt, das führt die Sprache weiter, und die Form der Produktion, die den Reiz giebt; das führt die 2te Seite der Aufgabe weiter. Die Kunst-Lehre wurde durch den Geschmak an den Werken des Alterthums besonders aufgeregt. 3) das spekulative Interesse, d. h. das rein wissenschaftliche und das religiöse. 1 aufzufinden] auffinden konnten
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Ich stelle beides zusammen, weil es vom Höchsten des menschlichen Geistes ausgeht. Das wissenschaftliche faßt die Sache von der tiefsten Wurzel auf. Wir können nicht denken ohne die Sprache. Das Denken ist die Grundlage aller andern Funktionen; sie werden alle ein Denken, wenn sie zu einem bestimmten Grade der Bewußtheit und Absichtlichkeit kommen. Es ist deshalb von dem höchsten wissenschaftlichen Interesse, wie der Mensch im Gebrauch der Sprache zu Werk geht. Ebenso ist es das höchste wissenschaftliche Interesse, den Menschen in der Erscheinung aus dem Menschen als Idee zu verstehn. Beides wird zusammen angeregt, denn wir kennen jenes Erste nur durch das Zweite, und das Zweite nur sofern die Sprache den Menschen leitet und begleitet. Das Geschmaksinteresse kann also nur durch das wissenschaftliche recht erfaßt werden. Aber ein noch kleinerer Theil von Menschen, als vorhin, wird sich zu diesem Interesse hergeben. Das gleicht das Religiöse aus, als welches auch ein allgemeines ist. Es sind die niedrigsten Zustände des Menschen, wo das religiöse Bewußtsein nicht erwacht. Je mehr es erwacht, und ein allgegenwärtiges wird, ist der Mensch selbst erwacht. Nun ist es von allen Menschen besessen und empfunden worden als ein Allgemeines. Man kann sich aber auch nicht anders darüber verständigen als durch die Sprache. Wir sehen also daß der Mensch nur Bewußtsein hat, Sicherheit zu haben über sein höchstes Interesse und sich mit andern darüber auszusprechen, als ihm sein Verkehr in der Sprache klar geworden. Alles also was normale Ausdrücke, also irgend wie heilige Schriften sind, [ ] diese Aufgabe zu einer allgemeinen machen. Nun giebt es mehrere Religionen, die heilige Schriften haben, aber wir finden in keiner Religion ein so weit in die Masse gedrungenes Interesse an den heiligen Schriften obwohl es in der christlichen Kirche selbst ungleich ist. Wenn also auch die hermeneutische Aufgabe in Beziehung auf unsre NeuTestamentische Schriften mit der Totalität des Objects der ganzen Aufgabe verglichen, sehr untergeordnet erscheint, und Manches nicht scheint zur vollkommenen Lösung gebracht werden zu können, wegen der Eigenthümlichkeit der Sprache und der Masse des Materials, so ist es auf der andern Seite das allgemeinste Interesse, das an der hermeneutischen Aufgabe hängt. und man würde mit Sicherheit aufstellen können, wie das allgemeine hermeneutische Interesse zusammenschrumpfen würde, wenn das religiös hermeneutische verloren gehn sollte. Unsere Ansicht vom Verhältniß des Christenthums zum ganzen menschlichen Geschlecht, und die geistige Klarheit womit sich das in der evangelischen Kirche entwickelt hat, leistet 7 Gebrauch] davor über der Zeile Bildung
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Gewähr, daß das nicht untergehn kann. Wir können das aber nur in dem Maaße fördern, als wir wissen, daß unsere Aufgabe hier nicht so vollendet werden kann, als auf dem Gebiet der classischen Litteratur. Aber unser Interesse wird darum nicht geringer sein. Und wenn wir es hier 5 nicht zur Auffindung der persönlichen Eigenthümlichkeit Jedes bringen können, so ist doch das Höchste der Aufgabe, die Aufgabe der gemeinsamen Persönlichkeit, d. h. des Seins des christlichen Interesses, des Seins Christi in ihnen.
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Es ist dabei nöthig eine Übersicht unsers Gegenstands, daß wir einsehen, wie verschieden die Bedeutung des Worts im Gebrauch sei, und wie es sich gegen einander verhält. Es ist einer der vielen Ausdrücke, die aus dem Griechischen gebildet die Benennung einer Disciplin geworden sind, aber bei den Griechen zur Bezeichnung einer solchen nicht vorkommt deshalb der weitschweifige Gebrauch. kriÂnein = sondern, scheiden, also Einiges von Anderm trennen und aus einem Ganzen aussondern, wobei natürlich die Idee einer Regel, wonach die Trennung gemacht werden soll, zum Grunde liegt. Die Bedeutungen Beurtheilung, Entscheidung sind Anwendungen davon. Gehen wir von der letzten Bedeutung aus, sondern, beurtheilen nach einem bestimmten Gesetz, so sehn wir, wie sich die Kritik über alle menschlichen Handlungen erstrekt, die ganze Jurisprudenz, wenn es sich bloß um das Gesetz anwenden handelt ist Kritik; ebenso die Beurtheilung menschlicher Handlungen; und auf dem theoretischen Gebiet jede Sonderung eines Mannigfaltigen. Was nun schon hier näher liegt ist der Gebrauch des Worts in der Kunst. (Moralische, Juridische, KunstKritik). Da setzt man in der Kritik voraus die Idee eines KunstWerks in einer Gattung, ja in einem einzelnen Werk selbst; die Kritik ist also die Betrachtung und Aussonderung eines Werks nach der Idee der Gattung, was derselben gemäß ist, und was nicht. Das sind alles Anwendungen, von denen wir hier abstrahiren müßen. Es ist aber schwer, was man als philologische disciplin Kritik nennt, aus dieser allgemeinen Bedeutung abzuleiten. Ich möchte sagen, es sei hier die Rede von bibliographischer Kritik. Es handelt sich im Allgemeinen um die Beschaffenheit der Bücher 4 unser] unserer derungs
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in einer gewissen Beziehung. Es ist aber die mündliche Rede demselben Verfahren unterworfen, und so geht es also doch in seiner Anwendung über die eigentliche Grenze hinaus. Nehmlich man ist zweifelhaft über eine Stelle in einer Schrift, und es soll entschieden werden, ob der Verfasser dies wirklich geschrieben hat. Dasselbe gilt von der Rede wenn entschieden werden soll, ob ein Mensch dies wirklich hat sagen wollen. Indessen ist das nur ein Vorkommen außerhalb des Gebiets der Schrift, wie es bei natürlichem Zusammenhang zwischen Rede und Schrift nicht anders sein kann; es ist nur da vorübergehend und fragmentarisch. So wenn jemand kunstmäßige poetische Rede giebt, die aber auf der andern Seite wahnsinnig zu sein scheint, so soll entschieden werden, ob das ein Übermaaß des poe¨tischen Zustands, oder ein exstatischer Zustand sei. Wenn wir nun sagen, die Kritik soll entscheiden, wiefern etwas in einer Schrift wirklich vom Verfasser herrührt oder nicht, so hätten wir eine vorläufige allgemeine Vorstellung, bei der wir stehn bleiben können, um zu sehen, wie es mit der Sache steht. Es handelt sich hier um das Verhältniß zwischen dem Willen eine Rede zusammenzubringen, und ihrer Erscheinung für das Ohr oder Auge. Hier giebt es 2erlei; eine vollkommene Übereinstimmung, wo die ist, hat die Kritik nichts zu thun; sie fängt erst an, wo ein Bedenken ist, ob das könne im Akt des Willens gewesen sein oder nicht. Bei der hermeneutischen Aufgabe sagten wir auch, es sei gewöhnlich die Ansicht, daß ihr Geschäft anfinge, wo eine Schwürigkeit ist; allein das fanden wir unzureichend, und sagten, es werde da nie etwas Kunst-Mäßiges herauskommen. Nun stellen wir die Aufgabe hier wieder; wird deshalb, was für die Hermeneutik nicht hinreichte, für die Kritik hinreichen? wir finden daß kritische Schwürigkeiten immer später erhoben worden sind, als es hätte geschehn sollen, daß die Sachen 1000 mal gelesen worden sind, und erst aus zufälligen Ursachen Bedenken erhoben worden sind. Wenn wir nun so verfahren, werden wir es auch zu nichts Ordentlichem bringen; werden wir also noch weiter zurückgehen können, oder werden wir uns hiebei begnügen können? Wir werden deshalb betrachten müßen, wie die That des Willens, eine Rede zu Stande zu bringen, zur Erscheinung gelangt. Wir mögen auf den mündlichen Vortrag oder auf die Schrift sehn, so werden wir darauf kommen, daß das letzte ein Mechanisches ist, das Erste etwas rein freies. Die Composition ist das Intellektuelle, das wirkliche Sprechen und Schreiben etwas Mechanisches. Beides ist also nicht dasselbe. Die vollkommene Besonnenheit im WillensAkt zieht auch nicht die vollkom30 wir] folgt es
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mene Besonnenheit in Allem, was mechanisch ist, nach sich. Erst wenn beide gleich sind, ist die Übereinstimmung da. Die NichtÜbereinstimmung wird da sein, wenn zwar in die Gedanken eines Menschen etwas kommt, während er redet oder schreibt, was nicht in seinem WillensAkt liegt, so ist, daß solche Gedanken in ihm entstehn, etwas Unwillkührliches; daß sie sich aber in seinen WillensAkt mischen, muß ein neuer WillensAkt sein, oder er ist in einem Zustand von Alienation, seines Bewußtseins nicht ganz mächtig. im Zustand des Redens und Schreibens giebt es etwas Bewußtloses; da braucht etwas Fremdes nicht eine Abirrung des Bewußtseins sein, sondern es ist eine organische Abirrung. Das ist so bewußtlos, daß man nicht jedes Mal darauf bewußt sein kann, und es erst kann, wenn es nicht bloß rein mechanische Operation ist. Es ist also ein besonderer Zustand, wodurch der Grad der Angemessenheit der äußeren Erscheiung mit dem WillensAkt zusammenstimmt. Die Operation der Kritik ihrer reinen Natur nach, braucht nicht erst anzuheben, wenn ein Mangel an Zusammenstimmung sich zeigt, sondern die Aufmerksamkeit muß stets darauf gerichtet sein, wie die äußerliche Erscheinung sich zum innern WillensAkt verhält. Die Übereinstimmung der äußeren Erscheinung mit der innern Thätigkeit ist ein Gegenstand des Wohlgefallens, das, was man in einem höhern Sinn Reinlichkeit des Vortrags nennt. Jeder Fehler, falsche Accentuation, jedes unrichtige Verhältniß im Grad von Feuer, Langsamkeit des Vortrags, erregt Mißfallen. Weil nun hier ein besonderer Gegenstand von Wohlgefallen ist, das nicht aufgenommen wird, wenn nicht von Anfang an die Aufmerksamkeit auf das Verhältniß der Erscheinung zur innern Thätigkeit gerichtet ist; und diese Unvollkommenheit nennen wir zugleich die unkritische, denn sie hindert uns, das Ganze in seinem Umfang richtig zu beurtheilen. Sehen wir also nur diesen Theil der Aufgabe an, so gilt, daß man das auf Regeln brachte, hing von der Erscheinung der Schwürigkeit ab; daß aber die Schwürigkeit entstand, hing von der nicht permanenten Aufmerksamkeit ab. Es bringt uns das zugleich darauf, den eigentlichen Umfang der Aufgabe, und die Schwürigkeit, den Umfang als eine Einheit aufzufassen, darzulegen. Das bisher betrachtete nennt man niedere Kritik, und unterscheidet sie von einer höhern. Es entsteht nehmlich vom andern Ende aus die Aufgabe, ob eine Schrift wirklich dem zuzuschreiben ist, dessen Namen sie trägt. Das kann bei der Rede auch vorkommen; es kann Einer eine Rede halten, er habe sie gemacht, oder sich machen laßen. Das nennt man auch Kritik. Es ist eine Beurtheilung, und der Gegenstand ist Rede und Schrift. Aber es ist nicht die Beurtheilung des Zusammenhangs zwischen Wille und Erschei39 Wille] Wüll
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nung, sondern Beides als Eines angesehn in Beziehung auf den Urheber. Zwischen beiden liegt noch eine Aufgabe. Nehmlich es können in einer Schrift Stellen vorkommen, die den Verdacht erregen, eingeschoben zu sein; das ist weder das Eine noch das Andre. Es kommt darauf an zu beurtheilen, ob das im wirklichen WillensAkt lag. Die Elemente sind also gleich, nur die Aufgaben, die daraus gemischt sind, verschieden. Was die Beurtheilung ganzer Schriften oder einzelner Stellen betrifft, hat der SprachGebrauch höhere Kritik genannt, Alles, was Wörter, Sylben, Buchstaben betrifft, niedere Kritik. Es scheint zwar auf den ersten Anblik gleichgültig zu sein, wie und wonach man einen Gegenstand theilt, wenn nur die Sache selbst richtig behandelt wird. Allein das unrichtig zusammengefaßte kann hernach auch nicht nach einer Regel behandelt werden. Man ist allgemein einverstanden, die Untersuchung über die Ächtheit ganzer Stellen oder Schriften, höhere Kritik zu nennen. Es begegnet aber sehr oft, daß der Beweis aus nichts anderm als aus einzelnen Wörtern, ja oft aus 1 Worte geführt wird. Da wird also die Kritik über das einzelne Wort offenbar ein Gegenstand der höheren Kritik. Unsere Eintheilung kann nur auf einem relativen Gegensatz beruhn. Wir haben unterschieden den eigentlichen WillensAkt und die äußere Erscheinung, jenes das Intellectuelle, das das Mechanische. Bei einem kunstgerechten Lesen soll die Aufmerksamkeit auf das Zusammensein beider gerichtet sein. Tritt nun eine NichtZusammenstimmung ein, so kann gefragt werden, ob die Erscheinung aus dem WillensAkt hervorging, ein Fehler aber bloß im Mechanischen vorfiel, oder ob das dem WillensAkt angehört so gut wie alles andre. Was nun dem Mechanismus angehört, nennen wir niedere Kritik. Alle Fragen wo es sich um das Verhältniß eines einzelnen WillensAkts zu dem zusammengesetzten handelt, bildet zusammengesetzt die höhere Kritik. Hier wird sich gleich zeigen, wie sich die disciplinen in den Prinzipien sondern. Lassen Sie uns die Sache noch von 1 andern Seite ansehn, wie sich die gesammte Aufgabe zu den andern beiden philologischen Disziplinen verhält, mit denen sie eine trias bildet, Grammatik und Hermeneutik. Den Zustand müßen wir uns so denken: es sind auf uns gekommen mehrere Massen von Schriften mehrerer Völker, aber es soll erst ausgemacht werden, ob sie alle dem ursprünglichen WillensAkt angehören. Nun setzen wir uns zuerst in den Fall einer ausgestorbnen Sprache, die wir nicht anders erlernen können als aus den vorhandenen schriftlichen Denkmälern. Ganz freilich ist es nicht so, denn das Erlernen der Sprache ist nicht 31 andern beiden] beiden andern beiden
37 aus] äußere
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gleich dem dechiffriren, eine lebendige Tradition muß immer dabei zur Hülfe kommen. So die hebräische Sprache durch die Tradition der Juden, und die griechische Sprache im 15ten saeculo [durch] die Neu-Griechen, bei denen die Kenntniß der Alten noch blühete. Das ganze SprachStudium ist aber ein solch Beharrliches aus den schriftlichen Werken. Wenn wir uns nun denken, in denen kommen eine Menge von gleichen Schreibfehlern vor, so würde daraus eine Menge von falschen Stammwörtern oder andern Formen folgen. Hier kommen wir also gleich auf das WechselVerhältniß zwischen Kritik und Grammatik, das sich aber anders stellt in Beziehung auf lebende, und in Beziehung auf todte Sprachen. In den lebenden Sprachen kann man ohne Kritik fertig werden, aus dem fortwährenden SprachGebrauch jedesmal das Richtige herausfinden. Da kann die Kritik durch die Grammatik, wie sie sich im lebendigen Gebrauch bildet, regulirt werden, und die Grammatik bedarf der Kritik nicht. in den ausgestorbenen Sprachen, je weniger die lebendige Tradition zur Hülfe kommt, um so mehr bedarf die Grammatik der Kritik. aber eben deshalb muß die Grammatik vorhergehn, denn um zu entscheiden, ob etwas falsch sei, muß ich das Wahre vorher wissen. Die Grammatik ist also das Erste, aber sie bedarf der beständigen Begleitung der Kritik, die aber ein unendlich Kleines ist. Je mehr man aber auf das Studium der Schrift gewiesen ist, um so mehr kann es Punkte der Grammatik geben, die auf eine wesentliche Weise der Kritik bedürfen. Das wäre die niedere Kritik. – Betrachten wir ihr Verhältniß zur Hermeneutik. in der Hermeneutik haben wir zuletzt die Aufgabe behandelt, den GedankenGang des Schriftstellers in seiner Rede so genau als möglich nachzubilden; finden wir da etwas Fremdes und Störendes, so giebt das einen Aufenthalt. Gehn wir rein hermeneutisch zu Werk, so müßen wir entweder unsre Prämissen ändern, der Mensch geht anders zu Werk als wir glaubten, oder wir müßen es in etwas anderm suchen. Wenn aber die Sache die Wendung nimmt, wer weiß ob der Mensch dies geschrieben, ob ihm das nicht ist eingeschoben worden, so wird die Sache eine kritische. Wir haben aber dazu keinen Grund, so lange die Sache rein hermeneutisch sich behandeln läßt, und das kann erst entstehn, wenn es Erfahrungen giebt von Alterationen, die die Schriften litten, und wenn der Fall ein solcher ist, daß er in die Analogie dieser Erfahrungen eingeht. Liegt mir nun eine Schrift vor, die voll ist von solchen Alterationen, so daß sie den Gedanken-Gang des Verfassers nicht rein darstellt, ich hätte aber keine Erfahrung von solchen Alterationen, und könnte deshalb nicht darauf kommen, so 8 folgen] finden
14 nicht] ist
29 anderm] anders
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könnte ich zwar grammatisch Alles aufs reine bringen, aber das Ganze in seiner Totalität könnte ich nicht verstehen. Die Kritik wird also der Hermeneutik den Boden säubern; wo dies nicht ist, muß ich in jedem schwürigen Fall schwanken, soll ich hermeneutische Mühe daran wagen, oder soll ich das für untergeschoben halten und mich dabei nicht aufhalten. Die niedere und überwiegend grammatische Kritik betrifft hier bloß Nebensachen. Hier haben wir es mit der Kritik zu thun, die die Integrität des ganzen WillensAktes untersucht. Beides stimmt also zusammen, das Verhältniß der Kritik zum Mechanismus, und ihr Verhältniß zum WillensAkt, und die Zusammenstimmung der Kritik mit der Grammatik und Hermeneutik. Da jene das Äußerliche betrifft, so mag sie die niedere heißen; diese als mit dem Wesentlichen es zu thun habend, die höhere. Fragen wir nun, was haben beide mit einander gemein, weshalb man sie mit einem gemeinschaftlichen Namen benennt, und weshalb man beide sondert. Gemein haben beide die Wiederherstellung der schriftlichen Dokumente in ihren ursprünglichen Zustand. Beides gehört zusammen. So wie wir das als die Aufgabe ansehn, so sind das die wesentlichen Theile und die Einheit des Namens ist vollkommen gerechtfertigt. Fragen wir aber, wie steht es damit, ist es ein und dasselbe Talent, wodurch beide Theile der Aufgabe gelöst werden, so werden wir finden, daß sie da aus einander gehn. Die Erfahrung lehrt, daß es Philologen giebt, denen man bedeutende Untersuchungen in der höheren Kritik verdankt, aber in der niederen versirten sie nicht, und umgekehrt. Es ist klar, daß die höhere Kritik genau zusammenhängt mit dem Talent der technischen und psychologischen Hermeneutik. Denn von dieser Seite aus, muß der erste Verdacht herkommen. Die grammatische Kritik ist auch eine Nachkonstruktion, aber nur des mechanischen Prozeßes. Es kann Jemand ein bedeutendes hermeneutisches Talent haben, aber es fehlen ihm die Vorkenntniße, diese Konstruktion des Mechanischen zu machen. Beide Aufgaben bestehn aus 2 Theilen, das Falsche zu merken, und das Richtige herzustellen. Um das Falsche in der niederen Kritik zu merken, gehört eine tüchtige Kenntniß der grammatischen Formen und des Lexikalischen; wer das nicht hat, liest über das Falsche hinweg. Das Richtige zu finden, ist aber in beiden auch verschieden. Es ließe sich zwar ein gemeinschaftlicher Zweck beider Theile angeben, die Wiederherstellung der Schrift in ihren ursprünglichen Zustand. Aber von da an gehn sie aus einander, verschiedene Talente und verschiedene Prinzipien. Das gemeinschaftliche des Talents in beiden wäre 13 weshalb] welshalb
14–15 man beide sondert] sondert man beide
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noch das: Es kann Einem etwas als verdächtig auffallen, als man den Zusammenhang des Ganzen recht gegenwärtig hat, das ist für beide Zweige gleich nöthig. Wenn man bei der grammatischen Kritik nicht die Sprache des Schriftstellers gegenwärtig hat, so kann man das von diesem Gebiet Abweichende nicht bemerken; Ebenso wenn man das Bild des Schriftstellers nicht gegenwärtig hat, das Abweichende. Aber Sie sehn, das Gemeinschaftliche ist etwas bloß Abstraktes, das concrete ist etwas verschiedenes. Es ist etwas Anderes, den Geist eines Schriftstellers gegenwärtig haben, und die grammatische Sprache zu haben. Ebenso auf der andern Seite, wenn es darauf ankommt, das Falsche aufzulösen, so wird es darauf ankommen, daß man schon öfters in diesem Fall gewesen ist, und man die ganze Mannigfaltigkeit von Fällen gegenwärtig hat. Aber es ist etwas verschiedenes ob sich Einem mit Leichtigkeit eine Verschiedenheit von Formen [anbietet], um eine falsche Stelle zu berichtigen, oder, um eine Stelle dem Geist des Verfassers gemäß zu machen, durch Umstellung, Auslassung, Einschiebung; in abstracto ließe sich wohl dieselbe Formel aufstellen, in concreto ist es ganz etwas Anderes. Etwas ähnliches ließe sich auch sagen über die Prinzipien. Wenn man vergleicht, was vom wahren Kritiker in Beziehung auf 1 Fall geleistet ist, so werden die verschiedenen Lösungen einen verschiedenen Eindruk machen, eine wird natürlicher, die andre erkünstelter erscheinen, die eine mehr, die andre weniger Wahrscheinlichkeit [haben]. Nun ist die Wahrscheinlichkeit etwas Meßbares, was man zu einer mathematischen Wissenschaft gemacht hat. Beide Theile der Kritik werden also ihre Prinzipien in der Theorie der Wahrscheinlichkeit haben. Aber es ist verschieden die Wahrscheinlichkeit aufzustellen in Beziehung auf den Gedanken-Gang, und in Beziehung auf die grammatischen Formen. Es wird also auch dabei bleiben müßen, beide Theile zu trennen, aber nicht zu vergessen, daß sich beide auf einander beziehen. Wenn eine Schwürigkeit in Beziehung auf die grammatische Form entstand, und man hat eine Lösung gefunden, so ist die Probe, wenn du nun das Andre gelesen hättest, würdest du nicht angestoßen haben, das für einen Ausdruck deines Schriftstellers zu halten. Umgekehrt, wenn man einen Satz eliminirt als aus einer Glosse entstanden, so entsteht eine Verbindung zwischen dem Satz vor der Glosse und nach der Glosse; es fragt sich also, ob auch die Verbindung von Seiten der Schriftzeichen eine Wahrscheinlichkeit darbietet. Ebenso wenn man eine Lücke
16 in] im
31 nicht angestoßen] Kj angestoßen
1 als oder wenn
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ergänzen zu müßen glaubt, ist die grammatische Kritik die Probe für die höhere. – Wir legen nun unser Unternehmen so an, daß wir erst von der allgemeinen Kritik handeln, und die allgemeinen Prinzipien aufstellen, und dann besonders handeln, von ihrer Gestalt, die sie in der Anwendung auf das NeuTestamentischen bekommt; dann auf dieselbe Weise und in 5 derselben Folge von der höheren oder hermeneutischen Kritik.
A. Grammatische Kritik.
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Die Aufgabe die wir uns stellen ist so, daß der Gegenstand derselben die Schrift ist; wenigstens ist sie der eigentlich wesentliche. Wollte man die Sache im ganzen Umfang betrachten, so wäre gleich eine wesentliche Scheidung zu machen in Beziehung auf den Unterschied der alten und neuen Litteratur, und in Beziehung auf die neuere zwischen dem analogen Zustand mit der alten und ihrem ursprünglichen. Die neuere Litteratur kennen wir nicht anders als aus der Typographie. Die alte Litteratur zwar meist auch so. Aber das ist doch nur der neuere Zustand derselben. Ursprünglich waren die in den Gebrauch kommenden Schriften, einzelne Handschriften der Verfasser, wo also jede Einzelne eine andre sein kann, durch die Typographie sind alle gleich, so daß sich im neuern Zustand die Ausgaben verhalten, wie im alten Zustand die einzelnen Schriften. Der Prozeß ist also ein andrer bei der Typographie und bei dem Handschriftlichen. Wie wir uns aber im Voraus abschnitten die mündliche Rede als Gegenstand der Kritik, so wollen wir auch die typographischen Produkte abschneiden, und nur nebenbei auf sie sehn. Nun ist wieder die handschriftliche Litteratur sehr verschiedener Art; wir wollen uns aber auch hier auf das eigentlich classische Gebiet der griechischen und Römischen Litteratur beschränken, was nicht sowohl die allgemeinen Prinzipien als die Anwendung betrifft, den Mechanismus der Sprache und der Zeichen. Die Prinzipien werden also allgemein zu halten sein, aber wir werden uns an das allgemein bekannte Gebiet zunächst halten. Nun entstand das Bedürfniß einer Kritik immer zugleich mit der Schwürigkeit. Auf der andern Seite sagten wir, es könne kein kunstgerechtes Verfahren geben, wenn man nicht die Aufgabe immer gegenwärtig hat. Die Anwendung der Regeln beginnt erst, wenn Schwürigkeiten eintreten. es wird aber in Beziehung auf die Wahrnehmung der Schwürigkeiten kein kunstgerechtes Verfahren geben, als wenn ihre Möglichkeit man stets im Auge hält. – Die 8 Die ... die] Der Gegenstand den
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niedere Kritik bestimmten wir nun so: was ohne Zusammenhang mit dem Akt der Composition Widersprechendes eintreten kann, durch das was in dem Gebiet liegt, wie die Gedanken zur Erscheinung kommen. Nun haben wir es hier besonders nur mit der Schrift zu thun; da ist also die Aufgabe die, überall zu entdecken, wo ein Fehler in der Schrift ist, ihn aufzulösen, und auf das, was der ursprünglichen Absicht des Schriftsteller gemäß ist, zurückzuführen. Wenn wir nun auf den Zustand der alten Litteratur [sehen], gleichviel vor der Zeit der Typographie, oder abgesehn von dem Einfluß der Typographie, so sehn wir, wie die kritischen Schwürigkeiten auf 2fachem Wege zur Wahrnehmung kommen können. 1) Ich habe eine Handschrift vor mir, oder eine aus einer Handschrift gemachte typographische Ausgabe, und gebrauche sie, und komme auf eine Stelle, wo die dastehenden Zeichen keinen Sinn geben, also ihren Zweck als Zeichen nicht erfüllen, oder keine richtige Form geben; also in diesem Falle entsteht mir die Schwürigkeit, d. h. ich beziehe den Fall auf eine Regel, die diese sein wird: Schriftzeichen, die keinen Sinn geben, oder den Formen der Sprache nicht entsprechen, können nicht gewollt worden sein. Wenn wir bei dieser Regel nur etwas stehn bleiben, so werden wir sehen, [daß,] so einfach sie auch scheint, doch ihre Beobachtung eine gewisse Genauigkeit des Verfahrens voraussetzt, und ihre Anwendung großen Schwürigkeiten unterliegt. Es giebt ebenso gut ein verlesen als ein verschreiben: Beim Lesen sind wir immer im Prozeß der Nachkonstruktion, und es giebt da auch ein Divinatorisches, so daß wir dem Schriftsteller mit den Gedanken voraneilen, und die Fehler des Druks als der Schrift übersehen. Das ist also die Genauigkeit, sich nie in der richtigen Betrachtung der Zeichen stören zu lassen, die bei der Anwendung der Aufgabe nothwendig sind. Was das Zweite die Angemessenheit der Zeichen zu der Form betrifft, so treten da Schwürigkeiten ein, die den Einen ganz anders leiten als den Andern, eben weil die Bestimmung, was in das SprachGebiet eines Verfassers gehört, sehr schwürig ist; es ist das schon aus 2 Elementen zusammengesetzt, dem objectiv der Sprache seiner Zeit Angehörigen, und dem was ihm subjectiv angehört. Eine unvollkommene Kenntniß des SprachGebiets bringt bald eine unvollkommene Anwendung, bald eine leichtsinnige hervor, indem man etwas der Sprache eines Schriftstellers angehörig hält, was es doch nicht ist. Was die Kautelen, die daraus hervorgehn, betrifft, davon später. – Ich gehe zu dem andern Theil der Aufgabe über, daß die kritische Aufgabe durch Vergleichung verschiedener Exemplare entstehn könne. Der Fall wird selten so sein, daß der Text einer Handschrift für den, der von vorn herein darauf Acht giebt, nicht dergleichen Schwürigkeiten soll-
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Di 6.2.
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te dargeboten haben. Wenn nun dergleichen Differenzen zur Kenntniß kommen, muß auch darüber entschieden werden. Welches ist das Prinzip? Unter verschiedenen Lesarten kann nur eine die wahre sein; ich sage, k a n n , denn es folgt nicht nothwendig, daß eine die rechte Lesart sein m u ß . Die Möglichkeit, daß die richtige Lesart verloren gegangen, läßt sich nicht abstreiten. Ist auch das Prinzip ohne alle Anfechtung? offenbar liegt in dieser Behauptung noch eine Voraussetzung verborgen, nehmlich, daß der Verfasser selbst nur einerlei geschrieben habe. Die eigne Erfahrung zeigt das Gegentheil. Es wird jedem begegnen, wenn er 2mal dasselbe schreiben soll, so werden sich doch Abweichungen finden, und nur die genaue Vergleichung 2er Exemplare wird sie tilgen können, und ist zu beiden kein Original vorhanden, so wird es schwer sein, welchem man den Vorzug geben soll. Denn es giebt besonders in der prosa eine Menge von gleichgültigen Verschiedenheiten, wo das Grammatische auch nicht den Irrthum erkennen läßt. Versetzen wir uns in die alte Zeit, so kann es sein, daß der Verfasser sein Werk später durchgesehn, und da eine Kleinigkeit anders gesetzt hat, als in der ersten von ihm ausgegangenen Urschrift, so daß man diese Veränderung, als eine 2te partielle Ausgabe ansehn kann. Diese Möglichkeit müßen wir zugeben, aber nicht leicht werden wir in den Fall kommen, daß wir eine Anzeige hätten auf eine 2fache Original-Lesart zu schließen; die Abschriften der alten Werke sind von der ursprünglichen Abfassung so weit entfernt, daß die Wahrscheinlichkeit einer doppelten OriginalLesart, zu der, daß sie durch einen späteren Abschreiber entstand, sich wie ein undendlich Kleines verhält. – Dem Kritiker wird aber die Aufgabe kommen, zwischen den verschiedenen Lesarten einer Stelle zu entscheiden. Diese Aufgabe wird es aber sein, womit sich die grammatischen Kritiker besonders zu beschäftigen haben. In den alten Autoren ist es nur selten der Fall, daß wir nur 1 Handschrift hätten, und bei den Meisten noch weniger der Fall, daß sie alle sollten durchgängig übereinstimmen. Wenn wir nun also den weiten Weg dieses Zweiges der Kritik verfolgen wollen, so gilt, wenn wir den ersten Fall isoliren, und wo wir auf Schwürigkeiten stoßen, nicht eine Menge von Handschriften zu Rathe ziehn können, so sind wir in dem Fall, mit der größest möglichsten Sicherheit das zu setzen, was der Verfasser geschrieben. In dem letzten Fall würde diese Aufgabe erst entstehn, wenn nach der Vergleichung der Handschriften keine die Wahrscheinlich richtige ist; sonst wäre in diesem Fall bloß die Aufgabe, aus den vorhandenen mit der größest möglichen Sicherheit das Richtige auszuwählen. 35 entstehn] entsteht
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Nun dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß diese Sicherheit in beiden Fällen nicht sehr groß ist. Soll aber unser Verfahren ein kunstgerechtes sein, so muß es eine Klarheit geben, in welchem Fall die Sicherheit größer oder geringer ist. Hier wieder Entscheidungsgründe zu suchen, ist das Schwürige, und dann entsteht erst die Aufgabe, etwas Richtigeres zu setzen. Nun kann unsere Aufgabe zuerst quantitativ, d. h. in einem verschiedenen Grade, verschieden sein. Die Absicht, weshalb überhaupt das kritische Verfahren unternommen wird, kann eine sehr verschiedene sein. Zuerst, sie kann bloß gerichtet sein auf die Bequemlichkeit des Lesers, der nicht zugleich als Kritiker angesehn werden soll. für den ist ein kritischer Apparat unnöthig, und es ist nicht zwekmäßig, das ganze Verfahren zu begründen, er wird befriedigt, wenn man ihm einen lesbaren Text giebt; freilich mit einem guten Gewissen, sonst hieße es das Vertrauen der Leser zu einem solchen Bearbeiter mißbrauchen. Es fehlt aber auch im Gebiet der classischen Litteratur nicht an solchen frivolen Verbesserungen des Textes. 2) die kritische Entscheidung kann vorkommen in der Bearbeitung einer Aufgabe, die grammatische und kritische Leser voraussetzt. Diese muß man in den Stand setzen, ihr Urtheil selbst zu machen, und das Verfahren des Auslegers zu prüfen. Das läßt sich nicht ohne kritischen Apparat denken, der aber von verschiedenem Umfang sein kann. Es gehört dazu, die Angabe aller verschiedenen Lesarten, und die Angabe der Wahrscheinlichkeit, wonach man eine auswählt, oder an die Stelle aller eine andre setzt; und 3) die Angabe der Gründe. Selten findet man das zusammen, weil eine solche Ausgabe sehr volumineus und zeitraubend für den Herausgeber wird. 4) eine kritische Entscheidung kann vorkommen abgesehn von der Herausgabe eines Werks, in philologischen Sammlungen. Da ist nicht vom Gebrauch, sondern von der Mittheilung des critischen Verfahrens selbst die Rede. Es gehört also da die Auseinandersetzung der Gründe besonders hin. Das wäre die Art unserer Aufgabe, wobei es dem Kritiker am leichtesten wird, sein gutes Gewissen zu behalten. Zeigt er sich leichtsinnig und ungründlich, so ist es sein Schade. sub No. 2 ist aber das kritische Gewissen das schwierigste. Um es zu erleichtern, hat sich in der Behandlung ein verschiedenes Verfahren gefunden. Entweder man setzt die für richtig erkannte Lesart in den Text, oder man läßt ihn unverändert und weißt dem critischen Apparat eine andre Stelle an. Setze ich sie in den Text, so gebe ich zu erkennen, daß ich sie für die vom Schriftsteller geschriebene halte; thue ich das nicht, so halte ich die Wahrscheinlichkeit für geringer. Die Herausgeber verfahren 25 4)] 3)
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dabei verschieden und es ist nichts von beiden ganz zu tadeln; wenn nun der, der seine Verbesserung in den Text setzt, nur dafür sorgt, daß der Leser sie erkennt, so kann er immer noch die Prüfung machen; und wenn der Andre nur seine Verbesserung recht kenntlich macht, so ist durch solch behutsames Verfahren auch nichts verloren. Wir sehen wie durch das verschiedene Verfahren sich schon von selbst verschiedene Regeln ergeben. Nun haben wir in soweit das Ganze der Aufgabe vor uns, daß wir wissen, in welchem Fall entsteht die Nothwendigkeit einer critischen Entscheidung, von welchen allgemeinen Prinzipien muß ausgegangen werden, und wie kann sich der Herausgeber gegen die stellen, denen er seine Verbesserung übergeben will. Kommen wir nun auf das Erste zurück, auf den einfachsten Fall, daß critische Entscheidungen nothwendig werden durch einen Anstoß im Gebrauch des Schriftstellers selbst, so kommen wir da auf den Anfang unserer Geschichte der Kritik zurück. In diesem Fall befanden sich die ersten Kritiker. Sie hatten meist nur 1 Handschrift, und keine Gelegenheit andre handschriftliche Hülfsmittel zu Rathe zu ziehn. Beide Aufgaben kommen in unserer jetzigen Litteratur nicht getrennt vor, für die Theorie ist die Trennung aber nothwendig. Die alexandrinischen Grammatiker haben beide Aufgaben schon ausgeübt. Die Eine, einen anerkannten Fehler aus dem Schriftsteller herausbringen, nennen wir emendiren, einen Text zusammensetzen, daß er der Urschrift des Verfassers möglichst ähnlich werde, nennen wir recensiren. Wir fangen mit der Aufgabe der Emendation an, und stellen uns auf den Anfangspunkt der ganzen Untersuchung. Nehmlich es sei hier die Rede von einer solchen Beschaffenheit der Zeichen, die ohne den WillensAkt des Schriftstellers da sind. Eine solche Beschaffenheit muß den WillensAkt, der da sein soll, ÐstörenÑ. Bemerkt muß das werden aus 2erlei, aus Mangel an Zusammenhang in dem, was die Zeichen geben, dann auch aus Mangel an grammatischem Zusammenhang in den Zeichen selbst. Über das Wahrnehmen solcher Fehler laßen sich keine Regeln geben; es hängt ab von dem Grade der Aufmerksamkeit des Schriftstellers und seiner Fertigkeit. Wir fangen deshalb nur da an, wo der Fehler bemerkt ist, und wo ihm abgeholfen werden soll. Auch darüber läßt sich keine Regel geben, wie Einem etwas einfallen solle. Es hängt aber [ab] von der Aufmerksamkeit, die man auf den Zusammenhang verwendet, und von der Gegenwärtigkeit der ganzen Sprache. Das wird vorausgesetzt; wir werden aber doch damit anfangen müßen die Quellen der Vor1 tadeln] verfahren
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schläge zur Verbesserung des Texts zu prüfen. Es ist jedesmal die Nothwendigkeit des Zusammenhangs, der die Verbesserung erfordert; daraus entsteht also auch die Vermuthung des Richtigen. Die Kritik nimmt also hier die Hermeneutik auf. Das Schema ist dasselbe, der Fehler liegt im Subjekt oder im Prädikat, unmittelbar oder in der näheren Beschreibung derselben. Das was im Satz steht, muß deshalb ergeben, was der Schriftsteller gesagt haben kann. Die Auswahl wird enger oder weiter sein; jenachdem das Verfälschte einen unwesentlichen Bestandtheil, oder ein wesentliches Glied des Satzes betrifft. Das Zweite, wovon man ausgeht, ist die Beschaffenheit der Schriftzüge im Verhältniß zur Sprache; denn wenn ein Wort da nicht hingehört, keinen Sinn giebt, so kommt es darauf an, an die Stelle dieser Schriftzüge andre zu setzen. Es kommt also auf die Ähnlichkeit der Schriftzüge an. Beides ist zusammen. Man macht emendationen, oder conjecturen zum Behuf der Emendation, aus dem Zusammenhang oder aus den Schriftzügen. Wie verhalten sich beide relativ entgegengesetzten Gesichtspunkte? Wenn einer ganz fehlt, so hat man immer einen Mangel an Befriedigung denn wenn ein Wort zum Zusammenhang paßte, und der Schriftsteller gebraucht es auch sonst so, es kann aber statt der dastehenden Schriftzüge nicht stehn, so ist das ein Mangel an Befriedigung. Ebenso, wenn ich mir denke, statt dieses Zeichens könnte wohl das und das da gestanden haben, der Zusammenhang leidet aber dieselbe Schwürigkeit, so habe ich keine bestimmt ausgesprochene Meinung, daß dem Zusammenhang sein Recht widerfährt. Fragen wir also, worauf die Sicherheit der Operation, und die vollkommene Lösung der critischen Operation beruht, so müßen wir sagen, im Zusammensein von beiden. Nun fragt sich also, worauf beruht denn das Urtheil über den Grad, wie eine Vermuthung dem 1 oder dem andern Gesichtspunkt genügt, und dann wenn sich nichts darbietet, was beiden mit gleicher Befriedigung genügt, läßt sich ein Prinzip aufstellen, welchem man den Vorzug geben soll. Je genauer sich beide Aufgaben lösen ließen, um desto vollkommener wäre die Theorie selbst. Je weniger sich hier objectiv lösen läßt, je mehr man dem allgemeinen Gefühl zuschreiben muß, um so mehr muß man zugestehn, daß die Theorie in einer gewissen Allgemeinheit bleibt. Wir fangen beim Äußerlichen an, wenn es darauf ankommt, an der Stelle eines Wortes ein anderes zu setzen, so wird von dieser äußeren Seite die Aufgabe um so vollkommener gelößt sein, je mehr sich aufzeigen läßt, daß aus dem, was der Schriftsteller geschrieben hat oder hat schreiben wollen, der Fehler entstanden ist. Je mehr diese Operation das Entstehen des Fehlers nachweisen kann, um so schlagender ist sie. Hier sind nun die
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Möglichkeiten der Entstehung eines Fehlers von dieser Seite aus, besonders die: Wir denken uns den, der eine Schrift vor sich hat, und von dieser eine Abschrift verfertigend, so wird der Fehler ausgehn in Verbindung mit den Gedanken bei dem und über dem, was er schreibt, oder ohne diese Verbindung bei der bloßen Beschäftigung mit den Zeichen. Bei dem ersten ließe sich erklären, wie eine Wortform an die Stelle der ursprünglichen kommen konnte, die dem Abschreiber geläufiger war, und für den Sinn nichts änderte. Dann ist keine Ähnlichkeit der Schriftzüge nöthig. Über einen so entstandenen Fehler läßt sich nur operiren von dem aus, was der Zusammenhang giebt. Davon abstrahiren wir hier. Je mehr der Schreiber dem ganzen Zusammenhang folgen kann, um so leichter konnte sich ihm etwas anderes ergeben. Das gehört aber nicht in diese äußerliche Seite. Wir werden bei dem stehn zu bleiben haben. Wenn Einer, der das mechanische Geschäft des Schreibens verrichtet, sei es der Verfasser selbst, oder der, dem er diktirt, oder der Abschreiber, bei der Beschäftigung mit den Zeichen irrt, so werden 2erlei Fehler entstehn können, Fehler des Sinnes und Auffassens, Fehler die Organe von selbst verrichten. Da kommen aber verschiedene Rüksichten in Betracht. Ist nehmlich von Fehlern des Sinnes die Rede, so fragt sich, ist der auffassende Sinn das Ohr oder das Auge gewesen, man unterscheidet es gewöhnlich so, daß man sagt: Wenn einer die Handschrift vor sich hat, liest er mit dem Auge, und macht mit dem Auge Fehler als er vom Sinn abstrahirt; er wird sich dann vorsehn, und einen so gestalteten Buchstaben [nicht] für einen andern halten. Die Größe der Ähnlichkeit ist also das Maaß für sein Versehn. Hat aber einer die Abschrift nicht vor sich, sondern ein Andrer ließt es vor, so ist sein auffassender Sinn das Ohr, er soll aber Zeichen niederschreiben. Da kann es nun sein, daß Fehler mit dem Ohr für das Auge ganz verschiedene Gestaltung machen. Wenn die Sache so liegt, so kommt es sehr darauf an, und es ist eine große Hülfe wenn man weiß, ist sie durch Kopiren oder Dictiren entstanden. Wenn ich bald Verbesserungen nach der Einen, bald nach der Andern mache, so hat das keine consistenz. Da werden wir also eine bessere Anleitung haben, wenn wir die Kenntniß davon haben, wie die Handschriften entstanden sind. Nun läßt es sich auch denken, daß ein Kopist auch Fehler machen kann, die vom Gehör ausgehn, wenn ich mir denke, daß er nicht bloß mit dem Auge liest, sondern auch spricht, wenn er dann nicht wieder auf die Urschrift zurücksieht, kann er auch Fehler durch das Gehör machen. Es können also auch beim Kopiren Fehler der andern Art entstehn, wenn der Abschreiber 17 Organe] Organae
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nicht auf die absolut atomistische Art verfährt, daß er nur Buchstaben für Buchstaben nachmalt. Umgekehrt ist es nicht der Fall daß beim Diktiren Fehler entstehn können, die nur durch Lesen mit dem Auge sich erklären ließen. – Über das Verfertigen der Handschriften ist nicht viel zu sagen. Wenn einer allein eine Handschrift zu verfertigen hatte, wird er sich keinen genommen haben zum dictiren, das wäre eine Verschwendung von Kräften. Er wird dann mit dem Auge gelesen haben. Wenn aber Mehrere zusammen schrieben, so war ein dictator da. Das Verfertigen der Handschriften im Großen läßt sich wohl in 2 Perioden annehmen, die der Alexandriner, und später in den Klöstern. Um sich nun Irrthümer des Auges und des Ohrs zu erklären, muß man wissen, wie ausgesprochen, und wie geschrieben worden ist. Erklären laßen sich deshalb [Fehler] nicht mehr ohne eine Kenntniß der verschiedenen Gestaltung der Aussprache, und ohne Palaeographie. Das Letzte wird in größeren kritischen Apparaten gewöhnlich beobachtet, indem man die Zeit der Abfassung der Handschrift, und ihre Zeichen, UncialBuchstaben oder CursivSchrift, angiebt. Doch reicht das noch lange nicht hin. Am übelsten ist es, wenn man aus unsrer Druckschrift zurückschließen will; denn wenngleich sie aus der CursivSchrift entstand, hat sie seit der Erfindung der Druckerei viele Veränderungen erlitten. Nur der, der viele Handschriften mit einander verglichen hat, kann hier dreister zu Werk gehen. Nun hatten wir 2) als Irrthümer die Fehler der Hand angegeben, d. h. das eigentliche Verschreiben. Dies ist am schwersten zu beurtheilen, da sich keine allgemeine Regel dafür angeben läßt. Die Thatsache ist aber nicht zu leugnen, denn woher sollten so viele Fehler in den Handschriften kommen, wo auf keinen Fehler im auffassenden Sinn zurückgeschlossen werden kann. Eben deshalb, weil hier die Nachkonstruktion ohne alle Regel ist, ist das diejenige Gegend, wo man mit der größten Vorsicht zu Werk gehn muß. Man kann sich hier gar leicht eines kritischen Leichtsinns schuldig machen. Er ist häufig begangen worden, aber es bleibt auch der Eindruck der Willkühr und Unsicherheit übrig. Man muß hierzu seine Zuflucht nehmen, erst, wenn die Nothwendigkeit der Verbesserung aus der andern Seite her, aus der Nothwendigkeit des Zusammenhangs schon bis zu einer gewissen Evidenz gebracht werden kann. Doch giebt es dazu noch mehr Übergänge. Wenn z. B. mehrere Buchstaben hinter einander vorkommen, so läßt es sich sehr leicht denken, daß aus einer Gewöhnung der Combination der Züge der Abschreiber, wo der Buchstabe wieder vorkam, den andern nachmachte. Ein anderer Übergang ist: wenn der erste Abschreiber einen Fehler verbesserte, aber nicht deutlich
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machte, der 2te nun nicht recht wußte, was er daraus machen sollte. Dieser Fall kann sehr oft vorgekommen sein, wo die Mittelglieder uns gänzlich verloren gingen. Wo also die Nothwendigkeit des Zusammenhangs eine Verbesserung fordert, die Schriftzüge ein Versehn der Hand aber gar nicht zulassen, muß man oft seine Zuflucht zur Erklärung eines solchen complicirteren Versehens nehmen. Wir gehn zur andern Seite über, der inneren des Zusammenhangs. Das ist offenbar, daß das Falsche sehr oft auf diesem Wege bemerkt wird. Es ist offenbar, daß es hier eine solche Menge von Abstufungen giebt, wo dies leicht, oder schwer ist, und daß es Fälle giebt, wo man nur Verbesserungen machen kann, wenn sich der Fehler auch aus dem Äußerlichen erklären läßt. Wir müßen nun erstlich hier einen großen Unterschied machen zwischen Poesie und Prosa. Wenn wir in der Poesie etwas Falsches erkennen, wir haben aber eine vollkommene Kenntniß des Metrum, so ist die Verbesserung in sehr engen Grenzen eingeschlossen. Eine engere läßt sich eigentlich nicht denken. Aber es ist nicht zu leugnen, daß die genaue Kenntniß des Metrischen sich allmählig vervollkommnet hat, und wir sind noch nicht so weit, daß wir alle Freiheiten und Verbote in dieser Hinsicht aufstellen könnten, da uns so vieles verloren gegangen. Was ist nun im Gebiet der Prosa das, was der Gebundenheit in der Poesie am nächsten tritt? es ist die correspondenz der Glieder im Periodenbau. Weil hier aber der freie Spielraum des Verfassers größer ist, so ist die Mannigfaltigkeit dessen, was man versuchen kann, dennoch größer. Je mehr sich eine Schrift von dem, was der Gebundenheit des Sylbenmaaßes am nächsten kommt [entfernt], je größer die Abwechselung im Periodenbau, und je mehr sich ein Schriftsteller in Anacoluthien gefällt, um so schwüriger ist die Sicherheit der Verbesserung. Sehen wir mehr auf das Innere, so ist es die Verbindung der Gedanken, die auf das Richtige leiten muß, so wie man das unrichtige aus ihr entdeckt. Auf 2erlei ist deshalb hier zu sehn, das allgemeine Gesetz der GedankenVerbindung und Rede – und die eigenthümliche Art und Weise des Schriftstellers. Beides sind sehr ungleiche Motive. Es ist leichter einen Fehler zu entdecken, der den logischen Regeln des Denkens widerspricht, als sicher auszusprechen, ich kann nicht glauben, daß das und dies von diesem Schriftsteller geschrieben worden sei. Sehn wir dagegen auf das, woran sich die Verbesserung schließen soll, so ist es leichter, wenn sich Einer in einen Schriftsteller eingelesen, was er gedacht, hinzuzusetzen, als einen Fehler gegen die Regeln des Denkens zu verbessern. Im ersten geht man von einem bestimmten innern Bilde aus. Im 2ten Fall sind die Regeln des Denkens negativ; ich kann wohl sagen, das widerspricht diesem Schriftsteller nicht; aber
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weiter folgt auch nichts. – Je strenger deshalb der GedankenZusammenhang einer Schrift ist, und je bestimmter eine verfälschte Stelle in diesen GedankenZusammenhang eingreift, um desto leichter ist es auch, den Fehler zu finden, und zu verbessern, obwohl man die Emendation immer noch am folgenden proben muß. Je bestimmter und gleichförmiger der Styl eines Verfassers ist, und man verschiedene Manieren aus der Zeit unterscheiden kann, um so mehr wächst die Sicherheit, eine Verbesserung richtig machen zu können. Je weniger das Eine oder das Andre der Fall ist, desto schwieriger ist es, nur mit einiger Sicherheit eine Verbesserung vorzuschlagen. Je geringer die Sicherheit auf der einen Seite des Verfahrens ist, um so mehr muß man die andre Seite als Complement dazu gebrauchen. – Deshalb werden wir eingestehn müßen, daß die kritische Aufgabe unter dieser Form selten wird mit Sicherheit zu lösen sein, und daß deshalb kein Kritiker seine Emendation mit apodictischer Gewißheit aussprechen kann, sondern jeden Sachkundigen zur Prüfung auffordern muß. Wer eine Verbesserung an dem Text setzt, die nicht ihre Rechtfertigung von beiden Seiten her hat, versündigt sich immer am Leser. Die Vorsicht und Bescheidenheit der Herausgebers ist eine große Erleichterung der Leser; dagegen jeder Leser recht aufmerksam sein muß auf jede Mannigfaltigkeit bei einem Herausgeber, der leichter damit verfährt, seine Verbesserungen in den Text zu setzen, als bei einem Andern. Wir haben auf diesem Gebiet von einem Fall noch zu reden, der besonders muß betrachtet werden, Auslassungen und Einschiebungen, die [wenn] wir auf den Ursprung des Fehlers sehen, entweder durch Fehler des Auges (Überspringen) oder unrichtiges Urtheil entstanden sind. Daß etwas sollte überhört werden ist selten; am meisten geschieht, daß das Auge über ähnliche Zeichen weggeht. Was solche Einzelnheiten betrifft, so können wir gleich den entgegengesetzten Fall des Einschiebens damit verbinden; es kann ebenso durch einen Irrthum des Auges geschehn, daß ein Buchstabe verdoppelt wird etc; so finden sich denn oft Verdoppelungen, die in der Sprache richtig sind, aber in der Poe¨sie des Metri wegen ausgelassen werden mußten. In dem letzten Falle ist es durch Metrum bald zu entdecken, oder wenn ein Wort durch das Auslassen verstümmelt wurde, oder durch das Einschieben eine ungewöhnliche Form bekommt, ist es auch leicht. Was aber die Verdoppelungen betrifft, ist durch die Vergleichung vieler Handschriften in neuerer Zeit zum Theil eine andre Rechtschreibung (besonders der Eigennamen) entstanden. – 25 Daß] Das 37 Fr. 9. 2. ausgefallen
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Wichtiger ist hier das Auslassen und Einschieben ganzer Sätze, oder Theile derselben. Nun kann es leicht vorkommen, daß sich ein Satz unvollständig zeigt, also so, daß ihm ein Glied fehlt. Dann ist wohl möglich, daß das Ganze fehlerhaft scheint, weil in dem einzelnen Glied ein Fehler ist, der das Ganze zwar nicht sinnlos macht, aber ihm eine andre Stellung giebt. Dann räth man auf eine Auslassung. Eine solche läßt sich nicht gut denken als durch einen Irrthum des Auges, sei es in der Operation des Diktirens oder Abschreibens. Nun muß aber eine Leitung zu diesem Irrthum vorhanden sein, und da giebt es 2 Fälle, 1) eine Ähnlichkeit der Züge, in der Richtung, daß eine Abirrung des Auges möglich ist, z. B., wenn in 2 Zeilen dasselbe Wort, oder dieselbe größere Sylbe eines Worts vorkommt; nun fehlt auf diese Weise unwillkührlich ein Theil des Satzes; oder es können 2 Sätze zusammengeflossen sein. Der letzte Fall wird leicht zu entdecken sein. Nun ist offenbar, je größer die Auslassung ist, je weniger kann man darauf rechnen, sie richtig zu ergänzen; ja es kommt noch dazu, daß es in den meisten Fällen schwürig ist, die Größe des Lücke zu taxiren; denn ist der Zusammenhang einmal unterbrochen, wie will man die Größe bestimmen. Nur bei einer gewissen Klasse von Schriftstellern läßt sich das nachweisen, und zwar am leichtesten bei geschichtlichen oder beschreibenden; nur wenn man sagen kann, dieser Satz ist beinahe abgehandelt, und das nächste darauf Folgende mußte nun auch grade folgen. Dennoch aber kann eine digression als Nebenbemerkung dagewesen sein, die wir nicht hieraus bestimmen können. Das ist also das unsicherste Geschäft der ganzen Kritik. Wenn ein Kritiker eine große Sachkenntniß hat, so wird er den Inhalt der Lücke dem Umfang [nach] mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angeben können, und hat er noch eine große Kenntniß von den Ausdrücken des Schriftstellers, wird er auch noch den Ausdruck mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit angeben können, aber über die Wahrscheinlichkeit hinaus wird es nicht gehen. Je weniger objectiv der Gegenstand, und je weniger streng logisch der Gedanken-Gang ist, um so weniger Sicherheit. Der entgegengesetzte Fall ist, daß etwas Fremdes in den Schriftsteller hineinkam: also doppelte Worte (die sind sehr leicht zu merken) oder etwas Andres, und das muß sich zeigen durch den Überfluß und Störung des Sinnes. Nun wird aber nicht ohne allen Grund so etwas hineinkommen können. man wird nicht leicht annehmen können, daß ein Abschreiber aus seinem Eigenen etwas wird hinzusetzen; hat er es gethan, so muß er es irgendwo schon gefunden haben; also etwa an einer andern 2 derselben] desselben
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Stelle in demselben Buch. Das begegnet oft beim Homer, wo die Quelle des Einschubs das Gedächtniß ist, das also dem Auge muß vorangegangen sein. Der 2te Fall ist, daß es nicht aus dem Buch genommen, aber er hat es in dem Buch doch gefunden. Das ist der Fall von sogenannten in den Text gekommenen Glossen. Nehmlich man nimmt an, daß ein Leser sich wird auf den Rand etwas geschrieben haben, der Abschreiber denkt, daß das etwas Ausgelassenes sei, was bei der Correctur der Handschrift hineinkam. Diese Hypothese ist bewahrheitet dadurch, daß es solche Rand-Correcturen giebt. Sobald eine solche Verwandschaft da ist, bleibt die Möglichkeit, daß die RandGlosse dem Schriftsteller angehört. Da ist also nur eine Wahrscheinlichkeit, keine Gewißheit, und kann es hier nie vollkommen sein, weil wir es für unsern Fall nur mit 1 Handschrift zu thun haben, und wir nun davon ausgehn, daß wir im Zusammenhang selbst gestört sind. Nur wo sich behaupten läßt, daß dies zu jener Zeit noch nicht gesagt werden konnte, läßt sich die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit erheben. Der Gegenstand scheint also der niederen Kritik anzugehören, weil er eine Berichtigung des Textes betrifft, die Beurtheilung kann aber nur nach den Regeln der höheren Kritik erfolgen. Je leichter sich also so etwas isoliren läßt, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es Zusatz eines Scholiasten sei. – Fassen wir also alles zusammen, so bestätigt sich das früher Gesagte, nehmlich, daß hier mehrere Talente concurriren, und daß ihre Vereinigung erst eine vollkommene Lösung der Aufgabe gibt; weil das aber so selten zusammen ist, deshalb sehr selten sich auch etwas Vollkommenes und Sicheres giebt. Was wir hier von der emendirenden Kritik sagten, gilt aber auch von der recensirenden. Es ist also die erste und nothwendigste Vorübung zur Übung der Kritik, solche Schriften für sich zu behandeln, wo es hinreichende Hülfsmittel giebt, um sein Resultat zu beurtheilen, aber zu thun, als hätte man nichts als den Text. Man wähle dazu principal Ausgaben, oder anerkannt schlechte und incorrecte, und vergleiche sein Resultat mit dem von Andern; Wenn man solche Übungen eine Weile fortsetzt, so wird man in der Ausübung derselben immer behutsamer werden in Beziehung auf die Sicherheit, mit welcher man etwas als eine Verbesserung ansieht. Das ist der Gang, den diese Aufgabe im Allgemeinen genommen. Es hat von Anfang eine entgegengesetzte Maxime stattgefunden in der Herausgabe der Schriftsteller, die eine, zu geben, was man gefunden – die andre, was man für das Rechte hält. Die Erste ist nicht falsch, nur sie überläßt dem Leser, was er thun sollte. Im Zweiten 14 sind] haben
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zeigt sich aber eine große Anmaßung in der Bestimmung des Richtigen, bei einer mangelhaften Kenntniß des SprachGebrauchs und des mechanischen Theils des Geschäfts. Jetzt zeigen die Kritiker eine große Vorsicht in der Emendation. Es giebt nun allerdings noch Quellen für diese Irrthümer, die zufälliger sind, weil sie [auf] gewissen für das ganze Verfahren unwesentlichern Dingen beruhn, oder auf rein äußerlichen. Dergleichen Fehler sind die aus Abbreviaturen entstandenen. Solche Abbreviaturen finden sich schon früh, aber sparsam, da sie bloß zur Ersparung des Raums gebraucht werden; nachher da das Abschreiben so vervielfältigt wurde, wurden sie zur Ersparung der Zeit gebraucht; und da es keine tradition dafür gab, erlitten sie eine verschiedene Deutung, und das Diktiren derselben gab oft eine willkührliche Deutung, und brachte Fehler in den Text. – von eben so äußerlichen Umständen entstanden Fehler aus undeutlichen Handschriften, die abgenutzt waren, und undeutliche Züge darboten, die Mißdeutungen ausgesetzt waren. Das Schlimmste ist aber dies, daß der Gebrauch der Kritik selbst die Fehler vermehrt, wenn sie unrichtig angewendet wird. Wenn wir uns in den Fall zurück denken, daß nur 1 Handschrift da ist, und jenachdem die Kritik richtig oder unrichtig angewandt wird, werden die Fehler vermindert werden oder auch vermehrt. Nun hat es immer eine durch die SprachKenntniß geleitete Kritik gegeben, aber sie kam oft in unkundige Hände (die Abschreiber glichen darin unsern Setzern). So entstanden denn Fehler von einer ganz eignen Klasse; und es ist nicht zu leugnen, daß das Letzte eine große Masse von Fehlern bildet, die in den alten Handschriften vorkommen. Man hat das deshalb auch zu einer Klassifikation der Handschriften zu [gebrauchen versucht], und schreibt solchen, wobei ein raisonnirender Abschreiber mitarbeitete, die geringste Autorität zu. Die emendirende Kritik findet auf das N.T. keine Anwendung; wir haben da eher zu viele Handschriften. Es findet das nur eine Anwendung, soweit es die andre Seite, die recensirende Kritik erfordert, wenn sich nehmlich von da aus zeigt, daß keine Lesart einen Sinn giebt, sondern zu einer Emendation des Textes geschritten werden muß.
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D i e r e c e n s i r e n d e K r i t i k ist die Constitution eines ganzen Werks durch Benutzung aller vorhandenen schriftlichen Hülfsmittel. Es fragt sich nun, ob wir uns an diese Aufgabe allein halten wollen, oder ob wir die partielle Aufgabe, den Streit in einzelnen Fällen zu entscheiden, als etwas besonderes ansehen wollen. Es scheint beides nicht verschieden zu sein, da die ganze Operation den richtigen Text darzustellen, nur aus lauter partiellen Operationen bestehn kann. Die Sache ist aber die. Denken Sie sich Einen, der zu einem besondern Behuf eine Stelle authentisch haben will, und er kommt in Gewirre hinein, so wird er sich an die Regeln der emendirenden Kritik und an die Vergleichung der Handschriften halten müßen, und einen Andern, der keinen besondern Nebenzweck hat. Beide werden gleich verfahren müßen. Aber der Letzte bleibt im beständigen Gebrauch der Handschriften, lernt ihre Physiognomie kennen, und bekommt einen richtigen Takt vom Ganzen. Der Erste bekommt eine partheiische Richtung. Der Letztere wird also in einem weit reineren Sinne kritisch verfahren, und wir werden sagen müßen, die richtige Darstellung des Einzelnen wird am besten bewirkt werden durch die richtige Darstellung des Ganzen. Dagegen ist es thatsächlich, daß die schlagendsten Verbesserungen aus der Beschäftigung mit einzelnen Stellen hervorgingen, und daß aus der fortgesetzten Vergleichung eine Neigung entsteht, schwürige Stellen unentschieden zu lassen, weil das kritische Gewissen fortwährend geschärft wird, aber die Nothwendigkeit zu bestimmen nicht gleich ist. Man kann also nicht leugnen, es wird nicht in beiden Fällen gleich gehandelt, und jeder hat seine eigenthümlichen Vorzüge. Gesetzt aber, es sollte ein Text zu Stande kommen durch die einzelne kritische Behandlung, so glaube ich, Jeder wird sich sagen, es sei die höchste Unwahrscheinlichkeit, wenn dieser mit sich selbst übereinstimmte, d. h. wenn das Verfahren in allen Fällen auf denselben Prinzipien beruhte. Betrachten wir die Sache wie sie jetzt liegt, so gilt, unsere Theorie ist nichts als eine Sammlung von Regeln, die aus den Operationen der bedeutendsten Virtuosen der Kritik abstrahirt sind. Sie sind aber nicht alle aus gleichem Gesichtspunkt gemacht, und so daß wenn man auf einen schwürigen Fall mehrere anwendet, man aus der einen ein ganz anderes Resultat bekommt als aus der anderen. Diese c o l l i s i o n e n beruhn größtentheils darauf, das, was man in den verschiedenen Handschriften findet, zu vergleichen. Geht man dagegen von dem Verfahren derer aus, die einen Text aus der beständigen Vergleichung aller Handschriften bilden, so werden wir da auf ganz andre Regeln kommen. Sie
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werden theils darauf ausgehn, ein Compendium ihres Verfahrens zu geben, und theils sich nicht bestechen zu lassen durch etwas, was gut scheint aber aus schlechter Quelle kommt. – Wir bekommen also 2 Arten des Verfahrens. Das Eine hat die Schätzung aller Handschriften zum Gegenstand, das andre hat den Zweck, die verschiedenen Ergebnisse der Handschriften an einzelnen Stellen zu schätzen, wobei auf das Verhältniß der einzelnen Stellen selbst, das Verhältniß der Lesarten zum Sinn und Zusammenhang mit Rücksicht genommen wird. Wir werden deshalb beides von einander unterscheiden müßen, doch kann es nicht so geschehn, daß wir 2 verschiedene Verfahrungsarten machen wollen, die ganze Aufgabe ist ja nur, daß beides zusammenfalle; aber so, daß wir die kritischen Regeln auf diese verschiedenen Ausgangspunkte beziehen, und[,]indem wir jeder den Kreis ihrer Anwendung bestimmen[,] darauf Rücksicht nehmen. Wir werden also wenigstens immer 2 Hauptfragen, als solche, auf die sich das ganze Verfahren bezieht, im Sinn haben müßen. 1) Wie kann ich aus verschiedenen Handschriften mit der möglichsten Sicherheit die ursprüngliche Hand wieder herstellen. 2) wie kann ich bei schwürigen Stellen, aus dem, was sich in verschiedenen Handschriften findet, mit Sicherheit das wählen, was im ursprünglichen Text gestanden. Wir wollen erst beide Aufgaben noch näher betrachten. Die Erste ist uns in dieser Fassung noch neu. Die 2te bezieht sich mehr auf das, was wir bisher als Prinzipien der emendirenden Kritik gaben. Nun fragt sich, was hat Einer zu thun, um von 1 Werk, wo es eine Menge von Handschriften giebt, den richtigen Text herzustellen? Die Arbeit scheint unendlich. Er müßte alle Handschriften vergleichen, um die Abweichungen zusammen zu haben. In Beziehung darauf, wie die Fehler entstanden, wird er die Handschriften unterscheiden müßen, und sie nach ihren Zügen classificiren. wenn nun Stellen aus der Schrift, deren Text er geben will, in andern Schriften angeführt [werden], wird er auch wieder die Anführung in den verschiedenen Handschriften vergleichen müßen. Ebenso, wenn es aus der Zeit, die das Material der Kritik giebt, Übersetzungen giebt, muß er auch die vergleichen, um auszumitteln, ob damals noch etwas gelesen worden sei, was die jetzigen Handschriften nicht darbieten. Die Arbeiten anderer Kritiker haben erst Werth für ihn, wenn er nun seine eigne Arbeit prüfen will. Wir wollen zuerst handeln von der Constitution eines zusammenhängenden Textes im Allgemeinen. Wenn wir uns nun mit den alten Schriftstellern vergleichen, so scheint es unmöglich, den Text so wiederherstellen 8 Rücksicht] r
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zu können, wie er von der Hand der alten Schriftsteller kam. Alle Handschriften, die wir besitzen, sind von der ersten Ausgabe so weit entfernt, daß man kaum sagen kann, wieviel Generationen von Handschriften dazwischen sind, und daß die Handschriften aus einer Zeit sind, wo der Text schon mehrere critische Bearbeitungen gefunden. Wir wollen nun sagen, die ersten wären die alexandrinischen Grammatiker gewesen. Die hatten also unstreitig schon Handschriften aus einem von dem Verfasser selbst bedeutend entfernten Zeitalter vor sich. Viele Werke waren nicht in großer Masse abgeschrieben, also zerstreute Handschriften, mit Fehlern, die aus dem Alter der Handschrift nothwendig kommen. Nun hatten sie aber Alles, was dem Kritiker nöthig ist, eine genaue Kenntniß der Sprache und eine Tradition ihrer Veränderungen; sofern werden sie Alles gethan haben, was einem Kritiker möglich ist. Aber es müßte Alles Menschliche übersteigen, wenn sie nicht sollten sinnlose Stellen berichtigt haben; da haben wir also Ausgaben, wo nichts Störendes vorkommt, ein richtiger Text aber von der zweiten Hand. Solche Fehler kann man nicht bessern, weil es unmöglich ist sie zu merken. Seit dieser Zeit ist nun das Geschäft des Abschreibens recht getrieben worden, und da konnte eine Menge von Fehlern des Abschreibens entstehn. Nun aber haben wir aus dieser Zeit wenig Handschriften, die mehrsten sind aus noch späterer Zeit, wo die Abschreiber noch unwissender waren. Da muß man also das Ziel enger stecken: mit Verzichtleistung des authentischen Textes den möglichst frühesten Text, wie ihn jene Kritiker lasen, zu geben. – Nun fragt sich, wie sich das aus jenem Materiale erreichen laße. Wenn es vollständig zusammengebracht ist, so ist es nothwendig, es zu sichten, das Gute vom Bösen zu scheiden, und zwar um so mehr, je größer das Material ist. Nehmlich es giebt noch jetzt Werke des Alterthums, wo es nur ein Paar Handschriften giebt, wo also die emendirende Kritik noch im hohen Grad geschäftig ist. Von Andern giebt es so viel Material, daß man es nicht alles vergleichen kann. Es ist nehmlich dazu nöthig, Alles, wenn es auch nicht streitig ist, zu vergleichen. Jede Handschrift müßte verbotenus durchgelesen werden, um ihren Charakter kennen zu lernen; zu wissen, zu welcher Art von Fehlern sie sich neigt, was nur aus der Vergleichung von völlig gesunden Stellen möglich ist. Vergleicht man eine Handschrift in den schwierigen Stellen, so läßt sich das ausdehnen auf eine größere Strecke des Textes, und dadurch kann man schon eine ziemliche Vorstellung vom Charakter einer Handschrift erlangen. Um das Verfahren bei allen den Werken, wo es sich dem Unendlichen nähert, abzukürzen, ist es 24 laße] laßen
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eine wichtige Aufgabe, die Handschriften zu klassifiziren, und sich nur an die bessern zu halten. Wenn sich nun die philologische Welt auf Eine so verlassen sollte, gehört ein großes Vertraun dazu, und das kann nur durch Arbeiten ähnlicher Art erworben worden sein. Wie kann es also eine Probe geben für eine solche Klassifikation der Handschriften. Das kann nur geschehn, wenn der Kritiker einen Theil seiner Gründe im Werk selbst niederlegt, und die Aufgabe ist die, das auf die möglichst kürzeste Weise zu thun, und das kann doch nur geschehn, wenn der Ausgabe des Werks ein kritischer Apparat verbunden wird, wodurch der Leser in Stand gesetzt wird, den Charakter der Handschrift zu prüfen, und zwar nicht bloß in streitigen Stellen, sondern auch in gesunden. (Becker’s Ausgaben, besonders des Plato). Es ist also eine unendliche Menge von ins Einzelne gehenden aber der größten Genauigkeit bedürftigen Thätigkeiten, worauf die Wiederherstellung eines Textes beruht. Es kann das Verfahren deshalb nur auf Schriften von größerm Werth für die Gegenstände und die Sprache beruhn. Nun ist aber dadurch keinesweges gegeben, was um den richtigen Text zu constituiren nothwendig ist. Der Werth der Handschriften läßt sich nicht dadurch allein ausmitteln, daß man sieht, zu welcher Art Fehlern sie sich neigen, sondern die Aufgabe ist auch zu beurtheilen, welches ihre Quellen gewesen, und den Werth von diesen zu beurtheilen. Wenn man alles, was keinen Anstoß gäbe zusammenstellte mit Übergehung aller schwürigen Stellen, so würde man doch sehr verschiedene Texte bekommen; nun so wie sich ein verschiedener aber lesbarer Text konstituiren läßt, so muß man schließen, daß sie die erste Bearbeitung eines Textes sind, oder aus diesen ersten Quellen entstanden. Das Erste können wir auf dem ganzen Gebiet der Alterthumskunde nicht nachweisen, das zweite ist unbestreitbar. Soll nun das ganze Verfahren gehörig begründet sein, so muß man das zusammenhängend beurtheilen können d. h. es ist in dieser ganzen Beziehung von der größten Wichtigkeit, alle Notizen zu sammlen, die dahin führen, die Geschichte des Textes klar zu machen. Das ist eine besondere Aufgabe für jeden alten Autor, und eine allgemeine Aufgabe für das ganze classische Alterthum. Wenn 16 dadurch] dadurch nicht 11–12 Der Altphilolog Immanuel Bekker (1785–1871), ein Schüler Friedrich August Wolfs, war seit 1810 Professor an der Berliner Universität und seit 1815 Mitglied der Berliner Akademie; sein damaliger und heutiger Ruhm stützt sich auf seine zahlreichen gelehrten Ausgaben griechischer Texte (Platon 1816–18, Aristoteles 1831–36, und Dutzende weiterer Bände), für die er im Auftrag der Akademie in den europäischen Bibliotheken Handschriften studierte (und darum meist die Hochschullehre vernachlässigen mußte). Schleiermachers fördernde Mitwirkung besonders bei der Platonausgabe bedarf noch genauerer Darstellung.
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wir zum Ersten kommen können, ist es ein großes Glück, so daß wir also in alten Scholien verschiedene Lesarten fänden mit der Angabe ihrer Quelle. Das ist aber etwas sehr Seltenes. Das Zweite zerfällt in 2 verschiedene Theile, 1) Palaeographie d. h. die Geschichte der Veränderungen, die die Schriftzüge allmählig erfahren haben. Dadurch bestimmt sich das Alter der Handschrift, die durch Vermuthungen muß ergänzt werden, indem man prüft, welche Züge wahrscheinlich älter sind. 2) eine Geschichte der Behandlung, die die Schriften des Alterthums in Masse genommen schon auf kunstmäßige Weise erfahren haben, also eine Geschichte der Kritik und Hermeneutik zusammen. Beides zusammen sind die Fundamente der Geschichte des Textes. Nehmlich in Beziehung auf das Letzte giebt es dies Allgemeine: Gewisse Epochen, worin man sich im Allgemeinen mit der Bearbeitung und Studium der Schriftsteller, oder einer besonderen Klasse beschäftigte; das gab eine große Menge von Handschriften. Ferner eine Geschichte der Fabrikation der Handschriften, ob sie sind verglichen worden, etc. Das ist die Geschichte des Textes, die sich endet in die dunkle Barbarei des Mittelalters, wo Handschriften in Masse sind vernichtet worden, theils um einen andern Zweck von dem Material zu machen, theils von ganz unkundigen Händen nachgemalt sind. – Nun aber ist das nicht das ganze Material, sondern es gehören noch dazu Spuren von Handschriften aus einer sehr frühen Zeit, und diese kommen besonders in 2 Formen vor, Anführungen von Stellen bei alten Schriftstellern, und Übersetzungen die älter sind als unsre Handschriften. Da kommt es auch darauf an, diese zu classificiren. Dies setzt uns nun in den Stand Maximen aufzustellen über den Werth der kritischen Hülfsmittel. Die 3 Klassen waren, die Handschriften selbst, die Übersetzungen und Citationen. Die Letzten müssen was den Werth betrifft, doch auf die Handschriften zurückgeführt werden. Wenn ein alter Autor einen Andern anführt, so kann das aus dem Gedächtniß geschehn; dann haben sie nur mittelbaren Werth, der Autor wird die Gedanken anführen aber nicht grade die Worte. Kommt nun eine solche Ungewißheit vor, so kann der Schriftsteller auch anders gelesen haben, und es ist das ein negatives Zeugniß gegen Jede Lesart, die die Gedanken anders giebt. Gesetzt es hätte damals schon mehrere Lesarten von dieser Stelle gegeben, die ebenso die Gedanken afficiren, so sollten wir denken, er müßte sich über die verschiedenen Lesarten schon erklärt haben. Allein diese Forderung können wir nur stellen, sofern sich der Schriftsteller schon als critisch erklärt hat. So erklären Origenes und Hieronymus oft über verschiedene Lesarten des N.T. Hat sich aber der Schriftsteller nicht schon als kritisch bewährt, so ist die Anführung zu wenig, als daß man
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behaupten sollte, er habe die andern Lesarten nicht gekannt. Wo aber die Verschiedenheit die Gedanken nicht afficirt, kann das Anführen aus dem Gedächtniß nichts zeigen. Fragt sich, woher kann man erkennen, ob Jemand aus dem Gedächtniß citirt. Ist die Citation kurz, so ist zu präsumiren, daß sie aus dem Gedächtniß citirt ist, ist sie lang und zusammenhängend, aus der Handschrift. So die langen Citationen aus alten Autoren in der praeparatio evangelica des Eusebius, wo seine Citation die Autorität seines Codex hat. Wenn in kleinen Citaten der Schriftsteller einzelnes Kleines, das für die Summe nichts thut, gegeben wird, so ist auch zu präsumiren, daß das Citat die Stelle des Codex vertritt, oder was gleich ist, daß sein Gedächtniß bis ins Einzelne so treu war. Sofern also Citate überhaupt critische Hülfsmittel sind, haben sie den Werth der Handschriften selbst. In demselben Maaß als eine solche Handschrift bedeutend ist, treten auch die Anführungen in die Scala der critischen Hülfsmittel ein, aber noch mit der Unterscheidung, nur in Beziehung auf die Berichtigung einzelner Stellen, nicht zur Konstitution des Ganzen Textes. Im Ganzen werden wir auch soviel wieder sagen können, je geringer die Anzahl der andern critischen Hülfsmittel ist, um so größer der Werth der Anführungen, die die präsumption haben, aus Handschriften entstanden zu sein. Ein Beispiel. Die Philologen, die vor Zeiten einzelne Dialoge des Plato herausgaben, legten viel Werth auf die Citate beim Eusebius und Stobäus, da sie nur 4–5 Handschriften hatten. Jetzt da wohl 20 Codices von bedeutendem Alter verglichen sind, ist das nicht mehr so. Wie steht es nun mit dem critischen Werth der Übersetzungen? Natürlich meinen wir nur die alten Übersetzungen, es müßte denn eine Übersetzung aus einem Codex sein, so die lateinische Übersetzung bei den Ausgaben alter Schriftsteller, so die Xylandrischen und z. B. die Ficinische beim Plato. Der Werth einer Übersetzung also, sofern sie kritisches Hülfsmittel, Material, nicht bloß Autorität sein soll, muß aus einem Codex sein; nun fragt sich, wiefern kann dann eine Übersetzung den Codex repräsentiren? Es kommt auf den Charakter der Übersetzung an. man theilt sie in dieser Hinsicht ein in wörtliche und freie. Der Unterschied ist nicht ganz streng; denn je verschiedener 2 Sprachen sind, um so unmög30 Codex] Codd 28–29 Guilielmus Xylander, eigentlich Wilhelm Holtzman (1532–1576) hat z. B. seine Ausgabe des Pausanias (Accurata Graeciae descriptio, 1613) mitsamt einer parallelen lateinischen Übersetzung herausgegeben. – Die (lateinische) Platon-Übersetzung des Marsilio Ficino wurde 1484 gedruckt und ist noch der Zweibrücker Platon-Ausgabe (Bipontina; 1781–87) beigegeben.
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licher ist, daß eine Übersetzung wörtlich sei. Nun wollen wir unter einer solchen nur eine solche verstehn, die sich soviel als es der Natur ihrer Sprache nach möglich ist, so genau an den Text hält, ohne sich dadurch stören zu lassen, daß sie in ihrer Sprache nicht leicht leslich ist. Die freie wäre die, die hier einen andern Maaßstab anlegt. Wir fangen mit den nicht wörtlichen an. wir kommen hier in große Analogie mit dem Vorigen. Die kritische Brauchbarkeit der nicht wörtlichen Übersetzungen verhält sich wie die Citation aus dem Gedächtniß. Wenn nehmlich die Lesart den Gedanken afficirt, so wird die nicht wörtliche Lesart auch zur Entscheidung der Lesart gebraucht werden können. Das ist freilich eine unbestimmte Regel, aber sie läßt sich nicht genauer ausdrücken, und die Anwendung hängt ab von der Kenntniß der Natur der beiden Sprachen z. B. Wäre es streitig, ob an einer Stelle der Plural oder Singular zu lesen sei, so afficirt das den Gedanken. Aber in manchen Sprachen macht das keinen Unterschied, ob der Plural oder Singular steht, z. B. bei den Collectiven. 2) Wie ist es mit den sogenannten wörtlichen Übersetzungen. Je buchstäblicher sie sind, um so mehr vertreten sie die Handschrift des Grundtextes, die der Übersetzer hat. wenngleich hier viele Verschiedenheiten, die den Gedanken nicht afficiren, können bemerkt werden, so wird dies doch nicht immer sein können. z.B wenn die Sprache, in die übersetzt wird, keinen Artikel hat, oder ihn anders gebraucht, so kann in Beziehung auf Dasein oder nicht Dasein des Artikels [nicht] entschieden werden. Ebenso bei einer Übersetzung des N.T. ins Syrische kann nicht entschieden werden, ob im Griechischen der Indikativ, Conjunctiv oder Optativ stand; je wörtlicher eine solche Übersetzung ist, um so weniger. Wir müßen also eine Beschränkung stellen: die Übersetzung vertritt nur den Grundtext sofern die Natur der Sprache die verschiedenen Lesarten bemerklich machen kann. Nun werden wir sagen müßen, eine Übersetzung hat in allen den Stellen wo sie den Codex des Übersetzers vertritt, auch den Werth des Codex. Aber, obgleich die Übersetzung über das Ganze geht, so wird doch da die Übersetzung in vielen Stellen nichts aussagen kann, sie nur zur Berichtigung einzelner Stellen, nicht zur Constitution des Ganzen Codex hinreichen. Der Werth der Übersetzung ist in dieser Hinsicht nach dem Werth des Codex zu schätzen. Welches ist nun der Werth der einzelnen Handschriften, mit eingeschlossen der Werth der Handschriften der Übersetzer und Citatoren? Im Allgemeinen ergiebt sich, die Fehler der Abschreiber mit eingeschlossen, soviel: Je mehr die Handschrift vom Autographon entfernt, um so mehr 33 Codex] Codd
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Möglichkeit von Fehlern ist da. Aber gesetzt ein Autographon sei im 13ten oder 14ten saeculo noch vorhanden gewesen, so würden Abschriften im 16ten saeculo nicht mehr Möglichkeiten von Fehlern in sich schließen, als Handschriften im 3ten saeculo, wenn der Autor im 1sten nach Christo lebte. Die Entfernung ist deshalb nicht nach der Zeit zu messen, sondern nach der Oftmaligkeit der Wiederholung. Daraus sehn wir schon, wie unrichtig es wäre, wenn wir sagten, jede ältre Handschrift hat mehr Werth als eine jüngere. Es kommt auf die Unmittelbarkeit und die Zwischenhände an. Die Schätzung nach dem Alter ist also nur wahr, so fern es nicht auf die Zeit, sondern auf die Wiederholung der Operation ankommt. Das beschränkt sich aber wieder, sofern es Zeichen giebt, aus welcher Quelle eine Handschrift geflossen ist. wenn dergleichen es gar nicht gäbe, dann bliebe freilich nichts als diese Schätzung nach dem bloßen Alter. Eine ähnliche Frage ist die über die verschiedene Art und Weise der Schrift, indem man sich oft einen Vorzug viel allgemeiner denkt als er der Natur der Sache nach sein kann. Die Frage hängt mit der vorigen zusammen, denn verschiedene Schriftzüge folgen nur der Zeit nach auf einander. Der wesentlichste Unterschied in dieser Hinsicht in den beiden alten Sprachen, ist der zwischen der Schrift mit UncialBuchstaben, und der Cursiv Schrift. Die erste nähert sich mehr der Reinschrift; die Cursiv Schrift ist die spätere, die schon ausdrücklich auf die Schrift der BücherRollen berechnet ist. Es pflegen deshalb in den critischen Verzeichnißen von Handschriften, die codices mit UncialBuchstaben vorangestellt zu werden. Worin besteht nun der Werth der Unterscheidung der Schriftzüge abgesehn vom Alter; denn eine Handschrift mit Cursiv kann aus einer früheren Zeit herrühren, als eine mit der alten Schrift; wenn also in der Schrift selbst kein Unterschied läge, so käme darauf weiter gar nichts an. Nun ist offenbar, wenn wir eine Handschrift mit Cursiv aus einer älteren Schrift übertragen [vor uns haben], so können im Abschreiben selbst keine andern Fehler entstehn, denn die Fehler entstehn ja nur aus dem sich Versehn. Nun kann zwar ein Unterschied sein in dem sich Versehen der Hand, aber ich wüßte nicht, worin der liegen sollte, in Beziehung auf die Handschrift an sich, macht es keinen Unterschied. Aber einen Unterschied macht es, wenn man sich die Handschriften als Quellen denkt, aus denen abgeschrieben wird; es sind aus durch Abschreiben aus UncialSchriften in Uncial-Schriften eine Menge von Fehlern entstanden; nun geht die Cursiv Schrift an, und es entstehn neue Fehler, da neue Ähnlich10 es] man
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keiten von Zügen da sind. Die alten entstehn zwar nicht mehr, aber sie pflanzen sich noch fort. Weiß ich nun, ob eine Handschrift aus einem Codex mit Uncial-Schrift abgeschrieben, oder aus einem Codex mit Cursiv Schrift, so weiß ich, auf was für Arten von Fehlern ich rechnen darf. Es wird das also ein neuer Gegenstand der Beurtheilung. Wenn ein Codex Cursiv Schrift angenommen, so wird, wenn auch nicht eine größere Menge von Fehlern, doch eine größere Verschiedenheit derselben entstehen. Nun kann man sehr oft aus kleinen Versehen einsehn, ob der Verfasser einen Uncial, oder Cursiv-Codex vor sich hatte. Nun ist noch ein Hauptpunkt in Betracht zu ziehn, die Art und Weise wie eine Handschrift aus der andern entsteht. Über die mechanischen Differenzen habe ich mich schon erklärt. ich will noch eins hinzufügen. Je älter die Handschriften sind, um so weniger hat man Ursachen auf diese Differenzen einen großen Werth zu legen, weil noch alles mit der lebendigen Stimme verhandelt wurde, so daß ein bloß mechanisch mit dem Auge Auffassen nicht zu denken ist. Nun aber giebt es noch einen andern bedeutenden Unterschied. Es giebt Handschriften, denen man deutlich ansieht, daß die Abschreiber bei dem was sie schrieben, nichts gedacht, und sich kein Urtheil anmaßten; bei andern sieht man es ist mit einer Art von Überlegung geschrieben worden. Wie verhalten sich in Beziehung auf den critischen Werth beide Arten von Handschriften? in der Praxis werden sie nicht so streng geschieden sein. in einzelnen Fällen wird Einer, der sonst auch ganz mechanisch ist, genekt werden, weil es zu anstößig ist. Je mehr das zu Tage kommt, ist zu glauben, daß das mechanische Abschreiben Maxime des Abschreibers war. Ebenso constant wollen wir das andre denken. Fragen wir nun, welche Art ist als Material für den Kritiker von größerem Werth, so müßen wir sagen die mechanischen. Denn im andern Fall brauche ich noch ein Urtheil über den Abschreiber, und die Aufgabe wird complicirter. Zwar giebt es Fälle wo man sagen kann, man sieht, der Abschreiber dachte bei seinem Abschreiben, aber er war mäßig sein Urtheil auf den Text Einfluß haben zu lassen; nur in zu anstößigen Fällen that er es. Dann aber kann ich das nur als eine critische Vorarbeit ansehen, nicht aber als Material. (Bei einem Fehler in der Abschrift, oder Undeutlichkeit in den Zügen müßen auch unsere Setzer urtheilen). Sehr zu unterscheiden ist der Fall aber, wenn correcturen in der Handschrift vorkommen, seien sie an die Stelle der ersten Schrift gesetzt, oder drüber geschrieben. In solchen Fällen ist eine Vergleichung vorgefallen, aber es ist ungewiß ob vom Abschreiber selbst, oder von einem Andern nach einem andern Codex. Beides ist nicht von gleichem Werth, im ersten Fall ist [es] eine critische Vorarbeit, im letzten Fall critisches Material; es kommt also
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darauf an, beides zu unterscheiden. Das ist aber schwer, und gar zu leicht ist, was wir für eine Verbesserung halten, wirklich verschiedene Lesart. Könnte man das mit Sicherheit unterscheiden, so hätte eine solche Handschrift, zwar nicht für die Constitution des Textes, aber für die Verbesserung einzelner Stellen einen doppelten Werth. Außerdem haben solche corrigirte Codices noch einen Werth für nicht zweifelhafte Stellen, wo aber doch ein Anstoß entsteht. Man wird dadurch vorsichtiger gemacht, nichts zu ändern, weil man einsieht, daß ein verständiger Besitzer eines Codex hier nichts zu ändern wagte, oder in seinem andern Codex keine Autorität fand. Kritiker legen deshalb auf solche Handschriften von einer secunda manus mit Recht größeren Werth. Lassen Sie uns nun auch noch das Unternehmen selbst betrachten, einen Text zu constituiren; denn wir sind in unserm Studium der alten Schriftsteller an solche constituirte Texte gewiesen. Hier kann man im Allgemeinen 2 ganz verschiedene Verfahrungsarten unterscheiden. Denken wir uns die Aufgabe, nachdem das Vorige durchgegangen (nachdem wir uns über den Werth der verschiedenen einzelnen Handschriften bestimmten) einen Text zu constituiren. Denken wir uns nun, eine Handschrift hätte einen Vorzug, so kann die Basis unsers Verfahrens sein, den Text der vorzüglichen Handschrift zu geben, nur in einzelnen Fällen, die Hülfe anderswoher zu suchen. Geht Einer so zu Werk, so haben wir einen Text, wie er zu der Zeit war, aus welcher die Handschrift herrührt; nur wo er nicht zureicht, wäre aus dem übrigen Vorhandenen das Beste und Wahrscheinlichste zu geben. Das wäre ein bestimmtes Resultat, und da wir einen ursprünglichen Text doch nicht bekommen, wäre es sehr viel. Denken wir uns nun Viele bei demselben Schriftsteller nach dieser Maxime verfahren, so werden gewiß nicht Alle dasselbe Urtheil fällen, und dieselbe Handschrift für die vorzüglichste halten. Ein solches Verfahren führt mit einer großen Sicherheit auf einen gewissen Punkt zurück, es entsteht ein mit sich selbst übereinstimmender Text, er führt auf einen Zustand des Werks zurück, der wirklich war. – Ein ganz anderes Verfahren ist, den Text so zu konstituiren, wie man in einzelnen Fällen verfährt, d. h. nicht auf die Quellen zu sehn, sondern auf das Resultat, der Vorsatz also: ich will den Text so gestalten, daß dem Leser kein Anstoß ist. Will man sich ein richtiges Urtheil darüber bilden, so muß man inne werden, welches von beiden Verfahren und in welcher Beziehung es das vorzüglichste ist.
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Die erste Lösung wird dahin endigen, eine Menge von Stellen unentschieden zu lassen; die 2te wird weniger Gewißheit haben, aber darum nicht an Umfang abnehmen; es ist mehr ein Aggregat, ohne einen geschichtlich zusammenhängenden Text zu liefern. Betrachtet man die Aufgabe für den Gebrauch, so hat die letzte den Vorzug, behandelt man sie geschichtlich, die erste. Der letzte Gesichtspunkt, eine Stelle aus den vorhandenen Hülfsmitteln möglichst rein zu geben, ist gewöhnlich der, der bei critischen Arbeiten vorherrscht; und was wir eben sagten für den Fall, wenn bloß eine Handschrift da sei, ist nun nur anzuwenden auf den, wenn man eine Auswahl aus mehreren hat. Wir denken uns also eine Masse von Handschriften eines und desselben Werks, so wäre das Nächste und Ursprüngliche, jede Handschrift zu behandeln, als wenn sie die einzige wäre, zu betrachten, was entstanden ist, und woraus. Je mehr Handschriften es giebt, und je mehr Fehlerhaftes darin vorkommt, um so zusammengesetzter würde die Operation sein. Es fragt sich also, wie sie sich abkürzen läßt, und auch, ob wenn man es thut, [man] die nöthigen Mittel zur Hand hat. Man stößt nun nicht eher bei einer Stelle an, als wenn sie sprachwidrig ist, oder sprachwidrig für den besonderen Schriftsteller, oder dem Sinn entgegengesetzt. Das kürzten wir ab, indem wir alle Handschriften zusammen vergleichen. Nun ist aber klar, daß man bei verschiedenen Handschriften auf zweifelhafte Stellen kommt, die nicht grade zur Verbesserung auffordern; aber wenn mehrere Handschriften anders lesen, kann doch nur eins das Richtige sein. Das ließe sich nicht wie das Vorige behandeln, und die Aufgabe zerfiele also so in 2 Theile. Nun ließe sich noch eine andre Art des Verfahrens denken, beide Fälle von vorn herein zusammen zu behandeln. Werden wir aber dadurch die ganze Aufgabe lösen? wir kommen da auf eine andre Erfahrung; mehrere Handschriften können gleichstimmig lesen, und wir stoßen doch an, weil wir vermuthen, daß sie alle nicht die ursprüngliche Handschrift des Schriftstellers lesen. Da müßen wir also doch thun, als hätten wir nur 1 Handschrift. Wir bleiben also bei der ersten Methode, und knüpfen an das bisher Gesagte an. Gesetzt nun, wir hätten mehrere Handschriften, und vergleichen bei einer Stelle, wie der Fehler entstand, durch Irrthum des Auges, Ohrs etc; wenn wir nun bei verschiedenen Abweichungen ein gleiches Resultat finden, und zuletzt in einer Handschrift die Lesart die sich uns als richtig ergab, so werden wir viel Wahrscheinlichkeit haben, daß das die richtige Lesart sei. Also das die erste Regel: diejenige Lesart hat die 1 19/2] 18/2
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meiste praesumption, woraus sich die Entstehung der andern Lesarten erklären laßen. Sehn wir nun auf den 2ten Fall, Stellen, die von einander abweichen, obgleich wir keinen Anstoß nehmen. Hier bleibt dasselbe, denn es ist doch bloß zufällig, daß diese Stellen einen Sinn geben: eines kann nur das Richtige sein. – Daraus folgt gleich noch ein Anderes. Wenn mehrere Stellen keinen Sinn geben, aber in einer andern Handschrift giebt die Stelle einen Sinn, so daß wir bei ihr nicht würden Anstoß genommen [haben], so wird doch nun, wenn sich die andern Lesarten aus ihr nicht erklären laßen, die Stelle mir zweifelhaft werden. Also der 2te Canon ein vergleichender: Wenn mehrere Lesarten vorkommen, die einen Anstoß geben, und andre Lesarten, die einen Sinn geben, so verdient unter den letzten am meisten die den Vorzug, aus der sich die andern ableiten laßen. Die Aufgabe erscheint so complicirt, daß wir demnach kein einstimmiges Urtheil erwarten können. Denn eine Stelle kann recht gut der Schriftzüge wegen die Entstehung der andern Handschriften erklären, aber eine andre Lesart scheint dem Schriftsteller mehr angemessen. Mein Urtheil entscheidet sich freilich für das Erste, denn die Fälle sind sehr selten, wo wir sagen können, diese Lesart eignet mehr dem Schriftsteller. – Haben wir nun mehrere Lesarten, ohne daß welche darunter wären, die keinen Sinn gäben, und keine darunter, daß sie sich ließe aus einem bloßen Fehler des Abschreibens erklären. Diese Fälle sind gewöhnlich. Man muß also diese Stellen aus einem critischen Verfahren erklären, die Eine muß eine absichtliche Änderung sein. Es ist also das auch einer von den Fällen, wo wir nicht würden angestoßen sein, wenn wir nur 1 Handschrift hätten. Dann können wir also nur fragen, welche von beiden läßt sich am leichtesten als absichtliche Änderung ansehn. Nun wird Niemand an die Stelle von etwas ganz Leichtem etwas Schwieriges setzen, nicht an die Stelle eines leichten und gewöhnlichen Ausdrucks, einen seltenen setzen. Da gilt also der Canon, vorausgesetzt aber, daß sich die Schwürigkeiten nicht graphisch erklären laßen, daß die schwürigere Lesart der leichten vorzuziehen sei. Der Kanon gilt aber nur unter dieser Voraussetzung. Nun können aber bei einer Mannigfaltigkeit von Lesarten solche Entscheidungen mit einander in Streit kommen. gesetzt es ließen sich mehrere Lesarten aus Fehlern des Abschreibens erklären; nun sind aber an derselben Stelle in andern Handschriften andre Schwürigkeiten, die sich nicht graphisch erklären laßen. Nun führt der eine Theil der Handschriften auf die 1 Erklärung, der andre auf eine andre Seite. Man könnte also nur die beiden Lesarten, die sich unabhängig aus verschiedenen Operationen er13 wir] wir kein
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geben, mit einander zusammenstellen, und fragen, welche kann aus der andern wohl entstanden sein, oder aus welcher dritten entstanden beide. Also der Canon: bei der Entscheidung kommen die Lesarten nicht zur Vergleichung, die nicht als ursprünglich erscheinen. Findet sich zwischen solchen ursprünglichen keine Entscheidung, läßt sich keine auf die andre reduciren, so ist ein wirkliches non liquet da. – Nun ist aber noch auf 1 Fall von unserer ersten Betrachtung aus Rücksicht zu nehmen. Es könnte der Fall vorkommen, daß eine Lücke war, oder etwas fremdes hineinkam, aber in diesem Fall nur, wenn man es sich erklären kann durch eine Wiederholung, als Eintragung eines Zusatzes. Nun gehn wir zu Vergleichung eines verschiedenen. Fänden wir also in mehreren Handschriften, in den einen eine kürzere, in den andern eine längere Lesart. In welchen Fällen wird die kürzere, in welchen die längere den Vorzug [erhalten]? Daß die kürzere immer den Vorzug verdiene, wie man oft sagt, können wir nicht unbedingt zugeben; die kürzere verdient nur den Vorzug, wenn die längere Lesart, etwas gegen sich hat; und die längere, wenn sie kein Glossem ist, und sich erklären läßt, wie in andern Handschriften das hat ausgelassen werden können. Nun werden wir uns aber oft denken können, daß etwas, was sich Einer als Zusatz beischrieb, parenthetischer Zusatz des Schriftstellers selbst ist. Da wird also Einer sich auf die Seite hin entscheiden können, der Andre auf jene. In Beziehung auf die längeren Lesarten, die als Zusätze verdächtig sind, giebt es auch äußerliche Merkmale; wenn nehmlich diese verschieden gelesen werden, oder an verschiedenen Stellen stehn. Denn solche MarginalGlossen gingen von Hand zu Hand und wurden nicht gleich geachtet von Allen; ebenso möglich ist auch, daß Mehrere Gelegenheit zu einer solchen RandGlosse fanden, und deshalb verschiedene entstanden. Ein Abschreiber konnte einen solchen Satz nicht gleich hinter das gehörige Wort setzen, sondern erst am Ende des Satzes, oder als Parenthese dazwischen setzen. Bei dieser Beschaffenheit ist die günstige Präsumption für die kürzere Lesart. Eben wie wir sagten, daß eine Lesart viel für sich hat, aus der sich viele andre entstanden denken laßen. Ebenso auf der andern Seite hat die Lesart eine ungünstige präsumption, die als eine leichte Verbesserung für eine andre angesehn werden kann. Das nimmt um so mehr zu, je mehr neben einer schwierigen Lesart mehrere leichte sind. Das sind die wesentlichsten kritischen Regeln, um bei einer Menge von verschiedenen Lesarten die Auswahl zu leiten. Allein, wenn man sie auch mit Erwägung aller Um24 stehn] steht
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stände hinzunimmt, werden doch viele Stellen zweifelhaft bleiben, und ebenso andre für ungewiß, so daß wir auf etwas Verlorengegangenes schließen müßen, das sich nicht mehr herstellen läßt. Man wird also nie einen Text finden, der der ursprüngliche ist. Was aber noch wahrscheinlicher ist, ist, daß man auf diese Weise einen Text bekommt, der vorher noch nie existirt hat. So wie die Manuscripte verbreitet worden sind, ist es gewiß, daß in viele Gegenden dergleichen gekommen, von denen einige zusammenhängen, andre nicht. Nun aber sind in späteren Zeiten die Handschriften sehr durch einander geworfen worden, und es ist deshalb nicht möglich die Geschichte einer Handschrift zu verfolgen, und ihren Ursprung zu bestimmen. Bei der Vergleichung mehrerer Handschriften wird nun das Beste, was sich darbietet, ein Mal einen andern Ursprung haben als das zweite Mal. Man bekommt also nur einen eklectischen Text, der den Schriftsteller lesbar macht, aber nicht den ursprünglichen giebt. Wollte man also die kritische Aufgabe so weit treiben als möglich, so müßte man von beiden Punkten ausgehen: die localen Texte alle suchen, was sich am besten durch Anführungen und Übersetzungen erreichen läßt, und abgesondert davon die Aufgabe auf die eben beschriebene Art zu machen. Durch eine Vergleichung beider möchte man sich dann dem ursprünglichen Text sehr nähern. Die Werke des Alterthums stehn nun in dieser Beziehung sehr verschieden. Von Einigen giebt es eine große Anzahl von Handschriften ohne bedeutende Differenzen. Da ist es also wahrscheinlich, daß der richtige Text sich so ziemlich erhalten. Von andern giebt es wenige, und mit großer Verschiedenheit und Lücken. Da wird also nie ein richtiger Text hergestellt werden können, wenn sich nicht noch andre Hülfsmittel finden. Die emendirende Kritik wird hier das größte Feld haben. Endlich giebt es von noch andern viele Codices, aber mit großer Verschiedenheit. Da wird die recensirende Kritik einen rechten Gegenstand finden.
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Machen wir nun die Anwendung auf die NeuTestamentische Kritik. Wie 30 verhält sich das N.T. zur emendation und recension? Da haben wir zuerst gegen die oft vorgetragene Behauptung zu sprechen, daß eine Emendation, die bloß aus der Vermuthung des Kritikers hervorgeht, wenn sie nicht aus Handschriften genommen, im N.T. gar nicht zuläßig sei. Die Behauptung kann auf verschiedenen Argumenten beruhn 1) auf dem, daß die 35 Inspiration der heiligen Schrift das nicht zulasse 2) daß bei so vielen Handschriften des N.T., in einer nothwendig müße das Richtige enthalten sein. Das Letzte hängt mit dem Ersten zusammen; das letzte hat den
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allgemeinen Grund, daß sich die Wahrscheinlichkeit der richtigen Lesart mit der Abnahme der Masse der Handschriften vermindere. Aber es bedarf das doch noch der Kautelen, und es giebt keinen bestimmten Punkt, wo diese Wahrscheinlichkeit ganz Null ist. Nehmlich es können mehrere Handschriften aus 1 Quelle geflossen sein, in der schon Fehler waren. Ändert sie, so kann Wahres und Falsches durch sie in den Text gekommen sein. Ändert sie nichts, so ging derselbe Fehler durch alle Handschriften hindurch, und die Nothwendigkeit der Emendation wird nicht aufgehoben. Auf die Menge der Handschriften kommt es also nicht an, sondern höchstens auf die Menge der recensionen eines Textes, und die Genauigkeit, mit der sie ihn darstellen. So wie ich mich aber auf den Punkt von mehreren recensionen stelle, ist die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß die richtige Lesart ganz verloren gegangen. Es könnte uns noch eine Menge von Handschriften fehlen, die das Richtige enthielten, und das könnte nicht verbieten, durch Emendation das Richtige zu finden. Die Emendation verbieten kann man also gar nicht vom rein kritischen Gebiete aus. es konnte das nur behauptet werden, wenn man eine besondere Leitung der göttlichen Vorsehung annahm, und das kommt der Behauptung von Seiten der Inspiration aus sehr nahe. Allein diese Behauptung schließt in sich, daß eine Menge von Abschreibern nicht ihre Pflicht thaten, daß sie obgleich sie etwas für falsch erkannten, das Emendiren, das wissenschaftlich nothwendig war, unterließen, und das Falsche fortpflanzten. Nun kann man aber nicht leugnen, daß in der göttlichen Leitung der Dinge ebensosehr auf die Fehler gerechnet ist, die die Menschen machen, als auf die Pflicht-Erfüllung. jeder muß danach seinem Gewissen folgen. Diese Annahme kann also nicht kritische Regel werden. Wenn also mehrere critische Angaben nicht befriedigen, so ist die Befugniß da, eine Verbesserung zu machen, sei es im Text, oder durch eine Rand-Glosse. Was das andre Argument durch die inspiration betrifft, läßt sich die Sache wohl bis dahin ausdehnen, daß den heiligen Schriftstellern werden keine Schreibfehler begegnet sein, und der Text ursprünglich richtig war. Aber weiter geht das nicht. Gesetzt auch die neu testamentischen Schriften seien von Anfang an als heilige Schriften betrachtet worden, so konnte es doch in den christlichen Gemeinden mit den Abschriften nicht anders gehalten werden als überall, daß nur Wohlhabendere sich PrivatAbschriften machen ließen, und sie andern Gemeinden mittheilten. Sie ließen also die Schriften abschreiben durch ihre Sklaven; die aber nicht grade werden Christen gewesen sein, sondern nur mit demselben Dienst2 Handschriften] folgt sich
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eifer zu Werk gegangen sind, wie überall, und das hat die Schreibfehler nicht ausgeschlossen. Man müßte also die Inspiration bis außerhalb der christlichen Kirche ausdehnen. Nun sind aber die Fehler gemacht worden; man müßte also die Behauptung so drehen, für jede Stelle ist ein Abschreiber besonders inspirirt gewesen. Das giebt aber etwas ganz Abentheuerliches. Wo also [die] Grammatik deutlich Fehler zeigt, ist die Emendation nicht zu verwehren. Nur werden wir hier mit besonderer Behutsamkeit zu Werk gehn, nicht durch voreiliges in den Text setzen andern die Möglichkeit der Operation geben, und nicht das Materiale abschneiden. Etwas Andres ist die Frage, ob solche Stellen vorkommen, und ob durch Emendation sich etwas erreichen läßt. Das Erste möchte ich nicht ableugnen; ich glaube aber nicht, daß es eine Emendation im N.T. gebe, die uns befriedigte. Das muß uns also aufmerksam machen, daß es sich mit den NeuTestamentischen Schriften anders verhält als mit den meisten Schriften des Alterthums. Die Gründe, warum die Conjectural Kritik so wenig Eingang beim N.T. gefunden, liegt nicht in der Größe des Materials, sondern in der Verschiedenheit der Sprachen. Es war nehmlich zu einer Conjectur 2erlei nothwendig, eine Nöthigung, daß man so und nicht anders lesen dürfe, und dann eine Erklärung des Falschen aus diesem Richtigen. Nun ist aber die Sprache des N.T. so, daß diese Nöthigung gar nicht statt findet; in der Bedeutung der Wörter ist eine solche Schranke zwischen dem was als koinh lejiw dieser späteren Zeit, und dem was als Hebraismus anzusehen ist. Dazu ist die NeuTestamentische Grammatik unbestimmt, so daß eine Conjectur in dieser Hinsicht nicht leicht möglich ist, zumal da die Kritiker durch Beschäftigung auf dem classischen Gebiet verwöhnt sind. Die Conjecturen bleiben also ungewiß; und es wird immer Stellen geben, worüber nichts entschieden werden kann. Die emendirende Kritik läßt also nur wenig resultat auf das N.T. erwarten. Auch giebt es nur wenige Stellen, wo sie ausgeübt werden könnte. Gehn wir nun zum Verfahren der recensirenden Kritik auf das N.T. über, und reden zuerst von der Konstituirung des ganzen Textes, und dann von der Behandlungs Weise des critischen Materials in Beziehung auf einzelne Stellen. Ich kann mich auf eine Geschichte des NeuTestamentischen Textes nicht einlassen, sondern setze es aus der Einleitung ins N.T. als bekannt voraus. Hier ist es nicht mehr res integra, als es schon 35–36 Seine eigne Vorlesung zur Einleitung in das Neue Testament trug Schleiermacher erstmals 1829 vor; aber sein Kollege de Wette hatte schon im ersten Berliner Semester (Winter 1810/11) ,Eine Einleitung in das Neue Testament […] in vier Stunden wöchentlich‘ gelesen, wie sich aus ,Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–34‘, hg. W. Virmond, Berlin 2011 ergibt (Nr. 1810ws4; auch 1812ss3; 1813ws4; 1814ss1; 1814ws2; 1819ss1 usf.); auch F. Lücke (1817ws2), Olshausen (1820ss1; 1821ss6 u.s.f.) Bleek (1822ws4) usw. haben die Einleitung wiederholt vorgetragen, die in Berlin wie an andern Hochschulen unentbehrlich war.
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eine so große Menge von recensionen des Textes giebt. Steht nun ein Kritiker, der eine recension des Textes geben will, auf dem NeuTestamentischen Gebiet in Beziehung zu dem Vorhandenen anders, als auf dem classischen Gebiet? Diejenigen Bearbeitungen, recepta, aus denen der Text entstanden ist, sind völlig unzureichend, mit wenig Hülfsmitteln und von solchen, die sich wenig als Kritiker bewährt haben, gemacht. Das scheint zwar ein strenges Urtheil zu fällen über einen sonst sehr verdienten Menschen, Theodor Beza in der Elzevirschen Ausgabe aus der die meisten folgenden geschöpft; aber erstlich ist der Korrektor dieser Ausgabe unbekannt, und dann ist er nicht gleichmäßig. Der Stephanische und Erasmische Text ist ganz unzureichend, mit wenig Hülfsmitteln gemacht. Es verhalten sich diese Editionen wie die Prinzipal-Ausgaben, die nur 1 Codex hatten. Hier können wir also keinen andern Fall für das N.T. annehmen, als für andre Schriftsteller; nur was für jede Ausgabe eines classischen Werks gilt, die kritische Vergleichung darbieten soll, ist es doch für jeden Bearbeiter rathsam, einen bestimmten Text zum Grunde zu legen. Die neueren Bearbeiter seit Wettstein sind auf die Elzevirsche zurückgegangen. Ganz anders verhält sich aber das Verfahren, das eine 2te große critische Unternehmung zu der ersten ist. Gesetzt mal, Wettstein wäre der Erste gewesen, der eine allgemeine kritische Ausgabe veranstaltet hätte. Ihm liegt der Elzevirsche Text zum Grunde, er veränderte ihn an manchen Stellen, und was sonst noch wünschenswerth war, setzte er in den innern Rand. Griesbach, der Nächste, hätte auf den Wettsteinschen Text zurückgehen können; aber er ging auch auf die recepta zurück. Griesbach setzte nun schon etwas in den Text, was Wettstein nur in den innern Rand; Wenn wir nun noch eine 3te Ausgabe zu erwarten 8 Elzevirschen] Elsebierchen 13 Codex] Codd 17 Wettstein] Wetzstein 17 Elzevirsche] Elsebierche 19–20 Wettstein] Wetzstein 21 Elzevirsche] Elsebierche 23–24 Wettsteinschen] Wetzstein 25 Wettstein] Wetzstein 8–9 Theodor von Beza (1519–1605), ein Genfer Reformator französischer Herkunft; seine Edition des Neuen Testaments erschien ab 1565 und enthielt außer dem griechischen Text (meist den des Stephanus) die lateinische Version der Vulgata, eine eigne lateinische Übersetzung sowie kritischen Anmerkungen. Schleiermacher besaß einen jüngeren Cambridger Druck von 1642: ,Jesu Christi domini nostri Novum Testamentum, sive Novum foedus. Cuius Graeco contexui respondent interpretationes duae, una, vetus; altera, Theodori Bezae. Accessit J. Camerarii in novum foedus commentarius‘ (SB 251). – In seinem ,Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments‘, Berlin 1826 (SB 527) schreibt de Wette: „Theodor Beza brachte die Kritik des Neuen Testaments um einen Schritt weiter, indem er den Text der 3. Stephanischen Ausgabe einer Verbesserung unterwarf […] Indem sein Text häufig, besonders in Holland, nachgedruckt wurde, erhielt er die Geltung als textus receptus.“ (S. 54 f.) Er liegt der Elzevirschen Ausgabe (Lyon 1624 u.ö.) zugrunde: „Dieser Text aber verdankt sein Ansehen bloß dem Ruhme Beza’s und der glücklichen Betriebsamkeit holländischer Buchdrucker, nicht seiner inneren Güte, indem er keinesweges die Frucht gründlicher und durchgreifender Prüfung ist“ (de Wette S. 55).
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haben, wie von Schulz in Breslau, so könnte der schon recht gut auf Griesbach zurückgehn, die Aufgabe würde dadurch einfacher werden; wenn nur die Veränderungen recht deutlich erscheinen. Es ist also kein Grund, diese Frage, was man in den Text aufnehmen, und was man anderswohin setzen solle, beim N.T. anders zu beurtheilen, als auf dem classischen Gebiet. Die Behutsamkeit ist dieselbe. Nun fragt sich, nach welchem Prinzip wäre der N.T. Text am besten zu recensiren, so, daß man dem Text eine bestimmte Zeit giebt, oder so, daß man einen eklektischen Text bildet. Sehn wir auf die Geschichte so haben wir aus der Zeit, wo die Grundsprache des N.T. noch lebendig war, Commentare über das ganze N.T., und von denselben Menschen in andern Schriften noch zerstreute Stellen aus dem N.T., als Anführungen. Chrysostomus da sollte man denken, müßte es ein Leichtes sein, wenn man den Vorsatz faßte, den Text des Chrysostomus zu geben, und an diesen kann man Nachrichten genug anfügen über den Text in früheren Zeiten und in andern localitäten. Wenn wir uns mit dem Origenes in demselben günstigen Fall befänden wie mit dem Chrysostomus, so würden wir auch einen Text des Origenes geben können. Beide Texte möchten wohl verschieden sein; denn der Antiochenische Text würde in einer andern Reihe als der alexandrinische gelegen haben. Wollte man einen Text des Chrysostomus aufstellen, so müßte man nur mit einiger Behutsamkeit zu Werk gehn. In den Homilien ist vorher der Text hingeschrieben; es wäre aber gewagt, diesen für den Text des Chrysostomus zu halten: da werden die Abschreiber ihren Text gehabt haben, und nur im Kontext selbst ist das Richtige zu finden; im Texte müßte sich aber Manches der indirecten Rede wegen ändern; man würde aber doch ziemlich bestimmen können, wie Chrysostomus gelesen. – Das ist aber nicht die Art gewesen, wie man bei der Konstitution des NeuTestamentische Texts zu Werk gegangen. Man hat zwar die patristischen Apparate so gut als möglich benutzt; das ist aber in der ganzen Sammlung der varianten zerstreut. Das Prinzip, dem man folgte, ist das der Konstitution eines eklectischen Textes, der critische Apparat bleibt hier derselbe. Man hat für das N.T. Handschriften, Citationen und Übersetzungen. Die Citationen bleiben von Werth, so lange es Sicherheit ist, daß aus alten Handschriften citirt ist. Derselbe Fall ist mit den Übersetzungen, und es ist kein Grund 12 Anführungen] folgt haben
15 den] oder seinen
1 David Schulz (1779–1854), Altphilolog und Professor der Theologie in Breslau, publizierte 1827 den ersten (und einzigen) Band der 3. Auflage von Griesbachs Ausgabe des ,Novum Testamentum graece‘; sein Vorwort datiert vom Dezember 1826.
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an sich, einen Unterschied zu machen zwischen älteren und jüngeren, denn jüngere Übersetzungen können ebensogut einen alten Codex vor sich gehabt haben. Es kommt also nicht auf die Zeit an, sondern auf die Brauchbarkeit ihres Textes. Nun hat man aber über den Werth der Übersetzungen auf dem NeuTestamentischen Gebiet sehr verschiedene Ansichten gehabt. Das war sehr natürlich. Anfangs waren viele befangen von der Vulgata, weil sie kirchliche Autorität hatte. Endlich als man mehr in den critischen Apparat eingeweiht war, kam man auf die ältere Übersetzung der Itala zurück. Nun gilt für die Übersetzung des N.T. dieselbe Regel, daß in gewissen Fällen auf der einen Seite die orientalische, auf der andern Seite die occidentalische und barbarische nichts entscheiden kann, eben der Natur der Sprache wegen. Mit Inbegriff dieser Vorsicht ist kein Grund die NeuTestamentischen Übersetzungen anders zu behandeln. Indem also beide müßen auf Handschriften zurükgeführt werden, so kommt es nun auf Klassifikation der Handschriften an. Da ist das Geschäft complicirter, weil für das N.T. eine größere Masse von Handschriften und von verschiedener Art als bei andern Schriften vorhanden sind. Das N.T. ist eine Sammlung von Schriften, das ursprünglich 2 Abtheilungen enthält Evangelium und Apostolus. Nun giebt es Codices über das ganze N.T., über einzelne Theile, und einzelne Bücher, grade wie bei den Schriftstellern des Alterthums. Außerdem aber noch eine Art, dem N.T. eigenthümlich, Lectionarien, solche Abschnitte enthaltend, die öffentlich vorgelesen wurden. (Es ließen sich nur damit Excerpte bei alten Schriftstellern vergleichen). sie mußten nun einen passenden Anfang und einen passenden Schluß haben; in beiden hatten sie deshalb nicht die Autorität, die sie sonst haben. Wegen dieses so verschiedenen Apparats, hat man darauf denken müßen, die Classification der Handschriften zu vereinfachen. Es kann bei diesen Prinzipien auf 2erlei ankommen, 1) das Bessere und Schlechtere auf eine allgemeine Weise so zu scheiden, daß nicht erst eine genaue Kenntniß des Einzelnen nothwendig ist, 2) es so einzurichten durch eine genaue Lesung, daß man statt Mehreres eines setzen kann. Wenn man das erreichen kann, so wäre das critische Verfahren sehr abgekürzt. Allein durch jede Abkürzung des Verfahrens entsteht eine Möglichkeit, daß das Beste kann übersehen werden. Wir wollen mal anfangen bei dem Natürlichsten, wodurch eine Handschrift kann für schlecht erklärt werden. Sie kann eine schlechte Quelle haben, und wenn sie aus einer guten Quelle genommen ist schlecht sein, wenn sie auf fehlerhafte 2 Codex] Codd
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Do 22.2.
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Weise gemacht ist. Das Letzte bietet sich am unmittelbarsten dar. Sobald man inne wird, daß eine Handschrift eine Menge von unmittelbaren Schreibfehlern hat, klassifiziert man sie unter die schlechten. Aber sie kann aus einer guten Quelle genommen sein, die an irgend einer Stelle das Richtige hat, und die Abschrift kann hier grade keinen Fehler haben. Das Gute wird aber dadurch übersehn. hierbei ist aber nicht anders möglich, als nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zu handeln, und man muß einen möglichen Vortheil in die Schanze schlagen, weil es nicht wahrscheinlich, daß eine Handschrift allein sollte das Richtige haben. Wie unterscheidet man nun das Gute und Schlechte, und wie soll man das Ähnliche zusammenstellen, und leidet das N.T. hier besondere Regeln? Der Satz wird auch hier gelten, es kann Handschriften geben, die für junge müßen gehalten werden, und können doch einen größern Werth haben als ältere, weil sie aus einer unmittelbaren Handschrift abgenommen sind. Wir werden auch nicht anders urtheilen können über die Handschriften, die kritisch bearbeitet sind, und denen, die bloß mechanisch gemacht sind. Der Werth des Einen und des Andern wird ganz gleich sein dem, was wir im Allgemeinen sagten. Das N.T. als Norm des christlichen Glaubens ist bei allen dogmatisch verschiedenen Partheien im Wesentlichen eins und dasselbe gewesen. Man hat zwar einzelne Beispiele, die die Vermuthung erregen, daß eines oder das andre der kleineren NeuTestamentischen Bücher aus dogmatischen Gründen ist für unecht erklärt worden; aber nie ist das durchgedrungen und allgemein geworden, da aber alle Lehren des Glaubens um so kräftiger zu sein schienen, wenn sie mit Stellen der Schrift belegt werden konnten. Den Gegnern konnte deshalb damit gedient sein, solche Stellen zu verfälschen. Wenn sich so etwas nun in einem Canon zeigte, so würde eine solche Handschrift den Werth verlieren, in dem Maaße aber nur, als diese Abweichungen sich nicht lassen auf die gewöhnliche Weise erklären. Eine solche Handschrift ist dann einem dogmatischen Interesse unterlegen. – Ein 2ter von allgemeinem abweichender Punkt ist der: In einem großen Theil der christlichen Kirche ist die Grundsprache des N.T. nicht die gewöhnliche Sprache gewesen; wir haben neben dem Griechischen noch das Lateinische, Aramäische. Denken wir uns nun die Vorlesung der NeuTestamentischen Abschnitte, so mußte das Bedürfniß entstehn einer zum Gebrauch im öffentlichen Gottesdienst und zum Behuf der einzelnen Christen lateinischen Übersetzung des N.T. Ebenso ist es auf der andern Seite mit dem Syrischen gewesen. Die ersten antiochieni18 sagten.] folgt senkrechter Strich, der hier als Absatz wiedergegeben ist
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schen Gemeinden werden sich auch des Griechischen bedient haben. Je mehr aber von den eigentlichen Eingebornen hinzutraten, und sich an die Hauptgemeinde andre Landgemeinden anschlossen, entstand das Bedürfniß einer syrischen Übersetzung. Etwas ähnliches gilt dann von den Koptischen in Beziehung auf die Ausbreitung des Christenthums in Ägypten. Nun aber war doch eine solche Vorstellung aus der jüdischen Synagoge in das Christenthum mit hinübergekommen, von einer großen Sorgfalt für die kirchlichen Exemplare des N.T., und damit war verbunden eine Unterhaltung derselben in der Grundsprache, die sich aber immer mehr an die geltende kirchliche Sprache anlehnte. Es läßt sich also auch denken, daß auf Veranlassung der Übersetzungen in den Grundtext sind Verschiedenheiten gekommen, weil die Abschreiber gewohnt waren, nach der Übersetzung zu denken, und also Verwechselung eines griechischen Ausdrucks der Übersetzung mit dem ursprünglichen griechischen Ausdruck. Deshalb hat man den Grundsatz ausgesprochen, daß die Klasse von Handschriften den Verdacht einer eigenthümlichen Klasse von Fehlern hätten, die in genauer Beziehung auf eine alte Übersetzung stehen. Diese Ansicht hat sich nachher sehr gemildert. Die Ansicht hat sehr viel für sich a priori, was sich aber widerlegen läßt a posteriori. Nehmlich in der lateinischen Kirche entstand nachher eine neuere Übersetzung. wenn also eine griechische Handschrift sich an die alte lateinische Übersetzung anschließt, so ist das ein Beweis von ihrem hohen Alter; und da keine bedeutenden Fehler aus dem Lateinischen entstanden, sich gezeigt [haben], so hat sich der Verdacht sehr gehoben. – Ebenso ist es mit jenem dogmatischen. Das kann man sich a priori auch leicht hinstellen, daß in viele Stellen etwas hineingetragen, aus andern etwas gestrichen ist. Allein eine genauere Betrachtung hat gezeigt, daß das gar nicht so häufig gewesen ist, als man es in der Hitze des Streits sollte erwarten. Das hat seinen Grund in der damaligen Auslegung, wonach durch eine künstliche Auslegung eine andre Stelle ein Gegengewicht aufstellte, und jene indifferent gemacht wurde. Dieses beides wäre das Einzige, worin das N.T. als Norm des Glaubens, eine Ausnahme vor den übrigen Schriftstellern hätte. Die große Menge des Apparats hat noch die Abkürzung wünschenswerth gemacht, eine Handschrift für viele ähnliche zu betrachten. Das ist aber etwas sehr schwüriges. Wenn sich in jener Beziehung ermittelte, daß Handschriften nach Übersetzungen schlecht sind, so sind sie doch auch unter sich ähnlich. Ebenso wären Handschriften, die von 1 und demselben Interesse ausgehen, auch unter sich ähnlich. Die Letztern 22 da] da sich
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würden aber nur ähnlich sein, in Beziehung auf solche Stellen, wo dergleichen Änderungen hätten vorgehn können. Es kommt nun hier wieder eine andre Art des Verfahrens zur Sprache, das man hätte einschlagen können. Nehmlich man hat gesagt, um die Handschriften zu schätzen, muß man dahinter zu kommen suchen, wie sie unter sich zusammen hängen. Man muß sich das so denken: Ursprünglich sind die Handschriften von wenigen ausgegangen. Kann man nun unterscheiden diejenigen, die von derselben ausgegangen sind, so sind sie in Beziehung auf die Unterscheidung von Andern nur als 1 anzusehen. Um das aber zu können, müßte man alle vergleichen. Wenn man aber die Verwirrung, Zerstörung, Verfolgung, wodurch Handschriften in ganz andre Gegenden kamen, betrachtet, so sieht man, daß man damit nicht durchkommt. – Dagegen ergiebt sich eine andre Betrachtung. Die Verfertigung der Handschriften ist gewöhnlich von einigen Punkten aus im Großen getrieben worden, von MetropolitanKirchen aus, und den damit verbundenen wissenschaftlichen Sitzen. Könnte man deshalb die Handschriften auf solche Punkte zurükführen, so würde sich dadurch eine geschichtliche Ähnlichkeit ergeben, und man erhielte gewisse Familien von Codices. Die Idee ist richtig, aber die Ausführung gar zu schwürig. Es ist viel leichter sich vorzunehmen, den Text so wiederherzustellen, wie er seit Origenes in der Alexandrinischen Schule war, als zu bestimmen, welche Handschriften auf den Alexandrinischen Codex zurükgehen. Bei dem Ersten kann ich alle Anführungen der Alexandriner benutzen. Für das Zweite ist es aber nicht gewiß, daß Handschriften nur einer Recension folgten, sondern es ist dies vielfach verwischt worden, wie es bei der Verpflanzung der großen KirchenLehrer und Kritiker aus einer Gegend in die andre natürlich ist. Erst wenn man das Erste, die theilweise Herstellung des N.T. nach dem Codex der alexandrinischen Kirche etc gemacht hätte, könnte man das Zweite thun; man hat aber das Zweite ohne das Erste thun wollen, und deshalb glaube ich nicht, daß man etwas Bedeutendes geleistet hat. (Hier fehlt eine Stunde, die den Schluß enthielt. Viele Beispiele aus der älteren kirchlichen Zeit – das Resultat: die Prinzipien sind auch für die N.T. [Schriften] dieselben, nur sie erleiden in Beziehung auf dasselbe eine etwas verschiedene Anwendung.). [Die folgende Stunde in Böttichers Nachschrift:] Es würde unzweckmäßig sein diese Theorie noch weiter zu entwickeln ich halte es für ein ganz mißlungenes Streben wie es Griesbach beginnt. cf Mathaei Ich glaube es ist nichts anderes übrig als daß man die Verglei10 man] wir
37–38 cf Mathaei] am Rand; möglicherweise Anmerkung Böttichers
37–38 Die Randbemerkung ist möglicherweise Böttichers eigne Notiz und verweist wahr-
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chung der Manuskripte nur nach dem übrigen Werthe im allgemeinen für die Constitution des Textes benutzt. Es fragt sich ob für das N.T. die allgemein aufgestellten Principien anwendbar sind. Es ist nicht abzusehn was das N.T. ändern sollte, nur daß manche Fehler im N.T. in größerm Maßstabe vorkommen können. Das gilt zunächst von Zusätzen durch Glosseme und Lectionarien entstanden. Da ist das N.T. überwiegend zu Gunsten der kürzern Lesart. Allein das bildet keine neue Regel es ist nur das Resultat der Anwendung der allgemeinen Regeln und dies Resultat darf man nicht als besondere Regel aufstellen. Dann giebt es auch Zusätze die im N.T. öfter vorkommen können nämlich analoge kürzere oder längere Formeln. Dieser Fehler kommt auch im allgemeinen vor als eine Gedankenverwechselung und Wiederholung des Schreibenden entstanden. Hier ist am wahrscheinlichsten [daß] wo beide Formeln vorkommen die kürzeste die ursprünglich richtige ist, zB das neben einander stehende Ihsoyw Xristow wenn auch Xristow nicht mit Nachdruck steht. Daß nun in das N.T. noch Zusätze kommen konnten wie anderwärts nicht das liegt in der besonderen Beschaffenheit der Schriften. nämlich die briefliche Form verlangt Eingangs und Schlußformeln da ist leicht möglich daß ein Schreiber da wo eine kürzere Formel stand die längere schon in Gedanken hat. Etwas anderes ist es mit den 3 Evangelien die in einem besonderen Verhältniß zueinander stehn, da war es sehr möglich daß aus einem etwas in das andre überging indem sich einer einen Umstand der im einen Evangelium fehlt an den Rand schrieb um sie sich zu vervollkommnen; oder daß ein Abschreiber im Schreiben aus einem andern Evangelisten wie er ihn im Gedächtniß hatte fortfuhr. Es fragt sich ob für diese Fälle die Evangelien einander gleich sind. Es kommt darauf an ob eins früher bekannt war als die andern dann wäre es wahrscheinlich daß nur aus dem ersten Evangelium in die spätern Zusätze kamen nicht aber umgekehrt; sind sie aber alle gleich so wäre eins so leicht wie das andere. Doch durchaus darf man nicht überall hier der kürzren Lesart den Vorzug für die längere geben, man muß auf die Möglichkeit wegen der Aehnlichkeit der Schriftzüge sehn und alle Entscheidungsgründe mit in Rechnung
27 die andern] oder das andere scheinlich auf Christian Friedrich Matthaeis griechisch-lateinische Ausgabe: ,Novum Testamentum XII tomis distinctum‘, Riga 1782–1788 (SB 198), vielleicht aber auch auf: Georg Christian Rudolf Matthaei: Der Religionsglaube der Apostel Jesu nach seinem Inhalte, Ursprunge und Werthe, Göttingen 1826 (SB 1237). 31 lies: vor der längeren
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bringen. Am Sichersten ist die kürzere Lesart wo der Anfang oder das Ende eines Leseabschnitts Zusätze hat, diese Puncte können wir aus den alten Lectionarien bestimmen. Ein anderer Punct ist: Schwierig sind für jede kritische Entscheidung die Stellen wo keine Erklärung aus der Ähnlichkeit der Schriftzüge und des Sinnes möglich ist. In solchen Fällen hat das Schwierigere und Ungewöhnlichere eine praesumption für sich. Hievon giebt es für das N.T. eine besondere Anwendung die sich auf das besondere NeuTestamentliche Idiom bezieht, die Zusammensetzung aus der koinhÁ dialektow und dem Hellenistischen; dieses letztere mußte in allen Gegenden die außerhalb des Hellenismus liegen ungewohnt erscheinen; ist die Handschrift von solchem Kritiker so kann man leicht vermuthen daß das hebraisirende in das gewöhnliche übertragen ist. Wir werden also mit wahrscheinlichkeit sagen das Hebraisirende habe den Vorzug vor dem rein Griechischen nämlich wenn sich die andre Lesart durchaus nicht anders erklären läßt. Es ist also durchaus nöthig daß man den allgemeinen Character der Manuskripte kennen muß. Man hat noch andere specielle Regeln für das N.T. gemacht. Man sagt je weniger sich eine Lesart mechanisch erklären läßt um so mehr muß man sie aus einer A b s i c h t erklären diese kann sich auch auf den Inhalt beziehn und da hat man 2 Canones aufgestellt. 1.) Wenn zwei Lesarten so stehn daß die eine genauer der kirchlichen Orthodoxie entspricht die andre nicht so hat die letztere den Vorzug. 2.) Wenn sie so stehn daß die eine ein stärkerer Ausdruck christlicher Frömmigkeit ist, so habe diejenige den Vorzug wobei dies nicht der Fall sei. Hinsichtlich des letzten Canons läßt sich gar nicht denken daß der Abschreiber die Absicht gehabt habe etwas von der Frömmigkeit der Stelle wegzunehmen, eher könnte er es sich erlauben sie zu verstärken. Hinsichtlich des ersten Kanons läßt sich nicht denken daß ein Schreiber solle die Absicht gehabt haben die Beweisstelle für eine kirchliche Lehre wegzunehmen eher konnte er freilich die Stelle so wenden daß sie als Beweisstelle nun dienen konnte für die orthodoxe Lehre die ihm vorschwebte. Will man das aber allgemein aufstellen so scheint eine große Verwirrung im Ausdruck zu liegen, es kommt alles darauf an in welcher Zeit man sich die Lesart entstanden denkt. Der Arianismus zB. hatte lange die Oberhand da könnte man grade sagen in dieser Zeit können auf dieselbe Weise heterodoxe Lesarten entstanden sein. Dasselbe gilt zB. von der Augustinischen Theorie von der Gnadenwahl die auch herrschte wie auch dann wieder die pelagianische. Man müßte also sagen wenn die eine Lesart ein sehr bestimmtes dogmatisches Interesse begünstigt die andere unbestimmter ist so hat die letztere den Vorzug vor der erstern, die dogmatisch
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bestimmtere kann auf die kirchlich dogmatische Erklärung sich beziehende Bestimmung haben. Wenn wir die alten Commentare über das N.T. betrachten, so finden wir daß dieselbe Stelle von ganz entgegengesetzten Lehrern für ihre Ansicht gebraucht wird indem man die Stellen gar nicht genug betrachtete als Glieder im Gedankengange des Schriftstellers. Dadurch wurde das Interesse die Schrift zu ändern ganz aufgehoben man konnte mit der bloßen exegetischen Kunst auskommen. Gesetzt die einzelnen Parteien hätten Lesarten geändert so müßten wir weit mehr solcher Lesarten haben. Dasselbe läßt sich auf den 2ten Canon anwenden. Betrachten wir die Commentare der Homileten so finden wir auch hier Leichtigkeit durch allegorisiren eine große Religiöse Emphasis hervorzubringen ohne Aenderung des Textes. Man hat gesagt der bei weitem größte Theil unsrer Manuskripte rührt aus dem Mönchsleben her, hier gab es noch eine besondere Präsumption der Heiligkeit und Lebensregeln, wenn sich also Stellen finden die für die mönchische Frömmigkeit brauchbar wären wo wären sie verdächtig. Doch kann ich das nicht zugeben, das Abschreiben in den Klöstern geschah meist mechanisch, das Mönchsleben war durch die Kirche genug sanctionirt und die Schrift hatte durch die Kirche zu sehr schon ihr Ansehn verlohren als daß man sie der Autorität wegen hätte ändern sollen. Es ist also immer nur etwas sehr unbedeutendes worin die allgemeinen Regeln etwas sich für das N.T. modificiren, was darin besonders ist sind nur besondere Anwendungen der allgemeinen Regeln. [Es folgt nun wieder Braunes Text:]
Höhere oder hermeneutische Kritik.
die es mit der Ausscheidung des Ächten und Unächten zu thun hat, nehmlich aus dem Inhalt zu beurtheilen, was einem Schriftsteller nicht angemessen ist, das ihm zugeschrieben wird. Nun giebt es keine richtige Auflösung, wenn man nicht das Factum genau betrachtet. Wie geschieht es 30 also daß Einem eine Schrift zugeschrieben wird, dem sie nicht angehört? Betrachten wir es geschichtlich, so ist das Resultat, je früher, je häufiger kommen solche Fälle vor, je später, je seltner. Es geschieht noch jetzt, aber es setzt sich so etwas nicht fest. Wenn eine Schrift jetzt ohne Namen, oder unter einem falschen Namen erscheint, so kann sich ein solcher 35 Glaube nicht fixiren, ohne daß berichtigende data eintreten, so lange 34 erscheint] erscheine
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noch Einer da ist, der Interesse hat, diese Meinung zu berichtigen. Bei unserm lebendigen litterarischen Verkehr kann kein Stoff für die höhere Kritik mehr entstehn, sie beschränkt sich auf das Frühere. Fangen wir bei dem neusten gegenwärtigen Zustand an, so haben wir es zuerst mit der Publikations Weise zu thun; wenn jemand wollte ein Buch unter einem falschen Namen erscheinen lassen, so würde das den Augenblik bestritten werden. Ein möglicher Fall, wäre der, daß Einer ein Werk bekannt machte, als von einem längst Verstorbenen, also als aus Manuscripten genommen; so etwas geschieht in unserer Roman-Litteratur; allein es geschieht nicht ernstlich, und es wird auch nicht ernstlich genommen; es kann so etwas nur ein kunstreicher Scherz sein. Thäte es aber Einer, und setzte sich lebendig in die frühere Zeit zurük, so wäre die Schrift ein Gegenstand der höheren Kritik; es werden dann doch Sachen, die neuere Zeit betreffend, unterlaufen und die Kritik würde die Sache merken. Sonst läßt sich die Sache nicht denken; denn Niemand wird durch seine Schrift dem Andern Ruhm und Ehre bringen wollen, will er ihn in Händel verwickeln, so wird sich Jener vertheidigen, und ist es ein Verstorbener, so werden es seine Freunde thun. Geht es aber gegen Verstorbene über die 3te und 4te Generation hinaus, so kann die Sache nicht mehr ernstlich gemeint sein. Gesetzt aber, es ließe Jemand etwas handschriftliches circuliren, ohne seinen Namen zu nennen, und die späteren Handschriften kennten die Quelle nicht mehr, später aber nach geraumem Zwischenraum würde sie gedrukt, so kann die Schrift wohl unter dem Namen eines falschen Verfassers bekannt gemacht werden, und dann träte ein solcher Fall wieder ein; aber nur unter Bedingung eines längeren Zwischenraums der Abfassung und des Druks. Wird aber eine Schrift anonym gedrukt, so läßt sich das nicht denken, denn ein späterer Herausgeber wird nicht auf bloße Vermuthung den Namen vorsetzen. (Die politischen Briefe von Junius in England, die sehr lange anonym geblieben sind). So sehn wir also, wie es gegenwärtig nicht mehr möglich ist, die wirkliche Thatsache und ein absichtliches falsum so zu verbreiten, daß die Operation der höheren Kritik nothwendig wäre, um beides wieder zu trennen. Was ich bis jetzt sagte, bezog sich auf ganze Schriften; nun ist es aber eine eben so wesentliche Aufgabe dieser höheren Kritik, unächte Stellen auszuscheiden. Daß jetzt nach dem Druk einer Schrift noch falsche Stellen hinein kommen sollten, läßt sich nicht leicht denken. Es ist kein Interesse denkbar, weswegen Einer sollte einem Andern etwas unterschieben, und 28 Die ,Letters of Junius‘ erschienen anonym in London von 1769 bis 1772; als Autor konnte später Sir Philip Francis ermittelt werden.
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es nicht unter seinem Namen herausgeben; er müßte denn nachtheilige Folgen von sich ab und auf Andre lenken wollen, oder dem Andern Unannehmlichkeiten ersparen. Allein Andre werden sich immer interessiren, dem Schriftsteller seine integrität zu erhalten, und die Sache wird an den Tag kommen. Aber es giebt Fälle, die einen sehr ähnlichen Charakter haben, und noch jetzt vorkommen können. Nehmlich wenn 2 oder Mehrere etwas gemeinschaftlich machen, und nicht wollen, daß sie geschieden werden. (Epigramme unter dem Namen Xenien von Schiller und Göthe. Da war die höhere Kritik Aufgabe des Privat-Urtheils; es war kein falsum zu berichtigen. Wenn nun Einer aufgestanden wäre, und hätte bewiesen, das gehört dem zu, das jenem; so hätten es sich die Schriftsteller müßen gefallen lassen, Niemand hätte sie aber zwingen können, ja und nein zu sagen). in unserer Art der Publikation, und dem lebendigen Verkehr der Litteratur, kann also der Fall der Berichtigung von etwas falschem nicht leicht vorkommen: denn die Ermittelung pseudonimer oder anonymer Verfasser ist doch nicht dasselbe, sondern bloß eine Zugabe und Ergänzung zu dem Vorigen. Gehn wir nun auf den ältesten Zustand, wo sich eine Reihe zusammenhängender Gedanken durch eine tradition eine Zeit lang erhielt, ehe sie durch die Schrift niedergelegt wurden. Denn ist die Schrift erfunden, so wird in dieselbe nicht aufgenommen werden bloß das, was damals gemacht wurde, sondern auch Alles, was bis dahin für hoch und heilig geachtet wurde. Hier stoßen wir gleich auf eine wesentliche Verschiedenheit. Nehmlich bei der tradition, wird nicht mit den Gedanken der Name des Verfassers mittradirt. Beides ist etwas getrenntes. Viele fassen ein Gedicht auf, und kümmern sich nicht um den Namen. nun giebt es einen gewissen Sinn für die geschichtliche Vollständigkeit, die mit der Schrift erst beginnt, und dahin gehört das wesentlich mit. Denken wir also beides gleichzeitig, Auffassung durch die Schrift, und dieser geschichtliche Sinn für die Vollständigkeit, so kann das Bedürfniß eintreten, mit der Schrift auch den Namen fortzupflanzen. Jeder wird aber zugeben, daß es da viele Sachen giebt, die der Berichtigung bedürfen. Es kann das jeder an den homerischen Schriften, und den Schriften des Alten Testaments sehen. Die homerischen Schriften waren schon lange von Mund zu Mund fort4 dem] den 8 Die von Goethe und Schiller gemeinsam verfaßten Distichen wurden unter dem ironischen Titel ,Xenien‘ 1796 als letztes Stück in Schillers ,Musen-Almanach für das Jahr 1797‘, S. 197–203 publiziert. „Trotz der reichen handschriftlichen Überlieferung ist eine bis ins letzte beweiskräftige Sonderung des Anteils beider Dichter an dem gemeinsamen Werk bis heute nicht möglich“ (Regine Otto: Kommentar zum Neudruck (des Almanachs), Leipzig: Insel 1980, S. 22).
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gepflanzt. Die Iliade und Odyssee entstanden erst durch die geschichtliche Auffassung, die älteren Schriftsteller citiren nur die einzelnen Rhapsodien. es läßt sich sehr gut denken, die einzelnen Rhapsodien anders zusammenzusetzen, und wo wäre eine Sicherheit, daß dazwischen nicht etwas verloren gegangen. Ebenso wo ist die Sicherheit, daß Alles dem Verfasser angehört; wie leicht kann der Name Eines das Werk Andrer mit an sich ziehn, deren Name verloren gegangen; wie sollten nicht in dem Lauf von saeculis die Gedichte selbst zum Theil verändert, und so die Verschiedenheit der verschiedenen Verfasser verwischt werden. So ist es wenigstens natürlich. Ich kann mich ebenso wenig auf die Streitigkeiten über die Abfassung des Pentateuch einlassen. Aber wenn die Gesetze des Moses auf Stein geschrieben wurden, und wir nehmen das nomadische Leben der Israeliten dazu, so können wir wohl nicht glauben, daß die Schrift ein bequemes Fortpflanzungsmittel gewesen sei, sondern wir müßen es zugeben, daß Vieles, und unbestimmt wie lange, durch die Tradition fortgepflanzt sei. Das Ungewiße müßen wir hier als das Frühere setzen. Aus dem Gesagten ergiebt sich das; grade wie wir bei der Hermeneutik sagten, wenn die Aufgabe richtig gelößt werden solle, die Operation nicht erst dann anfangen muß, wo sich Schwürigkeiten zeigen; so auch im Gebiet der Ganzen Litteratur nicht da anfangen, wo in den ältesten Werken Schwürigkeiten sich zeigen, sondern von vorn herein, da die Zweifel hier a priori begründet sind. Es ist nicht anders möglich [als daß], was in der alten Litteratur, als ein größeres Werk einer Gattung erscheint, zusammengetragen sein muß aus der tradition und aus unvollkommener Niederlegung in der Schrift. Wenn auf dem entgegengesetzten Endpunkt kein Stoff für die höhere Kritik entstehn kann, so müßen wir in jedem Gebiet von Anfang an eine Abnahme annehmen von den Zweifeln und Ungewißheiten, als Übergang vom Anfangs- zum Endpunkt, und ein Zunehmen der Gewißheit. Dabei wird es darauf ankommen, so viel als möglich feste Punkte anzunehmen; Wenn wir alles, was als Untersuchung auf diesem Gebiet behandelt ist, in dieser Beziehung betrachten, so müßen wir sagen, es würde eine so große Differenz der Meinungen nicht bloß, sondern auch in Beziehung auf die Frage, ob eine solche Untersuchung nöthig sei, nicht statt finden können, wenn das, was ich gesagt habe, allgemein anerkannt wäre; es schwanken die Vorstellungen noch zu sehr darüber, was man bei einer Schrift vorauszusetzen habe. Nun verhalten sich nicht alle Gebiete gleich. Es kommt sehr auf den Ort und die Art der Publikation an; von einigen kennen wir die Veränderungen, bei andern 2 Rhapsodien] Rhabsodien
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giebt es Lücken in der Geschichte, so daß wir kein allgemeines materielles Prinzip aufstellen können; nur 1 formelles, das aber in der Anwendung, nach den verschiedenen Gebieten verschieden ist. Das formelle ist dies. Je mehr die Publikation einer Schrift mit der Vorsetzung des Namens des Schriftstellers ein verschlungenes factum ist, um so weniger ist zu zweifeln an der Richtigkeit. Wo das nicht ist, hat der Zweifel seinen gerechten Ort. Es käme also darauf an, diesen Punkt zu bestimmen, wenn der Name des Verfassers zugleich mit der Publikation verbunden ist. was nachher erscheint, ist mehr nach unserer Art; was über diesen Punkt hinaus liegt, muß getrennt werden, und da hat der Zweifel seine Stelle. Nun sind wir in dieser Hinsicht mit den geschichtlichen Kenntnißen in Verlegenheit, man muß da Hypothesen bestimmen, und das Verfahren wird dadurch noch unsicherer. Nun gesetzt, es ließe sich dies mit ziemlicher Gewißheit bestimmen, und wir könnten die Theilung machen, so fragt sich, in Beziehung auf die Schriften, die jenseits dieses Punktes liegen, wo sich nichts Gewisses bestimmen läßt, wenn wir da gar keine tradition über den Verfasser haben, so kommen sie nicht in das Gebiete der höhern Kritik; der Fall ist derselbe wie mit anonymen Schriften; die Frage ist eine kritische, aber eine besondere, eine ergänzende. Wo man aber über die Abfassung der Schrift eine Tradition hat, fragt sich, wie können Irrthümer in die Tradition gekommen sein. Von einem andern Gesichtspunkt aus stellte sich die Frage so, was giebt hier einen Grund, auf eine solche Tradition etwas zu geben? Soll etwas Ersprießliches herauskommen, so müßen beide verbunden werden. Die letzte geht davon aus, wenn der Name nicht mit der Erscheinung des Werks verbunden war, giebt es nichts Gewißes; wer da etwas behauptet, muß es beweisen. Die andre Behauptung geht davon aus: wenn der Name auch nicht mit der Schrift gleich verbunden war, so haben sie doch gleich welche die den Verfasser kannten, gelesen; das kann sich fortgepflanzt haben, und es fragt sich nur, wie kann ein Irrthum in die Überlieferung gekommen sein. Sehn wir gleich mal auf das hypothetische Ende des Verfahrens: Es kann herausgebracht werden, daß eine von den vorhandenen Traditionen die richtige ist. – oder auch, daß diese Tradition, oder keine von ihnen die richtige ist; dann geht die andre Aufgabe an, die über die Ausmittelung des Verfassers von anonymen Schriften. Wiefern es für beide Aufgaben verschiedene oder dieselben Prinzipien ergeben wird, kann sich erst in der Folge entwickeln. aus dem Bisherigen folgt, wo es eine tradition für den Autor einer Schrift giebt, so ist das Erste den Ursprung der Tradition aufzusuchen. Gesetzt, das wäre geschehn, enthält das schon einen Grund für die Tradition? Das ist die
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Frage nach der Autorität der Zeugniße. Nehmlich es ist nicht gleich, eine Tradition, und ein Zeugniß; aber es giebt doch gewisse Fälle, wo eine tradition die Präsumption für sich hat, ein Zeugniß zu sein. Die erste Frage ist also, wie ist die Schrift zu diesem Namen gekommen. Nun haben wir gesagt, wenn der Name zugleich mit der Schrift publicirt wurde, und es ist das bestritten, so ist das kein Gegenstand der Kritik. So wie also eine Tradition den Charakter eines solchen Zeugnißes trägt, um so größer ist die Sicherheit. Ein Beispiel. Es sind bekanntlich mehrere Zweifel über Schriften aus dem platonischen Werk erregt worden; einige haben seinen Namen auf eine solche Weise getragen, daß sie schon [von] alexandrinischen Grammatikern für unächt erklärt wurden; andre später. Die Schriften sind aber ein Gegenstand der höheren Kritik, denn die Schriften wurden nicht alle gleich mit dem Namen des Plato verbunden. Wenn nun Aristoteles eine Schrift unter dem Namen des Plato anführt, so ist das eine Thatsache, die sehr geeignet ist, jenes factum zu repräsentiren. Da müßen wir also von der andern Betrachtung aus sagen, es hat gleich in der ersten Zeit Menschen gegeben, die die Schrift kannten; die verschiedenen Schriftsteller seiner Zeit wird Aristoteles auch gekannt haben; ohne unmittelbare Kenntniß daß Plato Verfasser dieser Schrift sei, würde er sich wohl darum bemüht haben. Je mehr eine tradition erscheint, als aus dem ursprünglichen Lebens Kreise des angeblichen Verfassers, um so mehr ist sie die Aussage derer, die gewußt haben, von wem die Schrift ist. Nun muß man mit der gehörigen Behutsamkeit verfahren, und sich überzeugen, daß es auch ein Zeugniß sei. Aristoteles z. B. führt oft unter dem Namen Schriften an, oë Sokrathw sagt das und führt dann den Namen des Werks an. Nun setzt er zuweilen den Namen Plato hinzu; oft aber auch nicht; in den letzten Fällen kann es auch also ein anderer Socratiker sein. Dies ist also das Maximum, wenn die Tradition als Zeugniß aus dem unmittelbaren Lebens-Kreise des Verfassers angesehen werden kann. In diesem günstigen Fall befindet man sich aber selten; gewöhnlich verliert sich die tradition weit vor dem Anfang der Publikation, und es läßt sich nicht nachweisen, wie die Tradition entstand. Das Urtheil kann deshalb nur hypothetisch gefällt werden, und es wird nicht sicher, wenn nicht noch andre Gründe hinzukommen. Man pflegt das in der Sprache der Kritik, die äußeren Gründe zu nennen; je weniger sie gewiß sind, muß man sich nach einem Supplement umsehen. welches wäre nun dies? Sie sehen, man könnte auf diesem Wege noch eine Zeit lang fortgehn. Die Gründe die man angeben kann, wodurch die Urheber der Tradition sich 7 um] daß um
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als beglaubigt halten durch frühere Zeugniße, gehören noch dahin. Zeugniße aus [dem] Lebens-Kreise des Verfassers sind auch nächste Stellvertretung für das factum der Publikation des Namens mit der Schrift. haben wir solche nicht, so werden wir sagen, je näher die Tradition der Verbindung mit einem solchen Zeugniß kommt, um so sicherer ist sie. Diese Entfernung ist aber nicht nach der Zeit zu messen, so daß ich sagen könnte, eine Tradition, die nur 100 Jahre jünger ist als der Verfasser, ist deshalb viel richtiger als eine, die 300 Jahre jünger ist; das wäre sehr übereilt. Es kann Einer, der eine solche Behauptung aufstellt, der LebensZeit des Schriftstellers sehr nahe gewesen sein. Aber die Nähe der Zeit ist nicht die Nähe des Raums, und der Zeuge kann so weit vom Verfasser entfernt gelebt haben, daß wir gar nicht berechtigt sind, von ihm zu glauben, er habe eine nähere Kunde vom Verfasser gehabt. Nur in dem Maaß, als die Verbindung zwischen beiden nachgewiesen werden kann, ist die tradition sicher. Je mehr die Tradition den Charakter eines Zeugnißes annimmt, um so weniger ist die Angehörigkeit oder Authentie der Schrift anzufechten, und nur durch besondere Gründe. Je weiter die Tradition vom Lebens-Kreise des Verfassers entfernt ist, ist sie nur als ein Urtheil anzusehn, und es kommt auf die Urtheilsfähigkeit des Tradirenden an. Ebenso ist aber auch die Urtheilsfähigkeit des Zeugen nicht ganz zu übersehen; in jeder Erzählung und in jedem Urtheil bleibt etwas Subjectives. Es giebt alsdann 2 verschiedene Quellen woraus die Verbindung des Namens eines Verfassers mit einem Werk entsteht, nehmlich die stillschweigenden Zugaben des Verfassers selbst, und das Gerücht, daß dem nicht widersprochen worden. Ist das allgemeine Gerücht die Quelle, so hat das in sich sehr ungleichartige Elemente, und es fragt sich, ob es recht war, ihm zu trauen. Das allgemeine Gerücht ist nichts anderes als ein Urtheil; wir können es jetzt noch täglich sehen bei anonymen Schriften, die schnell eine allgemeine Verbreitung erlangen. Selbst, wenn das Gerücht nicht getheilt ist, und man fragt nach den Gründen des Einzelnen, so wird der eine mehr als der andre haben. Das Gerücht hat aber nur Autorität, als gültige Stimmen darin sind. Wenn nun aber die Tradition später ist, und ein leichter und sicherer Zusammenhang von diesem Punkt aus mit dem Lebens-Kreis des Verfassers nicht nachzuweisen ist, so kommt es darauf an zu untersuchen, woher es entstanden. je mehr das Zeugniß als solches von seiner Gültigkeit verliert, um so mehr muß das Urtheil zunehmen, und es kommt sehr bald ein Punkt, wo man zugleich fragen muß nach der 13 Nur] Nun
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Urtheilsfähigkeit, und nach dem geschichtlichen Zusammenhang, wodurch die Tradition ein Zeugniß wird. Die Frage, welches die guten Gründe sind, die dem Urtheil ein Gewicht geben, und welche die schlechten, so können wir diese Frage noch nicht beantworten, weil sie noch öfter vorkommt, und sich ein bequemerer Ort dazu finden wird. – Die allgemeine Lage der Sache ist also: Je mehr die tradition den Charakter eines vollgültigen Zeugnißes hat, so müßen besondere Gründe hinzukommen, ihr den bestimmten Verfasser abzusprechen, je weniger sie den Charakter hat, so bleibt die Tradition in Ungewißheit, bis sie durch fortgesetzte kritische Verfahren entweder später bestätiget wird durch Gründe, die man erst später in der tradition fand, oder aus den entgegengesetzten Gründen verwarf. Was nun [durch] die Tradition als Zeugniß nicht feststeht, wodurch kann es als kritisches Urtheil ergänzt werden. Man nennt nehmlich alles, was den Zeugnißen zum Complement dient, innere Gründe, weil man nehmlich außer der Schrift nichts mehr hat. Das Prinzip ist: der Gegensatz zwischen den äußeren und innern Gründen ist nur ein relativer; mancher innere Grund hat noch Analogie mit einem äußern. Je mehr nun ein solcher innerer Grund Analogie mit einem äußeren hat, um so mehr kann er dem Zeugniß zum Complement dienen; denn es entsteht dadurch eine der Gewißheit des Zeugnißes ähnliche Gewißheit. Wir werden also, diese inneren Gründe aufsuchend, sie nach der Ähnlichkeit mit den äußeren classificiren. Was können es also für Motive sein, eine Schrift einem Verfasser beizulegen, die dem Charakter des Zeugnißes nahe kommt? Das Zeugniß wäre aus dem Lebens-Kreise des Verfassers hergenommen. Das fehlt uns, und das Sicherste darin wäre, das Bekenntniß des Schriftstellers zu der Schrift selbst. Unsere Aufgabe wäre deshalb etwas dem Ähnliches zu finden, und demnächst etwas, das auf den Lebens-Kreis des Verfassers zurükführt. Nun fragt sich, wie viel wissen wir vom Verfasser? haben wir noch Thatsachen irgend einer Art übrig, so wird untersucht werden müßen, ob darin etwas ist, was als Analogon des Bekenntnißes des Verfassers zu der Schrift angesehn werden kann. Andre Schriften desselben Verfassers sind das Nächste, und kämen darin Beziehungen auf diese Schrift vor, so wäre das dem Selbstbekenntniß des Verfassers gleich zu achten. Nur wenn der Verfasser in einer Schrift, die vollkommen authentisch ist, d. h. durch ein Zeugniß aus seinem Lebens-Kreise ihm zugeschrieben wird, [sich] auf etwas in der fraglichen Schrift beruft, so ist das etwas, was seinem Selbstbekenntniß zu der 25 kommt] kommen
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Schrift, so nahe als möglich kommt. Doch ist es nicht absolut gewiß, denn es könnte ja wohl diese Schrift grade diese Stelle aus einer andern Schrift dieses Verfassers genommen haben. Es muß also die Identität [des Verfassers] der Schrift nachgewiesen werden. Spielt also der Schriftsteller auf die fragliche Schrift nur an, citirt er den Titel nicht, so bleibt der Zweifel noch übrig. Bezieht er sich mehr wörtlich darauf, oder geht die Beziehung auf einen ganzen Zusammenhang von Gedanken, so nimmt die Wahrscheinlichkeit zu. – Ist unter den vorhandenen gleichzeitigen Schriftstellern keiner so im Stande gewesen, eine Anspielung zu machen, so kommt dies einem indirecten Zeugniß aus dem Lebens-Kreise des Verfassers gleich. Die Gründe dafür abzuwägen ist aber sehr schwer, denn jedes negative synthetische Urtheil ist ein unendliches. Es schließt das Urtheil eine Kenntniß aller gleichzeitigen Schriftsteller in sich, und auch die Kenntniß dessen, daß das Gesagte außer ihrer Begrenzung fällt. Das Geschichtliche auszumitteln, wäre noch das Leichteste, z. B. wäre über einen dritten etwas zu bestimmen, und wir wissen, es wußten das nur Wenige von seiner nächsten Umgebung, und aus dieser war nur der Eine ein Schriftsteller, so ist es gewiß. Dergleichen kommt aber selten vor. Je mehr sich aber eine Stelle vom Charakter einer historischen Thatsache entfernt, je mehr es auf das Urtheil ankommt, um so unsicherer ist der Grund, wenn er auf der Ausschließung Anderer beruht. Urtheile also, die dem Zeugniße gleich zu stellen sind, kommen sehr selten vor; alles übrige ist nichts als das Unbestimmte subjectiver Urtheile. Nur das ist einzusehn, daß die Gründe eine Schrift dem Verfasser abzusprechen, triftiger sein werden, als die, sie ihm mit Auschließung aller andern beizulegen. Je mehr also einer Schrift, bei deren Publikation der Name des Schriftstellers nicht beigefügt wurde, je mehr es einer solchen an einem ursprünglichen Zeugniß fehlt, um so größer bleibt die Unsicherheit, und nur die Aufgabe, aus dem Allgemeinen heraus den Verfasser zu finden. Eine Tradition hat deshalb nur den Nutzen, das critische Verfahren zu leiten, und ihm einen Anknüpfungspunkt zu geben. Je mehr das Verfahren von beiden Punkten aus zusammenstimmt, um so sicherer wird das kritische Urtheil sein. Die beiden Wege sind, 1) von der Unsicherheit auszugehn und nach critischen Gründen den Verfasser zu suchen 2) ich gehe aus von der Tradition, und indem ich sie prüfe, ob sie Zeugniß, oder bloß Urtheil ist, sehe ich, ob ich auf die 1 oder die andre Wahrscheinlichkeit komme. Je mehr beide Methoden zusammenstoßen, entweder die tradition zu bestätigen, oder etwas Anderes an ihre Stelle zu setzen, um so mehr Sicherheit werde ich haben. – Nun bietet sich uns eine geschichtliche Wahrnehmung dar; wenige Kritiker verbinden Beides. Aber es giebt immer Kritiker beider Art,
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einige mehr skeptisch, andre traditionell. Hat man nun einen Kritiker vor sich, der nur 1 Methode folgt, so muß man die Gründe der andern Methode auch mit hinzunehmen. Es fragt sich, was giebt es für Gründe außer diesen, eine unbestimmte Schrift einem Verfasser zuzuschreiben. Weiß man von dem Schriftsteller gar nichts, so ist auch nichts herauszubringen; nur wenn von ihm sichere Argumente da sind, so ist durch die Vergleichung ein Resultat zu erlangen. Das sind die sogenannten innern Gründe, die doppelter Art sind. 1) wird die Wahrscheinlichkeit da sein, wo die fragliche Schrift mit den unbezweifelten 1 Ganzes ausmacht. 2) wenn zwischen beiden eine überwiegende Ähnlichkeit sich findet. Es ist keine Frage, daß die erste Begründung einen höheren Grad der Wahrscheinlichkeit hat. ein fingirtes Beispiel. Denken Sie sich eine Schrift bestehe aus mehreren Theilen und habe keinen Schluß; nun werde eine kleinere Schrift gefunden, die in den Zusammenhang der vorigen paßt, und einen solchen Schluß enthält, so werden wir ohne das adminiculum der Tradition es für den Schluß halten können. Hier wächst die Gewißheit mit dem Grade dessen wie der Mangel gefühlt worden ist, und das Gefundene an das corpus, wozu es gehört, sich anschließt. Wenn nun eine Schrift in der Methode eines andern Schriftstellers abgefaßt wird, seine Sätze in ein neues Licht gestellt werden, und wechselseitige Beziehungen sich finden, so sind solche Fälle selten. Sehn wir auf das 2te, die Ähnlichkeit, so kann man da nicht vorsichtig genug sein. Gesetzt eine Tradition hätte noch so lange bestanden, eine Schrift ist aber doch unsicher, so wird, wenn noch sichere Schriften von demselben Verfasser da sind, die unsere mit den sicheren verglichen werden müßen. Wir betrachten sie dann als eine anonyme Schrift. Da ist das Erste das Zeitalter auszumitteln; wir sehn danach auf Sprache und Inhalt. Sie kann demselben Zeitalter angehören, aber noch nicht demselben Verfasser. Die Ähnlichkeit der Methode und der Sprache nennen wir Ähnlichkeit des Styls, wie kann die aber auf die Ähnlichkeit der Person hinweisen. Zwischen solchen, die derselben Schule angehören, wird immer diese Ähnlichkeit sein, z. B. wenn man die schon von den alten Kritikern für unächt erklärten platonischen Gespräche annimmt, so würden sie nicht für unächt erklärt worden sein, wenn sie nicht [zuvor] wären für ächt gehalten worden. Das ging zurük auf die allgemeine Ähnlichkeit, die sich bezieht auf die dialogische Form und die Abhandlung gewisser sittlicher Vorschriften. Sehn wir aber darauf, daß diese Schule dem Lehrer Socrates folgte, und daß dazu die allgemeine dialogische 18 Gefundene] folgt sich
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Form kam, so mußte die Ähnlichkeit sehr groß werden. Das gilt nicht bloß von dem philosophischen Gebiet, sondern auch vom rhetorischen. Die Ähnlichkeit der Schule braucht nicht grade auf eine Schule im engeren Sinn des Worts zurükzugehn, es geht auf eine Gemeinschaftlichkeit der Bildung. Es wird dasselbe auch vom historischen Gebiet gelten. Denn bei einer BildungsWeise wie die der Alten, werden schwerlich verschiedene BehandlungsWeisen von demselben Lande aus statt gefunden haben (ein Herodotisches und ein attisches Zeitalter). Da werden viele Verfasser große Ähnlichkeit im Styl haben, ohne daß man ein Recht hätte, auf eine Identität der Person zu schließen. Ja es kommt noch etwas hinzu. Es giebt in jeder Litteratur Nachahmungen, wo eine absichtliche Verwechselung hervorgebracht wird. Fehlt nun der Name so kann man leicht verleitet werden, das Werk des Nachahmers für das des Nachgeahmten zu halten. Man muß also hier sehr aufmerksam sein, und von der andern Seite gleich darauf ausgehn, Verschiedenheiten aufzufinden. Das ist aber eine Klippe, an der die Kritik oft gescheitert ist, daß man sich hat durch solche Ähnlichkeit blenden lassen; nur durch die Verbindung der entgegengesetzten Methoden wird sich etwas sicheres erreichen laßen. Das Resultat also: Jede Schrift in Beziehung auf ihren Verfasser ist für völlig unsicher zu halten, wenn nicht das ursprüngliche factum durch sichere Zeugniße ersetzt wird. Durch alle innern Gründe, sie einem Verfasser beizulegen, wird sie aus dieser Unsicherheit eigentlich nicht herausgerissen. Durch eine große Menge von solchen innern Gründen kann nur eine Wahrscheinlichkeit herbeigeführt werden, d. h. eine solche Schrift muß immer Gegenstand der Kritik bleiben. Nun ist nicht zu leugnen: es ist ein bedeutender Theil der alten Litteratur, dem das ursrprüngliche factum fehlt, da bedarf es also einer genauen Sonderung, und Aufstellung der Prinzipien zum Behuf dieser Sonderung. Was zu der Klasse gehört, die Schriften in sich begreift, die Zeugniß für sich haben, und 2) solche, deren Tradition nicht für ein solches Zeugniß gehalten werden kann. Es führt uns das zuerst auf die Frage, was ist als Eines und ein Ganzes anzusehn, und was als ein Verschiedenes und Mannigfaltiges. Es giebt kein Buch, das nicht Theile hätte, sofern sind sie also ein Mannigfaltiges; und sofern das nur Theile sind, sofern sind sie ein Ganzes. Nun fragt [sich], wie weit erstrekt sich das Zeugniß, auf das Ganze und alle Theile, oder auf einzelne Theile? Je mehr die Theilung so ist, daß das Ganze ein gegliedertes ist, so kann das Zeugniß nur auf die große Einheit gehn. je mehr es nur 1 Aggregat ist, um so mehr ist zweifelhaft, ob die Einheit 37 gehn] ist
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nicht auf einzelne Theile geht. Wir wollen uns das an 1 der ältesten Beispiele deutlich machen. Was ist die Iliade; sind die einzelnen Gesänge nur Glieder des Ganzen; oder sind die einzelnen Theile das ursprüngliche, und ist das Ganze nur 1 Collection der Einzelnen. diejenigen Kritiker, die von der Vorstellung der Epopöe ausgingen, behaupteten das Erste; diejenigen, die von der Geschichte der homerischen Gesänge ausgingen, das zweite. Die Ersten werden die Möglichkeit gar nicht zugeben, daß einzelne Gesänge könnten einen andern Verfasser haben. Denken Sie an die ganze Collection der aristotelischen Schriften, man kann nicht leugnen, daß sie ein System bilden; Aristoteles hätte sich unvollkommen dargestellt, wenn er ein Glied darin hätte fehlen lassen. Aber von der andern Seite kann man sagen, gesetzt Aristoteles hätte, seitdem das in ihm gelebt, auch die Absicht gehabt es ganz darzustellen; so ist doch jede einzelne Schrift ein in sich geschlossenes Ganze, und wenn das Ganze nur 1 Collection wäre, so wäre das Ganze als Ganzes unsicher, jede einzelne Schrift müßte sich selbst beweisen. Je mehr sich der Charakter einer solchen Kollektion zeigt, um so mehr neigt sich das Ganze zu dem Zufälligen hin. Das trifft besonders die Sammlung der platonischen Schriften, die kein solches System enthalten; man darf da nicht sagen, weil einige Schriften darunter unbezweifelt durch Zeugniße beglaubigt sind, muß auch die ganze Sammlung beglaubigt sein, und ein Theil darf nur bezweifelt werden aus ganz besonderen Gründen. Nein, jede Schrift muß als ein in sich geschlossenes Ganze betrachtet, bezweifelt, und als authentisch nachgewiesen werden. – Nun ist noch ein besonderer Fall. Es finden sich in vielen Schriften einzelne eingelegte Stücke. Wo also auch das Ganze eine gewisse innere Einheit hat, das Ganze zum Verhältniß der einzelnen Theile? wir können nicht anders, als zunächst noch an das vorige anknüpfen. Ein andrer Fall wird sich schon sehr der Sache nähern. Denken Sie sich das Werk eines Dichters, aus lauter kleinen Theilen bestehend, wie die anakreontischen, so ist man schon einig, daß viele in diese Sammlung gekommen, die nicht dem Anakreon angehören. Es ist das eine Allgemeinheit des Typus, wo viele Nachahmungen statt gefunden haben; und man muß die Möglichkeit frei lassen, daß Nachahmungen und einzelne Stücke anonymer Schriftsteller mit in diese Sammlung kamen. Hier ist keine Einheit des innern Zusammenhangs, sondern nur eine Allgemeinheit des Typus. Wo aber eine innere Einheit des Zusammenhangs ist, sind die einzelnen Theile so zusammen gewachsen, daß sie nur aus be24–27 Variante Bötticher, S. 367: „Es giebt nun Beispiele daß auch in solchen Schriften die eine innere Einheit haben auch größere Abschnitte hineingelegt oder angehängt sind, wie verhält sich da die Gewißheit der Theile zu der des Ganzen, was in der That eine innere Einheit hat?“
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sondern Gründen können angezweifelt werden. [Die folgende Stunde fehlt bei Braune und wird darum nach Böttichers Nachschrift wiedergegeben:] Wir haben gesehn wie sich die Sicherheit theilt und worauf sie in jedem Falle beruht und wie sie abnimmt jetzt gehn wir zum zweiten Theil sofern die Sicherheit nicht auf dem ursprünglichen Factum und auf sichern Zeugnissen beruht wie entsteht sie da? Wir müssen wieder ÐdieÑ ganze ÐLinieÑ durchmessen wiefern es ein minimum und ein maximum von Handlungen sein kann dies zu finden, nur wenn wir das Ganze übersehn wird sich ergeben wiefern man das Factum so oder so entstanden ansehn kann. Die gleichzeitige Publication der Schrift und des Namens und die vollgültigen Zeugnisse dafür fehlen wie entsteht dieses daß die Schrift einem Autor beigelegt wird? Dasselbe geschieht noch jetzt oder will geschehn bei anonymen Schriften, es gelingt nicht aber die Tendenz ist ein mehr oder minder verbreitetes Urtheil, der Punct ist also ein wahrscheinliches Urtheil welches das Factum ergänzen soll, das kann ein Element werden die Schrift dem Verfasser wirklich beizulegen, doch das ist nicht das Ganze, was liegt wol noch zu beiden Seiten dieses kritischen Urtheils. Wie kann eine solche Beilegung entstehn auch ohne vorhergegangenes Urtheil. Ist kein Grund für Zeugnisse oder auch kein Urtheil da so kann das Factum nur aus einem Mißverstande hergekommen sein. Es kann ein unkritisches Urtheil zum Grunde liegen eine bloße Folgerung die an Gedankenlosigkeit gränzt so daß das Resultat völlig zufällig erscheint. Findet jemand eine große Aehnlichkeit der anonymen Schrift mit der eines andern so kann er glauben daß die Schrift wirklich von jenem herrühre, das ist ein kritisches Urtheil schreibt er aber sein Urtheil als Thatsache dabei so hängt das mit dem eignen Urtheil nicht mehr zusammen und wird so das Urtheil für ein Zeugniß gehalten und aus frühern Thatsachen abgeleitet so entsteht die Meinung nicht worauf das kritische Urtheil gegründet sondern auf einer von diesem unabhängigen falschen Thatsache beruhend. Je mehr dabei Bewußtsein ist um so mehr ist auch Schuld dabei doch für die kritische Aufgabe ist das ÐeinerleiÑ. Denken wir uns einen andern Fall: man hat angebliche Briefe aus dem Alterthum die geschichtlich bekannten Personen beigelegt sind, diese Personen sind aber aus solchen Zeiten wo es unwahrscheinlich ist daß solche ÐkleinenÑ Aufsätze aufbewahrt sind. Es zeigte sich nachher daß sie nur Rhetorische Aufgaben gewesen sind von den Lehrern als Typen oder als Nachbildungen von den Schülern gemacht. Hier war also ursprünglich nur ein Miß4–5 jedem] jeden
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verständniß weil man an solchen Fall gar nicht dachte[;] sowie ein solches Beispiel da ist so erregt das gleich Verdacht. Es fiel Anfangs noch gar Niemandem ein die Briefe des Platon zu bezweifeln und die Sache ist noch nicht ausgemacht manche wären ein großes imitatorisches Kunststück manche nicht. Das führt uns nun noch auf eine andere Entstehungsweise solcher Thatsachen: Fast alle unsre Handschriften von den größern Werken des Alterthums umfassen nur Theile und es ist nicht mal wahrscheinlich daß dazu gehörige Stellen verloren gingen, jeder ließ sich nur abschreiben was jedem interressant war, und so wurden auch die Handschriften für den Verkauf nur gemacht. Da ist natürlich daß auf derselben Stelle das authentische Werk eines Schriftstellers und ein ähnliches anonymes Werk standen. Ein späterer Abschreiber bezog den Namen des ersten auf Beide und so entstand ein Name auf ganz äußerliche Weise aus Mißverständniß. Nun fragt sich, steht noch eine andere absichtlichere Möglichkeit da? Wenn einer ein Urtheil über eine anonyme Schrift fällt so will er nicht daß jemand es nicht als solches ansehn soll, denn wenn er es für recht hält wird er sich den Ruhm dieser Auffindung nicht nehmen lassen, doch hat es sich schon verbreitet dann schreibt man den Namen des Verfassers ohne weiteres bei und das ist dann wieder ein Zufälliges. Läßt sich aber wol auch denken daß jemand sein Urtheil absichtlich für Thatsache ausgebe. Das ist der eigentliche kritische Betrug den muß man sich aber natürlich erklären können. Betrachtet jemand sein Urtheil als Kunstwerk so wird er es nicht für etwas anderes ausgeben um seinen Ruhm nicht einzubüßen, aber sofern das ein Mittel sein soll zu einem anderweitigen Zweck, so läßt sich dergleichen wol denken. Wir haben einen solchen casus in terminis so daß die Kritiker jetzt ziemlich einig sind. Es sind die Sibyllinischen Verse denen viele spätere eingemischt sind um als alte Argumente zu dienen, da ist der kritische Betrug leicht zu erklären. Dasselbe können wir uns auf dem philolophischen Gebiete denken, will jemand seine Meinung geltend machen so kann er sie leicht einem großen Mann unterschieben. (so manche pythagoräische Fragmente) So also kann man sich den Fall des kritischen Betrugs vorstellen, aber die Absicht des Trugs muß klar sein. – Das Äußerste Glied also ist der äußere Mißverstand wenn zwei Schriften auf Einer Rolle stehn, hier ist gar kein kritisches Urtheil aber negativ muß es doch mit gewirkt haben (die folgende Schrift wird doch wol müssen ähnlich gewesen sein) Das
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26 terminis] folgt ÐausÑ; wohl gestrichen
9 Die fehlerhafte Form ,interressant‘ begegnet häufig in der Goethezeit.
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andere äußerste Glied ist die absichtliche Unterschiebung da ist kein kritisches Urtheil doch es muß eine Beziehung und Wirkung auf das kritische Urtheil anderer da sein. Zwischen diesen Grenzen müssen alle Fälle liegen wenn eine Schrift jemandem fälschlich zugeschrieben wird. Die Thätigkeit der Kritik muß ehe der Verdacht entsteht anfangen, so steht nun die Sache so: Die angegebenen Verfasser der alten Zeit sind ohne gültiges Zeugniß immer unsicher man müßte also die ganze Vorkritische Periode der Literatur sichten und sondern, und fragen wie viel oder wie wenig Grund ist auf die Tradition zu bauen? zugleich muß ich fragen ob es eine Art giebt wie auf falsche Weise die Beilegung entstehn konnte, je mehr das sich zeigt um so mehr wächst der Verdacht und die innern Gründe müssen so stark hervortreten daß sie wirklich die Unsicherheit überwiegen. Das Urtheil über die Größe des Verdachts ist allerdings sehr schwierig. Zwei Puncte heben sich besonders heraus; das eine betrifft solche abgerissenen Stücke die in spätern Schriften als aus Werken früherer Schriftsteller angeführt werden, haben die späteren Schriftsteller argumentirende Tendenz so daß die Anführung ihnen Gewinn bringt so entsteht wieder Verdacht, der durch andere Begründung erst wieder verschwindet. Es kommt noch darauf an: ob das Werk damals als es citirt wurde noch vorhanden und verbreitet [war], sofern sich dies nachweisen läßt verschwindet der Verdacht, waren die Schriften selten und unbekannt so wächst der Verdacht der Schriftsteller konnte ja nach einer andern Citation citiren wie es oft bei den KirchenVaetern und den alten Commentatoren der Fall war und man muß mit großer Behutsamkeit hiebei verfahren. Die Voraussetzung daß jemand solle eine ganze Schrift verfaßt haben und sie einem andern untergeschoben, diese ist die allerschwierigste. [Es folgt wieder Braunes Text:] Nun hat aber Niemand Ursache zu glauben, daß diese Unwahrheiten werden in größerm Maaße gemacht werden, als der Zweck fordert, deshalb wohl einzelne Stellen, nicht aber ganze Schriften. Nun würden wir die Sache von dem andern Gesichtspunkt aus zu betrachten haben. wenn eine Tradition da ist, was können, abgesehen davon, daß die tradition kein Zeugniß ist, für Gründe eintreten, die Tradition in Zweifel zu ziehn. von diesem Standpunkt gehen die meisten Kritiker aus. Wenn wir auch für diesen Fall schon früher sahen, daß das Ganze dann eine unsichere Thatsache ist, so entsteht doch noch keine Aufforderung, den Verfasser wirklich auszumitteln. Man wird die Unsicherheit anerkennen, aber ohne daß etwas weiteres geschieht. Das Inter8 und] folgt zu
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esse kann von verschiedenen Seiten ausgehn; aus Interesse an einem Schriftsteller, aus Interesse am Gehalt der Behauptung, sofern es einen Unterschied macht, ob derjenige, der dies behauptet, der gewesen ist oder ein anderer. Oder es kann das Interesse auch ein rein historisches sein; das letzte wird am meisten Unpartheilichkeit zulassen, nehmlich bloß aus der Schrift selbst und ihren äußerlichen Beziehungen zu untersuchen, ob die Unsicherheit sich in eine Unwahrscheinlichkeit verwandeln, oder durch eine Wahrscheinlichkeit wieder wird aufgerichtet werden. In das allgemeine Interesse wird sich jedes specielle verwandeln müßen, wenn seinen Resultaten Andre beipflichten sollen. Hat Jemand ein besonderes dogmatisches Interesse, oder ist er in der Vorliebe für einen Schriftsteller befangen, so sind seine Untersuchungen mit großer Vorsicht zu gebrauchen. Wo man nichts als das rein historische Interesse sieht, steht der Richtigkeit der Untersuchung nichts im Wege, es kommt dann bloß auf das kritische Talent an. Ist also die Unsicherheit einer solchen Thatsache anerkannt, so entsteht für den, der Interesse am Alterthum hat, die Aufforderung, die Thatsache, die als gar nicht vorhanden anzusehn ist, zu ergänzen. Ich muß den ebengebrauchten Ausdruck rechtfertigen. nehmlich eine Tradition ganz auf Null herabsetzen, und thun, als wenn der Fall, eine anonyme Schrift zu untersuchen wäre, heißt ihre historische Dignität ganz verwerfen, und das darf man doch nicht ganz. Der Ausdruck heißt also nur die Unsicherheit ergänzen, entweder sie auf diesen Punkt bringen, oder sie wahrscheinlich machen. Mehrere Gründe zusammen, bilden schon eine größere Wahrscheinlichkeit. Das ist einer der schwürigsten Punkte im ganzen critischen Geschäft, worüber sich keine einzelnen Regeln geben lassen, es geht das auf das critische Gefühl zurük. Ich meine, es ist das schwerste Geschäft, solche Spuren, die nur auf eine Möglichkeit hinweisen[,] auf die richtige Art zu kombiniren, weder zu viel noch zu wenig darauf zu geben. Wenn wir das neulich Auseinandergesetzte resumiren, auf wie vielerlei Weise es zugehen kann, daß sich eine grundlose Tradition bildet, so sind das lauter Einzelnheiten, die zusammen kein Ganzes bilden. Denn das kann Niemand behaupten, daß diese verschiedenen Traditionen auf verschiedenen Wegen zugleich entstanden wären. Gesetzt also es wäre eine Stelle, wo eine sichere und eine unsichere Schrift eines Verfassers zusammenstehn, und es finden sich später andre Stellen noch, wo auch beide zusammenstehn, die 2te aber ohne Namen, so kann die 2te die erstere Stelle sein, und die erstere die letztere, nur der Name zugesetzt. Es kann aber auch bloß durch ein critisches Urtheil der Name zugesetzt sein. Beide verschwinden aber in einander, denn ich kann sagen, wenn ein critisches Urtheil da war, so kann es sich
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fortgepflanzt haben ohne daß jene Stellen da waren. Keines bringt also zu dem Andern etwas hinzu, dagegen wollen wir gleich aus diesem Fall heraus noch einen andern entwickeln. Wir gehn aus vom Fall der beiden Stellen, und sagen, es kann die Stelle wo beide Schriften denselben Namen führen, entstanden sein aus einer andern Stelle wo die 1 anonym war, so bekommt das eine Wahrscheinlichkeit, wenn es sich nachweisen läßt, daß die Stelle, wo die 1 Schrift anonym ist, die spätere ist. Da stimmen beide Indicia zusammen. Wenn also mehrere Indicien die Wahrscheinlichkeit vergrößern sollen, so kommt es nur darauf an, daß sie zusammenstimmen. Wo das nicht ist, mag man noch so viele indicien zusammenbringen, und man hat kein Recht zu behaupten, daß die Wahrscheinlichkeit dadurch größer geworden. Wir werden die Sache also so stellen können: die tradition wird um so unsicherer, je mehr Möglichkeiten sich zu erkennen geben, wie eine Unterschiebung hätte zu Stande kommen können; nicht aber die Unterschiebung selbst; diese nur, je mehr indicien zusammenstimmen. Es ist das so oft ein Fehler derer, die die Tradition in Schutz nehmen gegen die critischen Indicien. Nehmlich die Unwahrscheinlichkeit eine Schrift zu beweisen, hängt von vielen einzelnen Sachen ab. wenn nun da die Vertheidiger sagen, jenes könnte so und so auch zusammenhängen, dieses so und so, es lassen sich aber seine Einzelnheiten dagegen, nicht zusammenreimen, so läßt sich sein positives nicht addiren; jenes Negative aber wohl. Also die Tradition wird dadurch unsicherer, das Absprechen einer Schrift gewinnt aber nur Wahrscheinlichkeit durch das Zusammentreffen mehrerer negativen Merkmale, die unter sich zusammenhängen. Wenn wir nun hier wollen auf die richtigste Weise verfahren, so müßen wir uns die Sache so denken; wenn ich dahinter gekommen, daß die Tradition die dem Verfasser eine Schrift beilegt, kein Zeugniß ist, so muß ich mich so stellen, als ob das nicht wäre; und sagen, alle Gründe, die einem Verfasser eine Schrift absprechen, haben sofern nur Autorität, als das auch der Fall gewesen wäre, sofern die Tradition gar nicht unsicher wäre. Nehmlich, wenn die alten Kritiker auch nicht einzelne Dialoge des Plato für unächt gehalten hätten, sondern diese mit völligem Recht unter den übrigen platonischen Schriften stünden, so würde jeder, der nur einige critische Kenntniße hat, doch dahin kommen müßen, zu sagen, diese Schriften können nicht dem Plato zugehören.
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Alles was, wenn die Unsicherheit der tradition anerkannt ist, eine weitere kritische Untersuchung veranlaßt, muß ein Verdacht sein, daß die unsichere tradition auch unrichtig sein könnte. Das Maximum ist da, wenn die Verdachtsgründe einem Zeugniße gleich gelten, daß die Schrift nicht dem Verfasser angehöre, dessen Namen sie trägt. Hierin finden wir zugleich den Inhalt der ganzen Untersuchung angegeben, und also auch die Methode, die dabei einzuschlagen ist. Es gehört dazu eine möglichst vollständige Kenntniß von dem, was ich den Lebens-Kreis des Verfassers genannt. Wenn nun aus der Vergleichung folgt, daß aus dem LebensKreise dem Verfasser die Schrift nicht habe zugeschrieben werden können, so ist die Sache so gut als ausgemacht. Es ist aber das ein repräsentatives Zeugniß, und hat nur sofern Gültigkeit, als man sich in die Lage derer versetzen kann, die den Lebens-Kreis des Verfassers bildeten. Das bleibt also etwas unsicheres; kommt aber etwas Objectives als Ergänzung hinzu, so ist das Urtheil erst vollkommen bestätigt; das müßte etwas sein, was ausdrücklich, wenn auch nur indirect sie diesem Verfasser abspricht. Nun ist schon immer vorausgesetzt worden und versteht sich von selbst, daß von einer solchen Untersuchung nur die Rede sein kann, wenn es noch andre Schriften, oder Notizen über Leben und Schriften giebt, d. h. wenn außer dem, daß ihm die Schrift beigelegt wird, er eine historische Person ist. Das beschränkt sich jedoch darauf, daß die Schrift um ihrer selbst willen gesucht wird. Kommt aber noch ein anderes äußerliches Interesse hinzu, so ist es wichtig den Verfasser zu kennen, wenn er auch keine historische Person ist. Würde z. B. eine Schrift von wissenschaftlichem Inhalt einem Verfasser, der sonst unbekannt ist, zugeschrieben, so ist das etwas so sehr unwichtiges. Sage ich aber nun, die Sätze dieser Schrift müßen also in jener Zeit schon geltend gewesen sein, und es ist das noch nicht so ausgemacht, so bekommt die Sache ein anderes Interesse. Es handelt sich aber dann nicht um die Person, sondern um die Zeit. Die Frage also, ob die Schrift einem Verfasser angehört, ist die untergeordnete; dagegen die, ob sie einer bestimmten Zeit und Raum angehört, die überwiegende. Zeit und Raum sind aber unzertrennlich; da erweitert sich also die Region, worin die Verdachtsgründe liegen können; der Verfasser steht als ein Einzelner in einer bestimmten Zeit und Raum. Ein Verdacht gegen die Zeit und den Raum ist also ein Verdacht gegen den Verfasser selbst; die Schrift bekommt dann eine ganz andre historische Stellung. Nun gingen wir davon aus, daß nur das rein historische Interesse unpartheiisch bleiben kann. Die historischen Gründe bilden deshalb auch die 1 7/3] 7/2
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höchste und wichtigste Klasse. Nun liegt die Frage aber nicht immer so, sondern es giebt auch Fälle, wo wenn Zeit und Raum auch ausgemittelt sind, die Sache noch nicht berührt wird, sondern wo es sich rein um die Persönlichkeit handelt. Es kann z. B. eine Schrift sehr den Charakter des Augenzeugen tragen, so daß es keinem Zweife unterliegt, daß sie dieser Zeit angehört. Wenn aber die Schrift einem angehört, der sonst schon historische Glaubwürdigkeit hat, so ist die Sache viel sicherer. Da ist also ein Verdacht gegen die Persönlichkeit schon sehr bedeutend. Es würde also der Mühe lohnen, beides zu sondern 1) von den allgemein historischen, 2) von den mehr persönlichen Gründen zu handeln. Hier giebt es mehrere entscheidende Punkte. Ein Verdacht kann nur entstehn aus dem Gegensatz einer Einzelnheit gegen das allgemeine Bild, das man sich entwerfen muß, wenn die Tradition eine Schrift einem Verfasser beilegt. Wer diese Sachkenntniß noch nicht hat, und noch nicht das allgemeine Bild entwerfen kann, kann diese kritische Untersuchung nicht beginnen. Dazu ist also eine genaue Kenntniß der Sprache und der Litteratur nothwendig. Dies allgemeine Bild ist zuerst die allgemeine Vorstellung von dem, was zu der Zeit, als die Schrift geschrieben wurde bestand, oder was noch nicht bestand, oder nicht mehr bestand. Da haben wir also auf 3erlei zu sehn. Je mehr eine Schrift zusammenstimmt mit dem, was damals galt, um so weniger Gründe zum Verdacht. (= indirecte Bestätigung der Richtigkeit). Nun fragt sich, kann mit Recht ein Verdacht entstehn gegen den prätendirten Urheber einer Schrift daraus, daß Sachen darin vorkommen, die damals nicht mehr bestanden, und 2) aus solchem, das damals noch nicht bestand? Umstände der letztern Art begründen und bestätigen sogleich den Verdacht, Umstände der erstern Art aber nur unter gewissen Bedingungen. Eine Schrift ist ein Zusammenhang von Gedanken; die Gedanken haben einen Inhalt, sie werden aber mitgetheilt durch die Sprache. Die Sprache ist ein allmählig in größeren oder geringeren Zeiträumen wechselndes, sowohl in Beziehung auf ihre Elemente, als in Beziehung auf ihre Combinations-Weise. Wie ist es nun, wenn in einer Schrift etwas vorkommt, was nicht bestehend in dem damaligen Sprach-Gebiet angesehn werden kann. Dies kann nicht sogleich Verdacht erregen. Nehmlich es giebt in jeder Zeit eine Art und Weise, Veraltetes noch zu gebrauchen. Archaismen in der Sprache sind deshalb kein Verdachtsgrund, sondern bloß ein Incitament Acht zu geben auf das, was in der Zeit und dem bestimmten Ort als Archaismus bestand. Nun sofern es diesem widerspricht ist es ein Verdachtsgrund unter der Bedingung der Vollständigkeit und Unsicherheit meines allgemeinen Bildes. Dazu gehört aber eine große Genauigkeit der Kenntniß. Man kann also darauf nicht unmittelbar et-
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was geben; sondern es sind dies Gründe der 2ten Ordnung, die anderes bestätigen. Sehen wir nun auf den Inhalt; so erregt, wenn sie dem Zeitalter und Vaterland angehören, keinen Verdacht, ist aber noch keine Bestätigung der Tradition. Wenn nun Vorstellungen vorkommen, die damals nicht Gäng und Gäbe waren, so wäre das ein starker Grund, aber nur sofern die Verfasser diese Gedanken als ihre eignen vortragen. Da haben wir allerdings ein in mancher Beziehung Leichteres und Sicheres. Nur kommt es darauf an, daß man sich eine leichte und sichere Vorstellung von der allmähligen Entwicklung des Gedanken-Kreises machen kann. kann man das gut; wenn nicht, so bekommen die Verdachts-Gründe erst Vollständigkeit, nachdem sich das Bild vervollständigt. Sehen wir endlich auf das Objective der Vorstellungen, die Gegenstände; und wir finden, daß von Gegenständen, die damals nicht mehr vorkamen, nicht mehr in historischer Beziehung gehandelt wird, so kann die Schrift nicht diesem Zeitalter angehören, oder nur sofern man behaupten kann, es ist von etwas als einem Bestehenden die Rede, das in der Zeit des Verfassers nicht mehr bestanden hat. Nun auf dieselbe Weise verhält es sich damit, wenn etwas vorkommt und Verdacht erregt, was noch nicht vorhanden war. Da wird es vollkommen klar sein, wenn in einer Schrift ein Gegenstand behandelt wird, der noch gar [nicht] existirt, als er schrieb. Allerdings giebt es hier noch 1 Ausnahme; das Urtheil trifft nur die Stelle, in welcher der Gegenstand vorkommt. Gehört diese Stelle nicht in den Zusammenhang, wird die ganze Schrift dadurch noch nicht afficirt; wohl aber, sofern die Stelle in den Zusammenhang gehört, und keinen Verdacht gegen sich hat. Derselbe Grund kann also gebraucht werden als Verdacht gegen die Stelle, wenn die Stelle der Schrift nicht angehört; und ebenso gegen die ganze Stelle, wenn sie dem Zusammenhang angehört. Eine solche Stelle müßte so lange ruhn, als noch nicht ausgemacht ist, daß die Stelle in die Schrift hineingehört. Der Verdachtsgrund gegen eine einzelne Stelle hört auf, wenn es ausgemacht ist, daß die Schrift doch nicht dem Verfasser angehört. Die eine Operation bedingt also hier die andre. Wenn wir nun die verschiedenen Gründe mit einander vergleichen, so werden wir wohl sagen müßen: Gründe aus dem Zustand der Sprache genommen, müßen sehr genau und vollständig sein, um einen Verdachtsgrund zu geben; denn die Behauptung, es könne damals nicht so gesprochen worden sein, ist sehr schwürig. Die Gründe der letztern Art sind dagegen viel sicherer, weil sich eher aufzeigen läßt, diese Gegenstände fingen erst da und da an; 4 Vaterland] Vatrerland
11 bekommen] bekommt
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das geht aber vom SprachGebrauch nicht. Aber es kann nur selten sein, daß wir so genaue Kenntniß der Vorstellungen und Sprech-Weise und der Gegenstände, wenn sie nicht bestimmt geschichtlich sind, haben sollten, und daß solche Schriften einem frühern Schriftsteller sollten zugeschrieben werden; es setzte dies voraus, daß das Werk gar keine kritischen Bearbeiter hatte. Deshalb ist gewiß, daß Untersuchungen dieser Art selten zu einem bestimmten Ziel führen; vorzüglich muß man sich hüten, daß man hier nicht historische Vorurtheile zum Grunde lege. Auch von wirklich gelehrten Philologen wird oft die Meinung aufgestellt, daß diese oder jene Ausdrücke erst in späterer Zeit aufgekommen sind; und bei fleißigem Nachsuchen findet man sie doch in frühern Schriftstellern. Nun wäre noch das Zweite übrig, was sich auf den Verfasser allein, nicht auf seine Zeit bezieht. Hier konnten nur Untersuchungen angestellt werden, als man vom Verfasser Schriften oder persönliche Nachrichten hatte, die eine Vergleichung zulassen. Das ist das gewöhnlichste Gebiet der Kritik für die classische Litteratur. Lassen Sie uns sehn, indem wir der Analogie mit dem Vorigen nachgehn, worin die Gründe liegen können. Gesetzt nun es wäre eine Vergleichung möglich der anerkannten Schriften eines Schriftstellers und der unächten. Wenn man einen Schriftsteller fleißig traktirt, so bekommt man ein allgemeines Bild von seiner Verfahrungs-Weise. Es können in einer Schrift Ausdrücke vorkommen, von denen man behaupten kann, sie liegen außerhalb seines SprachGebiets, Vorstellungen, von denen man behaupten kann, sie kämen sonst bei ihm nicht vor, endlich Gegenstände, die der Verfasser nicht behandelt, oder von denen er gar keine Kenntniße hatte. Wir haben es hier mit lauter negativen Ausdrücken zu thun, die an sich unendlich sind, und denen man keine absolute Gültigkeit zuschreiben kann. Denn wenn in der Sprache nicht etwas notorisch fremdes ist, so läßt [sich] nicht unumstößlich behaupten, daß der Schriftsteller nicht so könne geschrieben haben. Ein Schriftsteller hatte allerdings ein Recht, daß man ihm ein bestimmtes Verhältniß zur Sprache zuschreiben soll, und daß man dies soll konstruiren. Nun ist in der Sprache ein Gesetz- und Regelmäßiges, es ist aber auch überall ein Abweichendes. Ist das von der Art, daß es gegen die ersten Grundsätze der Sprache anstößt, so verräth es einen großen Mangel von Kenntniß, wenn das unüberlegt in einer Schrift vorkommt. Je bedeutender ein Schriftsteller für die Sprache ist, um so weniger kann man ihm Ausdrücke zutrauen, die mit dem Wesen der Sprache widerstreiten. Allein 9–10 diese ... Ausdrücke] dieser oder jener Ausdruck 30–31 Verhältniß] Recht 32 Gesetz-] Gesetz
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aus solchem Fall kann allein noch kein Verdacht gegen die Schrift entstehn, (nur gegen die Stelle) wenn wir bloß noch auf dem Standpunkt der unsichern tradition stehen; nur wenn es ganz unmöglich wäre, die Stelle zu berichtigen, könnte ein solches factum einen Verdacht erregen. Es ist also das ein solcher Grund, der erst etwas erfodert, wozu er addirt werden muß. Aber einen Verdacht zu begründen, ist er nicht groß genug. Wenn aber viele Fälle sich nicht wollen grammatisch erklären lassen, so verstärkt sich doch dieser Eindruk, und es wird immer wahrscheinlicher, daß diese Ausdrüke die ursprünglichen waren, und dann nimmt auch die qualification solcher Stellen zu, einen Verdacht zu begründen. Aber es läßt [sich] das nur von solchen Stellen behaupten, die gegen das Wesen und den Geist der Sprache, wie es im Gefühl des Schriftstellers niedergelegt ist, widerstreiten. Wir haben also noch ein Analogon davon, daß die Untersuchung in ein weiteres Gebiet fällt, nicht in die bloße Persönlichkeit, nehmlich die gleichzeitigen Hauptschriftsteller einer Periode bilden ein Ganzes; da käme es also noch darauf an, zu beweisen, daß diese Schrift diesem Zeitalter nicht angehören kann. Nun gehört jede Schrift einer bestimmten Gattung an, die aber in jeder Zeit verschieden ist. Es ist also vom Gattungscharakter eines Zeitalters die Rede, und die Persönlichkeit bleibt noch aus dem Spiel. Der bestimmteste Unterschied ist hier der zwischen Prosa und Poe¨sie. So finden sich in dem macedonischen Zeitalter prosaische Ausdrücke, die sonst nur in der Poe¨sie vorkamen. Wenn also in einer Schrift aus früherer Zeit so etwas vorkäme, ließe sich zeigen, daß die Schrift nicht diesem Zeitalter angehörte. Geht man aber nun mehr ins Einzelne, so wird es schon schwürig; es muß sich auch jedesmal bei einem gebrauchten poe¨tischen Ausdruk in einer prosaischen Schrift auch nachweisen lassen, daß es keine Anspielung ist. Wenn man nun hier schon mit großer Behutsamkeit verfahren muß, um wieviel mehr noch in den Gattungen der Prosa. Ein fingirtes Beispiel. Plato und Aristoteles sind beides philosophische Schriftsteller, und das wissenschaftliche SprachGebiet beider einmal bestimmt. Fänden wir nun im Aristoteles einen Ausdruck, der sonst beim Plato begegnet, so würden wir sagen, obgleich sich dieser nicht aus dem philosophischen SprachGebiet ausschließt, so kann ihn doch Aristoteles nicht gebraucht haben, weil er sehr enthaltsam darin sei. Es geht also dies nicht sowohl auf den Gattungscharakter, sondern mehr auf die Persönlichkeit. Beide sind in demselben SprachGebiet. Aber beim Plato kommen viele Annäherungen an das rhetorische und poe¨tische Gebiet vor, wovon sich Ari13 widerstreiten] behaupten
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stoteles frei gehalten. Es ist das Sache des Gefühls, aber es laßen sich darüber keine bestimmten Regeln aufstellen. Gehn wir nun auf das Zweite, die Vorstellungen, die einem Schriftsteller nicht angehören können. Da scheinen Widersprüche das allerbestimmteste zu sein. Allein jeder änderte doch mal seine Überzeugung. Um also eine Schrift einem Schriftsteller abzusprechen, genügte nicht bloß ein Widerspruch mit 1 andern Stelle, sondern ich müßte behaupten können, daß der Schriftsteller in dieser ganzen Zeit nicht anders kann gedacht haben. Dann macht es noch einen großen Unterschied, ob man einen Gegenstand ex professo behandelt, oder ob der Gegenstand bloß gelegentlich in einer andern GedankenReihe vorkommt. Da wäre das Urtheil sehr übereilt, wenn man daraus, daß eine Stelle der letztern Art einer der ersten widerspricht, den Schluß ziehn wollte, die Schrift sei unächt. Denn im letztern Fall hat der Schriftsteller den Gedanken nicht zu derselben Klarheit erhoben. Wo also die Absicht eine andre ist, als seine Denkungsart über einen gewissen Gegenstand kund zu geben, so kann man auf einen solchen Widerspruch nichts geben. Endlich drittens. Es werden Gegenstände behandelt, die nicht in dem Complex von Gedanken des Schriftstellers gelegen haben, also kann ihm auch die Schrift nicht angehören. Man sieht gleich, wie das Urtheil, das auf einer solchen Negation beruht, ein schwer ins Licht zu setzendes ist. Ein Gegenstand kann später erst zur Kenntniß gekommen sein; oder schon im Schriftsteller gewesen. Es würde das voraussetzen, daß wir die vollständigen Thatsachen des Bewußtseins eines Schriftstellers kennen: Es ist zwar ein gewisser Zusammenhang unter den schriftlichen Werken eines Verfassers. Aber jede Schrift geht doch aus dem Leben hervor, und so kann wohl in eine Schrift etwas hineingekommen sein, was nicht in die andern gekommen ist. Und so werden wir wohl nicht ein exclusives Urtheil fällen können, das sich auf die Persönlichkeit des Schriftstellers allein bezöge. Dagegen könnte sich vielleicht nachweisen laßen, daß Männer bestimmten Standes sich nicht mit Gegenständen einer bestimmten Art beschäftigten. Dann geht es aber nicht bloß auf die einzelne Persönlichkeit, sondern auf eine ganze Klasse. Alles dies hat nur Grund, sofern es auf etwas Allgemeines geht. Giebt es aber nun nicht etwas, was sich bloß auf die Persönlichkeit bezieht? Wir müßen hier zuerst zum Grunde legen eine möglichst genaue Kenntniß von seinem materiellen Ideen-Besitz und der Art, damit zu verfahren. Wir kommen hier darauf zurük, was wir bei der Hermeneutik zum Grunde legten, wo es darauf ankam, die Schrift aus den Akten der Composition zu erklären. Dort setzte ich hermeneutisch voraus, daß die
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Schrift dem Verfasser zugehöre; hier ist der Zweifel vorhanden, und es fragt sich, ob die Schrift in seinem geistigen Zustand und VerfahrungsWeise aufgehen kann. Nun müßen wir hier die verschieden Momente, auf die es ankommt, uns nur vorhalten, und sie richtig würdigen. Wir können nun hier zuerst im Allgemeinen unterscheiden, Gründe, die aus dem Ganzen einer Schrift hergenommen sind, und Gründe aus einzelnen Stellen genommen. In dem Ganzen einer Schrift ist nun zu unterscheiden, Inhalt und Form; nach einer gewissen Form der Behandlung können gewisse Theile des Gegenstands entweder gar nicht, oder nur bedingt betrachtet werden. Will man nun aus dem Inhalt einer Schrift Gründe hernehmen, um sie einem Verfasser abzusprechen, so können das auch verschiedene sein: die Gründe können mehr auf die Quantität des Inhalts zurükgehn, oder mehr auf die qualität. Das Letzte wenn man sagen kann, der Schriftsteller kann sich mit diesem Gegenstand nicht so beschäftigt haben, daß er könnte Verfasser der Schrift sein. Der quantität nach, wenn der Gegenstand zu dürftig oder zu reichhaltig für den Schriftsteller ist. Nun gehört eine genaue Kenntniß des litterarischen Lebens eines Menschen [dazu], zu behaupten, daß Kenntniße, die doch in seinem Zeitalter lagen, ihm völlig, oder doch bis auf einen gewissen Grad fremd blieben. Wir machen ja so oft die Erfahrung, daß gelehrte Menschen sich im höhern Alter noch auf ein andres Fach werfen. Die frühern Gegenstände seines Lebens werden ausdrüklich bezeugt, die spätern nicht; da kommen sie also in die Kategorie der unsichern tradition, und leicht kann da die Meinung entstehn, von dieser Sparte wissen wir gar nichts. Je bedeutender der Mensch auf diesem Felde geforscht, um so unwahrscheinlicher wird das. z. B. In den meisten platonischen Dialogen finden sich keine Andeutungen auf ein Naturwissenschaftliches Studium vor, sogar Billigung der socratischen Abstraktion von der Natur-Wissenschaft. Wäre also der Timaeus nicht ausdrüklich bezeugt, so möchte man diese Schrift für keine platonische halten. Aber eben weil diese Schrift so bedeutend ist, hat sie Aristoteles so oft citirt, wie andre Schriften des Plato. Wenden wir aber das auf das classische Alterthum besonders an, so ist es unwahrscheinlich, daß ein so bedeutender Theil der Beschäftigungen dieser Menschen sollte aus der Geschichte herausgefallen sein. z. B. es ist unwahrscheinlich, daß Plato eine Theorie der Musik geschrieben hat. Aber wenn eine solche Schrift unter seinem Namen sollte aufgefunden werden, so möchte sie doch nicht ihm zuzuschreiben sein, weil wir nicht glauben können, daß sie aus dem Gebiet der bezeugten Geschichte sollte herausgefallen sein. 34 ist] folgt ,nicht‘, vielleicht gestrichen
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Was das Quantitative betrifft, so ist es leicht die Vorliebe für einen Schriftsteller, die zu einem nicht gehörig begründeten Urtheil führt. Sagt man, diese Schrift ist zu dürftig für den Verfasser, so legt man ihm eine Vollkommenheit bei, die man überall wiederfinden will. Es ist nicht zu leugnen, daß die Werke eines Schriftstellers verschieden sind; man classificirt sie ja nach der Vollkommenheit der Form und Erschöpfung des Inhalts. Das historische Bild ist nur zu wissen, was für Verschiedenheiten bei ihm in dieser Beziehung vorkommen. Das historische Interesse wird sich nur zu erklären suchen, wie eine solche Schrift von einem solchen Verfasser herrühren kann. Wir werden nun sagen, je größer die Differenz der Vollkommenheit ist zwischen den anerkannten und bezeugten Schriften und einer streitigen, je mehr entsteht die Aufgabe, das factum was von einer Seite dunkel ist, zu ergänzen. Nur läßt sich das nicht immer ergänzen; es werden deshalb noch andre Momente hinzukommen müßen, um das Urtheil, diese Schrift ist für diesen Verfasser zu schlecht, zu einem Resultat zu führen. Nun giebt es freilich noch eine Differenz des Grades, wo Einem alles Bedenken verschwindet; nur muß man sehr vorsichtig sein, daß man dahin nicht zu früh komme! Da ist also 2erlei, wodurch ein solches indicium zu einem solchen Resultat gedeihen kann. 1) das Negative wenn man sich keine Art und Weise denken kann, wie der Schriftsteller sollte zu einer solchen Produktion gekommen sein 2) das Positive, wie man darauf gekommen ist, ihm dies zuzuschreiben. Lassen Sie uns auf den allgemeinen Punkt zurükgehn und fragen, wie es zugehn kann, daß ein Schriftsteller etwas verfaßt, was sehr weit unter seinen anerkannten Schriften steht. Wir nehmen Inhalt und Form gleich zusammen. Liegen beide außer dem Gebiet, worin der Verfasser sich gewöhnlich bewegte, so konnte er doch eine dringende Veranlassung haben, eine solche Schrift zu schreiben, und um so leichter ist es zu verstehn. Liegen beide in seinem gewöhnlichen Kreise, um so schwerer, und da muß man andre Gründe aufsuchen. Das Nächste ist das: die künstlerische Vollkommenheit eines Werks, fordert einen größeren Aufwand von Zeit. Wenn etwas um eines andern Zwecks wegen geschrieben wird, der innerhalb einer bestimmten Zeit erreicht werden muß, wird das so entstandene Produkt tief unter den andern Leistungen des Schriftstellers stehn; als wir uns noch einen Unterschied denken zwischen solchen, die auch in kurzer Zeit leicht arbeiten, und solchen, die öfter überarbeiten müßen. Sobald also ein besonderer Zweck der Beziehung einer Schrift nachgewiesen werden kann, wird man sich denken, daß sie nicht die Vollkom16 Resultat] über 〈Urtheil〉
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menheit der Andern haben kann. hierbei denkt jeder zunächst an die Form. Aber es läßt sich eine gewisse Dürftigkeit des Inhalts auch erklären, wenn die Zeit hinderte tiefer einzugehn. Es kommt also darauf an, die Veranlassung und nähern Umstände bei Abfassung der Schrift kennen zu lernen. Es ist also um so weniger hier zu einem sichern Urtheile zu kommen, als es an dieser Bedingung fehlt. Je weniger man zusammenaddirbare indicien finden kann, um so mehr muß noch etwas da sein, was das absprechende Urtheil begründen kann. Ein geringer Grad von Vollkommenheit kann nur ein Mehr und Minder, also etwas Schwankendes sein. Ein Anderes ist aber, wenn man einen Widerspruch findet zwischen dem Wesen der Schrift, und dem Bilde, das man sich vom Verfasser gemacht. Darauf gründen sich auch gewöhnlich die absprechenden Urtheile. Hier kommt es also auf das Individuelle an, und die Auffassung des Individuellen läßt sich nicht aussprechen. Ich kann wohl sagen, diese Schrift widerspricht dem Bilde, was ich mir vom Verfasser gemacht. Das Individuelle läßt sich aber nicht aussprechen an und für sich. Aber es läßt sich wahrscheinlich machen, was im Einzelnen zu Tage kommen muß. Das einzelne, Individuelle läßt sich an sich nicht aussprechen, aber das Einzelne läßt sich zusammen addiren, und dann kann es doch zu etwas kommen. Wenn das Einzelne so im Innern entstanden ist, so kommt es darauf an, wie weit es sich durch Vergleichung bewähren läßt. Man muß dazu Form und Stellen mit analogen aus andern Schriften des Verfassers zusammenstellen. Da ist nun aber niemals zu verlangen, daß eine Übereinstimmung in diesem Urtheil stattfinden soll, die kann sich erst sehr allmählig erzeugen; das kommt deshalb, daß die Auffassung des Individuellen nicht bei Allen gleich ist. Der Eine sieht das Individuelle Wesen Eines anders als ein Anderer. Bei Menschen wie Plato und Aristoteles kommt das endlich zu einer solchen allgemeinen Ausmittelung, daß Schriften wie de mundo, nicht mehr dem Aristoteles zugeschrieben werden. Bei andern sind schon bedeutende Zweifel erregt worden, die Kritiker sind aber noch getheilt. Das heißt aber nur, die Sache ist noch im Schweben; gleichwohl wird diese Sache nie zu einer absoluten Gewißheit gebracht werden können, wenn nicht äußerliche Merkmale noch hinzukommen. Es giebt hier Gründe, einmal mehr negativer, dann mehr positiver Art. Unter den ersten verstehe ich die, wo es sich wahrscheinlich machen läßt, daß wenn die Schrift wirklich von dem Verfasser herrührt, hier etwas stehen würde, was sich nicht findet. Also das Vermissen. Die positiven 27 Anderer] Anderes
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sind die, wo etwas bestimmt mit dem Bilde, das man sich vom Verfasser gemacht hat, widerstreitet. Hier ist besonders auf die Sprache zu sehn. Was sich der Schriftsteller in die Sprache hineingebracht, und was er sich aus derselbigen aneignet, bildet sein besonderes SprachGebiet; was sich als Analogie dazu, oder als leichte Variation davon zu erkennen giebt, so läßt sich wahrscheinlich machen, daß er das nicht geschrieben. Das Negative beruht auf bestimmtem Grade des Ausdrucks und der Form. Hat sich ein Schriftsteller an gewissen Stellen bestimmte Ausdrücke gebildet, und es finden sich unbestimmte mehr verschwimmende Formen, und die Schrift gehört doch in das Gebiet, das der Verfasser bearbeitet hat, so läßt sich behaupten, hier müßen wir das und das erwarten. Doch ist auf die Zeit hier immer noch Rüksicht zu nehmen; wenn man in den Schriften aus derselben Zeit eine solche Disharmonie nachweisen kann, so ist das der günstigste Fall für das absprechende Urtheil. Von diesem Standpunkt aus geht die vertheidigende Kritik, die nachzuweisen sucht, daß das doch kann vom Verfasser herrühren, denn man spricht nicht immer mit derselben Bestimmtheit und arbeitet nicht immer mit derselben Aufmerksamkeit. Dasselbe, was von der Sprache gilt, gilt auch von den Gedanken, wo man nur unterscheiden muß zwischen solchen Gedanken, die wesentlich sind und solchen, die bloße digressionen sind, wie in der Hermeneutik. Es kommt hier darauf an, wie sich die Gedanken des Schriftstellers unter Andern verbreitet haben. Es kann Fälle geben, wo die Gründe gegen den Verfasser sich nur finden lassen müßen in den NebenGedanken, während die Gleichheit der Wesentlichen Gedanken sich aus der Aneignung und Verwandtschaft erklären lassen (Schule). Ebenso auf der andern Seite, die Neben-Gedanken liegen im Styl, nicht im Schematismus des Werks. Da giebt es noch etwas, was man Aneignung nennt, was gesteigert wir Nachahmung nennen. Nun kann diese Nachahmung da sein, und doch eine Verschiedenheit im Inhalt der Hauptgedanken. Sind beide Arten der Verschiedenheit vorhanden, so ergänzen sie sich, und das Urtheil wird stärker. Hier ist nun das Verhältniß zwischen der angreifenden und vertheidigenden Kritik wieder so, wie ich es schon früher auseinandergesetzt. Die Gründe der angreifenden Kritik, wenn sie richtig sind, lassen sich addiren, d. h. sie verstärken, wogegen [von] den Einzelnheiten der vertheidigenden Kritik, wenn jene richig waren, das sich nicht behaupten läßt. Das kommt wohl [daher], daß Einem mal etwas Fremdes aufliegt; und wir müßen von allen einzelnen Fällen die Möglichkeit zugeben; aber 11 behaupten] behauptet
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wenn nun das Eine daher, das Andre dorther etc kommen, um so unwahrscheinlicher wird die Vertheidigung, da dies nicht leicht Alles zusammen gekommen sein kann. Je mehr also beides zusammen kommt, Gründe aus der Sprache, Gründe aus dem Gedanken, und zwar negativer und positiver Art, um so vollständiger wird das absprechende Urtheil zur Wahrscheinlichkeit erhoben. Aber eine Gewißheit kommt dadurch nicht; Gewißheit ist auf diesem Gebiet nur geschichtlich, und die Geschichte ist nie etwas Negatives. Also nur wenn diese Gründe eine geschichtliche Gestalt annehmen, kann aus dem Negativen ein positives werden. Da muß also noch etwas hinzukommen. Z.B. also, wenn ich sage, ich glaube nicht, daß dieser Schriftsteller das und das könnte gebraucht haben, und es kommt nun Einer und sagt, diese Form ist erst von da und da an in Gang gekommen, und später als diese Schrift, so ist das ein geschichtliches factum. Aber das geht wieder über das Gebiet der Persönlichkeit hinaus auf die Geschichte hin. Ein geschichtliches factum, was sich auf die Persönlichkeit bezieht, wäre, wenn aus dem Inhalt eines Gedankens hervorgeht, daß er einer ganz entgegengesetzten Schule angehörte, und ich weiß, daß dieser Schriftsteller nie dieser Schule angehörte. Es kommt also darauf an, daß wir recht viele data haben, um uns ein solches Bild vom Verfasser zu machen. Nun aber giebt es Schriften, wo sich diese Persönlichkeit zur Schrift nicht so stellt, und auch nicht dasselbe Verhältniß zum Zeitalter. 1) Akroasen und 2) Anthologien. Das Erste sind mündliche Mittheilungen, sei es, daß sie der Verfasser selbst, sei es, daß sie ein Andrer zu Papier gebracht habe. Es ist eine fiction, daß manche platonische Dialoge mündliche Unterredungen seien, die ein Andrer zu Papier brachte. Wenigstens können wir uns das so denken. Wäre nun die schriftliche Abfassung von demselben, der die mündliche Abfassung gemacht, so ist die Methode der Ausmittelung eine ganz andre. Je mehr der Styl hier mit dem Inhalt der Gedanken zusammenhängt, so kann man das Urtheil der Zusammengehörigkeit fällen, und doch ist es falsch. Was wir hier von Socrates fingirten, gewinnt mehr Wahrscheinlichkeit, wenn wir es auf den Aristoteles anwenden; so giebt [es] 2 Rhetoriken, und 3 Ethiken von Aristoteles. Wenn man fragt, ob Aristoteles sie alle 3 geschrieben, so ist nicht die Meinung, sie seien aus einer andern Schule, noch aus einem andern Zeitalter, auch nicht [daß] derselbe Styl in ihnen sei, sondern nur, daß er nicht 24 Akroase, heute ungebräuchlich, meint den mündlichen Lehrvortrag (Mitteilung); darum der Untertitel zu Morus’ Hermeneutik: ,Acroases Academicae‘, also Hochschulvorlesungen. Damals auch ,Akroaterium‘ für Auditorium, Hörsaal.
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die Publikation dieser 3 gleichen Werke verursacht haben wird. Die Frage ist also eine andre, für das Ganze der Wissenschaft und der Litteratur von geringerem Belang. Aristoteles ist einmal der Urheber davon, und es muß soviel Abwechselung in seinen Acroasen gewesen sein, daß diese Schriften haben daraus entstehn können. Der Gegenstand liegt also in einem engern Raum. Da sich diese 3 Abfassungen nicht verhalten wie der erste unvollkommene Versuch zur letzten vollkommenen Ausarbeitung, und es schöpft Einer Verdacht, so wird er doch zugeben, daß sie von Aristoteles herrühren; und es werden sich auch wohl Spuren dieser verschiedenen Hand auffinden lassen. – A n t h o l o g i e n nenne ich solche Schriften, die in ihrer ersten Publikation nichts andres gewesen sind und sein wollten, als Zusammenstellungen einzelner Werke und schöner Stellen verschiedener Zeitalter. Seit dem macedonischen Zeitalter hat es solche in allen Fächern gegeben. Hier fragt sich bloß, ob die Anthologie noch so ist, wie sie der Herausgeber gemacht hat. Die Frage, ob den rechten Schriftstellern auch diese gesammten Werke und Stücke beizulegen sind, ist bloß eine nach der Competenz der Geschiklichkeit des Herausgebers. hier gilt dasselbe was von den fragmenten gilt. Das Erste hingegen, ob die Anthologie noch dieselbe geblieben ist etwas sehr schwüriges, da die Erfahrung lehrt, wie diese Anthologien vergrößert worden sind. Da muß man aber die andre Frage, nach dem critischen Urtheil des Herausgebers vorher abgemacht haben, denn daraus wird sich nachher allein entscheiden laßen. Das Erste von dem Angeführten war die A k r o a s e , und [wir] begreifen darunter Alles, was einer Schule angehört, insofern es einen Meister zum Urheber hat. Offenbar kommt hier sehr wenig darauf an, wer hier als Concipient der Schrift angesehn werden muß, und das Erste ist hier, daß man zu bestimmen sucht, wie groß der Gewinn oder Verlust sein kann, wenn man die Untersuchung unternimmt oder nicht. Ist die Differenz ob die Schrift mittelbar oder unmittelbar vom Verfasser herrühre, Null, so fällt dies bloß in die Litterar-Geschichte, hat aber kein Interesse für die wissenschaftliche Kritik. Nun scheint es freilich 2erlei zu sein, gleichgültig in Beziehung auf die Sprache, und gleichgültig in Beziehung auf die Gedanken. Aber es ist doch beides wesentlich zusammen. Es läßt sich keine Abstumpfung denken, ohne daß die Sprache mit darunter verändert würde, und keine schärfere Untersuchung ohne daß auch Differenzen in der Sprache ent5–6 engern] engerm Frage andre
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stünden. Das führt dahin, daß es gewisse Fälle giebt, wo die auszumittelnde Persönlichkeit nicht eine einzelne sondern eine collective ist; die Ausmittelung findet aber nur statt, wenn man eine nicht verringerte und nicht modifizirte Tradition als hindurchgehend ansehn kann. Ich will das an einem andern Beispiel erläutern. In der scholastischen Theologie giebt es eine große Menge von gleichem Inhalt, von verschiedenen Verfassern. Die Differenzen sind aber von der Art, daß sich die Entstehung der einen neben der andern nicht denken läßt, wenn die Art unserer Schrift-Verbreitung schon bestanden hätte. Die Abschreiber stellten es aber auf ihre Weise um. Es macht aber keinen Unterschied, wenn man sagt, diese Schrift gehört fälschlich dem zu, um so mehr als das ganze corpus der Doktrin in allen solchen Werken als dasselbe angesehn werden kann. Dazu kommt noch, daß es gleichgültig ist, wer der erste schriftliche Concipient ist, denn der braucht nicht grade der erste Urheber der Gedanken zu sein, sondern die können von einem mündlichen Vortrag herrühren. Es kommt also darauf [an], ob die einzelne Persönlichkeit als unbestimmbar, und das Verhältniß des mündlichen Vortrags und der schriftlichen Conception als unsicher angesehn werden kann, sofern kann behauptet werden, daß der Werth einer solchen kritischen Untersuchung gleich Null ist. Die 2te Hauptklasse, die wir noch zu betrachten haben, ist die, die ich durch den allgemeinen Ausdruck Anthologie bezeichne. Wir haben aus dem classischen Alterthum viele Werke dieser Art aus verschiedener Zeit und von verschiedenem Inhalt. Sie sind eine große Fundgrube für unsre Kenntniß des Alterthums, aber das Urtheil der Kritik darüber ist schwer. Ich will zuerst den Fall selbst, und dann den Übergang aus einer bloßen Sammlung in die Komposition ins Licht zu setzen suchen. Unter den Schriften des Plutarch giebt es ein sehr bekanntes Buch de placitis philosophorum, gleichviel ob es von Plutarch oder einem Andern ist. Es enthält lauter einzelne Sätze der Philosophen nach ihrem Gegenstand geordnet. Sie hätten auch nach der Zeit und Form geordnet werden können. Da aber die Form eine Sache der Wahl ist, so ist darin ein Minimum der Composition schon. Gesetzt nun, die Sätze wären alle in der ersten Gestalt, die sie durch ihren Urheber hätten, so wären sie sehr verschieden; einige in Poesie, andre in Prosa, einige in dem, andre in dem dialect. Dann bestände die Komposition bloß in der Ordnung; doch wäre das kein Minimum, denn der Sammler leitete durch seine Ordnung den Leser. Durch eine andre Stellung würde jeder Satz ein anderes Colorit bekommen. es käme nun hier darauf [an], sich wo möglich die Stellung des Satzes in der Ordnung zu ergänzen, wo der Sammler ihn weggenommen. Ist dies nun
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dem Sammler zu buntscheckig, hat [er] die dialecte alle auf 1 gebracht, die Poe¨sie in Prosa verwandelt, so ist schon ein viel größeres von Komposition darin. Wir haben ein ähnliches Werk de vitis philosophorum von einem Diogenes Lae¨rtius. Es ist auch eine Sammlung, denn es ist keine Art von Composition darin, die ganze Physiognomie der Schrift giebt deutlich zu erkennen, daß sie aus Excerpten entstanden. Es werden Züge aus dem Leben, Inhalt seiner Lehre, Verzeichniß seiner Schriften angegeben, und dann folgen gewöhnlich noch die Synonimien, d. h. die Schriftsteller werden von Andern gleichen Namens unterschieden. Was ist dies nun andres als eine Anthologie. Will man das Buch recht benutzen, so muß man es zerlegen [und] zu bestimmen suchen, wo er das Einzelne hergenommen, und sagen, auf das Eine ist Rücksicht zu nehmen, auf das Andre nicht. Die Schrift ist also einer Komposition ähnlich, sie muß aber doch auf die Anthologie zurückgeführt werden. Etwas Ähnliches gilt von allen Geschichtsschreibungen, die nicht von Zeitgenossen herrühren; denn da fragt sich auch welche Quellen hatte der Verfasser, und wie weit lassen sie sich in seinem Werk entdecken und welchen Gebrauch machte er davon, wie mischte er sein Urtheil ein? Das streift aber schon in das Gebiet der historischen Kritik, die Anthologie ist also das Letzte auf unserm Gebiet. Beide Fälle, das pseudo-plutarchische Buch und der Diogenes Lae¨rtius bilden also ein Minimum und Maximum. Es kommt also darauf an, wenn die Quellen angegeben sind, über ihre Richtigkeit und Unrichtigkeit zu urtheilen. Eine Hauptfrage ist hier die: Hat der Schriftsteller die Werke, aus denen er sammlete, noch selbst besessen, oder hatte er sie schon aus der 2ten oder 3ten Hand. Ich will ein Beispiel anführen, das durch mehrere Zeiträume hindurchgeht. Die Commentatoren des Aristoteles sind ihm darin gefolgt, daß sie die Ansichten verschiedener Zeiten zusammenstellten. Das geht durch mehrere saecula hindurch. Nun fragt sich, hat der die Schriften noch gehabt; da läßt sich nachweisen, der hat sie noch gehabt, jener nicht, jener hat aus einer geschöpft, der sie noch hatte; das Letzte wäre noch mit dem Ersten gleich. Denn es kommt nicht auf die Zeit an, sondern auf die Veränderungen, die in der Zeit damit vorgegangen sein können. Da geht also die eigentliche hermeneutische Kritik in die historische über. Die Kritik über die Anthologien ist also eine sehr wichtige. Nun ist aber offenbar, daß solche Werke, je mehr wirkliche Einzelnheiten darin sind, viele Veränderungen erleiden können. Ein Buch wie das des Diogenes kann durch sehr viele Hände unverändert hindurchgehen, denn das hat schon eine Form. Aber denken Sie sich ein Buch, das bloß nach Überschriften geordnet ist, wie der Stobäus, das bloß von Werth für den Gelehrten ist. wenn da ein Gelehrter noch ein fragment
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[hatte] so konnte er es, gleichviel mit Recht oder Unrecht hinzuschreiben. Je mehr nun die Sammlung im Lauf der Zeiten verändert ist, um so schwüriger ist das Urtheil. Der bekannte Philosoph Democrit hat alles im jonischen Dialekt geschrieben. Nun finden sich viele fragmente von ihm im Stobäus und in der Sammlung der sententiarier. Einige sind im joni- 5 schem Dialekt, andre nicht; aber deshalb kann man nicht sagen, daß letztere nicht von Demokritus sind; denn es kann sie Einer abgeschrieben haben aus einer Sammlung, wo sie der Gleichmäßigkeit wegen umgeändert waren. Da kommt es also zur Bestimmung auf etwas anderes an, und das Urtheil ist eines der schwürigsten und complicirtesten unter allen 10 kritischen Aufgaben.
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Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien auf das N.T. Inwiefern das N.T. ein Gegenstand dieser höheren Kritik sein kann, kann auf dem theologischen Gebiet kein Zweifel sein, da die älteste Kirche schon solche Untersuchungen anstellte. Behaupten, daß die Sache abgemacht sei, hieße die Unfehlbarkeit der Kirche behaupten, oder wenn die erste Kirche wirklich nach ganz reinen Prinzipien verfahren wäre, so müßte die Sache doch wieder aufgenommen und von Neuem untersucht werden. Man könnte zweitens sagen, für die evangelische Kirche ist die Sache abgemacht, da die symbolischen Bücher den Canon bestätigt haben. Aber erstlich haben nicht alle symbolischen Bücher ein wörtliches Verzeichniß des Canons; dann wollen sie nichts behaupten über die Authentie der vorgeschriebenen Namen, sondern nur die normale Dignität, um sie zu unterscheiden von solchen, die nicht Quellen des Glaubens sein können. Erst später kann gesehn werden, wie sich beides verträgt. Wir müßen uns also ansehn, als völlig freie Hand habend. Die Schriften des N.T. scheiden sich deshalb auch in 2 Theile 1) solche, wo der Name gleich mit der Publikation verbunden ward, wo also eine Unsicherheit durch besondere Zweifel erregt werden soll, 2) wo das nicht ist, also erst eine Sicherheit hinzukommen kann durch Zeugniße aus der Lebens-Zeit des Verfassers selbst. Das N.T. ist eine Sammlung, ein Autor 5 Der spätantike Autor Johannes Stobaeus (Stobaios; wohl 5. Jh.) hat die umfangreichste Sammlung antiker Exzerpte (Eklogen) angelegt; die aktuelle Edition (von Heeren, 1792–1801) befand sich in Schleiermachers Bibliothek (SB 1907). – Die Sententiarier des späteren Mittelalters haben einen einfachen akademischen Grad (baccalaureus sententiarius) und lesen über die Sentenzen des Petrus Lombardus; welche zugehörige Textsammlung hier gemeint ist, bleibt unklar.
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der Sammlung wird nicht genannt, und es ist kein solcher aufzuweisen, als Sammlung ist sie anonym. Können wir das factum so ergänzen, daß wir sagen können, die und die sind die Veranstalter der Sammlung, wie sie jetzt vor uns liegt. Die andre Frage ist die nach den einzelnen Schriften; und da fragt sich, sind die einzelnen Schriften erst mit der Sammlung publicirt, oder schon früher? und wenn das Letzte ist, sind sie in der Sammlung so publizirt wie früher, nehmlich in Beziehung auf die Beilegung der Namen der Verfasser? – Wir müßen hier die kritische Geschichte des Textes zum Grunde legen. Wir wissen aus den critischen Schriftstellern der alten Kirche, daß die Sammlung nicht immer überall dieselbe war, sondern daß es eine Zeit gab, wo die Sammlung verschieden war, und wo die Urtheile über die Angehörigkeit der Schriften verschieden waren. Diese Verschiedenheit ist aufgehoben; aber wir haben keine GeschichtsNachrichten, wie es aufgehoben ward; wir haben also kein anderes Urtheil, als daß es durch allmählige Ausgleichung geschah. Es giebt also keinen Sammler, weder Einen, noch Viele, sondern die Sammlung ging aus verschiedenen Gestaltungen in diese über. Die Ausgleichung geschah also durch Urtheile über die bessere oder schlechtere Gestaltung der Sammlung; aber diese Urtheile waren nicht critisch in unserm Sinne, sondern es handelte sich von der Zweckmäßigkeit der Sammlung für den kirchlichen Gebrauch. Da war die critische Frage eine untergeordnete. Der 2te Brief Petri wurde trotz der Zweifel an der Ächtheit in den Canon aufgenommen, weil der Inhalt den kirchlichen Gebrauch empfahl. Suchen wir nun die Spuren zusammen über die Tendenz, die diese Sammlung hier und da hatte; für die Neigung zu etwas Miraculeusen, die viel Unbegründetes aufnahm, und da das wieder ausgeschieden ist, so muß die Kirche von einem richtigen Gefühl geleitet worden sein, und wir haben Ursache damit zufrieden zu sein; die kritischen Fragen bleiben aber dieselben. Gehen wir also zu diesen über, so fragt es sich nach dem Verhältniß der Publikation der Schriften zu ihrer Publikation in der Sammlung. Die Frage ist aber noch vielsinnig. Nehmlich da wir zu unterscheiden haben zwischen der definitiven Abschließung des Kanons, deren datum wir nicht bestimmen können, und des ungleichen Kanons, wo eine Schrift in einem Kanon stand, im andern nicht. Die Publikation in einem localen Kanon ist also eine frühere, in dem abgeschlossenen Kanon eine spätere. Nun ist es nicht bloß wahrscheinlich, sondern sogar durch geschichtliche Zeugniße zu erweisen, daß sie eher bestanden, ehe sie in einer Sammlung waren. von manchen Schriften läßt sich dies a priori nachweisen. z. B. die 24 die] den
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Corinthischen Briefe, die zuerst in der Corinthischen Gemeinde waren, und auf diese primitive Publikation folgte dann die successive Verbreitung. Das wird von allen Briefen gelten, die eine bestimmte Addresse haben. Andre haben das nicht, aber sie sprechen es selbst aus, daß sie als einzelne Schriften verfaßt worden sind, und dazu kommen geschichtliche Nachrichten, die aussagen, wie das Buch sei in den verschiedenen Theilen der Kirche außerhalb des Orts der Publikation bekannt geworden. – Nun kommen wir also auf den 2ten Punkt. können wir bestimmt behaupten, daß die Publikation der einzelnen Schrift dieselbe gewesen sei, wie die in der Sammlung? Etwas Allgemeines über alle Schriften gleichmäßig nicht. a priori kann die Sache nicht feststehn, sondern die Möglichkeit liegt da, und wir müßen untersuchen in welchem Grade, daß die Schriften sind bei der Verbreitung und der Aufnahme in die Sammlung verändert worden. Nun fragt sich, wie der Name mit der Schrift zusammenhängt. Bei manchen paulinischen Briefen steht der Name mit der Begrüßungsformel isolirt; bei andern innig mit dem Ganzen Zusammenhang verpflochten. Das Letzte giebt die größest mögliche Sicherheit, denn da müßte mit dem Namen zugleich die Schrift verändert worden sein, und nur höchst dringende Gründe könnten uns zum Zweifel auffordern. Die andern geben nicht diese Sicherheit. Wenn nun der Name des Verfassers im Briefe selbst vorkommt, kommt es nicht mehr darauf an, denn da ist das das ursprüngliche factum der Publikation. Da konnte die Eingangs- und Begrüßungsformel ursprünglich fehlen, und es thäte der Authentie des Briefs keinen Eintrag. Wenn auch nun das ist, die Hinzufügung dieser Formel kann aber nachgewiesen werden auf einem sicheren Zeugniß und Tradition beruhend, so thäte dies der Sicherheit keinen Eintrag. Beruht sie aber bloß auf einer Conjectur, so würde sie nur untergeordnete Sicherheit haben. Wir haben also 3 verschiedene Grade der Gewißheit, wonach gefragt werden kann. Wo nun der Name des Verfassers in einer ganz reinen Überschrift steht; denn das müßen wir doch unterscheiden, die Überschrift in einem der Evangelien, und einer Begrüßungsformel; der Brief an die Hebräer hat eine bloße Überschrift keine Begrüßungsformel wie andre paulinische Briefe. Nun fragen wir, können wir nachweisen, daß diese Überschrift mit der ursprünglichen Publikation verbunden gewesen? es ist sehr unwahrscheinlich und gegen alle Analogie mit dem Alterthum. z. B. der Brief an die Hebräer, er kann ein akefalow gewesen sein, oder der Überbringer brachte den Gruß mündlich; sondern die Überschrift ist erst bei der allmähligen Verbreitung entstanden. Ebenso der erste Brief des Jo8 bestimmt] bestimmtes
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hannes, den der Verfasser nicht bei der Absendung überschreiben konnte hë prvÂth. Da spricht die Sache selbst dagegen. Aber es ist sogar wahrscheinlich, daß die Überschrift erst bei der Zusammentragung der Schriften geschah. Da beruht die Sicherheit nur auf einem Zeugniß, oder auf einer ihm gleich zu setzenden tradition. Ebenso unwahrscheinlich ist es von den Evangelien. wie sie jetzt sind, kann man die Überschriften auch nicht höher stellen, als in der Zeit der Sammlung nicht in die der allmähligen Verbreitung. Sie haben eine gemeinschaftliche Überschrift eyÆaggeÂlion. Der Name des Verfassers ist auf eine ungewöhnliche Weise hinzugesetzt worden, und die Gleichheit kam wohl erst durch die Zusammenstellung: Sie enthalten alle, was man eyaggelion nennt; aber dies nach dem Vortrage dieses, jenes nach dem Vortrage jenes. Ursprünglich werden sie anders geheißen haben, z. B. Matûaiow periÁ toyÄ biÂoy toyÄ IhsoyÄ. Die Namen werden da nicht so zurükgetreten sein. Die Überschriften werden also erst später gemacht sein. Aber das thut der Sicherheit der Schriften keinen Eintrag, wenn man nur Zeugniße oder die Constanz der Tradition nachweisen kann. Die Schriften der ersten Klasse, wo der Name des Verfassers nicht notorisch einen Theil der Schrift selbst ausmacht, scheiden sich in solche, wo der Name des Verfassers doch noch als Publikation angesehn werden kann, und in solche, wo die Überschrift ganz getrennt ist, und endlich solche, wo sich die Überschrift auf die Schrift nicht allein, sondern auf Mehreres bezieht. Die Briefe des N.T. haben außer der bestimmten Überschrift noch eine andre, die in die Zeit der Sammlung fällt, wie die 2 Briefe an die Corinther und die beiden an Timotheus. Da ist also kein Werth auf diese Überschriften zu legen, sondern nur auf die innere Beziehung der Verfasser. Wegen dieser 2ten offenbar späteren Überschriften stehn diese Schriften der ersten Klasse, wo die Authentie nur aus besonderen Gründen angefochten werden kann, sehr nahe. Die Schriften aber, die keine Überschrift haben, wie die Briefe des Johannes und an die Hebräer sind an sich unsicher, und es kommt also darauf an, ob sie angesehn werden können als durch ein Zeugniß aus dem Lebens-Kreise des Verfassers beglaubigt. Die ganze Untersuchung wendet sich also dahin, wie es mit den Zeugnißen steht. Da ist aber bisher noch an keine Übereinstimmung der Urtheile zu denken gewesen; das lag daran, daß die Prinzipien nicht allgemein festgestellt waren, und die Anwendung nicht 23 Mehreres] folgt sich 6–8 Variante Bötticher, S. 405: „So wie sie jetzt sind kann man sie auch eigentlich nur in die Zeit der Sammlung stellen.“
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auf eine Weise geschah, sondern da noch verschiedene Maximen befolgt wurden. Die Sache ist die: Wir haben außer den NeuTestamentischen Schriften nichts Gleichzeitiges, woraus wir Zeugniße nehmen können; alles ist später, und es kommt deshalb darauf an, ob es Traditionen sind, die auf gleichzeitige Zeugniße zurükgehn, oder nicht. Da sind nun Einige strenger, Andre milder. Die Einen sagen, die Zeugen sind mittelbare Schüler der Apostel, die Zeugniße also aus der 3ten Generation, und Personen, zwischen denen 1 Generation liegt, können wohl noch als gleichzeitig angesehn werden. Allein durch die Gleichzeitigkeit ist unsere Forderung, daß das Zeugniß soll aus dem Lebens-Kreis genommen sein, noch nicht erschöpft. Die Christenheit bildet im apostolischen Zeitalter kein durch eine ordentliche Organisation zusammenhängendes Ganze, sondern es bildeten sich die christlichen Gemeinden auf eine zufällige Weise, ihre Communication ging nicht vom Ganzen aus, sondern hing an Einzelnen, und an den Veranlassungen, die diese hatten, sich in der christlichen Kirche beweglich zu machen. Nun können wir zwar sagen, der Apostel Paulus war ein Central-Punkt für die ganze hellenische Christenheit, aber nicht so, daß eine Gemeinde beständig Nachrichten von der andern gehabt hätte. Die paulinischen Briefe waren Gelegenheitsschriften, an einzelne Gemeinden, oder einzelne Personen gerichtet. Außerdem finden sich nur wenige Andeutungen und nur in Beziehung auf wenige Gemeinden, die epistolarischen Schriften gegenseitig auszutauschen. Die ursprüngliche Absendung ist also nicht als eine Publikation anzusehn. Die Bekanntwerdung einer solchen Schrift außer ihrem bestimmten Kreise ist deshalb als ein 2ter Moment anzusehn; und da fragt sich also, wiefern hat man Ursache anzunehmen, daß dabei noch Zeugniße vorhanden waren, und daß diese auf die kamen, von denen unsere Zeugniße herrühren. Bei dieser Lage der Sache läßt es sich sehr leicht denken, daß eine ununterbrochene Communication nicht kann mit einiger Sicherheit angenommen werden. Denken wir also einen Zeugen, der nach seiner eignen oder einer andern historisch authentischen Aussage, ein Schüler des Johannes oder ein Schüler seines Schülers gewesen, und dieser macht Aussagen über Schriften, die zu unserm Kanon gehören; so werden, wenn sie sich auf Johannes Schriften beziehn, die er gekannt, authentisch sein. Macht er aber Aussagen über andre Schriften andrer Apostel, von denen wir nicht wissen, in welchem Verhältniß sie mit dem Johannes gestanden haben, so ist das kein Zeugniß, sondern nur ein Element der Tradition. Man denkt sich nur gar zu leicht, daß damals schon auf diese Briefe ein solcher Werth 22 Schriften] folgt sich
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gelegt worden sei wie jetzt. Das Schreiben war bei ihnen nicht Hauptsache, sondern verschwand gegen ihren mündlichen Vortrag, zumal wegen der Beziehung auf einzelne Personen. Das fixiren der Lehre durch die Schrift war Sache ihrer Schüler, deshalb das gar nicht geleugnet werden kann, daß ursprünglich für die Christenheit die mündliche Tradition viel bedeutender war als die schriftliche. Der Streit mit der catholischen Kirche fängt erst da an, daß wir sagen, es giebt keine sichere Bürgschaft für die mündliche Tradition, als sofern sie in die schriftliche überging. Die apostolischen Briefe blieben deshalb ruhig, wo sie waren. Erst nachdem die Apostel vom Schauplatz abtraten, entstand das Bestreben, schriftliche Überreste von den Aposteln besitzen zu wollen. Da ist es also sehr möglich, daß schon in der Zeit, die man als die Blüthe der ersten Publikation ansehn kann, keine wahrhaften Zeugniße mehr vorhanden waren über viele dieser einzelnen Schriften. Wenn nun auch kein Mensch mehr da war, der sagen konnte, ich war dabei, als der Brief vom Apostel Paulus ankam, und als er zum ersten Male vorgelesen wurde, das factum sprach selbst dafür. Wenn nun aber doch nachher Zweifel entstanden, so konnte das nur daher kommen, daß als die Schriften vervielfältigt wurden, man an vielen andern Orten nicht versichert werden konnte, daß er diesen Ursprung habe. Wenn man also diese Dürftigkeit der Kommunikation mit dem ersten Punkt zusammenstellt, so sieht man, wie man Zeugniße aus dieser Zeit wohl nicht erwarten kann. Wenn ich also dies nicht als Zeugniß ansehn kann, nur als unsichere Tradition, so habe ich schon einen Grund zu zweifeln. Wo keine epistolische Überschrift in der Form der Begrüßung vorhanden ist, und sich nun eine solche Schrift verbreitet, können sehr leicht falsche Traditionen entstehen. Denn trat nun der Punkt ein, wo die mündliche Tradition in die schriftliche überging, konnten sehr leicht falsche Traditionen entstehn, und solche zwar, wo die Tradition als Zeugniß angesehn werden konnte. Fand sich ein solcher akhfalow, und man fragte, von wem ist er denn, so konnten noch Einige da sein, die bezeugten, dieser Brief ist immer als ein Brief z. B. des Johannes gelesen worden. Aber die Tradition kann auch aus einer Conjectur entstanden sein, weil Johannes etwa in einem besonderen Verhältniß zu dieser Gemeinde gestanden. Da ist also die Regel der Sicherheit, daß in Beziehung auf diese Briefe die vorhandene Tradition erst beglaubigt werden muß. So haben wir Nachrichten, daß schon früh der 2te Brief Petri, und der 2te und 3te des Apostel Johannes bezweifelt worden sind. Im Kanon ist die Überschrift des 2ten Briefs gleichzeitig mit dem Kanon und mit der Überschrift des ersten entstanden. Der erste Brief Petri und Johanni sind
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aber nicht bezweifelt worden. Die Zweifel müßen also vor der Publikation im Kanon entstanden sein. Diejenigen, die diese Schriften dennoch in den Kanon aufnahmen, kannten sie entweder nicht, oder beachteten sie doch nicht. Es ist das ein Beispiel von dem Bedürfniß der Kirche, apostolische Schriften im Kanon zu haben. Das Erste ist aber ein Zeugniß, daß die Schriften sich in einer unsichern Lage befanden. Ich will nun die Schriften dieser Klasse, die unter dem Namen apostolow begriffen werden, der Reihe nach durchnehmen, und zwar nach ihrer Ordnung im Canon. Der Brief an die R ö m e r hat eine innre epistolarische Überschrift, die den Namen des Apostel Paulus enthält, und den Namen derer, an die er gerichtet ist; und zwar auf eine solche Weise, daß gleich Gedanken des Apostels darin verwebt sind. Da ist also kein Grund zu einem Zweifel. Der Brief ist also in die Klasse der authentisch sichern Schriften zu stellen. Der erste Brief an die C o r i n t h e r hat auch eine innre Überschrift, aber nicht so, daß sie schon in den Gedankengang verwebt ist. Wir haben aber so viele Kenntniß von dem Verhältniß des Apostels zu dieser Gemeinde aus der Apostelgeschichte, daß wir den Brief als durch ein Zeugniß aus dem Lebenskreis des Verfassers beglaubigt ansehen können, obwohl es nur als ein indirectes angesehn werden kann. – Dasselbe gilt vom 2ten Brief an die Corinther. Im Brief an die G a l a t e r tritt derselbe Fall ein wie bei dem an die Römer, es sind in der Begrüßungsformel Beziehungen auf den HauptInhalt des Briefs. Dazu nennt sich Paulus noch im 5ten Capitel. Im Brief an die E p h e s e r ist die Begrüßungsformel in sich abgeschlossen und in der gewöhnlichen Kürze. Wir wissen aber aus den Exemplaren, die Basilius gebrauchte, daß hier kein Orts-Name gestanden. Da entsteht eine Aufmerksamkeit auf die verschiedene Beschaffenheit der Formel, und die Möglichkeit, daß unser en EfeÂsv späteren Ursprungs sein kann; was gegen die Ächtheit des Briefs aber nichts thut, nur gegen die Tradition ist, die sie in die Überschrift setzte. Die folgenden Briefe an die P h i l i p p e r , C o l o s s e r , 2 T h e s s a l o n i c h e r und 2 T i m o t h e u s haben die vollständige Begrüßungsformel, nur nicht mit dem Gedanken-Gang verwebt. Aber in den beiden ersten wird Timotheus, und in denen an die Thessalonicher auch Sylvanus als Autoren mit genannt. Das entfernt aber jeden Verdacht, und erhebt sie zur vollständigen Gewißheit.
4 Beispiel] oder Beweis
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Im Brief an den T i t u s tritt wieder der Fall ein, daß in die sehr ausführliche Begrüßung schon Gedanken mit geflochten sind als Nachweisung der Autorität des Apostels, was hier nicht so bestimmte Absicht hat wie im Brief an die Galater. Daraus ist auf die Gleichzeitigkeit der Formel und des Briefs zu schließen. Der Brief an den P h i l e m o n nennt den Timotheus mit als Mitarbeiter. – Wir werden deshalb sagen können, die Briefe, wo in der Formel Beziehungen auf den Inhalt des Briefs genommen werden, und wo ein Andrer als Mitarbeiter genannt wird, bilden die erste Klasse der Gewißheit, die andern die 2te. Der Brief an die H e b r ä e r ist ein akefalow, fängt auch nicht als Brief an, sondern als Abhandlung. Die Überschrift hë prow HbraiÂoyw eÆpistolhÂ, hat keine Stelle im Briefe, worauf sie sich beziehn könnte. Da die Schrift selbst als Abhandlung anfängt, so ist die Überschrift gewiß spätern Ursprungs, und es muß deshalb erst ausgemittelt werden, ob sie auf einem Zeugniß, oder auf einer Tradition beruht. Vom Verfasser ist gar nicht die Rede. KirchenSchriftsteller nennen zwar den Paulus; es ist das aber kein Zeugniß, sondern eine Tradition, die erst ihre Richtigkeit beweisen muß. Der Brief des Jacobus hat eine kurze Überschrift, worin bloß das Wort doylow steht, und gerichtet ist er an die 12 Stämme in der diaspora, so daß man nicht weiß, ob er an Christen oder Juden schreibt. Allein die spätere Entwicklung des Briefs ergiebt das Letztre, und alle innern Kennzeichen sprechen für die Ächtheit, besonders die unbestimmte Anrede aÆdelfoi, was später nicht mehr geschehn könnte, sondern da würden die Christen genannt worden sein. Die beiden Briefe des Petrus unterscheiden sich dadurch, daß der 2te von Simon Petrus ist; der erste eine bestimmte Anzahl Gemeinden hat mit einer nicht solennen Bezeichnung; der 2te eben so ungewöhnlich, was den Verdacht, nachgeahmt zu sein, von ihm entfernt. Von den Johanneischen Briefen ist der erste auch ein akefalow; die Anrede tritt aber sehr zeitig ein; man sieht wie es gewöhnlich war, Geschäfts-Briefe ohne Begrüßungsformel abzuschicken, und wie daraus keine Versuchung entstand, eine hinzuzufügen. Der 2te und 3te haben eine, aber unbestimmt bloß oë presbyterow. Da fragt sich also, wie in alle 3 der Name Johannes hinein kam. Das muß durch ein Zeugniß nachgewiesen werden da aber schon in älterer Zeit die Briefe angefochten wurden, so wird das wahrscheinlich nur eine tradition sein. Die Überschrift des ersten Briefs rührt erst aus seiner Eintragung in den Canon her; welchen Namen er vorher geführt, wissen wir nicht, die Beilegung des Namens muß erst begründet werden. 10 akefalow,] akhfalow,
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Der Brief Judae hat die gewöhnliche Begrüßungsformel, aber er nennt seinen Verfasser bloß doyÄlow Ihsoy xristoyÄ. – Die Apokalyciw hat eine innere Überschrift, und da außerdem noch der Name Johannes in der Schrift vorkommt, so muß die äußere Überschrift aus dem Inhalt der Schrift hergenommen sein. Die Beilegung des Namens toyÄ ûeoloÂgoy könnte aus dem 2ten Vers hergenommen sein. Aber das sieht man, daß die, die ihm diesen Namen beilegten, den Brief nicht für einen Brief des Apostels Johannes wollten angesehen wissen, weil diese Bezeichnung eher davon ab, als dazu hinführte. Betrachten wir nun jetzt den Zustand dieses Apostolus, so zeigt sich, daß einige von diesen Briefen schon in älterer Zeit angefochten wurden, andre nicht; und zu den ersten gehören solche, die keinen Verdacht durch ihre Überschrift gewähren: der 2te Petri, und der 2te und 3te Johannes. In neuerer Zeit aber sind noch andre angefochten worden, nehmlich außer diesen noch die sogenannten pastoralBriefe des Paulus, von denen der an Titus ganz bestimmt als mit der Entstehung des Briefes zugleich entstanden gedacht werden kann. Wenn man denkt, diese Überschrift könne später entstanden sein, so müßte das nachgeahmt sein, z. B. aus dem Brief an die Galater. Dies kann man aber nicht eher behaupten, als bis bestimmte Verdachtsgründe da sind. Wie steht es nun um die Anfechtung? ist ein solcher Unterschied unter ihnen, so daß man sagen kann, die ältern Anfechtungen haben wegen ihres Alters mehr Begründung als die neuern, eben weil sie jünger sind? Nein. Nur sofern könnte einer sein, wenn die älteren Anfechtungen in dem Lebens-Kreis des Verfassers begründet wären. Dann sind sie es aber nicht durch ihr Alter, sondern durch das Zeugniß. Wird ein Brief nicht durch ein Zeugniß, sondern bloß durch eine Tradition beglaubigt, so kann von früherer oder späterer Aufstellung des Zweifels nicht die Rede sein; man kann nur sagen, die kritische Untersuchung hat bis dahin geruht. Anfechtungen in älterer Zeit geschahen nur, weil besondere Verdachts-gründe da waren; waren diese nicht, so nahm man sie auf die bloße tradition an. Jede Zeit hat also dasselbe Recht, diese Untersuchung anzustellen. Da man aber keinen Grund des Verdachts hat, daß die inneren epistolarischen Überschriften nicht mit den Schriften selbst gleichzeitig wären, so käme die Sache so zu stehn, daß der ganze Brief gleich von Anfang an untergeschoben wäre, also ein 8 angesehen] beigelegt
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15–17 Variante Bötticher, S. 415 „In den neueren Zeiten sind auch noch angefochten die sogenannten Pastoralbriefe des Paulus worunter der Brief des Paulus an Titus durch die Ueberschrift grade am bestimmtesten sich als authentisch beweißt.“
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Betrug. Das müßte der Fall sein mit den pastoral Briefen des Paulus und dem 2ten Brief Petri. Eichhorn hat auch den ersten Brief Petri angezweifelt, und behauptet, er rühre aus der paulinischen Schule her. Anders wäre es mit den Briefen des Johannes, die keine Überschrift haben. – Im 2ten und 3ten Brief des Johannes bezeichnet sich der Verfasser mit dem Namen oë presbyÂterow, ein Name der gleich war mit episkopow. Aber so nannte sich wohl kein Apostel. Man kommt also leicht auf die Vermuthung, daß der Zweifel der alten Kirche auf dieser Benennung beruhe. Das ist aber kein Beweis, sondern bloß ein Vermuthungsgrund, der an sich keine Entscheidung geben kann, ob die Tradition richtig sei; mit dem 2ten Brief Petri ist allerdings nicht derselbe Fall; da fehlt die apostolische Bezeichnung nicht, und es ist keine Vermuthung, daß da ein Andrer in der Überschrift gemeint sein sollte. Allein da tritt das besondere Verhältniß dieses Briefs zu dem unter dem Namen des Judas ein; und es fragt sich, ob die ältere Anzweiflung damit zusammenhängt. Nun muß zuerst ausgemacht werden, kann das der Grund zu der Anfechtung gewesen sein; wenn diese Schrift durch einen Betrug jenem Verfasser beigelegt wurde, konnten Schriften, auf denen ein solcher moralischer Fleck ruhte in den NeuTestamentischen Canon aufgenommen werden? Von den Verdachtsgründen der Apostolischen Schriften trotz ihrer Authentie. 1) muß ich gegen die Voraussetzung, daß die Schrift von dem Verfasser herrührt einen bestimmten Widerspruch erheben. 2) muß das factum, daß die Schrift einen andern Ursprung habe, auf einer möglichst klaren Anschauung beruhn. A. Die Gründe der ersten Klasse können liegen im Inhalt, Sprache und in historischen Umständen. Wenn historische Umstände dem gradezu widersprechen, daß die Schrift dem Verfasser angehöre, so ist das ein Zeugniß, und dadurch wird am meisten gewirkt. Außer dem was in den Briefen selbst vorkommt, haben wir nur die Apostelgeschichte und die ältesten Nachrichten der Kirchen-Väter; und die letztern sind schwerlich auf ein wirkliches Zeugniß zurükzuführen, [sie sind] nur eine Tradition[,] mehr oder weniger unsicher. Kommt daraus ein Widerspruch so kann der kein Zeugniß dagegen sein. Auch mit der Apostelgeschichte ist es etwas andres. Es kommt hierauf an, ob ein Brief in den Zeitraum fallen muß, der in der Apostelgeschichte behandelt ist, es läßt sich aber aus der Apostelgeschichte nicht nachweisen, daß der angebliche Verfasser während 2–3 Johann Gottfried Eichhorn hat in seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘ (Bd. 3,2, 1814, S. 605–623) (zugleich ,Kritische Schriften‘, Band 8; SB 582) dem Petrus allenfalls inhaltliche Mitwirkung eingeräumt und versichert: „Der Concipient des Briefs war ein Schüler des Apostels Paulus.“ (S. 606).
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dieses Zeitraums in der Lage gewesen sei, wo er soll diesen Brief geschrieben haben, kann das ein Zeugniß sein oder nicht. Nimmt man an, daß die Apostelgeschichte eine zusammenhängende Erzählung bilde, so würde das im ersten Theil derselben von den übrigen Aposteln, im andern nur von Paulus gelten. Der Brief an den Titus müßte in die Zeit gefallen sein, welche die Apostelgeschichte behandelt, wenn man nicht eine 2te Gefangenschaft annimmt. Nun findet sich in der Apostelgeschichte nichts vom Aufenthalt Pauli in Creta und von den Orten, die da erwähnt werden. Böte nun die Apostelgeschichte ein zusammenhängendes Ganze dar, so könnte der Brief nicht ächt sein, oder er ist aus einer späteren Zeit. Aber läßt sich das mit einiger Wahrscheinlichkeit darthun, daß die Apostelgeschichte ein zusammenhängendes Ganze hat, und nicht viele Lücken dazwischen. Ebenso nimmt man gewöhnlich an, daß der erste Brief an den Timotheus aus einem solchen im Zusammenhang erzählten Zeitraum der Apostelgeschichte sein müße. Die traditionellen Nachrichten der Kirchen-Schriftsteller kommen bei dieser Kritik wenig in Betracht. Was sie sagen von einer 2ten Gefangenschaft Pauli scheint zusammengesetzt zu sein als Erklärungsmittel solcher Stellen in den paulinischen Briefen; und da viele Widersprüche in den paulinischen Briefen nur gehoben werden können durch die Annahme, daß sie in den Zwischenraum beider Gefangenschaften, oder in die 2te fallen, so sieht man, wie die Thatsache so lange ungewiß bleiben mußte. Nun was den Inhalt betrifft, so kann sich ein Widerspruch erheben dagegen, daß eine Schrift nicht vom Verfasser herrührt, wenn es vollkommen bezeugte Schriften von diesem Verfasser giebt, mit deren Inhalt sich diese Schrift nicht will vereinigen laßen. Da ist aber sehr auf die Verschiedenheiten der Zeit und Umstände zu sehn; es kann Einer zu gewisser Zeit so denken und zu einer andern so. Je mehr 2 Schriften eines Verfassers aus einander liegen der Zeit nach, um so weniger kann ein Grund daraus genommen werden, daß sich widersprechende Vorstellungen darin finden. Kann man nun das im N.T. auch annehmen? Eine Vorstellung von der Inspiration leugnet es, aber dann giebt es überhaupt gar kein hermeneutisches und kritisches Verfahren. Es kommt hier auf 2erlei an. 1) die Wirksamkeit des göttlichen Geistes in den Aposteln einmal vorausgesetzt, fragt sich, ob diese Wirksamkeit des Geistes bei der schriftlichen Abfassung in gar keinem Zusammenhang mit den sonstigen LebensMomenten der Apostel steht. es ist gezeigt worden, daß es dann kein hermeneutisches Verfahren geben kann. 2) ist die Entwicklung der christli17–19 Z.B. Eusebius: Historia eclesiastica II, 22, 2–7
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chen Gesinnung und Lehre in den Aposteln Natur-gemäß gewesen oder nicht. wäre das Letzte, so kann sie auch nur auf eine durch die besondere Wirksamkeit des Geistes und anomale Weise verstanden werden. Wenn sich nun Vorstellungen fänden, die dem christlichen Geist und Vorstellungen widersprechen, so wird die Schrift unächt sein, wenn auch die Vorstellungen gegen andre des Verfassers nicht streiten, bloß wegen des Streits gegen die Grund-Voraussetzung. Das ist der Grund, warum die alte Kirche ohne ein wissenschaftliches Verfahren viele apokryphische Schriften verworfen hat. So wie aber ein solcher Widerspruch nicht da ist, kann man nicht behaupten, daß 2 Vorstellungen, die dem christlichen Geist nicht widersprechen, unter sich im Widerspruch stehn, und nicht können in 1 Seele gewesen sein. Sie können nur dann in dem Verhältniß stehn, entweder, daß eine eine vollkommenere Entwicklung ist, und dann wird sie wohl die spätere sein, oder es ist der Grund in beiden ein solcher, daß sie wohl mit einander bestehn können, und sie bekommen den Charakter der NichtZusammenstimmung nur durch die verschiedenen Beziehungen. Dann kann man sagen wenn dem Verfasser, als er die spätere Stelle schrieb, die erste gegenwärtig gewesen wäre, so würde er sie nicht geschrieben haben. aber das läßt sich nicht behaupten, und nicht durch irgend eine Inspiration voraussetzen. Kommen aber mehrere solche Fälle vor, so laßen sie sich zusammen addiren, und ihrer mehrere wirken dann weit mehr, als jeder einzelne wirken würde. Was nun endlich die Sprache betrifft, so ist der Widerspruch viel stringenter, wenn er nicht dem Verfasser allein, sondern einer ganzen Klasse angehört. Wenn ich z. B. sage, das liegt außerhalb der Zeit und des Orts des N.T. so ist das beweisender, als wenn ich sage, das ist unpaulinisch. Denn jenes Bild hat viel allgemeinere Merkmale als dieses; solche Gründe müßen sich mittheilen lassen; die aber auf einen einzelnen Menschen sich beziehn, beruhn mehr auf einem Gefühl. Nun aber ist die Behauptung sehr schwer, das liegt außerhalb des N.T. denn es ist die NeuTestamentische Sprache kein in sich abgeschlossenes Ganze, sondern besteht mehr aus fragmenten. Es ist die NeuTestamentische Sprache ein Volksdialekt, aber aus mehreren Gegenden her. Wenn also ein Wort oder Form vorkommt, die sich in keiner andern NeuTestamentischen Schrift findet, so ist das kein Beweis gegen die Ächtheit der Schrift; denn es könnte das wohl noch in andern vorgekommen sein. Ja ich möchte behaupten, daß die Hapax Legomena nicht addirbar sind. (was ich in meiner Schrift über den Timotheus von Hapax Legomenen als addirbar gesagt, bezog sich 25 sage] sagen es
29 beruhn] beruht
32 Sprache] Schrift
37–38 Siehe Schleiermachers ,Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos‘, Berlin 1807, KGA I/5, S. 155–242, hier S. 165 ff.
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nicht auf die NeuTestamentische Zeit und Region, sondern nur auf den Apostel Paulus, und zwar auf seine technischen Ausdrücke, wo wir in andern seiner Briefe Ausdrücke finden, die auf eine andre Vorstellung schließen laßen.). Ich empfehle hier besonders Eichhorns Ausführung in seiner Einleitung ins N.T. über die besondere Sprache der 3 pastoralBriefe Pauli. was aber nur beweisend ist unter der Voraussetzung, daß alle 3 von 1 Verfasser herrührten; und wohl möchte unter der Hypothese, daß 1 Brief z. B. aus 2 zusammengesetzt sei, die Sache eine andre Gestalt gewinnen. – Was die persönliche Sprache betrifft, muß man ja wohl vorsichtig sein, und sich erst recht mit allem, was die Sprache dieses Schriftstellers betrifft, sättigen, um beides zu vergleichen. Nun liegt noch etwas zwischen der Sprache und Inhalt in der Mitte, die Composition, die Art wie von 1 Gedanken zum andern übergegangen wird. Da findet ein doppelter Gesichtspunkt statt. Das Erste ist das Logische, das bloß negativ ist, es läßt sich nur zeigen, wenn der Schriftsteller die logische Folge verletzt hat; es läßt sich nur zeigen, dieser Verfasser steht nicht auf der Stufe, auf welcher der angebliche Verfasser gestanden hat. Nun giebt es davon aber Ausnahmen, nehmlich wenn der Verfasser in besonderen Gemüthszuständen war; wie z. B. beim Apostel Paulus Bedrängniße auf der Reise etc angenommen werden. Sobald es aber auf die eigenthümliche KombinationsWeise, das positive ankommt, so ist das weit weniger stringent; es ist das bloß auf dem Gefühl beruhend, was sich nicht mittheilen läßt, wogegen sich aber der Einzelne nicht erwehren kann. Der 2te Fall ist nun, daß bei dem erregten Verdacht, auch das, daß dem factum nichts zum Grunde liegt, sich müße zu einer Anschaulichkeit gestalten. Ich komme auf etwas früheres zurük; nehmlich, wo die epistolarische Überschrift nicht ächt ist, den Betrug nachzuweisen. hier ist aber die erste Kautele, nicht bei uns geltende Begriffe auf frühere Zeit zu übertragen. In früheren Zeiten war das kritische Geschäft nicht, also wurde es auch für keinen Betrug gehalten, einen andern Namen vorzusetzen. 17 welcher] welchen 4–6 „Die drey Pastoralschreiben, zwey an Timotheus und eines an Titus“ bespricht J. G. Eichhorn in seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘ (Bd. 3,1, 1812, S. 315–410) (zugleich ,Kritische Schriften‘, Band 7; SB 582) und versichert schon zu Beginn, sie rührten „von einerley Verfasser her“. Es fehle ihnen nicht „an einer gewissen Ausarbeitung der Rede, an Aufmerksamkeit auf die Stellung der Worte, auf die Wahl, die Setzung und Auslassung der Bindepartikeln, mittelst welcher sie sich einer gewissen Rapidität des Styls befleißigen. Gewisse Eigenthümlichkeiten der Sprache im Gebrauch einzelner Worte und Redeformeln ziehen sich durch alle drey Briefe hindurch“ (S. 315 f.).
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Wenn man z. B. aus der Unbestimmtheit der epistolarischen Überschrift im Epheser Briefe und wegen seiner großen Übereinstimmung mit dem Colosser Brief, den Verdacht erregen wollte, er sei nicht paulinisch. Nun ist er aber durch die Überschrift ihm bestimmt zugeschrieben worden, und die mit dem Colosser Brief übereinstimmenden Stellen sind schlechthin paulinisch, die andern Stellen bestätigen den Verdacht nicht. Wenn man nun denken wollte, es habe Einer, der ein apomnhmoneyma, oder eine Lehre des Paulus, die aber keine bestimmte Form hatte, in diese BriefForm gebracht, so hat er es mit vollkommen gutem Gewissen gethan, und wenn die erste Kirche den Brief in ihren Canon aufnahm, so trifft sie auch kein Vorwurf. Ebenso kündigt im 1sten Timotheus die Überschrift den Apostel Paulus an, und im Brief selbst wird Timotheus genannt. Da wäre das falsum also stärker. Aber dem Inhalt nach ist nichts unpaulinisches enthalten; es finden sich Aussprüche, die in andern paulinischen Schriften nicht vorkommen, sie enthalten aber nichts gegen die paulinische doctrin. Der Brief erregt bloß den Verdacht durch das Abgeschlossene im Ausdruck, und das Lose im Zusammenhang. Da könnte es wohl sein, daß Vorschriften Pauli in Beziehung auf die Gemeinde sollten aufbewahrt bleiben, und daß dazu diese fiction gemacht ist. Verlangte man von der kritischen Untersuchung noch mehr, auch nachzuweisen, wo und von wem dergleichen entstanden, so ist das zu viel verlangt. Wenn ein solcher bloß paulinische Gedanken zusammenstellte, um sie vor dem Untergang zu retten, oder sie in einer Gegend zu verbreiten, wohin sie unter einer andern Form nicht gekommen sein würden; so gewinnt der Verdacht an Wahrscheinlichkeit. – Nun noch ein Fall, nehmlich daß eine Schrift an und für sich keinen Verdacht erregt, sondern erst im Vergleich mit Andern. Wir können hier das Beispiel des Epheser Briefs noch einmal benutzen. Aus der Unsicherheit der Überschrift kann der Verdacht nicht bestätigt werden; wir müßen dann bloß das factum ergänzen, daß er in einigen Codices den Ephesiern, in andern der Gemeinde zu Laodicea, in andern keiner Gemeinde bestimmt zugeschrieben wird; dann müßte man nur eine Hypothese suchen woraus sich die Abweichungen mit der größten Leichtigkeit erklären ließen. Nun kann ich mir den Fall denken, daß Jemand auf die große Übereinstimmung mit dem Colosser Brief aufmerksam würde; auf die zerstreuteren Stellen, und den nicht geschlossenen Zusammenhang im Epheser Brief. Dasselbe mit der Eichhornschen Hypothese über die 3 pastoralBriefe Pauli, die beruht auf der Übereinstimmung dieser 3, und der abweichenden Vorstellung von den andern pau1 z. B.] folgt wollte
9 gebracht] brachte
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linischen Briefen. Wenn es nur 1 Brief dieser Art gäbe, würde der Verdacht nicht so entstanden sein, sondern die Kritiker würden nur diese Abweichungen sich aus besonderen Zeit-Umständen zu erklären haben. Nun fand er aber im 2ten Brief Ähnliches, und so entstanden addirbare Schwürigkeiten. – Ähnlich mit dem 2ten Brief Petri. Da ist es ein schwüriges Unternehmen, sich eine Vorstellung vom petrinischen Styl zu machen, da wir sonst bloß noch den 1sten Brief, und seine Reden in der Apostelgeschichte haben, von denen wir nicht mal glauben können, daß sie den Styl des Apostels enthalten. Daraus könnte kein Verdacht entstehn. Bei der Vergleichung beider Briefe finden sich keine geschichtlichen Widersprüche, auch kein Unterschied der logischen Komposition, oder Mangel der Verwandtschaft. Nun aber wird es etwas anderes, wenn man den Brief vergleicht mit dem des Judas; da finden wir einen gleichen Abschnitt in beiden, und es entsteht die Voraussetzung, daß diese große Übereinstimmung nicht hätte entstehn können, wenn beide unabhängig von einander entstanden wären. Beide können aus 1 Quelle geschöpft, oder Einer kann den Andern vor Augen gehabt haben. Gehen wir vom Ersten aus, so entsteht die Frage, können wir es dem Apostel Petrus zutrauen, daß er eine solche anderweitige Quelle benutzt habe. im andern Falle, fragt es sich, wer ist der Ursprünglichere; und da werden wir es wahrscheinlicher finden, daß ein Christ wie Judas, dessen kirchliche Würde wir nicht kennen, von Petrus wird geschöpft haben. Lassen wir aber den Namen ganz weg, so erscheint der Brief des Judas natürlicher, der 2te Petri nachgemachter. Nun hindert schon das factum, daß die alte Kirche diesen Brief unter die antilegomena stellte, die Ursprünglichkeit des Briefs zu behaupten; dann muß man die Frage aufwerfen, hat diesen Brief Petrus gemacht, und es entsteht ein Verdacht, ohne daß die Sprache und die Composition sie bestätigen. Hier wäre es in Beziehung auf diesen Fall ein interessanter Umstand, wenn wir wissen könnten, wie es mit diesen Zweifeln in der alten Kirche gestanden hat; ob sie aufs Ungewisse entstanden, oder historisch sind. Darüber läßt sich aber nichts ausmachen. Als ein Beispiel von übereilter Kritik möchte ich den Verdacht anführen, den Eichhorn gegen den ersten petrinischen erregt. Der beruht auf keiner Vergleichung mit andern petrinischen Schriften, außer daß er behauptete, wenn der 2te Brief einem Andern zugehört, so muß es auch der 1te. Aber wenn mir kein Verdacht erregt ist, kann ich auf die bloße 6–7 zu machen] haben
20 wer] oder was
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12–31 Siehe die Ähnlichkeit zwischen dem 2. Kapitel des 2. Petrus-Briefs und dem JudasBrief.
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Übereinstimmung des Styls nichts geben, denn dazu ist die Masse viel zu klein. Es gehört ein Größeres dazu, um mir ein bestimmtes Bild zu entwerfen. Auf der andern Seite ist eine Vergleichung mit paulinischen Gedanken, da kann man sagen, es ist zwischen den Schulen des Paulus und Petrus eine Mißhelligkeit gewesen. In diesem Brief findet sich nichts davon, der Brief trägt den Typus der paulinischen Lehre, trägt keine Hinneigung zur Beobachtung des Gesetzes. Da schließt man also, weil der Brief keine Spuren der petrinischen Schule trägt, kann er nicht dem Führer der Schule angehören, sondern muß aus der paulinischen Schule sein. Das ist auch zu viel geschlossen. Petrus brachte zuerst das Christenthum unter die Heiden, und half nachher die paulinische Theorie vertheidigen. Ebenso weiß man nicht, was ein Schüler des Paulus alles müßte gesagt haben. Aber wenn man auch das Alles gelten ließe, so läßt sich dieses mit dem vorigen nicht addiren. Dasselbe gilt auch von der Ansicht, die den Brief des Jacobus will der paulinischen Schule zuschreiben. Es mußte sich offenbar für die griechisch Redenden ein eigenthümliches SprachGebiet bilden; die allgemeinen Kennzeichen von diesem, und die individuellen Schriftzeichen zu unterscheiden, können wir uns bei kleinen Massen nicht getrauen. Beim Apostel Paulus kann sich wohl ein solches Bild seiner Art und Weise bilden, aber mehr von seiner Art und Weise in der Komposition, als daß man sagen kann, das ist sein Ausdruk. Denn das Sprach-Bedürfniß war bei Allen gleich, und die hellenistischen Gemeinden mußten alle gleich behandelt werden. Man kann also nicht glauben, daß dieser Brief aus der paulinischen Schule sei, weil er den paulinischen Ausdruck an sich trage; man kann nur im Allgemeinen sagen, so müßte an Hellenisten geschrieben werden. Diese Sprache ist von Paulus zwar besonders gebildet worden, aber nicht kann man behaupten, daß nun kein Anderer so könnte geschrieben haben. – Das sind nun die Abstufungen, auf denen die critischen Abstufungen über diesen Theil des N.T. stehn. Sehn wir auf die Geschichte, so müssen wir sagen, der Gegenstand für die Kritik hat zugenommen; aber eben deshalb das Oscilliren. Wenn früher ein unbedingtes Vertrauen auf die Tradition zum Grund lag, so ist auf der andern Seite eine zu große Leichtigkeit in den critischen Maximen entstanden, und beide streiten um den Boden. Erst wenn beide sich ausgeglichen haben werden, wird man können zu einem festern Resultat gelangen als bisher.
25 sei] sein
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Ich habe bisher von einer Untersuchung nicht gesprochen, die eigentlich nicht in das Gebiet der höheren Kritik gehört, sondern rein historisch ist; nehmlich ob die Namen, denen die Schriften zugeschrieben werden, auf die uns bekannten Personen sich beziehen. Es hat das keinen Einfluß auf die Kritik, sondern bloß auf das kanonische Ansehn der Schriften, und darauf auch nur, wenn man es auf eine so bestimmte Klasse beschränken wollte, was auch einige Verfechter einer besondern Inspiration haben thun wollen; aber es ist das nie zu einem kirchlichen Ansehn gekommen. Dies gilt vom Brief des Jacobus und Judas; und wenn die 3 PastoralBriefe des Apostels Paulus nicht von ihm wären, so würde dieser scheinbare Betrug doch nicht hindern, daß sie im Kanon blieben. 2 t e r T h e i l . E y a g g e l i o n . Die 4 Evangelien, und die Apostelgeschichte, die sich als der 2te Theil zum Evangelium zu erkennen giebt. Was sind die kritischen Fragen, die hier zur Sprache kommen? Wenn ich vorhin sagte, es mache für die Kritik keinen Unterschied, ob der Verfasser dieses oder jenes Namens gewesen, so ist das hier nicht so ganz der Fall. Es giebt hier außer dem kanonischen Ansehn noch etwas, die historische Glaubwürdigkeit. Hier werden wir also diese Frage nicht ganz von den übrigen Fragen trennen können. Was hier den Hauptpunkt ausmacht, knüpft sich an etwas bei Gelegenheit der Briefe Gesagtes, unmittelbar an. Wenn man diese Schriften allein betrachtet, so kann kein Zweifel entstehn, daß sie dem Verfasser angehören, dem sie zugeschrieben werden. Da wird der Name in Beziehung auf die critische Aufgabe Null, nur den Fall ausgenommen, daß der Name ein so eigenthümlicher wäre, daß er auf eine bestimmte Person hinwiese, und wenn er mit geschichtlichen Nachrichten im Streit ist, daß ihm die Schrift zukäme. Nun liegt die Sache hier so, daß der Name bloß in der Überschrift vorkommt; nur Einer tritt in der Schrift selbst auf, Johannes, doch nicht dem Namen nach, und nicht persönlich, sondern unter der Bezeichnung, der Jünger, den Jesus lieb hatte. Sofern wir nun von Johannes den ersten Brief als eine unbestrittene Schrift ansehn, so ist hier die einzige Ausnahme, daß einem Verfasser auch eine andre Schrift angehört. Die Überschrift, als der Sammlung angehörig setzt voraus, daß Evangelium und Brief Einem angehören. Die Schriften an sich geben also keine Aufforderung zu einer critischen Aufgabe, mit Ausnahme des Johannes, das wir deshalb von den übrigen trennen wollen. Nun haben wir es also in Beziehung auf die Verfasser, denen die Schriften beigelegt worden sind, bloß mit den Überschriften zu thun. Da findet sich aber ein besonderer Umstand, daß sie eine eigenthümliche Form haben, womit der Name des Verfassers mit der Schrift verbunden wird, und zwar alle gleich und von den andern abwei-
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chend. Da entsteht also die Aufgabe, wird durch diese Formel ebenso ein Verfasser der Schrift bezeichnet, als auf die gewöhnliche Weise? Die Formel kataÁ ist eine sonst ungewöhnliche. Wäre nun hier etwas andres gemeint, als die Bezeichnung eines Verfassers, so würde dadurch die Frage eine ganz andre Gestalt bekommen. Nun kommt es hier darauf an, hat hier die Erklärung, die wir als Tradition bei den Kirchen Schriftstellern finden, das Gewicht eines Zeugnißes, oder ist es bloße Auslegung. Wir finden nirgends, daß die alten Schriftsteller einen Werth legen auf diese verschiedene Bezeichnung, sondern [sie] reden ebenso davon, wann, und wo, und unter welchen Umständen Matthäus und Marcus, und Lucas das Evangelium geschrieben haben. Sagen sie das nun, nicht deshalb, weil die Formel nichts anderes bedeuten kann, oder in Folge historischer Notizen? Einige sagen, es ist kein Grund zu zweifeln, daß diese Tradition sich auf gleichzeitige Zeugniße gründe; die Andern, wir können sie nicht auf solche Zeugniße zurückführen, also müßen wir es dahin gestellt sein lassen, bis sich welche finden. Das Erste zeugt von einem wenig erwachten critischen Geist. von dem 2ten müßen wir sagen: wenn sich nicht eine Beachtung aller vorkommenden Umstände zeigt, sondern das bloß als Skepsis hingestellt wird, so ist es ebenso wenig kritisch. Da das die erste Präliminar Frage ist, so ist das rechte Prinzip der Entscheidung: die Umstände, die von der Publikation dieser Schriften gesagt werden, zusammenzuhalten mit den LebensUmständen derer, die die ersten Autoren dieser tradition für uns sind. In dem Maaße, als diese im Zusammenhang stehn mit der Region und Zeit, wo diese erschienen sein sollen, würde sich behaupten laßen, daß die traditionen auf ein Zeugniß sich zurükführen laßen. Die Aussage bleibt aber bloße tradition, wenn sich nicht einsehn läßt, wie ein dort lebender Schriftsteller sichere Nachricht aus jener Zeit und jenem Ort sollte bekommen haben. – Nun noch etwas besonderes. Matthäus ist der Name eines Apostels, und da giebt es allerlei Annahmen über seine Lebens-Umstände. Marcus ist ein Name, der in Apostelgeschichte etc in Verbindung mit apostolischen Personen vorkommt. Nun werden diese Schriften auf diese Personen des Namens wegen zurückgeführt. Da es nun Nachrichten von ihnen giebt, so fügen sich die Angaben von dem Ort wo, und der Zeit wann und unter welchen Umständen in diese Nachrichten ein. Nun giebt es einen Takt, ein Gefühl darüber, ob diese Zusammenstimmung etwas ist, wovon man sich ein historisches Bild machen kann, oder ob diese Zusammenstimmung erkünstelt und nachgemacht ist. Das ist aber etwas subjectives; es läßt sich nicht behaupten, das in Andern hervorzubringen, wenn sie nicht ähnlich fühlen. Wem nun sein kritisches Gefühl das Eine zusagt, hat etwas, was
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ihm einen Ausschlag auf die 1 Seite; dem Andern auf die andre Seite [gibt]. Dadurch wird es zwar ein festeres für jeden sein, verliert aber an Objectivität, und läßt sich nicht auf eine allgemeine Weise entscheiden. Sie sehn wie schwürig die Aufgabe von dieser Seite ist. Der Eine sagt, ich habe keinen Grund zu zweifeln, daß die Angaben der Schriftsteller im 4ten und 5ten saeculo, die Zeugen aus dem 3ten saeculo anführen, auf gleichzeitige Zeugniße zurükgehn; und keinen Grund zu zweifeln, daß die Angaben von den LebensUmständen des Matthäus und Marcus ebenfalls auf solche Zeugniße zurükzuführen sind. Dann folgt von selbst, daß die Evangelisten Matthäus, und Marcus, der ermeneythw des Petrus ihr Evangelium da und da, und unter den Umständen schrieben; und kataÁ Matûaion ist dann wie der Genitiv zu übersetzen. – Der Andre sagt: Wir können nicht nachweisen, daß diese Schriften eher in der Christenheit bekannt wurden, als um eine gewisse Zeit. Zwischen der Zeit, wo sie geschrieben und wo sie bekannt wurden, liegt ein Zwischenraum von Generationen. Da sind wir ohne Nachricht, und können nichts bestimmtes aufstellen. Ebenso wissen wir nicht, woher jene Nachrichten von den Lebens-Umständen gekommen sind. nun läßt sich zwar nicht zeigen, woher jene falschen Annahmen gekommen sind. Aber da diese Namen gewöhnlich waren, so erzeugt das Verlangen, von den Aposteln, und den apostolischen Menschen etwas Geschichtliches zu haben, das Bestreben, etwas Geschichtliches unter diesem Namen dem, von dem man gern etwas wissen wollte, zuzuschreiben. Grade das fragmentarische und nicht Zusammenhängende dieser einzelnen Umstände, giebt der ungünstigen Vermuthung eine Wahrscheinlichkeit. Dazu kommt, es sind eine große Menge von christlichen Gemeinden entstanden, ohne daß man glaubhafte Nachrichten von ihrem Ursprung hätte. Nun ist es ein natürliches Verlangen bedeutender christlicher Gemeinden, auch einen bedeutenden Ursprung sich nachzuweisen, und deshalb das Bestreben, den Ursprung auf solche Personen zurückzuführen, wenn eine Gleichheit der Namen da war, auf die apostolische Zeit zurükzuführen. Weil also diese Nachrichten unbestimmt sind, die Angaben über die Schriften auf jene aber zurückgehn, aber das Verlangen zum Grunde liegen kann, die schon bekannten Schriften auf eine apostolische Autorität zurükzuführen; so läßt sich wohl denken, wenn jener da und dort gelebt haben soll, eine Conjectur diese Schrift, um ihre Autorität zu erhöhen, mit jenen Nachrichten zusammen brachte. Diese Ansicht würde also die geschichtlichen Angaben unentschieden lassen. 9 daß] folgt die Annahme,
11 Umständen] folgt ihr Evangelium
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Eine 2te Untersuchung ist nun die, ob die Überschrift den Verfasser bezeichnet, oder wegen der Ungewöhnlichkeit auf etwas andres gehe. Da kommt nun sehr viel auf die Frage an, ob diese Überschriften schon vor der Sammlung da waren, oder erst mit ihr entstanden, um sie zu unterscheiden. Ist das Letzte der Fall, so könnte bei Einigen die Bezeichnung ächt sein, bei andern bloß der Gleichförmigkeit wegen. Ist sie älter als die Sammlung, so muß die Bezeichnung bei Allen auf etwas besonderem beruhn. Es ist schwer, darüber etwas bestimmtes zu geben. Nur das ist gewiß, daß die beiden Titel eyaggelion und apostolow sehr alt sind; so wie der Letzte eine Sammlung von Briefen, so der Erste ein Inbegriff der Nachrichten von Christo. Geht man dieser Spur nach, so scheint diese Bezeichnung erst mit der Sammlung entstanden zu sein. Es giebt davon noch andre Spuren; daß nehmlich das Evangelium des Lucas im Kanon des Marcion bloß unter dem allgemeinen Titel toÁ eyÆaggeÂlion existirte. Dann bezeichnet die Überschrift nicht sowohl den Verfasser, sondern die Stelle in der Sammlung, eyÆaggeÂlion kataÁ gleich Sammlung aus dem Leben Christi, so wie der und der sie gegeben. Nun wissen wir, daß es eine mündliche Tradition in der christlichen Kirche gab, und da bleibt die Möglichkeit, daß die Überschrift bedeuten kann, das Buch sei das Evangelium nach der mündlichen Tradition, die von dem und dem herrührt, verfaßt. Das paßt auf den Lucas nicht, der müßte sie bekommen haben, weil die beiden andern Matthäus und Marcus sie hatten. Lucas schrieb die Schrift als Buch, beruft sich auf keine mündliche Tradition, sondern auf seine Forschung. Wäre Lucas der Typus, so müßten wir die umgekehrte Ansicht aufstellen; da aber die Ordnung in allen Codices so bestimmt ist, so scheint die Bezeichnung vom Typus des Matthäus hergekommen zu sein. Ich stelle das auf, um nur zu zeigen, wie man sich hüten muß, das Resultat seiner Forschung in nicht bestimmteren Ausdrücken aufzustellen. so Schulz im Anhang zu seiner Schrift zum Abendmahl: die Schrift des Matthäus könne nicht vom Apostel Matthäus herrühren. Ich kann nur sagen, diese Redaction ist nicht von ihm. Alles was die Abstammung vom Apostel Matthäus unwahrscheinlich macht, könnte ja wohl auf Rechnung der Redaktion kommen, das Zurükgehn auf die mündlichen Nachrichten von Matthäus kann ja wohl dabei bestehn. Dies sind die Fragen, die aus der Betrachtung der Bücher an sich, und ihrer gemeinschaftlichen Überschriften entstehen. Ganz andre Fragen ent36 entstehen] betrachtet 23–24 Vgl. Lukas 1, 1–4. 29–31 Siehe David Schulz: Die christliche Lehre vom heiligen Abendmahl nach dem Grundtexte des Neuen Testaments. Ein Versuch. Leipzig 1824 (SB 1785); dort die „Beilage. Bemerkungen über den Verfasser des Evangeliums nach Matthäus“, S. 302–322.
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stehn, wenn man sie vergleicht (wo es aber ungewiß ist, ob diese Fragen nicht der historischen Kritik angehören). Es zeigen nehmlich diese 3 Evangelien eine genaue Ähnlichkeit. Es wird also eine Untersuchung [erforderlich] über die Quellen der Schriftsteller, die diese Evangelien geschrieben haben; das ist zwar kein Geschäft unserer Kritik mehr, läßt sich aber doch nicht davon trennen. Da kommt nun die Sache in die Lage: daß man um das Übereinstimmende mit dem Differenten zu erklären, Hypothesen aufstellen muß. Da kommt nun Alles darauf an, sich bestimmte Vorstellungen von dieser Art der Ähnlichkeit zu machen. Sehn wir mal von den Evangelien ab. Denken Sie sich eine andre merkwürdige historische Person, von der Einer eine Lebens-Beschreibung macht, und daß Mehrere sich dasselbe Thema wählen. Dergleichen haben wir Mehrere. Wenn wir uns aber 3 wirkliche Lebens-Beschreiber denken, wird jeder einen andern Gesichtspunkt haben, deshalb eine andre Ordnung und Schattirung. Es würde sich also 1 und dasselbe Materiale aus Allen herausziehn lassen, aber um das zu können, müßte ich seine Ordnung erklären. Die Chronik müßte in Allen dieselbe sein. Die Darstellung in jedem von jedem einzelnen factum würde eine andre sein. Das ist nicht das Verhältniß unserer Evangelien. es ist gar nicht bloß das Material, sondern die Identität in einzelnen Abschnitten, die so groß ist, daß nur kleine Abweichungen vorkommen. Es sind ferner diese Bücher keine Lebens-Beschreibungen; weder ist eine Totalität der Verhältniße Christi, noch kommt uns die Totalität genetisch zur Anschauung. Wir kommen nicht zur Kenntniß, wie Christus zu den 12 gekommen. Auch keine Nachrichten von der täglichen Lebens-Beschäftigung Christi, und den Motiven zur Abwechselung darin. – Wenn man nun die einzelnen identischen Abschnitte isolirt, so tragen sie den Typus von Anecdoten an sich. Denken wir nun mal, es machen Mehrere eine Sammlung von Zügen aus dem Leben eines Menschen, die sie aber in eine bestimmte Ordnung bringen. Dergleichen giebt es sehr viel. Es liegt aber nicht in der Weise unserer Zeit, aus solchen Anecdoten eine Lebens-Beschreibung zu machen, die eine Beschreibung des ganzen Daseins sein soll. So wie wir uns das hinwegdenken, werden wir gleich eine größere Verschiedenheit vermuthen, als die wir hier finden; der Eine wird eine mehr reale Sammlung machen nach den Eigenschaften des Menschen; der Andre nach seinen äußerlichen und inneren Verhältnißen. Auch werden wir gleich aufstellen können, daß diese Züge nicht alle gleich sein werden; und zwar je näher sie an dem Menschen selbst der Zeit nach stehn, wird der Eine diesen, der 11 der] dem
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Andre jenen haben befragen können. – Wenn wir nun eine anschauliche geschichtliche Vorstellung gewinnen sollen, so theilt sich unsere Frage in zwei 1) wie geht es zu, daß diese Bücher mehr die Ähnlichkeit von Sammlung einzelner Züge, als von einer Lebens-Beschreibung haben, und 2) wenn das so ist, woher kommt es, daß diese Sammlungen keine größre Differenz des Stoffs darbieten. Die Lösung wird die beste sein, die in Übereinstimmung ist mit der Art, wie wir uns die ganze Entstehung der Bücher in jener Zeit zu denken haben. Um also die Sache auf einen Punkt zu bringen, würde ich sagen, die Auflösung, die die Sache bloß auf abstracte Formeln bringt, die hernach keine anschauliche Vorstellung geben, ist nicht die richtige. Dargestellt ist die Auflösung durch das UrEvangelium, wie sie Eichhorn gegeben. Das ist ein bloßes Formel-Wesen. Die Sache so zu behandeln: „das, was in Allen das Identische ist [ist ursprünglich], und das, was das Verschiedne ist, muß das Hinzugekommene sein.“ Wenn man nun das Identische in den 3 Evangelien auffaßt, so sind es bloß die Überschriften, und es werden ganz dürftige, trokne Skelette von Erzählungen; und die Hypothesen über die weitere Ausführung, gehen mit den ersten gar nicht zusammen. Denn man kommt darauf, das Ursprünglich Identische als das Apostolische, und das Lebendige, aber mehr fragmentarische für das Hinzugekommene zu halten. Beides soll man sich zusammen denken, die Apostel, die als beständige Begleiter Christi sollen das Skelettartige gegeben, und den Spätern, die doch erst aus andern Quellen schöpften, die lebendige Ausführung überlassen haben. Alles was in das Gebiet der ersten christlichen Litteratur (die Sammlung der apostolischen Väter) fällt ist so einfach, und so didactisch, daß man sich eine bloße Ausführung von schon bestehenden kleinen Nachrichten nicht denken kann. Kurz diese Ansichten sind bloße Formeln, die in kein anschauliches Bild zusammengehn; und will man das factum in die Zeit hineinversetzen, so geht es nicht. Da ist also eine andre Lösung aufgegeben. Mir scheint es wenigstens richtiger, davon auszugehn, daß es in der ersten Zeit Menschen gab, die Nachrichten vom Leben Christi verfaßten. in welchem Verhältniß kann diese mündliche Überlieferung gestanden haben zu unsern schriftlichen Evangelien? wo also die Antwort gegeben werden kann, es sei gar kein Zusammenhang; oder es sei einer. Den Zusammenhang zu leugnen ist 13 „das] das 11–12 Seine These vom Ur-Evangelium erörtert J. G. Eichhorn ausführlich in seiner ,Einleitung in das Neue Testament‘, Bd. 1, 1804, S. 148–415 (zugleich ,Kritische Schriften‘ Bd. 5). 13–14 Variante Bötticher, S. 438: „das Identische soll das ursprüngliche gewesen sein“.
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Mo 26.3.
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selbst nicht geschichtlich, weil mündliche und schriftliche Tradition sich so nahe liegen. Der richtigste Weg ist deshalb, einen solchen Zusammenhang aufzustellen, daß daraus die Übereinstimmung und Differenz sich erklären läßt. Auf diese Weise ist in dem letzten die Untersuchung in einen solchen Gang eingeleitet, daß sich daraus ein befriedigendes Resultat erwarten läßt. Es sind noch besonders 2 Punkte aus einander zu setzen. Eins von den 3 Evangelien, das des Lucas steht in eigenthümlichem Verhältniß zu einem andern Buch desselben Verfassers, die Apostelgeschichte, und 2) das Evangelium Johannes und sein Verhältniß zu den andern Evangelien, und den übrigen dem Johannes beigelegten Schriften. Was das Erste betrifft, so kommt Alles darauf an, was die Untersuchung für die Entstehungsweise der 3 ersten Evangelien für einen Ausgang nimmt. Das ist aber bei Lucas weniger der Fall, da er sich bestimmt auf schon früher vorhandene Erzählungen bezieht. Die Apostelgeschichte ist nun wieder ein Gegenstand für solche kritischen Untersuchungen, die in das Gebiet der historischen Kritik gehören; es fragt [sich], ob der Verfasser überall als Augenzeuge erzählt, oder gar nicht, ob in einigen Theilen, und wo nicht, von welcher Beschaffenheit sind da seine Quellen? Die Annahme, daß er überall als Augenzeuge erzählt, ist in hohem Grad unwahrscheinlich durch die Tradition über den Verfasser selbst; die stellt ihn als Begleiter Pauli dar, und schweigt ganz über sein früheres Verhältniß zum Christenthum. Das frühere muß er also aus andern Quellen erzählen. Ebenso ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß er immerwährend sollte um Paulus gewesen sein; denn aus den Paulinischen Briefen sehn wir, wie die Personen um Paulus wechselten. Nun fragt sich, wie verhalten sich beide entgegengesetzten Fälle, wo er als Augenzeuge spricht, und wo nicht, zur Art und Weise der Erzählung selbst, d. h. wie hat er, wo er nicht Augenzeuge ist, seine Quellen verarbeitet? Entweder, er hat Alles so überarbeitet, daß es ein Ganzes geworden ist, oder er hat Alles so gelassen, sowohl die Erzählung dessen, wo er Augenzeuge war, und die andern Nachrichten. Der allgemeine Eindruck, den das Buch macht, ist der, daß man keinen Unterschied in dem Ton der Erzählung im Ausdruck wahrnimmt. zwischen 2 Hypothesen muß man deshalb entscheiden. Man kann sich denken, der Verfasser hatte 2erlei Elemente vor sich, theils eigene, theils fremde, vielleicht aramäische, und hat sie zu einem Ganzen verarbeitet. Oder er hatte Materialien vor sich, die schon ausgearbeitet waren, und hat sie bloß zusammen vereinigt, wie die Differenzen in den Evangelien vereinigt worden sind. Die richtigere Hypothese würde nun die sein, die die Apostelgeschichte zugleich erklärte, und auch das Ver-
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hältniß zu dem Evangelium nicht schwürig machte. Sollte der Verfasser die Apostelgeschichte so bearbeitet haben, daß er das Material bloß als rohen Stoff benutzte, und Alles sonst mit seiner Hand machte, so ist eine Differenz zwischen der Apostelgeschichte und dem Evangelium, und es müßte auch eine andre BehandlungsWeise in der Apostelgeschichte als im Evangelium sein. Sind dagegen die Erzählungen der Apostelgeschichte auch nur zusammengestellt, so kann eine kleine Differenz der Apostelgeschichte vom Evangelium des Lucas keinen Einspruch thun. Nun sind es 2 verschiedene Werke von 1 Verfasser, müßen sie dann auf gleiche Weise komponirt sein? an und für sich nicht; aber wenn ein Schriftsteller 2 historische Werke schreibt, und das andre als den 2ten Theil des ersten darstellt, so hat man doch Recht zu vermuthen, er werde die verschiedene Entstehungsweise des 2ten wenigstens mit ein Paar Worten angedeutet haben. Fragt man, wie verhalten sich diese 2 Hypothesen zu der Apostelgeschichte selbst, so ergiebt sich, wenn dieselbe Beziehung wieder vorkäme, [daß] der Verfasser die Materialien mit einem Guß verarbeitet hätte; wenn aber dergleichen nicht vorkommt, so ist es wahrscheinlich, daß der Verfasser die Materialien ließ, wie er sie fand. z. B. In dem letzten Theil der Apostelgeschichte wird in der ersten Person gesprochen, daher der Verfasser sich mit unter die Handelnden rechnet. ist das nun in eine solche Beziehung gebracht, daß ein Übergang aus dem vorigen darin statt findet, so spräche das für eine Überarbeitung, wo das nicht ist, eine bloße Zusammenstellung. Da kommt alles auf diesen Takt, dies Gefühl für das Wahrscheinliche an, wo man sich nur sehr hüten muß vor den jetzigen Sitten der Schriftstellerei; und auf der andern Seite das Kunstlose der NeuTestamentischen Schriften nicht auf etwas Unnatürliches auszudehnen. D a s E v a n g e l i u m J o h a n n e s in seinem Verhältniß zu den andern 3 Evangelien und zu den andern Johanneischen Schriften. Die Überschriften, wodurch ihm die Schriften beigelegt werden, stehn in gleichem Verhältniß in allen diesen. so wie die Überschriften der epistolarischen Stücke erst in der Sammlung entstanden, so auch die Überschriften der Evangelien in ihrer dermaligen Gestalt (kataÁ) auch erst mit der Sammlung. folgt nun aus den gleichen Überschriften ein gleiches Verhältniß des Verfassers zu dem Buch, oder nicht? Ist es wahrscheinlich, daß diejenigen, die die Sammlung machten, dem Johannes die Überschrift beilegten, weil sie von der Voraussetzung ausgingen, es verhalte sich wie die übrigen Evangelien. Hier ist aber eine größere Einigkeit gewesen als sonst wo auf diesem 24 muß] muß, sich
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Gebiet. Das Evangelium dringt sich als eine Einheit auf, und jeder wird sagen, es hat das Evangelium nur die Überschrift bekommen wegen der Gleichstimmung mit den 3 andern Evangelien. Nun aber entsteht die Frage, in Beziehung auf die Evangelien, wie sich nun in Beziehung auf das Identische und Differente das Evangelium Johannes zu den 3 andern verhalte. Da ist eine traditionelle Nachricht, daß Johannes in seinem späteren Alter das Evangelium nach den 3 andern geschrieben habe, und diese habe ergänzen wollen. Diese Ergänzung könnte 3fach sein, einmal in Beziehung auf den Gegenstand der Darstellung, das eyaggelion pneymatikon, oder in Beziehung auf die von den 3 Evangelien ausgelassenen, oder aber zum Verständniß der andern nothwendigen Umstände. Eine solche Differenz des Tons und Gegenstands der Darstellung ist vorhanden. Aber nun ist eine ganz andre Frage die, sind jene traditionellen Nachrichten als ein Zeugniß anzusehn; und in Ermangelung dessen, haben sie, wenn man auf das Ganze sieht eine große Wahrscheinlichkeit, und 3) bewähren sie sich auch in Beziehung auf die einzelnen Punkte. – Die Antworten sind verschieden. Einige gehn in Beziehung auf das Erste von strengeren, andre von laxeren Grundsätzen aus. in Beziehung auf den Punkt käme es im Vergleich mit den Briefen des Johannes darauf an, ob das Evangelium Johannes aus einem hohen Alter sein kann. wenn das nicht ist, so muß Johannes beides zugleich herausgegeben haben, oder es wird sich die umgekehrte Ordnung ergeben, die epistolarischen Stücke werden die Ältern sein. Nun giebt das Evangelium wohl nicht den Eindruk, daß ein alter Mensch Verfasser desselben sei; auch ist der Styl nicht wesentlich verschieden von dem der Briefe. Sieht man aber darauf, sind die Differenzen dieses Evangeliums und der 3 ersten von der Art, daß man sich eine anschauliche Vorstellung davon machen kann, Johannes habe die andern Evangelien vor sich gehabt und ergänzt, so hätte er doch wo Widersprüche sind, als höchst wahrscheinlicher Augenzeuge das Eine billigen, das Andre verwerfen müßen. Da kommt es nun darauf an, sich diese Ungleichförmigkeit zu erklären. Der Eine sagt, es schien ihm unbedeutend, diese Differenzen aufzunehmen, der Andre sagt: Nein, er wird die andern Evangelien nicht vor sich gehabt haben, sondern nur Materialien, die diese Evangelisten benutzen, haben verbessern wollen. Hätte ich hier weiter eindringen wollen, so hätte ich eigentliche Resultate meiner Untersuchung geben müßen; das schien mir aber eher nachtheilig, und ich schließe diese Vorlesung mit dem Wunsche daß das
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ihnen in ihren eignen Untersuchungen über das N.T. eine sichere Leitung sein möge.
den 26sten März 1827.
Kolleg 1832/33 Nachschrift Calow
BBAW, Schleiermacher Nachlaß (SN) 574
F Calow
Die Hermeneutik und die Kritik.
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Die Hermeneutik und Kritik, beide Disciplinen sind in der Anwendung nur durch Uebung zu lernen, da aber diese Uebungen hier nicht Statt finden können, so folgt daß die Lehren zu den Kunstregeln gehören, wo man mit der Lehre nicht auch gleich die Anwendung hat. Beide Wissenschaften sind verwandt, wie schon ihr Nahme bezeichnet, sie werden ja beide philologische Disciplinen benannt. Bereits August Wolff in seinem Museum der Alterthumswissenschaften, der Hermeneutik, Kritik und Grammatik sagt, diese Wissenschaften seien die Vorhallen der philologischen Wissenschaft und bezieht diese philologische Wissenschaft auf das classische Alterthum. Wie die Sprache zu verstehen, lehrt die Grammatik, wie das, was man liest, zu verstehen die Hermeneutik, zugleich auch wie es auszulegen, die Kritik hat es mit der Geschichte der Schriften zu thun. Gewöhnlich versteht man aber diese weit spezieller zB wo es darauf ankommt zu untersuchen ob jene Schrift jenem Verfasser angehöre, ob der Text verfälscht sei u.s.w. Wir nun haben es mit Hermeneutik und Kritik zu thun. Beide sind philologische Wissenschaften wie Ast gezeigt, doch behandelt dieser sie mehr als Anhang zu den philologischen Wissenschaften. Faßt man Philologie aber nur in Beziehung auf das classische Altherthum so ist dies zu eng, dabei kommt man nicht auf richtige Grundsätze.
8–12 In seiner ,Darstellung der Alterthums-Wissenschaft nach Begriff, Zweck und Werth‘ (in: Museum der Alterthums-Wissenschaft, hg. F. A. Wolf und Ph. Buttmann, Bd. 1, 1807) sagt Wolf in Bezug auf Grammatik, Hermeneutik und Kritik: „nur die sichere Handhabung des beschriebenen Organon ist die Bedingung gründlicher, das Kennzeichen selbst erworbener Einsichten in das Alterthum; nur dadurch öffnet sich der Tempel, aus welchem den draußen Stehenden bloß vereinzelte heilige Sagen zukommen“ (S. 46 f.). 18–20 In Friedrich Asts ,Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik‘ (Landshut 1808) wird die Grammatik recht breit (S. 1–162), die Hermeneutik weit sparsamer (S. 165–214) und die Kritik mehr wie ein Anhängsel (S. 215–227) behandelt.
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Hermeneutik.
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Die Hermeneutik hat einen weitern Bezug als auf das classische Alterthum und die Literatur, sie ist auch von täglichem Gebrauch, denn wenn Einer redet, der Andre versteht, so ist eben dies Verstehen die Operation des Andern, bei welcher es denn kommen kann, daß der Eine bei der Rede des Andern nicht dieselben Gedanken hat als dieser Andre will. Vielleicht thut der Redende nicht das Seinige zur Klarheit, und wie hieraus hervorgeht und hierin besteht die Leichtigkeit und Schwierigkeit der Schriftsteller, so ist es auch im täglichen Leben bei einer lebenden Sprache, die beiden geläufig auch sein mag. Wenn Jemand die Sprache eben so handhabt wie der Andre, so ist ein Mißverständniß nicht so leicht möglich, aber wenn Jemand von der Art des Andern abweicht, so braucht man dann gerade die Hermeneutik. Sie ist also allgemein die Kunst des Verstehens gleichviel der Muttersprache oder einer fremden. Eine so umfangreiche Hermeneutik besteht indeß noch nicht, auch sind jene Gesichtspunkte noch nicht zugestanden wiewohl die Sache doch gar nahe zu liegen scheint, denn es ist ja noch nicht das literarische Leben dem Alltäglichen so ganz gleich gemacht, und doch hat Wolf gewiß sein tägliches Leben mit der Wissenschaft sehr zusammengehalten, und so müssen wir denn fragen, wie ohne auf ihre rechten Prinzipien gebracht zu sein diese Disciplin sich gebildet hat. Weil das Verstehen sich von selbst versteht, ist das bewirkt, die Auslegung gehört also zu den Ausnahmen. Betrachten wir die Sache zunächst von der Literatur, so finden wir, daß schon sehr früh Commentatoren den Autoren folgten, wie die Alexandrinischen Grammatiker dem classischen Griechischen Alterthume, wie Scholiasten sich aufthaten bald mit realen Scholien, in denen sie Sachkenntniß geben[,] bald mit exegetischen. Bei diesen Erklärungen nun von Schwierigkeiten mußten Differenzen entstehn, und hier fängt denn die hermeneutische Theorie an. Wie verhalten sich nun beide Sätze? 1 Das Verstehn versteht sich von selbst oder 2t. Das Verstehn muß begründet werden und versteht sich nicht von selbst? Nach dem Ersteren ist das Mißverstehn nur auf ein Versehn gegründet, ist das Zweite richtig, so ist eine auf allgemeine Principien zurückgehende Theorie nothwendig. Beurtheilen wir die beiden Sätze aus der Erfahrung, so ist die Erfahrung allgemein, daß wenn man sich in irgend einem Puncte im Nichtverstehn befindet, dann muß vorher schon ein Mißverstehn vorhanden sein. Dies ist auch ganz natürlich, denn wenn ich nur mit denselben Größen calculirt habe, so kann ich nicht, wenn der Andre verständig redet gleich ganz nicht verstehn. Nun kom-
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men aber bei der Rede innerhalb des Denkens oft solche Mißverständnisse vor und so muß ich ein früheres Mißverstehn von meiner Seite suchen. Vor solchem Mißverstehn sind wir nicht einmal im gewöhnlichen Leben sicher, so muß ich also mich davor auf alle Weise zu hüten suchen, und es [wird] die Hermeneutik nun die Anleitung zu einem kunstmäßigen Verstehn und tritt also ganz aus dem philologischen Cyclus heraus. Wie ging es nun zu, daß man in dem engen Kreise stehn blieb? Wolf sagt eine richtige Hermeneutik sei auf Grammatik gebaut, doch muß man nicht an die Griechische und Lateinische Grammatik besonders denken, da ja jede Sprache ihre besondre Art und ihre eigenthümlichen Orte hat, die Hermeneutik bleibt also bei jeder einzelnen Sprache stehn und gibt dort bestimmte Regeln aus der Erfahrung. Wolf fährt fort, die Hermeneutik wolle eigentlich die Kunst sein, die Gedanken eines Schriftstellers mit Nothwendigkeit einzusehn aus seiner Rede, welches wiederum allgemeiner ist als der philologische Standpunct, dennoch blieb Wolf hiebei stehn, weil er meinte, es fehle der Hermeneutik noch sehr viel, doch schade das nicht, da der geniale Künstler auch ohne Theorie würde operiren können. So ging er ganz in das Gebiet der schönen Kunst, wo sich die Künstler an die Theorie nicht kehren. So die Hermeneutik angesehn kommt man auf den Begriff des Genialen. Dabei lag also bei Wolf das unklare Bewußtsein zum Grunde, daß zwischen Hörenden und Sprechenden immer Etwas ist. Nun ja bei einem genialen Dialog handelt es sich um Kunst, da mag dieser Satz gelten, und wenn der Rhapsode sagt, er allein verstehe den Dichter, so ist das möglich, denn da zwischen dem Hörenden und Redenden nur Ein Hinderniß zuerst ist, das je nach der Verschiedenheit groß und klein sein kann, der Nullpunct des Hindernisses aber ist, wenn der 5 kunstmäßigen] kunstmäßigem
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12–19 Wolfs grundlegende (trotz ihrer unglücklichen Formulierung von Schleiermacher richtig verstandene) Passage (S. 37 f.) lautet: „Die nächstfolgende, auf die Grammatik der griechischen und lateinischen Sprache gebaute, Hermeneutik war unter den Händen mehrerer guten Ausleger bisher schon sehr vollkommen, doch als Theorie ist sie es noch keinesweges. Noch sucht sie für die Kunst, die Gedanken eines Schriftstellers aus dessen Vortrage mit nothwendiger Einsicht aufzufinden, mancherlei Begründung in Untersuchungen über die Natur der Wort-Bedeutungen, über Sinn eines Satzes, über Zusammenhang einer Rede, über viele andere Punkte der g r a m m a t i s c h e n , r h e t o r i s c h e n und h i s t o r i s c h e n I n t e r p r e t a t i o n . Jedoch zum Glück für die Ausübung wird durch dergleichen Analysen das Geniale des Auslegungs-Künstlers nicht eben geweckt, auch nicht vermehrt die Gewandtheit des Geistes, um in mehrere Sprachen und in die verschiedenen Alter einer jeden, in die von der heutigen so abweichende Denkart früherer Jahrhunderte, in die Eigenheiten jeder Gattung der Rede, in die persönlichen Individualitäten eines Autors einzugehen, und so mit jedem Autor übereinstimmend zu denken, ja indem man die Erscheinungen der Litteratur vor und nach ihm vergleicht, noch beurtheilend über ihn zu denken. Denn dies, dies ist erst das Verstehen in höherer Bedeutung, dasjenige, wodurch der Ausleger, allenthalben einheimisch, bald in diesem, bald in jenem Zeitalter mit ganzer Seele wohnt, und hier einen trefflichen Schriftsteller der Bewunderung, dort einen unvollkommenen dem Tadel des Lesers mit Beweisen seiner Urtheile ausstellt.“
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Hörende zugleich der Redende ist, so versteht sich hier der Satz von selbst, hier ist kein Hinderniß. Aber nun ist aber Niemand der Andre, also ist auch nirgends der Satz wahr. Worauf muß denn nun das Verfahren beruhn, das Hinderniß zu heben? Man muß das Hinderniß (mathematisch) auf das kleinste Hinderniß, auf das Minimum bringen und da kann es denn bis zur nothwendigen Einsicht kommen, denken wir aber an den andern Wolfschen Ausdruck: Genialer Künstler, so muß es der sein, der sich in den Moment des Sprechenden versetzen kann. Hier spaltet sich also die Aufgabe in 2 verschiedene Seiten, ob man sie allgemeiner oder philologisch faßt. Ast in seinem Compendio geht mehr auf den allgemeinen Standpunct doch nur vorübergehend. Er sagt: Sobald wir aus unserm gewöhnlichen Gebiete unsrer geistigen Thätigkeit herausgehn, so träten uns unbekannte Gegenstände entgegen. Was ist aber das gewöhnliche Gebiet? Ast würde sagen: meine Sprache und zunächst mein Kreis, und so immer mehr diesen Sprachkreis beschränken, daß zuletzt nur bei sich selbst Jeder zu Hause sei und Alles andre fremd. Hätte Ast dies verfolgt, so wäre er allgemeiner geworden, betrachten wir aber seine Erklärung der Hermeneutik im engern Sinne, so wird es schwierig. Er sagt: Hermeneutik sei Erklärung der alten Schriftsteller, und sie sei nur durch Kenntniß des ganzen Alterthums möglich. Aber man kommt doch nur zum Verständniß des Alterthums durch die Schriftsteller, durch sie kennen wir erst jenes Leben, und es scheint so Asts Aufgabe unauflöslich. Aber ebenso ist die Wolfische: Die Hermeneutik sei auf Grammatik gebaut, und es ist doch Grammatik das Resultat von Hermeneutik, nun soll es umgekehrt auch wahr sein. Dazu können wir noch hinzusetzen: Die Hermeneutik sei auf Kritik gebaut, denn Diese muß Jener erst den Boden rein machen, und doch kann ich zur Kritik nur durch die Hermeneutik kommen. Wir haben schon gezeigt, daß diese 3 Disciplinen coordinirt sind und sich gegenseitig voraussetzen. Aber so steht es nun einmal: eine jede von ihnen kann nur in der Wechselwirkung mit den Uebrigen zur Vollkommenheit gelangen. Da aber die ersten Anfänge schon unvollkommen sind, so steht nicht viel zu erwarten. Das ist aber nicht anders 14 zunächst mein] über (mein nächster) 7 Wolf: Darstellung, S. 37. 11–13 ,Um so dringender werden diese Grundsätze, wenn wir aus underer geistigen und physischen Welt in eine fremde übergehen, wo kein verwandter Genius unsre unsicheren Tritte leitet, unserm unbestimmten Streben seine Richtung giebt‘ (S. 165). 18–20 „Die Hermeneutik […] setzt daher das Verständniß des Alterthums überhaupt in allen seinen äusseren und inneren Elementen voraus, und gründet darauf die Erklärung der schriftlichen Werke des Alterthums.“ Ast, Grundlinien, S. 172) 25–26 „Die nächstfolgende, auf die Grammatik der griechischen und lateinischen Sprache gebaute, Hermeneutik“ (Wolf, S. 37).
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möglich, ehe wir die Kunst feststellen, sind wir schon mit der Operation beschäftigt, wir sind es ja schon als Kinder, erst an die künstliche Ausübung knüpft sich die Kunst. – Da nun die Hermeneutik einerseits in einen Complexus von Disciplinen gehört, zu denen Kritik und Grammatik gehört, andrerseits aber in einen andern wenn sich die Kenntniß des Gesammtlebens ergibt, so folgt daß die Hermeneutik in 2 verschiedene Gebiete gehört. Wir gehn hier natürlich davon aus daß es keine wissenschaftliche Behandlung geben kann ohne auf die Einheit alles Wissens zurückzugehn, sonst wäre sie einzeln und unvollständig. Gehört nun die Hermeneutik zu 2 Complexen der Wissenschaften, so hätte sie 2 verschiedene Orte in dem ganzen Wissen. Auf beide Weisen behandelt hat sie gewiß keine Einheit, und sie wäre also zufällig, und wenn die Hermeneutik nur ein solches Aggregat von Beobachtungen ist, so ist sie ja gar keine Wissenschaft. Es wird uns nun sehr weit führen diese Schwierigkeit zu lösen, wir werden ihm aber nicht entgehn können. Entstanden ist uns diese Schwierigkeit in den verschiedenen Verfahrungsarten von Ast und Wolf zufällig, aber auch sonst hätten wir darauf kommen müssen, nothwendig. Denn die Hermeneutik gehört mit Grammatik und Kritik zusammen, weil ich die Sprache des Sprechenden verstehn muß und Grammatik die Kenntniß der Sprache als eines organischen Ganzen ist; und ebenso mit der Kritik, weil Reden und Schreiben eine mechanische Operation sind, Versehen also darum leicht möglich sind. Aber (wie Ast will,) daß die Rede des Einzelnen aus dem des Einzelnen nicht allein sondern des Gesammtlebens überhaupt, dem das Einzelne angehört verstanden werden kann, bedarf noch der Erklärung. Ein Complex von Gedanken ist der Lebensmoment eines Einzelnen. Redet nun Einer, 2 hören zu ein Bekannter und ein Unbekannter, so wird dem Bekannten das Verstehen weit leichter sein, weil er die Lebensmomente des Sprechenden schon kennt und den Zusammenhang also auch leicht faßt, der Andre hat eine doppelte Aufgabe. So kann die Rede des Einzelnen nur verstanden werden, wenn sein Leben bekannt ist. Unser Satz war von größerem Umfange. Zur Kenntniß des Lebens eines Einzelnen kommen wir durch die Erkänntniß des Gesammtlebens, dem er angehört, mag dann die Sprache verschieden sein oder nicht, wenn das Gesammtleben nur verschieden ist. Dieser Satz ist also auch richtig. So gehört also die Hermeneutik zu 2 14 uns] uns uns 22–25 „Alle Deutung und Erklärung eines fremden und in einer fremden Form (Sprache) verfaßten Werkes setzt Verständniß nicht nur des Einzelnen, sondern auch des Ganuen dieser fremden Welt voraus, dieses aber wieder die ursprüngliche Einheit des Geistes“ (Ast, S. 171 f.).
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Regionen, und soll doch als Eine wissenschaftliche Disciplin behandelt werden. Wir verfolgen die Verwandtschaft noch weiter. Hermeneutik, Grammatik und Kritik haben es mit der Sprache zu thun, die Sprache ist aber nur die Art und Weise des Gedankens wirklich zu sein; denn es gibt keinen Gedanken ohne Rede; die Rede ist zwar zufällig aber Niemand kann denken ohne Worte, so muß man also die Rede ihrem Denkinhalte nach verstehn, denn der Gedanke kann nicht vollständig sein ohne Worte, beruht nun die Hermeneutik auf Grammatik so ist jeder Denkinhalt nur wirklich durch die Sprache. Betrachten wir nun das Denken in dem Acte der Mittheilung so ist die Tendenz des Denkens, als das Mittheilbare, das Wissen als Allen gemeinsam zu machen. Die Hermeneutik hat also mit den andern gemeinsam ihren Sitz in der D i a l e k t i k . Anderseits nun: Die Rede kann nur durch Kenntniß des Gesammtlebens verstanden werden, der menschliche Geist ist das Prinzip des gestaltenden Lebens aber das kann sich in verschiedenen Erdregionen verschieden gestalten und (die Darstellung dieser Gestaltung) dies alles zusammengenommen ist die G e s c h i c h t e , so bekommen wir den allgemeinen Satz: Eine jede Rede ist nur durch die Kenntniß der sie angehenden Geschichte zu verstehen. Aber wenn die Hermeneutik eine wissenschaftliche Disciplin ist so kann sie nicht auf einer solchen Geschichte beruhen, die nur ein Aggregat von Thatsachen ist; doch ist die Geschichte auch nicht ein zufälliges Aggregat, sondern wir suchen darin ein allgemeines Gesetz, welches nun in der E t h i k seinen Grund hat. Also beruht die Hermeneutik auf Dialektik und Ethik, welche beide jedoch nicht coordinirt sind; denn nach antiker Weise ist Dialectik, Physik und Ethik eine Trias, so daß Dialektik auf einer Seite, Physik und Ethik auf der andern Seite stehn. Aber indem die Differenz des menschlichen Geistes auch mit dem Physischen des Erdkörpers zusammengehört, finden wir daß die Hermeneutik in dem allgemeinsten Wissenschaftlichen ihren Grund hat, und so wäre Hermeneutik eine Theorie, wonach eine allgemeine Aufgabe des Lebens gelöst werden soll. Alle Theorie beruht so auf Ethik und Natur, da im Leben Geistliches und Natürliches nebeneinander ist. Dies gilt übrigens von allen Wissenschaften. Wir kommen nun zur Duplicitaet der Hermeneutik zurück 1. Das Verhältniß zur Grammatik. 2. zur Seelenkunde (Psychologie). Der Satz Wolfs, daß Hermeneutik auf Grammatik beruhe, ist in sehr großem Umfange zu verstehen. Eine jede Rede ist ein Product der bestimmten Sprache; der Einzelne in seinem Denken ist immer durch die Sprache bedingt, da nun das Denken auch zugleich eine innerliche Sprache ist so bezeichnet die Sprache sogar den Fortschritt eines Jeden im
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Denken, weil die Sprache ein System von verwandten Vorstellungen ist, jedes zusammengesetzte Wort eine Verwandtschaft ist (dabei hat jede Vorsylbe u.s.w. eine eigenthümliche Bedeutung); doch ist das System der Modification in jeder Sprache ein andres, und alle Acte des Mittheilens der Gedanken sind nur eine Art und Weise, wie die Sprache erscheint. Die Individualität des Redens ist eine bestimmte Art der Aeußerung durch eine Sprache, wie bei bedeutenden Schriftstellern wir eine Verschiedenheit des Styles sehn. So ist der Totalumfang des Satzes: Hermeneutik beruhe auf Grammatik, vollkomnes Verstehn ist durch vollkomne Kenntniß der Sprache bedingt. Nun tritt uns auch die vollkomne Gegenseitigkeit lebendig vor Augen, und wir erkennen, daß Grammatik und Hermeneutik jedes für sich anzufangen sei. Der andre Satz: die classische Hermeneutik setzt ein Verständniß des classischen Alterthums voraus oder allgemeiner: Jede Rede ist nur aus dem ganzen Leben zu verstehen, dem sie angehört, ist auch klar: Jeder ist nur durch seine Abstammung, Erziehung, Gesellschaft zu verstehn, und wollen wir dies Fragmentarische zum Ganzen erheben, so sagen wir: der Einzelne ist nur zu verstehn durch seine Nationalität und sein Zeitalter, hierin liegt denn auch die Erklärung von Ast eingeschlossen. Gibt es denn nun eine zwiefache Hermeneutik? Manche werden behaupten es gebe eine mehrfache, manche, wenn sie nicht Verwirrung erregen solle so dürfe sie nur einfach sein. Beim neuen Testamente nennt man zB eine grammatische, eine dogmatische, eine mystische etc Interpretation, doch muß ich wenn ich die Möglichkeit mehrer Hermeneutiken denke auch die ihres Widerspruches denken; wenn eine jede Rede aus der Totalität der Sprache erklärt werden muß, so möchten die hermeneutischen Regeln in den grammatischen ihren Grund haben. Ist dagegen eine Rede als ein Lebensmoment des Sprechenden zu erklären so werden wir geführt auf die Lebenseinheit des Sprechenden, wir müssen diese kennen lernen (s.o.) und so werden diese Regeln ihren Grund in der Menschenkenntniß haben müssen. Nun ist es nicht nothwendig daß jene Regeln der Sprachkenntniß und der Menschenkenntniß immer zusammenfallen, nur zufällig kann es geschehen. Die Differenzen der Einzelnen aber sind in der Nationalität zusammengestellt, in welcher auch die Sprache ihren Grund hat, und so fallen Sprachkenntniß und Menschenkenntniß in der Nationalität zusammen. Ja wenn wir die Sprache ganz in ihrem Totalverhältnisse zur Nationalität kennten und andrerseits wüßten, diese Nationalität könne nur diese bestimmten Individuen hervorbringen so 4 und] Und
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wäre gar keine Ausnahme. Aber so weit haben wir es nicht gebracht und grammatische Interpretation und psychologische könnten also wohl verschiedene Resultate geben. Betrachten wir nun die Aufgabe insgesammt, so müssen wir von beiden Punkten besonders ausgehn und je mehr durch die Hermeneutik die Sprachkunde und die Menschenkenntniß durch die Beobachtung ausgebildet wird, desto vollständiger werden beide. Zuerst fragen wir also, wie gelangen wir zu festen Regeln eine Rede zu verstehn ohne Rücksicht auf die redende Person, 2tens, wie gelangen wir zu festen Regeln, um eine jede Rede als That dessen, von dem sie herrührt zu verstehn? Wir müssen so denken: Die grammatische Interpretation ist nur dann vollkommen, wenn die psychologische nicht gebraucht wird, aber dieser Punkt wird eben nur erreicht, wenn das Letztere im Ersten schon enthalten ist, also aus der Rede muß auch das Verhältniß des Menschen zugleich klar werden, ebenso umgekehrt: wenn wir die Rede eines Menschen verstehn wollen als ein Moment seines Lebens so ist uns die Sprachkenntniß ein Mittel dazu. Gehn wir nun darauf aus und haben die Mittel, so müssen wir sagen, indem ich die Rede als That vollkommen verstanden habe, sind mir auch alle Schwierigkeiten der Sprache verschwunden und der ganze Sprachwerth ist mir deutlich. So beruht also Eins auf dem Andern, und das geht in Einen Punkt zusammen, da der Mensch schon in seiner Entwiklung an die Sprache, der er angehört gebunden ist. Andrerseits, wenn wir die Rede ohne Bezug auf den Redenden bloß als sprachlich denken und sie objectiviren, so ist die Sprache zu verschiedenen Zeiten verschieden, und das rührt nur von denen her, welche die Sprache gesprochen haben, also, jeder Mensch ist ein besondrer Ort, in dem sich die Sprache kund gibt, aber umgekehrt ist auch die Sprache ein Werk derer, die sie gesprochen haben, und so wird die Sprache ein Abbild der Redenden, der Spiegel in dem sich der einzelne Mensch abspiegelt. So erkennen wir die Gegenseitigkeit, durch welche Eins nur mit und aus dem Andern begriffen und begründet wird. Sehn wir nun auf die Kritik, so finden wir in dem Sprachgebrauche die Unterscheidung von niederer und höherer Kritik. Vielleicht verhält es sich auf unserm Gebiete auch so. Soll das die niedere sein, welche die Rede in Bezug auf die Sprache behandelt[,] die andre die höhere? Man kann freilich sagen, die Rede auf die Sprache zu beziehn ist auf gewisse Weise mechanisch, denn sind Schwierigkeiten da, so kann man diese als unbekannte Größen ansehn, die Sache wird mathematisch ist also mechanisirt, da ich sie auf einen calculus gebracht. Da aber Hermeneutik eine Theorie ist, und die Sache selbst eine 33 welche] welche welche
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Kunst, so ist diese mechanische Seite eine niedere Kunst. Jenes andre Verfahren, eine Rede als Thatsache zu verstehn läßt sich nicht so mechanisiren, da ich mit Individuen zu thun habe und das Individuelle nie dahin geführt werden kann, weil es keine Zahl ist. Doch auch umgekehrt, gehn wir darauf aus, die Sprache zu objectiviren, so wird der Einzelne ein Ort der Sprache sein, er wird ein untergeordnetes, denn da das ganze Wesen des Einzelnen durch das Denken, das Denken aber wieder durch das Sprechen bestimmt wird, so folgt daß die Aufgabe die Rede aus der Sprache zu verstehn die Andre, die psychologische schon in sich schließt, und es wird, während Diese das Ganze ist, Jene nur ein Theil derselben werden. Nehmen wir hizu, daß die Sprache durch jenen Act so und so ganz bestimmt geworden sei, so ist es durch kein mechanisches Verfahren so, sondern eher ein Individuelles; bedenken wir dazu, daß die Sprache eigentlich ein Individuum gegen Andre sei, so ist sie als eine gleich hohe Aufgabe zu verstehn als die Andre. Jede Aufgabe löst um so vollkomener, als sie die andre in sich schließt und überflüssig macht. Wenn wir aber nun ins Einzelne gehn, so werden wir sagen, daß in einer einzelnen Aufgabe die Seiten wieder nicht gleich stehn, denn es gibt ja Schriften bei denen das eine Interesse das andre überwiegend ist und bei einer andern wieder umgekehrt. Bei einer Schrift wird eine Seite der Aufgabe sehr vollständig gelöst werden die andre gar nicht zB man findet ein Fragment, ohne zu wissen wem es gehört, so kann man wohl aus der Sprache das Zeitalter und die Localität in der Sprache angeben, aber um den Einzelnen zu sichern, ist durch diesen einen Lebensact nicht möglich gemacht. Hat man aber durch die Sprache eine Sicherheit über den Verfasser, so kann jetzt erst die andre Aufgabe beginnen. Während also in ihrer Totalität jene Aufgaben gleich sind, sind sie dies doch nicht wenn man in einzelnen Werken nach ihren Leistungen fragt wie nach dem was gefodert wird. Also bildet das Einzelne die Differenzen, die Schwierigkeit, das Interresse. Wir müssen nun die Hermeneutik als Kunst gelten lassen, indem ihre Thätigkeit den Charakter der Kunst in sich trägt, da mit Regeln auch ihre Anwendung noch nicht gefunden ist da sie nicht mechanisirt werden kann. Doch braucht sie nicht in ein Kunstwerk zu enden. Ebenso setzt diese Kunst ein besondres Talent voraus und so wird denn nach der Duplicität sich das Talent bestimmen lassen. Wenn wir jede Sprache in ihrer eigenthümlichen Einzelheit vollkommen nachconstruiren könnten, und den Einzelnen aus der Sprache wie die Sprache aus dem Einzelnen verstehen könnten, so wäre das Talent wohl auf Eines zu bringen, da aber 13 eher] ehern
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die Sprachforschung und die Auffassung des Individui das noch nicht vermögen, so müsssen wir noch 2 Talente annehmen das der Sprachkenntniß und das der Menschenkenntniß, beide in höherem Sinne gebraucht. Das Sprachtalent wird nun wieder ein Zwiefaches sein, denn da wir auf ein bestimmtes Sprachgebiet weder des classischen Alterthums noch der neueren Sprachen uns beschränken, der ganze Verkehr der Menschen aber von der Muttersprache ausgeht, so ist in der Möglichkeit des Verkehrs mit einer andern Sprache eine Duplicität des Sprachtalents gegeben. Viele Menschen fassen leicht die Differenz einer Sprache von der eignen auf, nehmen sie also in ihrem Verhältnisse mit andern und allein auf, die haben das Talent der Extension im Gebiete der Sprache, werden aber selten Sprachforscher sein, während Andre die Sprache in Beziehung auf das Denken in die Tiefe der Operation versenken, beide Talente sind nothwendig, fast nie aber vereint, sie müssen sich also gegenseitig ergänzen. Das Talent der Menschenkenntniß zerfällt auch wiederum in 2 Theile, das eine Talent ist, den Menschen in seiner Eigenthümlichkeit im Verhältnisse zu andern aufzufassen, das ist das Talent, den Menschen nicht nur nach sondern auch vorzuconstruiren, so daß man sagen kann, dies wird er so auffassen, so darstellen, das Andre ist die Menschen, die Einzelnen, im Verhältnisse zum Begriffe des Menschen zu erkennen, dieses geht in die Tiefe, doch sie beide, obwohl nothwendig selten verbunden, auch sie müssen sich gegenseitig ergänzen. Ist denn nun die Aufgabe so allgemein, wie wir sie festgestellt haben, indem wir sie allgemein auf das Auffassen des Denkens durch die Rede beziehn? Für die Aufgabe ist der Werth des Einzelnen ganz verschieden, Manches trägt wenig Kunst an sich, je weniger wird die Hermeneutik sich dafür interessiren, ja es gibt eine Rede die auf dem Nullpunkte des Interesses steht, wo die angewandte Kunst gleich Null ist, wie das Marktgespräch, welches auf einem Geschäfte beruht, selbst mehr That und Geschäft ist. Hier entsteht die Voraussetzung, daß das Verstehen sich von selbst verstehe, kommen wir aber aus diesem Geschäfte heraus, so muß nothwendig Alles auf Kunst geführt werden. Es gibt also auf dem Gebiete der Mittheilung durch die Rede Nullitäten, auf welche die Theorie keine Anwendung faßt, so wird es denn auch ein Maximum [geben] und zwar nach jeder Seite hin, denn wenn wir fragen nach dem Maximum des Sprachinteresse, so wird es das C l a s s i s c h e sein, welches der Sprache
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die Norm gibt. Fragen wir nach der Beziehung des Maximum auf der Seite der psychologischen Thatsache und wir steigen von der Nullität in die Höhe so werden wir sagen müssen, während die verschiedenen Menschen, welche bei gleichen Veranlassungen Gleiches gesagt haben würden, das Minimum erreicht haben, also auf einem Gebiete sich befinden wo das Eigenthümliche nicht mehr Platz findet, so wird das Maximum denn sein, wenn etwas so gesagt ist, daß wir sagen können, ein Andrer würde es nicht so gesagt haben. Dies wäre also das Original. Hieraus ist nun deutlich, wie sich die beiden Seiten der Interpretation unterscheiden. Bei der Vergleichung liegt die Differenz hierin: es kann Jemand Autorität in der Sprache bekommen, ohne sich in seinem Denken auf eigenthümliche Weise hervorgestellt zu haben und umgekehrt kann Jemand durchaus eigenthümlich im Denken sich gezeigt haben, ohne daß seine Ausdrucksweise meisterhaft wäre. Dieses liegt auf dem Gebiete der Sonderung der Sprache in ihrer Aeußerlichkeit, welche etwas andres ist, als ihr Zusammenhang mit dem Denken. Beides kann nun mit einander verbunden sein, und das Original wäre es, welches es verbunden. Das mag nun wohl das sein, was man gewöhnlich g e n i a l nennt, viel mehr wird sich hiebei nicht denken lassen. Hier sind also dann beide Seiten unsres Verfahrens anzuwenden, je mehr aber die Rede sich davon entfernt, je ungleicher werden die Seiten des Verfahrens. Haben wir einen classischen Schriftsteller vor uns, der aber nicht originell ist, so wird das Psychologische Interesse nicht angeregt, und mit dem Sprachlichen wird die Rede bestimmt sein. Deshalb gilt nun auch auf dem Gebiete der Psychologie von den größern Fortschreitungen zum Originellen. Unser Verfahren nun wird nur sein, jede der beiden Seiten für sich zu betrachten, da wir bei jeder ein Maximum sehn, das nicht das der andern ist, wie es denn Reden geben muß und Werke, wo Eines das Ueberwiegende sein muß. So können beide im Einzelnen nicht verbunden sein, weil Jedes eigenthümlich fortschreitet. Da aber jedes vollständig sein soll, so fragt sich nach den hermeneutischen Regeln. Hiebei müssen wir nun auf den engern Standpunkt hinsehn, welcher sich auf die Schwierigkeiten bezieht, also nur einzelne Fälle der Operation. Dabei wird die Theorie nur darauf ausgehn jene einzelnen Fälle unter gleiche Gesichtspuncte zu bringen, und nun von der glücklichen Operation das Verfahren zu abstrahiren. Doch wird man hier nur Einzelheiten erhalten und da kann man sagen, die hermeneutische Theorie kann und muß aus den hermeneutischen Leistungen der größten Männer in diesem Fache hervorgesucht werden. Das ist der Typus aller auf diesem Wege entstandenen hermeneutischen Sätze. Unser Verfahren be39 Sätze] Sätzen
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trachtet das Verstehn der Rede, die Identität des Darstellens der Rede mit dem Denken derselben. Dieses hermeneutische Verfahren hat nun die Tendenz, daß den Schwierigkeiten soll zuvorgekommen werden, daß man in solchem Nachconstruiren der Rede und des Gedankengangs des Andern verfahren soll, daß keine Schwierigkeit entsteht. In dieser Allgemeinheit ist sie nun nicht zu erreichen, da nie die Totalität einer Sprache vor uns liegt. Verschieden ist nun zwar bei den verschiedenen Sprachen der Umfang des vor uns Liegenden, aber nie liegt uns eine Sprache ganz vor, selbst nicht die eigne Muttersprache. So ist in dieser Allgemeinheit die Aufgabe nicht zu lösen, doch müssen wir alle Sätze, die wesentlich unsre Theorie construiren so einrichten, daß sie nicht einzelne Schwierigkeiten lösen, sondern fortschreitende Anweisungen von Verfahren seien, und immer nur mit der Aufgabe im Allgemeinen zu thun haben. Die Schwierigkeiten werden dann als Ausnahmen angesehn und bedürfen eines andern Verfahrens, doch fragen wir dabei nur nach der Ergänzung des Mangels, aus dem die Schwierigkeiten entstehn, nicht nach jenem Typus. Dies nun wird in den beiden Hauptrichtungen gleich sein. Es ist nun zu bestimmen, mit welcher Seite anzufangen sei, ob vielleicht in der Natur der Sache ein Grund der Priorität liege, doch muß vorher noch Einiges berichtet werden. Es ist schon erwähnt der Vorstellungen von verschiedenen Arten der Interpretation und wie es scheint dürfen wir diese Arten nicht gelten lassen, obschon wir S e i t e n schon gefunden. Wenn man von einer historisch-kritischen oder historisch grammatischen, oder mystischen Interpretation spricht, so sind geschichtlich diese Ausdrücke alle von der biblischen Hermeneutik hergenommen, hätten sie einen bestimmten Werth für das Spezielle, nun so wären sie eben nicht allgemein, aber es fragt sich, ist denn die biblische Hermeneutik ein besondres Gebiet? So treten uns bei diesem Gebiet noch andre Interpretationen entgegen, wie die dogmatische, die allegorische, wären dies wirklich verschiedene Arten, so würden sie in das Verfahren die größte Vewirrung bringen, denn da Jedes etwas Andres geben müßte, so entstände ja Streit, welche anzuwenden sei, und es bedürfte dies anzuzeigen noch einer höhern Hermeneutik, die freilich unbekannt und unstatthaft ist. Es kommt nun darauf an zu fragen, ob denn die biblische Hermeneutik ein spezielles Gebiet sei, wir müssen dies läugnen, denn wir kommen hier in verschiedene Sprachgebiete, und es bedürfte eines Gebiets für jede Sprache, nicht aber eines speziellen, das viele Sprachen umfaßte. In Beziehung auf die Rede gibt es auch verschiedene Gattungen, es mag auch für verschiedene besondre Regeln geben, aber ein spezielles Gebiet für eine Sammlung verschiedener
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Gattungen ist nicht abzusehn. So scheint hierdurch schon eine biblische Hermeneutik verhindert doch fällt diese Schwierigkeit fort, wenn wir das alte Testament fortlassen, und dann hätten wir allein mit der Griechischen Sprache zu thun. So würde es denn schon leichter gehn, doch um regelmäßiger zu Werke zu gehn, fragen wir, inwiefern es solches Spezielles geben kann und wie es sich feststellen wird. Hier müssen wir die Aufgabe in ihrer Ursprünglichkeit fassen. Die Rede zu verstehn kann nur in dem Gebiete einer einzelnen Sprache vorkommen, haben wir nun auf die Verschiedenheit der Sprachen Rücksicht zu nehmen, oder haben wir ein Allgemeines für Alle und ein besondres für Einzelne. Betrachten wir die Sprache an sich, so kommen wir auf ihr Verhältniß zum Denken, und es wird Grundfactum, daß Niemand anders denkt als mit Worten. Lautes Sprechen gehört nicht dazu, Denken ist inneres Sprechen (s.o.). Gehn wir hievon aus, so erkennen wir allgemeine Grundregeln für die Besonderheit dieser Operation: I n d e m s e l b e n S i n n e u n d M a a ß d a s D e n k e n eins ist, wird es auch eine Identität der Sprachen geben m ü s s e n, und es wird eben dieses Gebiet allein die allgemeinen Regeln enthalten können. Sobald es aber eine Besonderheit des Denkens durch die Sprache gibt, entsteht ein spezielles Gebiet. Die wir in einer Mannigfaltigkeit von Sprachen versiren, haben nie die Totalität derselben sondern nur einen Kreis von Sprachen im Auge, welche wie Differenzen so auch Aehnlichkeiten haben, und so kommt es denn oft, daß wir für allgemein halten, was es eigentlich nicht ist, was vielleicht nur einigen Sprachen gemein ist. Deshalb muß man sich orientiren wie weit das Aufgestellte in allen Sprachen identisch ist. Denken wir nun an jene beiden Seiten, so wird im Voraus gar nicht behauptet werden können, daß die Grenze des Allgemeinen und Speziellen nach beiden Seiten dieselbe sei. In jeder Beziehung müssen wir sie also suchen und dann das Gemeinsame derselben erforschen. Es fragt sich nun, wie weit sich aus der Sprache die Rede als Eins verfolgen lasse. Wir müssen hier für unsre Aufgabe nach den wesentlichen Elementen des Begriffs der Sprache fragen, doch bedürfen wir seiner nur auf untergeordnete Weise. Fragen wir nach der Einheit einer Rede, sofern sie aus der Sprache zu verstehn, so folgt: D i e R e d e m u ß e i n S a t z s e i n , dadurch ist es erst etwas in dem Gebiete der Sprache Eines, denn eine ungeschlossene Menge von Begriffen ist unbestimmt, kann nicht verstanden werden. Also das Aufeinanderbeziehn von Haupt und Zeitwort, onoma und rhma ist der Satz, und dieser ist aus der Sprache 15–17 I n ... m ü s s e n ] am Rand Anführungszeichen, mit denen Calow anscheinend auf Merksätze (Canones) hindeutet. 23 nicht] mit Einfügungszeichen über der Zeile
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zu verstehn. Daß ein Jedes durch Andres noch bestimmt, und Sätze wieder zu Größerem verbunden werden können, bestätigt nur unsre Voraussetzung. Soweit sich das Verstehn der Rede durch die Sprache auf einen Satz bezieht, wird es immer derselbe Act sein, und soweit geht die allgemeine Hermeneutik g e w i ß , doch ist dies nur ihr Anfang, wenn wir aber fragen, ob wir behaupten können, daß in allen Sprachen die Natur des Satzes dieselbe sei? Ich glaube, schon durch den Begriff des Denkens ist klar, daß ich erst einen Denkact habe, wenn ich einen Satz habe; in jeder Vorstellung ob onoma oder rhma habe ich nur ein Element. Mit derselben Gewißheit können wir für dies Gebiet eine allgemeine Hermeneutik annehmen, sehn wir aber, ob die Behandlung des Satzes in allen Sprachen dieselbe sei, so finden wir große Differenzen. Je größer sie sind, je mehr beschränkt sich das Gebiet der allgemeinen Hermeneutik. Es gibt nämlich unter den Sprachen der entfernteren Welttheile solche, in welchen [wir] ein Maximum von Differenz in Absicht auf die Ausbildung des onoma und rhma mit Europäischen Sprachen finden, sie gestaltet sich so, daß eigentlich nur ein Eines sich findet, das allgemeine Hülfszeitwort, das Sein und alle unsre Zeitwörter werden durch Verbindung dieses mit Adjectiven ausgedrückt. Da müssen nun ganz verschiedene Aufgaben Statt finden. So sind manche an formellen Bestimmungen arm und es muß dann, nach unsrer Weise, gerathen werden, es entstehn Ungewißheiten, wie sie bei uns gar nicht vorkommen. Wir werden also hier sagen können: Je größer in verschiedenen Sprachen die Differenzen in Behandlung des Satzes sind, je mehr Differenzen müssen kommen in das von uns bisher angenommene Gebiet der allgemeinen Hermeneutik. Da nun die Unsicherheit der Grenze sich schon in dies Gebiet erstreckt, so müssen wir sagen, in Beziehung auf jede Sprache werde Andres Statt finden und das Spezielle sich hineinschleichen. Gehn wir nun auf die andre Seite und fragen nach der allgemeinen Hermeneutik in Bezug auf die Rede als Lebensmoment. Aus dem Begriff des Lebens wird sich auch dieser Begriff erklären lassen, und so fragen wir zunächst: was denn bildet einen Moment? wodurch wird ein Act des Lebens eine Einheit? Daß die Bezeichnung des Moments als Bezeichnung des Minimi einer Zeit nicht paßt, ist wohl klar, vielmehr wenn das Leben in einer Mannigfaltigkeit von Handlungsweisen besteht, so sagen wir, was die Einheit einer Handlung bezeichnet, beruht auf der Gleichheit derselben in sich, der Moment nun ist als Moment im Zusammenhange mit den verschiedenen die vorangehn und nachfolgen verstanden. Das Sprechen ist auch solche Function, aber 22–25 Je ... Hermeneutik.] Am Rand Anführungszeichen
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die Einheit auf die Sprache bezogen ist der Satz, wollen wir nun sagen, wenn Jemand in einer Rede ist, so ist sein Satz Moment, oder sagen wir, die ganze Rede ist Ein Moment? Beides hat eine gewisse Wahrheit, doch sind sie als größere und geringere Momente unterschieden. Ist der einzelne Satz ein Moment, so ist er es in Bezug auf die übrigen einzelnen Theile der Rede, ist das Ganze aber ein Moment, so ist es dies in Bezug auf die Gesammtheit des Lebens des Einzelnen. Wieweit kann hier die allgemeine Hermeneutik gehn? Soweit als das menschliche Leben überall Eines und dasselbe ist. Die menschliche Natur ist Eine, insofern also der Zusammenhang solcher Acte mit der menschlichen Natur ein und derselbe ist, so wird auf dieser Seite auch die Hermeneutik dieselbe sein. Können wir dies in das Vorhergefundene auflösen und sagen: auf dieser Seite geht das Gebiet der allgemeinen Hermeneutik so weit wie in Jener? Das ist gewiß, wenn alle Differenzen in der menschlichen Natur in Bezug auf die Verschiedenheit der Lebenseinheit sich auch in der Sprache ausdrücken, dann folgt, daß die Identität der Constitution der Sprache durch die Behandlung des Satzes zusammenhänge mit der Art und Weise der Verbindung der Lebensfunctionen. Diese Voraussetzung, können wir sie machen? Zuzugeben wird sein, daß eigentlich der Zustand jeder Lebensfunction ein Spiegel sein muß für den Gesammtzustand aller Andern. Was eine wirkliche Eigenthümlichkeit ausmacht, muß auch in jeder Function in sich, in ihrer Totalität erkannt werden können, so werden sich auch alle Differenzen in der Sprache abbilden, und wenn die Sprache vollkommen ist, wird auch die allgemeine Hermeneutik absolut vollkommen. Dies wird sich nun als Gesetz auffassen lassen, als Ausdruck der Vollkommenheit, daß jede Funktion ein Spiegel aller übrigen sein müsse, indeß findet nur eine Näherung an solche Gleichheit Statt, sofern die ganze Lebens-Entwicklung so harmonisch sich gestaltet. Lassen wir sie so unvollkommen gelten, so müssen wir ein großes Uebergewicht des Speziellen gelten lassen und es bedarf also einer Uebersicht der Entwicklung des Speziellen aus dem Allgemeinen in Bezug auf beide Seiten. Suchen wir Regeln für das Verfahren, so wird die erste und allgemeinste sein, welche den Grad betrifft, in welchem Jede von beiden bei einem Objecte anzuwenden ist, sonst kann ich keinen sichern Schritt thun. Um dies nun thun zu können, müssen wir wissen, wiefern wir uns in einem allgemeinen oder speziellen Gebiete befinden. Auf Seiten des Grammatischen müssen wir zuvor auf das Grundelement den Satz zurückgehn, und sagen: soweit das Denken überall das15 der] des
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selbe ist, soweit ist auch eine allgemeine Hermeneutik, soweit aber von dieser Identität aus die Behandlung des Satzes und das Denken verschieden sind, wird es für jede Sprache eine besondre geben, die sich auf den Umfang der Mannigfaltigkeit, in welcher der Satz behandelt wird, bezieht. Diese Ungleichheit wird nun wieder bei verschiedenen Sprachfamilien ungleich sein, jene Mannigfaltigkeit wird sich gruppiren, und es wird für jede Sprachfamilie, für jeden Sprachstamm eine gemeinsame Hermeneutik sein. Gehn wir von unsrer Erfahrung aus, so erkennen wir verschiedene Arten, die Sprache zu behandeln für verschiedene Arten der Denkacte und so werden in derselben Sprache verschiedene Differenzen entstehn, die wieder in verschiedenen Sprachen dieselben sein können, wie die Differenz zwischen Poesie und Prosa, die wenn nicht in Allen doch in Einigen gleich ist. Bei der Prosa will ich die strenge Bestimmung des Seins auf das Denken, die Poesie ist aber das Denken in seinem freien Spiele, und wenn ich das Letztere will, so habe ich schon weit mehr Psychologisches, während in der Prosa das Subject weit mehr zurücktritt. Hier entwickeln sich 2 verschiedene Gebiete von Specialität, das eine, das sich auf Differenzen in der Construction der Sprache selbst bezieht, das Andre das sich auf die Differenz der Denkacte selbst bezieht. Nun kann es Sprachfamilien geben, wo in Bezug auf die Poesie ganz dasselbe Verhältniß ist, bei andern in Bezug auf Prosa u.s.w. Fragen wir, wo geht auf der Psychologischen Seite das Gebiet der Specialität an und was umschließt sie. Sofern die Denkacte eines Einzelnen in Allen auf gleiche Weise die ganze Bestimmtheit der Lebensfunction des Einzelnen ausdrücken, sofern werden auch die Gesetze der psychologischen Interpretation dieselben sein, sobald ich mir aber eine Ungleichheit denke, und nicht in den Denkacten selbst den Schlüssel finde, sondern noch auf Andres Rücksicht nehmen muß, wird das Gebiet der Specialität angehn. So ist denn das Gebiet des allgemeinen nicht sehr groß, darum hat sie auch immer bei dem Speziellen angefangen und ist dabei geblieben. Sagen wir nun auf der einen Seite, nur was sich aus der allgemeinen Natur des Satzes ergibt, kann auf der sprachlichen Seite ganz allgemein sein; wo schon Verschiedenheit in der Satzbehandlung entsteht, wird das Verfahren gleich ein andres sein. Wenn ich Ungewisses aus dem Gewissen suche, so fragt sich, wie weit geht der Zusammenhang? Da entsteht nun eine Differenz, eine Sprache mit großen Perioden läßt mich wissen, daß in demselben Verhältniß sich befinde, was in einer Periode ist, ob aber was außerhalb ist dazu gezogen werden kann, ist schwierig zu bestimmen. 741,38–742,1 soweit ... Hermeneutik] am Rand Anführungszeichen
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Daher ist denn eine Sprache mit kurzen Sätzen auch schwieriger. Wollen wir so das allgemeine Psychologische fixiren und davon ausgehn, ob denn eine Rede Lebensmoment ist, so muß ich den ganzen Zusammenhang auffassen, und es fragt sich, wie ist von dem Punkte aus das Individuum bewogen diese Rede aufzustellen, und auf welchen folgenden Moment ist die Rede gerichtet gewesen? Doch zeigt diese Formel wenig Gemeinsames und nur soweit dieses Aneinanderreihen von Lebensmomenten in allen Menschen identisch ist, soweit wird die Hermeneutik gehn, wenn wir uns auf diesen Punct stellen. Da aber die Rede ein Mannigfaltiges ist, so wird obwohl bei demselben Anlaß und Zweck dennoch die Rede ein Verschiedenes sein. So müssen wir die Rede zerlegen und sagen, geht das Allgemeine nur so weit als die Gesetze des Fortschreitens im Denken dieselben sind, wo wir hier Differenzen finden, da geht das Spezielle an. Hieraus folgt, das Allgemeine auf dieser Seite kann nur so weit gehn, als der Einfluß des Redens auf die übrigen menschlichen Thätigkeiten derselbe ist und nur insofern, als die Gesetze des Fortschreitens dieselben sind für Alle. Wo es nun also verschiedene Gesetze des Fortschreitens gibt, ist auch ein Spezielles in der Hermeneutik nach dieser Seite anzunehmen. Dies wird sich nun so offenbaren: bei einer didaktischen Auseinandersetzung und einer lyrischen Dichtung würde, trotz dem daß beide Aneinanderreihungen von Gedanken sind, da die Gesetze des Fortschreitens in beiden verschieden sind, was in der Einen unverantwortlicher Sprung wäre, in der andern natürlich sein und was dort natürlich, wäre hier langweilig. Es sind verschiedene Gattungen von Aneinanderreihungen, und so können wir sagen, in verschiedenen Gattungen in dieser Hinsicht muß es auch verschiedene Regeln der Hermeneutik geben, so sind wir im Gebiete der speziellen Hermeneutik. Wie kann man nun das NeuTestamentliche als speziell ansehn? Von der sprachlichen Seite nicht, da es ja auf die Griechische Sprache zu beziehn ist und von der psychologischen Seite müssen wir sagen, es erscheine nicht als Eines, sondern sei zu theilen. Hier erscheinen didaktische und historische Schriften, das sind ganz verschiedene Gattungen, und so müssen auch verschiedene Regeln sein. So ist das NeuTestamentliche in Bezug auf die Sprache nichts Besondres, und nach der andern nicht Eines. Daß man ferner verschiedene Arten der Interpretation annimmt, kann eine kunstmäßige Praxis nicht bewirken, da man zuvor eines Bestimmungs-Grundes bedarf zur Anwendung der Einzelnen. Denken wir nun einmal nicht an die Bibel, so fällt das auch fort, dieser Unterschied findet sich bei dem Classischen gar nicht. So 14–17 das ... Alle] am Rand Anführungszeichen
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beruht denn die allegorische Interpretation zB nur auf einem Mißverstande, da dies ja ein ganz außer der Interpretation liegender Gebrauch ist. Habe ich zB eine Erzählung wie im Briefe an die Galater die Erzählung von Hagar, welche allegorisch gebraucht sein soll, so ist das freilich eine A n w e n d u n g , aber nimmer eine Interpretation. Dabei ist nun zur Sprache gekommen von einem zwiefachen Sinne, nämlich da die allegorisch Interpretirenden voraussetzen, daß jener Gebrauch zugleich im Verfasser gewesen, und so kam denn die Vorstellung von einem doppelten Sinne hinein, indem man gesagt, in der Genesis scheint es eine Geschichte, aber der Verfasser hatte schon eine Ahndung von dem Sinne, wie Paulus ihn hineinlegt, das wollte er auch hineinlegen, und das war der zweite Sinn. Ist es nun möglich, daß eine Rede zweierlei Sinn haben kann? Man hat es geläugnet, daran hat man aber zu viel gethan. Dies ist noch eine vorläufige Frage, denn wenn man annimmt, eine Rede könne einen zwiefachen Sinn haben, so frägt sich nur, ob denn das von jeder Rede gilt oder nur von einigen, ob es nur von der Zahl 2 gelte, oder auch von einer größeren? Nimmt man es nicht als allgemein an, und sagt es käme nur gewissen zu, so darf man es nicht vorläufig behandeln, sondern wir werden sagen, jene Reden bilden eine besondre Gattung, und irgendwo muß sich ein Kriterium ergeben, woran es sich erkennen läßt. Könnte es aber allgemein sein, so muß ein ganz andres Verfahren eingeschlagen werden, wenn die Rede Einen oder mehrerlei Sinn hat. So muß ich denn vorher bestimmen die Zahl der Sinne, weil der Begriff der Rede ein andrer wird, wenn die Rede mehrerlei Gedankencomplexus in sich schließt. Unter dieser Bedingung ist keine Hermeneutik möglich und die Voraussetzung hebt sich auf, jeder verschiedene Sinn würde anders zusammenhangen, und jedes Element der Rede würde unbestimmt, weil es auf andre Weise zu jedem Sinne sich bezieht. Nun ist aber eine Zahl nicht anzunehmen, ehe man es erkannt hat, Alles wird ungewiß und ein calculus ist nicht anzustellen, es wird zufälliges Rathen, so können wir von keinem andern Begriffe ausgehn, als die Rede habe nur Einen Sinn. Dies ist auch nicht anders möglich, wenn man den Begriff der Sprache feststellt. Denken und Reden verhält sich wie Innres und Aeußeres, hat eine Rede vielerlei Sinn so repräsentirt sie auch vielerlei Gedankenreihen, und so gibt es Ein Aeußeres zu vielerlei Innerm. Nehmen wir nun den einzelnen Act und geben zu daß kein Gedanke als mit Worten mir gekommen, was ist dann von
4 welche] davor und d 3–4 Galaterbrief 4, 22–30
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diesen beiden Seiten das Ursprüngliche, Denken im engsten Sinne oder Sprechen? Ich will denken, das ist die ursprüngliche Richtung, sie ist eher als die Richtung des Fertigwerdenwollens. Kann ich nun vielerlei Gesondertes und Zugehöriges zugleich denken? wir läugnen dies, aber man überlege wohl, denn zu läugnen ist nicht, daß neben einer bestimmten Gedankenreihe, die wir verfolgen sich Andre durchziehen, die wir nicht verfolgen, sie werden aber verschiedene Sprache auch im Innern werden, und so können wir vollständig läugnen, daß eine Rede zweierlei Sinn habe. Jeder weiß aber, was man mit einer Anspielung bezeichnet, macht man nun eine Anspielung, so kann man Zuhörer haben, die sie verstehn, und die nicht. Doch sie ist nur nebenbei und der Satz in dem sie vorkommt, kann übrigens wohl verstanden sein. Der Andre versteht aber die Rede als einen Lebensmoment vollkomner als Jener. So ist das nur Hinzugekommenes, und man kann sagen, in dieser Beziehung habe die Rede zweierlei Sinn. Jedoch kann hieraus nie eine allgemeine Gattung werden, sie wird zwar ihre Regeln haben und wir werden Gattungen annehmen müssen, aber jede Anspielung wird durch irgend Etwas, das in der Rede vorkommt, erkannt werden, obwohl man aus dem Wollen des Gedankens nicht genau erkennen kann, wie er auf diesen Ausdruck gekommen. So isolirt sich dies und bedarf seiner Regeln, doch nie so daß von einer zwiefachen Interpretation die Rede sein kann, da ja jede Interpretation darauf sehn muß, und nicht nur die NeuTestamentische ÐalsÑ biblische. Was nun die Frage betrifft, warum die biblische Hermeneutik speziell sei, so ist nicht etwas besondres in sprachlicher Hinsicht, wenn wir auf das neue Testament und das alte Griechische sehn, und sie ist nicht Eine, wenn wir auf die Gattungen sehn. Lassen wir nun das Alte und betrachten wir das neue Testament, so erscheint kein Grund weshalb wir besondre Regeln annehmen sollen, und andre als die überall anwendbaren. Doch ist hier noch ein Gesichtspunkt der vorzugsweise dafür zu sprechen scheint, nämlich der von einer gewissen Theorie der I n s p i r a t i o n ausgehend, diese Bücher als anders entstanden betrachtet, denn andre, und so möchte sich ein spezielles Gebiet ergeben. Dieser Begriff der Inspiration ist dogmatisch, das Urtheil über seine Realität gehört nicht hieher, es wäre zu weit führend uns in die dogmatische Theorie einzulassen. Wir setzen den Begriff im Allgemeinen voraus und fragen nach dem möglichen und nothwendigen Einfluß auf die Interpretation, und ob er ein solcher sei daß die Hermeneutik eine besondre wird woraus denn folgt, daß die speziellen Regeln auf den Begriff der Interpretation bezogen würden. Das wäre schwierig, weil der Ausdruck der Theopneustie unbestimmt ist, er ist zwar überall derselbe, aber bald versteht man darunter
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mehr und weniger. In Bezug auf die Interpretation wollen wir ihn bestimmen, doch ist der Begriff gegeben, und suchten wir nun irgend eine Art willkührlich seinen Umfang zu bestimmen, so würde es doch nur für die Gleichgesinnten annehmbar sein. So scheint nichts übrig als, da solche Differenzen über den weitern und engern Umfang eines Ausdrucks fließend, allmählig übergehend sind, Endpuncte ins Auge zu fassen, sein Maximum und Minimum, jedoch immer nur in Bezug auf Interpretation. Das Maximum ist leicht, es findet sich in den strengen dogmatischen Theorieen noch in der scholastischen Periode der Dogmatik nach der Reformation: die einzelnen Schriftsteller sowohl des Alten als neuen Bundes seien eigentlich nicht die Verfasser, sondern der heilige Geist, er hat in der Schrift die Gedanken und Ausdrücke für die Gedanken und beim Niederschreiben Alles was zum Verstehn der Ausdrücke nothwendig ist, gewirkt, so also selbst Accente und Lesezeichen, der Verfasser machte nur die mechanischen Bewegungen. Nun das Minimum wird sich finden, wenn ich dieser Theorie eins nach dem andern den Verfasser gebe, dennoch aber ein Inhalt bleibt für den Begriff der Inspiration. Zuerst ist das Mechanische das Werk der Schriftsteller, und ist das Sprechen doch auch nur eine mechanische Bewegung, so gehört dem Verfasser auch Alles an, was regulativ sei für den, der das Gedachte spreche, also Lesezeichen und Interpunction, die ja eine Direction für den Lesenden sind. Da aber der Satz durch Interpunction verschiedene Sinne annimmt so geben wir mit ihr auch die Bestimmung des Sinn’s in die Hände des Schriftstellers, so mußte also auch Uebereinstimmung zwischen dem heiligen Geiste und dem Autor über die Interpunction Statt finden. Nun hat das Alterthum aber keine Interpunction gehabt, das vergaßen die Scholastiker, das schadet auch nicht, wenn wir uns von dem Maximum entfernen so kommen wir auf Puncte die zur Bestimmung des Sinns beitragen, ähnlich diesem, das Uebrige wäre nun das Mechanische. Aber – derselbe Gedanke kann in seinen einzelnen Theilen mit verschiedenen Worten ausgedrückt werden, ohne zu behaupten, es gäbe vollständige Synonyme; wenn ich mich aber in 2 Sätzen immer solcher häufig verwechselten Termini bediene, so werde ich denselben Sinn immer erreichen. So ist es ja Knabenübung, denselben Gedanken auf mannigfache Weise mit dem Minimum der Differenz aufzustellen. So nähert sich dieser Punct der Mechanik und hat auf den Sinn der Wahl dieses Ausdrucks in diesen Grenzen keinen Einfluß. Nun geben wir zu, dem göttlichen Geist werde der Sinn zugeschrieben, aber als er die Schrift eingegeben habe er die Wahl des Ausdrucks freigestellt. Hier wollen wir uns einmal feststellen, wo wir in der Mitte ohngefähr sind, und fragen nach dem Einflusse auf die Interpretation, so
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sagen wir: das Wesen aller Interpretation läuft darauf hinaus, alle Bewegungen und Momente rückwärts zu machen, die der Verfasser vorwärts gethan, dann habe ich seine Rede verstanden. Der Verfasser hatte zuerst eine allgemeine Vorstellung von dem zu Sagenden, die ihm aus dem Zusammenhange seines Lebens, als Resultat des Lebensmoments erwächst, sie bildet er aus und denkt er aus, und so entsteht der definitive Ausdruck, ist er hingelegt, so ist sein Werk fertig, wiewohl er an Letzterem noch bessern kann. Was soll nun die Interpretation? Sie fängt mit der Aufnahme des einzelnen Ausdrucks an, und muß nun merken, wo der Verfasser gebessert, doch ist diese Vollkommenheit wohl kaum zu finden, das wahre Acumen müßte aber doch so groß sein, dann gibt sie die Verbindung der einzelnen Sätze zu erkennen und es entsteht so der Begriff des Zusammenhanges, durch dessen Erhalten er was der Verfasser ursprünglich gewollt gewinnt und fähig wird zu construiren. Gehn wir nun von solcher Inspiration aus so sagen wir, das ist kein Verstehen, wenn ich im Verstehen nicht unterscheide, was der heilige Geist und was der Schriftsteller gibt; habe ich nun einen Satz, so soll ich mir denken, der Schriftsteller hat diesen Gedanken vom heiligen Geiste erhalten, er habe sich dann die verschiedenen Ausdrucksweisen vorgestellt, hat diesen gerade ausgewählt, so muß denn auch ich mir die verschiedenen Ausdrucksweisen denken und mich in die That des Verfassers versetzen, will ich ihn aber haben als Eingebung des Geistes, so muß ich ihn auch in der Form haben, wie der Geist ihn eingegeben. Unter Einer kann ich ihn also nur fassen, und wenn alle Gedanken dem Verfasser gekommen sind durch den göttlichen Geist, wie sind sie denn ohne Worte zu ihm gelangt? Ohne Ausdruk kann ich auch nicht zum Gedanken gelangen, eine Eingebung von Gedanken ohne Worte ist gar nicht zu denken. Das ist also durchaus leer, auf solchem Punkte können wir nicht stehn bleiben, da wäre eine sichre Interpretation nicht möglich, von solcher Unterscheidung kann keine Interpretation ausgehn. Diese Unvollkommenheit hat man auch wahrgenommen und so sagt man: nun wohl! gewiß ist, die Gedanken können nicht ohne Worte kommen, ohne Ausdruck vorhanden sein, das bestimmte Werden des Gedankens und der Ausdrücke sind nicht zu unterscheiden, beides gehört dem Verfasser. Die einzelnen Gedanken sind Werk des Verfassers, aber sie sind großentheils nicht wesentliche Bestandtheile, sondern gehören zur Ausfüllung, zu den Darstellungsmitteln. Der innre Zusammenhang des Gedankens, das Wahre und Innre ist Werk des Göttlichen Geistes, aber die einzelnen Gedanken sofern sie einzeln sind, sind Werk des Verfassers, ebenso sind die Acte, wodurch die einzelnen Gedanken entstehn, reine Lebensmomente des Verfassers, und sind nicht auf den
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Göttlichen Geist zurückzuführen, aber der innre Zusammenhang des Gedankens, der das Wesen bildet und der Entschluß ihn heraustreten zu lassen ist Werk des Göttlichen Geistes, das hat er im Schriftsteller bewirkt. Sehn wir nun auf die grammatische Interpretation, so läßt sich das zur Anschauung bringen, wenn wir hintereinander eine einzelne Schrift zB eine didaktische lesen, zerlegen sie in ihre einzelnen Sprachelemente, so finden wir eine Menge von Worten, die Nebensachen sind, andre sind Hauptsachen, und lassen wir nun das Aeußere bis später und betrachten nur den Zusammenhang, so müssen wir sie nachdem wir sie ausgesondert in Bezug auf ihre Art der Stellung ins Auge fassen, und erhalten das innerste Skelet des Zusammenhanges. Wie gestaltet es sich jedoch in der Seele des Schriftstellers? Die Briefe an die Galater und Roemer kommen in vielen Hauptpunkten überein, näher verwandt sind die an die Colosser und Epheser, so ist die Möglichkeit, der Hauptgedanke sei in 2 verschiedenen Acten des Schreibers derselbe gewesen, einmal sei er aber anders ausgeführt als das andre Mal. Nun ist es gar nicht unerlaubt recht scharf zu unterscheiden, und so finden wir denn diese Bewandtniß in den neutestamentarischen Schriften: Wollten wir aus allen Briefen die Hauptelemente herausziehn und von den andern sondern, so werden wir immer dieselben finden. Soll nun der heilige Geist diesen Complexus von Gedanken zum Briefe an die Galater und Roemer besonders eingeben und die Ausführung überlassen? Wir sagen, schwerlich läßt sich es denken, wenn wir nicht annehmen, der Apostel habe diesen Complexus vergessen, und doch brauchte er ihn in seinen mündlichen Belehrungen. Dieser Fortschritt ist also consequent, wenn wir sagen die Hauptpuncte des christlichen Glaubens hat der Geist den Aposteln eingegeben, doch keine momentane für die einzelnen Schriften. So läßt sich auch die Sache halten. Das Werk des Geistes und das Werk der neutestamentarischen Schriftsteller muß nicht in jedem einzelnen Buche unterschieden werden, auch nicht in dem, was sie geschrieben besonders, sondern auch in dem was sie geredet, auf welches das Geschriebene sich oft bezieht, sondern in ihrer ganzen Thätigkeit, und die Hauptgedanken, welche das Wesen des christlichen Glaubens constituiren, sind Werk des Geistes, alle die einzelnen Schriften sind Werke der Schriftsteller. So hat also die Theorie der Inspiration keinen Einfluß, denn wir mögen sie sprachlich und psychologisch betrachten so kommen wir bei dem Letzten nur auf den Schreiber im Christenthum, denn aus ihm sind diese Schriften hervorgegangen, bleiben wir in der Mannigfaltigkeit der Mittheilung ihrer Gedanken, so müs21 eingeben] einzugeben
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sen wir aus dem was dem Schriftsteller angehört interpretiren und auch den Hauptbegriff aus diesem herausziehn. So folgt also daß die christliche Gesinnung das Werk der Inspiration gewesen, hier aber keine besondre Thätigkeit hatte, denn in jenen ähnlichen Werken ist diese Identität nicht absolut, so gibt es auch untergeordnete Ähnlichkeiten, ferner mit dem mündlichen Vortrage, so daß das Ganze Eines ist. Sagen wir nun, die apostolische Thätigkeit sei das Werk des Geistes, es gäbe eine besondre Wirksamkeit des Geistes, wodurch Einer zur Dignität eines Apostels erhoben werde, und das andre wäre nur ÐErfüllungÑ, wird das nun zur exclusiven Anwendung genügen? Was ist ein Apostel? Das sind die von Christus zu diesem Amt bestimmten, dann geht uns Paulus verloren oder wir müßten seine übernatürliche Einsetzung dahin bringen, was sollen dann die canonischen Schriften, die nicht einem Apostel anzugehören scheinen oder wenigstens in Zweifel gezogen werden? Mit solcher Nomenclatur Apostel kommen wir auch nicht aus. Die NT Schriftsteller, die nicht nachweislich Apostel sind, haben zur schriftlichen Abfassung ihrer Werke, jenen Beruf getheilt? Das wäre schwer zu behaupten, denn in den didaktischen Schriften ist keine schriftstellerische Thätigkeit anzunehmen, weil sie nicht für ein bestimmtes Publicum, hingegen die nicht Apostel waren wie Marcus und Lucas waren Schriftsteller und gar keine Apostel; so sagen wir also: die christliche Gesinnung mit einem großen Uebergewicht einer Wirksamkeit nach außen zur Geschichtschreibung sei das Werk des heiligen Geistes bei dem Einen, zur Verkündung bei dem Andern, wodurch sie im Christenthum unterschieden würden in ihrer Wirksamkeit nach außen und der Berufsthätigkeit jedes Einzelnen, wobei der Grad keine qualitative Verschiedenheit bewirkt. Wenn wir nun die christliche Gesinnung in jeder Stärke, von welcher die Apostolische und Evangelische Thätigkeit ausgegangen als Werk des heiligen Geistes betrachten, braucht dann die Auslegung einem andern Prinzip zu folgen? wir müssen es verneinen, und nur ohne Grund es bejahen. Die ganze Thätigkeit in den NT Schriften zusammengefaßt war ursprünglich auf die Christen berechnet, die ähnliche Gesinnung hatten und sie in sich kannten, wenn sie Rede und Schriften als Ausfluß solcher Gesinnung erkannten, so konnten sie gar nicht anders zu Werke gehn bei diesen Schriften als bei Werken deren Impuls sie kannten und in sich fanden. So sind 2 Fälle, einer wo der Leser den Impuls der Schriften in sich hat, dann wo nicht, also ein Fall der sich gar nicht eignet die Auslegung des N.T. zur speziellen Hermeneutik zu erheben, da es ja eine allgemeine Frage ist und 8 wodurch] woch
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ich jenen Impuls, wenn ich ihn nicht habe in mir nachconstruiren muß. So wie 2 entgegengesetzte Partheien, die sich in Rede oder Schrift ergießen, wie offenbar anzuerkennen, darin eine Quelle von Mißverständnissen finden werden, aber weil ihre Impulse verschiedene sind, und sie die Gemüthsstimmung nicht haben sie nachzuconstruiren. Dieser Anfang ist allgemein und überall vorkommend. So ist die Theorie der Inspiration nicht qualificirt, das NT zu einer besondern Hermeneutik zu bringen, denn auf keinem Zwischenpuncte konnte ich stehn bleiben, um ein Verfahren zu finden und so bleiben mir nur 2 Endpuncte, von denen aber der Eine schon erledigt ist, und so kann ich die Inspiration nur als die Einpflanzung der christlichen Gesinnung, des christlichen Prinzips [ansehen], das ist kein Moment dazu. Wie stehts aber mit dem Maximo, daß Alles als Werk des göttlichen Geistes anzusehn sei, daß dieser der Autor und der Verfasser nur Instrument sei? Nun frage ich, das NT ist Sammlung von Schriften verschiedener Verfasser, sie sollen nur mechanische Instrumente sein, so geht auch verloren, daß man Schriften mehrer Verfasser hat und man hat nur Einen, verloren daß man Eines Verfassers 2ter Ordnung Schriften als zueinander angehörig ansehn kann und als den nächsten Kreis bildend, aus dem die Erklärung genommen werden kann. Diese Differenz ist aufgehoben, denn es war ja gleich, ob der heilige Geist den Apostel Paulus oder einen Andern gebraucht, das wäre dann nur zufällig, worauf keine Rücksicht zu nehmen, dann hören alle Mittel, die wir haben eine Schrift als Thatsache eines einzelnen menschlichen Wesens zu verstehen, hören auf, und die Foderung wäre, eine solche Kenntniß des heiligen Geistes zu haben, wie sonst eines Menschen um dadurch diese Schriften als Thatsachen seines Lebens zu verstehn. Nun kennen wir keine gleichzustellenden Thatsachen, für diese Seite haben wir keine Hülfsmittel, sie ist aufzugeben und geht man auf den dogmatischen Begriff einer göttlichen Person ein, so fällt jede Bedingtheit des Einen durch das Andre fort. Nun sehn wir die Grammatische Seite! Die NT Hermeneutik ist dann so, daß wir nur von einer Seite ausgehn, diese aber soweit bringen, daß sie die andre ersetzt. Die Griechische Sprache ist Sprache der NT Schriften, was soll nun das Resultat sein? sollen wir diese Schriften wie die ursprünglichen Leser verstehn oder so wie sie vom göttlichen Geiste gedacht waren. Das Erste würde Jeder läugnen, die ursprünglichen Leser waren nicht im Stande sie zu verstehn, denn der heilige Geist hat sie für die ganze Christenheit geschrieben, und jene glaubten für sie, nahmen was für sie nicht war für das Ihre konnten das Ganze also nicht verstehn. 23 menschlichen] unklarer Zeichenbestand
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Sie ist selbst für die christliche Kirche aller Zeiten fest verschlossen, wenn der heilige Geist sie geschrieben hat, und so ist ihr Verständniß ein wechselndes, zunehmendes, und wir sind so in eine Mitte gestellt zwischen dem Ersten und Letzten. Das Erste soll nun nicht sein, und das Letzte kann es nicht sein, wir können also die heiligen Schriften nicht verstehn, nur am Ende werden sie zu verstehn sein, wie der Geist sie gedacht hat. Haben denn die Schriftsteller selbst die heiligen Schriften verstanden, sie haben sich wenig besser befunden, als die ersten Leser; sie verstanden, wußten aber, daß sie nicht recht verstanden; weiter konnten sie nicht, wir müßten denn sagen, daß die Kenntniß des ganzen Verlaufes der christlichen Kirche übernatürlich in ihnen bewirkt sei. So verschwindet uns die Aufgabe, und es bleibt keine andre als die heilige Schrift wie die ersten Christen zu verstehn, dann hörten sie auf ein Werk des göttlichen Geistes zu sein für uns, von dem abstrahirt werden muß, denn der Geist hat erst am Ende der Tage verstanden werden wollen oder nur von den ersten Lesern. Haben wir nun eine Schrift aus fremder Sprache, Zeit und Ort, so ist das der Anfang, die Schrift so zu verstehn, wie die an welche sie gerichtet, am besten verstehen konnten. Wie ist denn nun der Einfluß des Werks des heiligen Geistes auf die Interpretation, haben die ersten Christen sie als Werk des heiligen Geistes oder als Werk der Apostel angesehen? Notorisch ist, daß die Christen, an welche die NT Schriften gerichtet, diesen Begriff gar nicht hatten, konnten also aus ihm die Werke nicht verstehn, und der heilige Geist hat also so handeln müssen, als existire jener Begriff nicht. Aber dieser Begriff war doch unter den Juden und zwar in großer Strenge unter einer Schule, doch erstens hat für die ersten Leser keine Analogie existirt des ihnen Gewidmeten mit dem AT Canon, das ist auch viel Späteres. Eine Gemeinde, die einen Brief bekam, sah ihn als Schreiben des ihnen wohlbekannten Lehrers an sie gerichtet an und nicht anders als seine Rede, die sie beurtheilten, und selbst die Judenchristen, gesetzt sie hätten den Begriff gehabt, waren gar nicht darin, ihn anzuwenden, sie waren im Laufe ihres Lebens erschienen; die Heidenchristen hatten ihn gar nicht und hatten sie einen Begriff von eÆnûoysiasmoÁw, so war dieser ganz und gar anders, und stand nur mit den heidnischen Göttern in Beziehung, das pneyma agion sollte aber auch in ihnen wirksam sein, wollte also der heilige Geist verstanden sein, so mußte er handeln als handle er nicht und als handelten die Schriftsteller. Diese Theorie soweit sie Interpretation zuläßt, ändert gar nichts. So können wir also den Begriff der Inspiration ganz außer dem Spiele lassen, so ist also 9 nicht] nicht nicht
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auch deswegen in dem NT keine spezielle Hermeneutik. Was für ein Grund ist nun dafür? Eigentlich die Sprache nicht, der Gattungen wegen waren sie nicht Eines, denn die Schriften sind verschiedener Gattungen, nehmen wir also diesen nicht, so bleibt wohl keiner? Gewiß, er liegt in der Sprache, im Hebraisiren, welches darin besteht, daß die Schriftsteller nicht gewohnt waren in der Griechischen Sprache zu denken, wenigstens über diese Gegenstände nicht. Dieser Zusatz bezieht sich auf den Lucas, von dem man nicht weiß, wer er gewesen und da kann er gerade ein Grieche gewesen sein, aber die Griechen selbst waren auf dem Gebiete des Hebraismus Christen geworden, aus ihm mußte Jeder reden, nun sind in jeder Sprache eine Menge von Differenzen, örtliche, verschiedene Sprachdialekte im weitesten Sinne und zeitliche verschiedene SprachPerioden, in jeder ist die Sprache eine andre, dies erfodert spezielle Regeln, die sich auf die spezielle Grammatik beziehn verschiedener Zeiten und Orte, doch dies ist allgemein anwendbar, denn wenn in einem Volke eine geistige Entwicklung vorgeht, so entsteht auch eine neue Sprachnatur und da sie in den Gedanken aufgenommen werden muß, so muß sie auch Neues in der Sprache hervorbringen. Jedes neue geistige Prinzip wird auch Sprachbildend, so auch der christliche Geist, aber aus diesem Grunde entsteht sonst keine spezielle Hermeneutik, sondern das ganze Gebiet von Schriften, in denen solch neuer Geist waltet, muß aus sich selbst erklärt werden. Beginnt ein Volk zu philosophiren so zeigt es eine große Sprachentwicklung, aber es bedarf keiner speziellen Hermeneutik. Doch dieses neue Prinzip trat hier in ein Gebiet, wo das Griechische aufgepfropft und das Hebräische in dem Alles das Neuere gewiß gedacht wurde in seiner damaligen Zeit, nun war es ins Griechische übergegangen und deswegen entstand ein spezielles Gebiet, weil von den Ebraei ausgegangen man in ein andres Gebiet gekommen, wird dem NT eine spezielle Hermeneutik und nach diesem ist sie zu behandeln. Sie ist keine spezielle Hermeneutik, die auf regelmäßige Weise aus der allgemeinen hervorgeht, denn eine eigentliche Sprachmischung ist nur Ausnahme, ist nicht naturgemäßer Zustand. Denken wir den Menschen nur einsprächig von Natur, die Vielsprächigkeit ist aber nachher geworden; nun muß überall ein Uebergangspunct sein, der dieselben Schwierigkeiten bilden würde, der aber keine besondre Aufgabe für die Hermeneutik ist. Jeder, der sich eine fremde Sprache aneignen will, ist in solchem Zustande, daß während der Aneignung allmählig die Differenzen beider Sprachen völlig sich sondern, immer wird er die Gesetze der Seinigen unbewußt in Anwendung bringen, 10 Christen] über Ð
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weil man sie eher, in ihren Elementen, ihren eigenthümlichen Formen kennen lernt als in den eigentlichen Ausdrücken. Doch dies sind gewöhnlich nur Uebungen, nicht für die Hermeneutik von Wichtigkeit, und man soll ja nicht eher produciren, bis man in ihr so denken kann wie in der seinigen. Die Verkündung des Christenthums war so, daß sie produciren mußten und so finden wir eine wirkliche Aufgabe im NT, doch ist es eine Ausnahme. Die allgemeine Aufgabe war, die Grenzen zwischen dem in der Theorie ganz allgemeinen und dem der Natur der Sache nach Speziellen zu bestimmen. Der Anfang war für beide Seiten gesondert und für die Grammatische nur ein Allgemeines insofern angenommen, als das Verhältniß zwischen Denken und Sprechen ein vollkommen identisches ist, eingeschlossen die Gesetze des Denkens selbst, ferner auf der psychologischen Seite, daß wir Reden und Schrift als Lebensmoment ansehn, da könne es nur Allgemeines geben, soweit die Art und Weise des Uebergangs aus einem Lebensmoment in den andern und so auch die Differenzen der verschiedenen Momente einerlei wären, wo das nicht, da müsse eine spezielle angehn. Können sich jene Gebiete nun so sondern, daß Allgemeines und Spezielles bestimmt zu sondern? Offenbar, wenn wir voraussetzen könnten, es würde leicht gelingen, wir würden eine Menge von Spezialitäten gewinnen, dann hätten wir wenig gewonnen, dann würde Mancher mehrere dieser speziellen Gebiete gebrauchen, das rechte zu wählen unkundig, und so würde es der Sonderung nach hinderlich sein; ja indem sie streng genommen würde werden wir das Gebiet des Allgemeinen und Speziellen nicht zur Anschauung bekommen, Jeder würde Jedes zu sehr als besondres nehmen und um das Uebrige sich nicht bekümmern. So wäre das beste, soviel wie möglich zur allgemeineren Hermeneutik zu ziehn. Es kann nun Differenzen geben in der Structur der Sprache, die von dieser Seite das Gemeinsame eng einschließen; wo soll nun unsre Aufgabe angewandt werden, da bei dem gegenwärtigen Zustande des Lebens und der Literatur Jenes nicht vorkommt. Die allgemeinen Puncte in der Structur der Sprachen sind auf unserm literarischen Gebiete mit großer Analogie und solche Differenzen liegen außer unserm Kreise, denn die Sprachen, welche sich zeigen, sind solche die in den geschichtlichen Zusammenhang noch nicht eingedrungen. Die größte Differenz würde die der semitischen Sprachen sein im Vergleich mit den alten classischen und neuern Sprachen, doch sind sie mit Anwendung der Grammatik abgemacht und so auch die spezielle Hermeneutik unnöthig, denn die Hermeneutik 23 nach] oder noch
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setzt die Grammatik voraus und hat nur mit ihrem Gebrauche zu thun, so ist denn auch hier keine wesentliche Differenz. Nun aber der Gegensatz zwischen Prosa und Poesie, ungebundener und gebundener Rede, wir finden in vielen Sprachen eine so bedeutende Verschiedenheit im Gebrauche derselben Elemente auf dem Gebiete der gebundenen und dem der ungebundenen Rede, daß diese die gebundene und jene die ungebundene wird, weil in ihr weit mehr Freiheit ist. In einigen Sprachen ist diese Differenz von großer Bedeutung, doch ist es nicht nothwendig eine spezielle Hermeneutik für die gebundene und spezielle für die ungebundene Rede zu setzen, sondern es kommt auf etwas in der Theorie vorausgesetztes an, d. h. die Kenntniß der Sprachen und die Art und Weise wie Poesie und Prosa sich entwickelt. Wollte man hier trennen, so würde es in einigen Sprachen überflüssig sein, so hat die französische Sprache ein Minimum von Freiheit und ebenso die semitischen ein Minimum von Differenz in beiden Beziehungen, weil die wesentlich äußern Zeichen nur schwach heraustreten. So ist auch hier bei Aufstellung der Regeln nothwendig bei Allem auf beide Gebiete zu sehn und zu sehn ob beide anwendbar seien oder nicht. Hieraus geht hervor, daß die psychologische Seite mehr spezielleres verlange. Wie stehts um die Rede als Lebensmoment ihres Urhebers zu verstehn? Wir sehn sie an als Uebergang aus einem in das Andere, als ihren Impuls in frühern Momenten habend und als zu Ende, wenn sich dieser Impuls in den künftigen hinübergezogen, sofern eine Gleichheit unter den Menschen Statt finde, sofern sei es möglich Alles in ein Gemeinsames zu fassen. Zuvor müssen wir den Unterschied ins Auge fassen. Steht es denn wirklich so, daß wir jeden so erhellten Moment als in solchen Zusammenhang gehörig ansehn können? so erscheint ein Gegensatz der mit dem zwischen gebundener und ungebundener Rede Analogie hat, es gibt Gebundenheit und Ungebundenheit des Lebens, die gebundene, die in so strengem Zusammenhange verläuft und es gibt ein Andres, wo der Moment nur durch sich selbst gilt, es ist Ernst und Scherz, denn das Gebundene ist das Ernste, hier soll Alles seine Stelle in strengem Zusammenhange nachweisen können, was es ist, woher es kommt und was es bewirken will, bei den Andern scheiden wir gewisse Momente aus dem Zusammenhange, sie sollen nur durch sich selbst gelten und wenn Einer diese Rede wie jene behandeln will so wäre es Pedanterei oder Ungerechtigkeit, denn hier ist gar nicht solche Absicht wie in Jenem und wenn also dieselben Gesetze angewandt werden wie bei Jenem, so wäre es pedan15 beiden] beidern
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tisch, wie ungerecht, wenn man aus ihr auf dasselbe schließen wollte. Diese Differenz ist bestimmt und weitgehend; wir werden auf dem Gebiete des Ernstes das geschäftige Gebiet unterscheiden können wo man in Einem Zusammenhange zu betrachten, wo man das Denken und Reden auf der einen und das Thun und Wirken auf der andern Seite betrachtet, wo die Rede nur ein Bestandtheil von Jenem ist, hier ist also ein Zusammenhang des Moments mit dem Geschäft, worauf er sich bezieht. Andres ist das Gebiet des Denkens um sein selbst willen was mit dem thätigen Leben unmittelbar nichts zu schaffen hat auf dem Gebiete der Wissenschaft, das gehört nun nicht zum Scherze jedes Werk im Zusammenhange des Gesammtlebens zu betrachten aber der Zusammenhang nicht außerhalb des Denkens ist er zu suchen. Da sind wenigstens große Differenzen, auf die man dann immer wird Rücksicht nehmen müssen, so daß ein Spezielles sich gleichmäßig ergeben wird in seiner relativen Gegensetzung zum Allgemeinen. Es gibt nun noch eine positiv spezielle Hermeneutik, die Juristische, auf die wir excurriren müssen. Hier sind wir im geschäftlichen Ernste und müssen Alles als in ein bestimmtes Gesammtleben gehörig betrachten, aber wenn wir nun sagen, die Thätigkeit mit der Recht und Schrift zusammenhängt ist die Anwendung des Gesetzes, das heißt thätig ist sie, wie sie aus der Gesetzgebung hervorgeht, doch vermittelt durch einen Act der Anwendung in Gedanken, so sehn wir, daß dies keine Hermeneutik mehr ist, sondern weit über das Gebiet derselben hinaus. Diese Hermeneutik hat es nun zu thun mit der Aufgabe, die Anwendung eines Gesetzes zu bestimmen, richtig zu bestimmen d. h. nach dem Sinne des Gesetzgebers, und freilich wenn man das Gesetz nur im Sinne des Verfassers betrachtet, so hätte die Hermeneutik ihre Stelle, doch in einem allgemeinen Satze wie die Gesetze sind, sind die Fälle nicht mitgedacht, die später noch darunter kommen können, nun kommen aber oft Fälle vor, an die der Gesetzgeber nicht gedacht, diese juristische Auslegung erstreckt sich nun auch auf diese, sie geht über das Werk des Gesetzgebers hinaus und die Aufgabe wird dann, ein Bild des Gesetzgebers im Allgemeinen oder ein besonderes des Einzelnen auszumitteln suchen, um daraus zu erkennen, ob er den Fall, wenn er vorgekommen wäre würde subsumirt haben. Das ist nicht das Hineinversetzen in den Moment des Gesetzgebers sondern das ihn in einen andern Moment Hineinziehn, so ist es keine spezielle Hermeneutik dieses Verfahren, obwohl es auf der Hermeneutik und zwar der allgemeinen basiren muß, und man dabei auf die Regeln zurückgehn muß, nach welchen der Umfang allgemeiner Ge17 und] und und
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setze zu bestimmen sei. – Jene Differenz nun müssen wir festhalten und sehn, wiefern die aufzustellenden Regeln auf alle Gebiete anzuwenden oder wiefern sie zu modificiren seien für die verschiedenen Gebiete. Fragen wir nun wie wir zu Werke gehn müssen, wie aus einer gegebenen Rede oder Schrift nur das, aber das ganz in sich nachzubilden, was der Redende und Schreibende dabei gedacht, allein nicht mehr nach einer Seite hin ist es zu verstehn sondern, nach den beiden verschiedenen Gesichtspuncten, die Rede im Verhältniß zur Sprache und unsrem Verhältniß zum Urheber als bestimmten Menschen und Thatsache seines Lebens zu betrachten, so müssen wir eine andre Frage allgemeiner Natur zuvor lösen. Ich kann ja einen falschen Weg einschlagen, wenn ich als Thatsache einer Sprache betrachte was Thatsache des Lebens und umgekehrt. Daß beide Gesichtspuncte nicht in allen verschiedenen Thatsachen gleichmäßig allgemein zu gebrauchen sind ist wohl klar, denn wo es eine Duplicität gibt, gibt es auch keine absolute Gleichheit. Können wir nun Allgemeiner darüber bestimmen, wird nun zu fragen sein, gibt es gewisse Puncte der Rede, welche ein Minimum von Anwendbarkeit des Einen indiciren und ein Maximum der Andern postuliren? Hier wollen wir es nur versuchsweise fassen, da wir zu einer allgemeinen Eintheilung keine Praemissen haben. Was mögen das für Formen der Rede sein, bei welchen die Beziehung auf das Leben des Verfassers wenig zu beachten ist, sondern, die in ihrer Beziehung auf die Sprache verständlich sind, so daß die andre Seite ergänzt wird? Denn das war ja die gewünschte Vollkommenheit jeder Seite. Nehmen wir die Indication aus den gefundenen Verschiedenheiten, so wenn eine Rede auf eine für einen bestimmten Fall bestimmte Art geschrieben ist, so ist dabei von der Betrachtung des Psychologischen gar wenig die Rede. Läge uns ein Kaufcontract vor, der leicht Aufgabe der Interpretation sein kann, weil ja sonst keine Processe entstehn würden, so ist dieser rein aus den Gesetzen des Geschriebenen zu erklären und nach den Gesetzen zu beurtheilen, die in der Sprache feststehn, daß ich mit der sprachlichen Beziehung auskomme, die andre könnte sogar irre führen, und so wäre das Interesse ganz auf der einen Seite, und die Andre zufällig, wenn man wahrnimmt, es hat Jemand gewisse Ausdrücke gerade ihrer Schwierigkeit wegen gebraucht, und so wenn diese Absicht gesucht werden sollte, wäre die andre Seite anzuwenden, aber bei dem reinen Laufe der Gesetze ist allemal vorauszusehn, daß er nicht bona fide zu Werke gegangen, was aber zur Interpretation nicht gehört. Fragen wir auf der andern Seite nach der Anwendung beim Spiele 7–8 Gesichtspuncten] Geschäftspuncten
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und Scherze als Rede, so ist die andre die überwiegende, häufig ist es nichts anderes als das Verhältniß des Einzelnen zur Sprache was das einzelne Object ist, worauf es ankommt, doch hat das nur in seiner Besonderheit den Grund und so muß ich auf seine Person sehn um das Interresse zu Stande zu bringen. So gibt es Gattungen, bei welchen das Uebergewicht der einen Seite bestimmt indicirt ist. Wenn wir nun die Frage vollständig ins Auge fassen wollen, jede Rede als Lebensmoment nicht nur zu betrachten, sondern auch die Fortschreitung im Acte selbst, so werden Gattungen erscheinen wo in dieser Weise das Subjektive verschwindet, und wiederum wo es dominirend hervortritt. Jenes nun: wenn ein Einzelner in vollständiger Beobachtung ist, so ist das ein Lebensmoment den ich recht verstehn will, er ist in ihm ganz unter Herrschaft seines Gegenstandes. Fragen wir, was wird denn die Gattung sein, wo auch im Einzelnen auf die Fortschreitung zu achten, wie sie als Thatsache im Gemüth zu betrachten, so ist es solche, wo der Gegenstand gleich Null ist, wo keine Einheit ist, wo aber Alles was aus der innern Gemüthsthatsache hervor geht. So im Briefe hat der Gegenstand keine andre Einheit, als daß er von Einem Menschen, der hier gar nicht in Gewalt des Gegenstands ist, der wird durch seine Combination betrachten, wie die lyrische Poesie im Gegensatz zur epischen, so erkennen wir: in der epischen ist der Dichter mehr unter der Gewalt des Gegenstandes, denn im lyrischen ist nur eine momentane Combination, während Jenes Entwicklung eines vorher festgestellten Gegenstandes ist. So erscheint ein Gegensatz in allen Gattungen der Rede, jemehr sie objectiv ist um so weniger ist im Fortschreiten auf das Psychologische zu sehn, je weniger objectiv sie ist, je mehr tritt dies hervor. Das richtige Urtheil hierüber ist das Erste, das der Interpretation vorangehn muß, sonst kann sie vergebens angewandt werden. Geben wir nun zu, daß die bedeutendsten Gegenstände im Allgemeinen betrachtet für die Auslegung die sind, die am meisten Kunst zeigen, einer bestimmten Gattung der Production, so ist die Hermeneutik abhängig von der Theorie der redenden Künste, von einem Theile der Ästhetik, und von ihr nimmt sie jene Vorausbestimmung. Nun soll unsre Theorie eine allgemeine sein aber in dieser Beziehung liegt nun das zum Grunde und sagen wir: hat die Auslegung eine Schrift zum Gegenstand, welche nicht in das Gebiet der Kunst sondern der Wissenschaft und Geschichte gehört, so werden wir doch jene Analogie gelten lassen; gehn wir nun von unsrer allgemeinen Fassung aus und sagen, dies vorangestellt, daß man ein richtiges Urtheil über den Charakter des Vorgelegten hat, zu 27 vergebens] ver vergebens
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welcher Seite es gehört und wir sollten nun anfangen, so werden wir auch einen Unterschied machen müssen, ob wir eine Rede oder Schrift haben, die an uns gerichtet, oder ob das nicht der Fall ist, und wir werden eine große Erleichterung im ersten Falle finden; denn wenn Jemand zu mir redet, so setze ich voraus, daß er aus einer gewissen Kenntniß meiner redet, ich kann also diese auf gewisse Weise voraussetzen, und es muß ein Verhältniß zwischen mir und ihm bestehn, welches das Fundament wird, auf dem er reden, ich verstehn muß. Habe ich nun eine Rede oder Schrift, die in anderm Lebenskreise und andrer Zeit entstanden, wobei die Kenntniß der Sprache vorausgesetzt wird, so bin ich im entgegengesetzten Falle, den ich erst auf den vorigen zurückführen muß, denn ursprünglich ist die Rede zwischen Einem und einem Andern gehalten. Dieser Andre mag eine Vielheit, mag ein Publicum gewesen sein, es war der hörende Theil, und gehörte ich zu ihm, so wäre ich in jenem Falle, daß eine Kenntniß meiner bei dem Redenden vorauszusetzen wäre, so aber muß ich mich erst in solchen verwandeln, an den sie gerichtet, ihm muß ich mich gleichstellen, und in jenen ganzen Lebenskreis mich versetzen in welchem der Redende und sein Publicum sich bewegten. Ich muß die Beschaffenheit des Publicums und Schriftstellers heraussuchen, muß wissen was in dem Moment der Rede in dem Lebenskreise des Verfassers war und was sein Publicum war, eher kann ich nicht anfangen. Hier sind also andre Vorbereitungen zu machen, die ehe man an die Aufgabe geht, berichtigt sein müssen. Fragen wir wie das zu machen sei, da es doch zu machen ist, wenn man das Geschäft der Auslegung ursprünglich durch sich selbst vollziehn will, so werden wir da verschiedene Wege finden. Bleiben wir bei der Auslegung der classischen Literatur stehn, da muß vorhergehn, daß wir die Geschichte des Alterthums und die wesentlichen Lebensverhältnisse der Periode des Schriftstellers und der Schriften, sein Verhältniß zum Publico kennen lernen, die auf diesem Gebiete die Disciplinen der Alterthumskunde, der allgemeinen und Literaturgeschichte u.s.w. lehren, und aus diesem muß man sich alles Mögliche hier vorkommende vergegenwärtigen. Gehn wir so zu Werke, so müssen wir ehrlich sagen, gewöhnlich ist es ganz entgegengesetzt, man beginnt mit Auslegen und dadurch leben wir uns erst in Jenes hinein, so wäre es denn ein umgekehrter Anfang, aber jenes Auslegen war nur eine Vorübung um Sprachkenntniß zu erwerben und so wie dabei, darf man nicht verfahren, denn alle Uebung hat ihre eignen Gesetze, auf die nicht weiter sich zu erstrecken ist. Mit der Sprachkenntniß gewinnt man aber erst die Elemente, die der Hermeneu22 ehe] eher
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tik nothwendig vorhergehn müssen. Muß man nun jedes Mal so verfahren? Nun wenn man ein Mal die Kenntniß des classischen Alterthums hat, so hat man sie für alle Male, und es wird sich dann Jeder ein Gebiet wählen, dessen Kenntniß er überwiegend sich annehmen wird. Auch wird sich ein abgekürztes Verfahren ergeben, denn wenn man die Zeit, und das Wesentliche derselben und spezielle Notizen über den Verfasser hat, so wird das Lesen sie vervollständigen, aber das wird dann auf das führen, was wir eben vermeiden wollen, nämlich daß wir auf Schwierigkeiten stoßen; wollen wir aber die Schwierigkeiten nicht in Rechnung bringen mit dem Zeitaufwande, dessen wir bedürfen, um das Geschäft ganz zu vollziehn, so gestatten wir nur eine Ausnahme, dann muß man von Auslegung nicht reden, bis der Gegenstand ganz erledigt. Wenn [wir] im Gebiete des Alterthums die Beschaffenheit und den Zweck der Commentare betrachten, so erkennen wir daß ihr Charakter, sofern sie Realcommentare sind der ist, daß ein früherer, vollständig unterrichteter Leser seine Forschungen, die in Beziehung auf das stehn, was vor der Interpretation gewonnen werden muß, an die Stellen, wo Schwierigkeiten entstehn könnten, für Andre, Spätere niedergelegt. Benutzen wir diese, so vollziehn wir unser Geschäft nicht durch uns selbst, dann müßten wir in die von Jenen angezogenen Quellen sehn, während wir so Autoritäten annehmen und nicht unser Urtheil haben, das soll eigentlich nicht sein und vom Augenblicke der Benutzung an können wir für unser Verstehn nicht einstehn. Soll nun das Benutzen erlaubt sein um großen Aufwand zu ersparen? aber soll dies für ihn ein Complement sein, so bedürfen wir auch eines Complements, um ein richtiges Urtheil über den Commentator selbst zu haben. Wenn nun jener Commentator nach gutem Gewissen gehandelt hätte, kein ganz erforschtes Resultat hingesetzt und nicht Verstandenes und Unverstandenes auf gleiche Weise uns geboten hätte, ohne zu sagen, daß er nicht verstanden, so wäre das Verfahren leicht, jetzt jedoch nun das nicht geschehen, ist es schwierig. Wer sich entschließt auf Autorität anzunehmen so wird sein darauf gegründetes Urtheil nie sicher sein, und diese Unsicherheit wird nun ein Bestreben das Fehlende zu ergänzen, und das läßt sich durch ein hinzukommendes Verfahren ergänzen, aber ein unmittelbares Fortschreiten ist unmöglich. Sagen wir, wir wollen voraussetzen, wir wären in jedem Falle mit allen Notizen ausgerüstet, die uns in den gleichen Fall der ursprünglichen Addresse des Schriftstellers in Beziehung zu dem Verfasser zu stellen vermögen, was sollen wir dann anfangen? Zuerst die Aufgabe in dieser Beziehung in 31 Urtheil] folgt wird
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ihrer Totalität auf möglichst bestimmte Formeln zurückbringen, sie mir im Einzelnen entwickeln und dann auf den Zusammenhang sehn des Redens und Denkens, uns vermittelst des Aeußern auch des Innern zu bemächtigen, aus den Worten des Verfassers in ihrer Succession seine Gedanken nachzuconstruiren, wie sie das Innere in ihm gewesen, wovon seine Rede das Aeußere ist. Haben wir diese Operation vollendet, so ist die Aufgabe gelöst, wir müssen aber bevorworten, daß wir seine Gedanken im Verhältniß zur Sprache und diesen Act als Lebensmoment der Sprache und dann zu seinem Leben und diesen Act als Moment in seinem Leben betrachten müssen. Dieses Rückwärtsgehn ist der eigentliche Act der Interpretation. Nun ist es offenbar, daß wir dies niemals zu Stande bringen werden, ohne eine anschauliche Vorstellung zu haben, wie jeder Einzelne in seiner Rede, in dem Produciren einer zusammenhängenden Rede zu Werke geht. Diese Kenntniß ist eine die voran gehn muß und ohne diese ist das Geschäft nicht mit Erfolg zu vollführen, aber freilich eine Beschränkung würde es sein, wenn wir unsre Theorie nicht auf die unzusammenhängende Rede ausdehnen, nur auf die zusammenhängende beschränken wollten. Die Auslegung ist ein Geschäft des bürgerlichen Lebens, und das gewöhnlichste Geschäft bekommt dadurch seinen Gehalt, sein großes Interesse dadurch daß man diese Operation vollzieht, daß der Moment in seinem Sprachgehalt erfaßt und die Menschen, mit denen wir leben zu lebendiger Anschauung gelangen. Das Gespräch wird immer mehr Null, je weniger Sinn für Hermeneutik man hinzubringt, denn wo dieser ist, hat das gewöhnlichste Gespräch unendlich mehr Gehalt als jenes Verschwimmende, da wird Sprache und Mensch lebendiger. Nehmen wir hinzu daß die schwierige Aufgabe des Auslegens auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft wesentlich dadurch erleichtert wird, daß man in den Vorübungen lebe, und daß der der beste Interpret sei, der die Gespräche auch im gewöhnlichen Leben so faßt in ihren Ursachen und Lebendigkeit, so werden diese Voraufgaben nicht nur uns klar werden, daß sie auf das Verstehn der zusammenhängenden Rede Einfluß haben sondern zum Verstehn auch eine anschauliche Kenntniß bewirken des Processes der Gedankenentstehung und Entwicklung selbst. Dabei ist nun zunächst Jeder auf sich gewiesen, und erkennen wie es uns mit der Gedankenentwicklung geht, und nur in welchem Maße wir dies üben, können wir die Ausübung des Geschäfts auf jedes andere Gebiet der Sprache anwenden. Denn es ist falsch zu glauben das als das künstlerische prägende Product sei jenem freien bestimmt entgegengesetzt, wir finden in 3 auch] über (nicht)
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Jeder den Charakter des Andern, es muß ein Uebergang Statt finden und beides ist ein und dasselbe. Die eigentlich schriftstellerische Production hat denselben Charakter wie das freie Gespräch indem der einzelne Gedanke gänzlich durch den Moment bestimmt wird, wie es in jeder Composition ist; denn Niemand wird so das Ganze gedacht haben, ehe er niedergeschrieben, daß das Momentane fern bliebe. Auch bei dem Strengsten finden wir Einzelheiten, die vom Moment abgehangen und so müssen wir den Proceß kennen der Erzeugung derselben, und das freie Gespräch wird mit der künstlerischen Composition Analogie zeigen und das Wesen Jenes werden wir in dem Dieses wiederfinden. Um nun zu sehn, wiefern alle Schwierigkeiten gelöst werden können, müssen wir Rede und Schrift betrachten, sofern sie an uns gerichtet ist. Die Addressen einer Rede sind sehr verschieden, sie können an einen Einzelnen bestimmten gerichtet sein, ebenso an einen Einzelnen als Element einer größern Masse. Im erstern Falle, wenn schon ein früheres Verhältniß zwischen dem Hörenden und Redenden bestand, und darauf die Rede sich bezieht, wird die ganze Operation in dem Verhältnisse vollständig sein, als die sich Unterredenden richtige Bilder von einander haben; in diesem Verhältnisse wird auch der Hörende die Rede als Thatsache des Lebens des Andern verstehn. Doch geschieht dies nur unter jener Voraussetzung, setze ich voraus daß er mich anders gedacht der Redende, dann ist der Weg von mir zu ihm ein andrer als der von ihm zu mir, da ich von einer falschen Voraussetzung ausgegangen. Da kommt es nun im Gespräche vor, daß Zwei sich nicht weiter verstehn, die sich vorher zu verstehn schienen. Aber sie schienen nur, denn ganz konnten sie sich nicht verstehn, weil die Elemente des Mißverstehens vorausgehn mußten, sie waren nur unbewußt. Gewöhnlich kommt das daher, daß wir Jemand im Gespräche überwiegend activ bemerken, der hat gewöhnlich einen falschen Begriff vom Andern, woraus denn die Keime des Mißverstehens hervorgehn. Hier ist nun Einiges auf der grammatischen, Andres auf der Psychologischen Seite zu berücksichtigen. So sehn wir denn auch, wie selbst in diesem dem günstigsten Fall des an mich gerichtet Seins der Rede ein skeptischer Canon, eine Cautel ist, denn geht man von der Voraussetzung aus, daß das Verstehn sich von selbst verstehe und das Mißverstehn nur eine Ausnahme sei ohne alle Begränzung, so bleiben sicher die ersten Elemente desselben bis zu dem Punkte verborgen, wo es gar nicht weitergeht. Wollen wir nun die skeptische Regel aufstellen, so sagen wir: ich muß allemal damit das Verstehn einer an mich gerichteten Rede beginnen, 3–4 Gedanke] Gedanken
32 Fall] Falls
36 verborgen] folgt bleiben
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daß ich glaube, das Verstehn verstehe sich nicht von selbst, und muß also dadurch das Einschleichen des Mißverstehns hindern, daß ich beim Hören die Gedanken gleich als unbestimmt annehme und erst durch das Ganze zu bestimmen, ich muß sie, die sich mir aufdrängen nicht als des Redenden wirkliche Gedanken annehmen, sondern als ein Vorläufiges, sehend ob es sich in der Folge vielleicht bestätige. Fange ich so an, so brauche ich nie einen Schritt zu thun, sondern am Ende wird das Unbestimmte sich bestimmen, ob was ich vorläufig angenommen fest werden oder geändert werden muß, ohne daß ich irgend Etwas zurückzunehmen brauchte. Und diesen ruhigen Proceß zu bewirken war ja das Ziel der Kunst. So muß ich also nicht glauben, irgend einen Theil ganz durch sich selbst zu verstehn, sondern nur durch das Folgende. Wenn wir das so allgemein stellen, so scheint es die Aufgabe aufzuheben und Alles in Unsicheres zu verwandeln, denn bei einer mündlichen Rede habe ich, wenn der Redende einen Satz gemacht hat, einen Gedanken gefaßt, nun soll ich aber nur ein unvollkomnes Verstehn setzen, und aus dem Folgenden zu verstehn suchen auf die wahre Weise, wenn aber das Folgende kommt ist das Erste schon vorübergegangen und ich soll also die Rede verstehn, wenn sie nicht mehr ist. Das hilft nichts, ich kann sie nur verstehn, wenn ich sie aus dem Zustande ein successives Ganze zu sein, herausreiße und sie in Eines verwandle und so mit dem Folgenden zugleich das Vorige mittheile. Dabei scheint nun die Schrift nothwendig für die Rede, denn in ihr ist diese ein zugleich Gewordenes, aber wie der Eine die Schrift ein unentbehrliches Hülfsmittel nennt, so wird ein Andrer sagen, die Schrift sei ein Verderbniß des Gedächtnisses. Das ist nun in gewisser Beziehung wahr, es ist klar, wenn man eine geistige Kraft erspart, so verliert man sie, weil sie durch Uebung nur besteht, aber keine Wahrheit darf nur von Einer Seite gesehn werden: sondern wir haben die Schrift als Stellvertreter des Gedächtnisses anzusehn, sobald das Gegebne das Maaß des Gedächtnisses übersteigt, und wir müssen die Aufgabe so fassen: Weil ich von jener Unsicherheit ausgehe, muß ich alle Theile einer Rede so lebendig mir erhalten durch die Schrift daß ich sie ganz behalte. Wo das Maaß des Gedächtnisses überstiegen wird, muß ich die Schrift gebrauchen, und wenn das hier zum Nachtheile des Gedächtnisses geschieht, so geschieht das zum Vortheile des Gedankenverkehrs, der so allgemein eben so wenig bestehn würde wie solche Reihen von Gedankenproductionen ohne die
761,37–762,1 ich ... selbst] am Rand Anführungszeichen 25 Vgl. Platons Phaidros 274–276.
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Schrift. Wo die Schrift nun nicht angewandt werden kann, muß das Gedächtniß dafür wirken, und so wird im Gespräche nur der sicher im Verstehn sein, der das ganze Gespräch am Ende gegenwärtig hat. Was sollen wir nun für einen Canon als Hauptregel unsers Verfahrens für alle Fälle aufstellen und im Allgemeinen, wenn wir jene Annahme geltend machen. In einer jeden zusammenhängenden Rede gibt es kein vollkomnes Verstehen des Einzelnen als aus dem Ganzen. Das ist die natürliche Folge des Entwickelten und muß im ganzen Umfange gelten. Dies schließt noch weit mehr in sich als die bisher genannte Aufgabe verlangte, die Rede aus dem vorübergehenden Sein zu verstehn, von der Hermeneutik Gebrauch zu machen während des Verlaufens der Rede; das zeigt sich jetzt als Unvollkomnes, wir müssen nach ihm die Operation wiederholen, dann habe ich erst das Ganze aus dem ich das Einzelne verstehn kann, und so ist keine Rede ehe sie beendet zu verstehn. In Einem Acte ist also die Aufgabe nicht völlig gelöst sondern erst in zweien, in dem ersten, wodurch ich mich des Ganzen als solchem bemächtige und dem zweiten, wodurch ich mich des Einzelnen als solchen aus Diesem bemächtige. Nun folgt, daß das erste Verstehn des Ganzen nur ein Unvollkomnes ist, denn habe ich ein Ganzes zu verstehn ohne seine einzelnen Theile zu verstehn, so wird es mir unmöglich. So ist also das Verhältniß ganz gegenseitig, ja es scheint sogar ganz gleich, aber Ðwenn auchÑ in einer Beziehung wohl, denn das Ganze besteht aus seinen Theilen und die Theile bilden das Ganze, doch in Einem sind sie verschieden, das ist die Organisation, der innere Zusammenhang, und so muß ich ihn zuerst verstehn und bin dann im Stande das Einzelne zu verstehen, dann die Gesammtheit des Einzelnen, das Ganze. – Von einer andern Seite müssen wir dieses noch betrachten. Das Verstehn ist vollkommen, wenn ich dadurch in Beziehung auf diese That derselbe als der Verfasser werde, wenn wir seine Thätigkeit nachconstruirt haben. Vergleichen wir das mit dem eben gewonnenen Resultate und wir werden sagen: je mehr die Rede ein Ganzes, Zusammenhängendes ist, um desto mehr ist’s wahr, daß der Autor das Ganze zuerst in sich getragen, und dann das Einzelne, und ich werde derselbe in dieser That, wenn ich zuerst das Ganze in mir trage und dann auf das Einzelne merke. Fangen wir davon an, wovon wir gesagt, daß es sich dem Nullwerthe nähere, so ist dabei auch das Null, was der Verfasser als Ganzes in sich trägt, und daß er es so in sich trägt. Ebendasselbe gilt in dem freien Gespräch, das kein bestimmtes Thema hat, wo Jeder für eine momentane Gedankenerzeugung gestimmt ist, und wie der Eine Einzel6–7 In ... Ganzen.] am Rand Anführungszeichen rungszeichen
33–34 wenn ... merke] am Rand Anfüh-
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heiten gibt so vom Andern auch wieder empfängt, ferner wo kein Unterschied zwischen den einzelnen Gedanken ist, wo jeder folgende Satz ein andrer Ausdruck des vorhergehenden ist, da verschwindet jeder Unterschied zwischen Theil und Ganzem und wir müssen sagen: die so zusammenhängende Rede, daß das Verstehen des Einzelnen als solchen und aus dem Ganzen ein Minimum von Differenz darbiete, nähere sich für die Aufgabe dem Nullpunct. Je mehr der einzelne Gedanke eine Variation des andern ist, um so mehr müssen wir sagen, sei das Ganze geringer, da es ja nur eben soviel Werth als der einzelne Theil hat. Bestimmter tritt nun die Aufgabe hervor, je mehr wir uns dem Künstlerischen nähern und finden, daß das Skelet, der Organismus des Ganzen ursprünglich ein Inneres gewesen sei, und daß die einzelnen Gedanken ihre Bestimmtheit erst aus ihm erhalten. Bei unserm Verfahren suchen wir nun mit Vernachlässigung des Einzelnen den Organismus, was auch im Verfasser das Erste gewesen, und dann gehn wir ans Einzelne, wie er später daran gegangen; denn wie es in dem Verfasser gewesen so ist es auch im Verstehn nothwendig, daß geschehe, wenn nicht, so nicht. Aber wir finden auch Fälle wo man nicht sagen kann, eine Rede nähere sich dem Nullwerth, und wo doch eintritt, daß man ein Ganzes nicht vor sich haben kann, weil auch der Verfasser es nicht so gedacht. So im freien Gespräch ist es nicht nothwendig, daß jede freie Unterhaltung einen Nullwerth habe, die einzelnen Gedanken können vielmehr bedeutenden Werth haben, so daß nun auch jeder einzelne für sich zu verstehn ist, und nur eine Reihe einzelner Momente, welche daher auch nur als solche zu fassen sind, entsteht. Ist nun der Eine der Unterredenden fort, der Andre ist aber mit ihm beschäftigt, so wird die Unterhaltung so, daß alle Antworten fehlen, und man nur die eine Hälfte sieht, es entsteht der Brief, der rein an die Stelle des Gesprächs getreten ist. Das Ganze ist wohl in den Gedanken des Verfassers gewesen, aber das Bild des Andern hat ihn immer unterbrochen und der Gedankengang ist so durch das Bild bestimmt, das jener von dem andern hat. In dieser zweiten Hälfte des Gesprächs nun eine Organisation zu suchen, wäre unnütz, aber die ganze Reihe ist als Reihe von Thatsachen zu verstehn und läßt unsre Aufgabe dieselbe, da wir uns in jenes Verhältniß hineindenken müssen. Also nur in dem Maaße eine Rede einen selbstständigen Zusammenhang hat, werden wir das Ganze nur aus dem Einzelnen verstehn können, wenn wir unter dem Ganzen den Complexus der Gedanken verstehn. Wo er nicht existirt, hört auch der Begriff des Ganzen auf. So haben wir also 25 fort] am Rand, wohl von anderer Hand als Erläuterung (fern) ... können] am Rand Anführungszeichen
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den Canon der Anwendbarkeit, daß ein vorgängiges Verstehn des Ganzen nothwendig ist, wo der Complexus von Gedanken einen selbstständigen Zusammenhang hat. Die Differenz in der Anwendbarkeit ergibt sich nun leicht, denke ich mir eine Beschreibung eines Ereignisses, so ist darin Zusammenhang, denn es bezieht sich auf Eines, aber ein selbstständiger ist es nicht, denn er ist durch das beschriebene, den Gegenstand bestimmt; hier ist also die Anwendung, wenn auch nicht null, doch verringert. Die Art und Weise wie er das Einzelne beschreibt, kann ich nun nur verstehn, wenn ich das Ganze vor mir habe, es wäre doch aber immer ein geringeres. In diesem Maaße also werden wir den Canon aufstellen, ein vollkomnes Verstehen gäbe es nur durch das Verstehn des Ganzen, und dieses werde vermittelt durch die Vollkommenheit des Verständnisses des Einzelnen. Gehn wir von unsrer Voraussetzung aus, daß zwischen zweien, die einander verstehn wollen, ein Hinderniß einträte, so fragen wir, was würde uns begegnen wenn wir auf eine kunstmäßige Weise dem Mißverstehen nicht zuvorkommen, denn darnach ist die Regel aufzustellen. Dazu müssen wir aber zuvor den Begriff des Mißverstehens näher betrachten, um unsre Aufgabe so fassen zu können dem Mißverstehn zuvorzukommen und in gleichmäßigem Fortschreiten zu bleiben. Es gehört unter jenen Ausdruck mehr und Mannigfaltigeres als man gewöhnlich denkt. Genau genommen ist kein andrer Gegenstand des Verstehens und Mißverstehens als der Gedanke, keineswegs die einzelnen Worte; er ist die Einheit für das Verstehn wie für das Mißverstehn, da er sich nicht anders zur Anschauung bringen läßt, als in Zusammenstellung einzelner Worte, wenn man freilich nur so es kann, so muß Kenntniß der Worte vorausgesetzt werden, doch bedingt ÐselbstÑ die Kenntniß aller Wörter noch nicht die des Ganzen. Wäre dies nicht der Fall, so würde das Verstehn von sprachlicher Seite betrachtet, sich auf das lexicalische beziehn und wir würden den Satz vermittelst des Lexicons verstehn können. Den Satz nun sofern er ein Aggregat von Einzelheiten zu verstehen, würde der Anfang sein, dann würden wir uns aber denken können, daß ein Satz in Bezug auf die Ausdrücke richtig verstanden, unrichtig aber als Thatsache des Redenden in Bezug auf den Zusammenhang der Rede, wie ich einen Gedanken für ein Wesentliches im Zusammenhange halten kann und er ist nur Nebensache u.s.w. Alles Verstehn des Satzes in sich selbst hilft uns also noch nicht, wir werden das Einzelne nicht eher verstehn bis man das Ganze im Zusammenhang hat verstanden, dann erhellt ob es Hauptgedanke, oder Nebengedanke ist, und ist das als gelöst anzusehn, so ist der 10–13 ein ... Einzelnen] am Rand Anführungszeichen chenbestand unsicher
23 nicht anders] korrigiert; Zei-
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Satz in seinen Einzelheiten zu verstehn. Wird er nun auf lexicalische Weise nicht verstanden, woher dann sollen wir ihn verstehn? Sehn wir auf die einzelnen Sprachelemente, die wir Worte nennen – Elemente sind sie, in der Sprache ist das Wort die letzte logische Einheit – so erkennen wir jedes Wort an und für sich unbestimmt und nur durch seinen Zusammenhang zu bestimmen. Fragen wir nach der Bedeutung eines Worts so ist’s nicht möglich hierauf eine völlig bestimmte Antwort zu geben, die auf alle Fälle paßte. Jedes Wort hat sein gewisses Gebiet in welchem es bald Dieses bald Jenes ist, und wenn es uns gelingt es auf eine Einheit zurückzubringen, so ist diese wiederum eine solche, die zusammenzuziehn und auszudehnen ist. Das ist der Fall bei allen materiellen und formellen SprachElementen. Materielle Elemente sind alle an und für sich bedeutenden Wörter, formelle Elemente die nur eine Beziehung zwischen 2 Wörtern bezeichnen, nicht einen Gegenstand, von beiden gilt das Obige. Gilt es von den formellen Elementen so gilt es auch von den Formen, die mit ihnen zusammenhängen, den Beugungen, es ist wohl Alles bestimmt aber doch noch bestimmbar. Dies ist nun der Unterschied zwischen Bedeutung und Sinn, jene ist der Werth, den ein Wort in der Sprache hat, und jedes Vorkommen muß diesem gemäß sein, Sinn ist der Werth in einem gegebenen Satze. Beide sind ein und dasselbe. In unsrer Aufgabe ist nun schon mehr bestimmt, indem ich die Bedeutung als Einheit gesetzt, wie es gewöhnlich nicht geschieht und eben die Hülfsmittel für das Verstehen der Wörter bringen es nie so weit, denn Statt einer Einheit geben sie nur Mannigfaltigkeit, wenn sie für ihre Sprachelemente wer weiß wie viele Bedeutungen hervorbringen, um eine Verschiedenheit von Oertern aufzustellen, wo der Sinn in einem gegebenen Satze aufgesucht werden kann; den eigentlichen Sprachwerth geben sie nie. Schwer aber ist’s, diese Einheit zu finden, und wenn diese Gelehrten es nicht können, so gebraucht sicher die Mehrzahl des Volks [sie] ohne ein einziges Element zu kennen und so findet nie vollkomene Sicherheit des Verstehens Statt, denn wenn ich den Sinn nicht mit Bestimmtheit auf seinen Sprachwerth reduciren kann und den Sinn bestimmt annehmen muß so habe ich keine vollkomne Sicherheit im Verstehen, habe ein kunstloses Verstehn. So ist denn das Verstehn in sehr trübem Zustande, weil es die Sprache als vollkommen durchgeschaut voraussetzt, und doch nicht voraussetzen kann, und das Verstehn der Rede geht vom Verstehn der Sprache in der Rede aus. Das Verständniß muß die Grammatik und das Lexicon bewirken und diese muß da sein, wenn ein vollkomnes Verstehen möglich sein soll. So sehn wir, daß unsere Aufgabe nur durch eine Annäherung zu lösen ist und gar nicht vollständig, da ein vollkommnes Ver-
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stehn eines Satzes ein vollkomnes Verstehn jedes Wortes voraussetzt. Nun sind zwar die einzelnen Sprachelemente in ihrem Zusammenhange als vollkomen bestimmt in Bezug auf die obigen Elemente anzusehen, und die einzelne Sprachwendung bestimmt sie durchaus, so muß also die Sprachwendung jedes einzelnen Wortes und jeder Form Jedem gegenwärtig sein. Mit derselben Nothwendigkeit nun mit welcher vermöge seines Zusammenseins das Wort nur so gefaßt werden kann, so kann auch dies nur so verstanden werden, und dann erst ist der Satz vollkommen verstanden. So wie nun die Sache liegt ist der erste Fehler, daß noch fast nirgends die einzelnen Elemente der Sprache als wahre Einheiten betrachtet sondern immer nur als Mannigfaltigkeiten, die erst auf eine Einheit zurückgeführt werden müssen. Hier kann nun eingewendet werden, woher denn so gewiß es ist, daß jedes Sprachelement als Einheit gefaßt werden kann? Von unserm Standpuncte sagen wir, das ist deswegen gewiß, weil nur unter dieser Bedingung unsre Aufgabe existiren kann, sonst existirt auch keine Verbindung zwischen den einzelnen Bedeutungen, dann ist auch keine Nothwendigkeit, sich auf das gefundene zu beschränken, sonst müßten sie im gegenseitigen Verhältniß ÐconstruirtÑ sein und außerdem kann Nichts mit dem Worte zu machen sein, denn es könnte sich ein Schriftsteller eines Worts ganz außerhalb der lexicalischen Bedeutung bedienen, und dadurch wäre alle Sicherheit aufgehoben, somit auch die Sicherheit des Fortschreitens. Wollte aber dennoch Jemand den Grundsatz bezweifeln so würden wir ihn fragen, ob er denn eine Einheit des Begriffs annehme, und wollte er das so höbe er den Zusammenhang des Denkens und Sprechens auf und es wäre keine Sicherheit im Rückgange, läugnete er aber die Einheit des Begriffes, so ist offenbar daß die Organisation des Denkens als zufällig erschiene. Nun aus diesem Verhältnisse zwischen dem Vorkommen und der Einheit des Sprachwerths eines Worts, wollen wir uns vorhalten, was als Mißverständniß möglich ist. Hätte ich das Wort in der Einheit seines Sprachwerths gefaßt, so könnte ich doch zuweilen in seinen Umgebungen nicht hinreichende Gründe finden, um den Werth des Worts aus seinem Sprachwerthe zu ermitteln, dann bin ich im Nichtverstehn nicht im Mißverstehn. Dieses setzt voraus, daß ich die Operation schon vollendet, daß sie aber der Operation des Andern im Schreiben nicht identisch sei, daß er etwas Andres unter dem Worte gedacht als ich. Wenn wir diese Mannigfaltigkeit des Vorkommens eines Worts als coordinirt denken und sagen, in der Möglichkeit dieses Vorkommens ist die Einheit des Sprachwerths ganz, so verwechsle ich den 16 Bedeutungen] Bedeutggen
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Sinn an dieser Stelle mit einem andern, den es möglicherweise hat. Aber außerdem haben eine Menge andrer Sprachelemente eine andre Differenz in sich, daß sie mehr oder weniger eines verschiedenen Grades fähig sind. So alle Eigenschaftswörter werden sich steigern lassen, und die einen Gegensatz in sich schließen, eines allmählichen Uebergangs fähig sein; wie ich in einer Beziehung groß nennen kann, was in einem andern Bezuge klein ist. Beides ist nur Unterschied der Quantität, der qualitative ist derselbe. Hieher sind nicht nur die Adjective und Zeitwörter, oder nur gewisse Classen derselben zu rechnen, sondern diese Differenzen sind auch da wo man sie am wenigsten sieht. So ist mit dem Ausdrucke Gott in gewissem Sinne von den Alten Dasselbe gemeint, als von uns, in Andrem aber nicht, so ist ein qualitativer Unterschied, aber es ist auch ein quantitativer, denn während Jene sich unter Gott, was sie sich als Mannigfaltiges dachten, beschränkt dachten, denken wir bei unserm Gotte an eine Unbeschränktheit, und so entsteht ein quantitativer Unterschied, und so ist das ganz im Allgemeinen, nur ist es nicht in allen Sprachelementen gleich anschaulich. Dieses ist auch eine Verwechslung aber des Quantitativen, Jenes war Eine des Qualitativen, und das sind die beiden Fehler des Mißverstehens in Bezug auf die einzelnen Elemente. Gehn wir nun zurück auf das vom Schriftsteller Gedachte, als einem Einzelnen im Zusammenhang der Rede, so finden wir dieselbe Duplicität, wenn wir für Hauptgedanken nehmen was nur Nebengedanke, so ist es eine quantitative Verwechslung der Größe seines Werths, nehme ich einen ironischen Gedanken für einen eigentlichen und umgekehrt so erkenne ich eine qualitative Verwechslung, da der wahre Werth etwas Andres, Umgekehrtes ist. Diese beiden Formen des Mißverstehens gehn also durch Alles durch. Fragen wir nun nach der Entstehung des Mißverstehens, so erkennen wir zwei verschiedene Formen desselben 1. Es entsteht nachdem ein bewußtes Nichtverstehn vorangegangen. Wenn das Nichtverstehen zum Bewußtsein gelangt, so genügt bei der untergeordneten Art unsrer Aufgabe die Hinweisung auf die Hermeneutischen Regeln, nach denen man dabei zu verfahren. 2. aber wenn man den Werth eines Satzes oder eines einzelnen Theiles desselben von vorn herein falsch faßt. Vergleichen wir beides in Hinsicht unsrer Verschuldung, so sehn wir ein: wenn das Mißverstehn auf einem zum Bewußtsein gekommenen Nichtverstehn beruht, so ist die Möglichkeit, daß die Schuld des Andern ist, der möglicherweise aus dem Gebiete der Sprache herausgegangen und Dunkelheit bewirkte weil keine Analo23 Werths] Wehrts
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gie für seinen Gebrauch war, aber wenn das Mißverstehen das Erste war, so ist nicht zu glauben, daß der Redende eine Schuld gehabt, er müßte denn den Willen gehabt haben, unrecht verstanden zu werden. Die Schuld ist dann allein auf Seiten dessen, der verstehn will. Das Vermeiden des Mißverstehens würde nun in beiden Fällen verschiedene 2 Aufgaben bewirken, denn das Nachconstruiren und Verstehn wird nicht auf dieselbe Weise aus diesem hervorgehn. Wenn der Redende aus dem gewöhnlichen Gebiete der Sprache hinausgegangen ist, so kann ich mir doch das sprachliche Verstehn der andern Seite nicht ersparen, und die Schuld liegt an ihm. Wenn im gewöhnlichen Gebiete der Sprache Jener aber geblieben, dann muß es auf sprachlichem Wege allein erreicht werden können; das Mißverstehn lag im ersten Falle darin, daß der Redende nicht im richtigen Verhältnisse zur Sprache stand, wo also ein Nichtverstehn dem Mißverstehen vorangehn muß. Vergleichen wir nun die quantitative und qualitative Art, so führt uns das auf die andre Seite der Aufgabe hinüber. Die ganze Aufgabe der Hermeneutik können wir nun so fassen, auf jedem Puncte, in jeder Beziehung das Mißverständniß zu vermeiden, dies ist nur ein negativer Ausdruck, er ist indeß bei so zusammengesetzter Sache wichtig, wenn man in einer sichern Nachconstruction bleiben will, wie man oft im Fortschreiten die Ahndung erlangt, es sei ein Mißverständniß möglich. Dagegen kann man nun sagen, wenn es auch gelungen ist ein Mißverständniß zu vermeiden und man so von Anfang bis zu Ende der Schrift gekommen so sei ja noch das Verstehn nicht bedingt denn es gäbe ja noch ein Nicht-verstehn. Bei diesem indeß kann man eigentlich keine Ruhe haben, denn Jenes muß ich wissen, während ich hier glaube zu verstehn. Sobald ich merke daß ich nicht verstehe, so muß ich zurückgehn, und da so das Nichtverstehen sich in Eins von beiden auflöst so kann ich jenen Ausdruck als vollständig ansehn. Ist es nun möglich Regeln dafür im Allgemeinen aufzustellen? Das würde voraussetzen, Jeder müsse Alles verstehn, das haben wir indeß schon begränzt, indem wir einen bestimmten Punct annahmen, von dem sie ausgehn und so ist Einiges schon vorausgesetzt. Wenn wir nun gesagt, der Hörer oder Leser müsse auf demselben Boden als die ursprünglichen sich befinden, so ist für Jeden Vieles da nicht zu verstehn, denn stellt(e) er sich nicht auf denselben Boden, so läßt er sich Alles in seinem Denken durchaus fremd sein. Wir müssen ferner durchaus voraussetzen, daß Einer sich nicht ein Ziel auf dem Gebiete der Hermeneutik setze das nicht zu erreichen sei, so kann aber Niemand einen Gegenstand erkennen, wenn er sich nicht auf 16–17 Die ... vermeiden] am Rand Anführungszeichen
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denselben Boden gestellt, wie er es ohne Kenntniß der Sprache nicht konnte. Das richtige Urtheil muß also Jeder mitbringen, die Früchte davon, daß das nicht geschieht sind ÐübelÑ ganz vor uns. Haben wir nun alle nöthigen Praemissen? Wir haben den allgemeinen Typus in positiver und negativer Form, in jener den Gedankengang einer Rede oder Schrift vollkommen nachzubilden, und in dieser, auf jedem Punct das Mißverständniß zu verhindern suchen; wir haben eine allgemeine Bedingung, ohne welche die Operation in ihrem Fortschreiten nicht gelingen kann, daß man eine Uebersicht des Ganzen haben müsse, ehe man an das Einzelne gehe. Diese Bedingung hat verschiedenen Werth und Form in den verschiedenen Gattungen der Rede und Schrift; es ist eine andre Beziehung in welcher solche Uebersicht bei einer didaktischen Schrift nothwendig ist und wie bei einer historischen. Bei einer didaktischen gibt mir die allgemeine Uebersicht im Wesentlichen den Unterschied zwischen cardinalen Gedanken und Nebengedanken, wenn ich auf richtige Weise es thue, bei einer historischen Schrift gibt es eigentlich keinen Unterschied, da sie aus gleichstehenden Einzelheiten, Theilen eines größern Ganzen besteht, aber wie Alles gegeben ist, kann eigentlich kein Haupt und Nebengedanke sein, man müßte denn den Gedanken diesen Nahmen geben, die nur Darstellungsmittel sind. Ein andrer Sinn, bei welchem die Uebersicht möglich ist, ist bei einer didaktischen [Schrift] und einem lyrischen Gedicht, hier wäre das Zerlegen des Letztern durchaus falsch. Wir streifen so schon an das Gebiet des Speziellen, da der Gewinn wie das Verfahren verschieden ist. Nehme ich die Uebersicht einer historischen Schrift, so habe ich nicht den Gewinn wie bei einer didaktischen, sondern gewinne nur das, daß ich des Verfassers Gesichtspuncte fixire, was wenn auch wichtig doch Andres und sicher Geringeres ist, als bei jener Schrift. Stellen wir uns nun auf den Punct, auf dem wir sind, daß wir in das Spezielle noch nicht gegangen, kennen aber den Lebenskreis, in den eine Schrift gehört, alle Realien sind uns gegeben, so daß wir uns für identisch halten können mit dem, an den sie gerichtet gewesen, worin denn Sprachkenntniße schon mit begriffen sind, haben dann eine allgemeine Uebersicht erlangt, in welchem Verhältniß eine oder die andre Seite der Hermeneutik vorherrscht, so kann das Geschäft selbst beginnen. Doch ist das durch aufgestellte Regeln nicht so zu verfolgen, wir müssen erst theilen und die eine Seite zuerst dann die andre vornehmen, dennoch beim Geschäfte selbst, müssen beide Seiten uns gegenwärtig sein und wir auf beide gerichtet. Welche sollen wir nun zuerst nehmen? An und für sich muß dies gleich erscheinen. Wir haben 4–7 Wir ... suchen] am Rand Anführungszeichen
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hier nur einen historischen Grund und keinen technischen. Es ist nämlich bei Weitem mehr geschehn für die grammatische Seite; nicht im Allgemeinen sondern aus dem Gange unsrer Schulstunden ist dieser Theil bekannter, man hat ihn mehr selbst geübt, eben weil die Werke in Rücksicht auf die Sprache beinahe allein gelesen in den Schulen sind. 1. D i e g r a m m a t i s c h e S e i t e . Der Ausdruck „grammatisch“ ist hier im weitesten Sinne, es soll sagen, die Rede und Schrift betrachtet im Verhältniß zur Sprache und so in diesem Verhältniß das Einzelne bestimmt. Nun haben wir schon einen Canon, der auf beiden Seiten anzuwenden ist nur auf andre Weise, daß sowie man eine Rede in ihre einzelnen Theile zerlegt, jeder derselben etwas Unbestimmtes ist, das gilt von den organischen Theilen der Rede wie von den einzelnen Elementen. Jene sind die Sätze, und sie können uns nicht eher Etwas bestimmt gedacht zeigen, bis wir einen Satz völlig ausgesprochen, so auch sind sie als organische Elemente unbestimmt, bis die ganze Rede vollendet; unbestimmt ist er, sobald er aus allem Zusammenhange gerissen. Ist dem so und überall? Nun in der gewöhnlichen Praxis kommen uns nicht einzelne Sätze ohne Zusammenhang vor, denn im Gespräche ist jeder spätere Satz von dem schon Gesprochenen abhängig, und so wird wenn zu zwei Redenden ein Dritter hinzutritt, er nicht den Satz der eben ausgesprochen wird verstehn, sondern erst durch das Folgende wird er ihm klar werden. Nun sind aber Fälle wo einzelne Sätze ohne Zusammenhang gegeben werden, wie in den Sprichwörtern oder Gnomen, in den Epigrammen, die einzelne Sätze sind und darin ihr Wesen haben; sie haben eine Abgeschlossenheit in sich. Wir müßten also sagen, dies wären schlechte Gattungen, weil sie geben was an sich nicht verständlich ist; nun sind aber offenbar in gewisser Hinsicht beide Fälle entgegengesetzt, denn das Epigramm ist ein schlechthin Einzelnes, nämlich die Ueberschrift, die das eigentliche Epigramm ist, das Sprichwort ist Allgemeines, wenn es auch oft als Beispiel ausgesprochen wird, so geschieht es doch sogleich mit der Tendenz des Allgemeinen. Das Epigramm verlangt eine Geschichte, und ist nur im Zusammenhang mit der Geschichte hervorgebracht. Es ist nicht verständlich, wenn ich Nichts geschichtliches von der Person weiß, nur für die, die davon wissen, ist es und ist mit einer Reihe von Begebenheiten zusammenhängend, ist also in eine ursprüngliche Reihe gesetzt. Ist die Kenntniß der Person verloren, so bleibt es Räthsel, und so bedarf es wenigstens solcher Bruchstüke zu seiner Erklärung, die das Uebrige errathen lassen. Auf jeden Fall ist es von seiner Routine gelöst unverständ10–11 sowie ... ist] am Rand Anführungszeichen
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lich. Die Gnomen sind Sätze von häufigem Gebrauch, der freilich verschieden ist nach dem Volke und den Klassen der Gesellschaft. Manche leben ganz in ihnen, Manche enthalten sich derselben. Wirksamkeit haben sie immer, wenn nicht so gehn sie verloren. Wie kann man nun von ihnen Unbestimmtheit behaupten? Unbestimmt ist immer der Kreis seiner Anwendung und ich habe an ihm immer nur einen Satz der in vielen Fällen gebraucht werden kann, es wird bestimmt wenn er in einen bestimmten Fall gebracht wird und jenachdem der Kreis seiner Wirksamkeit größer oder kleiner, jenachdem es in einem bestimten Falle bestimmter oder unbestimmter ist ist es vollkomner oder unvollkomner. Sie sind in bestimmtem Zusammenhange geworden, doch indem das Praegnante erkannt wurde erhielten sie ihre unbestimte Selbstständigkeit. Selbst solche Beispiele daß einzelne Sätze als besondre Gattungen und zwar in ihrer Einzelheit erscheinen ist keine Widerlegung, denn sie sind durchaus unbestimmt. Dasselbe gilt von den einzelnen Sprachelementen im Satze, daß Jedes ein unbestimmtes ist das im Zusammenwachsen mit andern bestimmt wird. Die Aufgabe nun um unsre aus unbestimmten Elementen als bestehend angenommene Rede zu verstehen, lautet nun daß uns Alles in seiner Vereinzelung Unbestimmte in uns ebenso bestimmt werde wie in dem Verfasser; das ist unsres allgemeinen Canons unmittelbare Anwendung und zwar die Probe. Beginnen wir nun die grammatische Seite so müssen wir den Canon von dieser Seite fassen und eine allgemeine Uebersicht voraussetzend muß das Gesetz als im Einzelnen fortschreitend beginnen, und dem Canon ein Verhältniß der Elemente in dem einzelnen Satze geben, er wird heißen: Alles was in einem Satze der Bestimung bedarf muß so bestimmt werden, wie es in dem Redenden selbst gewesen. Indem wir nun Alles von Seiten der Sprache betrachten wird jede Rede als Lebensregung der Sprache angesehn werden müssen. Sie ist ursprünglich ein bewegliches und zwar auf manigfache Weise, denn sonst würden wir solche Acte und ÐRegungenÑ nicht wahrnehmen. Indem wir nun die Sprache in ihrem Gebiete als das gemeinsame Leben der dieselbe Sprache Sprechenden betrachen, ist sie eine Einheit, aber in ihrer Beweglichkeit eine Vielheit, denn nie ist sie zu allen Zeiten und an allen Puncten dieselbe. Dasselbe Sprachelement hat Verschiedenheit der Gebrauchsweisen zu verschiedenen Zeiten und Orten und das in Beziehung auf das qualitative und quantitative Mißverständniß genommen und wir werden sagen: Es gibt Sprachelemente, die in gewissem Kreise eine Bedeutung haben, die jedem andern fremd ist, wie die in gewissem Gebrauche techni18–20 daß ... Verfasser] am Rand Anführungszeichen Anführungszeichen
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schen Ausdrücke. Das Andre betreffend ist ein Wort zu einer Zeit ein übliches, zu einer andern Zeit ein seltenes, dann hat es in beiden Fällen einen verschiedenen quantitativen Werth. Worte von häufigem Gebrauch werden wenig beachtet, aber seltnere werden beachtet, sie enthalten eine gewisse Emphase, und wenn nun der Andre das nicht kennt, so entgeht ihm dieser Nachdruck. Jedes Sprachelement ist nicht nur als integrirender Theil zu fassen der Sprache in ihrer Gesammtheit, sondern wie in seiner Zeit und an seinem Orte es gefaßt worden ist. Dieses beides ist nichts Andres, als das zwischen dem Redenden und dem an den die Rede gerichtet, Gemeinsame; denn wer redet und schreibet, will verstanden sein, wird also aus gemeinsamem Sprachgebiete reden, thut er es nicht, und der Andre versteht nicht, so ist die Schuld an ihm gewissermaßen, daß er nicht hat wissen lassen, daß er so reden wolle, nicht verstanden sein wolle. Der Canon ist nun: Es muß jeder Punct von dem beiden gemeinsamen Sprachgebiete aus angesehn werden. Das ursprüngliche Factum bei allem diesem war, ich höre und lese zuerst die einzelnen Elemente, also ein Unbestimmtes, aber Bestimmbares. Diese Bestimmbarkeit ist aber ein Mannigfaltiges, so mußte jener Canon zur Einschränkung eintreten. Er beruhte nun darauf, daß die Sprache ein Differenzirtes sei der Zeit und dem Raume nach. Hier setze ich voraus die Bekanntschaft mit der Sprache in dieser Verschiedenheit. Die Wahrheit des Canons beruht aber darauf, daß Jeder der da redet oder schreibt sich zuvor in Beziehung auf die Sprache identificiren muß mit dem für den er redet oder schreibt. So wenn Jemand in der Wissenschaft lebt, soll nun aber zu Leuten sprechen denen die Wissenschaft verschlossen ist, so muß auch er sie ganz ausziehn, wo nicht so kann man nicht ihn verstehn, oder doch nur auf einem Umwege zum Verständniß kommen, indem ähnliche Fälle zeigen werden, daß der Verfasser das Mißverständniß selbst bewirkt. Da wird denn der Canon schwer in seiner Reinheit anzuwenden sein, und diese Unsicherheit muß durch andre Regeln aufgehoben werden. Fragen wir nun, wie wir zur Kenntniß dieses dem Schriftsteller und dem für den er geschrieben gemeinsamen Sprachgebiets kommen, so kommen wir auf die gefoderten Vorkenntnisse zurück. Ich muß wissen in welcher Zeit und Gegend der Sprache der Verfasser sein Publicum gehabt, denn auf dieses kommt es an, und dabei setze ich denn voraus, daß ich die Sprache wie sie in der nun bestimmten Zeit und Gegend gewesen, kenne. Nehmen wir die Fälle, wo die Hermeneutik mit Bewußtsein in Anwendung gebracht wird, bei 5 das] oder dies 6–8 Jedes ... ist.] am Rand Anführungszeichen 14–15 Es ... werden.] am Rand Anführungszeichen 22–23 in ... Sprache] versehentlich nach identificiren eingefügt
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Schriften einer fremden Sprache so kann ich sie nur durch den Gebrauch erlangen, und das nicht nur bei einer lebenden Sprache, sondern durch den Gebrauch muß ich auch das Gebiet kennen lernen, in dem jener Verfasser einer in todter Sprache geschriebenen Schrift gelebt, und dies geschieht eben durch Lesen und Verstanden haben. So erweitert sich der Satz, daß das Einzelne nur aus dem Ganzen zu verstehn sei, dadurch daß wir jede Schrift als ein Einzelnes in ihrem ganzen Literaturgebiete ansehn müssen. So wird also die Sicherheit für eine einzelne Schrift als solche immer vollkomner werden, je mehr ich Herr werde des ganzen Gebiets, dem sie angehört. So ist klar die Unentbehrlichkeit von Hülfsmitteln, indem ich zu ihnen meine Zuflucht nehmen muß, wenn ich in unbekanntem Sprachgebiete zu lesen beginne, und diese Hülfsmittel sind die Lexica und die Commentatoren, sofern sie lexicalisch sind. Nun aber scheinen wir doch Ausnahmen von unsrer Regel zu haben, jede Ausnahme gibt aber nur Zeugniß der Unvollkommenheit der Regel, daß sie nicht bestimmt u.s.w. genug sei. Suchen wir nun den möglichsten Grad von Bestimmtheit so müssen wir uns möglichst alle Fälle imaginiren, die als Ausnahmen erscheinen könnten. Nun haben Schriftsteller oft solche Ausdrücke gebraucht, die dem ihnen und der Addresse gemeinsamen Sprachgebiete nicht angehören, so müssen wir also die Fälle ausnehmen, wo man einen Ausdruk nicht nach unsrer Regel erklären kann, das ist aber nur darum weil die Gemeinsamkeit gar etwas Unbestimmtes ist. So gibt es Ausdrüke die man Archaismen nennt, sie sind zu der Zeit, in welche eine Rede oder Schrift fällt, nicht mehr üblich, sind es aber gewesen und haben einen bestimmten Kreis von Anwendung in einer frühern Sprachperiode. Hat der Schriftsteller nun ein Recht vorauszusetzen, daß den Lesern das alte Gebiet bekannt ist? gewiß nicht, doch können wir ihm das als absoluten Fehler nicht anrechnen, er kann Recht und Unrecht haben; hat er sich nämlich nicht helfen können, und mußte er die Differenz zwischen seinen Lesern ignoriren und sagen: Viele werden dies doch kennen, wenn auch nicht Alle, und Jene müssen mir ÐgenügenÑ, ja so mußte die Nothwendigkeit, das Wort zu gebrauchen, um so zwingender sein, je weniger er ein Recht hatte, solche kundige Leser vorauszusetzen, und er wird in demselben Maaße Recht haben, in welchem er denken kann, daß auch die, welche den Archaism nicht kennen, verstehn werden was er gemeint, und der aus einer fremden Sprache jene Schrift liest, muß sich dann so mit den ursprünglichen Lesern identificiren, um auch so wie sie den Ausdruck verstehn zu können. Ferner gibt es für jedes besondre Ge7–8 jede ... müssen.] am Rand Anführungszeichen
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biet der menschlichen Thätigkeit, die im Volke einheimisch ist, eine Masse von besondern Ausdrücken, die entweder allein ÐinÑ ihr zu verstehn sind, oder doch in ihr einen speziellen Sinn haben, das sind technische Ausdrücke. Handelt nun eine Schrift von so speziellem Gebiete, so müssen jene Ausdrücke gebraucht werden, und ich, der ich sie nicht kenne, muß mich dann um jenes besondre Sprachgebiet bekümmern, oder auf das Lesen der Schrift Verzicht leisten, doch ein Schriftsteller wird oft auch anders wo so technische Ausdrücke gebrauchen, wo dann derselbe Fall wie bei den Archaismen eintreten wird, hier ist es eine fremde Region, dort war es eine fremde Zeit, der Schriftsteller befand sich in dem selben Falle wie dort, sein Motiv mußte stark sein, daß er es unternahm sich für einen Theil seiner Leser unverständlich zu machen, oder doch sie nur aus dem Zusammenhange verstehn zu lassen, was er gemeint, denn daß Alle so viel als nötig darunter verstanden, mußte er das Andre einrichten, that er das nicht, so blieb er an dieser Stelle unverstanden. So Friedrich Richter, der eben darum wahrscheinlich den Nahmen eines classischen Schriftstellers nicht erhalten, weil er so viele fremde Ausdrücke einmischte, er dachte vielleicht, ich gebe so viel, daß wenn Alle dies auch nicht verstehn, sie doch genug noch verstehn. Das waren also nur scheinbare Ausnahmen, denn das Schema der Schriftsteller ÐvonÑ dem gemeinsamen Gebiete stand nicht fest, sondern das ist der Natur der Sache nach schwankend, und so wird kaum Ein Schriftsteller sagen können: ein Jeder, der sich zu dem Inhalt und der Form meiner Schrift geneiget fühlt, wird sich nicht gehemmt fühlen durch etwas aus fremdem Sprachgebiete Genommenes. Nun ist zwar selten die wahre Nothwendigkeit da, antiquirte Elemente aufzunehmen oder solche die anderswo nicht gelten. Gehn wir aber von der Sprache in ihrem lebenden Ausdrucke aus, daß in ihr Ausdrücke antiquirt werden und neue aufkommen, so werden diese doch nur im Zusammenhange des Denkens und Aussprechens der Gedanken gemacht, sie kommen also zum Vorschein, wenn sie noch unbekannt sind, und wir können doch nicht sagen, Niemand solle neue Wörter bilden, weil sonst die Sprache ja nie gebildet wäre, und wir die Regel also nicht eher geben könnten als bis die Sprache aufgehört hätte zu leben, wo es denn unnöthig wäre, weil die Veranlassung fortfiele. Dieses Bilden ist nun wohl auf ein gewisses Gebiet beschränkt, denn es kann ein neues Stammwort nicht aufgebracht werden; nur eine Ableitung und Zusammensetzung kann neue Wörter hervorbringen. Die Nothwendigkeit solches Schaffens entsteht aber, sobald ein neues Gedankengebiet gewon15–16 Der unter dem Namen Jean Paul bekannte und beliebte Romancier Jean Paul Friedrich Richter.
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nen wird, wollte ich nicht dabei Neues bilden in der Schrift, so müßte ich in einer fremden Sprache mich ausdrücken, in der jenes Gebiet schon entdekt wäre, sonst muß ich durch Verarbeitung der schon vorhandenen Ausdrücke in der eignen Sprache sprechen. Nun können wir auch nicht behaupten eine Schrift vollkommen verstanden zu haben, sobald uns entgeht, daß der Verfasser etwas neues Sprachliches in ihr gebildet, vollkommen verstehn wir dann nicht, denn es kommt nicht in unser Bewußtsein, was in dem Verfasser war, und indem wir einen Ausdruck als schon vorhanden gewesenen nehmen, der doch neu ist, verstehn wir auch die Schrift in Beziehung auf die Sprache nicht; wir haben das Produciren des Schriftstellers nicht bemerkt, was nicht nur auf neue Wörter, sondern neue Phrasen und Größeres noch bezogen werden muß, so daß man bei so großem Umfange dieser Schwierigkeit, dieses Producirens man Acht geben muß bei allen Verben ob sie in gewisser Beziehung die ersten in ihrer Gattung gewesen. So weiß Jeder im Allgemeinen, daß Platon Antheil an der Bildung der philosophischen Sprache unter den Griechen gehabt, indem aber ein großer Theil seiner Sprachproductionen in alle Schulen übergegangen, so erscheint uns Vieles bekannt, was vielleicht er zuerst in die Sprache gebracht. Richtet man hierauf seine Aufmerksamkeit nicht, so kann man keine Einsicht in das Wesen dieses Schriftstellers erlangen. Ist man nun unsicher ob das ein eigenthümlicher Ausdruk ist, so ist man im Verstehn unsicher, besonders da es nur schwer und unsicher zu entscheiden ist. Denn es ist ja nicht zu verlangen, daß das immer sichtbar ist, weil er Vieles geschrieben, was nicht auf uns gekommen, und gerade das verloren sein kann, worin die Neuheit bemerkbar war, und wir haben das nur, in dem er auf das Frühere sich berufen konnte. Bei Platon beruht nun dazu die Schriftsprache auf dem mündlichen Gespräche, wo die Kunstausdrücke zuerst vorgekommen und so ist vielleicht Manches in der Sprache, was zuerst vorgebracht ist ohne daß wir es merken, daß es ein Neues, da Platon das nicht bemerkbar machen durfte, weil er voraussetzen konnte, seinen Lesern sei es aus seinem Gespräche nicht unbekannt. So sind wir auf einen Punct gekommen der schwierig [ist und] besonders in Betracht gezogen werden muß. Bei einer Schrift über einen durchaus neuen Gegenstand oder einen solchen, der in der ersten Zeit seines Daseins ist, ist immer zu praesumiren, daß neue Ausdrücke vorkommen, nur bei einem längst fixirten Gegenstande wird auch die Sprache als fixirt anzunehmen sein. Schuld am Mißverstande ist ferner oft, wenn schon gewesenen Ausdrücken eine spezielle Bedeutung beigelegt wird, wo denn die 6 daß ... gebildet] am Rand Anführungszeichen
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Schuld des Mißverstehens meist auf den Verfasser fällt; wenn wir eben den Schriftsteller dunkel nennen, der in der Schrift gangbaren Bezeichnungen einen eigenthümlichen Werth beigelegt hat, ohne daß dieser bestimmt genug aus dem Zusammenhange entwickelt werden könnte. Dann ist gerechtfertigt, daß eine Unsicherheit des Verstehens bei dem Leser bleibt. Neugebildete Worte sind nun eben so wenig eine Ausnahme, da sie aus dem gemeinsamen Sprachgebiete verstanden werden müssen, denn überall müssen sie unter solchen Umständen vorkommen daß sie von Jedem richtig verstanden werden. Betrachten wir nun das gewöhnliche Verfahren dieses Bildens, so haben wir Ursache die Ausleger unsrer Literatur zu bedauern, denn die Willkühr dabei ist so groß, daß weder an die logischen noch an die musicalischen Gesetze dabei gedacht wird, dabei ist die Auslegung für künstlerische Leser sehr erschwert, sich bestimmte Vorstellungen von dem Gehalte so einer Bildung zu machen. Es gehört dazu was nicht Allen gegeben ist, die sich damit abgeben, wenn sie nur vom augenblicklichen Bedürfniß beherrscht und den eigentlichen Sprachgeist nicht besitzend Worte bilden, so wird aus einer Sprachbildung ein Sprachverderben, und die Auslegung durchaus unsicher sein. Freilich kein Gesetz ist da, wie wir Worte machen sollen, nur sollten schlechte Wörter keine Aufnahme finden und so verhindert werden, sie weiter zu verbreiten. Das aber ist festzuhalten, daß die Art und Weise, wie in einer Sprache in der Bildung jener Formen verfahren wird, und in welchem Grade diese Erweiterung der Sprache geübt wird und wie sie sich zum Antiquiren verhalte, daß der zu einem richtigen Bilde der Sprache nothwendig ist und das genaue Verständniß auch eine genaue Kenntniß des Lebens und der Geschichte der Sprache in sich schließt. Das hat nun in verschiedenen Gebieten verschiedene Geltung und in verschiedenen Zeiten und so muß man darauf achten, welcher Periode eine Schrift in dieser Hinsicht angehört. ÐVersuchenÑ wir die dichterische Sprache des Homer und die der Tragiker, so finden wir große Verschiedenheiten der Elemente in jeder Hinsicht, hat das eine seinen Grund in der Verschiedenheit der Gattungen oder der Sprachgebiete und perioden, und dann in welchem Maaße? versteht man sie so nicht, so versteht man sie auch nicht ganz, am wenigsten in Beziehung auf die Sprache. Hernach die Alexandriner, die viele Homerische Formen in Gang gebracht haben. Das kann verschieden angesehn werden, und bildet also auch verschiedene Vorstellungen über diese Werke. Einmal kann man sagen, die epische Form habe so lange geruht, und muß dann den Grund suchen, warum sie überwältigt 7 verstanden] über genommen
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und nun erst sich Bahn gemacht haben. Aber es gibt noch eine andre Vorstellung, diese spätern epischen Gedichte seien gar nicht auf dieselbe Weise aus dem Innern gekommen wie die Homerischen, sie seien nur Nachbildungen. So ist die Sache in ganz anderm Verhältnisse und nur eine große Totalvorstellung kann das Richtige entscheiden, aber wie Jedes anders verstanden werden würde, so würde man auch bei Jedem anders verfahren müssen. So wird ein vollkomnes Verstehn erst aus dem Ganzen hervorgehn, es muß ein richtiger Totalblick zum Grunde liegen, wenn das Einzelne soll verstanden werden. Betrachten wir den Canon in seiner Anwendung so sehn wir die Verbindungen gegeben, und wir werden nun viele Fälle in allen Gattungen der Hermeneutik finden, wo das Bestimmen des Localwerths des einzelnen Sprachelements in einem Satze ruhig fortgehn kann. Worauf beruht aber das? Das müssen wir fragen, denn wenn wir das uns nicht deutlich machen, so betreiben wir die Aufgabe auf ganz unzweckmäßige Weise, indem man es zu Schwierigkeiten kommen läßt, die man hätte vermeiden sollen. Einmal: der Satz ist die kleinste organische Einheit. 2. das Verhältniß der Sätze in einer zusammenhängenden Rede. Bei dem Ersten müssen wir auf die einfache Form zurükgehn. So ist äußerlich die Einheit von Haupt und Zeitwort, der Satz, der nur aus bestimmten Zeitwörtern besteht, hat etwas Unvollständiges. „Es regnet“ ist unbestimmt, denn das „es“ ist ein x welches weder umfaßt wer, wo und was regnet, der Satz enthält also einen unvollständigen Gedanken, sagen wir jedoch oë Zeyw yÏei, so ist dabei vielleicht nicht bestimmteres gedacht, aber der Satz ist vollständig. Diese beiden Elemente, das Haupt und Zeitwort, können so durch einander bestimmt werden, daß Nichts weiter erfodert wird. Vergegenwärtigt man sich den Umfang aber verschiedener Sprachwerthe, die das Haupt und Zeitwort hat, und ich denke mir das Hauptwort ÐmitÑ einem Zeitworte und das mit Jenem verbunden, so kann mir der Satz vollständig bestimmt sein, sofern er Glied eines Zusammenhangs ist, sogar als erster Satz einer Rede kann er es sein durch den Realzusammenhang oder durch die Totalanspannung des Ganzen, die vorangegangen ist. Denken wir uns aber den Fall, daß wenn wir den Gesammtwerth des Haupt und Zeitworts gegen einander halten und uns ein Ort wie bei Jenem nicht bestimmt ist, so müssen wir aus dem Gebiete herausgehn um die völlige Bestimmung zu erreichen. Selten besteht nun ein Satz allein aus ihnen, sondern oft sind mehrere zusammen, und finden wir nun das Hauptwort außer seinem Zusammenhange mit dem Zeitworte, durch Andres, was man von ihm ÐaufstelltÑ vollständig bestimmt 32 Denken wir uns] Denken wir uns. Denken wir uns
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und ebenso das Zeitwort, daß man ihre Bedeutung nicht verfehlen kann, so sagen wir ist das der zweite Fall eines ungehinderten Fortschreitens, daß mir jene Nebenelemente ersetzen, was ohne sie mir fehlen würde. Jenes Hauptwort mit dem Zeitwort verbunden gibt mir keine genaue Bestimmung, da aber Haupt und Zeitwort in solchen Umgebungen sind, so sind sie in ihrer Einheit bestimmt. Unter diesen beiden Bedingungen ist ein Satz mit den allgemeinen Vorbedingungen, ohne daß man aus ihm herauszugehn braucht als Einheit mir bestimmt, so daß Jeder, der das Gegentheil behaupten wollte durch einen calculus zu überführen wäre, sobald ich aber in einem calculus nicht eine vollkomne Bestimmtheit finde, so bin ich gehemmt, und was wird dann das Nächste sein? Dieses ruhige Fortschreiten setzte voraus, daß mir der ganze Sprachwerth der einzelnen Elemente bekannt sei, das ist aber oft nicht der Fall und das gilt nicht nur von fremden Sprachen, sondern auch von der eignen. Niemand kann sich rühmen, die Sprache in gleichmäßiger Totalität zu besitzen, kann sich also noch nicht des völligen Sprachwerthes bewußt sein, dann gebraucht er Hülfsmittel und diese sind entweder allgemeine oder spezielle. Die allgemeinen sind für das Verstehn der Rede im Verhältniß zur Sprache, dahin gehören die Lexica und alles Analoge wie die Syntaxis, die es mit den Formen zu thun hat wie Jene mit der Materie. Die speziellen sind die, welche sich geradezu auf eine vorliegende Schrift beziehn wie die Commentare oder auf eine bestimte Region von Schriften, oder bestimmte Region von Sprachen, der diese angehört. Also nothwendig müssen wir diese Supplemente gebrauchen. Nun fragen wir, wie verfahren wir wenn ein Element durch seine Umgebungen nicht vollkommen bestimmt ist? Dasselbe was von dem Verhältnisse des Hauptworts und Zeitworts in der Einheit des Satzes gilt, gilt auch vom Hauptwort im Verhältniß zu den Adjectiven und vom Zeitwort im Verhältniß zu den Adverbien. Hier wird man auch sagen können, das Hauptwort ist in dieser Umgebung schon bestimmt, ist es nicht so wird vielleicht das Verhältniß des Hauptworts mit seinem Adjectiv durch das Zeitwort bestimmt, in welchem Falle die Einheit des Satzes verstanden ist, ist aber das nicht der Fall, so sind wir in Unsicherheit und es ist ein richtiges Gefühl nothwendig, das durch Uebung erlangt wird. Kommt mir nun ein Satz vor, in dem ich Etwas nicht sicher verstehe, so erlange ich das Bewußtsein, daß ich etwas Früheres nicht beachtet habe, so muß ich also zurückgehn und mir den Zusammenhang vergegenwärtigen. mit der Schwierigkeit kann mir auch das Verständniß kommen, daß ich keine vollständige Einsicht habe des 6–7 Unter ... Satz] Unter ... Satz. Unter ... Satz
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Sprachwerths, das muß ich also ergänzen und bedarf dazu allgemeiner Hülfsmittel. Wie muß ich mich nun der Wörterbücher bedienen um das fehlende Verständniß zu ergänzen? Offenbar der scheinbar glüklichste Fall ist dabei, wenn die Wörterbücher die Stelle grade als Beispiel eines bestimmten Sprachwerths anführen, denn in diesem Falle wird das allgemeine Hülfsmittel ein spezielles, aber scheinbar ist dies der günstigste Fall, denn es kommt darauf an, daß der Verfasser des Wörterbuchs die Stelle richtig ausgelegt hat. Allemal hat er nun die Praesumption für sich, doch muß man sie ihm nur vorsichtig zugestehn, weil, da ihm es darauf ankommt, den Sprachwerth der einzelnen Elemente in ihrer Totalität und nicht leicht analoge Spezialitäten zur Darstellung zu bringen, er also doch eine große Masse von Fällen sich vorgeführt hat, sonst wäre er kein Meister und insofern wir ihn dafür halten, hat er jene Praesumption. Es kommt nun darauf an, ob die Behandlung der Sprachelemente und der Grundansicht, von der er ausgegangen, die richtigen sind, ja ich muß wissen, ob sie die meinigen sind, anders muß ich mich in seine erst hinein denken, weil ich sonst sein Urtheil über einen einzelnen Fall nicht abschätzen kann, da ich nicht von dem Positiven ausgegangen, von dem er. In jedem Momente führt uns das richtige Verfahren im Auslegen auf die Composition zurück, und hier jedes auf das Gebiet der Hülfsmittel, und das leitet uns auf die Theorie, nach der sie zu Stande gebracht wurden. Ein Wörterbuch soll den ganzen Schatz der Sprache, alle einzelnen Elemente (Wörter) enthalten und ihren Sprachwerth zur Darstellung bringen. Nun sind zwei verschiedene Arten der Abfassung, die alphabetische und etymologische und es ist nicht möglich sich solcher Hilfsmittel richtig zu bedienen, wenn man den Grund dieser verschiedenen Formen nicht einsieht. Der etymologischen Abfassung liegt die Idee zum Grunde, die einzelnen Elemente nicht in ihrer Einzelheit vorzulegen, sondern sie in Gruppen zu sammeln in Beziehung auf die Sprachgesetze der Ableitung, sonst könnten sie auch den Begriffen nach classificirt werden, wie Pollux eigentlich wollte, dem nur das Systematische abgeht. Aber von dieser Art sind wenige. Wenn wir die etymologische Art betrachten, so ist es klar, daß sie uns ein klareres Bild geben wird, da sie die Ausdrücke auf Einen Punkt zurükleitet, als die alphabetische Art. Hier ist der Bestimungspunct durchaus äußerlich und willkührlich, weil er auf der Anordnung dieser Elemente in Beziehung auf die Sprachwerkzeuge beruht, hier liegt also nur die Tendenz der Bequemlichkeit derer zum Grunde, welche es ge30 Der in Ägypten geborene griechische Gelehrte Julius Pollux hatte im 2. oder 3. Jh. ein umfängliches enzyklopädisches Lexikon verfaßt; die jüngste Ausgabe war: Julii Pollucis Onomasticon cum annotationibus interpretum. Cinavit Giulielmus Dindorlius. Vol. 1–5. Leipzig 1824; Schleiermacher besaß einen älteren Druck von 1706 (SB 1526).
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brauchen wollen, so ist es ein Knecht, spricht über das Eigenthümliche der Sprache Nichts aus, während die etymologische Art von lebendiger Anschauung der Sprache ausgehn muß, und wer diese hat, der muß mit großem Widerwillen solch alphabetisches Wörterbuch machen, weil er diese Anschauung durchaus verläugnen muß. Hieraus folgt klar: das alphabetische Lexicon ist vorzuziehn, weil ich doch sogleich finde was ich gesucht, wogegen ich um beim etymologischen Rath zu suchen ich über den Stamm sicher sein muß, aber wenn ich im alphabetischen Lexicon ein Wort gefunden mit Andeutung seiner Abstammung, so muß ich das Wort nun im etymologischen aufsuchen, wo es mit seiner ganzen Familie sich zeigt, und ich alle Modificationen finde, welche der Grundbegriff sich aneignete. Ohne dies erlangt man nicht den Vortheil, durch diese Hilfsmittel seine Sprachkenntniß zu vermehren, und so muß ich beide mit einander immer verbinden. Bei diesem Gebrauche kommts nun darauf an, wie das Einzelne als Theil und das Ganze gegen einander gestellt werden. Gewöhnlich ist für ein jedes Wort eine größere oder geringere Reihe von Bedeutungen aufgestellt, doch ist das mangelhaft wenn man auf die Entstehung, unzweckmäßig wenn man auf die Anwendung sieht. Es sind da nur partielle Inductionen gemacht und die Einheit kommt gar nicht zum Vorschein. Man muß hiebei voraussetzen, daß der Lexicograph für jede Bedeutung eine oder mehre Stellen gefunden, wo es einzig diese Bedeutung haben konnte, und was nicht auf die Einheit wollte wurde als besondres gesezt, aber dann wird eben des Verfassers Unfähigkeit klar zu Verschiedenheiten die Einheit zu finden, denn natürlich ist doch nicht jener Gebrauch mannigfacher Bedeutungen in Einem Worte, denn dem, der es gebraucht, war es doch in allen Fällen dasselbe, er hat sich in allen Fällen ein und dasselbe gedacht, und so ist es nur ein Verschiedenes geworden. Es ist die einzige richtige Ansicht Dies, und soll man nicht die Sprache als ein Zufälliges annehmen, und das Verstehen zufällig werden, so muß man jedes Wort als Einheit fassen können, die ihm, der das Wort gebraucht zu Grunde liegt. Dies scheint nun unwahr, indem, wenn man die Schriftsteller über die Einheit fragen wollte, nicht Jeder über dieselbe Rechenschaft geben könnte, Mancher würde die Einheit nicht nennen, ausdrücken können, obwohl er sie innerlich wirklich hat. Es kann dem Wesen der Sprache nach jedes Wort nur als Einheit erscheinen und so ist das ganz unzureichend, worüber hinaus noch Andres möglich ist. Ist man denn der Einheit sich nicht klar bewußt? In gewissen Fällen nicht, und so 1 ,Knecht‘ ist auch ein Hilfsmittel. „Figürlich, bey verschiedenen Handwerkern und Künstlern, ein Werkzeug oder Theil eines Werkzeuges, welches stehet, und einem andern Dinge zur Unterstützung dienet.“ (Adelung 2, S. 1657)
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kommt es bei der Lexicographie ÐauchÑ nur darauf an, ob die partiellen Inductionen richtig und vollständig sind, dann sind sie für die Hermeneutik nüzlich, denn man wird leicht das Nothwendige finden und so wird auch die Sprachkenntniß sich vermehren wenn man das Etymologische vergleicht und so aus den partiellen Inductionen die Einheit findet. Diese Mangelhaftigkeit der Sprache, daß die Einheit nicht immer klar im Bewußtsein liegt, kann so nur durch ein gewisses didaktisches Verfahren ergänzt werden. Wie ist nun das Verfahren beschaffen mit den partiellen Induktionen und was kann man mit ihnen leisten? Nimmt man im Lexicon eine Menge von Bedeutungen zu jedem Worte wahr, so muß man schließen, daß der Verfasser wohl geeignet ist, Verschiedenheiten zu sehn, nicht aber das Mannigfaltige in eine Einheit zusammenzufassen und sind die verschiedenen Bedeutungen gar zusammengeworfen, so ist eine Regel der Aufstellung gar nicht vorhanden, so leistet das Wörterbuch um die Einheit zu finden wenig, weil diese Aufgabe dem Lexicographen selbst nicht vorgeschwebt, und für den hermeneutischen Gebrauch ists unbequem, wenn man das nicht in Klassen Aufgestellte einzeln durchgehn muß, also je mehr mannigfaltig die Beziehungen eines Wortes sind, um so mehr müssen sie gruppirt und ihre Ähnlichkeiten zusammengestellt sein. Diese Gruppirungen beruhen auf 2 Principien, auf dem Verfahren der Entgegensetzung und dem nach den Gesetzen eines allmählichen Uebergangs. Ueberall wo man mit der Natur zu thun hat, muß man sie verbinden, jede Sprache ist nun ein Naturwerk, denn sie ist nicht mit solchem Bewußtsein geworden wie ein Kunstwerk, sondern es ist ein Naturproduct des Volks, und so muß sie behandelt werden. Die Aufgabe, die Einheit zu finden welche die Wörterbücher übrig lassen, müssen sich am meisten an den Gegensätzen halten, und diese Gegensätze aufzulösen ist dann die Aufgabe; für den einzelnen Gebrauch kommt es auf die einzelnen Orte für die natürlichen Uebergänge an, also wird er die Differenzen in ihrem fließenden Verhältnisse betrachten, denn mit Gegensätzen allein kommt er nicht aus. Die gewöhnlichste Classification der Entgegensetzungen ist die in eigentliche und uneigentliche Bedeutungen. So wie man dieses Gesetz sich aufstellt und nun den Anfang machen soll, so wird man bei den eigentlichen stehn bleiben müssen, denn die Andern entstehn außerhalb des Kreises des Elements, aber schwer wird zu begreifen sein, wie man darauf kommeAnwendungen von einem Worte außer seinem Kreise zu machen. So scheint der Gegensatz keine Realität zu haben und die Einheit des Wortes aufzuheben. Es muß in dem Worte gesucht werden, 11 wohl] über 〈nicht〉
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was den sogenannten uneigentlichen Gebrauch erzeugt und was dem eigentlichen wie dem uneigentlichen zum Grunde liegt, wobei man gewöhnlich auf einen diesem ähnlichen Begriffe Complexus kommt. Wir finden von den Fabeldichtern her die Bezeichnung dem Löwen gegeben, als sei er der König der Thiere, nun herrscht er aber nicht sondern weil er wie in den alten Aristokratien der König, unter Vorzüglichen als der Vorzüglichere erscheint, ist ihm dieser Nahme gegeben, und so ist also hier nicht in dem Worte König ein andrer Sinn, sondern, das was diesem Worte und Allen ihm ähnlichen zum Grunde liegt, eine Ausgezeichnetheit ist hier auf den Löwen angewandt, und das ist das Allgemeine in diesem Worte, denn 2 verschiedene Arten von Königen anzunehmen, solche die fressen und solche die herrschen, scheint nicht zu passen. Ebenso, wenn die Lateiner das Laub coma arborum nennen, und die Wörterbücher geben nun an coma heiße eigentlich Haar, uneigentlich Laub, so müssen wir fragen, wie kann es denn zugehn daß dasselbe Wort hier Haar, dort Laub heiße? Da liegt ein sinnliches Schema zum Grunde, wenn man sich die menschliche Gestalt und die vegetabilische denkt, so muß man sagen, die Aehnlichkeit wird hervortreten, wo der Baum eine Krone bildet, diese ist das Haupt, und was das Laub für die Krone, ist das Haar für das Haupt; so ist man von bestimmter Analogie der Gestalten ausgegangen, und coma bedeutet nie Laub, und ist so nicht uneigentlich gebraucht, es heißt überall Haar, aber seine Beziehung ist eine andre. Bei solchen Fällen werden wir nun einsehen, daß der Gegensatz von eigentlich und uneigentlich uns schwer auf die Einheit leite; denn einmal ist oft in der Wirklichkeit nur Eine Bedeutung zu erkennen bei diesem verschiedenen Gebrauche, dann aber scheint die Einheit nicht als absolut zu betrachten, sondern als Zusammenfassung verschiedener Elemente und der Gebrauch richtet sich je nach dem verschiedenen Hervortreten derselben. Diese Betrachtung führt darauf, daß man bei analitischem Gebrauche, ein Auslegen nie als Eins denken muß, was ein Mannigfaltiges ist, und die verschiedenen Beziehungen berücksichtigen, so ist in der Redensart coma arborum, diese Beziehung eine bildliche, verkenne ich sie und berücksichtige das Emphatische nicht so begehe ich ein quantitatives Mißverstehn. Nun hat freilich die Zusammenstellung von Gebrauchsweisen in verschiedenen Puncten seine Bequemlichkeit, aber zum Verständniß gelangt man nicht ohne zur Einheit gekommen zu sein, denn diese hat immer den Schriftsteller beherrscht, ob er sich auch keine Rechenschaft davon zu geben vermöge. Daraus erhellt aber, daß da wir anerkannt haben, daß die Ein3 lies wohl: auf einen Complexus diesem ähnlicher Begriffe
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heit ein Zusammengesetztes sei und daß man sie finde wenn man alle Gebrauchsweisen zusammenfasse, das Verfahren der Entgegensetzung das bessere sei, um die Einheit aufzufinden, aber für die Hermeneutik wird das Verfahren nach den Gesetzen des allmählichen Uebergangs das bessere sein, nicht das der Entgegensetzung, welches aber ein gutes Zwischenverfahren ist um zu erkennen, welches die ursprüngliche Combination sei, von der die andern als Modificationen des Grundverhältnisses anzusehn seien. So unterscheidet man denn auch ursprüngliche und abgeleitete Bedeutungen bei diesem Verfahren. Daran kann Wahres und Falsches sein. Ist es wahr, so ist es kein Gegensatz, denn wenn auch in der Sprache dem Ursprünglichen das Abgeleitete entgegengesetzt ist, so ist doch auch jede Beugung ein Abgeleitetes, dies aber sind Sprachelemente, welche wenn ich sie unterscheiden [will], so muß ich die Einheit in dem Ursprünglichen suchen und das Andre nur in fremdem Kreise, dennoch muß ich auf das ursprüngliche zurück hinführen. Unwahr aber ist wenn die ursprüngliche sind, die zuerst in der Sprache gefunden werden, die auf den geschichtlichen Anfang hinführen, so daß das Wort eine kurze Geschichte enthält. Das aber ist nur richtig, wenn wir überall die verschiedenen Vorkommungsarten von den später abgeleiteten sondern könnten, weil wir dann die Einheit leichter finden könnten, sofern die ersten Combinationen, die nicht verschiedne Bedeutungen sondern Gebrauchsweisen nur sind, ihr nahe stehn, und die Probe ist dann zu machen, ob die Einheit bei ihnen allen paßt. Nun ist aber ein Canon der Entgegensetzung aufgestellt, der für die Hermeneutik wichtig ist wenn man aufs Vollkomne will. Daß man nämlich die sinnlichen und geistlichen Gebrauchsweisen entgegengesetzt hat und gesagt, jene seien die ursprünglichen, diese die abgeleiteten. Dieser Canon würde das ganze Wesen des Denkens durchschneiden und wenn er ÐeinreißtÑ auf gänzliches Mißverstehn führen, sofern die Rede ein Product der Gestaltung des menschlichen Denkvermögens ist. Jedes Wort drückt eigentlich eine Combination schon aus, ist nie eine einfache Einheit, so wenn uns ein Wort unbekannt ist und ich frage nach der Erklärung desselben wie sie mir gegeben werden kann, so wird sie mir nur gegeben werden können in einer wirklichen Mannigfaltigkeit, daraus geht hervor daß die Einheit eine Mannigfaltigkeit ist unter Form der Combination, könnte mir die Erklärung durch bloße Eintheilung gegeben werden so würde man eine reine Einheit erhalten, keine Mannigfaltigkeit. Nun ist gar kein Wort zugelassen, von dem wir sagen könnten, es könne als reine Einheit dargestellt werden, sondern jedes wird nur in der Schrift mittelst einer Mannigfaltigkeit von Beziehungen bestimmt. Halten wir dies fest, so ist klar, worauf die Verschiedenheit in der Ge-
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brauchsweise beruhe. Nimmt man aber an die Ausdrücke seien wirkliche Einheiten so ließe sich nicht begreifen, woher denn eine solche Verschiedenheit komme, so ist bei allen Ausdrücken, die wirklich solche Einheiten sind, die aber nicht in der Sprache gewachsen, sondern willkührlich gemacht sind, keine verschiedene Gebrauchsweise. Das ist bei allen eigentlich technischen Ausdrücken. So im Gebiete der Botanik, wo wir haben Aepfel und Birnen, hat sie nur Frucht als Einheit (immer aber eine untergeordnete Einheit) und so muß jeder untergeordnete Begriff rein durch Eintheilung entstanden sein, und so kann auch Nichts aufgenommen werden, was einen allmähligen Uebergang zulasse. Das sind jedoch ausdrücklich gemachte nicht in der Sprache gewachsene Wörter, aber die Sprache, die das Wahrgenommene fixiren will, muß von solcher Mannigfaltigkeit der Beziehungen ausgehn und möchte sagen: In der Wahrnehmung kann ich das unterscheiden und werde nun den Begriff richten, auf das was ihnen gemein ist, das lege ich zum Grunde oder nach ihr auf die Gestalten, die durch eine mittelbare Wahrnehmung gegeben sind. Die Sprache geht also allein von Wahrnehmungen aus und fixirt sie, darin liegt der Stoff der Verschiedenheit der Gebrauchsweisen, weil da mehre Beziehungen sind. Das scheint zu enthalten, alle Wörter hätten in ihrem Ursprunge sinnliche Gestalten, und die Sprache könne auf indirectem Wege nur vom Geistigen reden, für Geistiges sei ursprünglich keine Bezeichnung, somit nur abgeleitete, und für das Sinnliche die ursprünglichen. Diese Ansicht ist so materialistisch, daß man sie für im höchsten Grade einseitig halten muß, wie versteht sich dann der vorige Satz? Wie unterscheidet sich Sinnliches und Geistiges? Wenn man unter Jenem versteht was durch äußere Wahrnehmungen wahrgenommen und was durch innere ÐdiesesÑ, so will ich den Ausdruck Wahrnehmungen in obigem Ausdrucke für beides gebraucht wissen. Also läßt sich an diesen Satz nicht der Vorwurf der Einseitigkeit [richten], aber Nichts abstractes ist ursprünglich in der Sprache, sondern nur Concretes; nur muß man es in richtiger Bedeutung nehmen und dann ist das Abstracte das Abgeleitete. Wenn ein einzelner Ausdruck in einem Satze durch die unmittelbare Verbindung, in welche er tritt nicht klar wird, so kann das seinen Grund darin haben daß dem Hörenden oder Lesenden dieser Ausdruck nicht in der Totalität seines Sprachwerths bekannt ist, oder daß das gerade Nothwendige für diesen Ort nicht zur Hand ist, so müssen Hülfsmittel gebraucht werden, dann muß man sich der Einheit bemächtigen um so die Mannigfaltigkeit des Gebrauchs zu verstehn. Dies kann nun nie vollkommen gelingen, wenn man den Ge8 untergeordnete] untergeordneter
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brauch durch Gegensätze fixirt; das eine Hülfsmittel das des Lexicons bietet dem, der Gebrauch davon machen will sie zwar dar um eine leichte Uebersicht zu gewähren, doch diese Gegensätze müssen aufgehoben werden und das Wort in seiner Einheit als ein nach verschiedenen Seiten hin Wandelbares angesehn werden, dann wird sich der Punct auch finden, der ihm gefehlt hat. Wiefern nun kommt aus der Geschichte der Sprache ein wesentliches Moment der Hermeneutik? Fragen wir, wir haben große Zeiträume, in denen eine Sprache gelebt und können von jedem Puncte rückwärts gehn nur nicht bis zu den Anfängen, denn sie sind nirgends in der Zeit gegeben, und vergleichen nun zwischen der Gebrauchsweise eines Worts bei den frühesten und bei den Spätesten haben Jene nun mit lebendigem Bewußtsein das Wort gebrauchend alle Bedeutungen mitgedacht die wir in späterm Gebrauche finden? Niemand möchte das bejahen, weil er es nie möchte beweisen können, sondern nötig ists, daß in einer Sprache, die viele Generationen durchdauert, Kenntnisse erwachsen, die Jenen gar nicht im Bewußtsein sein konnten, so mußten sie auch auf die Sprache wirken, in der sie ausgedrückt wurden, und da ganz reine Elemente nicht entstehn konnten, so mußten eben viele Gebrauchsweisen entstehn, die im Bewußtsein der Frühern nicht gewesen. Betrachten wir den Gebrauch des Worts basileyw unter Homer und den spätern Roemischen Ð Ñ, so müssen wir einsehn, daß wenn diese es mit lebendigem Bewußtsein gebrauchten, so viele wichtige Zustände, die das Wort bezeichnen kann im Sinn haben mußten, wie Homer gar nicht gehabt, es wird erst mit der Zeit das Gebiet entdeckt, welches der Gebrauch eines Wortes umfaßt; Neues wird nie hineinkommen. Wollen wir daher genau verstehn, so müssen wir wissen 1. mit welchem Grade von Lebendigkeit der Redende seine Ausdrücke hervorgebracht und was sie in dieser Innerlichkeit betrachtet für ihn wirklich beschlossen halten. Denn nur auf diese Weise finden wir den Proceß seines Denkens, und obwohl dies sein Innres, sein wahrer Gehalt auf die psychologische Seite zu gehören scheint, hieher muß er gezogen werden, denn das Wort [hat] zu einer Zeit ganz andern Werth als zu der andern und um mich vor jedem quantitativen Mißverständnisse zu hüten, muß ich wissen, welcher Sprachgehalt dem gegenwärtig gewesen, der das Wort gebraucht und ob ein gegebener, vorkommender Gebrauch des Worts dem Schriftsteller als neuer oder alter gegenwärtig gewesen. Beides ist verschieden, denn dessen ich mir als eines neuen bewußt bin, hatte einen Accent, eine Emphasis, eine ÐCon20–21 und ...Ð Ñ] Variante Kalb Bl. 98v und bei Einem um Christi Geburt unter den Römern 23 kann] können
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sonationÑ von andrer Art, als dessen ich mich wie eines abgegriffenen Zeichens bediene. Hier also ist es schon schwierig, für die ursprüngliche Aufgabe in richtigem Fortschreiten zu bleiben, daß die Kenntniß der ganzen Sprache, und in ihrer Geschichte der Zeitpunct des Redenden und in diesem das Verhältniß der Sprache gefodert sind; denn erst wenn diese gegeben sind, ist das Verstehn ein vollkomnes. Ist das ein Ernst oder ist die Regel nur der Consequenz wegen gegeben, denn diese Aufgabe wer vermöchte sie zu lösen wagen? Man muß die Aufgabe nie ganz lösen wollen, sondern meist nur Etwas, aber gerade diese zusammengezogenen Fälle sind gerade die schwierigsten, weil man dabei leicht übersieht, was man nicht übersehn sollte. Weniger ist das zu befürchten wo man mit vollkomner Gründlichkeit ÐverÑfahren, weil und wo das Maximum von Anstrengung ist da wird auch einzig Sicherheit sein und jede unserm Willen nach unvollkomne Lösung wird die meisten Gefahren in sich tragen und Schwierigkeiten entstehn lassen, wobei man auf das Frühere zurükgehn muß, deswegen muß man aber auch eine so lange Behandlung nie ansehn als solche, aus der die Hermeneutik Verstehn gewinnen will. Bei dieser Unvollkommenheit scheint ÐnunÑ Ð Ñ Schwierigkeiten die entstehn, erst eine Regel anzuwenden, weil man sonst nie zu Stande käme, beständig aber nachconstruiren nicht wollte. Wollten wir das annehmen so wäre jede Consequenz aufgehoben, und so müssen wir vom Maximum ausgehn. Das Bewußtsein einer solchen Selbstbeschränkung aber wird Vorsicht nothwendig machen, daß wir auf solche Weise handeln, daß nicht übersehn wird was wichtig ist, und so in Schwierigkeiten gerathen. Wir kommen nun auf eine Sache die wir als vorläufig abgesondert haben, eine Uebersicht des Ganzen zu nehmen. Meist thun wir das nicht, oft ists unmöglich, aber es ist in verschiedenem Grade ohne daß es nothwendig wäre eine Scala aufzustellen, in welchem Grade wir Jenes thun mußten, in welchem Falle es null und in welchem Falle es das Maximum wäre, wo man gar nicht umhin könne. Beides steht in genauem Verhältniß, je mehr wir beim Lesen in der Vollständigkeit der Reconstruction des Schreibers bleiben, um so nothwendiger ist jener Proceß, je mehr es uns auf Einzelnes nur ankommt, so daß wir die psychologische Seite ganz bei Seite lassen und nicht einmal in der Schrift bleiben, sondern aus ihr hinausgehn, da tritt der Fall auf wo die Anwendbarkeit Jenes null ist. Bei einer Zeitung lese ich nicht dessentwegen was da steht, das sind Erzählungen, der Erzähler ist unbekannt, so suche ich also nur die Thatsache, und die kann ich aus dem Geschriebenen nicht entnehmen, sondern nur, wie der 6 Ernst] unterstrichen – möglicherweise von späterer Hand
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sie berichtet. Dieser Fall wo Nichts gesucht wird oder was eigentlich außer der Schrift ist ist der Fall, wo am wenigsten man genau zu sein braucht. Wenn in einem Satze ein Ausdruck nicht verständlich durch die unmittelbare Verbindung ist, einmal mit dem was ihm entgegengesetzt ist (wie Hauptwort und Zeitwort) dann durch das was ihm einzeln angeknüpft ist (Adjectiv und Adverb), so werden wir manchmal den Ausdruck nicht gegenwärtig haben, und das wird dann der Grund der Undeutlichkeit. Dasselbe kann aber auch andre Gründe haben, es kann sein, daß ich die Verbindungen, in welchen das Wort vorkommt nicht richtig verstehe und das kann geschehn einmal wenn ich einen der andern Ausdrücke nicht verstehe, oder den Satz in seinem Zusammenhang nicht verstehe, denn dieser Zusammenhang bestimmt das Verstehn der Sprachelemente, die mit einander verbunden sind. Dieser Unterschied geht auf alle Ausdrücke, die Wichtigkeit dieses hermeneutischen Moments, daß der ganze Sprachwerth mir gegenwärtig sein soll, ist für alle einzelnen Elemente vollkommen gleich, denn wenn ein Element auch ganz unwichtig zu sein scheint, so kann es auf die Bestimmung des Sprachwerths eines andern wichtigen den entschiedensten Einfluß haben; zu dem vollkomnen Verstehn haben alle einzelnen Sprachelemente gleichen Werth, aber den Werth der formellen Elemente gibt uns nicht so das Lexicon als die Grammatik, ihr Verhältniß und Gebrauchsweise machen das aus was man Syntaxis nennt, die Art und Weise wie die einzelnen Sprachelemente in ihrer Verbindung zu behandeln. Hier ist also ein zweites Analoges, wo wir dasselbe sagen müssen, von der Form jedes Sprachelements und den formellen Elementen gilt, daß Jedes von ihnen eine Einheit ist aber auch sie ist nicht durch Entgegensetzung sondern nur unter Form des allmählichen Uebergangs zu erkennen, denn Jedes ist wie die materiellen Elemente Einheit, und auf dieselbe Weise gelangt man bei beiden zu vollständiger Uebersicht, auch sind die Eigenschaften der Grammatik dieselben wie der Lexici, nur ist man in der Grammatik selbst mehr an das etymologische Verfahren gewiesen, weil hier die Formen in bestimmter Verwandtschaft aufgeführt stehn, und ist dort die Unvollkommenheit nicht so zu erkennen, da man, wenn man in der Syntaxis die Bequemlichkeit auch ein alphabetisches Verfahren anwenden wollte man nie dadurch wahre Sprachkenntniß gewinnen würde. Wir wollen nun bei jenem günstigen Falle stehn bleiben und uns denken, wir wären im Stande die Sprachwerthe eines Wortes so vollständig zu übersehn, daß wir in der Verbindung in der ein Wort vorkommt nicht an dem Verstehn zweifeln könnten, es ist zwar ein Andres möglich, hier, noch nicht durch das Lexicon in den Stand gesetzt zu werden, den Sprachwerth eines Wortes so zu übersehn
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und da müssen wir denn auf andre Mittel sehn, die den Mangel ergänzen könnten, dort, kann ein Ueberfluß entstehn von verschiedenen anwendbar scheinenden Sprachwerthen, und wir werden andre Verfahrungsweisen suchen müssen; aber wir bleiben bei dem günstigen Falle stehn, da werden wir sagen können, soll ein Lexicon vollkommen sein, und wir denken an eine todte Sprache, die ganz vor uns liegt, so können wir fodern, dem Verfasser solle jedes Vorkommen eines Worts gegenwärtig gewesen sein. Sehn wir nun hier auf das neue Testament zurük, und fragen ob hier bei der Anwendung dieses Allgemeinen etwas Besondres sei, so müssen wir uns das früher Gesagte zurückrufen, worauf denn überhaupt bei der sprachlichen Hermeneutik es beruhen könne, daß es eine SpezialHermeneutik geben müsse, so sagten wir, weil wir hier mit besonderm Sprachgebiete zu thun hätten, und das müssen wir uns genauer vorstellen. Zuvor, da wir aus den allgemeinen die Regeln für die spezielle Hermeneutik nehmen müssen, ist es nothwendig diesen Begriff festzuhalten. Man kann nicht sagen daß sie Andres enthalte als die allgemeinen Regeln, nur sind diese näher herabgezogen zu einem gegebenen besondern. Dieses erscheint als Einzelnes im Vergleich zur Gesammtaufgabe und da ist bedeutenden Gefahren aus dem Wege zu gehn. Das Einzelne verhält sich zum Allgemeinen wie das Unendliche zu der Einheit, wie eines von unzubestimmender Mannigfaltigkeit zu der Einheit und da ist die nächste Behauptung, die aus der Operation des Bewußtseins hervorgeht, daß ein unmittelbarer Uebergang von der Einheit zu dem Unendlichen selbst unsicher, unbestimmbar, nur durch Zwischenstufen zu erlangen, daher denn, wie auch die Geschichte derselben lehrt, die Neutestamentliche Spezialhermeneutik davon abhing, daß die allgemeine Hermeneutik nicht in wissenschaftlicher Gestalt vorhanden war. Aber wäre sie dies auch gewesen, so könnte diese doch nur ein Aggregat von Observationen sein, die ebenso unendlich mannigfaltig sind, worunter denn auch ÐvielÑ Schiefes und Unrichtiges sein würde und man verlöre die wissenschaftliche Sicherheit. So muß man also bei der Construction der neutestamentlichen SpezialHermeneutik zu Werke gehn, und der Grund dazu ist dadurch gelegt, daß man sich vom Zusammenhang mit der allgemeinen Hermeneutik nicht trennt, das geschieht, wenn wir, wie angefangen, bei jedem Puncte der allgemeinen Hermeneutik fragen, was geschieht hier mit jener Spezialhermeneutik? Es ist schon gesagt, jede Sprache könne ihre besondre Hermeneutik haben, wenn ihre Grammatik nicht ausgearbeitet wäre, nehmen wir aber den Fall daß diese kunstmäßig gearbeitet 33 gelegt] gelegst
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wäre, so bedarf es für die Sprache einer Spezialhermeneutik nicht mehr, die allgemeinen Regeln werden angewendet in Bezug auf das was eben über die Structur der Sprache in der Grammatik steht, nur ist zu bevorworten, wenn die Hermeneutik ganz allgemein ist und nun hier noch dies allgemein angewendet werden soll durch eine bestimmte Grammatik so fehlt uns zu dieser Vermittlung ein Glied, denn die allgemeine Hermeneutik kann in bestimmtem Verhältnisse mit allgemeiner Grammatik stehn und nur sofern das Verhältniß einer besondern Sprachlehre zur allgemeinen Grammatik feststeht, ist eine Spezialhermeneutik unnöthig, und die allgemeine ist auf die besondre Grammatik anzuwenden. Damit hängt zusammen, daß alle die Sprachen, die mit andern genau verbunden sind einer Spezialhermeneutik nicht bedürfen, ÐdeshalbÑ alle die, in welchen das Verhältniß der beiden Elemente des Satzes dasselbe wäre, wo dies aber wesentlich alterirt ist, würden die allgemeinen hermeneutischen Regeln nicht ohne spezielle Hermeneutik angewandt werden, eben weil eine andre Grammatik Statt finden muß. So werden wir sagen, sofern ein Sprachgebiet auf solche Weise wissenschaftlich angeschaut ist, daß es befriedigende Arbeiten im Gebiete der Grammatik gibt so ist auf sprachlicher Seite eine spezielle Hermeneutik unnötig. – Die Sprache des neuen Testaments ist Griechisch, das ist nun eine Sprache die auf solche Weise bearbeitet ist, fragen wir aber wie das Griechisch des neuen Testaments sich zum Griechischen Sprachgebiete überhaupt verhalte, so werden wir uns die Griechische Sprache in ihren Modificationen bestimmt vor Augen stellen und werden 2 Perioden erkennen, die eine wo eine Mannigfaltigkeit von Dialekten gegeben ist auch im Gebiete der kunstgemäßen Rede, und die andre, wo nur Eine Gestalt sie hat, so daß nur eine Reproduction durch lauter Archaismen erschiene, wenn Dichtungen in den alten Dialekten vorgebracht würden. In diese Periode gehört das neue Testament und so ist auf die Differenz der Dialekte keine Rücksicht zu nehmen. Nun werden wir weiter sagen müssen, daß wir in der Griechischen Sprache abgehoben von jener Haupttheilung verschiedene Spaltungen wie verschiedene Gebiete unterscheiden können, so den Gegensatz von Prosa und Poesie, die in der Sprache bestimmt herausgearbeitet und die wesentlichen Gestaltungen derselben relativ gesondert sind. Nun das neue Testament gehört ganz auf das Gebiet der Prosa aber nicht in der künstlerischen, wissenschaftlichen Form, sondern mehr in Analogie mit der Sprache des gemeinen Lebens, der synhÂûeia, das ist ein Punct der Beachtung verdient. Ueberall wo die Grammatik behandelt wird, sieht man mehr auf das Künstlerische, auf die ausgearbeitete Form der Rede und betrachtet sie, was im gemeinen Leben vorkommt, wird weniger beachtet,
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nur zuweilen wird bei grammatischer Behandlung der Schriftsteller gesagt, wenn ein so daß diesAusdruck vorkommt, der mehr ins gemeine Leben, weniger in die künstlerische Rede gehört, gar nicht zur Gesammtanschauung gebracht wird, und das ist ein großer Mangel, weil von diesem Gebiete bedeutende Veränderungen ausgehn, die nun unverständlich sind, weil wir hievon nicht wie von dem künstlerischen Gebiete eine Anschauung haben. Da nun Veranlassung zum Abweichen von der schriftstellerischen Sprache oft vorhanden, so werden um so mehr Hemmungen vorkommen, die besondre Regeln der Grammatik veranlassen, denn jedes regelmäßige Verstehen hört auf wenn in der Sprache des gemeinen Lebens Combinationen und Formen vorkommen, die in der Grammatik nicht bedacht sind, und so hat man oft nicht was in regelmäßigem Fortschreiten erhalten. Nun sind noch besondre Umstände, daß die neutestamentarischen Schriftsteller ein gemischtes Sprachgebiet haben, wo vielerlei vorkommt, was gar nicht in der Behandlung einer Sprache, wie sie rein für sich ist, berücksichtigt werden kann. Man denkt sich dies sogenannte Hebraisiren des neuen Testaments so, daß man voraussetzt, alle neutestamentarischen Schriftsteller wären gewohnt gewesen in irgend einem Semitischen Dialekte zu denken und deswegen sei ihr Griechisch nur als eine Uebersetzung in diese Sprache anzusehn und wie Solche, die der Sprache, in welche sie übersetzten, unkundig theils unbewußt sind, daß sie nur übersetzen wenn sie schreiben. Doch kann das leicht falsch sein, wenigstens ist auf keine Weise hier stehn zu bleiben, es ist möglich daß viele Schriftsteller des neuen Testaments, überwiegend mehr Griechisch als Aramaeisch gesprochen, oder irgend solche Dialekte, aber das Griechisch war schon in diesem Gebiete so vorhanden. Wir müssen das objectiviren und sagen, in jenen Gegenden ward nur solch Griechisch gesprochen, so fand es sich im gemeinen Leben vor und so ist das neutestamentliche Griechisch nicht etwa als momentane Production anzusehn und die Abweichungen rein als Thatsachen der Schriftsteller, dann fielen sie auf die andre Seite der Hermeneutik, sondern die Sprache war schon so gegeben und die neutestamentlichen Schriftsteller sind in diesem Gebiete entstanden. Objectiviren wir weiter, so eröffnet sich eine weitere historische Betrachtung, wenn wir fragen, was wurde denn nun aus der neutestamentlichen Sprache nach seiner Abfassung als das Christenthum immer weiter in das Roemische Reich und namentlich in die Griechisch redenden Theile sich verbreitete, da die christlichen Redner hier solche waren die im gewöhnlichen Gebiete erzogen und davon her23 wenigstens] wegestens
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gekommen waren. Sie mußten in gewissem Grade diese Verschiedenheit, diese Mischung aufnehmen, und nur allmählich hätten sie aufgehoben werden können; denn das neue Testament ging in das gemeine christliche Leben über und durch seinen häufigen Gebrauch verloren diese abweichenden Formen das Fremde, je mehr religiös gesprochen und geschrieben wurde, und das war gerade da der Fall, da das öffentliche Leben zerfallen war. Um so mehr mußten jene Formen sich einwurzeln und in die Sprache des christlichen Lebens übergehn. So ist zu erwarten, daß man Analoges hievon in der Graecitaet der Griechischen Kirche findet, so lange das Griechische eine lebendige Sprache war, und hier finden wir neue Abstufungen von 2 entgegengesetzen Puncten aus. Jemehr einmal die christliche Gemeinde in den neutestamentlichen Schriften und in dem mündlichen Vortrage der Lehrer in der ersten Zeit in dieser Sprache sich fixirte, je mehr diese Ideen leitende Principien für die Gedankenconstruction wurden, um so mehr Einfluß gewannen diese Formen und Abweichungen, weil sie unzertrennlich waren von der wiederholten Darstellung der Grundideen des Christenthums, und nur die andrerseits, denen sie nicht so zu Lebensprincipien geworden, genossen größere Freiheit vor diesen Formen, und jemehr nun in den Christen solche Lehrer und Schriftsteller zum Vorschein kamen, welche in der ursprünglichen Graecität geboren und erzogen und von der alten Graecität genährt waren, somit den ursprünglichen Genius in sich trugen, um desto mehr mußte jener Hebraismus unterdrückt werden, ihnen mußte es natürlich sein ihn zu überwinden und die Grundidee in der Form der ursprünglichen Sprache darzustellen. Das war der entgegengesetzte Punct, doch können wir schwerlich sagen, daß irgend auf dem Gebiete der Griechischen Sprache der Hebraism ganz verschwunden sei, so daß uns dieses Gebiet einen größern Umfang darstellt als man gewöhnlich glaubt. Nun fragen wir, wie verhält sich dies Sprachgebiet zu dem eigentlichen und was ist in dieser Beziehung der eigentliche Anfang und die wesentliche Form der neutestamentlichen Spezialhermeneutik. Hier müssen wir achten auf den Proceß der Bilinguität, der Art und Weise 2 Sprachen zu haben. Dieser ist ein zwiefacher, jenachdem man zum Besitze einer andern Sprache gelangt. Wir kommen zum Besitze der alten Sprachen auf künstlerischem, wissenschaftlichem Wege, so daß wir die Grammatik eher als die Sprache bekommen, allein daraus am stärksten sieht man, wie wir auf rein künstlerischem Wege lernen, nun trennt sich das besondre, wie man die Sprache nach und nach erwirbt, und das eigentliche Leben wird erfaßt; wir 24 Grundidee] folgt und
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lernen nicht im Gebrauch sondern ohne allen Gebrauch, der Gebrauch ist nur das Lesen, die eigentliche Gedankenproduction ist ausgeschlossen, und auf diesem Wege kann es geschehn, daß die fremde Sprache in ihrer eigenthümlichen Lebendigkeit erfaßt wird. Will man den Versuch machen, die Sprache selbst zu gebrauchen, so wird er anders ausfallen. Ist man gewohnt in der Muttersprache zu denken, so wird man dann nur übersetzen, doch entsteht da ein Unterschied, ob man im unmittelbaren Leben diesen Versuch macht, oder sich in jenes vergangene Leben zurückversetzt. Dieser Gebrauch wäre der ächt classische, doch besteht dann die Rede gewöhnlich nur in Reminiscenzen, weil man im alterthümlichen Gedankenkreise den man immer gegenwärtig hat, sich bewegen muß, so werden wenn auch nicht buchstäbliche doch Reminiscenzen unverkennbar sein. Gebraucht man die Sprache in unserm Gedankenkreise und wird sie Gegenstand des unmittelbaren Lebens, so wird immer Analoges entstehn von dem, was die neutestamentliche Sprache zeigt, Germanismen werden immer sein, corrigirt man sie auch, so ist das nur ein zweiter Act, das Denken zeigt sich immer, wenn auch nur dunkel, deutsch. Jener Satz nun von dem Hebraisiren des NT ist angefochten worden, es haben Streitigkeiten Statt gefunden, ob das Griechisch des NT rein sei oder nicht. Die die Reinheit behaupteten mochten wohl von solcher Vorstellung der Inspiration ausgegangen sein, und wollten nicht zugeben, daß der heilige Geist ein unvollkomnes Organ gebraucht. Von der andern Seite wurde es auch übertrieben, und als Hebraismus dargestellt was rein Griechisch nur aus der spätern Zeit war; die Thatsache aber abzuläugnen ist unmöglich. Sehn wir nun, wie sich derselbe Fall täglich wiederholt und wie wenn die Aufgabe sei in einer andern als der Muttersprache zu sprechen nur in dem Maße als die fremde Sprache kunstmäßig erlernt sei, in dem Aussprechen nicht Reminiscenzen der Muttersprache vorkommen. Um dies zu vermeiden, halten sich die eine fremde Sprache sprechen in dem Ideenkreise dieser Sprache, weil bei einem fremden Stoffe Unsicherheit ist, ob der Sprache gemäß geredet, da das positiv feststehende fehlt. Wo nicht ÐkindÑgemäße Schule ist, da wird man häufig der Rede anmerken die Gewohnheit in der Muttersprache zu denken und jede Reminiscenz ist Einfluß der Muttersprache. Denken wir dies als Fall des NT und uns als ursprünglich ÐunterÑ beiden Sprachen versirend, die in solches Verhältniß auf solchem Gebiete getreten sind; so müssen wir nicht auf eine Sprache sehn sondern auf beide, wir müssen bei Auslegung des NT das Griechische und Hebraeische im Sinne haben. Nun bedarf es einer genauen Aufstellung der verschiednen Arten, wie dieser Einfluß entstehen konnte. Jene Abweichungen (siehe oben) sind ein Sprachgebiet, das vor und außer
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den NeuTestamentlichen Schriftstellern gewesen; diese Mischung war vor dem NT auch schon in schriftlichen ÐDenkÑmalen, aber zu der Zeit der Abfassung des NT und der ersten Verkündigung des Christenthums wurde schon solch Griechisch, wie das [des] NT geredet. Diesen verschiedenen Quellen müssen wir nachgehn um das ganze Verhältniß deutlich vor Augen zu haben. Das Juedische Volk in jener Periode wohnte nur zum Theil in Palaestina, aber auch Palaestina war nicht allein vom Juedischen Volke bewohnt, sondern es gab auch Gegenden wo ein bedeutender Theil der Einwohner von andrer Abstammung war, so nicht nur in Samaria, was von früher her gemischte Rasse sondern auch in Galilaea und Peraea, im Letzteren gab es Städte mit Griechischen Nahmen also Griechische Colonisation, ebenso in Galilaea und hier daneben noch Vermischung mit Phönikischen Einwohnern. Für Alle die nicht jüdischer Abkunft waren, war das Griechische die herrschende Sprache, sollte also Verkehr Statt finden so mußten die Einwohner in gewissem Grade sich auch das Griechische aneignen, wenn auch nur für den alltäglichen Geschäftsverkehr. Palaestina war ja, oder wenigstens zum Theil in dieser Zeit Roemische Provinz, so lagen Roemer als Besatzungen und Roemische Beamte waren da; diese hatten das Latein zur Muttersprache doch konnten sie sich dessen hier nicht bedienen und nur wo Gegenstände dem Gesetze nach lateinisch verhandelt werden mußten, ward durch Dollmetscher vermittelt, gewöhnlich ward aber Griechisch gesprochen und war das die Vermittlung. Da nun jene Roemer das Griechisch nicht als Muttersprache sprachen, so wurde latinisirtes Griechisch geredet und in Bezug auf gewisse Geschäftsverhältnisse von gerichtlicher, administrativer und militärischer Art wurde das Latinisirte geredet und so ist die Möglichkeit da auch Latinismen im N.T zu finden, weil es von jenen Geschäftsverhältnissen aus Eingang finden mußte. Auch in dem Theil, der besonders rein von Juedischen Menschen bewohnt wurde, namentlich in Jerusalem und dessen Nähe in Judaea hatten sich solche Juden niedergelassen, die früher auswärts gewesen, wie es durch das NT und anderweitig her bekannt ist. Ein Jude der in einer gänzlichen Entfernung vom Tempel und vom Gottesdienst im Tempel lebte war unglüklich, weil er seine religiösen Pflichten nicht erfüllen konnte, und so war es das Streben aller Auswärtigen einst in Palaestina leben zu können und denen dies gelang, von denen ließen sich die frommen besonders in der Nähe von Jerusalem nieder. Diese brachten die Griechische Sprache mit und es hat in Jerusalem Synagogen gegeben, die besonders von Gesellschaften ausländischer Juden gestiftet waren, und worin weil die Hebraeische Sprache ihnen fremd geworden, das Gesetz in Griechischer Sprache vorgelesen wurde, doch
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das Griechische war auch gemischt, weil ihre Vorfahren allmählich es hatten nur annehmen können, und so war in Palaestina überall ein so modificirtes Griechisch gesprochen. Die im Auslande lebten, die Juden konnten das Griechische gar nicht entbehren, denn das mußte überall Vermittlung zwischen den verschiedenen Sprachen verschiedener Theile der Einwohner [sein] das schon seit der Macedonischen Reise in diesem Theile doch allgemein war und so abgesehn vom NT und dem Christenthum gab es ein so eigenthümliches Sprachgebiet, ein durch Aramaeischen Charakter modificirtes Griechisch und mit Latinismen, wie Idiotismen die aus andern Sprachen herrührten, mannigfach durchzogen. Wo nun hier Hilfe finden für das Verstehn des NT? Dies müssen wir in 2 Theile zerfällen, einmal wo überhaupt der Sitz des dem NT Analogen außerhalb des NT in diesem Sprachgebiete war, müssen wir uns gegenwärtig halten denn dies war das Gemeinsame zwischen den Neutestamentlichen Schriftstellern und ihren ursprünglichen Lesern. Um den Aramaeischen Genius ausfinden zu können müssen wir diese Sprache in unsre Betrachtungen hineinziehn. Geben wir Etwas nach, so können wir sagen, die Dialekte, die in dieser Gegend damals gesprochen waren und von denen jene Vorstellungen des Griechischen ausgegangen, waren zwar nicht die Ursprünglichen des Alten Testaments, aber doch die beiden üblichen Dialekte waren von so großer Verwandtschaft mit jenem, daß für den Einfluß auf das Griechische es ein unbedeutender Unterschied ist ob dies das eigentlich Aramaeische war oder der alttestamentliche Dialekt dem chaldaeischen und hebraeischen. Beurtheilen aber, ohne durch die Lesung des alten Testaments in der Ursprache in die Art und Weise dieses Sprachgebiets eingeweiht zu sein, wird es nicht möglich sein jeden Ebraism zu erkennen und aus dem alttestamentlichen Gebrauche zu erklären. Nun die Schriften müssen wir betrachten, welche außer den Neutestamentlichen, denselben Charakter haben also dasselbe Sprachgebiet mit dem NT constituiren. Da ist die Griechische Uebersetzung des alten Testaments. In dieser ist eine Fülle von Ebraismen zu erwarten, weil wenn Jemand Werke, die in seiner Muttersprache geschrieben in eine andre Sprache übersetzt, er schwerlich alle Spuren der Ursprache, die seine Muttersprache ist verwischen kann, besonders wenn er die Verpflichtung der möglichsten Treue hat, und die fand er hier in der Heiligkeit des alten Testaments, daher ist hier ein Sprachgebrauch vorauszusetzen, mit welchem verglichen das neue Testament als Reineres anzusehn ist. Nächst diesem die apokryphischen Schriften des alten Testaments, die ursprüng22 es] davor ÐdiesÑ
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lich Griechisch abgefaßt sind, aber in Ebraeischem Sinne und Geist, wie die geschichtlichen so die gnomischen, sie haben den altestamentlichen Typus und [sind] ihrer ganzen Structur nach diesem Gebiete verfallen, ebenso die einzelnen Ausdrücke und Formen, denn wie die Verfasser im täglichen Leben auch Griechisch redeten, so war es doch nur das vom Aramaeischen durchzogene Griechisch. Nun sind noch andre Schriftsteller, geborne Juden, die in Griechischer Sprache geschrieben ohne unmittelbare Beziehung auf das alte Testament, da sind vorzüglich die Schriften des Josephus eines Palaestinensischen Juden und des Philo eines Aegyptischen Juden. Von diesen müssen wir nun sagen daß das Griechisch nicht allein auf dem Wege des gemeinen Lebens sondern auch auf schulmäßige Weise im Lesen gewonnen und ihre Tendenz zu reinerem Griechisch war, hier wird ein Kampf sein zwischen dem reinen Griechisch und dem hebraisirenden, wie es ihnen einwohnte und wie sie es überall wiederfanden. Wenn wir nun weiter gehn und sagen, das Griechisch des NT auch abgesehn von dem Aramaeischen war das Griechisch einer spätern Zeit, entweder können wir da zurükgehn auf die Macedonische Periode, oder näher auf den der Roemischen Herrschaft. Das Erstere hat schon einen sehr von dem Classischen verschiedenen Charakter, und die Sprache dieser Zeit steht dem neuen Testamente viel näher als die Classische. Sehn wir hingegen auf letztere Periode so sagen wir, seit der Zeit der Roemischen Herrschaft mußte ein latinisirendes Griechisch werden und das mehr oder weniger in dieser Zeit und Gegend und so entsteht denn beim neuen Testamente die Frage nach Latinismen und so ist es auch in den Griechischen Schriften zur Zeit der Roemischen Herrschaft zu sehn, denn bei gewöhnlichen, administrativen, militairischen Geschäften mußten Latinismen eingedrungen sein. So haben wir also das eigenthümliche Sprachgebiet, auf welches wir zurückgehn müssen, doch ist damit noch nicht gesagt, daß wir nun auch zu Allem was im NT vorkommt eine bestimmte Analogie finden können. Das ist eine andre Frage. Das Christenthum war es etwas Neues oder nicht? Es gibt einen gewissen Theil der Theologen, die überwiegend geneigt sind, es nicht als Neues anzusehn sondern auf natürliche Weise aus dem Judenthum hervorgegangen und nur als eigenthümliche Modification desselben anzusehn, und so erhält die Frage untergeordneten Werth. Fragen wir aber die herrschende Stimme, so sagen wir es sei etwas Neues sei es unter der Form göttlicher Offenbarung oder Anders erschienen. Sofern nun das Christenthum im weitern oder engern Sinne Neues ist, werden sich Schwierigkeiten ergeben können in Beziehung auf die Sprache, die durch jenes Gebiet nicht gelöst werden können, weil da das Neue nicht war, und es ist natürlich daß jede
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geistige Revolution sprachbildend werde, denn es entstehn Gedanken, oder reale Verhältnisse, die vorher nicht vorhanden, die also nicht aus der Sprache, wie sie war bezeichnet werden können, sie würden gar nicht ausgedrückt werden können, wenn nicht ein Anknüpfungspunct in der Sprache läge, so müssen wir also die Kenntniß dieses Neuen hinzubringen, wenn wir die Sprache in ihrer Analogie verstehn wollen. Hier wird das Hinsehn auf Andres wenig helfen, aber die Unpartheilichkeit des Auslegens erfodert, daß nicht auf die eine oder die andre Art die Frage entschieden werde, sondern daß wir uns aller Meinungen in unserm religiösen Leben entschlagen und nur die Frage, wie sie historisch ist auch durch ein solches ganz neues Studium zu beantworten versuchen, da also nicht die überhören, die nicht so ganz neu das Christenthum wissen wollen. Hier sind 2 Bestrebungen; die Eine will Analogie ganz in den apokryphischen Schriften finden, wie Dr. Bretschneider in seiner Entwicklung der dogmatischen Lehrbegriffe aus den apokryphischen Schriften. Die andre meint vorzüglich in den Producten der Aegyptischen Griechen, wie es mit mancherlei Notizen aus der Griechischen Weisheit ausgestattet sei und vornehmlich aus der Griechischen Philosophie der spätern Zeit (Neuplatoniker), die wesentlichen Analogien für den neutestamentlichen Sprachgebrauch. Dieses muß berücksichtigt werden und man muß es kennen, in dem jedes Sprachgebiet ein ÐErläuterungsÑmittel constituirt und sich die Aufgabe stellen, überall gründlichst zu prüfen, ob die Auslegung der neutestamentlichen Schriftsteller sprachlich im Zusammenhang der Gedanken, die sich darstellen aber auch als Thatsache in ihrem Gemüthe, indem also auf ihre eigenthümliche Denkweise Rücksicht genommen wird, vollständig aus den Elementen, die in jenem Sprachgebiete gegeben sind bewerkstelligen lasse. Diese Untersuchung muß im Gange bleiben und aufgeregt werden bis feste Ueberzeugung gewonnen, und das geschieht nicht bis das ganze Gebiet so lange durchforscht ist, bis die Differenzen ausgeglichen und allgemeine Ueberzeugung feststeht, wovon man leider noch sehr fern ist. Wenn man behaupten könnte, daß Alles was in das Gebiet des Hebraism gehöre durch die Uebersetzung des alten Testaments, besonders in der Septuaginta und in den Apokriphischen Schriften so wie in den Griechisch biblischen Schriften vollständig gekannt werden könne, dann könnte man bei dem neuen Testamente der Hebräischen Sprachkenntniß entrathen, weil man den ganzen Einfluß erkannt hat. Dies ist aber nicht der Fall, weil die neutestamentlichen 14–15 Gemeint ist wohl Karl Gottlieb Bretschneiders ,Systematische Darstellung der Dogmatik und Moral der apocryphischen Schriften des alten Testaments‘ von 1805 (SB 349). 15–20 Hier ist wohl an das deuterokanonische ,Liber sapientiae‘ (Buch der Weisheit) zu denken, das mit Philo von Alexandrien in Verbindung gebracht wurde.
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Schriftsteller aus der Sprache des gemeinen Lebens überwiegend herkommen und die historischen wie didaktischen Schriften sich dieser am meisten nähern. Daher wird diese Vergleichung unzureichend sein, wenn man nicht aus der unmittelbaren Kenntniß des hebraeischen Originals des alten Testaments wenigstens der geschichtlichen und gnomischen Schriften den Genius der Sprache sich angeeignet, damit man einen Sinn bekomme zu merken, wo besonders abweichende Formen seien, die Hebraismen. Verfahren wir hier wie im Allgemeinen und sagen, wir können das nicht voraussetzen, daß das Studium des neuen Testaments anfange, damit man sich Alles aneigne, um den ganzen Sprachgebrauch gegenwärtig zu haben, so muß man also zu Hülfsmitteln schreiten, damit wir sobald Schwierigkeiten eintreten, weil wir den ganzen Sprachgebrauch nicht gegenwärtig haben uns in den Zustand der vollkomnen Gegenwärtigkeit versetzen können. So müssen wir denn auf das Lexicon zurückgehn, und da sieht man gleich, wie das neue Testament aus dem Gesichtspuncte solcher speciellen Hermeneutik ist behandelt worden, weil es immer besondre Hülfsmittel für dasselbe gegeben, wenigstens in der neuern Zeit, denn so lange in der Christlichen Kirche die Griechische Sprache noch lebte, war in dieselbe die Formation des neuen Testaments mehr oder weniger übergegangen und so müssen auch die Griechischen Kirchenschriftsteller in das Gebiet gezogen werden, so lange war kein Grund zu Hülfsmitteln. Sobald aber das Studium des NT aus dem Schlafe des Mittelalters erwachte, ward man gleich auf solche Hülfsmittel bedacht, nur ist es klar, daß eben diese Duplicität, die der Sprache des NT anhaftete, auch verschiedene Verfahren in den lexicalischen Hülfsmitteln nöthig machte, weil das Etymologische hier ein Andres ist. Wenn wir nämlich das bisher Gesagte hier wieder in Anwendung bringen, so müssen wir sagen: wenn wir den Sprachwerth eines Worts beisammen haben wollen, wie er zur Zeit des NT gewesen, so sind wir ursprünglich gar nicht im Stande, die Einheit eines Worts zu finden, sondern zuvor müssen wir untersuchen, was es denn repraesentirt habe bei denen, die Hebraeisch zu denken gewohnt waren und so müssen wir auf die Analogie des Hebraeischen sehn, da ist nun keineswegs dasselbe Hebraeische Wort immer durch dasselbe Griechische wiedergegeben, und entspricht keineswegs Ein Wort aus dem Griechischen immer Einem Hebraeischen sondern Ein Griechisches entspricht bisweilen dem einen bisweilen dem andern Hebraeischen Worte und das selbe Hebraeische kann bisweilen durch dieses bisweilen durch jenes Griechische übertragen werden. Nun muß ich genau merken wo jede bestimmte Uebertragung, Uebersetzung passe und dazu da bedarf ich des Wörterbuchs, das sich das N.T. zum besondern Gegenstand [nimmt],
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und da hat es großen Werth, so daß das NeuTestamentliche Studium desselben nicht entbehren kann. Von den vorhandenen Wörterbüchern sind nun nicht ÐalleÑ mit gleicher Bequemlichkeit eingerichtet, und die beste Form bleibt die des ältesten Werks, die Trommersche Concordanz, die mit jedem Griechischen Worte alle Stellen in denen es in der Septuaginta vorkommt verbunden hat, jedoch so geordnet nach dem Hebraeischen Worte das es jedesmal überträgt. Auf diese Weise ist der ganze RepraesentationsWerth eines Griechischen Wortes in Beziehung auf den Hebräischen dargestellt und ich kenne so den ganzen Ebraism. Wenn nicht so gesondert ist, so ist der Nutzen für das NT sehr gering und zur Kenntniß des Sprachgebrauchs überhaupt sehr unbequem. Die Trommersche Concordanz in den Ausgaben von Biel und wie sie im Schleusnerschen Thesaurus ist lange nicht so gut. Doch hat sie immer nur eine Seite, und will man das Ganze vollständig haben so bedarf es dazu eines Complement’s, denn dieses ist nicht im Stande uns anzuzeigen, wie jedes Hebraeische Wort dem Griechischen entsprechend sich auffinden lasse, es fehlt die Gesammtheit von Griechischen Worten, die als Repräsentation für ein Hebräisches gebraucht wird, und erst wenn das auch ausgeführt kann man das Verhältniß beider Sprachen in der Uebertragung übersehn und so läßt sich ein vollständiges Gefühl über den Hebraism erwerben. Diesem Mangel wäre nun leicht geholfen durch einen Index der Ebraeischen Wörter, in dem für jedes Ebraeische Wort angegeben wäre, unter welchem Griechischen es zu finden. Schwieriger wird das Verfahren in Bezug auf die formellen Elemente, auf die Wörter, die eine Verbindungsweise bezeichnen, wie alle Partikeln sind und in Bezug auf die Sprachformen besonders ist das Hebraisirende und das N.T von solcher Beschaffenheit, daß dem, der bei der ächten Graecität bis auf einen gewissen Punct gekommen, das Verstehn sehr erschwert ist. In der Hebräischen Sprache ist in dieser Beziehung ein ganz andres Verhältniß als in der Griechischen. Diese besitzt einen großen Reichthum von Partikeln aller Art, die Hebräische ist darin ausgezeichnet arm, sie ersetzt dagegen Vieles durch Formen, durch Beugungen, wohin die Praefixe und Affixe gehören, die wiederum dem Griechischen fremd sind. Bei so verschiedener Richtung, wenn wir uns den Fall denken, daß Menschen im Hebräischen Dialekte zu denken gewohnt nun auf kunstlose Weise aus der bloßen Um4 Gemeint ist von Abraham Trommius ,Concordantiae graecae versionis vulgo dictae lxx interpretum‘, ed. Montfaucon, 1718 (SB 2018). 12 Johann Christian Biels ,Novus thesaurus philologicus sive lexicon in lxx et alios interpretes et scriptores apocryphos Veteris Testamenti‘, dreibändig erschienen 1779–80, war in Schleiermachers Besitz (SB 287). 12–13 Johann Friedrich Schleusners ,Novus thesaurus philologico-criticus‘ erschien in 5 Bänden 1820–21 und fand sich ebenfalls in Schleiermachers Bibliothek (SB 1722).
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gangssprache sich sollen Griechische Rede angewöhnen, so wird in dieser Beziehung nur sehr Unvollkomnes sich zeigen, so wird sich sehr natürlich die Armuth in den Partikeln in diesem Sprachgebiete aus dem Hebräischen ins Griechische übertragen, weil sie ein Wort auf dieselbe Weise immer haben übertragen wollen. Nun folgt aber aus der geringen Zahl von Partikeln, daß sie auf mannigfaltige Weise, also ÐinÑ größerm Umfange gebraucht sind, und glaubt nun Jemand daß das Griechische Wort einen Ebräischen vollkommen entspreche, wie es bei so kunstlosem Verfahren wohl zu denken ist, so wird die enge Griechische Partikel sehr weiten Umfang erhalten sollen, den sie vielleicht nie erhalten kann. Ferner die Hebräische Sprache hat keinen Periodenbau, versirt in einfachen Sätzen und der Zusammensetzung entgegengesetzter oder gleicher Sätze, im Parallelismus, so ist gar kein Ueberfluß an Bindeworten zu verlangen, wenn da nun eine Griechische Partikel für eine Ebräische gesetzt wird, so werden daraus Gebrauchsweisen entstehn, die etwas Unbestimmtes für den haben werden der an die ächt Griechische Weise gewöhnt ist. So ist allerdings die Sache nicht zu fassen, daß im Ebräischen alle verschiedenen Gebrauchsweisen einer Partikel gedacht sind, wie man sie unterscheiden will, wenn man zu überlegen gedenkt, sondern das liegt darin, daß bei dem Reden der Redende sich auf den Hörenden verläßt und ihm das Richtige aus dem Zusammenhange zu denken überläßt. Beim 1ten ist nur die einfache Zusammenstellung gedacht, und die Art und Weise derselben war aus dem Zusammenhange zu bestimmen. So ist also nach anderm Maßstabe die Sprache ein ganz unzureichendes Material und in dieser Beziehung vornehmlich, weil sie durch solche gewöhnliche lexicalische Hülfsmittel nicht ersetzt werden kann. – Nun gibt es abgesehn von dieser besondern Richtung auf das Ebräische noch ein andres Bedürfniß besonderer lexicalischer Hülfsmittel für das NT. Das ist das, daß das Christenthum indem es sich in die Griechische Sprache hinein begab, und das Geschäft seiner Verbreitung in dieser Sprache betrieb, nothwendig sprachbildend werden und Gebrauchsweisen entstehn [mußten], die in der alten Graecität noch nicht vorhanden waren. Dieser Satz, daß das Christenthum sprachbildend werden mußte, bedarf nun der Erklärung. Er hängt zusammen mit der noch streitigen Frage, ob das Christenthum etwas Neues sei oder ob seine Vorstellungen schon im alttestamentlichen Leben vorhanden gewesen. Offenbar, wenn [man] die Beziehung zwischen dem alten und neuen Testamente betrachtet, so kann gar nicht geläugnet werden, daß die Apostel bei ihrer Verkündigung auf das alte Testament zurückgehn, jene Weissagungen durch Dieses realisirt darstellen, so kann man schließen, also war auch ihre Meinung, daß des neuen
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Testaments Erfüllung eben so gedacht werden soll wie des alten Testaments Weissagungen waren. Dies ist ein großer Vorschub für die Ansicht, das Christenthum sei nicht neu entstanden, sondern seine Elemente seien in dem Alttestamentlichen schon gegeben. Vergleicht man den ganzen Complexus von Vorstellungen, der sich im Christenthume gebildet hat mit dem alten Testament, und das ganze christliche Leben, wie es im Ganzen die Wirksamkeit jener ausgesprochenen Principien ist mit dem alttestamentlichen, so ist das Resultat ein entgegengesetztes, und wenn die Aufgabe wäre, aus dem Messianischen des alten Testaments Dieses zu entwickeln, so würde Jeder die Unmöglichkeit dessen erkennen. Nimmt man hinzu, was auf bestimmte Weise über die Auslegung des A.T. auszusagen da liegt, wie das Judenthum in der spätern Zeit mit dem A.T. einging, wie es dasselbe anwandte so ist man aus der Art, wie auch die Apostel es anwendeten zur Voraussetzung solcher Identität nicht berechtigt. Fassen wir Alles zusammen, so wissen wir, daß die Schriften rein aus der Sprache betrachtet, das Resultat sei, das Christenthum habe sich im neuen Testamente seine eigne Sprache gebildet, wenn auch aus den sich vorfindenden Elementen, doch so, daß diese auf eine Weise angeÐwiesenÑ, die ursprünglich nur deutlich werden konnte aus dem Totalzusammenhang der christlichen Gesprächführung und des christlichen Lebens, nicht aus einzelner Rede. Daher ist es nicht möglich, daß, wenn wir in die Lage uns versetzen, in der wir überhaupt mit den Schriften aus einer ausgestorbenen Sprache sind, wir mit den Wörterbüchern, die nur auf die ursprünglichen Producte des Griechischen und jeder Sprache Rücksicht nehmen, auskommen können. Das ist eine Erfahrung, die Jeder machen kann; wenn man bei Abschnitten des N.T. sich aller Kenntniß, die man hat, entschlägt und mit den besten Wörterbüchern, die nur keine besondre Beziehung auf das NT haben, operirt, so wird man leicht sehn, daß man zu keinem genügenden Resultate kommen wird sobald man mit eigenthümlich christlichen Stellen zu thun hat. Darum ist dem N.T. ein besondres Lexicon unentbehrliches Hülfsmittel, aber freilich sind die großen Schwierigkeiten nicht zu übersehn, die sich der richtigen Construction desselben in den Weg stellen, um nicht Anfoderungen zu machen, denen auch nicht hat entsprochen werden können. So wie wir die Geschichte weiter verfolgen, sehn wir, wie aus der neutestamenlichen Sprache und der Verkündigung des Christenthums in Griechischer Sprache und dem Leben der Griechischen Kirche sich eine Kunstsprache entwickelt hat, die die dogmatische Sprache der Kirche geworden ist; aber par18 ,angewiesen‘ im Sinne von angeordnet
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allel damit entstand die Lateinische Kirche, und zwischen beiden erhoben sich bald Streitigkeiten, die eigentlich keinen andern Gegenstand hatten und auf nichts Andres beruhten, als auf der Differenz der Sprache. Wo nun bei einer Uebertragung, die der Etymologie folgte ein Resultat heraus kam, stießen die Lateiner es als unchristlich von sich zurück und so ergab sich von Anfang an die Irrationalität und Inconsequenz beider Sprachen gegen einander in Betreff der kirchlichen Kunstsprache. Wir sind von der Lateinischen Sprache hergekommen und die Lateinische Sprache war bisher unsre Sprache, und selbst die neuere deutsche theologische Sprache ist nach dieser kirchlichen Sprache gebildet, und in dieser sind unsre dogmatischen Vorstellungen ausgeprägt. Wir haben nun für diese keine andre Gewähr’sleistung, da wir keine andre Autorität anerkennen, als das Neue Testament, so entsteht die natürliche Neigung die Verwandtschaft anzugeben zwischen unsrer theologischen Sprache und dem N.T. Nun macht Niemand ein neutestamentliches Lexicon ohne von dem christlich kirchlichen Interresse auszugehn, ein Andrer kann es auch nicht, dabei liegt aber auch sogleich die Tendenz zum Grunde zu gleicher Zeit eine bestimmte Auffassungsweise der GlaubensLehre durch das N.T. zu bestätigen so geschieht es besonders mit den neutestamentlichen Stellen, die man Beweisstellen nennt, welche der Gegenstand ganz besonderen Studiums sind. Da tritt nun der schlimme Umstand ein, daß solche Stellen oft ganz aus dem Zusammenhang gerissen werden, als wären sie für sich verständlich, weil sie so den größten Anklang an einen bestimmten theologischen Satz haben; da hat sich denn die Vorstellung, bei dem der die Aussprüche gebraucht, festgestellt, der Ausspruch entspräche dort unsrer kirchlich dogmatischen Sprache, was denn gewiß das Lexicon anstecken wird; und bedenken wir die auf diesem Gebiete Statt findenden Differenzen, so werden wir ganz entgegengesetzte Richtungen erkennen. Da will nun der Eine mit einem Worte oder einer Phrase gewisse Vorstellungen verbinden, die ein Andrer ihm abläugnet, oder gar durch andre ersetzt, und Alles das wirkt bewußt und unbewußt auf das lexicalische Verfahren, und so entstehen Schwierigkeiten für den Gebrauch des so entstandenen Lexicon, daß man auf der Hut sein muß, nicht in dem Interresse des Verfassers verleitet zu werden. Wie weit geht nun die Wahrheit des Gesagten, daß alles Verstehn eine succesive Entwicklung sei, da sich beides, das Ganze und das Einzelne einander voraussetzen und zuvorgehn? In Bezug auf die sprachbildende Kraft des Neuen Testaments fragt es sich, ob sie wohl angenommen und in Betracht gezogen werden müsse und ob ein neutestamentliches Lexicon Wortbedeutungen aufstellen könne, die ein andres nicht aufstellen kann; es ist klar daß erst entschieden werden
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könne diese Frage wenn die Auslegung vollständig gegeben ist und vollendet, und doch wird Jeder wiederum nur mit solchen Hülfsmitteln an das Studium, an die Auslegung schreiten, und so thut das Verhältniß schlimm, aber das zeigt deutlich was für eine Bewandtniß es mit unsrer Aufgabe hat, und wie es hier darauf ankommt sich immer frisch und beweglich zu halten und nicht zu früh abzuschließen. Die Duplicität der Ansichten über die Sprache des neuen Testament’s ist nun für den Anfang des Unternehmens sehr schwierig, denn wenn ich sage, ich trete in das Geschäft ein mich mit diesem Buche zu beschäftigen, so ist es freilich schon lange betrieben aber es herrschen ganz entgegengesetzte Ansichten, und da sagt der Eine, die Schriften des neuen Testaments sind Träger einer neuen göttlichen Offenbarung und der Andre sagt: Im Frühern war das Gegenwärtige schon bestimmt mitausgesprochen, daraus geht hervor, die Ideen Christi, die eigenthümlichen Lehren des Christenthums sind schon im alten Testamente enthalten und man kann sie aus dem alten Testamente beweisen. Wer das recht könne, habe auch aus dem Neuen nicht den Glauben an sie geschöpft. Dann wird die Erscheinung Christi und die Grundlage des N.T. die Geschichte überflüssig, und alle diese Ansichten werden mit in die Construction der Hülfsmittel hineingehn. Es fragt sich nun, auf welchen Standpunkt wir uns beim Beginn des Geschäfts stellen müssen in dieser Hinsicht und da sind denn wieder zwei weit auseinanderführende Antworten möglich. Jeder ist schon ein Christ, sagt der Eine, ehe er daran denkt ein Theologe zu sein, sofern wir nun von der Auslegung des N.T’s reden, die wissenschaftlich sein soll, haben wir die Theologen im Sinne, Ueberzeugung und Glaube soll aber jeder Christ haben, dazu gehört aber wesentlich, daß es schon im alten Testamente beschrieben und gegeben ist, und diese Ueberzeugung gehört wesentlich zu dem Christlichen, das Jeder haben muß. Dabei ist Alles im Voraus abgeschlossen in dieser Beziehung. Ein Andrer sagt dagegen, es ist nicht möglich, daß der Christ, sofern er nicht Theologe, diese Ueberzeugung von dem voraus Abgebildetsein des Christenthums im alten Testamente und dem Enthaltensein aller seiner Elemente im alten Testament haben kann, er kann es nur auf Autorität annehmen, aber Ueberzeugung und Glaube kann er nicht davon haben, ohne das neue Testament selbst durchaus zu kennen. Nun ist überhaupt das Eintreten in den theologischen Kreis das Niederlegen Alles, was man früher auf Autorität angenommen. Was den unmittelbaren Glauben selbst angeht, der nicht auf Autorität, sondern eigne Erfahrung beruht, das Annehmen von Doktrinalem auf Autorität 7 Anfang] Anfangg
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ist aber abzulegen. So werden jene beiden Ansichten verschiedene Anfänge bestimmen, und eben so werden auch die Resultate sein. Der Eine wird sagen, ich weiß im Voraus, daß durch dieses genauere Verstehn ich Nichts als die einzelnen, materiellen Ueberzeugungsgründe finde zu der von mir schon besessenen Ueberzeugung. Dies gibt also eine Befangenheit, Jeder geht unter solchen Bedingungen in gewissen sehr engen Schranken und wird ohne Untersuchung Vieles verwerfen müssen, welches Andre in diesem Gebiete aufstellen, das ihn hinausführen würde aus dem seinen, somit hört eigne Bewegung auf und wer so anfängt ist in keinem freiern Verhältniß zu dem vorhandenen Materiale, das er benutzen soll, wogegen der Andre sagen wird: Meines christlichen Glaubens bin ich sicher, das hat damit gar Nichts zu schaffen, wie weit jedoch jene Meinung sich bestätigt will ich im Verstehn erst erfahren, wo ich mich nicht an die Ueberschriften halte und nicht an dem, was ein Theologe so gewollt, sondern selbst will ich sehn und untersuchen, das wird mir eine Unbefangenheit und Freiheit des Geistes geben, die dem aber, der sich gern in gewissen Schranken bewegt, häufig werden wird, und es fragt sich nur welches ist denn die bessere Gemüthsstimmung und Geistesrichtung, die in den Schranken der Autorität zu gehn, oder die selbst zu forschen und sich selbst das Resultat zu machen? Wenn wir uns solches Verhältniß des Einzelnen zur Kirche denken, und solche Stabilität wie in der Roemischen dann ist offenbar jene Neigung, gern sich in bestimmten Schranken zu bewegen, die richtige und für den katholischen Theologen gibt’s keine andre Richtung, bei welcher er sich seine Ruhe als Mitglied der Kirche ersparen kann, aber nehmen wir das als wesentlich für den Protestantismus im Gegensatze zu der katholischen Kirche an und sie als ein geschichtlich sich entwickelndes Ganze, die nur von Einem Principe ausgeht, dann bedarf es einer von allem Aeußern freie Bewegung des Geistes, und es ist dieses Gebiet für den protestantischen Theologen nicht richtig. Wenn nun in unsrer Kirche dies behauptet wird, so wird so lange diese Behauptung besteht, so lange auch jener Streit bestehn, der Eine wird sagen, wer Autorität annimmt, ist noch nicht völlig vom Katholicism losgerissen, und der Andre, da es alle Autorität verwerfe so führe dieser Protestantism zu völliger Auflösung der Kirche. Dabei wird denn auch ein andres Verfahren sein bei dem der gebunden ist und ein andres für den Andern, nun kann aber auch ich kein andres Princip anerkennen, als daß im Protestantism wir nirgends an eine Autorität gebunden sondern dieses ganze Feld völlig frei sei. Hieraus folgt nun vor der Hand Nichts, als daß 36 nun] oder nur
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wir sagen müssen, wir müssen die Möglichkeit zugeben, ja sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß das Christenthum sich zu einem so individuellen Ganzen gestaltet, daß es auch im Einzelnen ein sprachbildendes geworden, weil in ihm ein Eigenthümliches ist, das wäre es nicht durch die Vorstellung gegangen, nicht gemeinsam geworden wäre, ist es aber durch die Vorstellung gegangen, so mußte es auch sprachbildend werden und so sind im Einzelnen Bedeutungen anzunehmen und Formen, die weder aus der ursprünglichen Graecität noch aus dem Ebraism abzuleiten. Wenn es nun gelänge, diese alle aufzufinden in den ursprünglichen christlichen Denkmälern und sie auf gehörige Weise zusammenzustellen; so hätte man den sprachlichen Schlüssel zum ganzen Verstehn des Christenthums in dem Grade, in dem es sprachbildend geworden, und das ist es in seiner eigentlichen Eigenthümlichkeit in der Griechischen Sprache geworden, sofern es früher nicht ans Licht getreten. Denken wir ein neutestamentliches Lexicon, so gehört dieses mit hinein und wenn wir vorher ein Urtheil über den Werth solcher Hülfsmittel fällen wollen, müssen wir sehn, ob es diese eigenthümliche Sprachbildung hervorhebt oder ignorirt und in welchem Grade. Aber freilich wird auch von dieser Voraussetzung ein zwiefaches Verfahren möglich sein, von welchen keines unrichtig zu nennen, Jedes aber seinen besondern Zweck hat. Ein Philologe kann nun die Richtung nehmen, wie er alle Gebiete durchforschen muß um die Einheit hervorzubringen, um auch die Sprache des N.T vorzunehmen; der hat nun die eigenthümlichen Wortbedeutungen aufzuführen, nicht aber um die Eigenthümlichkeit des Christenthums kennen zu lernen sondern nur um was aus dieser Eigenthümlichkeit entstanden in die Eigenthümlichkeit und Einheit der Sprache aufzulösen, wie sie darin Analoges haben. Ueberall aber wo ein eigenthümliches Sprachgebiet, überall wo ein technisches Sprachgebiet ist sind Analoga für das Einzelne, und die neutestamentliche Sprache werden wir die technische Sprache des Christenthums nennen, so wie der philosophische Sprachbegriff durchaus dem Wesen der Sprache entnommen ist, doch aber ein Besondres ist, also die technische Sprache der Speculation. Aber ein Andres ist das Verfahren des gewöhnlichen Theologen; wenn er auch rein lexicalisch verfährt und nicht eine begriffsmäßige Zusammenstellung des eigenthümlichen Sprachwerthes zu machen ausgeht, so wird er doch in jedem Artikel wie er die eigenthümlichen Ausdrücke sondert und aufstellt, die Richtung angeben welche im Gebrauche der einzelnen Ausdrücke angenommen. Nun ist noch ein andres Hülfsmittel zu denken einer solchen Zusammenstellung selbst aller der verschiedenen Elemente, welche die Sprachbildung des Christenthums manifestiren, und sie würde die Skiagraphie sein
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zu einer neutestamentlichen Dogmatik und Moral; das sind die beiden Systeme der eigenthümlichen Begriffsbildung und offenbar wird in diesen Gebieten am meisten der eigenthümliche Sprachgebrauch liegen müssen, und wo Solches bezweckt wird, wird ein rein testamentliches Lehrgebäude entstehn, da in den einzelnen Artikeln dieses eigentlich Christliche in dem Gebrauche der Worte besonders heraustreten muß. Wenn in einem gewöhnlichen neutestamentlichen Lexicon Worte wie pistiw, dikaiosynh aufgeführt und durchgenommen werden, so werden wir da freilich dem Anscheine nach sehr Verworren unter einander Geworfenes finden was das Eigenthümliche ist, weil in der Entwicklung der Hauptbedeutungen des Lexici erst dem allgemeinen Lexicon entsprechen wird und erst unter einzelnen Rubriken die einzelnen ÐSpecialÑbedeutungen erscheinen werden, wogegen in einem eigentlichen Lehrgebäude diese verbunden sein müßten und könnten, weil die neutestamentliche Gebrauchsweise ein Festhalten ist an einem einmal gewählten Ausdrucke. Das gilt eigentlich nicht, denn in der biblischen Dogmatik und Moral, wenn auch rein neutestamentlich, gehn wir auf die gebildeten Formeln und Sätze, nicht aber auf die einzelnen Satztheile und eigenthümlichen Sätze in sprachlicher Hinsicht. Diese müssen wir uns zusammensetzen und uns den Canon aufstellen, daß wir wo es sich um eine eigenthümliche Gebrauchsweise handelt, Alles was im Wort eigenthümlich gilt, zusammenfassen, um es zu solchen Elementen des Verstehens zu machen, da sich der Sinn so für die Eigenthümlichkeit der neutestamentlichen Sprache im Einzelnen schärft. Der jetzige Zustand läßt viel zu wünschen übrig, und schwerlich sind auf dem ersten Stadium der christlichen Bestrebungen glückliche Fortschritte zu erwarten und es ist nicht zu glauben daß bei dem Studio mit solchen Hülfsmitteln man zu reinen hermeneutischen Resultaten gelange. Aber nun muß man zu schnell abschließen und jedes Gefühl von Unsicherheit und Bedenken gehörig berücksichtigen, denn es entspringt eben aus der nicht völligen Uebereinstimmung des Einzelnen, so wird man wenigstens die Schwierigkeiten nicht vermehren, was geschieht wenn man feststellt ohne ein vollständiges Verstehn der Elemente. Wenn wir uns nun ÐdimittirenÑ so sehn wir daß wir nicht weiter sind, als daß wir sagen, der günstigste Fall ist der, daß nach der gehörigen Vorbereitung, worunter auch die Uebersicht des Ganzen zu rechnen die fortgehende Lesung im Einzelnen anfangen und daß ich die einzelnen Elemente eines Satzes aus ihren Umgebungen so bestimmen kann, daß kein Zweifel übrig bleibt, ich habe den Satz so aufgefaßt, wie der Verfasser ihn gedacht. Dann ist ein her16 nicht] folgt geschieht
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meneutisches Verfahren nicht mehr nöthig, dann sind wir schon durch die Vorbereitung zu Stande gekommen. Nun sollte es aber nicht der Fall sein, dann muß ich mir den ganzen Sprachwerth des im Satze vorkommenden Elements zu vergegenwärtigen [suchen], was zu den Hülfsmittels führte und von diesem Puncte gingen wir zum Einzelnen des N.T.’s über. Man muß sich nun den Sprachwerth aller Elemente im Satze vergegenwärtigen, und nicht nur das Eine bei dem man anstößt, weil es oft vorkommen kann, daß das durch die Unkenntniß eines andern Elements bewirkt, und darum muß man alle untersuchen. Das hat jedoch seine Ausnahme, wenn ich sagen kann, ich hab aus dem frühern Gebrauch der Sprache, die übrigen vollständig gegenwärtig wie auch aus andern Uebungen dieser Sprache, und da habe ich denn das sichre Gefühl, dieses Eine sei mir unbekannt, doch stelle man ja die gehörige Prüfung an um nicht in eine Aporie zu gerathen, die leicht zu vermeiden wäre; verfährt man aber auf jene sichrere Weise so ist die Sprache lebendiger und man bleibt in lebendigem Gegenwärtig haben. Wenn wir den Gesammtwerth eines Worts nun vergegenwärtigt, so müssen wir das Verhältniß in Anwendung bringen, in welchem das streitige Element in der Rede vorkommt, um dadurch den localen Werth zu fixiren, da muß sich mir nun eine Grenze bilden innerhalb deren ich die Verhältnisse suche, die bei der Bestimmung des localen Sprachwerths leiten müssen. Das Eines werden von Haupt und Zeitwort ist der Satz, wobei jenes Subject, dieses Praedicat ist, die andre Art, die man wohl annimmt, wo der Satz aus Subject, Praedicat und Copula bestehn soll gilt mir eben soviel und macht keinen Unterschied, die Sache geht darauf zurück, daß bei dieser Vorstellungsart das Zeitwort zerfällt, denn die Copula ist nur ein Hülfsverbum was keinen eigentlichen Gehalt hat sondern nur die Zeitbestimmung und vielleicht noch das Verhältniß des Subjects und Praedicats ausdrückt. Deshalb gilt von sein, haben und werden, der Unterschied und welches die richtige Vorstellungsart sei des Satzes, können wir hier anzugeben ersparen. Denken wir uns nun die einfache Form, so wäre mir alsdann Nichts gegeben als für das Hauptwort das Zeitwort und für Dieses Jenes, um sich gegenseitig in ihrem Localwerthe zu bestimmen, doch wird dieser Fall am wenigsten vorkommen, denken wir aber den Satz in gewisser Gleichmäßigkeit erweitert, so daß Jedes noch ein bestimmendes bei sich hat, so habe ich auch Elemente, durch welche ich der Aufgabe näher treten kann und sagen können: nicht nur wird das Hauptwort durch das Zeitwort bestimmt, sondern auch durch das ihnen beigelegte, oder: der Einfluß, den hier das Zeitwort aus11 gegenwärtig] folgt über der Zeile habe
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übt, um das Hauptwort zu bestimmen erhält eine bestimmtere Richtung durch das dem Hauptworte beigelegte, und es fragt sich nur, ob wir in diesen Raum eingeschlossen sind. Jenes findet nur Statt bei einfachen Sätzen, die kommen aber nicht immer vor, oft ist Ein Subject, welches dasselbe bleibt, indem nun das Eine und Andre Zeitwort darauf bezogen wird in dem Einen und andern Satze und so sage ich, nicht kann hier das Zeitwort den Localwerth bestimmen sondern alle müssen sich in demselben Sinne auf das Hauptwort beziehn, wenn nicht ausdrücklich am Tage liegt, daß mit den Differenzen der verschiedenen Sprachwerthe gespielt wird, ferner nicht allein von der ganzen Reihe der Zeitwörter geht die Bestimmung aus, sondern von allen den Zeit und Hauptwörtern zugegebenen Beiwörtern zugleich. Wie weit müssen wir nun gehn, wenn wir weder irgend etwas, das zur Bestimmung dient, vernachlässigen noch in die Gefahr kommen wollen, zu Etwas zu gelangen, das nicht denselben Werth mehr hat? Wir werden den Canon so fassen müssen: Woran ist zu erkennen, daß ein seinem Werthe nach streitiges Element anders gemeint ist an der einen Stelle, mit der wir es zu thun haben als an einer andern? Hierauf läßt sich eine einzelne Antwort gar nicht geben, sondern sie ist verschieden jenachdem der Werth eines einzelnen Sprachwerths für den ganzen Complexus von Gedanken ein solcher oder solcher ist. Denken wir uns den Inhalt einer Gedankenreihe durch eine Ueberschrift eingegeben, so können wir schließen, der in dieser Ueberschrift bezeichnete Begriff sei im Complexus der Hauptbegriff und wir haben alle Ursache zu vermuthen, daß das ihn bezeichnende Wort überall in demselben Sinne vorkomme, denn selbst wenn der Begriff in seinem ganzen Umfange betrachtet auch getheilt werden kann, so würde jene Bezeichnung immer doch die des Ganzen bleiben, und es wäre unlogisch, wenn ohne daß es bemerklich gemacht würde, er in partiellem Sinne gebraucht würde. Haben wir nun eine Uebersicht des Ganzen gewonnen, so kann ich die Grenzen bestimmen, denn in ihr müssen die Hauptgedanken mir öfter vorkommen und so auch die Sprachelemente, durch welche sie ausgedrückt werden, da muß ich nun ein sichres Gefühl schon haben um zu bestimmen was Hauptelement ist und was nur beiläufig, aber nicht kann ich solche Uebersicht genommen haben, ohne zu bemerken daß ein terminus zu verschiedenen Stellen in verschiedenen Dignitäten vorgekommen, so wird es schwer sein, sich über die Grenzen zu irren, denn hier bin ich noch in demselben Theile des Ganzen, so lange der Ausdruck noch in demselben Werthe vorkommt. Das gilt nun aber nur von den terminis die ein wesentliches Glied der Rede bezeichnen, so wie ein terminus nicht von der Art ist, ist auch diese Regel nicht richtig anzuwenden, weil da Nichts
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ist, was der Redner habe verhindern können einen Ausdruck an verschiedenen Stellen verschieden zu gebrauchen, wenn es nur mit dem Sprachwerthe übereinstimmte. Dies ist jedoch nur ein realiver Gegensatz, denn ich kann mit Fug sagen, gewisse Gedanken sind auch Gedanken, die wesentlichen Glieder des Zusammenhangs sind gewisse Complexus von Gedanken, und wie sie in diesem wesentlich sind, so ist das, was in der Entwicklung ihres Complexus von Gedanken eine gewisse Stelle einnimmt, in diesem Theile wesentlich und reiht sich an die Hauptgedanken an. So müssen wir einen andern Gegensatz suchen. Sobald ein Complexus von Gedanken ist, der schriftlich darstellt oder mündlich, nur in geordneter Rede überliefert ist und sich über die allergrößte Kürze erhebt, so erhalten wir nicht nur einen Unterschied von Haupt und Nebengedanken und den zu beiden gehörigen Sprachelementen sondern einen Gegensatz zwischen Sprachelementen und Gedanken, die Theile des Ganzen sind und solchen, die eigentlich gar nicht Theile des Ganzen, sondern nur Darstellungsmittel, die zu dem worauf die Wirkung der Rede beruhen soll, gar nicht gehören, sondern nur Mittel sind, diese Wirkung hervorzubringen. Denken wir uns in einer zusammenhängenden Rede, die in einem complexus von Gedanken versirt, so daß sich daraus die einzelnen und eigentlichen Theile des Ganzen ergeben, und irgend einen Gedanken durch eine Vergleichung klar gemacht, so müssen wir sagen, der Gedanke, der den Vergleich enthalte gehöre in die Organisation nicht hinein, sei ein Darstellungsmittel und dem Gegenstande eigentlich fremd, kommt aber herein um dem Theile des Ganzen durch ein Fremdes Bestimmtheit und Klarheit zu geben. Oft ist solch Gebrauch vereinzelt, sparsam, oft aber zieht er sich in ziemlicher Verbreitung durch die Darstellung hindurch, wie die Methode bei jedem Schriftsteller verschieden ist. Hier ist also ein wirklicher Gegensatz, denn was dem Gegenstande als Theil und was außer ihm sei, ist nicht ein durch mehr oder minder, größer und kleiner Unterschiedenes, sondern ein bestimmter auf Gegensatz beruhender Unterschied. Für solche Ausdrücke, die hiezu gehören, gibt mir das Verhältniß zu der Construction des Ganzen gar keine Indication, sondern wie alle Vergleichungen und bildlichen Ausdrücke bald so und so gewendet werden, so ist es unrecht zu sagen, weil die Vergleichung in diesem Theile so genommen ist so muß sie auch in jenem so genommen werden, dieser Schluß gilt bei jener Unbestimmtheit nicht, wohl aber bei Allem was dem Gegenstande angehört, wenn ich nur Ðden GrundÑ richtig beziehe. Wie verhält sich diese Regel zu dem allgemeinen, erst aufgestellten 9 Sobald] Sobals
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Canon, daß Alles in einer Rede vorkommende, so wie es streitig oder unbestimmt sei, erklärt werden dürfe aus dem dem Redner und seinen ursprünglichen Zuhörern gemeinsamen Sprachgebiete. Wenn man ihn so anwenden wollte, daß man sagt, es ist gleich wenn ein Wort aus seinem ursprünglichen Verhältnisse nicht erkannt wird, ob ich mir aus derselben Schrift Erklärungsmittel suche oder aus einer fremden, wenn sie nur aus demselben Sprachgebiete ist, so ist der Canon falsch. Er ist nur negativ eigentlich, ausschließend, verhindernd, daß nicht die Bestimmung in einem nicht beiden gemeinsamen Sprachgebiete gesucht werde und das ist seine eigentliche Geltung, dieser Canon aber sagt, wo wir uns aufgehalten sehn, da müssen wir Alles zur Erklärung zusammenbringen was in demselben Zusammenhange liegt und mit denselben Terminis in Verbindung ist, er ist ein positiver Canon. Läßt er sich ausdehnen und wie. Sobald man aus dem unmittelbaren Gebiete eines Terminus, aus dem Satze in welchem er vorkommt, ÐwoÑ der Satz einfach und zusammengesetzt sein kann, sobald man darüber hinausgeht, so nennt man die Anwendung einer anderweitigen Stelle, in der aber der Terminus auf ähnliche Weise gebraucht wird, die Zuziehung von Parallelstellen, und das gilt von Stellen auch, die derselben Schrift angehören, die aber nicht mehr in dem unmittelbaren Gebiete liegen. Lassen wir Dieses zu, daß wir zur Bestimmung des Localwerths eines Ausdrucks, die Ausdrücke aus derselben Rede nehmen können, wenn wir nur versichert sind, daß die Bedingungen, durch welche der Localwerth bestimmt wird, dieselben sind, dann ist auch zuzugestehn, daß man außerhalb der Rede gehen könne und Hülfsmittel einer andern suchen, wenn nur die Hauptbedingungen zur Bestimmung des Localwerth’s in beiden Fällen dieselben sind und unser erster Canon, oder erste Cautel nicht überschritten wird, daß nämlich diese Rede in demselben Sprachgebiete liege als die zu erklärende. Wenn ich so gesichert bin, kann mir jede Schrift ob desselben Schriftstellers oder eine fremde gleichgültig sein und je ähnlicher die Schriften sein werden, um so sichrer kann ich darauf rechnen daß ihre Hauptbedeutungen dieselben. Nun scheint noch eine andre Erweiterung einzutreten. Wenn wir bei einem einfachen Processe in der Darstellung stehn bleiben, so werden wir häufig finden, daß durch den Schriftsteller selbst ein Satz in demselben Complexus von Gedanken durch einen Gegensatz erläutert sei, und je leichter die Art der Entgegensetzung zu fassen ist, je weniger zweideutig ist, um so wirksamer wird das Hülfsmittel sein. Wie verhält sich dieser zu dem Gegensatze zwischen Sprachelementen der Theile des Ganzen und denen die nur Erläuterungsmittel sind? Auf der einen Seite liegt schon im Gesagten, daß solche Entgegensetzung eine Erläuterung sei, auf der an-
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dern ist er ein weit Wesentlicheres zur Bestimmung für die Hermeneutik als jene Analogien, da ein Gegensatz weit schlagender ist als eine Analogie oder Differenz, und sobald wir die Sache objectiv fassen so erkennen wir, daß wir im Gegensatze den Gegenstand selbst betrachten nur indem wir ein Andres ausschließen, was aber ausgeschlossen und was gesetzt war ist so durch Andre bestimmt, daß Eins durch das Andre verstanden werden kann. So haben wir auch ein hermeneutisches Hülfsmittel in diesem Gebiet, daß wir Streitiges durch das Vorkommen des Entgegengesetzten erklären können und hier sind nur dieselben Regeln wie oben anzuwenden. Kann ich also beides verbinden, so werde ich um so sichrer sein, doch muß die Entgegensetzung nur auf demselben Sprachgebiete geschehn und muß sich auf einen analogen Complexus von Gedanken beziehn, so kann, was von einem Gegenstande ausgeschlossen war an einer Stelle gut gebraucht werden zur Erklärung dessen, was an einer andern Stelle von ihm gesagt ist. Analogie und Gegensatz gehn vollkommen gleichen Schritt, und ein großes Feld ist mir geöffnet hermeneutische Schwierigkeiten zu beseitigen. Doch wer dies nur betrachtet in Beziehung auf Ausdrücke, die im Zusammenhange des Ganzen ihren wahrscheinlichen Ort haben, die zu Theilen des Gegenstands gehören; tritt aber nun der Fall ein, daß mir Dunkelheiten entstehn, wenn der Schriftsteller durch Dinge außerhalb seines Gegenstands seinen Gegenstand erklären will, so sind wir auf den Complexus nicht gewiesen. Da bleibt nur zweierlei, entweder da wo von dem hier gelegentlich berührten ex professo die Rede ist, oder wo dasselbe auf analoge Weise gebraucht wird, da kann das auch als Erläuterung dienen und zwar auf solche Art, daß auch das Verhältniß zwischen dem, was hier und dem was dort erläutert ist, genau bestimmt werden kann; und damit wird denn auch bestimmt was hier und dort zu erläutern der Schriftsteller suchte. Auf die Weise nun, welche hier auseinandergesetzt ist muß der Lexicograph zu Werke gehn, wenn er den gesammten Sprachwerth eines Worts zur Darstellung bringen will. Er muß da anfangen wo das Wort seinen eigentlichen Sitz hat, wo der Gegenstand ex professo behandelt wird, doch wird seine Arbeit viel weitschichtiger sein, weil sie sich auf den Gesammtwerth bezieht, dann muß er aber auch die Oerter, wo es nicht ex professo behandelt sondern zur Erläuterung gebraucht wird, was doch nur seinem Sprachwerthe gemäß geschehn kann, berücksichtigen. So müssen die Lexicographen uns vormachen und können uns die Anleitung geben, wie wir handeln müssen, wenn wir über den einzelnen Gebrauch hinaus gehn 19 Satz unvollständig
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müssen. Klar ist aber, daß wir von dem, was das Lexicon uns bietet, nicht richtigen Gebrauch machen können, wenn wir nicht die Operation selbst vollziehn, und nur wenn wir sie so selbst vollzogen, werden wir seine Leistungen gehörig zu würdigen wissen. – Diese Erweiterung nun des Canons beruht wesentlich darauf, daß ein jeder einzelne Satz nicht nur Theil eines großen organischen Ganzen ist und dadurch bedingt, sondern ÐauchÑ dieses Ganze wiederum ein Theil eines größern Ganzen ist und durch dasselbe bedingt. Nun ist ein jeder Gedankencomplexus, der mitgetheilt wird auf der einen Seite ein Theil des Gesammtdenkens des Mittheilenden, auf der andern ein Theil seines Lebens und so werden beide Betrachtungen nothwendig, und müssen sich ergänzen, zeigen aber, daß wenn man auf der einen Seite fertig geworden zu sein scheint, man auf der andern Seite erst die Probe machen muß. Beobachten wir uns im Hören und Lesen, so werden wir erkennen können und am sichersten, wenn wir irgendwo in einen Zusammenhang eintreten oder bei einem Anfange, von dem wir nicht wissen, wohin er ziele, wo wir also eine immer mehr abnehmende Unsicherheit haben, wie wir mit dem Capitalen nur ein gewisses Schema haben, und nun bald auf diese bald auf jene Seite die Hauptsicht werfen, jenachdem der Gedankengang es zu fodern scheint. Es kommt nun darauf an, einmal diese Operation sich zu Bewußtsein zu bringen, auf der andern Seite aber zu verhüten, irgend eine Voreingenommenheit mitzubringen, sonst ist die Operation von vorn herein verfälscht. Hier findet sich sogleich ein Schlüssel zu einem allgemeinen Factum, daß nirgends Mißverständnisse so groß und zahlreich sind als auf jedem Gebiete, welches Partheisache geworden, denn da bringt Jeder eine Praeoccupation mit und auf doppelte Art. Halten wir einen Schriftsteller von der entgegengesetzten Parthei, daß die von uns bestrittenen Vorstellungen vorkommen werden, und bei Einem von unsrer Parthei, suchen wir in dem Seinen immer das, worauf wir den meisten Accent legen. Nun gibt es aber große Abstufungen in den Meinungen, und mag auch jene Voraussetzung richtig sein, so ist der jedesmalige Vorsatz des Schriftstellers nicht berücksichtigt. Verfolgen wir das allgemeine Princip weiter, so müssen wir davon ausgehn, die einzelnen Elemente, welche streitig sein können, zu einem bestimmten Werth und organischen Ganzen zurück zu führen; das war eingeleitet durch die Gegensätze von Haupt und Nebengedanken und solchen, die nur Darstellungsmittel sind. Wenn wir diese Classification überall auf gleiche Weise festhalten könnten, so wäre uns ein allgemeines Verfahren vorgeschrieben, so wäre es ein 1 müssen] Kj wollen
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vorläufiges Verfahren, das der eigenthümlichen Aufloesung voranginge. Denken wir nun einen Gedankencomplex in dem die Gegensätze gelten, und je logischer eine Rede ist, um so mehr werden diese Gegensätze sich herausstellen, haben wir eine allgemeine Uebersicht genommen, so wird, was sich da am meisten fixirt das Schema der Hauptgedanken sein. Haben wir diese und fangen die eigentliche Lösung an, so wird, je mehr es uns um genaues und vollständiges Verstehn zu thun ist, um so häufiger der Fall vorkommen können, wo es rathsam sein wird beim zusammenhängenden Lesen nicht mit jeder Schwierigkeit, welche die Nebengedanken betrifft stehn zu bleiben, sondern nur alle Theile der Schrift, die sich an die Entwicklung des Ganzen anschließen, zu verstehn suchen. Das schließt nun in sich, daß in dem Satze, den wir so herausheben, ein jedes Element vollständig bestimmt sei, und da das von Nebengedanken abhängt, so muß man denken, auch dies noch auf sich beruhen lassen zu können um nur die Hauptgedanken zuvor rein vor sich zu haben. So weit gelangt hat man es leichter das Verhältniß der Nebengedanken zu den Hauptgedanken gehörig zu würdigen und hat einen festen Haltungspunct in Beziehung auf die vorkommenden Schwierigkeiten. In welchem Grade sich diese Gradation der Gedanken nachrechnen läßt, hat man auch ein leichteres Verfahren und leichteres Verstehn. Nun ist offenbar, daß dieses keineswegs überall auf gleiche Weise der Fall ist, sondern daß sich viele hermeneutische Aufgaben stellen werden wo wenig Gebrauch von dieser Entgegensetzung zu machen ist. Was am fernsten in dieser Hinsicht ist und sich der logischen Analyse am meisten entzieht, ist die lyrische Poesie. In dieser herrscht häufig so freie Bewegung der Gedanken, daß es schwer hält zu sagen, was Haupt oder Nebengedanke oder was Erläuterungsmittel ist. Das hat seinen letzten Grund darin, daß hier der Gedanke selbst eigentlich nur Darstellungsmittel ist, und darin also der Unterschied verschwindet, denn die Hauptsache ist, einen innern Zusammenhang zur Darstellung zu bringen, vermittelst einer Folge von Gedanken, und der Art wie sich diese vermitteln und einander gegenüber gestellt werden. Stellen wir uns hier solche ÐExtremeÑ vor, so sagen wir, der relative Gegensatz zwischen Hauptgedanken und den Darstellungsmitteln schwindet, wo alle Gedanken als solche nur Darstellungsmittel sind. Dann ist nur die Frage ob nicht auch auf der andern Seite ein so entgegengesetzter Fall sei, wo jene Gegensätze schwinden, weil alle Gedanken Hauptgedanken sind. Das kann sich allein finden in systematisch wissenschaftlicher Darstellung; die wird streng genommen so sein müssen, denn da verhält sich alles Einzelne nur als Theil eines Andern und auf keine andre Weise. Dadurch hört der Unterschied auf, da ist ein ganz andres
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Verhältniß, da Ein Gedanke die unmittelbare Form des Ganzen, und die andern Theile des Ganzen sind, als wo Hauptgedanken und Nebengedanken sind. Gehn wir noch einen Schritt weiter und betrachten die Darstellungsmittel, so müssen wir sagen, diese dürfen in einer systematisch wissenschaftlichen Darstellung vorkommen, wo sie zu Hülfe genommen werden ist gegründete Ursache zu dem Verdacht, das Darzustellende sei durch sich nicht darzustellen. Das ist aber der Werth eines Gegenstandes in solcher systematischen Darstellung, und daraus wird die Sicherheit des Verfassers, wenn er streng ist, hervorgehn, daß er gar keiner Darstellungsmittel bedarf, und wenn er nicht umhin kann, Nebengedanken einzuführen, so muß er sie von dem Complexus ganz scheiden und sie werden sich verhalten wie Anmerkungen zum Texte. So erscheinen uns diese zwei Punkte als die Grenzpunkte unsers Verfahrens und unsers Canons, in welchem er den geringsten Werth zu haben scheint; w i e aber das der Fall ist, verhält sich in beiden entgegengesetzt, und so sind sie von bestimmtem Werthe, das Verhalten klar zu machen, weil daran die Anwendbarkeit unsrer Theorie deutlich wird. Denken wir uns das Verfahren in der lyrischen Poesie, und den Anfang dazu von der Hermeneutik gemacht, so ist vorausgedacht, daß es seine eigenthümlichen Schwierigkeiten habe, hier zu vollkomner Nachconstruction zu gelangen. Worin liegt diese Schwierigkeit? Der Dichter ist in vollkommen freier Bewegung der Gedanken, aber der Leser liest immer nicht den lyrischen Dichter, so daß er aus seinem eignen Bewußtsein nachconstruiren könnte, sondern er liest je nach den Umständen als besserer und schlechterer Leser; wo sollen wir nun anfangen, wenn dieser Gegensatz zerrinnt und wir keine Hauptpuncte fixiren können. Da sind wir auf ein andres Feld geworfen, wir können nicht auf dieselbe Weise zu Werke gehn, denn der ganze Gegensatz in Beziehung auf die kleinern organischen Ganzen, aus denen er besteht, beruht auf dem Gebundenen eines Gedankenganges. Hier bedarf es von vorne eines andern Verfahrens, aber wir können nicht einsehn, daß dies Verfahren irgend anderswo anzuwenden, ausgenommen sofern wir nachweisen könnten, daß auch in Gebundenem Aehnliches Statt finden könne, wenn auch nur in einzelnen Theilen. Was für Vortheil hat man nun von einer vorläufigen Uebersicht, die man von einem Producte der lyrischen Poesie nehme? Haupt und Nebengedanken unterscheiden wir nicht, so bliebe uns wohl von solcher allgemeinen Uebersicht Nichts übrig? Es hebt sich Manches immer heraus, das uns gewiß geworden ist. Das ist zunächst das, was uns als Negation zu dem gebundenen Gedankengange 13 unsers Canons] unsern Canon
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sich verhält, das heißt, was sich als Sprung darstellt und als Wendepunct in der Darstellung, denn offenbar können wir uns auch in der fernsten Bewegung des Gedankens nicht ganz von dem gebundenen Gedankengange losmachen. Die organische Form des Satzes ist dieselbe, und in Beziehung auf Alles, was von ihm abhängt müssen dieselben hermeneutischen Regeln angewendet werden. Ferner ist die Art und Weise, diese organischen Theile zum Ganzen zu bilden dieselbe, denn es sind in unserm Sprachgebiete immer nur 2 Fälle, entweder den Satz mit besondern Sprachelementen (Conjunction) zu verknüpfen oder die einzelnen Sätze ohne Verknüpfung neben einander zu stellen. Andre Formen hat der strengste Prosaiker wie der lyrische Dichter nicht, und der strengste Prosaiker wird beide gebrauchen, wie der lyrische Dichter, aber in verschiedenem Verhältnisse und auf verschiedene Weise. Denken wir uns die freie Gedankenbewegung, so wird sich auch darin zeigen, daß die Verknüpfung, obwohl sie sich keiner andern Sprachelemente als in der strengen Prosa bedient, auf losere Weise behandelt worden ist. Aber im Wesentlichen der Aufgabe, sobald nun ans Einzelne gegangen werden soll, werden wir Nichts sagen können als, hier bleibt uns Nichts Andres übrig, als daß wir sogleich, so wie wir uns von der Natur der Composition vergewissert haben, und einen bestimmten Eindruck empfangen haben, wie sie sich dem gebundenen Gedankengange gegenüber verhalte, gleich ans Einzelne zu gehn, weil logische Entgegensetzung und logische Unterordnung fehlen. Das ist jedoch nur richtig in Hinsicht auf die sprachliche Seite, auf der andern Seite findet eine andre Aufgabe Statt, die aus dem hervorgeht, was sich bei der Uebersicht ergeben für jene Seite. Gehn wir nun zum andern Extrem: in einer systematisch wissenschaftlichen Darstellung ist uns kein relativer Gegensatz gegeben, weil alles Hauptgedanken sind und kein andres Verhältniß der Gedanken ist, daß sie entweder wie Theile zum Ganzen oder wie coordinirte Theile desselben Ganzen sich darstellen. Haben wir diese Ansicht gewonnen durch die allgemeine Uebersicht, was wird nun zunächst zu thun sein? Offenbar ist, daß wir uns dieses Verhältniß völlig zu bestimmen suchen und Alles, was coordinirt ist auf derselben Stufe zusammenzustellen, Alles was sich wie Obiges zum Untern, wie Theil zum Ganzen verhält zusammenzustellen, und zu versuchen, wie uns das zu einem völlig in einander Aufgehenden wird, denn damit ist das Ganze schon geschehn, denn solches Bild will uns ja eine systematische Darstellung geben, sie kann also keine Schwierigkeit darbieten, sofern wir die Structur der Schrift, wie sie der Verfasser im Sinne gehabt, richtig fassen; aber grade darin kann Schwierigkeit eintreten. Es sind bekanntlich eine Menge Revolutionen in der Naturwissenschaft und
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Geschichte eingetreten, welche Systeme gebracht, Systeme zerworfen haben. Habe ich nun soch ein System aufgefaßt, komme aber ohne jeden Uebergang plötzlich zu einem andern, wie soll ich da verstehn? Habe ich eine solche Sprachconstruction gemacht, so müssen wir Alles auf einmal verstehn, das Einzelne bleibt unbestimmt bis wir das Ganze gefaßt haben. Wollte man dagegen einzelne Ausdrücke dieses System’s mit denen des vorhergehenden vergleichen, so würde man durchaus Falsches erhalten, weil das Verhältniß des Einzelnen zum Ganzen in jedem ein Andres ist. Nun werden jedoch Uebergänge Statt finden, und wenn man sie zu Hülfe nehmen kann so ist das Verfahren erläutert, das Wesentliche der Aufgabe bleibt aber dasselbe, denn solche Veränderungen beruhn auf gewissen Thatsachen, die entweder neu entdeckt sind, oder die ganz neue Verhältnisse zeigen; sie konnten Anfangs nur in der gewohnten Sprache mitgetheilt werden, und wenn die Ausdrücke aus dieser nicht hinreichten, so mußten die neuen mit einer Erklärung versehen werden; hat man also die Geschichte und die BerührungsPunkte zwischen dem Alten und Neuen vor sich, so kann die Construction dadurch erleichtert werden. Die Weise der hermeneutischen Operation aber beruht darauf, diese Construction mit Einem Schlage hervor zu bringen, die Construction derselben ist allmählich, in Beziehung auf alle Punkte ist da das Zusammenschauen dasselbe. So haben wir gewisse Grenzen für unsern Canon und gewisse Art und Weise der Mittheilung, die in gewissem Sinne außerhalb zu liegen scheint, doch diese Operation kommt doch auf unsern Canon zurück und sofern wir auf diese Bedingungen sehn, wird das Ganze in seiner Verschiedenheit desto besser zu übersehn sein. Durch diese beiden so gefundenen Grenzpuncte läßt sich nun eine Linie ziehn, und in dieser wird ein Ort sein, wo die aufgestellte Unterscheidung ihre volle Wirksamkeit haben und nach beiden Seiten eine Annäherung nach dem einen oder andern dieser Endpuncte sein wird. Alles dieses durch die verschiedenen Gattungen der Composition durchzuführen, würde zu weit führen und wir müssen uns begnügen, die Hauptpuncte auf gewisse mehr allgemein vorkommende Formen nur gewissermaßen zu gestalten. Wenn wir hier zuerst den Gegensatz zwischen Poesie und Prosa auffassen, der allerdings in dem zuletzt Aufgestellten mit enthalten ist, sofern der eine Endpunct wesentlich poetisch und der andre vollkommen und wesentlich prosaisch ist, so werden wir sagen müssen: Die Poesie kann Nichts darstellen, was auf dem entgegengesetzten Punkte liegt, sondern sie will nur auch auf jedem andern Gebiete des Einzelnen als solchem besondern Werth haben, während die wesentliche Gattung allerdings verschieden sein kann. Denken wir uns das Dramatische, das liegt am meisten nach der andern Seite
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hin, und in gewissen Beziehungen müssen wir sagen, in dieser Poesie will Alles alles Eins und so gewissermaßen auf ein Mal verstanden werden und alles Zusammenwirken ist überwiegend aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten, was sich unmittelbar jedoch auf die eigne Behandlung bezieht, sind die Hauptgedanken. Es kann solche Poesie nicht ohne Darstellungsmittel bestehn; Bilder müssen in ihr vorkommen weil in der Poesie Alles Bild werden will. Betrachen wir die epische Poesie, so finden wir den Gegensatz in seiner vollen Wirkung, sie bildet uns hier in dieser Beziehung die Mitte, da ist immer ein Zusammenwirken Mehrerer aber Jedes ist da in seiner Einzelheit und da gehört Alles, was sich darauf bezieht wie der Einzelne dem Ganzen an; dies ist das Gebiet der Hauptgedanken und wie er sich für sich darstellt ist Gebiet der Nebengedanken, aber um diese herum ist ein allgemein poetisches Leben, und das sind im engern Sinne die Gedanken der Darstellungsmittel. Ebenso gibt es in der Prosa eine Form, die völlig der lyrischen Poesie in diesem Punkte gleicht, das ist die Epistolare Form, da ist ein freies Aneinanderreihen von Gedanken, die kein andres Band haben als das Selbstbewußtsein des Subjects, in dem jetzt dies und jetzt das erregt wird, wie sie eben darin ihr Verhältniß hat, daß sie nur unter Bekannten besteht, wo sie fingirt ist, ist das nicht mitgedacht im Fingiren, und sie geht also über ihr Gebiet hinaus. Die historische Darstellung steht hier in der Mitte, die Hauptgedanken sind Theile der Darstellung, die dem eigentlichen Factum das dargestellt werden soll wesentlich sind. Solche, die sich dabei dem Einzelnen, während Jenes vorkommt, darbieten sind Nebengedanken und Darstellungsmittel. Während das Dialektische sich völlig dem Systematischen nähern kann, wiefern aber dem Rhetorischen, läßt ÐesÑ eine Fülle von Nebengedanken und Darstellungsmitteln zu. Die Frage nun, auf die es hier zunächst ankam, war die, in wie weit, wo solche Unterschiede Statt finden, das Verfahren wodurch dieser Canon sich realisiren soll verschieden sein muß. Wir können sagen, Alles was mit zu den Hauptgedanken eines Gedanken-Complex gehört, von jedem Elemente dieser Art ist vorauszusetzen, daß es in derselben Bedeutung gebraucht wird, so lange derselbe Zusammenhang fortbesteht, so wie wir das Entgegengesetzte daneben finden. Von einem Ausdrucke, der nur Werth eines Darstellungsmittels hat, wie das von jedem bildlichen Ausdrucke gilt, ist das nicht der Fall. Der Zusammenhang kann derselbe sein und ein bildlicher Ausdruck kann dennoch an verschiedener Stelle in verschiedenem Localwerthe vorkommen. Wie ist diese Formel nun „so lange der Zusammenhang fort17 andres Band] Band andres
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besteht“ zu verstehn? Es gibt Unterbrechungen eines Zusammenhanges, von denen hier nicht die Rede sein kann, denn weil sie nur Unterbrechungen sind, stellt sich der Zusammenhang jenseit derselben wieder her, und so wollen wir sie parenthetische nennen. Dann werden wir sagen, parenthetische Unterbrechungen können nicht als Aufhebung des Zusammenhanges angesehn werden, dazu gehört, daß in der Art, wie sie eintreten und aufhören, sie entweder abbrechen oder in den Zusammenhang hinüberschÐleichÑen; dann muß zu erkennen sein, daß der Verfasser seinen verschiedenen Gedankengang nicht hat abschließen wollen, und so müssen wir ein relatives Ende annehmen und sagen, nur in diesem Bezirke dürfen wir die Bestimmung eines unbestimmten Ausdrucks suchen, versteht sich daß er zu den Hauptgedanken gehört. Fragen wir, wie weit sich dieses erweitern lasse, wenn ich in diesem Complexus nicht eine Indication finde, um über den Localwerth eines Ausdrucks vollkommen im Reinen zu sein. Indem wir bei der sprachlichen Seite stehn bleiben, kann ich, wo ich in demselben Sprachgebiete denselben Complexus finde, so daß ich von andern demselben angehörigen Elementen nachweisen kann, daß sie in demselben Sinne gebraucht sind, wie an der fraglichen Stelle, wären sie auch bei einem fremden Schriftsteller gebraucht, die Ausdrücke als völlig dieselben ansehn. Hier ist aufmerksam gemacht worden auf die nothwendige Anwendung des Canons von dem gemeinsamen Sprachgebiete. Denn es gilt in allen Gattungen der Sprache, daß zu andern Zeiten Ausdrücke einen gewissen andern Werth bekommen, während andre, die derselben Familie oft angehören, noch dieselben bleiben. Denken wir nur an das philosophische und poetische Gebiet, so wird das Jedem anschaulich werden. Es hat sich die Denkweise, die Existenzweise geändert, nur ist das nicht bei allen Ausdrücken der Fall gewesen. Offenbar gibt es hier wieder Differenzen, verwandtschaftliche Verhältnisse unter den Schriftstellern, denn je mehr ein Schriftsteller mit einem andern Aehnlichkeit hat, um so größer ist das Recht in diesem Erklärungsmittel zu suchen, je verschiedener sie sind, je weniger muß man sich auf das Einzelne verlassen und behutsam sein; das geht indeß schon aus dem ersten Canon hervor, der auf demselben Sprachgebiete zu bleiben gebietet, je geringer unter den Schriftstellern die Verwandtschaft, je verschiedener werden ihre Gebrauchsweisen sein, denn Jeder hat seine Lieblingsausdrücke und seine Neigungen, die Ausdrücke in solchem und solchem quantitativen und qualitativen Werthe zu brauchen. – Liegt aber nun die Schwierigkeit in den Nebengedanken, wo ist da nachzusehn, denn da ist offenbar die 13 nicht] nicht nicht
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Wahrscheinlichkeit, daß in demselben Complexus derselbe Ausdruck, der nur zufällig gewissermaßen da war, nicht wieder vorkomme; hier ist die natürlichste Regel die, den Ausdruck da zu suchen, wo er Hauptgedanke ist, weil da sein unmittelbarer Ort ist, und da kommt er unter denjenigen vor, durch deren Verbindung mit ihm er seine Bestimmtheit erhält. Gehört also ein Ausdruck zu den Nebengedanken und habe die Stelle, wo er als Hauptgedanke zu finden, da werde ich auch Mittel finden, seinen Localwerth zu bestimmen, doch kommt es nicht darauf an eine einzelne Stelle zu bestimmen, denn ein Gebrauch, der nur gelegentlich gemacht wird, ist der freieste; so wird die Aufgabe sein, aus solchen Oertern wo er Hauptgedanke ist und an Stellen, wo er Jenes ist, seinen Gesammtwerth zu fassen und daraus seinen Localwerth zu nehmen. Denken wir uns, wie es in der Natur der Sache ist, daß jedes Sprachelement, wenn wir es in seinem Totalwerthe fassen in seiner Darstellung oder Mittheilung mehre Kreise bildet, die allmählich auseinandergehn, vom engsten Gesichtskreis bis sich der Letzte ins Unbestimmte verliert, so werden wir sagen, je mehr ein Ausdruck Nebengedanke ist, um so weniger Ursache werden wir haben vorauszusetzen, daß er im ersten Sinne gebraucht ist, weil es auf seine Bestimmtheit weniger ankommt. Da tritt also eine Regel ein, die eigentlich auf die andre Seite der Hermeneutik gehört, aber so werden wir es immer finden, während wir auf dem einen Gebiete sind, müssen wir auf das andre zurückgehn. Alles was in einem Complex von Gedanken Nebengedanke ist, gehört in die eigentliche Construction des Complexes nicht hinein, sonst wäre es Hauptgedanke; frage ich nun, wie es in dieselbe gekommen, so muß ich auf die allgemeine psychologische Thatsache zurückgehn. Bei dem Verfassen der Schrift war der Schriftsteller von Vorstellungen begleitet, die mehr oder weniger stark sich ihm aufdringen, und da diese Vorstellungen in seiner Natur begründet sind, so sind wir hier im Gebiete einer psychologischen Thatsache. Die Art und Weise, wie Nebengedanken hinein kommen, hängt von der eigenthümlichen Combinationsweise des Einzelnen ab, und je genauer ich sie kenne, je leichter wird aus dem bekannten Gesammtwerthe eines Ausdrucks der Localwerth in seiner Stelle als Nebengedanke zu ermitteln sein. Hier nun ist der Hauptpunkt der: Einer kann seine Hauptgedanken mit Klarheit und Bestimmtheit geben, aber mit den Nebengedanken ist er nicht genau, weil diese begleitenden Vorstellungen nicht in seinem gewöhnlichen Leben zu einem gewissen Grade der Bestimmtheit kommen, sondern Andeutungen bleiben, und er will nun seinen Lesern nicht mehr Genauigkeit geben als er selbst hat. Das Gebiet, aus dem diese Nebengedanken genommen sind, kommt dazu. Bei Manchen sind es nur solche, die in ob-
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jectiver Verwandtschaft mit den Hauptgedanken stehn, das wird bei Allen, die logisch in ihren Handlungen verfahren, der Fall sein, wogegen Andre um der Analogie willen, die sie zwischen sich und wenigen Andern wahrnehmen, auch das Fremdeste in solche Hauptreihe treten lassen können. Sofern das Verweben von Nebengedanken in diesen Complexus von den innern Vorstellungen abhängt, hat man Ursache bei dem Einen nur mit der Hauptsache verwandte Vorstellungen zu erwarten, und so ist man gewissermaßen bestimmt, dessen Nebengedanken nur in dieser Hinsicht zu fassen, dagegen hat man beim Andern Ursache, Fremdartiges zu erwarten, so ist es denn auch gut jene Nebengedanken nicht zu genau zu nehmen, und je fremdartiger die Sache ist, um so weniger Genauigkeit ist nöthig. Dies werden wir bis zu einem gewissen Puncte sagen müssen und sagen, es liegt in der Person des Schriftstellers, solche Ausdrücke nur bis zu einem gewissen Grade zu verstehn, weil er selbst nicht weiter verstanden und so hat man keinen Maßstab den allgemeinen Canon auf diesem Gebiete anzuwenden ohne auf das Psychologische zurückzugehn. Finden wir die Art, wie ein Sprachelement in einem Nebengedanken gebraucht ist, mit der Art verwandt, wie wir es in einem gewissen Complex gebraucht finden, so ist Ursache sie ganz ähnlich gebraucht zu glauben, ihre Localwerthe ähnlich zu halten. Bei solennen Ausdrücken, das heißt solchen, die man selten von einander getrennt findet, werden wir um so mehr Schwierigkeit haben, je weniger solche bestimmte Analogien vorliegen, um wie geringer auch an sich betrachtet die Sicherheit ist. Wenn es solche solenne Zusammenstellung von Sprachelementen gibt in Beziehung auf das Wesen eines Complex von Gedanken, so erhellt daraus die Sache als abgemacht, der Schriftsteller hatte Nichts weiter zu sagen und der Gegenstand ist in den allgemeinen Vorstellungen fixirt, da ist er nicht unmittelbar, sondern im Gegentheil, wenn ein Gedanke, den ich auf solche Weise kennen gelernt, irgendwo ein unmittelbarer wird, so erwarte ich Neues von ihm, und daß das Solenne nicht vorkomme. So ist ÐeigentlichÑ in den Nebengedanken sein Ort, doch ist er nicht allgemein bestimmt sondern nur wo er vorkommt, ist mir der Werth des Ausdrucks schon gewissermaßen bestimmt. Freilich ist wahr, solche Nebengedanken haben dann nur geringen Werth und Jeder geht leicht darüber hinweg, und je mehr es solche Formen gibt, um so geringer wird das Interresse. Nun findet im Sprachgebrauche der Proceß Statt, daß solche Gedanken, die als Nebengedanken Effect gemacht haben, schnell aufgenommen und verbreitet werden, dann kommen sie gelegentlich vor und werden solenn, je mehr man aber im Bewußtsein darüber geworden, verlieren sie das Interresse, und da sie ÐleichtÑ antiquirt werden, so wird je mehr ein
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Schriftsteller in ihnen versirt, er altmodisch genannt. Hier ist also ein verschiedener Werth anzunehmen, nämlich überall auf jedem Gebiete der Combination gibt es Nebengedanken, die häufig vorkommen, die nun viel leichter Sicherheit gewähren, daß man sie richtig versteht; in welchem Maaße nun ihre Sicherheit wächst, nimmt ihr Werth ab, so werden immer neue entstehn die sobald sie zu leichterm Verständniß gekommen aufhören ihren Werth zu behaupten. Man muß sie also richtig abschätzen, wenn man solche Ausdrücke aus ihrem Gebiete hervorzieht und genau sehn, wie er gebraucht ist, was leicht zu sehn ist, da der solenne Gebrauch auffallend negirt ist. Hier können wir nun gar nicht auf einen jener Nebengedanken zurückgehn, denn in den Gedanken ist Nebengedanke nur der, der keinen wirklichen Ort in dem Complex hat. So bleibt nur zweierlei, sobald der Fall eintritt, daß das streitige Element nicht aus den Elementen desselben Satzes erklärt werden kann. Wenn nun der Gedanke keine Stätigkeit hat da wo er als Nebengedanke steht und wir voraussetzen müssen, daß die Vorstellung auf die es ankommt, außerhalb der Reihe des Schriftstellers liegt, so können wir doch sagen, irgend wo hat er seinen eigentlichen Ort, nun fragt es sich ob der Ausdruck wo er Hauptgedanke ist anwendbar sei zur Erklärung, wo er Nebengedanke sei, und es ist nun ÐjetztÑ, man habe Ursache vorauszusetzen, daß bei dem Schriftsteller, wo die Nebengedanken in großer Klarheit und leicht hervortreten, diese Regel anwendbar sei, wenn aber ein Nebengedanke an der Grenze des verworrenen Bewußtseins steht, da ist sie nicht anwendbar, wie eigentlich Nichts, denn was dem Verfasser unklar gewesen, wie sol das mir klar werden? Da ist indirect zu verfahren, denn nehmen wir einen andern Sinn als den unbestimmt unklaren an so kann das nachher zu falschen Erklärungen führen, da müssen wir fragen: in welcher Richtung hat wohl der beigebrachte Gedanke zur Wirkung des Ganzen beitragen können, denn das muß zum Grunde gelegen haben, und dann müssen wir jene Regel anwenden und sagen, wo ich den Ausdruck finde im Zusammenhange mit ÐlogischenÑ Gedanken aber mit gleichen oder denselben Elementen in Verbindung, da kann ich es als Parallele ansehn und sagen, aus diesem Complexus heraus hat der Verfasser seinen Ausdruck zu jenem Nebengedanken genommen. Ganz anders ist die Behandlung solcher Gedanken, die nur Darstellungsmittel sind, bevor wir zu diesen gehn müssen wir noch entwickeln, daß wenn es uns wirklich an hinreichenden Mitteln fehlt wir uns auf die angegebene Weise das an einer Stelle Mangelhafte ergänzen. Das kann der Fall sein bei Sprachen wo wir wenig übrig haben ÐweshalbÑ wenig Analogien sind, theils auch anderwärts, wenn ein Schriftsteller Ausdrücke ge-
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braucht, die entweder überhaupt in der Schriftsprache nicht vorkommen oder die Idiotismen oder Archaismen sind; das sind Fälle wo es an Analogien fehlen kann, dann wird der Ausdruck zu erläutern sein durch den Sprachgebrauch ihm verwandter Wörter, und so wird der Kreis immer weiter, wenn er anfängt von einem unmittelbaren Treffen des Sinns, was ueberall im gewöhnlichen Leben in solchen Fällen zu versuchen, wo er aber unbestimmt ist und er durch Verbindung mit andern nicht bestimmt werden kann, da zur Erweiterung des Zusammenhangs, zum Uebergang zu andern Stellen gehn und nun zu Vergleichung verwandter Worte. Was ist nun zu verstehn unter Verwandtschaft von Begriffen? Gehn wir aus von den in der Sprache sich findenden Andeutungen so erhalten wir zuerst eine Sprachverwandtschaft, das ist die zwischen Stammwörtern und abgeleiteten Wörtern und ebenso die Collateral-Verwandtschaft zwischen abgeleiteten Wörtern Eines Stammes. Sobald ich solche Sippschaft habe mit einem höhern Stamme mit der Grammatik auch gesichert, wie die Abgeleiteten zu fassen, so kann es mir gleich sein, wenn ich nur ein andres Wort desselben Stammes finde, dann kann ich einen Calculus machen; da die Ableitungsformen in den Differenzen sind, das beiden Gemeinsame in Einem bekannt ist, so ist mir auch das Andre hinüberzunehmen. Reichen aber diese nicht hin das Stammwort zu finden, ich habe aber abgeleitete Wörter eines andern Stammworts dessen Sprachgebrauch ich dem des unsern ähnlich weiß, so kann ich auch jene gebrauchen. Allerdings scheint das ein bestimmtes Verhältniß vorauszusetzen, denn wenn ich für den Gebrauch eines Stammworts in dem Sprachgebiet wo es zu sehen, keine Analogie finde, wo es einen Localwerth hätte, der für diese Stelle genügte und ich wollte den Localwerth aus einer Bedeutung, die ein Abgeleitetes hat, schließen, so muß ich sagen, die Bedeutung ist verloren im Stammworte, da das Stammwort nicht gebraucht ist, wie sein abgeleitetes und ich muß sagen, der Schriftsteller habe Archaismen, Idiotismen oder Provincialismen gebraucht. In der Hauptsache ist das richtig. Viel weiter ist nun der Gebrauch der Collateralverwandtschaften. Zweitens gibt es logische Verwandtschaften. Hier müssen wir zurücksehn auf den Gegensatz zwischen allgemeinen und besondern Vorstellungen, da hier dasselbe Verhältniß eintritt, nur halten wir uns hier an dem Bezeichneten, und sagen: Worte die Begriffe bezeichnen, welche von demselben höhern Begriffe abgeleitet und einander als solche coordinirt sind, sind mit einander verwandt. Werden wir nur dieses sagen können? Es setzt dieses voraus solche Form der ÐBildungÑ der Vorstellungen durch Entgegensetzung aus einem Gemeinsamen, und es liegt allgemein darin das Princip der Entgegensetzung zum Grunde und solche Erklärung ist Erklärung aus Ent-
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gegengesetztem. Wenn mir ein Ausdruck, den ich nur als allgemeine Vorstellung zu halten und weiß wo er steht, dunkel ist, das heißt er mich nicht auf alle ihm coordinirten, mit ihm aus Einem höhern Begriffe abgeleiteten führt, so muß ich sagen, wenn ich alle diese Vorstellungen, die durch Theilung und Entgegensetzung entstanden sind vor Augen haben, so muß ich auch Ðdas GegenteilÑ vor Augen haben; den Complex der auf solche Weise abgetheilt ist, wird dann die vollständige Formel für die Grundabtheilung enthalten müssen. Hiemit kommt man nun oft in Verlegenheit, und denken wir uns daß es an einer Erklärung eines allgemeinen Ausdrucks fehle, so ists dasselbe, als wenn es eine hermeneutische Aufgabe für einzelne Fälle wäre. Bekanntlich ist man noch nicht einig über die bestimmte Grenze zwischen Animalischem und Vegetabilischem; handelt es sich nun um eine so zweideutige Region und es kommt in einem Schriftsteller das Wort Thier vor, so müssen wir ihn dunkel nennen, denn er steht in einer Grenzregion und wir wissen nicht, wie der Schriftsteller sich die Grenze denkt, hätten wir eine bestimmte allgemeine Erklärung, so könnte das nicht Statt finden, so aber ist er dunkel, da müßte ich sagen, wenn ich Alles wüßte was er unter Thier begreift, hörte die Unklarheit auf, und ich weiß was er gemeint, wenn ich Alles was jenen Ausdruck erschöpft in einem logischen Complexus vor mir hätte. Hieraus wird klar, daß nicht Alles aus dem Entgegengesetzen sich ÐleistenÑ läßt; wäre jene Grenze bestimmt, dann könnte auch keine Unsicherheit über den Ausdruck Thier herrschen, sondern durch den Gegensatz wäre er vollkommen bestimmt, so jedoch würde der Eine einen Complexus von Vorstellungen begreifen, den der Andre nicht. Dieses führt darauf, ob nicht noch eine andre Verwandtschaft als diese Statt finde? Denken wir uns den Werth der beiden Ausdrücke Gegensatz und Differenz, wie sind sie unter einander verschieden? Auf dem bezeichneten Wege kommt man zu Differenzen, die nicht Gegensätze sind, nämlich alle coordinirten sind different aber entgegengesetzt, alles subordinirte ist von einander different, aber das Höhere ist das Princip auf welches der Gegensatz des Subordinirten hinweist, Gegensatz ist auch hier. Denken wir uns den ÐvorigenÑ allgemeinen Fall und nehmen hier als ausgemacht, daß ein bestimmter Gegensatz zwischen Thier und Pflanze nicht bestehe, und wir müssen sagen, es seien Formen des Lebens durch unmittelbaren Uebergang verbunden, und so werden wir Ðnun langeÑ Differenzen sehn, die auf bestimmte Gegensätze zwar führen, aber rein quantitative. Nun haben wir in unsrer Hermeneutik gesagt, es sei nicht genug, daß der Werth qualitativ, er müsse auch quantitativ bestimmt werden; das ist nun nicht dasselbe als das eben gesagte, denn jene quantitativen Differenzen liegen
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in unser Hermeneutik auf dem Gebiet des qualitativen Werthes bezeichnet, es sind also das zwei ganz verschiedene Dinge. Betrachten wir diese beiden Constructionen, wie sie wirklich vorkommen, so müssen wir sagen, es gibt solche Gebiete wo der Gegensatz unter den Vorstellungen dominirt und solche, wo die Uebergänge dominiren. Denken wir uns in das Gebiet der Farben, so hat man freilich bestimmte Ausdrücke für die einzelnen und es lassen sich wohl gewisse Gegensätze auffinden, doch gibt es keinen fall, wo nicht Uebergänge Statt fänden, wenn wir auch [von] den übrigen Ausdrücken einen in die Mitte stellen müssen, es werden neue Farben sein die an der Grenze des einen Gebiets liegen, und schon die andern können zugeschrieben werden und je unmittelbarer dieser Uebergang ist, je verwirrender sind sie. Dieses ist nun die dritte Art der Verwandtschaft. Diese letztern sind nun schwieriger zu handhaben als die erstern, es verhält sich damit wie mit der Differenz des Auges, mit welcher der Eine noch roth nennt, was der Andre schon blau nennt, und da gibt es noch untergeordnete Abstufungen und Verschiedenheiten. So ist es auch mit den Vorstellungen, deren Object der Eine so der Andre so bezeichnet, es ist das auch eine verschiedene Art zu sehn, und wenn also ein solcher Ausdruck, wie es geschehn muß aus den verwandten erläutert wird, so kann es mir geschehn indem ich sage, der Verfasser will nur das Eine, während ein Andrer Andres versteht, und da der Eine das Andre negirt, so ÐnimmtÑ er Nichts von dem, was er unter dem Andern versteht; das ist also indirect und schwieriger als wenn man aus dem Entgegengesetzten erklärt. Dies hängt nun nahe zusammen mit unserm Principe, daß Alles Einzelne nur aus dem Ganzen zu verstehn, denn alle Vorstellungen, die in jenem Complexus durch Gegensätze verbunden sind, bilden ein Ganzes und jedes Einzelnes ein Einzelnes; ebenso ist es bei jedem Complexus von Uebergängen. Will ich hiebei Einzelnes aus der Verbindung mit andern Schriftstellern, so muß ich die Gewißheit haben, er habe dieselbe Art zu sehn wie der fragliche. Wenden wir den Unterschied auf die Sprachelemente selbst an in ihren verschiedenen Charakteren, so wird sich Jeder überzeugen, wenn wir die Sache im Großen ansehn, daß das Hauptwort die Region ist, in der der Gegensatz dominirt und das Zeitwort die Region in der die Uebergänge, jedoch nur im Großen betrachtet, denn die Region der Substantivität schließt alle nur vorkommenden bestimmten Formen des Sinnes in sich, mag es durch Natur oder Kunst hervorgebracht sein, jene sind der bei weitem größter Theil dieser Region. Die Verba beziehn sich auf Thätigkeiten und so liegt denn jene Richtung auf die Uebergänge, denn so wie wir aber die Thätigkeit von andern ihrer Richtung unterscheiden, so müssen wir vom Princip des Uebergangs aus-
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gehn, also von den Differenzen, die nicht Gegensätze sind. Das ist anders als wenn ich sage, es gibt Zeitwörter die sich unterscheiden in Beziehung eines verschiedenen Gedankens, denn da bin ich auf dem Gebiete des Ð Ñ LiteraturVerstehens. Hier nun im Allgemeinen der Regel ist viel größere Vorsicht nöthig, bei Erklärungen eines Worts aus differenten Ausdrücken als bei Erklärung aus entgegengesetztem, eben weil wir hier mit objectiv Bestimmtem zu thun haben, womit zusammenhängt, daß die Bezeichnung in der Sprache viel fester ist. Wenn nun gesagt würde jene Beziehung gelte nur im Großen, so sagt das, daß bald die Zeitwörter von Hauptwörtern und Diese von Jenen abgeleitet werden, und so ein Uebergang vom Einen zum Andern Statt findet. Nennen wir das die beiden Hauptrichtungen der Entwicklung des Vorstellungsvermögens, so folgt, die Auslegung sei sicher wo die Sprache in ihrer Hauptform die Vorstellung rein erschöpft, dann wird in der Sprache selbst die Indication auf das Eine und Andre sein, jenachdem sie schwankt, muß auch die Auslegung schweigen. Denken wir uns das Hebräische wo nun als allgemeine Voraussetzung gilt, alle Stammwörter seien Zeitwörter und alle Nomina abgeleitet, da ist nur die einfache Richtung in der Sprache, die die Auslegung ungemein erleichtert, wo aber beides in der Sprache ist, da ist denn auch solche bestimmte Indication der Sprache nicht und da muß ein großer Reichthum von Erklärungsmitteln gegeben sein und weil Alles von demselben Puncte ausgeht, ist der Complexus von verwandten Wörtern durch diese Rückbeziehung auf das Vorstellungsvermögen, auf das Gebiet des Bezeichneten zu übertragen. Hat man nun alle Ausdrücke beisammen, die zusammen ein Ganzes bilden, die aber durch Modificationen, die sich immer auf einen gewissen Gegensatz bringen lassen, verschieden sind, und wenn man sie so auf gewisse Weise ändern kann, und den Werth derselben zu einander bestimmen, und man kann weiter sagen, in dem Sprachgebiet in dem ich zu thun habe, kommen alle Ausdrücke vor und der Schriftsteller gebraucht sie alle, dann kann ich solchen Localwerth aus dem Schriftsteller erklären, weil die Gebrauchsweise Eines dazwischen liegen muß, ist aber die ÐSchriftreiheÑ andrer Art, so kann ich nur seine Glieder in Erwägung ziehn und der Kreis ist enger. – Solche Gedanken die in einem gegebenen Complexus nur als Darstellungsmittel vorkommen, müssen uns nun beschäftigen. Hierbei müssen wir zuerst ins Auge fassen, Alles was wir im Allgemeinsten durch den Ausdruck Vergleichung bezeichnen können. Darin liegt, daß die Vorstellung aus einem andern Gebiete gebraucht wird, um eine andre ans Licht zu stellen die 32 ÐSchriftreiheÑ] oder ÐSchriftweiseÑ
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sich in dem Complex bewegt, daß sie also dem Complex fremd ist und nicht um ihrer selbst willen besteht, sondern nur in Bezug mit dem Verglichenen, also Darstellungsmittel ist. Das können wir aufs engste und weiteste denken, jede durchgeführte Allegorie ist immer nur solch Darstellungsmittel, obwohl es keine einzelne Vorstellung sondern ein ganzer Complexus von Vorstellungen, aber so wie er in dieser Beziehung vorgetragen wird ist sie nur Darstellung. Hier ist unter Allegorie Alles zu verstehn, was Parallele Gleichniß, ja weiter noch, es gehört hieher jeder Fall, wo Einzelnes wenngleich in denselben Complexus von Begriffen gehörig zur Erläuterung des Allgemeinen vorgetragen wird, das ist also jedes Beispiel, denn das ist [nicht] um sein selbst willen angeführt, obwohl es Einzelnes ist, sondern nur zur Erläuterung des Allgemeinen, so ist es wohl in der Beziehung verwandt, aber doch fremd, weil es als Einzelnes in die Darstellung des Allgemeinen verwebt ist. Dann finden wir auch Allgemeines in die Darstellung von Einzelnem ÐverwobenÑ und nicht um sein selbst willen, wie wir oft bei Historikern finden, die wesentlich das Einzelne darstellen, das Allgemeine aber als Schlüssel zur Auffassung der Einzelnen hineinverweben, wie allgemeine Maximen die trotz ihrem Umfange nur Darstellungsmittel sind. Da finden wir ein Beispiel wie wichtig es ist, daß man alldergleichen immer aus dem richtigen Gesichtspuncte nehmen müsse, denn mit solchen Maximen ist es keineswegs so genommen, als wenn sie um ihrer selbst willen dastehn. Der Historiker will nur, daß ich durch sie ein Einzelnes aus bestimmtem Gesichtspunkte betrachte. Wollte man diese Maximen zu einer Charakteristik desselben zusammenstellen, so würden wir Unrecht thun, sie sind [nicht] nur rhetorisch sondern ethisch aufzufassen. Fassen wir nun das ÐErgebnißÑ auf, so ist das die Formel des bildlichen Ausdrucks, wo der Inhalt des Sprachelements ein fremdes ist, so wie wir es im unmittelbaren Sprachwerthe ÐrühmenÑ, aber da geht die Sache häufig so weiter, daß der Redende gar nicht einmal will, daß dieser eigentliche Sprachwerth gedacht werde, sondern es fingiren sich solche Ausdrücke oft in der Sprache, so daß ihr eigentlicher Sprachwerth gar nicht mehr mitgedacht wird. Dieses ist der ganze Umfang von dem es sich handelt und von dem wir sagen müssen, es seien eine Menge Mißverständnisse möglich und wenn solch Ausdruck nicht gleich durch sein unmittelbares Vorkommen klar wird, so daß nur Ein Sinn sich ergäbe, sondern daß mehre Möglichkeiten sich darstellen, wie er könnte gemeint sein, so ist es eine Hermeneutische Aufgabe. Nun fragt sich’s wie es um die Hülfsmittel steht diese zu bestimmen. Wenn wir den Fall uns denken von solchen bildlichen Ausdrücken, bei welchen ihr eigentlicher Sprachwerth soll mitgedacht werden, so folgt, daß hier nicht
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gilt, was wir bei Nebengedanken könnten geltend machen, daß wir ihren Gebrauch erklären können wo sie Nebengedanken sind durch die Stellen, wo sie Hauptgedanken sind. Das geht hier nicht, denn wenn der eigentliche Sprachwerth nicht gedacht wird, so kann ich den bildlichen aus diesem nicht erklären. Nun gibt es aber hier wie dort, solenne bildliche Ausdrücke, gewisse Gegenstände haben gewisse Complexus von bildlichen Darstellungen, durch welche sie in gewissen Beziehungen dargestellt werden, diese streifen so noch an den eigentlichen Ausdruck, die termini sind aber so weit von ihrem eigenthümlichen Sprachwerthe entfernt, daß ÐerÑ zu Betrachtungen im Verhältniß zu dem, das sie erläutern sollen. Denke man sich das Gebiet der Kunst, wie es beständig vorkommt daß von einem Kunstwerke gesprochen wird, daß man sich Ausdrücke bedient, die in ganz anderm Gebiete liegen; so sagt man bei einem Gemälde ÐvomÑ Ton, das aus der Musik genommen und redet man bei einem Gemälde vom Motive, so ist es aus der Poesie genommen, und das ist wechselseitig, da müssen wir sagen, wo solche Verwandtschaft eintritt da liegt der Erklärungsgrund in dem Identischen, wie es der Ursprung ist, doch ist grade das das Gebiet auf dem die Operation am schwierigsten ist. Sagen wir, Musik, Mahlerei, Poesie sind Künste und als solche verwandt, redet man nun in der Poesie von Farbe und in der Mahlerei von Ton so ist das ganz dasselbe, dies ist für Poesie was Jenes für Mahlerei ist; sobald wir nun näher betrachten, hat man den Sprachgebrauch ganz anders gestaltet, Ton ist Element in der Musik aber in der Mahlerei keineswegs Element, sondern ganz Anders was im Worte „Ton“ auch in der Musik nicht liegt. Er mußte also eine Erweiterung erfahren, ehe er auf ein fremdes Gebiet übertragen werden konnte. Sie werden aber auch häufig gebraucht, ohne daß der Gedanke recht zur Klarheit gekommen. Dies ist zwar nur ein Beispiel, doch findet dasselbe fast auf allen Gebieten Statt. Können wir nun nachweisen, daß jeder solcher bildliche Ausdruck oder Vergleichung auf solcher Verwandtschaft beruhn müsse? Ja wohl, es ist gar nicht zu läugnen, denn sonst wären sie völlig willkührlich und könnten nicht verstanden werden, denn dazu haben wir keine Analogie um es zusammen zu bringen, und so werden wir wenn wir beide Puncte ins Auge fassen, das ganze Gebiet gut übersehn können. Es gibt unter verschiedenen Complexionen von Vorstellungen so genaue Verwandtschaft, daß das Eine sich von selbst darbietet, um als Erläuterungsmittel für das Andre zu dienen, das ist der Eine Punkt und es gibt solche Vergleichungen, die auf den ersten Anblick völlig willkührlich erscheinen also nur auf 9–10 daß ... sollen.] grammatischer Defekt
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zufälliger Beziehung nicht wesentlicher Verwandtschaft beruhn. Dieses letztere wird nun nie so allgemeine Gültigkeit erlangen aber dieser Gebrauch ist doch nicht zu verwerfen, Uebermaß würde vermieden, kommt es aber für den Leser erleichtert und spontan vor, so macht es Effect durch seine PÐiqÑuanterie. Nun kann oft der Fall eintreten, daß wir eine Vergleichung, die auf innerer Verwandtschaft beruht, von der entgegengesetzten Art halten, weil uns diese innere Verwandtschaft nicht bekannt ist, und so gibt es auch hermeneutische Verwirrungen, die auf falscher Schätzung beruhn. Hier ist nun die Nothwendigkeit wiederum zu erkennen, das Psychologische gegenwärtig zu haben, da gehört die Kenntniß des Schriftstellers, die Art und Weise seines Verfahrens, wie seine Gedankenproduction als Thatsache in seinem Gemüthe besteht, gehört dazu, um mich zu vergewissern. Weiß ich nämlich, daß ein Schriftsteller ungern Willkührliches gebraucht, so werde ich immer eine innere Verwandtschaft voraussetzen können. Betrachten wir die Vergleichungen, die als ganz willkührlich erscheinen und nie solenn werden können, so muß doch zwischen den Zusammengestellten ein Gemeinsames sein wenn auch die Vorstellungen in keiner Verwandtschaft stehn, so durch die Art und Weise ihrer Modification, und so wird eine Parallele vorhanden sein, die indeß nur Zufälliges betrifft. Da die Aufgabe ist die Vergleichungspunkte zu finden, so wird weniger dazu eine Anleitung gegeben werden, die Construction der Vergleichung selbst zu suchen, und wir werden um so mehr sagen, entweder, daß der Verfasser es seinen Lesern schwer gemacht hat und das ist bei vielen Schriftstellern der Fall oder es wird vorausgesetzt, es werde bei einem Theil der Leser nicht fremd sein. Das liegt darin, wie nah oder fern uns der Complexus von Vorstellungen zur Erläuterung gelangt liegt. Die Aufgabe ist, sich mit seinem eigentlichen Gehalte soweit bekannt zu machen daß das punctum saliens der Vergleichung sich hieraus ergibt, hierbei können also die gewöhnlichen lexicalischen Hülfsmittel nicht helfen, hier müssen wir auf ganz Andres verwiesen werden, denn wenn die Wörterbücher den bildlichen Gebrauch der einzelnen Sprachelemente nachweisen, so kann das nur sein bei denen, die auf gewisse Weise technisch in dieser Beziehung, die solenn geworden, aber die eigentlichen Spiele der Combination können sie unmöglich erreichen, da muß man sich zu den Hülfsmitteln wenden, und wo man den Gegenstand selbst in seinem ganzen Zusammenhange erläutert findet, da muß man die Kenntniß von ihm sich so ergänzen, daß der Punkt uns nicht entgehn könne, der uns hindere. Hätten wir nur Schriftsteller wie Jean Paul, so wären wir ganz außer Stande ihn zu verstehn, wir können es nur dann, wenn wir alle technischen Gegenstände als technisch behandelt hätten,
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sind sie aus dem speculativen oder ethischen Gebiete genommen, so wäre es leichter, denn so lange eine Sprache noch so gegenwärtig ist, daß man sich mit ihrer Literatur selbst noch beschäftigen kann, so sind auch jene Gebiete gegenwärtig, so wird die Erläuterung nur sein, um die möglichste Kenntniß des Gegenstands in der Beziehung, von der dort die Rede sein kann, [zu] erhalten, hievon werden wir richtige Anwendungen machen wenn wir diese Stelle in Bezug auf das N.T. erklären. Gehn wir von der entgegengesetzten Seite aus, so müssen wir sagen, alle solennen Arten von Ausdrücken werden auf fremdem Gebiete geborgt werden, und sie werden von Lexicographen nur aufgeführt werden, wenn sie auf gewisse Weise in den Sprachgebrauch übergegangen sind. Von hier aus müssen wir uns die andern Punkte nehmen, denn wo eine Vergleichung auf innerer Verwandtschaft beruht, von dieser Art ist aber die solenne, da werden wir den Ausdruck auf eigenthümlichem Gebiete aufsuchen müssen und seine Hauptverwandtschaft Ð Ñ aufzufinden, wie er hier gebraucht wird, daher denn das Verstehn der Ausdrücke, die bloß Darstellungsmittel sind die meisten realen Kenntnisse voraussetzen, weil die Sprachkenntniß nicht hinreicht, und so ist dieser Fall der, wo die Hermeneutik am wenigsten Statt hat. Vergleichen wir nun jene beiden Fälle, so erkennen wir, daß die Schwierigkeit immer geringer wird, je mehr sich eine Vergleichung dem Solennen nähert, weil dieses in der Sprache eingewurzelt ist und wenn auch das Einzelne nicht so durch die ganze Classe von Zusammenhörigkeiten erklärt werden kann. Je mehr man sich aber dem Letztern nähert, um so schwieriger wird die Sache. Nun stand die Sache so, daß selbst die willkührlichsten Zusammenstellungen, wenn sie Wahrheit haben auf einer objectiven Analogie beruhn müssen und es kommt nun [darauf] an den Punkt zu finden, indem er aus dem Zusammenhange genommen werden muß, wobei nur zu berücksichtigen, ob und wiefern solche Vergleichung gebraucht wird den Zusammenhang zu constituiren oder wiefern sie bloße Verzierung ist. Dabei ist natürlich, daß Jenes bedeutend mehr Schwierigkeiten machen wird, da die Vergleichung einen Theil des Ganzen und des Gegenstands zu erläutern hat, der ohnehin nicht klar wird. Dies kann freilich nur einem geistreichen Mann begegnen, doch müßte er billig seinem Leser sich anbequemen. Die solennen Vergleichungen beruhn nun auf Parallelen, die in der Construction des Denkens, wie sie in die Sprache übergegangen ist, gegeben sind. Eine der allergewöhnlichsten, so daß sie beinahe schon in den eigentlichen Gebrauch übergegangen, ist die Parallele des Raums und der Zeit, welches indeß eine natürliche Reduction ist; eine größere ist, daß man Veränderungen auf dem materiellen Gebiete durch Veränderungen auf dem gei-
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stigen erklärt, oder diese durch Jene, und wenn ich Veränderungen sage, so sind 2 verschiedene Punkte in dem verglichenen Ausdruck, welche Punkte eben doch ein Verhältniß haben; daher kann ich auch sagen, materielle Verhältnisse werden erläutert durch geistige und diese durch Jene. Das Letztere ist nun das Ueberwiegende, und die unmittelbare Leitung dazu finde ich in der Meinung, daß in der Sprache eigentlich keine geistigen Ausdrücke vorhanden gewesen, sie wären nur durch materielle zu bezeichnen. Wenn dieses freilich gar nicht zuzugeben ist, so ist es doch für eine gewisse Bildungsstufe unumgänglich. Das Umgekehrte ist seltner, doch hat Klopstok auf ausgezeichnete Art davon Gebrauch gemacht. Alles dieses geht eigentlich zurück auf die große, feststehende Parallele zwischen dem Gebiete des Denkens das wir Ethik und dem das wir Physik nenne, darauf gehn all Vergleichungen, wenn auch nur auf untergeordnete Weise zurück. Sie stehn als allgemeine Regeln Ðdie sind aberÑ in dieser Beziehung nicht bestimmt, sondern erst in die Denkungsweise des Zeitalters, der Nation und dieser besondern Region in derselben, wozu der Schriftsteller gehört, zurückzuversetzen. Wollte man sagen, nicht überall wäre diese Parallele zu finden, so berücksichtige man ÐnurÑ die Verschiedenheit der Ansichten, es ist ja nicht das Verglichene nur sondern die Vergleichungen selbst sind verschieden. Gehn wir weiter, so würde das Nächste sein, da wir den Canon bisher in Beziehung auf die materiellen Sprachelemente behandelt, nun in Beziehung auf die formellen zu betrachten. Doch wollen wir hier inne halten und das bisher über das Verfahren bei den materiellen Sprachelementen Gesagte auf die Erklärung des N.T. besonders anwenden. Betrachten wir den Canon, den Localwerth jedes Wortes aus dem Zusammensein mit seiner Umgebung zu erklären, und wenn nicht durch die nächsten Umgebungen es möglich ist, Stellen aufzusuchen, in denen das Wort in derselben Umgebung und als Grund derselben Verbindung gebraucht sei, welcher Canon zugleich die Regel über die Parallelen ist, so erkennen wir in ihm das Weitergehn von dem unmittelbaren Satze, in dem das quästionierte Wort vorkommt in dem Gebiet desselben Zusammenhangs. Ist dabei nun etwas Besonderes in Beziehung auf das N.T. zu bemerken? Was darin sein könnte kann nur abhangen von der Gattung zu der die Schriftsteller des N.T. gehören und von der Stufe, auf der sie in dieser Gattung stehn. Hier haben wir wesentlich mit 2 Formen, mit der historischen und der didaktischen zu thun, Letztere ist nur ÐvorhandenÑ in Form brieflicher Mittheilung, jenes in der 32 quästionierte oder fragliche
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freier aber ÐunendlicherÑ Rede, von welcher Art alle Reden Jesu und der Apostel sind, die uns überliefert, während jene Form alle Apostolischen Schriften zeigen. Nun ist die briefliche Form eine solche die in den freisten Combinationen und den freisten Uebergängen vom Einen zum Andern Raum läßt, somit enthält sie keine so vollkommene Gliederung wie andre Formen. Allerdings sind in dieser Beziehung die Apostolischen Schriften sehr ungleich. Der Brief an die Hebraeer hat nur sehr untergeordnet den Charakter eines Briefs, und stellt sich oft, obwohl er jenen Charakter nie ganz verläßt, wie eine Rede dar, dann hat er auch bestimmtere Gliederung. Dasselbe müssen wir vom Briefe an die Roemer sagen, da noch keine persönliche Bekanntschaft Statt fand zwischen Paulus und jener Gemeine, so ist ein ganz andres Verhältniß und ist er nur als Darstellung der Principien und Methode des Paulus anzusehn, darum läßt er auch eine genauere Gliederung zu. Hier ist nun leicht zu bestimmen, ob wir in einem und demselben ununterbrochenen Zusammenhange sind, oder nicht, ob in einer andern Gedankenreihe derselbe Ausdruck nicht in ganz anderm Localwerthe vorkomme. In den Apostolischen Schriften, die Briefe im engern Sinne sind, ist der Gedankengang oft sehr bestimmt, wenn die Apostel den Gedankengang ihrer Leser sich vorstellten, oft aber schreiben sie auch mit der Freiheit des freundlichen Verkehrs, und dann ist es schwerer zu bestimmen, ob eine nähere oder fernere Stelle in demselben Briefe zu demselben Zusammenhang gehöre, denn haben wir auch vielleicht einen bestimmten Endpunct eines Zusammenhangs gesehn so gestattet diese Form doch nach kurzer Unterbrechung einen Rückgang zu Jenem, der gar nicht ausführlich zu sein braucht, aber der Fall ist leicht, daß eine Stelle wie in Form einer Anspielung ein Rückgang zu dem Vorigen sei; das muß nun genau nachgewiesen werden, denn wenn ich nach der Stelle, in welcher der dunkle Ausdruck sich findet, getrennt von ihr eine Stelle finde, in der derselbe Ausdruck vorkommt, aus einer allgemeinen Uebersicht habe ich aber das Bewußtsein, diese Stelle sei eine ganz andre, so darf ich auch den Ausdruck hier nicht zur Erklärung dort gebrauchen. Habe ich hingegen aus der allgemeinen Uebersicht die Erinnerung, der Schriftsteller sei noch in demselben Zusammenhange begriffen, so kann ich auch Alles in ihm Vorkommende zur Erklärung gebrauchen, ja wenn der Zusammenhang abgebrochen, ein Andres folgt und dann eine Stelle in der das Mannigfaltigste was denselben Ausdruck als dort eingibt, mit dem Dortigen übereinstimmt, so kann ich diesen Ausdruck zur Erklärung gebrauchen. Erinnere ich mich jedoch, daß ein Gedankengang derselbe bleibt, so ist dadurch noch gar nicht eine nochmalige Prüfung ausgeschlossen, ob denn auch wirklich der Gedankengang
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bleibe, nur soll das ausgeschlossen sein, daß man sich nicht an die Eintheilung in Capitel kehre, es ist keineswegs beim Schlusse eines Capitels immer ein bestimmter Abschnitt im Gedankengange, und doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren den diese Abtheilung macht, wirklich nun auch Andres zu erwarten, so werden zum unmittelbaren Gebrauche solche Ausgaben besser sein, die jene Eintheilung nicht zeigen, welche nur der Citation wegen gemacht ist. Was die historischen Schriften betrifft, so ist hier ein ganz eigner Grund, weshalb schwierig zu bestimmen ist, ob man auch in demselben Zusammenhange ist, das ist das was aus der Beschaffenheit der meisten historischen Schriften hervorgeht, und überwiegend wahrscheinlich ist, daß sie Zusammenstellungen von frühern einzelnen oder in andern Verbindungen vorhanden gewesenen Fragmenten seien. Das gilt überwiegend von der Schrift des Matthaeus und beiden des Lucas, weniger vom Marcus, wo offenbar die einzelnen Elemente mehr überarbeitet sind und eine bestimmtere Einheit beabsichtigt erscheint, und es gilt gar nicht auf dieselbe Weise vom Evangelio Johannis. Hieraus nun geht hervor die Besorgniß, daß verschiedene Stellen, deren historischer Moment ein andrer gewesen sein könne, zusammengehöriges hätte können gewesen sein und wiederum, daß Zusammenstellungen aus ursprünglich verschiedenen Elementen vorkommen können. Da ist dann die Möglichkeit, daß eine Stelle, die wir zur Erklärung gebrauchen könnten, gar nicht von demselben Referenten herrühre, wodurch es möglich wird, daß sie aus ganz anderm Sprachgebiete also auch nicht zu gebrauchen sei, wieso selbst Theile desselben Zusammenhangs als verschiedenen Schriftstellern entnommen erscheinen können. Im Matthaeus folgen hinter einander eine Menge von Gleichnissen über die basileia toy ûeoy, wenn gleich Jedes etwas Andres von jenem Gegenstande hervorhebt; diese könnte Christus nur auf methodologische Weise mitgetheilt haben, es ist aber wahrscheinlich, daß Christus sie zu verschiedenen Zeiten vorgetragen. Hier ist nun zwar der Hauptausdruck basileia toy ûeoyÄ nothwendig bestimmt, da er überall in demselben Sinne vorkommen wird, und der wird nun hier auch auf dieselbe Weise zu behandeln sein, es könnte doch aber in ähnlichem Falle ein Ausdruck verschieden gebraucht werden, und der Zusammenhang wäre verschieden, so müßte ich untersuchen, ob denn nicht auch der einzelne Ausdruck verschieden gebraucht wäre. Das ist aber bei jenem Ausdrucke, sobald der Herr ex professo redet, gar nicht der Fall, sein Werth steht fest, den er in der Lehre des Christenthums hat, und darum war dieses Beispiel nur ein fingirtes; aber wenn auch dieser Ausdruck derselbe bliebe, wo jene Gleichnisse auch gebraucht sein möchten, so könnten doch wiederhohlt untergeordnete
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Begriffe, die nicht in fester Beziehung zum Hauptbegriffe ständen, auf verschiedene Weise in den verschiedenen Gleichnissen gebraucht sein. In Bezug auf solche Ausdrücke ist große Vorsicht also nöthig, und alle Stellen, die nicht nachweislich demselben unmittelbaren Complexus, demselben historischen Fragmente angehören, müssen mit großer Vorsicht gebraucht werden und immer nur als Stellen verwandter Schriftsteller, welche denselben Gegenstand behandeln. Wenn nun dieser Canon auch über die streitige Frage selbst nicht entscheidet, so ist es bei der Lage derselben doch nothwendig, Sicherheitsmaßregeln zu nehmen, die ja noch kein falsches Resultat bewirken, denn gehörten jene Stellen wirklich demselben Schriftsteller an, dann werden sich auch Indicien genug finden, sie auf dieselbe Weise gebrauchen zu können. Die Entscheidung der Frage hängt indeß von ganz andern Momenten ab. Was nun die parallelen Stellen im eigentlichen Sinne des Worts betrifft, so entstehn da die großen Fragen, wiefern in dieser Beziehung das N.T. als Eines zu betrachten sei, oder wie sich die verschiedenen einzelnen Schriftsteller zu einander verhalten, aus denen das N.T. besteht. Die Beantwortung dieser Frage hängt von Streitigkeiten ganz andrer Art ab, welche theils die Inspirationstheorie, theils auf ein dogmatisches Gebiet hinüberstreifen. Es ist nun zwar Rücksicht darauf zu nehmen, daß nicht Alles, was in den historischen Schriften vorkommt auch in der That historisch sei, Manches in ihnen ist für die Hermeneutik didaktisch zu behandeln, und es kommt nur darauf an zu bestimmen, ob zwischen der Form des Didaktischen in jenem und dem in der Epistolarform eine Differenz sei; wir können sagen es findet nur ein Minimum Statt, denn die Rede hat dieselben Freiheiten als der Brief. – Nun ist früher schon über die Theorie der Inspiration gesprochen, und gesagt, daß auch das, welches bestimmt als inspirirt hervortrete, immer sich doch so gestalten müsse, daß die Inspiration von gar keinem Einfluß auf die Hermeneutik sei, indeß bleibt von dieser Theorie abgesehn noch eine Frage, inwiefern das N.T. in dieser Hinsicht als Eines oder Vieles anzusehn sei. Das N.T. ist eine Sammlung verschiedener Schriften, und zu untersuchen nun, nach welchem Principe sie zusammengekommen, und welches die der Einheit zum Grunde liegende Idee sei, liegt außer unserm Gebiete. Sehn wir es aber als Sammlung christlicher und auf das Christenthum sich beziehender Schriften an, wie verhält sich dann die Differenz derselben, wie ihre Einheit und Getrenntheit? Ermitteln wir die Art der Verbindung mehrer Schriften zu einem Ganzen, so sehn wir, jede Verbindung solcher Art setzt etwas Identisches voraus, um dessentwillen das Verschiedene zusammengesetzt ist und der Act hat seine Beziehung auf diese Identität. Diese Identität könnte zunächst die des Verfassers
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sein, und was für ein Verhältniß findet dann in Bezug auf die hermeneutsiche Behandlung Statt? Wenn die einzelnen Schriften verschiedene Gegenstände betreffen, so haben sie, da sie vielleicht aus ganz verschiedenem Gebiete sind, eben keine engere Verwandtschaft, als daß sie von demselben Verfasser sind, es tritt gar keine eigentliche Beziehung im Verhältniß dieser Schriften ein, es ist nur eine äußerliche Zusammenstellung, und die Hermeneutik kann da nur Eigenthümliches finden in der individuellen Sprachbehandlung. Werden nun Schriften Eines Verfassers über denselben Gegenstand gesammelt, die also schon ohne diese Sammlung große Verwandtschaft haben, so fragt sich nur, ist diese so groß, daß wir behaupten können, sie wären ebenso zur Erklärung anzuwenden als wenn sie aus derselben Schrift genommen wären? Das ist doch bedeutend zu beschränken. Jeder ist einer Veränderung in seinen Vorstellungen unterworfen, treten sie als Gegensätze zu früheren mit seinem Bewußtsein auf, so muß der Schriftsteller Rechenschaft geben, und man kann sie leicht anwenden; gehn sie aber auf relativ unbewußte Weise vor, so finden wir auch solche Indication nicht. Kennen wir die Zeit der Schriften desselben Verfassers und seine Entwicklungsgeschichte, so ist nicht schwierig zu sondern was der einen oder andern Periode seines Gedankenzustand’s angehört; kennen wir sie nicht, so müssen wir sagen, das Vorkommen desselben Ausdrucks in Beziehung mit denselben anderweitigen Ausdrücken beweist keineswegs die Identität des Localwerths, denn die Beziehungen ändern sich nicht wie die Vorstellungen, sie werden mit hinüber genommen, und darum muß man vorher sich versichern, daß die Vorstellungen auch noch dieselben seien. So kommen wir wieder zurück auf den allgemeinen Canon, das Einzelne nur aus dem Ganzen zu erklären, und daß eine Behandlung nur durch Kenntniß des Ganzen richtig geschehen könne. Wenn man vorher solche historische Uebersicht gewonnen und die Hauptvorstellungen in ihrem Vorkommen verfolgt und die Hauptmomente mit denen sie in Verbindung [stehen] verglichen hat, so wird man aus dieser allgemeinen Uebersicht ein Urtheil fällen können, ob der Verfasser sich in seinen Vorstellungen gleich geblieben und nur aus dieser Uebersicht wird im Gebrauch des Einzelnen ein richtiges Verfahren ermittelt werden können. Ebenso ist es jedoch umgekehrt, nur nach vollendetem Verständnisse des Einzelnen läßt sich behaupten, die Vorstellung sei dieselbe geblieben auf die sich der Localwerth beziehe und doch soll ich das Ganze schon kennen. Das ist die hermeneutische Schwierigkeit und sie kann nur approximativ gelöst werden, indem was man gewonnen nie völlig festgestellt 18 was] folgt zu
26 Ganzen] folgt nicht
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wird, nur provisorisch angenommen. Den Fall solcher Sammlungen von Reden und Schriften desselben Verfassers finden wir nun auch in N.T. mehrfach, wenn aber Schriften verschiedener Verfasser über denselben Gegenstand zusammengestellt werden, was werden die dann für Werth für einander haben? Es gibt Fälle wo dies von Verfassern entgegengesetzter Meinung geschieht, also Streitschriften; hier ist ein eigenthümliches Verhältniß, das indeß zu behandeln ist, nach dem was über das Verfahren der Entgegensetzung gesagt ist; in diesem Falle ist immer etwas Identisches, denn sie würden ja nicht streiten wenn nicht Gemeinsames vorausgesetzt würde. In Beziehung auf dieses müssen sie auch gebraucht werden, und da ist vorauszusetzen, was sich aus der allgemeinen Uebersicht ergibt, so daß ihr Streit oft nur Mißverständniß ist, wo sie dann uneinig freilich scheinen, einig aber sind. Für dieses Gemeinsame kann das Eine aus dem Andern erklärt werden, wie das Entgegengesetzte durch die Form des Gegensatzes zu erklären ist. Denkt man sich nun aber Schriften verschiedener Verfasser über dieselben Gegenstände zusammengestellt, die Nichts von einander gewußt, da ist es ungewiß was unter ihnen Differentes ist, und da kann es sein, daß die Bezeichnung der Hauptvorstellungen nicht denselben Werth gehabt, soll man da das Eine für das Andre gebrauchen können, so muß eine immer schwierige Untersuchung und Analyse vorangehn. Nämlich, wenn man sich nun die Hauptvorstellungen herauszieht also die Hauptwörter, die die Hauptbegriffe bezeichnen, und die Zeitwörter, die in der Darstellung die wesentlichen Momente sind, und die verschiedenen Nebenbestimmungen, mit denen diese Momente bei dem Einen und Andern vorkommen, so muß sich aus der Analyse ergeben, wiefern der Hauptgedanke derselbe ist; ohne diese Analyse sich auf Vergleichung einzelner Stellen einzulassen wäre nur Ungefähres. Dieser Fall ist nun offenbar im N.T. Die neutestamentarischen Schriftsteller haben wenig von einander gewußt, es ist sonst gar kein Fall, wo Einer sich auf den Andern bezogen hätte und das könnte doch die einzige Gewährleistung sein, und historische Beweise von einer Kenntniß die sie von einander gehabt, haben wir auch nicht. Nur Eine Stelle ist in den Petrinischen Briefen, wo die Paulinischen erwähnt werden und Eine, in der Paulus eines ÐbestimmtenÑ Verhältnisses erwähnt, in dem er mit Petrus gestanden; aber das ist Alles und übrigens steht Jeder für sich besonders. Da kann nun die Vorsicht nicht groß genug sein, weil die Zusammenstellung der Oerter, wo in verschiedenen Stellen dieselben Ausdrücke vorkommen, sehr ungewiß ist, wenn sie nicht auf vorgängiger Analyse beruht, dazu müßte man die Ausdrücke von sämmtlichen christlichen Vorstellungen in dem N.T. in ihren verschiedenen Formen mit Bezeichnung 40 ihren] ihrem
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der Oerter, wo sie vorkommen, vollständig aufführen, sowohl die wesentlichen Subjects und Praedicat’swörter wie ihre Nebenbestimmungen, dann kann man sehn ob der Cyclus von Gebrauchsweisen in verschiedenen Schriften und bei verschiedenen Schriftstellern derselbe ist, dann wäre auch der Gebrauch von Parallelen zu bestimmen. Unbedachtes Verfahren würde hier noch seine eigenthümlichen Schwierigkeiten haben, denn da uns Allen Kenntniß des N.T. inwohnt, ehe wir an die wissenschaftliche Behandlung gehn aus dem gemeinsamen Leben, aber nur aus einer Uebersetzung, wo es natürlich ist, daß immerfort Einzelheiten aus ihrem Zusammenhang gerissen angeführt werden, so werden sich Vorstellungen über diese Stellen festsetzen, wie es denn, um das zu beweisen gar keiner einzelnen Beweise bedarf. Geht nun die wissenschaftliche Behandlung an so bringt man diese Vorstellungen da hinzu, und sie werden uns am wahren Verständnisse hindern. Nur wenn wir es als ganz Neues anfingen würde diese Schwierigkeit nicht entstehn, während Niemand es doch lassen kann, und es muß sich also ein Jeder bevor er an die Arbeit geht, fragen, ob er nicht befangen sei. Diese falschen Uebersetzungen finden wir in manchen ascetischen Anwendungen, die ihre Wirkung aber im Leben haben, und sie würden diese nicht hervorbringen, wenn sie nicht ihrem Inhalte nach wahr wären, aber aus dieser Stelle sind sie irrthümlich genommen, und entschlagen wir uns ihrer nicht völlig, so ist alle Interpretation verdorben, darum können wir nicht vorsichtig genug sein in Anwendung neutestamentarischer Stellen, die außerhalb ihres Zusammenhangs sind. Da nun eine so allgemeine Analogie nicht existirt so sagen wir, man muß diese jedes Mal nachhohlen, sich vergewissern, wie es um die Verwandtschaft beider Stellen steht. Es schließen nun die neutestamentlichen Schriften in dieser Beziehung viele Differenzen in sich; es gibt Ausdrücke in sehr verschiedenem Localwerthe, und andre die darin auf gewisse Gebrauchsweisen beschränkt sind. Ohne die Totalität also im Auge zu haben, werden wir dem Irrthum nahe sein. Wollen wir uns den allgemeinen Canon in specielle Regeln auflösen, so stoßen wir auf eine andre Schwierigkeit, nämlich auf die, daß es um das Urtheil über die Identität der Verfasser der neutestamentlichen Schriften ebenso unsicher steht. Es muß ja Jeder einen Unterschied in der Behandlungsweise einsehn wenn man sagt, der Hebräer-Brief gehört Paulus zu oder nicht, denn das Verhältniß in der Interpretation der andern Briefe zu demselben wird ja ganz verändert. Derselbe Fall ist mit den drei Johanneischen und den beiden Petrinischen Briefen, kurz diese Ungewißheit ob diese Schriften als 11 Stellen] folgt sich
33 Schriften] folgt es
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Einem angehörig anzusehn seien oder nicht, ÐerscheintÑ wiederum. Eigenthümliche Schwierigkeiten haften übrigens noch an den Elementen, die in den Stellen didaktischen Inhalts in den historischen Schriften vorkommen, an den Reden in den historischen Schriften. Gehn wir noch auf unsern günstigsten Fall zurück, daß Praedicat und Subject sich gegenseitig bestimmen, so werden wir an mannigfaltigen Beispielen sehn, daß er Ð Ñ oft nicht auftritt. So ist es nothwendig bei Lesung des N.T. besonders, sich alle Hauptgedanken in jeder Schrift und jedes Verfassers Schriften so zu vergegenwärtigen, daß auch sogleich bei der Interpretation alles Aehnliche vor uns liegt, und es erscheint eine Zusammenstellung von Stellen auch aus verschiedenen Schriften nicht zufällig; um sie zu erhalten muß man sich alle zuvor vergegenwärtigen. Nun ist freilich wa[h]r, wir können von keiner andern Vorstellung ausgehn, als der, daß durch das ganze N.T. eine gewisse Identität hindurchgehe der vorgetragenen Lehren und Ueberzeugungen, es wäre sonst das Christenthum auch ein Wechselndes mit sich nicht Uebereinstimmendes. Da nun das Christenthum sprachbildend werden mußte, weil es Zustände und Verhältnisse darzustellen hat, die noch nicht vorgekommen waren, so müssen wir sagen, diese Sprachbildung konnte nur allmählig zu Stande kommen. So wie die einzelnen Lehrer ohne Verabredung über ihr Darzustellendes von verschiedenen so konnten dieselben Gegenstände von dem Einen so von dem Andern so verstanden werden, dasselbe Wort von dem Einen so und dem Andern so, endlich derselbe Schriftsteller konnte seine Schreibart ändern, und dasselbe in späteren Darstellungen anders beziehn als in früheren; wie wir denn von der zweiten Differenz ein recht merkwürdiges Beispiel an dem bekannten Widerspruche zwischen Paulus und Jacobus finden. Paulus sagt (Roemer 3.28) logizoÂmeûa dikaioyÄsûai pistei aÍnûrvpon, xvriÁw eÍrgvn noÂmoy. Hier werden also die eÍrga ausgeschlossen und er führt ein Beispiel in Abraham an: eÆpiÂsteyse deÁ AbraaÁm tv Äì ûev Äì kaiÁ eÆlogisûh ayÆtv Äì eiÆw dikaiosyÂnhn; er wird also in seinem Verhältniß zu Gott betrachtet nicht eÆj eÍrgvn gerechtfertigt sondern aus dem Glauben. Dagegen sagt Jacobus (2.20) oëra Ä te, oëti eÆj eÍrgvn dikaioyÄtai aÍnûrvpow, kaiÁ oyÆk eÆk piÂstevw moÂnon. AbraaÁm oë pathÁr hëmv Ä n oyÆk eÆj eÍrgvn eÆdikaivÂûh, aneneÂgkaw IsaaÁk toÁn yiëon ayÆtoyÄ eÆpiÁ toÁ ûysiasthÂrion. […] hë piÂstiw synhÂrgei toiÄw eÍrgoiw ayÆtoyÄ kaiÁ eÆk tv Ä n eÍrgvn hë piÂstiw eÆteleivÂûh. Jacob verband also die beiden Begriffe dikaiosyÂnhn und eÍrga während Paulus sie
8 Schriften] folgt sich 29–30 Römerbrief 4, 3
16 Uebereinstimmendes] folgt sein 32–33 Jacobusbrief 2, 24
33–35 Jacobusbrief 2, 21 f.
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ausschloß, ohne daß er den pistiw gänzlich ausgeschlossen, aber ein Widerspruch ist doch zwischen ihnen nämlich zwischen dem gänzlichen und nicht gänzlichen Ausschließen. Entweder nun müssen wir hier diesen Widerspruch annehmen oder sagen, der Eine hätte bei demselben Worte einen ganz andern Localwerth seiner Worte im Auge denn der Andre. So liegt uns die Möglichkeit eines verschiedenen Gebrauchs derselben Ausdrücke vor, häufiger und natürlicher doch ist, daß derselbe Gedanke auf verschiedene Weise ausgedrückt wird, und oft werden die Hauptbegriffe, die nicht fehlen dürften, fehlen, wenn man nicht annähme, sie seien auf irgend andre Weise ausgedrückt, aber daraus geht nun die Nothwendigkeit hervor, nicht bei den Worten stehn zu bleiben sondern im Aufsuchen der Hauptpuncte fortzufahren und sich richtig das Verhältniß zu construiren zwischen der Ausdrucksweise des Einen und Andern und es ist ganz nothwendig, die Hauptgedanken mit ihren Verbindungen aus dem Gebiet jedes Schriftstellers uns festzustellen. Wir gehn jetzt zu den formellen Elementen über, zu denen alle gehören, welche die die Zeichen bestimmenden Vorstellungen selbst mit einander verbinden. Wenn man den Satz als Verbindung von Haupt und Zeitwort faßt, so ist die einfachste Form die, daß das Hauptwort im Nominativ steht und das Zeitwort sich diesem Hauptwort anschließt. Da finden dann verschiedene Formen Statt, das heißt, das Zeitwort muß in irgend einer Person, irgend einem Tempus stehn und durch diese Bedingung wird der Gehalt des Satzes, das Verhältniß zum Hauptworte bestimmt. Diese Beugung ist nun kein abgesondertes Sprachelement, sondern die allgemeine Bedingung in der Sprache, vermöge deren allein solche Bestimmtheit des Satzes möglich ist. Denken wir uns solche Flexion nicht vorhanden, so müßten wir zu andern Formationen des Satzes unsre Zuflucht nehmen, und das kann nicht anders geschehen, als daß das Participium als Epitheton eintritt, und es muß dann ein gehaltloses Zeitwort hinzukommen, was Jene verbinde, Dies vertritt dann die Stelle des ursprünglichen Zeitworts. Daraus geht hervor daß jene frühere Form die ursprüngliche, diese nur die abgeleitete ist. Besteht nun der Satz aus mehren Elementen, so werden neue Bestandtheile eintreten, die die Glieder des Satzes unter einander verbinden, ohne daß er aufhöre ein einfacher Satz zu sein. Wird dem Hauptworte beigefügt, was ein Verhältniß zu andern bezeichnet, so tritt die Praepostition ein, sie kann auch fehlen und es tritt dann die Structur der andern Hauptworte ein. Wie ferner beides getrennt sein konnte, kann auch beides zusammenbestehn. Dies ließ uns noch immer im Gebiete des einfachen Sat10 aber] folgt Ðdr.Ñ
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zes, denn sobald wir nur die organische Verbindung zwischen Einem Hauptworte und Einem Zeitworte, mögen sie auch noch so viel bestimmt sein, haben, so bleibt es immer ein einfacher Satz. Ein Andres ist die Verbindung der Sätze unter sich. Diese ist eine zwiefache, und beide Verbindungsweisen stehn in relativem Gegensatze. Man kann einmal einzelne Sätze nur aneinanderreihen, dann auch, sie in organische Verbindung bringen. In jenem Falle bleiben sie jeder für sich gesondert, in diesem Falle entsteht aus ihnen ein Ganzes, dessen Theile sie sind und dieses läßt sich zuweilen so darstellen, daß beide in derselben Analogie mit einander verbunden werden, wie es in dem einzelnen Satze geschieht, so sind die Genitivconstructionen nichts Andres als Verbindungen zweier Sätze, wie in einem einzelnen Satze ein Hauptwort mit einem Andern verbunden sein kann. Treten 2 einfache Sätze in so organische Verbindung, daß sie Ein Ganzes bilden, und daß ich bei dem Einen gleich das Bewußtsein bekomme, daß er nur ein Theil ist so entsteht eine Periode und die Hauptformen sind die von Vorder- und Nachsätzen; während die aneinandergereihten Sätze gesondert für sich bestehn und nur coordinirt sind, wenn auch der eine eine lange Periode, der andre ein einfacher Satz ist, aneinandergereiht treten sie in kein Abhängigkeitsverhältniß, sie sind coordinirte Theile Eines Ganzen. Verschiedene Sprachen haben nun in diesen [...], es gibt solche [Sprachen], die gar keines Periodenbaues fähig sind oder bei denen solche organische Verbindung von Sätzen sich auf ein Minimum beschränkt; oder solche die derselben in großem Maße fähig sind, und jede Sprache hat ihre Art und Weise, ihr bestimmtes Maß in dieser Beziehung. Diese Formen nun stehn in relativem Gegensatze, das erhellt hieraus: Soll eine sehr zusammengesetzte Periode aus dem Lateinischen in eine Sprache übertragen werden, die solche Capacität gar nicht hat, so ist Nichts übrig, als was dort organisch verbunden möglichst sachgemäß in so kleine Ganze zu zerlegen, wie jene Sprache es gestattet, da nun aber diese Periode ihre organische Einheit verloren, doch zu streben, daß, wenn es im Hebräischen geschehn, der Leser dieses dasselbe Verhältniß der Theile zu einander gedenke wie es in der organischen Periode gewollt war. Wäre der Gegensatz absolut so wäre das unmöglich, also ist er relativ. Es würde sonst auch die Sprache, die diese Capacität nicht hatte, auch dieselben Weltverhältnisse zu haben, ÐmanÑ ÐinÑ Gedanken nicht zusammensezen konnte, was in der Sprache nicht zusammengereiht werden kann. Sind wir uns nun der Identität unsrer Weltverhältnisse und Weltgesetze bewußt, wie der Differenz der Sprachen, so muß auch nicht 11 Genitivconstructionen] Genitivivconstructionen
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das bloße Aneinanderreihn in der Sprache die organische Verbindung im Denken ausschließen. Nun ist nicht nur eine Differenz in den Sprachen, sondern in derselben Sprache auch sind noch Differenzen der Darstellungweise. In derselben Sprache wird Dieser in großem organischem Zusammenhange ausdrücken, was der Andre gern zerfällt, somit nur aneinanderreiht, so sind auch in derselben Sprache relative Gegensätze. Fassen wir dies ins Auge so entsteht eine Schwierigkeit, das ist die Möglichkeit, daß eine Form, die nur aneinanderreiht, eine Wirkung in den Gedanken hervorbringen soll, wie die, die wirklich verbindet und so müssen wir sagen: dann müssen auch einzelne verbindende Sprachelemente bisweilen nur aneinanderreihenden Werth bekommen. Das sind so correspondirende Bewegungen in der Sprache, daß die eine nicht ohne die andre zu denken ist. Allerdings sind da bedeutende Unterschiede zwischen Sprachen von geringer und von großer Capacität; jene muß bei aneinanderreihenden Sprachelementen organische Verbindung suppliren, aber wie diese entgegengesetzte Bewegung in der Natur der Sprache liegt, so muß sie auch in allen Sprachen vorkommen auch in denen von großer Capacität. Sofern diese beiden Werthe einander entgegengesetzt sind, in sofern ist die Differenz zwischen beiden qualitativ. Das anknüpfende Sprachelement bringt keine organische Einheit hervor und das organisch verbindende keine neue Einheit, es macht nur Etwas zum Theil eines Andern, das schließt einander aus, also ist es eine qualitative Werthdifferenz. Denke ich nun den Fall, daß anknüpfende Elemente eine organische Verbindung suppliren, welche den anknüpfenden Elementen einen Werth gibt, die es sonst nicht hat, also eine Emphasis, und es unterscheidet sich solch emphatischer Gebrauch desselben Worts vom gewöhnlichen nur quantitativ. Es entsteht das Verhältniß daraus, daß der Gegensatz nur relativ ist, daß ein jedes Element den Werth erhält, der dem Gehalte nach von entgegengesetzter Art ist, für das Wort also nur quantitativ verschieden, wird ein verbindendes anknüpfend, so ist da ein verminderter Werth. Dieses sind die Beschaffenheiten der Sprache aus welchen für die Interpretation Schwierigkeit entspringt daß man nicht mit einander Sprachelemente, die organische Verbindungen hervorbringen mit solchen die nur anknüpfen, verwechsle, bewirkt schon die elementare Sprachkenntniß, und muß die Unsicherheit daneben lexicalisch gehoben werden, wenn aber Ungewißheit entsteht, ob solche Elemente, von denen ich weiß, daß sie der Natur nach organisch verbindend sind, hier nur anknüpfen so ist das eine Frage, die so allgemein nicht entschieden werden kann, und da ist ein fortgehendes genaues Bewußtsein nöthig, sonst würde man die Mittel nicht haben solche Ungewißheit zu entscheiden, ja dann wird sie gar nicht
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entstehn, ich weiß da aus dem Vorigen, wie die ÐFolgeÑ eines neuen Satzes zu verstehn. Wenn wir im Allgemeinen auf die Sprachelemente [sehen], die Elemente innerhalb des einzelnen Satzes mit einander verbinden, so finden wir da reichen Stoff zu Differenzen in dem Verständniß und also die Aufgabe eines kunstmäßigen hermeneutischen Verstehens. Hier nun müssen wir zuerst auf die Differenz der Sprachen sehn. Es gibt Sprachen, die keine eigentliche Flexion für die Hauptwörter haben, wo die Beziehungen des einen zu dem andern durch besondre Sprachelemente zur Anschauung gebracht werden, andre den Reichthum an solchen Flexionen haben, und andre die zwar Flexionen haben aber eine gewisse Armuth darin. Eine Sprache, die nur den Genitiv als Flexion hat, leistet dadurch zwar schon viel, weil alle gewissermaßen unmittelbaren Verbindungen dadurch können klar gemacht werden, in allen andern Fällen muß sie zu andern Sprachelementen fliehn. Aber auch die Sprachen, die den größten Reichthum an Flexionen haben, haben keinen gänzlichen Mangel an besondern Sprachelementen, die die Verbindungen innerhalb des Satzes bezeichnen wollen; wo beides zusammentrifft ist darum auch beides immer zusammenzufassen, die Praeposition nicht von ihrem Casus zu trennen. So sind Sprachen wo dies gesonderte Element verschiedene Bedeutung hat, jenachdem die eine oder andre Flexion damit verbunden ist, doch bleibt das Element immer Eines, ohnerachtet dieser verschiedenen Beziehungen und hat man sie nicht gefunden, so erscheinen die besondern Gebrauchsweisen immer willkührlich, da es doch der Gebrauchsweise der Sprache nicht entspricht, daß sie Willkührliches sei. Daraus läßt sich schließen, daß unsre allgemeinen Hülfsmittel gar nicht in dem wünschenswerthen Zustande sind, denn die Grammatik geht gleich zu den Differenzen über und wagt nicht die Einheit auszusprechen. Dieselbe Beschaffenheit hat es mit den Sprachelementen, welche Sätze verbinden. In vielen Sprachen hat das Zeitwort eine Flexion um das Verhältniß eines Satzes zu andern auszudrücken, und eine primitive Form, welche die Presumption für sich hat, daß der Satz ein unabhängiger sei; wenn jene Formen (modi) reich sind, so kann sie in demselben Maße der Particeln entbehren, je sparsamer diese sind, um so größer muß ihr Reichthum in Partikeln sein; ist sie darin dennoch arm so hat sie überhaupt den Charakter, daß sie keine großen Combinationen von Sätzen ertragen kann; wo besondere verbindende Sprachelemente und modi zusammentreten muß auch beides zusammengenommen werden, doch hat Jedes seine Einheit für sich, es verhalten sich diese beiden wie die Praeposition zum 21 ohnerachtet] underwartet
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Casus. Hier ist also große Schwierigkeit in der Interpretation begründet dadurch, daß die Einheit dieser Sprachelemente nicht unmittelbar zur Anschauung kommt, wie wir das schon bei den materiellen Sprachelementen gesehn. Mit den formellen ist noch anders, noch schwieriger, die wirkliche Einheit aufzufassen und die Differenzen in den verschiedenen Sprachen, indem die Denkweise des Einzelnen durch das Ganze bestimmt wird, machen das genaue Uebertragen schwierig, und die Sicherheit, daß man verstanden und die Verbindung gemacht, die der Verfasser wollte, kann oft später kommen; irgendwo aber muß die Probe kommen, weil Jenes als einflußreiches Element aus dem Spätern folgt. Daher muß man in stetigem Fortschreiten bleiben, daß man diese Ueberzeugung gleich habe; aber je weniger dies durch allgemeine Hülfsmittel zu erreichen, je weniger ist das vorauszusetzen. Daraus geht hervor, wie das wichtigste Hülfsmittel in der vorher genommenen allgemeinen Uebersicht bestehe, sondern je mehr der Complexus der Gedanken ein organischer ist, je wichtiger ist dies Hülfsmittel, je mehr man in Beschreibungen und Erzählungen versirt, je weniger kann man auf innern, organischen Zusammenhang sehn und das Aneinanderreihn überwiegend. Ist der Gedankengang logisch oder dialektisch, so ist die organische Verbindung überwiegend. So ist das Verhältniß des Einzelnen nur durch eine Anschauung des Ganzen auszumitteln. Diese muß ergeben, was jeder Gedanke für Werth für das Ganze hat, und von welcher Art in dem Ganzen diese Verbindung allein sein kann. Je zwingender der Totalzusammenhang ist, um so leichter die Sicherheit im Fortschreiten des Einzelnen. Wo im Ganzen das freie Spiel der Gedanken dominirt ist die Unsicherheit am größten und es kommen da Fälle vor, wo nie mit vollkommener Sicherheit aufzulösen ist. Das Verknüpfen ist nun eine ganz andre Operation als das Aneinanderreihn, da dieses nur zufällig sein kann und zwischen ganzen zufälligen Sätzen, die übrigens wiederum in sich Verknüpfungen haben können. So wenn ein Satz durch Beispiele erläutert werden soll, wo sich Beispiele an Beispiele reihen können, das aber ganz zufällig ist, denn auch ohne sie hätte vielleicht der Complexus fortschreiten können. Das Aneinanderreihen ist für die Operation in dem Totalzusammenhange nur von untergeordnetem Werthe, nun haben wir schon gesehn, wie auch die Operation der eigentlichen Verknüpfung in diesem Untergeordneten selbst vorkommen kann, und da hat sie für den Totalzusammenhang Minimum von Einfluß. Diese Differenz geht noch weiter und es ist oft schwierig zu entscheiden, welches der Umfang der Verknüpfung sei, denn wollten wir auch eine Rede 3–4 Sprachelementen] folgt schon
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uns aus möglichst einfachen Sätzen bestehend denken, so müssen die einzelnen Sätze doch nicht gleichen sondern ungleichen Werth für die Gesammtheit haben, es wird der Unterschied zwischen Haupt und Nebengedanken bestehn und so müssen wir fragen, ob das formelle Element, das in dieses Gebiet gehört, zwei einzelne Sätze mit einander verbinde oder sich so verhalte, daß der vorhergehende Gedanke Ende einer gewissen Reihe sei, die einen großen Theil des Ganzen ausmacht und der Andre Anfang einer andern großen Reihe. So verknüpft das Element der größern Abschnitte nicht die Sätze. Verwechselt man dies nun, so geräth man mit dem Ganzen in Verirrung, und so ist das die Hauptsache für die organisch verbindenden Elemente, ihren Localwerth in Beziehung auf den Umfang richtig zu schätzen. Das ist aber ohne eine allgemeine Uebersicht oder eine vorausgehende Vorstellung derselben gar nicht zu erreichen. Hier greifen alle Operationen in einander, hier Uebersicht in das Geschäft des einzelnen Fortschreitens, dort das richtige Bestimmen der materiellen Sprachelemente in das des formellen, denn wenn ich das Verhältniß der vorkommenden materiellen Sprachelemente zu dem ganzen Inhalte richtig kenne, so kann nicht leicht ein Zweifel über die Erstreckung der verbindenden Sprachelemente obwalten. Weiß ich nämlich, es kommen nur Nebengedanken vor, so weiß ich auch daß die Elemente sich nur auf Einzelheiten erstrecken; sehe ich, es kommen Elemente zum Vorschein, die gewisserÐmaßenÑ coordinirt den frühern Hauptgedanken sind, so weiß ich, daß hier nicht der einzelne Satz mit dem einzelnen, sondern der einzelne Abschnitt mit dem einzelnen verbunden wird. Wenn wir die beiden Operationen selbst, das Aneinanderreihn [und] Verknüpfen, Jedes für sich betrachten, so werden wir in ihnen selbst Differenzen finden, die in ähnlichem Verhältnisse stehn. Das Aneinanderreihen kann sich verhalten wie ein Gleiches, es kann sich auch verhalten wie ein ungleiches wenn das Folgende eine Steigerung gegen das Frühere enthält in Beziehung auf das, worauf sich beides gleichmäßig bezieht, in „sowohl als auch“ in „nicht nur sondern auch“ ist „auch“ das aneinanderreihende, „sowohl als“ das vergleichende, „nicht nur sondern“ das Steigernde und das sind Differenzen in dem Aneinanderreihen selbst. Doch es sind oft Fälle wo der Schriftsteller das Verhältniß wahrzunehmen dem Leser überläßt, und was er hätte bestimmt so ausdrücken können, einfach aneinanderreiht, alsdann in dem Maße man sieht, er will, der Leser solle das auf die eine oder andre Weise fassen, bekommen die einzelnen Sprachelemente einen emphatischen Werth. Darauf muß aber eine bestimmte Anreihung in der 4 Element] Elemente
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Rede vorkommen. Ebenso das Umgekehrte. Es kann auch ohne daß eine wirkliche Steigerung da sei, die Steigerung gebraucht werden. Ich kann 2 Sachen für den Zusammenhang der Rede ganz auf gleiche Weise ÐvorbringenÑ, denke aber, das Eine fällt Jedem von selbst ein, das Andre nicht, ich steigere also und beziehe es dann auf dieselbe Weise. Vergleicht man das mit dem Frühern so verhalten sie sich so daß Jenes ein objectives, Dieses ein subjectives sei, Dieses bezieht sich nur auf die Gedankenthätigkeit, Jenes auf das Sprachverhältniß, da aber keine besondern Sprachelemente sind diese Verschiedenheit zu bezeichnen, so entstehn auch da noch Schwierigkeiten, und es können Fälle vorkommen, wo man in Gefahr kommt, das Eine für das Andre zu nehmen. Wenn wir die eigentlich verknüpfenden Sprachelemente betrachten, so ist da eine eigenthümliche Duplicität, nämlich es kann ein Zusammenhang angegeben werden sollen, der rein positiv ist, aber auch ein Zusammenhang, der negativ ist. Der Eine versinnlicht sich am allgemeinsten im Causalitätsverhältniß, der Andre durch das Verhältniß des Gegensatzes; schließt nämlich Eines das Andre vollständig aus, so ist ein vollständiger Gegensatz, hingegen ist ein Causalitätsverhältniß, wenn das Eine das Andre nach sich zieht. Das werden wir nun sagen: diese entgegengesetzten Werthe können nicht mit einander verwechselt werden, aber jeder für sich hat dieselbe Form, als bei der Aneinanderreihung erschien: auch das Causalitätsverhältniß ist oft nur subjectiv; der Satz der so angeknüpft wird, enthält oft gar nicht Sachverhältnisse sondern Gedankenverhältnisse; der Redende gibt an warum er das Vorige hier gesagt oder grade so ausgedrückt hat, und für dieses Verhältniß, das rein subjectiv ist und das objective haben wir keine verschiedenen Elemente in der Sprache. „Denn“ und „gar“ zeigen diese Gebrauchsweise genug und nicht selten sind da beide Gebrauchsweisen zu verwechseln. Freilich sind viele Fälle wo man sie sogleich unterscheidet, aber viele auch, wo eine Verwechslung leicht ist. Dasselbe gilt auch auf der andern Seite, denn das ist dasselbe. Nun kann die organische Verbindung so lose sein, daß sie am Ende in die bloße Aneinanderreihung übergeht und die doch eigentlich verknüpfende Partikel nur Aneinanderreihen bezeichnet. Betrachten wir die Aneinanderreihung als geringere Operation, so ist das eine Verringerung des Werths, den die Sprachelemente in solcher Anwendung bekommen. So oft man nun particulae transeundi genannt hat, so sind das so aneinanderreihende, soll man aber da denken ein Element habe beide Werthe, das hieße eine Verwirrung in die Sprache hineindenken, mit der jede richtige Gedankendarstellung auf32 eigentlich] eigentliche
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hört. Diese Ansicht grenzt nahe an die sogenannte Abundanz der Sache, beide gibt es nicht, aber da das Aneinanderreihen und Verknüpfen nicht streng entgegengesetzt sind, so gehn sie in einander über, deswegen bleibt es immer eine andre Art den Gedanken zu fassen, und Täuschung wäre es, wenn man sagte, eine organisch verbindende Partikel sei zuweilen eine Uebergangspartikel. So müssen wir sagen, es entsteht eine große Menge von Schwierigkeiten und viele verschiedene Erklärungen derselben Stelle haben ihren Grund weit mehr in verschiedener Auffassung der formellen Sprachelemente als in verschiedener Auffassung der materiellen. Das Uebergewicht wenigstens der letztern möchte nicht gar groß sein. Wie ist aber möglich hier zur Bestimmtheit zu kommen? Man kann da auf nichts Andres zurückgehn als jenes Verstehen des Einzelnen aus dem Ganzen, weil man auf einen größern Zusammenhang zurückgehn muß um zu entscheiden, wie solche Verbindungen zu verstehen seien. Da hat das Verstehen der materiellen Sprachelemente den meisten Einfluß und ebenso umgekehrt, oder wenn wir sagten, um den Localwerth eines Ausdrucks durch irgend eine andre Verbindung desselben Ausdrucks in derselben Schrift erklären zu können, man sehn müsse ob der Ausdruck noch in demselben Zusammenhange läge, die Partikeln dies entscheiden, denn wenn eine Verbindung Statt findet, die als Verbindung einzelner Abschnitte erscheint, dann liegt die zweite Stelle außerhalb der ÐSachenÑ die zur Erklärung zu gebrauchen, und so setzt Jenes das richtige Verstehn der formellen Elemente voraus, wie dieses natürlich das der materiellen, so befinden wir uns hier auch wieder in dem Cirkel, der uns auf eine im Voraus zu erwartende Totalvorstellung des Ganzen zurückführt. Diese ganze Materie ist in verschiedenen Sprachen auch von sehr verschiedener Behandlung. Wir finden nun fast überall, wenn gleich in verschiedenen Verhältnissen, daß einzelne Sätze unverbunden eintreten, worauf beruht nun das? Müssen wir sagen, das Folgende hänge nicht mit dem vorigen zusammen, es sei ein neuer Anfang eines neuen Theils. Anfang müßte es nun sein wenn es in zusammenhängender Rede vorkäme, und wenn ohne alle Anknüpfung hier der Anfang an das Ende des zu Ende gegangenen träte so würde der Leser in Verwirrung gerathen unwissend, wie sich der Anfang auf das Vorhergegangene beziehe. Gewöhnlich sind nun die Hülfsmittel, so wenn die verschiedenen Abschnitte durch Ueberschriften bezeichnet werden. Mit ihr kann jeder Abschnitt unverbunden sein denn diese Ueberschrift sagt, daß hier von Neuem anzufangen sei, mag sie formell nur oder materiell sein, mag sie den Inhalt enthalten oder nur 19 läge] oder liegt
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Abtheilung sein. Nun kommen aber oft unverbundene Sätze vor, von denen nicht zu sagen, daß sie in diesem Sinne Neues anfangen, wo es aber doch kein Fehler ist, daß sie unverbunden anfangen, wenn der vorige Satz sich zu ihnen wie eine Ueberschrift verhält. Dann können sie unverbunden eintreten, und es können da eine Menge von Einzelheiten eintreten, wie denn Alles was Aneinanderreihung ist und so im Allgemeinen angekündigt ohne eine besondre Aneinanderreihung eintreten kann. Das ist noch nicht der einzige Fall, diese Unverbundenheit gehört zum Charakter der verschiedenen Sprachen, in welchem Umfange und welchem Falle unverbundne Sätze vorkommen. Im Allgemeinen müssen wir sagen, es sei das der Gegensatz zwischen den antiken und modernen Sprachen; in den Sprachen des classischen Alterthums sind viel seltner unverbundene Sätze als in den neuern Sprachen, aber eben in den letzten ist die Licenz so groß, daß nicht wenig Schwierigkeit daraus hervorgeht und der Leser ist nicht immer so durch den Schriftsteller gestellt, daß er die Verbindung ergänzen kann. So erscheint die Ungewißheit als doppelt, das Unverbundne kann wirklich Neues sein oder nicht; ist es nicht Neues, so kann es entweder anzureihen oder zu verknüpfen sein. Nun sind zwar viele Fälle, wo Dies zu entscheiden nicht schwierig, und die materiellen Elemente die Indication geben, aber in dem Maaße hier Schwierigkeiten sind und die Werthe aus dem materiellen Elemente, das das dominirende ist, nicht gefaßt werden kann, ist die Erklärung unsicher. Denn die verschiedenen Gebrauchsweisen ganz besonders der materiellen Elemente bewirken ungemeine Schwierigkeit für Lösung der hermeneutischen Aufgabe. Das ist nun ein Punct wo die grammatische Seite wesentlich mit der psychologischen zusammentrifft, doch kommt das nur auf die Art und Weise der Composition an und mit welcher Gattung man zu thun hat, wo denn für verschiedene Gattungen auch verschiedene Regeln sein werden. In derselben Gattung wird ferner das Einzelne auch verschieden sein, daß das Eine mehr dem Objectiven folgt, das Andre aber mehr subjective Verbindungen zuläßt, ungeachtet sich gerade dadurch die Gattungen unterscheiden. Die subjectiven Verbindungen laufen darauf hinaus, daß der Redende seine Gedankenreihe vor dem Zuhörer entstehn läßt, welches manche Gattung von Composition mehr oder weniger zuläßt, manche verlangt, manche abstößt, aber in allen wird ein freier Spielraum sein für das Eigenthümliche des Schriftstellers. Ebenso hängt es von der Sprache des Schriftstellers ab, wie häufig die verbindenden Partikeln nur anreihend vorkommen und wie oft er die organischen Verbindungen dem Leser zu machen überläßt und nur aneinanderreihende Sprachelemente setzt. Darum beruht hier das ganze Verfahren nur auf der richtigen Aus-
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legung der formellen Sprachelemente, wie diese den Totalzusammenhang bestimmen, weil jedes Glied erst durch seinen Zusammenhang mit den übrigen Gliedern seinen wahren Werth erhält, aber wie dies der Schlüssel alles hermeneutischen Verfahrens ist, so ist es auch schwierig und durch Beispiele und Regeln schwer aufzuklären, und nur die zusammenhängende Ausübung kann die beste Exemplification sein, alle außer dem Zusammenhange genommenen Beispiele können nur sehr untergeordneten Nutzen haben. Es kommt auf den Verfolg des ganzen Verfahrens im Zusammenhange der Rede an, nicht auf einzelne Fälle und so kann man sich nur auf die unmittelbare Ausführung berufen. Wir kehren nun zu dem N.T. zurück. Es geht aus dem Gesagten von selbst hervor, wie hier Alles darauf ankomme, die Einheit des Ganzen recht aufzufassen, und in dieser Beziehung ist man im neuen Testament in sehr übler Lage. Gehn wir auf die historischen Schriften zurück, so sehn wir es sehr zweifelhaft, ob sie wirkliche Ganze sind und wahre Einheit haben, indem sie größtentheils aus Theilen zusammengesetzt sind, die früher Ganze gewesen. Wäre dies nun ganz ausgemacht und man hätte die Grenzen bestimmt solcher früher gewesenen, so wäre die Sache auf besserm Wege abgemacht; es ist nun zu unterscheiden in dem Aneinanderreihen, welches in den historischen Schriften je einfacher sie sind, je mehr sich die geschichtliche Darstellung der bloßen Erzählung, dem ChronikenTone nähert, wie das bei diesen einzelnen historischen Ganzen der Fall ist, um so mehr die Oberhand hat; in diesem Aneinanderreihen sind zwei Potenzen; das Aneinanderreihen der einzelnen Erzählungen und in ihnen die einzelnen Begebenheiten. In der Aufgabe, die Grenzen dieser kleineren Ganzen, aus welchen wahrscheinlich die drei Evangelien zusammengesetzt sind, zu bestimmen, kann nicht Ð Ñ Anwendung dieser Regeln ausgeübt werden, weil die historische Kritik ganz an die Hermeneutik gebunden ist; da ist nun auf die verschiedenen Physiognomien der beiden Potenzen zu sehn. Es ist nun hiebei häufig der Fehler, eine allgemeine Regel zu früh abzuschließen und zu sagen, finde ich eine gewisse Formel bei manchen Erzählungen wiederkehren, so ist sie immer ein Zeichen, daß ein neues historisches Ganze beginnt, und wo sie nicht ist, da beginnt auch nichts Neues[;] durch solche Voreiligkeit wird man sich bald den Weg versperren. Da gilt also von dem Aufsuchen der Analogieen, was wir bei den hermeneutischen Regeln festgestellt, nicht eher festzustellen bis man die Ueberzeugung hat von dem Einzelnen aus das Ganze so erkannt zu haben, daß wir von dem Ganzen aus das Einzelne erkennend dasselbe Resultat erhalten. Sehn wir die drei Evangelien als solche Zusammensetzungen an, so geht daraus hervor, wie es zugehe, daß es darin so ganz am Zeitmaaße fehle, wie das
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gar nicht angegeben ist, denn wenn man nur einzelne Erzählungen aneinanderreiht, so ist es nicht möglich, daß die Zeitentfernung in der sie stehn, dem Leser klar werde, wenn sie nicht bestimmt angeben ist, diese Bestimmtheit konnte aber nur vorkommen, wenn der Augenzeuge selbst solche Erzählungen aneinanderreihte, die werden Ursache haben die Zeitverhältnisse bei den einzelnen Aneinanderreihungen hinzuzusetzen. Dasselbe gilt von den Localverhältnissen, sowie aber diese dunkel werden, wird es auch schwierig, diese Potenzen zu unterscheiden, und es beruht doch nur darauf die richtige Ansicht vom Verhältnisse des Einzelnen zum Ganzen. Das aber steht jedenfalls fest, wenn man von diesem Gesichtspunkte ausgeht und das Verfahren auf beiden Seiten vergleicht, daß in dieser Beziehung die drei Evangelien zusammengehören und der Johannes ihnen gegenüber steht, nicht aber Einer dem Andern den Johannes gleich zu achten, wie es deutlich hervorgeht, wenn man nur bei dem Verfahren in diesem Theile der Aufgabe stehn bleibt. Das Evangelium Johannis ist auch keine fortlaufende Geschichtserzählung, aber Ð Ñ ist man in Verlegenheit, wo solche Einzelheit aufhört und wenn auch nicht unmittelbar er das Zeitmaß angibt, so sind die Grenzen doch bestimmt angegeben und jede Einzelheit hat eine locale zu zeitliche Bestimmung für sich, wenn auch das Zeitverhältniß gegen einander nicht immer klar wird. Sehn wir auf die didaktische Form im N.T. so haben wir da zweierlei zu unterscheiden, die didaktischen Theile in den Evangelien und der ApostelGeschichte und die eigentlich didaktischen Schriften. Die ersten sind offenbar anders zu behandeln; die didaktischen Schriften sind jede ein Ganzes, während es von den didaktischen Theilen in den Evangelien zweifelhaft ist, ob sie Zusammenstellungen von Monologieen, abgerissenen Aussprüchen sind. Gibt es nun eine vollständige Ausübung des hermeneutischen Verfahrens von dem wir handeln, so müßte man sagen, hier sei eine bloße Aneinanderreihung und die Inhalte nach der einen ÐRichtungÑ von andern so geschieden, daß es nicht zu denken sei, daß im zusammenhängenden Flusse der Rede, von Gedanken so verschiedne zusammentreten. Nehmen wir das nicht an sondern vielmehr eine organische Verknüpfung verborgen, weil der materiellen Elemente einige unklar sind, so werden wir sogleich verschiedener Meinung über das Verhältniß des Einen zum Andern sein. Eben so ist zweifelhaft, ob was uns vorliegt ein Auszug oder ein Theil eines Ganzen sei, welches trifft ebensowohl den Johannes, in welchem z. B. Dialoge vorkommen, von denen man wenn man sie auch nur in ihrer Ausdehnung betrachtet, sagen muß, es sei das schwerlich ein 22 Evangelien] Evangelies
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grade so gehaltenes Gespräch, es sei gekürzt das Resultat zu wenig befriedigend in allen einzelnen Punkten, es bleiben so viele Schwierigkeiten, daß gar nicht zu denken ist, daß nicht eine Erklärung derselben von dem Sprechenden gesucht sei. So ist es an und für sich wahrscheinlich, daß es nur ein Auszug sei und die Schwierigkeit im Einzelnen rühre daher, daß nur gewisse Hauptpunkte herausgehoben seien, so entsteht Unsicherheit in der Interpretation, weil man nicht weiß, was unmittelbar zusammengehört und welches die Mittelgedanken seien, so wird denn die Abschätzung der einzelnen Elemente und der Verbindung der Sätze unter einander sehr schwierig, während wenn man das nicht weiß, man die Auslegung auf ganz anderm Grunde sucht. Dasselbe gilt von vielen Reden Christi, es gilt als größte Wahrscheinlichkeit, daß wir nur Auszüge oder einzelne Theile der Rede haben, bei jedem dieser Fälle bedarf ich einer ganz andern Verfahrungsweise. Bei dem Ersten gibt es Theile, die früher nicht verbunden gewesen, nun aber zusammengerückt sind; ist es aber ein einzelner Theil, so ist der Berichter dem Gedankengange treu geblieben, da suche ich die schlüsse zur bloßen Aneinanderreihung ohne etwas Andres zu Hülfe zu nehmen. So wird die Interpretation durch die Voraussetzung bestimmt und diese kann nur durch Jene bestimmt werden. Hier ist wieder der Kreis, und es bleibt kein andres Mittel als das Verhältniß des Inhalts der einzelnen Gedanken zur bestimmten Erklärung der formellen Elemente und da Jenes von Diesem abhängt, so ist die Aufgabe nur durch die Approximation zu lösen und je einfacher der Boden ist, je schwieriger wird diese auf einen Punkt der Sicherheit zu bringen sein. Die didaktischen Schriften haben alle mehr oder weniger die epistolare Form; es ist da aber ein ganz Andres einen Brief zu schreiben, der sich auf bestimmte Verhältnisse bezieht, oder, der erst Verhältnisse stiften soll, oder an ein unbestimmtes Publicum, wie es der Brief an die Ebraeer ist, und im zweiten Falle der an die Roemer; zur ersten Rubrik gehören die meisten, und sind eigentliche Briefe, während die übrigen uneigentliche. Nun ist noch ein bedeutender Unterschied in Beziehung auf die Composition selbst; vergegenwärtigen wir uns das über das Verfahren mit verbundenen Elementen Gesagte, die Anwendung der Regeln sei sichrer, je mehr das Ganze ein organisches Ganze sei und die Anwendung schwieriger, je weniger das der Fall sei, so werden wir erkennen, daß diese Schwierigkeit eigentlich immer beim Briefe eintreten muß, denn die Briefform neigt sich an und für sich gar nicht zu dem Organischen, weil sie freier Erguß ist und nur da eine Ausnahme Statt finden kann, wo eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Je bestimmter nun die Veranlassung ist, um so mehr ist die Freiheit beschränkt, denn da ist eine bestimmte Aufgabe zu lösen und alles Ge-
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sagte soll auf sie gerichtet sein. Daher kommt der Unterschied in vielen Paulinischen Briefen zwischen dem ersten und zweiten Theile, wo durch die Verhältnisse Bestimmtes postulirt ÐwarÑ, das nun einen bestimmten Raum und zwar immer den ersten, einnahm worauf dann nach Verhältniß des Raums und der Zeit ein freier Erguß erfolgte. Diese beiden Theile sind oft nun zu unterscheiden, oft aber auch nicht und doch ist das hermeneutische Verfahren in Bezug auf die verbindenden SprachElemente ein ganz Andres in solchem ersten als zweiten Theile, denn in jenem muß Organisation vorausgesetzt werden, im andern ist aber der Verfasser zu der früher gehemmten Freiheit zurückgekehrt, und wo hier unverbundene Sätze sind ist oft nur ein freier Sprung der Gedanken, da die verschiedenen Fälle verschieden zu beurtheilen sind. Darin wird nun eine Grenzlinie zu finden sein, wenn man sieht, hier herrscht darin organische Verknüpfung vor, hier ist freies Aneinanderreihen überwiegend. Denken wir einen Brief dem keine so bestimmte Aufgabe vorliegt, da wird die hermeneutische Behandlung der verbindenden Sprachelemente schwierig sein und um so schwieriger, je weniger wir von demselben Schriftsteller haben, denn je mehr wir haben, je mehr bildet sich eine bestimmte Vorstellung von seiner Art und Weise, seinem Verfahren, das ist aber mit dem in diese Rubrik fallenden durchaus nicht möglich. Die hermeneutische Behandlung nun hat auf diesem Punkte, der der Schlüssel für die richtige Auffassung des Ganzen ist, besondre Schwierigkeiten, eben so liegen diese aber in der neutestamentlichen Sprache. Das ist nun ihre besondre Art aus zwei Sprachen zusammengesetzt zu sein, die in dieser Hinsicht ganz verschiedener Natur sind; die Griechische Sprache hat einen großen Reichthum von formellen Elementen, sowohl substantieller (Partikeln) als accidenteller (Beugungen). Die Hebraeische Sprache in allen concurrirenden Zweigen ist an Partikeln sehr arm, hat zwar einen gewissen Reichthum von Flexionen durch die Praefixa und Suffixa oder die verschiedenen Conjugationen, doch geht dieser Reichthum nicht in den der Griechischen Sprache auf, ist etwas Verschiedenes und bringt häufig nur im Gebrauche der Griechischen Sprache Verwirrungen hervor. So entspricht der Hiphil in dieser Sprache in Etwas ÐeinigenÑ Formen der Griechischen Sprache, aber diese sehn ganz anders aus, wenn nämlich ein Verbum eine andre Endung bekommt, die den Sinn verwandelt. Das haben nun die neutestamentlichen Schriftsteller nicht herausgefunden, sondern wie das einfache Verbum ihrem Kal entspricht so haben sie meinend, Hiphil fehle diesen[,] Kal statt des Hiphil gebraucht, das einfache Wort erhält so eine durchaus verschiedene Bedeutung. Dies nicht in einander Aufgehn der beiden Sprachen ist Grund, daß sich die Schriftsteller in einer ganz frei-
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willigen oft ganz unnöthigen Armuth bewegen. Ebenso die Armuth der Hebraeischen Sprache an Partikeln, die zugleich hervorbringt, daß kein Periodenbau ist, hat die Folge, daß, weil sie das Griechische größtentheils als Uebersetzung aus ihrem Hebraisiren denken, sie nicht in den Besitz jenes Reichthums kommen, darum machen sie so wenig Gebrauch von der periodischen Schreibart und so in mehre unabhängige Sätze zerfällt, was zusammen gefügt klarer wäre, entsteht nur daraus, ja noch mehr: Vieles wird so schwieriger zu verstehn, weil es Griechisch ist, als es sein würde, wenn es Aramaeisch wäre, denn wenn wir von der Foderung ausgehn, es solle Griechisch sein, da es doch nur auf äußere Weise Griechisch ist, werden wir im Verstehn aufgehalten. Finden wir nämlich daß die Sätze getrennt sind, die wie sie gemeint sind, jeder Schriftsteller verbunden haben würde, so glauben wir, das dürfe nicht geschehn, sie müßten grade so verstanden werden. Allerdings sind darin die neutestamentlichen Schriftsteller nicht gleich, aber nur Einer ragt doch vielleicht über die Andern bedeutend hervor, Paulus nämlich hat sich mehr den eigentlichen Ausdruck des Griechischen angeeignet, und doch ist auch hier Vieles, was anders sein würde, wenn nicht der Einfluß der Sprache, die angeboren, anerzogen ist, ja was mehr noch in der die Gegenstände größtentheils behandelt sind, hinzukäme. Vielleicht ist daraus zu erklären, daß unter den neutestamentlichen Schriftstellern einige sind, bei denen es schwer ist den Gedankengang des Schriftstellers zu fixiren, es sieht Alles mehr wie untereinander geworfene, einzelne Gedanken aus und ohne alle Construction, und doch ist das nicht der Charakter des freien Brieflichen; diese Schriften sind die Briefe Petri und Jacobi. Da ist es nun schwer wirkliche Einheit in das Ganze zu bringen oder sich auch nur von der Art und Weise des Uebergangs Rechenschaft zu geben. Dies mag gar nicht in logischem Mangel und gänzlicher Ungewohnheit der Mittheilung auf diesem Wege gegründet sein, sondern ist auf Rechnung des Verhältnisses der Sprache zu schieben; diese ist ihnen mehr hinderlich in klarer Darlegung ihrer Vorstellungen gewesen, als daß sie sie gefördert hätte. So kann man sich nicht wundern, welche großen Schwierigkeiten die Auslegung des neuen Testaments mit sich bringt, so wie die Aufgabe in ihrem eigentlichen Sinne gestellt ist. Man kann fragen, wie geht es zu, daß so lange Zeit, seit der Wiederherstellung der Wissenschaften das neue Testament unabläßig Gegenstand der Hermeneutik gewesen und so lange Zeit hingegangen, ehe die Schwierigkeit im Ganzen genommen, klar aufgefaßt worden und man sich zum Ziel gemacht, sie wo möglich zu überwinden. Das war nun weil man es ganz anders als andre Schriften betrachtete. Man betrachtete die einzelnen Schriften nicht Jede als Ganzes für sich
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und man legte den Einzelnen einen Werth bei und eine Verständigkeit außer seinem Zusammenhange. Dies beides, das Ganze als Theil zu betrachten und das Einzelne zu isoliren haben in demselben ihren Grund, das ist die dogmatische Behandlung der Schrift und das dogmatische Interesse. Man braucht dabei nicht zurückzugehn auf die Theorie der Inspiration, sondern nur stehn zu bleiben bei der Ansicht von der Einheit des neuen Testaments als eines corpus doctrinae, als Canon. So wie man diese Betrachtung sich vergegenwärtigt und die übrigen dogmatischen Interessen, einmal das als Resultat der Erörterung festgestellt war, dann aber auch das, was Jeder vertheidigt im corpus doctrinae nachzuweisen. Denken wir uns dieses Interesse die Auslegung dominiren und als Hauptmotiv der Lesung, so sehn wir, wie unmöglich es war, die hermeneutische Aufgabe in ihrer Reinheit zu fassen. Es entstand dadurch Unaufmerksamkeit, weil man über alle Sätze wegeilte zu Sätzen, die dogmatisches Interresse hatten, dadurch war das hermeneutische kunstmäßige Verfahren schon aufgehoben. Was ferner zunächst bei Schwierigkeiten in einzelnen Sätzen als Hülfsmittel sich darbot, war die Erinnerung an ähnliche Stellen, die aber ebenso aus dem Zusammenhang genommen waren und neben die analogen gestellt wurden. Vergleicht man dies mit den Regeln des wahrhaften Gebrauchs der Parallelen, so erkennen wir es Jenem vollkommen entgegengesetzt, nämlich die Ausdrücke die die eigenthümlichen Vorstellungen des Christenthums ausmachen, jeden für sich in der Gesammtheit ihrer Beziehungen, wie sie an verschiedenen Stellen vorkommen, sich zusammen zu denken, da kann man nicht vom Zusammenhange abstrahiren und da gewinnt man nicht ein Einzelnes das wie das Andre aussieht, sondern einen Kreis von Praedicaten zu demselben Subjectsworte und von Subjectsworten zu demselben Praedicate. Aber das Zusammenstellen Jener nur durch das bestimmte Bedürfniß Einer Stelle hervorgebracht läßt das ganze Verwandtschaftsverhältniß ignoriren und sieht nur noch die einzelnen Ausdrücke wo die Verwandtschaft gar kein Maaß hat und wo also hermeneutische Fehlgriffe leicht sind. Es war nicht eher für die Auslegung des N.T. Heil zu erwarten, als bis eine Abnahme des dogmatischen Interesses eintrat und da ist das Gute welches gewisse Zeiten, wenngleich nur per accidens hervorgebracht haben. Wenn man das sagt, so liegt keineswegs darin, daß Indifferentismus eintreten müsse, das sind ganz verschiedene Dinge Indifferentismus und jene Abnahme. Gut war es, daß man die ÐProdukteÑ verschiedener Zeiten auseinanderhielt, jede Zeit zusammenfaßte und für sich unterschied, und dazu ist Abnahme des dogmatischen Interesses, des Polemischen nothwendig, denn jene Polemik fodert schnelles Entschliessen, Jenes Ð Ñ ist eine
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große Operation. In dieser Beziehung ist die N.T. Hermeneutik gewissen Partheien in der christlichen Kirche sehr viel schuldig, die sonst nicht gar viel Credit haben, aber in dieser Hinsicht wohl zu unterscheiden sind. Zuerst die Remonstranten schlugen hierin einen andern Weg ein, freilich auch in der Polemik begriffen, aber es war doch dort eine gewisse unabhängige philologische Seite in mehren ausgezeichneten Männern dieser Parthei nicht zu verkennen und eine Richtung das Biblische zu säubern und müssen sagen, dem Schriftsteller der sich zum Gebrauche der Griechischen Sprache vollständig erhoben hat, so wird er noch nicht solche Ausdrücke gebrauchen müssen und das Hebraisirende ÐnichtÑ verändert, es wird die Gewohnheit ihr Recht behaupten. Wenn man die neutestamentliche Construction des Infinitivs als Genitiv wie sie der Hebraeische Infinitiv mit l enthält, betrachtet, so muß man sagen, das ist eine Formel, die im Hebraeischen häufig vorkommt; nehmen wir nun die N.T. Schriftsteller die sich zum natürlichsten Gebrauche der Sprache erhoben, so werden diese Formen auch bei ihrem Hebraisiren vorkommen und daraus zu erklären sein. Wenn wir nun denken, wie Vieles in der Hebraeischen Sprache nur durch Eine Verbindungsform, das u ausgedrückt wird, so können wir doch nicht behaupten, daß ein Schriftsteller der andern Klasse nun auch müßte im Griechischen das kaiÁ überall gebrauchen, wo das Hebraeische u gebraucht wird; es gibt zwar solche Extreme, doch werden wir keine Regung haben von Allen es anzunehmen, es geht vom Partikelreichthum ins Ohr hinein, verschiedene Ausdrucksweisen bilden sich im Griechischen von dem was im Hebraeischen nur Eines war; das können wir auch bei den am meisten durch den Hebraism gebundenen Schriftstellern voraussetzen. Gehn wir auf diese Entstehungsweise des Sprachgebrauchs zurück, so ist das die Art, wie Griechische Verbindungen gebraucht werden, daß mehre Eine Hebraeische ersetzen müssen, so wird denn der Gebrauch des Griechischen nicht gewiß sondern Verwirrungen werden sich da ergeben und es wird das Bedürfniß klar einer eignen Griechischen Grammatik für das N.T., weil aus dem Entstehen dieses Sprachgebrauchs Abweichungen von dem Ursprünglichen Natürlichen vorkommen, und um so weniger können wir hier entbehren, als wir nicht Ursache haben zu glauben, daß die Sprache der Verfasser durch lebendiges Verharren in der Griechischen Literatur gereinigt wäre, denn es finden sich im Volke das von der Literatur entfernt ist, immer Abweichungen, und dort entsteht das Griechisch der N.T. Schriftsteller, so gehn sie auch in die Schriften dieser über. Wir haben keine Ursache anzuneh4 Remonstranten oder Arminianer haben sich im 17. Jh. von der niederländischen calvinistischen Kirche abgespalten.
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men, daß sie zur Einheit der ursprünglichen Form durchgedrungen und auf logische Weise oder durch den Instinct des Ohrs das Richtige vom Unrichtigen zu unterscheiden im Stande gewesen. Daraus geht denn hervor daß uns die Hülfsmittel zur sichern Interpretation ÐgarÑ sehr sparsam zugewachsen sind, denn wenn wir in zweifelhaften Fällen sind so können wir an den classischen Sprachgebrauch nicht wenden, weil er den Schriftstellern nicht geläufig gewesen. Da bleibt uns also nur die neutestamentliche Analogie und haben wir solche Stellen, die durch den Zusammenhang vollständig bestimmt sind, wie Ð Ñ denn die materiellen Sprachelemente zum Grunde liegen, um den Sprachgebrauch auf diesem Gebiete zu bestimmen, so wissen wir doch an andern Stellen, daß derselbe bestimmte Localwerth auch hier anzuwenden sein könne, aber solche leichte Stellen lies’t man gar schnell, ohne darauf zu sehn, welches hier denn der Gebrauch der Elemente sei, und nur bei Grammatischer Untersuchung wird man solche Aufmerksamkeit verwenden können, so ist denn eine besondre N.T. Grammatik etwas Wesentliches, aber nicht genug, Jeder muß diese Richtung zu vernehmen und sich die Elemente ÐhebräischerÑ Grammatik zum Behufe der Interpretation machen wenn er aus ihnen auch kein Ganzes sich constituirt. Es läßt sich aber das Sprachgebiet erweitern und das früher Genannte hereinziehn. So kommen in den Apokryphen Stellen vor, die den Charakter haben, daß sich ihr Sinn vollständig ergibt, und was in ihnen vorgekommen, wird auch im N.T. vorkommen können, und ein Localwerth der dort schon ist, wird auch im N.T. sein. Schriftsteller wie Josephus und Philo sind schon schwieriger zu gebrauchen, sie haben größere Gewohnheit als die N.T. Schriftsteller gehabt und Philo hat nie auf dieselbe Weise in Palaestinischer Sprache gedacht, weil die Alexandrinischen Juden nur an das Griechische gewöhnt waren Ðund dasÑ A.T. selbst in Griechischer Sprache lasen. Gehn wir weiter auf das Gebiet der Macedonischen Graecität, so sind hier wohl wenige Analogieen zu finden, und überhaupt mehr ist sie für die materiellen als die formellen Elemente zu brauchen; wir müssen schon in ihr wenn auch nur eine entfernte, Annäherung an das ÐUmschlagenÑ der Sprache erkennen, es ist Vieles aus dem gemeinen Leben hineingekommen, ebenso wie in das Palaestinensische und das sind die gemeinschaftlichen Elemente solches mijobaÂrbaron, doch ist die Analogie sehr sparsam, es ist das N.T.liche, worauf am meisten Verlaß ist. Hiebei ist nothwendig sich die N.T. Schriftsteller gewissermaßen zu classificiren, aber das geht nur durch eine Construction von den vorher ausgesprochenen 18 Interpretation] folgt sich
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Punkten aus. In Beziehung auf die formellen Elemente gibt sich das überwiegend Hebraisirende darin zu erkennen, daß der Schriftsteller sich das Periodische nicht aneignet, doch sind da Abstufungen und es zeigt sich ein Fortschreiten nach Art des Hebraeischen in einfacher Aneinanderreihung oder gar keiner doch nach andern Gesetzen als in der Griechischen Sprache. Ferner zeigt sich auch ein gewisses Bestreben, große Massen von Sätzen in organische Verbindung zu bringen, das aber nicht zu eigentlich periodischer wird. Auch bei Paulus finden wir hievon noch eine Spur in der Neigung eines nicht zum eigentlichen Periodenbau geeigneten Gebrauchs der Relative, wie sich diese ineinanderschachteln an gewissen Stellen seiner Briefe und wie er von Einem zum Andern fortschreitet ohne daß das eigentlich Periodische sich construire, sondern so daß er das Vorige fallen läßt. Das ist nicht einmal durch die Lebendigkeit des Schriftstellers zu erklären dann aber durch das nicht finden der richtigen Form, wenn er Periodenbau sucht. Doch ist das nicht so schlimm als man glaubt, wegen der ganz schlechten Interpunction in der Recepta scheint es nur so, diese muß man sich im N.T. in jeder Ausgabe erst völlig vernichten, ehe man zu reinem Resultate gelangen kann. Folgt man der gegebenen Interpunction, die der Schriftsteller nicht gemacht, so wird man Statt selbst auszulegen nur Organ der Auslegung des Andern sein, so muß man sich also in den Zustand der ursprünglichen Leser versetzen, die gar noch nicht die Interpunction hatten. Auf ganz andre Weise findet sich das verfehlte Streben nach dem Periodischen bei den Schriftstellern der andern Klasse und deswegen sind sie nicht mit der ersten zu verwechseln; das ist nur ein versuchter Uebergang, der deutlich zu erkennen gibt, daß die Differenzen der Sprachen wohl zum Bewußtsein gekommen sind, allein noch ist der Geist des Periodischen nicht gefaßt. Diese Bauart legt der Interpretation ganz besondre Hindernisse in den Weg, weil schwer zu bestimmen ist, was und wie es hat verbunden werden sollen und dadurch entsteht der Schein einer äußerlichen Verworrenheit, die dem Denkvermögen gar nicht zuzuschreiben ist, des Schriftstellers Gedankenzustand ist als besser als sein Ausdruck vorauszusetzen, was in dem Schreiben einer fremden Sprache eine billige Voraussetzung ist. Hier ist nun zu sehn, wie schädlich für die richtige Interpretation solche Voraussetzungen sind, wo man, indem man den ganzen Act des Schreibens dem göttlichen Geiste zuschrieb, man keine Unvollkommenheit zulassen wollte. So kann weder das Ganze noch das Einzelne richtig angeschaut werden. Aus dieser Voraussetzung sind noch manche besondre Maximen für die Interpretation des N.T. entstanden, die gar nicht berücksichtigt würden, wenn wir in unserm Fortschreiten blieben, weil wir sie nicht gefunden haben
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würden; die aber bei Manchen noch jetzt Einfluß üben, der ihnen nicht gebührt, weil die Entstehungsweise nicht klar ist. Hier müssen wir besonders einige Punkte in Bezug auf das Qualitative des Verhältnisses des Eigentlichen zu dem Uneigentlichen oder Bildlichen und in Beziehung auf das Quantitative des Verhältnisses des Emphatischen zu dem Unbedeutenden, Tautologischen, Abundirenden zu betrachten, weil sie jede Interpretation hindern von Vielem, das geschichtlich, wie man es sich nicht läugnen konte, durch Leidenschaft hineingebracht war. Dasselbe ist in gewissem Sinne von den Socinianern zu sagen, ungeachtet auch diese aus dogmatischem Interesse exegetische Maximen geltend machen wollten, die nicht anzunehmen sind, sondern weil sie in Allem, was außerhalb des Streites lag noch von den Alten afficirt waren zu verwerfen sind. Wie ist gegenwärtig der Zustand der Sache? Alles fängt an sich zu wiederhohlen, was ehedem den richtigen hermeneutischen Gang gehemmt, doch ist das nur die eine Seite des gegenwärtigen Zustands, auf der andern sind auch bedeutende Fortschritte gemacht um die Maximen, die bisher gegolten, zu säubern, um auf der einen Seite leitende Anschauung der neutestamentlichen Sprache bis ins Einzelne hin hervorzurufen, auf der andern die hermeneutische Aufgabe auf die historische Kritik zu leiten. Manches was als einzelne Regel oder Cautel aufgestellt ist, hat die Tendenz durch das hermeneutische Verfahren bei Lösung der Aufgabe die historische Kritik in Thätigkeit zu bringen. Die jetzige Aufgabe hat es nun vorzugsweise mit den Eigenheiten der neutestamentlichen Sprache zu thun und für diese Seite verhält sich zu den formellen Elementen eine neutestamentliche Grammatik, wie zu den materiellen ein neutestamentliches Lexicon, das seinerseits dem entsprechen soll. In dieser Beziehung hat nun die [Winersche] Grammatik des N.T. große Fortschritte gemacht und so große Vorzüge, indem sie einen richtigern Weg eingeschlagen, ohne daß man sagen könnte, sie werde bleibender Typus für längere Zeiten sein, doch hat sie einen Fortschritt gemacht, indem die Tendenz vorherrscht, die verschiedenen Gebrauchsweisen der substantiellen Elemente über die Flexionen auf eine einfache Anschauung zurückzuführen, so daß eine Einheit wirklich durchschimmert und eine Menge falscher Ansichten über einzelne Gebrauchsweisen außer Werth zu setzen. Es ist nur zu wünschen, daß bei künftiger Bearbeitung des Werks, die Auffindung des Einzelnen, worauf 9 Nach Lelio Sozzini und seinem Neffen Fausto Sozzini (1539–1604) ist die (besonders in Polen) weit verbreitete und trotz aller Verfolgung bis ins 18. Jh. wirksame antitrinitarische Bewegung der Sozinianer oder des Sozinianismus benannt. 26–27 Georg Benedikt Winers ,Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms‘ erschien 1822; Schleiermacher besaß außer dieser Ausgabe auch die 3. Auflage von 1830 (SB 2149 und 2150). Calow hat den Namen offenbar nicht verstanden und eine entsprechende Lücke im Manuskript gelassen.
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es denn doch ankommt erleichtert werde. Was nun das Andre betrifft, wie auf der einen Seite der Zusammenhang vernachlässigt wird, auf der andern, was ein Ganzes für sich ist, nicht als solches anzuerkennen, so sind schon Uebertreibungen gemacht, die auch auf einen falschen Weg führen. Es ist rühmlich und eine nothwendige Richtung, wo es eine reiche Literatur gibt, die einzelnen Schriften möglichst richtig in Behandlung der Sprache zu charakterisiren, wie auf der andern Seite, wie sie die Gattung der Composition eigenthümlich behandeln. So hat man sich auch bemüht die neutestamentlichen Schriften zu charakterisiren, doch ist es Etwas andres, was man auf reicher Literatur, oder was man auf Einer von so geringem Umfange thut und muß man wohl berücksichtigen, daß wenn von der Behandlung des Einzelnen im Sprachgebrauche die Rede ist, diese Arbeit nach einem dem Gutdünken des Abschreibers und dem Gerathewohle nach vorhandenen Texte geschieht. In Hinsicht auf das formelle Sprachelement, wie dies im Wesentlichen entscheidet, wenn man das Fortschreiten im Einzelnen verfolgt, über den Zusammenhang des Ganzen, weil sie es sind, durch welche man bei Lesung einer Schrift den Zusammenhang faßt, dieses [ist] ein ganz Andres, wenn man von einer allgemeinen Uebersicht ausgeht, wo man darauf sehn kann, welche Ausdrücke in welchem Theile besonders dominiren, und ohne Rücksicht auf die Elemente sondert. Vernachlässigt man diese Uebersicht so ist man ganz darauf gestellt, das formelle Element in seiner Quantität richtig zu fassen, wie es ein Andres ist ob Partikeln Reihen von Sätzen verbinden oder Sätze, ebenso ihren Qualitativen Werth, ob sie im subjectiven Sinne organisch verknüpfen, ob sie den Gedankengang erklären, oder ob in objectivem Sinne, wenn sie das Reale erklären, aber das quantitative Verstehn hat den meisten Einfluß. Da werden wir ganz auf die andre Seite zurückgeworfen, als das Hülfsmittel, das Alles entscheiden muß, denn ohne allgemeine Vorstellung der Gegenstände, die behandelt werden und die Vorstellungen, die in gewissen Theilen dominiren, ist es unmöglich, den quantitativen Localwerth zu bestimmen; da muß man unbestimmt das Resultat lassen, und dem weitern Erfolge anheimstellen, ob die Quantität gering oder groß gewesen. Das Vorige nämlich ist es auch richtig verstanden gibt keine richtige Andeutung, ob das Folgende Neues oder noch dazu Gehöriges sei, wie es beides die Partikeln doch angeben können, und Mißverständniß entsteht hier oft bloß aus Vernachlässigung dieser Cautel. So ist also Anwendung beider Seiten die einzige Regel, die vor großen Irrungen hüten kann. Wie und was für Regeln soll man hier nun aufstellen? Nur die Differenzen sind aufzustellen, nachdem die verschiedenen Verhältnisse gefaßt werden und da sind nun die Hauptpunkte,
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wovon auszugehn ist, diese. Die Griechische Sprache und die semitischen wie sie in Palaestina ausgebildet sind sind in Beziehung auf die formellen Sprachelemente durchaus und in höherem Sinne irrational, als gewöhnlich Sprachen gegen einander sind. Die Palaestinensische Landessprache war keines Periodenbaues fähig, wegen Mangels an Partikeln, oder die Sprache war zu keinem Reichthum von Partikeln gekommen, weil sie des Periodischen unfähig war und das führt auf eine Beschaffenheit des Denkens, das lieber vereinzelt Alles in sich bildet, ansieht und so auch hervorbringt. Ferner die N.T.lichen Schriftsteller, nehmen wir sie als geborne Palaestinenser an, waren an diesen Typus gewöhnt, nun entstand die Gewöhnung an das Griechische erst mit dem Eintreten in das öffentliche Leben, ja Manchen erst, als ihre Verkündigung des Christenthums außerpalaestinensisch wurde. Es ist nämlich nicht vorauszusetzen, daß z. B. Petrus solle ehe er zu Christus kam, vollständig des Griechischen unkundig gewesen sein, aber daß er mehr gewußt als für das nothwendigste Bedürfniß ist auch nicht anzunehmen, und ebenso im Zusammensein mit Christo war es nur eine Ausnahme wenn das Griechische ihm vorkam, nun wird seine apostolische Thätigkeit außerpalaestinensisch, da soll er denn das Griechisch Sprechen oder Schreiben aus der bisherigen Kenntniß zusammensetzen und seiner Uebung und da bleibt er denn dem Ächten fremd. Wollen wir dies als das Gemeinsame feststellen, daß das Griechisch erst habituell geworden nachdem das Denkvermögen sich entwickelt, da kann das Griechisch nie zu einer Entwicklung gekommen sein, die sich leicht an das Nationale hätte anschließen können. Haben wir nun überall auf gleiche Weise zu sagen, der Gebrauch der Partikeln und Alles, was dazu gehöre im Griechischen des N.T. sei aus dem Hebraeischen übertragen? Aber gleich ist das durchaus nicht anzunehmen sondern je nach dem Talente Jedes und dem Grade seiner Uebung, werden Differenzen sich hier bilden. Darum haben wir bei Paulus mehr Griechisches vorauszusetzen und es fragt sich nur nach dem eigentlichen Kennzeichen, Maßstabe; diesen werden wir finden: weil der Unterschied beider Sprachen wesentlich im Periodischen des Einen und dem Abgebrochenen des Andern liegt, so, jemehr wir in einem neutestamentlichen Schriftsteller Perioden haben, je mehr können wir glauben, daß er sich die Griechische Sprache so angeeignet, daß er in ihr denken konnte, sonst würde er übertragen haben periodisch, was er nicht periodisch gedacht hatte. Je periodischer also eine Schrift ist, je mehr können wir bei den formellen Sprachelementen auf das Griechische zurückgehn, je weniger periodisch, je abweisender er sich darstellt um so mehr auf das Ebraeische zurückgehn und fragen, welcher Ebraeischen Form oder Partikel soll dies wohl
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entsprechen? Nun aber müssen wir uns diese Regel doch auch wieder begrenzen. Es gibt gewisse Sprechweisen, die sich im gemeinen Leben bilden, wie sich auch dergleichen in der Griechischen Sprache finden werden, die aus diesem herrührt, aber in dieser Beziehung werden sie nur nach Analogieen im Ebraeischen in Palaestina gebildet sein. Dem Grundsatz von dem wir ausgegangen, sind diese Maximen nicht gemäß, aber durch ihre Geltung haben sie das Recht erlangt nicht durchaus übergangen zu werden sondern daß sie auf ihrem eigentlichen Gebiet untersucht werden. Das Erstere ist eine völlig allgemeine Maxime und betrifft die materiellen Sprachelemente wie die formellen und unter Jenen sowohl die Subjects als die Praedicatswörter, als die beiden zugehörigen. Die Maxime ist diese: Man muß im N.T. durchaus niemals einen uneigentlichen Gebrauch zulassen, wo es irgend möglich ist, ist der eigentliche Gebrauch geltend zu machen. Sie setzt nun voraus, es gäbe Fälle, wo man das Eine wie das Andre denken könne, beides aber natürlich einen andern Sinn gibt, da sagt nun die Regel, sei das Eigentliche jedesmal vorzuziehn. Hiedurch sind solche Fälle nun schon ausgeschlossen, wo der uneigentliche Gebrauch bestimmt indicirt ist, wo Etwas bestimmt parabolisch und metaphorisch ausgesprochen. Fragen wir nun, worauf diese Maxime beruht, so erscheint dieses: Wenn wir den Act des Schreibens und Sprechens als das Heraustreten des Denkens betrachten, nun aber zugeben daß nicht in allen Fällen mit absoluter Nothwendigkeit der Ausdruck durch den Gedanken bestimmt sei, so daß derselbe Gedanke könnte wiedergegeben werden durch einen Ausdruck, der in seinem eigentlichsten Sinne und Sprachwerthe genommen werde, und noch durch einen andern Ausdruck, so soll man voraussetzen, das N.T. besonders habe Das an sich, daß der Schriftsteller immer den eigentlichsten Ausdruck dem uneigentlichen im Gebrauche vorgezogen. Auf diese kyriolejia legten die Alten schon großen Werth, das heißt auf den Verlauf der Rede in eigentlichen Ausdrücken; wir müssen aber sagen, für verschiedene Fälle ist die Anwendung derselben verschieden; wie es sich um Etwas handelt, was eine bestimmte Uebereinkunft werden soll zwischen mehren Personen, was also auf die möglichste Bestimmtheit ankommt, ist Jenes nothwendig, eben weil es leichter ist, dann den Localwerth zu bestimmen, und die Einigung leichter ist bei Eigentlichem oder bei Bildlichem. In wiefern gehört dazu das N.T. und mit welchem Rechte wird diese Maxime gegeben? Einmal geht man davon aus, daß man von dem Uneigentlichen gewöhnlich nur dann Gebrauch macht, nicht wenn der eigentliche Ausdruck in der Sprache fehlt, 5–6 Dem Grundsatz] Der Grundsatz
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sondern wenn er nicht gegenwärtig ist, führt man nun die Abfassung des N.T. auf den heiligen Geist zurück, so postulirt man die Allgegenwärtigkeit der Sprache, dann könnte das Eigentliche nicht in dem Augenblicke da sie es heraus gaben, gefehlt haben den Aposteln. Es gibt noch einen Gesichtspunkt, von dem derselbe Satz ausgehn kann, wenn man sagt, die N.T. Schriften sind gerade eben so bestimmt, eine genaue Darstellung der Wahrheit zu geben, wie ein Contract bestimmt ist die Verbindlichkeit beider Theile genau zu bestimmen, und so muß bei beiden dieselbe Regel gelten und daher sind lauter eigentliche Ausdrücke nothwendig, wenn nicht die Schrift ihrem Zwecke nur unvollkommen entsprechen soll. Dies kann nun auch ohne jene Theorie in gewissem Sinne zugegeben werden, doch müssen wir bestimmte Grenzen aufstellen, und wir sagen: Also insofern und an solchen Stellen, wo es auf die Darstellung solcher Wahrheit ankommt, wird diese Regel gelten, – aber gerade bei der eigenthümlichen Beschaffenheit des N.T.’s läßt sich deshalb so gut wie auf Nichts reduciren. Betrachten wir die Art, wie in den Paulinischen Auseinandersetzungen, die Worte dikaiow, dikaiosynh und dikaioysûai gebraucht werden, so sagen wir, das sind eigenthümliche ÐchristlicheÑ Vorstellungen von einem Verhältniß des Menschen zu Gott wie es nur durch das Christenthum entstanden, und wie steht es nun mit dem Gebrauche dieser Ausdrücke? Wie sie zugleich auf gewisse Weise polemisch sind haben sie bestimmte Beziehung auf den alttestamentlichen Gebrauch, und wenn das wahr ist, daß im Christenthum das Verhältniß des Menschen zu Gott auf eigenthümliche Weise gefaßt wrid, wie hat dieses durch die Sprache ausgedrückt werden können? Sollte es streng kyrivw geschehen, so hätten neue Wörter erfunden werden müssen, weil die Vorstellungen neu waren, das geht nicht, so konnten sie nur auf indirectem Wege dargestellt werden, doch ist das Verhältniß auch nicht so, daß man sagen könnte zu den Aposteln, sie hätten so jene Worte gebraucht daß sie gar nicht ihrem frühern Sinne ähnlich wären; sie sind nur anders gewendet und müßten sehr potenzirt werden; die näheren Bestimmungen nur werden in dem Ausdrucke „ihr könnet nicht werden dikaioi envÂpion toyÄ ûeoyÄ“ aufgehoben und so der Hauptbegriff verwandelt. Für einen jeden jüdischen oder ursprünglichen Leser überhaupt war dies nun ein uneigentlicher Gebrauch des Ausdrucks, und er mußte sagen: der Apostel gebraucht dikaiosynh in anderm Sinne als wir, das ist aber doch eigentlich der uneigentliche Gebrauch, und gerade aus der Darstellung der Hauptwahrheiten im N.T. können wir ihn nicht verbannen, weil sie nur durch ihn dargestellt werden konnten. Will man diese Maxime wie gewöhnlich anwenden, so wird man die Auslegung gänzlich verfehlen, und wirklich hat
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sie schon so viel Uebles hier gestiftet, da sie den dogmatischen Werth aus dem N.T. gar nicht von dem im alten Testamente unterschieden, da doch Vieles, was sich auf dies politisch theokratische Verhältniß des alten Bundes bezog, gänzlich modificirt werden mußte. Geht man ferner von dem Satze aus, die Erkänntniß der göttlichen Wahrheit käme aus dem N.T., so müssen wir das zugeben, aber mit großer Beschränkung. Es ist nämlich sehr klar, daß das, was wir im N.T. finden nicht das Ursprüngliche war, denn Andres war ihm schon vorangegangen, weil der Schriftsteller das Mündliche zur Basis hatte; das Schriftliche ist also nicht die ursprüngliche Lehre und so entstehn zweierlei Möglichkeiten, das Schriftliche ist entweder Erläuterung oder weitere Ausführung, oder Einschärfung in Beziehung auf die göttliche Kraft des Christenthums, und auf beiden Gebieten braucht die kyriolejia nicht so bestimmt zu sein, als wo man sich auf ursprünglichem Gebiete befindet. So ist also die Maxime von gar keinem Werth für das N.T., sondern die Frage ob Etwas eigentlich oder uneigentlich gebraucht sei, kann im N.T. nur ebenso wie bei jedem andern Schriftsteller aus dem Zusammenhange erklärt werden, ein Uebergewicht hat in dieser Beziehung das N.T. gar nicht. Alle, die nun von ihr ausgegangen, haben zugegeben, daß es uneigentliche Ausdrücke gäbe, und nun fragen wir, woran sie denn zu erkennen? Antworten sie dadurch, daß sich im ersten Processe des Auffassens dieses uneigentliche als der unmittelbare Localwerth darstellt, wohl! wenn ihr nun aber zweifelhaft seid, so fehlt dieser unmittelbare Localwerth, und die hermeneutische Aufgabe soll ihn doch ergänzen, da wäre es ja verkehrt, im Voraus eine Maxime aufzustellen, sondern indem man weiter geht, ist der Zusammenhang des Ganzen und das Aehnliche in Betracht zu ziehn, und so müssen wir sagen, solche Maxime dürfe nicht sein, vorher darf Nichts festgestellt sein, Alles muß sich erst im Fortschreiten ergeben. Uebrigens auch von dem andern Gesichtspunkte aus angesehn, daß der Göttliche Geist in sie hinein und aus ihnen gesprochen, so viel muß zugeben werden, daß er ihrer bestehenden Bildungsstufe, und den sie umgebenden Verhältnissen gemäß habe sprechen müssen. Die andre Maxime ist die, welche sich mehr auf die Differenz des quantitativen Werths der Ausdrücke bezieht. Es handelt sich hier nicht um die Sprachelemente, von denen schon die ältesten Sprachforscher und Logiker gesagt, daß es Ausdrücke gäbe, die ein mehr oder minder zulassen, also nicht von Zeitwörtern und Eigenschaftswörtern, welche die Differenz des Grades involviren, sondern es gibt auch quantitative Differenzen der Localwerthe, die durch ihren Zusammen21 Auffassens] folgt sich
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hang bestimmt werden. Fassen wir nun ins Auge, daß die Sprache in ihrem Gebrauche auch musicalischen Werth habe neben dem logischen, nämlich den des Rhythmischen und Euphonischen, und daß dieses in verschiedenen Fällen ein Verschiedenes sei dem Grade nach doch aber auf gewisse Weise beim Gebrauche immer berücksichtigt werde. Denken wir uns nun eine Periode die aus einer Anzahl verschlungener aber coordinirter Sätze besteht, so müssen diese in einem gewissen Zusammenhange stehn und es ist mißfällig, wenn dieses nicht beobachtet wurde. Nun ist es aber sehr oft der Fall, daß Einer der Sätze bedeutend weniger ausgedehnt als die übrigen ist, und so der Rhythmus verletzt wird, dann füge ich ihm hinzu, was freilich eine Bestimmung hat, aber da es auch fehlen konnte, so muß es auch weit weniger Werth haben, als wenn es in Sätzen vorkommt, in welchen Alles, somit auch dieses selbst, nothwendig ist. Beachten wir dies nicht, so mißverstehn wir den Schriftsteller, und in jedem solchem Falle ist der Werth eines Ausdrucks verringert, er nähert sich dem in logischer Beziehung Abundirenden, das streng genommen in verständlich abgefaßter Rede nicht vorkommen kann. Ebenso steht es mit dem Euphonischen. Ein gewisser Ausdruck kann im Zusammensein mit andern einen Uebellaut hervorbringen, obwohl jedem Laut einzeln dieses Ueble nicht inwohne, nur in dem zu häufig hinter einander Vorkommen kann solcher Eindruck bewirkt werden. Mag es nun auch keine eigentlichen Synonime geben das heißt, verschiedene Elemente die nicht vollkommen gleich wären, es soll auch nicht 2 verschiedene Elemente geben, die mit einander verwechselt werden können oder bestimmte Stellen; ohne daß eine Modification der Gedanken bewirkt werde; finde ich aber einen Ausdruck, bei dem mir sogleich ein andrer ähnlicher einfällt, so werde ich fragen, warum hat der Schriftsteller diesen hier vorgezogen? Gibt denn der Zusammenhang an, daß gerade dieser Ausdruck nothwendig war, so erkenne ich, er hat hier seinen höchsten Werth, weil die Differenz des Andern eingeschlossen ist; hat ihn aber der Schriftsteller nur gewählt, weil der Andre einen Uebellaut hervorgebracht hätte, so hat er nur geringen Werth, denn die Differenz vom andern soll nicht in diesen eingeschlossen sein, er soll mit Jenem gleich gelten. Das sind quantitative Differenzen. Wenn nun in einem Ausdrucke die Differenz desselben von einem andern mitgedacht werden soll, so hat der Ausdruck einen gewissen Nachdruck, ist emphatisch, soll die Differenz nicht mitgedacht werden, sondern wenn es logisch gleich viel gewesen, ob der Eine oder Andre dastand, so ist das Emphatische verschwunden, der Ausdruck ist sogar in 13 welchen] welchem
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seinem Werthe verringert, es hätte eben so gut der andre dastehen können, wie dieser, sie sind vollkommen gleich geltend. Das heißt, sein eigenthümlicher Werth ist null, er hat nur einen unbestimmten, allgemeinen. Dieser Gegensatz ist gegeben und durch die Duplicität der Sprache bedingt. Doch ist diese nicht überall gleich beachtet und in vielen Gattungen muß das Rhythmische und Euphonische weit mehr beachtet werden, denn hier allerdings erfoderte es die Art und Weise des Uebellauts und des Rhythmischen ein Mißverstehen nicht zu scheuen. Aber auch in dem Strengsten wird der musicalische Einfluß nicht null sein und wo er eintritt, werden auch dieselben Wirkungen sein. Nun ist von Einigen die Maxime hier aufgestellt, Alles so emphatisch wie möglich zu verstehn. Das ist nun eine Maxime, die an und für sich durchaus nicht verständlich ist und wir müssen fragen, wie man dazu komme zu verlangen, in diesen Büchern eine Maxime a priori aufzustellen. Der Schlüssel liegt hierin: Es soll ausgesagt werden, die N.T. Bücher hätten solche Beschaffenheit, daß Nichts anders angesehn werde, Nichts das von anderm Gesichtspunkte aus ausgegangen betrachtet werde, als von dem, Wahrheit aufstellen zu wollen, und die reine, göttliche. Gibt nun das N.T. zu erkennen, daß es so beschaffen? Eine Untersuchung wird folgende Resultate geben. Es sind Stellen, die im Vergleiche mit andern einen rhetorischen Charakter haben und andre, die den musicalischen Elementen auffallend Spielraum geben, wo Wortspiele und par isa Gleichklänge in verschiedenem Sinne und Bedeutung häufig sind, wo das musicalische Element also hervorzuheben ist, und beides finden wir gar zu häufig in den historischen Schriften, wo sich also das musicalische Element geltend gemacht hat, und die Maxime auf das bestimmteste gegen die offenkundig daliegende Beschaffenheit der N.T. Bücher streitet. Was den emphatischen Gebrauch überhaupt angeht, so ist wohl klar daß schon der gewöhnliche Gebrauch im Vergleiche mit einem verringerten emphatisch erscheint, doch ist diese Gebrauchsweise wieder die gewöhnliche wenn es noch eine höhere gibt, also ist es eine sehr relative Vorstellung. Eine der Hauptwendungen dieses Ausdrucks bezieht sich darauf, daß jeder terminus coordinirte neben sich hat, mit denen er gleich gewissermaßen dann aber auch wieder verschieden ist, dann aber auch auf das Verhältniß des Unterordnens, wo der allgemeine Begriff oft so steht, daß da ein specieller stehn könnte und der Leser soll dann sich das ergänzen, wie der allgemeine Begriff hier anzuwenden sei. Ferner sind Fälle, die ganz außerhalb liegen, so wenn in einem Ausdrucke das, was wir Anspielung nennen liegt, was nur im Verhältnisse mit den 7 des] den
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übrigen Elementen eigentlich liegen kann, so hat das Wort noch einen additionellen Werth und kann als emphatisch gedacht werden. Die Stärke und Verringerung des Werths eines Ausdrucks sind der Gegensatz, aus dem die Emphasis erklärt werden kann. Nun hat man in Beziehung auf das N.T. jenen Canon aufgestellt, daß in der heiligen Schrift Alles so emphatisch müsse genommen werden als möglich, das heißt jedem Ausdruck müse der größtmögliche Werth beigelegt werden. Ist nun die Emphasis etwas dem N.T. Eigenthümliches, oder kommt sie auch in andern Fällen vor wo sich dann Analogieen für das N.T. finden würden? Betrachten wir die Maxime in ihrer Allgemeinheit so müssen wir sagen, es gibt in der Composition selbst Differenzen, die auf das Eine oder Andre hinweisen, nämlich der Streit von dem man hier ausgehn muß, ist die Identität zwischen Denken und Reden, aber diese läßt einen sehr freien Spielraum zu, so daß wir sagen können, zu demselben Gedanken kann ein größeres oder geringeres Material consumirt werden. Genau genommen müßte man sagen, wo mehr Worte sind, [finden] sich auch mehr Gedanken, weil jedes Wort ein Ausdruck ist, allein wir können Fälle uns denken, in welchen in beschränkterer Materie Alles gedacht werden kann, was nur durch ein größeres ausgedrückt werden konnte, wenn nur die Vorbereitung gemacht ist, daß der Leser das Fehlende hinzudenke, so wird dasselbe erreicht, als wenn es da wäre und ein größeres Material gebraucht wäre. In diesem beschränkten Materiale haben also die Ausdrücke, die ich hinzudenken kann vermöge des Zusammenhanges, was in dem Letztern ausdrücklich gegeben ward, und so lassen sich nun bei Anwendung dieses Verfahrens in verschiedenen Fällen verschiedene Methoden denken. Daher wird es denn Fälle geben wo der Canon anwendbar ist und wiederum Fälle, wo das Entgegengesetzte anwendbar ist, und da fragt es sich nun, wie steht es mit dem N.T. Zuvor ist jedoch in Betracht zu ziehn daß auch Ausleger sind, die nicht geradezu zwar die Maxime aufstellen, das N.T. aber doch so behandeln, daß man sieht, wie sie rein die entgegengesetzte Maxime gebraucht haben: man solle nämlich bei allen N.T. Ausdrücken so wenig als möglich denken, dies geschieht besonders bei sehr Vielen der neuern Interpreten und wie Jene die Tendenz hatten, das ganze kirchliche Lehrgebäude darin zu finden, was nur mit großer Mühe und ungeheurer Emphasis gefunden werden kann, so wollen Diese alles eigenthümlich Christliche heraus haben. So werden wir sagen, die eine Maxime sei Ausdruck der einen Einseitigkeit, die andre der andern und vorläufig taugen beide nicht, wenn man ihnen nämlich eine gewisse Allgemeinheit zuschreiben will. An demselben N.T. Schriftsteller haben wir häufig Beweise beider. In den Briefen des Apostels Pau-
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lus finden wir Stellen, die sich auszeichnen durch rhetorische Fülle, und das sind gewöhnlich Schlußstellen an bestimmten Abschnitten; legen wir daran den früher aufgestellten Maßstab, so müssen wir sagen, da hat man einen Ort, wo man schon durch den musicalischen Einfluß eine gewisse Fülle der Sprache anzunehmen und somit einen geringern Gehalt der Worte, es werden sich da ähnliche Ausdrücke nahe bei einander finden, die gar nicht different sondern Tautologien sind, und hier eine Emphasis anzunehmen wäre durchaus falsch. Bei demselben Schriftsteller finden wir auf der andern Seite solche oÆjyÂmvra und was damit verwandt ist, ein gewisses Spiel mit den Bedeutungen desselben Ausdrucks, solche Stellen haben eben so bestimmten rhythmischen Charakter als jene, aber das Rhythmische steht hier scharf gegeneinander und so liegt die Auffoderung darin die Ausdrücke scharf zu nehmen, und wendet man den Canon, der für jene Stellen galt, auf diese an, so verfehlt man den Sinn des Schriftstellers, und was sich hier als tiefsinniges, dort als anmuthiges, zugleich bedeutungsvolles Spiel zeigt, würde sich dadurch ganz und gar vermischen. Sehn wir auf die Stellen wo eine bestimmte Gedankenentwicklung fortschreitet, was bei den Letzteren eben so wenig war, die nur Ruhepuncte inmitten der Rede waren, nicht aber einen Schluß bildeten, so gibt es wieder solchen entgegengesetzten Charakter. Nämlich in dem Ebraeischen finden wir an der Stelle des Periodischen, dessen diese Sprache nicht fähig ist und an der Stelle so scharfen Unterschieds zwischen Prosa und Poesie, dessen sie auch nicht fähig, einen bestimmten Typus, den Parallelismus, welches ein Wiegen der Gedanken ist, so daß es aus Arsis und Thesis besteht, aber er ist mehr rhythmisch als logisch, und die zwei Sätze drücken dasselbe aus, ohne daß Differenz der Modificationen dialektisch will hervorgehoben sein. Haben wir die Sache in diesem allgemeinen Charakter aufgefaßt, so wäre es Spizfindigkeit diese Differenz bestimmt zu unterscheiden, es ist zwar die Meinung, man solle auf verschiedene Weise afficirt werden, und die Sätze haben wohl ein verschiedenes Colorit aber keineswegs den Charakter dialektischer Schärfe. Dies findet sich nun im Ebraeischen im Hymnischen wie im Gnomischen, also in Formen, die auch im N.T. vorkommen können, und wo wir nun diesen Typus im N.T. finden, wird Jeder sagen er sei aus der Ebraeischen Gewohnheit und so wird man dieselbe Strenge nicht anwenden wollen wenn die beiden Sätze entgegengesetzt scheinen. Ist nun aber in dem d i a l e k t i s c h e n Fortschreiten dieser Gegensatz und man wollte unter dem Speziellen das Allgemeine denken, so wäre es unmöglich den Sinn des Schriftstellers zu denken, also kann jene Regel nicht allgemein angewendet werden, beide Regeln haben aber ihr Gebiet, und das muß richtig unter-
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schieden werden. In den formellen Sprachelementen gibt es nun vorzugsweise diese quantitative Differenz; denken wir uns nur den Gebrauch solcher Partikeln im Griechischen wie meÁn und deÁ, wo Sätze, da jene doch adversativ sind, dennoch nicht entgegengesetzt sind, wo sie nur im Gegensatze der Coordination sind, wo sie geschieden aber gleichgestellt werden sollen, so erkennen wir einen verringerten Werth der Partikeln, ohne daß der Gebrauchende es gewußt, uns erscheint es nur so und hier erscheint der Ausdruck richtig, zu sagen, in solchen Fällen haben sie verringerten Werth. Der Gebrauch der formellen Sprachelemente im N.T. mußte nun auch ein andrer werden, denn der Schriftsteller war nicht zum wirklichen Besitz des Reichthums der Sprache gelangt, und konnte es nicht, weil er, wenn auch nicht den Worten nach, ebraeisch dachte, da erhielten die Partikeln andern Werth, denn wie die organische Verknüpfung sich als qualitative Differenz annehmen läßt, so mußte diese Differenz oft hervortreten, wenn der wahrhafte Werth jener Partikeln aufgehoben und sie ganze Sätze verbinden mußten auf ihre ganz uneigentliche Weise. Wollte man da nun einseitig die eine oder andre Maxime anwenden, so würde man in die höchste Verwirrung gerathen, denn auf der andern Seite sind die N.T. Schriftsteller auch in dieser Hinsicht nicht im Besitze der Griechischen Sprache, daß sie nicht genug die Partikeln unterscheiden, und daß also ein ächt Griechischer Schriftsteller eine Partikel nie so gebraucht wie die Schriftsteller des N.T., hier ist ein verringerter Gebrauch und solch Canon also nicht anwendbar. Da kommt es nun [darauf an] die richtigen Scheidungen zu machen, aber so zeigt sich, es gibt keine Regel für das N.T., die nicht von den andern Schriftstellern gilt, und alles Eigenthümliche muß im Grunde doch wieder aus dem Verhältniß des Griechischen zum Ebraeischen, oder aus der Nothwendigkeit, in welcher die Schriftsteller sich befanden durch die Neuheit der Sprache erklärt werden. Das kann sich nur [auf] dies beides beziehn, was irgend anders erscheint, und in andern Fällen anwendbar ist, und diese beiden Puncte bilden eben allein die Spezial-Hermeneutik. Dies hat nun sehr bedeutenden Einfluß auf den richtigen Gebrauch der Hülfsmittel, denn jene einseitigen Maximen finden sich nicht nur bei den Commentatoren, sondern haben auch auf die Hülfsmittel Einfluß. Denken wir uns von jeder Seite ein Lexicon oder Grammatik des N.T., so wird auch nothwendig ein ganz andrer Typus erscheinen, worauf wir dann genauer achten müssen, da sie in solchen Fällen nur sehr vorsichtig zu gebrauchen sind, wenn diese Maximen ihren Einfluß äußern; auf der einen Seite ver16 ihre] ihren
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flacht man, auf der andern erweitert man unnatürlich. Für das eigne Verfahren ist nur der Canon: sobald nicht in der Rede nothwendig auf das Hebraisiren des N.T. Rücksicht zu nehmen und nicht Vorstellungen im Spiele sind, die ganz ausdrücklich das Eigenthümliche der Sprache bezeichnen, so sind gar keine speziellen Regeln anzunehmen, sondern ist sich rein an das Allgemeine zu halten. Worauf dies fundirt ist, ist angegeben worden und das führt nun auf die philologische und technische Seite der Auslegung. Das ist nun auf der einen Seite die Art der Composition, auf der andern den Charakter des Schriftstellers in dieser Art der Composition zu beachten; denn wenn z. B. der Schriftsteller sich an das gemeine Leben hält, so ist das nicht außer Acht zu lassen, und das ist bei den N.T. Schriftstellern der Fall, sie wollten und konnten nicht auf Kunst in der Darstellung Ansprüche machen. Dabei kann man nun nicht eine bestimmte Classification der Schriften machen, weil man niemals historische und didaktische Schriften als rein ansehn kann, wenige unter den didaktischen Schriften enthalten nichts historisches, und keine der historischen ist, in der nicht didaktisches sei, so führt sich die ganze Frage auf den Gegenstand zurück, ob es gewisse Gegenstände gibt, ein gewisser Complexus von Begriffen, die im N.T. vorkommen, worauf die eine oder andre Regel ausschließlich bezogen werden müsse, ÐdamitÑ coincidirt die Beschaffenheit jener einzelnen Stellen (siehe oben) mit dem Gegenstande. Wir werden sagen, wo eine Begriffsentwicklung vorkommt, werden es dogmatische oder moralische Gegenstände sein, wie es sich schon von selbst ergibt, denn die N.T. Schriften erstrecken sich über nichts Andres, und darin liegt ihre Tendenz, somit gehört was unter jenen Formen der Begriffsentwicklung vorkommt zur Haupttendenz und bezieht sich auf jenen Gegenstand, nicht aber ist nun auch was rhetorisch vorkommt außer diesem Kreise, sondern es kann, wenn mit dialektischer Schärfe ein Begriff entwickelt ist, so kann eine Stelle mit rhetorischer Fülle folgen, die dennoch zu Jenem gehört. Also müssen wir dabei bleiben, daß die Form das Hauptbestimmende ist. Betrachtet man die Anwendbarkeit der Regel von einer andern Seite, so tritt etwas ganz Spezielles ein, nämlich dieser Canon hat seinen Grund in der Tendenz, die religiösen Vorstellungen, so wie sie später nach einer langen Reihe von Verhandlungen entwickelt [wurden] im N.T. zu finden. Daraus ist nun von der andern Seite hervorgegangen die Frage die vom Anfang an so gehandelt ist, so ist klar, daß die theologischen Ausdrücke von Zeit zu Zeit andere Bedeutung erhalten, indem man in jeder neuen Verhandlung auf das N.T. zurückgeht 8 einen] andern
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und nun um die Praxis an die des N.T. anzupassen, diese Ausdrücke mannigfaltig gebraucht. Nun ist natürlich, daß immer der Sprachgebrauch, der im Leben gilt auch die Exegese beherrscht, und das wird in Beziehung auf das N.T. befördert durch eine Methode, die mit jenem Verfahren welches den Begriff des Canons nothwendig macht, zusammenhängt, nämlich vereinzelte Stellen nur als Belege anzuführen; da gewöhnt man sich denn bestimmte Ausdrücke mit den jederzeitigen theologischen Verhandlungen zusammenzudenken und sie sich so zu fixiren. Diese Vorstellung bringt man mit; lies’t man sie nun im Zusammenhange und will man sie festhalten, da muß man die ganze Erklärung darnach einrichten. Da ist man sich oft des eigentlichen Ursprungs solches Verfahrens nicht bewußt, wenn man auch nicht unbewußt so verfährt, daher entstehn die Menge künstlicher Erklärungen. Darum ist es nicht möglich zu einem reinen hermeneutischen Verfahren zu gelangen in dieser Beziehung, wenn man sich nicht des Mitgebrachten ganz entschlägt, den theologischen Sprachgebrauch als nicht existirend ansieht und mit gänzlicher Beiseitsetzung aller Postulata, die in spätern Verhandlungen ihren Grund haben, operirt. Die früher angegebene Methode nun: alle die termini, die in jener Beziehung wichtig sind im N.T. und den Kern der canonischen Dignität bilden, müsse man sich in allen ihren Verbindungen im N.T. zusammenstellen, wird gegen jene Verirrungen am ersten sicherstellen, weil man das Verhältniß der einzelnen Gebrauchsweise zu dem Totalwerthe bestimmt dann übersehn kann. Nun ist aber hier die Art und Weise zu betrachten, wie die sprachbildende Kraft des Christenthums in seiner Entwicklung in den canonischen Schriften zu Werke gegangen ist und gehn mußte. Da sind wir zunächst an das Juedische gewiesen, weil sich darauf der christliche Sprachgebrauch gelagert. Zwar ist er nicht aus ihm hervorgewachsen wie nur die es glauben können, die das Christenthum als Modification und Restitution des Jüdischen ansehn, das Christenthum entstand mit Christus und ward ein ganz Andres, als wohl in frühern Messianischen Stellen angedeutet war. Unmittelbar erfunden kann nun in der Sprache Nichts werden, sondern höchstens zusammengesetzt und das Zusammengesetzte modificirt werden, wenn eine Sprache einmal auf einen gewissen Grad der Ausbildung gekommen; höchstens kann sie neue Elemente aus andern Sprachen aufnehmen, nie aber rein produciren; daher war für das N.T. nichts als die Griechische Sprache, wie sie damals freilich in sehr verschiedenen Formen und Zuständen war, gegeben. Solche Elemente die ins hebraisirende noch nicht übergegangen, konnten die 5 welches] welches welches
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Schriftsteller nicht aufnehmen, weil, wie dies dem Heidenthum Eigenthümlichstes war, sie in das mythologische und polytheistische System hineingezogen in bestimmterm Widerspruche standen als das Judenthum, dann aber weil die Schriftsteller als Juden Abscheu vor allem Heidnischen hatten; so blieb ihnen also dasselbe Sprachgebiet als durch welches die Jüdischen Vorstellungen bezeichnet wurden. In solchem Verhältnisse gibt es ein zwiefaches Verfahren, insofern man bei denselben Elementen stehn bleibt. Hat man das nicht im Auge so kann man leicht irren, dieses Verfahren ist nun, einmal bei den gewohnten Gebrauchsweisen stehn zu bleiben und daran nur anzuknüpfen, und zweitens die neue Gebrauchsweise der frühern entgegenzustellen. Das nun ist das historische Verfahren, sofern das Reale die Anknüpfung ist, das andre das dialektische, wo das Entgegengesetzte dominirt und auf den rechten Punkt kann man nur kommen durch Zusammenstellen des Ausdrucks in allen seinen Bedeutungen. Nun ist das gar nicht ein Charakteristisches in Beziehung auf die Person, sondern es gibt Umstände unter welchen Jeder bald das eine bald das andre Mittel gebraucht, dies gibt sich in der Form des Vorkommens zu erkennen. Wenn wir nun sagen, auf diese Weise hat sich in diesem doppelten Verfahren die sprachbildende Kraft des Christenthums manifestirt und alle Ausdrücke für eine religiöse Vorstellung sind darauf zurückzuführen und man muß beachten, wie sie sich auf den Jüdischen gewöhnlichen Sprachgebrauch beziehn. Erinnern wir uns an die große Bedeutung, die in der Jüdischen Frömmigkeit das Opfer hatte und an die [neu]testamentliche Ansicht, daß alles Opfer durch das Christenthum aufgehoben werde, so finden wir hier ebenfalls die Möglichkeit, daß dieses habe geschehn können durch die Erweiterung des Begriffs, indem man anknüpft und andrerseits durch den Gegensatz, indem man sagt, es bestehe jetzt ein Verhältniß zwischen Gott und den Menschen, worin dies seinen Einfluß verloren. Beides konnte überhaupt möglich gewesen sein, doch finden wir das Eine überwiegend, das Andre nur als Resultat. So finden wir die Anwendung auf Christum und als Resultat, daß nun Alle den Hinzugang zum Vater haben ohne durch einen Menschen vermittelt zu sein. So wie man nun die Hauptbegriffe, auf die es hier ankommt, in allen Beziehungen zusammenstellt, so muß man auch absehn können, wie das N.T. jede Vorstellung nach der einen oder andern Methode gebraucht. Am Ende nämlich beruht Alles auf einer Synthesis alles verschiedenen Vorkommens im Worte, auf einer Einheit. Betrachten wir die Hülfsmittel, so erscheinen uns 2 Formen, in denen es bestehn könnte, 33 sein] sehn
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dann muß die ganze Einrichtung eines solchen subsidii eine andre als bisher sein, die andre die systematische, die auf gewisse Weise coincidiren würde mit der N.T. Dogmatik, doch mehr und unmittelbar auf die Sprache bezogen und von dem Lexicalischen dadurch verschieden, daß hier zusammengestellt sind, die den Kern des N.T. bilden, dann die zweiten und dritten Ranges, doch haben weder die lexicalische Literatur noch die Dogmatik diesen Punkt gefaßt, was indeß nicht schadet, da Jeder Einzelne selbst zu Werke gehn und selbst sich solches Hülfsmittel bilden muß. Schwierigkeit macht nun besonders noch im N.T. daß die historische Kritik noch nicht vollzogen ist, sondern noch viele streitige Ansichten sind, obwohl doch dies die erste Foderung ist, wenn die Aufgabe der Hermeneutik soll begonnen werden. Dies ist in Beziehung auf die N.T. Schriften ein sehr einfacher Punkt; nicht so die Unsicherheit der Verfasser, denn wenn man deswegen, weil man sagt, dieser Brief gehört dem Petrus nicht zu[,] eine canonische Dignität ihm raubt, so hat das doch Einfluß auf die Hermeneutik. Die Massen sind zu klein, als daß man z. B. aus dem zweiten Briefe Petri große Erklärungsmittel und Analogieen für den ersten finden könnte, es kommt beim N.T. wenig an auf die persönliche Identität der Verfasser, weiß man nur, daß in ihnen derselbe Sprachgebrauch ist; einige sind freilich von diesem Sprachgebrauche frei, aber im Ganzen können wir sagen, die kleinen didaktischen Schriften hatten denselben und auch die Zeit hat keinen Einfluß, in der sie geschrieben, denn sie sind höchstens um Eine Generation unterschieden, und unmöglich konnten in der bedeutende Fortschritte gemacht werden. Nur der Apostel Paulus hat sein eignes Gebiet und da ist die masse groß genug, daß man bei ihm alle nöthigen Analogieen finde; er steht ganz für sich da; die Andern bilden ein so Ganzes in Beziehung auf die Sprache, daß sie durchaus keine hermeneutische Wichtigkeit in ihrer Verschiedenheit haben. Wollte man zugeben, der zweite Brief Petri sei vom Petrus so bleibt dennoch wahr, daß sein Sprachgebrauch unter dem Einfluß dessen des Paulus gestanden, weil dieser die ersten hellenistischen Gemeinen bildete, und nach ihm also auch der Sprachgebrauch des Griechischen für die Leser fixirt ward, weil die Andern nur auf dieselbe Weise sprechen konnten, wie er; dazu hielt er die Verbindung zwischen den hellenistischen Gemeinden und der Jerusalemer Muttergemeine so fest, daß den Andern dadurch es möglich wurde, auch seine Weise anzunehmen. – Große Schwierigkeit finden wir in dem Zustande der historischen Schriften, wo es so verschiedene Ansichten gibt, wie sie entstanden und wiefern sie Eines seien. Da ist das quantitative Verstehn der Sprachelemente das Leitende und um damit sicher zu sein, müßte jene Aufgabe eigentlich schon
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gelöst sein. Wenn aber nun die Einen meinen, daß alle diese Bücher Jedes unabhängig bei sich entstanden und aus der Hand desselben Verfassers, und die Uebrigen, sagen sie [seien] zusammengestellt aus Früherem und überarbeitet. Durch diese Verschiedenheit entsteht nun die größte Schwierigkeit für die hermeneutische Aufgabe, besonders da gerade durch die Hermeneutik entschieden werden soll, was der Sicherheit ermangelt. Wenn man das gegenwärtig hat, und bei jedem Schritte, den man im Zusammenhange thut auf die Unsicherheit des Zusammenhangs des Ganzen Rücksicht nimmt, wird man sicher gehn können. Man muß mehre Elemente zu der höchsten Wahrscheinlichkeit zu erheben und so den Punkt sich klar zu machen suchen. Einmal ist da nun das Verhältniß der einzelnen Erzählungen zu berücksichtigen und dann das Verhältniß einzelner didaktischer Elemente. Um bei diesem anzufangen; wir haben in den historischen Schriften eine nicht unbedeutende Anzahl solcher didaktischer Stellen, die in denselben als einzelne Reden erscheinen, die unter bestimmten Umständen wären gehalten worden, diese entsprechen aber der Vorstellung gar nicht, und zwar auf ganz entgegengesetzte Weise; sie sind fast alle zu kurz, als daß man sagen könnte, das sei eine Rede die da gehalten ist und doch wollen sie als Reden behandelt sein, dazu ist oft Einzelnes in ihnen gar nicht in dem Zusammenhange, daß man es als solche Einheit ansehn kann. Wie ist nun die Schwierigkeit zu lösen, da das was uns da gegeben ist, nur ein Auszug aus der gehaltenen Rede ist, da konnte denn das Einzelne ÐnichtÑ zusammengehangen haben, und da muß die Interpretation also die Rücksicht nehmen, die Lücken zu finden und nicht für unmittelbare Zusammengehörigkeiten zu halten, was verknüpft ist. Bei Reden aber, wo die Umstände solche Nothwendigkeit nicht in sich tragen, da ist es möglich, daß die Rede nicht ein Ganzes ist, sondern zusammengetragen; in Gesprächen nämlich und andern Gelegenheiten wo eine ganz kurze verlangt wurde finden wir oft übermäßig lange, die dann auch den Charakter der Zusammensetzung an sich tragen. Finden wir nun in solcher Rede verknüpfende Elemente, so müssen wir untersuchen, ob denn da Verknüpfbares sei. Doch ist sich da in Acht zu nehmen, ÐdaÑ diese Elemente wie Sätze so auch Reihen von Sätzen verknüpfen; kann ich nun hermeneutisch nachweisen, daß eine Reihe von Sätzen an eine andre geknüpft werde, der Zusammenhang ergibt aber, daß sie gar nicht zusammengehörten, so erkenne ich eben, daß hier eine zusammengesetzte Rede sei. Da sie nun aber auch Sätze verbinden so muß ich zuvor sehn, ob das verknüpfende Element nicht in diesem Ver24 Lücken] Lügen
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hältnisse sei, vernachlässige ich dies, so kann eine Rede die ein Ganzes ist mir zerstückelt erscheinen. – Eine andre Schwierigkeit ergibt sich nun aus dem Zusammenhange der historischen Elemente. Daß man in ihnen kein Continuum hat ist offenbar, sonst würde das ganze öffentliche Leben Christi so zusammenschrumpfen wie jene Reden, nun finden wir aber den Unterschied, ob es bemerklich gemacht ist, ob ein genauer Zusammenhang zwischen dem Einen und Andern war oder eine Lücke ist und ob das nicht bemerklich gemacht wird. Das Evangelium Johannes macht es immer bemerklich und da ist genau zu unterscheiden, wo ein Continuum ist, und wo dies anhebt und aufhört; das ist bei den Andern nicht und da ist auf die Beschaffenheit der verbindenden Formeln zu achten; doch nicht so daß sich die Sache unterscheiden läßt, und ob da ein Verschiedenes ist, muß erst durch Vergleichung ausgemittelt werden und da muß man davon ausgehn, wo die Erzählung bestimmtes ergibt und danach sind die streitigen Stellen zu betrachten. So kommt die Hermeneutik der historischen Kritik zur Hülfe, die doch schon ihr Werk vollendet haben sollte. Diese Fragen könnten erledigt werden, wenn wir äußere Zeugnisse genug hätten, so daß wir vor der Auslegung schon wüßten, wie es mit dem Zusammenhange der Schriften stehe, dann wäre der Proceß der Hermeneutik ein reiner, jetzt aber haben wir nur die Schwierigkeit, nicht die äußern Zeugnisse. Hier haben wir wieder einen Punct, wo es sich zeigt, daß die Hermeneutik nicht sicher bauen kann, weil sie kein vollkomnes Fundament hat, darum auch sind die beiden Seiten derselben so abhängig von einander, wie es nicht dürfte, wenn wir unserm Principe folgen sollen, sondern Jede sollte zulänglich sein für sich. Denn wir können dies nicht allein aus dem Sprachlichen betrachten sondern auch in psychologischer Hinsicht müssen wir es untersuchen. Ueber dieses Verhältniß beider Seiten und die Art und Weise, wie bei der grammatischen Seite wir zu Werke gegangen, müssen wir uns noch erklären. Es soll jede Seite so für sich vollbracht werden können, daß die andre unnöthig ist, und nur wenn man sich dies zum Ziele gesetzt, kann die Aufgabe vollkommen gelöst werden, und die Probe, daß das eine Verfahren geglückt ist das, wenn durch das Verfahren der andern Seite dasselbe sich ergibt. Doch unserm gewöhnlichen Verfahren nach finden hier große Differenzen Statt: wir können uns denken, eine Schrift in sprachlicher Hinsicht verstehn zu können so daß wir sagen, wir haben hier ein Maaß, um die Gedankenverknüpfung des Schriftstellers, diese seine psychologische Eigenthümlichkeit und Art der Darstellung vollkommen zu verstehn. Das nun ist leicht 14 bestimmtes] korr. aus un
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zu denken, und wenn alle Schwierigkeiten, die uns bei dem N.T. vorkommen, fortfielen und wir Hülfsmittel ÐhättenÑ ganz schwierige Stellen mit durchaus unschwierigen vergleichen zu können, da könnte man nach einer genauen Uebersicht, nach einer Eintheilung des Ganzen den Hauptvorstellungen nach, und Unterscheidung der Haupt und Nebengedanken wie der Erläuterungsmittel, ferner nach Erklärung der materiellen und formellen Elemente, den Verfasser in seiner Eigenthümlichkeit leicht erkennen. Wenn auf der andern Seite die Schrift als Thatsache im Leben des Schriftstellers zu erklären ist um zu verstehen, wie er zu dieser Gedankenverbindung gekommen, und welchen Werth für ihn das Einzelne habe und welche Zwischengedanken hindurchgegangen, so werden wir fragen, wie ist das unabhängig zu thun, so daß ich sagen könnte, weil ich Jenes genau weiß so kann ich auch die Schwierigkeiten der Sprachelemente lösen, und erkennen, das gefundene könne einzig und allein der Gedanke des Verfassers gewesen sein. Dies scheint nun schwieriger als Obiges und mehr scheint vom Sprachlichen vorauszusetzen als bei dem Verfahren auf dieser Seite. Das scheint jedoch nur, versteht sich, daß Kenntniß der Sprache vorausgesetzt werde, doch wie diese hier vorauszusetzen ist so ist auch bei der Sprachlichen Seite die Identität der allgemeinen Denkgesetze zwischen dem Schriftsteller und uns vorausgesetzt, und also auch hier eine Voraussetzung von der andern Seite her, und es kann doch allein in der Sicherheit über diesen Punct diese Seite vollkommen ihre Aufgabe lösen. Wenn wir nun überlegen, wie wir bisher zu Werke gegangen, so erkennen wir, wie oft wir Bezug genommen auf diese psychologische Seite, so daß wir nicht sagen können, daß auch nur das Einzelne der sprachlichen Seite unabhängig von der psychologischen Seite durchzuführen sei. Das beruht einmal auf dem Allgemeinen, daß wir uns nicht enthalten können, beide Beziehungen zu verbinden weil wir sonst den Zusammenhang der Sprache mit dem Denken aufgeben müssen, wenn wir das nicht wollten, müßte man des fortgehenden Lesens sich ganz enthalten. Da müßte man zuerst die vorkommenden Sprachelemente isoliren, vom Verfolgen der Gedanken abstrahiren, woraus sich dann das Verhältniß schließen lassen würde zwischen diesen einzelnen Vorstellungen und dem Ganzen und ich bin also vom Anfang gar nicht ausgegangen, sondern von der allgemeinen Uebersicht; hierbei ist nun wohl zuweilen ein reiner calculus zu denken, der die sprachlichen Schwierigkeiten löse. Das ist die isolirte Seite der sprachlichen Aufgabe, wo man nur lexicalisch und grammatisch verfahren kann und an die die Thatsachen und das eigentliche Verhältniß 9 um] und
38 kann] getrichen und mit einem unleserlichen Wort überschrieben
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der einen und andern Stelle nicht gedacht hatte, doch vermag Niemand so zu verfahren, wenn er verstehen will, sondern dahin könnten wir nur kommen, mit Festhalten des fortlaufenden Fadens und so werden wir denn auch auf die andre Seite hinübergehn. Auf dieser Seite scheint jedoch nicht zu solcher Lösung zu kommen zu sein. Aber wollten wir uns den Fall denken und fixiren, wo gar keine sprachliche Schwierigkeit wäre, also eine Vorstellung aus einem Gebiete unsrer Sprache, das wir durchaus durchdrungen, und machen uns dann den Gedankengang des Schriftstellers vollkommen klar, so daß wir jeden Gedanken in seiner Natürlichkeit und Nothwendigkeit fassen und sagen, dieser Mann in diesem Momente konnte nur dieses und gerade so sagen, wogegen, wäre er ein Andrer gewesen, so wäre dieses auch ein Andres gewesen. Da müßten wir also im Allgemeinen und Besondern davon ausgehn, daß es Fälle gäbe, wo nicht hinreichend für die Hermeneutik dargeboten wäre um ein völliges Resultat zu gewinnen und wo man hätte auf die psychologische Seite hinübergehn müssen; und doch sollte jede Seite allein gebraucht werden, und um den Einfluß der andern Seite auszuschließen hatten wir ein Verfahren das eigentlich nicht von Anfang bis zum Ende ginge fingirt, aber es war auch nur fingirt, denn da auf den Gedankengang das Psychologische geht, so können wir es nicht unterlassen in der Wirklichkeit ihn in Betracht zu ziehn. Will man nun durch die grammatische Seite allein die Interpretation zu Stande bringen, so kann man das nur durch elementarische Construction; die Auflösung eines Gedankens in seine Elemente ist die vollständigste Zerstörung des Psychologischen und die vollständigste Aufhebung in die Sprache hinein. Da müssen sich die Elemente bestimmen, wie es innerhalb eines größern Satzes oder Zusammenhanges geschieht, die andern Stellen haben nur den Werth von Parallelen. Wenn man so den Sinn der einzelnen Sätze abgesehn von ihrer Stellung herausbekommt, so kann man dann ein Fortschreiten des Gedankengangs zu finden suchen, um so das Psychologische zu gewinnen. Sollte dies ausgeübt werden, so ists immer am interessantesten, und es sind solche Fälle die besten wo das Psychologische Schwierigkeit hat, doch ohne daß solche Unsicherheiten wie die historische Kritik des N.T. im Spiele wären. Von dem Briefe an die Roemer können wir es als anerkannt ansehn, daß die psychologische Seite ihr Werk noch nicht vollbracht, und es gibt noch sehr viele Sätze deren Zusammenhang noch gar nicht aufgefunden worden. Da sind noch ganz entgegengesetzte Ansichten von dem Gedankengange und der unmittelbaren Beziehung auf einander: Wenn nun vorher durch Zusammen7 also] folgt ein 〈Verfahr〉
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stellung der Hauptelemente in allem ihrem Vorkommen der Gesammtwerth jedes Ausdrucks in diesem Briefe zusammen mit den Differenzen bestimmt werden können, dann müßte auch entschieden werden können, ob z. B. manche schwierige Fragen von dem Apostel selbst gestellt sind, oder ob sie seiner Identität ganz fremd sind. In jenem Falle müßte der Localwerth der darin vorkommenden Ausdrücke mit den übrigen Fällen übereinstimmen, im andern Falle müßte er von den Uebrigen verschieden sein. Nachdem wir nun die Grammatische Interpretation so verfolgt haben müssen wir uns das Letzte als das Höchste denken, das sie zu erreichen vermag, und sagen, auf diesem Punkte muß sie das Andre durchaus ergänzen. Wir machen allgemein einen Unterschied, ja relativen Gegensatz zwischen leichten und schweren Gedankenverbindungen, und das kann subjectiv so weit gehn, daß der Eine sagt, ich kann mir nicht denken, daß man so combiniren kann; bis ich die Unmöglichkeit einer andern Combination sehe, bin ich nicht zufrieden; ist nun der Zusammenhang, in dem Jenes vorkommt grammatisch vollendet, so können wir sagen, du mußt es glauben, daß es solche Combination gibt, weil sie hier grammatisch gegeben ist, sie hat nur diesen Sinn, und so sind die Resultate beider Seiten verknüpft und es löst die Grammatische Seite alle Räthsel der psychologischen Aufgabe. Fragen wir nun was müssen wir in dieser Hinsicht als Ziel der psychologischen Aufgabe ansehn? Es ist das ein Fall, an dem es sich wohl am besten erörtern lassen möchte, wo ein ähnliches grammatisches Räthsel wäre, und Jemand sagte, ich kann nicht glauben daß das Wort ÐjetztÑ, nachdem ich seinen Werth kennen gelernt, solchen Werth haben solle, den es hier hat, bis ich keine Möglichkeit sehe, einen andern Werth zu finden. Hat die psychologische Methode ihren Gang fortgesetzt vom Anfang bis zum Ende und von einem Gliede bis zum andern und alle die Abstufungen durchgemacht, so muß ich sagen, es ist nicht möglich, daß eine andre Verbindung hier möglich sei, weil irgend eine andre im Widerspruche mit den Uebrigen stehn würde, und deshalb mußt du diesen Localwerth dort anerkennen. In ihrer Vollendung für sich muß die grammatische Interpretation eine Quelle sein aus der sicher die psychologische Interpretation schöpfe, und psychologische Interpretation der ÐsichersteÑ Quell sein in jedem Falle, aus dem die unsichere grammatische schöpfe. Fragen wir, von was für Voraussetzungen muß diese Seite der Interpretation ausgehn, so sagen wir, wenn wir nicht die Sprachkenntniß voraussetzen, so kann darüber nicht gesprochen werden, weil mir sein innerer Proceß nur durch die Sprache gegeben ist. 22 wo] wohl gestrichen
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Sodann müssen wir uns vorläufig alle Schwierigkeiten auf der andern Seite wegdenken, denn die Aufgabe ist hier die, es soll mir deutlich werden, den Zusammenhang einer Rede als Thatsache im Leben des Redenden zu verstehn, was soviel bedeutet, als, wie wir bei der grammatischen Interpretation sagten, daß, wenn wir scharf sondern wollten, der Verfasser müsse uns ganz gleichgültig sein, wir betrachten alles Geschriebene und Gesprochene nur als Leben der Sprache, während wir hier jeden Act als Act des Lebens der Sprache ansehn wollen, aus dem wir dann auch den Verfasser erkennen können. Hierin liegt aber das Ignoriren der Identität eines Complexus als Einheit einer Handlung, und wird dieser nur betrachtet als Complexus von Sprachelementen. So sagen wir auch hier, wir wollen auf die Sprache nicht weiter achten, und abstrahiren, welchen Sprachwerth ein complexus von Sprachelementen habe und wie er sich zur Totalität der Sprache verhalte; hier ist die Aufgabe gegeben, jeden gegebenen Complexus als ein Lebensmoment eines bestimmten Menschen aufzufassen, so daß wir sagen können, wir wissen doch was er mit einem jeden dieser einzelnen Gedanken gewollt habe, wie sich jede einzelne zu dieser Gesammtheit verhalte, als wäre es unser eigner Lebensmoment. Wir haben uns in ihn vollständig hineingelebt. Nehmen wir noch vorweg, daß die Sprache uns ganz durchsichtig sein müsse, während die Schwierigkeiten im Fortschritte der Gedanken immerhin groß sein mögen, dann fragt sich, was haben wir für Mittel diese Aufgabe zu lösen? Da müssen wir auf das äußere Verhältniß zweier Individuen gegen einander zurückgehn, von denen der Eine spricht, der Andre hört; wenn wir uns da die Frage vorlegen, ist das Etwas das sich von selbst verstehe, daß wenn die Durchsichtigkeit der Sprache vorliege auch den Denkact Jeder verstehe, wie ihn der verstanden, von dem er ausging, versteht sich nun das von selbst? Nimmt man die Voraussetzung an, daß bei solcher Gleichheit der Sprache, das Verfahren im Denken in Zweien wesentlich dasselbe sei, so ist die Aufgabe zu lösen: Fängt es aber damit an, daß das Denkverfahren des Einen anders als das des Andern ist, so versteht es sich nicht nur nicht von selbst, sondern es ist auch nicht abzusehn, wie die Aufgabe zu lösen sei. Nehmen wir das Eine in seiner Schärfe so ist unsre Aufgabe keine Aufgabe weil sie da ist wo die Auflösung sich von selbst versteht, das Andre in seiner Schärfe genommen ist unsre Aufgabe keine Aufgabe weil sie unlösbar ist; nun ist klar, so wie wir die Thatsache des Gewöhnlichen uns vergegenwärtigen, so erscheint Keines von beiden als das Wahre, es ist aber nicht zu bestimmen, wo zwischen beiden das richtige Verhältniß liege. So wenn ich Jemand reden höre in der mir vollkommen durchsichtigen Sprache, so habe ich die Voraussetzung, daß sein Verfahren im Den-
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ken ein ganz Andres sei als meines, nicht, ich setze wohl Differenzen voraus aber nicht solche, die die Auflösung der Aufgabe unmögllich machen, ich stelle mich auf einem Punkt zwischen ihm und mir, der mir freilich das Verständniß gibt, aber sich mir nicht immer von selbst ausmittelt. Denkt man sich, daß man fremde Gegenstände besprechen hörte, wo auch fremde Ausdrücke also vorkommen, so würde man entweder sich abwenden oder bleiben, und die Gedankenverbindung mir durch die bekannten Elemente klar zu [machen] hoffen, die mir dann ÐdenÑ unbekannten Sinn ergeben würden. Hier ist nun die Aufgabe noch sogar mit der Schwierigkeit der Sprache und von einen Punkt auszugehn der außer mir liegt, und doch muß es hier möglich sein zu verstehn, wenn es sich auch nicht von selbst versteht. Wie nun ist es anzufangen die Frage, wo der Punct läge zu beantworten? Zwar muß die andre Frage gestellt werden, können wir entscheiden, ob wir in allen Fällen immer denselben Ort haben werden in beiden Puncten oder einen andern? Diese Frage wird ein Jeder aus dem unmittelbaren Selbstbewußtsein beantworten, es sei ein verschiedener, aber weil es zu unserm Selbstbewußtsein gehört daß wir von dem Einen aussagen, der combinirt wie du, und von dem Andern das Gegentheil. Dieser Differenz der Leichtigkeit in der Auflösung des Gedankenganges der Verknüpfung sind wir uns aus dem täglichen Leben bewußt und damit ist allgemein jene Praeliminarfrage beantwortet und es bleibt nur als Aufgabe zuvor in die Gründe und Beschaffenheit dieser Differenzen einzugehn. Diese ist sehr schwierig, und müssen wir vorher auf eine andre Differenz aufmerksam sein, auf die zwischen dem unbestimmten Schlusse und einem abgeschlossenen Ganzen. Jenes ist, daß man ohne bestimmtes Ziel von einem Denkmomente zum andern übergehe und ist ein Unendliches Ð Ñ Ð Ñ und unbestimmt, weil aus keiner einzelnen Verbindung, einzelne Aufeinanderfolge von Gedanken bestimmtes für den nächsten erfolgt. Anders ist es in einem abgeschlossenen complexus, der entsteht wenn ich mir ein Ziel vorgesteckt, denn bin ich bei diesem angelangt, so hätte die Reihe ein Ende und hat also nicht den Charakter eines Flusses; da ist jeder Fortschritt zum Ziele bestimmt, und ist da also auch jene Unbestimmtheit nicht. Diese Differenz ist von dem allergrößten Einflusse und so spaltet sich gleich unsre Aufgabe, so daß ein andres Verfahren anzustellen ist in Bezug auf eine Rede, die ein bestimmtes Ziel hat, als die aufzufassen, die in solchem unbestimmten Flusse versirt. Bei dem Letzten kommt nur die Art und Weise in Anschlag, wie Jeder im Denken fortschreitet, das ist also rein psycholo8 bekannten] 〈un〉bekannten
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gisch, und ich sage da, weil dieser dieses ist, folgt dies so, wäre er ein Andrer so würde ein Andres folgen. Denken wir uns einen Zusammenhang von Gedanken, ein bestimmtes Ziel, so ist auch im Fortschreiten Bewußtsein und das Einzelne entsteht im Bewußtsein dieses Ziels und das Ganze ist das Resultat von diesem und das Verfahren im Denken selbst im Vergleiche zu jenem ungebundenen und relativ unwillkührlichem technisch, methodisch vorbedingt und so zerfällt die Aufgabe in die rein psychologische und die technische. Jeder Mensch ohne Ausnahme ist bisweilen, wenn auch nur innerlich in solchem Vorstellungszustande, den wir, wenn wir auf den eigentlichen Lebensgehalt sehn, für ihn so gut als Nichts rechnen; nehmen dergleichen Zustände mehr Ueberhand, so werden sie seinen realen Lebensgehalt verringern. Dieses Ueberhandnehmen bezeichnet man oft mit Zerstreuung oder in Gedanken sein, man ist nämlich freilich in Gedanken dann, aber in solchen, die sich auf Null beziehn und in Zerstreuung, indem die Gedanken die die Zeit ausfüllen, die Richtung der Gedanken ablenken von dem, wohin diese eigentlich gehn sollten. Diese Successionen von Vorstellungen gehn selten in ein Aeußeres aus, also nicht in die Sprache, dieser Zustand ist ein innerer. Also diese sind keine Gegenstände für unsre Theorie, denn was nicht gesagt worden, kann auch nicht verstanden werden. Fragen wir nun wie es um mehr gewöhnliches Umgangsgespräch stehe, wo wir in einem Austausche von Vorstellungen sind, und abstrahiren müssen von allen Fällen, wo dieses irgend ein Geschäft wird, denn sobald dem Gespräche ein bestimmter Gegenstand unterliegt, sei er welcher er auch will, so hat es eine bestimmte Tendenz, oft aber bezieht es sich auf einen Punct, und da sind es Vorstellungen die man mit einander wechselt, doch so, daß man mehr neben einander spricht als zu einander. Demohngeachtet ist dieses freie Gespräch schon Gegenstand der Auslegung, und gerade in Beziehung auf die Seite der Sache, die wir jetzt in Betracht ziehn wollen, intricat. Jemehr ein Andrer zu einem Andern doch für sich redet, so daß die Combination durchaus die seine ist, so drängt sich um so mehr die Frage auf, wie Jener wohl gerade zu dieser Vorstellung gekommen ist und dazu veranlaßt in Beziehung auf das Subject, den Redenden die objective Sprache. Da kommen nun Fälle vor, wo man zu wissen meint, was er auf das, was man spricht, antworten werde, und so glauben wir seine Vorstellung als Thatsache seiner Individualität verstanden zu haben, also ein hermeneutisches Kunststück. Diese Seite der Aufgabe hat nicht unbedeutenden Umfang und es ist ein bedeutender Gewinn, wenn Einer darin Fertigkeit hat, die Successionsreihe des Andern als Thatsache seines Gemüths zu verstehn, weil sie mit den übrigen Thatsachen zusammenhängt, und diese also
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durch jene gleichsam zu berechnen sind. Literarisch betrachtet scheint aber dieser Theil gar keinen Werth zu haben, da dies freie Spiel nicht in das literarische Gebiet übergeht. Ist nun auch das richtig, wenn wir an die großen Formen der literarischen Production denken, so gestaltet es sich doch anders, wenn wir an den Umfang denken. So ist jeder freie Brief ein solches Gespräch, und so haben wir schon eine nicht unbedeutende Sammlung solcher Elemente, die eben keinen geringen Theil unsrer Literatur ausmachen. So also wird es Gegenstand unsrer Aufgabe, und wir sind ganz überzeugt, daß wir an solchen Briefsammlungen bedeutender Männer einen nicht unbedeutenden Schatz haben, weil darin am klarsten ausgesprochen die Thatsachen ihres Gemüths liegen und es so großen Einfluß auf das Verstehn ihrer literarischen Thätigkeit hat, diese zu kennen, zumal jedes Werk auch eine Thatsache ist. Sehn wir also hierauf, so haben wir schon für diese Seite nicht unbedeutende Gegenstände, aber wir gehn weiter. Es gibt auch in andrer Beziehung solche Vorstellungsreihen die von größerem Gehalte sind, die aber doch denselben Gesetzen folgen und denselben Typus haben. Dies setzt voraus daß Einer in einer freien Gedankenproduction ist, und alle die im Zustande des Auffassens auf diese Weise sind und ebenso im Wiedergeben dieses Aufgefaßten, gehören zu dieser Seite. Da [be]trachten wir zunächst alle die Massen von Beschreibungen, welcher Art sie sein mögen, welche ohne eine gewisse Kunstform wiedergegeben sind. So die Reisebeschreibungen, und Erdbeschreibungen u.s.w. durch welche wir eine große Masse erhalten die nur auf diese Weise als Thatsache des Gemüthes aufgefaßt werden können. Denken wir uns 2 zusammen Reisende ihr Aufgefaßtes wiedergeben, so werden sie different sich vorstellen, und die objective ÐReiseÑ wird diese Differenz recht deutlich machen, denn Jeder wird uns Verschiedenes geben, wir aber werden oft nur daraus erkennen können das objectiv richtige, obwohl bei Jedem Einzelnen ungewiß ist, was das objective und was das durch den Reisenden Entstandene ist. Das ist nun eine Aufgabe für die Wissenschaft selbst, aber nicht nur Beschreibungen der ruhenden Gegenstände sondern auch dessen was geschieht, sind oft von der Art, wie alte memories, Tagebücher u.s.w., sie sind rein dasselbe, das kunstlose Wiedergeben der eigenen Auffassung, dessen was geschieht und es ist dabei sehr möglich daß [ich] dabei das Urtheil des Einzelnen und die Wahrheit in solchem Maße untereinander gemischt finde, daß es schwer für die Aufgabe zu sondern ist. Da muß man denn die Wiedergabe nur als Thatsache in seinem Gemüth betrachten. Also wird ÐmirÑ allerdings wieder ein bedeutender Theil der Aufgabe, der ganz verschieden ist von dem Folgenden, weil wir es hier mit der persönlichen Individualität, die sich in
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der Eigenthümlichkeit der Combination offenbart, zu thun haben. Ganz anders ist es jetzt, wo ein complexus von Gedanken unter der Potenz eines bestimmten Ziels steht, da ist zwischen den einzelnen Elementen ein andres Band des Fortschreitens, es gibt da eine constante Größe, die bei jedem Gliede in Betracht gezogen werden muß, das Verhältniß eines gegebenen Punkts zum vorgesteckten Ziele in Vergleichung mit dem vorhergehenden Punkte. Da ist jedoch in der Art und Weise eine große Mannigfaltigkeit, jenachdem das Ziel ein Andres ist. Ueberall ist hier nicht der Redende im Zustande des kunstlosen Sprechens, sondern in der Combination seiner Gedanken, wie er sie wiedergibt, soll eine Methode sein, die den Schlüssel dazu gibt. Da ist der Begriff des Verfahrens, der zugleich der Begriff der bestimmten Art und Weise der Production ist, der herrschende, aus dem das Einzelne muß verstanden werden. Dieses nun ist in allen Gedankenreihen, die sich als Kunstwerk verhalten. Jener Memoirenschreiber und der eigentliche Geschichtsschreiber verhalten sich wie die, die in kunstlosem Verfahren begriffen, zu denen die ein Kunstwerk fertigen. Während Jener sein Werk nur sich selbst schreibt, oder höchstens einigen Vertrauten, hat Dieser das Publicum immer im Sinn, und will ein geschichtliches Kunstwerk geben, wo also alles Einzelne so dargestellt wird, daß es Element sein kann die Totalvorstellungen darzustellen, die er sich zum Zweck gesetzt. Der Memoirenschreiber läßt die Einzelnen vor sich vorbeigehn, und kann selbst als sie begleitend erscheinen, der Geschichtschreiber hingegen darf nicht eher anfangen bis seine Begebenheit, die er sich zum Ziele gesetzt vollendet ist, mögen auch noch so viele Momente dazu gehören. So ist auch das hermeneutische Verfahren bei dem Einen ein Andres als bei dem Andern. Wollte ich ÐbeiÑ beiden auf gleiche Weise verfahren, so thue ich jenem Schreiber Unrecht, indem ich an ihn Ansprüche mache, die er gar nicht hat befriedigen wollen. Sehn wir uns hier um, so ist klar. es gibt keine Gattung von Mittheilung durch die Rede, in der diese Differenz nicht wäre, dasselbe ist im Gebiete der Wissenschaften, denn überall ist ein so freies Spiel und muß auch als vorbereitend in gewissem Maaße dagewesen sein, ehe sich ein complexus im Sinne eines kunstgemäßten Ganzen gestaltet. Auf dem geschichtlichen Gebiete gäbe es sehr große Nachtheile, wollte man diese Foderung aufstellen, daß jenes freie Spiel wegfiele, und wollte solche Productionen ganz und gar verwerfen, ja die Fortsetzung der Geschichte käme durchaus zu kurz. Da jene ein großes Hülfsmittel sind, da sich in ihnen der Verfasser ganz zu Tage gibt, während er sich in der Geschichte völlig verbirgt, man hat es also weit leichter mit Jenem als mit diesem, und es stände um unser geschichtliches Wissen besser, wenn wir größern Reichthum an so
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freien Mittheilungen hätten. Dasselbe ist nun sogar in dem Gebiet der Wissenschaften in strengerem Sinne der Fall. In einem philosophischen Kunstwerke, in dem ein System ausgeführt ist, kann ich je mehr es so streng wissenschaftlich ist, um so weniger die Genesis der Gedanken im Philosophen wahrnehmen, der sich ganz versteckt, und was an der Spitze ist hat er nicht unmittelbar gefunden, sondern ist ein Product einer großen Menge von Gedanken gethan, ebensowenig ist das Werk selbst die Genesis seiner Methode, aber wenn wir als Thatsache seines Gemüths es verstehen wollen, so muß viel Andres gegeben sein, und nur sofern es aus einer Menge von Analogien geschen kann, ist es möglich diese Aufgabe zu lösen. So würde es schwer sein den Aristoteles aus seinen Schriften kennen zu lernen, wir bedürften durchaus eines Werks in dem er einem freien Spiele der Gedanken Raum gäbe, um ihn zu erkennen. Plato’s Productionen haben wenigstens die Form jener freien Darstellung, und wenn es auch nur Maske ist, man sieht leichter hindurch, als bei Aristoteles. Dasselbe gilt sogar in der Mathematik. Denkt man sich die Elemente des Euklidis, die man lange angesehn als Lehrbuch der Geometrie, aus ÐdiesenÑ sind andre Ansichten zum Vorschein gekommen, und man hat gesagt, Euklidis Zweck ist zu demonstriren die Einschließung regelmäßiger Körper in der Kugel, und er thut das indem er von den Elementen beginnend fortschreitet, aber so, daß er diesen Punkt immer im Auge gehabt. Das Objective bleibt dabei natürlich dasselbe, aber das Subjective wird von dem Einen verschieden verstanden als von dem Andern. Entschieden könnte es nur werden, wenn wir von Euklides Producte der andern Art hätten, worin wir seine Art und Weise anzuschauen vermöchten. Nun aber, sehn wir auf das Andre, so ist die Hermeneutik gebunden von den Gesetzen die Arten gewisser Productionen unter dem Begriffe der Kunstwerke gedacht. Denkt man sich, um ein Beispiel das auf der Grenze zwischen beiden Seiten steht, zu wählen, die lyrische Poesie in der antiken Form, also die Pindarsche, so müssen wir sagen, die lyrische Poesie ist ihrem Wesen nach eine solche freie Combination, worin sich der Dichter selbst ausspricht, denn sie hat gar kein bestimmtes Object, wie die epische und dramatische; das Object ist Nebensache, ist nur Mittel, um den Dichter selbst darin wahrzunehmen, Etwas muß er zeigen, um an dem Etwas sich zu zeigen, und dieses ist die Sache. Nun gilt es eine Masse von Productionen die auf der Grenze zwischen lyrischer Poesie und objectiver stehn und andre die rein auf der Grenze zwischen der bestimmten Kunstform und dem freien Spiele, doch ist die lyrische Poesie in beiden Fällen 16 die] d. d.
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auf das bestimmteste unterschieden. In den allerfreisten Productionen ist das Object nur Mittel, und die Gegenstände wechseln auf das freiste, und doch ist die Genesis der Gedanken, die ganze Thatsache durch eine Form bestimmt, wie im freien Gespräche der Gedanke nicht würde gestaltet worden sein; auf welche Form wir also hingewiesen sind, wenn nicht eine Verfälschung und Verfehlen der Charaktere und Interessen Statt finden soll. Pindar hat den Argonautenzug lyrisch besungen, aber er ist ganz verschieden von den epischen Gedichten über denselben Stoff, ja es ist fast zu behaupten, hätte auch Pindar ihn episch besungen, sein epischer und sein lyrischer Argonautenzug würden ganz verschieden sein. Es hat die Aufgabe eine Rede als Thatsache des Lebens zu verstehn zwei verschiedene Richtungen, die eine mehr psychologische, die andre mehr technische. Wenn wir nun das Leben des Einzelnen in seinem ganzen Verlaufe denken, so kommt das Denken, wie es sich durch die Sprache zu erkennen gibt als Element des Lebens vermischt mit andern vor, und wenn gleich alle diese Lektionen immer thätig sind, so sind doch Momente wo die eine mehr oder überwiegend auftritt. Sehn wir nun den Zusammenhang dieser Funktionen wie ein Moment des überwiegenden Denkens und Vorstellens aus einem andern entsteht und wir denken uns jene Aufgabe, kommen in ihr auf jenen Punkt, so werden wir diesen einzelnen Moment nur verstehn können, sofern wir das Verhältniß dieses bestimmten einzelnen Lebens kennen. Es können ja zwei Menschen auf dieselbe Weise von außen erregt werden und da wird sich dennoch ein Zustand des Denkens entwickeln bei dem Einen, bei dem Andern wird es ohne Denken vorbeigehn. Beide Erscheinungen können wir nur begreifen aus der Kenntniß des Individui, das ist das rein Psychologische das durch die Kenntniß des Individui bezeichnet ist. In demselben Verhältniß setzt sich dies auch im zusammenhängenden Denken fort. Denken wir uns also zwei Menschen in dieser Beziehung in gleichem Zustande des Denkens begriffen, also im Denken desselben Gegenstandes, da ist’s nicht anders möglich, als daß da nicht sollten viele Momente welche sich da entwickeln dieselben sein werden, aber wenn wir das Ganze zusammen haben, was sich über denselben Gegenstand in Zweien entwickelt hat, so wird es doch sicher verschieden sein, und nicht nur so, daß wir sagen, hier hat der Eine dies, dort der Andre das übersehn und versehn, und beide ergänzen sich, sondern abgesehn davon werden Elemente vorkommen, die bei dem
24 Einen] Andern 7 Siehe Pindars viertes pythisches Siegeslied.
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andern fehlen und nicht übersehn sind, und diese werden nicht aus dem Anfangspunkte erklärt werden können, sondern in dem Individuo ihren Grund haben. Dies sind vorzüglich die Nebengedanken und Darstellungsmittel, die im complexus der Rede bei Zweien auch über denselben Gegenstand verschieden sein werden. Durch sie werde ich den Verfasser kennen lernen, ich erhalte nämlich Beispiele seiner Combinationsweise und ich werde nun suchen, wie er hinzugekommen, und ich so Elemente erhalten seine Bahn in der Gedankenentwicklung berechnen zu können. Das ist aber immer ein rein psychologischer Proceß denn hier entstehn vermöge der persönlichen Eigenthümlichkeit Gedanken die bei einem Andern nicht entstehn. Das nun ist die eine Seite der Aufgabe. In dieser allgemeinen Darstellung ist nun im Dunkeln geblieben, wie man dazu kommen könne sich Rechenschaft zu geben, wie Jener zu diesem Gedanken grade gekommen, da sie durch den Zusammenhang nicht von selbst gegeben. Nehmen wir an, wir seien oft in dem Falle, uns von so objectiver Combination Rechenschaft zu geben, so werden wir sagen, eigentlich sei das ein Errathen, und der Eine sei darin glücklich, der Andre nicht, aber dasselbe nicht in demselben Grade in verschiedenen Fällen; wo nun eine Analogie mit dem Unsrigen sich zeigt, da werden wir dann Aehnlichkeit mit uns finden, und da kann man leichter errathen als wenn jene Art und Weise der unsrigen entgegengesetzt wäre. Diese nicht objective Combination ist nicht immer ursprüngliche Production, das verlangt auch nicht der Zusammenhang der Aufgabe; sie läßt mich gar nicht voraussetzen, daß solche Nebengedanken zum ersten Male hier geworden. Sie können in demselben Subjecte schon oft gewesen sein, und so müssen wir eine gewisse Kenntniß haben von dem Vorstellungsmaterial des Subjects, aus welchem das Einzelne hervorgetreten vermöge seiner Combination. So hängt die Aufgabe ab einmal von dem Verhältniß zwischen der Combinationsweise des Andern und der meinigen und dann von dem Grade meiner Kenntniß seines Vorstellungsmateriales und nur in dem Maße diese gegeben sind ist es möglich die Aufgabe kunstmäßig zu lösen. Diese Coefficienten können einander auf gewisse Weise ersetzen das heißt je genauer ich das Vorstellungsmaterial des Andern kenne, um so leichter kann ich auch die Differenzen zwischen seiner Denkweise und der meinigen überwinden und umgekehrt. Wenn ich mir die eine Bedingung in ihrer absoluten Vollkommenheit denke muß die andre dadurch zugleich gelöst werden. – So wollen wir nun auch das Allgemeine der andern Seite betrachten. Gehn wir auf die Voraussetzung zurück, es entwickle sich ein Denkzustand, eine Gedankenreihe aus irgend andern Lebensthätigkeiten, so müssen wir sagen, sofern sie aus jener Lebensthätigkeit entsteht, ist sie
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in ihrem Anfang schon implicite gesetzt, das heißt, ist Jemand so in Bewegung gesetzt, so liegt der Inhalt der Gedanken schon implicite mit eingeschlossen und die ganze Reihe ist nur Entwicklung dieses Moments. Denken wir uns nun in Jemand der in diesem Falle ist, hinein, so müssen wir sagen, die einzelnen Theile sind schon durch die einzelne That bestimmt, vermittelst welcher er sich in diese Bewegung versetzt, und verstehe ich diese dann verstehe ich auch jene, aber dann fällt Alles heraus was in der Eigenthümlichkeit des Einzelnen seinen Grund hat, und ich finde nur was sich aus der freien That selbst entwickelt, das heißt, ich denke, der Denkende ist durch jenen Entschluß gebunden, jene Gedanken in sich hervorzurufen, die in jener freien Selbstbestimmung schon implicite liegen. Wie kann das nun technisch heißen? Dazu müssen wir uns in den Zustand der Composition hineinversetzen und müssen mit der freien That da anfangen, das heißt, Einer will Etwas zum Bewußtsein bringen, oder Bewußtes darstellen, denn das gilt gleich, da wird er sogleich eine Methode dabei befolgen, freilich eine andre, wenn er sich in dieser Selbstbestimmung die Frage vorlegt, wie komme ich dazu den Gegenstand gründlich zu durchforschen, und eine andre, wenn er fragt, wie er Durchgedachtes in gewisser Richtung und für gewisse Menschen zur Darstellung bringe; jenes ist die Meditation, dieses die Composition, beide Methoden müssen wir bei jeder Gedankenreihe denken. In der Composition kann viel Individuelles sein, in jener wird es auch wirken, aber in geringerem Grade, und doch werden wir auch wo es am meisten der Fall ist unterscheiden das Mitwirken der persönlichen Eigenthümlichkeit in dem Ermitteln und das Bewußtlose derselben im freien Gedankengange. Denken wir nun die Meditation als Objectives und die Composition an einen gewissen Typus gebunden, so ist das das eigentlich Technische und diese die technische Seite, weil es die Befolgung der Methode betrifft. Denn das nennen die Alten teÂxnh, wir Kunstlehre, wo es denn freilich ein ungeheures Gebiet von Differenzen gibt, wir wollen beide Formen und ihre entgegengesetztesten Endpunkte zusammenhalten. Wenn wir einen Gegenstand durchdenken, so ist uns darin zugleiche eine Methode gegeben. Denken wir das nun unter dem Einflusse der größten persönlichen Eigenthümlichkeit und um so weniger objectiv, so liegt hier ein Minimum von Objectivem. Hier habe ich den Entschluß nur zu durchdenken, den will ich festhalten, dem Entschlusse aber überlassen wie er wirke, und so wird mir wenn er wirkt von dem Gegenstande einfallen, das werde ich festhalten, und dann suchen was mir fehlt, wenn auch das gefunden, werde ich Alles durchforscht haben. Das ist das Subjectivste, wo die einzelnen Elemente nur in dem ganz freien Spiele entstehn, in welchem nur diese
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Richtung auf den Gegenstand vorwaltet. Es war die Gesammtheit der Gedanken, welche den Entschluß in Beziehung auf das Denken hervorruft, die Meditation während das Darstellen durch die Sprache die Composition ist. Da nun kann eben die Meditation hinüber gehn auf die ganz psychologische Seite, denn wenn ein Entschluß Etwas zu wissen, Gedanken von irgend einem Gehalte zu entwickeln, fest steht, das Realisiren derselben werde aber der Freiheit des Lebens überlassen, da wird wenn die Gesammtheit der Dinge die Einem begegnen, dawider ist, Nichts geschehen, ist sie dafür, so geschieht Etwas; die Einzelheiten bleiben da verwahrt, bis man ahnt, der Entschluß sei in Etwas realisirt, und nach einer Uebersicht bemerkt man, was noch nicht realisirt ist, der Entschluß wird so bestimmter, obwohl dies noch immer zu realisiren bleibt dem Zufälligen, und es entstehn so lauter Einzelheiten, bis das Ganze endlich zusammengekommen. Ist Jemand so in den Besitz des Gedankencomplexus gekommen, so ist noch ein eigner Act diesen zu einem Ganzen zu machen, und das ist die Composition, denn die einzelnen Elemente, durch welche der Grundgedanke realisirt ist, werden in so zufälliger Folge nun ein Ganzes bilden, hängen nur zusammen in Beziehung auf das im Leben Gegebene, und den innern impetus. So muß die Spur des Gelegentlichen verschwinden, und es darf nur das Verhältniß zum impetus bleiben. Das ist die Composition. So erst können wir uns überzeugen, daß die Lösung der technischen Aufgabe von dem Verständisse beider abhängt. Man könnte nämlich denken, das Auseinandersein beider Methoden beruhe nur auf einzelnen Beispielen, indem man denken könnte, nur die fragmentarische Meditation sei von der Composition verschieden, wäre jene stätig ausgeführt, so fiele der Unterschied fort. Dagegen ist jedoch die Erfahrung ganz und gar und es gibt kein Gebiet, wo irgend der Begriff der Composition realisirt ist, indem sich nicht beides bestimmt unterscheide. Denken wir uns den Fall der Conversation, da ist kein einzelner bestimmter Entschluß, läge ihr ein bestimmter Entschluß zum Grunde, so ist auch sogleich der Unterschied da, und da ist schon Composition. Ich würde ja meinen Zweck, wenn ich über einen bestimmten Gegenstand sprechen wollte, in sehr geringem Grade erreichen, wenn ich Alles sagte, wie es mir durch sein Gespräch einfällt, denn es knüpft sich bei ihm Andres an und bei mir Andres, so müßte also dann mein Gespräch meinem Entschlusse nachgehn und Composition werden. Denke ich mir, der Anfangspunkt, der Entschluß, von dem das Ganze ausgehe, sei schon auf eine gewisse Form gestellt, es sollte z. B. ein Gedicht von bestimmter Art gemacht 28 realisirt] über entwickelt
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werden, so ist die Composition schon mitbegriffen, fängt aber darum noch nicht gleich an, das geschieht nur, in dem Grade es unbedeutend ist. Die Production geht immer fort ohne schon zur Darstellung gleich zu werden. So werden wir zugeben müssen, daß jene beiden ganz verschiedene Aufgaben sind und es ist so klar, daß die Lösung der hermeneutischen Aufgabe, die Gedankencomposition als Thatsache, als Act seines Lebens zu verstehn, zu der diese wirken so nicht Ein Act ist, sondern beide müssen verstanden werden. Die Composition nun, sagt man, kann ich aus dem Werke selbst verstehn, während ich durch das Wirken selbst für die Meditation Nichts habe und so fehlt uns das Nothwendige um die Aufgabe zu lösen. Aber dieser Einwurf löst sich dadurch: die Meditation, wo sie am schärfsten von der Composition sich unterscheidet, fällt am meisten in die psychologische Seite. Da wird mir also dasselbe nothwendig sein, was auf der andern Seite gefodert war, und in dem Maße ich das habe, wird auch die Aufgabe zu lösen sein. Nun müssen wir fragen, wie stehts auf der andern Seite, wenn wir einen Act der Composition denken, der möglichst wenig Meditation voraussetzt, wo sich Alles aus dem Entschlusse entwickelt, indem dieser Form und Gegenstand in sich trägt. Hier erscheint das was nicht aus dem Entschlusse ist als das Minimum, und könnte dieses Minimum unbemerkt bleiben, so müßte das Ganze versteinert sein, denn das Kunstwerk ist unvollkommen, so lange Composition und Meditation zusammentreffen. Ein Jeder Gedankencomplexus, der vor mir liegt, in welcher Form er auch sei, als hermeneutische Aufgabe, das schließt, wenn er als Thatsache in dem Leben betrachtet werden soll beide Aufgaben in sich, das Entstehn des Entschlusses als Keim der Aufgabe und das Entstehn Alles dessen, das nicht durch den Entschluß bestimmt ist. Das kann ich nur durch die Analogie mit dem Meinigen erkennen, wie durch die Kenntniß seines Vorstellungsmateriales. Was im Entschlusse implicite enthalten, kann nur auf diese technische Weise verstanden werden und da frage ich, wie ist der Autor von seinem Entschlusse aus gekommen zu diesem Gedankencomplexus und wie ist die Composition, sofern sie nicht aus ihrer Gattung begriffen werden kann, aus ihm selbst zu begreifen. Wollen wir uns beide Seiten vereinfachen in Beziehung der Hauptmomente, die darin vorkommen, so zeigt sich zweierlei, das verstanden werden muß, die Gesammtheit seiner Lebensbedingungen in Beziehung auf diesen Moment seiner Thätigkeit, also das früher Erlebte miteingeschlossen, dann die Art und Weise, wie er in Production und Composition gebunden war durch den Typus, in den er seine Gedanken bringen mußte, wenn sie dem Entschlusse entsprechen sollten. Das ist das gesammte Kunstleben, in dem der Autor versirt hat.
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Denn vollkommen versteht man nicht, wenn man nicht sagen kann, Dieses ist gerade hervorgegangen aus seinen äußern Bedingungen, und so ist eben Kenntniß derselben wie des Individuums nothwendig. Sehn wir von der Kenntniß des Ersten fort, so müssen wir sagen, für die psychologische Seite ist die Kenntniß seines Author’s die Hauptsache worauf es ankommt, das heißt seines individuellen Lebensgesetzes; für die technische Seite sein Verhältniß zu der zu seiner Zeit bestehenden Form der Rede, also sein Künstlerwerth die Hauptsache. Das sind die Bedingungen zu Lösung unsrer Aufgabe, fehlt Etwas davon, so kann sie auch nicht völlig gelöst werden. So erkennen wir gar viele Fälle, wo diese Seite nur sehr unvollkommen kann angewendet werden. Wenn wir denken, was dazu gehört, sie in beiden Richtungen vielleicht zu lösen, so erscheint als Erstes, genaue persönliche Bekanntschaft, und fehlt sie, so fühlt man, wie schwer es ist sie durch Andres zu ersetzen; um seinen individuellen Kunstwerth zu kennen, gehört die vollkommenste Kenntniß seines Lebenskreises in dieser Beziehung dazu, da die Aufgabe auf andre Weise verläuft, wenn ich weiß, er ist auf einem Gebiete der Composition leitend gewesen, oder er hat sich in den gegebenen Schranken gehalten und so, daß diese zugleich Motiv wurden. Dies gibt verschiedenes Verfahren und es entsteht Unsicherheit im ganzen Verfahren aus der Unsicherheit, welches von beiden gegeben sei. Wir müssen die Rede als ein abgeschlossenes Ganzes aus dem Anfangspunkte erklären womit denn zugleich das Ende gegeben ist, dieser Anfangspunkt ist aber nur aus dem Leben des Einzelnen zu begreifen, und so fällt dies in die psychologische Seite. Durch ihn sehn wir dann sogleich, wie durch ihn gebunden der Redende sein Werk gerade so vollendet und wir kommen auf die technische Seite. Hieher gehören nun die Meditation und Composition, doch sind auch in jeder Composition Bestandtheile die nicht in dem Anfangspunkte implicite eingeschlossen waren, und da gehören wir mit der Aufgabe zum Psychologischen, und es scheint also als könnten beide Seiten vereint werden, doch geht das nicht, jede Seite bildet in Ansehung der Regeln ein Ganzes. Indeß gibt es auf jeder Seite was in einer nähern Verwandtschaft mit der andern steht, so ist die Meditation mit der psychologischen Seite verwandter, während in der Composition der Einzelne von seiner persönlichen Eigenthümlichkeit absieht und die psychologischen Differenzen fast ganz verschwinden. Ebenso, sehn wir auf die psychologische Seite, da müssen wir sagen, die Determination, Dieses oder Jenes hervorzubringen muß ganz aus dem Leben verstanden werden und Alles außer dem Autor selbst hat eigentlich 18–19 Hier endet Kalbs Nachschrift des hermeneutischen Teils mit den Worten „Reliqua desunt“.
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keinen Einfluß als insofern es in sein eigenthümliches Leben hineingeht; dieser Punkt liegt der andern Seite am fernsten, aber wenn wir sagen, in der Composition entstehn Gedanken, die aus dem ursprünglichen Motive nicht hervorgehn, so sind diese auch aus der Gesamtheit der Zustände des Einzelnen zu erklären, doch ist auf der andern Seite offenbar, daß die Form, in der sein complexus verläuft großen Einfluß darauf hat und so manche einzelne Elemente, die Platz gefunden hätten und bei dem Autor während der Production entstanden waren wegen der bestimmten Form in der das Hervorzubringende sein sollte, haben übergangen werden müssen. Dieser Theil der Aufgabe ist der technischen der nächste. Da haben wir einen Grund mehr auf unsre Eintheilung keine Rücksicht zu nehmen, sondern zuerst bei der Lösung der hermeneutischen Aufgabe dieser Seite den Anfang zu machen, die mehr psychologisch ist, nämlich das Entstehungsmoment des ganzen complexus aus dem Leben des Autors zu begreifen, ÐinÑ dem mehr oder weniger der Entschluß über die Form liegen muß, also die Composition zu verstehn und dann werden die andern Theile der technischen Aufgabe kommen. Die Composition hat nun ihren eignen Lauf gehabt und so kommen wir auf die Meditation, in welcher die einzelnen Gedanken entstehn, die aus dem Ganzen nicht entstanden sondern individuellen Grund haben und so können wir auf das Erste zurück. Diesen Gang wollen wir wählen und zuerst die psychologische dann die technische Interpretation behandeln. P s y c h o l o g i s c h e A u f g a b e . In dieser ist die erste Aufgabe, aus dem Werke wie es vor mir liegt, indem wir dabei die Grammatik als beseitigt ansehn, die Entstehung desselben zu finden, das heißt, wie der Autor dazu gekommen, diesen Complexus von Gedanken selbst zur Entwicklung, Darstellung zu bringen, und was er damit gewollt, was der Inhalt des Entschlusses als Entschluß genommen gewesen. Nun ist also das eigentlich die Aufgabe, aus dem Werke, wie es als Complexus einzelner Gedanken, einzelner Elemente vor uns liegt, die eigentliche Einheit des Werkes zu finden, das was diese constituirt. Dies scheint eigentlich keine Aufgabe, sondern sich von selbst zu verstehn, denn, sagt man, jedes Buch hat seine Ueberschrift, welche die Einheit desselben ausdrücken soll, doch einmal haben wir es nicht allein mit Büchern zu thun, und dann gehört es gar nicht zum Begriffe eines Buchs, daß keine Ueberschrift sei, und endlich drückt der Titel oft gar nicht die Einheit des Buches aus, weil er eben nur zufällig ist. Beleuchten wir dies näher: die hermeneutische Aufgabe, das ist das Wichtigste, hat es gar nicht allein mit dem Geschriebenen zu thun, mit der öffentlich publicirten Rede, sondern ist täglich im Leben anzuwenden. Ferner in einem großen Theile der alterthümlichen Literatur
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sind die Ueberschriften der Werke gar nicht gleichzeitig, sondern spätern Ursprungs, und dazu ist es zweifelhaft ob denn das die ursprüngliche Ueberschrift ist oder nicht. Da sehn wir also, daß die Sache sich nicht so leicht ermittelt, und die Ueberschrift keine Beantwortung der Frage ist. Denn nehme man auch an, die Ueberschrift sei vom Verfasser z. B. die Ueberschrift „Iliaw“ sei von Homer, so ist doch noch damit gar nicht die Einheit des Werks gegeben es zeigt nur, es habe das Werk einen Zusammenhang mit der Stadt Ilion; existirte also die Ueberschrift und sogar als ursprüngliche, so ist sie doch nicht Beantwortung der Frage; denn wollten wir gar die der romantischen und dramatischen Producte nehmen, so finden wir da auch gar Nichts. Es muß uns also gleich sein ob das Buch eine Ueberschrift hat oder nicht. So wird denn die Aufgabe sehr weitschichtig und können wir sie nicht lösen, ohne das, wovon wir gesagt, daß das die nothwendigen Bedingungen sind, diese Aufgabe zu lösen, die Analogieen zwischen der Combinationsweise des Autors und des Auslegers und die möglichst vollständige Kenntniß seines ganzen Materials von Vorstellungen, welches zugleich die Kenntniß aller seiner Lebensverhältnisse gibt. Das Letzte ist zwar der Anfang, doch führt es nun zu einem Resultate, als nach Maßgabe des Ersten. Bleiben wir nun hier beim Begriffe eines Gedankenzusammenhanges stehn, eines Aggregates von Gedanken, die zusammen ein Ganzes bilden; gehn wir davon aus, so ist die erste Frage, wie kommt man überhaupt dazu? Indem wir diese vorlegen bestimmt sich im Allgemeinen der Ort in der Gesammtheit des Lebens, aus dem sich die Rede entwickelt, doch sind sogleich da so ungeheure Differenzen, wenn wir uns die Frage so im Allgemeinen vorlegen, daß wohl schwerlich ein Anfang zu finden sein möchte. Stellen wir hier indeß sogleich Extreme auf, um den Umfang einer gegebenen Frage zu fassen, und da müssen wir sagen, es gibt solche Fälle, wo diese Frage nicht braucht beantwortet zu werden und wiederum solche, wo sie nur mit der größten Schwierigkeit gelöst werden können, das sind die äußersten Punkte. Konnte die Frage nicht beantwortet werden, so ist ein Gegenstand für die psychologische Seite gar nicht zu lösen und wiederum, wäre in einzelnen Fällen die Frage nicht nur nicht aufzuwerfen wie der Autor dazu komme, zusammenhängende Gedanken darzustellen, sondern auch nicht die, die gerade d ie s e n Complexus, so ist man keiner Hermeneutik bedürftig, so versteht es sich von selbst und wenn jenes Moment nur bestimmt [ist,] ist es auch das Ganze. Weiß ich aus meiner Kenntniß des Autors, daß er einen Beruf gehabt, in welchem er nothwendig zusammenhängende Gedanken vorzustellen hatte so ist in der Allgemeinheit in Beziehung auf Alles, das in dieses Gebiet gehört die Frage gelöst, die
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Frage geht sogleich aufs Einzelne hin. Wenn aber diese Handlungsweise, zusammenhängende Gedanken vorzutragen im Leben eines Einzelnen etwas Isolirtes und Zufälliges ist, wenn ich weiß, der Einzelne lebt in ganz andern Dingen, es gibt aber eine zusammenhängende Rede von ihm, von der ich weiter nichts weiß, so hat es die größte Schwierigkeit, die Frage zu lösen. Hängt sie freilich mit bekannten Umständen zusammen, so war die Nothwendigkeit zu diesem Benehmen da und oft kann sie nur durch Conjunctive, durch eine sehr approximative Weise gelöst werden. Da ist denn die ganze hermeneutische Behandlung schwierig. An diesen Extremen werden wir eine allgemeine Leitung für die Aufloesung haben, indem wir sagen, die Frage ist in allgemeinem Sinne gelöst, wenn der Zusammenhang der Rede auf irgend eine Weise mit dem Berufe des Autors zusammenhängt, ist das nicht der Fall, sondern sind solche Acte im Leben eines Menschen zufällig so hört der Unterschied zwischen Allgemeinem und Besonderm auf und die Frage ist in jedem Falle einzeln zu beantworten, wie er dazu gekommen, solchen Complexus auszubilden und mitzutheilen. – Blicken wir noch einmal auf die Art unsrer Theilung zurück und fragen, worauf denn der Unterschied zwischen der mehr psychologischen und der technischen Seite beruhe, so ist die Sache diese: das Erste ist der bestimmte Impuls, aus dem das Ganze hervorgegangen, denn wenn auch ein Complexus von Gedanken nur allmählich zu Stande kommt, so geht doch Alles, der Zeit nach wenn auch unterbrochen, aus demselben Impulse hervor; dieses ist also wesentlich Lebensmoment, freier Act des Einzelnen, aber in diesem Willenacte, welcher Keim des Ganzen ist, wollen wir zugleich eine bestimmte Form, und diese ist das bindende; wenn einmal das productive Wollen auf die Darstellung in bestimmter Form gerichtet ist, so ist die ganze weitre Entwicklung mehr oder weniger durch diese Form gebunden. Diese Form ist nun aber nicht neu erfunden, sondern in den meisten Fällen uns gegeben ist eine Form, die sich schon öfters reproducirt hat, somit liegt das bindende außer dem Autor selbst, so wird diese Aufgabe eine andre sein als die vorige, und eben Jenes ist der Grund die Theilung zu machen. Wenn nun gesagt ist, zu der technischen Seite gehöre das Verstehn der Meditation und Composition, so sieht Jeder leicht, wie beides verschieden, doch in der Verschiedenheit durchaus nothwendig sei. Aber es scheint nicht, als ob beides sich zur allgemeinen Eintheilung gleich verhalte, und es ist auch schon gesagt, die Meditation läge der psychologischen Seite gar nahe. Warum dürfen wir sie dann nicht in jene hineinziehn? daß die Composition durch die 15 Besonderm] Besondern
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Form bedingt ist, liegt am Tage; doch führt z. B. der Dichter nicht von dem ersten Entschlusse an die Composition sogleich durch, sondern wenn er auch wirklich sollte ÐsogleichÑ begonnen haben, so ändert er doch Manches später in dem Verfolge und so ist das zuerst Geschriebene eine vorläufige Meditation gewesen und jene Differenz wird selbst bei dem größten Meister nicht fehlen. Die Meditation ist nun nicht so bestimmt als die Composition; ihr Fortschreiten kann gelegentlich sein, ist also nur durch den Charakter des Individuums und der Verhältnisse, in denen sie leben, bedingt, und eben darum scheint sie zur psychologischen Seite zu ziehn. Aber betrachten wir die Sache nur genauer so sehn wir, daß die Meditation durchaus durch die Form gebunden ist, wie das sehr klar ist, wenn 2 Leute dieselbe Sache behandeln wollen, der Eine aber grammatisch, der andre historisch, die Meditation wird bei beiden verschieden sein. Der Unterschied zwischen jenen beiden Seiten der psychologischen Aufgabe ist also der, daß auf der Einen der Mensch frei ist und wir also auf seine Verhältnisse als dem Principe seiner Selbstbestimmung zurückgehn müssen, während auf der andern die Form die Macht ist, die den Autor beherrscht, in deren Dienst er sich durch seinen Entschluß gegeben; doch ist dieser Unterschied sehr verschieden, wie wir schon angedeutet haben, wenn wir oben gesagt: die Form wäre in den wenigsten Fällen etwas soeben Hervorgebrachtes, sie wäre schon gegeben. Dadurch ist denn zugegeben, es könne die Form mit dem Entschlusse entstehn, wie es nothwendig bei den Erfindern der Form ist; da müssen wir fragen, wo kommen die Formen denn her. Nun können wir freilich auf den ersten Anfang selten zurückgehn, aber anders kann die Frage nie gelöst werden als: es hat ein Einzelner die Form zuerst selbst erfunden. Da erfand also Jemand mit seinem Entschlusse zugleich die Form, es fragt sich also, wie da zu Werke zu gehn sei. In Beziehung auf das Ganze, in Beziehung auf Gattungen werden wir inpraxi das nur in wenigen Fällen finden, denn wenn Dichter etc wohl einzelne rhythmische Maße erfinden, so ist das doch nur Specielles, eine neue Gattung der Rede wird selten erfunden. Wo wir nun sagen können, hier ist ein neues Werk, da scheint der Unterschied aufgehoben, die Form wird da durch die Composition, ist auch ein Product des Willensacts. Da müssen wir zuvor fragen, wie Jemand dazu komme eine ganz neue Form, eine Gattung zu erfinden? Da ist ein mehr negativer dann ein mehr positiver Grund. Jener ist dieser: wenn der Keim eines Gedankencomplexes, der im Individuo lebt, der also eigentlicher Grund zu seiner Willensbestimmung ist, wenn ÐerÑ alle vorhandenen Formen abstößt, wenn keine innere Zustimmung des Gemüths ist, wenn die verschiedenen gegebenen Formen an dem Stoffe erprobt werden, dann
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muß das Individuum entweder seinen Stoff aufgeben, oder ihn in andrer Form darstellen, es muß eine neue Form gesucht werden. Der andre Grund ist der: eine neue Form ist diese gesuchte Form nicht, sie besteht schon irgendwo, nur nicht da, wo sie der Autor hervorbringen will. Denken wir z. B. die Form bestehe schon in einem andern Kunstgebiete, so ist, wenn der Autor sie in sein Gebiet zieht, diese Form eigentlich nicht neu sondern Nachahmung; wie er aber als Organ seiner Sprache zu betrachten ist, so ist dies eine neue Genesis, wie er sie in seiner Sprache wiedergibt. Ferner kann die Form im Leben schon sein, ist aber nicht in der Kunst, da kann denn der Gedanke entstehn, sie in die Kunst zu übertragen. Denke man nur an das alte Drama, wo das wesentlich constitutive Princip die persönliche Darstellung und der Gegensatz zwischen Einzelnen und Chor ist. Hätte nun nie ein Drama existirt, so war doch schon im Epos von Einzelnen gesprochen, und dieses secondäre ist überall im Leben, ist jedes Gespräch. Jede Erzählung ist der Typus des Epos im Leben, welches Jemand übertrug in die Kunst, so das gewöhnliche Gespräch wurde Typus des Drama, es hatte Jemand Jenes aus dem Leben in die Kunst übertragen, und soll die Form nicht ganz willkührlich sein, so kann eine neue Form nie anders zu stande gebracht werden, so ist das Epos Nachahmung der Erzählung, das Drama des Gesprächs. Wo ferner Einzelne mit dem Volk zusammentrafen und mit ihm reden konnten, konnte auch und mußte der Chor entstehn, er bedarf immer eines öffentlichen Lebens. Schwindet so noch die Differenz? Das Erste ist der Entschluß bei jedem Werke, das nur aus dem einzelnen Leben verstanden werden kann; hier ist nun die Form Theil des Entschlusses, also auch die Frage. Nehmen wir dies nur so. Die Form ist zwar aus dem Entschlusse hervorgegangen, doch nicht sie allgemein sondern nur ÐalsÑ Kunstform, sie ist Analogie des im Leben Vorgekommenen, und so ist sie doch Etwas außer dem Einzelnen bedingt, und es ist etwas Gegebenes zur stehenden Form in der Kunst zu machen. Nur das liegt in der Gewalt der Individualität des Einzelnen, ob die Form eine stehende Kunstform werde oder nicht, im Uebrigen ist er ganz in der Gewalt der Analogie. Er ist also nur ebenso wie alle Uebrigen, Organ des Gesammtlebens, ist höchstens primus inter pares, aber auch bei ihm bleibt jene Differenz.
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Beginnen wir nun mit dem Einzelnen der überwiegend psychologischen Aufgabe, so wären eigentlich zwei Aufgaben zu lösen, die in Beziehung auf die Totalität des Werks sehr verschieden sind, aber in Beziehung auf dessen elementare Produktion sehr ähnlich sind; jene ist, den ganzen Grundgedanken zu verstehn; diese, die einzelnen Theile aus dem Leben des Autors zu begreifen. Jenes ist also das, woraus Alles sich entwickelt, dieses, das in einem Werk am meisten Zufällige; beides aber ist aus der persönlichen Eigenthümlichkeit des Autors zu verstehn. Unsre erste Aufgabe ist also die zuerst, wie der bestimmte einzelne Mensch zu dem Gedanken, aus dem das Ganze sich entwickelt, gekommen ist; das heißt, welche Beziehung es zu seinem ganzen Leben hat und was es als Moment seines Lebens in Verbindung mit allen andern bedeutet. Der Schein, als ob diese Aufgabe schon gelöst wäre, entsteht wie oben schon gesagt, aus dem was uns gewohnt ist, daß jeder Complexus eine Ueberschrift habe. Wir haben gesehn, wie dieses ganz zufällig sei, und wie jener Schein also Täuschung: denn jene Ueberschrift muß überall gänzlich ignorirt werden. Hier gibt es ferner entgegengesetzte Punkte, nämlich die Genesis solcher Werke in der Allgemeinheit verstehe sich von selbst in dem Maße, in welchem sie in das Berufsleben des Einzelnen gehören. Da bliebe nur die Frage, wie er dazu gekommen diesen Beruf zu wählen, das ist indeß eine Frage, die in Beziehung auf dies einzelne Werk, das vorliegt, gar nicht interessirt. Das Entgegengesetzte war das, die Aufgabe sei in dem Maße schwer zu lösen, als die ganze Thätigkeit in dem Leben eines Menschen zufällig erscheint. Um diese Frage zu lösen, müßte mir also so viel wie möglich aus dem ganzen Leben des Autors gegeben sein. Ein jeder einzelner Moment des Zustandes des Menschen hat nicht nur seinen bestimmten Zusammenhang mit der Zeit, was denn seine Genesis ist, er hat auch seinen bestimmten Werth in Beziehung auf die Totalität des Lebens. Das ist eben seine Bedeutung, aber ich kann von beiden Eines ohne das Andre wissen. In der Frage nach dem zeitlichen Zusammenhang, das ist die Frage, wie ist der Autor zu diesem Entschlusse gekommen, liegt Etwas, was leicht vom rechten Wege in der Hermeneutik abführt und was nicht die Stelle ist, an der die Frage Bedeutung hat. Die Frage geht oft in Anekdotenkrämerei über, wie es in der Art der Entstehung eines Entschlusses immer Zufälligkeiten giebt; sieht man sie und stellt sie zusammen, so hat es den Schein, als wüßte man von der Sache, doch ist das nicht, worauf es hier ankommt. Wenn man in der Geschichte auf die kleinen Ursachen großer Begebenheiten Jagd macht, so verliert
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man alle Haltung; kleine Ursachen zu großen Begebenheiten ist Unding, es liegt in jenen nur der Moment, in dem sie geschehn, aber nicht der Grund. Ebenso ist es mit den Producten auf unserm Gebiete. Denken wir einen fruchtbaren Schriftsteller und stellen uns seine Werke zusammen so wird die richtige Betrachtung darauf gehn, eine gewisse Nothwendigkeit in denselben anzuschauen, zu sagen, in Allen spreche sich die Idee seiner Persönlichkeit aus, so ist das Zusammenschauen der Werke in ihrer Bedeutsamkeit, das freilich nach der andern Seite gehört, aber interessant ist, wenn man seine Werke den Zeitverhältnissen nach kennt, zu schauen wie er begonnen, gestiegen, seine Höhe erreicht und wieder gesunken sei; und Niemand glaube, daß er die Werke verstehe, wenn ihm nicht die Zeitfolge derselben zur Anschauung geworden. Das nun ist die Frage nach der Genesis, will man aber in ihr die Umstände und Verhältnisse wissen, unter denen der Entschluß entstanden, so ist das ein Abirren in jene Zufälligkeiten aus denen nichts Förderndes entsteht; und wenn sie freilich verschiedenen Werth unter verschiedenen Umständen haben; wenn nämlich in einem Werke Anspielungen vorkommen, die eine gewisse Zusammengehörigkeit, Analogie haben, so hat man sicher anzunehmen, daß sie ihren Grund in der Genesis, in der Verwicklung der Umstände ihren Grund [haben], aber etwas bedeutendes erklären jene Umstände nie. In dieser Beziehung werden wir wieder eine Differenz aufzustellen haben, nämlich die Erforschung dieser äußern Ursachen in Beziehung auf den Moment der Hervorbringung des Werks, hat um so weniger Werth, je mehr es aus dem Wesen des Schriftstellers hervorgegangen, denn da wäre es ohne jene Umstände auch zu Stande gekommen, nur in andern Momenten vielleicht. Wenn hingegen der Verfasser durch Aeußeres zu dem Werke gedrängt [wurde], so ist es nothwendig, die äußern Veranlassungen zu kennen. Was bedeutet nun dieser Keim in dem Leben des Autors als sein Entschluß betrachtet, was hat er damit gewollt? Das ist die zweite Frage. Wenn wir es bei Anwendung der Hermeneutik mit lauter Kunstwerken zu thun hätten, so könnte man sagen, die Frage sei durch Stoff und Form erschöpft, er hat nichts Andres gewollt als das Werk in dieser Form behandeln, die Form durch diesen Gegenstand ausfüllen, doch hat die Hermeneutik mit ganz andern Dingen zu thun, da kommt also noch Andres in Betracht, und was der Autor gewollt, geht in diesen beiden Betrachtungen des Stoffes und der Form nicht auf. Denkt man sich die historische Darstellung, also die Geschichtschreibung, so ist das was an das eigentliche Kunstgebiet anstößt, aber auf der andern Seite läßt es sich auch ganz als didaktisch betrachten, wie denn noch außerdem Differenzen sind. Mehrere sollen also einmal denselben Stoff darstellen und
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bearbeiten, da wird, wenn Einer ihn als Schwank, der Andre als zusammenhängende lebendige Darstellung gibt, der Form nach beides historisch, und da ist solche Annäherung, daß beides nicht entgegengesetzt werden kann, Jedes aber bedeutet Verschiedenes. Ferner sind noch so mannigfaltige Differenzen bei dem Geschichtswerke selbst möglich, wo der Eine eine kritische Tendenz hat, falsche Vorstellungen im Zusammenhang der Dinge beseitigen will, wo er denn wieder bald mehr polemisch bald in allgemeinerm Sinne kritisch sein kann, den eigentlichen Werth der Dinge nämlich anders aufzufassen als bisher geschehn. Ein Andrer hat rein die Tendenz die ethischen Motive zur Anschauung zu bringen,und das ist doch beides im Entschlusse bestimmt gewesen und liegt in gewöhnlichem Sinne genommen weder in Stoff noch Form. Verfehlt man nun oder übersieht die eigentliche Tendenz, so kann man auch die Construction des Werks nicht verstehn. Dabei sind nur noch verschiedene Meinungen möglich, wie es ja deren gar viele über die Tendenz der platonischen Dialoge gibt. Jeder hört solche Fragen von seinem Standpunkt aus und fängt man mit vorgefaßten Meinungen an, so wird man zu Nichts gelangen, aber es gibt verschiedene Arten zu sehn und Talent die verschiedenen Momente aufzufassen und zusammenzustellen, mögen auch jene Vorurtheile fortgelassen sein. Auch die hermeneutischen Regeln werden nicht Ein Verfahren bewirken, Jeder wird sich ihrer nach seinem Standpunkte bedienen. Nun sind freilich Fälle, wo der Verfasser seine eigenste Tendenz kundgibt wie im Eingange seiner Geschichte Herodot, doch es ist auch damit eigen, bleibt sie im Sinn und man liest so fort, so werden große Theile ohne eine Spur derselben zu bemerken sein, und man wird zweifeln ob nicht jenes Angeben nicht nur ganz äußerlich gewesen, wenn das gleich nicht nothwendig anzunehmen ist aber jedes Schwanken darüber läßt auch über die Art des Entschlusses schwanken. Bei solchen Gegenständen ist die Sache wohl schwierig, doch ist es noch nicht die schwierigste Sache, sondern in Werken, die in das geschäftliche Leben verwickelt sind, wird es Fälle geben, wo die Tendenz hervortritt und dann wieder absichtlich verborgen ist, um sie desto sichrer zu erreichen, denn läge sie am Tage, so wäre Widerspruch zu erwarten, so aber wird sie erreicht ehe sie bemerkt [ist]. Hat man nun gehörige Kenntniß von dem Leben und Denkweise, von der Relation und Innern des Autors so ist leichter darüber zu entscheiden, wie wenn unter seinen Werken ein bestimmtes Verhältniß Statt findet; je größer aber die Mannigfaltigkeit ist, um so schwieriger ist die Loesung, und es sind Fälle wo die Frage gar nicht zu beantworten ist. Das wäre nun mit die schlimmste Position der Hermeneutik; da wollen wir nun fragen, wie weit dadurch das Verstehen
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werde beeinträchtiget werden? Steht die Frage an der Spitze der ganzen Seite der hermeneutischen Frage, wie es wirklich ist, so ist die ganze Seite gefährdet, und da nun oft die grammatische Seite zum Verständniß nicht hinreicht sondern diese andre Seite voraussetzt, so wird auch jene afficirt und es ist die ganze Operation in dem Maße nicht durchzuführen, als jener bestimmte Punkt nicht aufgeklärt ist. Nun wird es solche Werke geben, die immer hermeneutische Räthsel bleiben, an denen immer umsonst die hermeneutische Kunst versucht wird. Sehn wir die Apokalypse, deren Verfasser unbekannt ist auf gewisse Weise, wenigstens ist er nicht bestimmt; die Tendenz ist eben so streitig, nehmen wir aber auch die prophetische Tendenz an so entsteht noch die Frage, sind die Erzählungen von Visionen wirkliche Erzählungen und sind die Visionen psychische Thatsachen im Autor oder sind die Visionen nur Darstellungsform? Es fehlt uns an Allem, was nothwendig ist um die Frage richtig zu beantworten. Nun gibt es indeß Andres wodurch das Uebel sich verringert. Wir haben gleich Anfangs gesagt, in der Operation des Verstehens fände zwischen der Einheit des Ganzen und den einzelnen Theilen solche Gegenseitigkeit Statt, daß die Aufgabe auf zwiefache Weise gestellt werden könne die Einheit des Ganzen aus den einzelnen Theilen und den Werth der einzelnen Theile aus der Einheit des Ganzen zu verstehn. Ist mir die Einheit nun unbekannt, so kann ich daraus nicht die einzelnen Theile kennen lernen, so muß ich den andern Weg einschlagen, von dem möglichst vollkomnen Verstehn der einzelnen Theile aus die Einheit des Ganzen zu finden, und ist es dabei gelungen einen möglichst sichern calculus zu gewinnen, so ist auch das Ganze zu verstehn, aber jenes Verstehn ist selbst sehr schwierig und dadurch kein sichres Mittel die Aufgabe zu lösen, nur daß sich das Räthselhafte auf gewisse Weise begrenzen läßt. Die Methode nun, nach welcher das Ganze aus dem Einzelnen zu erklären, ist das worauf es hier ankommt, dabei müssen wir uns auf einen Theil der noch nicht behandelten Aufgabe stützen, nämlich auf die Composition. Da müssen wir nun sehn, ob man mehr vorauszusetzen braucht, als man bei Jedem vorauszusetzen das Recht hat, der die Hermeneutik anwenden will. Das Verstehn der Composition hat seinen Ort in der technischen Seite, weil sie ganz von der Form eines Werkes abhängt. Nun ist sehr möglich daß wir, wie wir zugeben, die Meditation sei durch die Form modificirt, auch zugeben, daß wenn 2 denselben Stoff aber unter andrer Form behandeln, ihre Elemente der Meditation dieselben seien, indeß die Composition durchaus von der Form bedingt ist. Denkt man sich, Dieser behandle seinen Gegenstand in rein fortlaufendem, argumentirendem Vortrage, Jener in rhetorisirendem, da werden bei diesem viele Elemente
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ganz anders gestellt sein als bei dem Ersten, und behandelt ein Dritter gar denselben Stoff in wahrhaft chronologischer Form so wird er alle Elemente anders stellen müssen als der Erste. Diese Abhängigkeit von der Form kann nur so vorgestellt werden, und wir sagen daher, daß das Einzelne überall müsse, um ganz verstanden zu werden, auf die Composition zurückgeführt werden. Nun muß ich indeß mir Rechenschaft geben, warum grade das Einzelne grade diese Stelle habe, nach dem Durchschauen der Composition frage ich, indeß die Meditation vorausgesetzt wird. Denken wir uns hiebei die beiden entgegengesetzten Fälle, die Analogie eines Werks mit einem Kunstwerke, so daß es ganz aufgeht in dem Stoffe und der Form und dann den Fall, wo der Autor einen Zweck hat den er erreichen will, aber nicht bestimmt zu erkennen gibt, gibt also dem Leser nur Stoff und Form, erwartet aber dennoch, daß sein bestimmter Zweck werde erreicht werden. Wie ist das möglich? Wenn der Autor mir Nichts darbietet als Stoff und Form und mir also, indem ich das Einzelne mir anzueignen suche, und ich auf die Anordnung, die die Form ausmacht, zurückgehe, alles Einzelne in der Form aufgeht, so wüßte ich nicht, wie Andres noch sollte in mir erreicht werden können. So schreibt Gibbon über eine bestimmte historische Aufgabe, den Fall des Römischen Reichs, in dieser Form geht mir alles Einzelne auf, nun sagen aber doch Manche, das Werk habe einen durchaus antichristlichen Zweck, indem er das Christenthum als Corruption ansehe, wodurch jenes treffliche Werk des Roemischen Reichs wäre gestürzt worden. Entnehme ich das nun nicht aus dem Werke, so hat entweder der Verfasser diesen Zweck gar nicht gehabt, oder für seinen Zweck schlecht gearbeitet. Um nun jene Tendenz zu erkennen müssen auf der einen Seite Andeutungen über das Verhältniß des Christenthums zum menschlichen Geiste vorkommen, die solches Urtheil über das Christenthum involviren. Wollte er nun diesen Zweck erreichen, so könnte er ihn offen aufstellen wollte er das nicht, so müßte er es auf andre Weise thun wo denn die schärfste Stellung die wäre, wenn er diese Meinung vom Christenthum, ohne sie selbst zu äußern im Leser erregen wollte. Das wäre nun ein solches Verbergen der eigentlichen Idee des Werks. Wir werden sagen müssen, es muß alsdann nothwendig Stellen geben, wo der Stoff nicht in der Form aufgeht sondern noch Andres ist und dieses Andre zusammengenommen muß so beschaffen sein, 19–23 Edward Gibbon veröffentlichte seine ,History of the Decline and Fall of the Roman Empire‘ seit 1776; sie umfaßt auch das oströmische Reich bis zum Fall Konstantinopels (1453). Die darin (besonders in den Kapiteln 15 und 16) offen ausgesprochene Tendenz gegen das Christentum als Zerstörer der antiken Kultur wurde sofort heftig diskutiert. In Schleiermachers nachgelassener Bibliothek fand sich anscheinend kein Exemplar des vielfach (auch in deutscher Übersetzung) gedruckten Werks.
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daß es diese Meinung im Leser erregt. Hier können wir noch das Umgekehrte denken, wenn ich nur den offnen Zweck des Buchs im Auge behalte, ich erhalte aber aus dem Buche solchen Eindruck von dem Schaden des Christenthums, der sich mir immer mehr aufdringt, so werde ich zu glauben anfangen, daß der Verfasser das eben als heiligen Zweck gehabt, so liegt doch bei den Elementen der Keim zu etwas Andrem noch nicht Ausgesprochenen, vielleicht sind das additionnelle Elemente, die ihn in sich tragen oder er liegt in der Art und Weise wie Sachen ausgesprochen werden, die denselben Werth auch ohne diesen Zweck haben würden. Jenes sind Nebengedanken, kommen sie nun häufig wiederholt vor, so muß ich auf einen Impuls dieser Art von seiner Seite schliessen, sonst würden sich die Nebengedanken von dieser Farbe und Richtung nicht wiederhohlen. Finde ich in der Composition, Anordnung, daß jener Impuls wirkliche Absicht gewesen, nicht bloße Ueberzeugung sondern die Mittheilung dieser Absicht lag auch in seiner Absicht, so sind da ein Paar Punkte, die mir indiciren solche Richtungseinheit eines Werks, die in der Form wie es sich darstellt, nicht liegt; nemlich das Eine, wenn übrig bleibt was mir nicht klar wird in Beziehung auf die einzelnen Elemente, dann der Ort und die Stelle die sie einnehmen. Die Nebengedanken sind nun nur aus dem gesammten Vorstellungszustande zu begreifen und zwar in Beziehung auf die Momente seines Lebens, in welche die Composition seines Buchs fällt; die sollen nun hier so zusammengestellt sein, daß ihre Wirkungen dieselben sind; und ist das klar geschehn, so entsteht eine gewisse Sicherheit über eine so verborgene Absicht. Nun ist wahr diese Schwierigkeit scheint sich auf sehr geringen Raum zu beschränken, doch ist das nur Schein und es ist eine große Meinung von Fällen, die uns gerade so afficiren müssen, als habe der Verfasser solche verborgene Absicht nicht gehabt weil wir uns in andern Verhältnissen befinden. Nämlich wenn wir denken, es ist die ursprüngliche Absicht gewesen solchen Zweck zu erreichen, ohne ihn erkennen zu geben – ein erzwungener Zustand, also ein mangelhafter und unvollkomner in der Region, in der die Absicht versirt, bleibt das immer –, wie es im Geschäftsleben und politischen höhern Leben geschieht, so ist nicht der Einfluß zu erkennen, den der Einzelne durch Verbergen seiner eigentlichen Tendenz gewinnt. Denken wir uns aber, der Gegenstand der hermeneutischen Aufgabe sei wesentlich im Gebiete der Kunst und Wissenschaft, so wird da jenes Verfahren viel weniger Statt finden, denn soll das Werk ein Kunstwerk sein, der Autor ist aber nicht auch natürlicher Unbefangenheit, so kann sein 4 der] das
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Kunstwerk nur untergeordneten Werth haben, da er die schöpferischen Momente zurückdrängt. Im wissenschaftlichen Gebiet soll es noch offner sein, da soll nur gesagt werden, was ganz offen ist. So ist diese Schwierigkeit entweder nur in solchen Werken im Gebiete der Wissenschaft und Kunst, die weil sie nicht rein sind, auch wenig werth sind, oder solche die mehr Handlungen als Werke sind, weil sie in das Geschäftsleben gehören, also ein sehr beschränktes Gebiet. Wo nun Collision ist zwischen der Richtung der reinen Wissenschaft und Kunst auf der einen und der Gestaltung des Lebens auf der andern ist, da kann jenes Diplomatische eindringen aber nur temporär. Ueberall wo wissenschaftliche Gegenstände oder Gegenstände der Kunst sich in so verwickeltem Zustande befinden, daß entweder in denselben Partheiungen sind, die in das Leben eindringen und Lebensverhältnisse anders modificiren als sie sein würden, wo sich das Staatsleben in Opposition gegen das wissenschaftliche und künstlerische Leben setzt. Da wird Geheimnis in Alles eindringen, indem Jeder seine künstlerischen Ideen verbirgt in das, durch welches er jene Verwicklung nicht zu erwarten hat. Also aus dem was wir bei der gegenwärtigen Aufgabe voraussetzten, aus der möglichst vollständigen Kenntniß der Lebensverhältnisse und der persönlichen Zustände des Verfassers muß sich ergeben, ob wir in seinen Werken so Etwas zu suchen haben oder nicht. Bringen wir das mit, so wird uns nicht entgehn, wo sich Etwas der Art findet. Wenn wir die allgemeinen Verhältnisse und den Charakter aus seinem übrigen Leben kennen, so wissen wir ob er in solcher Verwicklung gelebt oder nicht; oder ist er muthiger und gerader Art gewesen, daß er geradezu den Schwierigkeiten entgegen gegangen sein würde, so ist auch vorauszusetzen, daß er auch hier nicht leicht eine so verborgene Richtung gewählt habe, während im entgegengesetzten Falle, wo wir wissen, daß er ÐschonÑ sich durchzuschleichen gesucht durch die Schwierigkeiten, so ist auch so Geheimes zu erwarten. Gehn wir nun darauf nicht, daß in der hermeneutischen Operation immer das Ganze aus dem Einzelnen und Dieses aus Jenem zu erklären sei, so müssen wir sagen, die Praeliminarien zu dem Studio eines Werks müssen andeuten, ob eine solche Einheit vorauszusetzen. Ist indeß dann auch die eigentliche Tendenz eines Werkes in ihrer Allgemeinheit zu erkennen gegeben, so bleibt noch eine ungeheure Mannigfaltigkeit, von welchen Gesichtspunkten aus und in welchen Beziehungen der Verfasser seinen Stoff in dieser Richtung bearbeitet, so also habe ich das nicht, und nehme gerade an was er nicht gedacht, so kann ich nicht verstehn. Dies ist durch alle Gebiete, es ist das Allgemeinere des uns im besondern aber häufig wiederkehrenden Verhältnisses, daß es Werke gibt, deren Einheit aus Stoff und Form nicht erklärt werden kann.
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Wir wollten den Keim der ganzen Gedankenentwicklung einer Schrift, und das ist der schon bestimmte Entschluß zur Production, der Entschluß zu einer im Allgemeinen bestimmten Production als Thatsache im Einzelnen verstehn, da entsteht zuerst die Frage was für ein quantitativer Theil des Lebens des Einzelnen ist ein solcher? Wir kennen solche Beispiele mehre, wo man sagen kann, das ganze Leben eines Menschen gehe in Ein Werk auf und gehe ich nun auf den Punkt zurück auf dem die Entwicklung beruht, so ist das der Schlüssel zum Verständniß des ganzen Lebens. Nun ist das offenbar das Maximum in quantitativer Beziehung, um die es sich handelt, denn es umfaßt die ganze Existenz von dem Punkte an; ist nun das ganze Werk ein Lebensausdruck, so muß in dem selben Maße, was jenem Punkte voraufgeht, Vorbereitung zu demselben gewesen sein. Solcher Punkt ist also im Maximo Schlüssel für das ganze Leben, und kann jenes Werk sehr wohl ein literarisches sein. Das ist der eine Endpunkt, sehen wir den entgegengesetzten. Man kann sich denken den Fall, daß solch Entschluß an dem Autor etwas Zufälliges sei; betrachten wir das in Vergleich mit Jenem näher, so zeigt sich das als das im Leben am meisten Zufällige, was mit ihm am wenigsten in Beziehung steht. Solcher Act hat keine Haltung in der Continuität des Lebens, ist nur gelegentlich. So tritt sich beides entgegen, ein das ganze Leben umfassendes Werk und eine gelegentliche Production. Dieser Gegensatz scheint sich aufzuheben, weil wir einzelne Menschen denken können, die nie etwas Andres als Gelegentliches thun, was den Mangel einer starken Einheit in ihnen voraussetzt, so ist auch der Mangel einer bestimmten Richtung in ihnen vorauszusetzen. Diese müssen indifferent sein gegen die wichtigsten Einflüsse ohne daß ein gewißes Princip von Selbstbestimmung in ihnen wäre. Solcher in der Gesellschaft, so daß sein Leben in das Andrer und Andrer in das seine eingreift, kommt durch seine Beschaffenheit in die wechselnde Gewalt der Gesellschaft; doch ist gerade auch das wieder eine gewisse Einheit, er erhält den Charakter eines dienstbaren Geistes und das scheint sein Beruf, gewinnt der Schein die Einheit, der indeß nur durch die Voraussetzung entsteht, daß er in der Gesellschaft ist und hängt ab von seiner Unfähigkeit, sich auf genügende Weise selbst zu bestimmen; finden wir von ihm eine Menge Productionen, die alle nur gelegentlich sind, so haben ihn die Andern gut benuzt. Dazwischen steht ein Drittes; denken wir eine so bestimmte Richtung als die zuerst gezeichnete, so müssen wir doch sagen, es kommen, wenn Solches in solcher Richtung begriffen, einzelne Thätigkeiten zu Stande, die durch die Richtung zwar bestimmt sind, nicht aber einzelne Theile jenes Werkes sind. Denkt man sich einen Historiker, der sich ein Werk vorsetzt, auf welches
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auch alle seine Forschungen gerichtet sind, so ist der Keim da; nun ist indeß die historische Darstellung eine Kunst, zu der es der Uebung bedarf; wollte er nun diese Kunst an dem Anfange seines Werks üben, so würde das Werk nicht durchgängig gleich, denn der Anfang würde ein Zeugniß seiner Unvollkommenheit wie das Ende seiner Vollkommenheit geben, so wird er sich also an analogem Anderm üben; es wird ihm das Bedürfniß entstehn, Einzelnes in der geschichtlichen Form als Uebung zur Darstellung zu bringen. Nun würden wir sagen müssen, jede solche Production ist nicht das Werk selbst noch ein Theil desselben, gehört aber auch nicht in das Gelegentliche weil es in Beziehung auf jenes Werk steht, es ist das was man durch Studium bezeichnet. So sind die 3 quantitativen Abstufungen, während der Entschluß im Autor sein kann, nämlich Gelegenheitsachen oder Studium oder Werk; obwohl wir nicht an den einzelnen Fall es zu halten brauchen, daß das ganze Leben in Einem Werke aufgehe, sondern da können mehre an der Spitze stehn; es bleibt dieses doch das Maximum, das Studium der Mittel, Jenes das Minimum; außerhalb diesem läßt sich Nichts denken, denn wir haben hier 2 Grenzpunkte, den Einen als Einheit oder Mehrheit, doch mit demselben Werthe, den andern als Einzelnes oder sich Wiederholendes, und das Dritte ist zwar nicht die arithmetische Mitte, aber das ÐinÑ Beziehung auf das Eine und Andre bestimmte Mittel. Ist nun die Erkänntniß der quantitativen Bedeutung solches Anfangspunktes Etwas für die hermeneutische Aufgabe wichtiges oder nicht? Es ist leicht einzusehn, daß dieses von großer Wichtigkeit ist, so bald wir die Verschiedenheit des Verfassers von solchem Punkte aus entwickeln. Dieses läßt sich am besten erkennen, wenn wir von dem ausgehn, was Einer sich als Studium gemacht und wir das verstehn sollen, dieses hat lange nicht den Werth als ein Werk, denn das Verfahren bei solchem Studium bringt in das daraus hervorgehnde durchaus eine subjective Tendenz, und kenne ich sie nicht, so habe ich keine Ursache, alles Vorkommende auf dieselbe Weise bestimmt zu denken und so wird die psychologische Seite der Operation von jedem Punkte eine andre, in welchem die Natur des Werks sich am meisten ausspricht. Niemand wird nun behaupten, man habe vorauszusetzen, alle Theile der Production einer Schrift werden mit demselben Interresse behandelt, das ist ein selten zu erreichender Grad von Vollkommenheit und schwerlich ist jemals im Fortlauf jeder Production ein Werk zu Stande gebracht, sondern wo wir in der That ein so gearbeitet scheinendes Werk finden, da müssen wir sagen je mehr das der Fall ist, um so mehr hat es ein so gleichförmiges Maß nur durch Ueberarbeitung erhalten können. Diese Differenz wird durch kritische Beleuchtung erst ausgeglichen, solche Un-
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gleichheit ist immer vorauszusetzen, aber wohl wird man sagen können, wenn wir sein Werk betrachten, so finden wir jene Ungleichheit als Minimum; je mehr es in sich organisirt ist und Jedes also seinen bestimmten Zusammenhang mit dem Ganzen und seiner Grundeinheit hat, um so weniger ist jene Differenz zu bemerken. Ist das Werk ein Studium, so ist seine Ungleichheit gerechtfertigt, weil es als Studium eine bestimmte Richtung hat. Jede solche Uebung hat einen ganz andern Charakter als das Werk selbst und muß ihn haben, liegt nun dem hermeneutischen Verfahren keine richtige Ansicht über den Werth solchen Werks zum Grunde so ist dadurch der Keim zu Mißverständnissen gelegt. Fragen wir nun, wie das zu bestimmen sei, wie wir zu einem sichern Urtheil gelangen können, ob das Werk das Eine oder Andre sei, so gehört dazu eine Notiz von der Gesammtthätigkeit des Autors. Denken wir uns, daß Ein und derselbe ein Werk und Studium zu diesem Werke gemacht, das Werk sei aber verloren und nur das Studium vorhanden, so wird der schwerlich ein richtiges Urtheil gewinnen über den Verfasser, wer dies nicht weiß, er wird das Werk als unvollkommen, einseitig gearbeitet betrachten, doch ist das ein falsches Urtheil, und das Verstehen der Momente als Thatsachen ist hiedurch schon alterirt. Ein Andrer wird sagen können, es sei durchaus keine Harmonie in jenen Productionen, und könne man aus ihnen schließen, der Verfasser habe kein ganzes Interresse an dem Bearbeiten der Gattung gezeigt, habe nur einzelne Theile bearbeitet. Dies Urtheil ist dann aber eben so unrichtig und beide der hermeneutischen Behandlung gleich nachtheilig, sie beruhen aber in der Unkenntniß der Gesammtthätigkeit des Verfassers. Außerdem ist noch ein Punkt wenn wir von diesen mittleren Productionen absehn, nämlich der Gegensatz zwischen Werken und gelegentlichen Productionen. Es ist klar, daß in den Werken der Autor sich weit klarer aussprechen muß als in gelegentlichen Productionen. Diese beruhen auf einfachen Impulsen und sind für bestehende Elemente, in ihnen ist eine gewisse Selbstverläugnung und die Thätigkeit des Autors bestimt sich mehr durch sein Verhältniß zu dem, von dem der Impuls ausgegangen; er wird sich auch richten nach dem Geschmacke des Kreises, in dem seine Productionen entstanden und die Materie wird ihre Erklärung finden und zu begreifen sein aus einem bestimmten Kreise des Gesammtlebens, auf den es sich bezieht, nicht so aus ihm selbst. Was eine Gelegenheitsschrift ist, hätte auch können ein Werk sein, aber dann wäre es ganz anders geworden. Wir haben ein sehr großes Beispiel von hohem Kunstwerthe, an dem dies schwierig zu unterscheiden ist, an den Pindarischen Oden; von der einen Seite betrachtet erscheinen sie als Gelegenheitsstücke, beziehn sich auf die Wettkämpfe und entstan-
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den auf Auffoderung des Siegers oder Andrer, die sich dem Sieger wollten gefällig machen und danach mußte sich denn alles richten, das ganze Product ist also nicht auf innerliche Weise im Dichter geworden, sondern kann nur aus dem Zusammentreffen zwischen ihm und dem Sieger begriffen werden. Auf der andern Seite sind sie vollendete Kunstwerke und so erscheint was am entgegengesetztesten schien, in ihnen einander durchdringend. In diesen Werken ist aber jene Selbstverläugnung, ja das Räthsel ist wohl gelöst, wenn wir sagen, der Dichter habe diese Gelegenheitsstücke zu seinem Berufe gemacht. Fassen wir Alles zusammen so ist auf der einen Seite der Lebenskreis, auf welchen das Gedicht sich bezieht, auf der andern, der Dichter will nur sich in diesem Kreise unterscheiden, es ist eine Manifestation seiner selbst und er ÐentsagtÑ dem Gelegenheitswerk als solches auch Kunstwerk zu sein. Ist gleich solche Erscheinung selten, für die Hermeneutik muß doch beides richtig gefaßt und sein quantitativer Werth richtig geschätzt werden. – Nehmen wir beide Differenzen die der Gelegenheitsschrift und des Werkes zusammen, daß nämlich jedes Werk eine Einheit haben kann, die höher ist als die reine Beziehung von Stoff auf Form so ist das Gelingen der hermeneutischen Aufgabe ganz davon abhängig, ob diese richtig gefunden werde. Beide Arten haben nur verschiedenen Werth nach der Verschiedenheit des Werths des Schriftstellers; bei einem unbedeutenden kümmert man sich nicht darum, was er mit dem Werke gewollt. Das hängt genau mit der Wichtigkeit der hermeneutischen Aufgabe dieser Seite zusammen. Was macht denn nun zum wichtigen oder unwichtigen Autor? Dieser ist es bei dem es am wenigsten darauf ankommt, sein Werk als Thatsache seines Lebens zu verstehn, sondern wo diese Seite ganz gegen die grammatische verschwindet. Es ist gesagt, es gäbe Fälle, wo der Schriftsteller die Einheit seines Werkes zu verbergen suche. Das werden die sein, in denen am meisten solche Theile bleiben, die auch durch Beziehung von Stoff und Form und umgekehrt nicht verstanden werden. Vergleichen wir dies mit der letzten Differenz und fragen auf der andern Seite, was zu jenem Maximo und Minimo gehöre? Wollen wir zu jenem Maximum das Minimum suchen, es gäbe in einem Werke nichts Einzelnes, was nicht aus Beziehung von Stoff auf Form zu verstehen sei, das würde das vollkommenste Kunstwerk in gewissem Sinne sein, weil es aber nur Kunstwerk wäre zugleich auf der andern Seite als Werk eines Einzelnen höchst unvollkommen. Läßt es sich nämlich ganz begreifen aus der Beziehung zwischen Stoff und Form, so dominirte dies das ganze Werk, es zöge sich wenn die Form gegeben wäre, 7 Selbstverläugnung] selbst Selbstverläugnung ist
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die ganze Thätigkeit des Verfassers darauf zurück, daß er den Stoff gewählt und die Form, weiter hätte er aber auch gar nichts zu thun. Dies kann nun nicht vorkommen, weil es nicht so absolut bestimmte Formen gibt, daß sich wenn der Stoff dazu gegeben wäre Alles von selbst verstände. Es ist wenn über einen Gegenstand in einer bestimmten Form geredet wird, sehr Vieles was alle Werke sagen müssen (Platon, Phaedrus), ebenso ist eine gewisse Ordnung, in der alle übereinstimmen. Aber jemehr nun das der Fall ist, um so weniger Individuelles wird vorkommen, was von der Eigenthümlichkeit des Autors abhängt und sollen wir uns denken, daß ein Werk einen gewissen Grad von Vollkommenheit habe und doch ohne allen Einfluß der Eigenthümlichkeit sei, so müßte das Gebiet, wozu das Werk gehört, mechanisirt sein. Je feststehender die Formen sind, je mehr nähert man sich solchem Gebiete, und je bestimmter die Gesetze einer Form sind, um so leerer ist die Production von Eigenthümlichkeit. So steht also das individuelle Leben diesem Mechanisiren gegenüber, doch gestaltet sich dieses Verhältniß in den Schriften verschieden, jenachdem das Individuelle zurücktritt. Ganz tritt es nie zurück. Da kommen wir nun in Verlegenheit in Bezug auf das, was sich in der Theorie der Kunst geltend gemacht. Denkt man sich den Fall der alten Tragoedie, so ist hier die Form auf gewisse Weise und in gewissem Grade wirklich bestimmt; haben indeß auch mehre Dichter denselben Stoff neben einander zu bearbeiten, so werden ihre Dispositionen sehr ähnlich sein. Je größer aber die Differenz erscheint, je mehr ist es von der einen oder andern Seite eine größere oder geringere Unvollkommenheit. Vergleicht man nun solche Tragoedien, so werden sie doch sehr verschieden sein, obwohl doch selbst die Charaktere ihnen durch den Stoff bestimmt waren. Welches ist der Grund dieser Differenz? Indem wir das Ganze auf einen Willensact des Verfassers zurückbringen so fragt sich, was hat der Eine, was der Andre gewollt? Die Beziehungen von Stoff auf Form sind dabei nur aeußerlichlich, und wollte man sagen der Eine oder Andre hat dabei einen bestimmten politischen oder moralischen Zweck gehabt, so müßten wir sagen, dieser habe da sogleich den reinen Charakter des Kunstwerks verfehlt, indem man aufgestellt hat, es solle das Kunstwerk keinen bestimmten Zweck haben, hier habe indeß die Kunst einem bestimmten Zwecke dienen müssen. Soll diese Theorie richtig sein, so müssen wir sagen, nur eine bestimmte Richtung könne zum Grunde liegen, 11 sei] sein 6 Der zweite Teil von Platons ,Phaedrus‘ handelt vom guten Reden und Schreiben; er enthält auch den Mythos vom Gotte Theut.
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die aber nicht bestimmter Zweck sein solle. Das gilt nur sofern das auszulegende Werk ein Kunstwerk ist, denn da bleibt Nichts übrig, es geht Alles in Stoff und Form auf. Wenn der Werth einer Schrift eigentlicher Kunstwerth sein soll, so darf auch Nichts andres in die Volition gesetzt werden, als die Selbstmanifestation, die aber jedem bestimmten Zwecke entgegen ist, die nur das Bestreben ausspricht Stoff und Form zu behandeln. Nun ist der Unterschied zwischen diesem und dem andern Falle, wenn die Voraussetzung eines besondern Zweckes gelten soll, so groß, daß dadurch das ganze hermeneutische Verfahren auf dieser Seite ganz anders bestimmt wird. Die nächste und allgemeinste Frage bei einem Werke ist die aber, will dieses Werk denn als Kunstwerk angesehn werden? Da fragt sich, ob das durch die Form bestimmt sei oder nicht?, welche Frage uns auf ein verwandtes Gebiet zurückführt. Wenn in einem bestimmten Sprach und NationalGebiete sich die Kunst auf eine bestimmte Weise gestaltet, dann muß sich an der Form sicher unterscheiden lassen können, ob ein Werk so wolle behandelt sein oder nicht, doch wo ist das jemals auf so vollkommne Weise gewesen? Denken wir es uns aber auch auf die vollkommenste, so werden dennoch im zusammenhängenden Leben die Fälle nicht ausbleiben, wo die eigentliche Kunstform zu besondern Zwecken mißbraucht ist. Doch läßt sich das leicht erkennen; wo das Statt findet, hat der Künstler vielleicht den eigentlichen Zweck verborgen, und es wird das Kunstwerk viele Einzelheiten vorbringen, die nicht zerstreut und Nebensachen sind sondern die ein Ganzes bilden und die wahre Tendenz ausmachen. Da ist ein großes Gebiet, das in dieser Beziehung in gewissem Sinne zweideutig ist. Doch müssen wir von der eigentlichen Kunst feststellen, das Wollen eines bestimmten Zwecks verunreinige die Kunst, ebenso das eines realen Erfolges. Nun ist überall, in allen Gebieten auch außer dem eigentlichen eine gewisse Tendenz zur Kunst, die die Frage zweideutig machte und die Antwort schwierig. Von der Geschichtschreibung ist es schon angeführt, sie hat große Annäherung an das Kunstgebiet, doch hat sie einen rein wissenschaftlichen Ursprung und soll nur die Begebenheiten dem, der sie selbst nicht erlebt, so nahe bringen, als ob er sie erlebt; Nun ist aber keine Erzählung einer Begebenheit der nicht ein Urtheil beigemischt wäre; so bringt auch hier Jeder dem Publico die Begebenheit auf die Weise nahe, wie er sie sieht, darin liegt die Eigenthümlichkeit seiner Person, Principien und Maximen, und das geht aber auf das was in der Begebenheit freie menschliche Handlung ist. Will man dies als Zweck ansehn, so ist das unrichtig, es ist 14–15 bestimmte] über gewisse
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das nur das Natürliche und Unvermeidliche oder Sinnliche und in demselben Grade es das ist, ist es auch das Bewußtlose und hat auf die Composition keinen Einfluß. Ganz anders ist es, wenn ein Schriftsteller die Darstellung von Begebenheiten als Mittel gebraucht, eine gewisse Maxime zu empfehlen oder zurückzuhalten, das ist ein andrer Zweck und ist von der Art daß er ihn verbergen muß, weil er nicht im natürlichen Verhältnisse von Stoff und Form liegt. Jenes ist das sich selbst Aussprechen, das in jedem Kunstgebiete ist schon in der ersten Volition, von der das Ganze ausgeht, aber das Andre ist auch Zweck. Je mehr also in einer Form der Rede ein besondrer Zweck, wenn er obwaltet, sich verbergen muß, um so mehr ist die Form selbst als Kunstgebiet zu betrachten. So gibt es also in dieser Beziehung einen gewissen Gegensatz hier zwischen Kunst und Praxis auf der einen Seite, auf der andern zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Letztere hat ihren Zweck in sich selbst denn er ist ein andrer als die Selbstmanifestation, die überall der Kunstproduction zum Grunde liegt, sondern ist dort ein rein objectives, die Erkänntniß öffentlich zu machen und mitzutheilen aber auch in dem eigentlichen Gebiete der Wissenschaft gibt es eine Annäherung zur Kunstform, daraus können denn auch Complicationen entstehn. Denkt man sich die These, das Werk des Euklid sei gar nicht ein einfach didaktisches Werk um in lükenlosem Fortschreiten die geometrische Lehre vorzutragen, sondern habe ein bestimmtes Problem und es weise Alles darauf hin, auf die Einschließung nähmlich aller regelmäßigen Körper in der Kugel, so müssen wir sagen, die Composition sei in beiden Fällen nicht dieselbe, die hier die richtige ist, würde dort angewandt falsch sein und umgekehrt. Offenbar werden in diesem Gebiete bedeutende Veraenderungen eintreten, so lange eine Annäherung an die Kunstform eintritt. Das können wir aufstellen, je mehr der Gegenstand solche Annäherung an die Kunstform verträgt, um so mehr wird danach gefragt werden müssen, ob denn der Autor eine solche Annäherung gewollt. War sie in seiner Volition, so wird sie sich in seiner ganzen Composition zu erkennen geben. Bei der rein wissenschaftlichen Mittheilung ist es am wenigsten möglich, daß sie den wirklichen Endzweck verberge, er liegt gleich zu Tage. So wie eine Annäherung an die Kunst Statt findet, so liegt er eo ipso nicht so am Tage und wird aufgesucht sein wollen. Nun gibt es schon Kunstmäßiges an und für sich in der Behandlung der Schriften und ein größerer oder geringerer Grad in dieser Beziehung hat bedeutenden Einfluß auf das Ganze der Composition. Dieselben Gedanken erfodern nothwendig eine andre Darstellung 4 Begebenheiten] folgt gebraucht
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wenn auf das Kunstmäßige im Schreiben zugleich Rücksicht genommen wird und die Schrift selbst also eine wohlgefällige sein soll und wenn eine obective Mittheilung für sich obwaltet. Und verfehlt man dies, so kann man auch das Verfahren des Schriftstellers nicht nachconstruiren. Dies sind die beiden Extreme in dieser Beziehung, das Interresse an einer technischen Vollkommenheit in der Sprachbehandlung auf dem wissenschaftlichen Gebiete, denn die ÐErreichungÑ eines auch positiven Zwecks, das Arbeiten auf einen Effect im eigentlichen Kunstgebiet sind insofern Extreme, sofern dieses Letztere Verfälschung hervorbringen muß, doch muß das Andre zum Wohlgefallen immer in einem Werk sein, wenn es nicht seinen objectiven Zweck auch verfehlen soll, denn der darauf keinen Bezug nimmt, entfremdet seine Leser und es hat einen großen Einfluß, eine wohlgefällige Behandlung der Sprache zu finden, und es kommt nur darauf an, den Grad zu bestimmen. – Wir werden sagen können, Alles was in höherm Umfange Mittheilung durch die Rede ist, bildet einen eigentlichen Gegenstand der Auslegungskunst und das liegt entweder in einem bestimmten Geschäftskreise oder hat Analogie mit der Wissenschaft oder mit der Kunst; diese sind nun unmöglich einander schroff entgegengesetzt, auch das, was im Geschäftskreise versirt kann eine kunstgemäße Darstellung haben u.s.w., es gibt da Gemeinschaften und Uebergänge, doch kann man sich diese bestimmten Gesichtspuncte stellen und nun sehn, ob ein Werk mehr aus dem einen oder andern aufzufassen und zu beurtheilen sei, drauf das bisherige anzuwenden, und daraus die verschiedenen Verfahrungsweisen abzuleiten. Hiezu kommt der Zweite, gewisse Complexus von Gedanken, der Gegenstand der Auslegungskunst wird, hat eine Einheit, die in der Beziehung zwischen seinem Gegenstande und der Form liegt, das ist die objective und diese ist in allen 3 Gebieten, sie mag die objective oder technische Einheit heißen, jene Bezeichnung ist mehr vom Elemente, dem Stoffe; die andre mehr von der Form hergenommen und im Einen soll nur das Andre verstanden werden. Dazu nun hat jeder Complexus von Gedanken eine Einheit, die über jene hinaus liegt, doch aber in derselben Willensmeinung ist, durch welche Stoff und Form zusammengekommen. Diese Einheit ist die subjective, die welche der Autor als solcher dem Werke gibt. In jedem Werke, Complexus von Gedanken, der im Kunstgebiete liegt ist keine andre vorauszusetzen, als die Selbstmanifestation, er will sich grade in diesem Typus von Gedankenproduction zeigen; etwas Andres darf unter jener unmittelbaren Voraussetzung nicht gelten, und da wir 26 in der] mit
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nun gesagt, es sei nicht möglich daß die künstlerische Production durch eine anderweitige Richtung alterirt sei, da entsteht nun die Aufgabe, wo eine Bestimmtheit in dieser Hinsicht zu finden sei. Wie ist aber die Aufgabe zu lösen? Ebenso bei der zweiten Art wollen wir die Aufgabe zu stellen suchen, doch da die Schriften die im Geschäftsleben liegen ihren bestimmten Zweck haben, der sich von selbst herausstellen muß, und den man nur finden muß wenn man eine allgemeine Uebersicht genommen, so ist in diesem Falle die Aufgabe schon von selbst gelöst. Hier kann indeß noch ein andres eintreten, wo die Analogie mit der Kunst Nebenzweck wird, da muß sich unterscheiden lassen, wie viel oder wenig der Verfasser auf das Wohlgefällige, das Kunstmäßige der Darstellung gelegt, wie diese Analogie sich manifestirt und auf den Hauptzweck einwirkt. Doch ist auch möglich, daß der eigentliche Zweck nicht ein einfacher sei, sondern Nebenabsichten im Werke seien, und diese müssen ganz entdeckt werden, weil wir sonst den Hergang im Schriftsteller nicht finden und im Versuche, seine Composition und Meditation zu finden, irre gehn. Alles was im weitesten Sinne auf dem Gebiete der Wissenschaft liegt, hat nur den unmittelbaren Zweck, der Verbreitung dessen, was Jemand weiß, also das Didaktische ist hier die Hauptsache, wie sich denn das eben so leicht wie jenes Vorige zu erkennen gibt. Dabei ist Rücksicht zu nehmen, wie viel oder wenig Werth der Verfasser auf die Art der Darstellung gelegt und mit welcher Gleichmäßigkeit oder Ungleichmäßigkeit dies auf seine ganze Art und Weise gewirkt. Solche Werke können noch einen Nebenzweck haben, der nicht unmittelbar zu Tage liegt, der aber immerhin auf dem Gebiete der Wissenschaft liegen kann, wie eine Schrift eine durchgehende polemische Tendenz haben, die Manche übersehn können, ebenso einen geschäftlichen Nebenzweck und das wird wohl das Schlimmste und Schwerste sein. Wie sind diese untergeordneten Einheiten zu finden? Da ist das Resultat das, es ist niemals die unmittelbare Voraussetzung im Voraus, daß es eine solche gäbe, so muß die Sache selbst es auf gewisse Weise zeigen; wenn man nicht eine Ahndung solchen Zwecks aus der Schrift selbst erhält, so hat man keinen Grund ihn anzunehmen. Wir haben nun in Beziehung auf Werke, die in das Gebiet der Kunst gehören, eine Fiction zum Grunde gelegt, nämlich, daß die bestehende Form so bestimmt wäre, daß wenn Mehre denselben Stoff in ihr bearbeiteten, die Differenz zwischen ihnen sehr gering sein würde; das war geschehn, um zu zeigen, wie die objective Einheit so dominire, daß die subjective der SelbstManifestation nicht genug heraustreten kann. Denken wir, daß ein Zustand der Kunst dieser dominirenden Gewalt des Objectiven sich nähere und wir haben Drang zur Selbstmanifestation, so werden neue For-
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men gesucht werden und das ist der natürliche Schlüssel zum Antagonism zwischen dem Dominantsein des Künstlers durch die Form und dem Produciren in der Form. Denken wir uns daß dabei ein Nebenzweck sei, so wird dieser allerdings eine gewisse Gewalt ausüben müssen gegen jenes Herrschen der Form, der die reine Selbstmanifestation unterliegt, und dadurch denn wird diese eben erkannt werden, lassen wir ihr über die objective Einheit Freiheit, so ist Alles was nicht durch die Darlegung des Stoffs bestimmt ist als Selbstmanifestation des Schriftstellers anzusehn und so machen wir uns ein Bild von ihm in seiner Art und Weise zu denken. Denken wir, daß wenn Mehre denselben Gegenstand behandelten, dabei auch dieselbe Tendenz haben, so wird man annehmen können, es läge ein gemeinsamer Grund ihnen zum Grunde; finden sich aber Elemente, welche jene gemeinsame Tendenz eben nicht zeigen so hat man auch nicht das Recht, ihnen solchen gemeinsamen Grund unterzulegen, sondern dieser ist das freie Spiel der Vorstellungen höchstens, welches außerhalb der Domination des Objectiven liegt. Das wird sich bei Andern nicht ergeben, aber überhaupt in jedem wissenschaftlichen Werke wird es Elemente geben, an welchen sich das Maß von des Autors Willen in der Darstellung nehmen läßt. Mein Wissen kann ich nun in jeder didaktischen Form niederlegen, doch so daß ich Wohlgefallen in der Darstellung errege. Beides zusammenfassend finde ich die ursprüngliche Willensmeinung. Ist nun auch ein andrer Zweck, so wird dieser sich auf dieselbe Weise kundgeben, denn der Verfasser kann ihn nicht erreichen, wenn nicht bestimmte Elemente in ihm aufgehn. Können wir ihn dann auch nicht auffinden, weil wir die Relation nicht kennen, so müssen wir doch wissen, daß ein solcher Zweck da ist, und daß es uns nur an Materialien fehlt, um ihn auch in seiner Bestimmtheit zu erkennen. Hier ist das Verhältniß immer dieses, daß sich neben Stoff und Form noch Etwas verbergen will. Verbirgt es sich nicht, so war das auch in die Willensmeinung nicht aufgenommen, wie wenn eine wissenschaftliche Schrift polemisch ist, denn nur in einem Kunstwerke liegt die Nothwendigkeit den Nebenzweck zu verbergen in der Kunstform, und es kann nur in einer Schrift, die einem bestimmten Geschäftskreise angehört das Interresse einen Nebenzweck zu verbergen in der Totalität des Zwecks des Verfassers liegen, also außerhalb der Form. Doch in diesem Gebiete liegt nur die Möglichkeit solche Nebenzwecke zu verbergen, die Nothwendigkeit liegt in der Kunstform; wo also solch verbergendes Element in der verschiedenen Willensmeinung mitgesetzt ist, muß es sich im Einzelnen immer zu erkennen geben, wenn es auch verborgen ist. Um nun so den Zweck herauszufinden bedarf es einer scharfen Aufmerksamkeit, wie diese Auf-
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gabe auch nur nach jener Operation einer allgemeinen Uebersicht gefaßt werden kann. Da sehn wir schon wie wenig die ganze Operation einfach ist und wie die Aufgaben sich erst stellen lassen, wenn man im Geschäfte begriffen ist oder nicht; nur wenn man Kenntniß des Schriftstellers und seiner Lage hat, kann man im Vorraus die Ahndung solches Verhältnisses [be]kommen. Wir haben schon von Anfang an unterschieden zwischen Hauptgedanken, solchen, die mit dem Stoffe und der Form, in der er verarbeitet werden soll, nothwendig zusammenhängt und Nebengedanken, bei denen das nicht ist. Das Verhältniß ist nun verschieden, doch ist die Bestimmtheit desselben wesentlich zur Einheit des Werks, denn ein ganz andres geht hervor wenn, mögen Form und Stoff auch dieselben sein, dieses Verhältniß sich bedeutend ändert. In Beziehung auf diese Charakterbestimmung des Werks müssen wir dieses Verhältniß in seinen Extremen auffassen, da ist einmal das quantitative Verhältniß zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken zu beobachten, nämlich denken wir die große Strenge im Ausschließen aller Nebengedanken, so bringt das quantitative Verhältniß die Nebengedanken auf ein Minimum zurück, und das hat Einfluß auf den ganzen Umfang der Darstellung; denn sind alle Nebengedanken entfernt so ist der Gegensatz zwischen Haupt und Nebengedanken null, doch nur weil die einen fehlen, und sie fehlen, weil der Verfasser den Gegensatz im Auge hatte[,] der GegenÐsatzÑ Ð Ñ also durch das Werk. Ebenso denken wir die Nebengedanken in einem Werke großen Raum einnehmend, da scheint auch der Gegensatz zwischen beiden aufgehoben, weil das Eine soviel Raum einnimmt als das Andre, doch den Gegensatz hat der Schriftsteller bestimmt und in solchem Verhältniß. Ich kann die Hauptgedanken von den Nebengedanken unterscheiden, sonst würde ich das Verhältniß nicht wahrnehmen, der Gegensatz bestimmt ÐnurÑ. Das Zweite ist wirklich ein Andres; wenn im Autor der Gegensatz aufgehoben, dann ist das Ganze mehr eine freie Gedankencombination, ein freies Spiel, in welchem solch ein Gegensatz nicht Statt findet, denn da kommt zur Darstellung was in dem Momente im Gemüthe aufgeht, das bald wieder von dem Nächsten verdrängt wird. In beiden Fällen ist auch die Willensbestimmung des Verfassers eine ganz andre. Wenn der Gegensatz zwischen Haupt und Nebengedanken dominirt, ist die Einheit bestimmter, wird dieser loser, so verschwindet er. Wo das freie Spiel ist, da tritt nun doch die Selbstmanifestation schärfer hervor, doch nur in gewisser Absonderung, in bestimmter Form, und dieser Gegenstand führt uns nie auf diese: Ueberall wo eine bestimmte Form ist, da wird auch der Gegensatz zwischen Hauptgedanken und Nebengedanken dominiren, gleichviel ob in einer strengen oder in üppiger Rede. Wo
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jener Gegensatz ist da ist das Gebundensein durch eine bestimmte Form, wo er ÐruhtÑ, ist Formenlosigkeit, da gibt sich die Form als ein Minimum in Hinsicht ihrer bestimmenden Kraft zu erkennen; das ist das qualitative Verhältniß zwischen beiden. Ist nun durch einen Entschluß dieser Gegensatz aufgehoben so ist das nichts Andres als auf unbestimmte Weise sich einer freien Productivität hingeben von dem Puncte aus, der der Entschluß ist. Solche Action wäre eigentlich in gewissem Sinne null, es müßte immer etwas bestimmendes sein, wenn etwas bestimmtes da sein soll und jedenfalls ein Anknüpfungspunkt. Wollen wir die analogen Erscheinungen aufnehmen, so finden wir sie in jedem Acte, der eine Conversation entstehn läßt; da wird nur ein gewisses gemeinschaftliches Fundament vorausgesetzt, daß die Personen wenigstens vorher zusammen gewesen, wenn auch nur Augenblicke und sich so der freien Production hingäben, alle solche Production entwickelt sich aus solchem Punkte, dies liegt, fassen wir die hermeneutische Aufgabe in der größten Allgemeinheit, auch in ihr. Auf dem Gebiete der Schrift sind übrigens hiezu Analogien. Correspondenz ist doch nur ein durch die Ferne auseinandergetretener Dialog; ein Brief ist Theil solchen Dialoges, und in ihr haben wir eine bestimmte Gattung, von welcher gilt, daß in ihrer Reinheit betrachtet, sie ein sich hingeben freier Productivität ist, wobei jener Gegensatz zwischen Haupt und Nebengedanken gar nicht in die Volition aufgenommen wird, sondern was irgend den Andern angeht, hat gleiches Recht und was Manifestation meiner für ihn sein kann hat gleiches Recht. Diese Productionen stehn im Gegensatze zu allen, wo jener Gegensatz dominirt. Will man die Aufgabe auf dieses Gebiet stellen als Anfang der ganzen hermeneutischen Behandlung nach dieser Seite hin und fragen, ist dies ein solches Gebiet, wo wir außer der psychologischen auch noch die technische zu behandeln haben und außer der Einheit die Mannigfaltigkeit, die auf dem Gegensatze beruht [ ] Ohne Interresse ist es nicht für die hermeneutische Behandlung, wenn man sie durchführt. Im Ganzen genommen und von der Voraussetzung größerer Gedankencomplexis ausgehend dieses als Thatsache im Autor verstehn zu wollen müssen wir zuerst die Keime aufsuchen und indem wir die Entwicklung derselben ganz verlassen, das Einzelne verstehn, was nicht in der Entwicklung liegt, sondern hervorgeht aus dem freien Spiele der Vorstellungen. Die Entwicklung des Keimes würde Gegenstand der technischen Interpretation werden und da unterscheiden wir wieder das Verständniß der Meditation, der auseinandertretenden Momente, und das der Composition, das heißt dessen, was eine 29 [
] ] Hier hat Calow eine Lücke von etwa sieben oder acht Worten gelassen.
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Einheit nie geworden. Denken wir uns nur den Fall eines solchen sich gehen lassens in Gedanken, die einem Andern mitgetheilt werden, so müssen wir zuerst den Anknüpfungspunkt zwischen beiden suchen, das Verhältniß zwischen beiden muß ich kennen um die Einheit wirklich zu realisiren, doch entsteht zugleich der Unterschied zwischen dem was sich aus diesem Verhältnisse von selbst entwickelt und dem was von außen zu dem Schriftsteller kommt. Diesen Unterschied muß ich auffassen können, doch ist wohl zu bemerken daß sich das Alles in diesem Falle auf ein Minimum zurückzieht, Alles in verjüngtem Maßstabe erscheint. Ebenso läßt sich nicht behaupten daß solch Gedankencomplexus gar nicht mehr Gegenstand der Composition wäre, denn ein Brief hat eine gewisse Form, die ihre wesentliche Gliederung hat, freilich ist sie sehr frei, aber sobald Etwas Anfang, Mittel und Ende hat so hat es auch Form und finde ich ihr Verhältniß, so habe ich die Composition. Ebenso bleibt der Unterschied zwischen Meditation und Composition, den ich immer finden werde, sobald der Brief Gedanken enthält, doch Alles nur in verjüngtem Maßstabe, doch sind alle wesentlichen Glieder unsrer Aufgabe darin. Der Gegensatz zwischen Haupt und Nebengedanken kann in der Composition unfehlbar entstehn, er mag von Anfang an nicht gewollt sein, sondern gestaltet sich aus der Nothwendigkeit der Form. Dieses ist das Nächste, wovon alle weitere hermeneutische Behandlung auf dieser Seite abhängt, denn sei die Form welche sie wolle, von dem Augenblicke, wo der Entschluß entstanden zu einer Form, ist der Autor nur Organ derselben, freier oder gebundener jenachdem die Form mehr oder weniger frei oder bindend ist. Wie nun die nähere Bestimmung der Form aus dem Verhältnisse des Einzelnen zu der Form geschöpft werden kann, ist das was bisher entwickelt ist. Die Einheit selbst ist der ursprüngliche Keim, aus dem das Ganze sich entwickelt, als solcher erscheint sie, sowie wir diese Grenzpunkte ins Auge fassen, sehr variabel; der Anfang ist von verschiedener Wirksamkeit, am wenigsten bestimmend ist er, wo er nur der Entschluß zu einem freien sich gehn lassen ist. Dieser kann durch Alles modificirt werden, was sich in der Zwischenzeit ereignet ohne aufgehoben zu werden. Von diesem Punkte ausgehend sagen wir, es sei festzustellen, in wiefern die Einheit selbst, der Entschluß für den Autor eine größere oder geringere Kraft hat. Fragen wir, in welchem Falle sie am fruchtbarsten für die Auslegung sei? so antworten wir, am wenigsten leistet sie für die Auslegung wenn sie am wenigsten bindend für den Autor ist. So, wenn ich Nichts weiß als Jemand will eine Geschichte oder philosophische Abhandlung schreiben, so ist das viel mehr für die Auslegung, als wenn Ðich weißÑ, Jemand habe einen Brief schreiben wollen. Ist dieser bloße Form so ist das
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nur ein ganz Aeußerliches, aber bei einem wirklichen Briefe weiß ich dann am wenigsten. Dies steigert sich bis zu dem Maximum, daß es so bestimmte und bindende Form gibt, daß wenn mehre dieselbe ausfüllen nur sehr wenig Differenzen hervortreten. Eigentlich ist diese Form, die so bestimmend so bestimmt ist eine schlechte, weil sie die freie Productivität so hindert, wenigstens auf dem Kunstgebiete; freilich im Gebiete der Geschichtswerke ist das von großer Wichtigkeit,daß die Formen so bestimmt als möglich sind, damit durch die Form die Auslegung weniger Schwierigkeit habe. Zwischen diesen beiden Grenzpunkten liegt nun die ganze bewegliche Reihe von einzelnen Momenten. Hier wollen wir nun, ehe wir zum zweiten Punkte übergehen verweilen, und die Anwendung auf das N.T. machen. Fragen wir hier, wie es um die Aufgabe, die erste Einheit zu finden, stehe und ob bestimmt ausgesprochen werden könne, welches der erzeugende Keim des Ganzen im Autor gewesen, so finden wir grade dies hier sehr schwierig, und diesen Punkt in der Hermeneutik des N.T.s bis diesen Augenblick nicht gelöst. Lassen wir vorläufig die Apokalypse bei Seite und sagen, das N.T. habe nur 2 Formen, die historische und epistolarische, so scheinen diese sehr einfach zu sein. Von den historischen Schriften tragen 4 denselben Nahmen, diese Ueberschriften können wir indeß nicht als Ausdrücke für diesen Entschluß, diesen innern Act, als Keim des Ganzen ansehn, weil sie nicht gleichzeitig mit den Schriften ist, es liegt in ihnen schon ein hermeneutischer Ausspruch, der zu verachten oder doch als völlig problematisch zu betrachten ist. Nun haben diese 4 dieselben Gegenstände und in sofern ist eine bestimmte Analogie unter ihnen. So können wir zwar sagen, der einzelne Autor habe diesen Gegenstand behandeln wollen, aber wollten wir weiter zurück gehn auf den gestellten Punkt und sagen, dieser Gegenstand sei das Leben Christi, welches jeder Autor habe behandeln wollen, und zwar Alle in historischer Form, und wollten wir da diese, wenn ihr Gegenstand im Einzelnen ist, [nämlich] Biographie ist, als ihre Gemeinschaft nennen, Jeder habe wollen eine Biographie Christi schreiben, so haben wir viel zu viel gesagt und es liegt schon darin etwas Erschlichenes. Wenn ein Anderer sagt, in mehren dieser Schriften seien so viele identische Elemente und daß man diese nicht erklären kann als accidentielle derselben gefaßten Volition in den verschiedenen Verfassern und vergleichen wir die Bücher mit dem was sich in solcher Fassung der ursprünglichen Einheit ausspricht, so müssen wir in mehren solchen Fälle sagen, sie seien nicht zu erklären aus derselben 4–5 so ... bestimmt] anscheinend konnte Calow sich nicht entscheiden zwischen den beiden Formulierungen
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Einheit in Allen, sondern diese Analogie weise auf früher Gewesenes, die Verfasser haben nur die vorhandenen Erzählungen aus dem Leben Christi zusammengestellt, der Eine sage dies und lasse das aus, und der Andre lasse eben dies aus und sage eben das. Daraus geht denn eine verschiedene Vorstellung über den ursprünglichen Keim hervor, denn Andres ist es, das Leben Christi zu beschreiben. Da setze ich voraus, daß diesem Entschlusse die nöthigen Vorbereitungen vorangegangen, oder doch daß den Forschungen die Entschlüsse gefolgt, die Hoffnung aber da war und in Erfüllung gegangen ist im Forschen die nöthigen Materialien zu finden. Im Andern ist der Schriftsteller gebunden an das Gegebene, an einzelnen Momenten und wären diese Verfasser in derselben Situation in Bezug auf dasselbe Material gewesen so würde das Vorhandene und die Lüken verschieden sein; so also müssen wir sagen, sie sind entweder in derselben Situation gewesen, diese Materialien zu finden, oder es waren keine Materialien weiter vorhanden. So sind sie hier nur Zusammensteller, während sie unter jener Voraussetzung Schriftsteller wären in Beziehung auf alle Theile des Ganzen und die Identität rührte da nur her von der Identität des Gegenstands; offenbar beruht diese Differenz auf verschiedenen hermeneutischen Vorstellungen, denn wenn Alle dasselbe verlangten, so können nicht 2 so verschiedene Abfassungen sein zu Stande gekommen aber diese ursprüngliche Einheit. Beide Hauptvorstellungen werden verschieden modificirt, aber alle unter der Form der ursprünglichen Einheit ausgesprochen. Nun fragt sich, können wir aus dem, was im Allgemeinen gesagt ist, Regeln oder Cautelen entwickeln, aus denen das Resultat gewonnen werden könne, die Einen haben diese oder jene Regel nicht gehalten und ÐandreÑ dann zu vergleichen die Urtheile ÐkommenÑ ÐdannÑ ÐzurÑ Ermittelung des Wahren; daß wir dann diese Resultate ganz bei Seite setzten und nach Maßgabe der aufgestellten Punkte die Operation selbst vornähmen und in dem Einzelnen und der Art, wie es sich bei einer allgemeinen Uebersicht stellt, die ursprüngliche Einheit zu finden suchen. Auf diese Weise wird für Jedes ein Resultat gebildet, wobei auf das Andre nicht Rücksicht genommen wird, und es fragt sich, ist diese die richtige Verfahrungsart bei so großer Uebereinstimmung? Denn kann man ein rein hermeneutisches Resultat gewinnen nicht wenn man Jedes für sich behandelt, oder beides mit einander verbindet, sondern wenn man einzeln und zusammen behandelt. Die Operation muß hier für unsre Situation nicht allein gemacht, sondern wie sie ursprünglich gemacht werden konnte, also auf Ursprünglichkeit muß man sich zurückversetzen und dadurch 38 auf] folgt ÐGeÑ
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wird die Operation leichter. – Die Frage die sich uns erzeugt hat bei Anwendung der allgemeinen Aufgabe die Einheit eines Werks zu finden, auf die historischen N.T. Bücher, ist eine Aufgabe die im Allgemeinen und von andern Gesichtspunkten aus betrachtet als Aufgabe der historischen Kritik anzusehn ist. Sie nun als hermeneutische zu stellen mag befremden. Wir begannen mit der Auseinandersetzung, wie Hermeneutik und Kritik sich gegenseitig bedingen; wenn wir also nun den Gegenstand selbst in seinen Bestandtheilen betrachten, so erscheint grade ein genaueres hermeneutisches Verfahren als Ursprung dieser Frage, denn zu der Zeit, wo diese Bücher zuerst in [der] N.T. Sammlung Gegenstand einer mehr wissenschaftlichen Behandlung wurden, in den ältesten patristischen Zeiten ist diese Frage nicht aufgeworfen, man blieb bei der Ueberschrift und behandelte danach die Schriften. Ob ohne den Umstand, daß einige kleine historische Ganze und die verschiedenen Schriften übereinstimmten die Frage schon aufgeworfen wäre, ist unbestimmt; es gehört aber gerade zu unserm hermeneutischen Standpunkte, uns zu überzeugen, daß wenn jener Umstand auch nicht gewesen wäre, wir es doch erkannt hätten; also hat sie auch einen hermeneutischen Grund und nicht nur das Comparative hat die Frage hervorgerufen. So fingiren wir einmal: Es seien von diesen Büchern mündliche Ueberlieferungen gegeben, einzelne Geschichtszeugen aus dem Leben Christi diese hingen zusammen mit der Verkündigung des Christenthums als Lehre und Gemeinschaft, war aber etwas Abgesondertes für sich, und hatte dabei eine zwiefache Tendenz, einmal die Person Christi im Zusammenhange mit seiner Verkündigung darzustellen, und einzelne Züge aus seinem Leben zu geben, dann aber die Verkündigung des Christenthums selbst in einzelnen Stellen, wo also in Beziehung auf die Lehre und das Gemeinschaft Princip man auf Christum sich berufen mußte, zu erläutern. So sind also 2 Elemente, solche Ueberlieferungen, die mehr Geschichtszüge sind und solche Ueberlieferungen, die mehr Rede sind, doch nicht bestimmt getrennt diese Elemente sondern nur geschieden durch das Uebergewicht der einen oder andern. Die Evangelien nun die vor uns liegen und die verlorenen, waren nur Zusammenstellungen so einzelner Ueberlieferungen, die nur so weit es ging einem geschichtlichen Faden folgten, so jedoch nur, daß es uns nur in Beziehung auf die Hauptpunkte anging. Unsre 3 vorliegenden Evangelien, auf die sich dieses vorzugsweise bezieht, könnten wir also doch so entstanden erkennen, wenn auch nicht Stellen in ihnen wären, wo die Geschichtszüge dieselben sind als bei einem Andern; wie das kommen mußte, da ja unmöglich jedem Einzelnen ein bestimmter Forschungskreis abgemessen werden konnte, alle Elemente zusammenzufinden. Eben
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Mehre konnten diesen Entschluß fassen und so gestellt sein, daß in den gegenseitigen Forschungskreisen gemeinschaftliche Elemente waren; Andre werden diese Elemente – wobei immer solche gemeint sind, solche Geschichtszüge und Reden, die keine absolute Nothwendigkeit in jenen Beziehungen haben – nicht aufnehmen und [nicht]aufnehmen können. Nun haben im Leben Christi keine einzelnen Züge absolute Nothwendigkeit, eine Rede konnte durch die andre, mehre durch eine ergänzt werden, und es konnten solche Zusammenstellungen zu Stande kommen, die Nichts mit einander gemein hatten. Da würde diese Frage nicht gestellt worden sein, sondern jede einzelne Schrift wäre als eigenthümliche Production angesehn und man hätte sich nur gewundert, wie Jeder so Verschiedenes von Christo habe erzählen können, man hätte da diese einzelnen Erzählungen der verschiedenen Autoren ineinanderschachteln müssen, um nur so den Faden anschaulich zu machen; waren also da auch die einzelnen Compositionen verschieden so hätte man freilich nicht fragen können, wie sind sie zu solcher Uebereinstimmung gekommen, aber in Hinsicht auf jene Hauptsäze blieb sich die Sache dieselbe, wenn jener Umstand der Uebereinstimmung auch oft eintrat. So hat also die Frage einen hermeneutischen Grund, und sie muß aus jedem einzelnen Evangelio entstehn, ohne dieses mit den übrigen zu betrachten. Ob nun diese Aufgabe als eine der historischen Kritik betrachtet werden muß, oder ob es als willkührlich anzusehn, hängt von der Nachweisung der hermeneutischen Nothwendigkeit dieser Sache ab. Das kann nun vollkommen nachgewiesen werden, wir erleichtern uns diese Operation aber, wenn [wir] die Thatsache, diese Frage sei schon aufgeworfen, voraussetzen. Dann sehn wir 2 Meinungen, diese, diese Bücher sind selbstständige Productionen Einzelner; Jene, diese Bücher sind Zusammenstellungen von vorher schon bekannt und verbreitet gewesenen Zügen. Wie muß der Natur der Sache nach in diesem oder jenem Falle ein Buch aussehn? Um diese Frage zu beantworten vergessen wir die ganze Sache und stellen die Aufgabe, wir haben die Bücher vor uns und sollen nun die eigentliche Einheit derselben finden. Darin ist gegeben, wie Jedem vorliegt, die erzählende Form und indem wir zunächst Stoff und Form auf einander beziehn, so sagen wir, der gemeinschaftliche Stoff ist das Leben Jesu von seinem öffentlichen Auftreten bis zu seinem Verschwinden von der Erde. Allerdings tritt da die Differenz ein, daß Einige auf den Anfang des Lebens zurückgehn, das ist offenbar eine Ungleichmäßigkeit welche diesen Theil uns als accessorischen ansehn läßt. Sein vor seinem Auftreten vorangegangenes Leben ist weit weniger beachtet und so tritt eine Spaltung in dieser Ungleichmäßigkeit hervor. Andre übergehn nun bei demselben
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Stoff, derselben Form diesen Gegenstand, so gehört also derselbe nicht zur ursprünglichen Einheit von Stoff und Form. Wollten wir rein comparativ zu Werke gehn und unsern Canon anwenden, daß wenn der Verfasser einen besondern Zweck außer der Behandlung eines bestimmten Stoffs in bestimmter Form, hat, so muß dieser Zweck aus den Elementen seines Werks klar werden, die auf jene Weise nicht zu verstehn sind, und wir stellen das auf, das Wesentliche des Evangelii sei dasselbe, in denen, die von seiner öffentlichen Wirksamkeit anfangen und denen, die Etwas aus der Jugendzeit beibringen, so müssen wir fragen: Läßt sich aus dem, was sie aus der Jugendgeschichte beibringen, ein bestimmter Zweck erkennen? Unläugbar ist freilich daß in diesen Nachrichten über die ersten Anfänge des Lebens Christi Wunderbares ist, daraus man den Schluß machen könnte, ÐdenÑ jene Erzählungen mit ÐeinanderÑ hätten den besondern Zweck, Christum als wunderbare Person darzustellen; doch aus der Betrachtung des Ganzen müssen wir wiederum diesen verwerfen; das ist keine Differenz zwischen diesen und den übrigen Evangelisten, denn diese Darstellung Christi ist in den übrigen ebenso unläugbar und stark hervortretend und Jenes kann nicht in diesem Zwecke gegründet sein; weil sie ÐwissenÑ konnten dasselbe zu erreichen auch ohne jenes Forschen nach der Jugendgeschichte, wie ja auch die Uebrigen mit ihnen im Zwecke ja übereinstimmen, und haben es nicht gethan. Woraus ist nun diese Differenz zu erklären? Das Einfachste ist: diese haben keine Notiz von den Anfängen des Lebens Christi gehabt. Die Gesellschaft, von welcher alle Nachrichten über ihn ausgehn mußten, habe sich nur mit Christi öffentlichem Leben erst um ihn versammelt, also beginnt da erst der Stoff, der historisch behandelt werden konnte, über den sind diese, der Evangelisten hinausgegangen, die Andern nicht, vielleicht weil Jene ohne Anstrengung von diesem Leben erfuhren, welche Gelegenheit die Andern nicht hatten. Stellt man die Sache aber so: sie hätten jene Gelegenheit haben können und jenen Stoff erwerben, verschmähten ihn aber, so concentrirt sich die Tendenz der Einen anders als die der Andern. Das Verschmähen kann nun einen zwiefachen Grund haben. Die Einen haben nur das öffentliche Leben Christi beschreiben wollen, insofern in diesem allein der Grund zur Stiftung der christlichen Religion lag, die Andern wollten Alles geben, was sie von Christus in Erfahrung bringen konnten. Diese Erklärung setzt schon eine verschiedene Einheit der einen Klasse und der andern; jene ist die strengere, die Nichts aufnehmen wollte, was nicht, in dem öffentlichen Leben mit der Stiftung der christlichen Kirche 24 habe] haben
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zusammenhing und haben es entweder gewußt oder wissen können, haben es aber abgewiesen; so erscheint die strengere Einheit als ganz positiv. Bei den Andern ist die Einheit laxer, weil ich dabei keine bestimmte Schätzung mache, es ist die Kritik über das Aufzunehmende lose, es beschränkt sich auf Zeit und Raum, also auf ganz Aeußerliches, weil ihm die Zeit zu beschränkt, der Raum zu eng war ließ er diese oder jene Notiz weg, und suchte dann aus die Notizen die die meiste Aehnlichkeit mit schon vorhandenen hatten, und ließ sie aus. Es läßt sich indeß zweitens sagen: Jene haben die Nachrichten nicht aufgenommen, weil das ein Punkt war, von dem sie nicht gleichmäßig fortschreiten konnten, weil sie von der Zwischenzeit Nichts wußten, oder weil, hätten sie von beidem gewußt, die Darstellung des Wichtigeren, des öffentlichen Lebens zu kurz geworden, sie hätte in keinem Verhältnisse mit diesem gestanden, die Andern indeß kümmerten sich um diese Ungleichmäßigkeit nicht. Beide Gründe sind gleich, dieser letztere ist mehr technisch, weil das gleichmäßige Fortschreiten in dem kunstmäßigen der historischen Darstellung liegt, scheuten sie sich also und meinten, sie könnten den Stoff in der Form nicht erschöpfen, so war das eine technische Rücksicht. Wenden wir dies auf die gegebenen Evangelien an und fragen, wie verhalten sie sich dazu? (Hier ist immer eine vorhergenommene allgemeine Uebersicht vorausgesetzt). Es sind 2 Evangelien, die keine Nachrichten vom Leben Christi geben, nämlich Marcus und Johannes; sie müssen wir betrachten, und sehn was wahrscheinlich sei, ob sie das weggelassen in technischer Rücksicht oder in Beziehung auf Stoff und Form? welches war in ihrem ursprünglichen Entschluße gegeben? Vergleichen wir beide Evangelien im Ganzen so finden wir zwischen ihnen große Differenz. In Marcus ist ein Aneinanderreihen einzelner Züge, die Jeder rein um sein selbst willen erzählt werden, die ganz gleiches Verhältniß zur Gesammtheit haben. Dagegen ist das im Johannes nicht der Fall, da werden die einzelnen Züge um einer Fortschreitung willen erzählt. Daraus folgt, daß in beiden nicht derselbe Entschluß gewesen, aber nun ist die Verschiedenheit zu construiren. Wie mag es um den technischen Gesichtspunkt stehn? Bei solchem Verfahren wie das des Johannes ist, haben wir Ursache eine mehr technische Richtung vorauszusetzen, weil darin mehr Organisches als beim Marcus ist, und eher ist zu glauben, daß Johannes von dem technischen Gesichtspunkte ausgegangen als Marcus. Wie steht es mit dem andern Grunde? ist die Abweichung des Frühern daraus entstanden, weil es nicht zum bestimmten Zwecke gehörte? Ja beim Johannes ist es wahr21 lies: Nachrichten von der Kindheit Christi
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scheinlich eher als bei Marcus, denn der Zweck ist so, daß er bestimmt sein mußte nur in der Einheit von Stoff und Form, daß der Stoff nur das Leben Christi gewesen, sofern er Stifter der christlichen Kirche war und so hätte das frühere ausgeschlossen werden müssen; so auch Alles in diesem Zeitraume ist und mußte ausgeschlossen werden, was nicht mit Jenem in bestimmtem Zusammenhange stand. In Beziehung auf Johannes läßt sich das sagen, nur daß da noch eine bestimmte Modification zum Grunde liegt; dagegen werden in Marcus solcher Züge eine Menge erzählt, von welchen der Eine oder andre nicht in höherm Grade dazu gehört, eine Menge die sich auf die Nebenumstände bezieht. Daraus folgt daß im Johannes ein besseres Bewußtsein zum Grunde gelegen, was bei den Andern nicht so zu Tage liegt, weil man sein Verfahren nicht auf so bestimmte Weise erklären kann, wie es bei Jenem zu Tage liegt. So ist keine Ursache, Marcus auszuschließen aus der Analogie mit den übrigen Evangelisten außer Johannes. Dieser hat das Andre aus dem Leben Christi, seine Jugendgeschichte fortgelassen aus bestimmten Gründen, denn die Gelegenheit es zu erfahren konnte ihm wegen des genauen Verhältnisses mit Christi Mutter, nicht fehlen; es fehlte ihm an dem Willen dazu es aufzunehmen auf positive und negative Weise. So ist bei Marcus das Hinderniß entweder Mangel an Notizen oder an Raum und wenn auch das sich in äußern Elementen zeigt, so werden wir auch das zu erklären haben. Wir wollen nun die streitige Frage von einer andern Seite betrachten, nämlich wie eine historische Production sich gestalten muß, die einen Einzelnen zu beschreiben hat, also eine Biographie, wobei es also auf den Anfangspunkt nicht ankommt. Es ist nicht möglich eine Continuität von Zeiterfüllungen darzustellen; wäre es möglich, so könnte es nur unter der Form der strengen Chronik geschehn, denn da theilt sich die Zeit in fortlaufende Abschnitte. Abstrahirt man davon und setzt in den Inhalt eine Differenz zwischen dem, was seines Inhalts wegen geschrieben und mitgetheilt zu werden verdient und was nicht, da werden denn Lüken entstehn. So ist denn jede solche Production als Aggregat von Einzelheiten anzusehn, denn wo eine Lüke eintritt, da ist ein Abgeschlossenes vorbeigegangen und es tritt ein für sich Angehendes ein. Können nun auch solche Zusammenstellungen geschehn wo eben nur die Zustände von Einzelnen, wie sie sich vorfinden, dargestellt werden, so ist äußerlich beides identisch, indeß muß sich entscheiden lassen, welches dieser oder jener Seite angehört. Dies ist unsre Aufgabe. Der Idee der Lebensbeschreibung liegt die Continuität zum Grunde, weil das Leben Eines ist, doch ist sie nicht auszuführen als in der Form von Einzelnem, das sich sondert, doch wird [man] eine Beziehung von Continuitäten darin sehn, und wo wir
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solche Zusammenstellung von Einzelnem finden, da ist eine Biographie. Unter dieser Beziehung von Continuität ist nicht die Beziehung auf die Identität des Subjects, sondern die Beziehung auf den Zeitverlauf zu verstehn; denn gibt man nur Einzelnes statt fortlaufender Darstellung so hat dieses seine bestimmte Stelle im ganzen Verlaufe, und der Leser kann, wenn die Einzelheiten der Zeit nach gestellt sind doch den Verlauf erkennen. Will man indeß nur eine Zusammenstellung einzelner Züge geben, so hat diese nicht diese Beziehung auf die Continuität, wie sie eine andre Richtung hat. Es gibt eine große Menge von Anecdotensammlungen Friedrich’s des Großen, das sind Elemente einer Biographie, sofern es aber eine Sammlung ist, so ist alles Einzelne isolirt, und wenn für jede Einzelheit die Zeit bestimmt und sie nach der Zeit geordnet wären so müßten wir doch sagen, weil Alles so vereinzelt dasteht, so kann man das gar keine Biographie nennen und so ist es auch unmöglich daraus eine Biographie zu machen, denn wenn Einer nun auch das Einzelne nach der Zeit gestellt und mit Verbindungsformeln versehn hätte, so würde Jeder in ihnen doch nur ein Aggregat erkennen. Es kann da gar keine Anschauung der Persönlichkeit und ihrer Eigenthümlichkeit entstehn, es ist kein innrer Zusammenhang; die Continuität des Zeitverlaufs ist da nur Aeußerlichkeit. Es ist indeß ein Unterschied zwischen einem Product, das solche Masse der Zeit nach ordnet und einer isolirten Sammlung. In jenem ÐwäreÑ eine Richtung auf die Continuität der äußern Erscheinung, doch die Idee der Biographie wäre nicht ausgesprochen. Vergleichen wir unsere Evangelien, so sehn wir, wie Jedes zerfällt in 2 in dieser Beziehung ganz verschiedene Theile, nämlich in die Beschreibung der öffentlichen Wirksamkeit, dieser besteht aus lauter aneinandergereihten, verknüpften Einzelheiten, wogegen der zweite Theil, die Leidensgeschichte ein continuum ist, das ist nun freilich auch nur der kurze Verlauf Eines Tages, der durch den Typus des gerichtlichen Verfahrens sich schon von selbst als continuum darstellt und so war diese eigentlich nicht zu vermeiden; vergleichen wir aber damit das Frühere und sehn auf die Differenzen der Evangelisten, so erkennen wir einen großen Unterschied zwischen den 3 ersten Evangelien und dem Letzten, in den Erstern ist das Einzelne aneinandergereiht und wenn auch diese Aneinanderreihung ein Zeitverhältniß ausdrückt, so ist das doch nur ein unbestimmtes, und hätten wir nur die 3 ersten Evangelien so würde kein Mensch eine Vorstellung haben wie lange das öffentliche Leben Christi gedauert; es hat das Zeitbild wie das 9–10 Siehe etwa Friedrich Nicolais vierbändige Sammlung „Anekdoten von König Friedrich II. von Preußen und von einigen Personen, die um Ihn waren“ (1788–89).
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Einzelne verlaufen dem Verfasser nicht vorgeschwebt. Im Johannes dagegen finden wir aeußerlich was eine Continuität voraussetzt; jene Differenz ist zwar auch in ihm, die Leidensgeschichte ist indeß bei Johannes weniger unterbrochen als bei den andern, man sieht offenbare Lücken; dagegen ist das Frühere durchaus continuum; da bekommen wir ein Zeitbild, weil die einzelnen Begebenheiten nicht in Beziehung aufeinander dargestellt sind, es ist da eine Beziehung auf allgemeine feste Punkte. Rechnen wir die Zeitangaben im Lucas ab, so finden wir dergleichen in jenen dreien gar nicht, während bei Johannes Beziehungen der einzelnen Begebenheiten auf feste Punkte gegeben sind. Das Zweite ist noch größer, im Evangelio Johannis ist offenbar die biographische Idee in Beziehung des Einzelnen zur Totalität ausgeführt und alles Einzelne, das er erzählt, hat hierauf Beziehung und nichts Einzelnes ist rein um sein selbst willen erzählt; nämlich Christus als Einzelner war eine öffentliche Person, und ihr Verhältniß zum Nationalleben ist die Einheit, die freilich mannigfach differenzirt [ist]; und dieser Gesichtspunkt ist überall festgehalten. Wir sehn das Verhältniß Christi zum Volk als Masse betrachtet und die Autoritäten, die sich entwickeln, die Gegensätze die erscheinen zwischen den Autoritäten und dem Volk und das Letzte erscheint bei ihm nur als Katastrophe, als Peripetie, als Resultat dieser Spannung. Hätten wir den Johannes nicht so wüßten wir nicht, wie es damit zugegangen; denn sowie mir nur die Einzelheiten gegeben sind, werden die Motive nicht hervortreten können. Im Evangelio Johannis liegt nun eine Einheit zum Grunde, die sich auf die biographische Idee bezieht, die nun im Einzelnen mehr modificirt werden kann, was sich auf Stoff und Form bezieht und was auf eine andere Idee noch; bei den Andern liegt uns ein Aggregat von Einzelheiten vor und indem wir jene eigentliche biographische Idee jener Evangelien negiren müssen, so bleibt die Frage, welches der Gesichtspunkt gewesen, aus dem die Sammlung von Einzelheiten gemacht ist? Dies ist nun keine eigentlich hermeneutische Aufgabe sondern eine Aufgabe für die historische Kritik, da uns noch die Fundamente nicht gegeben sind um sie rein hermeneutisch zu behandeln. Es ist eine Kenntniß nothwendig des Lebens des Verfassers und seines ganzen Materials von Vorstellungen, wenn wir die Aufgabe rein hermeneutisch sollten lösen können, wenn wir wüßten, welche Einzelheiten haben den Evangelisten zu Gebote [ge]standen; der Masse nach; aus welchem Gesichtspunkte ist die Zusammenstellung quantitativ gemacht und der Art nach: aus welchem Gesichtspunkte ist ihre Zusammenstellung qualitativ gemacht; so könnten wir die Aufgabe rein hermeneutisch behandeln und das müßten wir von jedem Verfasser der Evangelien für sich wissen. Nun hat man von
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Marcus gesagt, er habe Anfangs Alles, was ihm für einen gewissen Zeitraum zu Gebote gestanden, wenn es eine Rede war, übergangen, dagegen kommen im zweiten Theile Reden vor, aber setzt man voraus, er habe dieselbe Masse von Reden als die Uebrigen gehabt; aber das weiß indeß Niemand; nimmt man eine solche Voraussetzung an, so thut man was ein Werk der historischen Kritik ist und als solches müßte es erst begründet sein und so müssen wir fragen, ist die Voraussetzung richtig? hat man Data genug, sie aufzustellen. Und sind auch noch darin verschiedene Meinungen über Marcus daß Einige sagen, er sei der Älteste, Andre er habe Matthaeus und Lucas gelesen. Letztere haben also angenommen, er habe dieselbe Masse von Reden gehabt, er habe, so kann man fortfahren, die Reden fortgelassen, weil er das Volumen nicht kannte, das ihm entstehn werde, oder er hat ein geringeres Volumen geben wollen, hat nicht nachher seinen Plan geändert. Daß darüber Differenzen entstanden ist schon gesagt, und diese Differenzen auszugleichen, ist Sache der historischen Kritik. Wenn man nun diese Evangelienschreibung wie sie in den 3 ersten erscheint als Etwas im Vergleich zum Christenthum secundäres ansieht und auf etwas Früheres zurückgeht, auf ein Vorhandensein solches Materials durch unendliche in stätiger Weise fortgehende Fortüberlieferung in der christlichen Kirche, so kann man mit dieser Voraussetzung sich eine Vorstellung von diesem Materiale machen also auch von dem Verfahren der Evangelisten, und da fragt sich, ob sich ein Verhältniß ausmitteln läßt, in dem sie zu einander stehen, oder ob von einander unabhängig? Das muß die historische Kritik abwägen, setzt indeß die Hermeneutik voraus, denn bevor ich nicht das Einzelne verstanden, kann ich noch keinen Schluß auf das Ganze machen. Nun bedingt aber eine so verschiedene Voraussetzung auch eine völlig andre Art von Lösung; denn wer die Voraussetzung jener Masse von Einzelheiten annimmt, der sagt, die Identität erkläre sich aus dem gemeinschaftlichen Materiale, aber wer in seiner Vereinzelung Jedes betrachtet, der sagt, die Identität sei aus den 3 Evangelien für sich zu erklären. Diese Ansichten bilden 2 verschiedene ÐParteienÑ. Früher war kein andrer Gedanke als die Evangelisten seien die ersten Urheber und jedes Evangelium sei eine durch den einzelnen Autor entstandene Schrift. Hiernach sind 2 andre Voraussetzungen, die eine eines Urevangelii, eines Allen Gemeinschaftlichen, das Nichts als gleichsam einen bestimmten Plan des Ganzen enthalten haben sollte, aber nicht in Bezug auf das was zu erzählen sei, weil die Erzählungen in äußerster Kürze vorgelegen wären, so daß also sie ergänzt werden zu müssen schie4 Der Satz scheint unvollständig.
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nen. Statt dessen hat man auch ohne jene Voraussetzung eine solche Ueberlieferung von Materialien angenommen. So ist die Lösung der hermeneutischen Frage durch die Kritik bedingt. Vergleichen wir in dieser Beziehung die 3 Evangelien und den Johannes so scheint freilich letztere Voraussetzung zu läugnen, weil im Johannes nicht solche identischen Stellen sind, sondern was mit ihnen übereinstimmt, erscheint auf ganz andre Weise. Das setzt aber die Frage über die Entstehungszeit und Localität des Schreibenden in Beziehung auf jene genetischen Sätze der Ueberlieferung voraus. Da das unentschieden ist, so darf auch nicht gleich solche Folgerung gemacht werden. Johannes ging nun von einer biographischen Idee aus, konnte also die so erzählten Einzelheiten nicht brauchen; so ist das, er habe sie wenn er sie gehabt, nehmen müssen, voreilig und wird es durch die Voraussetzung, Johannes habe die Uebrigen ergänzen wollen geläugnet, was eben so unbestimmt ist. Die Frage also die Einheit rein hermeneutisch für Jedes besonders lösen zu wollen ist die erste Grundlage, der nur die der historischen Kritik vorausgehn muß; mit dieser hermeneutischen Operation ist das Ganze anzufangen. Von der ApostelGeschichte ist hier nicht geredet, doch ist der Fall da derselbe, es ist da keine Continuität, fragmentarische Einzelheiten nur und es sind da dieselben Fragen zu thun, welcher Gesichtspunkt sei aus dem diese Einzelheiten zusammengestellt? liegt eine geschichtliche Idee dabei zu Grunde so daß sie mehr Aehnlichkeit mit Johannes hat oder ist sie aus derselben Einheit wie jene 3 Evangelien? Die Fragen können und müssen weiter auf dieselbe Weise behandelt werden und so wird ein Resultat sich ergeben, das der weitern kritischen Behandlung zum Grunde gelegt werden kann. – Dieselben Fragen müssen wir nun aufwerfen in Beziehung auf die didaktischen Bücher. Hier ist die epistolarische Form, die ihrer Natur nach die geringste Einheit mit in sich schließt, aber auch nur mit in sich schließt, denn es kann einem Briefe auch der Entschluß zum Grunde liegen, sich gehn zu lassen und zu schreiben, was gerade das Gemüth beschäftigt. Diese Einheit ist die geringste und es kann solchem Briefe in hohem Grade an Bestimmtheit fehlen, so daß kein Gegensatz ist zwischen Haupt und Nebengedanken. Vereinzelt man indeß die Gedanken, so sind sie alle Nebengedanken, weil da eigentlich auszumitteln, wie sie gerade jetzt entstanden. Nun aber müssen wir in dieser Form selbst Grenzpunkte suchen und sagen, es gäbe Briefe, die einer bestimmten Geschäftsthätigkeit angehörten und durch welche ein bestimmter Erfolg erreicht werden sollte, und da ist die Einheit eben so bestimmt wie jene unbestimmt war; und da 14 also] folgt Ð Ñ
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ist Ð Ñ der Erfolg so streng im Auge gehabt, daß alle Nebengedanken ausgeschlossen werden und es bleibt nur das bestimmte Geschäft zu behandeln, so kann die Einheit eines Briefs sehr streng sein, aber auch oft sehr lose und diese Aufgabe das zu bestimmen ist in jedem Falle einzeln zu lösen. Bei den didaktischen Schriften ist eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Einheit; das Minimum derselben ist, wo nur der Entschluß ist, sich einem freien Spiele hinzugeben, da ist der Gegensatz von Haupt und Nebengedanken nicht, da muß jeder Gedanke aus dem Gemüthszustande des Schreibenden erklärt werden. Auf der andern Seite ist in ihnen eine Annäherung an ganz bestimmte Formen nämlich an die eigentlich didaktische und an die rhetorische. Denke ich mir die Aufgabe Andern über einen bestimmten Gegenstand bestimmte Erkenntnisse mitzutheilen, so ist das die objective Einheit und dieser Zweck kann in der epistolarischen Form erreicht werden. Fragen wir nun, worin der Unterschied bestehe zwischen dieser und der allgemeiner didaktischen, worin und wiefern ist das Andres, ob ich in der Form eines Briefs an Einen oder Mehre solche Processe entwickle oder ob eine unbestimmt an das Publicum hinausgehende Schrift, so kann dieser Unterschied ein Minimum sein, wenn nämlich die epistolarische Form Fiction ist. So haben wir manche Werke wie Eulert’s Briefe an eine Princessinn, was am Ende ein Cursus von Vorträgen ist, die weil sie nicht mündlich konnten vorgetragen werden die briefliche Form annehmen mußten, und Jeder Andre kann sie eben so gut verstehn als die, an welche sie gerichtet. Da könnte also die briefliche Form ganz weggelassen werden; da finden wir den Uebergang auf den äußersten Punkt. Dergleichen haben wir in der modernen Literatur Vieles, es ist die briefliche Form mehr scheinbar als wahr. Nun ist es etwas Andres, wenn in einer solchen Schrift Erkänntnisse mitgetheilt werden, doch so, daß nur durch das persönliche Verhältniß zwischen dem Schreibenden und Empfänger sie gemacht werden konnten, da ist die Form etwas Wahres. Dann ist die Schrift ein wirklicher Moment in der Lebensgemeinschaft jener Personen, und doch ist diese Schrift ihrem Zwecke nach rein didaktisch. Gehn wir nun vom andern Punkte aus, vom Minimo der Einheit, dem reinen sich gehn lassen in der Mittheilung; ist da die Mittheilung Einem oder Mehren aber bestimmten zugedacht, so ist der Gedanke an die, für welche die Mittheilung bestimmt ist, ein beschränkendes Princip, da muß der Autor aus seinem freien Spiel abweichen, was ihm für Jenen nicht passend erscheint. Sofern ihm Ð Ñ 20 Leonhard Eulers „Briefe an eine deutsche Prinzessinn über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie“ erschienen 1769 anonym in 2 Bänden.
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noch einfällt so ist die Personalität nur b e s c h r ä n k e n d , sagen wir aber, das Bild sei ihm so lebendig, daß ihm Nichts einfalle als was in Jenem Kreise liegt, so ist diese Form ein b e s t i m m e n d e s Princip. Je mehr das der Fall ist um so mehr müssen in solchem Complexus Elemente vorkommen von denen man sagen muß, hätte er an Andre nicht geschrieben so würden solche Elemente nicht dasein, würden wenigstens nicht so sein; dann ist diese Form ein leitendes Princip. Gehn wir auf den Schreibenden zurück und denken uns die Formel, er wolle sich in freier Mittheilung an mehre bestimmte gehn lassen, so ist dieser Wille in einem bestimmten Momente entstanden, er identificirt sich mit dem Willensact und setzt sich in ihm fort. Denkt man sich den Schreibenden in vollkommen ruhigem Zustande, so bedarf es eines Anstoßes, um solchen Willen hervorzubringen, das braucht nur eine lebendige Erinnerung zu sein oder eine günstige Gelegenheit für die Mittheilung. Identificirt sich nun der Zustand, in dem sich der Schreibende befindet mit diesem Willensact, so liegt auch in diesem Zustande der Bestimmungsgrund für die Richtung seiner Mittheilungen. Was ihm lebendig gegenwärtig war, das liegt nun als der entwickelnde Keim im Willensacte, und verändert sich Nichts bedeutend und erfolgt der Act des Schreibens in möglichster Schnelligkeit, so ist er die Auseinanderlegung dieses Moments. Denken wir eine bedeutende Veränderung im Zustande des Schreibenden vorgehn, so werden Elemente hinein kommen in die Schrift, die aus dem zweiten nicht allein aus dem ersten Zustande hervorgehn, ohne daß vielleicht er seine Veränderung erwähnt. Er ist alterirt und so überträgt sich jener Wille auf den gegenwärtigen Zustand und läßt den vorigen. Denken wir einen einzelnen Act aber über einen größeren Zeitraum sich erstreckend, so daß dergleichen vorgehn kann, so werden die einzelnen Massen, die auf verschiedene Zustände gehn sich sondern, besonders für den, der den Brief enthält. Eben deswegen wird der Schreibende selbst diese als verschiedene Absätze sondern und bemerkt er dabei die Zeitdifferenz, so ist solche Mittheilung eine briefliche, weil sie an mehre dieselben bleibende bestimmte gerichtet ist; sie ist aber Wirkung der veränderten Zustände und Mittheilung derselben. Die briefliche Form bleibt, die Einheit ist eine andre geworden. Doch ist dies nur die Zeichnung aus Größe der Formel, man wolle frei sich gehn lassen. Hier gilt von den einzelnen Absätzen was dort von den Gedanken, es ist nur eine Erweiterung derselben. So kann also die briefliche Form in ihrer Wahrheit den Umfang eines Buchs erhalten; die Wahrheit der Form bleibt dieselbe. Gehn wir von hier zurück auf 26 aber über] davor Ðaber überÑ
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den eigentlich didaktischen Inhalt und fragen, ist da möglich, daß eine briefliche Mittheilung kann den Umfang eines Buchs erreichen? Nein, denn man kann da nicht Gedankenreihen von verschiedenem Inhalt als Eines hinstellen, sondern entweder ist die Analogie mit einem Buche da und dann ist die Wahrheit der brieflichen Form aufgehoben, oder es ist die Wahrheit der brieflichen Form da, aber dann ist auch nur von geringem Umfang das Werk. Bestimmt wird dieser Umfang dadurch, daß er ein fortlaufender Act sein soll für den der liest, geht der Brief darüber hinaus so hört auch jene Form in der That auf. Es muß also gesehn werden, ob dieses Werk in einem Striche gelesen werden kann, wo nicht so ist Grund zur Theilung da, doch ist in dieser Theilung die Wahrheit aufgehoben und es ist ein Buch in Briefform. Das sind Uebergänge, die sich in der Erscheinung ziemlich genau fixiren lassen. Nun haben wir noch einen Punkt. Die Epistolarform, wenn sie nicht rein subjectiv ist, kann eine bestimmte Annäherung an das Historische haben. Das Didaktische will Erkänntnisse mittheilen, das Rhetorische will einen Entschluß hervorrufen sofern er in Handlungen übergeht. (Gerade so, denn denken wir einen Entschluß zu einer Handlungsweise hervorzubringen, so ist das didaktisch, aber die bestimmte Handlung soll das Rhetorische hervorbringen, der Entschluß muß hier schon der in Bewegung gesetzte Wille sein.) Nun kann Jemand solchen Entschluß hervorrufen wollen, wo sich die Mittheilung auf bestimmtes im Leben beziehn wird, und da wird eben so große Strenge Statt finden wie in der öffentlichen Rede, wenn man die zu bewegenden vor sich hat. Da wird ein sich gehn lassen durchaus negirt, indem hier die Nothwendigkeit aufgegeben ist, den Entschluß hervorzubringen, der für den Empfänger mit der Ausführung Ein Act sein kann, indem alle Theile zusammen wirken. Wollte solche Rede sich so ausdehnen, daß die ersten Anfänge sollten aus der Erinnerung verschwunden sein, bevor man noch zu Ende gelesen, so brauchte sie gar nicht geschrieben zu werden; es sind also da bestimmte Grenzen gesteckt und Alles ist zurück zu halten was zur Erreichung des Zwecks nicht mit wirken kann. Hier haben wir wiederum Extreme und unbestimmtes Uebergehn aus Einem ins Andre auf die mannigfaltigste Weise, wie denn auch die Verhältnisse selbst in so unbestimmter Mannigfaltigkeit liegen. Worauf beruht nun das richtige Auffinden solcher Einheit? Da werden wir sagen, die Endpunkte werden sich bestimt unterscheiden in einem Briefe der didaktisch oder rhetorisch ist und da wird die Einheit nicht verfehlt werden können; ebenso sind die gemeinsamen Beziehungen auf den Zweck nicht zu verfehlen, wo eine solche Einheit ganz fehlt, so daß wir auch durch zerstreute Aeußerungen nicht Verdacht bekommen, als wolle
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er sie verbergen, wo solche Einheitslosigkeit eintritt da kann nur jene verringerte Einheit sein, und da ist Acht zu geben, wie sie durch das gegenseitige Verhältniß modificirt ist. Was sich von dieser Form an das Letztere anschließt, ist die schwierigere Seite der Aufgabe, was an das Erstere die leichtere. In dem Ersten ist eine Duplicität nämlich das Didaktische und Rhetorische und ist es nun möglich, daß Etwas freie Mittheilung scheinen kann, es stekt aber Absicht dahinter, die durch einzelne zerstreute Punkte klar wird, da läßt sich im Didaktischen ein Zweck nicht denken, der sich verstecken wolle, eher im Rhetorischen. Im Didaktischen wohl nur dann, wenn zwischen der Absicht und dem Verhältnisse der Personen ein gewisser Widerspruch ist, nämlich es ist der Fall möglich, daß Einer ein Interresse habe einen Andern über einen Gegenstand zu belehren gegen den er habituell nicht in der Lage ist, belehren zu können und je mehr das der Fall ist, so geht es nicht, das offen zu thun; es muß auf indirecte, unbemerkte Weise geschehn. Bemerkt der Andre es gar nicht erst, so ist der Zweck noch ÐgutÑ zu erreichen, er soll es erkennen, wenn der Zweck erreicht ist. Aber viel eher kann es geschehn, daß ein rhetorischer Zweck sich verbergen muß und zwar ist das viel leichter in brieflicher Mittheilung als in unmittelbarer Rede, denn in dieser ist der Erfolg momentan. Denken wir dieses Verborgen werden, so tritt für die Rede eine Sorge ein, denn ehe der Andre Zeit hat, Ueberlegungen anzustellen muß der Entschluß ausgeführt sein, geschieht das nicht, so kann die Wirkung verloren gehn, je bestimter sich der Wille angekündigt hat. Tritt aber That in demselben Moment ein, die Selbstbestimung, dann ist diese Besorgniß nicht so groß. Die briefliche Mittheilung ist nun nicht so bestimmend als die mündliche Rede, sondern da hat der Empfänger Zeit auf die Art, wie er bestimmt sei, zurückzugehn. Die Absicht muß also um so mehr sich verbergen, je verschiedener die beiden Interressen sind. Dies ist nun häufig ein wichtiger Theil der hermeneutischen Aufgabe. Fragen wir, wie steht’s um das N.T.? so ist da der Fall eigentlich nicht zu denken, daß da der didaktische und rhetorische Zweck sich zu verbergen nöthig gehabt. Das Verhältniß ist so, daß es naturgemäß ist, daß der Schreibende belehrt, und wollten wir einen rhetorischen Zweck denken so finden wir auch keinen Widerspruch zwischen dem Interresse des Schreibenden und Empfängers möglich, denn das Verhältniß beruht auf gleichem Interresse und indem die N.T. Schriftsteller niemals ein eigentliches PrivatInterresse haben so ist auch hier niemals ein Verbergenwollen natürlich. Von dieser Schwierigkeit befreit haben wir nur die Aufgabe von jeder solchen Schrift zu bestimen, ob sie mehr didaktisch oder rhetorisch sei und also eine strengere Einheit erforderlich oder ob sie mehr im Gebiete freier Mit-
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theilung lag und da muß die Entscheidung aus der allgemeinen Uebersicht hervorgehn besonders da kein verborgner Zweck zu denken ist. Wir können uns auch denken, daß eine der bestimten Einheiten, rhetorische oder didaktische eigentlich das Motiv ist, aber daß sich nun die Lust an oder die Capacität zur Mittheilung nicht erschöpft habe und daß dann eine Einheit unbestimter Art hinzukommen könne, daß ein Brief in bestimmtem Zwecke anfangen kann und wenn dieser erreicht ist als freie Mittheilung fortdauert. Denken wir uns umgekehrt von der freien Mittheilung ausgehend also die unbestimmte Einheit zuerst so liegt es in der Natur der Sache daß daraus ein bestimmter Zweck sich entwickeln kann; es können also beide in einander übergehn. Wenn man mit dem Vorausbewußtsein dieser Verschiedenheit an eine Schrift in epistolarischer Form geht, so fragt sich woran das Eine oder Andre zu erkennen sei? An der Zusammenstellung einzelner Elemente und an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer bestimmten Richtung läßt sich die bestimmte Einheit erkennen, und an dem einzelnen Hervortreten und der losen Verknüpfung der Bestandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbestimmte. Wo nun ein Ueberrest beider ist, da wird auch ein bestimmter Wendepunkt sich zeigen, in dem die Einheit umkehrt und die wird sich entdecken lassen in der allgemeinen Uebersicht. Wie verhalten sich hiezu die N.T. epistolarischen Schriften? Wir haben nicht Ursache in ihnen die rhetorische Einheit anzunehmen, denn in dieser Zeit der Entwicklung kam es nicht gleich darauf an, einen bestimmten Entschluß hervorzubringen, allerdings müssen wir Jenes diesem Verwandte, eine bestimmte Handlungsweise hervorzubringen als bestimmten Zweck ansehn, aber dann ist die Schrift schon praktisch didaktisch. So haben wir die zwei Richtungen in ihnen, die strengere didaktische und die durch äußere Veranlassung hervorgerufene Mittheilung, und da das so bestimmt gegenübertritt, so ist vorauszusetzen, daß hierüber keine Differenz und Streit Statt finden könne, da dies leicht zu entscheiden, Ð Ñ findet sich diese Differenz doch und da müssen wir noch eine Betrachtung hinzufügen. Das allgemeine Verhältniß zwischen den Verfassern der N.T. Briefe und denen an die sie schrieben ist seiner Natur nach ein didaktisches Verhältniß; es läßt sich im Voraus erwarten daß auch die freie Mittheilung einen didaktischen Charakter haben wird; daraus folgt indeß nicht, daß ein bestimmter Zweck vorwalte das ist häufig verwechselt worden und hat man die freie Mittheilung oft nicht nach Maßgabe der natürlichen Verhältnisse, die eben didaktischer Art waren, beurtheilt. Stellt man nun die Sache so: man solle unterscheiden, wo ein bestimmter didaktischer Zweck oder wo die freie Mittheilung didaktischer Art sei, so wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle
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unsicher bleiben können. Im Allgemeinen müssen wir danach die N.T. Briefe theilen und von dieser Bestimmung aus treten dann speciellere Regeln ein. Habe ich einen Brief richtig unter jene Analogie subsumirt so tritt ein andres Verfahren für das Weitere ein und in dem einen und dem andern Falle. Sehn wir zugleich auf die Möglichkeit solcher Duplicität, so wird in einem N.T. Briefe ein bestimmter Lehrzweck die vorwaltende Einheit des Ganzen bilden können, der Brief aber doch auch nicht zu Ende sein wenn dieses ausgelaufen; dann wird eine freie Mittheilung eintreten, die aber didaktischer Art ist. So können wir die Beschaffenheit der N.T. Bücher immer nehmen, denn diese Duplicität findet wirklich Statt. Da wechseln denn auch die Regeln, der eine Theil ist nach jenen, der andre nach diesen zu erklären und das Ganze kommt in dieser Duplicität auf die freie Einheit zurück, denn nur in einem Briefe kann jener fremdartige Anfang gestattet werden und so ist viel Grund diese Duplicität vorauszusetzen und sie nicht als Ausnahme anzusehn. Sehn wir auf die Formel der unbestimmten Einheit, die schlechthin freie Mittheilung zurück, so gingen wir davon aus, daß der Gegensatz zwischen Haupt und Nebengedanken nicht wirksam sei, nicht weil diese Form den Gegensatz nicht zulasse, sondern weil er nicht constitutiv für die Schrift selbst ist. Da gibt es also auf keine Weise einen Faden, den man verfolgen kann, sondern da geht unsre eigentliche Aufgabe auf null zu, es wird durch dieselbe nur gesagt, eine wirkliche Einheit sei nicht vorhanden. Construiren wir uns nun den ursprünglichen Willensact, so ist er im Schreibenden die Erfüllung eines Moments, welcher ihn schon in bestimmtem Zustande findet; es tritt dieser Impuls in ein von anderwärts her erfülltes Gemüth ein und nun hat der Impuls doch Eine Richtung nämlich an die und die Personen (im Gegensatz zu den Uebrigen) es ist also diese unbestimmte freie Mittheilung keine unbeschränkte Licenz, sondern vernünftigerweise muß alles Einzelne begriffen werden können, wenn mir der Zustand des Schreibenden und die Beschaffenheit des Bildes gegeben ist von denen, an die er eben die Mittheilung richten wollte. Was damit nicht zusammenhängt ist auch aus dem bestimmten Entschlusse nicht entstanden und so ergibt sich eine bestimmte Begrenzung, doch in derselben eine Duplicität, so daß wir sagen müssen, es läßt sich der Fall denken, der Einzelne ist auf solche Weise in sich selbst bestimmt erfüllt, daß aus d e m Zustande die einzelnen Elemente seiner Mittheilung zu begreifen sind, so daß vielleicht
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der Unterschied, ob er sie Diesem oder Jenem zugedacht, auf ein Minimum zu reduciren, als null gesetzt werden kann. Ebenso läßt sich umgekehrt denken, daß im Moment des Impulses das dem Schreibenden einwohnende Bild ihn so erfüllt, daß in dem Ganzen wenig Unterschied zu sehn in Beziehung auf den Zustand in dem er sich befindet und so ist der Brief ganz zu erklären aus jenem Bilde während der Zustand auch ein andrer sein könnte. Im ersten Fall ist der Schreibende zugleich der Gegenstand, es wird überall die Auffassung seines Verhältnisses dominiren; im andern Falle wird der an den er schreibt der Gegenstand sein, also ist Alles zu begreifen aus der Kenntniß, die er von ihm hat. Nun läßt sich noch zwischen diesen Extremen ein vollkommen Indifferentes Ð Ñ, ein Wechsel solcher Momente, in welchen er sich und seinen momentanen Zustand manifestirt und wo er aufgeht in dem Bewußtsein das er vom Zustand des Andern hat. Je mehr die eine oder andre Einseitigkeit dominirt ist der Zusammenhang leichter zu begreifen, je näher der Indifferenz, je schwieriger, und es ist da jedes Einzelne für sich zu erklären. So haben wir die Einheit des Ganzen in den verschiedensten Graden der Wirksamkeit auf die hermeneutische Operation. Vergleichen wir eine der Aufgaben in ihren verschiedenen Gestalten so müssen wir sagen; an und für sich betrachtet ist die Lösung unsrer Aufgabe nicht nur sondern auch der ganze weitere Verlauf der hermeneutischen Operation weit leichter in der Annäherung an die strengere didaktische Form und sie muß schwieriger sein und ihr Einfluß geringer wo das Andre hervortritt. In jenem Falle der strengern didaktischen Form bringen wir nur zur ganzen Lösung der Aufgabe die Kenntniß von der didaktischen Richtung und dem Zustande in dem sich der zwischen dem Schreibenden und seinen Lesern gemeinsame Lebenskreis befand in dieser Beziehung, mit, wogegen wir, wenn wir auf das Andre sehn, die Kenntniß von dem Zustande in dem der Schreibende sich befand und dem Zustande, in welchem er die, an die er schrieb, wußte, voraus haben müssen, aber diese Verhältnisse können wir Ð Ñ erst aus den Briefen kennen lernen, da wir sie doch voraus haben sollten und so ist die Operation sehr zusammengesetzt, da so Vieles vor der allgemeinen Uebersicht uns sich manifestirt, ehe man an das Einzelne geht. Allerdings ist wohl hier eine gewisse Analogie auch in Beziehung auf die Schriften, wo die Aufgabe leichter ist, indeß ist diese Schwierigkeit nicht eigentlich ursprünglich sondern großentheils entsteht sie daraus, daß wir uns nicht in den richtigen Standpunkt versetzen, wenn wir an die hermeneutische Operation gehn. Was die N.T. Schriftsteller in ihren Brie11 Lücke liest falsch, aber sinnvoll „denken“.
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fen lehren wollten, wissen wir im Allgemeinen, im theoretischen Gebiete konnten sie auch wenn sie an die Einen schrieben nicht Anders lehren, als wenn sie an die Andern schrieben, nur konnten sie in jedem Falle Anders bestreiten und nach Beschaffenheit derer an die sie schrieben eine andre Methode wählen. In dieser Beziehung stellen wir uns auf den richtigen Standpunkt, wenn wir von Nichts ausgehn als von dem was den N.T. Schriftstellern selbst gegeben war; was aber die Ursache ist, daß öfters der didaktische Zweck falsch aufgeführt worden, Ð Ñ, wenn wir von dem ausgehn, was uns gegeben ist. Dies ist so wichtig, daß wir sagen müssen, ein großer Theil der Fehler, die in dem hermeneutischen Verfahren bei dieser Aufgabe begegnen, beruht hierauf. Uns nämlich ist die fernere Entwicklung des Christenthums gegeben und wir pflegen sie als aus dem Apostolischen abgeleitet zu betrachten; nehmen wir indeß an, sie sei schon in den apostolischen Schriften enthalten, so gibt das eine ganz falsche Ansicht. Das wäre nun nicht so leicht möglich, wenn nicht bei jener Aufgabe, die spätere Lehre in Uebereinstimmung mit dem apostolischen darzustellen, mehre N.T. Stellen auf jene Aufgabe bezogen würden, die aus dem Zusammenhang gerissen sind. Diese Beziehung solcher Einzelnen auf die kirchliche Lehre ist schon lange fixirt, ehe man an die Auslegung im Zusammenhange der Schrift geht; da ist also der rechte Gesichtspunkt verrükt. Hält man sich davon frei und beobachtet die Cautel, Alles sei vorher zu vergessen und indem man in Lösung dieser Aufgabe begriffen ist, nur davon ausgehe, was in der ursprünglichen Aufgabe der Apostel lag, so ist diese Gefahr leicht zu vermeiden. Nun ist wieder eine andre Veranlassung zum Irrthum möglich, indem das was den Aposteln gegeben war, bestimmt werden soll. Nämlich wenn das Christenthum entstanden wäre in einem religiös nullen Lebensgebiet, so wäre dieser Gesichtspunkt nicht nothwendig, denn es könnte kein religiöses Element in der Mittheilung der Apostel geben, als welche die christliche Idee ausspräche. Das ist nicht nur nicht der Fall, sondern auch unmöglich. Hier ist nur zweierlei, das was den Aposteln als von Christus gegebene Aufgabe war und das was ihnen vor Christus gegeben war; was sich erst in jene hineinarbeiten und durch diese modificirt werden mußte; beides hat nicht denselben Werth, beides kommt aber vor und zwar ohne Unterschied, wer auch die gewesen sein mögen, an die die Apostel schrieben, denn überall hatten diese auch jenes ihnen früher Gegebene mit ihnen gemein und es lag also in ihrem gewöhnlichen Lebenskreise wie auch in Beziehung dieser Aufgabe, daß Alles, was als religiöses Element früher vorhanden war auch durch Christum in ein Christliches umgewandelt werden mußte. Ist eine didaktische Einheit so
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zusammengesetzt, daß nicht nur Christliches in eigenthümlicher Form mitzutheilen war, sondern auch Christliches in Beziehung auf früher Vorhandenes und dieses Vorhandene in seiner Beziehung auf das Christenthum mitzutheilen, so ist diese Aufgabe schwieriger, als wenn diese Duplicität nicht wäre. Lößt man das im Allgemeinen auf und bringt es unter die Formel: es kann niemals was der frühern Lebensweise angehört rein um sein selbst willen in die didaktische Mittheilung eingehn, sondern nur in Beziehung auf das, was als rein Christliches vorzutragen war; so wird man sich nicht leicht durch diese Duplicität eine falsche Einheit vorstellen, weil diese Duplicität aufgehoben und das untergeordnete Element auf das Hauptelement reducirt ist. Tritt aber jene Duplicität aus der Hauptform ein, so sind beide Theile besonders zu ermitteln, doch ist nicht vorauszusetzen, daß sie immer so geschieden sein werden, daß sie auch völlig zu trennen wären, sondern eben das Bewußtsein, daß der Stoff nicht den ganzen Impetus erfüllen werde, wird schon mitwirken und Elemente der freien Mittheilung hineinbringen, so daß das Ganze zusammengesetzt und die Strenge der eigentlichen Einheit verringert wird. Da muß man nur gleich von vorn herein beides sondernd auseinanderhalten. Dieses Hineintreten einer andern Einheit in die HauptEntwicklung ist das, was man Digression nennt, die eben in der epistolarischen Form vorkommen kann, es ist eine Gedankenreihe, die ohne zu der Entwicklung zu gehören an einem gelegenen Platze dazwischen tritt. Es gibt Formen die dergleichen gar nicht zulassen und anderseits gibt es auch in andern Formen als der epistolaren Digressionen, in jeder sind sie nach ihrer Art und Weise zu beurtheilen, in der brieflichen Form können sie aber nicht anders erklärt werden, es ist das immer eine Abschweifung wenn von dem Zweiten, was eine andre Einheit hat als das Erste nämlich die ganz unbestimmte, Etwas in das Erste tritt. Durch diese muß man sich bei der allgemeinen Uebersicht nicht irre machen lassen, nach dem bestimmten Gegenstande zu fragen, denn wenn er wieder angeknüpft wird, so ist klar daß der Hauptgedanke nicht aus dem Auge gelassen ist. Dies gehört nie eigentlich zur richtigen Composition, es muß indeß hier erwähnt werden, weil die Aufgabe, die Einheit zu finden, hier gelöst werden soll, dabei aber erwähnt werden muß, wie störend die Digression sei. Bleiben wir nun bei der freien Form des Briefs, sofern sie freie Ergießung ist, stehn, da haben wir eine Duplicität aufgestellt, der Schreibende kann aus seinem Zustande heraus schreiben, oder aus dem Bilde, das er vom Zustande des Andern hat, nur muß es ihn nicht auf einen einzelnen Gegenstand fixiren, sonst entsteht die andre Form. Das FactÐumÑ des Schreibens ist im Einen oder Andern Falle ein andres und es entsteht ein ganz andres Verfahren. Wenn
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der Verfasser aus seinem eignen Zustande heraus redet und das geschieht auf die Weise, daß er wirklich von sich selbst und seinem Verhältnisse spricht, dann kann es Niemand verkennen, doch das ist der einfache Fall; es gibt indeß schwierigere. In dem Jemand einen Brief schreibt, kann er von anderwärts her afficirt sein; das mag nur Theilnahme sein und seine Persönlichkeit nicht berühren; bringt er nun nur Gedanken vor, die nur durch jenes Mitgefühl sind, so redet er noch ganz aus seinem Zustande heraus, doch ist das nicht so erkennbar, weil es scheinen kann, als spräche er aus dem Zustande des Andern heraus, an den er schreibt, und was bei ihm Mitgefühl ist, käme aus dem Zustande des Empfangens heraus, das wäre indeß in diesem Falle eine irrige Annahme, und es ist die Möglichkeit gleich das Gute als das Falsche zu finden, wenn mir nichts Andres gegeben ist; und das sind oft nur leise Andeutungen, nach welchen man sich entscheiden kann. Ein Andres ist es, wenn man das Allgemeine voraus hat, nämlich eine möglichst genaue Kenntniß des Lebenskreises beider, da kann ein Zweifel entstehn, weil ich da weiß daß Jener sein Motiv nicht im Zustand dessen hat, an den der Brief gerichtet, sondern es ist aus der Art, wie der Schreibende von anderwärts her aufgeregt ist oder aus seiner eignen Erfahrung heraus geschrieben. Das kann man oft nur an dem Tone merken, ob der schwächer oder stärker ist. Die größte Schwierigkeit der N.T. Auslegung nach dieser Seite hin, liegt darin, daß jene Notizen nun ganz fehlen und erst ebenfalls aus dem Briefe geschöpft werden müssen. Das ist eine Aufgabe, wie sie die Mathematiker eine unbestimmte Aufgabe nennen, wo ich eine unbekannte Größe zu finden nicht bekannte genug habe und nur durch Supposition lösen kann. Nun gibt es unter den N.T. Briefen solche, wo ungeachtet wir uns in demselben Falle finden die Indication doch sehr deutlich ist. So im Briefe an die Corinther. So wie man bei der ersten Uebersicht das Ð Ñ findet lassen sich die Hauptpunkte fixiren für die Interpretation, eben so die Art und Weise, die Einheit festzustellen. Der Brief ist didaktisch, hat aber keine objective Einheit, diese ist nur die Gesammtheit der Notizen, die er bekommen. Hier konnte nämlich der Apostel nicht umhin die Thatsachen selbst dazustellen, durch welche er in Bewegung gesetzt worden. Daraus folgt freilich noch nicht, daß der Brief ein so einfacher Gegenstand der Interpretation sei. Paul konnte ja auch von andern Seiten her erregt sein und so durch Digression Manches hinein gekommen sein, was durch die Corinther nicht angeregt wurde. Dieses wird indeß einen andern Ton und Charakter haben, der neben dem Uebrigen nicht schwer zu unterscheiden 12 lies etwa: gleichermaßen
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ist, und doch kann man schwanken ob der Zustand eines Fremden oder der Corinther[.] Dies erregt, wenn zuweilen der Apostel die Thatsache nicht erwähnt. In den N.T. Briefen sind nun noch eigenthümliche Differenzen; Einige sind an bestimmte Gemeinden gerichtet, Andre an Einzelne, ferner gibt es solche die eine unbekannte und solche die eine unbestimmte Bestimmung haben. Der Brief an die Ebräer hat eine unbekannte Bestimmung, man kann nur Hypothesen machen, wohin er zu beziehn sei, und scheint das gleich leicht, das Leichteste an die Judenchristen, ist unmöglich, da diese nicht isolirt sondern mit Andern gemischt waren. Der Brief an die Epheser hat eine unbekannte Bestimmung, denn daß er nicht an die Gemeine der Epheser ist klar und allgemein anerkannt; weiter wissen wir aber noch nichts, es ist das Uebrige unbekannt. Andre N.T. Briefe haben unbestimmte Bestimmungen, wie der erste Brief Johannis und ebenso die andern katholischen Briefe, denn sind auch in einigen bestimmte Landschaften genannt, so sind doch da die Christen nicht als Einheit genannt sondern unbestimmt und ebenso wenn die in der Zerstreuung lebenden genannt werden, ist das unbestimmt. Wo diese Addresse unbestimmt ist, ergibt sich von selbst, was die Einheit solches Briefes sein kann. Zwar kann jeder Brief eine didaktische Einheit haben, aber wenn diese nicht darin ist, dann offenbar kann der Verfasser nicht von bestimmtem Bilde Ð Ñ derer an die der Brief gerichtet, reden, weil diese keine Einheit haben und er nicht weiß wohin der Brief kommen wird. Da schreibt er also von allgemeinen Voraussetzungen aus oder von seinen eignen Zuständen. Anders ist es, wenn wir sagen müssen, die Addresse eines Briefes ist uns unbekannt; denn deswegen brauchte sie für den Verfasser nicht unbekannt zu sein und da ist also das Eine wie das Andre möglich, da liegt in der Beschaffenheit derer, an die der Brief gerichtet ist, Nichts, was die mögliche Form ausschließt. Nun sehen wir an der Geschichte der N.T. Auslegung, wie schwierig es sei von solchen Voraussetzungen aus, wo so viele Notizen abgehn, die nur durch Conjecturen gefunden werden, zu interpretiren. Wie lange hat man geglaubt, es bezöge sich manches Apostolische auf das Gnostische, daraus ist Vieles erklärt worden, aber bei einer spätern Prüfung fand man keinen Grund dazu, da damals noch gar nicht der Gnosticismus gebildet war. Das ist eine hinreichende Warnung mit größter Vorsicht zu Werke zu gehn, wenn man fehlende Kenntnisse durch Hypothesen ersetzen will. Diese falsche Voraussetzung war sehr natürlich. Die Kenntniß der Umstände war nicht gegeben, man war also an die älteste Geschichte des Christenthums ge30 abgehen oder fehlen
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wiesen, und da hatte man 2 Methoden zu verfahren, einmal von dem Aeltesten, der ApostelGeschichte aus die ihr folgende große Lücke in der Geschichte zu construiren oder aus der spätern, dieser Lücke folgenden Geschichte auf die Lücken zurückzuschließen. Das Erste ist nicht hinreichend, denn es kann Vieles in der Zeit schon gegeben sein, wo die ApostelGeschichte geschrieben wurde und sogar in der Zeit welche sie beschreibt, ohne daß sie dessen erwähnt. So ist der Conjectur freies Feld geöffnet und daß man also nun bei dem Großen und Mächtigsten die Conjecturen begann ist natürlich und da glaubte man der Gnosticism müsse zu jener Zeit schon gewesen sein und erklärte daraus, es war aber unrichtig. Eben so leicht kann es kommen, daß wollte man sich nur an das in der ApostelGeschichte Erzählte halten man nicht ausreichte. Nur muß man sich hüten gleich bestimmtes zu geben; die ApostelGeschichte beschreibt nur den Gegensatz zwischen den judaisirenden Christen und den Heidenchristen; darauf wird sich auch Vieles in dem Apostolischen beziehn, doch würde Alles nur durch gar künstliche Erklärungen darauf zurückgebracht. Wo wir in einem Briefe gleich zu solchen schwierigen Stellen in der Uebersicht kommen und es zeigt sich überall das Verhältniß, der Verfasser schreibe von einer Vorstellung aus, die er von denen hat, an die er schreibt, so kommt es darauf an, den Punkt herauszufinden, und muß man sich da vor Täuschung hüten. Ist eine didaktische Einheit in solchem Briefe, so ist das Auffinden derselben viel leichter. Geht dies nicht hervor, so entsteht die Frage, wie die Stellen zu behandeln seien, unter der Voraussetzung, daß Jedes sich auf dasselbe oder Jedes sich auf Andres beziehe. Da kann man nicht weiter ohne das Verhältniß verschiedener Stellen ins Auge zu fassen und auf die Composition einzugehn; da sind Stellen wo ich nicht eher ein bestimmtes Urtheil über die Einheit habe, bis auch die bestimmte Gliederung, wie sie mit dem Bewußtsein des Verfassers geworden, mir anschaulich worden ist. Je mehr die Briefe freie Mittheilung sind, je schwieriger ist es weil da einwirkt, was sich lebendig gerade darstellte, ohne daß eine praemeditirte Ordnung Statt fände. Gedenken wir, daß die normale Dignität für die christliche Lehre überwiegend auf den Apostolischen Briefen beruht in Beziehung auf Alles, was weitere Entwicklung derselben ist und wir finden die Erklärung in ihren Anfängen schwierig, so ist das eine niederschlagende Position und da muß man sich überzeugen, daß ohne bösen Willen und ohne falsche Absicht ein sehr verschiedener Gebrauch von den einzelnen Stellen gemacht werden kann. Doch ist dabei das ein günstiger Umstand, daß doch einige Briefe sind die eine didaktische Einheit haben und in ihnen finden wir ein sichres Fundament für die weitere Entwicklung der hermeneutischen
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Operation, so an die Roemer der Brief, so die an die Galater, an die Ebräer, freilich halten sie die didaktische Einheit nicht rein bestimmt fest, sondern haben auch Theile die in freier Ergießung entstanden und sie haben Digressionen doch ist die didaktische Einheit als Thema des Briefs deutlich ausgesprochen. Sehen wir nun doch diese normative Dignität des N.T., das am Ende eigentlich nur eine Sammlung ist, als Eines an, so müssen wir diese Briefe zur Basis hermeneutischer Auslegung machen, und jenachdem sich was man bei den Andern ermittelt, nach diesem Maße feststellt, muß man die übrigen Briefe schätzen, eine andre sichere Schätzung gibt es nicht. Je mehr man nun aus der Schrift selbst die obwaltenden Verhältnisse kennen lernen muß, je weniger möglich ist es, eine unbestrittene Lösung zu gewinnen, die Operation wird Hypothetisch und dieser ganze Theil der hermeneutischen Aufgabe, den eigentlich die Beschäftigung mit dem Einzelnen voraussetzen muß, kann eben durch diese erst aufgelöst werden. So wie wir sagen können, hier sind verschiedene Voraussetzungen möglich, sind die es gewesen, so war dieses die Einheit, sind’s jene gewesen so jene, so ist nur zu entscheiden durch die größere Uebereinstimmung des Einzelnen mit dieser oder jener Einheit. Das Aufstellen der Regeln ist da zu Ende und es beginnt das Reich des Takts, der aus dem eigenthümlichen Talent der analytischen Combination hervorgeht und da ist nur die Regel, bei jedem einzelnen Fortschritte auch in Beziehung auf die Elemente, die mit der Hauptfrage nicht zusammengehören die verschiedenen möglichen Ansichten im Auge zu haben. – Wenn wir nun unserer Ordnung folgen, indem wir zum Allgemeinen zurückgehn, so kommen wir in Folge derselben, indem wir die mehr psychologische Seite der technischen voranschicken wollen, auf die Elemente die eigentlich das Technische voraussetzen, nämlich die, die nicht aus dem Technischen verstanden werden können. Nämlich die erste Aufgabe war, denjenigen Impuls, der dem ganzen Act zum Grunde liegt, richtig als Thatsache im Schreibenden zu verstehn also im Zusammenhange mit der ganzen Seite seines Lebens, zu der seine Schrift gehört. Dann sagten wir, gäbe es mehr oder weniger Elemente die mit diesem Impuls nicht zusammenhängen unmittelbar. Was unmittelbar mit ihm zusammenhängt, das kommt durch die Meditation zu erklären, durch das bestimmte Bewußtsein, und bekommt durch die Composition seine angemessene Stelle. Außerdem sind aber noch immer Elemente in jeder Schrift, die wir als Nebengedanken unterscheiden und diese sind auch nur verständlich als Thatsachen im Vorstellungsprocesse des Schreibenden aber sofern er unabhängig ist von dem ursprünglichen Impulse. Nun ist die Aufgabe, wie diese Elemente zu verstehn seien. Denkt man sich im
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Gespräche, so ist das ein ganz freier Zustand, dem gar keine bestimmte objective Absicht sondern nur der sich wechselseitig erregende Austausch zum Grunde liegt. Doch fixirt sich das Gespräch leicht auf Etwas und das wird sogar von beiden Theilen angestrebt, da ist eine gemeinsame Gedankenentwicklung und eine bestimmte Beziehung der Aeußerungen des Einen auf den Andern, und was daraus hervorgeht ist das, worauf wir nicht zu sehn haben, doch nun gestattet das Gespräch auch Absprünge und sobald solch Absprung vorkommt, entsteht eine Aufgabe und man denkt sich, wie ist der dazu gekommen? Im Gespräch kündigt sich das nun an aber nicht immer wird die Genesis angegeben und diese ist die eigentliche Aufgabe. Nun wird es ziemlich allgemein sein, daß man bereits imVoraus diese Absprünge ahndet, was indeß nur geschehen kann bei genauer Bekanntschaft, indem man des Andern unwillkührliche Combinationsweise kennt. Je größer diese Bekanntschaft mit der Combinationsweise des Andern ist, wobei aber dieses, seine Nebengedanken zu errathen das Extrem ist, um so leichter wird man die Genesis von dem was in den Gedankenzusammenhang tritt, finden können, denn das ist die nächste Stufe. Fragen wir, was ist hier die Leitung woran wir das finden können, so werden wir sagen, die allgemeinen, mehr logischen Combinationsgesetze, die das sind was die Combination dominirt und wodurch die wesentlichen Theile die in der Rede vorkommen, bestimmt werden, haben damit Nichts zu thun; somit müssen wir hier auf das Psychologische zurückgehn und zu erklären suchen, wodurch eben diese freie und unwillkührliche Combination bestimmt wird, dabei müssen wir die Selbstbeobachtung zu Grunde legen, denn ohne solche Analogie zwischen uns und Andern könnten wir uns gar nicht diese Aufgabe stellen, die Genesis eines solchen Nebengedankens zu finden. Hier ist am natürlichsten, wenn wir uns in dem Zustand der Meditation denken, d.i. in einem Punkt, wo wir uns die Masse von Vorstellungen davon lebendig machen wollen. Was nun dazu gehört, lassen wir bei Seite liegen, wir knüpfen das Bewußtsein an, daß eine gewisse Neigung zur Zerstreuung der Gedanken als Hemmung auftrete, denn sonst wäre die Meditation keine Anstrengung, es ist nicht ein Denken wollen sondern ein nicht im Vorstellen gebunden sein wollen, was in jedem Momente überwunden sein muß. Das ist bei Jedem verschieden, doch ist das Factum Jedem gegeben. Fragen wir uns, was würde entstehn, wenn wir diese Neigung nicht überwänden, die Meditation würde durch andre Vorstellungen unterbrochen, hemmten wir nicht so würde ein andrer Gang der Vorstellungen entstehn und die Meditation aufhören. Jener würde aber nicht von bestimmtem Punkte ausgehn, sonst wäre eine Meditation mit der andern vertauscht,
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sondern ein freies Spiel der Vorstellungen würde eintreten wobei wir selbst was den Willen betrifft passiv wären, aber das geistige Sein in Thätigkeit wäre. Wollten wir uns die Aufgabe stellen, zu erklären, woher uns diese Vorstellungen dem Inhalte nach kommen, so wäre sie nie vollkommen zu lösen, denn je freier wir uns gehn lassen um so mehr Analogie würde der Zustand mit den Träumen bekommen und das ist das für sich Unverständliche, aber weil es keinem Gesetz des Zusammenhanges folgt so erscheint dieser nur zufällig. Um nun eine Vermittlung für diese gänzliche Unverständlichkeit zu finden müssen wir zum Zustande der Meditation zurückkehren und fragen, wie er sich zu unserm Gesammtsein verhalte (Ich rede von unserm Sein sofern es ein Vorstellen ist, doch im weitesten Sinne des Worts). Hier ist zweierlei zu unterscheiden. Jeder Vorstellungszustand ist an und für sich ein Moment und somit vorübergehend; auf der andern Seite müssen wir sagen, daß jeder solcher Zustand etwas bleibendes zurückläßt, daß er Etwas absetzt und das ist die Wiederhohlbarkeit des ursprünglichen Moments. Wäre sie nicht, so verschwände jede Vorstellung im Momente selbst und unser Gesammtsein ginge in dem jedesmaligen Momente auf. Denken wir uns in dem Zustand der Meditation, so verschwindet dieses Momentane, da behalten wir was im einen Momente geworden im Andern zugleich und daher ist das Ganze zugleich Ein Act und diese Zusammengehörigkeit, die nur im fortgehenden Entschlusse liegt überwindet jenes momentane Verschwinden und soll es eigentlich vollkommen überwinden. Durch den Willensact selbst wird Alles festgehalten, doch bezieht sich das nur auf diesen Zustand; es gibt noch einen andern, der aber diesem Zustande der Meditation analog ist, den Zustand der Beobachtung, wo die Productivität die Form der Receptivität annimmt doch auf dieselbe constante Weise, da ist ganz dasselbe, es wechseln die Gegenstände und verschwinden, doch bleiben die gewonnenen Vorstellungen fest und sollen nicht vergessen werden; der Willensact fesselt sie und verändert ihre Natur des momentanen Verschwindens. Jenes Zurückbleiben ist Wiederhohlbarkeit, findet ohne bestimten Willensact Statt; allerdings in verschiedenem Grade in Beziehung auf die Zeit und in Beziehung auf den Gegenstand. Fragen wir also, wie verhalten wir uns denn zu diesen Resten? so sagen wir, wir haben es und haben es auch nicht. Letzteres, wenn wir es vergleichen mit dem, was jeden Moment unmittelbar erfüllt, wir haben es, sofern es wiederhohlt werden kann ohne ursprünglich wiedererzeugt zu werden, sondern es läßt sich aus der ersten Genesis reproduciren, nur hängt diese Reproduction 34 es] über sie
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an einem bestimmten Willensact, wenn dieses jemals im Gebiet der Meditation eintritt oder in unmittelbarem Verhältnisse zu einer Beobachtung steht; doch erfolgt sie ohne Willensact auch, wie aber das, davon können wir uns selten bestimmte Rechenschaft geben, aber beobachten wir uns im Zustande des Zertreutseinwollens, so kann da Alles, was da eintritt und die Meditation unterbricht eine solche Wiederhohlung von Vorstellungen sein. Hier also müssen wir unterscheiden die Reihe von Vorstellungsmomenten, die jedesmal den Moment wirklich erfüllt und an dem Willensact unsers Seins in diesem Momente hängt. Dieses sei bestimmt wie es wolle, also Meditation oder Beobachtung; unter Eins von beiden wird es immer subsumirt werden können, wenn wir den Ausdruck in weiterm Sinne nehmen; und ein Gebiet, eine Masse von Vorstellungsresten, die wir haben, ohne eigentlich Herr davon zu sein, ohne daß sie dem bestimmten Willen unterworfen wären. Wenn wir jene Neigung des Zerstreuenwollens in solchem Willensacte der Meditation betrachten so ist es das Seinwollen dieser Vorstellungen, also die Richtung auf unser gesammtes Sein, dem das bestimmte Seinwollen eines Moments gegenüber tritt und nur aus unserm Gesammtsein kann dieser Act begriffen werden. Nun fragt sich wenn wir uns im Zustande der Mittheilung denken, also der Meditation und Aeußerung zugleich, so wird hier dieselbe Neigung des Zerstreuenwollens auch sein, denn es theilt sich nun nur der bestimmte Willensact in 2 Momente, das bestimmte Denken und desselben Mittheilung. Haben wir nun in der eigentlichen Meditation ohne Mittheilung die Zerstreuung überwunden, so wird es nicht dieselbe sein die im 2ten Act, der Mittheilung, der Composition und Darstellung wiederkommt aber es wird auch immer eine sein. Denken wir uns in einer Mittheilung solcher Elemente, die aus dem dominirenden Willensact nicht zu erklären ist, so bleibt nur das übrig, daß sie aus diesem freien Spiel herrühren. Wenn nun aber solche Vorstellungen in die Mittheilung aufgenommen werden, so geschieht das doch durch einen Willensact. Denkt man sich Jemand der in strenger Meditation begriffen gewesen ist, sich nun seines Gegenstands bemächtigt hat, nun stellt er etwas Zweites in sich dar, er setzt die Ordnung fest, in welcher dieses er mittheilen will, er concipirt die Composition, ist sie zu Stande gekommen und er ist in der Composition eben so streng als in der Meditation gewesen und es ist Nichts in seiner Mittheilung was nicht aus seinem ursprünglichen Willensacte aufs bestimmteste zu erklären ist, er ist also in der kyriolejia geblieben, übersieht nun seine Composition, dann werden sich 2 Fälle denken lassen können. Entweder 5 Zertreutseinwollens] korr. aus Zerstreutwerdenwollens
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er ist damit zufrieden, daß er sich streng an den Gegenstand gehalten, oder es wird ihm dieses dürftig erscheinen. Dieses Urtheil beruht auf einer Differenz in dem, was den Inhalt des freien Spiels ausmacht, denn wäre Nichts darin gewesen, was nicht in einer Beziehung zur bestimmten Meditation gestanden, so brauchte er sich nicht zu tadeln, daß er es von der Hand gewiesen. So wie nur Etwas in bestimmter Relation gestanden, da wird der Willensact eine gewisse Anziehungskraft gehabt haben und er wird es nicht so leicht haben fallen lassen. Dagegen wird es Fälle geben, wo er diese Strenge loben wird, da ist eine Differenz in der ursprünglichen Willenskraft; es müßte Eines oder das Andre mit in seinem Vorsatz gewesen sein, da bestimmte Formen der Mittheilung Alles abweisen und andre es zulassen ja fodern. Wo wir nun dergleichen finden da können wir eine solche Beschaffenheit solches freien Spiels voraussetzen wie des gesamten Vorstellungsbesitzstands, daß darin Elemente gewesen, die mit dem Gegenstande haben in Verbindung treten können, und von der andern Seite ist solche durch den ursprünglichen Willensact Ð Ñ Zerstreuung eine positive Anregung des freien Spiels der Vorstellungen, um alles Verwandte mit hinein zu ziehn. Der letzte Ausdruck nimmt es schon in den ursprünglichen Willensact auf, und beide Vorstellungen sind zu denken und so werden wir sagen müssen, so wie wir diese Elemente unterscheiden, was allerdings nur möglich ist, nachdem wir die erste Aufgabe gelöst, denn habe ich die Einheit nicht gefunden so kann ich auch nicht die wesentlichen und zufälligen Elemente unterscheiden, und es entsteht die Aufgabe, ihr Entstehn zu begreifen so beruht diese auf der Kenntniß des geheimen Vorstellungsbestandes, und dann auf der Art und Weise wie wir von uns und unsrer Composition auf ihn und die seine zu schließen vermögen. Denken wir uns eine möglichst vollständige Kenntniß so daß wir sagen, wir kennten den Autor wie uns selbst so ist da ein ganz andrer Maßstab, da sagen wir, wir selbst kennen mehr Bewußtsein was uns eingefallen in dem Schreiben und nicht nur was wir mit aufgenommen sondern auch was wir nicht mit aufgenommen was nur bei dem Einzelnen auf ÐerfolgreicheÑ Weise der Fall ist und bei jedem Einzelnen in jedem einzelnen Falle entschieden. So also können wir mit jener bloßen Kenntniß selbst uns in Beziehung auf Andre diese Aufgabe nicht stellen. Also das Begreifen der Genesis der Nebengedanken und zugleich die richtige Auffassung des Werths, den er ihnen beigelegt wissen will, welche die Gründe enthält, worin er die Gedanken aufgenommen, hängt davon ab, wie wir seinen Vorstellungsbestand kennen und von der Art und Weise, wie wir eine Analogie zwischen ihm und uns aufstellen können; und darin liegt, wie Einer einen Autor mehr oder weniger versteht als ein Andrer,
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während die erste Foderung beiden gemein ist; muß man doch selbst nicht nur wissen was einem Autor eingefallen als Nebengedanke sondern – was oft nicht unwichtig ist – sowohl was ihm nicht eingefallen als was er, da es ihm einfiel, zurückgewiesen. – Je mehr wir von einem Schriftsteller solche Productionen haben die ihrem wesentlichen Inhalte nach ein solches sich gehn lassen sind, um so leichter kommen wir zu dieser Kenntniß, denn es kommt Alles zum Vorschein, wenn man eine große Masse solcher Productionen hat. Doch kommt da zunächst das Bewußtsein des Autors in Betracht in Beziehung auf die, an die er zu schreiben hat. Läge in dem Briefe Etwas, was außer ihrem Kreise ist, so wäre das aus Irrthum oder Unbedachtsamkeit geschehn, jene Elemente müssen wir daraus erkennen. Dann kommt sein momentaner Zustand und sein momentanes Verhältniß mit in Anschlag; denn Jeder, hat er zu verschiedenen Umständen dieselben Gegenstände zu behandeln, so werden die Hauptgedanken vielleicht noch dieselben, die Nebengedanken aber schier verschieden sein. Da tritt aber der Fall ein, daß man oft erst aus den sich einmischenden Gedanken die Ahndung von dem Zustande bekommt, in dem sich der Schreibende befindet. Hier geht leicht vor, was aber außer der Möglichkeit aufzustellender Regeln liegt; nämlich je mehr Jemand in Beziehung auf die vorstellende Thätigkeit sich dabei beobachtet hat oder Andre, hat er hermeneutisches Talent für diese Seite, weil Jenes in jedem Falle leitet; das liegt im Gebiete des Talents. Da wird immer in welchem Maße der Gegenstand schwierig ist, die hermeneutische Aufgabe eine gemeinsame sein; je mehr von den nothwendigen Bedingungen fehlt, je mehr specielle Richtungen des Einen und des Andern müssen sich vereinen, um die hermeneutische Operation mit Erfolg zu lösen. – In den historischen Schriften ist nun im N.T. hievon gar nicht die Frage; so wie sie vor uns sind, ist fast gar keine Gelegenheit zu solchen Einmischungen von Nebengedanken der Schriftsteller. In den 3 ersten Evangelien tritt der Schriftsteller fast gar nicht hervor, ausgenommen daß keine Erzählung ist, welcher nicht ein eignes Urtheil beigemischt wäre. Das ist wohl ein unstreitbares Factum und jede noch so kleine Erzählung bestätigt es. Rechnet man das Urtheil als Gedanken des Schriftstellers, so kommt man auf die Frage zurück, ist das nun dieser Schriftsteller oder ein früherer, dessen Erzählung er sammt dem Urtheile hier aufgenommen. Bei Johannes ist solch Auftreten des Schriftstellers häufiger, weil eben ein größerer Zusammenhang in seinen Erzählungen ist und um deswillen mußte er mehr hervortreten, aber das ist doch auch nur in den Nachweisungen, die er gibt oder der Darstellung der eignen Eindrücke; beides gehört aber zum Wesen der Sache. Es gibt nur wenige hieher gehörige Stellen in den
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historischen Schriften und das sind fast nur Anführungen aus dem Alten Testament. Das kann an und für sich weniges Merkwürdige darbieten, nur ist zu fragen, warum dergleichen nicht öfter kommt, warum der Schriftsteller sich nicht in Mittheilung seiner Eindrücke gehn läßt, weil dann solche Fälle häufiger wären? Das führt auf eine Verallgemeinerung dieses Punkts auch in Beziehung auf die didaktischen Schriften. Denn fragen wir: was haben die N.T. Schriftsteller mit denjenigen, an die sie schrieben für ein gemeinsames Vorstellungsgebiet, welches noch von dem Gegenstande, der behandelt wird, verschieden wäre, so können wir nur sagen, einer der Hauptpunkte sei in dieser Beziehung die Kenntniß des Alten Testaments und noch mehr: es liegt in der Natur der Sache, daß dieses eine gewisse Allgegenwärtigkeit bei den N.T. Schriftstellern haben mußte und daß also auch eine Richtung darauf im Acte des Schreibens eintreten wird. Dies mußte also der natürlichste Raum für die Nebengedanken eines N.T. Schriftstellers sein. Betrachten wir die Verfasser selbst und die Art, wie sie in ihrem Berufe, das Evangelium zu verkünden, aufgingen, dabei wie sie standen zu denen, an die sie schreiben, so müssen wir sagen, daß in ihnen alle Interressen außerhalb jenes einigen Berufs in den Hintergrund treten mußten, wenn sie Apostel hatten sein können, und es sein wollten. Von der andern Seite bestanden die Gemeinen, an die sie schrieben entweder aus Juden oder aus Heiden. Daß sie mit Jenen Manches gemein hatten aus frühern Zeiten ist natürlich, aber der Hauptpunkt blieb das Alte Testament, das Allen gleich geläufig war. Mit den Heiden und dem heidnischen Leben hatten sie indeß gar keinen gemeinschaftlichen Vorstellungskreis und so konnten erstaunlich wenige aus dem heidnischen Leben hergenommene Gedanken als Nebengedanken in die Schrift eintreten, nur solche die in das öffentliche Leben gehörten, so können wir auch gar keinen Antheil an dem heidnischen Leben bei den Schriftstellern voraussetzen und in Allem war eigentlich eine Kluft befestigt zwischen den N.T. Schriftstellern und diesen ursprünglichen Lesern unter den Heiden, und nur das Christenthum selbst, der Gegenstand des Schreibens war ein Anknüpfungspunkt. Indeß hatten die meisten solcher ursprünglich heidnischen Gemeinden schon früher mit den Juden in gewisser Verbindung gestanden, und kannten schon dadurch das Alte Testament; aber mehr, traten sie unmittelbar aus dem Heidenthum in das Christenthum, so war in den christlichen Versammlungen doch das Alte Testament wiederum die alleinige Basis von der ausgegangen wurde, somit traten sie in den Lebenskreis der Juden, und es wurde immer das Alte 18 einigen, lies einzigen
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Testament das größte gemeinschaftliche Gebiet. Dieses ist der Materie nach bei weitem das Meiste von Allem was Veranlassung gibt zu dem, das nicht unmittelbar in den Kreis des zu behandelnden hineingehört. Wenden wir unsre vorige Regel an, so müssen wir sagen, diese freien Mittheilungen bezeichnen uns den beiden gemeinschaftlichen Kreis, aus welchem, was bei einer strengern Form Nebengedanke ist, genommen ist. Doch sind wir hier sogleich wieder auf sehr streitigem Gebiet, denn wie verschieden ist nicht von Anfang an, dieser Gegenstand der gelegentlichen Anführungen des Alten Testament’s behandelt und taxirt worden! Der Eine sagt, man muß den Gebrauch der hier von AltTestamentlichen Stellen gemacht wird, als eigentlichen Sinn der AltTestamentlichen Schriftsteller ansehn; da erhält man ein andres Resultat, als wenn man sagt: eben deshalb, weil es außerhalb des unmittelbaren Gegenstands der Schrift so wenig Gemeinschaftliches zwischen den Lesern und den Schriftstellern gab, so ist von dem Wenigen ein fleißiger und deshalb verschiedener Gebrauch gemacht worden. Da ist die Aufgabe zu erkennen, wie diese Stelle als Thatsache im Gemüthe des Schreibenden zu verstehen sei? War es dem Schriftsteller unmöglich die Stelle anders als in dem ursprünglichen Sinne zu gebrauchen, so ist da die einzige Auslegung; kann man aber denken, der Schriftsteller habe sie auch anders brauchen können, so sind da noch ganz andre Möglichkeiten. Wenn sich Stellen fänden, daß dieselbe AltTestamentliche Stelle von verschiedenen N.T. Schriftstellern auf solche Weise als Nebengedanken gebraucht worden und es ließe sich zeigen, daß bei dem Einen eine andre Auslegung zum Grunde liege als bei dem Andern, so ist ausgemacht, jener allgemeine Canon sei unstatthaft, sei nicht allgemein anzuwenden; denn beides konnte nicht in der Einen Stelle der AltTestamentliche Schriftsteller verstehn. Nun gibt es diesem so nahe liegende Fälle, daß man sie darunter subsumiren kann; vorausgesetzt also, solche AltTestamentliche Anführungen und Anspielungen seien das bedeutendste Material solcher Nebengedanken in den didaktischen Schriften, um über die Art und Weise sicher zu sein wie es im Gemüthe des Schreibenden bei solchen zugegangen sein muß, muß man eine allgemeine Uebersicht von allen Fällen solcher Art sich verschaffen, ohne sie ist eine sichre Entscheidung nicht möglich. Ergibt diese solche Resultate, wie das eben angeführte, oder erscheint als Resultat eine große quantitative Differenz, so daß an einer Stelle mehr Nachdruck auf den Gebrauch der AltTestamentlichen Stelle gelegt worden, wenn gleich sie nur als Nebengedanke auftritt, auf der andern Seite es aber nur wie zufällig erscheint, daß gerade ein AltTestamentlicher Ausdruck gebraucht worden, dasselbe hätte auch auf andre
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Weise ausgedrückt werden können, so müssen wir durchaus sagen, die allgemeine Regel sei nicht aufzustellen, es sei die allgemeine Richtung der N.T. Schriftsteller gewesen, den Sinn solcher Stellen festzustellen. Denn führen sie dieselben nur auf nachdruckslose Weise ein, so ist durchaus nicht zu denken, daß er Jenes gewollt. Dies sind die Punkte von denen aus zu gehn ist um den Gegenstand hier richtig zu übersehn und richtig zu schätzen. Behandeln wir die Sache rein mit unsrer bisherigen Untersuchung zusammenhängend, so wird es gleich sehr wahrscheinlich werden, daß wo es einen sehr geringen aber zu gleicher Zeit sehr allgemein verbreiteten literarischen Besitz gibt, der das Gemeinschaftliche zwischen dem Schriftsteller und seinen Lesern ist, da ist es natürlich, daß von diesem auf die allermannigfaltigste Weise Gebrauch gemacht werde. Dasselbe gilt bei den Griechen von Homer in Hinsicht seines Alters, und seiner Eigenschaft als einziges aus ihren frühesten Zeiten hinterlassenes Werk, was vom Alten Testament für die Juden und daher ist auch von den Griechen ein so mannigfaltiger Gebrauch vom Homer gemacht, daher die Analogie der allegorischen Interpretation des Homer und der des Alten Testaments und sind sie nicht ganz ohne Beziehung auf einander, indem es Schriftsteller gab, die gegen das Christenthum den Homer als codex aufstellten und aus ihm ihre philosophischen Ansichten erklärten. Wie da aber ex professo der Homer behandelt wurde – wobei Allegorische Erklärungen nicht gespart wurden – so auch als Nebengedanke wird es geschehn und geht man nicht von einer InspirationsTheorie aus, die alle Hermeneutik aufhebt und dadurch sich selbst so ist eine Analogie nicht zu verkennen. Es ist der Faden genau zu verfolgen; welchem folgend man eine mannigfache Gebrauchsweise des Alten Testament’s machte. Es fielen den Schriftstellern bei ihrer Kenntniß desselben oft Stellen aus dem Alten Testament ein, und wie das einen besondern Reiz hat, wenn 2 Leute in was für Verhandlungen auch auf den Kreis kommen, der ihnen gemeinsam ist und gleich bekannt, daß sie aus ihm anführen, wo sich die Gelegenheit bietet, um zu zeigen, wie sie ihn inne haben. Alles nun was in einer kunstmäßigen Form obwohl Nebengedanke gelassen wird, nimmt den Charakter eines Gesprächs an, denn Nebengedanken sind immer nur aus einem dem Schreibenden und seinen Lesern gemeinsamen Gebiete genommen, und zwar aus solchem, von dem der Schriftsteller voraussetzen kann daß es jenen mit derselben Leichtigkeit wird gegenwärtig gemacht werden können, als es ihm ist. Fremden Lesern wird freilich oft solcher Nebengedanke räthselhaft erscheinen, denken wir aber, eben so ginge es den ursprünglichen Lesern so tadelten wir den Verfasser, denn er hat bewirkt daß, AnStatt daß Nebengedanken neuen Reiz erregen und die 39–40 denn ... hat] er denn hat
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Aufmerksamkeit spannen sollen, sie hier hemmen und dadurch, daß man das Streben fühlt sie zu lösen, den Leser im aufmerksamen Lesen des Folgenden stören. Doch ist das, daß der Schriftsteller so schlecht verfahren sei nicht das, was vorauszusetzen ist. Wenn es schlecht ist, so liegt es gewöhnlich darin, daß es so wenig vermittelnde Punkte zwischen der vertraulichen Mittheilung und dem was an das ganze Publicum gerichtet ist, in unsrer Literatur gibt. Voraus zu setzen ist aber immer, daß die Nebengedanken nur fördernd, nicht hemmend eintreten werden. – Was nämlich über die Natur der Digression gesagt ist, daß wenn beide Theile sich vermischen einer Darstellung, die strengere und die freie Mittheilung, und daß was ÐfüglichÑ hätte Element zu abgesonderter Mittheilung sein können, sich bei einem Abschnitt oder gelegentlichen Puncte in den Hauptgedanken eindrängt, das ist offenbar von derselben Art, wir können also mit dem eben Auseinandergesetzten es auf allgemeine Art zusammenfassen und die ganze Differenz durch die einfachste Formel erklären: Jede Schrift ist Zweierlei, auf der einen Seite Gespräch, auf der andern kann sie mehr oder weniger Mittheilung sein einer bestimmten, absichtlich gewollten Gedankenreihe. Denken wir Letzteres ohne das Erstere in einer Schrift, das Erstere also null, so gehört dazu auch dieses, daß der Schriftsteller gar nicht bestimmt ist durch die ihm gegenüberstehende Vorstellung des Lesers, denken wir dieses so müssen wir sagen, das kann keine eigentliche Schrift sein, denn da schreibt Jeder nur für sich, und wie man sich dabei oft ganz kurz, durch Formeln, Zeichen abfertigt, daß man nachher nicht einmal für sich geschrieben hat, liegt in der Natur der Gedanken. So wie man sich aber ein bestimmtes Schriftliches denkt, ist es auch durch die Vorstellung von der Addresse bestimmt. Alles was nun solchen dialogischen Charakter in der Schrift trägt ist nur aus dem Gemeinschaftlichen zwischen dem Schriftsteller und dem, den er sich gegenüberstellt, zu erklären. Ist das ein sehr bestimmtes so ist auch der Umkreis schon bestimmt, je und je bestimmter die Addresse ist, um so mehr kann aus dem Gemeinschaftlichen vorkommen und je größer ist die Neigung zu der Form, die sich der vertraulichen Mittheilung nähert. Darin liegt die ganze Andeutung der Stelle, die den didaktischen Schriften anzuweisen ist, und es tritt in ihnen die Richtung auf weit spätere Geschlechter auf Entfernteres durchaus zurück; eine solche geschichtliche Richtung Ðvon desÑ Normalen ihrer Schriften, würden sie, wenn sie die-
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selbe gehabt, nur aus ihrem Gebiete geleitet haben; die That zeigt aber, daß sie genau in dem gemeinschaftlichen Kreise geblieben. – Wir finden, daß unser Satz in ÐhistorischenÑ Schriften des N.T. sehr beschränkt war, da die Schriftsteller in ihnen ganz zurücktreten. In dem Maße wie bei den 3 ersten ist das nun im Johannes nicht der Fall, aber es zeichnet sich doch nur in Beziehung auf das stärkere Hervortreten der Einheit des Erzählens und des bestimmt durchgehenden Zusammenhanges aus, aber wo Johannes hervortritt ist es immer nur auf dieselbe Weise in dem Ergriffensein von dem was er erzählt. Mit dem didaktischen hat das nun eine andre Bewandtniß, doch auch da wird man immer auf einen höchst beschränkten Kreis zurückgeführt und wir können immer nur im Allgemeinen sagen: in den Schriften strengerer Form kann das als Nebengedanke vorkommen, was unter den wesentlichen Elementen wäre wenn das Ganze als freie Mittheilung bestünde oder in dem Theile der Schrift, der diese repräsentirt. Da ist also die Frage wieder, was gab es für einen Kreis freier Mittheilung zwischen den Apostolischen Schriftstellern und denen, an die sie schrieben und da ist immer das Gebiet des vorherrschend christlichen Lebens, dagegen trat Alles Andre zurück. So bleiben nur die wenigen Wechselfälle in diesem Gebiete selbst übrig; nämlich in einer freien Mittheilung kann der Schriftsteller mehr ausgehn von dem, was ihn gerade bewegt oder von der Vorstellung die er von denen hat, an die der Brief gerichtet ist. Dominirt nun die eine Seite so tritt die andre dazwischen im Einzelnen. Dieser Wechsel ist nicht leicht so zusammengesetzt als im 2ten Briefe an die Corinther, und eben deswegen ist dieser Brief so schwierig für die Auslegung, so daß Viele sich gar nicht zu helfen gewußt, oder daß sie gesagt, der Brief sei in keiner Hinsicht eine Einheit, Paulus habe ihn unter den Zerstreuungen der Reise geschrieben. Solche Hypothesen, haben sie nicht ein bestimmtes Fundament sind ein hermeneutischer Banquerout, es zeigt daß man den Faden verloren hat. Das Schwierige ist indeß nur dieses, daß diese beiden Hauptdifferenzen so eigenthümlich durcheinandergehn. Auf der einen Seite bewegen ihn dortige Vorfälle, zu denen gehört aber auch, was mit seiner Person dort vorgegangen, und ein solcher Punkt bildet sogleich große Schwierigkeiten. Denn spricht Jemand bewegt über sich selbst, so meint man Grund zu haben zu glauben, er selbst sei irgendwie betroffen. Dann kommen Elemente der andern Art zwischen durch und nur, wenn man bedenkt, wie Paulus sich selbst und sein ganzes Leben schildert als lebhaftes Bewegtsein von Allem was in der christlichen Kirche vorgeht, darin findet man Schlüssel zu Vielem, das, sobald man nicht Jenes vor Augen hat Einem nicht deutlich werden kann. Ferner gibt es in den Paulinischen Schriften viel Polemisches, und sucht
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man die Gegenstände der Polemik nur da, wohin er schreibt. Dieses ist nun gar nicht nothwendig, es ist auch Andres was ihn dazu bewegt, und ist man nur aufmerksam, so wird man wohl den Unterschied in dem Tone seiner Polemik bemerken, wenn sein Gegenstand da auftritt, wohin er schreibt, und wenn er bewegt ist durch das, was in andern Regionen der Kirche vorgeht, und wovon in der Gemeinde, an die er schrieb, nichts Ueberwiegendes war. Da sind denn oft die größten Irrthümer begangen, was aber sehr leicht auch ist. Denn ist man auf ein so geringes Gebiet, so wenige Hülfsmittel beschränkt, da man zur Exegese Nichts von anderwärts her kennt, Alles nur aus den auszulegenden Schriften, da ist die Sache sehr schwierig, und so ist man denn auch noch nicht, obwohl kein Buch, trotz dem geringen Umfange des N.T., mit soviel Sorgfalt und so zahlreich bearbeitet ist, zu festen Punkten gekommen. Da fließt nun noch ein andrer schon erwähnter Punkt ein, die Gewohnheit, einzelne N.T. Stellen außer ihrem Zusammenhange zu betrachten. Reißt man solche einzelnen Elemente aus ihrem Zusammenhange, was selbst nicht geschehn darf wenn er gnomisch ist, so wird er doch, da er nur auf seine Umgebung sich bezog nach und nach universalirt, und hat man ihn so zu verstehn sich gewöhnt und nur auf diese universale Weise angenommen, und liest ihn nun im Zusammenhange, so glaubt man da keine hermeneutische Aufgabe mehr, sondern will den allgemeinen Sinn hineinbringen. Daß man da meistentheils irrt ist natürlich, am meisten, wenn dieser Gedanke im Zusammenhange ein Nebengedanke ist, der als dictum probans aus dem Zusammenhange genommen ist. Doch hat er schon den Charakter eines Hauptgedanken bekommen und da man ihn so auch an Ort und Stelle ansehn will, so muß um diese Dignität zu sichern der Werth des Uebrigen gänzlich geändert werden, die Richtung der ganzen Schrift als ganz andre angenommen werden. Das ist freilich nicht zu läugnen, wenn man die Operation gründlich macht und dies ganz und gar vergißt und als ob man Nichts wüßte solche N.T. Schrift liest, so fallen viele ja die meisten dieser Stellen fort aus der Dignität die man ihnen beilegt, weil sie im Zusammenhang betrachtet den allgemeinen Sinn nicht haben oder in speciellen Beziehungen stehn, so daß der allgemeine Sinn problematisch wird. Dies geschieht gar häufig und doch wird die N.T. Dogmatik dadurch nicht ärmer, die wirklichen Stellen stehn anderwärts und es kommt vor daß man in gewissen Gedankencomplexis übersieht was grade sehr stringent ist nur, weil man um jenen Stellen ihre Dignität nicht zu nehmen, eines andern herausgenommenen Theils wegen dem ganzen Complexus einen verschiedenen Sinn beilegt. Dieses Uebel ist ganz unvermeidlich und darum macht die Exegese so langsame Fort-
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schritte; unvermeidlich ist aber die Sache, weil man jene Praxis N.T. Stellen außer dem Zusammenhange zu gebrauchen nicht abschaffen kann, und das zwar nicht, weil sie eine Vollkommenheit hat sondern weil sie als Mangel nicht abzuschaffen ist, da die Bildung nicht so allgemein ist daß man nur im Zusammenhange die Stellen vernehmen könne, ein Mangel ist es gewiß. Nehmen wir dazu das Andre, daß es uns an Hülfsmitteln zur Exegese gerade der Art fehlt, wie man sie vorher haben soll um mit Nutzen an die hermeneutische Operation zu gehn, da wir das Verhältniß zwischen dem Schriftsteller und denen an die er schreibt immer erst aus dem Briefe ersehen müssen, ist es oft gar zu schwer zu entscheiden, aus welchem Gebiete solche beiläufigen Gedanken genommen; dadurch kann man denn auch nicht bestimmen, was der Schriftsteller erreicht haben will durch dieselben und also ist man über ihren Werth durchaus schwankend. Deshalb ist zu warnen vor den Prolegomenis, sie enthalten nie, was nicht aus dem Briefe selbst durch Exegese gewonnen wäre, Notizen von anderwärts her sind es nie; das vergißt man, wenn man sie gebraucht hat, nimmt sie als solches und prüft sie nicht erst selbst, da sie doch nur Resultate der Exegese ihres Verfassers sind; man ist durch sie gefangen und man hat sein eignes Spiel verloren an den, der vorexegesirt hat. Vergegenwärtige man sich nur die Geschichte der Paulinischen Schriften und die Hypothesen, die daraus über die ersten christlichen Zustände gemacht sind, um eine sichre Anschauung zu bekommen, wie sehr die ganze Operation gefährdet ist, wenn man eine derselben vorweg als gewiß annimmt. Man muß äußerst vorsichtig Etwas annehmen was Resultat einer Exegese ist, die gar nicht selten eine falsche ist. Eben so angestekt von dieser Exegese sind die Hülfsmittel zum N.T., die Lexica, da finden sich Bedeutungen, die eben nur auf einer Exegese beruhn, die aber auch oft falsch sind, weil auch diesen Verfassern der Lexica die Hülfsmittel, die durchaus nothwendig sind, fehlten, so daß ihre Exegese nicht mehr Werth hat als die eigne. Es ist sehr schwierig, von allen Gedanken, die als Nebengedanken vorkommen, die eigentliche Tendenz zu erkennen, doch wird das in höherem Grade erreicht werden können durch die Theile der Aufgabe die noch vor uns liegen denn können wir uns noch in einer Schrift richtige Vorstellungen über des Verfassers Meditation und Composition machen so wird sich noch ein richtiges Urtheil ergeben über das was außerhalb liegt der Meditation und Composition wenigstens in gewissem Sinne. Das gilt von den Elementen die nur Darstellungsmittel sind, die liegen in gewissem Sinn außer Meditation und Composition. Denn Gedanken, wie ein Gleichniß oder bildlicher Ausdruck gehört nicht in die Composition;
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gehört zum Stil und stellt man sich vor, der Schriftsteller vergegenwärtigt sich vorher den Gesammtinhalt dessen, was er mittheilen will in seiner bestimmten Ordnung so kann er auch noch so sehr ins Specielle gehn, er wird jene Darstellungsmittel nicht schon fertig finden, sie finden sich erst 5 bei der Darstellung, und also liegen sie außer der Composition. Mit der Meditation ists schwieriger, aber in gewissem Sinne müssen wir auch sagen: sie ist doch das bestimmte Fortwirken des Entschlusses eine Mittheilung zu machen oder aber dasjenige Fortwirken, das mit dem Act des Schreibens noch nicht im Zusammenhange ist und nur als innere Ent10 wicklung, in einzelnen Elementen, die aus dem Entschlusse hervorgehn, darzustellen. Was irgend Nebengedanke ist, liegt nicht in dieser Reihe, aber doch müssen wir sagen, wir können nicht behaupten, daß alle solche Nebengedanken dem Schriftsteller erst einfallen im Schreiben mit solcher Lebhaftigkeit, daß er sie annehmen oder sie zurükweisen muß; er kann sie 15 früher gehabt haben und es ist nur Wiederhohlung dieses Mannes, wenn er sie niederschreibt, aber auch dann sind sie außerhalb, sind gelegentliche, früher entstandene. Aus der Bestimmung, mit der sich Nebengedanken unterscheiden von dem, was aus dem Willensacte hervorgegangen, muß sich auch der eigentliche Werth derselben erkennen lassen. –
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Wir gehn zum mehr technischen Theil dieser Aufgabe über. Hier hat man es nicht zu thun mit unabhängigen Thatsachen im Gemüth, sondern nur was aus dem Entschlusse, dem lebendigen Keim einer Schrift hervorgeht und in diesem seinen Grund hat. Dieser ist der organische Keim, wie in 25 demselben schon die ganze Gestalt ihren Elementen nach liegt. Das Ganze in seiner weitern Entwicklung ist aus ihm zu verstehn, weil es aus ihm hervorgegangen. Deshalb wird dies die technische Seite genannt, wie das Entstehn des Entschlusses und aller Elemente die mehr unabhängig von ihm sind, die psychologische Seite. Hier liegt im Entschlusse die Form des 30 Ganzen mit eingeschlossen; er besteht aus diesen Elementen, dem Inhalte und der Form und diese bestimmen sich im Entschlusse und die Schrift ist hernach nur die weitere Entwicklung von diesem. Hier können wir zugleich auch den Gegensatz betrachten zwischen dieser und der grammatischen Seite. Bei dieser sahen wir den Verfasser nur gleichsam als Ort an 35 in dem die Sprache lebendig war und betrachteten alles Einzelne in seiner Beziehung auf die Sprache. Da war das Einzelne durchaus untergeordnet und die Aufgabe war auch auf die Weise ganz zu verstehn, dabei sollte
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indeß unsre jetzige Aufgabe als Resultat hervorgehn. Da war Jeder der Sprache untergeordnet, in deren Gewalt sich in der That Jeder findet, da er ohne sie auch nicht denken kann und sein Denken durch sie gebunden wird. Auf unsrer Seite ist von der Sprache unmittelbar nicht die Rede, aber was wir als Entwicklung aus dem ersten Keime betrachten wollen, muß durch Sprache geworden sein. Wie verhält sie hier sich zum Menschen? Hier ist sie die lebendige That des Einzelnen, sein Wille hat das Einzelne in der Sprache producirt; durch Gewalt dieser psychologischen Thatsache, kommt eine Zusammenstellung von Elementen, die noch nicht zusammen gewesen, zu Stande, und Sprachelemente werden oft in ihr nach einer logischen Richtung erweitert und contrahirt durch die Gewalt, die der Einzelne über die Sprache ausübt. – Betrachten wir das Entstehn der Composition, so ist es da freilich anders, weil da die allgemeinen Gesetze der Ordnung im Denken anzuwenden, zuvor aber muß ich den Schriftsteller doch auch in seiner Meditation verstehn. Das ist aber eine Aufgabe, deren Gegenstand beinahe unsichtbar ist und nur auf Conjecturen zu beruhen scheint. Das ist wohl zu sagen: diese hier vorhandenen Gedanken gehören wesentlich zur Sache, ich muß nur sehn, wie sie geordnet sind, aber schwieriger ist zu sagen: ich weiß, was über diesen oder jenen Gegenstand gedacht ist; denn jeder Gegenstand läßt sich auf verschiedene Weise verfolgen; der eine zieht Elemente hinein, die der Andre nicht; da sind wir in jenem unsichtbaren Gebiete der Meditation, da muß ich wissen was der Schriftsteller auch verworfen hat, obgleich es aus jenem Keime hervorging wie ich wissen muß und weiß, was er aufgenommen. Die Gedanken fallen Einem gar nicht so ein wie sie auf dem Papier sind; eine jede Schrift hat ihre eigenthümliche genetische Reihe, und ursprünglich ist die Ordnung darin, in der die einzelnen Gedanken gedacht sind; in der Mittheilung ist sie vielleicht eine andre. – Daß nun der Unterschied zwischen Meditation und Composition sehr veränderlich ist, hat seinen Grund in dem ersten Ausgangspunkt, im ersten Willensacte. Dieser kann, wie alles Folgende zwar Entwicklung ist, doch als Moment betrachtet mehr in sich schließen oder weniger; er kann solche Lebendigkeit haben daß das Ganze in seinen Hauptzügen im Bewußtsein damit gegeben ist und je mehr das ist, je geringer ist der Unterschied zwischen beiden Entwicklungen, je weniger er diesen Charakter an sich trägt, um so größer ist der. Es scheint wenn man auf das Etymologische der Ausdrücke sieht, als ob dieser ganze Gegensatz nicht ein allgemeiner wäre, sondern nur auf gewisse Formen sich bezöge, denn wenn man das Historische nimmt, was ist da für Meditation; diese deutet auf innere Gedankenentwicklung, überall aber wo der Inhalt eine äußere Wahrneh-
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mung ist, scheint er kein Gegenstand der Meditation zu sein. Doch das ist nicht so, auch in Beziehung auf die verschiedenen Formen werden wir [im] Gebiete dieses Gegensatzes einen Unterschied zugeben müssen, aber eben so wenig, wie wir sagen können, es sei ein Punkt wo jene Differenz zwischen Composition und Meditation null sei, ebenso wenig kann die Meditation irgend je null sein. Gehn wir zurük auf das, was als erster Keim solcher Gedankenentwiklung angegeben ist, den eigentlichen Impuls, so sehn wir, es kann uns kein Willensact als unter der Form eines Gedankens gegeben sein; das ist das Unterscheidende des Willens; ein Impuls der nicht im Subjecte selbst als Gedanke gegeben ist, ist auch kein Willensact, ist Moment des Instinkts. Nun können wir aber im Begriffe des Gedankens unterscheiden: sofern das Einzelne darin dominirt hat er die Richtung Bild zu sein, sofern das Allgemeine, Formel zu sein. Das Eine wie das Andre ist einseitig und das Höchste ist nur die Indifferenz, die Combination, das Ineinander von beiden, doch ist das nie klar bevor wir den Gegensatz machen, und dann sagen, wie er sie aufhellt? Nun fragt sich: dieser Gegensatz muß in jedem Willensact sein, wird er nun durch den Gegenstand bestimmt oder ist diese Bestimmung vom Gegenstande unabhängig? Nur das Letztere ist zu bejahen; je mehr der ursprüngliche Willensact als Bild gegeben ist, um so mehr trägt er das Einzelne gleichsam im verjüngten Maßstabe mit in sich und alles sein Entwickeln ist gleichsam das Aeußerliche zu dem was in jenem Keime innerlich geschaut ist; je mehr Formel, je weniger trägt er das Einzelne in sich, aber je mehr Bild er ist eben in diesem Sinne, je weniger trägt er die Composition in sich; je mehr er Formel ist je weniger das Einzelne, je mehr die Composition. Daher sind diese beiden Acte im erstern Momente selbst gesetzt. Sehn wir auf die verschiedenen Richtungen, die die Gedankenentwiklung haben kann, so finden wir eine Duplicität darin, daß gesagt ist, der Impuls liege nach der Richtung des Bildes nämlich, je mehr die Richtung der Gedankenentwiklung objectiv ist, je mehr ist das im ersten Keim Gesetzte das Einzelne, das als Gedanke hervortreten wird; je mehr die Richtung subjectiv ist, ist das im ersten Willensact Gesetzte weniger das Einzelne der Gedanken als es nur der Ton ist, die verschiedenen Modificationen des Tons, in denen sich das Ganze bewegt. Die andre Seite, das heißt der erste Impuls, sofern er mehr Formel ist trägt mehr die Verhältnisse in sich und eben weil diese durch die Anordnung zur Darstellung kommen, enthält er mehr die Keime der Composition als die des einzelnen Inhalts, aber beides muß sich gegenseitig suchen und auf die Weise, müssen wir sagen, müßten wir das Einzelne des Inhalts finden und indem sich das Einzelne mehr entwickelt, wird da es nun vollständig
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gegeben ist, auch die Composition mit gegeben sein. Denken wir uns den ersten Theil, so scheint die Eintheilung darauf nicht zu passen. Indem wir nämlich Meditation und Composition unterschieden, war das Grundprincip, wir müßten erst von dem Impulse aus das Einzelne erfassen und dann die richtige Stellung, nach der Alles, was sie nicht annehmen kann, ausgeschieden ist. Nennen wir es nun möglich, daß der erste Impuls die Composition mehr in sich trage, so müßte da der umgekehrte Gang also auch eingeschlagen werden und es gebe auch nichts Andres als den Inhalt des Schema’s, die Entwicklung des Organism, und den findet sich daraus. – Wenn wir einen allgemeinen, oder realen Begriff haben, so finden wir dann immer schon mit Leichtigkeit darin die Andeutung auf weitere Theilung, sie kann auch verschieden sein, sie findet sich darin und der untergeordnete Begriff ist wiederum allgemein und theilbar, so der Begriff Thier, ist ein realer Begriff, haben wir dazu die nächste Classification gefunden, sie mag mehr psychologisch sein oder mehr von der Gattung hergenommen; da haben wir eine Unterabtheilung, die sich weiter fortsetzen läßt, aber wenn wir sagen sollten, durch die bloße Abtheilung könne man zu den einzelnen Gattungen allen gelangen, so wäre das unwahr, nur einen Typus werden wir dadurch finden. – So eben also können wir uns wohl eine innere Fortentwicklung der Composition von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, doch das Einzelne kann auf diese Weise nicht gefunden werden und so müssen wir sagen, das wäre eine verschiedene Zeitordnung. Dieses wird weit eher möglich sein, wo die Richtung subjectiv ist, als wo objectiv und da Jene ein specifisches Talent voraussetzt so können wir davon vorläufig abstrahiren. Zunächst halten wir uns an das Allgemeinere und Verbreitetere und denken uns sehr verschieden, aber der Quantität nach, den Unterschied zwischen der Thätigkeit, wodurch der ursprüngliche Keim sich seinem Inhalte nach näher entwickelt und dem, wodurch der Inhalt seine Form bekommt. So wie wir das festgestellt, werden wir das eben bei Seite Gelegte auf untergeordnete Weise aufnehmen und sagen, es gibt in dieser ersten Entwicklung des Einzelnen, die wir Meditation nennen, ein Fortschreiten, welches mehr an der Leitung des Allgemeinen geht und ein Fortschreiten, welches mehr unmittelbar das Einzelne producirt, dann wird das Erste immer gleich die Form bestimmen, und es würde da ein Wechsel sein zwischen dem Werden des Einzelnen und dem der Form; das Einzelne wird nur mit seiner Stelle gefunden; dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des Einzelnen hat, wird für sich gefunden und es sind da mannigfache Zusammenstellungen möglich. Denken wir beides neben einander, so muß gesagt werden, das Ganze wird ein Andres sein, wenn
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es auf die eine oder andre Weise verstanden ist; ich kann es also nur vollkommen verstehn, wenn ich die Genesis mitverstehe, daher die Aufgabe, jede Production, die Gegenstand der Hermeneutik sein kann in dieser zwiefachen Beziehung zu verstehn, unerläßlich ist und sobald wir uns mehr an das Eine oder Andre halten, so können wir nur unvollkommen die hermeneutische Aufgabe lösen. Nun ist klar, daß Jeder in solcher Aufgabe auch eine für sich vorherrschende Richtung auf das Eine oder Andre hat. Allemal wollen wir doch ursprünglich die dargestellten Gedanken eines Andern verstehn in Beziehung auf die eignen, was eine Aneignung zur Folge haben kann aber auch eine Zurückstoßung; dann weiß ich eben wie ich zu diesen in meiner Gedankenentwicklung stehe. Daher wird die Art und Weise in der hermeneutischen Operation zu Werke zu gehn durch die Art und Weise eines Jeden in seiner Gedankenentwicklung sich bestimmen. Es gibt Viele, die sich wenn sie lesen aus der Form Nichts machen, sie sehen es auf den Inhalt ab, und dabei ist dann ein unordentliches Verfahren möglich, denn denke ich den Inhalt in Sonderung von der Form, so kann ich überall anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten ansehe, ist das gleich. Das ist in manchen Gattungen eher möglich, aber so weit es möglich ist, liegt in dieser Richtung auf das Einzelne auch die Richtung mit der Form nachläßig zu verfahren. Dagegen gibt es Andre, die es überwiegend auf die Form anlegen; dabei ist denn gewöhnlich der Hinterhalt, daß man denkt, sich aus der Form und dem vorigen Punkte das Ganze bilden zu können, in dem Maaße man das Ganze nöthig hat; soweit es möglich ist, liegt die Richtung dann in diesem einseitigen Verfahren. So wie im Verstehnwollen diese Richtung auf unsre eignen Gedanken vorherrscht, ist eine dieser Richtungen gegeben und die wahre Reinheit des Verstehens beschränkt. Wird gefragt, soll man sich davon losmachen von dieser Beziehung auf die eignen Gedanken, so sagen wir; in welchem Maaße man es auf vollständiges Verstehn anlegen will, in dem soll man sich davon losmachen. Beziehe ich die Gedanken eines Andern auf meine Gedanken, so gebrauche ich sie als Mittel und da gebrauche ich das Eine und Andre, was im Verhältniß zu meinen Gedanken steht, da ist aber auch kein Verständniß möglich, eben weil das nicht beabsichtigt ist. Zu reinem Verständniß der hermeneutischen Aufgabe muß man sich ganz davon losmachen und sich in das rein Menschliche versetzen, den Menschen aus seinen Gedanken zu verstehn, und wenn das der Mühe nicht werth ist so ist es auch der Lösung der hermeneutischen Aufgabe nicht werth. ÐWirÑ kommen nun wieder auf die Differenz zwischen dieser und der grammatischen Seite. Wollen wir genau beobachten so müssen wir sagen, die Betrachtung der Gedan-
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ken eines Andern in Beziehung auf die eignen liegt ganz auf der Seite der grammatischen Interpretation und kann man von dieser ÐnäherÑ abstrahiren, außer sofern sie nothwendig ist für die grammatische Interpretation selbst, denn in diesem Ausdrucke liegt die Beziehung zwischen den Gedanken eines Andern und den meinigen als Ort der Sprache, sie ist es, die unsre Gedanken vermittelt; so kann denn auch der Zweck erreicht werden, sofern die Gedanken in Beziehung zu dieser dies Verständniß vermittelnden aufgefaßt werden. Wollen wir die Gedanken des Andern als seine Production verstehn: so müssen wir von uns uns losmachen und wollen ihn dann nur in Beziehung auf sein Leben in dieser geistigen Funktion verstehn; da stellt sich also die Aufgabe wie wir sie gefaßt haben. Da ist das Erste, daß wir suchen müssen, hinter das Verhältniß zu kommen, das in ihnen zwischen Meditation und Composition Statt findet; eher können wir gar nicht verfahren. Das Erste dabei ist die allgemeine Uebersicht und es entsteht nun die Frage, wie sie dahin führen, daß wir den innern Proceß des Schriftstellers daraus verstehn. Offenbar ist, daß wir hier durchaus auf die Beobachtung geführt werden und diese hat ihre Haltung in der Selbstbeobachtung, das heißt, man kann gar nicht auf diese Seite der hermeneutischen Aufgabe mit einiger Sicherheit sich einlassen, wenn man nicht selbst in dieser Thätigkeit der Meditation und Composition versirt ist; das Verstehen in diesem Sinne setzt das Componiren voraus; das ist die Seite von der man sagen muß, daß in den Vorübungen auf das höhere Studium in der literarischen Gymnastik die Uebung im eignen Componiren so höchst wesentlich nicht in Beziehung auf das praktische Leben, sondern eigentlich wesentlich für die philologische Bildung ist, weil kein Verstehen möglich, ohne daß man sich in dieser Thätigkeit beobachtet, sie ausübt. Nur muß man von eigner Selbstbestimmung aus Uebung im Darstellen der Gedankenentwiklung haben, sonst wird man nie diese Seite verfolgen können. Setzen wir das voraus, wie kann ich, wenn mir das ganze Resultat vorliegt, aber nur wie es durch den zweiten Act der Composition geworden, daraus entwickeln, wie sich im Autor dieser Act entwickelt, wie er zu Inhalt und Form also gekommen? Das scheint schwierig. Je mehr in einer Schrift, die wir vor uns liegen haben Form und Inhalt so genau in einander aufgehn, daß man sich denken kann, so wie ich mir diese ganze Form gegeben denke, so muß auch dies Alles und es kann nichts weiter der Inhalt sein, um so geringer ist der Unterschied zwischen beiden Acten. Dies werden wir einsehn, wenn wir das Entgegengesetzte denken, also den ersten Entschluß als solchen, der noch nicht mit jener Lebendigkeit des Bewußtseins den einzelnen Inhalt in sich schließt, da wird dieser erst werden durch das
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Fortwirken der Elemente, entwickelt sich, indem er sich wiederhohlt dadurch weiter. Nun ist gesagt, es gibt eine Form, die wir als die der größten Passivität ansehn, wenn man einen Entschluß gefaßt hat, die Entwicklung aber den Umständen überläßt: da entstehn Gedanken, die ihm angehören oder gelegentliche und im Zusammenhange mit der Gedankenentwiklung zu der wir von andern Seiten aufgefodert werden. Denken wir solche Elemente in Fällen, die alle Beziehung auf diesen Impuls haben und alle in den Gedankencomplexus Ðhinein könnenÑ, denken wir uns diese in bestimmte Form zu bringen so müssen wir sagen, sie geben sich dazu her, sofern sie im Zusammenhange mit dem Impulse, sie widerstreben sich, sofern sie noch von anderwärts her sind. Da werden nun Differenzen Statt finden und es wird Gedanken geben, die sich leichter in bestimmte Formen bringen lassen, die zu ÐgleicherÑ Zeit im ursprünglichen Impulse gelegen, und solche bei denen es schwieriger ist, weil sie mehr Gelegentliches an sich haben und da werden solche sein, die in der Form nur als Ausschweifungen erscheinen können, wegen Jenes fremden Elements, das der Genesis anklebt, die aber doch in die Form hineingehören. Diese Elemente werden sich nun unterscheiden lassen, sowie man die Hauptgedanken und die wesentlichste Gliederung festhält, welches Beides sich in der Uebersicht ergeben muß. Wenn wir unsern Gegenstand im Allgemeinen betrachten, so ist da gleich auf die Verschiedenheit der Formen Rücksicht zu nehmen, weil im Auffassen des ersten Actes und dem Zusammenfassen der Elemente durch sie eine große Verschiedenheit eintritt, der wesentlichste Unterschied ist der zwischen Prosa und Poesie, denn es zeigt sich in der Poesie leicht was wesentlich der Meditation und Composition angehört, denn es liegt völlig aus einander. Denken wir ein Gedicht in etwas größerem Maaße, so ist gar nicht zu denken, es sei vollständig vorbedacht im ersten Willensacte, die Gedanken in ihm sind im Willensacte nur wie punktirt anzusehn; sie müssen ja durchaus bei der Composition umgeworfen werden, und es ist darum eben die Composition nicht der Zeit nach sondern der unmittelbaren Beziehung nach Ein Act. In der Prosa ist solch bestimmter Unterschied nicht; da gehn wir davon aus, daß gleich im ersten Acte Inhalt und Form gegeben sind; die Form ist aber die der ungebundenen Rede, somit ist kein wesentliches Hinderniß, daß nicht die einzelnen Theile des Ganzen, so wie sie zuerst gedacht wären, so auch ausgeführt wären. Numerus und Wohlklang stehn in gar keiner so engen Verbindung wie das Versmaaß. Also das scharfe Auseinandertreten der Resultate der Meditation und Composition ist der erste Unterschied, sobald wir einen irgend größeren Umfang annehmen, wo das Einzelne sich sondere. Aber schon in den Epigram-
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men, der kleinsten Form müssen wir schon dasselbe anerkennen. Dies beruht immer auf Gegebenem, denken wir uns aber in dieser Beziehung das Entstehn der Epigramme, so hängt dem nicht die poetische Form an und geschieht das, so ist es nur ein näheres Aneinanderrücken zweier verschiedener Elemente. In der modernen Form ist die Spitze die Hauptsache, diese ist aber die Beziehung in möglichster Schärfe auf das Gegebene, die entsteht wie ein Blitz im Momente, ist ein Einfall, in dem das Versmaaß nicht ist. Das ist der zweite Act. Hier also tritt beides auf bestimmte Weise auseinander. Gehn wir von da auf die Prosa über, so müssen wir sagen je mehr sich diese der Poesie nähert, um so bestimmter ist das Auseinandertreten; das ist aber der Fall wo in der Prosa auf das was das Musicalische in der Sprache ist, Werth gelegt wird, da kann der Gedanke mit seinem Ausdrucke nicht zugleich entstehn, dieser entsteht erst durch die Stelle, die er einnimmt und diese ergibt sich erst in der Composition. Hier ist eine Art von Stufenleiter und fragen wir, welches das Gebiet sei, wo das Auseinandertreten ein Minimum sei und für das hermeneutische Interresse verschwinde; so nennen wir den Vortrag, der am meisten wissenschaftlich ist; je mehr ein Gedankenvortrag geeignet ist, Erkenntnisse mitzutheilen, um so mehr ist das Musicalische dem Logischen untergeordnet. Jemehr also die Composition ohne andres Interresse die Gedanken anschließt, um so mehr ursprünglich Eins ist sie mit ihnen und da ist der Unterschied zwischen dem Verstehn der Meditation und Composition null. Dieser Unterschied kann nie darin bestehn, daß man sollte ausmitteln wollen, in welcher Zeitfolge die einzelnen Gedanken des Schriftstellers entstanden; das ist durch die Composition selbst ein so sehr Verschwindendes, daß nur einzelne wenige Fälle sind, wo darüber Etwas auszumitteln; nehmen wir das vorweg, daß dieses nicht gemeint ist, sondern nur die Differenzen, die in Beziehung auf die früher vorhandenen Elemente durch die Composition entstehn; diese sind ohne Rücksicht auf die Zeit, in der sie entstanden sind zu sondern. Dieses ist im wissenschaftlichen Gebiete das Wenigste doch nur in dieser bestimmten Beziehung, in der wir die Sache betrachten; da können die Ausdrücke nicht alterirt werden, weil dadurch auch die Sache würde alterirt werden, da der Ausdruck sich genau an den Gedanken anschließt. Dies ist indeß nur die eine Seite des Interresse, die andre wichtigere führt auf ganz andre Differenzen, nämlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben, der Gegenstand sei welcher er wolle, so werden wir niemals darin den Gegenstand erschöpft nennen, vielmehr werden Jedem der im Lesen in einem wirklichen Aneignungsprocesse begriffen ist, die Gedanken einfallen, die in dasselbe Gebiet gehören, die er aber dort nicht findet, oder
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Gedanken die mit jenen im Widerspruche stehn und da ist das Interresse zu wissen, hat der Schriftsteller dies gar nicht gesehn, oder hat er es gesehen und hat er es eliminirt? Zum vollständigen Verstehn gehört dies offenbar ganz wesentlich und zwar beide Fälle, in Beziehung auf das was ich vermisse und worüber die Gedanken des Schriftstellers den meinigen entgegengesetzt sind. Nimmt der Schriftsteller Bezug darauf, dann hat er jene Gedanken gehabt und dann ist auf den Grund der Differenz zurükzugehn; nimmt er nicht Bezug, so ist es problematisch und da ist die Aufgabe, das wo möglich auszumitteln; da ist das Interresse, die Meditation einer Schrift so vollständig wie möglich an und für sich übersehn zu können auch in Beziehung auf das in seine Composition nicht Aufgenommene. Es ist ja möglich daß der Gedanke ihm vorgeschwebt, er aber Gründe gehabt hat ihn nicht aufzunehmen und Bezug darauf zu nehmen, das kann im ersten Willensacte liegen, zB wenn er nicht polemisch sein wollte, doch ist es wichtig zu wissen ob er ihm vorgeschwebt oder nicht, denn sein Gedankencomplexus gewinnt eine andre Bedeutung wenn ich weiß, dieses und manches Andre hat ihm vorgeschwebt, oder wenn ich Ursache habe zu glauben er habe es nicht gesehn. In diesem Falle ist der Werth verringert, im ersten ist das Interresse in seine Gründe dieses Verfahrens einzugehn, erhöht. So interressant die Aufgabe ist, so schwierig ist sie; nun aber ist das Interresse auch wieder verschieden aber in umgekehrter Richtung; je mehr der ganze Gedankencomplexus dem Inhalte nach gebunden ist, um so größer ist das Interresse von dieser Seite, je weniger, um so geringer. So wie ein complexus von Gedanken mir erscheinen kann als anmuthig zusammengestelltes Aggregat von Einzelheiten, so verschwindet das Interresse ganz und gar, denn die Frage, was er außerdem gedacht, liegt außer der hermeneutischen Aufgabe; je mehr aber der Inhalt gebunden ist also ein wirkliches Ganzes für sich sein will, dann ist das Interresse ein ganz Andres. In den 3 synoptischen Evangelien fehlt eine merkwürdige Geschichte, die Auferweckung des Lazarus, in der aber eine große Bedeutung ist, als [sie die] nächste Veranlassung ist zur letzten Katastrophe; denken wir uns, die 3 andern Evangelien haben eine Lebensbeschreibung Christi geben wollen, so ist die Frage, wie sie dazu gekommen, diese Geschichte nicht aufzunehmen? haben sie dieselbe nicht gekannt oder Grund gehabt sie nicht aufzunehmen, in diesem Falle sind sie ein gebundenes Ganzes, wogegen indessen spricht, daß sie nichts als Aneinanderreihung einzelner Erzählungen. So verliert die Frage ihr Interresse und das Interresse was ihr bleibt ist nur das der historischen Kritik; es bleibt aber die Frage, wie ist die Kentniß so wenig allgemein geworden, daß sie nicht in die gemeinschaftliche Quelle gekommen. So ist klar daß
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das Interresse im gebundenen Ganzen ein andres ist als im ungebundenen. Nun wollen wir beides zusammennehmen. Wir haben ein zwiefaches Interresse, die Meditation des Schriftstellers in ihrer Totalität abgesondert von dem, wie es in die Composition eingegangen, zu kennen, nämlich auf der einen Seite, wie seine Darstellung durch die Composition modificirt ist, dann aber wie der ganze Proceß, der sich vom ersten Willensact entwickelt sich zur Totalität des Gegenstands verhält. Diese beiden sind in sehr verschiedenem Grade in den verschiedenen Arten der Composition und nun können wir uns auch schon vorstellen wie es keine Form gibt, in der dies gar keinen Werth hätte, in der historischen ebensowohl, da ist’s von großem Interresse zu wissen, was von dem, was der Schriftsteller nicht vorträgt er gewußt und nicht gewußt, und ob er die verschiedenen Ansichten Andrer darüber gekannt oder nicht gekannt; nur ist da der Ausdruck der Meditation nicht im engsten Sinne gebraucht, aber auch da ist immer Entstehen seiner Erinnerungen von dem Gegenstande oder sein Ausgehn auf Notizen von demselben Gegenstande, also sein Entschluß, die Frage also, was die Meditation sei, ist auf allen Gebieten, aber die Auflösung der Aufgabe ist freilich auf eigenthümliche Weise bedingt. Wir werden sagen müssen, daß in vielen Fällen viel dazu gehöre, damit nur die Aufgabe entstehe; denn sage ich, es hat ein Interresse für mich zu wissen, wie sich die Meditation des Schriftstellers zur Gesammtheit des Gegenstandes verhalte; da muß ich erst auf andre Weise diese Gesammtheit fassen. Nehme ich zum ersten Unterricht über einen Gegenstand ein Buch, so kann die Frage nicht entstehn, es entsteht also die Frage erst, indem ich die Schrift in die Gesammtheit, in die sie gehört, hineinstelle. Nur wenn ich Kenntniß mitbringe, kann die Frage entstehn, kann ich Etwas davon wissen, oder etwas Andres finden. Nur wenn ich fortgeschritten bin, nicht im Anfange entsteht jene Aufgabe. Die Frage ist anders, wenn wir die Anwendung auf das N.T. machen. Betrachten wir das in seinem eigenthümlichen normalen Werthe für das Christenthum, so müssen wir sagen, wir befinden uns gleich vom ersten Anfange unsres eigentlichen Studii, wo wir uns anderwärts erst nach der allgemeinen Uebersicht befinden, denn diese bringen wir schon mit und es entsteht sogleich eine Vergleichung die wie gesagt ist leicht irre führt und also sehr geregelt werden muß. – Es entsteht sogleich die Frage, wie hat der Schriftsteller wohl gedacht über die Gegenstände, die bei uns eine besondre Stelle in der christlichen Lehre einnehmen außer dem was da steht und aus welchem Ganzen sind die einzelnen Gedanken genommen. Stellen wir die Frage in Beziehung auf den spätern Zustand der christlichen Lehre, so alteriren wir den ganzen Proceß und sind auf falschem Wege; doch sind
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alle didaktischen Schriften mehr oder weniger fragmentarisch und es dringt sich wohl die Aufgabe auf das Ganze zu finden und ohne diese im Auge zu haben ist kein Verstehn möglich und sie im Verstehn in gewisser Weise zu lösen. Da bringen wir zwar keinen Inhalt mit, der nicht dasteht aber die Vorstellung eines solchen und die Beziehung auf einen solchen. Wollen wir auf diesem Gebiete ex silentio argumentiren so erscheint deutlich die Wichtigkeit der Aufgabe; wenn wir sagen, der Schriftsteller kann dies nicht gedacht haben, sonst hätte er es mitgetheilt; da müßten wir also diese Aufgabe schon gelöst haben und daher ist eben das so ganz falsch. Dazu ist nie auszugehn davon, daß der Gegenstand in einer Schrift müßte erschöpft worden sein. Im Ganzen steht fest, diese Aufgabe ist nur in dem Maaße zu lösen als man im Besitz dessen ist was in des Verfassers Meditation hätte sein können, wenn wir den Zustand des Gegenstands zu seiner Zeit mit einer gewissen Genauigkeit kennen. Fragen wir, wie es um diese Bedingungen in Beziehung auf das N.T. steht so kann da die Sache auf verschiedene Weise gesehn werden. Sehn wir das N.T. als Eine Aufgabe an so ist sie nur an sich selbst gewiesen, denn es sind keine andern Notizen über den Zustand dieser Angelegenheit zur damaligen Zeit und es ist keine andre Schrift aus derselben Zeit. Vereinzeln wir hingegen das N.T., so haben wir es mit den Producten Einzelner zu thun und da ist die Gesammtheit ein Mittel, um die Lösung der Aufgabe für das Einzelne zu erleichtern. Diese Aufgabe ist nur zu lösen unter der Form, ein Einzelnes aus dem Ganzen zu verstehn, und nur in welchem Maße mir das Ganze zum Verstehen des Einzelnen gegeben ist, kann die Frage einigermaßen gelöst werden. Nun ist wahr, daß die Aufgabe, die sich auf das Verstehen der Meditation bezieht, abhängig ist von der Aufgabe, die auf das Verstehn der Composition sich bezieht und doch haben wir Jene mit Grund vorangeschickt, denn nur durch Kenntniß der ganzen Meditation können wir die Composition genetisch verstehn, wie der Schriftsteller an die Composition gehn konnte, hatte er die ganze Meditation vor sich; verhält sich das nicht stricte, so bezieht sich das nur auf Nebengedanken, die konnten ihm erst in der Composition entstehn; haben wir aber anzunehmen, daß nicht der ganze wesentliche Inhalt ihm gewesen ehe er an die Composition ging, so ist das Werk unvollkommen, und diese Basis schließt die Anerkennung einer jeden Stufe der Unvollkommenheit in sich. Sehn wir auf die Verschiedenheit des Inhalts und fragen, wiefern können wir für die verschiedenen Gattungen wenigstens einige ÐRegelnÑ oder Cautelen aufstellen, um diese Aufgabe zu lösen, so sind die beiden Punkte zu untersuchen. Es kann nur darauf ankommen zu wissen, ob die Meditation ein Anders und wiefern es in der Composition
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ein Andres geworden, und dann ob und wieviel in seiner Meditation gewesen, was in der Composition nicht gewesen. Auf diese Fragen lassen sich beide Interressen zurückführen. Hier werden wir damit anfangen, wenn wir zum Grunde legen, wiefern in der Meditation immer eine gewisse Gebundenheit Statt findet im psychischen Zustande des Autors; diese ist verschieden, aber insofern vorhanden als im ursprünglichen Impulse Inhalt und Form gewissermaßen gegeben sind; der Inhalt ist durch die Form in seiner Einheit und Fülle bestimmt, ist die Form mitbestimt, so hat sie auch ihre Gesetze und zwei Personen die denselben philosophischen Gegenstand behandeln, so daß der Eine didaktisch, der Andre dialogisch das thue, sind beide im gebundenen Zustande schon durch die Differenzen mit dem Andern. Je fester und lebendiger die Form dem ursprünglichen Impulse eingeprägt ist um so weniger werden solche Elemente sich entwickeln, die dem Inhalte zwar angehören, in die Form aber nicht wollen. Der Dialogisirende wird nun viele Elemente hineinbringen, die der Andre nicht kann; ist ihm nun die Form mit einer gewissen Lebendigkeit eingeprägt, so können ihm die Gedanken auch gar nicht einfallen; fallen sie ihm ein so muß er sie eliminiren und so hat er nicht den höchsten Grad von Vollkommenheit, diese ist aber die höchste Gebundenheit durch den Impuls. Fällt ihm nicht ein, was zum Inhalte aber gehört, so ist das eine Unvollkommenheit, die daher kommt, weil ihm der ursprüngliche Impuls den Gegenstand nicht mit solcher Lebhaftigkeit eingeprägt, weil er des Gegenstands nicht mächtig ist. Soll hier ein Urtheil gegeben werden, was am Ende jede Lösung ist, und was auch der Zweck der hermeneutischen Aufgabe ist, so kann es nur sein, wenn man Andres dagegenstellen kann. Wer also zur Lösung der Aufgabe nicht einen Fond schon mitbringt, eigne Erfahrung über den innern Hergang bei der Gedankenentwiklung, diesen soll man vergleichen und die Verschiedenheiten und Gegensätze suchen, dann werden wir auch die Differenzen in diesem Gebiete finden. Betrachten wir von hier aus den Zustand der Meditation für sich, so kann er entweder dem ursprünglichen Impulse vollkommen entsprechen, da ist Gegenstand und Form vollkommen übereinstimmmend, insofern das in dem Impulse gesetzt war oder er kann sich zu diesem auf unvollkommene Weise verhalten. Sobald sich dieses durch Fehler d.i. Mängel kund thut, so ist es auch leicht wahrnehmbar, denn man bemerkt leicht die Dürftigkeit einer Schrift auf verschiedene Weise bei verschiedenen Formen. Denke ich die didaktische Form und der Autor ist da überall ÐvomÑ Spalten seines ursprünglichen Schemas ausgegangen, 32–33 übereinstimmmend] geringe
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so ist die entstehende Trockenheit ein Zeichen von Dürftigkeit. Der Theil seines ursprünglichen Impulses, der den Inhalt repräsentirt, hat nicht das rechte Leben gehabt; so hatte er durch die Form geleitet werden müssen und ist von ihrer Behandlung ausgegangen. Das ist eine Krie, eine Composition wo die Form das dominirende wird und Nichts herein kann, als was durch fortgesetzte Untereintheilung entsteht und der größte Mechanism, der mit dem Mangel an lebendiger innerer Productivität zusammenhängt. Finden wir dagegen eine Menge von Elementen in der Composition, die ihr eigentlich fremd sind, so ist das eine Ueppigkeit der Meditation die aber keine Vollkommenheit ist, weil sie die Form zerstört, so ist das ein Autor, der sich nicht zu zügeln weiß, er sollte mancherlei abgewiesen haben, was ihm innerlich geworden. Das ist nicht geschehn weil er die Form nicht inne hatte, sonst wäre ihm das Alles nicht einmal eingefallen, aber wäre es ihm eingefallen so doch abgewiesen. Anders stellt es sich, sehn wir auf solche Gattung der Mittheilung, die mehr von der Wahrnehmung ausgeht; so hat das Geschichtliche solchen Reichthum der Mannigfaltigkeit in der Art und Weise der Composition selbst, daß wir das gar nicht dürfen als Eines ansehn, sondern der ursprüngliche Impuls kann sehr verschieden sein, wie bei dem Einen die geschichtliche Darstellung sich gestaltet in einer Reihe von Bildern, bei dem Andern ist sie eine Darstellung von Causalverhältnissen, welches beides einen ganz verschiedenen Inhalt gibt; die Eine hebt hervor, was die Andre vernachlässiget, die Eine ist mathematisch, hat den Charakter des calculus, die andre hat einen pittoresken Charakter. Hat man das eine im ersten Impulse gedacht, so ist die Erfindung und Meditation eine ganz andre. Eine Erfindung ist nämlich auch auf diesem Gebiete; in der Art die Elemente zu verbinden, Dieses oder Jenes geltend zu machen, spiegelt sich der Autor. Da sind ganz verschiedene Verfahrungsweisen, die wohl von einander zu unterscheiden, nicht aber einander unterzuordnen sind. Hat sich nun Einer auf die eine Seite geworfen und will die Geschichte in solcher Reihe von Bildern behandeln, sie haben aber nicht den rechten ÐClaranÑ der Bilder und der Leser ist nicht im Stande die Bilder nachzubilden, so ist Jener der Form nicht Herr gewesen und vermag sie nicht auszufüllen, das ist auf diesem Gebiete die Dürftigkeit. Was haben wir nun in Beziehung auf den Inhalt zu erwarten von der Form die sich im Gespräche ausspricht? Nur in dem Maß als man das zu taxiren versteht, kann man den Autor in seiner Meditation verfolgen und ein Bild davon bekommen, ob die Elemente mühsam gesucht sind, oder ob er von einer Fülle innrer 4 ,Krie‘ meint ,Chrie‘
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Production gedrängt worden und habe abweisen müssen; ferner ob das Einzelne mit dem ursprünglichen Impulse in Uebereinstimmung ist, oder ob Vieles in der Gedankenentwiklung ist, das ihm fremd ist. Es gibt hier Fälle, über welche noch gar nichts gesagt werden kann und zwar aus entgegengesetzten Gründen. Finden wir eine Gedankenentwiklung reich aber nie aus den Grenzen der Form hinausgehend und ohne daß in diesen Reichthum fremdartige Elemente verwachsen wären, da gehn Meditation und Composition in einander auf, es ist eine Vollkommenheit in diesem Gebiete; solche Dürftigkeit dagegen, die eine fortgesetzte Operation ist einer logischen Spaltung; das ist ein Extrem worüber in unserm Gebiete nichts gesagt werden kann, da ist das Ganze nichts als Darstellung des Mechanism der Meditation. Zwischen diesen ist nun das Meiste, welches Gegenstand der hermeneutischen Operation sein kann. Sollte man nun die Meditation verfolgen und taxiren können, so müßte man alle verschiedenen Formen kennen, denn nur sofern man ihnen das Ihrige gibt, kann man die eigne Erfindung des Künstlers ins Auge fassen und ihm nachfinden. Wenn wir in das tägliche Leben und die unmittelbaren persönlichen Verhältnisse hineinsehn, so finden wir hier nicht selten eine Virtuosität die sich selten zeigt wo Schriften vorkommen, in Bezug auf das Gespräch, da ahndet man nicht selten, was der Andre sagen will, das heißt, man construirt seine Gedankenentwiklung, deren er sich nicht als willkührlich bewußt ist, ehe man noch das Resultat hat. Das beruht auf genauer Kenntniß der Eigenthümlichkeit des Andern im Verfahren des Denkens; diese zu erreichen liegt im Wesen der Aufgabe, doch kann es nur auf indirecte Weise geschehn. Dabei ist natürlich ein Unterschied wenn man einen Schriftsteller in der Gesammtheit seines Lebens als geschichtliche Person kennt oder die Producte lebender Schriftsteller in ihrem bekannten Kreise hat; da ist es leichter, weil wir die gehörige Basis außerhalb haben, wo sie nicht ist, ist es schwieriger. Versetzen wir uns ins Alterthum, da ist die Kenntniß der Individualität, was mir nur im beschränkten Grade gegeben ist, und dennoch ist da ein Unterschied zwischen denen, die sich ins Alterthum eingelebt haben, da ist doch der Typus der Gedankenentwiklung klar, wenn auch nicht die Personalität, und darnach ist man im Stande Analoges zu leisten. Denkt man sich einen Schriftsteller mit einer großen Menge von Producten, und man habe einen großen Theil davon durchstudirt, so daß man sie sich angeeignet, dann wird man solche Bekanntschaft mit der Eigenthümlichkeit des Verfassers in seiner Production haben, als lebte man mit ihm, in dem Maaße der Schatz groß ist und mannigfaltig. Da ist, so wie die innere Einheit klar ist, es leicht ihn in seiner Meditation nachzufinden. Darin besteht nun ein
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großer Theil aller kritischen Aufgaben, die Unterscheidung, was einem Schriftsteller zugehöre und was ihm falsch zugeschrieben werde; da ist diese Fähigkeit der Einzelnen Gedankengang nachzuconstruiren und ihn in seiner Meditation zu fassen, den Tact, auf dem eine Menge solcher kritischen Operationen beruhe; er ist der Punkt von dem das Einzelne ausgeht, er macht verdächtig, wenn er auch nie entscheidend ist. Betrachtet man Platos untergeschobene Dialoge und vergleicht sie mit den ächten, so tragen sie ungeachtet der dialogischen Form den Charakter der Trockenheit, den Mangel eigner Productivität und die bloße Richtung auf das logische Spalten, wovon sich in Platos Werken keine Spur findet; da ist die Auffassung des Charakters der Production, der erste Impuls zu kritischer Untersuchung und haben sie eine Zeitlang für ächt gegolten und haben später erst für untergeschoben erklärt werden können, so war hiezu eben dieses der Ausgangspunkt. Ziehn wir noch einen Grund in Betrachtung. Das in der Mitte zwischen dem was zur Meditation und dem was zur Composition gehört, kann beliebig zu dem Einen und zu dem Andern gezogen werden. Das ist das Gebiet, von dem der Schriftsteller seine Nebengedanken nimmt, und denken wir sie uns nicht zur eigentlichen Meditation gehörend, dann gehören sie zur Composition; denken wir hingegen, der Schriftsteller hat sie, so wie sie entstanden doch als solche erkannt, denen er eine Stelle anweisen konnte, so gehören sie zur Meditation. Diese verschiedene Betrachtungsweise gibt verschiedene Ansicht des Impulses. Sehn wir solche Nebengedanken als zur Composition gehörig an, so denken wir ÐdurchausÑ, daß der Verfasser im Bewußtsein, die Totalität seiner Elemente zu besitzen, in der Composition war und daß ihm diese gekommen, als das Niederschreiben vollendet war, und so sind sie hineingeschoben. Das ist ein Extrem von der einen Seite, von der andern dieses, denken wir daß in der Einleitung des Processes der Meditation der Schriftsteller sich schon solche Licenz gesetzt habe, nicht bloß in der strengen Entwicklung seines ursprünglichen Impulses zu bleiben, so lag das schon im ursprünglichen Impulse, daß er aus dem Gebiete seines freien Gedankenspiels hineinweben wolle, was sich auf harmonische Weise in das Ganze bringen ließ. Da sprechen wir am bestimmtesten aus, daß diese Nebengedanken in den Proceß der Meditation gehören. Hier sehn wir, wie der ganze Proceß unter 2 verschiedene Formeln gebracht werden kann, die eine die: daß man den Schriftsteller in strenger Richtung denke in Beziehung auf seinen Impuls, in Beziehung auf alles Andre in abweisender Thätigkeit; die andre die, daß wir ihn in com1 die] den
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binatorischer Thätigkeit denken darauf gerichtet, Andres in seinen Gedankengang einzumischen. Wiefern Eines oder das Andre der Fall ist, hängt von der Form und dem Charakter des Schriftstellers ab; vergleicht man verschiedene Formen, so kommt man auf den Ausdruck dieser Differenz. Es ist nicht möglich von der hermeneutischen Aufgabe aus den Gegenstand allein zu betrachten, der Gegenstand muß einmal im Gesammtgebiet des literarischen Volkslebens und seines Zeitalters, dann im Gesammtgebiet der Art und Weise der Composition, die darin ist, und im Gesammtgebiete der ganzen Masse der Eigenthümlichkeiten des Einzelnen. Das ist das comparative Verfahren, es läßt sich auch das heuristische anwenden, das ist der umgekehrte aber nothwendige Gang; denn sagen wir, wie kommen wir zur Kenntniß des literarischen Gebiets, als dadurch, daß wir die hermeneutische Operation an Vielen vollzogen? Die andre Aufgabe beruht nun auf persönlichen Beziehungen zwischen Leser und Schriftsteller; da sind nun solche, über die man leicht den Schlüssel in sich selbst findet. Das werden die Lieblingsschriftsteller, weil es Jenem leicht ist, durch diese Verwandtschaft in das Innere hinein zu sehn. Dies Verfahren muß sich mit dem comparativen ergänzen, daher hat Jeder sein eignes Verfahren in Beziehung auf jeden Schriftsteller. Es wäre unrecht, fände man in einen Schriftsteller sich leicht hinein nun anzuhalten und jene Kenntniß sich erst verschaffen zu wollen. Findet solch persönliches Verhältniß erst Statt, so können wir nur das comparative Verfahren einschlagen. – Gehn wir nun zum letzten Punkt über, dann ist es besser in der Anwendung auf das N.T. sie recht auf bestimmte Weise zu trennen; also gehn wir zur Betrachtung der Composition über so setzen wir voraus, der Schriftsteller habe den innern Impuls, der das ganze Werk dominirt, in sich zur vollständigen Entwicklung gebracht, und er habe alle Elemente zu der Schrift in sich und beginne nun die Composition. Daß das nun nicht immer sich so vollkommen verhält, dessen ist Jeder sich bewußt bei Allem, was im Gebiete des täglichen Lebens liegt. Hat man Interresse, einen Brief zu schreiben, so scheidet man nicht Impuls, Entwicklung und Composition, sondern man zieht die Menge von Uebergängen in Eines zusammen. Je mehr aber ein Werk als kunstmäßiges erscheint, muß man von jener Voraussetzung ausgehn. Wieviel nun in der Composition erst entstanden sei, ist auch solche Untersuchung, die beiden Gebieten gemeinsam ist in der Aufgabe, dem Verfasser nachconstruiren zu können sein Verfahren in der Composition, wobei das Vorhandensein aller Elemente dazu vorausgesetzt wird. Das hat nun verschiedenen Sinn. Es gibt nämlich keinen Gedanken ohne Wort, aber es gibt Gedanken in verschiedenem Grade der Bekleidung, wir können einen
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Gedanken haben, ohne seinen passendsten Ausdruck auch schon zu haben. In Beziehung auf das was Ausdruck ist, beginnt das Fertigwerden der Elemente erst mit der Composition selbst nun ist das nicht zu trennen. Der Sprachgehalt der Elemente als Resultat der Composition ist nur vorläufig, der Ausdruck ist erst mit der Composition fertig, und sie kann man nur verstehen, wenn sich vollständig übersehn läßt das Verhältniß des Inhalts, den die Form gestaltet oder den man ihr geben will, nach welchem sich der Reichthum und die Fülle richtet. So sind also die beiden Punkte zu betrachten, die Stellung die Jedes bekommt und die Ausfüllung der Form durch den Inhalt und – den Ausdruck, der im Zusammensein der Elemente definitiv mitbestimmt ist. – Die Aufgabe hat nun für die Exegese des N.T.’s besondre Wichtigkeit, nämlich wenn wir uns auf den Standpunct begeben, wo wir beide Aufgaben getrennt haben, das Verständniß der Meditation und das der Composition, das Erste ist vollendet und wir haben also die Gesammtheit der in die Schrift gehörenden Einzelheiten so ist das Verständniß der Composition, also der Anordnung und zwar als Thatsache im Verfasser, das Verstehen der Anordnung mit ihren Motiven übrig. Denken wir hier an die verschiednen Möglichkeiten, wie eine und dieselbe Masse von Einzelheiten geordnet werden kann und wie daraus ganz verschiedene Resultate hervorgehen können und die Anordnung also mit dem Werth zusammenhängt, den der Autor auf Dieses oder Jenes legt, so daß Eins hervortritt, das Andre zurücktritt, so sieht man wie viel darauf ankommt, sie zu verstehen, wenn der Werth den der Autor darauf gelegt, geschätzt werden soll, um so mehr da das N.T. so gebraucht wird, wie es gebraucht wird. Die Aufgabe kann in vielen Fällen als sich von selbst verstehend erscheinen, aber da hier so oft einzelne Stellen aus dem Zusammenhange herausgenommen werden, ist das von großer Wichtigkeit. Ist nämlich eine Stelle einmal außer dem Zusammenhange gebraucht worden, so hat sie dadurch einen bestimmten Werth erhalten, für Alle, die sie nicht erst im Zusammenhange prüfen; sie kann so die erste Veranlassung werden zu einem Mißverstehen, welches immer weiter fortgeht, weil man in der Gewalt des Ersten ist und der Art und Weise, wie wir den Werth angenommen. Da ist das von großer Wichtigkeit also und es ließen sich aus der Wirklichkeit eine große Menge von Beispielen anführen, wo Stellen gebraucht werden als wären sie nothwendige Gedanken einer Schrift, da sie doch nur vorübergehend angeführt sind und für den Schriftsteller nicht besondern Werth gehabt haben, und es kümmerte ihn also nicht so sehr, ob er sie so oder anders ausdrückte. Daher man in dieser Beziehung nicht vorsichtig genug sein kann bei Anführung einzelner Stellen der N.T. Schriften und viele Irrthümer
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würden viel schneller berichtigt worden sein, wenn man zu der Zeit, wo die kirchliche Dogmatik sich bestimmt fixirte und jeder Satz mit seinen Beweisstellen ausgerüstet war, alle diese Stellen im Zusammenhang betrachtet hätte; aber die Procedur ist im Wesentlichen immer dieselbe und es kommt nur darauf an, einmal eine entgegengesetzte an deren Stelle zu setzen, nämlich etwa, weniger einzelne Sätze anzuführen, als auf den Gedankengang der N.T. Schriftsteller in Beziehung auf eine einzelne Lehre zurückzugehn. Doch mag das noch lange dauern, ehe das eingeführt wird. – Dieses scheint nur die didaktischen Schriften zu betreffen, dabei ist zu erwägen, daß die historischen Schriften eine Menge didaktischer Einzelheiten enthalten; so sind alle Reden didaktische Massen von kleinerem Umfange, wobei denn vollkommen dasselbe als bei jenen gilt. In Beziehung auf das eigentlich Historische ist die Sache nicht von geringerer Bedeutung, denn nur aus der richtigen Betrachtung der Anordnung kann man wissen, wie die evangelischen Verfasser gegeneinander zu stellen. Wenn wir die einzelnen Elemente in den Evangelien betrachten, so sind es überwiegend Reden Christi, die so gut als abgesondert von einzelnen Thatsachen oder es sind Handlungen und da geht auf ein Minimum zurück was er dabei gesagt, oder es ist ein gewisses Gegengewicht in der Zusammenstellung beider und die Rede ist die Spitze der Thatsache; in diese 3 Formen lassen sich die einzelnen Elemente, die man als Ganze ansehn kann, zerlegen. Gäbe es nun unter den Schriften, die denselben Gegenstand behandeln, solche, die das ganze aneinanderstellte, was ähnlicher Art wäre, so müßten wir sagen, hier dominire der Charakter einer Lebensbeschreibung gar nicht, denn in der Zeitfolge im Leben stellen sich die Sachen nie so der Aehnlichkeit nach; da müssen wir also ein andres Princip der Anordnung suchen. Finden wir, daß gar kein Gesetz obwaltet, so folgt an und für sich Nichts, aber da sind andre Differenzen. Sie sind vielleicht nach Zeitbestimmungen auf einander bezogen, da ist die biographische Tendenz die vorherrschende und die scheinbare Unordnung wäre durch die chronologische Beziehung aufgehoben; wogegen wenn wir solchen Mangel von Gesetzen sehn, ohne ÐsolchÑ Gegengewicht zu bemerken, so werden wir sagen, hier waltet das reine Ohngefehr, hier ist gar kein bestimmtes Princip. Da ist also am wenigsten von Composition die Rede; betrachten wir das Andre und sagen, hier sind Begebenheiten des einen oder andern Typus durch Zeitbestimmung verknüpft, so waren das doch nur einzelne Punkte immer und eine Menge von Begebenheiten zwischen ihnen war übergangen, so ist die Frage, nach welchem Princip 21 Formen] folgt der einzelnen
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hat der Verfasser aufgenommen und übergangen. Da ist nun möglich, daß kein Princip waltet, er hat übergangen, was er nicht wußte; was er wußte hat er in der Ordnung, in der er es wußte dargestellt. Daraus folgte, daß wir sagen müßten, wenn Einer so wenig Zusammenhängendes weiß, wo weiß er denn die Zeitbestimmungen, da diese doch nur vermittelt sind durch das, was er ausgelassen, da können also die gegebenen Zeitbestimmungen überwiegend wenig gelten und so geht die Sache auf den vorigen Fall zurück, das nur ein Aggregat von Einzelheiten nicht ein mit bestimter Absicht und nach derselben geschriebnes Werk. Sehn wir Elemente von verschiedenem Typus zusammengestellt, die auf einander bezogen sind, es liegt da aber bestimmtes zum Grunde, das durch die Beziehung auf einander zur Anschauung kommen soll, da ist eine historische Composition und der Verfasser hat übergangen, was ihm nicht wesentlich für die Anschauung, die er hervorbringen wollte, erschien, wobei das Volumen auch einwirkte. Da bezieht sich also die ganze Aufgabe der historischen Kritik in Beziehung auf die Evangelien wesentlich auf die hermeneutische Aufgabe, ihre Composition zu verstehn und je reiner hermeneutisch sie gelöst wird und je höheres wir durch die Lösung der Aufgabe gewonnen haben, je sichrer wird die Basis für die historische Kritik. Darum bin ich immer gegen die ausschließend synoptische Behandlung der 3 ersten Evangelien gewesen, denn fängt man damit an, so gewinnt man keinen solchen Grund für die historische Kritik, man gewinnt nämlich bei dem synoptischen Verfahren keinen Eindruck von der Schrift als einem Ganzen für sich. Für die Ermittlung der einzelnen Thatsachen aus den verschiedenen Relationen und für eine richtige Ermittlung der Stelle, in welche die Thatsache die alle drei gegeben gehören, dafür ist das synoptische Verfahren gut, also wenn ein Leben Christi zu eruiren ist, dann ist nicht anders zu verfahren. Will man aber die Fragen lösen, hat der Evangelist die Andern vor Augen gehabt? sind die Evangelien auf dieselbe Weise zu Stande gekommen? so ist zuerst die hermeneutische Aufgabe, die Composition rein aus dem einzelnen Werke aufzufassen zu lösen, ebenso wenn es sich um das Verhältniß der 3 Evangelien zu dem 4ten handelt. Dieses wird denn auch wahrlich nicht als ergänzende Schrift der übrigen erscheinen, etwa um die höheren Beziehungen vorzubringen, während Jene die äußeren lösen, um die Begebenheiten nachzutragen, die in den andern ausgelassen; Keinem der das Evangelium für sich betrachtet, wird je solche Tendenz einfallen, nur nach einer Vergleichung konnte man dazu kommen, das zu sagen. Da sehn wir, wie eine bedeutende Stelle diese Aufgabe hat und es 28 die] oder den
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fragt sich nun, kann man irgend gewisse Regeln aufstellen, wonach sich diese Aufgabe mit einer gewissen Sicherheit lösen läßt; da ist freilich das Uebel daß es an fast Allem dem fehlt, das man in andern Fällen zur Lösung der Aufgabe mitbringen kann. Bei den historischen Schriften ist das Wichtigste zu wissen wie der Verfasser zu den Begebenheiten gestanden, die er erzählt. Zwei dieser Schriften tragen Nahmen, welche Augenzeugen auch getragen, und doch ist in Beziehung auf beide bezweifelt, ob diese Nahmen dieselben Personen trugen. In Beziehung auf Johannes ist dieser Zweifel nicht fortgesetzt, der in Beziehung auf Matthaeus noch bis jetzt geblieben; in Beziehung auf die Andern, weiß man nicht, wie sie zu den Begebenheiten gestanden. Nun ist die zweite Frage, wenn sie nun nicht selbst Augenzeugen waren, wie stehn sie zu den Quellen, die sie benuzt. Diese Frage ist secundär, und das Erste was so zu fragen ist können wir aus den Schriften selbst, vorausgesetzt daß wir das Einzelne gegenwärtig haben, mit Sicherheit beurtheilen, wie der Verfasser zu den Begebenheiten gestanden, das heißt, ob er als Augenzeuge referirt oder nicht. Wenn wir nun die Gleichheit in den einzelnen Erzählungen betrachten, die in den 3 Evangelien aber auf ungleiche Weise ist, da ist die Aufgabe so zusammengesetzt, daß es höchst schwierig ist sie zu lösen. Lassen wir diese Schwierigkeit völlig weg, wollen wir sie gar nicht lösen so stellt sich die Frage so: wenn wir eine solche Schrift vor uns nehmen, können wir aus der Beschaffenheit der Elemente den Schluß machen, ob der Verfasser als Augenzeuge erzählt oder nicht? Hier ist zuerst die Begebenheit selbst, und fragen wir da, wer hat Augenzeuge von den Thatsachen im Leben Jesu sein können, so sind die auf eine sehr kleine Anzahl von Personen reducirt, wenn man das Leben als Einheit ansehn will. Da ist wohl Niemand eigentlich; nur im öffentlichen Leben sind bestimmte Personen, die man als gänzliche Augenzeugen betrachten kann, zwar immer wissen wir es nur aus der Schrift selbst, doch werden sie durch die spätern Schriften wieder als solche Begleiter beglaubigt. Also sind Personen seine beständigen Begleiter gewesen; wo aber ein Früheres als das öffentliche Leben vorkommt, da haben wir die Elemente zusammen, was der Schriftsteller als Augenzeuge erzählt oder was er von einem Andern hat. Gibt es bestimmte Kennzeichen nun für die Erzählungen, die von Augenzeugen herrühren? Diese Frage ist leicht zu bejahen, aber sollen wir angeben, worin das Unterscheidende liegt, so ist das eben so schwierig. Betrachten wir dazu die Sache im Allgemeinen so müssen wir sagen, es gibt Erdichtungen in der Form von Erzählungen und da wird als Voll23 Begebenheit] Begebenheiten
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kommenheit angesehn, wenn sie den Schein eines unmittelbaren Berichts eines Augenzeugen an sich trägt, da ist das Unmittelbare der sinnlichen Anschauung wohl die Formel, unter der man das Charakteristische zusammenhalten kann; daraus geht aber hervor, der Erdichtende habe diese sinnliche Anschauung selbst haben müssen, sonst kann seine Erdichtung nicht den Typus eines ursprünglichen Berichts haben. Es kann auch Einer, was ein Augenzeuge erzählt hat gerade so seiner Schrift einverleibt haben, ist aber nicht selbst Augenzeuge gewesen. Je weniger er dabei selbstthätig ist um so mehr wird Jenes jenen Typus behalten. So könnten diese Schriften Berichte von Augenzeugen enthalten, die Verfasser wären aber von Nichts Augenzeugen gewesen. Da fragt sich ob das bleibt, wenn man auf die Zusammenstellung sieht; also vorausgesetzt, Alles hätte den Charakter von Relation eines Augenzeugen, würden wir da unterscheiden können, ob sie Augenzeugen waren oder nur Zusammensteller von Relationen der Augenzeugen? Die Schwierigkeit leuchtet wohl Jedem hiebei ein. Wären wir über den Typus einig, den der Bericht eines Augenzeugen hat, so können solche Stellen vorkommen in einer Schrift, die diesen Typus haben und die ihn nicht haben, woraus noch gar nicht herrühren würde, daß die ganze von einem Fremden herrührte, sondern wie ein Einziger nicht Alles miterleben konnte, so konnte er, da sein Impuls auf Zusammenstellung von Einzelheiten gerichtet war, Manches aufnehmen wobei er nicht Augenzeuge gewesen. Bei Johannes ist eine große Ausführlichkeit des Verhörs bei Hannas, von dem bei Pilatus wenig, denn bei dem Ersten war er anwesend, bei dem Andern nicht und so hat er Dies übergangen, weil er keine Nothwendigkeit sah es aufzunehmen bei seinem Impulse, hätte er freilich einen andern Impuls gehabt, so hätte er sich von Andern die Nachrichten suchen müssen. Solche Differenz entscheidet also nicht. Wie wir nun so zwischen zwei Resultaten stehn, finden wir da eine solche Ungleichheit so werden wir fragen, ist der Verfasser des Ganzen Augenzeuge? und dann haben wir das Dilemma, entweder er ist Augenzeuge und hat nur was er gesehn aufgenommen, oder er hat Berichte von Augenzeugen und aus der dritten Hand gehabt. Worin liegen dazwischen die Entscheidungsgründe. Kommt da nichts Aeußeres zu Hülfe so ist nur eine Möglichkeit, wenn wir finden könnten, ein Augenzeuge der referirt hat wenn er auch von Andern Erzähltes referirt eine verschiedene Art zu verknüpfen und zusammenzustellen. Können wir solche Differenz nun finden? Im Einen Falle, wenn der Gesichtspunkt des Ganzen eine Lebensbeschreibung ist, dann ist der Unterschied gerade bei solcher Zusammen22–23 Johannes 18, 15.19–24.33–38; 19,8–12
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stellung leicht zu finden, weil der der von Andern zusammenstellt nicht im Zusammenhang der Begebenheiten ist, und seine Einzelheiten, wenn er selbst zusammenstellt, werden das Ansehn von Conjecturen u.s.w. haben, sie werden des Unmittelbaren entbehren, dagegen werden bei den Andern die Zusammenstellungen den Charakter von Berichten von Augenzeugen haben und nur die aufgenommenen Theile werden jenen Charakter tragen. Wenn Johannes solche Elemente aufgenommen, so würden sie gewiß solchen unmittelbaren Charakter haben, hernach weniger, wenn er sie von Augenzeugen hat, indeß auch da wird er sie seinen Erzählungen assimiliren und es wird sich da doch eine Differenz zu erkennen geben. Unter dieser Voraussetzung ist vielleicht Etwas zu entscheiden; denken wir aber, der Verfasser hat nicht die Idee gehabt eine zusammenhängende Lebensbeschreibung zu geben, er hat seine Einzelheiten nur nach gewissen bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt, da ist der Zusammenhang nicht der unmittelbare des Lebens, der Anschauung sondern die abstracte, die aus seinem Vorhaben hervorgeht und da kann der Charakter, der den Augenzeugen verräth nicht im Zusammenhange sein. So können wir diese hermeneutische Aufgabe nicht vollständig zu lösen unternehmen – als wo wir bestimmte Extreme finden. Bei dem Evangelium Johannes ist ein bestimmter Gesichtspunkt durchgehend, der aber auch noch nicht der einer zusammenhängenden Lebensbeschreibung ist, denn es sind viele Momente die für eine Biographie bestimmt aufgegeben sein würden im Evangelium ganz fortgelassen. Ein bestimmter Gesichtspunkt herrscht zwar vor, den kann aber auch ein Andrer gehabt haben, nehmen wir aber dazu die Art, wie die Dinge zeitgemäß auf einander bezogen werden, so müssen wir sagen, eine solche Zeit wie die damalige setzt darin den Augenzeugen voraus, er charakterisirt sich gerade in den Zeitbestimmungen, so müssen wir die Möglichkeit, daß auch ein Andrer denselben Gesichtspunkt gehabt als unläugbar anerkennen; die Möglichkeit daß ein Andrer dieselben Elemente zusammenstellt ist ebenfalls unläugbar; daß auch die einzelnen Erzählungen ebenso aussehn konnten, wenn er sie von Augenzeugen genommen ist wenigstens möglich, denn wenn ein Späterer aus diesem bestimmten im Evangelio hervortretenden Gesichtspunkte das Verhältniß Christi in seinem öffentlichen Leben darzustellen und die Katastrophe begreiflich zu machen suchte, so ist doch unwahrscheinlich, daß die Begebenheiten von diesem werden ebenso aufgefaßt sein als sie sich ereigneten und dann wird das Erzählte nicht so hineinpassen, ohne daß ein umbildendes Princip sich verriethe, aber im Johannes sind die einzelnen Erzählungen ganz so aus Einem Stück, daß man den Urheber des Erzählten und den Gesichtspunkt nicht zu trennen
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vermag, ungeachtet Erzählungen im Johannes sind, wo er nicht Augenzeuge war, und doch dieselbe Lebendigkeit ist; die sieht man, auch wo er nicht Augenzeuge war sondern nach Augenzeugen referirt. Dieses beides ist also bei ihm nur zu unterscheiden, wo die Sache selbst es ausspricht, aber dabei ist immer noch der Umstand, daß die Erzählung ganz aus dem Gesichtspunkt des Ganzen betrachtet werden muß, und wir können da kein andres Urtheil fällen als, das ist ein Bericht eines Augenzeugen der einen bestimmten Gesichtspunkt gehabt. Das andre Extrem das klar sein würde, wäre ausgehend von demselben Fall, daß Erzählungen, die den Charakter des Augenzeugen an sich haben und denen er fehlt, vermischt sind, und so können wir ein bestimmtes Urtheil nur fällen, wenn in der Art und Weise wie das Einzelne verbunden, deutlich wird, daß sie nicht von Augenzeugen herrühren. Also nur in diesem negativen Falle läßt sich auf der andern Seite Etwas feststellen. Wie stehts nun mit den Evangelien? Bei Johannes ist das Princip der Composition auf das klarste zu lösen und daraus geht hervor, daß man den Verfasser als Augenzeugen ansehn muß. Betrachten wir das Evangelium des Lucas, der macht keine Ansprüche Augenzeuge zu sein, sondern im Eingange gibt er sich für einen Forscher und da ist jene Frage also nicht, und es kommt nur darauf an, welcher Regel er gefolgt sei. Davon läßt sich aus dem Buche etwas Negatives entscheiden, daß er nicht, wenn man das Einzelne für sich betrachtet, wie man aus dem Eingange es schließen möchte, das Einzelne chronologisch mit bestimmtem Bewußtsein an einander gereiht; das geht daraus hervor daß bei manchen einzelnen Geschichten Unbestimmtheit in der Verknüpfung niedergelegt ist, er hat also nicht aus Nachrichten eine bestimmte Ordnung feststellen können und so lag es auch nicht in seiner Aufgabe, dagegen spricht indeß der Eingang, so möchte man sagen, er habe es im Einzelnen nicht durchführen können und sei dem andern Princip gefolgt. Vergleichen wir ihn mit Johannes, da sehn wir eine bestimmte Differenz: im Johannes ist ein öfterer Wechsel zwischen dem Leben Christi zu Jerusalem zu Galilaea und den übrigen Orten, im Lucas ist Jerusalem im Zusammenhang mit der Leidensgeschichte erwähnt, und alles Vorhergehende ist an andern Orten vorgehend. Da bleibt nur übrig wenn wir das Werk des Johannes als Augenzeugen feststellen, zu sagen, es hat Lucas darüber keine bestimmten Nachrichten gehabt entweder weil seine Quelle nicht im Stande war sie ihm zu geben, oder weil er in dieser
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Beziehung eine unrichtige Voraussetzung hatte. Beides ist gleich denkbar und wollen wir die Composition erklären so reicht das Eine und das Andre hin, auch können sie in einander aufgehn nur in unbestimmter Zeitordnung. Hätte er Nachricht von dem was in Jerusalem und was an andern Orten geschehn war oder hätte die Voraussetzung, daß Jesus nur zuletzt dort gewesen, so ist natürlich daß er von Jerusalem Alles zusammenstellt, aber war ihm keine solche Zeitbestimmung angegeben so hat er die Voraussetzung gemacht, indem es gewiß war, daß Jesu letztes Ende zu Jerusalem gewesen und so auch deswegen war es natürlich dies zusammenzustellen, doch ist dies in der Voraussetzung gesagt, daß ihm das Evangelium Johannes gar nicht bekannt gewesen, woraus übrigens noch gar nicht folgt, daß es ein späteres gewesen. Denken wir uns, wie es in seinem Eingange erscheint, ein ordnendes Princip dem er gefolgt, und eine allgemeine Vorstellung der Localität hineingebracht, so bleibt die Frage, welches ist das Princip seiner Composition gewesen in Beziehung auf alles Außerhierosolymitanische Erzählte? Betrachten wir aufmerksam das Ganze so finden wir früh eine Reise Christi nach Jerusalem erwähnt und weiter keine Localbestimmung freilich bis Christus in die Nähe von Jerusalem kommt, und so sind alle diese Erzählungen unter dem Gesichtspunkt der Reise Christi nach Jerusalem die aber nur als Eine gedacht ist, gebracht und es bleiben nur die ersten 8 Capitel, da finden wir einzelne Erzählungen in verschiedener Art zusammengestellt, analoge von der einen und von der andern Art, die Zeitbestimmung fehlt und weil sie fehlt sind in Ermangelung derselben die Erzählungen nach der Aehnlichkeit zusammengestellt. Das ist das Bild der Composition des Lucas, wenn man ihn für sich nimmt und wenn man mit Johannes ihn vergleicht. Nun sind wieder Zweifel wenn man ihn mit den Andern vergleicht, weil er soviel Aehnliches mit Matthaeus hat, daß man fragen muß, hat er ihn im Auge gehabt? wie man sie aber auch löse, er folgt nie lange dem Matthäus in seiner Zusammenstellung, das Zusammentreffen geschieht nur im Einzelnen und so hat es auf dieses Bild keinen Einfluß; ob aber die ganze Anordnung das Werk des Letzten, [also] dessen ist, der sich im Eingange zu erkennen gibt, ist ungewiß. Viele haben diese große Masse von der Reise Christi nach Jerusalem bis zum wirklichen Einzuge angesehn als Etwas früher schon zusammenhängendes Ganzes und was Lucas so aufgenommen. Will man dieselbe Formel anwenden so muß man sagen, die Relation der Leidensgeschichte habe er schon als Ganzes gefunden, um so mehr, da da das Einzelne ein continuum ist; ferner jene kleinere Zusammenstellung von der Geburt Christi u. s. w. vor seiner Reise hat er auch nach gewissen Principien gemacht gefunden, und diese Stücke nun nach
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seiner Vorstellung von der Ordnung die im Leben Christi Statt gefunden, zusammengestellt; dieses bleibt gewiß, wenn auch das Andre zweifelhaft ist. Die hermeneutische Aufgabe muß nun dabei bleiben das unbestimmt zu lassen und das Princip der Composition ist allein diese Zeitordnung, doch mit solcher Unsicherheit, daß alles Außerhierosolymitanische das Frühere wird und alles Hierosolymitanische das Spätere. – Betrachten wir Marcus aber auch für sich so finden wir ihn ebenso als Aggregat von einzelnen Zügen aus dem Leben Christi. Fragen wir uns, haben diese den Charakter von Augenzeugen herzurühren, so ist offenbar der Nahme nicht dafür, weil er unter den beständigen Begleitern Jesu nicht vorkommt. Ein Verhältniß zwischen einem Mann Nahmens Marcus und Petrus das sich im N.T. ÐangegebenÑ findet, gibt die Andeutung daß er könnte alle Data von einem Augenzeugen genommen haben; nun fragt sich indeß, haben die Erzählungen den Charakter eines Augenzeugen? Da ist Ungewißheit ob der Verfasser selbst Augenzeuge gewesen oder mit möglichster Treue die Relation von Augenzeugen aufgenommen. Ein Einzelner der nicht zu den Aposteln gehörte, konnte übrigens ja leicht einzelnen Zügen beiwohnen und zu solchem Evangelio vielleicht hinreichenden. Nun ist aber offenbar, daß die Erzählungen des Marcus ein großes Bestreben zeigen nach einer gewissen sinnlichen Klarheit und man könnte sagen, man sähe die Absicht, für einen Augenzeugen zu gelten. Nehmen wir das genau, so wäre es ein Falsum von seiner Seite, aber es kann auch nur ein löbliches Bestreben sein, klar darzustellen und das kann seinen Erzählungen diesen Anschein geben, aber hier kommen wir auf Punkte, wo es gar sehr auf die subjective Ansicht ankommt und Niemand sagen kann, welchen Eindruck die Erzählungsweise auf die Andern macht. Da ist zu berücksichtigen das Princip und die Art und Weise Gesehenes und Gehörtes mitzutheilen, ferner die Art zu vergleichen und je nachdem man sich darüber entscheidet, wird man ein andres Urtheil über die Composition fassen. Unterscheiden wir, wie wir um die Natur des Evangelii zu erkennen, den Charakter der einzelnen Züge, wie sie für sich ein Continuum bilden und den Charakter der Verknüpfungsweise, so müssen wir sagen, das Letztere hat nicht den Charakter eines Augenzeugen weil bestimmte und unbestimmte Anknüpfungen wechseln und die Lücken nie so gegeben sind, daß man sich die Zeit dazwischen leicht ausfüllen kann. Die Erzählungen haben dazu den angegebenen Charakter und nicht leicht
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werden wir sagen, nicht leicht werden die Erzählungen von einem Augenzeugen her so übereinstimmen, wenn Einer nicht die Anknüpfungsweise eines Augenzeugen hat; wäre nur Ein Augenzeuge, so wäre die Verknüpfung anders, und wären Mehre, so wäre nicht leicht diese durchgehende Manier – denn manierirt ist Marcus – so werden wir sagen, es geht aus seiner Anknüpfungsweise hervor daß er nicht selbst Augenzeuge war; finden wir aber einen so übereinstimmenden Typus, so können nicht Mehre die Urheber sein, so hat Marcus die Erzählungen in seinem Sinn überarbeitet und was übereinstimmt ist der Charakter seiner Schreibart, der vielfältig in die Materialien eingreift. – Stellen wir dieselbe Frage in Beziehung auf Matthäus an, so ist der Nahme ein solcher der zugleich Nahme eines Augenzeugen war, wiefern aber dies begünstigt oder nicht begünstigt ist durch äußere Umstände und Zeugnisse, gehört nicht in unser Gebiet, sondern in das der historischen Kritik. Unsre Frage ist die, Matthäus der Verfasser des Evangelii mag sein, wer er wolle, welches ist das Princip seiner Composition des Evangelii. Denn ist der Typus, daß Reden Christi darin sind, Begebenheiten ferner und Thatsachen in seinem Leben, bei denen die Aussprüche die Spitze sind, und endlich Thatsachen aus dem Leben Christi, die an und für sich erzählt werden, mit einander wechseln, doch so, daß Jedes ein Einzelnes bildet. Uebersehn wir die Sache im Ganzen so sind da 3 Massen, die erste, alles was dem öffentlichen Leben vorangeht, das Letzte was die Erzählung dessen ist, was mit dem Leiden Christi von seiner Gefangennehmung bis zum Ende des Werks, und in der Mitte ist was die Zeit seines öffentlichen Lebens solch Aggregat wie es so eben beschrieben ist. Die Leidensgeschichte ist in gewissem Sinne ein continuum und zerfällt nicht in ein solches Aggregat, und doch ist bestimmt zu scheiden die Geschichte von der Gefangennehmung bis zum Tode und die Geschichte von der Auferstehung. Das Erste zerfällt auch in 2 Haupttheile in Alles was sich auf die Geburt Christi bezieht und das was auf die Taufe Christi; denn auch dieses geht seinem öffentlichen Leben vorher. Die 3te Masse endlich, die mittlere besteht aus zu sondernden und nur durch bestimmte Formeln verknüpften Einzelheiten. Ist da eine biographische Tendenz sichtbar? Insofern mehr als bei Johannes und Marcus, als er mehr die ganze Person umfaßt; betrachten wir aber gerade das Mittlere, die Hauptsache so finden wir da vor ein Aggregat von Einzelheiten und keine Tendenz ist, das öffentliche Leben als Einheit darzustellen, es ist keine Continuitaet. Daher wird Jenes als Princip anzusehn sein, Einzelheiten zusammenzustellen, auch auszuwählen, denn es läßt 11–12 Vgl. Matthäus 9, 9
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sich schwerlich denken daß er nicht mehrerer Einzelheiten noch, auch wenn er nicht Augenzeuge war hätte habhaft werden können. Solch Princip können wir auch nicht kennen, wenn wir nicht wissen, woraus er seine Materialien genommen. Nun ist die Zusammenstellung jener Massen nicht so, daß alle Reden zusammengestellt sind und alle Aussprüche, die mit Thatsachen verbunden waren, nacheinander und endlich solche Thatsachen, die um ihrer selbst willen angeführt werden, sondern sie sind mit einander gemischt dann in bestimmte Massen getheilt, und welches Princip dabei obgewaltet können wir nicht vollständig beurtheilen weil uns das Princip der Auswahl fehlt und wir können nur das Bestreben nach einem gewissen Wechsel annehmen, welches modificirt ist durch eine gewisse Anziehung des Analogen. Mehr läßt sich aus dem Werke nicht abnehmen und nur dieses können wir der übrigen Untersuchung in der historischen Kritik zum Grunde legen. Die Frage über den Verfasser kann nur auf jener Untersuchung beruhn und sie wäre nur, ist es wahrscheinlich oder nicht unwahrscheinlich, daß ein Augenzeuge einem solchen Princip der Composition würde gefolgt sein. Ein Augenzeuge konnte auf eine Weise componiren wie ein Späterer, der nur aus Einzelnem zusammensetzt, nicht kann, wie wir sagen können, daß Einer der einer spätern Generation angehörte, nicht wie Johannes componiren konnte, nicht aber läßt sich behaupten, daß ein Augenzeuge nicht hätte solche untergeordnete Weise wählen sollen. So wie man nun aber diese Frage soweit gelöst hat, wie sie sich aus jedem Buche lösen läßt, so hat man ein Princip von dem man für die Untersuchung der höhern Kritik ausgehn kann; dann kann man das Einzelne wie es sich in der Composition anstellt, darauf ansehn, ob es von einem Augenzeugen war oder nicht und da ist das Maximum, wenn es vermischt ist, daß die Aneinanderreihung die Art und Weise einen Augenzeugen verräth oder nicht; dennoch wird die streitige Frage sich beantworten lassen. Bei der Apostelgeschichte ist nun dasselbe. Da ist eine große Verschiedenheit der Ansichten über den eigentlichen Zweck und das Princip der Composition des Buchs. Hier gibt es indeß schon etwas mehr, nämlich wir können hier sagen, das Buch umfasse einen gewissen Zeitraum, da ist eine Begebenheit die das Ende ist. Es enthält nun Erzählungen aus diesem Zeitraum, doch in so verschiedem Datum der Oertlichkeit und Zeit, daß wir sagen müssen, es müssen noch viele andre Data dem Verfasser zu Gebote gestanden haben, aus dem Grunde, aus welchem ihm die zu Gebote standen, die er wirklich aufgenommen. Wir finden Nachrichten über die Stiftung der Gemeinen 34 in] in in
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zu Thessalonich, Philippi, Corinth und Ephesus, nun haben wir Briefe an diese Gemeinen von Paulus und doch finden wir in Beziehung auf diese Briefe auch gar nichts in der Apostelgeschichte ohngeachtet die Abfassung derselben sehr später ist als die der Briefe an die Thessalonicher und Corinther. Nun haben wir auch Briefe an die Galater und die Gemeinen in Colossae und mit denselben zugleich Notizen von einer großen Menge christlicher Gemeinden in KleinAsien, sollte sich nun der Verfasser der ApostelGeschichte in Beziehung auf sie eben solche Notizen haben verschaffen können als von jenen Gemeinden? Das müssen wir für unwahrscheinlich halten wenn wir den engen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Gemeinen betrachten. Ferner, in dem ersten Theile finden sich sehr detaillirt ÐinÑ gewissem Sinne Nachrichten von der Gemeine in Jerusalem, Anfangs mit Angaben von Zahlen und Notizen von der Entstehung und Entwicklung und Modificationen mancher Einrichtungen, während nachher sie ganz verschwindet, die Gemeinde kommt zwar wieder vor, wo er selbst in die Thätigkeit des Apostels Paulus eingreift; aber ohne Beziehung auf die früher gegebenen Notizen und ohne die Lüke wenn auch nur kurz auszufüllen. Hat der Verfasser, der doch nach der Zeit geschrieben, wo sein Buch schließt, bestimmte Nachrichten über die Anfänge von Jerusalem gehabt, warum konnte er sie nicht über das Spätere haben oder warum nahm er sie nicht auf? Dies begünstigt die Vorstellung daß man sagt, der Hauptzweck liegt auf der Paulinischen Seite, er ist die Darstellung der Verbreitung des Christenthums unter den hellenistischen Juden und Heiden in denselben Gegenden und von der frühern Geschichte ist nur aufgenommen, was nothwendig war um auf den Punkt zu führen, wo das Andre anfängt, also die Vorbereitung. Genauer betrachtet hält diese Ansicht aber nicht Stich denn die Notizen von der frühern Zahl der Christen in Jerusalem, von dem ersten bedeutenden Anwachs der Gemeinden, von der Entstehung und Modification der Gütergemeinschaft ohne ihre Auflösung bestimmt anzugeben hängt damit nicht zusammen; es wäre zu viel wenn es nur Vorbereitung wäre, es sind ja auch bestimmte Notizen von der Verbreitung von Jerusalem aus; will man darin die Absicht voraussetzen, sie sei eine Geschichte der ersten Verbreitung des Christenthums von Jerusalem aus und Antiochien, dann wäre gar keine Gleichheit der Verhältnisse in dieser Beziehung, dann ist sehr Vieles was fehlt, wovon man aber voraussetzen muß, daß es dem Verfasser nicht habe entgehen können. So als Barnabas und Paulus ihre zweite Reise antraten und sich vereinigten oder es zweckmäßiger fanden, 17 die] das
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sich zu trennen, so wird nur im Allgemeinen der Weg gesagt den Barnabas genommen und die ganze Erzählung an den Paulus geknüpft. Von Allem was Barnabas gethan, ist keine Spur und wir müssen doch denken, hat der Verfasser das gewußt, welchen Weg Jener genommen und sind es Gegenden, die vorher und nachher berührt werden, so mußte er doch auch darüber Etwas sagen können. Da ist also eine bestimmte Formel über den Zweck der Composition, den Plan der doch gar nicht ausreicht. Stellt man nun die Verhältnisse ihrem Gegenstande nach zusammen so hat man das Resultat, daß Vieles sein müsse das [nicht] ist, und Vieles anders sein müsse als es ist. Nun gibt sich aber der Verfasser zu erkennen als derselbe, der das Evangelium geschrieben und nennt die Apostelgeschichte denselben logos, den zweiten Theil desselben Werkes und knüpft sie auch an das Erste an, die fortgesetzte Thätigkeit nach dem Leben Christi an das Leben selbst, also ist sie auch wohl nach demselben Principe componirt als das Evangelium. Denn war das eine Schrift, die ganz anders componirt war, so konnte sie ja auch dem Verfasser nicht als zweiter Theil erscheinen. Hat uns nun das Evangelium das Resultat gegeben womit die Einleitung übereinstimmt, daß es Zusammenstellung sei einzelner früher vorhandener Elemente; dann folgt, waren sie nicht eben so zusammengestellt, so waren sie nicht ein zweiter Theil. Hat nun der Verfasser mehr Materialien gehabt, die auf dieselbe Weise ausgeführt waren, oder hatte er eben nur was er zusammengestellt? Diese Frage ist eine andre, als die vorhergesagte, denn da müssen wir sagen, es läßt sich denken, daß da der Verfasser Notizen gehabt die nicht in den Zweck gehörten, da sind aber nur rohe Notizen, sagen wir hingegen, er hatte nicht Materialien, so war es ja möglich, daß er diese sich wirklich nicht hatte verschaffen können, sondern er hätte sie erst componiren müssen; wie er das aber in dem Evangelium nicht gethan, so wollte er es auch nicht in der ApostelGeschichte und durfte es nicht. So die Geschichte der Gemeinde von Jerusalem war in ihrer ersten Stiftung am Pfingsttage eine höchst merkwürdige Begebenheit, so daß sich darüber leicht Jemand ein me´moire aufsetzen oder Einer aus derselben Zeit von Andern dazu aufgefodert werden [konnte]. Ebenso ist alles übrige aus Jerusalem Mitgetheilte einzelne prägnante Momente. Dagegen sehn wir auf den letzten Aufenthalt des Paulus in Jerusalem, so erkennen wir, wie sich das Christenthum weiter verbreitet hatte und eben darum weniger Einzelnes war. Alles Einzelne verschwand im größern Gesammtleben. Hätte es nun größere Massen sowohl aus dieser Region als aus den übrigen so hätte der Ver11–12 Apostelgeschichte 1, 1
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fasser einen andern Plan machen müssen, wäre mit diesem Buche nicht ausgekommen, aber es ist keine Spur daß wirklich ÐetwasÑ verloren gegangen, so fällt denn dieser Gedanke fort. Stellen wir uns auf einen andern Punkt. Von der Gemeinde in Corinth haben wir die Nachricht von der Ankunft des Apostels und seinem ersten Aufenthalt, ausführliche Nachricht haben wir nur über das Hinkommen des Apostels, die Stiftung der Gemeine und die Veranlassung zur Abreise, da haben wir also etwas das sich auf den Apostel persönlich bezieht; nachher bei seiner Durchreise wird die Stadt wiederum erwähnt, da ist also wiederum Persönliches des Apostels, während Alles, was dazwischen liegt, nicht erwähnt wird. Hätte er nun selbst componiren wollen, so hätte er sich dazu die data wohl verschaffen können, aber da die Einzelheiten sich nicht mehr so herausheben, so konnten auch nicht mehr solche Materialien sein. Halten wir diesen Gesichtspunkt fest und betrachten daraus die Materialien in der ApostelGeschichte so sehn wir leicht, daß Erzählungen von Einzelheiten durch Einzelne zusammengestellt sind, dann wird sogleich die Frage über das Princip der Composition eine ganz andre [und] es kommt dann nur auf die zweckmäßige Art und Weise an, die vorgefundenen Materialien zusammenzustellen und da können wir ein bestimmtes Urtheil weiter nicht haben, als sich uns daraus ergibt. Bis zu einem Punkte hin sind die Nachrichten überwiegend Palaestinensisch, da gab es nur solche, später bis zu einem gewissen Punkte Paulinisch überwiegend, und das Palaestinensische wird nur gelegentlich [gebraucht], daraus ist nun nicht zu schließen, daß das allein der Gegenstand sei und das Andre Vorbereitung, auch nicht auf eine weitergehende historische Tendenz ist zu schliessen sondern der Verfasser hat seinen Stoff auf die natürlichste Weise geordnet, sofern es später in Palaestina solchen Stoff nicht mehr gab, aber wollte er nicht componiren sondern Gegebenes nur mittheilen, so lag eine geschichtliche Reihenfolge nicht in seinem Zwecke. Daß er ein häufiger Begleiter des Apostels gewesen und vielleicht mit in Jerusalem war, ist gar nicht das Alleinige was beweisen könnte, daß er Notizen wirklich hätte haben können, es kommen auch solche Lücken bei AußerPalaestinensischem gar häufig vor. Daraus ist klar, daß er Nichts an seinen Materialien gethan um die Idee genauerer historischer Verbindung hineinzubringen, seine Thätigkeit ist nur die der Zusammenstellung gewesen, dagegen könnte widersprechen eine gewisse Gleichartigkeit der Sprache, der 15 daß] folgt es
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9 In Apostelgeschichte 20, 2 heißt es lediglich, Paulus sei nach
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Schreibart, aber das folgt gar nicht, daß, wenn er jene Erzählungen beibehält, und Einzelnes von verschiedenen Verfassern in ein Ganzes verbindet, er ÐnunÑ auch den wörtlichen Ausdruck beibehalte, sondern es ist natürlich, daß er in seiner Schreibart sie wiedergibt und bei so einfachen Erzählungen, läßt sich das sehr bestimmt gesondert denken. Die ApostelGeschichte ist also eine Zusammenstellung einzelner früherer Materialien so daß der Verfasser durch das was er hatte und das Volumen das er ausfüllen konnte, bestimmt war. Alle Fragen über besondre Zwecke fallen alsdann weg, der Zweck ist nur die christliche Historiographie selbst, wie sie unter diesen Bedingungen und diesem primitiven Entschlusse das schon Vorhandene zu gebrauchen möglich war. Hier sind wir nun weiter gegangen als im Begriffe der Aufgabe liegt, die Hermeneutik hat es nur mit den Regeln zu thun, hier sind aber die Regeln gleich in Anwendung gebracht. Das hat indeß seinen Grund darin, weil diese geschichtliche Basis des N.T. sich so sehr von andern analogen Compositionen unterscheidet, so daß die Regeln nur sehr speciell sein können und daß es darauf ankommt, die allgemeine Verfassung der Bücher aus der Betrachtung zum Bewußtsein zu bringen. Hier ist der Unterschied durchgreifend zwischen dem Evangelium Johannes und den 4 andern historischen Schriften, daß Jenes eine eigentlich geschichtliche Arbeit ist, wobei gleichmäßig alles Einzelne und die Composition dem Verfasser angehören als eigenthümlich. Bei den 3 andern und der ApostelGeschichte ist es nicht so und da ist denn eine Beschaffenheit die nicht leicht in einem andern Buche vorkommt, aus der damaligen Zeit aber erklärt wird. Wäre es auch nicht geschehn so wäre es jetzt auch unmöglich eine Biographie aus solchen einzelnen Zügen und Aeußerungen, Thatsachen und Reden zusammenzusetzen. Es gibt zwar eine Menge einzelner Züge bekannter Männer, hätten wir dazu noch was sie in einzelnen Fällen gesagt, ohne aus dem, was sie geschrieben zu nehmen, und wollte nun daraus Jemand eine Lebensbeschreibung machen, so wäre das der Zeit völlig unangemessen, weil das Schreiben jetzt in ganz anderm Verhältnisse ist als damals, wo es nur ÐgewißeÑ Nebensache sein konnte, weil Jeder, der der christlichen Kirche angehörte, nur ein Minimum von Kräften darauf verwenden konnte. Das gilt ebenso gut von den N.T. Briefen. Da können wir uns nun die beiden Elemente leicht zusammen construiren, es gab ein Interresse, das Einzelne aus dem Leben Christi in der Kirche lebendig zu erhalten und die Erinnerung an die ersten Anfänge der Kirche zu fixiren, nachdem sie eine größere Existenz gewonnen. Das Interresse erschöpft sich aber in solchem Aggregate von einzelnen Zügen, die im Gesammtleben vorhanden waren, und diese zu einem schriftlich Verfaßten zusam-
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menzustellen war durchaus am Ende Nebensache ÐzumalÑ es auch Wenige in der Kirche gab, die das Bücherlesen betreiben konnten. Die Briefe vertraten die Stelle der unmittelbaren mündlichen Rede und sie waren auch nur für den Effect des Augenblicks; das Schreiben war nur durch die Ferne bewirkt und das Aufbewahren derselben war nur Wirkung jenes Interresse an den ausgezeichneten Personen, die sie geschrieben. Die Apostel aber haben nie so geschrieben in der Rücksicht, daß die Briefe künftig sollten gelesen werden, das ist ihnen ganz fremd wie alles literarische Leben außer ihrem Kreise lag; es sollte nur den Effect hervorrufen und so konnte eine eigentliche Composition nicht Statt finden, dazu war kein Impuls weil kein Erfolg abzusehn war. So waren die Schriften des Lucas an einen einzelnen Mann gerichtet, wir wissen nicht, wer er war, ob Christ oder nicht, jedenfalls Jemand, der sich für die christliche Kirche interessirte. Nun braucht Lucas gar nicht allein für diesen geschrieben zu haben, aber die Beziehung auf diesen war doch mehr als eine bloße Dedication wie sie die Schriften des Cicero haben, es war nur eine verhälnißmäßig kleine Zahl, auf die solche Schriften rechnen konnten. Ebenso soll Matthaeus sein Werk geschrieben haben als er Palaestina verlassen um das Evangelium andern Orten zu verkünden, also als Reminiscenz an seine mündliche Verkündigung; mag diese Nachricht nun wahr sein oder nicht, sie hat die Andeutung in sich, daß man nur aus sehr bestimmten Motiven schrieb. Wenn man so oft von Johannes gesagt, er sei eine Ergänzung, so ist das wohl eine Vorstellung, die nicht viel Theilnehmer mehr hat, weil man sicher behaupten kann, daß Johannes keines unsrer Evangelien gekannt, als er sein Evangelium schrieb, aber das Wahre ist an dieser Ueberlieferung, nach der das Evangelium Johannes eine Ergänzung der Auffassung Christi in einer Reihe von einzelnen Zügen durch die zusammenhängende Continuität der Verhältnisse Christi zu dem Nationalleben seiner Zeit; daß er sein Evangelium in späterer Zeit geschrieben, während er in apostolischer Thätigkeit war konnte er an eine schriftliche Abfassung nicht denken, sondern erst, als er später Muße hatte; aber die übrigen Evangelien in ihrer jetzigen Gestalt hatte er nicht vor sich, die ist gewiß später. Wegen dieser eigenthümlichen Beschaffenheit also konnten die Regeln nicht ohne ihre Anwendung vorgetragen werden. Wenn Jemandem nun, indem er das Einzelne betrachtet auf so allgemeine Weise, bei solcher Uebersicht des Einzelnen die eigenthümliche Beschaffenheit jener 4 Bücher (außer Johannes) nicht klar wird, sondern er glaubt, es könne so Einer geschrieben haben, der eine Lebensbeschreibung habe schreiben wollen, daß also Einzelnes und Ganzes ihm angehöre, für den ist Alles was gesagt, Nichts, doch ist bei unserm philologischen Zustande
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das wohl nicht mehr zu behaupten abgesehn von allen synoptischen Vergleichungen. Bei diesen Büchern also ist die Aufgabe, das Princip der Zusammenstellung schon vorhandener Materialien zu finden und zu gleicher Zeit den Grad von Willkühr, welchen der Componist über seine Materialien ausgeübt. Da werden sich noch bedeutende Differenzen zu erkennen geben zwischen den 3 Componisten Matthaeus Marcus und Lucas. Der Eine scheint seine Kunst ganz in der Anordnung zu erschöpfen, und sich über seine Materialien nichts Andres zu erlauben, als Gleichmäßigkeit der Sprache hervorzubringen; der Andre scheint sich viel Willkühr gestattet zu haben über die Materialien selbst, indem er Manches hinzugefügt, das der Natur solcher Erzählungen eigentlich nicht angemessen; Dieses wird nur durch die Vergleichung klar und gehört nicht in das unmittelbare Gebiet unsrer Frage, es versirt in der unmittelbaren Region zwischen dem was der Sache nothwendig ist und dem was nur Darstellungsmittel, mit Letzterem hat die Sache nichts zu thun. Der Dritte scheint ein zusammengesetzteres Princip der Anordnung gehabt zu haben er [hat] mehr Analoges eingeschaltet. So hat Jeder seinen eignen Charakter, doch liegt das in etwas Anderm als [dem] der Einheit der Composition, die in Allen ist, nämlich dem Gebundensein an gegebene Materialien, wobei die Auswahl noch zu bestimmen bleibt, worüber wir am wenigsten urtheilen können, weil wir höchstens in Anschlag bringen können, was dem Einen fehlt, der Andre dagegen hat und das ist nicht viel. Dann bleibt nur übrig das Princip der Anordnung. Betrachten wir dies bei den Dreien so müssen wir sagen, es ist eine Vorstellung von den Verschiedenheiten der Zeit und Localitäten, die das Ganze bestimmt hat auf eine der zusammenhängenden Darstellung in dem Evangelium Johannes widersprechende Weise. Sehn wir auf Zeit und Localität, so müssen wir sagen, das Princip der Composition bei allen Dreien ist dieses, daß alles Hierosolymitanische nur an das Ende Christi und alles früher Geschehene [in] das Voraufgehende fällt. Während dieses alle 3 haben, widerspricht ihm das Evangelium Johannes ganz bestimmt. Früher suchte man diesen Widerspruch künstlich zu lösen, doch hält dieser Versuch keine Prüfung aus, es sind Möglichkeiten die nur möglich scheinen, wenn man auf das Einzelne sieht, während das Ganze sie verwirft. – Gehn wir zu den didaktischen Stoffen, so muß hier zum Grunde liegen was wir über die epistolarische Form überhaupt gesagt, denn die didaktischen Schriften des N.T. haben diese Form alle, aber auf verschiedene Weise jede einzelne. Diese Verschiedenheit spricht sich meistentheils im Anfange aus der Schrift selbst. Es gehört zu der epistolarischen Form der Alten, daß wir in dem Anfange des Briefs selbst erfahren, an wen der Brief gerichtet ist und
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da ist nun diese Differenz, Briefe sind an einzelne Gemeinden gerichtet und an einzelne Personen; an die christlichen Gemeinden in bestimmtem Umkreise oder von bestimmtem Charakter und nur einer einzigen dieser Schriften fehlt dieser Theil der Epistolarform ganz, dem Briefe an die Ebräer, der vollständig wie eine Abhandlung anfängt, aber dabei redet der Verfasser seine Leser immer an, was zur epistolaren Form gehört und bei Andern höchstens einmal als emphatische Wendung vorkommt, ja zuletzt erscheint er ganz als Brief, indem er bestimmte Verhältnisse zwischen dem Schreibenden und der Addresse voraussetzt. Das ist ein Eigenthümliches das noch besonders zu betrachten ist. Ein andrer Brief ist noch auf andre eigenthümliche Weise geschrieben. Es gibt Briefe, die an einzelne Gemeinen geschrieben sind, wie Briefe die ein größeres, mannigfaltiges doch bestimmtes Publicum haben, wie die Briefe die man encyklische nennt, die katholischen Briefe des Petrus und Jacobus. Da kann man nicht sagen daß die genannten Gemeinden in genauerem Verhältnisse unter sich standen und gemeinschaftliche Eigenthümlichkeit gehabt hätten und gemeinschaftliche Thatsachen gewesen wären, auf die sie sich bezogen; das ist bei ihnen gar nicht zu behaupten; nun ist aber ein encyclischer Brief der nie zu den übrigen gestellt ist das ist der Brief an die Galater, und was die Sache betrifft war dies ein ganz richtiges Gefühl, aber was die Worte betrifft, so nicht. Es liegen hier nämlich gemeinschaftliche Thatsachen zum Grunde, und steht zu der Verfassung der Galatischen Städte in genauerem Verhältniß, diese bildeten nämlich eine eigentliche Corporation. Nun ist eine Eintheilung schon in Beziehung auf die epistolare Form gemacht, freilich so, daß ein fließender Unterschied zwischen ihnen ist, der in einzelnen Fällen doch Gegensatz wird, nämlich solche Briefe, die eine bestimmte Beziehung haben, die eine Einheit bilden und solche die dem vertrauten Gespräche sich nähern und also keine solche Einheit haben, als das Verhältniß beider Theile zu einander. Nun haben wir gesagt, es liege in der Natur der Sache, daß Zusammensetzungen von beiden vorkämen, ist nämlich Einer im Falle bestimmte Auseinandersetzungen machen zu müssen, so wird er zuvor didaktisch [sein] nach diesem aber die vertraute Mittheilung anschließen. Dieses findet sich auch in den N.T. Briefen, da werden wir auch die Frage nach Einheit der Composition auf verschiedene Weise zu stellen haben. Wenn der Brief ganz und gar den Charakter vertraulicher Mittheilung trägt, so ist die Frage zu stellen, die dafür schon gestellt ist, aus welchem Gesichtspunkte schreibt der Verfasser? mehr aus dem seinigen oder dessen an den er schreibt? oder auf welche Weise ist beides verbunden? Ebenso ist es bei den zusammengesetzten Briefen, aber kehrt für den vertraulichen Theil
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dieselbe Frage zurück, nur je weniger Raum im Ganzen Jenes hat, um so mehr ist sie untergeordnet, da ist denn nach dem Verhältnisse beider zu fragen, und nicht nur nach dem quantitativen sondern auch dem qualitativen, nämlich wie streng sich beides sondere, oder wie viel in einander übergehe, oder im Ersten vorausgesetzt sei. In dieser Frage hat man die ganze Richtung auf Alles, was ihm vorschwebte und auf den Gang den er genommen. Fragen wir wie diese Aufgabe sich lösen lasse, wenn wir nun die Uebersicht des Ganzen voraussetzen könnten, da es solche N.T. Briefe gibt, so müssen wir freilich sagen, bei den ganz didaktischen Briefen, oder bei den zusammensezenden mehr Tractat mäßigen Theilen der zusammengesetzten Briefe ist es nichts so leichtes, die Einheit zu finden und es kann Fälle geben, wo man das eigentliche Motiv, und ohne dies existirt die Einheit nicht, nur findet in dem Theile, der den Charakter des vertraulichen Briefes hat, weil da vielleicht erst bestimmt die Rede von dem bestimmenden Verhältnisse ist. Bei dem Galater Briefe ist von vorn herein von der Thatsache, die Motiv des Briefs ist, die Rede, nämlich von einem wahrscheinlichen Rückfall der Galater Gemeinden in ein unchristliches Leben, aber leicht kann man denken, daß Paulus hätte können den didaktischen Theil ausführen, ohne der Thatsache zu gedenken, so wie im Ebräer Briefe, aber man würde im vertraulichen Theile wenigstens die Spur der Thatsache finden und so wäre das eigentliche Motiv im zweiten Theile und ÐvolleÑ Zusammensetzung fände ihren Schlüssel in diesen Aeußerungen, woraus man sieht, daß Dies und Jenes in den Gemeinden vorgegangen. Je mehr im abhandelnden Theile die Freiheit die Oberhand hat um so schwieriger ist’s die Einheit zu finden; je mehr der Charakter einer eigentlichen Abhandlung da ist und das Ganze somit gebundener, um so leichter ist sie zu finden, um so weniger Einfluß hat die epistolarische Form darauf, so daß sie rein zufällig erscheinen kann. Wir können überhaupt unterscheiden Briefe von mehr gebundener Composition die eine objective Einheit haben und solche von einer freien Composition, die nur subjective Einheit haben; im ersten Falle gibt es einen Gegenstand aufzufassen als Gedanken, auf den sich Alles bezieht; in letzterm Falle ist die Einheit, auf die Alles zurückgeführt werden kann eine gewisse Einheit der Stimmung und der Verhältnisse. Woran kann nun beides erkannt werden? sowie man das Einzelne vor sich hat, muß im Allgemeinen wohl deutlich sein, ob ein Brief mehr zur einen oder andern Gattung gehöre, wenn auch freilich damit noch nicht die objective Einheit in ihm bestimmt bezeichnet sein kann. Denken wir uns vom Briefe an die Roemer den letzten Theil fort, so kann in Beziehung auf die Hauptmasse Niemand bezweifeln, daß sie einen zusammenhängenden, objectiv didakti-
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schen Charakter habe, aber welches die Einheit sei ist eine andre Frage, die dadurch noch nicht bestimmt ist. Sobald die einzelnen Sätze überwiegend solche Form und Tendenz haben, so ist die Hauptsache schon dadurch entschieden. In einem Briefe, der nur vertrauliche Ergießung und keine andre Einheit hat als das Verhältniß beider Theile zu einander und zwar in Beziehung auf das Lebensmoment in dem der Schreibende oder der an den er schreibt, sich befindet, kurz in solchem momentanen Charakter würde dies Einzelne einen mehr musikalischen Charakter haben, mehr Darstellung von innern Zuständen sein. In gewisser Beziehung ist das also leicht zu entscheiden und wenn in einem solchen Briefe die didaktischen Elemente auch nicht fehlen werden, so kann man die doch nie als eigentlichen Hauptpunkt ansehn. Wenn man den Brief an die Philipper hinter einander durchliest, um den Totaleindruck sich zu verschaffen, so wird dieser nur der sein, daß es eine vertrauliche Ergießung sei; findet man nun eine Stelle, welche die Christologie des Apostels zu sein scheint, so kann das dagegen keine Instanz bilden, und es wäre im Widerspruche mit der Totalität, wenn Jemand dies den Kern, die Basis nennen wollte; das mag es sein in seiner dogmatischen Anwendung, nicht aber sofern wir die Thatsache des Schreibens als Lebensmoment des Schreibenden betrachten wollen, denn auch im engern Sinne ist jene Stelle nicht Hauptsache, Christus wird als Typus nur aufgestellt. Um die Frage in der Hauptsache zu entscheiden, muß man nur den Totaleindruck wirken lassen und alles Einzelne zurücktreten [lassen]. Wenn wir nun aber die Sache in der Besonderheit des Verhältnisses betrachten das zwischen den Aposteln und denen an die sie schrieben bestand, so stellt sich das oft auf eigenthümliche Weise. Es ist nicht leicht ein Brief von dem man sagen kann, daß er eine gewisse Gemüthsstimmung ausspricht so, daß man sagen könne, diese habe er aussprechen sollen, als die Corintherbriefe, und doch ist das nicht der Fall, denn Jeder enthält eine Masse von objectiven Auseinandersetzungen die aber den eigentlich persönlichen Verhältnissen angehören; diese sind der Grund der Stimmung und diese spricht sich aus jenachdem die behandelten Gegenstände jenem Verhältnisse verwandt oder nicht verwandt sind. Bemerkt man dies so wird die Stimmung der Totaleindruck nicht sein sondern der ist der, der Apostel war veranlaßt sich über eine Reihe von Gegenständen auszubreiten, theils um die er gefragt, theils die ihm berichtet, theils die von ihm selbst ausgehn. Solche
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Klarheit in Beziehung auf die Entscheidung der Frage findet nur Statt unter der Voraussetzung daß die Verhältnisse zwischen dem Briefsteller und seiner Addresse klar sind, denn wo das nicht der Fall ist, da ist es allerdings schwierig und da finden wir, daß wir allerdings auch in Beziehung auf solche Briefe, die überwiegend objectiv sind, einen ähnlichen Gegensatz wie schon in Beziehung auf die überwiegend subjectiven bemerkt ist; bei diesen konnte er mehr von seinem eignen Standpunkt aus reden also mehr von seinem Zustande, und eben so von den Zuständen der Uebrigen; in Briefen ist nun in Beziehung auf die mehr objectiven Briefe solcher Unterschied, er kann mehr Gegenstände von seinem Interresse aus behandeln als mehr vom Interresse derer aus, an die er schreibt; in welchem Grade ihm die, an die er schreibt in ihren Relationen und christlichen Umständen unbekannt sind, um so mehr kann er nur von seinem Zustande aus schreiben, seine Conjecturen über die Zustände derer, an die er schreibt, beruhn nur auf der Analogie und seinem Gesammtwahrnehmungszustande. Unter den Paulinischen Briefen ist der Brief an die Colosser ein Brief an eine Gemeine, mit der der Apostel in keiner unmittelbaren Relation stand, nun hatte der Apostel von dieser Gemeinde Notizen; denken wir sie aber weg so hätte er nur von seinem Standpunkte aus schreiben können und hätte er specieller sie Angehendes schreiben wollen, so hätte er nur nach der Analogie in andern Gemeinden schreiben können, also doch immer von seinem Gesammtwahrnehmungszustande aus. Nimmt man solchen Brief vor so kann man sich leicht zu weit verleiten lassen durch den Umstand, daß er von der Gemeinde Notizen bekommen, er kann Vieles aus seinem Wahrnehmungszustande herausnehmen dem nichts Specielles in der Gemeinde entspricht und das ist mit diesem Briefe besonders der Fall; man hat häufig [gefragt], weil Manches polemisch aussieht, welcher Irrthum in Colossae gewesen sein möchte, da es doch bestimmter heraustreten müßte wenn er darüber Notizen bekommen, es wäre ja vergeblich, zu verheimlichen, daß er solche Notizen bekommen. Daraus kann man schließen, diese dem Anschein nach polemische Stelle habe solchen Grund nicht und sie ist nur aus dem Zustande des Apostels heraus geschrieben, weil er von anderwärts her diese Gefahren kannte, also um vorzubauen, und so aus seinem Gesammtwahrnehmungszustande heraus. Nehmen wir solchen Brief wie den des Jacobus und betrachten das Verhältniß zwischen dem Briefsteller und der Addres-
14 Zustande] Zuständen 28 Kolosserbrief 2, 8–23
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se, so werden wir, wenn auch die Schwierigkeiten, die dieser an sich trägt, beseitigt sind, doch sagen, daß nicht sehr wahrscheinlich sei, daß der Verfasser viel bestimmtes von diesen, die in weiten Gegenden zerstreut und unbestimmt waren, sollte gewußt haben, es ist nicht einmal Grund einer Voraussetzung einer bestimmten Analogie gewisser Verhältnisse. Allerdings war ihm immer wenigstens das Uebergewicht von Heiden oder Judenchristen bekannt und konnte er so bestimmte Zustände voraussetzen und auf diese Bezug nehmen. Das waren aber nur doch gewisse Gegenstände, nur das, was auf der einen Seite sich auf die Neigung das Mosaische Gesetz geltend zu machen, auf der andern auf die bewußte Neigung der Heidenchristen als die bewußte Thatsache daß sie ihrer laxen Moralität wiederum sich hinzugeben suchten, bezogen werden konnte. Aber andre ethische oder moralische Zustände waren hieraus nicht zu bestimmen; allerdings waren ähnliche Verhältnisse, wenn man wußte eine Gemeine bestand aus Personen niederer Klasse oder war in anderm bestimmten Verhältnisse zwischen Hohen und Niedern, wonach sich die schriftlichen Aeußerungen richten müssen aber bei einer Anzahl verschiedener Gemeinden in verschiedenen Gegenden ist solche Analogie nicht vorauszusetzen. Stellen wir dies vorweg fest und betrachten nun Jacobus in der Mannigfaltigkeit der Gegenstände die er behandelt, so müssen wir sagen, obwohl der Brief seinem Gegenstande nach rein objectiv ist, ist er doch nur aus dem Gesammtzustande des Briefstellers geschrieben und in keiner speciellen Beziehung auf die, an die er schrieb. Stellen wir diese Punkte zusammen und betrachten den Brief im Verhältniß zu denen, an die er schreibt, so wird dieser Punkt bis zu einem gewissen Grade sich entscheiden lassen. Haben wir aber weiter nichts, so können wir auch nicht weiter gehn, sollen wir aber die Composition im Briefe des Jacobus entwickeln, so fehlt es da an Allem, was man außer dem Briefe selbst haben müßte. Im Briefe sind nun solche Sprünge die sich nur als Thatsache des Schreibenden selbst bestimmt erklären lassen, wenn wir Bestimmteres wüßten von seinen Zuständen und Verhältnissen und Umgebungen, allein aus dem Briefe lassen sie sich nicht erklären. Diese Seite unsrer Aufgabe läßt sich lösen nur in dem Verhältnisse, als das Grundverhältniß zwischen dem Schreibenden und denen an die er schreibt bekannt ist, als der erste Punkt. So wie wir wissen, der Schreibende steht noch in keiner bestimmten Relation zu denen, an die er schreibt und so wie wir sehn, die Art und Weise der Auseinandersetzung der Gegenstände hat auch nicht die ÐFarbeÑ sich auf die bestimmten Zustände derer, an die er schreibt zu beziehn, hat auch nicht eine bestimmte Richtung, so ist keine Ursache zu glauben, daß der Grund der Composition in dem liege,
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was der Verfasser von denen, an die er schreibt, weiß, vielmehr kann er nur in seinen Verhältnissen und Zustande liegen. Wir wissen, daß der Apostel Paulus, als er an die Christen in Rom schrieb, noch in keinem bestimmten Verhältnisse zu der Roemischen Gemeinde als solcher stand; wenn auch die große Reihe von Grüßen am Ende des Briefs wirklich dazu gehören, was von einzelnen Kritikern bezweifelt wird, so müssen wir demohngeachtet zugeben, daß der Apostel viele einzelne Personen aus der Gemeinde gekannt, nehmen wir noch dazu eine Notiz aus der ApostelGeschichte so hat es nicht den Anschein als wäre diese Gemeinde eben so consolidirt gewesen als anderswo, was denn dadurch zu erklären ist, daß eine so große Zahl durchgehender Personen sich nicht lange dort aufhielt; und mochte von ihnen Paulus auch welche kennen, wollten wir sagen, der Brief wäre durch das was der Apostel von diesen Personen wußte bestimmt gewesen, so ist das durchaus nicht wahr, so ist das gar nicht zu glauben, vielmehr wenn wir sehn, daß er von einem Project nach Rom zu gehn redet und wir sehn, wie unwahrscheinlich es ist, daß alle jene ihm bekannten Personen dort sollten etablirt gewesen sein, so ist es klar, daß er mehr Rücksicht auf die Gemeinde als solche, als die einzelnen Personen genommen, mehr auf die Unbekannten als die Bekannten. Fragen wir, ist in dem didaktischen Theil des Briefs an die Roemer eine bestimmte Einheit oder ist es nur so, daß der Verfasser im didaktischen Gebiet bleibt? ist es eine ganz freie Auseinandersetzung, so ist das die nächste Festsetzung wenn das fest ist, die Masse hat einen überwiegend objectiven Charakter, ist es eine freie Ergießung, so müssen wir einen subjectiven Zusammenhang angeben können, und da wir vom Apostel genug wissen, mehr als von der Gemeinde in Rom, so werden wir sagen, er ist eine freie Ergießung zu der wir einen subjectiven Zusammenhang suchen könnten, bezöge sich aber doch auf den Zustand der Roemischen Gemeinde, dann wird er den Charakter des [den] an den er schreibt bestimmenwollens an sich tragen; doch sehn wir, wie der Brief ganz im Gebiete der Auseinandersetzung in dieser Hauptmasse bleibt, so vergeht Einem das wieder. Da ist nun aber im Briefe selbst eine Indication, die man nur aufzunehmen braucht, in dem nämlich, was eigentlich Einleitung ist; so muß man sagen, der Apostel gehe darauf aus eine Darlegung seiner Methode im Christenthum, die wesentlich von seiner eigenthümlichen Ansicht desselben ausgeht, zu geben; diesen Gedanken erregt die Stelle in der Einleitung, wo er vom Evangelio als seinem Amte, dem er göttliche Kraft beilegt spricht. Daraus entwickelt sich der ganze Inhalt. So wie man in der Einleitung auf 32–33 Römerbrief 1, 1–17
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solchen Punkt kommt, der den Charakter hat solch Entwicklungsknoten zu sein, so muß man ihn festhalten und darauf den Gesammtinhalt probiren und beim Briefe an die Roemer finden wir in diesem den eigentlichen Schlüssel zum ganzen Gedankengange und viele einzelne Mißverständnisse und Mißverstehn der einzelnen Theile des Briefs zu einander haben ihren Grund darin, daß das nicht ganz beachtet. Beim Briefe an die Ebraeer ist das Verhältniß des Schriftstellers und seiner Addresse noch gar nicht gegeben, die Ueberschrift ist später und wenn sie auch gilt, so ist der Nahme doch gar verschieden erklärt. Nun fängt der Brief gleich an ohne daß er als Brief sich zu erkennen gäbe in Form einer Abhandlung und der erste Gedanke ist der Gedanke einer Entwicklung der göttlichen Offenbarungen und eines Gegensatzes zwischen den frühern und den spätern, zwischen der Prophetie als Früherem und der Offenbarung als dem Letzten und es entgeht einem gar nicht, daß dies wirklich durch die Hauptmasse durchgeht. Nimmt man dazu, was selbst in dieser Hauptmasse sich unmittelbar beziehn muß und eben auf so erregende Weise sich beziehendes sich einmischt und wie dasselbe noch in den zweiten Theil sich hineinzieht, also hier als Tadel des langsamen Fortschritts, dort als Warnung vor Zurüktreten aus dem Christenthum, so sieht man wie dieses zusammenhängt und wie der Verfasser die Vergleichungen zwischen Judenthum und Christenthum auf solche Weise in dieser Beziehung aufstellt, um den Gedanken eines Rüktritts ins Judenthum gänzlich zu entfernen, die Gemeinde ganz und gar für das Christenthum zu entscheiden. Da ist also ein Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Theile, so daß die Einheit des Ganzen nicht entgehn kann und doch hat Jemand den Gedanken aufgestellt, der Brief sei von 2 verschiedenen Verfassern; das Letzte von Paulus selbst geschrieben, das Andre in seinem Auftrage und Nahmen, doch hätte schwerlich daraus eine Einheit entstehn können, die sich so ergiebt. So müssen wir nun auch die Form zu erkennen suchen die weniger eine bestimmte Einheit hat, und da fänden wir den Gegensatz, es könne Jemand aus den Umgebungen heraus schreiben die ihn umgeben, oder aus den Umgebungen derer an die er schreibt. Offenbar muß das Letztere sich nur durch eine gewisse Bestimmtheit in den Beziehungen hervorthun, wogegen eine gewisse Unbestimmtheit im ersten Falle in der Natur der Sache liegt, denn wenn ich aus den Erfahrungen, die mich umgeben einem Andern Rathschläge gebe, so hat das keine Beziehungen auf ihn, es kann also nur auf unbestimmte Weise geschehn, dagegen was um ihn geschieht hat größere Beziehung auf ihn, darum auch größere Bestimmtheit. Das kann nur durch Vergleichung des Einzelnen sich zu erkennen geben und nicht so durch die Structur, wodurch
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man die Einheit in den mehr didaktischen Briefen findet. Hier ist ein Punkt der oft sehr leicht oft sehr schwer zu finden, immer aber wichtig ist, das ist der Ton und die Stimmung des Schreibenden, die gehört sehr wesentlich dazu, eine Reihe von Gedanken als Thatsache im Gemüthe des Andern zu verstehn, da gibt es rein persönliche Differenzen unabhängig von den jetzt aufgestellten. 2 Schriften können dieselbe didaktische Tendenz haben, der Gegenstand kann derselbe sein, ihn in demselben Geiste durchaus fesseln und derselben Gesinnung, Art und Weise können sie geschrieben sein, nun kann aber der Eine in ruhigem der Andre in bewegtem Tone geschrieben haben, was eine Folge des persönlichen Moments ist, da muß nun wohl unterschieden werden, denn eine Einzelheit hat andre Bedeutung, wenn ich sie auf einen aufgeregten Zustand beziehe, oder wenn sie dasteht, wenn ich den Schriftsteller in ruhigem Zustande gewesen weiß. Das gibt sich am ersten kund aus der Art und Weise, wie die Sprache behandelt wird; es entsteht Jedem schon von selbst eine verschiedene Behandlung der Sprache im einen und andern Falle, doch ist es unmöglich darüber bestimmte Regeln zu geben, eben weil es so sehr Sache des Gefühls ist. Nehmen wir den Fall einer objectiven Einheit in solcher brieflichen Darstellung und zu gleicher Zeit den Fall eines ruhigen Tons so wird man in der Behandlung der Sprache aber dennoch bedeutende Differenzen wahrnehmen können, es werden sich verschiedene Verfasser immer dadurch unterscheiden, daß der Eine mehr auf das Musicalische Rücksicht nimmt, der Andre weniger; daraus können in der Behandlung der Sprache bedeutende Differenzen entstehn, ohne daß der Punkt, den wir jetzt behandeln, im Spiele wäre. Doch keineswegs verhält es sich so, daß man sagen könnte, wenn der Schreibende sich in mehr aufgeregtem Zustande befindet so hat das nur Einfluß auf die Sprache in dieser oder jener Beziehung. Darin liegt das Charakteristische nicht, es gibt Menschen, die in aufgeregtem Zustande witzig, beredt sind wie sonst nicht, und das hat Einfluß auf das Musicalische. Andre verlieren ihren Sinn für Harmonie, also liegt in diesem Verhältnisse das Musicalische in der Sprache der Unterschied nicht. Fragen wir wodurch er sich eigentlich kundgibt, so ist das überwiegend Sache des Gefühls und es ist schwer auszumitteln, was derselbe im einen oder andern Zustande geschrieben; erst aus dieser Vergleichung läßt sich das Richtige bestimmen. Nun kann der Fall vorkommen, daß man nicht unmittelbar solche Vergleichung anstellen kann; das ist dann dasselbe wie bei der grammatischen Seite, wo man Parallelen suchen muß, das ist auch hier der Fall. Es gibt in der Art sich zu äußern ganz Individuelles und Persönliches, auf der andern Seite ein großes Gebiet von Analogien und hat man das gefunden, so hat man,
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was man bei der grammatischen Seite an den Parallelen hat. Ich kann sagen, aus Schriftstellern, die mit Jenem verwandt sind und mit denen ich vergleichen kann, kann ich schließen, daß hier Aehnlichkeit mit dem einen oder andern beider Fälle ist. Das nun ist leichter wenn man das Gefühl bei einer Schrift bekommt, indem man sie übersieht, daß eine Einheit des Tons darin sei, aber wenn man solche nicht festhalten kann, dann entstehn sehr oft Verschiedenheiten in der Beurtheilung einzelner Stellen, worüber in allgemeiner Weise nicht zu entscheiden. Es gibt gewisse Stimmungen die mit der Neigung zum Hyperbolischen verbunden sind und Jeder weiß wenn er solch dictum als solchen Fällen angehörig kennt, daß er mit quantitativem Unterschied es annehmen muß. Ist diese nun im Ganzen, so nicht leicht verschieden beurtheilt, nimt aber Jemand eine Stelle heraus und will ihr die Geltung beilegen, die sie ohne den Ton gehabt hatte, so wird man das unangemessen finden und so wenn man sie aus der Ð Ñ nimmt, wird man sie untauglich finden Dies oder Jenes auszusagen. Schlimmer ist es, wenn ein Wechsel von Stimmungen ist, da nimmt die eine der Stellen einen andern Schein an als die andre und fragen wir wie jener Wechsel zugehe, so haben wir hier besonders in Beziehung auf die Gattung der didaktischen Schriften des N.T. zwei klare Fälle als solche Differenz begründend; schrieb der Verfasser mehr aus seinem Zustande heraus und die Schrift ist nicht in Einem Zuge geschrieben so konnte er leicht verschiedene Stimmung haben, wenn in seinem Zustande unterdeß Veränderungen vorgegangen waren, ohne daß er dessen zu erwähnen brauchte; denn sie liegt nicht unter den Gegenständen, die er behandelt, daraus kann also eine Ungleichheit entstehn. Schreibt der Verfasser mehr den Zustand derer an die er schreibt vor Augen habend, da läßt sich eine Verschiedenheit des Tons entdecken, wenn die, an die er schreibt, eine Mehrheit sind und Ungleichheit unter ihnen Statt findet, da kann er einen andern Ton haben, wenn seine Rede sich auf die Einen oder auf die Andern bezieht. Wir haben in der Geschichte des Apostels Paulus die Möglichkeit beiderlei Fälle, denkt man sich den Zustand der Gefangenschaft des Apostels, und in ihr schreibend, so wird leicht zugegeben werden, daß er in diesem kann mit Andern so viel zu thun gehabt haben, daß er nicht ununterbrochen schreiben konnte, in einem Rechtsverlauf sind Veränderungen schnell und häufig, würde er nun unterbrochen befand sich aber in einem Rechtsverlauf, so konnten gar leicht momentane Veränderungen eintreten, die änderten seine Stimmung ab, aber sie hervortreten zu lassen ist keine Ursache, denn er 15 Ð
Ñ] Die Lesung „Gosse“ scheint grafisch möglich.
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schrieb nicht von sich selbst, aber die Folgen treten hervor und so kann man wo man sie findet auch den Schluß machen, hier sei der Zusammenhang unterbrochen und irgend eine Veränderung indeß vorgegangen. In der andern Beziehung sind die Corinther Briefe ein Beispiel. Das gibt sich auf die unmittelbarste Weise kund, daß in der Gemeinde bedeutende Differenzen, die sich auf den Apostel selbst bezogen, Statt gefunden, ein größeres und geringeres Anerkenntniß und Widerstreben; kommt er nun auf Gegenstände, die damit in Berührung stehn, so ist natürlich der Ton ein andrer, hat er es mit Verhältnissen zu thun wo Belehrungen noth sind, die er dem Einen oder Andern gebe, so spiegeln sich diese Differenzen darin und behandelt er didaktische Beziehungen und er kommt auf diese zurük so wird wiederum ein Wechsel der Stimmung eintreten. Die Sicherheit der Loesung der hermeneutischen Frage hängt wiederum ab von dem Grade der Kenntniß, die wir von den Verhältnissen selbst haben; je mehr sie fehlt, um so mehr schwankende Urtheile im Einzelnen und das ist überall zu erkennen. Vergegenwärtigen wir uns nun die verschiedenen Theile der ganzen Aufgabe und nehmen dazu, wie viel uns beim N.T. daran fehlt, was wir eigentlich immer voraussetzen müssen, wie weit wir entfernt sind, uns den ursprünglichen Lesern gleich stellen zu können, so ist zu begreifen, wie so lange und viel behandelt das Neue Testament ist und wie doch so große Differenzen im Einzelnen sind, zwischen denen Niemand auf völlig gültige Weise entscheiden kann. Gehn wir auf die Anfangs gestellte Duplicität zurück, wie einerseits das Ganze nur aus dem Einzelnen zu verstehn war, weil es Gesammtheit des Einzelnen ist, und wiederum das Einzelne aus dem Ganzen, sofern es von der Einheit eines Impulses ausgeht, wodurch alles Einzelne wenn gleich in verschiedenem Grade, begründet ist, so ist bei einem so unsichern Ausgange schwer zu glauben, die N.T. Exegese werde fertig werden und das Resultat so begründet erscheinen, daß auf neue Untersuchungen nicht zurükgegangen werden brauchte. Bei der Lage der Sache, in der sich in Beziehung auf gewisse Hauptpunkte nichts ändern läßt, denn Notizen über damalige Lage und Zustände der einzelnen Verfasser möchten wir wohl schwerlich bekommen, sehn wir, wie nothwendig bei dem N.T. das Ganze als Eines und jedes Einzelne als Besondres anzusehn ist. Das Ganze bildet eine bestimmte eigenthümliche Welt, denn was wir außer der Gesammtheit der N.T. Bücher noch an Documenten haben über die christlichen Zustände aus derselben Zeit ist nichts, Andeutungen in nichtchristlichen Schriften, von denen wir sagen müssen, da müssen wir erst das Medium kennen, durch welches der Verfasser gesehn; theils apokryphische Schriften, deren Zeitalter unbekannt ist und von keiner derselben ist mit Si-
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cherheit zu sagen, daß sie jene Zeit repräsentiren, theils in einzelnen Schriftstellern, bei denen nur zu berücksichtigen ist, wiefern man ihre Nachrichten als sicher oder unsicher anzusehn hat. Jenes ÐhabeÑ einen großen Reichthum außertestamentlicher fester Punkte, aber sind sie auch fest? Die Notiz der zweiten Gefangenschaft des Apostels Paulus zB wird überliefert. Einige sehn nun das als bestimmte historische Nachricht an, Andre als bloße Ueberlieferung, als Gedanke, der allmählich Thatsache geworden, früher nur exegetische Conjectur war. Geht man nämlich von den christlichen Schriftstellern der Zeit aus, aus der diese Ueberlieferungen sind, so sehn wir sie ausgegangen von der Vorstellung, daß Alles in der Schrift auf Eingebung des göttlichen Geistes beruhe, so müssen wir sagen, was auf des Verfassers Zustand hindeutet, das ist durch den göttlichen Geist entstanden, so muß es auch wahr geworden sein und sowie man sieht, daß die Nachricht einer 2ten Gefangenschaft immer mit einer Nachricht von einer Reise nach Spanien zusammenhängt, so deutet das zurük auf die Stelle im Paulus, wo er diese ankündigt, und so hat wahrscheinlich diese Erzählung ihren Grund in diesem. Nun ist kürzlich Jemand aufgestanden, der dieses nicht nur festgestellt, sondern auch einen kritischen Canon gegeben in Beziehung auf Alles dasjenige, was man seiner wahren Zeit nach in der ApostelGeschichte nicht nachweisen kann oder was offenbar aus andrer Zeit ist, das soll größtentheils in die Zeit nach der ersten Gefangenschaft fallen, wodurch denn auch eine ganz andre Ordnung der Paulinischen Briefe entsteht; es werden die spätesten Briefe die frühsten, und die jetzt die ersten fallen in die Zeit zwischen der ersten und zweiten Gefangenschaft, und die Briefe, die wir aus der Gefangenschaft haben sind theils in die erste theils in die zweite gesetzt. Da ist also ein ganz andres kritisches Element für die vergleichende Exegese, und will man die Schriften, die vor aus liegen benutzen, um daraus selbst sich eine Meinung zu entwickeln und man legt die eine oder andre Hypothese zum Grunde, so entsteht eine andre Exegese. So beruht die Exegese ganz und gar auf der Kritik, wie die hermeneutische Kunst die Basis für die Kritik sein muß. So haben wir wiederum solch gegenseitiges Verhältniß wie zwischen der grammatischen Seite und der psychologischen und technischen, und wie wir solch gegenseitiges Verhältniß in dem Verstehn des Einzelnen aus dem Ganzen, des Ganzen aus dem Einzelnen erkannt haben, und wie wir uns hier im Verhältnisse gegenseitiger Be5 wird] wird es 17–18 J. F. Köhler: Versuch über die Abfassungszeit der epistolischen Schriften im Neuen Testament und der Apokalypse, 1830 (SB 1073).
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dingtheit finden, so ist die Aufgabe unbestimmt und das gibt wiederum im Ganzen ganz eigenthümliche und besondre Resultate, denn man soll auf der einen Seite sagen, daß die Uebereinstimmung der Erklärung die Folge sein muß von der Gültigkeit der hermeneutischen Principien, aber wir sehn hier, es können dieselben hermeneutischen Principien befolgt werden, und bei verschiedenen zum Grunde gelegten Voraussetzungen werden dennoch die Resultate verschieden sein, so daß Gleichheit der Resultate auf der Identität der Voraussetzung zurückweist. Da müssen wir sagen, in dem Maaße man sagen kann, die Gleichheit der Resultate beruhe rein auf Anwendung richtiger hermeneutischer Principien, so müssen auf der andern Seite diese richtigen Resultate oft entscheiden, welche Voraussetzung die richtige sei, da durch deren Voraussetzung sie nur gewonnen werden. Da bekommen wir, wenn wir die Aufgabe zerfällen für das N.T. sehr complicirte Regeln, daß man alle Differenzen gegenwärtig haben muß, namentlich in Beziehung auf jedes Einzelne alle Voraussetzungen, die dabei concurriren, und sie nach einander zum Grunde legen und muß man sich da vorsehn; welches Resultat, wenn man von verschiedenen Voraussetzungen ausgeht am ersten mit dem unmittelbaren Zusammenhange übereinstimmt und ohne bestimmt in dieser Probe zu sein, kann man nicht sagen, daß man sichern Boden habe. In Beziehung auf die didaktischen Schriften kommt dazu auch noch, daß man nicht nur verstehn soll, was der Schriftsteller gesagt, sondern, daß es auch Facta gibt worauf das Gesagte sich bezieht und das Factum ausgemittelt werden soll. So schließt sich überall in der N.T. Exegese die Aufgabe der historischen Kritik an die hermeneutische und wir sagen, wir können nicht eher behaupten die hermeneutische Aufgabe sicher gelöst zu haben bis wir zugleich auch die Aufgabe der historischen Kritik gelöst. – Wenn nun über ein N.T. Buch, das in eine dieser aufgestellten Klassen gehört, Nichts gesagt ist, so kam das daher weil ich die Ueberzeugung hatte, daß am allerwenigsten hier eine hermeneutische Lösung gegeben werden könne, weil hier alle Schwierigkeiten in erhöhetem Maaße zusammentreffen, die alle übrigen N.T. Schriften nur zerstreut darbieten. Wir sind wiederum darauf geführt worden, daß eine Wechselwirkung zwischen Hermeneutik und Kritik Statt finde und oft die hermeneutische Operation vor der Lösung der kritischen Aufgabe nicht beginnen könne und diese kritische Aufgabe erst erkannt werden könne, wenn jene Operation vollbracht wäre. Diese Gegenseitigkeit ist nun allerdings allgemein, sie ist nicht etwas der Apokalypse besonderes, bei dieser ist aber dabei ein ganz andres Verhältniß. Die Frage über den Verfasser und das Zeitalter des Buchs wollen wir aus dem Spiele lassen; wenn wir seinen Inhalt be-
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trachten, so ist sie eine Beschreibung von Visionen, und fragt man sich, was hiebei die hermeneutische Aufgabe sei, so ist es keine andre als mit Bestimmtheit aus der Rede des Verfassers zu erkennen, was er gesehn. Eine ganz andre Frage ist, was das Gesehene bedeutet; das ist eine Auslegung wohl aber nicht mehr eigentlich der Schrift sondern der Thatsache dieses Sehens, wobei erst bestimmt werden muß, wie man diese Thatsache des Sehens anzusehn. Halten wir uns mit der hermeneutischen Aufgabe bei der Apokalypse nur in diesen Grenzen, so müssen wir doch schon sagen, daß sie eigentlich nicht aufzulösen. So wollen wir einmal die Vision des Petrus betrachten, die er hatte ehe er zu Cornelius ging. Von dieser haben wir zwey Relationen, einmal wird die Sache im Zusammenhange der Begebenheiten erzählt, wie Petrus zu Joppe war und durch sie bewogen nach Caesarea kam. Hiernach erzählt sie Petrus weiter als er sich über sein Eingehn in das Haus eines Allophyten vor der Gemeine zu Jerusalem rechtfertigte. Da finden nun 2 verschiedene Ansichten über die Thatsache Statt: wie das Factum in Joppe erzählt wird war Niemand dabei, Petrus war allein, hat er sie nun früher oder zuerst zu Jerusalem erzählt? Ist das eine wirkliche Vision gewesen oder nur eine Parabel? Wenn wir das Letzte annehmen und fragen in wie weit läßt sich die Vision aus der Beschreibung erkennen, so ist das die eigentliche hermeneutische Aufgabe; nun wird also gesagt, Petrus habe ein Tuch gesehn, worin sich befand eine Menge von verschiedenen Thieren, das wurde herab gelassen und hernach wieder hinauf gezogen, ohne daß Etwas zu Stande kam; das Wesen bestand im Gespräch darüber, in der Stimme, die an ihn gelangte und der Antwort, die er gab, da ist die Vision also Nebensache und die Realität nie zur Sprache gekommen. Die Stimme sagt: schlachte und iß, Petrus weigert sich, die Aufforderung wird wiederhohlt und die dreimalige Wiederhohlung gibt die starke Vermuthung, daß es nicht ein Factum sei, weil das eine so solenne Zahl. Sollen wir es als Factum annehmen, wie sollen wir verstehen, daß Petrus gesehn habe? sah er äußerlich oder innerlich? Das ist nicht zu entscheiden, nach der Genauigkeit der Worte können wir es nur für ein inneres nehmen, nach der Art und Weise der Erzählung nur für ein aeußeres. Wenn Petrus sagt, das Tuch wurde vom Himmel herabgelassen, so war er freilich auf dem Söller gewesen und hatte den Himmel über sich, doch konnte er es nur sehn als es in gewisser Entfernung war, das Herablassen vom Himmel sah er nicht. Nehmen wir es als ein äußeres Sehn, so ist es ein reales sehn ge10–11 Apostelgeschichte 10, 9–16 14 Allophyt oder Fremdstämmiger 13–15 Apostelgeschichte 11, 5–9 21–29 Siehe Apostelgeschichte 10, 9–16.
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wesen, oder nur ein scheinbares? Hätte er das Gesehene auch mit andern Sinnen wahrnehmen können? Mit den Händen die Thiere berühren u.s.w.? Darüber ist keine Entscheidung. Sagen wir, wenn wir das nicht für ein wirkliches Sehn halten sollten, so muß das aus der Erzählung hervorgehn, so setzen wir uns nicht genug aus unsrer Stelle heraus und zu entscheiden ist Nichts. So stellt es sich mit diesem Beispiele und eine klare Vorstellung bekommt man nur wenn man es als Erzählung nimmt, und das Thatsächliche nur die Ueberzeugung war, die im Petrus entstand und was in die Erzählung eingekleidet war; dann sind alle Anforderungen an sie nicht zu machen. Doch liegt das außer der hermeneutischen Aufgabe, in dieser fehlen die gehörigen Indicien. In der Apokalypse sind überall dieselben Fragen zu thun. Fragen wir was die hermeneutische Aufgabe ist, so ist sie nur so zu stellen, daß aus den Worten zu erkennen, was der Verfasser gesehn, da sind nur freilich von Einzelheiten bestimmte Beschreibungen und die Gegenstände genau angegeben, aber zu gleicher Zeit finden wir im Einzelnen eine gewisse doppelte Scenerie darin, Gegenstände darin die eine andre Art von Realität haben als die übrigen. Wenn da erzählt wird, Etwas sei gesehn worden und der Sehende habe einen Andern, der nicht außerhalb des Gesehenen bei ihm war, gefragt, was für Bewandniß Einzelnes habe, so hat mehr Realität Dies für ihn als jene unbestimmte Relation mit ihm. Geht man weiter und betrachtet den Ursprung und die Beschaffenheit des Gesehenen, so müssen wir in vielen Fällen sagen, soll dies ein wirkliches äußeres Sehn sein, ohne zu verlangen, daß die Gegenstände für einen andern Sinn sollten dagewesen sein als für das Gesicht, aber für das Gesicht doch, so ist dennoch oft nachzuweisen, daß es dem Auge in einer Einheit des Bildes nicht habe dargestellt werden können am wenigsten in der Bestimmtheit, mit der es dargestellt. Solche Indicationen wie diese sprechen ganz bestimmt dafür, daß es als innres Sehn aufzufassen; wollten wir das sagen, so würden wir auf ein Gebiet kommen, wovon wir keine Gesetze kennen und worin es uns an Erfahrung fehlt, um Gesetze zu erkennen. Also sind nur die Gestalten und die Verhältnisse, die der Verfasser schreibt als sein wirklich Gesehnes aufzufassen. Wenn diese Klarheit sollte so weit gehn, daß man ein Bild davon entwerfen könnte und das Ganze unter der Form eines Bildes zur Anschauung bringen, so wäre die unmittelbar hermeneutische Aufgabe gelöst, was hätte man dabei? Wir sehn, wir müßten über die hermeneutische Aufgabe in dieser Beziehung hinausgehn, wenn es ein Verstehn geben soll. Nun ist das aber nicht der ganze Inhalt, sondern es kommen 18–20 Offenbarung 7, 13–17, wo allergings der Älteste spricht, ohne vom Seher gefragt zu sein.
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auch Reden vor, wo also ein eigentliches Gebiet der Hermeneutik ist und diese beziehn sich im entgegengesetzen Verhältnisse zum Gesehenen. Die Schrift ist an die asiatischen Gemeinden gerichtet, und so müssen wir sagen, das sei die eigentliche Tendenz des Abschnitts, die Bilder seien die Decorationen; in dem andern Theile ist das Gesehene die Hauptsache und die Rede soll nur einzelne Indicationen einstreuen über des Gesehenen Bedeutung. Könnte man nun durch diese Indicationen allem Einzelnen eine bestimmte Bedeutung beilegen und das stimmte zusammen, so wäre das eben das vollkomne Verstehn, es wäre die Lösung der hermeneutischen Aufgabe in Beziehung auf die Verbindung beider des wirklich Gesprochenen und Gesehenen, mag beides ein äußeres oder ein inneres gewesen sein, doch sind von der Art die Indicationen nicht. Betrachten wir das Buch in Beziehung auf unsre letzte hermeneutische Aufgabe und fragen nach der Einheit desselben, so kann man gar nicht sagen, daß sie eigentlich existirt, als in der äußern Einheit des Buchs und der Identität der Person, die man voraussetzen muß wegen der Einheit des Buchs aber die Bilder selbst sind in gewissen Reihen vereinzelt und es ist keine Beziehung des einen auf das andre angegeben; wenn wir also in solcher Reihe Indicationen finden, die in gesprochenen Sätzen gegeben werden, so erstrecken sie sich nur über die nächsten Reihen, ob aber ein Zusammenhang zwischen dieser Reihe und der nächsten existirt, constirt nicht; zwar findet man zuweilen in einer Beziehungen auf eine frühere, das ist aber nicht durchgehends. Hier kann man gar kein Ziel der hermeneutischen Aufgabe absehn; es beruht Alles auf das was Sache der Kritik ist und da kommen freilich auch Fragen zur Sprache, wo es an den Bedingungen fehlt zu einer allgemein gültigen Antwort, also wenn wir sagen die Lebensmomente dieser Art, solch Sehn außerhalb der wirklichen Welt, sei es äußeres oder inneres, ist ein psychologisches Factum, wie ist es zu erklären? eine allgemein gültige Antwort würde freilich über die ganze Beschäftigung mit solchem Sehn entscheiden; beantwortet man nun so, dies sei nur ein Traum ähnlicher Zustand, und in ihm müsse die Seele gedacht werden, und da kann es denn Träume geben die wirklich einen moralischen oder religiösen Charakter haben, die also mehr sind, ebenso sehr aber auch die eitel sind, und in diese Analogie müßten wir nun die Apokalypse stellen, dann hängt die ganze Frage über die Beschäftigung mit dem Buche rein vom Inhalt ab, und sind da nun die ethischen und religiösen Elemente, die vorkommen, der Mühe werth, diesen ganzen Apparat von Visionen aufzuklären, so beschäftige man sich mit ihr, wenn sie 2–3 Offenbarung 2–3
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das aber nicht sind, so ist auch keine Nothwendigkeit das zu thun, dann sagen wir, die religiösen Elemente in der Apokalypse sind gar nicht solche, die wir nicht mit derselben Klarheit und Energie anderwärts ausgesprochen finden, und da wir sie so also haben, so brauchen wir den ganzen Apparat nicht zu durchforschen. Beantwortet man hingegen jene Frage anders, aus dem Standpunkte der Prophetie und sagt, wenn in solchen Thatsachen des Seelenlebens eine ethische und religiöse Haltung und Richtung wahrzunehmen ist, so ist vorauszusetzen, daß der visionäre Apparat aus religiösen Eingebungen hervorgegangen, da gibt man diesem Apparat prophetische Dignität; dann wird man in dem Apparat ein religiöses und geistigeres Leben gewahren und die Visionen als Steigerung dieses geistigen Lebens ansehn. Das wollen wir denn gelten lassen, und nur als Thatsache erwähnen wie bedeutende, gelehrte wie sachkundige Männer Ðnun dieÑ Beschäftigung dieses Buchs dahin gebracht hat, Gegenstände die zur Zeit Galbas und Neros vorgingen in ihnen vorhergesagt zu finden, aber wie die Sache liegt, ist an keine richtige Lösung zu denken, es kommt dabei nur auf andere Theorien an; der Eine sagt, wenn ein Gegenstand auf jene Weise beschrieben werde, wie doch auf die visionäre Weise geschieht, so müsse er selbst schon geschehen sein, der Andre folgert aus der genauen Beschreibung die prophetische Dignität des Buchs. So wie diese Verschiedenheit der Ansichten auf die Erklärung Einfluß hat, so wird auch keine allgemeine Erklärung Statt finden, sondern je eine andre die nur für die oder die für die paßt und so lange der Proceß zwischen beiden nicht entschieden ist, ist auch keine richtige Voraussetzung in Ansehung des Buchs möglich. Stellen wir uns in beide Hypothesen hinein und sagen, wir wollen gern die Möglichkeit zugeben, daß durch höhere Einwirkungen Visionen zu Stande kommen können von zukünftigen Ereignissen, aber soll man ihnen in bestimmten Fällen glauben, so muß man einen bestimmten Zweck sehn, und so nahe Voraussagungen, wie es die wären, wenn man glaubte, daß Begebenheiten die Roemischen Kaiser betreffend in der Apokalypse vorhergesagt werden, wären für Niemand gewesen, weil das Buch in dieser Zeit noch gar keine Verbreitung hatte, und dann waren doch die Beziehungen so wenig klar, daß auch die, die es gekannt, wenn es geschehn, nicht erkannt hätten, daß es schon vorhergesagt wäre, darum können wir keine Anwendung des Princips zugeben, wenn auch das Princip selbst. Wie stehts nun um die Klarheit, mit der bestimmte Begebenheiten nachgewiesen werden? Das geschieht in Indicationen die auf Zahlen beruhen aber wo soll man zu zählen anfangen, und welche Kenntniß soll man bei dem Sehenden selbst voraussetzen, oder soll man sagen, es sei nicht nothwendig anzunehmen,
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daß er selbst es verstanden, dann kommen wir in ein Gebiet, wo alle Anwendung von Regeln aufhört. So ist die Erklärung von jenen Indicationen aus rein willkührlich, weil wir die Notizen die der Verfasser im Sinne hatte, nicht kennen, wir gehn von unsern aus, er von den seinen, und so haben wir gar keinen Punkt, an den wir die Erklärung anschließen könnten. Nehmen wir das zusammen, so müssen wir sagen, wir sehn nicht ein, wie man zu Werke gehn müsse wie an der Apokalypse die hermeneutische Aufgabe zu lösen sei, es bleibt nichts übrig, als die ursprüngliche Aufgabe, das Gesehene aus der Beschreibung richtig zu erkennen, und diese Aufgabe beschränkt sich weil das Zusammensehn nicht überall kann dargethan werden; es erscheint das Sehn partiell, weil es als Eines nicht konnte dargestellt werden. Schon die Erklärung des Einzelnen durch die Indicationen läßt sich nicht verfolgen und doch beruht auf solchen Anknüpfungen an universalhistorische Andeutungen die ganze Erklärung, also auf ganz unbestimmten Punkten, so mag man auch anfangen wo man will, man wird nie zu Stande kommen. Ist dies die wirkliche Lage der Sache, so erzeugt sie eine andre Frage, was für eine Bestimmung hat das Buch im N.T. und wie läßt es sich rechtfertigen, daß es in den Canon des N.T. gekommen; wollen wir diesen als nicht historisch sondern als Werk des göttlichen Geistes ansehn, so ist keine andre Antwort, als damit ein beständiges Räthsel darin sein solle, wozu das aber? als historisch ihn betrachtet sagen wir, das hängt mit gewissen Ansichten zusammen die bei seiner Bildung in den Gemeinden herrschten, dann aber beruht es auf dem Streben eine Analogie des N.T.’s mit dem Alten hervorzubringen, um ein prophetisches Buch im N.T. zu haben. Es sind nämlich neue Bemühungen über die Apokalypse gemacht, deren Scharfsinn in den Untersuchungen nicht zu verkennen, aber wenn wir das ganze Gebiet der Hermeneutik betrachten, wie viel da noch zu thun und wie wenig Aussicht bei diesem Buche ist, auf etwas Weiteres zu kommen als jenen ganz beschränkten Raum, so ist es nur zu bedauern, daß so viel Zeit, Anstrengung und Scharfsinn verschwendet, aber das ist wenigstens ein nüzliches Gegengewicht gegen die bisherige Anwendung, bei der man in ihr eine Berechnung und Andeutung auf die fernere Zukunft sieht. Vergleichen wir beide in Beziehung auf die Willkührlichkeit der Hypothesen, so ist die Differenz eben nicht groß, es ist nur eine Verschiedenheit der Grundansichten; bei den Einen ist es die, es könne dieser Apparat nicht von nahe bevorstehenden Ðoder garÑ bereits vergangenen Begebenheiten beigebracht worden sein; bei den Andern die, was mit einer gewissen Bestimtheit im Einzelnen gesagt ist, von dem lasse sich nicht glauben, daß man sich darauf beziehn werde, wenn wirklich das Geweissagte
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eingetreten sei nach langen, langen Jahrhunderten; so müsse es sich auf Nahes oder schon Geschehenes sich beziehn. Diese Hypothesen sind die Grunddifferenz, in der Anwendung ist bei beiden gleich viel Willkührlichkeit, wie es denn nicht anders möglich ist. Betrachten wir die Hauptaufgaben der N.T. Hermeneutik in ihren weitern Beziehungen in ihrer Verbindung mit der historischen Kritik, so werden wir sagen, es sei da noch so viel zu leisten, daß man nicht nöthig hat über das eigentlich canonische hinauszugehn, denn diesen letztern Nahmen kann ich in dogmatischer Beziehung der Apokalypse nicht beilegen, weil sie zu wenig eigenthümlich religiösen Stoff enthält. Jedes einzelne der N.T. Bücher ermangelt für sich betrachtet der nöthigen Hülfsmittel, um auf vollkommen sichre Weise die hermeneutischen Operationen beginnen zu können, weil wir keine bestimmte Data über die Zeit, worin und die einzelnen Umstände, unter denen sie geworden, haben[;] vielmehr was vorausgesetzt werden muß, müssen wir aus der Schrift selbst entnehmen, ja es kommt nicht einmal die ganze Sammlung der einzelnen Schriften bedeutend zu Hülfe, für die apostolischen Briefe ist nur die ApostelGeschichte und sie stellt uns gar nicht in die Mitte der Dinge, daß sie Jenes leisten könnte. Die Verhältnisse, welche die Briefe veranlaßten, haben wir in der ApostelelGeschichte nicht, nur im Briefe selbst lassen sie sich erkennen. Da muß also die Hermeneutik in dem Einzelnen auf der einen Seite über das Buch hinausgehn und die unbestimmte Aufgabe lösen, wie müssen die Umstände gewesen sein, damit diese Aeußerungen vorkommen konnten. Dies Letzte bezieht sich auf die Aufgabe der historischen Kritik, aber die hermeneutischen Resultate müssen in Beziehung auf diese Aufgabe gestellt werden können und die hermeneutische Arbeit ist an einem Buche nicht vollendet, wenn sie dies nicht als besondre Aufgabe mit gehöriger Kunstmäßigkeit behandelt. Dabei wird etwas Andres mit zum Grunde liegen, nämlich eine Vorstellung von dem Gesammtzustande des christlichen im apostolischen Zeitalter, für die wird freilich das Resultat wenig Vortheil bringen, aber man kann damit doch der historischen Kritik zu Hülfe kommen. Dazu kann man ÐnunÑ aus anderweitigen Zeugnissen rückwärts schließen, aber dies hat auf unrechte Weise geschehn eben so viel Nachtheil gebracht den hermeneutischen Operationen, als es auf rechte Weise geschehn ihre Grundlage sein muß. Diese Sache ist nun noch lange nicht beendigt, sondern betrachtet man die Geschichte der Wissenschaft, so sieht man sie geht im Zickzack. Wir haben aus spätern Zeiten Notizen von der Formation des Christenthums, die man unter dem allgemeinen Nahmen des Gnosticism kennt, nun gibt es in den apostolischen Schriften eine Menge schwieriger Stellen, welche darauf führen, besondre Verhältnisse anzu-
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nehmen, die ihnen zum Grunde gelegen haben müssen, Abweichungen vom richtigen Typus, die auf diese Stellen sich beziehn. Nun hat man geschlossen, wenn der Gnosticism schon da gewesen wäre, so könnten sie auf ihn sich beziehn, da solches ist so ist er auch wohl schon da gewesen, und so wurde daraus ein hermeneutisches Princip. Später wurde die Probe gemacht und rein hermeneutisch betrachtet erschien er nicht als das gehörige Fundament, und im größeren Zusammenhange betrachtet, so mußte wohl, wenn der Gnosticism eben so ausgebildet schon gewesen wäre, die Polemik eine ganz andre sein, und so hat man gesag, der Gnosticism sei im N.T. nicht zu finden. Da aber das nun ein so weiter Ausdruck ist, so hat man endlich angenommen, ihm Verwandtes liege zum Grunde und so ging man auf die andre Seite zurück, also ein Zikzak bildete sich, und wo der Punkt endlich liege, wo man aufhören werde, ist gar nicht zu bestimmen. Fragen wir, wie also vom gegenwärtigen Punkte aus die N.T. Hermeneutik betrieben werden [solle], um nach beiden Seiten hin den Erwartungen möglichst zu entsprechen, die sie erfüllen soll und vollständig nicht erfüllen kann, weil ihr die nöthigen Voraussetzungen fehlen, darum muß man immer die entgegengesetzten Richtungen mit einander verbinden. Einmal, wenn man jedes N.T. Buch für sich betrachtet, das ist der allgemeinste Canon, der aber nicht eigentlich N.T.lich ist, so muß man immer die beiden Richtungen, das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen zu erklären, verbinden, und man ist nicht eher zu irgend einem Resultat gekommen, bis nicht beide im Resultat ihre Befriedigung finden; dies setzt eine beständige Recapitulation voraus. Das Erste soll nun sein die allgemeine Uebersicht, wodurch uns die Totalität anschaulich werde, die Structur des Ganzen anzusehn und eine bestimmte Formel dafür zu finden, aber wenn nun gerade die Stellen, als Einzelne, am dunkelsten sind, von denen man aus der Uebersicht sieht, daß sie die Construction der Hauptpunkte in sich enthalten, so ist die Lage so übel, daß kaum zu glauben, auf ein befriedigendes Resultat kommen zu können. Das ist bei vielen N.T. Büchern der Fall gewesen, weil man der Betrachtung der Stellen außerhalb des Zusammenhangs und durch das, was daraus gemacht war, zu viel eingeräumt. Dies ist in der profanen Literatur lange nicht so arg. Da ist nun die Hauptregel die, daß man Alles, was auf diese Weise uns vorschwebt aus der vortheologischen Lebensperiode, Alles dieses beseitigen muß. Die Ausübung dieser Regel wird auf gewisse Weise dadurch erleichtert, daß bei jener Behandlungsweise einzelner Stellen in ihrer dogmatischen Dignität außerhalb des Zu27 gerade] gerade, aber wenn nun
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sammenhangs die kirchliche Uebersetzung zum Grunde liegt, während die hermeneutische Behandlung nur den Grundtext zum Gegenstande hat, dadurch werden jene schon in die Ferne gerückt und diese Cautel auszuüben erleichtert. Wenn nun in irgend einer Schrift der Stelle, die den Schlüssel zum Ganzen enthält, eine nicht durch Störungen der Art bewirkte Dunkelheit einwohnt, so ist die ganze Stelle eine der schwierigsten; denn nicht leicht wird eine Methode gefunden werden, diese Dunkelheit mit Sicherheit aufzuhellen. Aber das ist eine Voraussetzung, die nicht gemacht werden kann, daß solche Stellen vorkommen werden, wir müßten denn Einem, der geschrieben, eine solche Unfähigkeit in Beziehung auf die Sprache beilegen, bei der er eigentlich nicht hätte schreiben sollen. Hier muß auf ein häufig Vorkommendes aufmerksam gemacht werden. Die N.T. Schriftsteller stehn Alle im Credit, nicht literarische Männer gewesen zu sein, außer Paulus, ja das wird gesteigert und man sagt, „man muß sie als solche ansehn, die mit der Sprache gar nicht so umzugehn wissen, um sich deutlich zu machen“, und wenn der Exeget die Auslegungen widerlegt, die von einem PartheiInterresse aus gemacht sind, indem er sagt „es läßt sich nicht denken, daß Jemand sollte so geschrieben haben wenn das seine Meinung war“ oder „ist das die Meinung des Schriftstellers gewesen, so konnte er nie wegen des Orts an dem sie stehn, so sie ausdrücken“ dann sagt man oft, das ist viel zu kunstgemäß. Doch will man sie damit nur aus den allgemeinen Regeln ausnehmen, sie jeder Willkühr Preis geben. Dies ist eine ganz falsche Anwendung der Thatsache, das Factum wollen wir gelten lassen, die N.T. Schriftsteller hätten nicht literarische Bildung gehabt, wenn wir sie aber zu der Classe der ersten Verkündiger des Christenthums, die von desselben Principien auf eminente Weise durchdrungen waren, und die grade die gewesen, die bewirkt, daß das Christenthum seine bestimmte Stelle in der Welt einnahm, so ist offenbar das durchaus nicht anzunehmen. Da kommt nun freilich noch ein andrer Umstand in Betracht, man sagt, wir wollen jene Dunkelheit nicht aus Unfähigkeit des Denkens oder Unfähigkeit der Gedankenmittheilung durch die Sprache hervor gegangen wissen, aber Griechisch mußten sie sprechen, das ihre eigentliche Sprache nicht war; diese Nothwendigkeit in eine andre Sprache überzugehn, ist der eigentliche Grund jener Unfähigkeit. Aber man kann gar nicht nachweisen, daß irgend ein N.T. Schriftsteller hätte in den Fall kommen können, Griechisch schreiben zu müssen, wenn nicht früher schon er in den Fall gekommen, es reden zu müssen. Schon die erste Gemeinde in Jerusalem war gemischt aus Nationalen, den eigentlich genannten Ebreern, und aus Hellenisten, aus Eingewanderten aus Gegenden, wo Griechisch gesprochen wurde und
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wo jener Dialekt schon gebildet war, den man den N.T.lichen nennen kann. Es läßt sich vielmehr denken, daß die Apostel in ihrem Lehramt selbst in Jerusalem sich mehr haben Griechisch ausdrücken müssen, somit ist also auch dieser Grund abgewiesen. Allerdings auf Kunstmäßigkeit in der Structur oder im Ausdruck den rhetorischen Regeln gemäß, können sich nicht Anspruch machen, aber daß sie nicht sollten die Gedankenentwiklung den natürlichen Regeln des Denkens gemäß, die bei jedem Menschen vorauszusetzen, hätten vollbringen und dann auch verständlich wenn auch in vielleicht nicht angeborner, sicher aber oft gebrauchter Sprache, ausdrücken gekonnt haben, ist durchaus nicht anzunehmen. – Auf diese Weise muß jede Erklärung, jede Hypothese erst Probe halten. Wohl ist es möglich, daß eine N.T. Schrift in solchen Hauptstellen eine unüberwindliche Dunkelheit habe, das kann aber nur Eines bewirken, nämlich sofern die didaktischen Schriften immer auf bestimmte Verhältnisse zurückgehn, sei es des Schreibenden oder der Addresse, die uns aber unbekannt sind. Da ist die Aufgabe also eine doppelte, die Stellen von der Dunkelheit mehr zu befreien durch die hermeneutische Operation im Einzelnen und ein Licht aufzustecken über die Verhältnisse, die obgewaltet und bevor nicht solche hypothetische Auffassung durch Erklärung solcher Stellen bestätigt ist, die das Ganze deutlich machen, so kann man nicht sagen, daß ein sicherer Weg zur Verfolgung der hermeneutischen Operation eingeschlagen sei. Das Zweite was unter jenem allgemeinen Canon zu verstehn, ist dieses, man muß die entgegengesetzten Richtungen verbreiten so daß man fortschreitet aus der allgemeinen Anschauung des Ganzen in das Einzelne, und zurückgeht von der allgemeinen Anschauung auf die allgemeinen Verhältnisse. Hier ist also gefodert ein Zurückgehn über die Schrift hinaus, welches die Richtung auf die Kritik und ihr hypothetisches Fundament ist. Wo solch ein Räthsel ist, da kann es nur durch diese Verbindung der entgegengesetzten Richtungen gelöst werden. Das Dritte rührt davon her daß das N.T. eine Sammlung verschiedener Schriften ist. Da sind zweierlei Richtungen; die ganze Sammlung ist einmal die Production einer in die Geschichte eingetretenen neuen ethischen Potenz denn jedes Einzelne ist ein Ganzes für sich aus speciellen Relationen und Situationen entstanden, da verhält sich offenbar alles Uebrige zu jeder einzelnen Schrift, wie der natürliche Ort, aus dem die Parallelen zu nehmen sind für die hermeneutische Aufgabe im Einzelnen; aber von der andern Seite ist die Aufgabe nicht zu verkennen, daß wenn wir bei einer Schrift die Verhältnisse uns erklären die zum Grunde gelegen, die Resultate der Operation von allen N.T. Schriften zusammenstimmen, so daß sie ein Bild geben des damaligen christlichen Zustands als Einheit; denn
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daraus ist das Ganze als solches hervorgegangen. Ohne diese Probe ist keine Sicherheit, aber das ist noch gar sehr vernachlässigt. Die Hypothese eines Urevangelii ist Resultat solcher rückgängiger Operationen. Man hat nämlich die vielen übereinstimmenden Stellen der Evangelien gefunden und zusammengenommen und hat sich gefragt, wie sie wohl entstanden? Das Princip nun das man fand, ist nun in seiner mathematischen Natur dürftig und zu sehr abstracter Natur; man sagt nämlich, was in den Evangelien das Uebereinstimmende ist, ist das Frühere, was Jedem eigenthümlich ist das Spätere. Jenes nun bildet ein Aggregat von einzelnen Elementen in der größtmöglichen Dürftigkeit, das soll nun mit Uebereinstimmung der ersten Verkündiger des Christenthums als Schema aufgestellt sein, dessen Erweiterung wie man voraussetzte, überall und von jedem Lehrer werde vorgetragen werden. Macht man damit die Probe, so ist bei jener Annahme zunächst das Evangelium Johannes nicht zu begreifen, wie dieser seine Zustimmung zu jenem Evangelio sollte gegeben haben, ohngeachtet in ihm eine Ansicht darüber war, wie sie seinem Evangelio zu Grunde liegt. Das steht also mit jenem Urevangelio in Widerspruch und so geht die Bedingung, die vorausgesetzt werden muß, um die Autorität zu erklären jenes Urevangelii, nämlich einer Zustimmung der Apostel rein verloren. Ferner nehmen wir die ApostelGeschichte und fragen, in welche Zeit ein solcher Act der Apostel fallen sollte? und finden wir da ein solches Verhältniß, aus dem die Wahrscheinlichkeit solches Actes hervorgehn könnte? Nein auch nicht die geringste Spur, da doch oft genug Gelegenheit war wo Lucas desselben hätte erwähnen können – besonders wo er von den Quellen seiner Arbeit spricht. (ÐC.Ñ) –. So ist kaum die Möglichkeit dieser Hypothese zu denken. So wie man jene Aufgabe stellt, bewährt sich diese Annahme durchaus nicht und alle aus dem Einzelnen hervorgehenden Hypothesen über die zum Grunde liegenden Verhältnisse werden scheitern, sobald man das Ganze zusammenschaut, aber das wird durch sie deutlich werden, daß man noch gar weit entfernt ist, der vollkomnen Lösung der hermeneutischen Aufgabe auch nur nahe zu stehn. Hier ist noch ein andrer Punkt besonders in Beziehung auf die didaktischen Schriften, der eine Quelle von Schwierigkeiten ist und den man deshalb bei der Erklärung immer im Auge haben muß. Die schriftliche Mittheilung in jener Zeit ist nur secondär durchaus und in jeder Beziehung; in der Regel sind die Schriften nur berechnet für solche,
35 secondär] lies secundär 23–25 Vgl. Lukas 1, 1–4.
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mit denen ein mündlicher Verkehr schon Statt gefunden, und auf Solches beziehn sich nicht nur die Paulinischen sondern auch die katholischen setzen wenigstens die mündliche Verkündigung des Christenthums voraus und zwar wie sie von gewissen ihnen nicht unbekannten Personen ausgegangen und indem ursprünglich Dieses etwas Gemeinschaftliches war, so 5 konnte sich Jeder ohne Furcht nicht oder mißverstanden zu werden darauf beziehn und so muß für uns wiederum Dunkelheit entstehn, und überall, wo man auf solche Stellen stößt, ist diese primitive Verkündigung vorauszusetzen und ist eben derselben Art und Weise durchaus zu erkennen, um von da zurück zu schließen. So ist also die Verbindung der ent- 10 gegengesetzten Richtungen immer anzuwenden und wenn vielleicht weniger bei profanen Schriften, so doch vorzugsweise, durchaus und überall im Neuen Testamente. –
Kritik K r i t i k . Bei dieser Wissenschaft ist es zuerst eine schwierige Aufgabe sich nur erst über den Gegenstand gehörig zu orientiren. Wenn wir mehr Zeit hätten, so wäre es nicht ohne Interresse zu verfolgen, wie die Benennung im Verlaufe der Zeit sich modificirt hat, aber es geht nicht, wir können nur auf die gegenwärtige Lage der Dinge sehn. Fassen wir den Ausdruck etymologisch, so kommt zweierlei vor Augen, das Eine, daß Kritik in irgend einem Sinne ein Gericht ist; das Andre, daß es eine Vergleichung sei, beides fällt zuweilen zusammen, wie es zuweilen mehr auseinandergeht. Das Wort nun wie es ein terminus technicus geworden, ist schwerlich als eine wirkliche Einheit zu fassen; wir gebrauchen es in Beziehung auf wissenschaftliche Werke wie auf Kunstwerke und fassen wir diese doppelte Beziehung zusammen, so möchte für die Kritik ein Ausdruk von Friedrich August Wolff wohl nicht übel sein, nämlich der der d o c t r i n a l e n Kritik. Die eigentliche Tendenz ist immer einzelne Productionen mit ihrer Idee zu vergleichen, das ist das Gericht[,] aber dann auch Einzelnes in Beziehung auf andres Einzelnes zu betrachten und das ist das Vergleichende, aber beides geht in Eines zusammen, bildet Eine Doctrin, 9 eben] folgen drei senkrechte Striche, deren Bedeutung nicht klar ist. Rand
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15 Hier setzt Kalbs Nachschrift (mit Bl. 124) wieder ein. 26–28 F. A. Wolf nennt zunächst die „ p h i l o l o g i s c h e Kritik, mit welcher zur Beurtheilung der behandelten Materien oft eine d o c t r i n a l e Kritik, und bei Schriften, die auf Schönheit des Vortrags Anspruch machen, die r h e t o r i s c h e oder […] ä s t h e t i s c h e zu verbinden ist“ (Darstellung der Alterthumswissenschaft, S. 38 f.).
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und so bleibt noch die historische und die philologische Kritik. Der historischen Kritik Aufgabe ist eigentlich, wenn man sie so gut als möglich als Einheit zusammenfassen will, aus Relationen die Thatsachen zu construiren und also zu bestimmen, wie sich Relation zur Thatsache verhalte. Betrachten wir endlich die philologische Kritik, so zeigt sie an sich wiederum gar keine Einheit, sondern theilt sich in die höhere und niedere sogar; aber fragt man, was ist die niedere und was die höhere? so wird die Antwort schwerlich immer dieselbe sein; bisweilen selbst bei Theoretikern die auf Wissenschaftlichkeit Anspruch machen, lautet sie sehr mechanisch; sie hat es mit Schriften [zu thun] und gewöhnlich ist dabei die Einschränkung, mit Schriften des Alterthums oder wohl nur mit Schriften des classischen Alterthums; das ist der gemeinschaftliche Begriff und dann: die Kritik hat mit ihnen zu thun in Beziehung auf ihre Aechtheit. Das ist nun auch wieder ein schwieriger Begriff, denn wenn man ihn anwendet, so kommt bisweilen himmelweit Verschiednes heraus, nämlich man versteht wohl darunter, ob eine Schrift von dem Verfasser herrührt, dem sie beigelegt wird, wobei indeß ein großer Unterschied ist ob die Schrift sich selbst dem Verfasser beilegt, ob die Beilegung ein Bestandtheil der Schrift ist, oder ob sie von Andern beigelegt wird. Wenn man sagt der zweite Brief des Apostel Petrus ist unächt, so ist der Fall der, daß die Beilegung der Schrift an den Verfasser ein Bestandtheil der Schrift selbst ist; aber wenn Jemand sagt, das Evangelium des Apostel Matthäus ist unächt, so meint er zwar dasselbe, aber die Sache ist verschieden, weil die Bedingung nicht zur Sache selbst gehört, denn die Ueberschrift gehört nicht zur Schrift, während die Begrüßung zum Briefe selbst gehört, also da ist eigentlich die Frage nur die über die Wahrheit der Ueberschrift, aber die Schrift selbst betrifft die Frage eigentlich ja gar nicht, sondern die Frage ist nur diese, hat der Recht gehabt, der diese Schrift so bennant? und bezeichnet der Nahme das, was wir uns dabei denken, da ist es ÐunrechtÑ die Untersuchung zu bezeichnen „von der Aechtheit und Unächtheit der Schrift“, aber Niemand bezeichnet sie anders, und so trägt die Bezeichnung etwas Mangelhaftes in sich indem sie verschiedene Dinge nicht unterscheidet. Das ist nun das Gemeinsame, da wird nun gesagt, wenn die Frage nach der Unächtheit oder Aechtheit nur einzelne Buchstaben und Worte betrifft, so heißt sie die niedere, wenn die ganze Schrift und Theile der ganzen Schrift, so die höhere. Das ist eine ganz mechanische Scheidung, die sich durchaus gar nicht halten läßt; sind die Worte nicht auch Theile der Sprache und kann nicht sehr oft die Aechtheit und 30 zu] zu zu
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Unächtheit eines Worts von größerer Bedeutung sein als die eines ganzen Theils. Ein Socinianischer Theologe hat die Hypothese aufgestellt und in einer eignen Schrift zu nicht unbedeutendem Grade der Wahrscheinlichkeit gebracht, daß im Anfange des Evangeliums Johannes das Wort ûeoÁw (hn o logow) falsch und vielmehr ûeoyÄ zu lesen wäre, indem er aus den Schriften der Kirchenväter wahrscheinlich macht, daß sie, die alle älter als unsre Handschriften sind, so gelesen; das soll also zur niedern Kritik gehören. Wir haben dagegen den Abschnitt von der Ehebrecherin, der bezweifelt wird, und weil das ein Theil der Schrift sein soll, soll er zur höhern Kritik gehören, und doch ist Dies leichter zu missen und lange nicht so wichtig als Jenes. Nun sind offenbar Fälle, in denen dies so in einander geht, daß es gar nicht mehr zu unterscheiden, nämlich wenn Jemand sagt, ein Wort sei eigentlich kein Theil einer Schrift, und man nimmt die Sache innerlich, weil die Schrift eine Gedankenreihe sei, und die einzelnen Theile also Gedanken, ein Wort sei aber kein Gedanke, das wäre ein Satz, also wenn von Sätzen die Rede wäre wäre man im Gebiet der höheren, wo nur von Elementen derselben der niedern Kritik. Das läßt sich durchaus nicht so scheiden, denn es beruht die Frage über die Aechtheit oder Unächtheit eines Satzes ÐnichtÑ lediglich auf der Frage über die Aechtheit oder Unächtheit eines Wortes. Das ist der Fall überall wo ein Satz fehlt, wo er etwa durch das Springen der Augen ausgelassen ist, da kann man zweifeln ob das Dasein des Uebrigen nicht durch ein Einschleusen einiger Worte aus dem Rande in den Text erklärt werden könne. Wie sollen wir also da begrenzen? Dies ist eine Art zu betrachten, die ungenügend ist, wenn da kein andrer Unterschied ist, ist es besser den ganzen Unterschied abzuwerfen. Sehn wir jene beiden Fälle aber von einer andern Seite an, so müssen wir sagen, um über die Aechtheit oder Unächtheit des Worts ûeoÁw zu urtheilen gehört eine größere Mannigfaltigkeit von Operationen und Thätigkeiten von höherer Art als über die Aechtheit oder Unächtheit des Abschnitts über die Ehebrecherin zu urtheilen, denn das kann nur entschieden werden auf äußere Weise, indem man den Werth der Handschriften die den Satz haben vergleicht, und anderwärts die Spur aufsucht, wie früh oder wie spät er vorkomme, während in unsern Handschriften keine Spur vorkommen mag von ûeoyÄ, aber da müssen wir Manches gelesen und untersucht haben, um so darüber zu reden, dazu gehört also mehr als eine bloße Abwägung von Zeugen. Oft sind die Ausdrücke also sogar falsch wenn sie so bestimmt werden. Nun 2–8 Gemeint ist Samuel Crell mit seiner 1726 anonym publizierten Schrift: ,Initium evangelii S. Joannis apostoli ex antiquitate ecclesiastica restitutum indidemque nova ratione illustratum. Per L. M. Artemonium‘ (SB 480). 8 Johannes 7,53–8,11
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ist von selbst klar daß wir zur richtigen Auffassung der philologischen Kritik an und für sich schwerlich kommen werden und zu der hergebrachten Theilung, wenn wir nicht ihr Verhältniß zu den andern Disciplinen, die den Nahmen Kritik führen, betrachten. Da müssen wir also anfangen die philologische Kritik in ihrer Aufgabe mit dem zu vergleichen was wir historische Kritik nennen und doctrinale Kritik nennen wollen oder die recensirende. Wenn wir die Sache weiter treiben wollen so werden wir sagen, auch diese Theilung werden wir eben so wenig recht verstehn können, wenn wir nicht noch weiter rückwärts gehn und fragen was Kritik in allen den verschiedenen Sinnen in Beziehung auf die wissenschaftliche Aufgabe ist und wie sie zu dieser steht? aber ob wir so weit zurückgehn können und müssen muß der Erfolg der Sache lehren, nämlich wenn wir nun durch die bloße Vergleichung dieser verschiedenen Arten des Gebrauchs der Kritik so weit kommen, daß wir von der philologischen Kritik eine genügende Erklärung geben können, die zugleich das Princip ihrer Theilung enthält, so fragen wir nicht weiter, weil die fernere Untersuchung höher sein würde als wir jetzt brauchen, fänden wir aber bestimmte Indicationen das Verhältniß zum gesammten wissenschaftlichen Gebiete aufzufinden, so werden wir zurückgehn können ohne viel Zeit zu verschwenden. So wie die Sache liegt, werden wir die Frage so stellen, womit hat die philologische Kritik mehr Verwandtschaft, mit der doctrinalen oder historischen? Nun wollen wir alle diese einzelnen Aufgaben, ohne sie im Verhältnisse zu einander zu betrachten, vorläufig als reines Aggregat ansehn. Zur philologischen Kritik gehört also, wo uns in demselben Werke Verschiedenheiten aufstoßen, die nicht mit einander bestehn können, das Richtige sollen wir wählen, das Unrichtige ausstoßen, und aus den verschiedenen Arten, wie die Schrift erscheint, die ursprüngliche Gestalt möglichst ausmitteln, und eine Schrift in ihren ursprünglichen Lebenszusammenhang stellen, also entscheiden, ob sie eine That Dieses oder Jenes sei, oder eine That von Diesem oder nicht von Diesem, und in dem Falle wo von dem Verfasser nicht die Rede doch von der Zeit; dieses wird das Aggregat machen, das der philologischen Kritik angehört. Nun fragen wir, wie stehts mit der doctinalen oder recensirenden Kritik? Deren Geschäft besteht darin, Werke von Männern in Beziehung auf ihren Werth richtig zu schätzen; nun möchte ich sagen, ist auch der Ausdruk Werk vielleicht zu eng, denn sieht man auf die Differenz, die der Sprachgebrauch zwischen Werk und Handlung sieht, so kann es auch eine Kritik von Handlungen geben, und sofern sie auf Principien zurückgebracht sind, so sind sie wissenschaftlich, und das müssen wir nun auch noch hineinnehmen. Der Ausdruck Werke schließt aber literarische Wer-
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ke in sich wie Werke der Kunst in allen verschiedenen Beziehungen, ja wir werden sagen müssen, wenn wir die Sache vollständig auffassen wollen, so können wir auch die mechanischen Künste nicht ausschließen, ebenso wie auf der andern Seite nicht die bloße Anordnung; also alle menschlichen Productionen vom Mechanischen an durch die Gebiete der Kunst und Wissenschaft ihrem Werthe nach zu schätzen und dieses demnächst auf die Handlungen zu übertragen, wenn sie auch nicht Werke seien, sofern sie die Elemente eines gemeinsamen Werks sind. Fragen wir, wonach erfolgt die Schätzung so sagen wir, hier tritt das Verhältniß ein, daß für jedes menschliche Werk ein Urbild sei und nach diesem müsse das Einzelne als Erscheinung beurtheilt werden; da ist eine Duplicität nicht zu übersehn; denn bisweilen ist die Frage, hat der Urheber dasselbe Urbild als der Beurtheiler gehabt und das Verhältniß ist ein andres, wenn nicht so aus der ersten Schätzung eine zweite hervorginge, nämlich den Urheber zu schätzen darnach ob er ein Urbild hatte oder nicht, aber auf dies Verhältniß bezieht sich die Aufgabe und Dies geht durch das ganze Gebiet durch. Ich muß bei einem mechanischen Werke sagen können, was zur Vollkommenheit desselben gehöre und das kann ich nicht eher, als bis das Aggregat von Vollkommenheiten zum Ganzen geworden. Das ist das Urbild, und so ist die Praxis immer dieselbe, die Gegenstände sind verschieden. Das ist im Gebiete der Kunst von dem mechanischen an wie in dem der Wissenschaft. Ich muß das Werk unter eine gewisse Gattung bringen, ihm einen gewissen Zweck beilegen und es fragt sich dann, wiefern es seinen Zwek erreicht und seiner Gattung gemäß ist. Wollen wir dasselbe auf bloße Handlungen, die weitergehende Lebensmomente sind, anwenden, so wird dabei nach dem ethischen Vorbilde geschätzt, wie nach ihren Beziehungen auf das was dadurch bewirkt werden soll, und beides in seiner Zusammengehörigkeit bestimmt ihre Vollkommenheit oder Unvollkommenheit. Hierunter sind nun eine Menge von Gegenständen, die zugleich Gegenstand der philologischen Kritik sind, aber zugleich andre bei denen dieselbe Operation Statt findet, die die philologische macht, und diese Operationen sind in beiden Fällen auf die bestimmteste Weise von den Operationen der docrinalen Kritik getrennt. Alle Schriften die irgend nur Gegenstand für die philologische Kritik werden können, sind zugleich Gegenstände der doctrinalen, aber die Aufgabe beider ist durchaus anders, und die eine hat mit der andern nichts zu schaffen. Im Gebiete der Kunst ist dieselbe Aufgabe die die philologische für die literarischen Werke hat; für das Werk der bildenden Kunst ist die Frage, kann es dem angehören, dessen Nahmen es beigelegt wird und die Beilegung kann im Werke selbst sein, wenn der Nahme inhaerirt, oder er
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kann ihm beigelegt sein und dann ist die Frage, sind die einzelnen Theile ächt? ist es restaurirt? wie das denn doch nicht immer am Tage liegt. Das sind also dieselben Operationen, die die philologische Kritik zu üben hat; da ist also auf der einen Seite die bestimmte Sonderung der philologischen Kritik von der doctrinalen, weil in denselben Gegenständen beide Aufgaben sich absolut von einander trennen, denn der doctrinale Kritiker kann sagen: „Mich kümmert es gar nicht ob diese Ode von dem ist oder dem, ich will nur wissen, ob sie gut.“ „Ja, sagt man vielleicht dagegen, aber du kannst leicht ein falsches Urtheil über sie fällen, wenn du in dieser Ode einzelne Elemente findest, die spätern Ursprungs sind.“ „Ja die Sache behandle ich auf meine Weise, wenn ich finde, daß in diesem einzelnen Elemente eine Unvollkommenheit ist, wie sonst nicht, so nehme ich keine Notiz davon, da ist es für mich also von keinem Interresse, ob ich sage, dem Urheber sei etwas Menschliches begegnet, oder das rühre von einem Andern her; finde ich mehr davon, so sehe ich das als Schlechtes des Werks an, von wem das hineingebracht, ist für mich immer ohne Interresse.“ Die Aufgaben bleiben durchaus geschieden; denn eben so wird der philologische Kritiker sagen, „Habe ich einmal ausgemacht und bewiesen, daß diese Ode nicht von Horaz herrührt, so kümmert mich nicht, ob sie besser oder schlechter ist und ebenso wenn ich bewiesen habe, daß sie Horatius gedichtet, so geht mich auch das nicht an, daß sie besser oder schlechter als seine übrigen Gedichte, er hat sie gemacht, es ist also seine nicht meine Sache“. Sie bleiben durchaus geschieden und wir haben so keine Ursache, eine genaue Verwandtschaft zwischen der doctrinalen und philologischen Kritik anzunehmen, es kann nur zufällig sein, daß beide Fraktionen diesen Nahmen tragen; allein die archaeologische Kritik ist in dieser Beziehung mit der philologischen dieselbe, [sie] sind nur durch die Gegenstände verschieden, aber die Verfahrungsweise ist dieselbe, nur gehört noch eine andre Kenntniß, um sie zu üben an Kunstgegenständen oder an literarischen Gegenständen, als Disciplinen diese Verfahrungsweise betrachtet sind es dieselben Disciplinen. – Diese beiden scheinen also nichts gemein zu haben, die philologische und doctrinale Kritik, indeß ist doch ein Anknüpfungspunkt, denn wenn wir denken, die philologische habe großentheils damit zu thun, die Richtigkeit zu beurtheilen, mit der eine Schrift sich fortgepflanzt, so läßt sich das doch auf gewisse Weise unter die doctrinale Kritik bringen. Es gehört nämlich darunter die ethische Kritik, die Beurtheilung menschlicher Handlungen nach dem, was sie in Beziehung auf gewisse Gesetze, Lebensweisen u.s.w. sein sollen, nun ist die Handschrift die Handlung eines Menschen und so handelt es sich um die Treue und Genauigkeit, mit der er abgeschrieben
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und sage ich daß das ein ungenauer Abschreiber ist, so sage ich, das ist eine schlechte Handschrift und dadurch kommt Verdacht auf alles ihr Eigenthümliche und das ist doch im philologischen Gebiet offenbar. Diese ist für uns aber immer nur vorbereitend und solche Taxation ist eine vorläufige Maßregel; das eigentliche Werk der Kunst in dieser Beziehung ist das Richtige aufzustellen in der Schrift selbst und das ist ganz etwas Andres. – Das Nächste würde nun sein ebenso zu untersuchen, wie sich die philologische Kritik zur historischen verhält; diese ist im Allgemeinen so erklärt, es sei die Kunst, aus den vorliegenden Relationen die eigentliche Wahrheit einer Thatsache auszumitteln. Wenn wir uns auf diesem Gebiete recht festsetzen wollen, so ist die Frage ganz allgemein zu stellen, nämlich überall ist eine Differenz zwischen Relation und der Thatsache, beide können unmöglich rein in einander aufgehn, die Differenz kann wohl geringer oder größer sein, aber da ist sie immer. Wenn Jemand Etwas erzählt, was er selbst erfahren so ist das Analoge das, wenn Einer Etwas beschreibt, was er selbst gesehn aber das Beschreiben mit Worten und das Gesehene mit den Augen sind irrationale Größen gegen einander, die Wahrnehmung ist ein continuum, die Beschreibung kann es nicht sein. Die Aufgabe nun sich aus der Beschreibung den Gegenstand richtig vorzustellen kann nur auf verschiedene nie auf dieselbe Weise gelöst werden, das ist die Verwandlung des continuum, des concreten Gegenstands in den discreten, einer aus einzelnen Sätzen bestehenden Beschreibung, und so ist immer ein Urtheil des Beschreibers mit enthalten, und ist nothwendig Einiges nicht beschrieben, sondern übergangen, weil die Beschreibung unendlich werden würde, denn will man ein continuum so verwandeln, so ist das die Verwandlung einer Fläche in einzelne Punkte also ein Unendliches, das Ganze wird zusammengezogen, Einiges übergangen werden. Dabei kann man nun so oder so zu Werke gegangen sein und das Uebergangene ergänzt sich ein Jeder so oder so. Wenn man wirklich nach der Beschreibung eines unbekannten Thiers oder Pflanze ein Bild hinstellen will davon, so würden das, wenn verschiedene Menschen dies unabhängig von einander thun ganz verschiedene Bilder werden, das ist eine Irrationalität und wenn der Beschreibung nicht genaue Maaße mitgegeben sind so kann es nicht fehlen, daß nicht diese Abweichung sollte bedeutend sein. Dasselbe gilt von der Erzählung einer Thatsache, die Thatsache ist ein continuum und jeder Moment die Zusammenfassung des zugleich bestehenden und das kann doch unmöglich in eine Erzählung aufgenommen werden, da muß zusammengezogen werden, aber es wird nicht so geschehn, daß Mehre dieses, die Thatsache herzustellen auf gleiche Weise bewirken werden, denn die Thatsache
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konnte aus der Beschreibung nur in tabellarischer Form, so zu sagen, geschehn, so daß das zugleich Geschehende die Breite, das nach einander Geschehende die Länge bildete und bei Verschiednen werden verschiedene Resultate in diesem Unternehmen vorkommen. So ist wichtig zu beurtheilen, auf welche Weise der Erzählende verfahren; je mehr er mir bekannt, je leichter ist die Thatsache herzustellen, wie er sie wahrgenommen, und dann ist nur durch genauere Bekanntschaft noch zu wissen, was er am meisten geneigt ist in der Wahrnehmung zu übersehn und was ganz besonders hervorzuheben. Also die Ermittlung der Thatsache in diesem Sinne wegen dieser nothwendigen Irrationalität ist Aufgabe der historischen Kritik. Hier ist wiederum ein merkwürdiger Grenzpunkt, denn haben wir eine Thatsache in ihrer Relation vor uns so ist die Lösung der Aufgabe eine rein hermeneutische Operation, aber wenn wir die Regeln der Hermeneutik auf geschichtliche Werke besonders anwenden, so geht die Ermittlung der Thatsache über das Gebiet der Hermeneutik hinaus, nur die Ermittlung der Wahrnehmung aus der Erzählung ist die rein hermeneutische Aufgabe, denn die Kunst zu wissen, wie ist das gewesen, was gerade dieser so wahrgenommen ist allerdings Ausmittlung der Thatsache in seinem Gemüthe, aber sie beruht nicht auf seiner Rede, sondern auf anderweitigen Kenntnissen von ihm und so ist die historische Kritik der Hermeneutik angrenzend. Haben wir von Einer Thatsache mehre Beschreibungen oder mehre Relationen zu seiner Erzählung, so ist das eine schwierigere Aufgabe, aber sie gehört derselben historischen Kritik an. Nun ist offenbar, haben wir nur Eine Relation, so ist die Aufgabe leichter zu lösen, aber die Sicherheit ist geringer. Haben wir hingegen verschiedene Relationen so ist die Aufgabe schwieriger, denn wir müssen ein Resultat hervorbringen, woraus sich alle diese verschiedenen Resultate erklären lassen, wie sie haben zu Stande kommen können, aber die Sicherheit ist größer weil aus der Einen Ergänzungen zu Andern genommen werden können, wenn darin Etwas fehlt, und die anscheinenden Widersprüche sind leichter aufzulösen, somit ist das eine sichrere Position. Wie steht hiezu die philologische Kritik? Lassen sich die Gegenstände, mit denen wir da zu thun, irgendwie auf diesen Begriff zurückführen oder nicht? ist das möglich, so ist eine Verwandtschaft der philologischen zur historischen, und die eine ist unter die andre zu subsumiren; ist es nicht möglich, so gehn sie völlig aus einander und die philologische Kritik ist nur zu bestimmen aus ihrem relativen Gegensatz gegen beide andern. Nun sind die Aufgaben der philologischen Kritik sehr mannigfaltig, wir haben uns schon berufen auf den Unterschied, der gemacht zu werden pflegt zwischen niederer und höherer Kritik, man hat ihn wohl so ausge-
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drückt, indem wir die eine die beurkundende, die andre die divinatorische genannt, aber dann ist derselbe Unterschied nicht mehr, vielmehr scheinen sich beide zu kreuzen, denn die Aufgaben der höhern Kritik, wenn wir den Unterschied wie oben er aufgestellt ist, fassen, so kann sie durch beurkundende Kritik ebensogut wie in andern Fällen durch divinatorische nur gelöst werden, die der niederen Kritik durch beurkundende Kritik gelöst, wenn ich bestimmte Schätzung machen kann von der Güte der vorhandenen Handschriften, stimmen die besten in bestimmtem zusammen, so ist das die beste Lesart, so ist da die Aufgabe durch beurkundende Kritik gelöst; muß ich ÐaberÑ zum Emendiren meine Zuflucht nehmen, so ist die Aufgabe nur durch die divinatorische gelöst, so ist auch die Frage nach dem Verhältnisse der philologischen zur historischen Kritik wegen dieser großen Verschiedenheit nicht mit einem Male gelöst, sondern wir werden die verschiedenen Aufgaben betrachten müssen. Dies scheint kein wahrhaft wissenschaftliches Verfahren zu sein, aber doch ist wahr, daß jedes Verfahren das wissenschaftlich ist, was der Sache angemessen ist, und hier kommt es nur darauf an; denn der philologischen Kritik Begriff ist nicht a priori zu deduciren, dann müßte man auch ebenso zur bestimmten Erkänntniß dessen, was unter ihm begriffen wird, gelangen, allein er hat mit dem Geschäft selbst sich erst gebildet und mit dem Geschäfte ist auch er erweitert worden und so ist er auch nur auf dieselbe Weise zu erklären. Wenn wir die Sache in Beziehung auf unsre Vergleichung uns so stellen, daß wir sagen, wenn wir Schriften vor uns haben, so sind diese Erzählungen, Relationen, sobald sie nicht mehr die Urschriften sind, die Schrift soll nur mittheilen was der Autor geschrieben hat und die Beschreibung ist aus der Relation zu ermitteln, was der Autor geschrieben. Hier ist die Aufgabe der Form nach dieselbe aber der Sache nach scheint sie nicht, sie ist gar nicht dieselbe Irrationalität zwischen Erzählung und Thatsache, weil die Thatsache eben solche war, der Autor schrieb successiv und der Abschreiber schrieb ebenso ab. Daher erscheint dies auf der einen Seite dasselbe, auf der andern anders; in der historischen Kritik war die Differenz nothwendig und allgemein wegen der Irrationalität des Gegenstands und der Relation davon; das ist hier gar nicht der Fall, das Eine kann vollkommen das Andre ersetzen, so daß wir sagen müssen, wenn wir auch den Fall uns denken, der Autor schreibe sein Werke ein Andrer schreibe es ab und es gehe vollkommen richtig zu, und den andern Fall, ein Autor dictirt sein Werk, und es geht vollkommen richtig zu, so ist die Copie in demselben Verhältniße zu der 16 wissenschaftlich] wissenschaftliche
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eigentlichen Thatsache, zu dem Ausdruck des Schriftstellers durch die Rede, wie das dictirte erste Exemplar und die Urschrift verhält sich zur Abschrift also wie Thatsache zur Erzählung. dies ist allerdings wahr, aber es folgt nur, es kann der Fall sein, wenigstens können wir ihn uns denken, wo die Aufgabe als Aufgabe verschwindet, aber so wie die Sache ein wenig anders wird, so kommt sie in dem selben Sinne wie in der historischen Kritik wieder; der Autor dictirt und der Abschreiber schreibt nicht überall richtig, so ist das Dictiren des Autors die Thatsache und das Schreiben des Abschreibers die Relation, aber dann ist eine Differenz zwischen beiden, die freilich nicht nothwendig ist aber doch da und das Verfahren das beobachtet werden muß, diese Differenz aufzuheben ist im Wesentlichen dasselbe: denken wir auf der andern Seite den Abschreiber, der von der Urschrift Copie macht in anderm Verhältnisse, indem Jene das Gehörte in Sichtbares verwandeln, dieser das schon vorhandene Gesehene, so ist doch dasselbe Verhältniß, die Abschrift kann vollkommen gleich sein, aber so wie der Abschreiber sich versieht, einen Irrthum der Hand begeht, so ist eine Differenz hineingekommen und sie auszumitteln ist eine Aufgabe derselben Art und ebenso zu lösen, wenn gleich die Differenz keine nothwendige. Dies ist freilich nur Ein Fall und derselbe, wo die philologische Kritik noch unter die doctrinale konnte subsumirt werden, weil es sich um Vergleichung einer Handlung mit ihren Regeln und Gesetzen handelt. – Nun eine andre Aufgabe: wir denken uns daß wir das Werk eines Schriftstellers lesen, wir stoßen auf etwas, das den Eindruck eines fremden macht, es entsteht Verdacht, das könne nicht Jener geschrieben haben, es braucht übrigens kein einzelnes Wort zu sein welches nach den Gesetzen der Sprache sich nicht so verhalten darf, sondern wir können uns Größeres denken, so fragt sich, wie dieser Fall anzusehn sei; können wir ihn ähnlich subsumiren? Die Schrift die wir vor uns haben ist Relation, die aussagt, diese verdächtige Stelle habe derselbe geschrieben, die eigentliche Thatsache ist das Werk, die Schrift selbst. Ist der Verdacht gegründet so stimmt die Relation nicht mit der Thatsache überein, ist sie nicht gegründet, so ist die Relation mit der Thatsache übereinstimmend; dies zu erfahren kommt es an, um es zu rectificiren oder umzuändern. Also ist die Aufgabe dieselbe, aus einer Relation die Thatsache zu ermitteln. Gehn wir nun höher und denken uns eine Rolle die alle Schriften eines und desselben Verfassers enthalte, unter ihnen sei eine, der es an der gehörigen Identität mit den andern fehlt, so daß der Verdacht entsteht, die ganze Schrift gehöre nicht dem Verfasser an, wie ist der Fall anzusehn? So wie feststeht, daß die Rolle sich dafür ausgibt, nur Schriften desselben Verfassers zu enthalten, worüber andre Zeugnisse und Gründe
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da sein müssen, und wenn feststeht, daß der, von dem die Rolle ausging es als Schrift desselben ansah, so ist das ein Zeugniß von ihm, er sagt als Thatsache, der Autor hat die Schrift verfaßt, nun ist sie aber verdächtig und es ist auszumitteln, ist die Thatsache vorhanden oder nicht und da ist die Schrift als Thatsache vorhanden, und es fragt sich, als was ist sie vorhanden? Im ersten Falle waren wir in der niedern Kritik, dieser Fall ist entscheidend der höhern Kritik zugehörig, beide führen zur historischen zurück und wir müssen sagen, die philologische Kritik gehöre der historischen an, sei ein bestimmter Theil von dieser und das gilt von der Aufgabe in ihrem größten Umfange. Hier ist nun zu erinnern was schon im Allgemeinen gesagt ist, daß es nicht möglich sei, den Begriff der Disciplin vollständig zu fassen, wenn man nur auf den Umfang des Classischen sie bezöge, in Beziehung auf welches die Disciplin sich gebildet. Das Nämliche gilt für die philologische Kritik und die Aufgabe ist ganz in derselben Allgemeinheit zu fassen; wir sehn wie wir sie beständig im täglichen Leben ausüben. So oft sich Jemand verspricht, ist ein Fall für die philologische Kritik, ungeachtet kein geschriebner Buchstabe vorhanden, wir können es gleich auf eine Duplicität zurückführen; was Eins sein soll ist zwei geworden, die Rede soll Eins sein mit dem, was man denkt, verspricht er sich, so sagt er Andres, die Differenz ist immer vorhanden. Es kommen Fälle vor, wo diese Differenz im Augenblicke nicht bemerkt wird, sondern hintennach und dann läßt man sich dasselbe aufklären oder klärt es sich selbst auf, aber es sind auch Fälle wo man es augenblicklich bemerkt, wo man aber denkt, man will den Andern nicht unterbrechen, sondern selbst ausmitteln und da man mit eben solchem ÐsfalmaÑ zu thun, nur ist dies vom Urheber gemacht, und man soll da finden was er hat sagen wollen, da was er gesagt ein Andres ist. Nun ist das Verschreiben im täglichen Leben eben so häufig, und ebensowohl in Urschriften als in Abschriften und die Aufgabe ist in diesem Sinne ganz allgemein, aber es ist mit der Aufgabe der höhern Kritik ebenso, so ist das Verfahren bei der bei anonymen Schriften eine so häufigen und ganz allgemeinen Aufgabe immer anzuwenden. In beiden gegenwärtigen Zuständen des Lebens findet auch das Zusammengesetzteste, das man in der classischen Literatur, aus damaligen Umständen und Verhältnissen erklärt, das bei uns nicht so Statt finden kann, doch seine Analoga auch bei uns eben wie im classichen Alterthum. Es ist nun bevorwortet, wie wir mit der philologischen Kritik, wenn wir eine Einheit ihres Begriffs suchen, nicht anders verfahren können, weil die Sache sich nicht a priori con2 es] es es
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struiren und dannach weiter behandeln läßt, aber man könnte noch weiter gehn und fragen, woher diese ganze Zusammenstellung, Triplicität oder Duplicität der philologischen, historischen und doctrinellen Kritik komme, ob der eine gewisse Einheit zum Grunde liege und was wir bei dem Worte Kritik schlechthin denken und wie das nun getheilt ist? Wollten wir das hier ausmitteln, so würden wir sehr weit von unserm unmittelbaren Zweck abgehn. Die Thätigkeit die wir durch den Nahmen doctrinale Kritik bezeichnen, wo der Nahme aber zu eng ist, weil man dabei noch an die ethische Kritik nicht denkt, die der Personen und Handlungen, diese ist eine allgemeine Aufgabe und es läßt sich kein rechtlicher Zustand denken, sobald irgend das Bewußtsein schon hervorgetreten, wo diese Aufgabe nicht Statt hätte und ihren letzten Grund hat sie immer in dem Verhältniß des als Einzelnes bestimmtem zu dem Begriffe und da liegen die letzten Gründe wie auf dem dialektischen, speculativen, metaphysischen Gebiete. Die historische Kritik ist ebenfalls eine Aufgabe, welche überall entsteht, wo ein Gegeneinandertreten von Vergangenheit und Gegenwart ist, da ist das Vergleichen zwischen der Thatsache und dem Denkmale, jene liegt in der Vergangenheit, diese in der Gegenwart noch; das ist also auch eine so allgemeine Aufgabe, soweit es ein geschichtliches Dasein gibt, so weit reicht sie. Sie hat aber mit jenem Verhältnisse nichts zu thun, sondern nur mit der allmähligen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnahme und Wiedergabe, Receptivität und Spontaneität besteht; sollten wir diese beiden, weil sie denselben Nahmen führen, nun auch auf eine Einheit zu bringen suchen so läge das sehr fern von unserm Zwecke. Es fragt sich nur, wozu wir uns entschließen sollen; da wir die Möglichkeit sehn die philologische Kritik unter die doctrinale zu subsumiren, da wir es in jener nur mit der als Schrift dargestellten Rede zu thun und diese verhält sich wie Zeugniß, Monument zur Rede selbst, diese ist aber entstanden aus einzelnen oder einer Reihe von Handlungen, und würden wir so subsumiren und sagen, die Aufgabe der Kritik ist nur ein Urtheil zu fällen über die Treue der Ueberlieferung, aber dieses Urtheil ist noch nicht Lösung der Aufgabe selbst; denn wenn ich weiß, hier habe ich einen richtigen dort einen unrichtigen Proceß, so ist das Erste doch nie auf die Weise der Fall daß das Einzelne nicht auf gewisse Weise getrübt wäre, und nur in dem Falle daß das ganz und gar nicht Statt fände, wäre eine Lösung der Aufgabe unnöthig, aber ist das Zweite der Fall so ist aus der Schrift die ursprüngliche Rede herzustellen und diese Aufgabe ist bei jener Einheit noch ungelöst. Subsumiren wir die philologische Kritik unter die historische, so trifft da diese Subsumption wenigstens die Lösung der Aufgabe selbst, die sich so gestaltet, die ursprüngliche Thatsache her-
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zustellen aus den Zeugnissen, die wir davon haben. Wir werden freilich hier nicht schwanken und sogleich uns für das Letzte entscheiden, aber damit ist noch nichts gewonnen, es wäre ein Andres und wir hätten mit dem Anfange mehr als die Hälfte des Ganzen, wenn die historische Kritik schon eine genauer durchgearbeitete technische Disciplin wäre, wenigstens wäre sie es im Allgemeinen, so daß man doch auch allgemeine Regeln hätte, dann hätten wir bedeutendes gewonnen, das ist aber gar nicht, sondern in allen verschiedenen Gebieten ist die historische Aufgabe noch ebenso im Anfange, sie wird wohl geübt, aber die Theorie ist noch nirgend auf bestimmte Weise aufgestellt und die philologische Kritik findet nicht, worauf sie zurückgehn könnte. Nun haben wir aber dadurch soviel gewonnen, daß wir eine Formel haben, auf die wir alle Aufgaben, die zur philologischen Kritik gehören zurückführen können, wenn wir den Fall so stellen: es gibt überall diese differenten Größen, Thatsache und Relation und ein zwischen beiden angenommenes Verhältniß und nun ist auszumitteln ob das Verhältniß richtig ist oder nicht. Die Copie will eine genaue Abschrift sein vom Original, das Original ist der Gegenstand, die Copie Beschreibung, das angenommene Verhältniß die Identität, nun soll untersucht werden, ob dies angenommene Verhältniß Statt finde oder nicht. Habe ich also eine Abschrift von einem Werke, so ist der Sinn dieser, daß Alles was sich in der Abschrift findet, Theil ein und derselben ursprünglichen Rede sei eines bestimmten Verfassers, und die Zusammengehörigkeit aller Theile ist das angenommene Verhältniß; da hat man nun Beispiele daß Fremdes hineingekommen und so entsteht die Untersuchung, ob das angenommene Verhältniß auch das richtige ist, das Statt findet. Ist die ganze Schrift zweifelhaft, so ist, so muß da eine Relation sein die auf eine Thatsache zurückführt und ein angenommenes Verhältniß zwischen ihnen: Urschrift und Abschrift wollen für ein Ganzes gehalten sein, diese Nachricht ist die Relation, zu der es noch eine Thatsache geben muß, und dann soll ausgemittelt werden, ob sich das denn auch so verhält oder nicht. – Nun ist schon seit langer Zeit der Unterschied zwischen niederer und höherer Kritik angenommen und es fragt sich, was mit ihm zu machen sei. Daß die Aufgaben, die wir alle unter jene Formel subsumirt haben, verschieden sind und das Verfahren, die Aufgabe zu lösen nicht in jedem Falle dieselbe, leuchtet ein, und so oft nun ein Fall eintritt ist eine Theilung zweckmäßig, es ist zusammenzustellen, wofür dieselben Regeln sind, wofür nicht, das zu sondern, doch wie auf die richtige Weise? Das ist noch eine andre Frage, als ob jene Eintheilung in niedere und höhere richtig. Stellen wir uns auf den Standpunkt, daß wir sagen: die Benennung sei uns gleichgültig, wenn wir nur
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Richtiges unter ihnen verständen, so muß man nur nicht zu Ð Ñ sein, denn sie leiten doch und es ist also die Frage so: ob gesetzt die Theilung sei richtig, die Benennung hinreiche und beizubehalten sei. Die übrigens, welche die Benennung gebrauchen stimmen gar nicht über die Art der Theilung überein, diese Differenz besteht bei Einigen ohne Aenderung der Benennung, während bei Andern eine Aenderung der Benennung vorgeschlagen wird. Nehmen wir zB die Trennung in beurkundende oder diplomatische Kritik und divinatorische, so deutet das ein ganz verschiedenes Verfahren an von jenem. In einem Sinne kann jene Benennung genommen werden, wenn die Aufgaben wichtiger oder unbedeutender sind, in anderm Sinne, wenn zur Lösung der Aufgabe geringere Voraussetzungen gemacht werden, geringere Talente und Kenntnisse vorausgesetzt werden oder ein höheres Maaß von beiden, das ist die höhere, jenes die niedere Kritik. Fragen wir, welche Theilung förderlicher sei, so scheint der Unterschied zwischen höherer und niederer Kritik es [zu] sein, doch ist er erst später zu berücksichtigen. Aber bei der andern Theilung, wo nun zwei Methoden bezeichnet werden, fragt es sich, ob die Benennung von bestimmten Aufgaben gilt, so daß man sagen könnte, das sind Aufgaben die durch die beurkundende, andre die durch die divinatorische gelöst werden müssen? Das ist nicht der Fall, die Aufgaben werden nicht mit den Methoden mit getheilt, sondern fallen in beide Gebiete und alle bisher anführten Aufgaben können in verschiednen Fällen durch eine oder die andre jener Methoden aufgelöst werden. Wenn ich bei unrichtiger Schreibart mir durch Conjectur zu helfen vermag, so ist das die divinatorische Methode, das ist aber gar nicht von vorn herein zu sondern, ich erfahre die Anwendung erst durch den Thatbestand. Von der Aufgabe auf der andern Seite gilt es ebenso, man kann alle möglichen Nachweise liefern, daß eine Schrift einem Falschen zugeschrieben werde, hätte man nun eine Handschrift gefunden, die den Nahmen des wahren Verfassers trüge, so hätte es aller Nachweise nicht bedurft, durch die einfachere beurkundende wäre die divinatorische Methode ersetzt worden. – Wie mißlich nun die Theilung zwischen niederer und höherer Kritik ist, wo jene es mit Buchstaben und Stellen, diese mit ganzen Schriften und Theilen zu thun haben soll, das ist offenbar, denn das ÐfalscheÑ Ð Ñ einander, und bei so fließendem Unterschiede ist nicht zu sondern. Gibt es denn eine andre Art und Weise die verschiedenen Aufgaben zu gruppiren? weiter ist bei solchen Gegenständen wo man nur mit Einzelheiten es zu thun hat, nichts zu verlangen, Höheres nicht zu fodern, es kommt hier nur auf das Praktische an; denn die Aufgaben sind entstanden und entstehn durch das Verhältniß einer spätern Zeit zu den
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Producten einer frühern, aber sie sind sehr verschiedener Art und wollen, wenn man von den Producten früherer Zeiten Gebrauch macht, mit Sicherheit gelöst sein. Nun fragt es sich nur nach Regeln die sich daraus finden könnten. Es sind hier verschiedene Thatsachen auszumitteln und wie die Dinge, das Vorliegende, Gegebene, woran sie auszumitteln, in ihren hauptsächlichen Differenzen sich verhalten. Da werden wir immer darauf zurückgehn müssen, daß die Aufgaben nur entstehn und die Disciplin nur nothwendig wird, wenn das angenommene Verhältniß zwischen Relation, Zeugniß und Thatsache nicht Statt findet. Ist das der Anfangspunkt, so ist natürlich, daß wir fragen, auf wie verschiedene Weise kann diese Identität verloren gehn? Doch müssen wir noch zuvor zurückkommen auf etwas, was Früherem zu widersprechen scheint. Es ist im frühern gesagt, die Aufgabe der philologischen Kritik besteht nicht nur zwischen den Producten des classischen Alterthums und unsrer Zeit, auch nicht noch andrer Regionen und unsrer Zeit allein, sondern sie kommt beständig vor. Das ist früher gesagt und läßt sich gut täglich nachweisen und in allen verschiedenen Formen, es sind noch immer Fälle andrer Art, noch immer werden Schriften einem Andern beigelegt und noch immer gelangen Schriften ins Publicum mit nicht hinlänglichen, unbestimmten Zeugnissen von der Thatsache, denn diese ist, daß es der Gedankencomplex eines bestimmten einzelnen Mannes sei, das ist aber in den gedrukten Schriften oft nicht angegeben, und da ist die Aufgabe, die wir hier haben, zu finden den, der sich verbirgt, weil nicht eher die Thatsache in ihrer Vollständigkeit gegeben ist. Man verdenkt sich ferner auch, wie man sich verschreibt, und so ist also dasselbe Verhältniß in der Gegenwart; der Gedanke ist das Zeugniß von der Handschrift als nächstem Original, die Identität ist das angenommene Verhältniß aber da ist eine Differenz und nun ist das wahre Verhältniß aus den Zeugnissen auszumitteln, und die Thatsache hinzustellen. – Dies scheint nun mit dem Gesagten, die Aufgabe sei immer auf das Verhältniß verschiedener Zeiten zurückzuführen, in Widerspruch zu stehn, zumal das Extrem von Jenem ist, wenn Jemand im Gespräche sich verspricht. Doch selbst hier sind immer 2 Momente, und sind sie noch so klein, so repräsentiren sie doch den Gegensatz zwischen Thatsache und Zeugniß. Die Sprache ist eine Abschrift des Denkens, die Regeln müssen also so sein, daß sie alle Fälle umfassen. – Nun sagen wir, können wir angeben auf wieviel verschiedne Weisen in verschiednen Fällen die Differenz entsteht, die ursprünglich nicht vorausgesetzt wird, die Differenz in dem Spätern, das dem Frühern gleich sein soll und nicht ist. Fangen wir bei dem letzten Falle an, wenn sich Jemand verspricht, so entspricht es der Operation seiner Sprachwerkzeuge nicht
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seiner Gedanken. Die allgemeine Voraussetzung, worauf alles Verständniß beruht, ist die Identität zwischen beiden. Fragen wir, wie geht’s mit dem Versprechen zu, so kann das auch verschiedene Gründe haben, und in manchen Fällen zu den schwierigsten Aufgaben gehören, zu finden wie es mit dem Versprechen zugegangen. Zuerst ist zu erwägen, daß zwei Operationen sind, die des Denkens als rein Psychisches und das Sprechen, das auf einer organischen Funktion beruht, so wenig ist das Sprechen ein Mechanisches. Dieß werden Manche zugeben wie Manche läugnen und es ist also ein gefährlicher Satz, den wir an die Spitze stellen. Mag es nun aber auch diese organische Funktion nicht sein, im Vergleich zum Denken ist das Sprechen ein durchaus Mechanisches und der Impuls dazu, das was dabei Freiheit ist, ist durchaus nur das Uebergehn des Gedachten in die Thätigkeit der Sprechwerkzeuge, welche auf Muskelbewegung beruht, die wiederum ihren bestimmten Mechanismus hat und denken wir uns auch den Impuls des Willens im Einzelnen immer fortwirkend, so unterscheiden wir doch immer diesen fortwirkenden WillensImpuls als die freie Seite des Sprechens und die Muskelbewegung, welche die mechanische Seite ist. Nun läßt sich denken, daß solche Abweichung des Gesprochenen von dem Gedachten rein in der mechanischen Operation liege und keinen andern Grund habe, aber es lassen sich auch andre Fälle denken, daß das Versprechen entsteht aus gleichzeitigen Gedanken, die aber nicht in der Reihe liegen, nur begleitend sind, die nun momentan in die Reihe eindringen, und da weiß man selbst woher das Versprechen kommt weil das Eindringen dieses Vorübergehenden in die eigentliche Gedankenreihe macht sich bemerklicher, und verstärkt sich. Der Art ist die Nahmenverwechslung, da sind 2 Fälle, die Differenz entsteht auf mechanische Weise, oder durch den Einfluß einer freien Handlung eines Moments, das im Gebiete der Freiheit liegt. Können wir das durchführen so können wir auch sagen eine andre, größere, weitere Eintheilung der Arten wie die verschiedenen Aufgaben entstehn, gibt es nicht, entweder sie liegen im Gebiete der freien Thätigkeit oder sind mechanisch, doch muß dies erst nachgewiesen werden. – Gehn wir von dieser ersten Operation, wenn sich Jemand versprochen hatte, aus dem Gehörten das Gedachte zu ermitteln weiter, so kommt zunächst ein analoger Fall, wenn Jemand nicht spricht sondern schreibt, und sich nicht verspricht, sondern sich verschreibt; das ist indeß wiederum eine mechanische Operation der Hand und durch diese ist Etwas entstanden was nicht ist das was ge1018,40–1019,1 so ... Gedanken] Variante Henke Bl. 34v: entsprechen die Operationen seiner Sprechwerkzeuge nicht seinen Gedanken 5 daß] daß, daß
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schrieben werden wollte. Wodurch ist nun diese Differenz entstanden? Damit hat es dieselbe Bewandniß, aber dieser Einfluß beiläufiger Gedanken auf die Operation des Schreibens ist nicht Gewolltes, ist also auch mechanisch, wie alles nicht Gewollte mag es ein psychologischer Mechanism sein oder ein organischer; die Differenz ist ohne freie Handlung entstanden und der gewöhnlichste Fall ist nun in der Kritik, es schreibt Einer nicht eigentlich seine Gedanken, sondern schreibt ab, und im Abschreiben versieht er sich, schreibt er nun wie er gesehen hat so hat er sich eigentlich nicht verschrieben, sondern der Fehler liegt rückwärts in dem was er gesehn; hier ist eine Operation des Auges und wieder organischer Mechanism; denn der Fehler wäre hier, wie in allen jenen Fällen durch einen höhern Grad von Aufmerksamkeit verhindert worden. So ist auch dieser Fall auf einen Mechanismus zurückgeführt. Das Versehn kann auf verschiedene Weise geschehen sein, doch sollen wir nicht die Ursachen ausmitteln, uns kommt es auf die eigentliche Thatsache an, was da hätte geschrieben werden sollen, wobei denn geschrieben sein konnte, was nicht hätte geschrieben werden sollen und nicht geschrieben, was hätte geschrieben sein sollen, das ist der so häufige Fehler des Auslassens, was auf zweierlei Weise zu geschehn pflegt, einmal wenn 2 Worte gleiche Anfänge haben, der Abschreiber nun den Anfang des Worts bei dem er fortfahren sollte inne hat indem er aber das andre Wort erblickt, nun bei diesem fortfährt und somit Alles, was zwischen beiden Worten lag ausläßt, oder wenn 2 Worte gleiche Endungen haben, des einen Endung dem Abschreiber im Sinn liegt, er die andre sieht und nun bei dieser fortfährt, also was dazwischen liegt ausläßt. In beiden Fällen ist das Auslassen nichts Gewolltes, es liegt also im Mechanischen, ist ein Fehler der mechanischen Operation. Es schreibt ferner Jemand ab, hat die Urschrift vor sich und findet nun Etwas zwischen den Zeilen geschrieben oder am Rande, und ist nun ungewiß, was denn damit zu machen; soll er es übergehn oder hineinschreiben, es kann so das Uebergeschriebene zu dem Andern wie Veränderung verhalten aber auch wie eine Einschaltung, in beiden Fällen hätte wohl können etwas bezeichnet sein, was Gewißheit gäbe, das ist nun aber nicht bezeichnet; war es eine Einschaltung und er läßt es aus, weil er es Veränderung glaubt, oder war es Veränderung und er nahm es auf, weil er es Einschaltung glaubt, so wird in jenem Falle Etwas fehlen, in diesem zweimal Dasselbe stehn. Auf dieselbe Weise verhält es sich mit dem auf den Rand Geschriebenen, es fragt sich, soll man es hineinlesen und so auch in die Abschrift aufnehmen, da es doch eine gemachte Bemerkung sein kann; wird dann ein falsches Urtheil gefällt, so kommt hinein, was nicht hinein gehört oder nicht hinein, was hinein gehört. Da
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sind also auch Abweichungen, doch beruhen sie hier auf einer freien Handlung, weil sie auf einem Urtheil über Thatsachen beruhn, die mit zur Aufgabe gehören. Hier sind wir auf einem andern Gebiete, wenn wir auf die Entstehungsweise der kritischen Aufgabe sehn. Das kann in gewissen Fällen ziemlich weit führen, es kann doch aber auch schlechthin eine Einzelheit sein, es kann solche Veränderung nur ein einzelnes Wort sein, aber auch ganze Stellen können an den Rand geschrieben sein, ebenso wie die Schrift nur Verwandtes, was gar nicht zu ihr gehört. Würde dies aufgenommen so käme Fremdes hinein, bliebe Jenes fort, bliebe Nothwendiges aus; so ist die Genesis von der Größe, dem Umfange ganz unabhängig. Alles das was auf bloßem Verstehn beruht, ist nun gewöhnlich nicht von zu großem Umfange, es ist aber doch bedeutender Spielraum möglich, so wenn gleich anfangende oder endende Worte unter einander stehn, kann eine oder mehrere ganze Zeilen ausgelassen werden und durch ein bloßes Ueberspringen des Auges, so kann der Umfang dessen, was durch bloßen mechanischen Fehler ausgelassen, bedeutend groß sein, wogegen bedeutend klein sein kann, was durch Freiheit, durch Urtheil ausgelassen oder aufgenommen. So verschwindet jener Unterschied ganz, wenn Regeln festgesetzt werden sollen, was nur geschehn kann, wenn die Genesis festgesetzt ist. Noch ist ein Fall, wie eine falsche Meinung entstehn kann über den Urheber einer Schrift, wenn man sich eine Stelle denkt, einen codex, der mehre Gespräche enthält, diese mögen platonische sein, der codex gibt aber nur die Nahmen der Gespräche, weil er den des Urhebers als bekannte Sache voraussetzt, nun liegt darin noch ein andres Gespräch, am wahrscheinlichsten hinter dem andern, das auch seinen Nahmen hat, der des Verfassers steht aber nicht darüber, so kann das leicht ein Gespräch sein, bei dem unter der Voraussetzung der Autor sei bekannt, ebenso wie bei jenen verfahren ist; später wußte man den Autor nicht; dann schreibt dies Gespräch allein ab und weil es hinter den platonischen Gesprächen steht, so denkt er auch es sei ein Platonisches Gespräch und setzt des Plato Nahmen darüber, da ist die Meinung fertig, da ist der Irrthum durch eine freie Handlung entstanden, es kann sich das hernach fortgepflanzt haben optima fide, ohne freie Handlung ist abgeschrieben was einmal da war und die Abschrift ist vollkommen richtig, aber das Ursprüngliche ist ein Urtheil, wodurch ein solches Factum geworden. Wie steht da die Sache? Das ist ein Urtheil, das ein Einzelner gefällt, aber die Thatsache ist, daß das hier geschrieben ist, nun ist dem Urtheil die Thatsache entsprechend, hat nun Plato den Dialog geschrieben oder nicht? Es ist leicht zu sehn, daß da die Sache leichter oder schwieriger zu entscheiden ist, denn es sind Fälle wo ein unwissender
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Mensch solch ein Urtheil gefällt hat, und den Nahmen zu einem Werke geschrieben hat, was Niemand dafür halten kann; wogegen auch Fälle sind, wo die Sache schwieriger zu entscheiden ist, ob das Gespräch ächt oder unächt ist, also ist das das Verhältniß zwischen Relation, denn das wird eine Relation, und der Thatsache. Aus freier Handlung ist es entstanden, aus einem Urtheil, während die Fortpflanzung nachher mechanisch war, darüber ist aber nicht zu richten, das ist unschuldig. Dasselbe kann aber auf anderm Wege entstehn; es ist möglich daß Einer der solche Schrift hat, sich fragend den Nahmen des Plato an den Rand schreibt, der Andre trägt es über; das ist auch eine freie Handlung aber von ganz verschiedner Art, er hat vielleicht nicht über die Sache gedacht; geurtheilt, sondern ÐerÑ Ð Ñ weils am Rande steht, gehört es hinein. Wenn Jener ein Zeichen der Ungewißheit dabei gemacht hätte, so wäre Jenes nicht geschehn, aber wer kann das für sich machen? So ist also das nur durch mechanische Operation versehen worden, wenn nicht in dem Falle, wo ein ähnlich lautender Nahme aufgenommen oder ein den Unterschied zwischen 2 Schriftstellern bestimmender Beinahme übersehen, fortgelassen worden, da kann ein mechanisches Uebersehn als Ursache angenommen werden. Hier vermischen sich also beide Entstehungsarten, doch ist das hier nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen, wenn 2 gleichnahmige Schriftsteller sind oder wenn aus verwandten Gebieten ähnlich lautende oder in den Schriftzügen ähnliche Nahmen derselben vorkommen, sonst kann Niemand darauf kommen zu sagen, dieser Fall entstehe auf mechanische Weise. Verfolgen wir eine ähnliche Reihe, so müssen wir sagen, die Hauptaufgaben haben wir in diesen Gattungen zusammengefaßt, wir finden also die beiden Entstehungsarten unterscheidbar in den meisten Fällen, aber wenn sich die Sache so verhält, daß man auf die Entstehungsweise nur verdächtigen Falls zurükgehn muß um das Verfahren festzustellen, das eingeleitet werden muß um die Thatsache festzustellen, so ist das immer nur hypothetisch, und man kann immer von dem Einen oder von dem Andern ausgehn. Anders sind indeß wohl nicht die Aufgaben der Kritik zu sondern. Wir könnten noch weiter zurückgehn und sagen, das Erste wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist daß ich Verdacht bekommen, es sei etwas, wie es nicht sein solle; ist der nicht da, so ist es auch kein kritisches Verfahren einzuleiten möglich. Verspricht sich Jemand einen Nahmen oder Zahl verwechselnd, so kann der Hörende es im Augenblicke merken, hat sogleich Verdacht und erräth es. Ebensowohl kann er es aber auch erst in der Folge merken und dann ist kein Verdacht, ÐalsÑ ÐerstÑ ÐdannÑ wäre nun das Gespräch früher unterbrochen oder hätte es eine andre Wendung genommen, so wäre man
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im Irrthum geblieben, nur wenn es fortgeht, entsteht der Verdacht. Im ersten Falle kann das Versprechen ein Augenscheinliches sein, denkt man sich aber Fälle der letzten Art, daß einem Autor eine Schrift beigelegt wird, die er nicht geschrieben, ja da können Viele kommen und lesen und merken Nichts, weil es bisweilen auf einzelnen Umständen beruhn kann. Es kann die Schrift so geschrieben sein, daß der, dem sie beigelegt wird, sie sehr gut könnte geschrieben haben, es kann ein Gegenstand sein, den er könnte behandelt haben und gerade so, es sind aber Umstände darin, die der Autor nicht gewußt haben konnte, so kann er die Schrift nicht geschrieben haben, außer wenn der Verdacht ist, daß diese Stelle nicht in die Schrift gehöre. Solche Umstände können von Vielen übersehn werden, da müssen wir also sagen, daß es Fälle gibt, wo eine besondre Qualification nöthig ist, um Verdacht zu bekommen, aber wie ist es, wenn wir das weiter verfolgen? Es stellt sich das so, daß dies die erste kritische Aufgabe ist, daß Verdacht entsteht, der Irrthum, das falsum mag entstanden sein, wie es will, der Verdacht muß entstehn zuvor, und so könnte man also die Fälle so theilen, je nachdem der Verdacht Einigen entstehe, Andern nicht entstehe. Das ist bedeutend und dieses könnte am meisten zu jenem Unterschiede Anlaß gegeben haben, denn wie bei den Werken letzter Art Verdacht zu schöpfen gehört wohl zum Erstern nur so viel jeder Mensch hat. Wenn durch ein Versehn des Auges in einem Satze eine Auslassung entsteht, wodurch der Satz so verunstaltet wird, daß er nicht mehr zu verstehen, daß der Zusammenhang fehlt, da kommt Jedem der Verdacht; wenn durch Versehn eine Sprachwidrigkeit entstanden, so daß Substantiv und Adjectiv nicht zusammenpassen, so sieht Jeder, dem gewiß ist, jenes Adjectiv könne nur zu jenem Substantiv gehören, diesen Fehler, aber mit der Sprachwidrigkeit ist es eine weitläuftige Sache; Manches ist klar, zu Manchem gehört eine genaue Kenntniß und da sagen wir, auf demselben Gebiete, das die Genesis betrifft und das ist die Ursache, gibt es Fälle wo der Verdacht Jedem entstehn muß, und andre, wo nicht. Das ist in höherem Grade, wenn von verschiedenen Zeiträumen die Rede ist, da kann der Eine wissen, damals ist nicht so construirt worden, damals solche Form nicht gebraucht, und da haben nun auf demselben Gebiete Manche Verdacht, Manche nicht, ja es kann der Fehler so fein sein, daß man nur bei besondrer Kenntniß des Schriftstellers ihn entdeckt, und so wird man denn erkennen, daß der Schriftsteller es nicht geschrieben. Wenn man niedere und höhere Kritik so unterscheidet, aus diesem Gesichtspunkt, so 1022,38–1023,1 Ebensowohl ... Verdacht.] Variante Henke Bl. 36r: Oder er merkt es erst hernach, und hätte das Gespräch 1 andere Wendung genommen, hätte er es nicht gemerkt.
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ist auf den Umfang keine Rücksicht zu nehmen, sondern ein Fall, der in einer Kleinigkeit besteht, setzt eben so viel voraus, als die Unächtheit einer ganzen Schrift zu erkennen und es gehörte so das Einzelne ebensogut der höhern Kritik zu. Wollten wir weiter gehn, so müssen wir sagen, der, dem ein Verdacht nicht entsteht, wo man voraussetzen darf, er sollte ihm entstehn, ist ein unkritischer Mann, und sein Gegentheil ein kritischer; aber sollten wir das noch zur Kritik nehmen, Anweisungen zu geben, wie man das wende, so würde man über die Grenzen hinausgehn, denn dabei concurriren die verschiedenen Naturanlagen und auf der andern Seite ein gewisser Grad von Uebung. Die Kritik kann sich nur auf den Punkt stellen, was zu thun sei, wenn der Verdacht entstanden und anerkannt sei, und wie man dazu komme, die Differenz zu lösen. Nun werden wir ziemlich übersehn können, wie wir die Aufgabe theilen wollen, wovon wir ausgehn müssen, um bestimmter und bequemer verfahren zu können. sollen wir von der Größe des Verdächtigen [ausgehen]? die ist ÐnurÑ zufällig, davon müssen wir abstrahiren. sollen wir von der Art und Weise, wie der Fehler entsteht, von dem der Verdacht ausgeht? oder von der, wie der Verdacht entsteht? Das Letztere hängt von dem, was außerhalb der Kritik ist, ab und so wäre das schwerlich die rechte Art, sondern hier ist von der bestimmten Voraussetzung auszugehn, wie Jeder verfährt, wenn ein Verdacht entsteht. Wir müssen ausgehn von der Art und Weise wie der Irrthum entsteht, weil davon die Regeln abhängen, und anfangen von der ursprünglichen Hypothesis, von welcher alle Operation der Kritik beginnt, das ist der Verdacht, die Vermuthung, daß das Vorhandene mit der ursprünglichen Thatsache nicht übereinstimme, und theilen wir das Geschäft, so sind bestimmt zu sondern die Vermuthungen die auf einen mechanischen Fehler schließen lassen, und die auf eine freie Handlung welche dazwischen getreten. Auf diese Weise wird die Eintheilung der entsprechen, welche man zwischen niederer und höherer Kritik macht, indem man Dieses zu dieser, Jenes zu jener rechnet. Wenn wir nun die Regeln des Verfahrens, das aus solchen Vermuthungen hervorgehn soll, angeben wollen, so müssen wir an das denken, was zuerst Gegenstand der kritischen Operation ist, aber immer müssen wir auf das Allgemeinste zurückgehn, auf das tägliche Leben ihn zurückführen, indem wir diese Analogie nie aus den Augen lassen dürfen. [Erster Theil. Kritik der mechanischen Fehler] Also zuerst, wie können wir den allgemeinsten Fall ausdrücken, woraus solche Vermuthung, daß das Verhältniß nicht mit dem ursprünglichen übereinstimme, entsteht? Der Fall, der 25 mit] mit mit
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zu behandeln ist, ist eine Schrift, und das ist zunächst das Verhältniß zwischen Abschrift und Urschrift, diese ist die Thatsache die ursprüngliche, jene ihre Relation, der allgemeinste Ausdruck der: wenn ein Satz in einer Schrift nicht ein wirklicher Satz ist, das heißt, wenn er keinen geschlossnen Sinn gibt, so also Etwas ist, wovon nicht zu glauben daß es in der ursprünglichen Thatsache gewesen, es entsteht die bestimmteste Vermuthung, daß das Vorhandene alterirt worden, denn Niemand will schreiben, was nicht einen geschlossnen Sinn gibt. Das ist eine Formel für die Fälle nur, wo man auf einen mechanischen Fehler schließen muß, denn Niemand wird durch eine freie Handlung einen Satz unverständlich machen, man kann wohl einen andern Sinn hineinzulegen suchen, als die Urschrift bot, wie man das vom N.T. behauptet, aber dann ist doch ein Sinn da, daß aber ein Satz sinnlos sei aus Absicht gemacht, läßt sich nie vermuthen und voraussetzen. Das ist der allgemeinste Ausdruk für alle Fälle, wo aus der Ansicht einer Schrift der Verdacht entsteht, daß sie mit der Urschrift nicht übereinstimme. Derselbe Fall findet Statt wenn sich Jemand in der Urschrift verschreibt, nur daß da der Fehler in dem Urheber selbst liegt, oder wenn sich Jemand verspricht, so daß der Satz sinnlos wird, welches auch ein mechanischer Fehler sein kann und in einer halben Unwillkührlichkeit des Processes der Sprachorgane liegt. Nun müssen wir auch ein Zweites hinzufügen. Es ist noch ein ganz andrer Fall, wozu wir freilich etwas bestimmt Gegebenes vorausnehmen müssen, das wir aus der Erfahrung haben können, sobald der Fall eingetreten ist, daß wir mehre Relationen von derselben Thatsache haben, mehre Abschriften von Einer Urschrift. Dann kann ein Verdacht entstehn ganz unabhängig davon, daß die Stelle wie sie dasteht, keinen Sinn gibt, indem die Abschriften verschieden sein können, so daß Jedes einen Sinn gibt und wir bei einer einzelnen Nichts gemerkt hätten. Da fassen wir also die Vermuthung, Eines müsse unrichtig sein, und es treten nun zwei Möglichkeiten ein, Eines kann falsch sein, oder beides, aber da ist nicht die Nothwendigkeit, daß diese Verschiedenheit im Allgemeinen auf einen mechanischen Fehler zurückzuführen [ist], sondern grade wenn der Fall ist, daß Jede für sich keinen Verdacht gegeben haben würde, so ist es unser ursprünglicher Fall nicht, daß der Sinn alterirt war, und so ist auch nicht alles Absichtliche ausgeschlossen, es kann sowohl freie Absicht dazwischengetreten sein als mechanischer Fehler: es ist aber auch nicht so nothwendig von Einem von beiden auszugehn, weil der Verdachtsgrund in der Differenz liegt und die Frage so wird, zwischen beiden zu entscheiden. So 9 auf] auf auf
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werden wir diese Fälle im Allgemeinen unterscheiden müssen, solche Aufgaben, die entstehn aus der Ansicht einer Schrift für sich und solche, die nur aus der Vergleichung. Die ersten beruhen auf der allgemeinen Thatsache, daß mechanische Fehler vorkommen, und die Aufgaben sich von selbst stellen, aber die andren setzen voraus, daß von der Urschrift mehre Abschriften gemacht sind. So wie wir die Fälle voraussetzen, daß Einer sich verschreibt, oder beim Abschreiben versieht, oder beim Dictiren verhört, so liegt daran, daß bei Vervielfältigung der Abschriften die Voraussetzung entstehe, daß solche Fehler vorkommen werden, daß in Eine hineinkomme was in die andre Abschrift nicht. So wie man das Factum der Vervielfältigung einer Urschrift voraussetzt, so entsteht die Aufgabe diese verschiedenen Abschriften, Zeugnisse möglichst mit einander zu vergleichen. Da sind nun wesentlich verschiedene Aufgaben von Verfahrungsarten, die eine ist, was für ein Verfahren ist einzusetzen, wenn uns die Thatsache eines Fehlers entgegentritt, denn wenn wir eine Abschrift lesen, so bleiben wir in der natürlichen Voraussetzung, daß die Urschrift der Abschrift entspricht, und das bis auf einen gewissen Punkt, wo eine Differenz uns entgegentritt. Die Andre ist das Verfahren, Fehler zu entdecken, die sonst nicht entdeckt worden sein würden; denn wenn ich weiß, von einer Schrift sind mehre Abschriften, so kann ich nicht die hermeneutische Aufgabe genau und vollständig erfüllt zu haben mich rühmen, wenn ich bei dieser einen Abschrift stehn bleibe; gesetzt auch es ist nicht Ein Fall, der Verdacht erregt, die Möglichkeit ist doch von Fehlern im Allgemeinen auch in Beziehung auf diese Schrift vorhanden, da bei der Vielheit der Abschriften uns eine andre nun vielleicht zeigt daß in ihr wirklich Fehler, die wir nur nicht entdeckt. Denn so wie wir zugeben, ein Satz könne mit Verschiedenheit der Stellungen ausgedrükt sein, und Verschiedenheit der Stellungen der einzelnen Worte vorkommen, ohne daß sie aufhörten denselben Sinn zu haben, so ist auch sogleich die Möglichkeit da, daß solche Verschiedenheiten in den verschiedenen Handschriften vorkommen und da ist die Aufgabe, die Differenz zu entdecken, wenn sie entdeckt, zu entscheiden. Zunächst bleiben wir bei dem Einfachen und betrachten zuerst die Aufgabe wenn im Fortlesen einer Schrift der Verdacht entsteht, da müssen wir so Ð Ñ die Aufgabe ihrem Inhalte nach theilen und dann aus der Auflösung theilen, jenachdem es eine Differenz in der Verfahrungsart gibt. Der allgemeine Ausdruck ist, es kommt eine Stelle in einer Schrift vor, die keinen geschlossenen Sinn gibt. Dieses schließt gleich zwei wesentlich verschiedene Fälle in sich, wenn der Satz wie er dasteht keinen logisch geschlossenen – oder wenn er keinen grammatisch geschlossenen Sinn gibt, nämlich das Letzte kann sein ohne
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das Erste zB wenn in einem Satze Substantiv und Adjectiv nicht grammatisch zusammenstimmen, so kann ich doch über den logischen Sinn keinen Zweifel haben, denn es kann völlig entschieden sein, daß beide zusammengehören und sobald wir das voraussetzen, so ist der logische Sinn geschlossen, da ist aber der grammatische es nicht, weil die Zusammengehörigkeit nicht grammatisch besteht und da ist die Aufgabe eine ganz andre als in jenem Falle. Welche ist nun leichter zu lösen? So wie in einem Satze der logische Sinn nicht geschlossen ist, so ist eine unendliche Möglichkeit vor mir, welche ich aus dem Satze selbst gar nicht näher bestimmen kann, nur sofern mir der Zusammenhang eine Indication gibt, was gemeint sein muß. Da sind wir also in eine Unendlichkeit der Möglichkeiten hineingeführt und die Aufgabe ist unbestimmt. So wie der Sinn logisch nicht aber grammatisch geschlossen, so ist die Aufgabe ganz einfacher [Natur], weil sie nur in der grammatischen Abwandlung der Worte liegen kann. Stimmen Praeposition und Casus, Substantiv und Adjectiv, Conjunction und Modus nicht zusammen, so sind grammatische Lücken, aber insofern der Sinn gewiß ist, so kommt es nur darauf an, ihn herzustellen, dann kann die hermeneutische Operation weiter gehn. So wie grammatisch entschieden ist, das Substantiv stehe richtig so muß das Adjectiv dem gemäß gemacht werden; so wie durch den logischen Sinn entschieden ist, die Conjunction werde in diesem oder jenem Sinn erfodert, so muß der Modus sich nach ihr richten. Passen Praeposition und Casus nicht, so entsteht ein Zweifel, da mehre Praepositionen freilich mit verschiedenen Casibus gebraucht Gleiches bedeuten, so kann man schwanken, soll man Praeposition ändern, den Casus lassen und eben ihm gemäß eine andre Praeposition setzen, oder die Praeposition lassen und darnach den Casus ändern. So wie man die Sache rein philologisch betrachtet, so ist es nicht einerlei, ob ich die Aufgabe der Wahrheit gemäß löse oder unrichtig löse; denn mag das auch für die hermeneutische Operation gleichgültig sein, so ist es das nicht als Exemplification für den SprachÐgebrauchÑ. Da nun das immer durch einander bedingt ist, so gewinnt die Aufgabe die an und für sich gleichgültig erscheint, großen Werth, wenn man sie in Beziehung auf die Gesammtheit der Sprache betrachtet. So wird also Aufgabe aus den verschiedenen Möglichkeiten herauszufinden, was der Sprache ebenso sehr gemäß ist, als dem Sinne. Das führt uns auf den zweiten Fall zurück, denn so wie das eingeschlossene so oder so rectificirt werden kann, so muß ich Entscheidungsgründe suchen, und da hier ein mechanischer Fehler vorgefallen, so ist ein sichres Mittel, wenn andre Abschriften noch da sind, da ist es wahrscheinlich, daß diese den mechanischen Fehler nicht haben und so ist da die Vergleichung mehrer
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Zeugnisse eine nothwendige Aufgabe. Daraus sind nun die verschiednen Verfahrungsarten entstanden die Wolff durch die Terminologie der beurkundenden und divinatorischen Kritik ausgedrükt. Wenn Abschriften vorhanden sind, die nun jenen Fehler nicht haben, so ist man durch sie gebunden, man darf nicht frei durch die divinatorische Kritik wählen, denn wenn eine Handschrift an jener Stelle keinen Anstoß und Verdacht gewährt, so hat sie die Präsumption für sich. Wenn das nicht gelingt, wenn wir nur auf Eine Abschrift gewiesen sind, so muß die Entscheidung aus innern Gründen folgen, und es kann dieselbe Aufgabe bisweilen aus äußern Zeugnissen zu lösen sein bisweilen m u ß aus innern Gründen gelöst werden. In letzterm Ausdrucke liegt auch schon eine Entscheidung über den Werth, die aber doch ihre Begrenzung hat, denn wenn gesagt ist, ich muß durch innere Gründe entscheiden, so liegt darin, daß die Entscheidung durch äußere Gründe den Vorzug hat, denn hätte ich dies Exemplar gehabt, wo kein Verdacht entsteht, so wäre mir eben kein Anstoß entstanden, aber es sind doch Fälle, wo die Entscheidung aus innern Gründen vollkommen eben so sicher ist, wenn der Sinn logisch bestimmt, der Fehler ein grammatischer ist, so kann der Sinn so logisch bestimmt sein, daß die grammatische Differenz nur auf Eine Art zu lösen ist, ohne den Sinn zu stören und in solchen Fällen geschieht die Entscheidung aus grammatischer Nothwendigkeit, aus innern Gründen, so ist die divinatorische Kritik eben so sicher als jene und durch sie kann man im Voraus mit Gewißheit sagen, mehre Handschriften würden ebenso ÐlesenÑ. Betrachten wir das Andre und gehn auf unsern zweiten Fall zurük, so sehn wir, die Entscheidung aus äußern Zeugnissen kann leicht solche sein, daß die kritische Aufgabe für die hermeneutische Operation gelöst ist und doch ist möglich, daß abgesehn von dem vorliegenden Fehler in andern Handschriften an derselben Stelle noch Andres steht und man in der Nothwendigkeit ist, zwischen Einem und dem Andern zu entscheiden und diese Entscheidung durch Ein andres Zeugniß ist dann nur provisorisch, dagegen oft die grammatische Nothwendigkeit nur Eine Entscheidung zuläßt, so daß es eine apodiktische Entscheidung ist für uns. So ist das Verhältniß schwankend und die Entscheidung durch Urkunden ist offenbar vollkommen sicher nur in ihrer vollkomenen Vollständigkeit, so daß wir sagen können, die Abschriften zusammen repräsentirten die Urschrift vollständig; sie heben sich in ihren Fehlern gegenseitig auf, und in diesem Falle ist die Entscheidung durch Urkunden vollkommen aber die Fälle 2–3 Wolf, Darstellung, S. 40: „so unterscheidet man hienach eine niedere Kritik, besser eine beurkundende, und eine höhere, die man lieber die divinatorische nennen sollte.“
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selbst sind noch erstaunlich verschieden und in ihnen allen ist das Verfahren gar nicht so einfach. Wir haben es uns getheilt indem wir im Allgemeinen gesagt, der Verdacht entstehe entweder durch Mangel an grammatischer oder logischer Geschlossenheit, wir haben aber dabei das Erste nur auf die nothwendigen Sprachgesetze bezogen und das Letzte nur auf die wesentliche und allgemeine Form des Satzes, wenn dieses genügend sei, sei der logische Sinn geschlossen, aber deswegen können doch Bedenken vorkommen die sowohl auf der logischen als grammatischen Seite stehn, die aber weit individueller sind; es kann der logische Sinn ganz geschlossen sein und der Satz an und für sich verständlich, und doch kann man mit der größten Gewißheit behaupten, daß ein Fehler darin, weil, so wie er ist, er nicht in den Zusammenhang paßt oder weil so wie er ist, er nicht für einen Satz d e s Mannes gehalten werden kann und so können Stellen gesund aussehn, wo doch vollkommen der Verdacht begründet ist. Dasselbe geschieht auf der grammatischen Seite; der Satz kann an und für sich vollkommen richtig sein, aber demohngeaachtet kann man mit größter Gewißheit behaupten, daß ein Fehler sei aus grammatischen Gründen, wenn eine grammatische Form vorkommt, die der Zeit oder Schreibart nicht angehört; so ist der Satz an und für sich grammatisch geschlossen und doch ist ein Fehler darin; in Beziehung auf die allgemeinen Sprachgesetze ist er geschlossen, aber nicht in Beziehung auf die bestimmten Sprachbedingungen, unter denen die Schrift entstand. Dieser Verdacht geht also aus der Unmöglichkeit [hervor] die hermeneutische Operation zu vollziehn, das heißt, ich kann sie nicht vollziehn, weil sie ihren bestimmten Bedingungen nicht gemäß ist. So ist der Verdacht selbst gebunden an die Vollkommenheit, mit der man die hermeneutische Operation zu vollziehn strebt und so entsteht einem aufmerksamen, geübten Leser, der mit seinem Schriftsteller vertraut ist, Verdacht, der einem Andern nicht entsteht. Je mehr die Aufgabe sich vervielfältigt und vermannigfaltigt, werden sich um so mehr zugleich die Verfahrungsarten vermannigfaltigen, denn auf dieselbe Weise wie jene allgemeinen können diese speciellen Fälle nicht aufgelöst werden. – Wir betrachten nun die Aufgabe, wie sie entstehe in der Operation des Lesens selbst, wo wir nur Ein Exemplar bei uns haben, wo also nur die Vermuthung eines mechanischen Fehlers bei uns entstehn kann und diese Aufgabe ist theils durch Urkunden die diesen mechanischen Fehler nicht haben zu lösen, theils auf divinatorischem Wege. Nun kommen wir zuerst auf die Frage von der doppelten Art und Weise die Aufgabe zu lösen und hier müssen wir auch gleich die Frage behandeln über das eigentliche Verhältniß beider Methoden; das ist seitdem die Kritik eine ordentliche Gestalt angenommen,
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verschieden angesehn und behandelt, der Eine legt ausschließlichen Werth auf die beurkundende Methode, Andre haben allen Werth auf die divinatorische gelegt. Diesen Punkt müssen wir gleich von vorn herein im Ganzen in Ordnung bringen. So wie im Lesen wir auf solche Abnormität stoßen, die einen mechanischen Fehler vermuthen läßt – die bestimmteste Form ist immer die, wo die Abnormität eine grammatische ist – da habe ich nicht nöthig, um mir die Aufgabe zu lösen, erst mich nach irgend etwas Anderm umzusehn, sondern so wie man die Sache nur in Beziehung auf die hermeneutische Aufgabe betrachtet, so hat man in solchen Fällen nicht nöthig das Richtige erst wiederherzustellen, sondern das Nothwendige wird nur festgesetzt, ohne sich weiter zu kümmern, wie der Fehler entstanden, weil in der grammatischen Abnormität schon gegeben ist was sein muß, sobald der Fall leichterer Art ist. Da ist ÐkaumÑ was geschieht noch eine Lösung nach der divinatorischen Methode zu nennen. Denken wir schwierigere Fälle wo eine logische Abnormität ist, der Sinn nicht geschlossen ist, so kann der Zusammenhang ergeben, welches der Sinn sein muß; sobald ich das weiß, ist die Aufgabe, wie kann der Sinn da gestanden haben? durch das, was ursprünglich gewesen, ausgedrückt gewesen sein, so daß der Fehler ein mechanischer ist. Betrachten wir die Kritik nun aber lediglich auf die hermeneutische Aufgabe bezogen, so kann es mir gleich sein, wenn ich nur weiß, d ie s e r Sinn muß darin liegen; so lasse ich das gehn, ob die Differenz durch eine ÐHerstellungÑ ÐinÑ dem Ursprünglichen ein minimum ist, oder ob größer. Für die hermeneutische Aufgabe kann ich das rein liegen lassen. Von diesem Gesichtspunkte aus kann ich sagen, die Vergleichung andrer Abschriften sei nicht ÐgarÑ nöthig als in Fällen, wo das Divinatorische nicht antreten könne, wo nicht bestimmte Angaben genug sind, um zu entscheiden, welches der Sinn des Schriftstellers gewesen. Aber wenn die Kritik keine andre Beziehung hat als auf die hermeneutische Aufgabe und zwar in dieser Beschränkung, den Sinn einer vorliegenden Stelle richtig aufzufassen, dann würde unser ganzes philologisches Verfahren bald in eine ungeheure Confusion gerathen, denn dann ist es gleichgültig, ob ich richtige oder unrichtige Abschriften habe; so lange ich den Sinn habe, kümmert mich das nicht. Das ist auch unter dem Begriffe der wahren Hermeneutik, da kommt es auch auf das Verhältniß des Verfassers zur Sprache [an], und für dieses ist das Verfahren gar nicht hinreichend, sondern wenn ich mir nun aus dem Unrichtigen heraushelfen will, so ist es nicht genug daran, daß ich sage, Etwas mit diesem Sinne muß dagestanden haben, sondern ich muß mir das in wirklichen Worten der Sprache und das geschrieben denken, denn da zeigt sich das Verhältniß zur Sprache. Sehe ich nun da
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zwei Wege, auf dem einen die Differenz von dem Ursprünglichen als minimum, auf dem andern eine große zu erhalten, so darf ich das nie unentschieden lassen, sonst bleiben sie leere Stellen für das Verhältniß des Verfassers zur Sprache und je mehr dergleichen sind, je weniger kann ich ein Bild von dem Verhältnisse bekommen und das soll ich doch erhalten; je unsichrer das nun ist, um so unsichrer ist das ganze Bild von der Literatur [und] der Sprache. So wie wir unsre Absicht auf das Ganze der Sprache haben, so ist Nichts unnöthig oder unwichtig. Da also stellt sich die Aufgabe so, daß sie nur so zu fassen, man muß nach der größten Genauigkeit und Gewißheit streben im Restituiren des Richtigen für das Falsche. Nun ist nicht zu behaupten daß wir hier einen Maßstab haben, um den Weg der beurkundenden und divinatorischen Methode gegen einander abzustecken, aber so wie wir uns auf den Standpunkt stellen, überall vorher die kritische Aufgabe zu lösen und nicht darüber hinwegzugehn, wie wenn man nur auf das unmittelbare Interresse der vorliegenden hermeneutischen Operation sähe. Es ist noch ein andrer Gesichtspunkt. Die Schrift ist noch außer der Sprache Etwas für sich und sie hat in dieser Beziehung für sich ihr Positives, was wenn wir von der Schrift abstrahiren in der Rede nicht zum Vorschein kommt; so in der französischen Sprache wo einzelne Laute, ja ganze in der Schrift erscheinende Sylben verschlukt werden, was so wie es Sprache ist, geschehn muß – wir freilich denken in der Rede dabei gewöhnlich an das Geschriebene, aber man hat sich da gar nicht zu bekümmern, wie es sich schreibt –, in der Schrift ist es jedoch etwas ganz Andres. So auch sind im Griechischen mancherlei Fälle; von dem Jota subscriptum kommt in der Rede nichts vor, aber für die Schrift ist es eine positive Sache, es zu schreiben. Können wir nun die Sache so stellen, daß wenn wir auch das Ursprüngliche als historischen Gegenstand betrachten im ganzen Umfange, so könne uns das Positive ganz gleichgültig sein. Das wird Niemand behaupten, sondern grade die Lösung der kritischen Aufgabe, zum Theil in den einfachen Fällen erfodert die Kenntniß dieses Positiven, denn wenn ich nicht weiß, daß Dies oder Jenes geschrieben worden, so fehlt mir auch die Leitung, aus dem, was ich als Ursprüngliches supponire das Falsche zu erklären, was ich oft nur aus den Schriftzügen kann, zu denen diese positiven Elemente gehören. Nun ist auch die Sache ein bedeutender historischer Gegenstand der zur Geschichte der Sprache gehört, wie zu verschiedener Zeit die Schrift sich zur Sprache verhalten, wie wir diese Differenz auch in lebenden Sprachen bemerkt, ohne daß man anders spräche, daher auch die Schrift ihre Ge27 das Ursprüngliche] über die Aufgabe
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schichte für sich hatte, weil Veränderungen in ihr vorgehn unabhängig von den Veränderungen der Rede, diese gehören zur Totalauffassung der Sprache, sie sind wesentliche Momente zur Geschichte der Sprache, und so erscheint uns erst die beurkundende Kritik in ihrem ganzen Umfange; bleiben wir nur stehn bei jedesmaliger unmittelbarer hermeneutischer Aufgabe, so werden wir in vielen Fällen ganz über die kritische Aufgabe wegkommen können und in andern Fällen gar nicht die Genauigkeit und Gewißheit in Achtung nehmen, sondern werden oft in dem Falle sein zu sagen, wenn wir jetzt auch nicht völlig entscheiden können, so wird doch der spätere Zusammenhang darauf führen und so wird das Hermeneutische oft zu lösen sein, doch geschieht so eben so wenig der philologischen Aufgabe als der hermeneutischen Genüge, denn wenn ich die Kenntniß der Schreibart eines Schriftstellers habe, kann ich auch in dieser viel weiter kommen, und auf jene Weise erlange ich die nicht. Betrachten wir die Sache in ihrem ganzen philologischen Umfange, so sehn wir uns auf ganz andrer Stelle, wir haben uns zunächst nur der Hermeneutik angeschlossen, da sind jene beiden Fälle gesondert, Aufgaben die entstehn aus dem Fehler an und für sich und solche, die entstehn aus Vergleichung mehrer Abschriften. Wie kommt man dazu? das ist eine philologische Aufgabe, nicht eine kritische, denn sie ist gar nicht bloß um die kritische Aufgabe zu lösen, sondern gehört zum Totalbilde von der Behandlung der Sprache in verschiednen Zeiten und Regionen. So wie wir uns die philologische Aufgabe stellen die Geschichte der Schrift und Sprache genau zu erforschen, so ist auch die Aufgabe zu lösen, Alles zu vergleichen, was von Schriften geblieben. Diese Sache hat eigentlich ihre Anwendung in der Diplomatik, ist aber an und für sich auch eine, und die Palaeographie ist ein Theil nur davon, denn die Aufgabe ist, die Geschichte der Sprache und Schrift selbst genau vor sich zu haben, da müssen wir und werden wir vom Inhalt abstrahiren und es kommt nicht darauf an, ob was vor mir ist, Abschrift derselben Schrift ist oder ist nicht, es ist nur zusammenzustellen, woran man die Verschiedenheit der Zeit und Oertlichkeit zur Anschauung bringe. Da wird sich von selbst die Aufgabe, abgesehn von dem Inhalt, verschieden stellen, Abschriften derselben Schrift zu vergleichen und diese Aufgabe besteht für sich und die Auflösung der kritischen Aufgaben durch dieselbe ist nur Anwendung, die davon gemacht wird. Gehn wir zu unsrer Aufgabe selbst zurück, so müssen wir sagen, die kritischen Aufgaben, die uns beim Lesen einer Schrift, einer alten Schrift entstehn können, sind sehr verschiedener Art; im Ganzen können wir 8 werden] wird
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sagen, es sind die einfachsten Fälle wenn sie durch das zu lösen sind, wodurch sie entstehn; entsteht solch Fehler ÐvonÑ der Grammatik, so löse ich ihn auch durch Grammatik, dagegen entsteht eine Aufgabe durch eine Wendung, einen Ausdruck der sonst nicht beim Schriftsteller vorkommt, so muß er durch eine inwohnende Analogie entstanden sein, und der einfachste Fall ist, wenn ich dadurch ihn löse. Fragt man, wie man zur Kenntniß der Analogie komme, wodurch man die Aufgabe lösen könne, so hängt in beiden Fällen Alles ab von der genauen Kenntniß der Schrift als solcher, denn denke ich, man ist bei der Abschrift so zu Werke gegangen, daß Jemand, der eine Abschrift vor sich hatte und Fehler fand, das drückt nun das Ganze aus wie ihm der Sinn vorkam, oder wie ein Minimum von Differenz er glaubte, so kann soviel hineingekommen sein daß gar keine Analogie über die Sprachweise des Schriftstellers aufzustellen ist. – Es würde nun ein falsches Maß sein, wenn man die kritischen Regeln ausbilden wollte in Beziehung auf das Bedürfniß der unmittelbaren hermeneutischen Aufgabe; denn so wie das in der philologischen Praxis ginge, so wäre es um alle genaue Sprachkenntniß geschehn. Fragen wir, wie stellt sich der Werth der beurkundenden und der divinatorischen Kritik in dieser Beziehung, so ist das beurkundende Verfahren die einzige Basis, die es gibt; das divinatorische ist eigentlich nur zum Behufe der unmittelbaren hermeneutischen Operation, in Fällen wo die beurkundende Kritik nicht ausreicht; komme ich bei einem Schriftsteller auf verdorbene Stellen und haben wir Eine Ausgabe so machen wir Conjecturen und lösen durch die divinatorische Aufgabe. Aber wenn uns ein kritischer Apparat zugänglich ist und wer die Sache mit philologischem Sinn nicht bloß in Beziehung auf die Stelle behandelt, die man eben nicht versteht, ist jenes Verfahren ungleich bedeutender. Aber indem wir hier auf einem Punkt stehn wo ein mechanischer Fehler vorauszusetzen ist, so haben wir soviel als möglich auszumitteln, ob ich etwas Andres finde oder wie der Fall entstanden, denn trotz dem kritischen Apparate kann ich oft zur divinatorischen übergehn müssen, aber ich weiß davon doch durch jene, wie er entstanden sein könne, und die verschiedenen Lesarten sind mir zu der wahren hier aber unbekannten Größe mehr bekannte. Alle andern philologischen Gesichtspunkte zusammengenommen ist in dieser Beziehung die divinatorische null und die beurkundende Kritik Alles; da ist das Verhältniß ein andres, aber dies ist nicht auf so absolute Weise, daß es ein allgemeiner Canon ist, die divinatorische Kritik sei nur zuzulassen, wo es an urkundlichen Mitteln fehlt oder gar, so bald man 8 Schrift] über Sprache
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jene urkundlichen Mittel habe, sei man nicht befugt jene anzuwenden sondern müsse bei dem besten, das die Handschriften gäben bleiben; das ist ein Canon, der gar nicht aufzustellen ist, da die hermeneutischen Interressen dabei zu kurz kommen würden. Da müssen wir unterscheiden zu welchem Behufe wir Regeln aufstellen und in welchen Beziehungen man die verschiedenen Beziehungen, durch welche die Regeln auszumitteln, mit einander vergleicht, so muß man sie vom allgemeinen Gesichtspunkt aus fassen. So ist das urkundliche Verfahren eine Aufgabe für sich selbst, aber in dieser wird es auch weiter ein divinatorisches Verfahren geben, was sich auf die Aufgabe bezieht, denn das liegt in der Natur der Sache, und ist sie eben so nothwendig als das andre Element und so kommt es auf keine Abschätzung des einen gegen das andre an, sondern das kann nur in allgemeiner Weise, nur in Beziehung auf sich geschehn. Gehn wir auf den Punkt zurück, von dem wir ausgegangen, und constituiren uns als bloße Leser und haben dann kein andres Interresse als mit Bewußtsein der Befriedigung weiter gehn zu können, so können wir ohne die kritische Aufgabe zu lösen diese Seite liegen lassen, aber das ist nicht der Gesichtspunkt, aus dem die Kritik zu betrachten ist; das stellt sich allerdings verschieden, wenn der Gesichtspunkt verschieden ist. Haben wir mit einem Schriftsteller zu thun, bei dem es nur auf den Inhalt ankommt, dessen Sprachbildung kein besondres Interresse hat, da kann man am leichtesten über alle kritischen Aufgaben weggehn, sobald man das Mangelhafte auf hermeneutischem Wege lösen kann, aber bei einem Schriftsteller, dessen Sprachbildung von Werth für die ganze Sprache ist, gewinnt auch Interresse, was er denn wirklich geschrieben, da ist die kritische Aufgabe zu lösen. Als bloßer Leser kann man sich um so mehr mit der divinatorischen Weise aber begnügen, jemehr man sich seine Sprachweise einwohnend glaubt, so daß man durch die Analogie doch geleitet werde. Das Resultat, was sich uns ergeben aus der Frage, wie sich die beiden Methoden gegen einander verhalten, durch welche eine kritische Aufgabe die uns beim Lesen eines Schriftstellers entsteht, gelöst wird, war dieses, daß wenn man die kritische Aufgabe in ihrer Unmittelbarkeit betrachtet man in sehr vielen Fällen ohne eigentliche Lösung derselben fortkommen kann, wenn sich aus den Umständen der Sinn ergibt, so daß man weiß, das hat der Schriftsteller sagen wollen, wie? weiß man nicht. Dies gilt aber nur für den Fall, wenn sich auf diesem Wege ein bestimmter Sinn ergibt, stellen wir uns auf den allgemeinen philologischen Standpunkt, so ist die Aufgabe die kritische Frage zu lösen eine 35 daß] das
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allgemeine Aufgabe unabhängig von der besondern hermeneutischen, und verfährt man in Dieser wie in Jener, so thut man ihr im Ganzen so viel Schaden wie man im Einzelnen Zeit und Mühe erspart, denn es ist nothwendig so genau als möglich zu wissen, wie ein Schriftsteller geschrieben, um eine bestimmte Anschauung von der Behandlung der Sprache zu bekommen; so bekommt die kritische Aufgabe einen allgemeinern Sinn und tiefere Nothwendigkeit. Nun können wir weiter gehn und sagen, der Fall läßt sich so denken, daß im Leser keine kritische Aufgabe entstehe und doch ist es der Fall gewesen, daß eine kritische Entscheidung nothwendig war, denn es gibt viele Beispiele, die sich aber nur erst, wenn man die Sache von einer andern Seite anfängt ergeben, daß da wirklich ein bestimmter Sinn ist, der auch dem Zusammenhange entspricht und doch hat man Andres, was vom Schriftsteller nicht herrührt. Dieses macht für die Anschauung der Sprachbehandlung eines Schriftstellers ganz falsche Elemente, aus denen nothwendig Irrthümer hervorgehn. Wenn wir auf diesem Punkt angekommen und fragen, wie stellen wir beides gegen einander? können wir sagen, das Verfahren der Vergleichung der Urkunden muß so lange fortgesetzt werden, bis man auf diesem Gebiete ist, wo man von der Voraussetzung mechanischer Fehler ausgegangen ist, und da könne nicht eher eine Entscheidung vorkommen? So wie das behauptet wird, wird vorausgesetzt, es könne das auch geleistet werden, diese Voraussetzung läßt sich aber durch keinen Umstand rechtfertigen, es werden die unmittelbarsten Aufgaben nicht durch die beurkundende Kritik gelöst und die divinatorische bleibt eine unvermeidliche Hülfe, aber wenn wir von diesem Standpunkt ausgehn, müssen wir auch wieder sagen, die divinatorische Kritik sei ein Nothbehelf. Nun müssen wir auch die Aufgabe, von der das Verfahren mit den Urkunden ausgeht uns in Beziehung auf dieses Gebiet auch näher construiren, da kommt es darauf an, Endpunkte zu suchen und bei solchen werden wir anfangen, wo es nicht Statt findet. Hat man ein eben erschienenes Buch vor sich, so ist vorauszusetzen, alle Exemplare seien vollkommen gleich, es kommen wohl einzelne Ausgaben vor, in denen nachträglich ein Fehler bemerkt worden während des Drucks, der also in den spätern Ausgaben berichtigt ist, aber eben weil das nicht vorausgesetzt wird und werden kann, so wird ein solcher Fall auch ausdrücklich in den frühern bemerkt, hier ist die Voraussetzung einer Identität. Findet man nun einen Fehler, so kann der durch das beurkundende Verfahren nicht verbessert werden, dies ist hier nicht anzustellen, weil außerdem nur die Handschrift des Autors ist, die aber nicht dazu zugänglich ist, da ist man also bei jedem Drukfehler an das divinatorische Verfahren gewiesen und ein andres ist nicht einzu-
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schlagen. Sowie von einem Buche mehr als ein Druck ist, nicht verschiedene Ausgaben sondern verschiedene Auflagen von besondrer Drukprocedur, da wird die eine nicht dieselben Fehler als die andre haben, es können unabsichtlich Druckfehler der ersten verbessert sein und in die zweite neue hineingebracht; schon bei diesem Minimo von Differenz ist auf das urkundliche Verfahren Rücksicht zu nehmen und nur in dem Maaß, als die Gewißheit des divinatorischen Verfahrens eine absolut schlagende ist, kann man das beurkundende zuzubringen sich entheben, wo ich eine Abschrift vor mir habe, muß ich die Möglichkeit solcher mechanischer Fehler auch annehmen, weil die Veranlassung dazu vorhanden war und dann das beurkundende Verfahren sogleich aufgegeben ist, sobald die Aufgabe in einen weitern Gesichtspunkt tritt. Da führt der Gang der Untersuchung auf eine andre Frage, verhält sich Alles in dieser Beziehung gleich, was aus dem Alterthum herrührt. So wie wir uns auf den allgemeinen philologischen Standpunkt stellen so kommt es darauf an, zunächst wie die Sprache in allen verschiedenen Perioden ist behandelt worden; da muß ich aufs Genaueste hinter die Schreibung des Schriftstellers selbst kommen, so wie ich nur weiß, aus welcher Zeit die Schrift ist, sonst hat diese Erforschung keinen Werth, weil das Resultat keinen bestimmten Ort hat, jedes Verfahren wäre null, das sich nicht auf bestimmten Ort bezöge, da das Verfahren auf die Geschichte sich bezieht. Hier beschränkt sich also die Aufgabe schon, ferner, wenn der Verfasser keinen schriftstellerischen Charakter hat, so kann auch da kein Resultat heraus kommen, das für die Aufgabe von Bedeutung wäre, ein solcher kann eben so gut die Weise seiner Zeit repraesentiren oder kann regellos bald so bald so handeln, also kann es viele schriftstellerische Producte geben, von denen wir gestehn, diese Verfahren anzuwenden könne ÐoftÑ vom allgemeinen Standpunkte aus betrachtet, keinen Nutzen gewähren, der den Aufwand von Kraft und Zeit belohnte. Nun entsteht aber noch eine andre Nebenaufgabe. Das Abschreiben selbst ist eine mechanische Operation, die bald auf diese bald auf jene Weise kann getrieben werden; die Buchstabenschrift hat nun ihre verschiednen Gestaltungen, die auch mechanische Irrungen hervorbringen können, wenn zwei früher ähnlich gewesen sind, die nun nachher so gewandelt werden, daß sie nicht mehr einander sondern jede einer andern ähnlich wird, so werden in dieser Periode andre mechanische Irrungen entstehn als in der frühern. Kennen wir die Differenz zwischen der Zeit der Urschrift und Abschrift und wissen, es liegen in dieser Zwischenzeit verschiedne Gestaltungen der Schrift 34 gewandelt] gewandert
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so ist auch möglich, daß jede Irrung ihre eigne Geschichte habe und es können Irrungen aus ganz verschiedenen Zeiten herstammen und da entsteht die besondre Aufgabe, die Kenntniß der Schriftzüge und ihrer Veränderungen, das palaeographische Studium, wobei es darauf ankommt, die Gestalten der Schrift zu der Zeit der Urschrift und die Gestalten die in die Abschrift getreten, zu wissen, ebenso wie die zwischenliegenden. Nun gibt es Zeichen die allerdings mit der grammatischen Position der Wörter zusammenhängen und die das eine Mal so das andre so gestellt werden, es gibt zu verschiednen Zeiten verschiedene Schreibungen desjenigen, was an den Sprachelementen veränderlich ist, und so wie die Abschriften weniger in dieser Beziehung Copien der Urschrift sein wollen, als sie dem Charakter ihres Zeitalters folgen, so entstehn daraus ganz neue und zusammengesetzte Verhältnisse; hier finden wir Aufgaben, die unmittelbar ausgehn von der allgemeinen philologischen Aufgabe, die Kenntniß der Sprache und Schrift in ihren alten Existentialverhältnissen und das Verfahren der Vergleichung der Urkunden hat zugleich die Tendenz diese geschichtlichen Momente festzustellen, weil wir sie nur in diesen Ueberbleibseln haben, wozu die Zeugnisse von Schriftstellern, die darüber geschrieben nur Complemente sind; da kann ein Schriftsteller, der an und für sich so wenig Bedeutung hat, daß es nicht der Mühe lohnt solche Differenzen aufzusuchen, die außerhalb der Ermittlung des Sinns liegen, in Hinsicht auf die Abschrift sehr werthvoll sein [können] und mit dieser kann man sich also beschäftigen, weil sie ein Document für bestimmte Zustände der Schreibart sein so wie sie von denen, die sich damit abgeben behandelt worden, da hört auf gewisse Weise die Differenz des Gehalts und der Werth der schriftstellerischen Production ganz auf und es entstehn Gesichtspunkte, die man von der Hermeneutik aus gar nicht findet. Diese Aufgabe kann man eigentlich wohl nicht mehr zur Kritik rechnen, da sie rein historische Forschung, und nehmen wir das palaeographische Studium für sich, so ist es eine rein historische Forschung, wobei es nicht auf den Gehalt und Werth des Schriftstellers ankommt sondern nur der Abschriften; die Sache ist aber die, daß diese historische Forschung nicht ohne die Kritik bestehn kann, denn man muß auch beurtheilen können, ob eine vorliegende Form damals übliche Form gewesen oder ein Fehler ist, den der Abschreiber selbst gemacht und diese Vergleichung der verschiedenen Zeiten und Zusammenstellung der analogen Fälle ist gar nicht anders als durch sie auszumitteln. So kommt uns abgesehn vom hermeneutischen Interresse dieselbe Sache wieder. Betrachten wir nun dieselbe 31 Schriftstellers] folgt nicht
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Aufgabe auf demselben Gebiete von einer andern Seite und fragen, kann man sich unter allen Umständen in Beziehung auf die Loesung derselben immer dasselbe Ziel setzen oder nicht? – wir behandeln die Fälle, wo eine Differenz aus mechanischen Irrungen entstanden, und wo der Fehler uns im Lesen aufstößt, so daß die Voraussetzung einer mechanischen Irrung gewiß ist, weil er den Sinn unvollständig und unbestimmbar macht, es ist also unsre ursprüngliche Position –. Nun ist jetzt, für das rein hermeneutische Interresse brauche ich in vielen Fällen keine Autorität zu haben, wenn sich der Sinn aus dem Zusammenhange bestimmt und überzeugend ergibt; sobald nun ein Schriftsteller als Ort in der Sprache behandelt ist so gewinnt die Frage, wie er geschrieben ein Interresse für sich, kann man in allen Fällen die Frage, wie der Schriftsteller geschrieben, entscheiden? da gehn beide Methoden wieder auseinander, und man wird die divinatorische Methode in Anschlag bringen, so wie Fälle sind, wo die Frage nach divinatorischer Weise zu entscheiden ist, sobald man weiß und genau weiß, wie zur Zeit des Schriftstellers geschrieben ist, oder man seinen Sprachgebrauch bestimmen kann. Unter den Umständen kann sich die divinatorische Kritik das Ziel setzen, zu entscheiden so habe der Schriftsteller geschrieben, aber wie viel gehört dazu, um diese Voraussetzung mit Sicherheit zu machen. Wie steht es, wenn wir von der divinatorischen Methode absehn und alle Fälle bedenken, wo mechanische Irrungen vorkommen können, wo aber kein Anstoß also auch keine Aufgabe entsteht, da sind viele Fälle, wenn jene Voraussetzungen die der divinatorischen Methode zum Grunde liegen, nicht sicher können gemacht werden, wie auch das beurkundende Verfahren sich nicht das Ziel setzen kann, die Frage, wann der Schriftsteller geschrieben, zu lösen. Das ist nicht nur bei solchen Aufgaben wie die homerische wo es zweifelhaft ist, ob es jemals eine Urschrift gab, von in den ersten Aufzeichnungen schon zusammenhängenden ÐWerkenÑ, sondern bei allen, wo die Differenzen zwischen dem Zeitraum, wo der Schriftsteller geschrieben und den ältesten Abschriften, die wir von ihm haben, bedeutend groß sind und eine Menge von Zwischenpunkten fehlen, die Aufgaben zu lösen. Man kann nicht eher entscheiden, ob ein Fehler aus einer Handschrift herrührt von einer von anderm Charakter, der wiederum ein andrer war als der ursprünglichen Schrift, kurz da sind unbekannte Quellen von Fehlern, so daß kein Uebergang zur Urschrift ist in Beziehung auf Fehler mechanischer Irrungen, so wie jene Voraussetzung nicht zu machen ist, und so ist auch nicht immer die Aufgabe zu lösen. Da sind also Fälle, wo wir unser Ziel setzen 14 Anschlag] korr. aus Anwendung
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müssen, wie bei Homer die Schreibung der Alexandrinischen Grammatiker, auf die zurückzugehn wohl eine Möglichkeit ist, weiter zurück werden wir nur ohne alle Subsidien gehn. Da müssen wir also sondern das Interresse, welches von der unmittelbaren hermeneutischen Aufgabe ausgeht und das allgemein philologische Interresse. Letzteres kann sich bestimmte Grenzen setzen, das kann in vielen Fällen der hermeneutischen Aufgabe nicht genügen, daher ist eine verschiedene Verfahrungsart, jenachdem man den einen oder andern Gesichtspunkt nimmt. Fragen wir, in welcher Lage befinden wir uns, wenn wir anfangen einen alten Schriftsteller zu lesen, einen gedrukten Text vor uns haben, wie ist er entstanden?, das kann auf die verschiedenste Weise geschehen sein, und weiß man nicht wie, so weiß man auch nicht ihn zu behandeln. Gehn wir davon aus daß unsre gedruckten Ausgaben herrühren von der Sache kundigen Männern, so wissen wir nicht eher wie sie Ð Ñ für die unmittelbare hermeneutische Aufgabe als unser allgemeines philologisches Interresse zu gebrauchen sind, wenn wir nicht wissen, nach welchen Regeln der Herausgeber seinen Text gebildet; da müssen wir die verschiedenen Fälle constituiren, weil wir sonst die kritische Aufgabe nicht zu stellen wissen, aber die Construction dieser verschiedenen Fälle wird die verschiedenen Verfahrungsarten in Constitution eines Textes auf gewisse Regeln zurückführen und sie sind dann in Beziehung auf ihre Zweckmäßigkeit zu vergleichen. Diese Frage ist ohne Vergleichung nicht zu beantworten zwischen dem Falle, in dem ich bin, wenn ich einen gedrukten Text habe und dem Fall in dem ich bin, wenn eine einzelne Handschrift. Ist zwischen beiden Fällen immer ein Unterschied? oder sind auch Fälle, wo dieser Unterschied verschwindet? Letztres ist der Fall, ist ein Schriftsteller aus einer einzelnen Handschrift abgedruckt und mit möglichster Genauigkeit, dann ist man in demselben Falle als wenn man jene Handschrift hat, aber nur, wenn auch die Zeichen des Drucks sich noch an die Zeichen der Handschrift halten, dann sind Fälle wo die Differenz zwischen beiden null ist und die gedruckte Ausgabe zu behandeln ist, als hätte ich eine einzelne Handschrift vor mir, ohne eine weitre noch zu kennen. Wir stellen uns zuerst wieder auf den Punkt, den uns die Verbindung der Kritik mit der Hermeneutik gibt, wie stehn wir als Leser eines Werks, indem wir es in solcher Gestalt vor uns haben, wo die Möglichkeit mechanischer Irrungen vorausgesetzt werden muß zur Handhabung der kritischen Aufgabe? Es kommt Alles auf die Grundsätze an und die Art und Weise, wie der Text behandelt ist und dieses führt uns auf Größeres und Allgemeineres zurück, die verschiedenen Arten, wie bei Herausgabe solcher Werke verfahren werden kann. Wir reden hier von
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Werken älterer Zeit entweder vor der Buchdruckerkunst oder doch außer aller Verbindung mit derselben und setzen uns in den Fall eines gedruckten Exemplars, der ist aber verschieden und wir müssen hier die verschiedenen Fälle sondern. Der einfachste ist der, wenn ich weiß, ein Exemplar stellt eine bestimmte Handschrift eines Werks dar, dann ist es so entstanden, daß es mir die ganze kritische Aufgabe überläßt, so habe ich alle Ursache vorauszusetzen, daß in diesem Exemplare mechanische Irrungen sind. Das Buch gibt mir nun keine Hülfsmittel, die Aufgabe zu lösen sondern überläßt mich mir selbst. Ein zweiter Fall ist der, das gedruckte Exemplar ist entstanden durch eine Beurtheilung, von der ich die Principien nicht kenne. Da bin ich noch schlimmer daran, denn ich weiß nicht einmal, was einen urkundlichen Grund hatte oder was da nur auf einer mir unbekannten Einwirkung beruht. Es hat zB ein Herausgeber ein Paar Handschriften vor sich gehabt, und so hat er aus der andern genommen wenn ihn die eine nicht befriedigte, und er in jener fand was ihn befriedigte, und er hat die divinatorische Methode angewendet wenn ihm Etwas dem Sinn und den Verhältnissen des Buchs angemessen und nothwendig schien; da sind also mehre Arten untereinander, Urkundliches, was zur Hülfe dienen könnte, was wir aber nicht unterscheiden können nach der einen oder andern Handschrift, auch nicht was Urkundliches ist oder was der andern Methode zugehört; endlich ist noch Urtheil daran und auch dieses läßt sich nicht vom Urkundlichen unterscheiden. So ist die Aufgabe die allerschwerste, und da können wir beim Weglesen für Werk des Urhebers halten was nur des Herausgebers war, da es anstatt Eines ihm fehlerhaft scheinenden gesetzt, diese Ausgabe ist durchaus unbrauchbar außer, um sich den Inhalt anzueignen so im Großen; denn im Einzelnen können falsche Correctionen sein, weil man die Sprache kennen kann ohne genau den Schriftsteller selbst; dadurch werden Modificationen in den Sinn hineinkommen, die gar nicht eine genaue Kenntniß des Einzelnen zulassen. Denken wir uns den Inhalt der Schrift als solchen, der Gegenstand des Streits ist, so ist in solchem Falle der Verdacht gar nicht zu vermeiden, daß wenn der Herausgeber bekannt ist, daß er in solchem Streit versire, er habe Manches für falsch haltend was doch richtig war, Manches Fremdartige hineingemischt; wo dieser Fall eintritt sind solche Ausgaben durchaus zu perhorresciren[;] besser ist, wenn man gewußt, der Herausgeber habe mit der Sache Nichts zu schaffen, sobald er aber in der Controverse ist, so ist keine Sicherheit mehr daß er nicht die Schrift alterirt habe. Endlich, wir haben ein Exemplar vor uns und wissen, der Herausgeber habe nicht willkührliche Aenderungen gemacht, er hat ältere Handschriften verglichen und so ihnen leise eine Gestalt gege-
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ben, die das seiner Ueberzeugung nach Beste aus diesen Quellen enthält, ohne mich in den Stand zu setzen, jedes Einzelne auf seine bestimmte Quelle oder sein bestimmtes Quantum von Quellen zurückzuführen, dann heben wir das Mißtrauen nicht und ÐwissenÑ daß Nichts darin ist (als) was nicht schon eine geraume Zeit vorhanden gewesen. In wie weit kann solche Aufgabe für die Schrift selbst gebraucht werden? wieweit gewährt sie Sicherheit, daß ich den Sinn im Einzelnen so fasse in ihr wie ihn der Verfasser gedacht? sie wird sowohl für die einfache hermeneutische Operation als die eigentliche philologische Tendenz immer unzureichend sein denn es sind gar zu viele Fälle, wo, indem man bei solchen Stellen, wo die Exemplare abweichen, aus verschiedenen Exemplaren zusammennimmt, es verschiedene Arten von Zusammenfassungen geben kann, die einen verschiednen Sinn geben und wenn nicht ganz und gar verschieden so doch durch die größere Stärke oder Schwäche des Ausdrucks. Dadurch sehe ich dann den Verfasser selbst nicht mehr, sondern nur den Leser, der die Zusammenstellung gemacht hat, und bin außer Stande, ihn vom Verfasser zu unterscheiden. Was die eigentliche philologische Tendenz betrifft, so kommt es darauf an, ob der Verfasser ein solcher gewesen, der diese Sache im Auge gehabt hat und der Sache mächtig war, dann hat er nicht leicht aufgenommen, was dem Zeitalter und der Sprechweise des Verfassers entgegen war, und doch kann er in einigen Fällen Statt des Aechten Unächtiges gewählt haben; so wie der Fall ein solcher ist, wie wir ihn im Allgemeinen angeführt, wo verschiedene Gestaltungen desselben Buchs existiren, die wenn auch nur in Kleinigkeiten, abweichend sind, so ist ein vollständiger Gebrauch nur möglich unter der Bedingung eines kritischen Apparats. Dieses Hilfsmittel enthält zweierlei einmal gibt es mir die Genesis dessen was im Buche ist, dann aber gibt es mir auch die Gesammtheit alles Vorhandenen, welches beides zusammen erst den vollständigen Begriff eines kritischen Apparats gibt. Ersteres allein ist nicht befriedigend; denn, wenn die Rechtfertigung die Art ist, wie das Buch erscheint, und wir nehmen an ein Herausgeber habe 3 Handschriften zu vergleichen gehabt, er gibt bei diesem ÐgedrucktenÑ Text nur an, das nehm ich aus a, das aus b, das aus c, so weiß ich wohl wo das her ist, er kann aber doch meinethalben Einiges substituirt haben, und wenn er dann sagt, Das habe ich weder aus a noch aus b noch aus c genommen, so weiß ich daß das das seinige war, und daß er eine Operation gemacht, die eigentlich auch ich müßte machen können, aber weiß ich nur das, so kann ich sie nicht machen, vielmehr muß er sagen, A hat das, b dies, c dies, weil das nicht paßt, so nahm ich Dies, dann kann ich mich selbstthätig arrangiren mit den schwierigen Stellen. Dazu gehört
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also daß er vollständig gibt, was er vor sich gehabt. Nun läßt sich dies offenbar nur leisten bei einer gewissen Sparsamkeit der verschiednen Hülfsmittel, wo es sich um Vergleichung von 3 oder 4 Handschriften handelt, wir können das auch wohl bei einer berechneten Art der Darstellung erweitern, aber beschränkt muß die Anzahl sein; sonst wenn ich nur weiß was der Herausgeber will oder thut, können die Verkürzungen bedeutend sein, wie wenn alle Handschriften bis auf zwei übereinstimmen, er nur was diese haben anzuführen ÐbrauchtÑ, Ðwo ichÑ ÐlernenÑ ÐmußÑ, daß die Übrigen mit dem Texte Gleiches haben u.s.w., und so läßt sich bei einer mäßigen Anzahl von Handschriften noch ein mäßiger und überschaubarer Apparat leisten; denken wir hingegen den Fall einer großen Menge von Handschriften, mit denen auch die Differenzen vervielfältigt sind, so können die Handschriften von gar verschiedenem Werthe sein und um alle diese Differenzen von allen verschiedenen Handschriften zusammenzustellen, könnte man eine ungeheure Masse geben, indem ich nun für jeden Fall die ganze Masse durcharbeiten müßte, würde die Aufgabe in jeder Beziehung unendlich werden. Da sind also Fälle wo die Vollständigkeit des kritischen Apparats nicht mehr zu erreichen ist. Was muß da nun geschehn um die möglichste Sicherheit hervorzubringen und den Leser in den Stand zu setzen aus allem Vorhandenen sich ein Urtheil zu bilden? Da muß der Herausgeber sich erst mit dem Leser über gewisse allgemeine Punkte verständigen, wenn er sagt, ich nehme auf diese Handschriften keine Rüksicht und die Gründe befriedigen mich so bin ich einig mit ihm, wenn nicht, so habe ich an dem was er gibt nicht genug und muß mich umsehn wo ich noch Andres finde. Offenbar gibt es hier gewisse Principien um solche Apparate anzulegen, die aus verschiedenen Gesichtspunkten gemacht werden können. Setzen wir den Fall, die Schrift liege in einer Controverse, und der Herausgeber sagt, ich schließe solche Handschriften völlig aus und nehme keine Rüksicht auf sie in streitigen Fällen, weil sie aus einer Quelle sind, die mit in der Controverse gestekt hat und so in Gefahr gewesen ist, daß der Sinn durch den Herausgeber alterirt worden. Da werden Einige zufrieden sein, Andre werden sagen, das ist nur gut wo die Differenzen mit der Controverse zusammenhängen, wo aber das nicht ist könnten diese Handschriften sehr nüzlich sein. Schließt man alle Handschriften aus, die aus einer spätern Zeit sind, so werden Einige zufrieden sein, weil man annehmen darf der Text den sie enthalten sei schon durch viele Hände gegangen und könne daher weit eher Irrungen enthalten; nehme ich dazu, daß die nicht ausgeschlossenen doch schon ein bedeutendes Material geben und bedeutende Differenzen mit sich führen; doch kann das auch zu sehr durchgeschnitten scheinen;
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es kann diese eine Handschrift von einer sehr alten Quelle unmittelbar herrühren und dann wäre ein wesentliches Hülfsmittel abgeschnitten; je mehr Ursache nun zu solchem Verdacht ist um so weniger ist eine so allgemeine Regel zu loben; aber wenn der Apparat ein so großer ist, daß er völlig unübersehbar werden würde, und man doch einen großen Theil der Arbeit umsonst macht, so werden wir ohne solche Beschränkung nicht auskommen können. Nun läßt sich der glückliche Fall denken, daß verschiedenen Apparaten verschiedene Maximen zu Grunde liegen, und da kann der eine den andern ergänzen und so mich als Leser in Stand setzen als hätte ich den ganzen Apparat vor mir. Nun aber da hier Alles darauf ankommt, ob und in wie weit ich mit der Maxime des Herausgebers übereinstimme, so muß Jeder, der ein kritischer Leser sein will auch Urtheil haben, welches die richtige Art und Weise des Verfahrens sei bei der Herausgabe, wo die verschiedenen Urtheile sehr von einander zu unterscheiden sind und jeder Herausgeber nach dem Gesichtspunkte zu beurtheilen, von dem er ausgeht und danach zu gebrauchen. Nun ist fast unvermeidlich, daß man bestochen wird durch das was man vor Augen sieht; haben wir einen alten Schriftsteller vor uns der interpungirt ist, so wissen wir, die Interpunktion rührt nicht vom Autor her, denn in der Zeit, da die classischen Schriften geschrieben wurden, gab es keine; dann wissen wir die Interpunktion habe Einfluß auf die Art den Sinn zu fassen; die Interpunktion nun von vorn herein vernichtet und sich auf den ursprünglichen Standpunkt gestellt zu haben, werden Wenige von sich sagen können; man geht immer nach dem was das Auge gibt und nur wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird, daß ÐbeiÑ andrer Interpunktion, ein andrer Sinn möglich ist, wird man bedenklich, aber man ist schon im Zuge dessen, was Einem früher eingeleuchtet hatte, das Andre ist sogleich im Nachtheil der Opposition, und wollten wir deswegen verlangen, daß die alten Schriftsteller ohne Interpunktion gedrukt würden, das ist eben nicht zu erreichen, weil es uns schon etwas gewöhnliches ist und eine Schwierigkeit entstehn würde dadurch daß diese Bücher [bisher] interpungirt sind, so daß Manche nicht dem gewachsen sind, besonders da so Viele der Bücher herausgegeben werden, die der Operation nicht gewachsen sein können, so ist ein solches Unternehmen dem Herausgeber nicht zuzumuthen, weil nicht zu glauben ist, daß das Buch in viele Hände käme, aber richtiger wäre es und es ist da viele Vorsicht anzuwenden. Daher ist eigentlich sein Einfluß auf die Art der Constitution des Texts [gering], denn es wird nicht leicht Einem gleich sein was er im Text oder außerhalb 32 Manche] Mancher über 〈wir〉
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desselben findet; lesen wir fortlaufend so finden [wir] oft erst eine Bedenklichkeit, wenn wir den Satz zu Ende gelesen, und gibt es da eine Schwierigkeit die wir aus dem kritischen Apparat deutlicher noch erkennen und wir vergleichen so hat der Text immer schon Besitz von uns genommen, das ist zuvor herauszuÐschlagenÑ und die Unpartheilichkeit einzunehmen. Soviel kommt auf die Maximen an denen ein Herausgeber in Beziehung auf Construction des Textes folgt und je bestimmter sie ausgesprochen sind, je leichter kann man sich orientiren, doch ist ein bedeutender Unterschied, ob der Text aus lauter Urkundlichem bestehe oder ob auch Resultate der historischen Kritik darin sind, und ob der Text aus gleichartigem oder ungleichartigem Urkundlichen bestehe. Aber auch in dieser Beziehung kommt Alles darauf an, für wen eine Ausgabe gemacht wird; denkt man die Ausgabe eines classischen Schriftstellers ohne alle philologische Tendenz zu irgend anderweitigem Gebrauche dann kann ich eine Ausgabe ohne allen kritischen Apparat mir denken und so daß der Herausgeber seine eignen Emendationen ÐgegebenÑ. Denke ich ferner Ausgaben von Classikern für Leser, die Philologen werden wollen, aber nicht sind, also zum Schulgebrauch, da liegt die Lösung der kritischen Aufgabe noch außerhalb ihres Umkreises, so wie wir eine Ausgabe denken mit philologischer Tendenz, so ist es besser, daß der Herausgeber seine Sachen aus dem Texte läßt. Dies kann auf verschiedene Weise geschehn, es gibt verschämte und verschwiegene Herausgeber, die nie von dem Ihrigen geben, und wenn sie einen kritischen Apparat haben so ist Nichts auszusetzen, da bin ich durch die Unvollständigkeit des Textes und durch die Zusammennahme des Urkundlichen, das der kritische Apparat gibt, in Stand gesetzt, mein Urtheil für mich zu machen, mir selbst einen Text zu bilden. Dies läßt sich aber nur in Verbindung mit einem Apparat thun, weil es sonst mir an den nöthigen Hülfsmitteln fehlt. Aber diese Trennung läßt sich gar nicht in allen Fällen leisten, denn es ist ja immer ein Urtheil was ihn bewegt aus einer Handschrift zu nehmen und aus einer andern nicht, und jedenfalls ist dennoch diese Trennung durchaus nothwendig. Das ist nun das Allgemeine wodurch sich auch hier wieder die philologische Kritik der historischen als völlig gleich stellt, denn auch bei dieser war es nothwendig das eigentlich Gesehene, das was als Wahrheit in dem Sinne des Berichterstatters lag von seinem eignen Urtheil zu trennen, was da aber nicht so gut möglich ist als in unserm Falle, es ist immer die Gleichheit zwischen dem was der Herausgeber vorgezogen und den Elementen die er nicht so hervorhebt wiederherzustellen. Gehn wir 28 Hülfsmitteln] folgt mir
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weiter und fragen, wie weit geht die Obliegenheit eines kritischen Lesers, in Beziehung auf die kritische Aufgabe? Sobald wir uns auf den Standpunkt eines kritischen Lesers stellen, sind wir über die unmittelbar hermeneutische Aufgabe hinaus, bleiben wir bei dieser stehn so ist in vielen Fällen eine Entscheidung nicht zu fassen, sondern die Frage nach der Thatsache, wie der Verfasser ursprünglich geschrieben unentschieden zu lassen. Gehn wir über die unmittelbar hermeneutische Aufgabe hinaus, so fragt es sich nach dem Verhältnisse des Herausgebers, mit dem man zu thun hat, zu der Thatsache. Im Allgemeinen ist gesagt, es sei in vielen Fällen unmöglich, daß man sich auch nur die Aufgabe stellen könne, die ursprüngliche Hand des Schriftstellers wieder herzustellen und in diesem Falle muß die Kritik, wenn sie nicht willkührlich und desultorisch verfahren will, sich einen andern bestimmten Zweck stellen, der wiederum verschieden sein kann und eben deswegen muß ich wissen, welchen Zweck gerade der Herausgeber sich gestellt hat. Dann ist zu beurtheilen, ob das ein Zweck ist, bei dem man stehn bleiben kann. Da sind die verschiedenen Fälle ins Auge zu fassen, um übersehn zu können, wie es in verschiedenen Beziehungen um die ursprüngliche Aufgabe und den Zweck den man sich stellen kann steht. Setzt man das ursprüngliche Verhältniß, daß eine Schrift ist geschrieben worden und hat ein Oeffentliches sein sollen, so ist die Vervielfältigung nothwendig und ist von Anfang an ein Oeffentliches gewesen. Ist diese aber erst später gewesen, so entsteht die Frage, in welchem Zustand die Urschrift war, als die Vervielfältigung anging und auf welche Weise ist diese betrieben worden. So ist eine Sammlung von Briefen einer geschichtlichen Person nicht gleich öffentlich geworden, sie waren von einem Einzelnen an andre Einzelne geschrieben und waren nur für diese; daß sie als solche schon öffentlich geworden, war rein zufällig und läßt sich gar nicht bestimmt voraussetzen. Findet sich solche Sammlung als handschriftliches Werk vor, so muß Einer dazwischen getreten sein, Einer das Interresse gehabt haben Briefe dieser geschichtlichen Person zu sammeln und da geht erst die Öffentlichkeit der Schrift an. Wir wollen hier noch gar nicht darauf hinweisen, wie falsa so leicht vorkommen, sondern streng bei unsrer Aufgabe bleiben und in diesem Falle können wir von solchem Werk sagen, wenn wir es vor uns haben, es habe nie eine Urschrift gehabt, sondern es war nur eine Sammlung von Abschriften von einzelnen Urschriften, und so ist der Charakter dieser Elemente nicht in allen Fällen derselbe. Der das Interresse gehabt hat solche Sammlung zu besorgen und zu veröffentlichen, hat gewiß nicht die Copien selbst gemacht, sondern sich dieselben von den Verfassern wohl erbeten, und es kann da der Eine bessere, treuere geliefert haben als
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der Andre. In solchen Fällen kann es sein, daß unter verschiedenen Theilen derselben Schriften gar nicht Analogien in Beziehung auf dieses Gebiet der unwillkührlichen mechanischen Irrungen Statt finden, mit denen wir es zu thun haben. Ist es nun wohl möglich daß man in solchen Fällen versprechen kann, die ursprüngliche Handschrift des Schriftstellers herzustellen? oder unter welchen Bedingungen das möglich ist? unter welchen Bedingungen ein niedrigeres Ziel zu stecken? Wenn der Schriftsteller ein sehr reicher ist und wir andre Werke von ihm haben, die mit ziemlicher Sicherheit und Genauigkeit sind überliefert worden, so daß wir aus andern genauen Quellen sichre Kenntniß seiner Sprachbehandlung haben, so wäre es auf die Weise vielleicht möglich, aber nur auf dem Wege der divinatorischen Kritik ist mit gewisser Sicherheit die Urschrift herzustellen, doch auch nur für den Fall, wo eine bestimmte Indication der Unrichtigkeit des Vorhandenen da ist, sei es durch Mannigfaltigkeit der Abschriften oder durch den Sinn. Da werden indeß Mehre über Vieles weglesen, was der Verfasser nicht geschrieben, denn die Möglichkeit solcher Irrungen, die keinen Verdacht erregen und doch Irrungen sind, liegt zu Tage. Was ist in solchen Fällen für ein Ziel zu stecken? Wir werden uns alsdann Statt an den Verfasser uns zu halten, uns an die Zeitpunkte der Publication und Zusammentragung halten müssen, und wenn man es dahin bringt, festzustellen, was damals gelesen ist, so ist das Alles, was sich erreichen läßt; nicht daß nicht durch das divinatorische Verfahren könnte eine Menge von Irrungen beseitigt werden, aber sehn wir auf die Gleichmäßigkeit, so können wir Jenes nicht mehr leisten, es kann aber Fälle geben, wo man auch bei niedrigerm Ziele noch stehn bleiben muß, nämlich die Vervielfältigungen der Schrift können auf sehr verschiedene Weise betrieben werden, geschieht es von einem Einzelnen aus Verlangen in den Besitz eines solchen Werks zu gelangen und von Andern zu andrem Zwek, so kann gleichzeitig eine große Mannigfaltigkeit in den Abschriften entstehn. Wenn die Vervielfältigung in bestimmtem Zeitpunkte auf systematische Weise als bestimmtes Geschäft betrieben wird, dann ist größere Sicherheit, da wird mit vielen Copien auf gleiche Weise verfahren und da lassen sich Regeln aufstellen. Versetzen wir uns in die Sache selbst hinein so ist das Erstere immer das Frühere, es entsteht zu Productionen einzelner Männer eine Liebe erst bei andern Einzelnen, zeitigt bei Einzelnen daher ein besondres Interresse, wenn das Geltung hat, wird es allgemein und nur wenn das Interresse allgemein ist, wird die Vervielfältigung auf eine gewisse Weise betrieben. Denkt man sich eine geschichtliche Person, von der Briefe vorhanden, so sind diese zerstreut und es gehört ein besondres Interresse dazu, den Gedanken zu fassen, sie zu sammeln,
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und das entsteht zuerst bei Wenigen, ist die Sammlung gemacht und auf zerstreute Weise vervielfältigt, dann entsteht ein allgemeineres Interresse und die Vervielfältigung geschieht auf geschäftlichem Wege. War der Mann aber Schriftsteller und er hat Werke gleich für das Publicum geschrieben, so ist es auch gleich auf geschäftlichem Wege vervielfältigt. Bei den Werken somit, deren Verfasser von der letzten Art war, kann man auch viel eher auf Herstellung der ursprünglichen Handschriften ausgehn, bei jenen Werken wie wir sie zuerst genannt, wird man das nicht können. Hier ist die Frage die, man kann sich die Aufgabe auf zwiefache Weise stellen; ein Herausgeber kann sich vornehmen, Gleichmäßiges zu leisten, so daß bis auf einen gewissen Grad und für einzelne Theile seine Arbeit auf gleiche Weise entstehn kann, oder er kann sich vornehmen mit Aufopferung der Gleichmäßigkeit für jedes Einzelne das zu geben was aus der Mannigfaltigkeit ihm das beste und Schlechteste scheint, woraus sich eine verschiedene Verfahrungsweise denn auch begründet. Für den Leser sind beide Arten gleich gut, Jeder muß bei der einen ergänzen was bei der andern ist. Aber als Zweites können wir vom Herausgeber verlangen, daß er den Leser in Kenntniß setze, wie er habe verfahren wollen worin die Grundzüge dieser Verfahrungsweise auch liegen mögen. Es wird am besten gerathen sein wenn wir in dieser Disciplin die Anwendung der allgemeinen Principien auf das N.T. immer hinzufügen, wo wir auf solche feste Punkte gekommen, wie dieser ist, das Verhältniß nämlich des Lesers zum Herausgeber. Wir fragen also, können wir als Theologen bei der Beschäftigung mit dem N.T. bei der einfachen hermeneutischen Aufgabe stehn bleiben, nur den Sinn aus dem ganzen Zusammenhang der Rede mit möglichster Genauigkeit zu bestimmen, um die Art, wie der Schriftsteller ihn ausgedrückt, in schwierigen und zweifelhaften Fällen unbekümmert? Wir dürfen dabei nicht stehn bleiben; das N.T. bildet ein besonderes Sprachgebiet, in diesem ist es eigentlich einzig und hat keine bestimmte Analogie mit andern Schriften, wir haben zwar rückwärts liegend die Apokryphen und die Septuaginta, und nach uns das patristische Griechisch, aber beides ist so von Jenem verschieden, daß wir dieses als Einziges aufstellen können. Darum müssen wir uns für den Zusammenhang der hermeneutischen Operation so viel als möglich Analogien zu verschaffen suchen aber aus der N.T. Sprache, und so muß man so viel wie möglich alles Einzelne bestimmen, der Ausdruck muß überall mit möglichster Genauigkeit entschieden werden, wie ihn der Verfasser gegeben, so viel als die Unvollständigkeit des Ausdrucks es erlaubt. Die 36 Ausdruck] über gestrichenem und sodann unterpunktetem Sinn Sinns
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unmittelbar hermeneutische Operation wird zwar nicht vollkomner gelöst, aber unterlassen wir es den Sprachgebrauch zu bestimmen, so thue ich mir großen Schaden, indem ich dann eine Lüke in meinen Analogieen habe, die so vollständig als möglich sein müssen. Wenn also der nichttheologische Leser, der das N.T. in der Grundsprache lesen will, es vor sich nimmt, so kann er bei der einfachen hermeneutischen Aufgabe stehn bleiben; der Theologe dem die möglichst genaue Kenntniß des N.T. obliegt, muß sich des Sprachgebrauchs zu versichern suchen und da ist kein Unterschied in Beziehungen auf sogenannte Kleinigkeiten, sie können in andern Fällen wieder auf den Sinn einwirken, und somit ist das vollständigste kritische Verfahren aufgegeben. Sind wir nun an eine Ausgabe gewiesen, wie stehn wir zum Herausgeber? was hat er zu leisten und was wir zu thun, weil er dieses geleistet? Da müssen wir auf die erste Aufgabe zurückgehn, auf die Existenz des N.T.’s in seiner gegenwärtigen Gestalt als gedruktes Buch. Wie war der Zustand der Gesamtexistenz des N.T. zu der Zeit? Im Allgemeinen sagen wir, es gab ehe es gedruckt wurde eine große Menge von Handschriften aus verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Gegenden gefunden und aus verschiedenen Gegenden, wie fing man nun von solchem Zustand aus das Drucken an? Man hatte einige Handschriften vor sich und machte aus diesen einen gedruckten Text ohne gerade bestimmt Einer zu folgen und ohne vollständige Rechenschaft über das Verfahren dabei zu geben. Wie ist das nun geworden, sind da nicht sehr verschieden gedruckte Texte des N.T.’s entstanden? Die sind entstanden, aber späterhin fixirte sich Eine Gestalt, die aber nichts weniger als nach bestimmten Principien gemacht ist, sondern aufs Gerathewohl ist der Text gemacht; es ist nichts Urkundliches dem er entspricht, denn es gibt keine Handschrift aus der der Text genommen und keine Regel, sondern dieser Text ist aus gedrukten Ausgaben und einzelnen Versuchen, die sich auf gedruckte Ausgaben beziehn, entstanden. Behandeln wir die Sache rein vom philologischen Standpunkt aus und gehn von der Thatsache der verschiedenen Handschriften aus, so erkennen wir als Aufgabe, die Handschriften zu vergleichen, die aber von Einzelnen bei ganz systematischem Verfahren nicht zu lösen ist, dazu hätten viele Männer sich vereinigen müssen, und auch sie hätten sich durch bestimmte Principien beschränken müssen; um aber diese mit Richtigkeit aufzustellen mußte man Kenntniß der verschiedenen Handschriften haben, die hatte man nicht, und so konnte das Geschäft nur ÐwiderÑ auf so desultorische und fragmentarische Weise getrieben werden. Seitdem hat es nun 7 der] dem
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viele und verschiedene Ausgaben des N.T.’s gegeben. Einige haben unsre Handschriften verglichen und das Resultat ihrer Vergleichung als kritischen Apparat ihrer Ausgabe beigefügt, haben aber den Text gelassen wie er war, und da diese Ausgabe begann, als die recepta schon vorhanden war, so finden wir, wenn wir uns solcher Ausgabe gegenüberstellen, in der schlechten Position, daß Urtheil in das Urkundliche gemischt ist und daß Nachricht über die Verfahrungsart uns ganz und gar fehlt, wir finden uns ferner in dem ungünstigen Falle daß das Auge bestochen ist auch durch das Verwerfliche, welches gar oft in den Text aufgenommen ist, endlich sind wir auch in dem nachtheiligen Falle, daß hinreichende Nachricht über den Zustand der Materialien eigentlich nirgends gegeben ist, das ist nun freilich auch, wenn es vollständig geschehn sollte, eine Aufgabe, die fast nicht zu lösen ist und es wäre bei der Lage der Sache nicht einmal der Mühe werth sie zu lösen. Sollten alle Handschriften auf systematische Weise aufs genaueste verglichen werden, so daß der kritische Apparat auf das Vollständigste könnte gestaltet werden, so daß alle Bestechungen wegfielen, so könnte das nur geschehn, daß das N.T. Wort für Wort durchgenommen und bei jedem die Verschiedenheit der Lesarten neben einander gestellt würde –, was sollte aber als Maßstab gelten, wenn man die recepta verwerfen muß und keine der kritischen Ausgaben zum Grunde gelegt werden kann, bei der die Bestechung nicht Statt fände? so könnte man nur den Text Einer Handschrift zum Grunde legen, und daran den kritischen Apparat anknüpfen, denn ich setze bei einer Handschrift die Möglichkeit von Irrungen voraus, bei einem durchgearbeiteten Text nicht und bin hier also bestochen, so geht nur das, den Text Einer Handschrift zum Grunde zu legen und alle Abweichungen mit Bezeichnung des Orts woher sie genommen, als kritischen Apparat anzuhängen. Wenn man einmal das Factum feststellt, was doch ein überaus offenbares und anerkanntes Resultat ist, daß die Handschriften aus späterer Zeit sind, so ist es völlig überflüssig solchen Apparat aufzustellen und wir müssen davon abstrahiren, aber das ist anzuerkennen, daß wir mit den Ausgaben in so ungünstiger Position sind, daß um die kritische Aufgabe zu lösen, erst bessere Ausgaben gefunden und der Text auf’s Neue Gegenstand der kritischen Behandlung werden müsse. Es ist zunächst zu bemerken, daß alle absichtliche Vergleichung verschiedener Handschriften gar nicht für vollständig gehalten werden kann, sondern es ist hier durch die eigenthümliche Beschaffenheit des N.T.’s eine Ungleichförmigkeit entstanden, die sonst nicht leicht auf anderm Gebiete vorkommen kann, denn wie viele Stellen streitig sind hermeneutisch, wo aber die Streitigkeit nicht abhängt von der Beschaffenheit der Stellen sondern von
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dem dogmatischen Interresse, so vergleicht man oft nur solche Stellen, die dogmatisches Interresse haben und so erhält man keine vollständige Vorstellung von der Beschaffenheit der Handschriften selbst, so wenig wie einen kritischen Apparat. Allerdings ist das beim N.T., daß wir Texte haben, die einzelnen Handschriften nachgedrukt sind, so ist der Alexandrinische codex als Facsimile abgedrukt und so noch zwei andre, aber das sind nicht zugängliche Ausgaben, sondern sehr kostbare Werke, die auch schon des großen Volumens wegen sich nicht zum täglichen Gebrauche eignen oder bei dem eigentlichen Lesen nicht vorhanden sind. Wenn wir die bisher am meisten gebrauchten Handausgaben betrachten und noch etwas weiter gehn, so sehn wir solche, wo der Herausgeber sein Urtheil vom Text ganz gesondert hat, wie die Wettsteinsche Ausgabe, es ist, was an der hergebrachten Ausgabe fehlerhaft war besonders bezeichnet. Noch weiter ist Griesbach gegangen, der was er Andres aufgenommen, durch die Schrift unterscheidet, und das Alte in einen innern Rand gestellt hat da ist aber die Bestechung dadurch nur zu Gunsten des alten Textes vermieden, dem doch gar keine Autorität zum Grunde liegt. Ganz anders wäre es, wenn eine bestimmte Handschrift zum Grunde läge, wogegen widerführe das dem gewöhnlichen Text, so widerfährt die Ehre nur einem Gemisch willkührlicher Einfälle. Fragen wir, wie steht der Leser des N.T. gegen alle diese Ausgaben? so ist der herrschende Charakter derselben, daß sie diesem gewöhnlichen Texte huldigen, ihn obenan stellen, und es liegt in der schlechten Beschaffenheit dieses Textes die schlimmste Bestechung des Auges und man kann es nicht vermeiden, was in ihm steht für das Wirkliche und Wahre zu halten. Sehn wir die Griesbachsche Ausgabe an, so geht dieselbe Superstition da in Beziehung auf den gemeinen Text auch in den kritischen Apparat hinein, der darin als der sich von selbst verstehende angesehn wird; daraus entsteht daß der kritische Apparat unvollständig ist, weil nicht angeführt ist, welche Autoritäten den gemeinen Text beschützen und aus der Nothwendigkeit, daß dieser nicht vollständig sein konnte wegen des Volumens, ist diese Art des kritischen Apparats zu constituiren, nur erfährt man nie, wieviel für den gemeinen Text spricht, sondern nur die Autoritäten für die Abweichungen, aber auch nicht alle wie denn das nicht möglich ist, über die Autoritäten die 5–6 Vetus Testamentum Graecum e Codice Ms. Alexandrino qui Londini in Bibliotheca Musei Britannici asservatur, typis ad similitudinem ipsius codicis scripturæ fideliter descriptum. Ed. Henry Hervey Baber. London: Taylor 1816–1821. 12 Johann Jakob Wettstein (Wetstein; 1693–1754) publizierte sein zweibändiges ,Novum Testamentum Graecum‘ 1751–52 (SB 254). 13–14 Johann Jakob Griesbach (1745–1812) lehrte in Jena und publizierte seine Edition des Neuen Testaments 1774–75; Schleiermacher besaß die verbesserte zweite Auflage 1796–1806 (SB 258) sowie die dritte, von D. Schulz bearbeitete Auflage von 1827 (SB 265).
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der gewöhnliche Text für sich hat, bleibt man im Dunkeln. Dieser ist dadurch immer mächtiger geworden, liegt den kritischen Bemühungen zum Grunde und bestimmt die Art und Weise, wie sie hervortreten. Da ist die Lage des Lesers eine sehr ungünstige; nun aber soll der kritische Leser über dieses so gut als möglich urtheilen und so ist zunächst die Frage zu stellen, was kann möglicherweise in Beziehung auf den kritischen Text geliefert werden? Gehn wir zurük auf das beiläufig Gesagte über die verschiedenen Verhältnisse, wenn eine Urschrift da war oder nicht, und wir müssen hier sagen, es habe vom N.T. nie eine Urschrift gegeben, sondern es ist nur ein Aggregat sehr verschieden gestalteter Abschriften gewesen, es ist eine Sammlung, und reden wir von einer Urschrift derselben so können wir nur das erst geschriebene Exemplar eines so zusammengestellten N.T.’s so nennen; solche hat es nicht gegeben, sondern die Sammlung hat lange nachdem sie abgeschrieben war, ihre Gestalt erst gewonnen. Die Evangelien sind als eigene Schriften vorhanden gewesen, wenigstens Matthäus Marcus und Johannes. Mit Lucas ist es eine eigne Sache; die ApostelGeschichte gerirt sich wie das zweite Buch zu einem Ersten; Evangelium und ApostelGeschichte sollen also Ein Ganzes sein, und doch finden wir das Erste unter den Evangelien, das Andre war also für sich und das ist nicht nur in unserm Canon [so], sondern die vier Evangelien sind schon früher als 4 zusammengeschriebene Bücher angesehn, also sein erstes Buch getrennt vom zweiten. Ob nun das zweite lange nach dem ersten ist vervielfältigt worden, nicht aber dahin gekommen, wo die vier schon zusammengesetzt waren u.s.w. kann man mehr vermuthen als beweisen; aber daß diese vier Bücher so verbunden vorhanden gewesen, ist durchaus klar, klar daß sie einzeln gewesen und dann erst zusammengeschrieben sind; klar daß das geschah ehe das N.T. entstanden war, vorher gab es lange schon Abschriften dieser Bücher. Nehmen wir die didaktischen Schriften, so ist die Sammlung der Paulinischen Briefe, die Pastoralbriefe ausgenommen das Aelteste; diese waren eher zusammengestellt als an ein N.T. zu denken war; fragen wir, wann es geschehen, können wir nur sagen, wahrscheinlich geraume Zeit nach des Apostels Tode, aber bestimmt wann? vermag Niemand zu sagen, nur, zu einer bestimmten Zeit gab es diese Sammlung schon. Sehr zu bezweifeln ist, daß damals die Urschriften vorhanden gewesen, wiewohl die Briefe der Apostel von den Gemeinen hoch genug gehalten wurden; ob die Zusammenstellung der Evangelien wie die Sammlung der Paulinischen Briefe aus Abschriften von der Urschrift bestand, ist ebenfalls zu bezweifeln, nebenher wurden diese Urschriften sehr wahrscheinlich vervielfältigt, und sehr wahrscheinlich wurden an die Central Gemeinden wegen ihres politischen Verhält-
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nisses die Briefe abgeschrieben gegeben, da konnte sich solche Sammlung zusammenfinden, so geschah die Sammlung und konnte dann in das fixirte N.T. kommen. Ist hier auch nur die Möglichkeit den ursprünglichen Text herzustellen? Es fehlt der Rückweg durchaus, und man kann wohl sagen, daß es möglich sei aber nie kann man die Möglichkeit als solche wissen, und so kann man Jenes sich nicht zum Ziele setzen. Die Thatsache vorausgesetzt, daß die Handschriften des N.T. eine so große Masse von Abweichungen darbieten; kann man irgendeine Zeit nachweisen wo diese Abweichungen nicht gewesen? sie sind erst in späteren Perioden entstanden, und so kann man vielleicht auf den Zustand zurükgehn, nicht auf den, wo keine Abweichungen waren, sondern nur auf den, wo man sie übersehn konnte. Nun liegt die Sache so, schon die ältesten Kirchenschriftsteller, die das N.T. philologisch behandelt haben (Origines) führen eine Menge von Abweichungen an, aber wir könnten behaupten, da diese Anführungen nur gelegentlich, daß das ein Maßstab sei für die Masse der vorhandenen Abweichungen, welche sie nur anführten, wo eine bestimmte hermeneutische Schwierigkeit im Text selbst lag oder sich verschiedene Resultate für den Sinn ergaben. Das Wahrscheinlichste ist, daß sie eher vorhanden gewesen, als sie angeführt wurden. Alle unsre Abschriften sind nun aus späterer Zeit als diese. So ist es unmöglich, bis auf eine Periode zurükzugehn, wo die Abweichungen sich noch in bestimten Grenzen einschließen ließen. Hier ist zweierlei möglich, der kritische Herausgeber kann leisten wollen entweder möglichst Gleichmäßiges, da wird es ihm möglich sein, sich in sehr bestimmte Grenzen zurükzuziehn und da kann man sich wohl nicht besser nehmen als sich unser Lachmann genommen. In dieser Begrenzung, indem er auf eine bestimmte Zeit zurükgeht, läßt sich was leisten, indem er sich an Zeugen von bestimmtem Alter hält und nur bei den Differenzen stehn bleibt, die in Beziehung auf Vaterland und Genesis sind, Rüksicht nimmt. Eine andre Aufgabe ist die, das Aelteste zu nehmen was mit Sicherheit aufgefunden ist, da würde dann immer Ungleichmäßiges sein und doch Unbestimmbares, weil man gar nicht genau das Zeitalter unsrer Handschriften kennt und wenn wir es kennten, so würde das Alter noch nicht die Trefflichkeit bezeugen; hier läßt sich immer nur Ungleichmäßiges leisten. Fragen wir, wie steht es bei diese möglichen Leistungen um das Ziel das der Leser muß zu erreichen suchen, wonach soll der kritische Leser streben, vorausgesetzt, daß das Zurük27 sich] sich 25 Das ,Novum Testamentum graece. Ex recensione Caroli Lachmanni‘ erschien 1831 bei Reimer in Berlin, und zwar als bloße Textausgabe ohne jeden Apparat oder sonstiges Beiwerk.
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gehn auf die Urschrift vollkommen unmöglich ist? Hiebei ist von dem philologischen Interresse nicht zu abstrahiren, denn abstrahiren wir davon, so bekommt das N.T. einen sehr untergeordneten Werth, wenn wir es nur als philologische Thatsache jener Zeit betrachten und also müssen wir sagen, sofern das N.T. dasjenige ist, worauf überall zurükgegangen wird, wenn es darauf ankommt, Vorstellungen über christliche Gegenstände als mit den ältesten Bestimmungen des christlichen Glaubens übereinstimmend darzustellen, so ist das theologische Interresse, soviel als sich thun läßt, auszumitteln, ob das ein wirklicher Gedanke des N.T.’s ist, was der Eine oder Andre anführt. Wird das nun ein Ungleiches wenn wir auf die Urschrift nicht zurükgehn können? Wenn wir uns mit unserm Interresse in der gegenwärtigen Zeit halten, der Periode der Protestantischen Kirche, so müssen wir sagen, die Vorstellungen, die sich theils früher theils in der Zeit der Protestantischen [Kirche] gebildet, kommen in dieser Bestimmtheit im N.T. nicht vor, sondern die können nur noch auf indirecte Weise angeführt werden. Alle Fälle dieser Art wo bestimmte dogmatische Interressen auf Stellen im N.T. zurükgehn, die sind von der Art, daß die Vorstellungen immer neuer als das N.T. sind; kann ich nun auf die Urschrift nicht zurückgehn, aber doch eine Zeit, die älter als die Vorstellungen ist, so genügt das vollkommen, wenn damals schon, ehe diese Streitigkeit entstanden das N.T. nur dieses geliefert und nichts Andres, das das in der Kirche Verbreitete war. Ist das erreicht, so ist das für diesen Zweck genug, denn weiter können wir nicht zurück, sondern hier sind wir auf einem Punkte, wo was hier im N.T., auf ziemlich gleiche Weise in der Kirche bestand und später erst die Vorstellungen entwickelt sind, die sich aus ihm bekämpfen und aus ihm vertheidigten, dann ist der Zwischenraum zwischen dem Text, [aus] dem die Streitigkeiten entstanden und der Urschrift ein leerer Raum, der auf die Streitigkeit keinen Einfluß hat, und so können wir damit uns in dieser Beziehung begnügen, gibt es ein Aelteres, was einen bedeutenden Einfluß haben kann, so ist in jedem einzelnen Fall eine höchst wichtige und bedeutende Untersuchung, die aber auf die Constituirung des Texts keinen Einfluß hat. So hat ein socinianischer Theolog, der jüngere Krell in [einer] anonymen Schrift zu beweisen gesucht, daß im Anfang des Evangeliums Johannes kaiÁ ûeoyÄ (hn o logow) gestanden. Sowie man dieser Stelle dogmatische Geltung gibt so ist das eine wichtige Frage, ob das richtig ist
22 das] dies 33–35 Samuel Crell: ,Initium evangelii S. Joannis‘, 1726 (SB 480).
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oder nicht, aber indem er es indirect zu beweisen sucht aus der Art wie die Stelle gebraucht wird, theils aus den Vorstellungen die in den Schriften der alten Kirchenlehrer enthalten sind, so liegt der ganze Streit jenseits der Constitution des Texts. Das ist nun ein Ausnahmsfall, wo anderweitige Data auf Andres schließen lassen als später die Abschriften geben und ließe sich dieses beweisen so wäre Jenes doch wohl nicht in den Text aufzunehmen, weil es sonst ein andres constituirtes Element ist, als der übrige Text. In der Kritik kann es nur als Conjectur angesehn werden, obgleich es das wahrlich nicht ist. Dies und Aehnliches sind nur einzelne Fälle und wenn zugegeben werden muß, daß unter den eigentlichen Varianten nur eine kleine Anzahl, die ein bedeutendes dogmatisches Interresse auf directe Weise tangiren, so sind das Ausnahmen; wenn wir uns aber mit dem philologischen Interresse und von ihm aus auf den unmittelbaren Standpunkt stellen, so muß es uns vorzugsweise darauf ankommen, den Sprachgebrauch der einzelnen N.T. Schriftsteller festzustellen, damit wir sicher den indirecten Gebrauch von ihnen machen können und damit es uns nicht an den nöthigen Analogieen fehle, ein Einzelnes als überwiegend darzustellen. So haben wir das allgemeine kritische Interresse und können wir da nur zurükgehn wollen auf das, was mit Sicherheit zu bestimmen ist, und ist es vergeblich, wenn wir uns einbilden wollten, wir wollten uns an die Stelle der ursprünglichen Leser der N.T. Schriften stellen, eben so vergeblich uns an die Stelle der ersten Leser des gesammelten N.T.’s zu stellen, das wäre eine vielseitige Aufgabe, weil es als Sammlung nie übereinstimmend gelautet, und sind die Differenzen älter als die Sammlung, so können wir nur auf solche Zeit zurükgehn, worüber wir schon kritische Angaben und Urkunden genug haben nachzuweisen, Dieses war zu der Zeit das Verbreitetste und die vorzügliche Art, wie das N.T. gestaltet war, das wird eine mehrfache gewesen sein, und so werden wir nie auf gleichmäßiges Einförmiges zurükgehn können, wenn wir die kritische Wahrheit behaupten wollen. Ein kritischer Herausgeber der in der Art ein Herausgeber sein will, daß er die Leser nicht für die Stellung in Beziehung auf die vorhandene Differenz zwischen dem Vorhandenen und seinem Urtheil durch das Auge besticht, so fragt sich wenn eine Ausgabe vor uns, die sich ein bestimmtes Ziel gesteckt, welches war dieses? Hat der Herausgeber einen gleichmäßigen Text von gewisser Beschaffenheit zu liefern sich vorgesetzt, oder wollte er das Aelteste zusammenstellen, was sich aus dem Vorhandenen ermitteln läßt, was ist nun die Befugniß des Lesers in Beziehung auf den gegebnen Text? Hier müssen 4 nun ein] oder nun nur
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wir die Aufgaben des Lesers sondern indem wir die einfache hermeneutische Operation einmal anstellen, dann aber in unserm Verhältnisse zu der gesammten N.T. Sprache es betrachten. Hier haben wir zweierlei, einmal ist in vielen Fällen aus dem Gegebenen zu wählen, sofern der Herausgeber uns diese Freiheit unverkümmert gelassen, dann aber ist auch die Möglichkeit über das Gegebene hinauszugehn und uns durch die Operation der divinatorischen Kritik ein Andres zu machen. Wie stellt sich dies zu unsern beiden Aufgaben? Denken wir uns einen Text vor uns, der uns in eine bestimmte Zeit des kirchlichen Alterthums zurükführt; wir wissen zu der Zeit ist das am weitesten verbreitet gewesen in gewissen Regionen der Kirche und Dieses in einer andern. Dies ist schon ein sehr günstiger Fall, wenn wir annehmen, daß das mit gewisser Sicherheit sich bestimmen läßt; sind wir darum befugt, aus irgend einem Interresse darüber hinauszugehn und etwas Andres zu machen? Sind wir, ohnerachtet wir einen Text vor uns haben, der seines Wissens auch kein Resultat der divinatorischen Kritik in sich hat, aber nur seines Wissens, auch dann noch uns der divinatorischen Kritik zu bedienen. Nicht selten hat man diese Frage anders beantworten wollen als in Beziehung auf andre Schriftsteller; ist dazu irgend ein Grund? Die Massen urkundlicher Subsidien, die wir beim N.T. vor uns haben ist ungleich größer als bei irgend einem classischen Schriftsteller, aber wenn wir solche Maximen in Ausübung gebracht denken, wie es geschehn muß, wenn solch ein Text zu Stande kommen soll, daß Nichts hineingenommen wird als was aus alten Urkunden ist, und nicht weil es übereinstimmt sondern weil es aus einer alten ist, wenn diese Maxime schon bei Construction des Textes vorgewaltet hat, so ist das nicht so gleich mehr, weil die größere Masse aus der spätern Zeit ist. Haben wir beim N.T. demohngeachtet ein größeres oder geringeres Recht, die divinatorische Kritik zu Hülfe zu nehmen; anzunehmen, der Schriftsteller habe Andres geschrieben, als das was urkundlich gegeben ist. Da müssen wir unsre beiden Standpunkte unterscheiden. Stellen wir uns auf den der einfachen hermeneutischen Aufgabe, so können Fälle eintreten, wo Alles was auf diese Weise urkundlich gegeben ist, keinen Sinn gibt, wo alles Urkundliche doch ein solches ist, daß entweder die grammatische Einheit nicht vorhanden ist oder der Sinn logisch nicht geschlossen ist, da sind wir nicht im Stande, die einfache hermeneutische Aufgabe in Beziehung auf die Stelle zu lösen; soll ich sie ungelöst lassen? Das kann ich nicht und wollte ich es auch nur zweifelhaft lassen, was diese Stelle für einen Sinn hat, so ist es doch von einigem Einfluß auf das Verstehen der ganzen Schrift und der einzelnen Stellen. Das Verhältniß ist ein gegenseitiges, es kann sein, daß ich in derselben
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Schrift eine andre Stelle finde, in der die Indication ist, was der Sinn des Schriftstellers in dieser Stelle muß gewesen sein, da kann man mit der hermeneutischen Aufgabe auskommen ohne die kritische zu lösen, denn da der Sinn der Stelle gewiß ist, kann ich den Ausdruck ungewiß lassen; der Verfasser mag ursprünglich geschrieben haben was er will; das was er gewollt hat ist zufolge jener Stelle in Beziehung auf den Sinn das. Ist das Verhältniß ein andres, entsteht die Aufgabe spätere Stellen aus dieser frühern zu verstehn, so daß wenn ich nicht den bestimmten Sinn des Frühern ausmittle, ich auch das Spätere nicht verstehe, dann muß ich die kritische Frage lösen und zu der divinatorischen Kritik meine Zuflucht nehmen, wenn das Urkundliche zu nichts führt. Wenn man die Kritik nicht als für sich selbst und als eigne philologische Disciplin behandelt, so finden wir die Differenzen der vorhandenen Urkunden in ihrem wahrscheinlichen Verhältnisse zur Urschrift nur nicht auf wissenschaftliche Weise gefaßt, sondern eine Handschrift die weniger solche Fälle enthält, wo Einem der Sinn zweifelhaft ist, soll gut sein, dagegen eine andre wo der Sinn öfter zweifelhaft ist, schlecht. Das ist indeß ein falsches Urtheil, die letztere kann dem ursprünglichen Texte viel näher liegen, die Erstere weit entfernter sein; es kann in dieser wo ich keinen Anstoß finde der Text willkührlich geändert sein, während der Anstoß in der andern ein Zeichen ist, wie sich das Damalige schon zu der Urschrift verhält, und es ist in Dieser mehr Wahrheit als in der andern. Die Urtheile, die rein aus dem einfachen hermeneutischen Interresse gefällt sind, sind immer unrichtig. Wo das Urkundliche eines solchen Textes nicht hinreicht, geschieht es häufig, wenn sich dergleichen Aushülfe wenn auch in völlig werthlosen Handschriften findet, daß die Exegeten diese schon als urkundliche Zeugnisse anführen und sagen, das steht in der und der Handschrift, vielleicht kann man so lesen müssen, aber das hat nur den Werth wie aus einer richtig geleiteten divinatorischen Operation entstanden, nicht weil es in so schlechter Handschrift auch wahrscheinlich nie ein solches Resultat ist, dieser Autorität ist für nichts zu achten, aber allerdings ist die Erlaubniß zu solcher Operation seine Zuflucht zu nehmen in Beziehung auf die einfache hermeneutische Aufgabe unläugbar, aber wir müssen sie in Beziehung auf das N.T. auf ganz besondre Weise beschränken wegen der besondern Beschaffenheit der N.T. Bücher; das gilt von den eigentlich didaktischen weniger als von den historischen und unter ihnen weniger vom Evangelium Johannes und von der ApostelGeschichte als von den 3 synoptischen Evangelien. Diese haben überwiegend die Vermuthung für 3 ohne] ohne ohne
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oder gegen sich, aber es ist doch die größte Wahrscheinlichkeit, daß sie entstanden sind auf sehr secondäre Weise aus der zweiten und dritten Hand, daß das erste Schriftliche schon nicht ein Ursprüngliches gewesen in Beziehung auf viele Partien sondern durch mündliche Ueberlieferung entstanden, daß aber auch Vieles vereinzelt gewesen und so aufgenommen sei und endlich, daß Vieles entstanden, was aus einer nicht vollständig aufgenommenen mündlichen Ueberlieferung, so wenn wir den Fall denken, daß in ihnen wahre Aussprüche Christi, von denen wir nicht wissen, in welchem Zusammenhange Christus sie gesprochen. So wie wir diese Thatsache annehmen, so ist es möglich, daß wir in dem Falle sind, den Sinn nicht mit hoher Bestimmtheit in seinem Umfange angeben zu können, wie wenn wir die Umstände kennten, in denen er es gesagt. Viele Fälle sind, wo die Aussprüche – wie das bei allem Sententiösen ist – gar nicht auf allgemeine Weise erklärt werden dürfen, weil sie in dem Falle mit andern in Widerspruch stehn; wie weit sie nun aber zu beschränken seien, kann man bei so mangelhafter Umgebung nie wissen. Und um dies vollständig zu machen darf man zu keiner Operation der divinatorischen Kritik seine Zuflucht nehmen, denn was wir vor uns haben ist nichts falsches, sondern es hat nur eine Unbestimmtheit. Doch ist dies wiederum gar nicht anders zu ergänzen als durch die Operation der historischen Kritik, das heißt, wenn man im Evangelium Johannes Aussprüche findet und durchaus isolirt, von denen man später sehr viele analoga findet, aber nicht völlig mit den gleichen Wörtern in bestimmtem Zusammenhange, so läßt sich eine solche Operation der historischen Kritik annehmen, so, daß man sagt, entweder geht Jenes auf dies vollständige Factum das vor uns liegt, oder wenigstens ist dies nach der Analogie von Jenem zu beurtheilen, und aus diesem Zusammenhange läßt sich bestimmen, in welchem Zusammenhange Jenes gesagt ist. Hier ist nie durch Ergänzung zu helfen, sondern das bezieht sich nur auf die Fälle, wo es unmöglich ist durch die Structur und die grammatischen Verhältnisse irgend einen Sinn zu finden. Wo der Satz geschlossen und wo nur die Erklärungsmittel für den einzelnen Ausdruk fehlen, da darf man durch Aenderungen nicht einem Texte helfen wollen. Die Operationen der divinatorischen Kritik sind freilich bei Lesung des N.T.’s nicht ganz zu verbannen, obwohl schon man vermuthen darf, daß weniger Fälle sind, wo wirkliches Bedürfniß derselben entstehn wird als bei andern Schriftstellern wo erstaunlich wenige Handschriften sind aber in Beziehung auf die hermeneutische Aufgabe darf man nur in den Grenzen überhaupt sie anstellen, die wir oben aufgestellt haben. Stellen wir uns auf den allgemeinen Standpunkt, so müssen wir sagen, der theologische Leser hat es nicht bloß jedes Mal
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mit der einzelnen Stelle zu thun, die er vor sich hat, nicht mit dem einzelnen Buche, dem sie angehört, sondern immer mit dem ganzen N.T. Das behandelt einen gewissenen abgeschlossnen Ideenkreis der durch die Grundsätze des Christenthums und durch die Art und Weise seiner ursprünglichen Lehre gegeben, da ist also Alles Parallelstelle oder Analogie. Der Sprachgebrauch ist ebenfalls ein abgeschlossenes Ganzes, er gehört als Theil einer bestimmten Periode der Graecität an, aber außerdem hat er noch einen besondern Charakter für sich; Dieser differenzirt sich im N.T. auch noch sofern der Hebraism in einigen Büchern stärker in andern weniger hervortritt, so aber, daß das Ganze ein Abgeschlossenes für sich ist, also ist hier überall auf den Werth jeder Stelle im Ganzen zu sehn; der Sprachgebrauch des N.T. im Allgemeinen und eines Schriftstellers im Einzelnen muß so viel möglich klar und bestimmt werden; dann fragt sich, um von allem Einzelnen in dieser Beziehung möglichst vollständigen Gebrauch zu machen, sind wir berechtigt die divinatorische Kritik zu Hülfe zu nehmen? Es kann eine Stelle allerdings logisch und grammatisch betrachtet einen guten Sinn, auch einen christlichen geben, der Ausdruk kann auch im Gebiete der N.T. Sprache überhaupt liegen, aber es kann etwas darin sein, was gegen die Analogie ist, die man sich in Beziehung auf den bestimmten Schriftsteller gemacht hat. es ist also zweifelhaft, ob der Schriftsteller so geschrieben wie es hier oder da vorkommen kann daraus eine Berechtigung entstehe, die divinatorische Kritik zu Hülfe zu nehmen, so man behaupten könnte, er habe nicht so sondern so geschrieben, weil Dies der Analogie seines Sprachgebrauchs, es kann auch ein eigenthümlich logischer sein, nicht gemäß ist. Dies würde ein ziemlich laxes Verfahren sein, denn woher ist die Analogie, die man sich gebildet, sind die Analogien nicht aus vielen Stellen wo die guten Texte Differenzen geben, hat man sich dabei von allem ÐEinfachen oderÑ Willkührlichen der spätern Ausgaben ferngehalten, und hat man so gewählt, daß diese Analogien das Ursprüngliche des Schriftstellers enthielten? Das wird schwerlich Jemand behaupten, denn fragen wir, wie viel Stoff hat man denn solche Analogien zu bilden, sind der Fälle so viele, gegen welche dieser streitet, daß uns die constante Weise des Schriftstellers gegeben ist, haben wir doch nicht Alles, was er geschrieben, und seine Sprache ist ja nicht so eigenthümlich im Schreiben, daß sie sich bedeutend von der gewöhnlichen UmgangsSprache entfernte, die wir nicht kennen. Solche Analogieen können wir nicht bestimmt aufstellen um unzufrieden zu sein mit dem, was uns schlecht scheint gegen andre ÐGründeÑ. Dagegen hat man ein besondres Beispiel: Man hat häufig die eigenthümliche Charakteristik der N.T. Schriftsteller als Schriftsteller und in den Grundzügen der Schreibart
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gemacht, wo man nur nicht glauben muß, es sei das etwas durchaus Festes. Erstrekt man das auf Punkte, wo in den Handschriften große Verschiedenheiten herrschen, so wenn Jemand behauptet, Dieser sage nur Ihsoyw Xristow, Jener Xristow Ihsoyw, Jener nur Ihsoyw, das sind Dinge, die in den Handschriften so sehr verworren sind wie sie denn auch ganz in der Hand des Abschreibers lagen, daß es unmöglich ist, auf die ursprüngliche Hand des Schriftstellers zurükzugehn; und Niemand ist berechtigt, wenn er sich nach den Stellen wo es authentisch ist sich Analogien gebildet, das Uebrige zu ändern, ja wir können gar nicht berechtigt sein im N.T. die divinatorische Kritik vorwalten zu lassen um solchen allgemeinen Interresses willen, weil wir nicht in der Lage sind, dazu die gehörigen festen Praemissen zu haben. Die N.T. Schriften versiren fast alle ohne Ausnahme im Gebiete der gewöhnlichen Umgangssprache, der synhûeia, daher so mancherlei darin ist, was in der guten Schriftsprache der Griechen negirt ist und was auch in den spätern Schriftstellern, die in bestimmten größern Gattungen schreiben, nicht gebraucht wird, so daß wir deswegen wohl von dem was wir von den N.T. Schriftstellern übrig haben, auf eine bestimmte Art und Weise ihrer Sprachbehandlung schließen können, aber es nicht möglich [ist] bei dem Einzelnen eine ganz individuelle aufzustellen, weil das Geschriebene nur ein kleiner Theil des Gesprochenen und sie unter einander doch nicht sehr verschieden sind, ja selbst bei dem reichsten, dem Paulus, der am ersten dazu geeignet ist, haben wir doch nur ein aÆpospasmaÂtion seines Mündlichen und freilich ist Manches wohl in ihm aufzustellen, daß wir in einzelnen Fällen sagen können, das klinge ganz fremd, aber denken wir die Schriftsteller, von denen wir so wenig haben, als wo sie Andre, die von ihnen gesprochen, aufführen und sprechen lassen, so ist nicht daran zu denken, daß man solche Operationen der divinatorischen Kritik da anstellen kann, da ist rein abgesehn von der Differenz, welche bloß die Zahl der Handschriften aussagt, keine Berechtigung weiter als für das unmittelbare Bedürfniß der ursprünglichen hermeneutischen Aufgabe das Verfahren der divinatorischen Kritik aufzugeben. Dieses mag nun entschieden sein, dann bleibt die zweite Frage, wenn wie es so häufig geschieht der Fall vorkommt beim Lesen des N.T., den Text uns zu bilden, wir doch die Wahl zwischen Verschiedenem machen müssen, wo die Aufgabe des Lesers um so größer ist, wenn der Herausgeber ihn oft für das bestochen, was sein Resultat ist, es ist diese Aufgabe überall wo wir hier Andres finden und dort Andres, im Falle wo das Urkundliche ein Mannigfaltiges ist; wie soll man da19 können] kann
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zwischen treten. Diese Frage kann nicht auf einfache Weise entschieden werden, sondern zweierlei kommt in Betracht, die Beschaffenheit der Urkunden, die das Differente enthalten und die Beschaffenheit des Differenten selbst. In Beziehung auf das Erste muß man Alles, was nur in späteren Handschriften sich findet ohne in irgend einem alten Text zu sein oder wir sichere Spuren hätten, daß es schon ehedem gelesen wäre, gar nicht unter das Urkundliche stellen, sondern überhaupt als null oder als Resultat einer kritischen Operation ansehn. So ist denn das beseitigt und wir haben uns auf ein gewisses Gebiet zurükgezogen. Können wir behaupten, daß die Urkunden ihrem Werthe nach die übrig bleiben auf bestimmte Weise [sich] classificiren lassen, so daß vermöge solcher Classification einigen ein allgemeiner Vorzug vor andern gebühre oder einigen in gewissen Fällen, andern in andern Fällen? Diese Frage ist schwierig zu beantworten und da kommen wir auf das eigentlich diplomatische Gebiet der N.T. Kritik, aber dieses ganze Gebiet ist durch soviel Hypothesen verwirrt, daß es schwer ist den Gegenstand auf einfache Weise zu behandeln nach so vielen künstlichen Operationen, die damit gemacht sind, diese sind eben die gemachten Classificationen der Handschriften, wo bei den Einen dieses bei den Andern eigenthümliche Vorliebe und Gesichtspunkte vorgewaltet, so daß vor Allem zuerst zu einer einfachen Betrachtungsweise zu gelangen ist. Wir kommen nun zum weitern Fortschritt in Beziehung auf die Auswahl des gegebenen Verschiedenen, also in jedem Falle wo nicht Uebereinstimmung der Handschriften Statt findet, die Schreibungen verschieden sind, hier beseitigen wir ganz und gar den Gesichtspunkt der einfachen hermeneutischen Aufgabe, denn da kommt es gerade auf den überwiegenden Sprachgebrauch an, aber denken wir uns unserm Exemplare gegenüber und der Herausgeber hat uns so wenig als möglich in den Fall gesetzt, uns durch sein Urtheil zu bestechen, so sollen wir ebenso handeln als er, der er die Verschiedenheit uns vor Augen bringt. Was sind die Gesetze davon? Da sind zu gleicher Zeit die Gesetze, die der Kritiker gehabt auch als die unsrigen anzusehn. Wir kommen auf die Frage, den Werth der verschiedenen Schreibungen bestimmen zu sollen und hier ist von der Entfernung auszugehn, in der wir uns von der Urschrift befinden, von der Thatsache einer großen Menge von Differenzen die vorhanden sind. Hier gibt es zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte, der eine ist der allgemeine, der andre der specielle; der specielle soll darauf ausgehn, die Verschiedenheiten ihrer Qualität nach zu taxiren für jeden einzelnen Fall, der allgemeine, die Handschriften zu taxiren als solche. Hier fragt sich, von welchem von diesen beiden auszugehn, oder wie man sie einander unterordnen solle? Man könnte sagen, wir haben so
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wenig Urtheil über den Werth der Handschriften als solcher, daß das Urtheil bestimmt werden muß durch den Werth ihres Gehalts im Einzelnen, also an diesen Inhalts im Einzelnen wollen wir uns halten. Dann werden wir gar keine Untersuchung über die Handschriften als solche anstellen. Nun geschieht das wohl, wenn eine kleine Anzahl von Handschriften ist und die weniger augenscheinlich bedeutend von einander entfernt sind, da ist das beste zu sagen, der Werth der Handschriften ist aus dem Werthe der einzelnen Lesarten zu beurtheilen, aber im N.T. wo die Masse so groß ist, ist es nothwendig um das Verfahren zu erleichern die Handschriften zu classificiren. Hat man das gethan und die Bemühung hat ein bestimmtes Resultat gehabt, dann wird das dahin führen, daß gewisse ganz und gar beseitigt werden, und daß wenn man im Einzelnen aus diesen zurückgewiesenen Etwas aufnimmt man es doch nur so thut, als wäre es Conjectur, und für sich legt man ihnen keine Autorität bei. Wie läßt sich nun der Werth der Handschriften taxiren und um zu solchem Resultate zu gelangen, von welchem Gesichtspunkte muß man ausgehn? Es gibt äußerlich gewisse Differenzen, welche gleich auffallen und zwar besonders zwei; die Eine daß einige Handschriften in Uncialbuchstaben, andre mit Cursivschrift geschrieben, welches auf einen bestimten Unterschied der Zeit deutet, denn letztere ist viel später aufgekommen und erstere zu gebrauchen hat man in gewisser Zeit aufgehört. Die zweite Differenz ist die, es gibt Handschriften, die den bloßen Griechischen Text enthalten und andre die zwischen den Zeilen des Textes noch eine lateinische Uebersetzung haben. Dies bedeutet den Ursprung der Gegend wie Jenes der Zeit bedeutete; solche Handschriften mit lateinischer Uebersetzung konnten nirgends entstehn als wo das Lateinische Erläuterungsmittel war, also in den westlichen Gegenden. In Griechenland und KleinAsien konnte dieses nicht entstehn. Hier sind zwei verschiedene Differenzen der verschiedenen Beziehungen; was gibt das nun für einen Werthunterschied? Wollen wir die Handschriften mit Cursivschrift, weil sie jünger sind bei Seite legen und uns mit denen, die die ältern Charaktere haben befassen, so ist das eine Maxime, gegen die allerlei einzuwenden ist, solchen Handschriften kann unmittelbar eine der ersten Classe zum Grunde liegen und da würde man sich vielleicht sehr wichtiger Materialien berauben. Nun ist aber erst nachzuweisen, ob dem so ist. So viel können wir sagen; ich setze den Fall einer späten Handschrift, die von einer Uncialschrift abgeschrieben, welche später verloren gegangen wäre. Haben wir nun mehre Handschriften aus demselben Zeit37 einer] einer einer
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raum, und die Cursivschrift bietet Lesarten dar, die in keiner der andern alten Handschriften, so sind das Lesarten, von denen nicht immer nachzuweisen, daß sie von einer Irrung ausgegangen, sie sind aber wenig verbreitet gewesen, somit ist auch wenig Rüksicht auf sie zu nehmen. Im Allgemeinen können wir den Grundsatz aufstellen, der die Differenz der Schrift wieder aufhebt, eine Lesart, von der nicht sicher nachzusweisen, daß sie zu gewisser Zeit auch ist verbreitet gewesen, sondern die isolirt dasteht, auf die ist nicht Rüksicht zu nehmen anders als in der Nothwendigkeit, doch Etwas zu machen, weil es nicht gewiß ist, ob es nicht gemacht ist. (wogegen denn sie, wenn sie wenig verbreitet ist, hat sie darin ihre Gewährleistung, daß es gemacht ist.) Handschriften die eine lateinische Linearübersetzung haben, sind aus Gegenden, wo das Lateinische das Gewöhnliche ist, und wo diese zugesetzt ist für den gewöhnlichen Gebrauch, das Lateinische ist als exegetische Autorität dazwischen gelegt. Nun gibt dieses ein solches Verhältniß, daß den Abschreibern wahrscheinlich das Latein geläufiger gewesen als das Griechisch und daraus folgt, diese Handschriften werden eine gewisse Neigung haben, Endungen, die vom Latein herrühren, aufzunehmen; der Schreibende denkt mehr das Latein, wenn nun der Fall eintritt, daß im Lateinischen ein andrer Casus stehen muß als der unmittelbar dem Griechischen correspondirende, so ist es wahrscheinlich daß er dem Latein im Griechischen folgt. Im Allgemeinen können wir nun diesen Handschriften keinen geringern Werth beilegen, nur so oft sie auf solche Weise von den andern abweichen, daß es sich aus dem Zusammensein mit dem Latein erklären läßt, müssen wir uns an die andern halten. Hier ist der Fall gesetzt, daß der Abschreibende weil er das Latein mit dagehabt und abgeschrieben daran am meisten gedacht und sich dadurch hat können verleiten lassen; in allen solchen Fällen hat der Schreibende solcher Handschriften bestimmten Verdacht gegen sich und die rein Griechischen den Vorzug. Was in diesen beiden Classen übereinstimmt ist das am meisten Verbreitete, weil es aus einer Gegend wo das Latein nicht vorherrscht und aus Gegenden wo dasselbe vorherrscht dann herrührt, diese Classen sind also nach dem Geographischen bestimmt während jene nach dem Chronologischen, und wo Differenzen von der Art zwischen ihnen sind, müssen wir das Verbreitete vorziehn, geben aber keiner Classification einen entschiedenen Vorzug. Man hat noch Andres als Classification der Handschriften in Vorschlag gebracht. Es ist verschieden ob ich einzelne Lesarten für sich allein vergleiche oder Handschriften als solche: in dieser Beziehung ist aber noch nichts aufgestellt, als es von den Charakteren und dem Griechischen oder Lateinischen Ursprung gesagt ist. Hat man die
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einzelnen Worte verglichen und findet hier und da eine Abweichung von dieser oder jener Art, oder die Handschriften stimmen überein in gewissen Arten zu lesen, so gibt es da sehr complicirte Differenzen. Stellt man das in gewisse Massen zusammen, so entsteht eine gewisse Physiognomie und nach dieser classificirt man die Handschriften, in den Physiognomien sind Familienähnlichkeiten und so classificirt man in gewisse Familien, diese werden dann auch Recensionen genannt, was wieder einen ganz andern Begriff in sich enthält, denn Recension ist die Constitution eines Textes nach gewissen Maximen, so daß wie er geworden er mit bestimmter Ueberlegung geworden ist, solche Recensionen waren kritische Arbeiten und diese Gedanken legt man mit hinein. Hat das Grund oder nicht? Von eigentlich kritischen Bemühungen haben wir nicht soviel historische Nachrichten daß wir daraus als Thatsache feststellen könnten, daß Handschriften in Masse nach solchen kritischen Bemühungen wären gemacht worden und in Folge solcher. Wir finden freilich sehr zeitig kritische Vergleichungen und Verbesserungen aus der Conjectur, wie namentlich bei Origines aber es gehörten andre Facta dazu, zu behaupten, daß er eine Recension gemacht, daß Handschriften mit Benutzung seiner Verbesserungen angelegt worden. Findet es nun in solchen Fällen nicht Statt, so ist es, wo noch weniger Spuren kritischer Thätigkeit sind, noch weniger zu behaupten, aber die Sache erhält auf andre Weise Vorschub. Fragen wir, wie die Vervielfältigung vorgegangen, so können wir das nach der Wahrscheinlichkeit dahin beantworten, wahrscheinlich ist sie geworden wie das N.T. selbst entstanden, und das geschah, indem an gewissen Hauptpunkten die man als Metropolen ansehn kann sich Abschriften mehrer N.T. Bücher gleichzeitig vorfanden, welche zusammengetragen wurden. Anders als mit Hülfe eines allgemeinen Verkehrs läßt sich das gar nicht denken. Eben an solchen Centralpunkten wie Constantinopel, Alexandria, Rom da kamen Christen aus verschiedenen Gegenden in Geschäften zusammen, und da entspann sich Dieses, daß sie sich über ihre kirchlichen Verhältnisse Notiz gaben und so jene Zusammenschreibung zu Stande kam, und von solchen Hauptpunkten ging dann auch die Vervielfältigung aus; nun wissen wir wohl daß in ÐeinemÑ späteren Zeitraum in jeder christlichen Gemeine ein N.T. war, wie kamen sie aber dazu? Die Hauptstädte der Roemischen Provinzen haben am frühsten solche Zusammenschreibungen gehabt, haben sie auch am ersten ergänzen können, also in diese Metropolen kamen häufig die Christen aus den Provinzen und so gingen von da die Abschriften aus und so viel können wir zugeben, gewisse Metropolen sind Puncte gewesen, von denen Abschriften sich verbreiteten, der Text ist im Wesentlichen derselbe gewesen, waren
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das aber Recensionen? Das wäre nur möglich gewesen in Metropolen, die zugleich einen scholastischen Charakter hatten, von daher konnten kritische Bemühungen ausgehn, aber keine Spur ist, daß das geschehn war, so daß man Recensionen annehmen konnte, man weiß nur von der Lucianischen Kritik, aber auch nur das, daß sie getadelt wurde, aber von einem durchgreifenden kritischen Verfahren im N.T. Text finden wir durchaus keine Spuren; wenn man solche Aehnlichkeit findet muß man es problematisch lassen, ob das nur zufällig ist, da diese Aehnlichkeit nie durchgreifend ist, denn diese Theorie verflicht sich so künstlich in sich selbst, daß eine Menge von Ausnahmen gemacht werden müssen; diese Classification ist durchaus unsicher und beruht auf zu wenig sicherem Fundament. Haben wir nun genug an diesen Maximen, die wir aus dem Charakteristik der Handschriften nehmen, die nur die allgemeine Regel geben alles weit Verbreitete dem einzeln Vorhandenen vorzuziehn und alle solche Gestaltungen die sich erklären lassen aus dem Vorhandensein der Linearübersetzung zu verwerfen, oder müssen wir noch Regeln haben darüber was aus mechanischen Irrungen entstanden sein kann? Gehn wir von den Handschriften [aus], die Linearübersetzung haben so finden wir analoga dieser Aenderungen auf sehr ähnliche Weise entstanden. Es gibt Handschriften des N.T. die außer dem Texte am Rande mehr oder weniger Bemerkungen enthalten, außerdem hat es von früh an Erklärungen des N.T. gegeben, die zum Theil weit verbreitet waren; nun läßt sich oft Etwas, was schwierig ist durch geringe Veränderung des Ausdruks erklären, oder indem man ein leichteres Wort, eine leichtere Wendung darüberstellt. Diese Marginalien sind oft aus den Erklärungen genommen. Da ist die Regel, solche Lesarten, die leicht aus dergleichen Marginalien oder der bestimmten Verwandtschaft mit Commentaren zu erklären sind, ebenfalls zurückzuweisen, weil sich der fremde Ursprung nachweisen läßt. Hier sind wir nicht mehr genau im eigentlichen Gebiete, das ist schon ein solches wo man nicht recht weiß, ist es eine mechanische Irrung oder absichtliche Aenderung, aber häufig ist es unter dem ersten Gesichtspunkte anzusehn; der Herausgeber trägt es unabsichtlich in den Text, es ist auch ein Verschreiben aus dem was ihm gerade gegenwärtig war. Dies setzt nun bei einem Abschreiber große Bekanntschaft mit diesem Gebiete voraus und so ist die Abschrift nicht für schlecht zu halten, aber in diesem Punkte muß man sich in Acht nehmen. Es ist damit 27 bestimmten] bestimmten bestimmten 4–5 Gemeint sind die textkritischen Bemühungen des antiochenischen Priesters und Märtyrers Lukianos (3. Jh.).
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gerade wie mit dem Text mit lateinischer Uebersetzung, der gar nicht für schlecht zu halten ist als in solchen Punkten, und da muß man Achtung geben, weil da nicht Vorzügliches von ihm zu erwarten. Weiter werden wir in Beziehung auf diese Seite der Aufgabe nicht gehn können, das ist die Regel, nach der zu verfahren ist, wenn sich Differenzen finden, die aus mechanischen Irrungen zu erklären sind, und das ist die Art, wie man nun mit soviel Sicherheit als der Zustand der Dinge zuläßt aus dem Vorhandenen zu wählen hat, um sicher zu sein, daß man aus dem, was zu den Zeiten, aus denen das Aelteste ist, verbreitet gewesen, einen Text gewinne; wo kein geschlossner Sinn ist, ist auf den vorigen Fall zurükzugehn, da kann die Conjectur gelten oder man aus solchen Handschriften nehmen, die nicht als Zeugnisse, sondern nur wegen der Beschaffenheit, mit der sie Etwas geben, Etwas sind. Wenn wir die Regeln zusammennehmen so erscheint leicht, daß sie nicht sehr positiver Natur sind, sie gehn mehr auf das Eliminiren als auf das Bestimmen; darauf gehn sie hinaus, das hintanzusetzen, was mit gewisser Wahrscheinlichkeit auf einen schlechten Ursprung deutet; was aus fremden Orten, aus Erklärungen, Uebersetzungen gekommen sein kann, das hat einen illegitimen Ursprung und ist zu beseitigen; so ist es also immer nur ein Eliminiren. Ebenso gibt es gewisse Schreibungen, die sich mit der größten Wahrscheinlichkeit auf einen imaginären Ursprung zurükführen lassen, und die also auch zu eliminiren sind, so wenn eine Verwechslung der Endungen vorkommt, wobei der Verfasser eine Endung eines andern Worts, was eben vorhergegangen, oder was er schon im Sinne hat, aufschreibt, und eine Gleichheit dadurch entsteht, so ist das auf solchen Ursprung zurükzuführen. Kommen wir aber auf diese Weise zu einem Bestimmen? Zu einem bestimmten niemals so, daß alle Stellen bis auf eine sich eliminiren laßen, da ist nun ein andres Princip, das einen ganz andern Charakter hat, daß man sich dann an das halten müsse, was am allgemeinsten verbreitet gewesen und da haben nun alle die historisch kritischen Untersuchungen über das Zeitalter und Vaterland der Handschriften ihren eigentlichen Nutzen, weil aus ihnen nur die Gewißheit und Wahrscheinlichkeit in dieser Beziehung entstehn kann. Wir sind zuletzt schon auf Fälle gestoßen, wo es schwankend war, ob der illegitime Ursprung auf eine mechanische Irrung oder eine freie und nicht unbedachte Handlung zurückzuführen sei. Das ist nun unser Fall. Hier also haben wir es nicht mehr mit der besondern Anwendung aufs N.T. zu thun. Der Gesammtzustand der N.T. Kritik um vorher noch einige Bemerkungen nachzuholen, ist in dieser Beziehung noch gar sehr verworren und besonders sind es 2 Extreme, die man häufig findet, das
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Eine ist der etwas leichfertige, dennoch schwerfällige Glaube an die Theorie der verschiedenen Recensionen des N.T. Texts; schwerfällig, weil die ganze Hypothese so unsicher ist, daß man sie nur schätzen kann durch eine Mannigfaltigkeit von Ausnahmen, Uebergängen, so daß sie dadurch einen Charakter der Schwerfälligkeit erhält, und leicht ist diese Theorie, weil das Ganze so wenig wahre Begründung hat. Gewisse überwiegende Aehnlichkeiten können in den Handschriften gewisser Provinzen gewesen sein, aber das ist ein Andres als der Begriff solcher Recension und wollen wir sagen aus solchen Exemplaren könne entstanden sein das einen ganz andern Charakter habe so wird wieder vorausgesetzt, was gar nicht nachzuweisen ist, daß Handschriften aus Vergleichung mehrer, die verschiedenen Typus gehabt, gemacht sind und daß an einzelnen Stellen Vermuthungen mittelbar oder unmittelbar in den Text gekommen sind. Dieses konnte immer nur unter den wenig verbreiteten oder Handschriften, die für den Privatgebrauch Jemand sich eingerichtet hatte, geschehn, diese konnten aber keinen Einfluß auf die kirchlichen Texte solcher Gegenden bekommen. Das führt uns auf den Charakter des möglichst Verbreiteten zurük und da ist der einzige Gegensatz zwischen der Region der lateinischen und der ausschließenden Region der Griechischen Sprache. Es fragt sich haben wir das Vorhandene nur aus Handschriften zu nehmen oder haben wir noch andre Quellen. Man hat noch geltend gemacht die Kirchenväter und die Uebersetzungen. Wenn wir Stellen in patristischen Schriften finden wo die Rede von Verschiedenheit der Schreibung im N.T. ist, Stellen wie im Origines und Hieronymus, da ist das ein bestimmtes Zeugniß, daß zu der Zeit solche Duplicität oder was es ist, bestanden habe und das ist allerdings Vorhandenes und älter als unsre Handschriften und gar sehr zu gebrauchen, nehme ich aber alle Anführungen auch von N.T. Stellen die vorkommen, so ist zwar allerdings auch darin Etwas aber es ist nur mit großer Vorsicht zu gebrauchen, denn wir können nicht behaupten daß die Kirchenväter die Stellen immer buchstäblich anführen. Denken wir uns namentlich Citationen in den Homilien des Chrysostomus und Andern, da hat bei dem Vortrage der Vortragende wohl das N.T. vor sich gehabt und wo er auf die Stelle die er behandelte, zurückkam, wahrscheinlich so gesprochen wie er in seinem codex es fand, andre Stellen aber hat er citirt wie er sie in seinem Gedächtnisse hatte; das also ist gar keine Lesart zu nennen. Es ist aber auch eine schwierige Frage in Beziehung auf den Text, den die Kirchenväter in ihren Homilien behandelt: wir haben davon spätere Handschriften, dern Einrichtung die ist, 18 einzige] über eigentliche
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daß die Abschnitte die in den Homilieen bearbeitet sind, den Homilieen vorgeschrieben sind; ist der nun so wie ihn der Bischof gelesen oder nahm ihn der Abschreiber aus seinem codex? Das ist schwer zu beantworten und so haben diese Texte nicht solche bestimmte Autorität. Anders ist es, wenn auf den Text in der Behandlung zurükgegangen ist und man gewiß weiß, so hat er gelesen, da kann man auf seinen codex zurükgehn. Findet man in kritischen Apparaten die Kirchenväter citirt, so muß man noch erst nachschlagen, von wo das citirt ist und wie es da beschaffen, wobei eine Ausgabe, in der die Stellen, die die Kirchenväter anführen, genau zusammengestellt sind, durchaus nothwendig ist, Griesbach ist darin nicht genau gewesen. Das Zweite sind die Uebersetzungen. Hier ist die Aufgabe schwierig: Mit welcher Sicherheit könnte man behaupten, weil da in der syrischen oder arabischen Uebersetzung dieses oder jenes Arabische Wort steht, darum hat der Uebersetzer Dieses oder Jenes gelesen? Wenn wir aus unverdächtigen Stellen nachweisen daß wie viele Analogien bewiesen ein bestimmtes Griechisches Wort durch ein bestimmtes Syrisches wiedergegeben wird, da kann ich von Diesem auf Jenes in zweifelhaften Fällen schließen. Worauf erstrekt sich das und wie geht man zu Werke? Niemand hat sich damit abgegeben aus solchen Uebersetzungen den Griechischen Text wiederherzustellen, das gäbe doch eigentlich die rechte Sicherheit; man macht es so, daß bei Stellen wo eine Differenz ist und die Entscheidung schwer fällt, man nun nachschlägt, um so Sicherheit zu erlangen, die Analogien kennt man nicht, man nimmt nur im Allgemeinen ein syrisches Wort als dem Griechischen entsprechend an, was sich aber gar nicht so verhält. In Allem was Grammatik ist, kann man von der Uebersetzung keinen Gebrauch machen, weil jede Sprache ihre besondern Regeln [hat] und da läßt sich schwerlich schließen, wie der Uebersetzer in der Ursprache gelesen und am wenigsten im N.T. wo bisweilen um möglichst nahe dem Griechischen zu bleiben, [etwas steht] was der gewöhnlichen Sprache des Uebersetzers nicht gemäß ist. Das sind also Quellen, wovon mit Sicherheit nicht Gebrauch zu machen ist, nur dann einmal, wenn die Frage nicht bloß grammatisch ist und wo es um Entscheidung verschiedener Wörter von der Art sich handelt, daß die Schrift des Uebersetzers angeben muß, daß der Verfasser das oder jenes Wort gegeben, in Fällen wo die Aehnlichkeit der Zeichen ÐeinigerÑ Worte in der Urschrift verwechselt worden ist und die Verschiedenheit des Sinns in der Uebersetzung müßte ausgedrükt sein. Ist aber die Verwechslung durch das Auge eine sehr leichte so kann sie der Uebersetzer eben so gut gemacht haben, so daß die Region, wo Verschiedenheiten durch die Uebersetzung mit gewisser Sicherheit entschieden werden können sehr gering, erstaunlich beschränkt [ist].
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[Zweiter Theil. Kritik der Fehler, die durch freie Handlung entstanden sind.] Wir kommen nun zur zweiten Gestalt unsrer Aufgabe in Fällen, wo zu vermuthen ist, es sei eine Aenderung in dem Ursprünglichen vorgegangen, die nicht auf mechanischen Irrungen, sondern freier Handlung beruht. In welchem Sinne wir und Umfange wir den Ausdruk einer freien Handlung nehmen, ist schon gesagt, sie hat ihren Grund nicht in der organischen Seite des Mechanism nicht nur der Sinne sondern auch der Vorstellung. Alles Versprechen und Verschreiben ist auch eine freie Handlung, hat aber seinen Grund in solchem Mechanism, was nun seinen Grund nicht darin hat braucht auch nicht mit bestimmter Absicht unternommen zu sein, hievon wollen wir aber anfangen. So fragen wir, ist die Möglichkeit und worin kann sie liegen, daß man in die Rede bringt, was nicht darin lag. Denkt man sich einen Referenten, der nichts andres ist, so wird das nicht Statt finden, aber wenn ein bestimmtes Interresse dabei ist, so kann der Fall vorkommen, daß Einer dem Andern Andres unterschiebt. Hat Einer ein Interresse Andre glauben zu machen, der Verfasser habe so oder so gedacht, so wird er durch Aenderungen in den Aussprüchen des Andern so Etwas hervorzubringen wissen, wie es seiner Absicht gemäß ist, das ist eigentlicher Betrug, wissentliche Verfälschung. Aber nur unter sehr besondern Umständen hat man dies vorauszusetzen, im Allgemeinen nicht. Denke ich die absichtliche Vervielfältigung einer Schrift im Großen und Einen, dem das Beruf ist, so wird er jede Aenderung vermeiden um sich im Rufe der Zuverlässigkeit zu erhalten; Dieser hat auch kein Interresse und so hat man das nur bei andrer Vervielfältigung und Anführungen die in andern Regionen entstanden, das anzunehmen. Ein Schriftsteller führt einen ältern an, aber in bestimmtem Interresse, indem er zeigen will, er gehöre zu seiner Parthei, so ist die Möglichkeit der Verfälschung, indem er Worte anführt, aber nicht auf dieselbe Weise wie der Urheber sie geschrieben. Und so muß man zuvor fragen, hat er ein bestimmtes Interresse gehabt, und finde ich das, so verliert die Stelle ihre Beweiskraft, wenn auch die Unredlichkeit nicht zu beweisen ist. Aber wir wollen uns an das Erste halten, auch der bloße Abschreiber, auch der, der des Gewinns wegen eine Schrift vervielfältigt kann ein vorzügliches Interresse haben, daß das Werk den Schein habe von einem Menschen zu sein, von dem sie nicht ist, und so kann er einer Schrift einen Nahmen eines Autors beilegen, dem sie gar nicht angehört. Aber auch dies ist nur und kann nur geschehen in spätern Zeiten, unter ganz besondern Umständen. Die absichtliche Verfälschung kann nur unter ganz besondern Umständen geschehn und die Sache selbst muß dabei an die Hand uns gehn. Nehme ich andre Handlungen, aus denen Aenderun-
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gen entstehn können, die nicht auf jenen Mechanism zurückgehn. Es hat Einer eine Handschrift und findet in dieser an dem Rande beigeschriebenes und setzt es in den Text, so ist das keineswegs eine absichtliche Verfälschung, es kann es wohl sein, das liegt aber nicht in der Natur der Sache; es könnte Correctur sein, daß Etwas im Texte ausgelassen wäre und an den Rand geschrieben, nun nimmt er es in den Text, so ist das nicht eine mechanische Irrung. Hat er Unrecht so kommt hinein was nicht hinein gehört. Auf diese beiden Fälle muß sich nun Alles von dieser Art mehr oder weniger zurükführen lassen. Macht Einer selbst Etwas, mag es sein von welcher Art es wolle, so ist das immer eine absichtliche Verfälschung; macht er es als Correctur, wo das was er vor sich hat ihm nicht bestehn zu können scheint, so ist das eine Verfälschung, die jeder Herausgeber macht, nur daß während Dieser es zu bezeichnen pflegt oder doch vermag, Jener dabei Nichts sagen kann und sich des Rechts bedient, wie bei uns der Setzer. Dasselbe kann da auch geschehn, da kann Etwas als Verbesserung gemeint sein, wie es diese denn wirklich sein kann, ebensowohl aber auf einem Irrthum beruhn kann. Alle solche Fälle sind auf die Seite des Absichtlichen zu setzen, doch auf verschiedene Weise. Durch das Verfahren eines Abschreibers oder Lesers kann Fremdes in den Text hinein kommen und da sind Fälle die dem vorigen sehr verwandt sind. Es kann eine bloße mechanische Irrung sein, wenn der Abschreiber von der Uebersetzung, die er im Sinn hat in den Grundtext bringt, was ihm aus der Uebersetzung vorschwebt; das nun ist mechanisch, aber er kann auch absichtlich nach der Uebersetzung corrigirt haben und so geschieht dasselbe als freie Handlung. So kann man statt Dunklem Deutliches setzen, das aus dem Gelesenen Einem vorschwebt; er kann es als Bemerkung finden, auch wirklich als eine solche nur halten, und doch in den Text setzen. Das ist eine Veränderung, die durch eine freie Handlung entstanden ist. In welchem Grade haben wir Ursache dies vorauszusetzen? Das kommt darauf an, wo man überwiegende Gründe hat, sich die Vervielfältigung zu denken. Denkt man sich eine Vervielfältigung zu Grunde liegend, wo Mehre schreiben, wo aus Einem Originale gleichzeitig mehre Copien gemacht werden, das geschieht durch Dictiren und Jeder ist gebunden die Zeit mitzuhalten und Keiner hat Zeit zu Ueberlegungen und solchen Veränderungen, nur vom Dictirenden könnten sie ausgehn und so in alle Abschriften gelangen; denke ich ihn aber als solchen der das Geschäft aus Interresse treibt, so wird er sich hüten, weil es ihn um den Ruf der Zuverlässigkeit bringt. Diese Veränderung läßt sich nur denken, wenn ein Einzelner, Einer, der nicht solch mechanisches Geschäft als solches verrichtet, abschreibt; bei einem verständigen, in der
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Sache selbst versirenden Abschreiber kann man sich denken, daß Veränderungen in den Text eingehn. Anfangs können auch nur von Solchem oder einem aufmerksamen Leser die Veränderungen an den Rand geschrieben sein und es können dann diese als Einziges in den Text übergehn. So hat diese Genesis von Fehlern einen gewissen Spielraum, aber auch nur unter gewissen Bedingungen und so, daß nicht zu glauben ist, daß Veränderungen auf solche Weise sollten vorgenommen sein; und dann sind es immer nur seltne Lesarten, nie recht verbreitete. Das geschieht nun unter ganz besondern Umständen. Es ist keine Frage, daß wo der Fall sich nachweisen läßt, daß das was ein Andrer hineingelegt, Fremdes sei, ausgeschieden werden müsse. Die Frage von dem Ursprünglichen ist dann ganz unabhängig und für sich bestehend. Wir mußten bei der Genesis solcher Aenderungen unabsichtliche Handlungen und absichtliche dieser Art unterscheiden; das Erstere setzt allemal etwas Andres voraus, denn wenn Jemand Nichts vor sich hat als eine einfach fortlaufende Schrift, wo der Herausgeber mehr Andres hineingebracht als absichtslos, so muß wenn das geschehn soll, das Fremde schon vorhanden sein. Gehn wir weiter zurük, so müssen wir es als möglich erkennen, daß in der Urschrift können Fehler andrer Art als mechanische Irrungen entstanden sein, ja selbst wenn die Urschrift die Hand des Autors selbst ist, in dem Falle ist eine Veränderung nichts Andres als Wiederherstellung dessen, was der Autor gewollt; er würde sie also zur seinigen machen, er würde sie anerkennen als seine ursprüngliche Meinung, doch kann dies auch anders behandelt werden als der Autor es behandelt haben würde. Es können Fälle sein, wo zweierlei gegeben ist, das Eine vollkommen Richtiges, während das Andre nicht bestehn kann, es läßt sich Dies aber aus einer mechanischen Irrung erklären, während Jenes sich nicht so erklären läßt. In diesem Falle ist zweierlei möglich, das vollkommen Richtige kann das Ursprüngliche sein, das Andre aus mechanischer Irrung entstanden, denn das Entgegengesetzte ist auch möglich, daß das aus Irrung Entstandene das Ursprüngliche und das vollkommen Richtige die Correctur ist, nur müssen dazu bestimmte Indicien sein. Das wird in Beziehung auf das Mechanische der Sprache nicht schwer halten; man hat zu manchen Zeiten geschrieben wie nicht auch gesprochen und anders gesprochen als es eigentlich die Regeln des Schreibens mit sich bringen; sobald nun eine solche abweichende Form überwiegend ist, so ist es möglich, daß sie das Ursprüngliche, so ursprünglich geschrieben; findet sich das Richtige nur in einigen Handschriften, so ist’s möglich daß das Correctur ist. Wie es möglich ist also, daß solche Veränderungen in eine Schrift hineinkommen können aus guter Absicht, so können sie auch ohne Absicht hineinkom-
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men aber durch falsche freie Wahl, wobei nur ein andres Factum schon vorausgesetzt ist. Wird eine Marginal-Bemerkung als Correctur in den Text genommen, so ist das absichtlich, wenn er weiß es ist Fremdes, er nimmt es aber als Verbesserung auf, dagegen hält er es für hineingehörend so ist es unabsichtlich. Letzteres ist sehr häufig; die Möglichkeit, daß solche Aenderungen sehr häufig vorkommen steht fest auf allgemeine Weise, so lange nur die Schrift durch die Abschreiber im Einzelnen vervielfältigt worden ist; denn das ist immer der Fall gewesen, daß fleißige Leser sich Etwas bemerkt haben zu dem was sie lasen, und so wie dergleichen Zusätze, dergleichen in demselben Volumen befindliche fremde Elemente Einem in die Hände kamen, können solche Veränderungen vorgehn. In welchem Falle werden nun absichtliche Aenderungen vorgehn? wie können solche entstehn? Da müssen wir eine gute und böse Absicht unterscheiden, die gute, wodurch wir einen Fehler gut zu machen suchen, da glaubt man zu thun, was der Herausgeber selbst thun würde, das ist der Wille den Verfasser wiederherzustellen und die Aenderung ist eine kritische Operation. Wie ist sie zu behandeln? Diese Frage ist sehr verschieden zu beantworten, wenn wir von der einfachen hermeneutischen Aufgabe ausgehn oder uns auf den allgemeinen philologischen Standpunkt stellen. Hat ein Schriftsteller sich nicht genau grammatisch ausgedrükt oder einen nicht angemessenen Ausdruk gebraucht, ein Andrer hat Jenes verbessert, hierfür einen bessern gesetzt so können wir für die hermeneutische Aufgabe die Verbesserung acceptiren und sagen, der Autor habe wohl nur das Schlechtere gewählt, weil nichts besseres ihm zur Hand war. Die Verbesserung hat also den eigentlichen Sinn des Urhebers angegeben, dies ist da das Richtige. Auf den allgemeinen philologischen Standpunkt gestellt müssen wir die Hand des Urhebers in der vollständigsten Reinheit zu erhalten suchen, sonst entziehe ich mir die Materialien zu einem bestimmten Urtheil über ihn und die Sprachbehandlung seiner Zeit und Gegend. Alle solche Aenderungen müssen bei diesem Standpunkte eliminiret werden um die ursprüngliche Hand des Schriftstellers herzustellen und dabei kann sich ergeben, daß Jenes nicht eine grammatische Irrung sondern Sprachgebrauch der Gegend und Zeit ist. Was nun die Veränderungen aus böser Absicht anbetrifft da ist bedeutend zu unterscheiden, weil es wirkliche Tendenzen geben kann die nicht böse gegen den Autor gemeint sind und solche die eben dieses sind. Es kann Jemand die Aussagen und Ausdrücke eines Schriftstellers verändern, wenn er glaubt besseres zu wissen als das und er nun das Richtige hineinbringen will, dergleichen sich in allen historischen Gegenständen sehr gut denken läßt; so wie ich hier weiß, das war nicht ein momentanes Versehn
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des Autors, sondern seine Auffassungsweise, aber eine falsche so ist die Absicht bei Aenderung desselben nicht gut, sie alterirt das Werk des Urhebers und nicht so, daß sie das ursprüngliche Werk herstellt, und gibt ihm also eine ganz falsche Position; doch meint sie es gut für den Leser, daß Dieser nicht falsche Ansichten annähme. Es kann ferner sein daß Jemand einen Andern will zur Autorität machen für das was seine Ansicht ist, ohne daß gerade diese des Autors Ansichten widersprechen mag, Dieser hat sie aber nicht gerade ausgesprochen, und durch eine kleine Aenderung macht er, daß der Autor für sie wirklich zu sprechen scheint. Das ist nun zwar keine gute Absicht, weil es ein Unrecht gegen den Autor war, unterzuschieben, was Dieses Meinung mit Wissen und Willen nicht war, aber es ist die Absicht auch nicht bös gegen ihn, sondern gut für die Sache. Schließlich läßt sich denken, daß Jemand eine Veränderung macht, um auf den Autor zu bringen, was er nicht gethan, ihn eines Irrthums zu zeihn, den er nicht begangen. Unter welchen Bedingungen kann das vorkommen? Dies sind so die Fälle im Allgemeinen von denen freilich der Letztere am schwersten zu denken; so müßten die Indicationen von außerordentlicher Klarheit sein, es läßt sich nur denken unter der Voraussetzung eines persönlichen oder Partheiverhältnisses und beides nur unter der Bedingung, daß der Verfasser nicht mehr im Stande ist zu reclamiren, Ðder aber noch nicht ganz liegtÑ, damit diese untergeschobene Bedeutung Einfluß haben könne. Das sind Fälle die sehr schwer vorkommen, wir wollen Einen fingiren. Tertullian schreibt gegen den Marcion, worin er häufig Stellen von diesem anführt, das ist eine Partheischrift und Tertullian hat wirklich oft den Marcion ganz falsch aufgefaßt, der konnte nicht mehr reclamiren, die Sache war aber in lebhafter Anregung, er hatte einen Ketzerbeinamen bekommen und so war es möglich daß Tertullian seine Worte verdrehen, ihm unterschieben konnte, was er gar nicht gedacht. Solcher Betrug kann nur unter solchen Umständen vorkommen; so wie solches Verfahren in großer Entfernung von der Zeit des Urhebers wir uns denken müßten, ist es immer unwahrscheinlich, daß so Etwas geschehe; eine solche Vermuthung zu rechtfertigen müßten die Anzeigen sehr stark sein, wogegen die pia fraus, die Verfälschung aus guter Absicht bei gewissen Classen von Schriften vorkommen kann in dem Interresse eine gewisse Schrift als Zeugen oder Autorität aufzustellen. Fragen wir, sind die welche Schriften vervielfältigt haben in dem Falle, daß sie so Etwas haben thun können? wir mögen die Sache nehmen wie wir wollen, so ist das unmittelbar schwer zu denken, denn gehn wir auf die Zeit 32 lies Anzeichen
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zurück, in der ein Werk durch Handschrift vervielfältigt wurde, so müssen wir eine einzelne Vervielfältigung und eine im Großen unterscheiden. Letztere war ein eigentliches Gewerbe, das von dem Interresse an dem Gegenstande ganz gelöst war, da läßt es sich also nicht denken; die Vervielfältigung im Einzelnen war nur zum Privatgebrauch und konnte keine Rükwirkung auf das Oeffentliche haben, da war für den absichtlichen Betrug bei Vervielfältigung der Schrift gar kein Raum und es gehörten besondre Umstände dazu, daß dies geschehn wahrscheinlich zu machen. Bleiben wir bei dem Einzelnen zum Privatgebrauche stehn, da kann wohl solche Veränderung vorkommen, die aber erst in der zweiten Hand Veränderung des Texts würde. Da sind wir in ganz anderm Gebiete, daß da Bemerkungen Veränderungen des Texts werden ist leicht möglich und so ist da Etwas dem Verfasser untergeschoben, sobald solche zum Privatgebrauch bestimmte vervielfältigt wird. – Wie stehts um das N.T. in dieser Beziehung? Wenn man die kritischen Regeln aufschlägt in den Griesbachschen Prolegomenen so ist da eine Menge solcher, die sich auf diese Voraussetzung gründen. Er sagt: wenn zwei Wörter an einer Stelle vorhanden, von denen das eine einen erbaulichern Gehalt als das andre hat, so ist dieses Andre vorzuziehn, von denen das eine einen erbaulichern Gehalt als das andre hat, so ist diese Andre vorzuziehn, von denen das eine bestimmter rechtgläubig ist als das andre, so ist das andre vorzuziehn. Die Regel beruht darauf, daß man denkt, wenn Eines von beiden falsch sein soll, Keines von beiden aber auf mechanische Irrungen zurückzuführen ist, so läßt sich denken, daß ein Abschreiber großen Nachdruck für den asketischen Gebrauch habe hineinlegen wollen, nicht aber, daß er ihn habe hinausbringen wollen, so ist das Eine wahrscheinlicher falsch als das Andre. Das an sich betrachtet hat eine gewisse Wahrheit aber diese ist lediglich in der Voraussetzung, daß gewiß keins von beiden auf anderm Wege als auf absichtliche Weise habe entstehn können, wenn das nicht vorhergegangen so kann keine Entscheidung eintreten. Ist aber die ganze Sache wahrscheinlich daß beim Abschreiben solche Veränderungen gemacht sind? Wie sollte ein Abschreiber dazu kommen, solche Aenderungen zu machen? Sollte das geschehn sein bei einer Vervielfältigung im Großen, so müßte sie von dem der die Vervielfältigung leitete ausgegangen sein, und der müßte diese Absicht haben, es konnte aber kein Inter17 an] an an 15–22 Der zweiten Auflage seiner Ausgabe des griechischen Neuen Testaments hat Griesbach „Prolegomena“ vorangestellt (1, i–cxxxii); sectio 3 (p. lix–lxxxi) enthält die Regeln über die lectio brevior, difficilior, durior etc. Schleiermacher bezieht sich wohl besonders auf die Regeln 5–8 (p. lxii f.).
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resse für ihn haben, konnte nur seinem Kredit schaden. Aber im Einzelnen gar was konnte das eine Exemplar bewirken, das wäre eine Absicht auf unbestimmten Erfolg gewesen, denn von diesem war eine verbreitete Bekanntschaft doch vielleicht erst spät zu denken, und so ist solche wenn auch pia fraus kaum zu denken. Dasselbe ist mit der Orthodoxie oder Heterodoxie. Der Abschreiber war nicht in die kirchlichen Streitigkeiten verflochten, ja Einer der darin verflochten konnte solchen Irrthum machen und sagen, ich lese da so und es ließe sich so ÐdenkenÑ; daß das in dem Gewerbe der Vervielfältigung im Einzelnen gekommen sei, läßt sich eigentlich doch nicht denken; denn sehn wir weiter und betrachten die Sache, wie sie im N.T. steht so würden wir genauer sagen, bei der Art wie man im kirchlichen Streite anfing die Streitigkeiten zu behandeln, kam es wenig darauf an, wie eine einzelne Stelle gelesen wurde, man hatte eine ganz andre Art zu argumentiren, für die man immer Stellen fand, ohne gerade nöthig zu haben, solche Ausdrücke in bestimmte Stellen zu bringen. Dazu kommt, daß das Meiste dieser Art sich aus mechanischen Irrungen erklären läßt bei solchen Varianten; und so muß man allemal das Mechanische zuerst versuchen weil sich das überwiegend aufdringt; das Resultat, was sich daraus ergibt ist erst festzustellen, dann ist nach Anderm zu fragen. Eine andre Regel ist die: wenn 2 Lesarten sich finden wovon die eine einen ganz richtigen und leichten Sinn, die andre einen Sinn gibt, der auf den ersten Anblik falsch und unzuverlässig ist, genauer betrachtet aber rechtzufertigen ist, so ist diese vorzuziehn; da denkt man sich einmal auch wieder denkende Abschreiber, die die Stellen alterirt, weil sie Falsches darin gesehn und es auf solche Weise erleichterten. Ja wenn eine andre Erklärung nicht möglich, und wir fragen, welches von beiden leichter eingeschoben zu denken sei, so ist die Antwort[:] die richtigere, es müßte denn eine ganz absichtliche Sache gegen den Verfasser selbst sein; nur selten steht aber die Sache so, daß der Fall nicht aus allerhand mechanischen Irrungen möglich wäre. Die Griesbachschen prolegomenen haben die Sache gar nicht so gehörig unterschieden; es muß allemal die Frage zuerst entschieden werden, was im Allgemeinen möglicher, eine absichtliche Aenderung oder mechanische Irrung, und da wird Jeder das Letztere antworten und so ist es auch immer voranzuschicken und darauf das Verfahren zu basiren und von solchen Aenderungen, die nicht mechanisch zu erklären, sind nun die dann die all11 würden wir] würde wir; wir über (man) 13 wurde] oder würde der nächsten Seite und wenn eine andre Erklärung nicht möglich ist
26 möglich] folgt auf 32 die] die d
30–31 Novum Testamentum graece, ed. J. J. Griesbach, Bd. 1, Halle 1777, Praefatio, p. xiv f.
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gemeineren, die durch die zweite Hand hineingekommen sind. Man hat überhaupt gar nicht so viel Ursache im N.T. Text so viel absichtliche Aenderungen vorauszusetzen als gewöhnlich geschieht; es ist freilich häufiger, daß durch die zweite Hand Aenderungen vorgenommen sind, die es zuvor nicht waren, sondern nur Erklärungen, Bemerkungen, diese haben aber so durchaus im Privatgebrauch ihren Ursprung daß man nicht in den Fall kommen kann, sie in Vergleichung zu ziehn. Griesbach hat indeß diese verschiedenen Fälle durchaus nicht unterschieden und hat dadurch die Sache sehr verwirrt. Ziehn wir mit zu Rathe, was beim ersten Theile der Aufgabe gesagt ist und als überhaupt davon die Rede war, in welches Verhältniß ein Herausgeber den Leser stellen solle, so ist zuerst die Regel zu geben: so gut wie der Herausgeber des N.T. ganz vorzüglich seinen Lesern muß einen Text zu geben suchen, nicht wobei etwas Willkührliches zum Grunde liegt, denn dadurch würden sie bestochen, sondern einen Text zu geben suchen, der so weit man zurückgehn kann, der in der Kirche verbreitete gewesen und zwar der in verschiedenen Regionen verbreitete. Wenn nun der Leser im Fall ist, Verschiedenes wählen zu müssen, darf er auch nicht außer diesem Verbreiteten Etwas aufnehmen, sonst kommt er auf etwas im Privatgebrauch Entstandenes. Es gibt auch Exegeten die dies ganz vernachlässigen und auf gleiche Weise glauben, was nur in irgendeiner Handschrift steht. Da wird gesagt: Dieses oder jenes Wort hätte nicht sollen aus dem Text geworfen werden, weil es in dieser oder jener Handschrift fehlt, denn es gibt einen ganz guten Sinn. Das ist völlig unkritisch, was heißt das in Beziehung auf das N.T., ein Wort aus dem Text hinauswerfen? da ist doch nur der zusammengeworfene Text verstanden, den man erst ganz auseinanderwerfen muß um einen Text zu erhalten. Dann liegt darin die Maxime, was Sinn habe müsse im Texte bleiben, es soll aber ein Text erst gemacht werden, so wie man die Constitution des Texts als Herauswerfen oder Hineinbringen annimmt, so muß man von einem wirklichen Text ausgehn; nun ist aber ein Text, ein wirklicher Text nur der einer einzelnen Handschrift, und da kann man sagen, ich werfe hinaus, indem ich aus diesem Texte versuche die Urschrift wiederherzustellen; nur in Beziehung auf solchen wirklichen Text gibt es ein Heraus und Hineinbringen. So wie man nicht von einzelnen Handschriften ausgeht so handelt es sich darum, einen Text erst zu machen, die recepta ist wahrlich keiner. Wenn nun solch Urtheil gefällt wird, man hat kein Recht Etwas nicht in den Text aufzunehmen – so wollen wir es ein wenig wissenschaftlicher ausdrücken – deswegen, weil es in solchen Quellen die man als Text annehmen könnte, fehlt, weil es irgendwo steht, wo es einen guten Sinn gibt, was wäre das? ÐAberÑ ÐirgendwoÑ
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macht man keinen Text, da ist die Aufgabe gewiß nicht bestimmt, es kommt ja weder bei der einfachen hermeneutischen Aufgabe noch auf dem allgemeinen philologischen Standpunkte darauf an, ob ein guter Sinn da ist und ist das kein Grund, es aufzunehmen, daß es Sinn gibt, es kommt darauf an, den ursprünglichen Sinn herzustellen. Daher sagen wir, alle solche Charaktere, wie die aus Griesbach erwähnten, können nicht eher in das Urtheil eintreten, als bis das Verhältniß des verschiedenen Vorhandenen in Beziehung auf seine Autorität bestimmt ist; die Sache muß soweit klar sein, als sie durch Zeugnisse klar gemacht werden kann und nur wo es darauf ankommt aus gleich Verbreitetem zu wählen, können solche Gründe berüksichtigt werden, wobei aber zuerst gesehn werden muß, welches leichter durch mechanische Irrung entstanden: Dies muß immer das Erste sein, nur dann kann man sagen, zwischen diesen verschiedenen Lesarten läßt sich nicht entscheiden aus dem Gesichtspunkt der mechanischen Irrungen, entweder können beide daraus entstanden sein oder keine und da ist die Vermuthung daß Etwas in den Text gekommen, was nicht in den Text gehört, wo wir denn fragen, was leichter solche Genesis haben konnte, und das muß dann zurükstehn, das Andre bleiben. Griesbach stellt nun den Canon auf, daß überall das Schwierigere und Dunklere der leichtern und klarern Lesart vorzuziehn sei, ebenso das Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen und das Härtere dem Weichen. Dieser Canon setzt durchaus die absichtliche Aenderung voraus und dann freilich läßt sich nicht denken, daß wenn Etwas klar gewesen, Jemand wird hineingebracht haben, wodurch es dunkel geworden u.s.w. Das Ungewöhnliche betrachtet, das kann deswegen das Falsche sein, weil es durch mechanische Irrung entstanden sein kann und da würde das erste Motiv ganz aufhören, denn es ist ja viel natürlicher aus einer mechanischen Irrung als aus absichtlicher Aenderung zu erklären, auf diese können wir nur kommen, wenn wir durch Jenes es nicht erklären können. Am deutlichsten sieht man die Unzulässigkeit dieser Regeln wenn die Collision zwischen zweien offenbar ist; so sagt Griesbach daß überall, wo eine kürzere und längere Lesart ist, die kürzere vorzuziehn sei, wenn es ihr, setzt er ÐfreylichÑ hinzu, nicht an allen guten Zeugnissen fehle. Diese Regel beruht eigentlich auf der Voraussetzung absichtlicher Aenderungen, die nämlich durch freie Handlung entstanden, ÐwodurchÑ man leicht sieht wie auf indirecte Weise ein Zusatz in den Text kommen konnte, aber gar nicht wie durch ein Versehen könne Etwas ausgelassen werden. Vergleichen wir das einmal mit einem andern Canon; so ist der: daß die Abweichung, welche auf Grund der Aehnlichkeit einiger Sylben entstanden, zu verwerfen sei. Diese Canonen werden in Conflict treten, denn Jener
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sagt, das Kürzere ist vorzuziehn, Dieser sagt, da ich im Längeren an der einen und andern Stelle ähnliche Zeichen finde, da ist also dadurch das Auge abgeirrt, das Dazwischenliegende ist übersehn, ausgelassen, und so ist das Kürzere zu verwerfen; Jener hatte aber das Kürzere vorgezogen? Wie ist der Conflict zu lösen? Was aus einer mechanischen Irrung zu erklären, ist immer zuerst für richtig zu halten, somit also das Kürzere für verwerflich, wenn es dem Längern nicht an allen guten Zeugnissen fehlt, und wie das Längere auch als Einschub zu erklären sein mußte, so könnte auch Jenes als Auslassung zu erklären sein. Dieselbe Regel kann auch mit einer andern in Conflict stehn; ich soll die kürzere Lesart vorziehn, die längere enthält aber, wodurch ein heterodoxer Schein von der Stelle abgewendet wird, sie ist also die orthodoxere da ist nun die kürzere vorzuziehn, aber aus ganz anderm Grunde; es kann indeß auch umgekehrt sein, es kann Etwas weggelassen sein, weil es heterodoxen Schein gäbe, somit wäre die Auslassung, weil sie aus orthodoxem Principe zu erklären und entstanden, zu verwerfen, und die längere vorzuziehn; ebenso kann es sein in Beziehung auf das Asketische, da muß man erst eine Rangordnung zwischen diesen beiden Voraussetzungen feststellen und es kommt Alles auf die Frage an, was hat die Präsumption für sich, öfter vorzukommen, die mechanische Irrung oder directe oder indirecte absichtliche Aenderung. Jenes ist fast unvermeidlich; die indirecte wissentliche Aenderung ist häufiger vorkommend, da geht man aber immer nur von der Idee des Privatgebrauchs aus, und so ist sie verhältnißmäßig selten, aber die absichtliche wissentliche Aenderung hat man am wenigsten vorauszusetzen. Man denkt sich das häufig in kirchlichen Streitigkeiten geschehn, aber diese gehören einer Zeit an, wo es schon eine Menge von Abweichungen des N.T. gab, und was wäre dabei gewonnen wenn Einer in seinem Exemplar geändert und gesagt hätte, in meinem Exemplare steht es [,] hätten die Uebrigen gesagt, ja Deines ist ein falsches Exemplar, ein schlechtes; es hätte nur Einer können eine verderbliche Saat säen, von der er wüßte, daß er die Aerndte nie erleben würde; das ist nun aber etwas unwahrscheinlich. Es gibt freilich Beispiele, die sind aber von andrer Art und gehn weiter als was wir bisher behandelt. So gibt man dem Marcion Schuld, er habe nicht nur den N.T. Canon einer bestimmten Theorie gemäß sich zugestuzt, sondern auch in den einzelnen Schriften seiner Theorie gemäß weggelassen und zugesetzt, überwiegend aber weggeschnitten; da wäre freilich ein solches Exemplar, aber um das zu beweisen müßten alle diese Differenzen eine bestimmte Physiognomie ha8 Längere] folgt als Einschub
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ben, sich aus seinen Principien erklären lassen. Das ist Eins der stärksten Exempel, wie steht es nun damit? Das ist eine unrichtige Behauptung, wenn man sagt, Marcion habe den ganzen Canon gekannt, wie wir ihn haben, er habe aber nur gewisse Bücher aufnehmen wollen, habe die übrigen weggelassen; das ist nicht zu beweisen, sondern eine Voraussetzung, die gar nicht gehörig zu verificiren wäre, daß Marcion als er den Canon für die Gemeinde in Pontus ordnete, da auch noch andre gekannt habe. Keineswegs nahm er nicht jene Bücher mit dem Bewußtsein, daß sie schon in andern Gemeinden kanonisch wären, es war damals der Canon nicht so allgemein bestimmt, wie denn die Verbindung zwischen so entfernten Gemeinden zu schwierig war, daß das hätte schon sein können; sein Canon gehört übrigens in die Bildungszeit des Canon und konnte nicht anders sein. Liest man Tertullian und Epiphanius gegen Marcion, so bleibt man sehr schwankend, ob das Evangelium des Marcion das des Lucas gewesen oder nur ein sehr ähnliches, gewiß ist es nicht und selbst die neusten Hahnschen Untersuchungen geben keine Sicherheit, daß Marcion unsern Lucas, wie wir ihn haben, vor sich gehabt habe und daß alles Abweichende sein Werk sei. Nun sind auch die Differenzen die Tertullian ihm alle als absichtlich zuschiebt nicht von der Art, daß sie sich aus seinen Ideen nachweisen und ableiten ließen, sondern oft ganz verschiedener Art; so läßt sich auch dasselbe Motiv nicht auf sie anwenden, und was nicht als absichtliche Aenderung aus dem, was seine persönliche Meinung war, sich erklären läßt, ist auch nicht für eine absichtliche Aenderung zu halten; wir können ja nicht wissen, wie in dieser Beziehung sein Text ausgesehn und so wie man solche Zusätze hat die zweifelhaft sind, so wird alles Uebrige zweifelhaft ebenfalls. Hier handelt es sich übrigens um den Text eines einzigen Mannes, aber das ist etwas Andres als wenn man allgemein aufstellt, es seien von Orthodoxen oder Heterodoxen Aenderungen gemacht. Das ist um so unwahrscheinlicher, als wir sagen, der Fall trat selten ein, daß Grund gewesen wäre den Text zu ändern, weil die kirchlichen Streitigkeiten auf solchem Boden versirten, daß sie nie durch einzelne Stellen zu entscheiden waren, wie das aus der Arianischen deutlich war; und sieht man wie ein bedeutender, ja der bedeutendste Theil des Abendlands Arianisch war, und diese Doctrin sollte 8 er] folgt gestrichenes Wort; darüber nicht 13 Tertullian schrieb (wohl im frühen 3. Jh.) seine berühmtes Werk ,Adversus Marcionem‘; Epiphanius von Salamis im späteren 4. Jh. sein ,Panarion‘ oder ,Adversus haereses‘. 16 August Hahn: ,Das Evangelium Marcions in seiner ursprünglichen Gestalt, nebst dem vollständigen Beweise dargestellt, daß es nicht selbstständig, sondern ein verstümmeltes und verfälschtes Lukas-Evangelium war‘ (1823; SB 826).
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nöthig gehabt haben den Text zu ändern, so hätten in den occidentalischen Texten eine Menge Verfälschungen übrig bleiben müssen, es dreht sich in jenen Streitigkeiten mehr um die Exegese. Wenn nun die Sache gar so liegt, daß eine Stelle, die leidet auf zweierlei Art angesehen zu werden, lese ich sie so, so ist sie ein Beweis für eine bestimmte Lehre, wenn nicht, so ist sie für diese Lehre nicht als günstig anzusehen, da habe ich dasselbe Recht zu sagen, die eine Parthei habe so geändert, daß sie für ihre Lehre spräche, die andre, daß sie nicht für Jener Lehre spräche; in diesem Falle muß man sich doch nach andern Gründen umsehn, denn da ist keine Entscheidung. Stellt man dagegen die andern Motive voran, so kommt man hiezu gar nicht, da erklärt sich das Eine aus mechanischem Irrthum entstanden, aber es steht fest, daß das Einzelne nur in einzelnen Handschriften und das Andre das allgemein Verbreitete ist, dann hat das Erste kein Recht angeführt zu werden, für welche Seite es streiten mag. Es gibt aber viele Fälle, wo auf indirecte Weise Elemente in den Text gekommen sind, die unmittelbar nicht darin waren. Diese Fälle sind verschiedener Art, es kann Richtiges an der Stelle des Unrichtigen in den Text kommen, es können Correcturen über die Zeilen oder an den Rand geschrieben werden und durch spätere Handschriften in den Text kommen, es kann Ausgelassenes an den Rand geschrieben werden aber auch eine erklärende Glosse und das Eine wie das Andre kann nachher in den Text kommen. Was hier Princip für die Wahl ist, müßte ebenso Princip für die Conjectur sein; das Factum steht fest, es sind in mehre Handschriften Stellen hineingekommen, die in andern nur Marginalien waren, erklärende, vergleichende oder von welcher Art sie sein mögen; besonders das bei den Evangelien, die so viele Parallelen haben und doch abweichend sind. Nun ist wohl eine Erzählung kürzer bei dem Einen als bei dem Andern; ein fleißiger Leser schrieb das was die Andre noch hatte, bei der kürzern an den Rand und so erscheint in später abgeleiteten Handschriften die kürzere der längern assimilirt. Wo das nachzuweisen indem bei ältern oder gleich alten Jenes ausgelassen ist, so ist die Praesumption da, daß das nicht hinein gehört; kann das nun aber nicht geschehn sein in Zeiten aus denen uns die Zeugnisse fehlen, kann es nicht Assimilationen gegeben haben die älter sind als unser Text. Das ist wohl eine Möglichkeit, aber es ist kein Grund über unsern ältesten weit verbreiteten Text hinauszugehn, dieser muß stehn bleiben. So wie aber erklärende Anmerkungen in den Text gekommen sind, da wird es häufig Gründe geben, sie auch für solche Zusätze zu halten, wenn auch in allen unsern Handschriften sie schon 27 Andern] folgt sein
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sein mögen, Etwas aber darin enthalten ist, wovon nicht zu denken daß es in diesen Zusammenhang gehöre, wie es den Principien der psychologischen Exegese widerspricht, da kann ich sagen, das ist ein Zusatz, wenn gleich er in allen unsern Handschriften ist; es bleibt das aber auch nur ein Urtheil bei der Exegese und wenn ich die Charakteristik der Schriftsteller festzustellen begriffen bin, aber nie kann es mich berechtigen, es auszustoßen, denn dazu ist die Sicherheit zu gering, weil es an allen äußern Haltungspunkten fehlt. Aber das Resultat des zuletzt Durchgenommenen würden für die N.T. Kritik wir dieses besonders aufzustellen haben: überall wo eine Verschiedenheit obwaltet, wo wir verschiedene Texte vor uns haben, besteht die Aufgabe, die Entstehungsweise dieser Verschiedenheit zu erklären, aber darin muß immer die Entscheidung liegen; gehn wir nun auf die Entstehungsart beider zurük, so muß zuerst versucht werden die Verschiedenheit zu erklären aus dem Gebiete der mechanischen Irrungen und so wie hier sich eine Entscheidung ergibt, so ist diese vorläufig als die richtige anzunehmen; vorläufig, denn es können sich hernach im ganzen Zusammenhange Indicien ergeben, die für eine Entstehung auf anderm Gebiete sprechen, diese muß aber zuerst berüksichtigt werden und wenn eine Entscheidung sich findet muß diese als vorläufig gelten, wenn eine solche sich nicht ergibt, so ist dann überwiegend wahrscheinlich, daß die Aenderung nicht eine ursprünglich absichtliche gewesen sei, sondern das ist immer das Letzte. Wenn wir nun auf diese Weise zur Erklärung der Entstehung gekommen sind und nun alle Verschiedenheiten bis auf Eine wir Ursache haben zu verwerfen, und diese eine nicht in die hermeneutische Operation hinein geht entweder keinen Sinn gibt der logisch oder grammatisch geschlossen wäre oder keinen Sinn, der sich als solcher im Zusammenhange begreifen läßt, und hierdurch die am meisten aus der Urschrift zu erklärende ist von allen Handschriften, wie im andern Falle, wenn obwohl wir Alles weggenommen was durch absichtliche Aenderung entstanden sein könnte, doch nicht die Hand des Verfassers selbst wir finden, da muß auf andre Weise gesucht werden, die Urschrift herzustellen. Ob man da eine Hülfe nimmt aus irgend einem Winkel des kritischen Apparats, aus irgend einer schlechten Handschrift oder ob durch Conjectur ist einerlei; ich habe keine andre Gewißheit, keinen sichern Grad von Gewißheit wenn ich Etwas aus einer so ganz unbedeutenden Handschrift nehme oder ob ich in Keiner es finde, aber einsehe, des Sinns wegen muß es da stehn. Ferner ist es ganz gleich, wenn alte, zuverlässige Handschriften eine Lesart haben, die nicht so gut ist als Etwas Andres, ob ich da sagen kann Dieses bessere fand ich in mir und halte es besser oder ich fand es in solcher werthlosen Handschrift, mehr Werth hat dies nie so-
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bald es in die Schranken treten soll gegen eine von Alters her bezeugte Lesart. Betrachten wir dieselbe Frage auf dem Gebiete der classischen Literatur, so scheint sie sich anders zu stellen, aber nie können wir ein andres Princip zugeben. Der wesentliche Unterschied ist der, daß von den meisten klassischen Schriftstellern wir nur eine geringe Anzahl von Handschriften haben, während wir sie beim N.T. in so großer Menge haben. Wo wenige sind, da ist der Fall oft der, daß alle nicht genügen einen geschlossnen oder der Sprachbehandlung des Verfassers angemessenen Sinn zu geben; da werden wir also zur Conjectur schreiten was ÐdennÑ auch allgemein gebilligt wird. So ist es auch für das N.T., wenn da auch so viele sind, kommt der Fall vor, daß Alle noch nicht solchen Sinn geben, mit dem wir uns befriedigen könnten, so müssen wir zur Conjectur unsre Zuflucht nehmen. Bei den alten Schriftstellern kann man nun sagen, die Conjectur soll nur vorläufig sein, denn es können sich immer noch Handschriften finden die das Richtige geben und da sind eine Menge von Beispielen, wo eine Conjectur sich durch andre Handschriften bestätigt hat. So denkt man sich denn bei einer Conjectur ÐdaÑ, sie werde sich wohl durch Vergleichung andrer Handschriften bestätigen, wenn man bessere finde, oder man werde in diesen bessern besseres finden. Beim N.T. haben wir aber wenig Hoffnung noch einen großen Fund von solchen Exemplaren zu machen, am wenigsten solche die große Autorität hätten, und so ist der Zustand des Texts so, daß wo unser Vorrath nicht ausreicht sondern Erfindung hinzutreten muß, es wahrscheinlich dabei bleiben wird. So liegt dem aber nicht die Verschiedenheit der Principien zu Grunde, sondern daß die die Frage sich anders stellt bei den classischen Schriftstellern, bewirkt die Verschiedenheit des Zustands, der Lage der Sache. Wollte dagegen Jemand sagen, bei der Menge von Handschriften darf eine Conjectur nie eintreten, so ist das eine Aenderung der Principien; dies wird aber Niemand jemals behaupten wollen. Welches ist nun im N.T. die Grenze zwischen den beiden Qualitäten, die wir auseinander gehalten haben, wenn wir von Handschriften redeten, die gar keine Autorität hätten, welche, wo sie gegen Lesarten, die durch andre Handschriften bezeugt wären, träten, nicht mehr Gewicht hätten als eine Conjectur; wo liegt da der Unterschied? Wir kommen hier in ein Gebiet einer eignen Disciplin, in das Gebiet der Diplomatik, der Kunst den Werth der Handschriften [bzw.] Urkunden richtig zu bestimmen und zu beurtheilen, indeß können wir Einiges was zunächst liegt, anführen. Man kann 2 verschiedene Classen nach der Schrift unterscheiden, die mit 25 Frage ... stellt] eingeklammert und darüber: Frage sich anders stellt
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Uncialbuchstaben und mit Cursivschrift geschriebenen; im Ganzen sind die letzteren später, die andern früher, aber nicht so, daß es sich genau abgrenzen ließe, es gab schon Cursivschrift, als die Uncialbuchstaben noch im Gebrauch waren, und es sind sie schon zum Theil gleichzeitig, so ist also eine Vermischung beider und man kann streng unterscheiden nur Handschriften mit Uncialbuchstaben, wo es noch keine Cursivschrift gab und wiederum Cursivschrift wo die Uncialbuchstaben schon aufgehört; da haben diese Handschriften einen entschiedenen Vorzug vor jenen, wie steht es aber um die gleichzeitigen? Es ist leicht zu sehn, wenn man den Charakter beider Schriften vergleicht, welcher der Vorzug zu geben ist. Die Cursivschrift ist nur der Schnelligkeit wegen erfunden; so erfodert also mit Uncialbuchstaben zu schreiben längere Zeit als diese, somit hat sie auch die Praesumption größerer Sorgfalt, welche schon in dem Entschlusse liegt, sie zu gebrauchen, dann aber auch, daß beim Schreiben derselben weniger Eile vorauszusetzen, als in dieser. Ferner sondern sich bei den Uncialbuchstaben mehr die Zeichen von einander, in der Cursive verziehn sie sich mehr in einander und wo sich die einzelnen Buchstaben mehr isoliren ist noch mehr Leichtigkeit im Versehn zu entdecken, als wo sie sich in einander ziehn. Allerdings sind alle mechanischen Irrungen in der Uncialschrift gemacht, diese sind nicht aus ihr zu verbannen, es läßt sich sogar zeigen, wie und was habe verwechselt werden können, und die Regeln wie diese Verwechslungen einzelner Zeichen entstanden, sind wohl zu merken; denn alle mechanische Irrungen sind daher abzuleiten, aber wäre eben so häufig aus der Cursivschrift wie aus der Uncialschrift abgeschrieben, wo würde die Zahl der Irrungen eine bei weitem größere sein, somit hat auch in dieser Zeit die Uncialschrift eine gewisse Praesumption zu ihren Gunsten. Fragen wir wie zu gleicher Zeit Abschriften mit Uncialschrift und mit Cursivschrift entstanden sind, so ergibt sich, daß die welche ihre Zeit und Kosten darauf verwandten solche Abschrift mit Uncialbuchstaben zu erhalten, auch mehr auf die Sache hielten; und daß die Leserschaft mehr für den Privatgebrauch und im Privatleben [die Cursivschrift bevorzugte], dann ist auch überwiegend wahrscheinlich daß die Handschriften mit Uncialschrift mehr für den öffentlichen Gebrauch waren und so auch deswegen mehr Praesumption für sich haben. So ordnet sich von dieser Seite die Differenz, und was die Hypothese betrifft die sie ganz aufzuheben scheint, so ist von ihr schon gesprochen, daß nämlich wohl könne eine Cursivschrift von einer Uncialschrift abgeschrieben sein; diese Hypothese hat wenig Begründung und erinnern wir uns nur, daß wir eine große Menge mit Uncialschrift geschriebne haben, die also aus der Zeit vom 5ten – 10ten Jahrhundert sind, und ich finde in jener eine
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Lesart, die alle diese nicht haben, wo soll sie dann wohl her sein, wo sie keinen Stammgenossen hat, verbreitet ist sie nie gewesen, gilt also auch wenig. Wenn wir die Merkmale einer möglichst guten Schrift kennen wollen, so ist auch auf die Verbreitung zu sehn, nicht allein auf das Alter und da ist, die Theorie der Familien bei Seite gestellt, die Duplicität von solchen die rein Griechischen Text und solchen die ein latinisirendes Ansehn haben, die dadurch auf ihr Vaterland schließen lassen, auf den Orient und den Occident; was nun in Handschriften der ältern Zeit und in solchen von diesen beiden Classen sich findet ist eine mit möglichster Vollkommenheit bezeugte Lesart. Wie steht es um den hergebrachten Text in dieser Beziehung? Eine genauere Vergleichung ergibt, daß eine große Menge der bestbezeugten Lesarten in ihm gar nicht berüksichtigt sind, unter denen freilich sehr viele sind die nicht von übergroßer Wichtigkeit sind, die nur eine gewisse Eigenthümlichkeit in der grammatischen Form haben, die sich aus der recepta ganz verloren hat, ungeachtet sie die am besten bezeugte ist; indeß sind auch viele Fälle so, daß wenn man die am besten bezeugte Lesart nimmt, so kommt heraus was man nicht so lassen kann, wogegen in andern schlechtern Exemplaren sich findet, was sich recht wohl nehmen läßt, was ganz guten Sinn gibt; denn nimmt man gewöhnlich Dies, aber aufs Gerathewohl, ohne daß man den Grund habe zu behaupten, das sei die ursprüngliche Hand des Autors. Stellt man das nun gegen einander, so ist das Unbrauchbare das Frühere, das Richtigscheinende das Spätere, was aber eben darum mehr für sich hat, eine Correctur zu sein. Nun findet sich aber oft, daß diese Correcturen in spätern Handschriften auf eine höchst leichtsinnige Weise gemacht sind, behandelt man nun den gewöhnlichen Text, wie wir es jetzt gethan wissen wollen, so kommt man auf ganz andre Resultate, als was die spätern Handschriften geben. Man muß sich durchaus an die alten Handschriften halten, alles Spätere auch richtig Scheinende bei Seite stellen, nicht aber gleich danach greifen, weil es vielleicht einen guten Sinn gibt, Jene aber nur Unsinn. Bedenkt man die Unwissenheit derer, von denen wir die spätern Handschriften haben, und daß sie meist zum Privatgebrauch gemacht sind, so müssen wir natürlich viel Richtigeres erhalten wenn wir die alten zum Grunde legen, und auf sie unsre Conjecturen bauen, wenn sie nicht Richtiges geben. Um der Conjecturalkritik ihren Boden zu sichern, muß man sich an das halten, was in früherer Zeit verbreitet gewesen, dagegen darf alles Spätere nicht in die Schranken treten. Nun aber, wenn man weiter gehen will, und wie wir das zugeben müssen auch wenn man so verfährt, daß man sich nur den besten bezeugten Text vor Augen bringt, man kommt in den Fall, daß das am besten bezeugte nicht
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hinreicht die hermeneutische Operation zu vollziehn, so muß man zum Conjecturiren seine Zuflucht nehmen, und zuerst fragen, was kann wohl zu diesem, das nicht richtig ist, das Richtige gewesen sein? wie hat man dabei zu verfahren, wenn das die Aufgabe ist? Hier kommen wir auf die reine Aufgabe der Conjectural-Kritik und lassen sich dafür Regeln angeben oder nicht? Was sich dafür angeben läßt werden größtentheils Vorsichtsmaßregeln sein, wovor man sich zu hüten; wie man es nicht machen solle, also Cautelen; positive Regeln kann es dafür eben so wenig geben, wie für das Erfinden, so hat man doch davon nie eine Kunstlehre gegeben; es ist das Sache eines durch Uebung geläuterten Talents, und ohne Talent geht es nicht. Die Aufgabe ist die, aus einem Texte der keinen Sinn gibt, möglichst das Ursprüngliche herauszubringen. Nun fragt sich, läßt sich das aus der schwierigen Stelle allein herausbringen oder muß man noch Andres zu Hülfe nehmen? Schon diese Frage wird die ersten hermeneutischen Erörterungen in Erinnerung bringen und kommen wir hier in ein ganz analoges Gebiet; da nämlich sollten wir, wenn der Sinn nicht unmittelbar von selbst klar würde und man eine ordentliche hermeneutische Operation machen müßte, den Punkt, an dem die Schwierigkeit haftete aus den Umgebungen zu erkennen suchen, dann war die hermeneutische Operation gelöst; indeß waren jene Umgebungen oft nicht hinreichend das zu Stande zu bringen; während es bisweilen geschehen konnte. So ist es gerade in der Kritik: bisweilen braucht man Nichts zu Hilfe zu nehmen, kann nicht selten errathen, was der Sinn sein muß, und einen diesen bedeutenden Ausdruk aus der gegenwärtigen Gestalt zu machen, war da die Aufgabe und das war dann auch zugleich die kritische Probe, ob das geschehen konnte. So ist eine Conjectur nicht sicher allein darum, daß sie dem hermeneutischen Mangel abhilft sondern auch die Handschrift mir darstellt, aus der ich das Vorhandene am leichtesten erklären kann. Wenn man diese Aufgabe in Beziehung auf das N.T. in Rüksicht auf den ungeheuren kritischen Apparat denkt, so erscheint sie unendlich und wenn das zur Regel würde, daß man sich nicht beruhigen dürfe, bloß dem hermeneutischen Mangel abgeholfen zu haben, sondern auch alle Verschiedenheiten sich aus ihr erklären lassen müßten, so ist es eine unendliche Aufgabe. Die Handschriften liegen Jahrhunderte aus einander und die Differenz ist oft erst durch eine lange Reihe von Falschem entstanden, die wir nun vollständig gar nicht verfolgen können. In diesem Umfange können wir die Aufgabe nicht stellen, sie zerfällt also in zwei Theile, die ganz verschieden sind, das Erste ist die Probe in Beziehung auf die Lesarten die am besten bezeugt sind; wenn eine Erfindung nicht so ist, daß das Aelteste sich daraus erklären läßt, ist sie immer nur provisorisch
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und es ist für möglich zu halten, daß noch besseres gefunden werde, sie wird nur vorläufig angenommen die hermeneutische Operation zu lösen. Leistet sie das so kann man weiter gehn, eine andre Operation vorausgesetzt, nämlich die, so viel möglich die verschiedenen Lesarten nach ihrem Alter und Ursprung zusammenzustellen; denn da findet man vielleicht Erklärungen der spätern aus den frühern, in dem Maße sich dieses leisten läßt, kann die Verbesserung vollständig bewiesen werden, doch wenn man auch den kritischen Apparat aufs sorgfältigste zusammenstellte und behandelte, könnte man auch nicht für Ein Buch eine solche Reihe von Veränderungen aufstellen, und die Verschiedenheiten so von der einen auf die andre zurükführen, daß B aus A nicht aber A aus B zu erklären wäre, dann ist A das frühere, und so A ganz allein zu erklären. Aber solche Stufenleiter, die bis zu dem ältesten Text zurükginge, könnten wir für kein Buch des N.T. fertigen, sondern würden immer auf Lücken stoßen und es läßt sich das nicht zur Vertheidigung dessen, was durch Conjecturalkritik entstanden ist, anführen; man muß sich damit begnügen, wenn man nur den ältesten besten Text aus dem, was man für das Ursprüngliche ansieht, erklären kann. Wir haben als Grundsatz aufgestellt, daß auch da, wo man das Ursprüngliche oder was man als seine Stelle vertretend ansehn kann, zum Behuf der hermeneutischen Operation machen muß, man nur ausgehn dürfe von dem was als das Aelteste vorhanden ist und ausschließlich an dieses die kritische Operation zu knüpfen; alles Andre kann nur durch die kritische Operation sobald sie ein kunstmäßiges Verfahren ist, seinen Werth erhalten, als Autorität ist es nie anzusehn. Für diese divinatorische Kritik gibt es wie schon gesagt, nur Cautelen, oder aber wir können uns zunächst auf den ÐPunktÑ stellen, daß sich eine Mannigfaltigkeit von Vorschlägen aus der Stelle entwickele. Die Analogie die sich hier findet mit der hermeneutischen Operation ist schon angedeutet, wenn nämlich da bei einer Stelle der Sinn nicht einleuchtet ohne daß ein Fehler da wäre, so muß [man] ihn zu bestimmen suchen wie er denn von einer Zweideutigkeit oder Unbestimmtheit nur herrühren kann; das muß also fixirt werden; wobei wir zunächst an die nächsten Umgebungen gewiesen sind, dann aber indem wir die Umgebungen erweiterten nach außen, den Zusammenhang, in dem die Stelle steht zu Hülfe nehmend, nach innen, Stellen die mit ihrem Zusammenhange Analogie haben, danebenstellend. Hier ist es ebenso, einmal geben die Stellen selbst Indicationen wie zu ergänzen sei, wenn der Fehler im Text ein solcher ist, daß die grammatische (oder logische) Einheit des Satzes das 26 oder] davor Ð
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einzige Gefährdete ist, so geben die Umgebungen an, wie zu ergänzen oder zu bessern sei; das Wort muß in eine richtige grammatische Stellung geführt werden. Zwar kann es Stellen geben wo dies das Uebel zu sein scheint, es aber nicht ist, dann wird soviel klar, daß die grammatische Ergänzung und Zurechtstellung der hermeneutischen Operation nicht genügt, wo dann nun eine Aufgabe entsteht, nämlich das dadurch gewonnene Resultat aufzuheben und die Stelle muß von einer andern Seite angesehn werden. Nun wollen wir zunächst bei den Cautelen stehn bleiben, nach denen jeder solcher Fund zu prüfen ist. Das Erste ist dies, wenn aus der hermeneutischen Operation die Indication gegeben, der Text könne so nicht richtig sein, so muß das was gefunden wird die hermeneutische Operation befriedigen und Correctionen, die in Beziehung auf die oben angegebne Regel passen, indem sie zu dem Vorhandenen in solchem Verhältnisse stehn, daß man das verschieden Entstandene aus ihm ableiten könne, müssen noch Jenes leisten, in den Sinn hinein passen, sonst kann sie die rechte nicht sein. Diese beiden Punkte müssen immer möglichst genau zusammentreffen, denn davon müssen wir ausgehn, daß der Verfasser geschrieben, was in dem Zusammenhange seiner Rede durchaus nothwendig war, von der andern Seite aber, daß die Fehler aus mechanischer Irrung entstanden sind. Es muß sich der Fehler oder bei verschiednen Lesarten die verschiedenen Fehler aus dem Gefundenen unmittelbar erklären lassen, sonst bleibt immer ein Bedenken gegen das Gefundene. Nun ist es möglich, daß das beides gegen einander spricht, indem es Aufloesungen geben kann, die der hermeneutischen Operation vollkommen genügen, die verschiedenen Lesarten sich aber nicht daraus erklären lassen oder umgekehrt, sich aus ihr die verschiedenen Lesarten erklären lassen, der hermeneutischen Operation aber nicht Genüge gethan wird, da entsteht die Frage, welchem von beiden Momenten das Uebergewicht zu geben sei, um das weitere Verfahren zu leiten, wobei vorausgesetzt wird, daß diese Resultate auf die vollkommenste Weise entstanden sind? Da kommt viel auf die Lage der Sache an, und einfach und allgemein ist die Frage nicht zu lösen; je vollständiger die Succession der Documente ist um so vollständiger muß sich alles Vorhandene aus dem Gefundenen erklären lassen, ist aber eine sehr unterbrochne Succession von Documenten, so kann auch nicht so Vollständiges gefodert werden, so wenn man nur sehr alte und sehr neue Handschriften hätte die ganz Verschiedenes gäben, so kann die Aufgabe nicht so gestellt werden; kann doch das Spätere aus ganz anderm Dazwischenliegenden 21–22 Gefundenen] folgt sich
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entstanden sein; alle Hypothesen können da gar nichts entscheiden, welche die Art und Weise der Entstehung, die Mittelglieder erklären wollen. Da ist die Aufgabe, Etwas zu finden was der Foderung entspreche, die man an den Schriftsteller mache, daß in seiner Rede durchaus Zusammenhang sei; das ist eine absolute Aufgabe und ist Diese gelöst, Jene aber kann nicht gelöst werden, weil der Zusammenhang der Documente fehlt, so kann das der Lesart keinen Einspruch thun. Da kann man aber leicht finden was der hermeneutischen Operation unmittelbar vollkommen Genüge leistet, doch aber durchaus falsch ist, wenn es aus einem anderen Sprachgebiete als dem des Verfassers genommen ist. Das ist die nächste Cautel: Das Gefundene muß nicht in der Sprache überhaupt nur sondern auch im Sprachgebiete des Verfassers gegeben sein, und daß es das ist, muß sich nachweisen lassen; so wie man sagen kann, das ist in der Zeit des Verfassers nicht gewöhnlich gewesen, so ist die Conjectur unrichtig, oder ÐsieÑ gehört dem Sprachgebiete des Verfassers [nicht] an, so ist sie unmöglich die richtige. Es gibt ja gewisse Wendungen und Ausdrüke die zu einer bestimmten Zeit nur in der Poesie oder einem bestimmten Gebiete der Prosa üblich sind, nimmt man nun aus ihnen für ein andres Gebiet die Emendation, so ist sie nicht richtig; sie muß sich durchaus in Beziehung auf das Sprachgebiet nachweisen lassen und je vollständiger das geschehn kann, je mehr wird sie sich geltend machen. Hier zeigt sich die Abhängigkeit dieser philologischen Disciplinen unter sich als Begrenzung der Sicherheit in der Aufloesung der Aufgabe; denn diese Kenntniß des Sprachgebiets haben wir doch nur auf demselben Wege erlangt; und sind nun viele verdorbene Stellen zur Nachweisung des Sprachgebiets angeführt, so kann nur Falsches entstehn, da Jene doch erst festgestellt werden müssen. So zeigt sich, daß die vollkomne Gewißheit einer kritischen Emendation nur ein Werk der Zeit ist: sie kann wo und wann sie gemacht wird vollkomnen Beifall finden, aber man muß abwarten, ob sie sich bei der Erweiterung der Sprach- und Urkunden-Kunde bestätigt. Richten wir auf das N.T. diese Frage besonders, so hat das darin seine eigenthümlichen Schwierigkeiten, weil das N.T. Sprachgebiet schwer zu bestimmen ist und zwar aus allen Rüksichten zusammen genommen. Einmal ist uns die Beschaffenheit der ältesten Texte auf sehr üble Weise aus den Augen gerükt, die ersten gedrukten Editionen nämlich, aus denen die sogenannte recepta gebildet ist, sind voll von Correcturen in Beziehung auf die grammatischen Formen und die Orthographie, und davon ausgehend geht man von falscher Grundlage aus. Damit ist nicht gesagt daß alle unre20 Sprachgebiet] folgt sich
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gelmäßigen Formen des Vaticanischen u.s.w. codex damals wären geschrieben oder gesprochen worden, aber wenn es einmal darauf ankommen soll, die kritische Operation aus dem woher sie ihre Genesis hat, zu erklären, so muß man das Vorhandene vor sich haben, weil ich selbst die Züge kennen muß, um durch sie die ähnlichen zu erkennen und so die Verwechslungen zu erklären. Da kann nun viel Falsches gemacht werden, wenn wir nur auf den Text zurückgehn, den gedruckten, weil das nicht das älteste Vorhandene ist, dann aber weil das N.T. Sprachgebiet so wenig bestimmt ist. Man hat in dieser Hinsicht 2 Richtungen verfolgt, aber sie zu einstimmigem Resultate zu bringen, ist wohl noch nicht gelungen, ebenso wenig auch das N.T. Sprachgebiet so zu fixiren, daß man sagen könnte, Dies ist ihm nicht gemäß, Dieses ist ihm gemäß. Jene beiden Richtungen nun gehn davon aus, daß es eine Sammlung ist, und die eine dann von dem Individuellen eines Jeden, welches aber wegen des geringen Umfangs dessen was man von den Meisten vor sich hat und wegen der problematischen Identität eine unauflösliche Aufgabe ist; die andere Richtung ist die nach dem Gemeinsamen. Dies hat nun zwei Beziehungen, die eine auf die Griechische Sprache wie sie damals anderwärts bestand, die andre auf das Hellenistische, wie es anderwärts bestand, doch ist auch in dieser Beziehung schwer zu richtigen Resultaten zu gelangen, denn wollte man behaupten, was ein Philo oder Josephus geschrieben gehöre dem N.T. Sprachgebiete an, so wäre das nicht zu rechtfertigen; ebenso ist nicht zu behaupten, daß was dem Macedonischen Sprachgebiete angehöre auch der N.T. Sprachgebrauch sei. Das ist also eine Unsicherheit nach beiden Seiten und des Feststehenden ist gar wenig. Wenn man obige Regel anwenden wollte so dürfte man nur bei dem bestimmten N.T. Schriftsteller stehn bleiben, aber da ist der Umfang dessen, woraus die Bewährung hergenommen werden soll, so, daß in den wenigsten Fällen es hilft, und so arbeitet die divinatorische Kritik im N.T. weit unsichrer als im Gebiet der classischen Literatur. Sehn wir nun auf die Aufgabe, das Gefundene als Vorhandenes ÐausÑ sich erklären zu lassen, so stehn wir scheinbar mit dem N.T. besonders gut, weil wir eine große Succession von Documenten haben und es Handschriften aus allen Jahrhunderten gibt von da ab, welche Handschrift unsern ältesten Text constituiren muß, aber so wie wir durch den Zustand dieser Handschriften dahin gekommen sind zu sagen, daß doch nur das in der ältesten Zeit Vorkommende als gehörig bezeugt anzusehn sei, so ist die Aufgabe nicht leichter zu lösen als anderwärts, denn es ist die Lüke zwischen dieser Zeit 8 weil] kann man
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und der Zeit der Abfassung des N.T. nicht auszufüllen und man kann gar nicht die Foderung aufstellen in allen Fällen, das älteste Vorhandene, aus dem was richtig scheint zu erklären. Es hat nie andre Urschriften des N.T. gegeben, sondern es war immer nur eine Sammlung von Abschriften. Dazu kommt, daß die ursprünglich auf die Vervielfältigung ausgingen es aus rein religiösem Interresse ohne jede philologische Tendenz thaten, und so muß man an der Möglichkeit verzweifeln, diese Aufgabe in allen Fällen zu lösen. Denn zu der Zeit als in der christlichen Kirche sich eine philologische Tendenz zu regen begann, bestand die Sammlung ziemlich in der Gestalt, wie wir sie haben, sie mußte, wenn wir zb. die Briefe nehmen, die ganze Vervielfältigung in den einzigen Urschriften der einzelnen Bücher ihren Anfang nehmen und nun die Stufe durchgehn, in der die Briefe für sich gesammelt wurden, dann mit den geschichtlichen zusammengestellt wurden, dann mußten die einzelnen Samlungen einander ergänzen, weil einer der Brief der andern jener fehlte; das Alles geschah ohne jedes philologische Interresse, so daß wir uns dabei nur auf mechanische Treue verlassen können. Können wir dabei voraussetzen beim N.T., was von Alten gerühmt wird, die Genauigkeit, die auf die Abschriften verwandt wäre wie auf die Collation der Abschriften, ebenso die genaue Bemerkung aller Abweichungen, weil es eine heilige Schrift war. Aber die Verhältnisse waren ganz anders und wenn das Alte Testament bei dieser Genauigkeit dem nicht entgangen war, eine große Menge Abweichungen zu haben, wie viel eher beim N.T.? Jene Genauigkeit beschränkt sich übrigens auf die Rollen vorzüglich der AltTestamentlichen Schriften, die zum öffentlichen Gebrauch in Synagogen bestimmt waren. Die erste Vervielfältigung der N.T. Schriften hingegen ging vom Privatgebrauche aus, wozu noch kommt, daß hier bei der Entstehung dessen was der Sammlung vorausgehn mußte, Alles zufällig war und gelegentlich. Fragen wir, wie Abschriften einzelner Apostolischer Briefe in andre Gemeinden gekommen? das geschah doch nur durch Einzelne, die nicht darauf ausgegangen sind, die nur Geschäfte wegen an solchen Ort kamen, von den Briefen Kenntniß nahmen, und eine Abschrift in ihre Heimat nahmen; das war für sich und so zufällig und gelegentlich. Nachdem das öfters geschen war, da können sich Menschen darauf gelegt haben, und es kann mehr Genauigkeit hineingekommen sein aber das ursprüngliche Verfahren war nicht so, und so kann hier weniger die Rede davon sein, das Ursprüngliche herzustellen als bei andern alten Schriftstellern. Denn bei ihnen war die Vervielfältigung eine regelmäßige, wie sie auch philo6 Tendenz] folgt es
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logisches Interresse eingab. Hier ist kein andres Resultat als das, wäre die Nothwendigkeit häufiger, dem N.T. Text auf dem Wege der divinatorischen Kritik zu Hülfe zu kommen, so hätten die Lösungen doch nie den Grad der Sicherheit, wie auf einem andern Gebiete. Nun ist der Fall nicht sehr häufig aber, es sind allerdings eine Anzahl von Stellen, die durch das Vorhandene nicht zu heilen sind und diese Anzahl wird allerdings größer wenn man auf den ältesten Text zurükgeht, nicht aber nur deshalb, weil in die späteren schon Heilungen hineingekommen sind, die nicht Autorität sein können, aber sie sind größtentheils von der Art, daß sie das wesentliche Interresse des N.T. nicht afficiren, daß die Dignität des N.T. dadurch nicht in Gefahr kommt und sollte wirklich eine kirchliche Lehre auf einer verdächtigen Stelle beruhn, so wäre das ein Uebel, das eben mit Sicherheit nicht zu heilen; das ist aber wohl nie der Fall, denn selbst in einigen Stellen, wo es sein könnte wird wohl wenig für die kirchliche Lehre entschieden, wenn man so oder so liest. Legen wir uns die Frage vor, woraus gesetzt das angegebene sei das richtige Verfahren in diesem Gebiete der N.T. Kritik und auch das verhalte sich so, daß es verhältnißmäßig nicht viele solche Stellen gibt, welche die Hülfe der divinatorischen Kritik erfodern um den Sinn richtig zu fassen, fragen wir also, wie fern liegt es jedem Theologen ob sich mit der N.T. Kritik zu befassen. Diese kann sehr verschieden beantwortet werden; hält man es für zulässig sich unter eine Autorität zu begeben, so scheint es als könne man sich die Sache gänzlich entschlagen, allein es kommt doch gar sehr viel darauf an, ob man diese oder jene Autorität sich wähle, oder sich sogar unter die Wahl einer Autorität stelle, es bleibt sonst immer ein Urtheil. Da mag es nun Manchem zuträglicher scheinen, eine gute Wahl zu treffen als selbst an die Sache zu gehn; doch werden wir in der evangelischen Kirche schwerlich zugeben, daß nur Wenigen jenes Geschäft obliege; sobald wir das aufstellen daß der Theologe überwiegend in seiner Praxis mit dem Grundtexte nicht der Uebersetzung zu thun habe, so läßt sich die Sache gar nicht von der Hand weisen, sondern Jedem liegt ob sich um das, was er vor sich hat, wiefern es der Text sei oder nicht, zu bekümmern und das gilt nicht allein von jenen ausgezeichneten Stellen. Allein es ist nicht genug eine Aufgabe zu stellen und zu fixiren es kommt darauf an, ob die Mittel vorhanden sind sie aufzulösen und man kann doch Jenes nur aufstellen, wenn man ÐdochÑ dem Theologen nachweisen kann daß die Mittel in seiner Hand sind, und daß der Aufwand von Zeit sich in das richtige Verhältniß stelle. Wie liegt die Sache zu unsrer Zeit? Gehn wir auf den verdorbenen, gemeinen Text der recepta zurük, und fragen was man für Hülfsmittel habe um sich von der Herrschaft dessel-
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ben ganz zu befreien? In allen N.T. Ausgaben, die auf irgend eine Weise kritisch sind, hat bis jetzt (die von Lachmann nehmen wir aus, sie ist aber nicht kritisch, wohl genug in sich aber darum nicht kritisch zu nennen, weil der kritische Apparat noch nicht existirt, und der Leser sie nicht kritisch für sich allein gebrauchen kann) die recepta zum Grunde gelegen; Griesbach hat ein wenig daran geändert, er hat an manchen Stellen Andres aufgenommen, das steht aber mit kleinerer Schrift in dem Texte, unterscheidet sich also von dem Uebrigen und die recepta steht im innern Rande unter dem Texte, da ist die Bestechung des Textes aufgehoben auf gewisse Weise, aber das ist für die Aufgabe sich mit dem kritischen Zustand des Texts bekannt zu machen, sehr Geringes, denn bei Griesbach ist doch noch die Regel, die recepta zu Grunde zu legen, sie steht auch in den prolegomenis oben an. Will man sich nun aber den eigentlichen Zustand des Texts bekannt machen, so muß man beständig auf den kritischen Apparat zurükgehn, denn Griesbach hat oft Lesarten, die die stärkste Autorität haben, in den innern Rand gestellt, diese sind nur unter dem kritischen Apparate zu finden, will man nun eine Vorstellung vom Zustand des Textes haben, so muß man sein Auge immer auf diesen richten. Das Erste was da wahrzunehmen ist, wie weit sich die recepta von dem was die ältesten Handschriften der beiden Hauptfamilien geben entfernt hat, hat man diese Hauptanschauung gewonnen, so wird nun auch die Achtung vor diesem Texte sehr verlieren. Vollständig kann man sich aber nicht überzeugen, wenn man auch bei Seite stellt, daß diese Aufgabe noch auf sehr unvollständigen Vergleichungen beruht; es ist niemals der vollständige Stand der Sache, wie man die Autoritäten vergleichend aus seinem kritischen Apparat erfährt und so, daß man nicht in den Stand kommt ein gleich laufendes Urtheil über die recepta zu haben, weil er nie die Autoritäten anführt, worauf die recepta beruht, nur die worauf die Abweichungen. Dadurch wird eine stätige Vergleichung unmöglich, das ist aber ein großer Mangel. Es würde, wenn das wäre, die Masse des kritischen Apparats in noch größerm Verhältnisse stehn zum Text und das Verfahren würde schwieriger, aber es läßt sich bei Zusammenstellung des Apparats ein ganz andres Verfahren denken, so daß alle Handschriften, die gar keine Autorität haben, ganz weggelassen werden und die 12 noch] vielleicht gestrichen 2–5 Karl Lachmanns kleine Edition des Neuen Testaments erschien (ohne Apparat) 1831 (SB 266); die große Ausgabe (mit Apparat) erschien erst 1842–50 in Zusammenarbeit mit dem (jüngeren) Philipp Buttmann. 6–9 „Quicquid in locum receptae lectionis substituitur, sive in ipsum textum a nobis recipiatur, sive in margine interiori exhibeatur, minoribus typis excudaturc“ (Novum Testamentum graece, ed. J. J. Griesbach, Bd. 1, Halle 1777, Praefatio, p. viii).
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Vergleichung sich nur auf die beschränkt, die wichtige Autoritäten darbieten, dadurch würde ein großer Theil der unnützen Masse verschwinden und es würde in dieser Beschränkung möglich, den Zustand des ganzen Texts vor Augen zu bringen und bei jeder Stelle zu sehn wie sie sich zu einander behalten. Auf diesem Wege kann man mit mäßigem Zeitaufwande sich eine Anschauung erwerben von der Art wie sich unsre recepta zu den eigentlichen Autoritäten verhält, eben von der Verschiedenheit der Abweichungen, den verschiedenen Classen der Abweichungen der Zahl nach in den Autoritäten selbst und das gibt eine Stufenleiter allmählig bis man an die Stellen kommt wo die ganze Masse nicht mehr ausreicht und die divinatorische Kritik zu Hülfe genommen werden muß. Bei so beschränkendem Verfahren wird zwar die Masse solcher Stellen größer, weil in den spätern schon Correcturen in den Text gekommen; es wäre weit besser wenn diese ganz aus dem Spiele blieben um [sie] nicht für eine Quelle zu halten, aus der solche Operationen zu machen wären, was doch selbst ein Resultat solcher kritischen Operation ist. Wie weit können wir jetzt kommen? Die einzelnen kleinen Handausgaben sind gar nicht zu eigner Uebung in der Kritik eingerichtet, sondern nur für den Cursivgebrauch gemacht und in der bisherigen Lage der Sache konnte ein portativer Text nicht geliefert werden, wenn er nicht ohne allen kritischen Apparat war. Die Griesbachsche ist die einzige [die] als solche zu gebrauchen, sie wird jetzt repetirt von Schultz aber diese Repetition ist noch nicht weit gediehen; welches ist nun die zweckmäßige Art den Griesbachschen Text und den kritischen Apparat zu gebrauchen um sich in der Constitution des Texts zu üben und wie man sich selbst helfen könne und müsse. Man muß einzelne Theile des N.T. Texts in dieser Beziehung durcharbeiten, wozu gehört daß man sich aus den Prolegomenis – den Wettsteinschen wie sie Semler besonders herausgegeben oder aus den Griesbachschen selbst – die codices zur Kenntniß bringe, die als solche Autoritäten anzusehn sind und da kann man nur rathen, daß man von der zusammengesetzten und doch sehr gebrechlichen Griesbachschen Theorie abstrahire, sich allein an die Uncial codices halte, wenn es auch unter denen, die mit Cursivschrift geschrieben sind, solche gibt die in jenes Alter hinaufreichen, sie sind nicht von dem Belang daß deswegen das Verfahren noch complicirter werde. Jene sind nun im kritischen Ap5 Statt ,behalten‘ ist wohl ,verhalten‘ zu lesen. 19 Cursivgebrauch meint wohl die cursorische Lesung. 22–23 Die dritte Auflage von Griesbachs Text wurde von David Schulz bearbeitet; Band 1 erschien 1827 und enthielt die Evangelien; ein zweiter Band kam nicht zustande. 27–28 Wettsteins ,Prolegomena ad Novi Testamenti graeci editionem accuratissimam‘ erschienen in Amsterdam 1730 und wurden 1764 in Halle in einer Bearbeitung J. S. Semlers gedruckt.
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parat mit großen Buchstaben geschrieben, wodurch sie leichter Jedem in die Augen fallen. Mit diesen muß man sich ihrem Alter, Ursprung und ihrer Beschaffenheit nach bekannt machen. Dann muß man, wenn man einen Abschnitt durcharbeiten will alle Stellen im kritischen Apparat vergleichen, wo man mehre dieser Handschriften angeführt findet, wobei nur der Mangel ist, daß Griesbach oft bei einer Lesart nur solche anführt, die nach jenem Satze nun gar keine Autoritäten sein würden. Dadurch wird man finden wie die Handschriften sind in welchen bestimmt Andres gegeben ist als in der recepta. Dann legt man sich die Frage vor, ob das ein Text ist, wofür wirkliche Zeugen sind, die recepta aber einer von dem man nicht weiß worauf er beruht, wie kann das Eine aus dem Andern entstanden sein auf dem Wege mechanischer Irrungen; da aber in jenen Handschriften viele Fehler sind während an denselben Stellen die recepta Gutes bietet, so mittelt man das zuerst aus, wenn man die Frage stellt, ist der gemeine Text so, daß Jenes daraus zu erklären ist, daß es daraus entstanden sein kann, das Umgekehrte kann ich nicht sehn, dann ist vorläufig die Hypothese aufzustellen, daß der Text der recepta Conjectur ist oder eine andre, mir unbekannte Quelle hat, und was der kritische Apparat als in alten Handschriften enthalten darbietet, ein Fehler sei, aber eine Zusammenstellung der Fehler, welche sich notorisch als solche in den Handschriften findet, ist noch nicht vollständig aus den kritischen Apparaten zu entnehmen und wird auch noch lange nicht vollständig sein, weil die Vergleichung der Handschriften noch nicht die gehörige Vollkommenheit hat, wie denn einzelne nur in Beziehung auf einzelne Abschnitte, Bücher, Stellen verglichen sind. Indem man diese kritische Uebung macht, die verschiedenen Lesarten in Beziehung auf ihre Genesis zu vergleichen und man auf der andern Seite eine Kenntniß der Abweichungen gewinnt die durch das Urtheil entstanden, bildet sich eine Anschauung der Subsidien wie des gegebenen Textes und damit ist man im Stande, in solchen Fällen, wo der wirklich vorhandene, alte und bezeugte Text die divinatorische Kritik erfodert, diese Regeln in Anwendung zu bringen und je mehr diese Regeln aufgenommen und die Abweichungen verglichen sind, um so leichter findet man was an die Stelle des Unrichtigen zu setzen. So wie man aber nur solchen Apparat wie den Griesbachschen vor sich hat, so muß man doch auch auf die Varianten seine Aufmerksamkeit lenken, die nicht solche alte Zeugnisse haben, man mag sehn, wiefern sie solche Lösungen sind, die den Regeln genug thun, immer darf man sie aber nur als Erzeugnisse der divinatorischen Kritik 10 einer, also ein Zeuge
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ansehn. Wenn man voraussetzen muß, daß jeder Theologe auch eine gewisse Gewöhnung an das classische Alterthum hat, Indem ÐnunÑ man auch aus diesen das Werk eines Schriftstellers auf gründliche Weise behandelt, hat man das Wesen solcher kritischen Operation schon im Gedächtniß, indem da dem Text oft nicht anders geholfen werden kann und dann wird dazu erst eine fleißige Lesung des N.T.’s, eine beständig wachsende Bekanntschaft mit der Eigenthümlichkeit desselben nothwendig, daß die divinatorische Kritik in dem Gebiet derselben bleibe. In dieser Hinsicht gibt es verschiedene Hülfsmittel für die eigentliche hermeneutische Operation, die besondern Einfluß auf das Gebiet der Kritik ausüben können, das sind die Samlungen, welche Vergleichungen zwischen dem N.T. Sprachgebrauche und dem alter Schriftsteller anstellen; deren sind viele in Beziehung auf verschiedene Schriftsteller, ganz kann man indeß auch ihnen nicht vertrauen, denn indem bei alten Schriftstellern auch vorkommt, was man leicht für eigenthümlich hellenistischen Sprachgebrauch nimmt und sie dies eben nachweisen wollen, werden oft Analogien aufgestellt die keine sind. Das aber bei Seite gestellt, gewinnt man aus ihnen eine gewisse Analogie für das Verfahren der divinatorischen Kritik; denn wenn man der Regel folgte daß das, was als der ursprüngliche Text soll aufgefunden werden, dem Sprachgebrauch des Schriftstellers entsprechen müßte und man da sich nur an die N.T.’lichen Stellen halten wollte, so könnte man nur ein reines non liquet aussprechen, aber so erweitert man sich das Gebiet und es können ja mehre Fälle in dem ursprünglichen Text dem classischen Gebiete näher liegen, während das hier Unzulässige näher dem Sprachgebrauche des N.T. ist. Gesetzt nun man machte Versuche, eine Stelle, die nicht geschlossnen (sei es grammatisch oder logisch) Sinn gäbe oder einen Sinn der dem ganzen Zusammenhange nach nicht richtig sein kann, auf dem Wege der divinatorischen Kritik wieder herzustellen, wie weit geht der Gebrauch den man damit machen darf. Hier schreibt die eigenthümliche Dignität des N.T.’s ganz besondre Grenzen vor, wir finden freilich Analogien genug auf dem Gebiete der classichen Literatur auch, weil es ganz gleich ist ob man sagt, man muß mit großer Vorsicht zu Werke gehn, ehe man eine Conjectur so gebraucht daß man dogmatisches Interresse daraus zieht, oder sie auf dem Gebiete der alten Philologie gebraucht, ist ganz gleich, aber diese eigenthümliche normale Dignität des N.T. macht ausgezeichnete Vorsicht nothwendig, und es ist immer nur ein negativer Gebrauch von solchen Emendationen zu machen, nicht ein positiver. Es ist überhaupt wie schon 8 die] die die
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erwähnt keineswegs der Fall, wie man es oft gedacht, daß mit der Art den Text einiger Stellen zu constituiren gewisse Lehren ständen oder fielen; es ist nicht vorauszusetzen, daß Vorstellungen die sich erst in den theologischen Streitigkeiten entwickelt, wie sie als Resultat daraus hervorgingen, sollten in den N.T. Schriften sein, denn wären sie in ihnen mit einer gewissen Bestimmtheit enthalten, so wären sie unmittelbar in das christliche Bewußtsein übergegangen und ihnen entgegengesetzte Vorstellungen hätten sich nicht geltend machen können, sondern nur in solchen Streitigkeiten wird Recurs auf das N.T. genommen und da führten die Einen Stellen an woraus ihre Meinung sich sollte folgern lassen, die Andren andre woraus ihre Meinung, aber das kann wohl nie der Fall sein, daß man sagen kann, wenn ich die Stelle so lese, so folgt aus ihr die Meinung des Einen, lese ich sie so, so die des Andern; sondern nur, wenn ich so lese kann [ich] sie als Zeugniß gebrauchen, wenn nicht, so nicht, nicht wird indeß folgen, daß man sie für Andres zum Zeugniß gebrauchen könne. Dies gilt von allen Stellen die sich auf die dogmatische Lehre von der Gottheit Christi beziehn, da gibt es Stellen, die von einander abweichen, und wo die eine ihr günstig, die andre nicht günstig scheint, nicht aber ein Zeugniß für das Gegentheil ist; wogegen es wohl andre gibt, die als Zeugniß für das Entgegengesetzte können angeführt werden. Der eigentliche Werth der verschiedenen Lesarten in Beziehung auf den dogmatischen Gebrauch ist so, daß die eine den dogmatischen Gebrauch zuläßt, die andre nicht. Uebrigens aber kann nie eine wesentliche Lehre auf einzelnen Stellen beruhn; so wie diese so isolirt sind, so kann man sie gar nicht so erklären; es müßten wesentliche Vorstellungen anderswo schon erwähnt sein, was nur auf Einer Stelle beruht würde nie in diesen Kreis aufgenommen werden können; so ist der Gebrauch beschränkt der divinatorischen Kritik, aber wir können ihn um so zuversichtlicher machen und dem uns hingeben was der Erfolg ist, da es nie diese eine Stelle ist die dem dogmatischen Interresse so besonders nutzen oder schaden wird. Ein zweiter Punkt der nicht aus der Acht zu lassen, wenn man sich über den Zustand des Textes unterrichten will, ist, daß wenige der Handschriften die in Betracht kommen vollständig sind; alle haben mehr oder weniger Lüken und läßt man das außer Acht so können viele falsche Vorstellungen entstehn. Hat man nämlich solche Grundlage wie den Griesbachschen Text, der nie anführt welche Autoritäten die recepta hat, und man findet bei den Abweichungen nur einige jener Handschriften als Zeugnisse, so kann man leicht denken, die übrigen sprächen für die recepta wäh20 Etwa hier endet Kalbs Nachschrift der ,Kritik‘ mit den Worten „Reliqua desunt“.
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rend sie vielleicht völlig schweigen. Will man nun einen Abschnitt gründlich kritisch durcharbeiten, so muß man sich vor Augen bringen, was für Handschriften da sind und welche nicht. Bequem geschieht das wenn man auf jeder Seite sich notirt, entweder was da für Handschriften sind oder was für Lücken. Es sind nun diese Handschriften, welche diese erste Classe bilden, und die seit Wettstein dadurch ausgezeichnet werden, daß sie mit den großen lateinischen Buchstaben bezeichnet werden, diese sind nicht von gleichem Werthe, wie ist dieser nun zu beurtheilen, damit wir bei so zusammengesetzter Operation uns nur auf das beschränken, was ausgezeichneten Werth hat. Das Alter ist Ein Punkt. Darüber wiefern eine junge Handschrift einen alten Text enthalten kann, ist schon geredet und das gilt ebenso von denen mit Cursivschrift wie von denen die mit Uncialschrift geschrieben, die doch bis ins 11te Jahrhundert hinuntergehn; damals war schon eine Zeit des Verfalls, diese können also nicht so gut als die frühern sein. Das Alles ist ein bedeutender Punkt; nicht aber wäre es ein richtiges Verfahren, unter diesen Handschriften die Stimmen nur zu zählen, noch weniger denen den Vorzug einzuräumen, die am wenigsten Abnormitäten haben. Es gibt in den Handschriften solche Fälle, wo, indem der Text als hermeneutisch ungenügend erscheint, sich doch leicht ermitteln läßt, daß das was man findet, ein mechanisches Versehen sei. Findet sich das oft, so ist das freilich ein Zeugniß, daß sie wenig genaue Abschreiber gehabt, und in solchen Fällen, da hat sie ihre schwache Seite, da ist auch wenig auf ihre Autorität zu geben, wogegen sie in jedem andern Betracht den größten Werth haben kann, indem sie sehr alten Text enthält. Dann sind Handschriften wie der Vaticanische Codex, die eine Menge ganz abweichender grammatischer Formen enthalten, und das gibt einer Handschrift aus dieser Zeit einen vorzüglichen Werth, weil es ein Zeugniß ist, daß keine willkührlichen Aenderungen, die doch diese Formen zuerst betroffen haben würden in ihr vorgenommen, dann aber auch, weil bei der Beurtheilung der Abweichungen denen mechanische Irrungen zum Grunde liegen, viel darauf ankommt welche Zeichen da gestanden; Handschriften die jene corrigirt haben, bringen andre Zeichen hinein und machen die Beurtheilung unmöglich, wie jene entstanden. So haben die Handschriften, welche die grammatischen Formen nicht corrigirt haben, einen bedeutenden Vorzug und es ist nüzlich, daß der Apparat diese Abnormitäten immer mit anführe. So wie man weiß, zu jener Zeit aus der eine Handschrift ist, haben solche Abnormitäten Statt gefunden, diese Handschrift zeigt sie aber nicht, so hat der Abschreiber grammatisch verfahren wollen, und so entsteht der Verdacht, daß er auch in andern Fällen es sicher gethan und jene Hülfe aus den Zeichen, ihrer
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Aehnlichkeit u.s.w. die mechanischen Irrungen zu erklären verschwindet ganz. Dieses Urtheil über die Handschriften sich zu verschaffen und den Text selbst sich zu constituiren, daß man die Aufgaben wo die kritische Operation nothwendig ist, nicht verfehlt und dann richtig löst, dazu gehört eine schwierige und sehr zusammengesetzte Operation. Diese kann also auch nicht als allgemeine Aufgabe für alle Theologen angesehn werden, sonst müßte Jeder ein vollkomner Kritiker sein und in Beziehung auf alles Palaeographische, Zeit und Vaterland der Handschrift auf eignem Urtheil stehn, oder doch die Principien, welche ihre Autoritäten bestimmen inne haben, aber betrachten wir die Aufgabe des Theologen, sie ist die immer vollkomnere Loesung der hermeneutischen Aufgabe und da liegt doch die Sache nicht so, daß der Leser sich überall auf den Herausgeber verlassen kann. Dazu kommt, daß die hiezu gehörigen Erfodernisse sich nicht auf die Aufgabe das Gebiet des N.T.’s beschränken, sondern daß es da auf eine Fertigkeit ankommt, die in jedem andern Gebiete nothwendig ist, wie wir beständig in einer kritischen Operation begriffen sind. Somit ist etwas Allgemeines in der Aufgabe wovon sich Niemand soll dispensiren wollen, man muß sie nur ihrem Nutzen und Zeitaufwande nach richtig behandeln. Scheiden wir das von einander, was jedem Theologen zugemuthet werden kann und was eine besondre Virtuosität gibt und bestimmen uns das Erste, so müssen wir vom Minimo ausgehn, wollen die kritische Virtuosität ganz bei Seite lassen und als besondere Aufgabe ansehn, wir gehn nur von Lösung der hermeneutischen Aufgabe aus, darf sich da der Theologe für sich selbst auf das Urtheil irgend einer kritischen Autorität verlassen, wo es darauf ankommt den Zustand des Texts für die Auflösung der hermeneutischen Aufgabe zu untersuchen? Es werden Fälle sein, die gerade am meisten von kritischer Virtuosität abhängen und so können wir diese Frage nicht verneinen, aber schwerlich sind viele Fälle, worüber der den ich nun als kritische Autorität ansehe nun auch mit Andern die denselben Ruf haben, einig sein wird; so wird Jeder Principien der Entscheidung für sich selbst haben wollen und worauf ist da zu sehn? Es sind da zwei Punkte; der erste ist, man muß wissen, ob das kritische Urtheil des Einen oder Andern durch andre Rüksichten kann benachtheiligt sein, muß also ihre Principien kennen und finden wir daß der N.T. Kritiker einer bestimmten Parthei angehört, für welche wegen der herrschend gewordenen Behandlungsweise die Auslegung von besondrer Bedeutung ist, in solchen Fällen ist gar keine Sicherheit, daß nicht sein kritisches Urtheil durch Anhänglichkeit an seine Parthei mo9 doch] doch doch
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dificirt wäre, er sich selbst getäuscht hätte. Ist aber dies beseitigt, so fragt sich, wem soll man am meisten als Kritiker vertrauen und da ist ein eignes Urtheil über den Werth der Arbeiten der Kritiker etwas Unerläßliches und so muß Jeder mit den Principien ihrer Kritik bekannt sein und die Leistungen der Kritiken im Großen nach gewissen Principien zu würdigen wissen. Dazu muß er aber sich schon vorher um das kritische bekümmern, nicht nur an Stellen, wo die hermeneutische Operation es erfodert. Jeder Theologe muß sich ein Urtheil verschaffen von denen die sich als Autoritäten haben geltend gemacht; und muß ihre Charaktere kennen, um zu wissen, worin er ihnen zu vertrauen hat, worin nicht, daher classificire er sich diese Autoritäten und mache sich eine Methode wie er zur Bekanntschaft und Urtheil über dieselben gelange. Kommt es auf die Classification an, so ist Folgendes das Wesentliche. Denke ich mir den Theologen im Besiz des N.T. gar nicht in kritischer Beziehung nur für die hermeneutische Aufgabe, so ist das nächste Hülfsmittel die Commentatoren, die eigentlich exegetisch sind, aber immer in den Fall kommen, die verschiedenen Lesarten zu beurtheilen; hat man nun einen Commentator von dem man glaubt, daß man sich auf sein kritisches Urtheil verlassen kann, so hat man gar nicht nöthig die kritische Operation selbst zu machen, da muß man aber ein Urtheil machen über die Principien, nach denen die Commentatoren verfahren, diese also bilden eine Classe für sich, nicht so daß sie einer bestimmten Autorität folgen, oder so wie ein Commentator sagt, ich halte mich ganz an den Griesbachschen Text, so hat er gar kein eignes Urtheil, aber thut ein Commentator das nicht, sondern citirt als seine Autorität bald Diesen bald Jenen, so geschieht das aus eignem Urtheil und darüber muß ich ins Reine kommen, oder er entscheidet für sich selbst und sagt das ist das Richtige. In beiden Fällen ist er kritisch und ich muß wissen, welchen Principien er folge. Die erste Classe bilden also die sich selbst als Kritiker aufstellenden Commentatoren. Die zweite sind die eigentlich kritischen Herausgeber des N.T.’s, deren sind aber zu viele, als daß jeder Theologe auf sie zurückgehn [könnte]. Fragen wir, welches sind wohl die die sich am meisten als Autoritäten geltend gemacht, was sich vorzüglich dadurch manifestirt, wie die Commentatoren sie gebrauchen, so ist das das Band zwischen dem einen und dem andern Theil der Aufgabe. Wettstein, Bengel und Griesbach sind die 3 Hauptkritiker, die immer am meisten angeführt werden, und von dem Verfahren dieser muß Jeder eine gewisse eigne Anschauung haben. Wettstein und Griesbach haben gewisse Verwandtschaft mit einander, eigentlich beruht nämlich der Letztere auf dem Erstern, beide haben den gewöhnlichen Text in ihren Ausgaben zum Grunde gelegt, was ein gemein-
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schaftlicher Fehler ist, und Wettstein hat sogar nichts Andres in den Text genommen sondern durch Zeichen unter dem Text die andern Lesarten angeführt, gewöhnlich nur so, daß er die Autoritäten namhaft macht. Dieser Apparat ist die Basis des Griesbachschen ausgeführtern. Eigentlich ist er nur wie auch dieser ein Referent des damaligen Zustands, man ist bei ihm durch das Auge aber bestochen für die recepta und es ist um so nothwendiger auf die Abweichungen zurükzusehn und auf die dabei angeführten Autoritäten. Doch aber ist sehr zu wünschen daß Jeder zur Bekanntschaft mit ÐderÑ Wettsteinschen Ausgabe komme und sich wenn auch nur auf kurze Zeit mit einem einzelnen Abschnitte in ihr familiarisire, weil sie reich mit erklärenden Anmerkungen ausgestattet ist, in denen 2 Richtungen sind, die eine, für alle abweichenden Formen Analogieen aus den Griechischen Schriftstellern beizufügen, welche Arbeit wir zwar auch von Andern ausführlicher und reicher noch haben; die zweite, daß er reichliche Analogieen aus Jüdischen Schriftstellern anführt, wofür man noch Weiteres und Ausführlicheres hat, aber mit so guter Auswahl und den Ausgaben dazu, hat man wohl beides nur in der Wettsteinschen Ausgabe. Bengel hat die recepta verlassen, einen eignen Text constituirt, somit jene Bestechung unterlassen und vermieden, aber freilich gibt er niemals Bürgschaft, woher das ist, was man im Text vor sich hat, wie denn freilich die Leichtigkeit sich davon zu unterrichten damit zu keiner Virtuosität gelangt sein konnte, wie sie es nicht war. Wer jetzt bei Constitution des Texts auf die recepta nicht Rüksicht nehmen will, der hat mehr Hülfsmittel, seine Leser darauf aufmerksam zu machen. Bengel hat seine Principien in einer eignen Schrift wie in seinem Apparat niedergelegt und es ist wünschenswerth sich mit ihnen bekannt zu machen, wenn auch nur für einzelne Abschnitte. Die Griesbachsche Ausgabe haben wir schon öfter besprochen, bei ihm wird man sich leicht überzeugen, wie oft er seinen Principien gemäß Lesarten, die die vorzüglichsten Autoritäten für sich haben in die unterste Stelle hinabgesetzt hat, und wieviel die recepta noch von ihrer so durchaus nichtigen Autorität behalten. Auch sie mag und muß man für einzelne Abschnitte gebrauchen. Geht man davon aus daß in den neusten Zeiten noch die modificirte recepta in Griesbach und der Bengelsche Text sich die erste Autorität verschafft und in den meisten 23 will] folgt auf die recepta
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24–25 Johann Albrecht Bengels Edition ,Novum Testamentum graecum‘ erschien 1734 bei Cotta in Tübingen (der apparatus criticus umfaßte S. 371–884); Schleiermacher besaß die Ausgabe von 1753 (SB 255). 1763 erschien bei Cotta der ,Apparatus criticus‘, hg. von Philipp David Burk, als ,editio secunda‘, und zwar ,aucta et emendata‘ (SB 175).
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Ausgaben repetirt sind, so erscheint es als ganz nothwendig daß Jeder ein Urtheil sich über sie verschaffe, und durch solches Verfahren, wobei er immer auf die ursprünglichen Autoritäten zurükgeht, wird sich auch soviel Urtheil und Bekanntschaft mit den bedeutendsten Handschriften mit ergeben und er sich soviel kritisches Urtheil verschaffen, um sich zu entscheiden wo es nothwendig ist. Das kommt aber nicht selten, denn Jeder von denen, die auch die bedeutendste Autorität haben hat auf seine Weise gefehlt, Niemand ist also vollkommen zu vertrauen, und Jeder muß vielmehr seine kritische Operation selbst machen. Was nun bei solchem Verfahren im N.T. nebenbei von selbst sich verstehn muß, ist daß man die deutsche Bibel dabei vergesse; das ist ein wesentliches Erfoderniß, denn es gibt keine Selbstständigkeit im Gebrauche des N.T., so lange man noch überwiegend an das Deutsche denkt; es muß das ja beständig corrigirt werden, und rükt alle Analogieen, die man gebrauchen kann aus dem Auge, während es zu ganz falschen leitet; wären freilich es immer dieselben Griechischen Wendungen die den deutschen in der Uebersetzung entsprächen, so könnte sie eher gebraucht werden aber das ist nicht und konnte nicht sein. Vor Allem muß man das N.T. immer in der Ursprache gebrauchen, das ist die Basis, auf der alles Studium beruht. Diese Aufgabe nun, sich ein eignes Urtheil zu verschaffen um die kritische Operation zu vollziehn, beschränkt sich in Beziehung auf das Nothwendigste nur auf die hermeneutische Operation; die Arbeiten dazu sind indeß Vorübungen zur kritischen Virtuosität und es gibt gar viele Veranlassung über jenes nothwendigste Minimum hinauszugehn, nur daß größere Neigung den Einen weiter führen wird als den Andern, darin sich denn eben die Virtuosität kund thut. Eine gewisse Uebung im kritischen Urtheil ist aber Allen nothwendig, um sich entscheiden zu können diese braucht aber nicht am N.T. gemacht werden, in welcher Beziehung es nur einer Anschauung der Texte bedarf, sondern es sind alle kritische Arbeiten Vorübungen, die wir auch an andern Schriftstellern wie täglich machen. Es liegt im Charakter des Philologischen, daß solche kritische Richtung überallhin begleitend sei und es ist das auch dem Theologen nothwendig, weil sonst wo es nothwendig ist, er nicht im Stande ist, eine kritische Operation zu machen. Zwischen dem Leser, der sich den Text zum Behuf der hermeneutischen Operation gestaltet, und dem kritischen Herausgeber, welches ist der Unterschied denn eigentlich? Es geht am Ende Alles auf die hermeneutische Operation zurük, ausgenommen das rein Historische in der Philologie, das Erkennen wollen der Sprache als bestimmt 29 der] ÐrrÑ
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modificirten Products des menschlichen Geistes, das ist der einzige Punkt auf den sich Etwas construiren läßt. In Beziehung auf die hermeneutische Operation gibt es keinen Unterschied zwischen Leser und Kritiker, indem Jener auch die Pflicht hat, sich einen Text zu constituiren in allen Fällen, wo er zwischen Verschiedenem zu wählen und Fehlendes zu ergänzen hat; da ist kein Unterschied zwischen ihm und dem kritischen Herausgeber, sie haben da eigentlich auch denselben Gesichtspunkt und dieselben Gesetze. In Beziehung auf den allgemeinen philologischen Standpunkt befinden sich beide in derselben Lage, es suchen beide das einzelne Werk in seiner Wahrheit und das bleibt für den allgemein philologischen Standpunkt dasselbe, es mag der Eine oder Andre damit zu thun haben. Es ist schon aufmerksam gemacht, wie wichtig es sei für den Leser, daß er von dem kritischen Herausgeber nicht bestochen werde durch das Auge, wie ist dies in Beziehung auf den ganzen noch immer ungelösten Theil der Aufgabe, der nicht unbedeutend ist, zu vermeiden? Nur so daß man sagt, es muß eine bestimmte Differenz hervortreten zwischen demjenigen, was Resultat der diplomatischen Kritik und dem was Resultat der divinatorischen ist. In Beziehung auf das Erste sind beide, Leser und kritischer Herausgeber im Dienste des allgemeinen philologischen Standpunkts, denn da wollen sie den wirklichen Zustand des Werks, wie er zur Zeit der Schrift dieser Handschrift gewesen, um auf den ursprünglichen zurükgehn zu können, also das Ursprüngliche möglichst ermitteln. In Beziehung auf die divinatorische Kritik sind beide im Dienst der hermeneutischen Operation, denn nur diese nöthigt zu ergänzen und aus Verschiedenem zu wählen. Soll daher diese ganze Aufgabe in Beziehung auf alte Schriften, die nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustand sind, ihren reinen Gang gehn, so darf das nie vermischt werden, was Resultat der diplomatischen und Resultat der divinatorischen Kritik ist; bleibt das unvermischt so bleibt res integra, das Werk behält seine richtige Stellung in Beziehung auf das allgemein philologische Gebiet, und durch das Letztere fördert sich Jeder nach seiner Art und Ueberzeugung in Beziehung auf die hermeneutische Operation. Daher wird es immer mehr Grundsatz werden, die Resultate der divinatorischen Kritik nicht in den wirklichen Text aufzunehmen; sie müssen außerhalb ihre Stelle finden. Der Herausgeber kann sich eine Stelle wählen, doch muß er den Leser davon in Kenntniß setzen. Nun gibt es häufig und namentlich im Gebiete des N.T. noch besondre Mitteldinge zwischen eigner Darstellung des Texts und mitgetheilter hermeneutischer Operation, das sind Commentare die zugleich den Text haben oder Texte die mit einem Commentare verbunden. Jede solche Verbindung kann ein Uebergewicht auf die eine oder andre Seite
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legen. Bei dem Exegeten der nur eine Erklärung einer Schrift geben will, gibt aber zu des Lesers Bequemlichkeit einen Text mit, bei dem ist der Text nur ein Hülfsmittel welches er seinen Lesern nebenbei gibt, besticht der nun das Auge, wenn er seine divinatorische Kritik mit in den Text bringt? Es thut besser es zu unterlassen, er darf eigentlich nur ihnen einen diplomatischen Text geben, denn wenn er in seinen Text die Resultate seiner divinatorischen Kritik aufnimmt, so mag er immerhin in seinem Commentar sagen, das habe ich gemacht, die Bestechung ist dann schon vorgegangen; es ist weit besser daß er das gesondert hält und nur einen diplomatischen Text aufstellt. Hat nun der Text das Uebergewicht in solcher Zusammenstellung, so ist das natürlich um so nothwendiger. Liest man einen solchen vermischten Text, so muß man ihn zuvor rectificiren um jede Bestechung zu vermeiden und ihn sich erst diplomatisch wiederherstellen, damit das erste Lesen der reine Eindruk sei eines wirklich diplomatischen Textes. Gehn wir zurük auf das über die kritischen Regeln Gesagte, wie sie von Griesbach aufgestellt sind und in seiner Ausgabe befolgt, so tadelten wir, daß bei diesen Regeln und überwiegend bei den ersten, welches auch Bestechung ist, der Gesichtspunkt willkührlicher Aenderungen zu Grunde liege, wogegen wir das Umgekehrte behaupteten, zuerst alle Verschiedenheiten aus mechanischen Irrungen zu erklären suchen zu müssen und dann erst zu fragen, was läßt sich als absichtlich vermuthen? Nun gibt es noch ein Drittes, gewisse zusammengesetzte Fälle, wie sind die zu beurtheilen? Denkt man sich zwei verschiedene Lesarten, eine längere und eine kürzere, so sagt der Griesbachsche Canon, die kürzere ist vorzuziehn, das Längere ist immer ein Zusatz. Nach unserm Canon soll man erst versuchen, ob sich das nicht aus mechanischen Irrungen erklären lasse, und finde ich 2 gleiche Anfänge oder 2 gleiche Endungen da wo beide Lesarten wieder zusammen kommen, so ist die längere vorzuziehn, weil die kürzere aus einer Abirrung des Auges entstanden. Nun kann aber ein Zusatz zufällig eben diese Gestaltung haben, eine Epexegese wird meistentheils in den grammatischen Bildungen mit dem Texte übereinstimmen, und da sind dann gleiche Endungen ganz von selbst, wie ist dies zu behandeln? Weil diese Fälle überhaupt möglich sind, so müssen wir gleich die Regel machen, beides überall im Sinne zu haben, und es bleibt da nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung von beidem übrig, ich frage, ist es wahrscheinlich, daß das Längere ein Zusatz sei? und läßt sich das zur Anschauung bringen, so hat die Sache Gewicht, und im andern Falle frage ich, ist das wahrscheinlich, daß das eine Auslassung sei? Eine solche Abirrung ist aber wahrscheinlich nur wenn beide Enden ziemlich nahe an einander stehn, die Differenz des Längern vom Kürzern
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sehr geringe ist, oder wenn ein Ende unter dem andern beinahe steht. Dazu muß man aber die Handschriften kennen. Nur eine Wahrscheinlichkeitsberechnung bleibt also übrig. In Beziehung auf die drei synoptischen Evangelien steht die Sache nun wegen ihrer Aehnlichkeit eigenthümlich anders, da gibt es Uebertragungen aus dem einen in das andre, die unmittelbar beim Abschreiben nicht entstanden sind, denn daß der Abschreiber hätte sein Gedächtniß zu Rathe ziehn wollen, um solche Einschaltungen zu machen, läßt sich nicht damit reimen, dieses Abschreiben als Geschäft zu betreiben; aber ein Leser konnte leicht der Vergleichung wegen was in einem Evangelio fehlt, im andern steht oder in einem anders als im andern ist, beischreiben wo es fehlte und diese Marginalbemerkungen sind dennoch durch die Abschreiber in den Text gekommen, ohne daß ihnen ein bestimmtes Nachdenken beigewohnt. In allen Fällen also wo eine diplomatische Ungewißheit zwischen einer längeren und kürzeren Lesart ist, die längere aber bringt etwas mit dem Uebrigen Paralleles bei, so ist die kürzere für ursprünglich zu halten. Dagegen könnte nur eine Wahrscheinlichkeit entstehn, wenn zufälliger Weise auch eine Abirrung des Auges zu denken wäre, dann könnte die längere als richtig angesehn werden, das hat aber nicht viel Gewicht zumal wenn die Differenz zwischen der längern und kürzern Lesart irgend bedeutend ist; wie es unwahrscheinlich ist, einen großen Satz zu übersehn. Nun müssen wir auch beim N.T. vermöge seiner eigenthümlichen Beschaffenheit die Möglichkeit zugeben, daß in den didaktischen Büchern eben so Zusätze gemacht worden sein können als Erklärungen und Vervollständigungen dem Begriffe nach, denn es gibt solche Parallelen auch in den didaktischen Büchern, indem immer ein gewisser Kreis von Vorstellungen behandelt ist und die einzelnen Elemente dieser Zusammenstellung kommen öfters anders ausgedrükt wieder, diese könnten also bei andern ähnlichen Stellen beigeschrieben sein und so muß man auch bei der Verschiedenheit von längern und kürzern Lesarten in den didaktischen Schriften, nächstdem daß man sie aus mechanischen Irrungen zu erklären sucht, auch sehn ob sie einen glossematischen Charakter haben. Diese Entstehung ist aber nicht ein absichtliches Verändernwollen des Texts, sondern späteres Hineinführen in den Text von dem was ursprünglich nicht hineingehören wollte. Gegen alle solche Erklärungen, die davon ausgehn, daß Veränderungen gemacht sind, N.T. Vorstellungen ÐgewisserÑ Menschen gleich zu machen, muß man sehr auf der Hut sein; es existirte diese Aufgabe gar nicht auf so dringende Weise und solche Vermischungen haben 36 gewisser] oder ÐzwischenÑ
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nur ihre Stelle wenn alle Erklärungsarten erschöpft sind, es existirt sicher nicht Ein Fall der Art. Hieran knüpft sich die andre Aufgabe. Ebenfalls durch einzelne Worte oder geringe Veränderungen und Verschiedenheiten entsteht Gewißheit oder Ungewißheit über den Verfasser einer Schrift; nun fragt sich, wie steht es um diese Aufgabe, die doch eine ganz andre scheint, auf dem Gebiete der Kritik behauptet aber in denselben Charakter fällt. Wir wollen dieses gleich an einem N.T. Beispiel deutlich machen. Die Frage ob der Brief an die Ebraeer Paulinisch ist oder nicht, ist keine kritische Frage in dem Sinne, in dem ich die Sache jetzt nehme, denn es gibt keinen Text, der dazu Veranlassung gäbe, keine Handschrift, die seinen Nahmen in der Ueberschrift trüge oder im Texte vorkommen ließe. Von diesem Standpunkte aus ist der Brief eine anonyme Schrift und die Aufgabe, den Verfasser zu ermitteln ist eine Aufgabe der historischen Kritik, mit der wir hier eigentlich gar nicht zu thun haben. Sehn wir die andre streitige Frage an, so steht es mit den N.T. Schriften an und für sich eigentlich ebenso. Die Frage ob der zweite Brief Petri ächt ist, ist eine historische Frage, sie besteht nur deswegen, weil wir geschichtliche Zeugnisse haben, daß während der Zeit, da der Canon noch unbestimmt war er dem Apostel von Einigen zugeschrieben wurde, von Andern nicht, kritisch existirt sie nicht ursprünglich, denn es gibt keine Handschrift, die den Nahmen ausließe, keine die einen andern trüge, er ist auch im Text selbst, nicht nur in der Ueberschrift, es ist darüber keine Verschiedenheit und eine kritische Frage bei unserm dermaligen Gesichtspunkt existirt nicht. Die Frage, ob das Evangelium Matthaei ein Werk des Apostels sei ist ebenfalls keine kritische Frage, kritisch wird es nicht behauptet, es ist keine Ueberschrift welche den Titel apostolow dem Nahmen des Verfassers beilegte. Es ist das ein bloßes Urtheil und die Frage ob das richtig ist, gehört in die historische Kritik. Diese Frage existirt eben so wenig als die, ob das Evangelium und die Apostelgeschichte von dem Lucas, der den Paulus begleitete, für diesen unsern Gesichtspunkt, keine Handschrift behauptet dies. Wie muß die Sache stehn, wenn dies eine eigentlich kritische Frage werden soll? Der nächstliegende Fall ist der, wenn die Handschriften hierüber Verschiedenes behaupten, dann muß die Sache rein auf dieselbe Weise entschieden werden wie alle Lesarten, sie hat durchaus keinen andern Charakter. Hier ist freilich immer ein großer Unterschied zu machen, ob die Behauptung innerhalb oder außerhalb der Schrift gemacht ist; wenn die Behauptung nur außerhalb der Schrift gemacht ist, so ist ungewiß, ob diese Ueberschrift ein Theil der Schrift ist oder nicht, ob sie 6 behauptet] Davor oder danach scheint eine Passage ausgefallen zu sein.
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der Schrift in der ersten Ausgabe schon mitgegeben ist oder nicht. Ist das Erste ausgemacht und entschieden, so steht die Frage schon besser, denn da ist sie auf Ein [und] dieselbe Weise wie alle kritischen Fragen zu entscheiden. Ist es wahrscheinlich daß die Ueberschrift später ist, so ist sie eigentlich auch nichts Andres als eine Aufgabe, die von der Schrift selbst zu sondern ist; ist sie ein bloßes Urtheil, ist dann zu fragen, oder hat sie Autoritäten für sich? Sobald die Frage auf das letzte Gebiet sich schiebt so, daß gefragt wird, kann man die Ueberschrift nur als bloßes Urtheil ansehn? so hört sie auf eine kritische Frage zu sein; die Worte gehören der Schrift nicht an und die Frage gehört der historischen Kritik an. Nun fragt sich, kann die Frage nicht auf andre Weise kritisch werden? also wir wollen uns den Fall so denken, wir haben eine Schrift die sich in ihr selbst für die Schrift eines gewissen Verfassers ausgibt und darüber ist kein Streit dann gehe ich ans Lesen der Schrift, stoße aber auf solche Stellen, die es mir schwer wird als Worte dieses Verfassers zu denken, so entstehn Zweifel indem ich mich in der hermeneutischen Operation, die ich auf jene Voraussetzung gründe, gestört fühle. Da kommt es darauf an, von dem Interresse der hermeneutischen Operation aus, über das Diplomatische zu entscheiden, ob es das Ursprüngliche ist oder nicht; da sind wir auf unserm Gebiete und von diesem Gesichtspunkte aus können wir es allein nur fassen, denn es ist das Gebiet der philologischen Kritik nur da wo Schwierigkeiten in der hermeneutischen Operation oder Störungen des Diplomatischen sind. Wie kann aber ÐschonÑ Zweifel entstehn und wie können wir zur Entscheidung gelangen? Da müssen wir Endpunkte aufsuchen, schlagende Fälle, die die Sache sogleich entscheiden auf der einen Seite, und auf der andern solche, die einen Stachel, eine Unsicherheit zurüklassen, die man nicht überwinden kann ohne daß gegeben wäre, was wirklich Entscheidung brächte. Von beiden Seiten ist ein andres Verfahren aufgegeben. Ist ein entscheidender Punkt da, der die Möglichkeit des einen Verfahrens abschneidet, so ist die Sache abgemacht; doch muß diese Stelle diplomatisch unbezweifelt sein und es bleibt da nur die Frage, die aber nicht hiehergehört, wie hat denn jener Glaube an die Möglichkeit entstehn können? – Wenn wir unsre Frage nun auf eine allgemeine Weise betrachten, so müssen wir erst untersuchen, ob uns nicht noch zwischen unserm letzten Gegenstande und dem mit dem wir jetzt zu thun haben wollen eine Lücke bleibt. Was im Anfang über die Art in eine niedere und höhere Kritik einzutheilen gesagt ist, wie ungenügend sie sei, so scheint hier doch noch eine Lücke. Indem ich davon ausgegangen bin, daß auch wo die Frage entsteht, indem ich in einer Handschrift finde, was in der andern fehlt, ob da das Gefundene ächt, in der andern aber eine
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Lüke sei oder Dieses das Ursprüngliche und Jenes nur ein Zusatz sei, daß ich da auch müßte als aus mechanischen Irrungen entstanden es zuerst zu erklären suchen, da beschränkt sich die Regel auf einen gewissen Umfang der Auslassung; ihre Anwendbarkeit beschränkt sich auf ein gewisses Maaß. Nun kommen aber Fälle vor, wo solche Differenzen in weit größerm Maaße vorkommen, und dies scheinen wir ausgelassen zu haben denn das ist nicht dasselbe, als wenn die Rede ist von einer eignen Schrift, ob sie dem angehört dem sie beigelegt wird oder nicht? Ist dies nun eine Lücke wirklich, ist das ein Fall, der besonders zu berüksichtigen oder nicht? Wir haben schon gesagt, nicht nur wenn sie sich überhaupt aus mechanischen Irrungen nicht erklären lassen, sondern in allen Fällen wäre sogleich auch das Andre zu adhibiren und das Wahrscheinlichkeitsverhältniß zwischen beiden zu bestimmen, nämlich zugleich ob sie vielleicht durch bewußte Handlung entstanden? Diese Fälle sind nun durch eine bewußte Handlung nicht auf unbewußte Weise entstanden. Fragen wir wie es sich entscheiden lasse, ob der Zusatz der Schrift angehöre oder ob die lükenhafte Stelle das Ursprüngliche sei, so muß man zuerst auf die hermeneutische Operation Rüksicht nehmen; aber man muß von beiden Fällen ausgehn; man setze also voraus, der Zusatz sei ächt und versuche, wie es mit der hermeneutischen Operation weitergeht; findet sich nichts Störendes so kann man bei der Voraussetzung bleiben, und findet sich in der Folge eine bestimmte Beziehung auf die zweifelhafte Stelle so ist das eine Bestätigung. Kann man aber bei jener Voraussetzung, daß die Stelle ächt sei nicht ungestört fortfahren, so ist das ein Grund zum Entgegengesetzten. Sofern das Diplomatische schwebt, muß man die Wahrscheinlichkeitsberechnung eintreten lassen indem man von beiden Voraussetzungen ausgeht. Stellt man dann die Resultate beider Voraussetzungen in ihren Momenten zusammen, so wird Eins wohl überwiegend klar werden, und das ist das kritische Urtheil dann; oft aber wird es auch schwebend bleiben und der Eine nimmt dann dies, der Andre das. Nehmen wir die Stelle 1. Johannes Cap. 5, die in der That freilich diplomatisch als späterer Zusatz entschieden ist, wir wollen aber den Fall setzen, das Diplomatische schwebe, so würde es gewiß sehr unentschieden sein; denn sie scheint wirklich zu fehlen, wenn man sie ausläßt, betrachte ich den Zusatz aber materiell so scheint sie durchaus überflüssig, aber sie ist der Form nach so angepaßt, daß es scheint als fehle Etwas wenn man sie ausläßt, das kann vorkommen sobald das Diplomatische schwebt und es wird das Urtheil dann auch schweben. Geht man aber von der Voraussetzung aus, solcher Zusatz sei unächt und ich kann nicht ungestört weiter lesen, werde also gehemmt wenn Jenes fehlt, so ist das ein Grund
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mehr den Zusatz für Fremdes zu erklären. Da sind nun noch andre Momente, auf die wir aber doch auch so schon Rüksicht nehmen mußten; es bedürfen aber alle jene größern Stellen durchaus keiner andern Regeln, sondern sind ganz nach den früher gegebenen zu behandeln. Nun wollen wir das neue Thema durchgehn; es gibt sich eine Schrift für die eines bestimmten Verfassers in der Schrift selbst aus oder in der Ueberschrift, die in die allgemeine Vorstellung als dazu gehörig übergegangen; wie kann es entstehn, daß im Lesen eine kritische Frage darüber entstanden, ob sie dem Verfasser, den die Handschriften nennen angehört oder nicht. Der Zweifel kann nur entstehn, wenn ich in der hermeneutischen Operation gehemmt werde unter der Voraussetzung, die Schrift gehöre jenem Verfasser. Wenn eine Schrift lange Zeit hindurch immer für die Schrift eines bestimmten Verfassers ist gehalten worden und es entsteht erst später Zweifel, so ist durchaus nicht zu sagen, die Lage der Zeit beeinträchtige den Zweifel; es setzt ein solches Falsum nur voraus, daß die hermeneutische Operation früher nicht mit solcher Genauigkeit und Vollkommenheit als später gemacht ist und es wird ein Wachsthum der hermeneutischen Kunst vorausgesetzt. Wir wollen diese Formel in ihre verschiednen wesentlichen Fälle zerlegen. Der erste ist der, wenn in der Schrift eine Stelle vorkommt, die mit dem Begriffe des Verfassers in Widerspruch steht, dann bin ich mit einmal in der Voraussetzung, die mich bis dahin begleitet, gehemmt. Dies kommt zuerst vor, wenn in einer Schrift von einer Thatsache die Rede ist, von der der Verfasser unmöglich reden konnte; so wie sie außerhalb des Lebenskreises des Verfassers liegt, so daß er keine Notiz davon haben konnte, dann kann ich das nicht für ein dictum des Verfassers halten. Eine einzige solche Stelle ist ein vollkomner Beweis für die Unächtheit einer Schrift, wenn die Unmöglichkeit wirklich da ist und sie ist wirklich da, wenn die Stelle wirklich der Schrift angehört. Denn zuerst werde ich fragen, ist die Stelle ursprünglich der Schrift zugehörig oder ist sie ein Zusatz von anderwärts her? bestätigt diplomatisch diesen Zweifel gar Nichts, so läßt sich noch denken, daß diese Stelle konnte hineingekommen sein zu einer Zeit die älter ist als die Abschriften, auf einem der angegebenen Wege, und sobald das wahrscheinlich wird, verliert die Stelle ihre Beweiskraft. Hier sind wir auf einem Punkte, wo wir die Richtigkeit eines gewissen kritischen Verfahrens beurtheilen können. Man sagt oft, es gebe solche Fälle, wo jeder einzelne Grund als Verdachtgrund nicht beweisend ist, kommen aber viele solche Gründe zusammen, so geben sie einen Beweis, diese Regel billigt gewiß Jeder mit seinem Gefühl, unterwirft man sie aber dem calculus, so erscheint sie nach diesem Maßstabe falsch. Gehn wir aber rein von unsrer
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Position aus so rechtfertigt sie sich. Wir haben gesagt, die Beweiskraft solcher widersprechenden Stelle werde verringert – nicht aufgehoben – in dem Maße eine Wahrscheinlichkeit gegeben ist, die Stelle könnte späterer Zusatz [sein]. Denke ich mir aber 6 solcher Fälle Statt Eines, so sind das 6 Gründe, deren Jeder allein hinreichend wäre wenn nicht jedem einwohnte, was eine entgegengesetzte Möglichkeit angibt. Wie steht es aber um diese Wiederholung und was ist überwiegender, die Wiederholung solcher Stellen die nicht als vollkomner Beweis angesehn werden können oder die Möglichkeit daß solche Stellen könnten ein Zusatz sein. Da nimmt die Wahrscheinlichkeitsberechnung einen andern Gang. Es nimmt nehmlich jene zweite Wahrscheinlichkeit immer mehr ab mit jeder Stelle, denn dazu daß viele solche Stellen in die Schrift gekommen, die dem Verfasser nicht gehörten, dazu gehört eine vielfache Gedankenlosigkeit, diese ist aber sehr unwahrscheinlich, und in solchem Verhältnisse hat jene Regel ihre vollkomne Richtigkeit. Dies ist nun nicht der einzige Fall, dieser ist mehr hergenommen aus dem Gebiete der grammatischen und historischen Interpretation, denn dazu gehört als der Apparat, der anzuschaffen ist, die möglichste Kenntniß von den Lebensverhältnissen des Verfassers, wozu eben gehört daß er hievon nie eine Notiz gehabt. Aehnliches kann nun auch die psychologische Interpretation darbieten. Wenn ich auf Gedanken stoße, die ich unmöglich kann als Gedanken des Schriftstellers ansehn, weil sie mit seiner Denkweise in Widerspruch stehn, so bin ich in der Voraussetzung gehemmt, in der ich bisher weiter gegangen. Wie wir im vorigen Fall annehmen müssen, der Verfasser habe jene Notiz im ganzen Leben haben können, so muß ich auch hier behaupten können, daß in seinem ganzen Leben keine Zeit gewesen wo er so gedacht in seinem mir bekannten öffentlichen Leben. Das ist eine Beschränkung des Falls, denn es gibt wohl wenig Gegenstände, über die der Mensch nicht seine Meinung änderte, und so ist das Bedenken nur bedeutend und entscheidend, wenn nicht gewiß ist, daß dies nicht in irgend einer Zeit Statt gefunden. Da steht nun Dies auch dem Vorigen ganz gleich, nur ist hier die Behauptung schwieriger aufzustellen. Es kommt ein Umstand noch in Betracht, daß die Interpretation auf diesem Gebiete des Gedankens immer schwieriger ist als die solcher Stellen, wo es sich um Thatsachen handelt; und hier muß somit die Interpretation vollkommen sicher sein; ist sie qualitativ und quantitativ bestimmt und nur diese ist möglich, und ich kann nie sagen, dieser so ausgedrükte Gedanke kann kein Gedanke des bestimmten Schriftstellers gewesen sein, und ich kann 26 in] im
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dies nachweisen, so ist diese Stelle eben so schlagend als eine historische. Mit der Aechtheit muß es ebenso stehn und ebenso kann ich sagen, daß wenn ich die Möglichkeit denÐkenÑ kann, dieses könnte ein fremder Zusatz sein, so muß hier dasselbe gelten, was vorhin gesagt ist, kommt er öfter vor so wird die Wiederhohlung eines so fremden Zusatzes um so unwahrscheinlicher. Das sind die Momente, welche die wesentlichen Anwendungen der allgemeinen Formel sind, und wir können jene Fälle in die beiden Hauptgebiete der Interpretation zertheilen, so daß der eine das eine der andre das andre Hauptgebiet umfaßt. Diese können nun in Beziehung auf die Sprache mit analoger Duplicität eintreten; kommt ein Wort vor das gar nicht im Sprachgebiete des Verfassers gelegen ist, welches da wo er schrieb und zu der Zeit als er schrieb, gar nicht in Gebrauch gewesen ist, gegen die Aechtheit aber kein diplomatisches Bedenken ist und es sich nicht denken läßt, daß es aus mechanischer Irrung entstanden, dann ist auch dies schlagend gegen die Aechtheit, der Beweis ist vollständig nur gar zu schwierig oft. In Beziehung auf die andre Formel kann man sagen, hier sind Wendungen, die zwar im Allgemeinen nicht geographisch noch historisch außerhalb des Sprachgebiets des Verfassers liegen, aber außerhalb seiner Eigenthümlichkeit, es ist keine Analogie dafür in seinen übrigen Schriften, vielmehr lassen sich zahlreiche Analogieen dagegen anführen, daß er für diese Bezeichnung andre solenne Ausdrücke hat, die in seinen Gedankengang hineingehören, es tritt dies also positiv als etwas Fremdartiges entgegen, so kann dies so sicher aufgestellt werden, daß eine einzelne Stelle hinreichend sein kann. Aber zu läugnen ist nicht, daß das eine schwierige Sache ist, und gehört dazu eine genaue Kenntniß vom Sprachgebiete des Verfassers wie eine sehr ins Einzelne gehende vollständige Sprachkenntniß, und es ist [in] diesem Falle am wenigsten denkbar, daß Ein Fall sollte entscheidend sein. Hier sind wir auf einem Punkte wo wir den Gang, den solche Untersuchungen nehmen, genauer bezeichnen können: es kann Fälle geben, die für einen Leser der große Vertrautheit mit einem Schriftsteller, einer Schrift und dem ganzen Sprachgebiete hat, und für ihn mag eine einzelne Stelle entscheidend sein, indeß weiß er daß dieser Eine Fall Andern nur würde Verdachtsgrund sein, und so muß er Mehres aufsuchen um seine Gewißheit überhaupt mittheilbar zu machen, so entsteht ein durchgängiges kritisches Verfahren, und ist seine Aufgabe seine Gewißheit auch zur Gewißheit Andrer zu machen, und es ist ein wesentlicher Theil der Aufgabe dies, daß, wenn ich auch von dem Satze, den ich aufgestellt, daß Eine Stelle schon hinreichenden Grund geben könne, Nichts zurücknehmen will, so doch auch das Andre wahr ist, daß wo Eine Stelle ist für den
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aufmerksamen Leser noch mehre sein werden, man hier noch neu sieht und es wird wenn man mit solcher Schrift die Einen solchen Punkt enthält und einer andern eine absichtliche Vergleichung anstellt, nicht an mehren fehlen. Wo nur die Eine ist, ist ihre Beweiskraft geschwächt, und man muß versuchen sie anders zu erklären, sich sogar mit einer andern unwahrscheinlichen Erklärung begnügen eher als die andre wahrscheinlicher scheinende festzuhalten. Man muß sich die Frage stellen, wie kann die Thatsache entstanden sein daß die Schrift die eines Verfassers genannt ist, dem sie nicht angehört und diese Thatsache sich vor Augen bringen. Sie kann als absichtlicher Betrug entstanden sein, indem sie der Verfasser so eingerichtet, daß sie für die Schrift Jenes sollte gehalten werden. Dieser Fall läßt sich selten annehmen, weil die Verhältnisse unter denen sich das durchführen ließe sehr complicirt sind. Einmal sagen wir wenn der Verfasser noch lebt, wird es nicht leicht einem Andern gelingen, seine Schrift für die eines Andern auszugeben, sie müßte sich denn bis zur bestimmten Zeit außerhalb seines Lebenskreises halten, doch ist dieser Fall sehr unwahrscheinlich und je mehr sie das Ansehn hat in den Lebenskreis des Verfassers zu gehören um so weniger ist der Verdacht des Betrugs anwendbar, sie ist nur als falsches Urtheil anzusehn. Wo eine Schrift anonym erscheint, ist das nun leicht möglich, es kann das Urtheil in die Schrift übergegangen sein, so daß die spätern Abschriften sie schon gewiß als eine Schrift jenes Verfassers ausgeben können. Dann ist es nicht aus mechanischer Irrung entstanden, sondern absichtlich und bewußt nur nicht absichtlich ein Falsches hineinzubringen, sondern so daß es nur ein Zeugniß ist für die Allgemeinheit des Urtheils, das jenem Verfasser diese Schrift beilegt. Sobald man zu solcher Voraussetzung geführt wird, so muß man sie auf diesen Fall zurükführen und Eines von beiden nachweisen und danach von Anfang an den Verlauf der kritischen Operation richten. Wo die Sache schwebt muß man von beidem ausgehn und dieselbe Wahrscheinlichkeitsberechnung zwischen beidem eintreten lassen. Wenn wir nun diese Thatsache daß ein Werk einem Andern zugeschrieben wird, dem es nicht angehört, im Allgemeinen betrachten so wird die Veranlassung dazu, wenn es absichtlich und ernstlich geschehn soll, nur etwas sehr Specielles sein müssen, und wird man sich nicht leicht bei der Behauptung beruhigen, wenn nicht auch zugleich angegeben wird auf wahrscheinliche Weise, wie wohl Einer dazu gekommen. Hier kann nun solche Thatsache auch durch die zweite Hand entstehn und also nicht eigentlich absichtlich. Dies ist auf zwiefache Weise möglich: im Allgemeinen setzt es immer voraus, daß eine Schrift ursprünglich ohne den Nahmen des Urhebers gegeben ist; wenn nun Jemand ein Urtheil fällt daß
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sie von Dem oder Jenem herrühre, es sei begründet wie es wolle, und dieses Urtheil geht nachher in die Schrift selbst über und so geschieht das in der zweiten Hand; dazu lassen sich mannigfache Formen denken, wie von dem Ersten, der das Urtheil fällt es in den Text gekommen, aber Ein Fall in dem sich das besonders denken läßt ist der, wenn sich Etwas in einer Sammlung von Schriften findet und nicht als Einzelnes. Hier sind auch die meisten Beispiele der Art, mit denen es auch diese Bewandtniß hat: es sind Werke einem Schriftsteller zugeschrieben, von dem wir Mehres haben, das in den Abschriften Eines bildet. So wie solche Thatsache nun vorgekommen ist, so ist sogleich Verdacht gegen die ganze Sammlung zu schöpfen und das ist ein specieller Fall der besondere Berüksichtigung verdient. Was folgt denn weiter daraus, wenn sich zeigt, daß einzelne Theile solcher Sammlung dem Verfasser mit Unrecht beigelegt sind? Hier fragt sich zunächst, wie ist die Sammlung selbst entstanden? Heut zu Tage ist es gewöhnlich daß Schriftsteller ihre einzeln erschienenen Werke selbst sammeln und da hat die Sammlung vollkommen dieselbe Authenticität wie jedes Einzelne und da kann der Fall nicht vorkommen, wohl aber wenn Andre solche Sammlung veranstalten, doch auch hier nur in Beziehung auf einzelne anonyme Schriften, welche durch ein Urtheil einem bestimmten Verfasser beigelegt sind. Beispiele sind davon selbst in der neusten Literatur bei solchen von Andern veranstalteten Sammlungen; lebt nun der Verfasser noch so ist es seine Sache dem zu widersprechen, thut er das nicht, so ist das als schweigende Gewährleistung anzunehmen; geschieht es nach seinem Tode, so ist es um so leichter wenn bei seinem Leben einzelne anonyme Schriften ihm zugeschrieben sind, er aber nicht Protest dagegen eingelegt hat; so können sie sehr leicht in die Sammlung aufgenommen werden. Denken wir uns zuerst, daß dies lange nach dem Tode des Verfassers geschehn, so ist die Möglichkeit noch größer, deswegen eben, weil der Zusammenhang zwischen denen die sie veranstalten und dem Zeitalter und Lebenskreise des Verfassers nicht mehr genau ist, da ist nur die Regel zu geben, sobald solch Verdacht entstanden müsse die ganze Sammlung als verdächtig erscheinen und muß sich jede einzelne Schrift auf andre Weise als nur dadurch daß sie in der Sammlung steht, bewähren. Im Alterthume finden wir fast überall in den operibus omnibus falsche Werke. Auf der andern Seite ist es aber auch leicht daß ein Sprung gemacht wird und Zweifel gemacht werden, die näher betrachtet keinen Grund haben. Dieser unsichre Gang der Kritik der da entsteht fodert so viel wie möglich eine Regel, und wir sagen, es läßt sich da nichts Andres thun, so wie notorisch ist, daß die Sammlung nicht von dem Verfasser ist, hat sie als solche keine Authentie; und daß man sie zur Zeit
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seiner Zeitgenossen noch gemacht, so vertreten diese den Verfasser in dem Maaße, als ihr öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt ist. Ist sie aus späterer Zeit, so muß sie erst ihren Beweis führen, ursprüngliche Sicherheit hat sie nicht; sie kann nur Autorität haben, sofern man dem Sammler richtiges Urtheil und die relative Unmöglichkeit sich zu irren, zuschreiben kann. Die Möglichkeit vorausgesetzt, es haben anonyme Schriften in die Sammlung aufgenommen werden können, die nun den Nahmen des Verfassers führen, so muß die ganze Sammlung sich aufs Neue beweisen und jedes Werk ist unsicher und muß bewiesen werden. Da entstehen nun Fälle, wo die Presumption, die ein Werk für sich hat, dem anzugehören, dem es zugeschrieben wird, wo diese in bedeutendem Grade verringert ist. So wie ein Werk aus älterer Zeit einem Schriftsteller zugeschrieben wird, so hat das die Presumption für sich, als ich im Voraus keinen Zweifel habe; er muß mir im Lesen entstehn; sobald aber ein Theil solcher Sammlung ein crimen dieser Art gegen sich hat, so habe ich im Voraus Recht zu einem Zweifel und gehe mit ganz andern Rüksichten an die Lesung der Schrift um eine Bewährung zu finden oder den allgemeinen Verdacht auf das Einzelne überzutragen. Wenn wir oben sahen, wie nachtheilig es ist wenn das Auge bestochen wird so geschieht es hier auf zwei ganz entgegengesetzte Weisen. Das Auge ist auf ursprüngliche Weise bestochen, wo der Nahme des Verfassers dem einzelnen Werke wie der ganzen Sammlung beigelegt ist. Ebenso, so wie ein Verdacht gegen die Sammlung ist, so ist das Urtheil durch diesen Verdacht bestochen und so ist in Beziehung auf diese Gegenstände ein zwiefaches Verfahren, das ursprünglich von einer Einseitigkeit ausgeht und hier ist es schwer ein Mittleres aufzustellen. Hier sind sogleich 2 verschiedene Maximen, deren Anhänger sich Jede aus ihrem Standpunkte auf entgegengesetzte Weise beurtheilen; die Einen sagen: Jene sind Autoritätsgläubige, sie halten fest an dem was von Andern überliefert, und übergehn so vieles wirklich Verdächtige. Diese sagen, daß die Andern überkritisch seien und alles ruhige und einfache Studium aufheben, weil sie nur ausgehn, Verdachtsgründe zu finden. Dieser Duplicität ist nicht auszuweichen und allerdings hat sie ihre nachtheilige Folge auf den Fortgang des ganzen Studii, indem jeder Streit auf diesem Gebiete allerdings eine Pause ist für die allgemeine Richtung, denn solange Streit ist, so lange nimmt die hermeneutische Operation nicht ihren ruhigen Fortgang und es ist ÐhierÑ eine Pause. Haben wir das ganze Verfahren das sich aus diesen Fällen entwickelt nur in Beziehung auf die hermeneutische Operation zu betrachten oder haben sie 9 entstehen] entsteht
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solchen Werth für sich, daß wir diese bei Seite stellen können? Geht man vom Ersten aus, so folgt, daß man den kritischen Streit nicht führt in Beziehung auf Dinge die für die hermeneutische Operation keinen Werth haben und darf diese nicht eher hemmen und aufhalten bis diese Verdachtsgründe einen gewissen Grad von Bestimmtheit haben. Das Letztere ist ein Zurükdrängen der kritischen Operation, ein Verweisen derselben auf spätere Zeit. In andrer Rüksicht ist wiederum das allgemeine philologische Interresse da, denn mag diese Schrift für die hermeneutische Operation noch so unbedeutend sein, ist der bestimmte Kreis und Zeit, dem sie angehört, nachgewiesen, dann ist sie für die Zeit und den Kreis ein Document der Sprache, kann sie in jener Beziehung nicht nachgewiesen werden, so ist auch ihr philologisches Interresse null, bis ihr eine Stelle anderwärts angewiesen ist. Bleiben wir hier stehn, so können wir uns überzeugen, wie verschieden das Interresse sich abstuft, wenn wir vom allgemeinen philologischen Standpunkt ausgehn. So gibt es unter der Sammlung platonischer Werke mehre, von welchen wahrscheinlich gemacht worden, daß sie nicht Platonisch aber doch mittelbar der Schule des Socrates angehören. An und für sich verliert für den allgemeinen philologischen Standpunkt die Frage dadurch ihr Interresse, weil sie doch in das Gebiet des Atticism derselben Zeit gehören und ihr Werth nur mit geringer Differenz bestimmt ist. In sofern freilich wir sagen Plato war ein andrer Virtuos in Beziehung auf die Sprache als ein andrer Schüler, aber das bezieht sich mehr auf den Stil als auf die Elemente in diesem Kreise und Zeit. Hingegen für den, der es mit der Geschichte der Philosophie zu thun hat, wird die Frage auch so von Wichtigkeit sein, er erkennt darin noch eine Lehre, die er nun verfolgen kann unter den philosophischen Systemen, die aus der Sokratischen Lehre hervorgingen. Da stuft sich das Interresse verschieden ab, jenachdem der Gesichtspunkt sich stellt. Was die Hauptsache betrifft, so ergibt sich daß die Regel nicht allein vom Standpunkte der hermeneutischen Operation gestellt werden kann, das allgemeine philologische Interresse ist häufig das Dominirende dabei und fodert auch solche Gegenstände aufzusuchen, die mit der hermeneutischen Operation nichts zu thun haben. Wenn wir auf diesen Punkt, was eine Sammlung betrifft, nicht gekomen wären, sondern nur darauf, daß bestimmte Schriften können Verdacht erregen, so wären wir vielleicht auch auf die Frage gar nicht gekommen, wie Schriften den positiven Beweis führen können, daß sie von dem Verfasser, dem sie zugeschrieben, denn da hat sie ursprünglich Nichts, worin sie Verdacht darböte, hier 17 doch] folgt d.
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aber hat sie den, sobald sie einer Sammlung angehört, unter den oben angeführten Umständen; auf diesem Standpunkte fragen wir, wie eine Schrift den Beweis führe, daß sie dem angehört dem sie zugeschrieben wird, und das ist nun eine Untersuchung, die das Gegenstük von der letzten ist. Wir haben gesagt, wenn eine Sammlung von Werken des Verfassers bei Lebzeiten des Verfassers selbst gemacht ist, so brauche sie den Beweis nicht zu führen. Wenn ein Werk schon bei Lebzeiten des Verfassers für sein Werk gegolten, so ist das, in Beziehung auf das Werk, überhaupt als habe er die Sammlung selbst gemacht. Hier ist zuerst ein Beweis durch Zeugnisse, wie unsre unbezweifelten Schriften von Zeitgenossen oder andern bestimmten Schriften nachgewiesen wird, daß jene Zeitgenossen ein Werk schon für das des Verfassers gehalten, dem es zugeschrieben wird, so ist das ein vollständiger Beweis, und die Schrift hat das Recht sich erworben, in der Sammlung zu stehn, aber das ist nur in dem Falle, wo es solchen Zusammenhang gibt, insofern von Schriften die einer Literatur angehören, die Rede ist, wenn sie aus einer Zeit sind, wo wir eine zusammenhängende Literatur haben, aber in einer Sprache von der nur wenig Ueberreste sind, ist den Beweis zu führen unmöglich. Gibts noch eine andre Beweisführung, eine directe, die unmittelbar anders ist, als durch solche feststehende vollkommen sichre Zeugnisse? Es wird ein Zweites sich daran anschließen, die Analogie. So wie ich einige sichre Schriften habe des Schriftstellers, die mir bekannt sind, nun wird ihm eine Schrift in einer Sammlung beigelegt, die ich in der Voraussetzung lese, daß sie ächt ist und die Sammlung richtig, seine übrigen Schriften sind mir aber immer in Gedanken und die vollständige Erinnerung erregt mir keinen Zweifel, so hat hier diese andre Schrift die Presumption für sich, ihm anzugehören, aber nicht läßt sich das auf dieselbe Weise beweisen, denn es hängt die Richtigkeit gar sehr von der Beschaffenheit dessen ab, der das Urtheil fällt. Denken wir eine der Zahl nach bedeutende Sammlung von Schriften, so werden wir unterscheiden können, sofern sie einer zusammenhängenden Literatur angehört, in dieser einzelne Werke der ersten und der zweiten Klasse, der ersten, die sich auf solche Weise documentiren lassen, von denen nachzuweisen, daß in der Zeit des Verfassers sie für sein Werk gegolten oder bei solchen die der Sache kundig sein mußten. Die der zweiten Classe sind solche, für die Urtheile angeführt werden können von solchen denen ein richtiges Verfahren zugeschrieben werden kann dabei ist aber schon Unterwerfung unter eine Autorität und nicht eines Documents sondern eines Urtheils. So wie wir weiter hinabgehn und sehn, daß die auf deren Autorität diese zweite Classe gegründet ist, in Beziehung auf andre Werke sagen, es sind hier zwar keine Verdachtsgründe, ich hätte
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diese Schrift aber ruhig fortlesen können, wenn ich sie als von einem Andern herrührend genommen, Nichts hätte an jenen Verfasser grade mich erinnert, so sind das zweideutige Schriften, und werden auch ihren Beweis führen müssen, wie man denn auf solche auch kommen kann die zwar positive Verdachtsgründe geben, die aber nicht entscheidend sind, nicht vollkommen. So wie nämlich nur ein geringerer Grad nur von Vollkommenheit in Beziehung auf die Gedanken, die Ausführung und Sprache oder Dies und Jenes nicht recht mit dem Uebrigen des Schriftstellers zusammenzustimmen scheint, es aber doch von ihm herrühren kann, wenn wir voraussetzen, er habe sich in dieser oder jener Beziehung vernachlässigt, so ist es unentschieden und der Sache anheimgestellt, ob sie auf die eine oder andre Seite sich neigen wird. Dies ist das Gesetz des kritischen Verfahrens, das in Beziehung auf Sammlungen zu beobachten ist. Betrachtet man davon das Resultat so erscheint durch jenes Verfahren ÐseiÑ eine so bedeutende Säuberung in dem Gebiete der alten Literatur entstanden, daß sowohl das allgemeine philologische Interresse als das Interresse der realen Disciplinen, in denen sich die Werke des Alterthums bewegen auf viel festerm Boden als früher sich bewegen können. Es ist auch sehr gut daß jene beiden Maximen neben einander bestehn; denn hätte nur die eine gegolten, so würden noch eine Menge Irrthüme sein, weil man die Autorität zu sehr anerkannt, und diese Irrthümer erstreken sich dann auf die beiden eben genannten Gebiete. Wäre nur die andre angewendet, so würde eine Willkühr in die ganze Behandlung der Sache gekommen sein, die die Resultate weit unsichrer gemacht hätte, als sie nun durch die Gegenwirkung der andern Maxime geworden, denn Diese führt auf größere Strenge in der Beweisführung und bewirkt daß man sich weniger dem Einflusse einzelner Momente hingebe und Alles berüksichtige was sich von der entgegengesetzten Seite anführen läßt. Wenn wir das bisher über die letzte Aufgabe Gesagte von einer andern Seite betrachten so entsteht die Frage, was hat denn eigentlich und unter welchen Umständen ein Interresse, von wem eine Schrift herrühre? Nehme ich das Letzte, eine Sammlung von Schriften, die Einem Verfasser angehören soll, so hat es großes Interresse, weil die Einheit des Verfassers dadurch bestimmt wird; gehört eine Schrift ihm an so gehören auch die Gedanken und die Notizen die sie enthält, in sein geistiges Leben und seine ÐKundeÑ, also in dem Maaße als eine Schrift Etwas enthält verschieden von andern Schriften desselben Verfassers, sofern sie zur Vollständigkeit des Bildes von ihm beitragen muß, so ist sie allerdings von Interresse; denke ich mir aber eine einzelne Schrift, die einem Verfasser beigelegt ist, von dem nichts Andres vorhanden ist, da ist es allerdings ganz gleichgültig, ob
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dieses oder jenes übrigens ganz unbekannte Individuum Verfasser der Schrift sei; sobald mir das Zeitalter und der Kreis in dem die Schrift entstanden gegeben ist, so kann es Umstände geben, wo es ganz gleichgültig ist, ob er Dieser oder Jener ist es ist die Persönlichkeit ganz gleichgültig; so wie aber andre Beziehungen eintreten, so kann auch wieder ein Interresse entstehn. Habe ich eine philosophische Schrift, deren Verfasser ich gar nicht oder nur zweifelhaft kenne, und es sind gar keine nähern Bestimungen so kann es mir oft ganz gleichgültig sein, wer sie verfaßt. ob Simon oder Zebes, aber weiß ich der Eine von diesen hat in näherer Verbindung mit dem einen Sokratiker der Andre mit dem Andern gestanden, und es sind das Männer von großer Bedeutung, welche die Lehre des Sokrates auf verschiedene Weise entwickelt haben, so ist ihre Persönlichkeit wichtig, denn ihre Gedanken werden in das Gebiet der einen oder andern Schule gehören. Kann ich nun den Begriff von jener Schule vervollständigen, und es geschieht das auf andre Weise wenn ich von dem einen oder andern Urtheil ausgehe und da hat die Persönlichkeit ein besondres Interresse; es hat das eben seinen Grund in besondern Umständen. Ebenso ist solch Interresse bei Werken historischen Inhalts, da kommt es darauf an wie der Referent zu den Begebenheiten gestanden. Wird sie einem Nahmen zugeschrieben, von dem ich weiß, der hat zu der Zeit und in der Gegend gelebt, wo das geschehn, was er beschreibt, so erhält die Schrift eine Autorität, die sie nicht bekommen würde wenn ein Andrer aus späterer Zeit, andrer Gegend sie geschrieben. Weiß ich aber nichts Näheres über die Verhältnisse des Verfassers zu den Begebenheiten, so ist der Nahme ganz gleichgültig. Die Frage in Beziehung auf das Interresse ist also von verschiedenem Gehalt, es sind Umstände unter denen sie von größter Wichtigkeit ist und andre wo von gar keiner und die Differenz geht durch alle verschiednen Beziehungen durch, die wir erwähnt haben. Noch Eins ist aber zu merken, in dem Maaße als die Kenntniß von der ganzen Region, in welche eine Schrift gehört noch nicht vollendet ist, in dem Maße ist noch nicht bestimmt, von welchem Interresse solche Frage sein kann. In einem sehr durchgearbeiteten Literaturgebiet muß man es bestimmen können, von wie großem Interresse die Frage sei, aber denkt man ein Gebiet, wo die Literatur man zu durcharbeiten erst angefangen, die Charte wenn man so sagen will noch ausgefüllt werden muß, indem nur Grenzen und bestimmende Punkte erst bemerkt sind, da läßt sich nicht bestimmen von wie großem Interresse die 8–9 Diogenes Laertios überliefert den Namen des Schuhmachers Simon, bei dem sich Sokrates gern mit seinen Freunden und Schülern traf und der sich (nicht überlieferte) Notizen über die Gespräche machte. – Dem Kebes oder (lat.) Cebes von Theben, einem Schüler des Sokrates, wurde die viel spätere, anonyme ,Cebes-Tafel‘ fälschlich zugeschrieben.
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Frage sei und da ist also ein unbedingtes Interresse, weil um Nichts zu vernachlässigen das Größte anzunehmen ist. Wenden wir das auf das Gebiet der classischen Literatur an, da können wir alle diese Differenzen finden, es sind Schriften von hohem Grad von Gleichgültigkeit in Hinsicht des Verfassers, die nur wichtig sind als Zeugnisse für die Sprache und die Zustände derselben in einer gewissen Zeit und Gegend, da ist die Persönlichkeit, wenn jene Grenzen nur bestimmt sind ganz gleichgültig, es ergibt sich aus der Schrift selbst auf welche Stufe er zu der Sprache und den Gegenständen stand, die Persönlichkeit ist etwas Indifferentes. Je mehr sie aber in Sprache und Gegenstand verflochten ist, um so größer ist das Interresse und nach diesem Maaße wächst es und nimmt es ab. Im N.T. sind uns, wenn wir uns zu ihm wenden, kritische Aufgaben theils schon aus alter Zeit überliefert, theils neu entstanden, schon entschieden worden und wieder zweifelhaft geworden und ist hier eine sehr weitläuftige Geschichte der kritischen Bestrebungen in dieser Beziehung. Was haben diese Fragen für Interresse in Beziehung auf das N.T.? Für einen Roemischkatholischen Theologen der es im vollen Sinne ist seiner Kirche, haben alle kritischen Fragen dieser Art gar kein Interresse, denn der Canon ist ein Werk der Kirche, der Canon selbst ist also für einen ächtkatholischen Theologen ein Theil der Tradition, er ist so überliefert und hat genau genommen seinen Werth nur durch die Ueberlieferung, und hat eben dadurch die Autorität der Unfehlbarkeit der Kirche. Die Kirche hat diese Frage eigentlich nicht entschieden, es ist gleichgültig, ob ein Theologe sagt, dadurch daß der 2te Brief Petri aufgenommen folgt daß er ein Brief Petri oder ob er sagt, die Kirche hat den Brief aufgenommen ohne sich zu kümmern ob er ein Werk Petri ist, das ist ihm durchaus gleichgültig, also ist die kritische Frage ohne Interresse, er argumentirt nicht vermöge der Autorität des Verfassers sondern der kirchlichen Tradition, die ihm so den Canon überliefert. Das ist aber eine Behandlungsweise der Sache die außer unserm Standpunkte ist, weil wir keine Autorität der Kirche annehmen; freilich ist der Canon überliefert ohne daß wir wissen wie er grade so geworden, aber wenn wir es auch wüßten, könnten wir diese Ausschließung andrer und Festsetzung der Schriften nicht ohne Prüfung annehmen; denn da man nach gewissen Regeln zu Werke gehn mußte, als man ihn gestaltete, so fragt sich, ist die Subsumption richtig gewesen. Das zeigt dann daß jene katholische Ansicht ganz außer unserm Standpunkte. Fragen wir nun, was hat denn die Frage nach der Persönlichkeit des Verfassers für ein Interresse in Beziehung auf das N.T. für uns auf unserm protestantischen Standpunkte, so ist die Frage auf einfache Weise gar nicht zu beantworten. Zuerst sagen wir, das N.T. ist allerdings
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Sammlung, aber es verhält sich damit nicht so, daß wir das was als Regel aufgestellt ist, in Beziehung auf das N.T. anwenden können, indem wir an die Sammlung von Schriften Eines Verfassers dachten, das ist das N.T. nicht, also ist die Regel auch nicht anzuwenden, so müssen wir es zerlegen und da findet sich, daß es einestheils eine Sammlung von Sammlungen ist und anderntheils einzelne Schriften differenter Verfasser; jeden Theil müssen wir nach seiner Weise beurtheilen. So ist in unserm N.T. ein Bestandtheil desselben eine Sammlung, die die Ueberschrift apostolow führt, das ist die Sammlung Paulinischer Briefe und zwar in größerer Vollständigkeit als wir wissen, daß in früherer Zeit sie gewesen. Entstehn nun Fragen aus dem Gebiete der Paulinischen Schriften, da ist das Eine der Fall, was von einer Sammlung früher gesagt; fragt man aber zB was für ein Interresse es ist zu wissen, ob der Verfasser des Briefs Jacobi Einer der Männer des Nahmens ist, die im N.T. vorkommen, welcher es ist oder ob überhaupt ein Andrer? an und für sich hat diese Frage kein Interresse, weil wir von keinem von Diesen etwas Andres haben und die Handlungen die von dem Einen und Andern erzählt werden, mit dem Briefe in keiner Verbindung stehn. Stellen wir die Frage aber anders so gewinnt sie Interresse, nämlich ob es Einer ist von diesen beiden Erwähnten, so ist es Einer aus dem apostolischen Zeitalter, und selbst ein unmittelbarer Zeitgenose der Apostel; ist er das nicht so kann er ein späterer sein, obwohl diese Differenz der Zeit in gewissen Grenzen gehalten wird, weil der Verfasser nicht mehr gelebt haben kann, auf streitige Weise betrachtet wurde, und so ist die reine Persönlichkeit ganz gleichgültig. Dasselbe gilt von dem Judas. Freilich auf einer andern Seite scheint die Sache sich zu ändern, wenn der Inhalt solcher Art ist, daß er unsre Vorstellungen von dem, was in die Praxis der Männer des Apostolischen Zeitalters und Kreises gehört, auf andre Weise bestimmt, so hat die Frage allerdings Interresse, sobald die Frage entsteht, bekommen wir nicht andre Vorstellungen von den Vorstellungen der Apostel? Enthielte sie Etwas was die andern Schriften nicht enthalten, ohne mit dem Inhalte dieser in Widerspruch zu gerathen, so ist jene Frage von Wichtigkeit. Hat nun aber der Apostel rein als Einzelner, von den Aposteln isolirt geschrieben so verliert die Frage wiederum ihren Werth, weil man nun von ihm auf seinen Kreis, auf den es uns eigentlich ankommt nicht zurükschließen kann, aber es ist das Interresse was hier Statt finden kann, doch eigentlich nie das der reinen Persönlichkeit, denn wenn in einer Schrift, die auch zur Zeit der Apostel geschrieben, aus ihrem gemeinsamen Leben hervorgegangen sein kann, superstitiöse und judaisirende Vorstellungen vorkommen, wie ihnen in andern Briefen widersprochen wird, so ist es ganz gleich, ob der
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Verfasser aus den 12 Aposteln oder ihren nächsten Umgebungen ist. Es ist also nicht das Interresse der Persönlichkeit, sondern gewisser Relationen derselben. Nun fragt sich wie zerfallen die N.T. kritischen Fragen der Art in Beziehung auf diesen Unterschied? Wenn wir da die alten streitigen Punkte berüksichtigen, wie zB ob der zweite und dritte Brief Johannes von Johannes, ob der 2te Brief Petri vom Apostel des Nahmens oder nicht sei, das sind alte streitige Fragen, so müssen wir sagen, diese sind was die Persönlichkeit betrifft von sehr geringem Interresse, denn der 2te und 3te Brief Johannes sind von so geringem Umfange, daß weder in Beziehung auf das Sprachliche das Sprachgebiet noch auf den Inhalt es bedeutend sein kann, ob sie zu den andern Schriften des Apostels hinzukommen. Nur daraus kann die Frage entschieden werden, ob, wenn wir das Evangelium und den 1ten Brief Johannes als authentisch annehmen, in den beiden andern sich finde was Jenen widerspräche in Gedanken oder Sprache, dann können wir schließen daß sie nicht von ihm sind; findet sich das nicht, so ist zu unbedeutend, was wenn von Johannes sie sind, sie ergeben, oder wenn nicht von ihm, uns nicht geben. Gehn wir von der Voraussetzung der erste Brief Petri sei ächt, aus, so steht die Sache, daß, ist der zweite auch von ihm, so haben wir eine Sammlung, da sie aber nur diese beiden enthält den ursprünglich für ächt erkannten und den durch ein kritisches Urtheil, so wird die Negation entschieden, es ist keine Sammlung, und da durch Zeugnisse hier nicht zu entscheiden möglich ist, so muß der erste selbstständig behandelt werden, weil aus ihm nur herrührt was für den zweiten entscheidet, also was aus dieser Sammlung herrühren kann ist von gar keinem Einfluß. Anders ist es bei den Paulinischen Briefen, da ist der Zweifel nicht alt, sondern die Frage neu, denn wiewohl man wußte, daß die Pastoralbriefe nicht im Canon des Marcion standen, so weiß man doch eben so gut, daß er sie aus ketzerischen Interresse ausgelassen, die Aechtheit aber ist nicht in Zweifel gezogen. Da ist die Frage neu und da ist sie auch nicht in so geringem Verhältnisse zum Ganzen, daß nicht ein Interresse es hätte, ob er sie geschrieben oder nicht, weil der Inhalt mit den Thatsachen des Lebens des Apostels zusammenhängt, und man sich Räthsel aufstellt, wenn man sie ihm zuschreibt, welche wenn man sie ihm nicht zuschreibt, man gar nicht aufzustellen braucht, da ist ein persönliches Interresse des Verfassers. Kommen wir nun zu den Evangelien, und betrachten das neue Factum, daß Zweifel gegen die Aechtheit des Evangeliums Johannes erhoben sind da ist es gleichgültig ob der Verfasser Johannes geheißen oder anders, aber hier ist nicht die Frage über die Persönlichkeit allein sondern über die Zeit und die Verhältnisse des Verfassers zu den Begebenheiten. Nimmt man Bret-
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schneiders Hypothese an, so ist die Erzählung an einem den Begebenheiten ganz fremdem Orte entstanden und zu ganz andrer Zeit, da muß nun wer dem Entgegengesetztes behaupten wird, immer geltend machen, daß die Relation einen Augenzeugen beweise, und so müssen wir fragen, ist die Relation so, oder ist sie ein Machwerk von ganz anderwärts her; da ist also ein historisches Interresse in Beziehung auf die Art, wie die Begebenheit bezeugt ist. Dieses Interresse wird erhöht durch das merkwürdige Verhältniß zwischen diesem Evangelio und den 3 andern, daß es unter demselben Titel und von derselben Person, deren Leben beschrieben wird, größtentheils ganz andre Dinge erzählt im dem Maaße, in dem es was die Andern erzählen, ausläßt. Dieses Verhältniß stellt sich anders, wenn man das Eine oder Andre annimmt. – Marcus und Lucas sind ganz unbekannte Personen, gehören zum unmittelbaren nächsten Kreise des Lebens Christi nicht, und Marcus und Lucas mögen die gewesen sein, von denen in der ApostelGeschichte und den Briefen des Apostels Paulus die Rede ist, so sind sie Augenzeugen doch nicht gewesen, so ist es gleichgültig, ob sie diese Personen sind oder Andre des Nahmens. Es liegt zwar darin zu gleicher Zeit die Frage über die Zeit der Entstehung, aber die ist hier nicht von so großem Belange, weil sie nicht aus dem Apostolischen Kreise sind, wer Marcus und Lucas sind ist relative gleichgültig, es ist das eine historische Untersuchung, die auf die Samlung der Schriften und ihren Werth als Elemente des N.T.’s von gar keiner Bedeutung ist. Anders ist es, wenn man von der Identität redet des Lucas als Evangelisten und Schreiber der ApostelGeschichte, aber das hat noch Niemand bezweifelt, das ist feststehend, ungeachtet der wohl merkwürdigen Thatsache, daß diese Bücher, die in ihnen selbst als durchaus zusammengehörend dargestellt werden, doch im N.T. nie zusammengenommen erscheinen. Von anderm Interresse ist nun die Frage in Beziehung auf den Matthaeus, die aber genau genommen auch erst neu ist. Fragt man da, ist das Evangelium ein Werk des Matthaeus, der unter den Aposteln sich zeigt, so kommt auf die reine Persönlichkeit gar wenig an, obwohl sie nicht so ganz leer ist, weil von ihr bestimmte Thatsachen erzählt werden, aber das Verhältniß eines Apostels ist wesentlich, denn dann ist das Verhältniß der beiden des Matthaeus und Johannes zu den Gegenständen dasselbe, und das hat auf die Art, wie die Differenzen zwischen beiden verhandelt werden, bedeutenden Einfluß. Sobald Jemand das Evangelium Matthaeus für ein 25 daß] folgt ,daß 1119,40–1120,2 Bretschneider entwickelt seine Hypothese in der 1820 erschienenen Schrift ,Probabilia de evangelii et epistolarum Joannis, Apostoli, indole et origine‘ (SB 346).
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Werk des Apostels und das Werk des Johannes nicht sondern nach der Bretschneiderschen Hypothese annimmt, so ist der Matthaeus Norm für den Johannes, und was mit ihm in Widerspruch steht ist auf die Unrichtigkeit des Johannes zu rechnen, und verliert so seine Autorität, sagt man umgekehrt, so entsteht auch das Umgekehrte, der Johannes wird Norm für Matthaeus und was in diesem anders steht, ist aus unreiner Quelle abgeleitet anzunehmen, nimmt man sie endlich beide als Apostel, so sind beide auszugleichen. Da ist die Beantwortung der kritischen Frage von großer Wichtigkeit in Beziehung auf die Ausmittlung der verschiedenen Thatsachen aus diesen verschiedenen Relationen. So finden wir fast alle verschiedenen Grade von kritischem Interresse, auch die Frage nach dem Verfasser einer Schrift im N.T. beisammen, und jede muß nach dieser ihrer Bedeutung aufgefaßt und entschieden werden. Wenn wir weiter gehn wollen, so ist das Nächste zu fragen, sind diese Fragen auf dieselbige Weise zu lösen, wie wir uns im Allgemeinen klar gemacht, oder gibt es eigenthümliche Regeln in Beziehung auf die kanonischen Schriften. Früher schon im Gebiete der Hermeneutik warfen wir eine ähnliche Frage auf, weil wir sie als alte Streitfrage vorfanden, nicht weil wir auf dem Wege unsrer Untersuchung sie fanden. Hier ist schon gesagt, daß diese Fragen für die consequente Theorie der katholischen Kirche gar nicht existiren; daß sie von verschiedenem Werthe auch für uns sind, ist Resultat unsrer letzten Auseinandersetzung, fragen wir aber ob andre Regeln zuzugeben seien, wodurch sie entschieden werden müßten, so werden wir die Frage ebenso wie auf dem Gebiete der Hermeneutik abweisen müssen. Die Fragen entstehn weil eine Thatsache noch nie ausgemittelt war oder weil sie verdunkelt worden; auf die beiden Fälle läßt sich die Sache immer zurükführen und um diese Thatsache zu berichtigen kann es nie andre Regeln geben, als in andern Fällen. Hier kann nur durch zwei Elemente Entscheidung herbeigeführt werden, entweder durch Autoritäten, und wenn sie vollständig sind, so ist die Frage auch vollständig entschieden, stimmen sie nicht zusammen, sondern einige enthalten Contraindicationen, so ist die Frage unentschieden, aber für die Autoritäten selbst ist kein andres Maaß anzuerkennen als bei andern Schriften. Das Zweite sind Analogieen, wenn man aus dem Sprachgebrauche und den Gedankenverhältnissen für oder gegen die Identität des Verfassers entscheidet, so ist das durch Analogie; findet nun für beides eine andre Beurtheilung Statt auf dem N.T. Gebiet als auf jedem andern? Hier sind allerdings Autoritäten von andrer Art als anderwärts, das liegt in der Natur der kanonischen Schriften, sie haben ihre eigenthümliche Dignität, weil wir ihren Verfassern eine eigenthümliche Autorität zuschreiben, aber
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das doch nur auf dem Gebiete ihres eigenthümlichen Berufs. Wenn in N.T. Schriften AltTestamentliches citirt wird auf bestimmte Weise, etwa aus Jesaias aus einer Region, von der der Kritiker weiß, daß sie später und nicht eine Weissagung ist, und man wollte nun sagen, weil Paulus jene anführe, so sei auch jede kritische Operation vergeblich, das wird Niemand wohl jetzt noch behaupten, er hat die Stelle genommen, weil sie unter dem Nahmen des Jesaias ihm gegeben war, und auf diesem Gebiete werden wir seine Autorität durchaus ablehnen. Dasselbe wird der Fall sein wenn ein Psalm als Davidisch angeführt wird, von dem wir behaupen können, daß er das nicht sei, sondern daß er nur so genannt sei weil in der Sammlung, in der er steht die Mehrzahl so wäre. Wenn der Fall freilich wäre daß zweifelhafte N.T.liche Schriften in andern N.T. Schriften citirt würden, die als authentisch feststehn, so wäre das allerdings anders, aber da würde die Autorität nicht als apostolisch gelten, sondern nur als eines Solchen, der bestimmt wissen konnte, wie es sich mit der Sache verhalte. Dies ist nicht der Fall, also Dies kann uns auch nicht zu Statten kommen; hindert aber auch nicht dies Gebiet. Wollte Jemand weiter gehn und sagen, die Kirchenväter haben auch eine ganz eigenthümliche Autorität, so wäre das wohl für den katholischen Theologen, wir lassen sie aber nicht gelten, und er hat die Frage nicht, wenn er consequent ist, bedarf also dieser Autorität nicht, weicht er ab, so hat er freilich die Autorität der Kirchenväter. Wir nun sehn es als ein Urtheil an, das ich nach seinen Gründen erst zu prüfen habe. Ein andres Verfahren in Beziehung auf die Lösung der kritischen Fragen im Gebiet des N.T.’s können wir im Gebiet der protestantischen Theologie nicht finden, sondern die Regeln sind dieselben wie in jeder andern Literatur. Nun gibt es in Beziehung auf die N.T. Bücher Fragen, welche denen die in das Gebiet der eigentlich philologischen Kritik gehören nahe verwandt sind, nicht aber hieher gehören; sie müssen wir aussondern. Lassen wir die philologische Kritik in dem gegebenen Begriffe, so gehören die complicirten Fragen über die Natur der synoptischen Evangelien nicht in dies Gebiet; die philologische Kritik hat mit der Genesis nichts zu schaffen, kann nur auf die Erscheinung des Buchs zurükgehn. Gibt es bei diesen Büchern Stellen, die bei der ursprünglichen Erscheinung nicht waren, so liegen die in unserm Gebiete und da kommt es auf Autoritäten und Analogieen zurük; wenn aber die eigenthümliche Frage über Entstehung der synoptischen Evangelien zur Sprache kommt und man fragt, sind einzelne Theile derselben schon früher vorhanden gewesen, sind diese Bücher aus fortlaufender 27 Fragen] folgt die denen
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Erinnerung oder früher gesammelten Materialien entstanden oder sind sie ganz oder theilweise schon [als] Zusammenstellungen vorhanden gewesen, bestimmter, ausgearbeiteter Materialien, so ist diese Frage nicht in unserm Gebiet, denn die philologische Kritik geht nicht über das Dasein einer Schrift hinaus. Dies sind nun Aufgaben eigenthümlicher Art, die nicht viele ihres Gleichen haben, aber es sind doch Analogieen dazu, wie die große Homerische Frage, ist das Ein Gedicht, das mit der Absicht Eins zu sein von Einem successive gedichtet ist oder ist es Zusammenstellung einzelner Stücke und ist das Ganze später als die einzelnen Theile? so haben diese Fragen mit jenen Verwandtschaft. Wo ist nun eine Methode sie zu lösen zu finden, wenn wir die philologische Kritik auf diese Weise beschränken und das müssen wir, wenn wir sie irgend als eigenthümliches Gebiet angesehn wissen wollen? Wohin gehören diese Aufgaben? Sie gehören in das Gebiet der historischen Kritik, welches eigentlich mit Ermittlung von Thatsachen zu thun hat; die Frage kommt dann so zu stehn: Die philologische Kritik führt uns zurük bis auf das anerkannte öffentliche Dasein dieser Schrift, so weit sie kann, kann uns eigentlich aber nicht zurükführen auf das abgesonderte Dasein einzelner Schriften, denn von da an ist keine vollständige Geschichte der Zusammenfassung derselben in das N.T., sondern es sind nur Fragmente der Geschichte mit bedeutenden Lüken, das Resultat fehlt ganz, denn wir haben wohl die Sammlung, wissen aber nicht wie sie entstanden; die Fragmente sind diese, das N.T. ist nicht immer so gewesen, wie früher es gewesen darüber haben wir einzelne Data, das sind die Fragmente; wie uns aber aus jenen Differenzen diese Einheit ist gewonnen worden, darüber fehlt der historische Zusammenhang. So ist die erste Frage, wie diese Thatsache, die Identität der Einheit in der ganzen christlichen Kirche geworden. Diese ist nicht jenseits der Urkunden, denn es gibt noch Abschriften des N.T.’s, die den unvollständigen Zustand bezeugen, wie bei der Peschitto (der syrischen Uebersetzung), aber die Lüke wird doch nicht ausgefüllt, ungeachtet sie noch in der Zeit unsrer Urkunden liegt. Geht man noch weiter zurük und fragt nach der Entstehung der einzelnen Schriften, so ist diese Frage wiederum nicht so vereinzelt, daß sie nur auf die synoptischen Evangelien sich bezöge, sondern in anderm Sinne auch auf alle N.T. Bücher, denn fragt man wo und wie die einzelnen Briefe entstanden so ist dieselbe Frage da, die aber in die historische Kritik gehört. Die Frage: haben die Annahmen Werth, daß jene synoptischen Evangelien nicht auf die gewöhnliche Weise entstanden sind? Diese Frage ist auch rein historisch und 29–30 Heute ist die Form ,Peschitta‘ gebräuchlicher.
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so hat sich ein Gebiet von Aufgaben in dieser Beziehung gebildet und nicht im N.T. allein, was wir von dem der eigentlichen philologischen Kritik sondern müssen und nach den Principien der historischen Kritik entscheiden. Diese ist nichts Andres als die Kunst eine Thatsache zu restituiren, so daß sie gleichsam vor unsern Augen geschehe und zwar kommt es darauf an, die Thatsache auf diese Weise zu restituiren entweder aus mangelhaften Zeugnissen oder nicht übereinstimmenden, also auf dem Wege der Ergänzung im einen, und der Ausgleichung im andern Falle; beide Aufgaben können auf diesem Gebiete vorkommen. Nehmen wir zB die Homerische Frage, und lassen es auch ganz unentschieden, ob wir voraussetzen können, daß zu der Zeit, in welche der gesetzt wird, dem wir diese Werke beilegen, er des Schreibens kundig gewesen und er selbst habe schriftlich seine Schriften abfassen können, so behaupten wir doch mit Recht, daß sie von jenem Punkte aus nicht durch die Schrift allein erhalten und vervielfältigt habe werden können; die Mittel dazu und die Möglichkeit der Verbreitung auf dem Wege der Schrift fehlt ganz bestimmt, es folgt aber, daß die Verbreitung auf dem Wege mündlicher Ueberlieferung größer gewesen; mündlich konnten sie aber nicht als Ein Ganzes überliefert werden; da ist von selbst deutlich, es konnte in Einem Acte nicht geschehn; so wie man aber an eine Zertheilung denkt, so ist es nothwendig eine vollständige wie eine unvollständige Ueberlieferung anzunehmen. Das führt auf das Positive eines einzeln überliefert werdens einzelner Theile. Das Factum muß also aus mangelhaften Nachrichten ergänzt werden, das ist die Aufgabe und sie finden wir vollständig im Gebiete der Literatur. Ebenso die Aufgabe der Ausgleichung der Ausmittlung einer Thatsache aus differenten Zeugnissen. Diese kommt beständig und überall in der Geschichte vor, und das ist das eigentliche Gebiet der historischen Kritik. Wir haben dies von der eigentlichen hermeneutischen Operation gesondert, und das ist auch nothwendig, aber man muß sich bewußt sein, daß diese ihr Ziel nicht erreicht, wenn die Operation der historischen Kritik nicht geschehn. Die unmittelbar hermeneutische Aufgabe ist gelöst, wenn ich weiß, wie der Geschichtschreiber die Sache sich vorstellt; will ich aber Gebrauch von ihm machen, so bin ich mit Lösung der hermeneutischen Aufgabe noch nicht am Ziel und so werde ich die historische Kritik gebrauchen, die an Jene sich genau anschießt. Diese Aufgabe ist immer zu lösen in Beziehung auf alles Geschichtliche darin, durch Ausgleichung und Ergänzung in Beziehung auf die Geschichte Christi aus den 4 Evangelien. Durch Ergänzung ist zu lösen, wenn wir uns das Factum der Verbreitung des Christenthums innerhalb des Zeitraums, den die ApostelGeschichte umfaßt, klar machen
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wollen, denn sie nur gibt historische Data, außerhalb sind deren wenige; so ist da eine Thatsache die durch Ergänzung vollständig ausgemittelt werden kann, und das ist die Kunst, zwischen zwei getrennten Punkten, Elementen auf wahrscheinliche Weise die Mitte auszufüllen. Das ist die Aufgabe der historischen Kritik, die unmittelbar an die hermeneutische Aufgabe sich anschließt. Nun ist die Aufgabe in Beziehung auf die synoptischen Evangelien ganz eigner Art, weil sie schon die hermeneutische Operation selbst afficirt; nämlich da ist die Sache so: Wenn wir das betrachten, was für verschiedene Hypothesen über Entstehung dieser Bücher in Beziehung auf die Uebereinstimmung und Differenz in derselben ist aufgestellt worden, so sind darunter solche, die die Einheit des Buchs bis auf einen gewissen Grad aufheben, nämlich sagt man, sie sind entstanden aus der evangelischen Ueberlieferung, die nur einzelne Züge gibt, schriftlich oder mündlich, daraus haben verschiedene Personen auf verschiedene Weise ein Ganzes gemacht, so fragt sich, ob diese schriftlich vorhandenen Erzählungen aufgenommen sind wie sie waren oder ob sie in eigner Schreibart gegeben sind? so wie Wahrscheinlichkeit für das Erste ist, so hört die Einheit der Schriften in Beziehung auf das allgemeine philologische Interresse auf und die hermeneutische Aufgabe muß auf andre Weise gelöst werden; es bildet die Schrift nicht Ein Gebiet von Analogien des Sprachgebrauchs, wenn sie nicht von Einer Hand ist; es ist also der Gebrauch derselben sehr unsicher. Das also ist eine zusammengesetzte Aufgabe die auf der eigenthümlichen Beschaffenheit dieser Bücher beruht und so in keinem Literaturgebiet völlig ihres Gleichen hat; Analogien gibt es wohl aber von solcher Complication nicht. Nun wird Niemand behaupten, es sei gleichgültig, ob diese Aufgaben gelöst werden oder nicht; das geht deswegen schon nicht, weil sie die hermeneutische Operation afficiren, ja die Sache ist noch anders, wenn wir davon ausgehn, die hermeneutische Aufgabe in Beziehung auf diese Schriften so vollständig als möglich zu lösen und insofern werden wir wünschen, daß Jeder das Ganze auf seine Weise bearbeitet habe, um Einheit in Beziehung auf die Sprache zu haben, bedenken wir aber, daß viele Reden Christi darin sind, die so ganz eigenthümliche Autorität haben, so wünschen wir, diese Reden zu haben vollkommen so wie Christus sie gesprochen. Dieses Interresse ist dem vorigen entgegen, denn während wir dort wünschten, daß er diese Materialien seiner Eigenthümlichkeit gemäß möchte bearbeitet haben, wünschen wir hier, daß der Evangelist sie gegeben wie sie ihm überliefert sind und daß diese Ueberlieferung vollkommen sicher sei. So ist ein ganz entgegengesetztes Interresse daran, es kommt aber nicht darauf an, was wir wünschen, sondern zu ermitteln, wie die Sache wirk-
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lich liege, um zu sagen hier ist der Grad der Zuverlässigkeit, mit der die Rede Christi überliefert ist, so oder so. Ungelöst dürfen diese Aufgaben nicht bleiben, und so lange die Sache nicht entschieden ist fehlt Wesentliches in Beziehung auf den Gebrauch des N.T.’s, nämlich in Beziehung auf die vollkomne Sicherheit desselben. Dann fragen wir aber, liegen die Aufgaben wirklich vor? was freilich sehr sonderbar klingt, wir müssen sie aber stellen, weil sich nachweisen läßt, daß die Fragen lange Zeit hindurch nicht gewesen, und indem wir so zwei Perioden unterscheiden können. Da ist zu berücksichtigen, ob sie mit Recht aufgeworfen sind oder nicht und dann erst können wir fragen, was für Methoden lassen sich aufstellen, um der Beantwortung der Frage möglichst nahe zu kommen? Die eigentlich in die historische Kritik gehörigen Fragen in Beziehung auf das N.T. werden gewöhnlich in der Einleitung zum N.T. behandelt, das ist nun eine Wissenschaft die eine Grenze gar nicht hat, in die man werfen kann was man will, da ist auch von einem Zurückgehn auf Principien gar nicht die Rede, sondern die Sache wird behandelt nach Maßgabe des jedesmaligen Zustandes. Es fragt sich, wiefern gibt es solche Principien; wenn wir die Aufgabe so fassen, wie sie hier vorkommt in der nächsten Grenze, so ist es auf Wiederherstellung einer Thatsache aus mangelhaften oder widersprechenden Indicien oder Zeugnissen abgesehn, da ist keine andre Methode, als was Jedem nach seiner Besonderheit als das Wahrscheinliche sich darstellt. Bleibt man dabei stehn, so erhielte man nur Ohngefähres, man wird sich der Sache zwar bald mehr nähern, bald auch mehr von ihr entfernen können, und so wird es wünschenswerth auf festeres Objectives zurükgehn zu können. Wenn die Differenz zwischen philologischer und historischer Kritik so festgestellt würde, daß die erste immer auf die Documente, als das Früheste oder rükwärts gerechnet das Letzte zurükgeht und was drüber hinaus zu ihrem Gebiete nicht gehört, so ist nach dieser Seite hin dieses Letzte der Anfang für die Aufgaben der historischen Kritik. Fragen wir, kann es irgend zur Wiederherstellung einer Thatsache, mit der es so steht, eine bestimmte Methode geben, so ist die Frage freilich so gleichsam ohne alles Fundament, völlig isolirt und schwebt in der Luft; gehn wir davon aber aus, daß eine Thatsache ein Einzelnes ist in einem Ganzen, so entsteht die Frage, ist dieses Ganze nur ein bloßes Aggregat von solchen Einzelheiten, und wollte man das bejahen, so höbe man alle Geschichte eigentlich auf, jedes geschichtliche Moment in seiner Totalität wäre ein zufälliges, und jede Entwicklung eines Punkts in einer Zeitreihe nur zufällig; das kann nie gesagt werden, und so ist klar, daß das Ganze, wohin eine Thatsache als Einzelnes gehört, sich als Etwas muß auffassen lassen für das Urtheil; jeder Gesammtzustand
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muß in gewissem Grade eine Einheit sein, und die einzelnen Thatsachen sich in ihm begreifen lassen. Soll die Thatsache aus solchem Zustande wie das gegebene sich herstellen lassen, so kommt es darauf an, den Gesammtzustand, in den die Thatsache gehört, aufzufassen. Stellen wir die Frage, wie die synoptischen Evangelien entstanden, da ist die Entstehung derselben solche problematische Thatsache und das Nächste was zu leisten ist, wäre den Gesammtzustand sich vorzustellen, in den diese Thatsache gehört. Da ist aber wieder eine Unbestimmtheit in der Aufgabe, weil wir die Zeit nicht wissen und nicht angeben können, in der sie entstanden; wir wissen nur, daß zu einer Zeit wir sie finden, und zwar im jetzigen Zustande; wie lange aber sie vorher so gewesen, wissen wir nicht. Bleiben wir bei der frühesten letzten documentirten Thatsache, so finden wir diese Bücher nie einzeln erwähnt, auch kein einzelnes Vorkommen derselben, sondern diese 4 immer zusammen. Anzunehmen, sie wären Theile eines Ganzen und zusammen gefertigt, wäre offenbar unmöglich, es ist also klar, sie sind einzeln gewesen, da ist aber geschichtliche Lüke, denn über das einzelne Dasein wissen wir Nichts, von da an rückwärts ist also Ungewißheit, und die erste Aufgabe ist die, ebenso vom ersten Anfange an einen Punkt zu finden in der Zeit, welcher der Entstehung dieser Bücher der nächste ist und wie jener documentirt ist; somit ist die Unbestimmtheit in gewisse Grenzen eingeschlossen. Wir fangen mit dem Leben Christi an, wobei aber das Schlimme ist, daß die Nachrichten davon in eben diesen Büchern stehn, indeß hindert das nicht, denn das Dasein der Person ist ohne diese sicher genug bezeugt; das Leben der Person Christus, mit ihren nächsten Umgebungen würde auch ohne diese Evangelien eine bezeugte Thatsache sein denn die andern N.T. Bücher wären doch und diese sind ursprünglich von Jenen unabhängig; man müßte denn annehmen, daß auch diese als Theile eines Ganzen gemacht wären, das N.T. also ein Gemachtes, und dadurch ein großer Betrug wäre. Nun haben wir aber bezeugt eine von jenen abgesonderte Sammlung, den Canon des Marcion, und wiewohl dieser andre Schriften enthält, so ist doch die aus ihm constirende Thatsache Begründung der geschichtlichen Erscheinung. Wenn wir von da hinabsteigen um bezeugte Thatsachen zu haben, die älter sind als unsre Evangelien, so finden wir eine merkwürdige Thatsache. Offenbar sind mehre Briefe des N.T.’s zu der Zeit des Cesar Nero geschrieben; dagegen ist nun eine Thatsache, daß
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viele behauptet haben, das Evangelium Matthaeus sei geschrieben im 48ten Jahre unsrer Zeitrechnung; diese Thatsachen in Verbindung gesetzt geben Merkwürdiges, weil unter dieser Voraussetzung das Evangelium bedeutend älter sein würde als diese Briefe, in den Briefen aber ist keine Spur daß der Apostel Paulus eine Schrift von diesem Umfange und Inhalt gekannt habe. Ist es nun wohl wahrscheinlich, daß beides wirklich so zusammen gewesen? Wir wollen den Gesammtzustand aus gewissen Elementen zusammengesetzt uns denken, von denen das Eine bezeugte Thatsache, das Andre in Beziehung auf die gesuchte Thatsache nur Hypothese ist. An diesem Fall können wir nun die Principien der historischen Kritik vollständig entwickeln. So wie wir Punkte haben, die zur Aufgabe gehören, und die wenn wir sie zusammennehmen einen Gesamtzustand bilden werden, so müssen wir fragen, läßt er als Einheit sich denken oder nicht? Das ist die Art und Weise, wie man in Beziehung auf solche streitige Punkte zur Ausmittelung der Thatsache zu verfahren hat. In unserm Falle nun kann ich mir denken den Apostel Paulus in seiner Gesammtthätigkeit und solche Schrift schon geraume Zeit vorhanden, ohne daß in seinen Schriften Notizen davon sich fänden, kann ich mir das als Gesammtzustand denken, so ist jene Hypothese möglich; läßt sich das aber nicht aus dem Gesammtzustande construiren, so fällt die Hypothese weg. Nun sehn wir wie man dabei zu Werke gehn muß. Lassen sich diese beiden Punkte zusammendenken, und unter welcher Voraussetzung würden sie es? wenn man zeigen könnte, der Apostel Paulus könne sehr gut ohne alle Notiz von jenem Buche geblieben sein, oder es wäre möglich, daß er davon Notiz gehabt hätte, daß aber Nichts in seinen Briefen vorkomme, wenn Eins von diesen beiden sich denken läßt, so läßt sich auch beides zusammennehmen, die Hypothese ist möglich. Nun ist aber die Chronologie des Apostels Paulus noch sehr vielen Zweifeln unterlegen und die Frage in welchen Zeitpunkt seiner Wirksamkeit seine Schriften fallen, ist im Allgemeinen noch nicht vollständig beantwortet; dem ungeachtet stellen wir die Frage, ist das möglich daß er keine Notiz davon sollte gehabt haben, so müssen wir es leugnen. Denn wie dieselbe Hypothese davon ausgeht, daß in Palaestina es geschrieben, und wenn das auch nicht der eigentliche Kreis der Wirksamkeit des Paulus war, so steht es doch sehr im Zusammenhange damit, und wenn es nicht ausdrüklich latitirt hätte, verborgen gewesen wäre, so mußte er Notiz davon haben; Jenes ist aber sehr unwahrscheinlich; für die Christen war es nur, denn den Charakter zum Christenthum anzureizen hat es nicht, sondern ist nur geschrieben 17–18 seinen Schriften] seiner Schriften
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um die Thatsachen zu fixiren. Dabei mußte in Jerusalem es durchaus bekannt sein, wenn es in Palaestina entstand, und so ist nicht zu denken daß es dem, eigentlich allein literarischen, Apostel unbekannt geblieben; das streichen wir also durchaus, er muß, wenn es dort geschrieben, Notiz davon gehabt haben. Läßt sich denken, er habe Notiz davon gehabt, in seinen Schriften es aber nicht erwähnt? Das ist auch nicht zu denken. Da kommt es darauf an die Punkte anzugeben, aus denen solch Gesammtzustand zusammengesetzt sein mußte. Wäre die christliche Kirche voller Evangelien gewesen, so wäre es nicht nothwendig davon zu reden; aber das ist nicht vorauszusetzen, denn das Evangelium war eine Zeit lang als erstes, einziges gedacht und da sollte man denken können, der Apostel habe nicht davon geredet? Hatte er in Beziehung auf das Buch Etwas zu thun oder nicht? kein Mensch wird wohl für die Negation sein, denn war es die einzige Abfassung des Lebens Christi und Paulus stand an der Spitze eines großen Kreises von Gemeinden, deren Zusammenhang mit Palaestina er vermittelte, so war seine Pflicht es zu verbreiten, also damit zu thun hatte er. Ferner wenn er gewisse Gegenstände davon in seinen Briefen abhandelt, war Gelegenheit genug davon zu reden und der Gesamtzustand und mehre Stellen in den notorisch späteren Briefen, in denen er von dem innern Zusammenhange der Christen und ihrem gemeinsamen Leben redet, machten es ihm zur Pflicht davon zu reden, wie er denn auch besonders wo er von den Versammlungen der Christen u.s.w. redet genugsame Veranlassung hat, auch von jenem Buche zu reden und wo er auf frühere Thatsachen zurükgeht, es anzuführen, und jede Anführung wäre somit ein Theil seiner Pflichterfüllung gewesen. Die Erwähnung desselben ist durchaus nothwendig anzunehmen und zumal er besondre Veranlassung dazu hatte, wenn er sich über die Auferstehung Christi z. B. auf Thatsachen beruft, hätte er sich da nicht auf eine Schrift berufen sollen, die seine Pflicht war bekannt zu machen, wie doch Jenes bei Aussprüchen oder Thatsachen aus Christi Leben wohl sehr natürlich ist? Es läßt sich das durchaus nicht annehmen. In demselben Maße als solcher Gesammtzustand nicht zu denken, der Zusammenhang des Apostels mit allen Gemeinden steht aber fest, so müssen wir jene Hypothese streichen, daß zu der Zeit das Evangelium verfaßt sei. Das ganze Verfahren aber in dieser Beziehung muß immer darauf beruhn und die Aufgabe besteht darin, in Beziehung auf die streitige Frage einen Gesammtzustand zu construiren, in dem man feste Punkte hat um das Zweifelhafte zu beurtheilen, in sofern sie in Einen Gesammtzustand zusammengehn oder 30 wohl] folgt Jenes
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nicht. So findet man ein ganz andres Verfahren für jene Aufgaben, denn bisher und auch jetzt glaubt man genug gethan zu haben, wenn man nur eine einzelne Möglichkeit nachgewiesen hat, die aber durchaus in der Luft schwebt, aber einen Gesammtzustand zu construiren wird ganz aus den Augen gelassen. So ist’s ergangen in dem Streite über die Aechtheit des 1ten Briefs an den Timotheus. Schleiermacher ging überall davon aus, den Gesammtzustand, der gewesen sein mußte, wenn ihn der Apostel geschrieben darzulegen und so die einzelnen Umstände zu beurtheilen, dagegen der selige Plank der Jüngere dem Einzelnen eine andre Einzelheit entgegen zu stellen suchte aber seine Einzelheiten in einen Gesammtzustand zu bringen ist ihm nicht eingefallen. Das ist ein Verfahren das von der Vorstellung einer Zufälligkeit ausgeht, es ist die Maxime, das Einzelne aus einem Gesammtzustande zu erklären und das Einzelne auf einen ebenso haltbaren Gesammtzustand zurükzuführen die einzig richtige Maxime. Nun stellt sich die Sache hier noch anders wenn man auf das Verhältniß der 3 synoptischen Evangelien zusammen sieht. Da ist die Frage wie soll man sich denken, daß solche Uebereinstimmungen und Differenzen entstanden, wie, daß bei solchen Büchern, die in solchem Verhältnisse zu einander stehn und dieselben Gegenstände behandeln, solch Resultat kann hervorgegangen sein? sollen die verschiedenen Hypothesen begründet sein, so muß man sie auf den Begriff eines Gesammtzustandes zurükführen können. Die eine Hypothese lautet so, das Evangelium Matthaeus ist das älteste, wie es auch vorn steht, dann folgt Marcus der Zeit nach, der hat Jenen benuzt, dann Lucas, der hat beide benuzt. Wie sollen wir uns [und] woher den Gesammtzustand denken, in dem das geschehn? Wie müssen die Zustände der Christen gewesen sein, wenn nachdem das Evangelium Matthaeus vorhanden war, hinreichender Grund gewesen sein sollte, noch das Evangelium des Marcus zu schreiben? wie ist die Differenz zwischen beiden und war sie der Mühe werth, ein Buch zu schreiben? wie stehn beide Verfasser in Beziehung auf ihre Localität zu einander? konnte das Evangelium Matthaeus nicht dahin kommen, wo Marcus war und schrieb dieser also deswegen das seine? Stand die Sache so und es kommt dazu, daß nur ein sehr geringer Zeitraum zwischen diese 3 Evangelien gestellt ist, [die] sehr nahe zusammenstehn und wir fragen, welches muß der Zustand der christlichen Kirche gewesen sein, 5–11 Schleiermachers Schrift ,Ueber den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos‘ (1807, SB 1717) wird von Heinrich Planck diskutiert in seinen ,Bemerkungen über den ersten Paulinischen Brief an den Timotheus‘ (1808; SB 1485); ausführlich dazu H. Patsch in der Einleitung zu KGA I/5. 16 Statt ,zusammen‘ lies ,zueinander‘. 22–24 Zur Hugschen Hypothese siehe Schleiermachers ,Ueber die Schriften des Lukas‘ (1817), KGA I/8, S. 11 samt Kommentar.
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wo diese so kurz hinter einander entstehn konnten; so müssen wir entweder ungeheuren Mangel an Communication oder ungeheure Lust zum Schreiben annehmen. Beides stimmt indeß nicht mit dem, was wir aus damaliger Zeit wissen, der Mangel an Zusammenhang zwischen den Gemeinden existirt nicht mehr so, und das Schreiben hat erst später zugenommen, und es ist so keine Zeit, in der die Sache so könnte vorgegangen sein, wenn man sich nicht die Einheit des Bildes zerstören und die offenkundigen Elemente abläugnen will; also diese Hypothese streichen wir und suchen eine andre. Alles Gesagte ist aber nur Maxime der Beurtheilung, nicht der Erfindung; wäre es nun nicht besser, daß solche unhaltbare Hypothesen gar nicht entstanden wären? Ganz gewiß, wie kann man aber auf das Richtige kommen? Nur dadurch, daß man von oben herab heruntersteigt und von dem ersten Anfange ab in genauer Entwiklung der christlichen Zustände bleibt. Was ist uns hier nun gegeben in dem was wir von den Zuständen bezeugt wissen? Wir können nur das annehmen, daß einzelne Elemente mündliche und schriftliche aus dem Leben Christi vor der Zeit der Evangelienschreibung gewesen und die Evangelien sind Producte von jenen, und alle unmittelbare Beziehung des einen Evangelii auf das andre ist überflüssig und nicht anzunehmen; die Schreibung derselben wird aber hinuntergerükt (ist also später), wo sie in den Verhältnissen der christlichen Zustände selbst ihren Grund hat. Wir wollen das Entwickelte noch einmal zusammenfassen als einzige Methode nach der solche Fragen der historischen Kritik beantwortet werden können. Kommt es auf Ausmittelung einer Thatsache an, von der allemal mehre einzelne Momente gegeben sein müssen, so ist eine Entscheidung nur möglich, wenn man einen Punkt hat, von dem man ausgehn kann und von der andern Seite einen, der aus dem Zusammenhange mit dem was zu erklären ist, hervorgegangen, den wir aber kennen; es muß die Thatsache zwischen zwei bekannten liegen, es muß in dem Ort, bis zu dem die Thatsache zusammenhängend verlaufen ein früherer bezeugter Gesammtzustand Statt finden, und es muß einen spätern bezeugten Punkt geben, der diesseit der Thatsache liegt und ein gehörig bezeugter Gesammtzustand ist. Da werden, so wie eine streitige Thatsache ist, so auf diese doppelte Probe die verschiedenen bekannten Momente sich erklären lassen zusammen mit dem früher bezeugten Gesammtzustande, so daß zu denken ist, wie die Thatsache aus ihm hervorgegangen und zu denken wie die Thatsache dem spätern bezeugten Gesammtzustande vorangegangen. So wie diese beiden Resultate überhaupt gewonnen sind, so wie sich die Sache so denken läßt als Folge des frühern Gesammtzustands und Grund des spätern, oder indem sie aus Jenem hervorgegangen sie auch Diesen vermittle, so ist
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das eine Erklärung, wie sie irgend möglich ist. Sobald freilich neue Elemente der Thatsache zum Vorschein kommen, so muß die Untersuchung erneuert werden. Dies ist die einzige Methode, die, wie nothwendig ist, jede Thatsache als Theil der Geschichte ansieht und da ist nothwendig das Zurükgehn auf Früheres und Fortschreiten zu Späterem. Hat man ganz genaue Punkte zu demselben Ganzen, so ist das als zur Thatsache selbst gehörig anzusehn, und um so bestimmter kann die Entscheidung werden; übrigens aber ist jedes andre Verfahren nur aufs Geratewohl; aber es ist dies richtige Verfahren im Gebiete der N.T. Aufgaben noch sehr wenig angewendet, man [hat] sich mit anderem begnügt, und das hängt zusammen mit der Art der Behandlung der eigentlich kritischen Aufgaben und hier ist eine Analogie, die durch das Ganze sich durchzieht. Das Erste, eigentlich freilich das Unverantwortlichste und Unbegreiflichste, was mir zugleich den ganzen Charakter der Sache deutlich ins Licht setzt ist das Verfahren mit dem N.T. Text, wobei die recepta zum Grunde gelegt wird. Darin liegt ein ganz unwissenschaftlicher und auf alles Urtheil Verzicht leistender Respect vor einer Ueberlieferung, die so durchsichtig ist, daß ihre Nichtigkeit Niemandem entgehn kann, die nur auf die mechanischste Weise, durch die Quantität der Pressen ist überliefert worden; denn der Zeitpunkt zwischen der Entstehung derselben aus einem ganz desultorischen Verfahren, wie es der ersten Zeit der Druckerpressen angemessen war und den ersten kritischen Bestrebungen, wobei sie zum Grunde liegt, ist nicht so groß, daß wir nicht wüßten, wie dieser Text entstanden; dann aber weil schon eine so große Menge von Auflagen waren, so trat der Respect vor der Ueberlieferung ein. Wie sollen nun die Fragen in Beziehung auf die Aechtheit der N.T. Schriften behandelt werden? Wenn wir die Stellung betrachten, in welcher die Kritik sich befindet, so ist die Sache so: es ist eine bezeugte Thatsache, daß gewisse Theile des N.T. Canon’s zu einer gewissen Zeit noch sind in manchen Theilen der christlichen Kirche für unächt gehalten; das ist bezeugte Thatsache; das später bezeugte ist, daß der Canon in der christlichen Kirche so übereinstimmend sich findet, wie er es werden konnte, nachdem diese Schriften als ächt anerkannt waren. Wir können freilich hier noch eine Duplicität unterscheiden an die man damals gar nicht dachte, nämlich das Interresse an den Urhebern der Schriften sofern sie Apostel waren und an den Schriften sofern sie kanonisch waren, was damals gar nicht unterschieden wurde, denn wenn man geglaubt hätte, der zweite Brief Petri sei nicht von Petrus, so wäre er auch nicht aufgenommen, wogegen 5 zu Späterem] über auf Späteres
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hätte man das nicht geglaubt, man auch nie den Brief aufgenommen haben würde. Die später bezeugte Thatsache ist die, daß diese Schriften allgemein in den Canon gekommen sind, daß von beiden streitenden Partheien die die Oberhand gewonnen, die diese Schriften für ächt ansah. Wie das zugegangen fehlt die Geschichte und Jeder, der die Frage behandelt, weiß dies sehr gut, wenn nun aber die Frage aufs Neue verhandelt wird, so wird die Sache so gestellt, als ob es ein Proceß wäre, daß die, die die Aechtheit behaupten ihn schon gewonnen, und die ihn bekämpfen, denen liegt ob erst zu beweisen; es waltet also da ob, daß wie oben das Auge bestochen wurde, so hier durch die Ueberlieferung das Urtheil bestochen ist, und man führt das Recht der Verjährung an, wo es sich nicht um ein Recht sondern eine Wahrheit handelt, es ist der Respect vor der Ueberlieferung und gut Deutsch benannt ist es ein katholisches Verfahren, denn das Innere dieses Respects ist das Gespenst der erscheinenden Kirche; es ist das eigentlich ein Verfahren, wobei man sich noch nicht losgemacht von der katholischen Voraussetzung eben der Autorität der Kirche, ungeachtet wir sie als Protestanten behandeln und bevor nicht der Respect aufhört, kann eine wissenschaftliche Behandlung nicht durchgreifen. Wie soll diese Angelegenheit gestellt werden? Also diese Zumuthung, daß wer die Aechtheit anfechte, den Beweis zu führen habe, führt offenbar dahin, daß der die Aechtheit vertheidigt nur die Defensive zu halten braucht, und so wird sie gehalten, daß Statt auf Thatzustände zurükzugehn man nur einzelne Momente anführt ohne zu zeigen, daß diese auch zusammen reimen, man stellt in der Defensive nur einzelne Möglichkeiten entgegen; wie soll es eigentlich sein? Es kommt darauf hinaus; was eigentlich dabei zu erklären ist, ist die Thatsache, daß die Ansicht in der Kirche, welche die eine Parthei über die Schriften hegte, von der andern bekämpft wurde; das ist die ursprüngliche Thatsache, die Schriften sind da von Einigen anerkannt, von Andern nicht, und da müssen wir auf das Wahrscheinlichste zurükgehn, auch eine Wahrscheinlichkeitsberechnung anstellen bei der Betrachtung des Frühern und Spätern, ob sie mehr ächt oder unächt scheinen. Behandeln wir diese zwei Meinungen wie zwei Lesarten, wo wir fragen, welches ist wohl wahrscheinlich die ächte, so fragt es sich hier, welche hat wohl mehr für sich? Hätten wir die Gründe in gewisser Vollständigkeit voraus, warum Jene sie damals nicht für ächt gehalten und warum Diese für ächt, so brauchten wir diese nur zu prüfen. Davon ist aber wenig übrig und so müssen wir die Sache nach der Wahrscheinlichkeit beurtheilen. Was haben wir in jenem Zeitpunkte überwiegend vorauszusetzen; Verlangen nach heiligen Schriften oder Vorsichtsmaßregeln in Beziehung auf dieselben? Das Erste im
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Gesammtzustande offenbar die überwiegende Neigung, sie also haben weniger besondre Gründe nöthig gehabt, die diese Neigung theilten, Schriften als ächt anzusehen, wogegen die den Zweifel hatten auch besondre Gründe gehabt haben müssen; so lange also nicht weitere Entscheidungsgründe sind, sondern bloß diese beiden Momente zusammengestellt sind, so sind des Zweifelnden Gründe als besser denn die des Annehmenden anzunehmen, und sobald ÐnurÑ jene Thatsache ist, so ist die allgemeine Annahme nur eine Folge der vorherrschenden Neigung. Dazu kommt der Gegensatz zwischen dem Orthodoxen und Katholischen auf der einen Seite und dem Haeretischen auf der andern, und da ist nun ein andres Moment, das in gewisser Beziehung Contraindicationen enthält, das ist das: Die Consolidation der Kirche war in dem Katholischen die herrschende Richtung, und diese steht mit dem Verlangen in Verbindung ein corpus von heiligen Schriften zu consolidiren, wobei die Richtung indeß war, möglichst das Haeretische zu vermeiden. So sagen wir, es gab auch Schriften, die auch in vielen Gemeinden gebraucht wurden und Anspruch machten in den Canon aufgenommen zu werden, wie jene zweifelhafte; diese wurden aber aufgenommen, jene ausgeschieden, wie erscheint nun der spätere Zustand als Gesammtresultat dieser beiden, das Verlangen einer jeden Gemeinde Alles zu haben, was irgend in einer andern Gemeinde als heilig gegolten, hat in allen Fällen gesiegt wo in den zweifelhaften Schriften nichts Haeretisches war, in allen Fällen wo in diesen anzunehmenden Schriften Haeretisches war, hat das Andre, das katholische Interresse gesiegt und sie sind fortgelassen. So ist die Sache nicht grade damals aus den rechten Gründen betrachtet, sondern recht eigentlich als Tausch; damit die Einen fahren ließen was die katholischen als haeretisch behaupteten, so nahmen die auf das katholische sahen, um Jenes nur zu erlangen, diese zweifelhaften an. Nun kommt die Frage so zu stehn, daß aus innern Gründen sie muß entschieden werden und wir fragen, was hatten die für Gründe, die die Schriften annahmen und die sie bezweifelten? Da setzt das bezweifeln immer eine kritische Richtung voraus, die Annahme nicht. Könnten wir Facta beibringen und ausmitteln, woher diese Schriften zuerst gekommen und woher sie sich verbreitet, so könnten wir den Beweis aus wirklich bezeugten Thatsachen führen, so lange nicht aus innern Gründen. Nur muß die Sache nicht behandelt werden, wie wo Respect vor der Ueberlieferung ist, sondern nach jener Methode, wo Alles in Verbindung und in Beziehung auf den Gesammtzustand behandelt wird und Nichts isolirt. In Beziehung auf die philologisch-historisch kritischen Aufgaben gibt es noch ein andres impedimentum, das ist der Uebelstand der in demselben Fehler seinen Grund hat,
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nämlich wenn wir betrachten, woraus die herrschenden Vorstellungen vertheidigt zu werden pflegen, so kommt das immer darauf zurück, daß Vieles als Zeugniß angesehn wird, was nur Meinung gewesen. Dabei mag meine Meinung kategorisch genug genannt werden, aber nehmen wir einmal das Factum der zweiten Gefangennehmung des Apostels Paulus, das erklären die Meisten für eine bezeugte Thatsache, genauer nachgesehn fehlt das eigentliche Zeugniß ganz und gar, denn wäre das da so würde man angeben können, nach der Gefangennehmung, die die ApostelGeschichte erzählt, hat der Apostel noch dies und das gethan; es gibt freilich Nachrichten aus späterer Zeit, und wären sie anzunehmen als wahr, so wäre jenes Factum freilich bezeugt, aber dergleichen gibt es nicht. Geht man der Sache näher auf den Grund, so ist die Erklärung sehr leicht, Es sagt der Apostel was er vorhabe, er redet von einer Reise nach Spanien, und nun, da er ein inspirirter Mann war und schrieb daß er reisen werde, so ist er auch gereist. Vor der Roemischen Gefangennehmung ist das nicht geschehn also nachher, also ist er aus jener wieder losgekommen. Zu dieser Argumentation kommt dann ein zweites Moment, und da sieht man recht, wie es der Kritik geht, wenn man ihr nicht reines Feld läßt, dann arbeitet sie nur gegen sich selbst. Es waren manche Zweifel gegen manche Paulinischen Schriften erhoben, weil man sagte, es kämen darin Punkte vor die sich aus dem bekannten Gesammtzustande, aus dem Leben des Apostels nicht erklären lassen. Wenn aber nur die ApostelGeschichte Nichts von jenen Punkten sagt, so ist das noch kein Grund, denn die Nachrichten von dem Apostel haben große Lücken; aber wenn gegen bestimmte Nachrichten Contraindicationen vorkommen in des Apostels Schriften, so sind diese eben aus jenem Gesammtzustande nicht [zu] begreifen, sie können auf diese Weise nicht entstanden sein. Nun war die Befreiung ein sehr gefundenes Auskunftsmittel; aber wir wissen von ihr gar nichts; sie sollte indessen alle Contraindicationen aufheben. Aber da dazu alle positive Indicationen mangeln und die Leichtigkeit dieser Annahme von der Theorie der Inspiration aus dazu kommt so ist das keine bezeugte Thatsache und wir können daraus keine Argumentation gestatten. Dasselbe gilt von andern Punkten, die genau genommen nichts als Meinungen sind, die man als bezeugte Thatsachen gebraucht; wenn man aber glaubt, sie seien das als Nachrichten, so ist, daß sie eben das sind, gar nicht nachzuweisen, vielmehr füllt eine Ueberlieferung auch nur oft von Meinungen die Zeit aus zwischen der Schreibung des N.T.’s, ohne aber wirklich Geschichtliches zu geben. Da muß man also vorsichtig sein, 12–13 Römerbrief 15, 24.28.
28 Statt ,gefundenes‘ ist wohl ,willkommenes‘ gemeint.
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Zweiter Teil · Vorlesungsnachschriften
wenn man frühere Nachrichten von bloßen Meinungen unterscheiden will. So werden wir vielleicht nicht dahin kommen, alle Fragen in Beziehung auf die einzelnen Bücher wie den ganzen Complexus vollständig zu entscheiden; denn es gibt manche Aufgaben, wo nicht genug Punkte gegeben sind, um zu festem Urtheile zu kommen; da bleibt Vieles gewiß 5 ungewiß und über Vieles werden wohl verschiedene Meinungen bleiben, aber durch die richtige Methode befreien wir uns wenigstens von falschen Praeventionen und machen und erhalten den Boden der Untersuchung rein. Daß Momente von Wichtigkeit, die wir noch nicht besäßen, noch sollten entdeckt werden, ist sehr unwahrscheinlich, es müßten das Schrif- 10 ten sein aus dem Zeitraume der am wenigsten historisch ausgefüllt ist, oder solche, die sichre Nachrichten von ihm erhielten; daß solche gefunden werden sollten, ist sehr unwahrscheinlich, aber darum müssen wir dennoch auf alles Streitige die richtige Methode anwenden. –
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Abkürzungen KGA SW SB
Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Schleiermacher: Sämmtliche Werke Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek. In: KGA I/15, S. 637–912 Schleiermacher Nachlaß im Archiv der BBAW (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)
SN
Editorische Zeichen { } [] 〈〉 〈〈 〉〉 ] Kursivschrift Sperrdruck
unsichere Lesart Ergänzung des Bandherausgebers Streichung des Schreibers oder Abschreibers versehentlich nicht gestrichen Seitenwechsel in der Vorlage Lemmazeichen Herausgeberrede Hervorhebung im Original
Kürzel und Chiffren in den Manuskripten Häufig sind die Kürzel LXX für Septuaginta, X für Christ(us) oder o¯ für nicht oder kein; auch h.e. oder i.e. für hoc est bzw. id est; v.c. kürzt verbi causa und meint „z.B.“; p. (pp.) steht für perge und meint usw. usf. – Bei den Nachschriften sind die in Braunes Manuskript mehrfach verwendeten Kürzel besonders lehrreich und werden hier als ein Beispiel für ähnliche Gewohnheiten zusammengestellt (wobei der Hörer die Worte mitunter auch ausschreibt); im Druck erscheinen die im Original erkennbaren Buchstaben recte, die ergänzten kursiv.
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Kürzel – ∼ = ≠ ∼ 0 ant. ch oben einfach durchstrichen ch oben doppelt durchstrichen ch unten durchstrichen dh dr Dst f einfach durchstrichen k mit Apostroph M opp. r s s einfach durchstrichen s doppelt durchstrichen s dreifach durchstrichen seq. t einfach durchstrichen t doppelt durchstrichen Vst x ? w unterstrichen
Auflösung gilt, folgt, ergibt sich, ist … ähnlich, ähnliches gleich ungleich unendlich Null vorherig nach noch auch deshalb die Rede Darstellung auf kommen, kann, können Mensch(en), Man entgegengesetzt, widerstreiten, gegenüber Rede, Rücksicht sie, sein sich selbst sind folgend mit unter Vorstellung(en); Verständniß christ, Christ Frage, fragen (etc.) wie
Literatur Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 2. Aufl., Bd 1–4. Leipzig: Breitkopf 1793–1801 Adelung, Johann Christoph: Ueber den Deutschen Styl. 3. Aufl. Bd. 1.2. Berlin: Voß 1789–1790 Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ). Jena, später Halle 1785–1849 Arndt, Andreas: Hermeneutik und Kritik im Denken der Aufklärung. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. M. Beetz und G. Cacciatore. Köln 2000, S. 211–236 – und W. Virmond: Schleiermachers Briefwechsel, Berlin: de Gruyter 1992 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 11) Ast, Friedrich: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik. Landshut: Thomann 1808 (SB 97). Bauer, Manuel: Schlegel und Schleiermacher. Frühromantische Kunstkritik und Hermeneutik. Paderborn 2011 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen (Spenersche Zeitung). Berlin 1740 ff Biblia – Baber, Henry Hervey (Hg.): Vetus Testamentum Graecum e Codice Ms. Alexandrino qui Londini in Bibliotheca Musei Britannici asservatur, typis ad similitudinem ipsius codicis scripturæ fideliter descriptum. Ed. Henry Hervey Baber. London: Taylor 1816–1821 –– Bengel, Johann Albrecht (Hg.): Novum Testamentum graecum. Tübingen: Cotta 1753 (SB 255) –– Beza, Theodor (Hg.): Jesu Christi domini nostri Novum Testamentum, sive Novum foedus. Cuius Graeco contextui respondent interpretationes duae: una, vetus; altera, Theodori Bezae. Accessit J. Camerarii in novum foedus commentarius. Cambridge 1642 (SB 251) [zuerst Genf 1565] –– Birch, Andreas (Hg.): Quatuor Evangelia Graece, cum variantibus. Bd. 1.2. Kopenhagen 1788 –– Burk, Philipp David (Hg.): Novum Testamentum graecum. Apparatus
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criticus; editio secunda … aucta et emendata. Tübingen: Cotta 1763 (SB 175) –– Curcellaeus, Stephanus (Etienne de Courcelle) (Hg.): Novum Testamentum. Editio nova. Amsterdam: Elzevir 1658 –– Erasmus (Hg.): Novum instrumentum omne. Basel: Froben 1516 –– Fell, John (Hg.): Novum Testamentum. Oxford 1675 –– Gregory, John (Joannes Gregorius) (Hg.): Novum Testamentum. Oxford 1703 –– Griesbach, Johann Jakob (Hg.): Novum Testamentum graece. Bd. 1. Halle 1777 –– Griesbach, Johann Jakob (Hg.): Novum Testamentum Graece. Textum recensuit D. Jo. Jac. Griesbach. Editio secunda. Vol. 1.2. Halle und London 1796–1806 (SB 258) –– Griesbach, Johann Jacob (Hg.): Novum Testamentum graece. Bd. 1–4. Leipzig 1800–1807 –– Griesbach, Johann Jakob (Hg.): Novum Testamentum Graece. Textum recensuit D. Jo. Jac. Griesbach. Editionem tertiam emendatam et auctam curavit David Schulz. Vol. 1. IV evangelia complectens. Berlin: Laue 1827 (SB 265) –– Küster, Ludolph (Hg.): Novum Testamentum Graecum cum lectionibus variantibus. Studio et labore Joannes Millii. Recensuit Ludolphus Kusterus. Leipzig: Gleditsch 1710 –– Lachmann, Karl (Hg.): Novum Testamentum graece. Ex recensione Caroli Lachmanni. Berlin: Reimer 1831 (SB 266) [ohne Apparat] –– Lachmann, Karl (mit) Philipp Buttmann (Hg.): Novum Testamentum graece et latine. Bd. 1.2. Berlin: Reimer 1842–50 [mit Apparat] –– Matthaei, Christian Friedrich (Hg.): Novum Testamentum XII tomis distinctum. Riga 1782–88 (SB 198) –– Mill, John (Hg.): Novum Testamentum Græcum cum lectionibus variantibus MSS. Exemplarium, Versionem, Editionum, SS. Patrum et Scriptorum Ecclesiasticorum, et in easdem notis. Oxford 1707 –– Walton, Brian (Hg.): Biblia Sacra Polyglotta. Ed. Brianus Waltonus. London: Roycroft 1655–57 (Reprint Graz 1963–65) –– Wettstein, Johann Jakob (Hg.): Novum Testamentum Graecum. Amsterdam 1751–52 (SB 254) Biel, Johann Christian: Novus thesaurus philologicus sive lexicon in LXX et alios interpretes et scriptores apocryphos Veteris Testamenti. Ed. E. H. Mutzenbecher. Bd. 1–3. Den Haag: Bouvink 1779–80 (SB 286) Birkner, Hans-Joachim: Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe zusammen mit ihren Vorläufern. In: New Athenaeum / Neues Athe-
Literatur
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Verzeichnisse
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–: Friedrich Schlegels „Philosophie der Philologie“ und Schleiermachers frühe Entwürfe zur Hermeneutik. Zur Frühgeschichte der romantischen Hermeneutik. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 63.1966, S. 434–472 [S. 465–472: Exkurs. Zur Datierung der Hermeneutik-Entwürfe Schleiermachers] Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob: Introductionis in Novum Testamentum capita selectiora. Jena: Goepferdt 1799 (SB 1437) –: Philologisch-kritischer und historischer Kommentar über das neue Testament. Bd. 1–4,1. Lübeck: Bohn 1800–1804 (SB 1439) Planck, Heinrich: Bemerkungen über den ersten Paulinischen Brief an den Timotheus. Göttingen: Röwer 1808 (SB 1485) Plato: [Opera] quae exstant graece ad editionem Henrici Stephani accurate expressa cum Marsilii Ficini interpretatione. Bd. 1–12. Biponti (Zweibrücken) 1781–1787 [Bipontina] Plato: Platonis Dialogi selecti. Hg. L. F. Heindorf. Bd. 1–4,1. Berlin: Nauck 1802–1809 (SB 1491. 2644) Plato: Platonis Dialogi graece et latine. Hg. Immanuel Bekker. Bd. 1–3. Berlin: Reimer [usw.] 1816–1818 [nebst] commentaria critica. Bd. 1.2. Berlin: Reimer 1823 Plato: Platons Werke. Übers. F. Schleiermacher. Bd. 1–3. Berlin: Realschulbuchhandlung [bzw.] Reimer 1804–1828 Plato: Werke. In der Übersetzung von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Bd. 1–3. Berlin: Akademie Verlag 1984–1987 Pollux, Julius: Julii Pollucis Onomasticon cum annotationibus interpretum. Cinavit Giulielmus Dindorlius. Vol. 1–5. Leipzig: Kühn 1824 Rambach, Johann Jacob: Institutiones hermeneuticae sacrae. Jena: Hartung 1723 (SB 1556) [editio quarta, Jena 1732] Refardt, Edgar: Historisch-biographisches Musikerlexikon der Schweiz. Leipzig: Hug 1928 Sanctorum Patrum opera. Hg. Jean Baptiste Cotelier und Jean Le Clerc. 2. Aufl. Amsterdam 1724 (SB 1660) Schiller, Friedrich (Hg.): Musen-Almanach für das Jahr 1797. – Reprint Leipzig: Insel 1980 [nebst] Kommentar zum Neudruck von Regine Otto Schlegel, August Wilhelm: Gedichte. Tübingen: Cotta 1800 Schlegel, Friedrich: Alarkos. Ein Trauerspiel. Berlin: Unger 1802 –: Lucinde. Berlin: Frölich 1799 Schleiermacher, Friedrich: Sämmtliche Werke. Berlin: Reimer 1834–1864 (SW) –: Kritische Gesamtausgabe. Berlin: de Gruyter 1980 ff (KGA)
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Semler, Johann Salomo: Vorbereitung zur theologischen Hermeneutik, zu weiterer Beförderung des Fleisses angehender Gottesgelerten. Bd 1–4. Halle: Hemmerde 1760–1769 (Bd. 1, SB 1823) Sprüngli, J. Jakob: Die alte Kirche zu Thalweil. Predigt zum Abschied von derselben gehalten [...] den 21 Sept. 1845 nebst geschichtlichen Notizen über die Kirchgemeinde. Zürich 1845 Sterne, Laurence: A Sentimental Journey Through France and Italy. By Mr. Yorick. Vol. 1.2. London 1768 Stobaeus, Iohannes: Eclogarum physicarum et ethicarum libri duo. Hg. Arnold Hermann Ludwig Heeren. Göttingen: Vandenhoeck 1792–1801 (SB 1907) Theorie der Interpretation vom Humanismus bis zur Romantik. Beiträge zu einem interdisziplinären Symposion in Tübingen, 29. Sept. bis 1. Okt. 1999. Hg. Jan Schröder. Stuttgart 2001. Thümmel, Moritz August: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich im Jahr 1785 bis 1786. Bd. 1–10. Leipzig [bzw. Frankfurt und Leipzig]: Göschen 1791–1805 Tieck, Ludwig: Romantische Dichtungen. Bd. 1.2. Jena: Frommann 1799–1800 Tittmann, Karl Christian: Meletemata sacra sive commentarius exegetico-critico-dogmaticus in Evangelium Ioannis. Leipzig: Weidmann 1816 (SB 2006) Trommius, Abraham: Concordantiae graecae versionis vulgo dictae LXX interpretum (ed. Montfaucon). Amsterdam und Utrecht 1718 (SB 2018) Valckenaer, Lodewijk Caspar: Opuscula philologica, critica, oratoria. Bd. 1.2. Leipig: Fleischer 1808 f. –: Selecta e scholis in libros quosdam Novi Testamenti. Bd. 1.2. Amsterdam 1815–17 (SB 2052. 2053) Virmond, Wolfgang: Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hg. K.-V. Selge. Berlin: de Gruyter 1985, S. 575–590 – (Hg.): Friedrich Schleiermachers „Allgemeine Hermeneutik“ von 1809/10. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984. Hg. K.-V. Selge. Schleiermacher-Archiv, Bd. 1, Teilband 2, Berlin, New York: de Gruyter 1985, S. 1269–1310 –: Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermeneutik (1805). In: Archivio di Filososofia 52.1984, S. 225–232 –: Schleiermachers Schlobittener Vorträge ,Über den Stil‘ von 1791 in
Literatur
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unbekannten Nachschriften. In: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), S. 159–185 – (Hg.) Die Vorlesungen der Berliner Universität 1810–1834 nach dem deutschen und lateinischen Lektionskatalog sowie den Ministerialakten. Berlin: Akademie Verlag 2011 –: Schleiermachers Vorlesungen in thematischer Folge. In: New Athenaeum / Neues Athenaeum. vol 3. Lewiston, New York 1992, p. 127–151 Weinlig, Eduard: Was drückt das hannoversche Volk und wie könnte ihm vielleicht geholfen werden? Ein durch die revolutionairen Attentate des letzten Jahres veranlaßter critischer Versuch von Eduard Weinlig Stadtsyndicus in Soltau. Hamburg: Nestler 1832 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de: Lehrbuch der historisch kritischen Einleitung in die kanonischen Bücher des Neuen Testaments. Berlin: Reimer 1826 (SB 527) Wettstein, Johann Jakob: Prolegomena ad Novi Testamenti graeci editionem accuratissimam. Amsterdam 1730 –: Prolegomena in Novum Testamentum. Hg. J. J. Semler. Halle: Renger 1764 Winer, Georg Benedikt: Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese. Leipzig: Vogel 1822 (SB 2149) –: Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms als einzig sichere Grundlage der neutestamentlichen Exegese. 3., durchaus berichtigte und sehr vermehrte Auflage. Leipzig: Vogel 1830 (SB 2150) Wolf, Friedrich August: Darstellung der Alterthums-Wissenschaft. In: Museum der Alterthums-Wissenschaft. Hg. F. A. Wolf und Ph. Buttmann. Berlin: Realschulbuchhandlung 1807, S. 1–145. – Reprint [ohne die ,Verbesserungen‘ auf S. 587 des ,Museum‘] Berlin 1985 (Dokumente der Wissenschaftsgeschichte) Zachariä, Gotthilf Traugott: Einleitung in die Auslegungskunst der heiligen Schrift. [Hg. J. C. W. Diederichs]. Göttingen: Boßigel 1778 (2. Auflage 1787)
Register
Personen (biblische Personen siehe unter Bibelstellen) Kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Stellen in Einleitung oder Apparat Achilles (Ilias) 313 Adelung, Johann Christoph (1732–1806), Bibliothekar und Lexikograph in Dresden XIX Aischylos (525 –456 v. Chr.), griechischer Tragödiendichter 156. 304 Alexander der Große (356–323 v. Chr.) 137. 243 Ammon, Christoph Friedrich (1766–1850), Theologe in Erlangen und Göttingen, Oberhofprediger und Oberkonsistorialrat in Dresden XX
Anakreon (gest. 495 v. Chr.), griechischer Lyriker 678 Aristoteles (384–322 v. Chr.) 32. 85. 95. 106. 112. 182. 423. 458. 497. 672. 678. 688f. 690. 692. 694. 695. 881 Arius (Areios) (3.–4. Jh.), Presbyter in Alexandria, als Irrlehrer verbannt 551. 666. 1078 Ast, Friedrich (1778–1841), Altphilologe in Landshut bzw. München XVIIf. XXXII. XXXV 119 163. 185. 459. 727. 730f. 733 Athanasius (gest. 373), Bischof von Alexandria, Kirchenvater 551 Augustinus von Hippo (354–430), Kirchenvater 666 Bartholdy, Georg Wilhelm (1765–1815), 1790–1797 Lehrer in Berlin, seit 1797 am Gymnasium in Stettin, Freund Schleiermachers XXIII
Basilius von Ancyra (4. Jh.), Kirchenvater 704 Bauer, Georg Lorenz (1755–1806), Theologe (Orientalist) in Altdorf, später in Heidelberg 493 Bekker, Immanuel (1785–1871), Altphilologe in Berlin XXXIIf 646 Bengel, Ernst Gottlieb (1769–1826), Theologe 1098f Beza, Theodor (1519–1605), Genfer Reformator 180. 659 Biel, Johann Christian (1867–1745), Pastor und Lexikograph 799 Birch, Andreas (1758–1829), dänischer Bibelherausgeber 179 Boekels, Joachim XLVI Boerner, Ignatius Karl Wilhelm (1807–96), Student bei Schleiermacher, später Pfarrer und Superintendent in Plock XLVIII Bötticher, Heinrich Adolph (geb. 1804), Student bei Schleiermacher, später Pfarrer XLVIIf Brandis, Christian August (1790–1867), Philosophiehistoriker, Freund Schleiermachers XXIV Braune, (Heinrich Wilhelm) Julius (1805–71), Student bei Schleiermacher, später Prediger und Superintendent XLVIIf Bretschneider, Karl Gottlieb (1776–1848), Theologe 797. 1119–21 Budeus, Guglielmus (Budaeus; Guillaume Bude´; 1468–1540), französischer Humanist 45. 222. 273
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Buttmann, Philipp Karl (1764–1829), seit 1796 Sekretär der Königlichen Bibliothek in Berlin, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften seit 1806 XXXIf Caesar, Gaius Julius (100–44 v. Chr.) 14 Calow, Ferdinand (1814–72), als Student der Altphilologie zugleich Hörer Schleiermachers, später Gymnasialprofessor in Stettin; auch unter dem Namen Calo als Schriftsteller hervorgetreten XXIX XXXVIIf. L Carpzov, Johann Benedikt (1607–57), Theologe in Leipzig XXXI Chladenius, Johann Martin (Chladni; 1710–59), Theologe in Leipzig und Erlangen XIX Christophersen, Alf XXXVI Chrysostomus, Johannes (gest. 407), Patriarch von Konstantinopel, Kirchenvater XXXIV 614. 660. 1066 Cicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) 309. 463. 579. 980 Clerici, Johannes (Jean Le Clerc; 1657–1736), Schweizer Theologe und Philologe XXXV Cotelier, Jean Baptiste (1629–86), französischer Theologe (Patristiker) 617 Crell, Samuel (1660–1747), sozinianischer Prediger und Autor 1006. 1053 Curcellaeus, Stephanus (Etienne de Courcelle; 1586–1659) 180 Dathe, Johann August (1731–91), Theologe, Orientalist in Leipzig 493 Demokrit (5. Jh. v. Chr.), vorsokratischer Philosoph 183. 698 Dilthey, Wilhelm (1833–1911), Philosoph, Schleiermacher-Biograph XVII XL
Diodor (Diodoros; Diodorus Siculus; 2. Jh. v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber 139
Diogenes Laertius, spätantiker Philosophiehistoriker 183. 697. 1116 Eichhorn, Johann Gottfried (1752–1827), Orientalist und Historiker 335. 431. 444. 707. 710. 711f. 719 Eichstädt, Heinrich Karl Abraham (1772–1848), Philologe in Jena, Herausgeber der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (JALZ) XXXI
Elzevir, niederländische Verlegerfamilie 180f. 659 Epiphanius von Salamis (gest. 403), Kirchenvater 1078 Erasmus von Rotterdam, Desiderius (gest. 1536), Humanist 180. 659 Ernesti, Johann August (1707–81), Theologe, Philosoph und Philologe in Leipzig XVIII XX XL 5. 6. 7. 8. 12. 14. 18. 21. 28. 73 Estienne siehe unter Stephanus Euklid von Alexandria (um 300 v. Chr.), griechischer Mathematiker 881. 906 Euler, Leonhard (1707–83), Schweizer Mathematiker und Physiker in Petersburg und Berlin 924 Euripides (5. Jh. v. Chr.), griechischer Tragödiendichter 156. 304 Eusebius von Caesarea (gest. 339), Kirchenvater 648. 708. 992 Facciolati, Giacomo (1682–1769), Lexikograph in Padua 273 Fell, John (1625–86), englischer Theologe und Bischof 180 Ficini (Ficino), Marsilio (1433–99), italienischer Philosoph, Humanist 648 Francis, Philip (1740–1818), britischer Politiker, wohl Autor der anonym publizierten ,Letters of Junius‘ 668 Francke, August Hermann (1663–1727), pietistischer Theologe und Pädagoge in Halle 591
Personen Frank, Manfred XXXVIII Friedrich der Große (1712–86), seit 1740 preußischer König 920 Friedrich Wilhelm II. (1744–1797), seit 1786 preußischer König 14 Frommann, Carl Friedrich Ernst (1765–1837), Buchhändler und Verleger in Jena XXXIV Fülleborn, Georg Gustav (1769–1803), Theologe und Philosoph, Gymnasialprofessor in Breslau XXXV
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Galba, Lucius Livius Ocella Servius Sulpicius (3 v. Chr. bis 69), seit 68 römischer Kaiser 997 Gaß, Joachim Christian (1766–1831), Feld- und Garnisonprediger zu Stettin, Mitarbeiter des dortigen Konsistoriums; später als Professor und Konsistorialrat in Breslau XIX–XXI XXXIIIf Gesner, Conrad (1516–65), Schweizer Arzt, Naturforscher und Altphilologe 222. 273 Gibbon, Edward (1737–94), britischer Historiker 171. 897 Glass, Salomon (Salomo Glassius; 1593–1656), Theologe in Jena, später Generalsuperintendent und Oberhofprediger in Gotha XVIII 493 Goethe, Johann Wolfgang (1749–1832) 34. 466. 669 Gregory, John (Joannes Gregorius; Erzbischof von Gloucester) 180 Griesbach, Johann Jacob (1745–1812), Theologe in Jena XVIII. 527. 659. 664. 1050. 1073–76. 1091–1093. 1095. 1098f. 1102 Grimm, Heinrich Adolf (1747–1813), Theologe (Orientalist) in Duisburg XLII. 27 Grotius, Hugo (1583–1645), Jurist, Philosoph und Theologe XLIII 28
Hahn, August (1792–1863), Theologe 1078 Hamann, Johann Georg (1730–88), Philosoph, Schriftsteller 167. 208 Harris, James (1709–80), englischer Gelehrter und Politiker 23 Heeren, Arnold Hermann Ludwig (1760–1842), Historiker in Göttingen 31. 698 Heindorf, Ludwig Friedrich (1774–1816), Philologe, seit 1796 Subrektor am Köllnischen Gymnasium in Berlin, 1810 Professor für klassische Philologie an der Berliner Universität, später in Breslau und Halle, Platon-Editor; Freund Schleiermachers XXXIf 13 Henke, Ernst Ludwig Theodor (1804–72), seit 1828 Professor in Braunschweig; 1833 während eines Urlaubs Hörer Schleiermachers L Hermann, Karl Friedrich (1804–55), Altphilologe in Marburg und Göttingen XXXIII Herodot (gest. um 424 v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber, Geograph und Völkerkundler 677. 895 Hesychius (wohl 5. Jh.), griechischer Lexikograph 398 Hieronymus, Sophronius Eusebius (347–419), Kirchenvater 647. 1066 Homer (8. Jh. v. Chr.) 51. 89. 99. 125. 156. 170. 184. 206. 209. 210. 304. 313. 360. 379. 418. 430. 480. 481. 579. 580. 641. 669. 670. 678. 777f. 786. 889. 944. 1038. 1123f Horaz (Quintus Horatius Flaccus; 65–8 v. Chr.), römischer Dichter 1009 Hug, Johann Leonhard (1765–1846), katholischer Theologe, Orientalist in Freiburg 1130
Hagenbach, Karl Rudolf (1801–74), Schweizer Theologe, als Student Hörer Schleiermachers XXVII XLVI
Jonas, Elisabeth (1804–99), Ludwig Jonas’ Ehefrau, Tochter des Grafen Maximilian Schwerin-Putzar XLV
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Jonas, Ludwig (1797–1859), Schüler, Freund und Nachlaßverwalter Schleiermachers; Prediger, Kirchenpolitiker und Politiker in Berlin XXVI XLIV–XLVI
Josephus, Flavius (1. Jh.), römischjüdischer Historiker 130. 137. 139. 288. 396. 397. 402. 506. 796. 854. 1088 Kalb, Philipp Leonhard, als Student Hörer Schleiermachers L Kant, Immanuel (1724–1804) 14 Kebes von Theben (Cebes; Zebes), Schüler des Sokrates 1116 Keil, Karl August Gottlieb (1754– 1818), Theologe in Leipzig XVIII 419 Kimmerle, Heinz XXXVIIIf. 14 Klopstock (1724–1803), Dichter 830 Köhler, Johann Friedrich (1756–1820), Pfarrer und Autor 992 Küster, Ludolph (1670–1716), Altphilologe 179 Lachmann, Karl (1793–1851), Altphilologe und Mediävist in Königsberg, seit 1825 in Berlin XXXIV 1052. 1091 Leibniz, Gottfried Wilhelm, (1646–1716) 459 Löffler, Josias Friedrich Christian (1752–1817), Theologe, Prediger XXXIV
Lücke, Friedrich (1791–1855), Theologe in Berlin, Bonn, Göttingen; Freund Schleiermachers XXIXf. XXXV–XXXVIII XL XLVI Lukian von Samosata (2. Jh.), griechischer Satiriker 222. 506 Lukianos (3. Jh.), antiochenischer Priester, Märtyrer 1064 Luther, Martin (1483–1546), Reformator 180. 529. 590 Markion (Marcion) (gest. 160), als Irrlehrer verurteilt 717. 1072. 1077f. 1119. 1127
Mastricht, Gerhard von (1639–1721), reformierter Theologe 180 Matthaei, Christian Friedrich (1744–1811), Altphilologe in Moskau und Wittenberg 664f Matthaei, Georg Christian Rudolf (geb. 1798), Theologe in Göttingen 664f Meier, Georg Friedrich (1718–77), Philosoph in Halle XIX Mill, John (1645–1707), englischer Theologe 179 Morinus, Johannes (Jean Morin, 1591–1659), französicher Theologe 180 Morus, Samuel Friedrich Nathanael (1736–92), Theologe und Philologe in Leipzig; Schüler Ernestis XL 6. 7. 11. 12. 13. 14. 18. 19. 21. 22. 24. 25. 28 Neander, August (1789–1850), Theologe in Berlin, Kollege Schleiermachers XLVI L Nero (37–68), römischer Kaiser 997. 1127 Nicolai, Friedrich (1733–1811), Berliner Buchhändler und Verleger; Schriftsteller und Gelehrter 920 Nowak, Kurt XXXII Origenes (185–254), Kirchenvater 378f. 647. 660. 1052. 1066 Orpheus, Sänger und Dichter in der griechischen Sage 481 Paul, Jean (Jean Paul Friedrich Richter; 1763–1825), Dichter, Pädagog, Ästhetiker 167. 343 351. 775. 828 Paulus, Apostel siehe unter Bibelstellen Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (1761–1851), Theologe (Orientalist) in Jena, Würzburg, Heidelberg 521 Pausanias (2. Jh.), griechischer Schriftsteller, Geograph 222 Pelagius (gest. 420), 418 als Häretiker verurteilt 666
Personen Petrus Lombardus (gest. 1160), scholastischer Theologe in Paris 698 Philo(n) von Alexandrien (Philo Alexandrinus, 1. Jh.), jüdischer Philosoph 130. 137. 139. 288. 396. 397. 402. 506. 796. 797. 854. 1088 Pindar (6.–5. Jh. v. Chr.), griechischer Dichter 882. 902 Planck, Heinrich Ludwig (junior) (1785–1831), Theologe in Göttingen 397. 1130 Platon (Plato; 427–347 v. Chr.) XXXIIf 13. 27. 28. 34. 63. 85. 95. 112. 168. 423. 497. 548. 578. 579. 580. 646. 648. 672. 676. 678. 680. 683. 688. 690. 692. 762. 776. 881. 895. 904. 963. 1021f. 1113 Plutarch (um 45 bis um 125), griechischer Schriftsteller 31. 183. 696. 697 Pollux, Julius (2. oder 3. Jh.), Lexikograph 780 Polybios (Polybius; 3. Jh. v. Chr.), griechischer Geschichtsschreiber 137. 139. 222. 243. 506. 507 Pythagoras (6. Jh. v. Chr.), vorsokratischer Philosoph 680
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Schlegel, August Wilhelm (1767–1845), Bruder des Friedrich Schlegel 10. 17 Schlegel, Friedrich (1772–1829), Bruder August Wilhelms XXXII 10. 327 Schleusner, Johann Friedrich (1759–1831), Theologe und Lexikograph 398f. 799 Schneider, Johann Gottlob (1750–1822), Altphilologe und Naturwissenschaftler 273 Schulz, David (1779–1854), Theologe und Altphilologe in Breslau 584. 660. 717. 1050. 1092 Scythinus 31 Semler, Johann Salomo (1725–91), Theologe in Halle XVIII XX 1092 Simon, Schuhmacher im Kreis des Sokrates 1116 Sokrates (469–399 v. Chr.) 83. 149. 281. 282. 490. 554. 555. 556. 559. 563. 672. 676. 694. 1113. 1116 Sophokles (5. Jh. v. Chr.), griechischer Tragödiendichter 156. 304 Sozzini, Fausto (1539–1604), unitarischer, vielfach verfolgter Theologe; Neffe Lelio Sozzinis 856 Reckenberger, Johann Leonhard (18. Sozzini, Lelio (1525–62), Humanist, Jh.), Alttestamentler und Orientalist unitarischer Theologe; Onkel Fausto in Jena 145 Sozzinis 856 Reinhard, Franz Volkmar Spalding, Georg Ludwig (1762–1811), (1753–1812), populärer Prediger Sohn des Oberkonsistorialrats Jo256 hann Joachim Spalding, 1787 Lehrer, später Gymnasialprofessor in Sack, Karl Heinrich (1789–1875), Berlin, Mitglied der Berliner AkaTheologe in Bonn XXIII demie der Wissenschaften seit 1806, Mitarbeiter an Heindorfs PlatonSaunier, Carl Heinrich, wohl ein Bruder Ausgabe; Freund Schleiermachers Johann Carl Heinrich Sauniers XLVII Saunier, Jean Louis, Schullehrer und XXXIf 12 Prediger in Berlin, Vater Johann Spangenberg, Julius Albert (geb. 1807), Carl Heinrich Sauniers als Student Hörer Schleiermachers, später Lehrer und Rektor, 1862 XLVII nach Amerika ausgewandert XLIX Saunier, Johann Carl Heinrich (1801–25), als Student Freund und Sprüngli, Johann Jakob (1801–89), reHörer Schleiermachers XLVIf formierter Schweizer Pfarrer und Schiller, Friedrich (1759–1805) 107. (1826–27), Hörer Schleiermachers 669 XLVIIIf
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Stange, Theodor Friedrich (1741–1831), Kirchenhistoriker in Halle XLII 27. 28 Stephanus (Estienne), Robert (1503–59), Drucker, Verleger, Lexikograph 179. 273. 659 Sterne, Lawrence (1713–68), englischer Pfarrer und Schriftsteller 475 Stobaeus, Johannes (Stobaios; 5. Jh.), Kompilator von Auszügen aus der griechischen Literatur (Eklogen und Florilegium) 31. 648. 697 Strabo (Strabon; gest. 23), griechischer Geschichtsschreiber und Geograph 507 Tertullianus, Quintus Septimius Florens (um 200), frühchristlicher Schriftsteller, Kirchenvater 1072. 1078 Theodoret (5. Jh.), Kirchenvater XXXIX
Theophrastos von Eresos (um 371–287 v. Chr.), griechischer Philosoph und Naturforscher 182 Thiel, Karl, in Halle Schüler Schleiermachers, später Schulmann in Berlin XXIII
Thümmel, Moritz August (1738–1817), Schriftsteller 475 Thukydides (vor 454 bis ca. 395 v. Chr.), griechischer Feldherr und Historiker 28. 63. 137. 243 Tieck, Ludwig (1773–1853), Dichter 10 Tittmann, Johann August Heinrich (1773–1831), Theologe und Philosoph 168 Trommius (Trom), Abraham (1633–1719), niederländischer Theolog, Prediger 799 Twesten, August Detlev Christian (1789–1876), Theologe in Kiel und Berlin; Nachfolger auf Schleiermachers Lehrstuhl XXIVf. XXXIV XLII
Valckenaer, Lodewijk Caspar (1715–85), Altphilologe in Leiden 319 Walton, Brian (Waltonus; gest. 1661), britischer Theologe (Orientalist) 179 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de (1780–1849), Theologe, in Berlin Schleiermachers Kollege und (später) Freund; 1819 aus politischen Gründen entlassen und aus Preußen verbannt; seit 1822 in Basel XLVI. 658. 659 Wettstein, Johann Jakob (1693–1754), Schweizer Theologe und Textkritiker 180. 659. 1050. 1092. 1098f Willich, Ehrenfried von (1807–1880), Schleiermachers Stiefsohn XXII Winer, Georg Benedikt (1789–1858), Theologe in Erlangen und Leipzig 493. 856 Wolf, (Christian Wilhelm) Friedrich August (1759–1824), Altphilologe, seit 1783 Professor an der Universität Halle, später in Berlin XVII XXXV 23. 34. 74. 119. 163. 185. 646. 727f. 729f. 731. 1004. 1028 Wolff, Christian (1679–1754), Universalgelehrter, Jurist, Mathematiker und Philosoph 459 Xenophon (um 426 bis nach 355 v. Chr.), aus Athen stammender Schriftsteller, Politiker und Feldherr 28. 63. 137. 243. 506 Xylander (Wilhelm Holtzmann; 1532–76), Humanist 648 Zachariä, Gotthilf Traugott (1729–77), Theologe in Göttingen und Kiel XIX
Bibelstellen (und biblische Personen) Kursiv gesetzte Zahlen verweisen auf Stellen in Einleitung oder Apparat Bibel 99. 125. 138. 164. 206. 209. 210. 211f. 288. 295. 382. 545. 738f. 743. 745. 806 Altes Testament 125. 136. 138. 150. 168. 210f. 213. 245. 247. 275. 286. 288. 345f. 361. 379. 410. 418. 414f 461. 491. 508. 557. 564f. 576. 669. 739. 751. 795. 798. 800f. 803. 860f. 942–944. 1089. 1122 Peschitta (Peschitto; frühchristliche Bibelübersetzung ins Syrische) 649. 662f. 1067. 1123 Septuaginta (LXX; griechische Übersetzung des Alten Testaments) 100. 130. 138f. 143. 223. 246f. 388. 398f. 507f. 615. 745. 795. 797. 799. 1047 Pentateuch 51. 60. 670 1 Mose (Genesis) – 2,22 99 – 16 744 – 21,8–21 744 3 Mose (Leviticus) 16,22 531 4 Mose (Numeri) 6,24–26 25 Psalmen (und David) 136. 1122 Jesaja 60. 1122 Apokryphen des Alten Testaments 130. 138. 223. 247. 388. 399. 508. 795–797. 854. 1047 – Liber Sapientiae (Buch der Weisheit) 797 Kabbala 481 Neues Testament 27. 29. 39. 48f. 51–53. 62f. 68. 77. 100. 124f. 130f. 136–139. 142–144. 146. 148–150. 152–154. 163f. 167f. 172. 183. 185.
205f. 210–213. 222f. 241–250. 258. 260. 262–264. 268–270. 273–284. 287–289. 294. 297–300. 319. 321. 333f. 336. 344–346. 350. 352f. 361f. 369f. 373–377. 379. 381. 383–385. 387f. 392. 395f 397. 398f. 402–419. 424f. 428–430. 433–435. 437. 440. 446. 460–464. 472–474. 476–481. 483f. 488–496. 504–511. 513. 518–521. 523. 526. 532f. 537–540. 545. 553–557. 559–566. 576. 583. 593. 595. 599. 611–617. 622. 630. 642. 647. 649. 656–667. 698f. 702. 708–710. 723. 743. 745. 748–753. 789–802. 805–807. 829f. 833. 835–837. 847f. 850–856. 858–861. 863–870. 873f. 913. 915. 927. 931. 933f. 941–944. 946–948. 958f. 964–966. 979. 991. 993. 998–1002. 1004. 1025. 1047–1067. 1073–1077. 1080f. 1084f. 1087–1104. 1117–1127. 1132 Evangelien 172. 286. 319. 335f. 414. 431. 441. 583f. 592. 700f. 714f. 848. 913–918. 920. 966f. 1003. 1119. 1124. 1127. 1131 Evangelien, synoptische (Matthäus, Markus und Lukas) 277. 428f. 435f. 440–442. 473. 476. 585f. 593. 596f. 604f. 619. 665. 718–722. 847f. 915. 920–923. 941. 946. 957. 967f. 979–981. 1056. 1103. 1120. 1122f. 1125. 1127. 1130 Matthäus (Evangelium und Person) 69. 136. 428. 584f. 701. 715–717. 832. 922. 968. 972. 974f. 980. 1005. 1051. 1104. 1120f. 1128
1160
Register
– 1,1f 917 – 3,17 546 – 5,3–11 522 – 5,14.16 145. 168 – 5,20 522 – 6,9–13 596 – 8,20 XLII 27 – 9,9 974 – 9,22 286 – 13–14 147 – 13,3–9 297 – 13,3–23 207. 601 – 13,3–52 832 – 13,4–9.18–30.36–43 377 – 13,9 124 – 13,25 15 – 13,31 546 – 13,38 378 – 13,45f. 235 – 16,16–19 147. 543 – 28,19 555 Markus (Evangelium und Person) 397. 715–717. 749. 832. 918f. 922. 973f. 1051. 1120. 1130 – 4,1–9.13–20 600 – 5,34 286 Lukas (Evangelium und Person) XXXIV 274. 397. 613. 619. 715. 717. 720. 749. 752. 832. 922. 971f. 977–980. 1051. 1078. 1104. 1120 – 1,1–4 717. 917. 971. 1003. 1130 – 1,6 921 – 1,46–55 415 – 2,1f 921 – 2,41–51 972 – 3–9 972 – 3,1f 921 – 5,35 22 – 5,36 13 – 7,36 481 – 9,51 972 – 16,19–31 124. 207. 600 – 19,28 972 Johannes (Evangelium und Person) 68f. 143f. 148. 150. 153. 264. 274. 277f. 283. 285. 297. 319. 374. 402. 408f. 411. 428–430. 435f. 440–442. 488. 520. 585–588. 593f. 596f. 612f.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
617. 702f. 714. 720–722. 832. 848f. 872. 918–921. 923. 941. 946. 967f. 970–972. 974f. 979–81. 1003. 1051. 1056f. 1119–1121 1 274. 416 1,1 1006. 1053 1,1–18 586 1,29 145. 531 1,44 374 3,14 169 4,24 146 5,31 146 6,63 146 7,37–39 527 7,38f 289 7,39 145. 151. 168 7,53–8,11 1006 8,14 146 8,28 168. 169 10,11–15 146 10,11–30 545f 10,30 28 11,1–45 957 12,32–33 145. 168. 530f 14–15 168 16,7–15 168 16,7 145 16,13 461 17,21 546 17,25 546 18 587. 969 19,25–27 919 20,15 145 21,18–19 13 21,24f 60
Apostelgeschichte XXXIV 151. 289. 319. 428f. 437. 444. 484. 491. 528f. 583. 587. 592f. 597. 613. 619. 707f. 712. 714. 720f. 832. 848. 923. 935. 975–980. 992. 999. 1003. 1051. 1056. 1104. 1120 – 1,1f 721. 977 – 2–7 977 – 10,9–16 994f – 11,5–9 994 – 12,12 715. 973. 1120
Bibelstellen – – – – – – –
12,25 715. 1120 15,36–39 715. 976. 1120 18,1–18 704. 978 19 529 19,21 987 20,2 978 21,33f 1135
Briefe 319. 336. 344f. 380. 401f. 417. 431f. 443. 472f. 505. 562. 588–590. 592. 617f. 701f. 748. 831. 848f. 867. 923f. 927–931. 933. 935. 942f. 979–83. 990. 999. 1003. 1089. 1103 Paulus (Person und Schriften) XXI XXXIIIf 68f. 274. 277f. 281–283. 285–287. 297. 345. 396. 402. 408f. 411. 416. 428f. 432. 436. 440. 444–446. 484. 488f. 505f. 520. 554f. 612f. 617f. 700. 702f. 706f. 708. 710. 712f. 720. 749f. 831. 836. 850f. 855. 858. 860. 864f. 870. 946. 948. 976–978. 983. 987f. 990. 992. 1001. 1004. 1051. 1059. 1104. 1118. 1119. 1122. 1128f. 1135 Römer 275. 319. 403. 432. 437. 446. 473. 505. 592. 617. 704. 748. 831. 849. 936. 983. 987f – 1,1–7 704 – 1,1–17 987 – 1,15 987 – 2,19 145 – 3,20 860 – 3,21–23 286 – 3,21–4,5 53. 411 – 3,28 146. 837 –4 282 – 4,1–5 286. 287 – 4,2–3 146. 837 – 4,25 146. 542f. 544 – 5,9 146. 543f – 8,1 145. 530 – 9,30f 286 – 10,5f 286 – 10,9 146 – 15,24.28 1135 – 12,5 547 – 14,23 7
1161
– 16,1–16 987 – 16,16 146 1 Korinther 276. 418. 432. 436. 445. 613. 617. 700f. 933f. 976. 984 – 1,1–3 704 – 2,14–19 146 – 3,1 146 – 3,2 f 146 – 6,12 146. 547 – 6,14–19 146. 547 – 8,5 146 – 10,23 146 – 12,4 554 – 1,3 268 – 15,32 145. 168. 528 2 Korinther 276. 432. 436. 445. 617. 700f. 933f. 946. 976. 984 – 1,1f 704 Galater 436. 613. 706. 748. 936. 976. 982f – 1,1–5 704f – 1,6 19 – 1,10 19. 591 – 1,13–16 145. 531 – 1,16 19. 145. 529 – 2,11–14 281. 835 – 3,1f 521 – 3,6 286 – 3,6–29 282 – 3–4 589 – 4,22–31 282. 744 – 5,2 704 – 5,22 545 Epheser 432. 748. 934 – 1,1f 704. 711 – 1,5 526 – 1,22; 4,15 523. 547 – 5,6–8 529f – 5,8 145. 168. 437 Philipper 591. 984 – 2,5–11 558. 984 Kolosser 432. 437. 748. 976. 985 – 1,1f 704. 711 – 1,18 647 – 2,8–23 985 – 4,10 715. 1120 – 4,14 720. 1120
1162
Register
1 Thessalonicher 436. 976 – 1,1 704 – 1,3 268 2 Thessalonicher –1,1f 704. 976 Pastoralbriefe (Timotheus; Titus) 706f. 710. 712. 1119 1 Timotheus 701. 704. 708. 1130 – 1,1f 704. 711 2 Timotheus 276. 701 – 1,1f 704 – 4,11 1120 Titus 706. 708 – 1,1–4 705 – 1,15 146. 437 – 2,10 21 Philemon – 1,1f 704f – 24 1120 Hebräerbrief 136. 319. 345. 432. 473. 505. 592. 617f. 700f. 705. 831. 836. 849. 934. 936. 983. 988. 1104 – 1,1f 988 – 1,5–12 528 – 1,13–14 145. 528 – 3,1 146. 542 – 3,2–5 542 – 4,14 146. 542 – 5,13 146 – 7,22 146. 542 – 8,6 146. 542 – 10,16 869 Katholische Briefe (Jakobus bis Judas) 277. 428. 592. 617. 618. 934. 1004 Jakobus (Person und Brief) 287. 411. 429. 432. 443f. 590f. 619. 713. 851. 982. 985f. 1118 – 1,1 705 – 2,14–26 53. 411. 837 – 2,18–26 287 – 2,24 146 Petrus (Person und Briefe) 68. 281. 345. 374. 411. 429. 543. 613. 712f. 716. 858. 870. 973. 994f 1 Petrus 429. 430. 444. 613. 619. 703. 707. 712. 836. 851. 982. 1119 – 1,1f 705. 1104
2 Petrus 429. 430. 444. 591. 613. 619. 699. 703. 706. 707. 712. 836. 851. 870. 982. 1005. 1104. 1117. 1119. 1132 – 1,1f 705. 1005 – 3,15f 835 1. Johannes 69. 319. 416. 428. 432. 612f. 619. 700–705. 714. 722. 836. 934. 1119 – 2,29 145 – 3,8 145 – 5,7f 1106 – 5,14–20 146 2 Johannes 428. 432. 473. 619. 701–703. 706f. 722. 836. 1119 – 1–3 705. 706 3 Johannes 428. 432. 473. 619. 701–703. 707. 722. 836. 1119 –1 705 Judas 411. 429. 432. 444. 707. 712. 1118 – 1f 706 Apokalypse 172. 275. 491. 504. 523. 576f. 896. 913. 993–999 – 1,1–3.4.9 706 – 2–3 996 – 7,13–17 995 – 22,8 706 Apokryphen des Neuen Testaments 388. 398 Weitere biblische Personen Abraham 282. 286 Gamaliel (gest. um 50), jüdischer Patriarch 444 Maria, Mutter Jesu 919 Barnabas 976. 977 Cornelius 994 Silvanus (Sylvanus) 704