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German Pages 278 Year 2017
Frank-Michael Kuhlemann, Michael Schäfer (Hg.) Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke
Histoire | Band 96
Frank-Michael Kuhlemann, Michael Schäfer (Hg.)
Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation 1890-1960
Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
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Inhalt
Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke Forschungskontexte, Fragestellungen, Perspektiven
Frank-Michael Kuhlemann und Michael Schäfer | 7 Formular und Pfingsten Jürgen Freses Soziologie der Intellektuellen-Assoziationen, dargestellt am Patmos-Kreis (1919 – 1921)
Knut Martin Stünkel | 31 Gemeinschaft, Bund oder Kreis? Walter Benjamin liest Stefan George
Gabriele Guerra | 61 Friedrich Naumann und seine »freiwillige Gefolgschaft« Ein zivilgesellschaftliches Netzwerk mit religiösen Wurzeln und politischen Auswirkungen auf die junge Bundesrepublik (1890 – 1960)
Ursula Krey | 71 Die Sammlung der Geister Euckenkreis und Euckenbund 1900 – 1943
Michael Schäfer | 109 Das intellektuelle Netzwerk der Dialektischen Theologie
D. Timothy Goering | 137
»Sozialismus im weitesten Sinne heißt: Verpflichtet sein!« Der Leuchtenburg-Kreis in Sachsen als Diskussionsund Experimentierfeld demokratischen Engagements
Justus H. Ulbricht | 155 Klubs gegen Parteien Geschichte eines politischen Modells in der Zwischenkriegszeit
André Postert | 169 Katholisch-deutschnationale Eliten Cartellverband, Deutscher Klub und ihre Mitglieder in der Hochschullehrerschaft der Universität Wien 1932 – 1950
Andreas Huber | 189 »Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation« Der Schweizerische Lichtbund im 20. Jahrhundert
Eva Locher und Stefan Rindlisbacher | 221 Bürger und Uniform Die Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr um Georg Picht
Hagen Stöckmann | 245
Autorinnen und Autoren | 275
Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke Forschungskontexte, Fragestellungen, Perspektiven1 F r an k-M ich a el K u hlem an n
und
M ich a el S ch ä fer
Kreise, Bünde und Intellektuellen-Netzwerke gelten als Formen bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation, die ihre Blütezeit in Deutschland zwischen dem späten Kaiserreich und der frühen Bundesrepublik erlebten. Solche meist informellen Zusammenschlüsse rekrutierten sich vornehmlich aus bildungsbürgerlichen Milieus, sammelten sich zuweilen um eine charismatische Führungsfigur und verschrieben sich ethisch-moralischen, ästhetisch-künstlerischen, bildungs- und kulturpolitischen oder gesellschafts- und lebensreformerischen Zielen und Programmen. Ihre Geschichte, die bis heute nicht hinreichend erforscht ist, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Er verfolgt das Ziel, durch den vergleichenden Blick auf unterschiedliche Kreise und Bünde sowie Intellektuellen-Netzwerke in den Umbrüchen der sog. klassischen Moderne, aber auch mit weiterreichender Perspektive bis in die Zeit nach 1945 einige wesentliche Strukturmerkmale ihrer Entwicklung, Formen und Typen, ebenso wie politische und kulturelle Intentionen, Aufgaben und Funktionen schärfer zu konturieren, als das bisher geschehen ist. Es sollen dazu zunächst einige Überlegungen vorangestellt werden, die relevante Forschungskontexte, leitende Fragestellungen und ausgewählte Gesichtspunkte knapp markieren.
1 Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre großzügige Förderung der vorliegenden Buchveröffentlichung. Ebenso gilt unser Dank der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Sie hat die Tagung am 27./28. März 2015 in Dresden, deren Beiträge hier präsentiert werden, finanziell und organisatorisch getragen.
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Die Bürgertumsforschung und Intellektuellensoziologie, auch sozialphilosophische Studien haben sich des Phänomens immer einmal wieder angenommen. Dabei lassen sich unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, Interpretationsmuster und Diskurszusammenhänge ausmachen. Soziologische und sozialphilosophische Überlegungen reichen bis in die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik zurück. Zu nennen sind vor allem die grundlegenden Überlegungen von Ferdinand Tönnies und Hermann Schmalenbach. Im Kontext seiner grundlegenden Unterscheidung von » Gemeinschaft « und » Gesellschaft « kategorisiert Tönnies sog. Bündnisse, die er am vollkommensten als » Freundschaften « auffasst, die sich aber auch als » Herr und Knecht «-, » Meister und Jünger «-Verhältnis ausprägen können. Die Kategorie des » Bundes « wurde von Hermann Schmalenbach – einem Schüler Georg Simmels und Rudolf Euckens, zugleich Anhänger Stefan Georges – als ein vor allem auf Gefühlen basierendes Verhältnis von Menschen konturiert. Die Bünde stellten, so Schmalenbach, eine gefühlsmäßige, nicht zuletzt religiös aufgeladene Form der sozialen Vergemeinschaftung dar, die jedoch – anders als die natürlichen Gemeinschaften Familie, Volk und Nation – frei gewählt werden könnten. Die Sozialform des Bundes ist auch keineswegs neu. Schmalenbach findet sie in germanischen Gefolgschaften und urchristlichen Sekten, Ritterorden des Mittelalters und in zeitgenössischen Phänomenen um die Jahrhundertwende wie dem » Wandervogel « oder dem Kreis um Stefan George.2 Für die typisierende Beschreibung von Bünden, Kreisen und IntellektuellenNetzwerken sind auch die inzwischen fortgeschrittenen Ansätze auf dem Feld der Intellektuellensoziologie heranzuziehen. Alfred von Martin hat schon in den 1960er Jahren sehr unterschiedliche Formen der sozialen Kohäsion von Intellektuellengruppen unterschieden: ordensähnliche Gemeinschaften, philosophische Schulen oder auch exklusive Kreise literarischer Schöngeister. Dabei klang bereits die für die Intellektuellenforschung geradezu konstitutive Frage an, ob und inwieweit Intellektuelle im Normalfall überhaupt zu einem » gleichen Den-
2 Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1888), Darmstadt 1979, S. 169 f; Hermann Schmalenbach, Die soziolo gische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, München 1922, S. 35 – 105. Zur komplexen Begriffsgeschichte: Reinhart Koselleck, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1971, S. 582 – 671. Koselleck spricht mit Blick auf den Bund im Unterschied zu den nicht frei wählbaren Gemeinschaften von einem » voluntaristischen Aktionsbegriff « (S. 582 f).
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ken und Wollen « zusammenfinden könnten.3 Forschungen auf diesem Feld zeigen ferner, dass sich die Kategorisierung von formellen und informellen Zusammenschlüssen Intellektueller freilich weiter ausdifferenzieren lässt, mit Hilfe von Begriffen wie Diskussionszirkeln und Konferenzen, Arbeitsgemeinschaften und Kommissionen, Netzwerken und Geheimgesellschaften.4 Andererseits stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich Begriffe wie Bund, Kreis oder Netzwerk überhaupt trennscharf definieren lassen. So hat Ulrich Raulff die Geschichte des » George-Kreises « unter Aspekten beschrieben, die ebenso für den » Bund « ins Feld geführt werden könnten: eine Meister-Schüler-Beziehung und eine gemeinsame weltanschauliche Orientierung, persönliche Kontakte zwischen den Kreismitgliedern und das » Wissen « um ein » Geheimnis « – allesamt Faktoren, die sich nach dem Tod des » Meisters « aber vornehmlich in Erinnerungen und Erwartungen und sich nicht zuletzt weiter ausdifferenzierenden Kreisen niedergeschlagen haben. Raulff rekonstruiert die Geschichte von Georges » Nachleben « oder auch die Geschichte eines » zerfallenden Kreises « mit einer untergründigen Wirkungsgeschichte.5 Solche und ähnliche Befunde sind nicht unwichtig für weitere Überlegungen zur kognitiven und sozialen, wirkungsgeschichtlichen und diskursgeschichtlichen Erforschung von Intellektuellen, seien es Wissenschaftler, Künstler oder » Neureligiöse «.6 Zu fragen ist nach identitätsstiftenden Erfahrungen und rituellen Akten, Prozessen der Gruppierung und Vernetzung, Denkstilen und Kommunikationsformen, lebensweltlichen und generationellen Zusammenhängen.7 3 Alfred von Martin, Die Intellektuellen als gesellschaftlicher Faktor, in: ders., Mensch und Gesellschaft heute, Frankfurt a. M. 1965, S. 184 – 240, hier: S. 203. 4 Vgl. Jürgen Henningsen, Der Hohenrodter Bund. Zur Erwachsenenbildung in der Weimarer Zeit, Heidelberg 1958, S. 83 ff; ders., Zur Theorie der Volksbildung. Histo risch-kritische Studien zur Weimarer Zeit, Berlin 1959, S. 71 – 86. Vgl. auch: Roger Caillois, Confréries, ordres, sociétes secrètes, églises, in: Denis Hollier (Hg.), Le collège de Sociologie, 1937 – 1939, Paris 1995, S. 217 – 244; Georg Kreis, Alles ist Netzwerk. Überlegungen zu einer (neuen) Metapher, in: Hans-Ulrich Grunder u. a. (Hg.), Netzwerke in bildungshistorischer Perspektive, Bad Heilbrunn 2013, S. 17 – 23. 5 Vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben (2009), erweiterte u. aktualisierte Ausgabe (dtv) München 2012, bes. S. 19, 40 ff, 246 f. 6 So die Unterteilung in dem Sammelband von Richard Faber/Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000. 7 Vgl. Stephan Moebius, Intellektuellensoziologie – Skizze zu einer Methodologie, in: Sozial Geschichte Online 2. 2010, S. 37 – 61 (= http://www-stiftung-sozialgeschichte.
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In nicht unbeträchtlichem Maße ist das Problem der Bünde, Kreise und Intellektuellen-Netzwerke schließlich von der historischen Bürgertumsforschung aufgegriffen worden, die das Problem kultureller und sozialer Vergemeinschaftung einerseits im Anschluss an die gerade skizzierten soziologischen und sozialphilosophischen Herangehensweisen, andererseits in einer stärker historisierenden, vor allem auf charakteristische Transformationen innerhalb der Moderne zielenden Perspektive beleuchtet. So besteht eine zentrale Interpretation der älteren Bürgertumsforschung darin, dass sich die Bünde und Kreise seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als eine neue oder auch modifizierte Form bürgerlicher Selbstorganisation und Vergesellschaftung interpretieren lassen. Solche neuen Formen der Vergesellschaftung unterschieden sich vom Modell der alten » Assoziationen « des 18. und vor allem auch vom » bürgerlichen « Verein des 19. Jahrhunderts. Während die älteren bürgerlichen » Assoziationsformen « emanzipatorische, liberale und vom Anspruch her auch partizipatorische Züge aufwiesen, bestehe die Grundtendenz der neuen Bünde in der Abwendung von zivil-bürgerlichen Prinzipien der sozialen Organisation und der politisch-kulturellen Leitideen. Das habe sich in der Sammlung um neue » Führergestalten « und charismatische Persönlichkeiten, auch in sozialen Schließungstendenzen und emotional fundierten Vergemeinschaftungsprozessen niedergeschlagen.8 Die Bünde und die Kreise seit der Jahrhundertwende stünden, so die These, in besonderem Maße
de). Eine interessante Perspektivierung liegt etwa mit vier umfangreichen Bänden von Michel Grunewald, Hans Manfred Bock und Uwe Puschner vor, in denen intellektuelle Milieus im Hinblick auf ihre Sammlung um einschlägige Presseorgane diskutiert werden, deren gleichzeitige Zuordnung im Rahmen der Lepsiusschen Milieutheorie aber eindeutig zu kurz greift. Vgl. Michel Grunewald/Hans Manfred Bock (Hg.), Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890 – 1960), Bern u. a. 2002; Michel Grunewald/Hans Manfred Bock (Hg.), Das konservative Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890 – 1960), Bern u. a. 2003; Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.)., Das katholische Intellektuellenmilieu, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963), Bern u. a. 2006; Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963), Bern u. a. 2008. 8 Vgl. Hans Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288 – 315; zur differenzierteren Problemwahrnehmung aber: Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt (1993), 2. Aufl. 1995; ders., Ordnungen der Ungleichheit – die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871 – 1945, Darmstadt 2001. Vgl. auch: Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelmini-
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für antidemokratische und antipluralistische, insgesamt autoritäre und elitäre politische Kulturmuster, die sich nicht selten auch gegen das herrschende Parteien system richteten.9 Diese ideologisch und sozial veränderten Ausdrucksformen bürgerlicher Identität seien das Resultat eines weitreichenden Statusverlusts des traditionellen Bildungsbürgertums gewesen. In Rede steht eine gewissermaßen » kulturelle Enteignung « des traditionellen Bildungsbürgertums (Dieter Langewiesche), das sich im Zuge seiner grundlegenden » Kulturkritik « in eine letzlich irrationale Verweigerung gegenüber der Moderne geflüchtet und damit den Aufstieg des Nationalsozialismus begünstigt habe.10 Auf der anderen Seite ist jedoch zu betonen, dass mit der skizzierten Lesart das Problem bürgerlicher Vergesellschaftung und politischer Kommunikation noch keineswegs hinreichend beschrieben ist. Perspektivisch veränderte Fragen stellen sich nämlich, sobald man den Untersuchungsgegenstand nicht nur auf die Zeit bis 1933 bezieht, sondern in einen größeren Zeitrahmen setzt. Auch scheint es nicht angeraten zu sein, die Entwicklung der vielen neuen Gemeinschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nur im Kontext bürgerlicher » Pathologien « und Niedergangsnarrative zu verstehen. Eine eher andere Lesart ergibt sich schon bei der Betrachtung von Kreisen, Bünden und Intellektuellen-Netzwerken in der Zeit des Nationalsozialismus: und hier vor allem im Kontext einer Geschichte von Widerstand und abweichendem Verhalten. Sicher ist jedenfalls, dass sich die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus nicht ohne den Bezug auch auf eine Vielfalt von bürgerlichen Bünden, Kreisen und untergründigen Netzwerken schreiben lässt. Ob es die Freiburger Widerstandskreise oder der Kreisauer Kreis, ob es die » Rote Kapelle « oder die » Weiße Rose «, ob es die vielfältigen Bünde und Kreise aus der alten Jugendbewegung oder auch bürgerlich-adelige Widerstandsgruppen in Politik und Militär, in Wissenschaft und Kirchen sind – sie alle
schen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; ders. u. a. (Hg.), Handbuch zur » völkischen Bewegung « 1871 – 1918, München 1999. 9 Zur Abkehr von bürgerlich rationalen Prinzipien der gesellschaftlichen Organisation und ihrer Gefährdung durch emotional aufgeladene Vergemeinschaftungsideale vgl. bereits Helmuth Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), 2. Aufl. Bonn 1972. 10 Als Überblick: Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln u. a. 2009, S. 171 – 178; Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV: Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1993, S. 95 – 121; Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1994.
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verkörpern spezifische Formen von Resistenz und Dissidenz und vertraten z. T. politische und kulturelle Neuordnungsvorstellungen mit weitreichenden Zielen, nicht nur für Deutschland, sondern zum Teil auch für ein vom Faschismus befreites Europa.11 Auch haben ja einige dieser Gruppen ihren Widerstand in der NSZeit nachgerade auf der Basis eines am » Bündischen « orientierten Denkens und Handels entwickelt. Dieses stand prinzipiell gegen die » Formierung des Volksgenossen «, gegen Disziplinierung, Gleichschaltung und Gewissenszwang. Und die hier artikulierten Widerstandspotentiale resultierten nicht selten aus einer tiefgreifenden Desillusionierung und der Zerstörung kultureller Eigenwelten und Gemeinschaftsideale durch den nationalsozialistischen Staat.12 Schufen also, wie das gerade angedeutet worden ist, die Bünde und Kreise nicht nur Nischen und Freiräume in der Diktatur, sondern auch zivile Formen der gesellschaftlichen Verweigerung ? Traten nicht viele von ihnen – trotz vielfach vormoderner Gemeinschaftsideale und antiliberaler Grundhaltung – für die Wahrung des Rechts, für kulturelle Identität und Selbstbestimmung, auch für neue Formen politischer Organisation und Selbstverwaltung und schließlich für ein geeintes Europa ein ? Ein Problem gängiger Rezeptionen scheint zudem darin zu liegen, dass man aufgrund der immensen Bedeutung derjenigen Bünde, die seit der Jahrhundertwende nach rechts und ins völkische Lager abdrifteten, abweichende Entwicklungen nicht hinreichend diskutiert hat.13 Es ist aber wohl dezidierter als bisher zu
11 Zusammenfassend: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994; dies. (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933 – 1945, Berlin 2004. 12 Zitat: Ulrich Herrmann: » Die Formierung des Volksgenossen «. Der » Erziehungsstaat « des » Dritten Reiches «, Weinheim/Basel 1985. Die Vorstellung eines » Geheimen Deutschlands «, Formen des Untergründigen und Subversiven sowie der Schaffung von » Gegenöffentlichkeiten « gehören in diesen Zusammenhang. Vgl. Karlhans Kluncker, » Das geheime Deutschland «. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985. Eine » häretische « Funktion vieler Intellektuellengruppen ist unlängst von Wolfgang Eßbach, Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur, in: Holste/Faber (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde (wie Anm. 6), S. 23 – 33, herausgestellt worden, während M. Rainer Lepsius von Intellektuellen als » Störungsfaktor « spricht (M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie der Intellektuellen, in: ders., Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1988, S. 270 – 285, hier: S. 277). 13 Als wichtige Arbeiten zu einigen der im rechtskonservativen, radikalnationalistischen und völkischen Spektrum angesiedelten Gruppierungen sei verwiesen auf: Klaus Fritzsche, Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bür-
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fragen, ob sich nicht bereits vor und auch nach dem Ersten Weltkrieg bei vielen Bünden und Kreisen durchaus ausgeprägte Formen zivilgesellschaftlichen Engagements und der Bewahrung bürgerlicher Liberalität nachweisen lassen. Zu denken ist, außer an die bereits hinlänglich im historischen Gedächtnis verankerten Widerstandskreise, an Bünde und Netzwerke wie etwa den Hohenrodter Bund oder die New Education Fellowship, die Gesellschaft für ethische Kultur oder den Forte-Kreis, den Bund entschiedener Schulreformer oder das transatlantische Netzwerk um Friedrich Paulsen. Viele weitere ließen sich aufzählen.14 Das In-
gerlichen Gesellschaft. Das Beispiel des » Tat «-Kreises, Frankfurt a. M. 1976; Edith Hanke/Gangolf Hübinger, Von der » Tat «-Gemeinde zum » Tat «-Kreis. Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 299 – 334; Kurt Sontheimer, Der Tatkreis, in: Vierteljahreshefte zur Zeitgeschichte 7, 1959, S. 229 – 260; Yuji Ishida, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928 – 1933, Frankfurt a. M. u. a. 1988; Claudia Kemper, Das Gewissen 1919 – 1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011; Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen » Ring «-Kreises 1918 – 1933, Berlin 2000; Marjatta Hietala, Der neue Nationalismus in der Publizistik Ernst Jüngers und des Kreises um ihn, 1920 – 1933, Helsinki 1975; Ina Schmidt, Der Herr des Feuers. Friedrich Hielscher und sein Kreis zwischen Heidentum, neuem Nationalismus und Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Köln 2004; Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971; Bruno Thoss, Der Ludendorff-Kreis 1919 – 1923. München als Zentrum der mitteleuropäischen Gegenrevolution zwischen Revolution und Hitler-Putsch, München 1978. 14 Vgl. Wolf Wülfing u. a. (Hg.), Handbuch literarisch-kultureller Vereine, Gruppen und Bünde 1825 – 1933, Stuttgart u. a. 1998; Henningsen, Hohenrodter Bund (wie Anm. 4); Christine Holste, Der Forte-Kreis (1910 – 1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992; Richard Faber/Christine Holste (Hg.), Der Potsdamer Forte-Kreis. Eine utopische Intellektuellenassoziation zur europäischen Friedenssicherung, Würzburg 2001; Armin Bernhard/Jürgen Eierdanz (Hg.), Der Bund Entschiedener Schulreformer. Eine verdrängte Tradition demokratischer Pädagogik und Bildungspolitik, Frankfurt a. M. 1991; zu Paulsen und zur New Education Fellowship vgl. die Beiträge und Literatur in: Grunder u. a. (Hg.), Netzwerke (wie Anm. 4); zur Gesellschaft für ethische Kultur vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Art.: Welt/Weltanschauung/Weltbild III/2: Kirchengeschichtlich (Neuzeit), in: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 35, Berlin/New York 2003, S. 556 – 559.
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teressante an einigen dieser Kreise ist auch, dass von ihnen z. T. wichtige Impulse für die Zeit nach 1945 ausgegangen sind. Und es stellt sich in dieser Hinsicht die Frage, was aus den Kreisen, Bünden und Netzwerken nach 1945 eigentlich geworden ist. Lösten sie sich mehrheitlich auf ? Oder gab es ein » Nachleben «, sei es in Gestalt ihrer Ideen oder auch in veränderten Formen des politischen, des parteipolitischen und kulturellen Handelns. Nicht zuletzt: Lassen sich, ganz unabhängig von personellen oder generationellen Kontinuitäten, vergleichbare Formen » bürgerlicher Vergemeinschaftung « und » politischer Kommunikation « auch im » nachbürgerlichen Zeitalter « nachweisen ? Vielen dieser Fragen ist die Forschung bisher kaum nachgegangen oder sie richten sich vor allem auf die Neuorientierung von Intellektuellen im nationalkonservativen, zum Teil auch katholischen Spektrum der frühen Bundesrepublik.15 Sie können auch in dem vorliegenden Sammelband keineswegs hinreichend beantwortet werden. Der Sammelband, der die Beiträge einer Dresdner Tagung im Frühjahr 2015 bündelt, bietet gleichwohl eine Vielzahl von neuen empirischen Befunden und theoretischen Überlegungen, die das Forschungsfeld weiter konturieren helfen. Grundlegendes Ziel der Tagung war es, die Ergebnisse des an der TU Dresden angesiedelten DFG-Projekts über den » Eucken-Kreis. Bildungsbürgerliche Kulturkritik und neoidealistische Gesellschaftsreform 1900 – 1950 « mit Hilfe der Befunde für vergleichbare, bisher eher wenig beachtete Gruppierungen in einen breiteren Rahmen zu stellen und damit das vielgestaltige Phänomen bürgerlicher Vergesellschaftung weiter zu konkretisieren. Dabei standen und stehen nicht nur reine Intellektuellenassoziationen, sondern ein sozial weiter gefasstes Spektrum bürgerlicher Bünde, Kreise und Netzwerke aus unterschiedlichen Milieus zur Debatte. Auch sollten die ausgewählten Gruppen nach Möglichkeit eine transnationale sowie über das Jahr 1933 hinausreichende Perspektive eröffnen.
15 Vgl. etwa Axel Schildt, Deutschlands Platz in einem » christlichen Abendland «. Konservative Publizisten aus dem Tatkreis in der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Thomas Koebner u. a. (Hg.), Deutschland nach Hitler. Zukunftspläne im Exil und aus der Besatzungszeit 1939 – 1945, Opladen 1987, S. 344 – 369; Klaus Große Kracht, Die Wochenzeitung Christ und Welt in der Nachkriegszeit (1948 – 1958), in: Grunewald/ Puschner (Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu (wie Anm. 7), S. 505 – 531, weist auf die besondere Bedeutung des sog. Stuttgarter Kreises, eines Sammelbeckens heimatlos gewordener nationalprotestantischer Intellektueller, ehemaliger Diplomaten, kirchlicher Amtsträger und Theologen um Eugen Gerstenmaier hin. Vgl. auch ders., Neudeutschland und die katholische Publizistik – Konfessionelle Elitenbildung und kommunikative Netzwerke 1945 – 1965, in: Grunewald/Puschner (Hg.), Das katholische Intellektuellenmilieu (wie Anm. 7), S. 483 – 506.
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Die im vorliegenden Band behandelten empirischen Fallbeispiele erfassen ein recht breites Spektrum unterschiedlicher Assoziationen, die man im semantischen Feld » Kreis « » Bund « und » Netzwerk « verorten kann. Es sind dies der » Eucken-Kreis « bzw. der » Euckenbund «, der » Naumann-Kreis «, der » PatmosKreis «, das intellektuelle Netzwerk der Dialektischen Theologie, der » Leuchtenburg-Kreis «, der » Schweizer Lichtbund «, eine Reihe von politischen » Klubs «, der » Österreichische Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen « (CV), schließlich der Arbeitskreis um Georg Picht, der sich als » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « Ende der 1950er Jahre der alten Bundesrepublik konstituierte.16 Sie alle verbindet der vorn bereits entfaltete Aspekt eines bewusst » voluntaristischen « Aktes und eines zunächst einmal lebensweltlichen, persönlichen Zusammenhangs, der jedoch keineswegs für die gesamte Geschichte des » Kreises « oder auch » Bundes « prägend sein muss. Sie alle agierten oder reagierten auf bestimmte Herausforderungen in einer in der Regel als krisenhaft empfundenen Moderne bzw. einer gesellschaftlichen Situation, die als problematisch angesehen wurde. Sie waren geleitet von der Bereitschaft, kulturelle und gesellschaftliche Reformen bzw. Veränderungen, wenn schon nicht zu initiieren, so doch zumindest intensiv zu diskutieren, um daraus Orientierung zu gewinnen.17 Sie blieben dabei in der Regel einem » vorpolitischen «, jedenfalls eher wert- als zweckrational orientierten Selbstverständnis verhaftet, wobei die Grenzen zur Politik fließend waren, so dass die kulturellen und gesellschaftlichen Aktivitäten auch in ein direktes politischen Engagement einmünden konnten. Die auf der Tagung » Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke « präsentierten und diskutierten Beiträge haben viele der oben angesprochenen Fragen näher beleuchtet. Den dabei erzielten Erkenntnisgewinn wollen wir im Folgenden
16 Die Aufnahme des Tagungsbeitrags von Christopher König über das Netzwerk um den Theologen Martin Rade (» Vereinigung der Freunde der christlichen Welt «) ließ sich aus Zeitgründen leider nicht realisieren. 17 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die grundlegende Kompetenzbeschreibung des Bürgertums bei Thomas Mergel, der davon ausgeht, dass das Bürgertum über » gesellschaftliche Steuerungsqualifikationen « verfüge (ders., Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794 – 1914, Göttingen 1994, S. 7 f. M. Rainer Lepsius spricht mit Blick auf das Bürgertum von der » freien Interessenformierung der naturrechtlich Gleichen « sowie dem » Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsanspruch der politisch Qualifizierten « (ders., Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 79 – 100, hier: bes. S. 88 ff).
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möglichst pointiert zusammenfassen. Damit erschöpft sich aber natürlich nicht der Ertrag der einzelnen Beiträge, die immer auch eigenen, spezifischen Fragestellungen und Erkentnisinteressen folgen.
Formen
und
Strukturen , M odelle
und
E ntwicklungen
Ein zentraler Aspekt der Kreisbildungen bezieht sich auf das Problem der äußeren Organisation, auf Formen, Strukturen und Modelle bürgerlicher Assoziationen, wie sie sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelten. Dabei stehen Fragen nach charakteristischen Eigenschaften und typischen Entwicklungen, nach homogenisierenden und divergierenden Faktoren der Gemeinschaftsbildung zur Debatte. Auch sind Entwicklungen zu verfolgen, in deren Verlauf sich ursprüngliche Intentionen möglicherweise nur noch sehr bedingt wiederfinden lassen.18 Die Aufsätze des vorliegenden Bandes bieten dazu ein weites Spektrum unterschiedlicher Varianten. Einen theoretischen Zugang, wie man die hier handelten Assoziationsformen typologisch beschreiben könnte, eröffnet Knut Martin Stünkel. Er stellt in seinem Beitrag die Überlegungen des Bielefelder Soziologen und Sozialphilosophen Jürgen Frese zur gruppensoziologischen Konzeptionalisierung von Intellektuellen-Assoziationen vor. Gruppen bieten, allgemein gesprochen, einen sinnhaften Rahmen, ein » Formular « in Freses Terminologie, dessen Leerstellen ihren Mitgliedern bestimmte Handlungsmöglichkeiten eröffnen, in das sie sich einschreiben können. Das » Meta-Formular « von Intellektuellen-Assoziationen umreißt Frese mit Rückgriff auf religionssoziologische Theoreme als Prozess, der von einer als » Pfingsterlebnis « mythisch erinnerten Gründungsversammlung ausgeht. Es formiert sich dann eine Gruppe, die sich um einen charismatischen Führer/Meister schart und ein gruppenzentriertes Narrativ entwickelt, nach dem sich die Gruppe immer wieder neu inszeniert, definiert und nach außen hin abgrenzt. Stünkel wendet den Ansatz Freses in seinem Beitrag auf den » Patmos-Kreis « explizit an. Im Falle des Patmos-Kreises « handelt es sich um eine kleine Gruppe von sechs Autoren, die sich trotz im Detail unterschiedlicher Positionen bzw.
18 Vgl. hierzu schon Thomas Mann, der in seinem Roman: Der Zauberberg (Berlin 1924), Frankfurt a. M. 1952, mit Bezug auf die Freimaurerbünde feststellt, dass diese über » etwas in absolutem Geist Organisatorisches «, aber auch ein » Unbedingte[s] « und ein › Terroristisches ‹ verfügten. Andererseits hielt er ebenso vielfältige » Verwässerung[en] « für möglich, die » Reste von fruchtbarem Geheimnis « enthielten (S. 696 – 704).
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einer » Polyphonie « der Stimmen um ein gemeinsames Reformprojekt im Umfeld des » Patmos-Verlages «, aber auch zwei weiterer zu gründender Verlage sammelten. Die Mitglieder des Kreises, ausschließlich Männer19, inszenierten sich als eine » fast schon eschatologische Avantgarde, vielleicht im Sinne einer frühchristlichen Charismatikergruppe «, verstanden ihr jeweils individuelles Publizieren aber als » ein großes (Gruppen)projekt «. Auch scheint in der kurzen Zeit der Existenz des Kreises (1919 – 1921) keineswegs klar gewesen zu sein, ob einem der Beteiligten eine führende, » stiftende « Position zukam, ungeachtet einer möglicherweise unterschiedlichen Selbstwahrnehmung. Auch der Aufsatz von D. Timothy Goering bietet vortreffliches Anschauungsmaterial zur Verifizierung von Freses Überlegungen. Goering rekonstruiert die Geschichte des intellektuellen Netzwerkes der Dialektischen Theologie, das sich um die evangelischen Theologen Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen und Karl Barth bildete. Die Gruppe, die vielleicht nicht aus einer einzigen, aber doch mehreren pfingstähnlichen » Ur-Erfahrungen « (Aufsatz Gogartens und Römerbriefkommentar Barths) hervorging, erlangte ihre Bedeutung durch die Dramatisierung theologischer Differenzen, charismatische Auftritte auf Konferenzen, Bücher und Vorträge sowie eine zentrale Zeitschrift. Auch Aspekte » emotionaler Hingenommenheit « klingen an. Insgesamt handelte es sich jedoch auch hier um ein prekäres Projekt relativ kurzlebiger Zusammenarbeit, das aufgrund weitreichender interner Differenzen so schnell wie es begonnen hatte schon bald wieder beendet wurde und nur notdürftig, nicht zuletzt aufgrund einer gemeinsamen Zeitschrift und einer geeigneten Vermittlungsfigur wie Georg Merz zusammengehalten wurde. Man kann allerdings durchaus darüber diskutieren, ob sich die Typologie Freses auf das gesamte Spektrum der hier behandelten Formen der Gruppenbildung sinnvoll anwenden lässt. Eine gewisse Gegenposition zum Modell des Kreises, der sich um einen charismatischen Führer schart, formuliert Gabriele Guerra anhand der Auseinandersetzung Walter Benjamins mit dem Kreis um Stefan George. Benjamin hat im Zuge seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit der von George repräsentierten, vertikal und horizontal strukturierten Gemeinschaftsvorstellung, in deren Zentrum der Dichter als » Person « und seine Anhän-
19 Welche Personen genau zum Patmos-Kreis zählten, ist in der Literatur umstritten. Stünkel nennt: Leo Weismantel, Hans und Rudolf Ehrenberg, Werner Picht, Eugen Rosenstock und Karl Barth, während Franz Rosenzweig eher nicht dazu zu zählen sei. Vgl. hierzu neuerdings auch Wolfgang D. Herzfeld, Rosenzweig, » Mitteleuropa « und der Erste Weltkrieg. Rosenzweigs politische Ideen im zeitgeschichtlichen Kontext, Freiburg 2013.
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ger als » Auserwählte « fungieren, das Modell einer » Gemeinschaft der Erkennenden « gesetzt. Benjamin ging es um die Trennung von » Person « und » Werk «. In der Gemeinschaft der Erkennenden steht die » Erkenntnis « selber im Mittelpunkt. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Kreises, eine Gemeinschaft der Wissenden zwar, aber im Sinne eines demokratischen Arrangements. Sie ist auch keine geschlossene Gemeinschaft, sondern eine letztlich » unmögliche Gemeinschaft «, die bis ins » Einzelgängerdasein « führen kann.20 Die Prinzipien dieser Kreiskonzeption waren dem Selbstverständnis vieler Kreise und Bünde seit der Jahrhundertwende keineswegs fremd. Sie kumulieren etwa im Begriff der » Arbeitsgemeinschaft «, in der sich » zehn, zwölf Suchende «, ein » › Sternenhaufen ‹ ausgeprägter Individualitäten «, wie es hieß, zusammenfanden, um im Modus des » Gesprächs « gemeinsam an spezifischen Fragestellungen, durchaus im Sinne der Überwindung einer Kulturkrise oder ähnlichem, zu arbeiten.21 Das Problem emotionaler oder distanzierter, gleichberechtigter oder hierarchischer Beziehungen sowie die Frage typischer Entwicklungsmodi lässt sich auch in weiteren Beiträgen des vorliegenden Bandes explizit verfolgen. Michael Schäfer kann die Genese einer » Bewegung « bzw. eines » Kreises «, schließlich eines » Bundes « rekonstruieren, der sich sukzessive um die Figur eines » Meisters «, den Philosophieprofessor und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, sammelte. Anders als in hierarchischen Gruppenkonzeptionen zeichneten sich Bund und Kreis allerdings ebenfalls durch divergierende Tendenzen aus, die sich, besonders nach dem Tode des » Meisters «, auf unterschiedlichen Organisationsebenen niederschlugen. Damit zum Teil zusammenhängend standen personelle und auch familiäre Differenzen. Die organisatorische Verfestigung des » EuckenBundes « will jedenfalls nicht zur Vorstellung eines » Personenverbundes « mit
20 Vgl. zum George-Kreis bis 1933 grundlegend: Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George Kreis 1890 – 1933, Köln u. a. 1997, dort auch zum Verhältnis von Stefan George und Walter Benjamin, S. 362 – 369. 21 Vgl. Henningsen, Hohenrodter Bund (wie Anm. 4), S. 78 f, 82, Zitate ebd.; ders., Theorie (wie Anm. 4), S. 37 f. Im Forte-Kreis wurde das Bild einer » platonischen Akademie « verwandt, demzufolge man von einer » Einheit über den Gegensätzen « ausging (Christine Holste, Königliche des Geistes – ohne König. Der ForteKreis (1910 – 1915), in: Faber/Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde (wie Anm. 6), S. 403 – 423, hier: S. 409). Holste verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Konzeption Wolfgang Eßbachs, der die Intellektuellengruppe als » eigenständiges Experimentierfeld intellektueller Selbstentwürfe « charakterisiert, deren Standort sich als » beweglich « erweise (ebd., S. 406).
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vor allem emotionalen Bindungen passen. Der » Bund « zeichnete sich eher als eine offene Assoziation denn als ein geschlossener Zirkel aus. Ursula Krey rekonstruiert die Geschichte eines » zivilgesellschaftliche(n) Netzwerks mit religiösen Wurzeln «, das sie im Umfeld des Pfarrers und Politikers Friedrich Naumann ausmacht. Ausgehend von einem eng verbundenen Freundeskreis junger Männer aus der Schul- und Studienzeit Naumanns wandelt sich auch dieser Kreis in ein weitverzweigtes, flexibles Netzwerk aller Altersgruppen (incl. Frauen) und gewinnt seine Bedeutung auf der Basis vielfältiger medialer und institutioneller Reformprojekte. Obwohl Naumann in diesem Netzwerk von manchen seiner Angehörigen als eine » charismatische « Führungsfigur (» Prophet «, » Präzeptor «, » Führer «) verehrt wurde, bleibt das » Netzwerk « insgesamt einem demokratischen Kommunikationsstil verhaftet und zeichnet sich durch eine Art » Geistesverwandtschaft « aus, die Krey als eine grundlegende Affinität zu staatsbürgerlich-zivilen Ordnungsvorstellungen und Organisationsprinzipien beschreibt. Eine Distanz zu Führerschaft oder autoritärer politischer Kommunikation im Rahmen der eigenen sozialen Organisation lässt sich im übrigen für große Teile der rechtskonservativen Klubbewegung der Weimarer Republik nachweisen, wie André Postert in seinem Beitrag herausarbeitet und sich damit explizit gegen eine nach wie vor virulente These der älteren Bürgertumsforschung richtet. Statt der Preisgabe bürgerlicher Organisationsprinzipien konturiert Postert am Beispiel vor allem der » jungkonservativen Klubs « das Modell eines » sozialen Egalitarismus «, mithin liberale politische Umgangsformen, die noch ganz in den Traditionen bürgerlicher Assoziationen seit dem 18. Jahrhundert stehen. Auch lehnten die Klubs die proletarischen Umgangsformen der nationalsozialistischen Verbände weitgehend ab, selbst wenn sie politisch mit der Hitler-Bewegung sympathisierten. Ein im Kern liberales Modell bürgerlicher Vergesellschaftung wurde hier allerdings mit dem politischen » Kampf gegen die Demokratie von Weimar … verknüpft «, wie Postert in seinem Fazit pointiert formuliert. In den politischen Klubs der Weimarer Zeit manifestierte sich daher letztlich eher eine Kontinuität zu bürgerlichen Assoziationsformen des 19. Jahrhunderts wie den städtischen Honoratiorengesellschaften. Damit wird wiederum der von der klassischen Bürgertumsforschung entworfene Idealtypus des Vereins als offener Assoziation – im Unterschied zum geschlossenen, exklusiven Bund – zu einem ziemlich fragwürdigen analytischen Konstrukt.22
22 Vgl. etwa Hartmut Boockmann u. a. (Hg.), Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, S. 1 – 44.
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Ein durchaus ähnliches Bild ergeben die empirischen Befunde von Andreas Huber für die von ihm untersuchten österreichischen Eliteassoziationen, den » Deutschen Klub « und den » Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen «. Auch in diesem Falle formierten sich aus Assoziationen mit überwiegend geselligen Zwecksetzungen einflussreiche politische Pressure Groups mit autoritär-elitistischen Agenden. Huber verweist zudem auf ein Moment, das solche Zusammenschlüsse attraktiv für ihre Mitglieder machte, nämlich ihre Nützlichkeit für die Förderung beruflicher und politischer Kar rieren. Eine im engeren Sinne » bündische « Formation stellt Justus H. Ulbricht mit dem » Leuchtenburg-Kreis « vor. Dieser Kreis von Jugendlichen, jungen Erwachsenen und Lehrern aus höchst unterschiedlichen kulturellen Milieus und geprägt besonders von Vertretern der » Leipziger Richtung « der Erwachsenenbildung hing einem Gemeinschaftsideal an, das sich in der Verbindung von » Organisation «, » Tatwille « und » weltanschaulicher Gebundenheit « zu erweisen hatte. Auch in diesem Fall zeigen sich bemerkenswerte Ambivalenzen. Denn einerseits priesen die » Leuchtenburger « den » faschistischen Verband als Überwindung der Partei «. Andererseits lehnten sie jedoch eine » kritiklose Führeranbetung « ab und wollten den Parteienstaat der Weimarer Republik » in irgendwelchem Sinne « erhalten. Der Leuchtenburg-Kreis versuchte darüber hinaus, seine Positionen zu anstehenden Fragen (» Nöten «) der Zeit immer wieder auf seinen Tagungen auf der thüringischen » Leuchtenburg «, jenem als » Ort des Lichts « verklärten Versammlungsort kritisch zu diskutieren. Auch das Beispiel des » Schweizer Lichtbundes «, der aus dem lebensreformerischen Milieu des frühen 20. Jahrhunderts hervorging, verweist noch einmal, wie Eva Locher und Stefan Rindlisbacher in ihrem Beitrag darlegen können, auf die grundlegende Spannung von eher lebensweltlich akzentuierten und stärker organisatorisch festgefügten Vergemeinschaftungsprozessen. » Geteilte Überzeugungen « – » innere Verwandtschaft « – und eine gemeinsame » lebensreformerische Praxis « – in Ferienlagern und bei lokalen Treffen an sog. » Sammelpunkten « – stellten zunächst nicht mehr als ein » loses Netz aus persön lichen Kontakten und schriftlichem Austausch « dar. Sie fanden ihre – für die Behauptung der Freikörperkulturbewegung offensichtlich notwendige – Ergänzung in Form regelmäßig erscheinender Periodika sowie auch der Gründung des » Schweizer Lichtbundes « selber als einer formellen » Organisation « im Jahre 1927. Der Lichtbund war nicht zuletzt aufgrund äußeren Drucks auf die Freikörperkultur in der Schweiz zustande gekommen und entbehrte nicht eines ausgeklügelten Systems der Selektion und Kontrolle: zum einen, um die eigenen Mitglieder » vor Übergriffen beim Nacktsein (zu) schützen «, zum anderen, um die Grenzen nach außen klar zu markieren.
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Die › wehrpolitische ‹ Kommission unter dem sperrigen Namen » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « schließlich, die Hagen Stöckmann in seinem Beitrag analysiert, war weder ein » Klub « noch ein » Bund «. Sie war auch nicht der unmittelbare Ausfluss einer » Bewegung «, selbst wenn sie im Kontext der friedens- und militärpolitischen Auseinandersetzungen in der frühen Bundesrepublik um die Wiederbewaffnung entstanden war. Als » ein personell ausgelagertes, langfristiges Projekt der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) « in Heidelberg unter der Leitung des evangelischen Theologen und Religionsphilosophen Georg Picht stellte sie, wie Stöckmann argumentiert, wohl eher ein » Denkkollektiv « (Ludwig Fleck) dar, auch eine » Arbeitsgemeinschaft «, eine » Denkfabrik «, wenn man so will, die aus zivilen Vertretern deutscher Universitätsseminare und Forschungsinstitute (Soziologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Pädagogik und Psychologie) kamen, über keine oder nur lose Verbindungen zum Militär verfügten und über grundlegende Fragen der politischen Entwicklung zum Zweck wissenschaftlich begründeter (» politischer «) Stellungnahmen diskutierten. Insgesamt ergibt sich aus den knapp skizzierten Fällen ein differenziertes Bild vielgestaltiger Formen kultureller Vergesellschaftung/Vergemeinschaftung, dessen Einzelelemente sich einer typisierenden Beschreibung nur schwer einfügen, selbst wenn sich bestimmte Strukturmuster und Entwicklungen immer wieder nachweisen lassen. Auffällig ist insbesondere, dass eindeutige soziale Beziehungen im Sinne eines Meister-Schüler- oder Gefolgschaftsverhältnisses in vielen Fällen nicht oder nur in Ansätzen vorkommen. Auch möglicherweise vorhandene emotionale Bindungen wurden relativiert durch formelle Organisationsstrukturen. Für den Entwicklungsprozess der Bünde und Kreise spielten Medien oder Verlage, auch besondere Orte und separate Diskussionsforen eine entscheidende Rolle. Vor allem überrascht das Fehlen » charismatischer Führungsfiguren « gerade in solchen Verbünden, deren erklärtes Ziel in der Überwindung des politischen Systems der Weimarer Republik lag. Nicht zuletzt wird man festhalten müssen, dass die Sympathie für bündische Strukturen nicht notwendigerweise mit dem Kampf gegen das politische System verbunden sein musste.
Politische
und kulturelle
O rientierungen
Auch das politische und kulturelle Selbstverständnis der Kreise und Bünde war keineswegs homogen oder eindeutig. Sie unterschieden sich in mehrfacher Hinsicht. Ihre unterschiedliche Ausrichtung ergibt sich zunächst einmal aus den vielfältigen kulturellen Interessenlagen, seien sie eher ethisch-moralischen, religiöstheologisch-philosophischen, kultur- oder bildungspolitischen, gesellschafts- und
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lebensreformerischen Zielen verpflichtet. Dabei standen in der Regel Fragen und Problemstellungen im Vordergrund, die sich aus einer als krisenhaft empfundenen kulturellen oder religiösen, politischen oder gesellschaftlichen Herausforderung ergaben, zu deren Bewältigung die in Rede stehenden Gruppen durch Diskussionen, Publikationen, Tagungen u. ä. beitragen wollten. Sie blieben damit einer Mentalität verhaftet, die sich von der » Steuerungsfunktion « des Bürgertums im Hinblick auf die Ausrichtung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung überzeugt zeigte, ungeachtet einer zuweilen durchaus » antibürgerlichen « Selbstinszenierung.23 Dabei erwiesen sich viele der politischen Überzeugungen allerdings alles andere als unproblematisch. Die stärksten Belastung gingen in der Zwischenkriegszeit von den » jungkonservativen « und nationalen » Klubs « aus. Die Klubs einte eine grundlegende Verachtung des parlamentarischen und demokratischen Systems. Sie stellten sich gegen die » Parteien «, traten mit dem Anspruch auf, Parteigrenzen zu überwinden und votierten für sog. » dritte Wege « (zwischen Kapitalismus und Sozialismus). Auch völkische Staatsutopien spielten eine Rolle. In der Klubbewegung kam gleichwohl zunächst auch liberalen und demokratischen Klubs eine Bedeutung zu. Diese gerieten aber seit der Mitte der 1920er Jahre spätestens in die Defensive und zeigten kaum ein nennenswertes Interesse daran, die Demokratie zu verteidigen. Nationale und konservative, völkische und antisemitische Positionen fanden ihren Niederschlag auch in dem von Andreas Huber analysierten österreichischen Fallbeispielen. Die beiden untersuchten Assoziationen hingen allerdings konkurrierenden Versionen autoritärer Ordnung an. Diente der Deutsche Klub nach 1933 als Anlaufstelle für die zeitweise verbotene österreichische NSDAP, so stand der Cartellverband dem katholisch geprägten austrofaschistischen Regime nahe. Ähnliche Ambivalenzen finden sich auch in anderen Kreisen, Bünden und Intellektuellen-Netzwerken, insbesondere seit Beginn der 1930er Jahre und dann in der NS-Zeit, sofern sich die organisatorischen Strukturen überhaupt noch aufrechterhalten ließen oder die Bünde und Kreise als ganze verboten wurden bzw. sich selber auflösten. Solche Entwicklungen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich gerade anhand einiger der hier versammelten Beispiele auch andere Dispositionen und Entwicklungen nachweisen lassen, die nicht vorschnell im Kontext einer Preisgabe liberaler Prinzipien interpretiert werden
23 Vgl. dazu noch einmal Mergel, Klasse (wie Anm. 17); sowie Lepsius, Soziologie (wie Anm. 17). Als dezidiert » antibürgerlich « im Sinne einer kritischen Distanz zum eta blierten Wissenschaftssystem verstanden sich etwa die Mitglieder des » Patmos-Kreises « sowie auch die Angehörigen des » Netzwerkes der Dialektischen Theologie «.
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sollten. Zudem sind einige der untersuchten Fälle insofern interessant, als sich an ihnen – eher ungewöhnlich – liberale Prinzipien mit einer christlich-religiösen Rückbindung durchaus vereinbaren ließen, ja zum Teil von ihr geradezu disponiert waren. Das gilt besonders für den Naumann-Kreis, dessen Geschichte sich bereits seit dem Kaiserreich durch ausgeprägte (sozial-)liberale und demokratische Überzeugungen seiner Mitglieder, die in der Regel einem vor allem kulturprotestantischen Deutungshorizont verpflichtet blieben, auszeichnete. Dazu zählten die Akzeptanz der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Integration der Arbeiterschaft, ebenso von Frauen sowie die Ablehnung des Antisemitismus. Solche Positionen mündeten im politischen Engagement für linksliberale Parteien bis hin zur DDP in der Weimarer Republik und fanden ihren Ausdruck in einschlägigen Reformprojekten wie etwa dem Deutschen Werkbund oder der Deutschen Hochschule für Politik. Auch der Naumann-Kreis blieb im Zuge seiner Pluralisierung freilich nicht frei von belastenden politischen Positionen, die sich aus der unzureichenden Verankerung des Demokratiegedankens und des ungeklärten Verhältnisses zu den Referenzgrößen des » Volkes « und der » Nation « ergaben. Auch setzte eine schleichende Entpolitisierung ein, die 1933, selbst wenn resistente Überzeugungen überwogen, zur politischen Kapitulation vor der » Dämonie der Macht «24 führten. Zivilbürgerliche Prinzipien und das Festhalten an einem Humanismus des 19. Jahrhunderts mit einer Hochschätzung des Individuums sowie auch einer klaren Bestimmung der Grenzen des Staates, vor allem auch die Überzeugung von der Kulturbedeutung eines erneuerten Christentums wurden im Eucken-Kreis als wesentliche Bestandteile einer geistigen Neuorientierung im Anschluss an die Lehren Rudolf Euckens eifrig rezipiert. Euckens Denken entbehrte nicht einer universalistischen Tendenz; und auch das kulturpolitische Handeln des Bundes besaß eine internationale Dimension. So bemühte man sich im Eucken-Haus bis in die NS-Zeit hinein um die Integration ausländischer Wissenschaftler und Studierender, die dort Unterkunft fanden, um das deutsche Wissenschaftssystem kennenzulernen. Andererseits sind auch im Eucken-Kreis die Ambivalenzen deutlich erkennbar. Eucken selber war bereits vor 1914 und im Krieg tief in einen nationalistischen Narrativ sowie auch die Kriegspropaganda verstrickt. Der 1919 gegründete Euckenbund und viele seiner Ortsgruppen positionierten sich in erbitterter Opposition zum Weimarer Staat. Nicht wenige seiner Aktivisten und Mitglieder hingen völkischen, radikalnationalistischen und antisemitischen Ideologien an. Die Haltungen der Mitglieder des Eucken-Kreises zum NS-Re-
24 Vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, Stuttgart 1947.
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gime wiederum reichten von euphorischer Partizipationsbereitschaft über pragmatische Anpassung bis hin zum aktiven Widerstand. In ebenso eigentümlicher Weise verbanden sich autoritäre und demokratisch-zivile Einstellungen im » bündischen Sozialismus « des Leuchtenburgkreises. Hier erscheint aber der Konsens über die Ablehnung des Nationalsozialismus eindeutiger gewesen zu sein als im Falle der Euckenianer. Eine Neubesinnung auf das Christliche ist selbstredend für den » PatmosKreis « sowie das » Netzwerk der Dialektischen Theologie « in Anschlag zu bringen. Im Falle der » dialektischen Theologen « bestand das eigentümliche Phänomen darin, dass aus einer radikalen Theologie des Wortes Gottes und einer damit konsequenterweise verbundenen » Ethik des Nicht-Handelns « eine unversöhnliche Spaltung folgte, die für Gogarten in die theologische Akzeptanz der » nationalen Revolution «, und das heißt konkret: die zeitweilige Unterstützung der » Deutschen Christen « führte, während Barth und andere den Weg in die » Bekennende Kirche « gingen. Im Patmos-Kreis bestand der religiöse Aufbruch in einer » intra-religiösen Überbrückungsleistung «, der es um die Überwindung der Gegensätze etwa von Glauben und Wissen, katholisch und evangelisch, eigentümlicherweise aber nicht von Judentum und Christentum ging, obwohl zum PatmosKreis mit Eugen Rosenstock und den beiden Ehrenbergs (Hans und Rudolf) drei Mitglieder mit jüdischen Wurzeln zählten. Die politischen Wege der Mitglieder dieses kurzlebigen Kreises, der nur von 1919 bis 1921 existierte, führte schon von diesen Voraussetzungen her in ganz unterschiedliche Richtungen. In anderem nationalen Kontext schließlich ist die politische und kulturelle Prägung der Mitglieder des » Schweizer Lichtbundes « zu betrachten. Auch die politischen Positionen innerhalb der bundesrepublikanischen » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « um Georg Picht in den 1960er Jahren erfordern eine andere Perspektive, weil sie, obwohl sie ohne die Erfahrungen des Nationalsozialismus nicht denkbar sind, einem späteren Zeithorizont entspringen. Sie sollen daher an dieser Stelle nicht weiter verfolgt, sondern im letzten Abschnitt noch einmal gesondert aufgenommen werden. Insgesamt ergibt sich bis hierher, dass sich auch in politischer und kultureller Hinsicht nur ein sehr viel offeneres Bild zeichnen lässt, als es bei einer Konzentration auf die rechten Bünde möglich wäre, die Hans Mommsen als Beleg für seine These von der politischen Entliberalisierung des Bürgertums ins Feld führt. Eine Reihe der hier vorgestellten Kreise und Bünde war geprägt auch von zivilbürgerlichen Überzeugungen mit zum Teil weitreichenden politischen, kulturellen und sozialen Wertvorstellungen. Diese blieben gleichwohl prekär: Sehr viele ihrer Mitglieder kapitulierten letzlich vor der » Dämonie der Macht «. Andere hingegen suchten den Weg zwischen Anpassung und Resistenz, wurden vertrieben, emigrierten (so etwa Karl Barth und Eugen Rosenstock-Huessy) oder sie enga-
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gierten sich aktiv im Widerstand wie etwa Walter Eucken oder auch Karl Barth, Rudolf Bultmann und Hans Ehrenberg in der Bekennenden Kirche.
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nach
1945
Die Zeit der kulturkritischen Kreise, Bünde und Intellektuellen-Assoziationen scheint unwiederbringlich vorbei. Nicht nur in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch unter den Bedingungen des politischen Neuanfangs nach 1945 gab es für sie nur noch bedingt Anknüpfungsmöglichkeiten. Das mag mit einer grundlegend veränderten politischen Situation nach 1945 zusammenhängen, je länger desto mehr vor allem mit einem funktionierenden Parteiensystem und möglicherweise mit dem Ende des Bürgertums überhaupt.25 Die Betrachtung der hier bearbeiteten Kreise, Bünde und Intellektuellen-Netzwerke lassen gleichwohl einige Kontinuitätslinien aufscheinen, die aber eher in wichtigen Impulsen, zum Teil verpflichtenden Ideen und einschlägigen Projekten, nicht aber oder kaum in den einmal ausgebildeten Netzwerk- und Kreisstrukturen bestanden. Im Falle des Naumann-Kreises ist zunächst auf die großen Projekte des » Deutschen Werkbundes « und der » Deutschen Hochschule für Politik «26 zu verweisen, die beide bis heute existieren und für die Ausbildung demokratischer Überzeugungen sowie auch die im Naumann-Kreis immer wieder vertretene Maxime einer » Verpflichtung zur Politik « stehen. Naumanns politische Überzeugung von der notwendigen Integration von Arbeiterschaft und liberalem Bürgertum hat ihre späte Resonanz im sozialliberalen Aufbruch in der Bundesrepublik Ende der 1960er Jahre gefunden, ebenso wie die von Naumann 1919 konzipierte Rechtsstellung der Kirchen im demokratischen Verfassungsstaat bis heute Gültigkeit besitzt.27
25 Vgl. Hannes Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit ? Die Kategorien » Bürgertum « und » Bürgerlichkeit « in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode, in: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, S. 549 – 583; Manfred Hettling/Bernd Ullrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005; Habbo Knoch, » Mündige Bürger « oder: Der kurze Frühling einer partizipatorischen Vision. Einleitung, in: ders. (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 9 – 56. 26 Aus der Deutschen Hochschule für Politik ist das heutige » Otto-Suhr-Institut « an der Freien Universität Berlin hervorgegangen. 27 Vgl. Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000; Frank Fehlberg, Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politi-
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Ganz wesentlich am Aufbau der neuen demokratischen Ordnung zeigten sich nach 1945 viele der » Leuchtenburger « beteiligt. Nicht wenige der Überlebenden engagierten sich, nach Anpassung oder Widerstand, Kriegsteilnahme oder auch innerer Emigration, wieder in der Volks- und Erwachsenenbildung, die sie als den » Königsweg eines gesellschaftlichen Gesinnungswandels « ansahen und damit ihrer bereits vor dem Krieg deutlich gewordenen Haltung eines demokratischen » Verpflichtetseins « entsprachen. Sie arbeiteten als Lehrer, Hochschullehrer, Bildungssekretäre, Bibliothekare, Rechtsanwälte und Notare, nicht nur in Deutschland, zum Teil auch in England und den USA, in der politischen Bildung und im Kontext der » reeducation «-Politik.28 Im Falle des Wirkens von Angehörigen des Eucken-Kreises ist das Wirtschaftskonzept des Ordoliberalismus besonders herauszustellen, das Walter Eucken nach dem Krieg nicht unwesentlich in einen » › transzendenten ‹ Begründungszusammenhang « stellte und damit im Kontext der philosophischen Lehren seines Vaters verortete. » Die › richtige ‹ Ordnung des Wirtschaftslebens « erschien hierbei, in durchaus eigensinniger Auseinandersetzung mit dem Werk des Vaters, als die » Vorbedingung und Grundlage einer im christlichen Glauben wurzelnden Lebensordnung «.29 An solche und ähnliche Modelle ließ sich in der neuen Republik bekanntermaßen anknüpfen.30 Die Wirkungsgeschichte der Dialektischen Theologie, speziell vor allem des theologischen Werkes von Karl Barth sowie die damit verbundene Erinnerungskultur eines bekenntniskirchlichen, sowohl linksdemokratischen als auch von nationalen Deutungsmustern nicht freien Protestantismus wird man bis in die 1960er Jahre und möglicherweise weit darüber hinaus als nicht hoch genug ver-
sches Denken um Friedrich Naumann, Bonn 2012; auch Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013. 28 Vgl. Fritz Borinski u. a. (Hg.), Jugend im politischen Protest. Der Leuchtenburgkreis 1923 – 1933 – 1977, Frankfurt a. M. 1977, Zitat nach Ulbrichts Beitrag in diesem Band. 29 Vgl. Michael Schäfer, Kapitalismus und Kulturkrise: Walter Eucken und die Philo sophie Rudolf Euckens, in: Swen Steinberg/Winfried Müller (Hg.), Wirtschaft und Gemeinschaft. Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2014, S. 303 – 318, Zitate: S. 318. 30 Vgl. neuerdings: Hans Maier (Hg.), Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014; wichtig auch: Claudia Lepp, Konservativ-christlicher Widerstand: Das Beispiel Gerhard Ritter, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 2, 2008, S. 69 – 89.
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anschlagen können.31 Mit Karl Barth übrigens befand sich ein später höchst einflussreicher Intellektueller bereits auch im Patmos-Kreis, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Auch ist das Wirken einiger der anderen aus diesem Kreis noch für die Zeit nach 1945 von Bedeutung. Von Hans Ehrenberg gingen wesentliche Impulse für den jüdisch-christlichen Dialog aus, während eine breitere Rezep tionsgeschichte von Eugen Rosenstock-Huessy wohl noch bevorsteht.32 Werner Picht, der außer seiner frühen Mitgliedschaft im Patmos-Kreis in den 1920er Jahren zu den Mitgliedern des Hohenrodter Bundes zählte und im Zusammenspiel mit dem preußischen Kultusministerium auf die Erwachsenenbildung jener Jahre maßgeblich eingewirkt hat, war Teil einer noch weiterreichenden Wirkungsgeschichte: Diese Linie führt bis in die Bildungsreformpolitik der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren und war nicht unwesentlich geprägt von einem offensichtlich generationenübergreifenden, protestantisch-bildungsbürgerlichen Netzwerk aus einflussreichen Politikern, Wissenschaftlern, Pädagogen und Publizisten. Das kann hier nicht im einzelnen dargelegt werden, zumal die Forschungen dazu noch in den Anfängen stecken. Es sei aber nur darauf verwiesen, dass zwei ihrer herausragenden Akteure in den 1960er Jahren, Georg Picht und Hellmut Becker, über ihre Familien bereits mit den Traditionen einer auf politische Beteiligung setzenden Bildungsreform vertraut waren. Hellmut Becker war der Sohn des preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, und Georg Pichts Vater, Werner Picht, Referatsleiter für Erwachsenenbildung im selben Ministerium. Manche sprechen im Hinblick auf das Netz dieser protestantisch-liberalen bildungsbürgerlichen Eliten ironisch von einer » protestantischen Mafia «, andere von einem » informellen Kultusministerium « in den 1960er Jahren. Es war mit einflussreichen Institutionen, etwa dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin (MPI) oder der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST), dessen erster Direktor Georg Picht war, ver-
31 Vgl. neuerdings Stefan Holtmann, Karl Barth als Theologe der Neuzeit. Studien zur kritischen Deutung seiner Theologie, Göttingen 2007; zur sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Kontextualisierung: Frank-Michael Kuhlemann: Nachkriegsprotestantismus in Westdeutschland. Religionssoziologische und mentalitätsgeschichtliche Perspektiven, in: Bernd Hey (Hg.), Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel, Bielefeld 2001, S. 23 – 59, hier: S. 38 ff. 32 Vgl. neuerdings: Knut Martin Stünkel (Hg.), Ins Kielwasser der Argo. Herforder Stu dien zu Eugen Rosenstock-Huessy, Würzburg 2012; zu Ehrenberg: Manfred Keller/ Jens Murken (Hg.), Das Erbe des Theologen Hans Ehrenberg. Eine Zwischenbilanz, Münster 2009.
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woben. Seine Mitglieder saßen in politischen Gremien und Kommissionen (etwa dem Deutschen Bildungsrat) und verfügten über eine entsprechende mediale Unterstützung. Wenn man es pointiert formulieren will: In diesen Kreisen wurde, ganz wie im Salon des frühen 19. Jahrhunderts, vorentschieden, was dann politisch umgesetzt wurde.33 Im Milieuzusammenhang dieses Netzwerkes und insbesondere im Umfeld von Georg Picht steht auch die von der FEST projektierte » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr «, deren politisches Ziel Hagen Stöckmann in seinem Beitrag darlegt. Politisch ging es der Kommission nach der Wiederbewaffnung und Einführung der Bundeswehr Mitte der 1950er Jahre um die Integration des Militärischen und des Soldatentums in die bürgerliche Gesellschaft. Angestrebt wurde eine tiefgreifende, an liberalen Prinzipien orientierte Wehrreform, die ihren Ausdruck u. a. in der Vorstellung auch von einer neuen Stellung des Soldaten als eines » Staatsbürgers in Uniform « finden sollte. Die Diskussionen darüber entbehrten nicht – und das ist in diesem Zusammenhang wesentlich – einer erzieherischen und insbesondere erwachsenenbildnerischen Perspektive, womit man einerseits an Debatten der 1920er Jahre anknüpfte, andererseits einem gewandelten Bildungsverständnis Ausdruck zu geben vermochte.34
33 Vgl. Silvio Reichelt, Dem Gemeinwesen » Bundesrepublik « eine intellektuell begründete Richtung zu geben. Zum 100. Geburtstag des protestantischen Intellektuellen Georg Picht, in: Jahrbuch für badische Kirchen- und Religionsgeschichte 7, 2013, S. 281 – 296; Heike Schmoll, Das Nest der Bildungsaristokraten. Becker, Picht, Dönhoff und die » protestantische Mafia « der frühen Bundesrepublik, in: FAZ, Nr. 228, vom 1. Okt. 2014, S. N3; dies., Eine deutsche Bildungskatastrophe. Wie die Spinnen saßen die Freunde im wirkungsvollen Netz, das die bildungspolitische Elite in der frühen Bundesrepublik ausgespannt hatte: Die Geschichte von Hellmut Becker und Georg Picht, in: FAZ, Nr. 173, vom 29. Juli 2013, S. 7; vgl. auch: Fritz Laack, Das Zwischenspiel freier Erwachsenenbildung. Hohenrodter Bund und deutsche Schule für Volksforschung und Erwachsenenbildung in der Weimarer Epoche, Bad Heilbrunn 1984; Anselm Doering-Manteuffel, Verstrickung und Verdrängung. Seitenblicke auf den westdeutschen Protestantismus nach 1945, in: Tobias Sarx u. a. (Hg.), Protestantismus und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte von Kirche und Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2013, S. 281 – 291. 34 In Stöckmanns Beitrag findet sich der interessante Hinweis auf die Auffassung Werner Pichts, der, belastet aus der NS-Zeit, die Idee vom Bürgersoldaten für verfehlt hielt. Wehrpolitische Fragen wurden im übrigen im sog. Kronberger Kreis aufgegriffen, einem informellen Kreis evangelischer Persönlichkeiten, der innerhalb des Protestan-
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Langlebige Kontinuitäten, nicht im gerade charakterisierten Sinne der Proliferation eines Netzwerkes, sondern eines formell bestehenden Bundes bzw. auch weiterer Ausdifferenzierungen von Bünden auf dem Gebiet der Freikörperkultur und der Lebensreform lassen sich im vorliegenden Band anhand der Geschichte des » Schweizer Lichtbundes « nachzeichnen. Wie bereits dargestellt, war der Bund nach eher diffusen Anfängen im Jahre 1927 als formelle Organisation und mit einem klaren lebensreformerischen Ziel, der Beförderung der Freikörperkultur (FKK), gegründet worden, was nicht unwesentlich zu ihrer Popularisierung beitrug. Die eindeutige Tendenz zur » Organisation « der Lebensreform- und der FKK-Bewegung setzte sich auch nach dem Krieg fort und ließ sich trotz mancher Abspaltungen von Ortsgruppen und Ausdifferenzierungen in Form eigenständiger Dachverbände ohne Schaden für die Gesamtbewegung fortsetzen.35 In Österreich ging nach 1945 die Konkurrenz der » deutsch-nationalen « und katholisch-konservativen Elitennetzwerke in eine weitere Runde. Die Mitglieder des Cartellverbandes konnten nun ihre austrofaschistische Vergangenheit als Widerstand gegen den Nationalsozialismus umdeuten und ggf. ihre Karriere in der ÖVP fortsetzen. Seit den 1950er Jahren konnten indessen auch Mitglieder des Deutschen Klubs wieder » vermehrt reüssieren «. Organisatorisch fand das seinen Niederschlag in der Gründung eines » Neuen Klubs « im Jahre 1957.36 Die Tagung und der vorliegende Sammelband haben für die Erforschung der » Kreise «, » Bünde « und » Intellektuellen-Netzwerke « zahlreiche empirische Befunde und theoretisch-konzeptionelle Anregungen erbracht. Sie haben aber vor allem gezeigt, dass dieses hochinteressante Forschungsfeld noch große Lücken aufweist. Künftige Forschungen hätten sich, viel stärker als das bisher geschehen ist, mit institutionellen und personellen Kontinuitäten, mit Brüchen, Unter-
tismus der 50er Jahre eine Reihe von politisch vorwärtsweisenden Elementen aufwies, indem er ein traditionell-deutsches Denken mit westlich-amerikanischen Wertvorstellungen verknüpfte und in der Wehrfrage die Westintegration Adenauers publizistisch äußerst wirksam unterstützte. Vgl, Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus ? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises, München 1999. 35 Eine auf Dauer gestellte, zudem international vernetzte » Bundesgeschichte « lässt sich etwa anhand der hier nicht behandelten, vorn aber erwähnten New Education Fellowship nachweisen. Vgl. Steffi Koslowski, Die New Education Fellowship und die Internationalisierung der Reformpädagogik im 20. Jahrhundert, in: Grunder u. a. (Hg.), Netzwerke (wie Anm. 4), S. 189 – 196. 36 Zitat nach Hubers Beitrag in diesem Band. Zu weiteren Perspektiven für die Zeit nach 1945 die dort genannte Literatur.
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brechungen und Neuanfängen zu beschäftigen. Die Aufgaben, die sich hier auftun, bleiben beträchtlich. Sie sind für die Intellektuellengeschichte, ebenso wie die Transformation bürgerlicher Vergesellschaftungsformen und Selbstverständnisse im 20. Jahrhundert von zentraler Bedeutung.
Formular und Pfingsten Jürgen Freses Soziologie der Intellektuellen-Assoziationen, dargestellt am Patmos-Kreis (1919 – 1921) K n ut M a rti n Stü n k el
B iographische E inleitung Im Falle der Theorie Jürgen Freses (1939 – 2007) empfiehlt sich ein biographischer Einstieg in das Thema der Intellektuellen-Netzwerke. Mit dem ursprünglichen Berufsziel » irgendetwas zu verwalten und zu organisieren «, und zwar im Hinblick auf die Funktion eines Oberkreisdirektors (diese Information ist für das Folgende nicht unwichtig), studierte Frese an der Universität Münster dann doch statt Jura die ursprünglich als Vorbereitung gedachten Philosophie, Psychologie und Soziologie.1 Schon früh in seinem Studium gewann er Zugang zu einer ersten Intellektuellen-Assoziation, die ihm im Folgenden oftmals in mannigfacher Hinsicht als Bezugspunkt seiner Studien diente. Es handelt sich um das Collegium Philosophicum, später als › Ritter-Kreis ‹ bzw. › Ritter-Schule ‹ bezeichnet, um den Philosophen Joachim Ritter (als zugehörig werden genannt u. a. Robert Spaemann, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Karlfried Gründer, Odo Marquart, Hermann Lübbe).2 Aus dem Kontext dieses Kreises entstand später das Projekt
1 Thomas Schäfer, » Ich habe immer versucht, Freiheitsspielräume für ideologische Außenseiterpositionen einzuräumen. « Ein philosophisch-biographisches Interview mit Jürgen Frese, in: Manfred Bauschulte u. a. (Hg.), Wege – Bilder – Spiele. Festschrift zum 60. Geburtstag von Jürgen Frese, Bielefeld 1999, S. 15. 2 Jürgen Seifert berichtet in seiner Darstellung des Collegium Philosophicum, » daß zwei Denkstrukturen im Collegium verpönt waren: jemanden zu › entlarven ‹ oder
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des › Historischen Wörterbuchs der Philosophie ‹, an dessen ersten beiden Bänden Frese in (mit-)herausgeberischer Funktion mitarbeitete.3 Frese war Assistent von Hermann Lübbe, wurde aber in Soziologie bei Helmut Schelsky promoviert. Er war zudem im Gründungsausschuss der Universität Bielefeld4, wo er seit 1970 Philosophie lehrte, als Studiendirektor im Hochschuldienst nach seiner (externen) Habilitation in Bochum 1975, seit 1978 auch als außerplanmäßiger Professor. Er selbst hat aus dieser universitär eher randständigen Position des Öfteren die besonderen Motivationen seiner eigenen wissenschaftlichen Beobachtung marginalisierter Intellektueller abgeleitet. Frese bezeichnete sich selbst vor allem als Soziologen und höchstens einmal als › Lehrer für Philosophie ‹, vielleicht auch als Sozialphänomenologe. Als sein Arbeitsfeld nannte er die » historische Phänomenologie leib- und bild-gebundener kultureller Prozesse. «5 In dieser Funktion hat er sich zeitlebens in Wort und
die Kategorie des › Nichts als ‹ zu verwenden. Wer entlarven will, proklamiert in den Augen Ritters selbst, daß ihn das Denken des anderen nicht interessiert, daß dieser nur einer Sache zugerechnet werden soll; ähnliches gilt für Ritter, wenn Denken auf ein abstraktes › Nichts-als ‹ reduziert wurde. Seifert fügt an: » Ich bin mir nicht sicher, ob gemachte Erfahrungen dabei bestimmend waren und inwieweit Ritter verhindern wollte, daß Gegenpositionen zum Feindbild werden. « (Jürgen Seifert, Joachim Ritters › Collegium Philosophicum ‹. Ein Forum offenen Denkens, in: Richard Faber/ Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 189 – 198, hier: S. 191. Vielleicht ist die bezeichnende Erfahrung, die Frese mit Angehörigen des Kreises macht und über die im Folgenden berichtet wird, auch aus diesem Ritterschen Gebot zu erklären. Seifert selbst nennt S. 196 Frese als zum Collegium gehörig. 3 Von Frese stammen außerdem die Artikel › Akkumulationstheorie ‹ (S. 127), › Bewegung, politische ‹ (S. 880 ff) aus dem ersten Band A – C des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Basel bzw. Darmstadt 1971, und der erste Teil des Artikels › Eid ‹ (S. 326 ff) sowie verschiedene Unterabschnitte der Artikel › Dialektik ‹ (S. 196 – 226) und › Familie, Ehe ‹ (S. 898 – 901) des zweiten Bandes D – F, hrsg. von Joachim Ritter, Basel bzw. Darmstadt 1972. 4 Vgl. auch die von Frese mit erarbeitete › Denkschrift zur Stellung der Assistentenschaft in der Universität Bielefeld ‹: Lars Clausen, Jürgen Frese u. a., Assistenten in einer neuen Universität, Gütersloh 1968. 5 Jürgen Frese, Stichpunkte zum Werdegang/Auswahlbibliographie, in: Andreas Leutzsch (Hg.), Nomaden. Interdisziplinäre Wanderungen im Feld der Formulare und Mythen, Bielefeld 2003, S. 197 – 198, hier: S. 197. Als Bezugsautoren nennt Frese hier u. a. Spinoza, Hamann, Clausewitz, Peirce, Whitehead und Heidegger.
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Schrift mit dem Phänomen der Kreise, Bünde oder Netzwerke von Intellektuellen beschäftigt, und greift dabei in einem nicht zu vernachlässigenden Maße auf eigene Erfahrungen als › Teilnehmer ‹ solcher Assoziationen zurück. Ich möchte hierzu eine bezeichnende längere Erinnerung Freses ausführlich zitieren. Sie findet sich in dem › philosophisch-biographischen Interview ‹, welches Thomas Schäfer geführt hat, und das in der Festschrift zu Freses 60. Geburtstag Wege – Bilder – Spiele erschienen ist. In ihr finden sich wichtige Elemente von Freses eigener Theorie die Soziologie der Gruppe betreffend. Frese berichtet über seine Studienzeit in Münster: » Ich hatte über Schelsky nur die üblichen Vorurteile im Hintergrund. Die Freyer-Schule aus Leipzig mit Arnold Gehlen und Schelsky und mit ihrer Nazi-Zugehörigkeit stand nach 1945 im Verdacht, die alten Sachen nur in ein moderneres Gewand zu kleiden, und das schlimmste Vorurteil in diesem Bunde betraf Arnold Gehlen. Mein erstes Seminar-Referat bei Schelsky über einen wissenssoziologischen Theorietext gab mir die Gelegenheit, die anthropologischen Annahmen des referierten Autors mit denen von Gehlen zusammenzubringen und dann gegen Gehlen vom Leder zu ziehen. Ich hatte erwartet, daß ich damit den Seminarleiter provozieren würde, den ich für einen Schulzugehörigen hielt, und freute mich schon auf eine Schlacht. Was eintrat, war aber etwas ganz anderes: Schelsky hörte sehr aufmerksam zu, unterbrach mich dann aber an einer bestimmten Stelle, und sagte, ja, dieses Argument […] habe er schon in den vierziger Jahren Gehlen vorgehalten, und seitdem immer wieder, ohne jeden Erfolg. Gehlen sei da offenbar nicht lernbereit und -willig, aber er sehe dies ganz genauso wie ich. Mit dieser Stellungnahme zu meinem eigentlich als › Stoß ‹ gedachten Referatteil saß ich plötzlich auf der anderen Seite. Ich war als Angreifer gekommen und wurde als Kollege angenommen. Diese › Figur ‹, die mir gegen meine aggressiven und durchaus nicht menschenfreundlichen Intentionen entgegengebracht wurde, und der Schock, nun in eine kritisch miteinander umgehende Gruppierung adoptiert worden zu sein, daß ich einem anpassenden oder nach dem Munde-redenden Verhalten noch skeptischer geworden bin […] «6
Frese erzählt eine ganz ähnliche Geschichte einer nicht intendierten Konversion über ein von ihm in seinem ersten Semester als Angriff gemeintes Lenin-Referat, welches ihn nicht, wie erwartet, in Clinch mit dem Lehrenden, sondern geradezu in die Kollegialität, in diesem Fall der Ritter-› Schüler ‹ brachte.7 Die ratio dieser
6 Frese, in: Schäfer (Hg.), Freiheitsspielräume (wie Anm. 1), S. 21 f. Hervorhebungen von mir. 7 Ebd., S. 19. Über Ritter selbst berichtet Frese: » Dieses stand im Kontrast zur Atmosphäre der Ritter-Schule insgesamt, deren im nachhinein hochgerühmten liberalen Stil
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Intellektuellen-Gruppierung jedenfalls ist eine andere als die gemeinhin erwartete, d. h. konformitätsbegünstigend zu agieren. Frese gibt an, für seine eigenen Seminare ein entsprechendes, die Bildung einer Gruppe (sein eigenes Bielefelder Kolloquium nannte sich › Wege, Bilder, Spiele ‹) in diesem Sinne begünstigendes Verhalten angestrebt und befördert zu haben.
I. Theorie
der
G ruppe
a. Gruppe Die Theorie der Gruppe ist ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Thema Jürgen Freses und Gegenstand einer lebenslangen Beschäftigung, deren Breite und Intensität sich im Nachlass verfolgen lässt.8 Dabei geht dieses Interesse weit über eine bestimmte Art von Soziologie hinaus, die Gruppe wird vielmehr zu dem entscheidenden Element der Theorie überhaupt, so dass man zwar Theorien über die Gruppe machen kann, in seinem Theoretisieren selbst jedoch von Gruppen abhängig ist. Das entsprechende Projekt Freses hieß › Theoriebildung als Gruppenprozeß ‹.9 Die Überlegungen Freses gewinnen also ihre Stoßrichtung in dem, was das Changieren zwischen dem genitivus objectvus und dem genitivus subjectivus im Ausdruck › Theorie der Gruppe ‹ anzeigt: » Alles Nachdenken, Operieren oder Umgehen mit sich selbst geschieht in Gruppenzusammenhängen, in denen andere, Ältere, uns vorangehen, für uns in irgendeiner Hinsicht, und sei es im Protest gegen sie, maßgeblich werden. In diesem Gruppenbezug sind hierarchische Anordnungen wichtiger, als das der demokratische Zeitgeist gerne wahrnimmt. […]
ich bei dem Meister selbst nicht erfahren habe. Dessen Seminare schienen mir eher ausgesprochen autoritär geführt, nur die eigene Sichtweise privilegierend und alles andere, was irgendwie störend vorgebracht wurde, vom Tisch wischend. Der als liberal geltende Ritter ist von mir nicht so erfahren worden, sondern als ganz normaler autoritär selbstbezogener Herrscher in seinem Reich. Während die genannten jüngeren Dozenten und Assistenten sich zumindest mir gegenüber (und nach meiner Beobachtung auch allgemein) ganz anders verhielten […] « (S. 20). 8 Die diesbezüglichen Teile des Nachlasses Jürgen Freses befinden sich in Verwahrung des Autors. 9 Der aus dem Jahre 1969 stammende Prospekt des Forschungsprojektes ist als Anhang abgedruckt in: Jürgen Frese, Prozesse im Handlungsfeld, München 1985.
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Es gibt nach meiner Beobachtung – und das ist Empirisch-Historisch mein eigentliches Arbeitsgebiet – in der Gruppenverfaßtheit des Nachdenkens und des diskursiven Operierens eine ganze Menge von Gesetzmäßigkeiten, von denen sich schon jetzt sagen läßt, daß sehr vieles davon mindestens in den verschiedenen Kulturen der abendländischen Moderne allgemein ist und sich seit vielen Jahrhunderten als Rahmenbedingung kaum wesentlich verändert hat. «10
Entstanden ist die Theorie der Gruppe aus Freses frühem Interesse an der Theorie der Ideologien11 und an der, an frühe Versuche Siegfried Kracauers12 und Alfred Seidels (1895 – 1924) anschließenden, theoretisierenden funktionalen Verknüpfung des Phänomens der Gruppenzugehörigkeit mit Ideologiephänomenen.13 Nach Kracauer ist eine Idee in der Gruppe verkörpert: » Mag die sozial wirksame Idee immerhin von Einzelpersönlichkeiten in die Welt hinausgeschleudert werden, ihren eigentlichen Leib bildet die Gruppe. Das Individuum zeugt und proklamiert wohl die Idee, aber die Gruppe trägt sie und sorgt für ihre Verwirklichung. «14 Bei Frese scheint dieses Verhältnis von Individuum und Gruppe hinsichtlich der Erzeugung und Verbreitung von Ideen (Ideologie), zumindest im Falle der Assoziation von Intellektuellen, eher umgekehrt zu sein: die Gruppe erzeugt die Idee und die Individuen sorgen jeweils für ihre Verbreitung. Eine Gruppe, so Frese in seinem Aufsatz Sprechen als Metapher für Handeln, soll nun eine Handlungs- und Imaginationseinheit heißen, die von Personen gebildet wird, deren » Handlungen dauerhaft über Erwartungen aufeinander bezogen sind « bzw. gleichsinnig in einem umfassenden Handlungszusammenhang gegenüber › Fremd- und Bezugsgruppen ‹ verlaufen. Zudem sind ihnen » bestimmte Interessen, Ziele, Selbst- und Fremdeinschätzungen gemeinsam «. Und schließlich besitzen sie ein » formulierbares Bewußtsein der eigenen Zugehörigkeit zur
10 Frese, in Schäfer (Hg.), Freiheitsspielräume (wie Anm. 1), S. 30 f. 11 Vgl. Jürgen Frese, › Ideologie ‹. Präzisierungsversuch an einem wissenssoziologischen Begriff, phil. Diss. Münster 1965. 12 Vgl. Kracauers Aufsatz aus dem Jahre 1922: Siegfried Kracauer, Die Gruppe als Ideenträger, in: ders., Schriften 5.1 Aufsätze (1915 – 1926), Frankfurt a. M. 1990, S. 170 – 196. 13 Vgl. hierzu Jürgen Freses Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Ruhr-Universität Bochum vom 26. Juni 1975, die 2002 veröffentlicht wurde: Jürgen Frese, › Bewußtsein als Verhängnis ‹. Alfred Seidels Bedeutung für fortwirkende Soziologische Theoriebildungen der 20er Jahre, in: Etappe 16, 2001/2002, S. 47 – 63, hier: S. 57. 14 Kracauer, Die Gruppe als Ideenträger (wie Anm. 12), S. 170 f.
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Gruppe als zu einer sozialen Einheit «15, auf Grund dessen über Gruppenzugehörigkeit entschieden werden kann. Allerdings, und auf diesen Punkt legt Frese großen Nachdruck, gilt: » Die Gruppe ist nicht über die Ähnlichkeit ihrer Mitglieder zu definieren, im Gegenteil: die dauerhaft fungierende Gruppe setzt ein hohes Maß von Funktions-Differenzierung (d. h. Ungleichheit) unter ihren Mitgliedern voraus. «16
In ihrem Sprechhandeln vollziehen Gruppenmitglieder also einen differenzierenden Akt, welcher, so Frese, mit den Mitteln der Sprache zugleich eine Identifikation und eine relative Absetzung vornehmen, d. h. sie manifestieren so gleichzeitig Zugehörigkeit und auch » ihre ganz bestimmte Rolle «17, die sie im Kontext der Gruppe spielen. Die Gesamtleistung der Einheit dieses welterschließenden gruppenbezogenen Sprachhandelns, ist, so Frese (gleichsam als eine an die eigene Adresse gerichtete Arbeitsanweisung) in diesem frühen Aufsatz von 1967, noch nicht eingehend analysiert, insbesondere hinsichtlich des Verhältnisses der gruppenspezifischen Sprache zur Verkehrssprache und Institutionen bzw. des Problems der Ideologie.18 Dennoch hat dieses Lebensthema verhältnismäßig wenige Veröffentlichungen gezeitigt, hier vor allem Buchabschnitte und Aufsätze, welche zudem oft nur in typographisch vervielfältigter Form vorliegen. Eine Art (Zwischen-)Summe seiner Überlegungen zieht Frese in dem Aufsatz Intellektuellen-Assoziationen aus dem Jahre 2000, die letzte zu seinen Lebzeiten erschienene Publikation zum Thema. Auf diesen Text möchte ich im Folgenden näher eingehen, zumal er auch einen lokalen Bezug hat. Die › Kurzfassung einer früheren Version dieses Versuchs ‹ wurde im Oktober 1996 unter dem Titel Politische Integration über mythisierte Differenz auf dem 28. Kongreß › Differenz und Integration ‹ der Deut-
15 Jürgen Frese, Sprechen als Metapher für Handeln, in: Hugo Steger (Hg.), Soziolinguistik, Darmstadt 1982, S. 26 – 40, hier: S. 33 (erstmals erschienen in: Hans-Georg Gadamer (Hg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S. 45 – 55). 16 Ebd. 17 Ebd., S. 34. 18 So erscheint etwa im Aufsatz › Dialektik der Gruppe ‹ der Begriff der Gruppe selbst als eine Abstraktion und somit als ideologisch, allerdings eine solche, deren entsprechender Status den Sozialwissenschaften selbst nicht mehr deutlich ist (vgl. Jürgen Frese, Dialektik der Gruppe, in: Gruppendynamik im Bildungsbereich 9, 1982, S. 5 – 33, hier: S. 33).
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schen Gesellschaft für Soziologie in Dresden vorgetragen.19 Veröffentlicht ist der Text im Rahmen eines › wesentlich offeneren Modells ‹ im von Richard Faber und Christine Holste herausgegebenen Band Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, und zwar an prominenter Stelle unter der Überschrift › Zusammenfassung ‹ am Schluss des Bandes. Wie die Herausgeber in ihrem Vorwort bemerken, unternimmt Frese mit seinem Text den Versuch einer › systematischen Beantwortung ‹ der wichtigsten Fragen, die die im Band versammelten Fallstudien zu einzelnen Kreisen, Bünden oder Netzwerken (u. a. zum George-Kreis, zum Forte- und Eranos-Kreis, zum Wiener Kreis, zur Anthroposophie, und auch zu Joachim Ritters › Collegium Philosophicum ‹) aufgeworfen haben, nämlich nach den Prinzipien der Konstitution, der Expansion, der Organisation bzw. Reorganisation, des Verfalls und des Einflusses eines Intellektuellen-Kreises.20 Freses Ansatz in diesem Text ist der einer Typen-Konstruktion, die Gruppenund somit auch Theoriebildungen unter modernen Intellektuellen genealogisch verstehbar machen soll. Er kombiniert die Analyse sozialgeschichtlicher Voraussetzungen und mythischer Figuren der Selbststilisierung der betreffenden intellektuellen Kreise zu einer innovativen Soziologie der Intellektuellen-Assoziation, welche das gemeinschaftsstiftende Potential religiöser Rede und den Gebrauch religiöser Figuren insbesondere hervorhebt und zur Explikation benutzt. b. Formular Zu Beginn seiner Überlegungen betont Frese die Bedeutung eines imaginären Archivs der Gruppierungen von Intellektuellen, sowohl für den eigenen Versuch als auch für die Konstitution und Erhaltung einer Gruppe. In diesem Archiv befinden sich bestimmte Formulare, welche zur Konstitution und Beschreibung des eignen Verhaltens in und der Gruppe überhaupt dienen können. Den entscheidenden Kernbegriff des Formulars hat Frese in seinem Verhältnis zum Phänomen der Gruppe in seinem sozialphänomenologischen Hauptwerk Prozesse im Handlungsfeld aus dem Jahre 1985 ausführlich bestimmt.21 Nach Frese kann
19 Vgl. Jürgen Frese, Intellektuellen-Assoziationen, in: Richard Faber/Christine Holste, Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 441 – 462, hier: S. 459. 20 Richard Faber/Christine Holste, Vorwort zu: dies. (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziationen, Würzburg 2000, S. 7 – 19, hier: S. 19. 21 Für Versuche, Freses Begriff des Formulars für andere Disziplinen nutzbar zu machen,
38 | Knut Martin Stünkel » […] das Formular […] beschrieben werden als bereits teilweise ausgefüllte, dadurch inhaltlich stark vorgeprägte Struktur mit bestimmten Leerstellen, in die individualisierende Charakteristika, Daten und Fakten eingetragen werden können. Ein Formular ist mehr als bloß strukturelle Festlegung möglicher Erfüllungen, aber weniger als inhaltliche Determination. «22
Man sieht an diesem Kernbegriff den Zusammenhang mit dem früheren Berufswunsch in der öffentlichen Verwaltung. Frese formuliert das theoretische Potential des Formularbegriffs aus: » Formulare sind […] notwendige syntaktische Bedingungen aller menschlichen Operationen, vor allem (aber nicht nur) aller symbolischen Operationen. «23 Formulare sind, so Frese in einer späteren Zusammenfassung in seinem Aufsatz Gefühls-Partituren, dabei nicht, wie ein besonders kompliziertes behördliches Produkt nahelegen würde, abstrakte Strukturen, sondern vielmehr konkret individualisierte (und individualisiert bleibende) Sequenzen, deren Leerstellen neue Eintragungen und alternative Wendungen ermög lichen.24 Es ist diese konkret handlungsleitende Vermittlungsfunktion zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen, welche dem Formular seine sozialitätsstiftende Potenz verleiht. Per Formular wird eine Person bzw. eine Gruppe zu einem Soziotext:
vgl. die von Andreas Leutzsch herausgegebene Festschrift für Jürgen Frese anläßlich seines Ausscheidens aus dem Hochschuldienst: Andreas Leutzsch (Hg.) Nomaden. Interdisziplinäre › Wanderungen ‹ im Feld der Formulare und Mythen, Bielefeld 2003, und hier besonders der Beitrag des Herausgebers, der versucht, durch Analyse des Formulars › Bismarck ‹ den Begriff für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen: Andreas Leutzsch, › Bismarck ? ‹ – › von dem haben wir Korn und der ist gut ! ‹, in: ebd., S. 64 – 88. Vgl. auch: Manfred Lauermann, Freiheit als zivilreligiöses Formular bei Spinoza: diverse Bielefelder Dekonstruktionen, in: Etappe 15, 2000, S. 49 – 99; sowie Jens Soentgen, Mythische Formulare der Klimaskeptiker in Deutschland und in den USA, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 2, 2010, S. 72 – 77. Vgl. ebenso Knut Martin Stünkel, Biblisches Formular und soziologische Wirklichkeit – Elemente einer Hamannschen Soziologie, in: Manfred Beetz/Andre Rudolph (Hg.), Johann Georg Hamann: Religion und Gesellschaft. Acta des Neunten Internationalen Hamann-Kolloquiums Halle/Saale 2006, Berlin/Boston 2012, S. 72 – 94. 22 Frese, Prozesse im Handlungsfeld (wie Anm. 9), S. 155. 23 Jürgen Frese, Gefühls-Partituren, in: Michael Großheim (Hg.), Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, Berlin 1995, S. 45 – 70, hier: S. 56 f. 24 Ebd., S. 56.
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» Unsere These ist also, daß weder ein Allgemeines strukturell, noch ein Besonderes individuell-geschichtlich in sozialen Prozessen diese determinieren können. Erst die Teilauffüllung einer Struktur bzw. die Teilfunktionalisierung, die Teilentleerung einer Geschichte schaffen die Formulare, in deren Leerstellen damit bestimmte konkrete Handlungen eintreten können. Insofern könnte man sagen, Formulare seien das › lebendige Allgemeine ‹ in Sozialprozessen – und zwar nicht nur in jenen, die sprachlich ablaufen. «25
Formulare ermöglichen Handlung und geben diese vor und zwar gleichzeitig individuell bzw. individualisierend und als solche evident auf einer konkreten wie auch auf einer verallgemeinernden Ebene. Dabei sind Formulare nicht auf Texte beschränkt, sondern jede » strukturell limitierte Prozeßsequenz « (Frese nennt etwa Bildsequenzen in Filmen, Szenarios, Bewusstseins- und Wahrnehmungsreihen, Kommunikation und Handlungsketten) kann durch Behandlung mancher ihrer Teile als Leerstellen zum Formular werden, welches dann durch die erhalten gebliebene strukturelle Normalform sowie die kontextuelle und situative Umgebung des Formulars zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmt wird.26 Das Weniger an inhaltlicher Determination ist dabei verantwortlich für die Möglichkeit der individuellen › Einschreibung ‹ in das Formular und bedingt so auch den höheren Grad der (formalen) Verpflichtung, die von dieser Struktur bzw. diesem Text bzw. dieser Sequenz ausgeht. Eine derartige (formularische) Struktur wird zu einer solchen gleichzeitig allgemeinen, bekannten und individuellen Sequenz (etwa passieren Gefühle laut Frese in Formularen), bis hin zu einem Formular der eigenen Lebensgeschichte. Es hat eine besonders überzeugende Qualität und führt zu einer verbindlichen Anerkennung, welche aus der Möglichkeit resultiert, das eigene Erleben in das betreffende Formular einzuschreiben. Wenn das Formular durch das Einsetzen des eigenen Namens anerkannt und mit der Unterschrift beglaubigt ist, wird es zur Verbindlichkeit resp. einer Verpflichtung. Als syntaktische Bedingungen menschlicher und vor allem symbolischer Operationen wirken Formulare insbesondere in der und auf die Sozialität von Menschen. Das Formular sozialisiert nach Frese in mehrfacher Hinsicht, so zunächst erstens das eigene Erleben mit der Textur der jeweiligen Situation: » Das Durchprüfen von Erinnerungselementen mit Formularen kann zu einem systematisierten Prozeß des Wiedererkennens entwickelt werden, und zwar so, dass das isolierte Element von Erleben beschreibbar wird als einsetzbar in das Formular. «27
25 Frese, Prozesse im Handlungsfeld (wie Anm. 9), S. 156. 26 Vgl. Frese, Gefühls-Partituren (wie Anm. 23), S. 56. 27 Frese, Prozesse im Handlungsfeld (wie Anm. 9), S. 157.
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Erfahrung wird auf diese Weise diszipliniert, so dass ein sozial relevanter Körper in Form eines Habitus entsteht.28 Erkennen ist somit wesentlich Anerkennen als Wiedererkennung, Anerkennung konstituiert Selbsterkenntnis. Ein Formular ist so die Bedingung der Möglichkeit des Schreibens der eigenen Lebensgeschichte, der Möglichkeit einer persönlichen Ontologie. Das Erleben gewinnt so den Charakter von Vertrautheit, denn es erweist sich als durch das Formular strukturiert. Das Formular verbindet somit zweitens mit dem hier (als übriggebliebene Normalform) angezeigten Geschehen: Geschehen und das individuelles Erleben stehen nun nicht mehr unverbunden und letztlich unvermittelt nebeneinander, sondern der › Leser ‹ des Textes ist in diesen involviert, das bedeutet, selbst eingeschrieben. Im Formular findet das Individuelle (seinen) Ausdruck. Der (Sozio-) Text affiziert und betrifft persönlich. Und drittens verbindet das Formular Selbstwelt und Mitwelt zu einer (neuen) gemeinsamen Umwelt. In der persönlichen Betroffenheit wird zwischen Allgemeinheit und Besonderheit eine sozialfähige Balance etabliert, das sichtbar Individuelle im Medium des Allgemeinen entsteht: » Im Umgang mit dem Formular strukturiert und diszipliniert sich die Erfahrung geschichtlich so, dass zwischen allgemeiner Bestimmtheit und individueller Kontingenz eines Geschehens eine beide Seiten voll anerkennende und berücksichtigende Ebene sich stabilisiert. «29
Im Formular wird das eigene Leben zu einer kontingenten Notwendigkeit innerhalb einer Umwelt. Das Formular offenbart Vergangenheit wie Zukunft des Individuums und bestimmt so seine Gegenwart. » Das fertig ausgefüllte, konsistente, sozial vertretbare, sinnvoll lesbare Formular bildet einen Text, in dem (grundsätzlich) Formular-Elemente und Ausfüllungen ununterscheidbar ineinander übergehen. Inhalt des Textes ist eine am Leitfaden des Formulars erzählte Geschichte. «30
Das Einschreiben des eigenen Erlebens in ein solches Formular bildet einen konsistenten und sozial lesbaren Text der eigenen Lebensgeschichte. Bausteine dieser neuen Formulare sind etwa diejenigen Texte (kulturellen Äußerungen), die
28 In seinem Nachwort zu Prozesse im Handlungsfeld stellt Frese selbst die Verbindung zu Bourdieus Konzeption als von verwandten Motiven gesteuert her (vgl. ebd., S. 252). 29 Ebd., S. 157. 30 Ebd., S. 162.
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etwa der Phänomenologe Wilhelm Schapp als Großgeschichten bezeichnet, also die Texte, die die Mitglieder einer bestimmten Tradition als solche bestimmen (dies sind etwa Mythen Homers, Hesiods und um Gilgamesch, die Biblische Geschichte, Alexandersagen etc.).31 Die besondere Struktur des Formulars als offen für Neueintragungen und alternativen Wendungen und im Hinweis auf Vergangenheit und Zukunft ist dabei auch und insbesondere für die Sinngebung des jeweiligen Soziotexts verantwortlich, denn » Formulare sind zunächst die syntaktischen Bedingungen der Möglichkeit von semantisch aufschlußreichen Anschlüssen im Text. Formulare konstituieren insbesondere Anschließbarkeit und Fortsetzbarkeit symbolischer Prozesse. › Sinn ‹ wird definiert über Anschließbarkeit. «32
Für eine Gruppe zieht Frese aus diesen Bestimmungen der Bedeutung des Formulars im sozialen Prozeß folgende Konsequenz. Gruppen und Personen als Ganze (und hier deutet sich schon der untrennbare Zusammenhang von Grup-
31 Vgl. Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Frankfurt a. M. 1981, S. 21: » Wir sind nicht nur in unsere Geschichten verstrickt, sondern in die Geschichten bis zur Erschaffung der Welt und ebenso nach seitwärts verstrickt bis zum entferntesten Menschen, und, wie wir meinen, auch bis zu jeder Kreatur. « Schapp weist darauf hin, daß diese Groß- oder Welt-Geschichten tendenziell in » Abhängigkeit von den Religionen « bringen: » Der Grund liegt einfach darin, daß wir uns nur mit vorgefundenen Weltgeschichten oder mit einer vorgefundenen Weltgeschichte auseinandersetzen können, und daß es außerhalb dieser religiösen Weltgeschichte keine Weltgeschichte gibt als Geschichte in unserem Sinne, als Geschichte, die das ganze Wir als in eine Geschichte verstrickt aufweist. « (Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a. M. 2004, S. 201). Die Religionsgeschichte bietet also die meisten und attraktivsten Formulare (Soziotexte) menschlichen Operierens. 32 Frese, Gefühls-Partituren (wie Anm. 23), S. 56. Freses Begriff der Anschließbarkeit hat es durch Niklas Luhmann zu einiger soziologischen Prominenz gebracht. Frese verweist an dieser Stelle auf Luhmann, der in der angegebenen Stelle in Soziale Systeme wiederum Frese zitiert. Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1999, S. 92 – 98, insbesondere: » Das Phänomen Sinn erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. « (S. 93), sowie » […] jeder bestimmte Sinn qualifiziert sich dadurch, daß er bestimmte Anschlußmöglichkeiten nahelegt und andere unwahrscheinlich oder schwierig oder weitläufig macht oder (vorläufig) ausschließt. « (S. 94).
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penbildung und Theoriebildung an), sind jeweils in textförmigen Dokumenten ihres Selbstverständnisses gegeben, und zwar als vollständig ausgefülltes Formular. Also gilt » Personen und Gruppen sind soziale Textformulare. Gruppe ist ein aus dem sozialen Prozeß abhebbares Formular, dessen Leerstellen (Glieder einer im Formular bestimmten Menge von) Personen mit Handlungen so ausfüllen können, daß jeweils textförmige Einheiten gebildet werden, deren Elemente als Interaktionen gruppenbezogener Art erscheinen. «33
Gruppen sind also formularisch (d. h. im Ausgang von einem historisch bestimmten Archiv) prozessierende Einheiten, deren Leerstellen Individuen bestimmte sinnvolle Handlungsmöglichkeiten nach innen, aber auch nach außen eröffnen. (Gruppen-)Formulare ermöglichen so sinnvolles zukünftiges Handeln: » Jeder soziale Prozeß wird durch Anschlußakte fortgesetzt, › weil ‹ er begonnen wurde (Whitehead), d. h. weil von den Beteiligten Teile des erinnerten Geschehens zu › Formularen ‹ umgeformt werden, in deren Leerstellen gegenwärtige Akte eintreten. «34
c. Intellektuellen-Assoziationen Archivierte Formulare sollen nun in Freses Ansatz in Intellektuellen-Assoziationen zur Herstellung eines Metaformulars der Gruppenprozesse von Intellektuellen-Assoziationen genutzt werden. Frese nennt dies › selbstkritisch formuliert ‹ die Erfindung eines Mythos, welcher aber, aufgrund seines formularischen Charakters › aufnahmefähig sein soll für ideenhistorische Analysen und wissenssoziologische Empirie ‹. Das Formular der Formulare von Intellektuellenassoziationen ist so eine Art Kippfigur, die sowohl in konkrete empirische Forschung umschlagen kann, als auch › in Theorie konvertierbar ‹ ist.35 Frese beginnt seine Überlegungen mit dem Hinweis auf eine bezeichnende Paradoxie. Der Begriff der Intellektuellen-Assoziationen selbst beinhaltet eine interne Spannung, die dafür verantwortlich ist, dass für eine Theorie einer solchen Gruppe eine besonders starke Idee motiviert werden muß. Auf der einen Seite bedeutet der Begriff oder zumindest das Selbstverständnis des › Intellektuellen ‹ seine Distanz zu » sozialen Zwängen und diskursiven Selbstverständlichkeiten «, und diese Distanz ist nicht nur innerlich, sondern hat sich vielmehr öffentlich per
33 Frese, Prozesse im Handlungsfeld (wie Anm. 9), S. 188. 34 Ebd., S. 254. 35 Vgl. Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 441.
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Analyse, Einspruch und Kritik zu dokumentieren. Dies gilt nach Frese vor allem für die Figur des Intellektuellen in der Moderne als Nachfolger des Sokratischen Habitus. In seinem Aufsatz »› The Education of Henry Adams ‹ und die Postmoderne « heißt es hierzu: » Modern ist eine Kultur dann, wenn sie sich als Kritik organisiert, ihre Prozesse als Krisen darstellt und ihre epochalen Zusammengehörigkeitsanmutungen als ein jeweils spezifisches Kontinuum aus Brüchen erlebbar macht. «
In diesem Kontext, in dem Kritik selbst als Legitimation fungiert, nimmt nach Frese der Intellektuelle als hauptsächlicher Kritiker die zentrale Stelle in der Kulturproduktion ein, daher auch die Artikulation von Intellektuellen-Identität ein wichtiges Thema und Motiv moderner Kulturproduktion wird. Diese Identität nun beruht auf der Fähigkeit zur Distanz und der Manifestation von Kritik: » Das eigentliche Subjekt der Konstruktion › Moderne ‹ ist also der Kritiker, der weiß, wohin das Ganze fortschreitet. «36 Der moderne Intellektuelle ist also definiert als der distanzierte Kritiker. Auf der anderen Seite jedoch bedeutet der Begriff einer Assoziation gerade » die Zumutung eines Zugehörigkeitsvollzugs, für dessen Dauer die gleichzeitige Distanzierung von ihm «37 begrifflich ausgeschlossen ist. Als Teil einer Assoziation macht sich also der Intellektuelle, der auf sich hält, durch Distanzlosigkeit zu seiner Gruppe eines performativen Selbstwiderspruchs schuldig. Was veranlasst also Individuen, die sich als Intellektuelle begreifen, auf ihre eigentliche Kernkompetenz, die Distanz als Basis ihres intellektuellen Geschäfts, aufzugeben ? In seinem Aufsatz › Dialektik der Gruppe ‹ beschreibt Frese die Gruppe als die Antwort des Individuums auf die Moderne, die es als solches erst hervorgebracht hat: » Moderne Gesellschaften produzieren abstrakte Individuen, die es in dieser Abstraktheit nicht mit sich aushalten. Da es aber in der sozialen Welt ebenso wie in der natürlichen keine Schöpfung aus dem nichts gibt, verfallen die bürgerlichen Individuen bei ihrer Sinnsuche notwendig auf zu ihrer Welt nicht mehr passende vormoderne, nur noch traditional mitgeführte Bestände – wie familiäre Strukturen und sinnverwaltende Institutionen (Kirchen). «38
36 Jürgen Frese, › The Education of Henry Adams ‹ und die Postmoderne, in: Dieter Baacke u. a., Am Ende – postmodern ? Next Wave in der Pädagogik, Weinheim/München 1985, S. 118 – 130, hier: S. 119. 37 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 442. 38 Frese, Dialektik der Gruppe (wie Anm. 18), S. 19. Durch die Gruppe, so Frese, wurden
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Nach Frese ist die starke Motivation, die diese auf zeitlich Vorgängiges (Familie und Kirche) zurückgreifende Selbstüberwindung veranlasst, vor allem durch Instrumentarien und Begriffe der Religionssoziologie zu erfassen. Gruppen wurden als » kleine soziale Kunstwerke « empfunden, deren » Künstler « sich in » ihrer Aufführung frei «39, also gewissermaßen inspiriert fühlten. Die Entstehung einer in mehrfacher Hinsicht distanzüberwindenden Gruppe von per Definition Distanzierten lässt sich dann beschreiben als charakterisiert durch eine Trias von Elementen, nämlich als der Weg » von der › pfingstlich begeisterten Versammlung zur mythisierten Gruppe (I.), die, um einen Charismatiker geschart (II.), ihre Außen seiterstellung konsolidiert oder überwindet (III.). «40 Die starke Idee, die nötig ist, um dieses › Ereignis ‹ möglich zu machen, kann also mit Hilfe von Versatzstücken aus dem Fundus der Religionsgeschichte bzw. aus der Selbstbeschreibung religiöser Traditionen beschrieben, und in der Folge mit Hilfe religionssoziologischer Theoreme analysiert werden. Frese beginnt seine Überlegungen mit einer › Fiktion ‹: der › Nullpunkt ‹ einer Gruppengeschichte beginnt jeweils mit einer erinnerungswürdigen Ur-Erfahrung, einem › Pfingsterlebnis ‹, d. h. einer kontingenten und kollektiv anregenden Versammlung, welche den Teilnehmern als ein offener politischer Raum einen spürbaren Zuwachs von › Möglichkeiten des Sehens, Redens und Handelns ‹ verleiht. Frese beschreibt diesen sinnstiftenden Zuwachs als Akkumulation von Macht in einem Machtfeld, welches als attraktiv erlebt wird. » Intellektuellen-Assoziationen sind attraktiv, weil und insofern sie die Erfahrung eines kollektiven Machtzuwachses vermitteln können, der sich im Selbstgefühl aller beteiligten Individuen auswirkt. «41 Dieses im Sinne des Distanzpathos der Intellektuellen eigentlich korrumpierende Erleben zeitigt (meist vergebliche) Versuche der Wiederholung; eine Serialität wird in den Prozess eingeführt, die von der Hoffnung auf › Parusie ‹ getragen ist. Im Versuch der Wiederholung der Urerfahrung bildet sich ein individueller Stil der Gruppe heraus, der diese allmählich, sowohl intern als auch in ihrem Wahrgenommenwerden von außen als Einheit konstituiert. Ihren Abschluss findet diese Phase mit einer (Selbst-)Taufe, indem die Gruppe sich
die Probleme des Subjekt-Seins bzw. des Charakter-Seins vom Individuum abgetrennt und auf die Gruppe übertragen, so dass die Normen der Moderne aufrechterhalten und zugleich der vormoderne Zustand ersatzweise wiederhergestellt wird (vgl. ebd., S. 24). 39 Ebd., S. 16. 40 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 442. 41 Ebd., S. 443.
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einen Eigennamen und mit diesem eine Identität verleiht, deren Verteidigung eine spätere Aufgabe der Gruppe sein kann. Diese von der frühchristlichen Tradition inspirierte Darstellung der Frühphase eines Gruppenbildungsprozesses, in dem eigentliche Manifestationen der Gruppenkonstitution wie Mitgliedschaft, Führung, Hierarchie, Botschaft und Programm noch keine Rolle spielen müssen, komme, so Frese, noch ohne eigentlich starke Annahmen aus. Diese werden jedoch an der Stelle relevant, wo die Individuen der Gruppe gehalten sind, Sinn, Ziel und Zweck der Assoziationen zu nennen und so ihre jeweilige Aufgabe der Distanz zugunsten einer Neusozialisation zu rechtfertigen. An dieser Stelle, so könnte man sagen, wird die indivi duierende Erzählung durch eine übergeordnete gruppenzentrierte Erzählung ersetzt. Zur Selbstreflexion aufgefordert (ob von innen oder von außen) bzw. als Antwort auf die Frage nach dem Sinn und Zweck der Gruppe geschieht nun der Rückgriff auf das kollektive Archiv und die Etablierung eines Formulars des Gruppenmythos. Dieser Rückgriff ist vor allem dadurch motiviert, dem › Enthusiasmierenden ihrer Gruppenerfahrung ‹ Ausdruck und Rechtfertigung zu verleihen. Für diese Absicht werden vormals museale Elemente (Bilder, › Videos ‹, Mythen, Ideologien) des kollektiven Gedächtnisses energisch aktualisiert und in Anwendung auf die Gruppe als Gesellungs- und Vereinigungsszene vergegenwärtigt. Frese nennt hier Beispiele von durch ideale Örter, zeitliche Sukzession und Individualnamen präzisierten Gruppenmythen wie die Argonauten, König Arthur und seine Tafelrunde, Sokrates und Diotima im Symposion, jedoch vor allem Beispiele aus der jüdisch-frühchristlichen Tradition, wie Noahs Arche, Israel beim Auszug aus Ägypten, Jesus und seine Jünger, die erste Pfingstgemeinde usw. Generellere Gesellungsformen aus Antike und Frühmoderne sind etwa Familien, Klostergemeinschaften, Schiffbrüchige, Zunftgenossen, Fakultäten, Werkstätten, Gilden usw.42 Die jeweils dem Archiv entnommene › begründende ‹ mythische Sozialfigur und das ihr entsprechende Formular zeitigen nun einen Rahmen der Selbstbeschreibung, der in ständiger Aktualisierung dramatischer Szenarien (Gruppentreffen etc.) Möglichkeiten des Umgangs untereinander wie mit der Umwelt, sowie bestimmte Daseinsentwürfe bereitstellen. Es besteht dabei natürlich die Möglichkeit der jeweiligen phantasievollen Modifikation des Formulars. Durch die Verbindung mit dem Archiv erscheint der in der Urerfahrung erlebte Aufbruch ins Neue als Wiederaufführung eines Uralten, die Gruppe mythisiert und
42 Frese weist ausdrücklich darauf hin, dass die allermeisten der Gruppenmythen Männerbünde beschreiben (vgl. ebd., S. 445).
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konstruiert sich in dieser Dialektik43, und zwar in einer › gewusst-unbewussten Weise ‹ der nicht theoretischen, sondern › konstruktiven ‹ Mythologisierung. Diese Mythologisierung findet selbst wieder Eingang in ein Archiv, diesmal in das Archiv der jeweiligen Gruppe (nach einer › politischen Machtübernahme kann auch Übernahme in allgemeines Archiv erfolgen, ist sogar tendenziell darauf angelegt). Die Mythologisierung anhand des Formulars kann dabei dazu führen, dass die Gruppengeschichte entsprechend der formularischen Vorlage weitergeführt wird, obwohl der » unmittelbare Kommunikationsprozeß der Gruppe nicht viel Erzählenswertes anbietet oder sich in Intrigen erschöpft. «44 An dieser Stelle nun tritt die Gruppe selbst als sozialer Akteur unabhängig von den in ihr versammelten Individuen auf. Der formularisch-mythische Soziotext der Gruppe wird selbst zu einem nicht nur diskursiven, sondern auch zu einem sozialen Akteur, insbesondere wenn geschichtsphilosophische › Megamythen ‹, wie Frese schreibt, wie etwa Messias- oder Erlösungsszenarien im Gruppenprozess mobilisiert worden sind: die Gruppe gewinnt so den Glauben an ihre Rechtfertigung aus sich selbst, kann mittels provokativer Selbst-Häretisierung als Träger zukünftiger Erlösung, also als Geschichtsagent figurieren und immunisiert sich im kerygmatischen Mitteilen zum Zwecke der Missionierung (› Ruf zum Aufbruch ‹) von den möglichen Einsprüchen einer Außenwelt. An diesen Ruf zum Aufbruch knüpfen sich bestimmte Rollen, die sich einem bestimmten durch das Formular induzierten Charisma verdanken: der Prophet (bzw. Rufer in der Wüste, von dem ein solcher Ruf als Unterbrechen des gängigen Diskurses auch zuerst ausgehen kann), sein › Erstbegleiter ‹ und Wegebner, auch der › Impressario ‹. Es entsteht eine › Aura von Konversions-Bereitschaft ‹, in dem das › Gruppen-Formular ‹ das Angebot einer, wie Frese schreibt, › Kompensation ‹ von Defizit-Biographien anbietet.45 Entsprechend findet eine bestimmte Rollen-Zuweisung, Hierarchisierung und Ritualisierung statt, die sich in einem spezifischen Formular des Gruppenrituals äußern können, welches wiederum für
43 In › Dialektik der Gruppe ‹ bestimmt Frese diese Dialektik im Sinne Walter Benjamins als eine Antwort auf die Zumutungen der Moderne: » Die funktionalen Erfordernisse der Herstellung arbeits- und konsumfähiger Individuen mit komplizierter Identität in einer Welt ohne anerkannt verpflichtende Institutionen lassen Gruppe als ein typisches Phänomen und Projekt der bürgerlichen Moderne erscheinen. In Benjamins Sinne ist Gruppe ein dialektisches Bild, in dem sich Erfordernisse der modernen bürgerlichen Gesellschaft, archaische Bildprojektionen und utopische Verweisungen in eine nachbürgerliche Zukunft mischen […] « (Frese, Dialektik der Gruppe [wie Anm. 18], S. 31). 44 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 446. 45 Ebd., S. 448.
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die Analyse eines Gruppenprozesses die einzigen zur Verfügung stehenden Dokumente sind und daher einer › genauesten Exegese ‹ bedürfen.46 Es werden gruppeninterne Textprozesse etabliert (auch mit Hilfe von Strategien der Arkanisierung), welche zur Kanonisierung und Dogmatisierung von (Sozio-)Texten führen können. Das Einschreiben in ein Gruppenformular löst Prozesse der Marginalisierung bzw. der Festschreibung von Differenz aus, welche insbesondere von zeitlichen, lokalen und soziostrukturellen Konjunkturen abhängen können. Frese nennt dies die » Dramatisierung der mythisierten Differenz «.47 Beispiele hierfür liefern histo rische Situationen der gesellschaftlichen Überproduktion von Intellektuellen, der Modernisierung, bevorzugte Orte wie Universitätsstädte und ökonomisch-politische Metropolen, Orientierungs- und Legitimationskrisen von hegemonialen Institutionen. Hier entstehen › Freiräume ‹, die soziale und intellektuelle Experimente erleichtern.48 An diesen Stellen kann unter Einfluss des formularinduzierten Charismas der Gruppe die Marginalisierung in Auserwähltheitsbewusstsein umschlagen. Die Gruppe geht über zum politischen Gesellschaftsentwurf. Diese Umwertung geschieht zumeist in dramatischen Szenarien und führt zu einer Mythisierung der eigenen labilen Situation (Apotheose der Existenz auf der Grenze, des Übergangs etc.), und der Profanierung herrschender Bilder (Spießer, Pharisäer etc.). Dabei inszeniert sich die Gruppe in ihrer Auserwähltheit als generalisierbares Gegenmodell zur › hegemonialen Ideologie ‹ (Idee der › Speerspitze ‹ etc.), die als substanziell feindliche Einheit konstruiert wird (› die Gesellschaft ‹).49 Es findet nun ein missionarischer Export der › Innovationen ‹ der Gruppe statt: » Marginalisierte Intellektuelle mythisieren sich als universale Modelle «, schreibt Frese, wobei » geglaubte Möglichkeit […] antreffbare oder dokumentierte Wirklichkeit entbehrlich [macht]. «50 Dennoch erlaubt dieser Prozeß auch die Re-Integration der Gruppe, sobald ihre konstruierten Ideologien als › allgemein-gültige ‹ Theorien, Modelle der Orientierung akzeptiert werden, die Gruppe ergreift (oft unter dem Schlagwort der › Verantwortung ‹) die Macht (Bsp. Bolschewiki).51 Für Frese ist dies, wie er 46 Ebd., S. 449. 47 Ebd., S. 451. 48 Ebd., S. 452. Vgl. Freses eigene Bemühungen um entsprechende › Freiheitsspielräume für intellektuelle Außenseiterpositionen ‹. 49 Ebd., S. 456. 50 Ebd., S. 457. 51 In Bezug auf diesen Gruppenprozess bestimmt Frese den Begriff der Ideologie: » Als › ideologische ‹ Aussage (Ideologem) soll hier jeder in der Öffentlichkeit mit (sozial-)
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an anderer Stelle ausführt, das Resultat eines polemischen Prozesses, der » Politik als Kampf ums Recht im Raum der Sprache «52 bestimmt. Hierbei gilt: » Das politische Sprachspiel ist grundsätzlich bereits gewonnen, wenn der Gegner sich auf die angebotene Beschreibung der › neuen ‹ Situation einläßt. «53 Die formularische Mythisierung der Differenz ermöglicht somit für marginalisierte Intellektuelle überhaupt erst die Chance zur politischen – freundlich gesprochen – Integration bzw. Machtübernahme. Insbesondere bemerkenswert am Freseschen Ansatz zur Erstellung eines Formulars der Gruppenformulare ist in jedem Fall die weitgehende Mobilisierung (christlich-)religiöser Formen und Figuren aus dem theoretisch-metaphorischen Archiv. Ich nenne nur die Stichworte Pfingsten, Parusie, Taufe, Glauben, Rechtfertigung, Kerygma etc. In der Tat ist selbst der Begriff des Formulars zwar prominent in Bürokratie und Verwaltung54, zudem jedoch findet er herausgehobene Anwendung in der (christlichen) Liturgie seit dem 9. Jahrhundert55 und der Liturgiewissenschaft. Das Formular dient hier der kommunikativen Regulierung von Allgemeinem und Besonderem wie auch von Gegenwärtigem und Vergangenheit im Gottesdienst. Es bezeichnet die Gesamtheit der liturgischen Texte einer Messe oder einer Feier, und zwar in Abhebung von den Lesungen.56 Die Theorie der Gruppe im Sinne des in Theorie konvertierbaren Mythos’ Freses kann also ohne eigene konfessionelle Positionierung das Modellpotential religiöser Phänomen für eine Wissenssoziologie der Gruppe nutzbar machen.
wissenschaftlichem Anspruch auftretende Satz gelten, der die spezifische Situation einer Gruppe als die einer umfassenden und übergreifenden Einheit (bzw. der ganzen Gesellschaft) erscheinen läßt, um die (› partikularen ‹) Interessen, Rechtsansprüche, Normen und Werte der Gruppe als umfassendere (› allgemeine ‹) öffentlich zu legitimieren und gegen die besonderen Interessen usw. anderer Gruppen politisch durchzusetzen. « (Jürgen Frese, Politisches Sprechen. Thesen über einige Rahmenbedingungen, in: Annamaria Rucktäschel (Hg.) Sprache und Gesellschaft, München 1972, S. 102 – 114, hier: S. 109). 52 Ebd., S. 103. 53 Ebd., S. 106. 54 Vgl. hierzu Cornelia Vismann, Akten, Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M. 2011, insbesondere S. 160 f. 55 Siehe D. von Huebner, Artikel › Formular, liturg. ‹ in: Lexikon des Mittelalter, Bd. 4, Stuttgart 1999, S. 656 f. 56 Vgl. Marcel Metzger, Geschichte der Liturgie, Paderborn u. a. 1998, S. 150.
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II. D er Patmos -K reis (1919 – 1921) Im vorigen Abschnitt wurde der theoretische Ansatz Freses vorgestellt, nun soll er am empirischen Material illustriert werden. Hierbei soll es um den als Reaktion auf den ersten Weltkrieg – im Sinne Frese eine relevante zeitliche Verdichtung oder epochale Konjunktur allgemeiner Orientierungs-Verunsicherung durch Legitimationskrise – entstandenen Patmos-Kreis um den Würzburger Patmos-Verlag gehen.57 Der recht kurzen › Lebenszeit ‹ dieses Kreises steht sein durch mythisierende Erinnerungen gepflegtes Nachleben in den Schriften einiger Mitglieder gegenüber. Hinsichtlich der beteiligten Personen herrscht in der Literatur große Unsicherheit. Eigener Beschreibung nach bestand der Patmos-Kreis aus folgenden sechs Personen. Beteiligt waren ein Dichter, ein Philosoph, ein Volkswirtschaftler, ein Jurist, ein Physiologe, ein Pfarrer; nämlich: Leo Weismantel (1888 – 1964, Dr. phil., Schriftsteller in Würzburg), Hans Ehrenberg (1883 – 1958, Dr. phil., a. o. Professor der Philosophie an der Universität Heidelberg), Werner Picht (1887 – 1965, Dr. rer. pol., Mitarbeiter im Preuß. Kultusministerium), Eugen Rosenstock (1888 – 1973, Dr. iur., Privatdoz. des Staatsrechts u. der deutschen Rechtsgeschichte an der Universität Leipzig), Rudolf Ehrenberg (1884 – 1969, Prof. Dr. med., Privatdozent der Physiologie an der Universität Göttingen) und schließlich Karl Barth (1886 – 1968, Pfarrer in Safenwil [Aargau]). Diese Liste mit den Berufsbezeichnungen und den akademischen Titeln der Personen findet sich als Anzeige des Verlags in manchen der hier erschienenen Bücher.58 Sie ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Der › Patmoskreis ‹ bestand aus christlichen Autoren, von denen drei (Rosenstock und die beiden Ehrenbergs) jüdische Wurzeln haben. All diesen noch jungen, aber dennoch schon beruflich etablierten Intellektuellen einer Generation zwischen 31 und 36 Jahren gemeinsam war das Bewusstsein einer tiefgreifenden Kulturkrise, nämlich des an der Katastrophe des Krieges sinnfälligen Scheiterns herkömmlicher Weisen der intellektuellen Existenz. Die Gruppe ging damit sozusagen von einer allgemeinen Marginalisierung der Gutwilligen aus. » Wir waren nun bestimmt, nicht wieder zurückzugehen und den Rest unseres Lebens nicht der Rückkehr zur Normali-
57 Vgl. hierzu ausführlicher Knut Martin Stünkel, Kybele oder Symblysma ? Eugen Rosenstock und der Kreis um den Patmos-Verlag, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 14, 2015, S. 367 – 390. 58 So zum Beispiel als Anzeige auf den letzten Seiten von: Eugen Rosenstock, Die Hochzeit des Kriegs und der Revolution, Würzburg: Patmos Verlag 1920 (Die Bücher vom Kreuzweg. Erste Folge).
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tät, sondern der Norm dieser außerordentlichen Erfahrung zu widmen. «59 schreibt Eugen Rosenstock später über die drängenden Anforderungen einer solchen Krise. Das Formular des modernen Intellektuellen als des Distanzierten (außerordentlichen) findet sich hier bestätigt und erfüllt. Der Patmos-Kreis war somit einem in spezifischer Weise anti(bildungs-)bürgerlichen Reformprojekt gewidmet, welches sich auf alle Bereiche des Lebens, besonders aber den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb erstreckte. Zwar wird in dem Vorstellungstext die Verschiedenheit der Profession im Sinne einer Polyphonie der Stimmen besonders hervorgehoben, die gemeinsame akademische Provenienz ist jedoch ebenso deutlich unterstrichen. Zum Ausdruck kam dieses ambitionierte Projekt in dem anspruchsvollen publizistischen Programm, welches sich mit dem Kreis verband. Nach einem Plan Leo Weismantels sollte eine ganze Verlagsgruppe gegründet werden, welche aus drei Verlagen bestehen sollte: dem Patmosverlag, » der ein Haus sein will für den Christen. Christ: das ist der Ziel-Mensch, dem Eleusisverlag, der jene sammeln will, die sich keinem Namen verschreiben, es sei denn dem eigenen selbstgeschöpften. Wegmenschen […] sie machen den Weg zum Ziel, dem Moriahverlag, – er will einen Ausblick schaffen für den Juden, der auf die Erlösung harrt und dem in der Schau des Ziels leicht wohl der Weg verschwindet. «60 Innerhalb der Neubau-Verlagsgruppe waren also die einzelnen Religionen fein säuberlich getrennt: für suchende Heiden und für Juden Patmos ganz offensichtlich nicht der richtige Ort. Dabei gaben die verwandten Namen › Patmos ‹ als der › Ort ‹ der Johannes-Offenbarung, › Moriah ‹ als der Ort, an dem Abraham seinen Sohn Isaak opfern sollte (» geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde «, Gen. 22, 2) und möglicher Ort des Tempelbergs und schließlich › Eleusis ‹ als Anzeige eleusischer Gefilde und heidnischer Mysterien schon Geschichten bzw. Formulare vor, in die sich die einzelnen Veröffentlichungen gemäß der von Weismantel vorgegeben Normalstruktur eintragen konnten. Angesichts der vor allem (heilig-)geistlichen christlichen Prägung der Patmosidee erscheint somit höchst zweifelhaft, ob es statthaft ist, etwa von Franz Rosenzweig als einem Mitglied des Patmos-Kreises zu sprechen. Der
59 Eugen Rosenstock-Huessy, Ja und Nein – autobiographische Fragmente, in: ders., Unterwegs zur planetarischen Solidarität, hrsg. von Rudolf Hermeier, Münster 2006, S. 294. 60 Dieser Plan aus einer Ankündigung der Verlagsgruppe › Die Neubau-Verlage ‹ vom 1. Oktober 1919 wird zitiert in: Gertrud Weismantel, Begegnungen: Eugen Rosenstock-Huessy und Leo Weismantel, in: Lothar Bossle (Hg.), Eugen Rosenstock-Huessy – Denker und Gestalter, Würzburg 1989, S. 92 – 109, hier: S. 108.
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Kern des Patmos-Projekts war demnach die Reihe der Bücher vom Kreuzweg innerhalb des Patmos-Verlags. Sie zielten auf ein den Autoren entsprechendes Publikum, wollten aber die akademische Disziplinarität und Disziplin überwinden: nämlich die einzelnen Fachbereiche, und zwar im Sinne einer Einführung des Wirkens Gottes auf den universitären Bereich. Zwar sprechen › Patmos ‹ und › Bücher vom Kreuzweg ‹ deutlich für eine christliche Prägung, doch war Patmos selbst gekennzeichnet durch eine intra-religiöse Überbrückungsleistung, denn, so beschrieb Eugen Rosenstock, die dem Kreise zugrunde liegende Ur-Erfahrung: » Hier bildete sich das johanneische Reich abseits der Kluft zwischen katholisch und protestantisch. […] In diesen Büchern vom Kreuzweg brach die wirkliche eine Welt des ersten Glaubensartikels aus den Fiktionen der › Staatenwelt ‹, der › christlichen ‹ Welt, der kirch lichen Welt, der gesellschaftlichen Welt hervor. «61
Unter den vielen Gegensätzen, welche nach Rosenstock durch Patmos ihre Bedeutung verloren, befand sich neben dem Gegensatz von Glauben und Wissen oder Kapital und Arbeit auch derjenige von › protestantisch ‹ und › katholisch ‹, nicht jedoch derjenige zwischen Judentum und Christentum.62 Auf diese Weise gewann die Gruppe mit dem Hinweis auf die von ihr präfigurierte › eine Welt des ersten Glaubensartikels ‹ einen selbst » mythisch begründete[n] Glaube[n] an die Legitimität der revolutionären Ansprüche für sie selbst und ihr Unterstützer-Umfeld eine solide, eigenständige, von den herrschenden Legitimierungs-Ideologien unabhängige Basis. «63 Der Patmoskreis bot also, jedenfalls in den nachträglichen Darstellungen einzelner Mitglieder64, sinnstiftende Anschlußmöglichkeiten zukünftigen Handelns, welche durch das Formular der hier entstandenen Gruppe vorgegeben und zu persönlicher Modifikation und Eintragung ausgeschrieben war.
61 Rosenstock, Ja und Nein (wie Anm. 59), S. 266. 62 Vgl. ebd., S. 294. 63 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 447. 64 An dieser Stelle, wohlgemerkt, bewegt sich die Darstellung auf dem Boden der gruppeninternen Selbstbeschreibung einzelner Mitglieder. Andere, in Sonderheit Karl Barth, verhielten sich eher distanziert. Der von ihm nicht mitgetragene Pathos von Patmos führte dann auch zum Scheitern des Projekts als einer über einen längeren Zeitraum öffentlich wahrnehmbaren Intellektuellen-Assoziation. Nach eigener Aussage fürchtete Barth, vom Patmos-Kreis mit dessen › Gnosis ‹ überschwemmt und erstickt zu werden (in einem Brief an K. H. Miskotte vom 12. 7. 1956, zitiert in: Eberhard Busch, Karl Barths Lebenslauf, München 1976, S. 154).
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Diese gruppenbedingte zukünftig wirkende Sinngebung funktionierte bei einigen Gruppenmitgliedern, besonders im Falle Eugen Rosenstocks, auch noch nach dem eigentlichen Auseinanderbrechen der Gruppe. Das Patmosprojekt war umfassend, meta-politisch, und als solches in der Selbstwahrnehmung gekennzeichnet durch eine immense Akkumulation von › Macht ‹ in der Hinsicht, dass die Aktionen der einzelnen Patmos-› Leute ‹ (Frese) von den Mitgliedern als die politisch, intellektuell, religiös usw. einzig relevanten betrachtet werden. Beispielsweise wurden in späteren Publikationen nur noch Gruppenmitglieder zustimmend zitiert und somit ein alternatives Zitationskartell etabliert, es fand also im Sinne Freses ein › gegenseitiges Zustimmen und gegenseitiges Zuschreiben von Gruppenzugehörigkeit ‹ statt; das » kerygmatische Mitteilen und Kommunizieren der innovativ aufgeladenen mythischen Glaubensbotschaften der Gruppe an ihre Anhänger « wurde ein durch Wiederholung und Emphase sich selbst verstärkendes » Alltagsgeschäft «65 der intellektuellen Produktion der einzelnen Mitglieder66, wodurch bestimmte Texte kanonischen Status gewannen. Alle sechs agierten als Gruppe durch die › Etablierung gruppenspezifischer Textprozesse ‹, durch die Veröffentlichung ihrer Bücher in Verlag und Reihe im
65 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 447. 66 Dies geschieht etwa in der Weise, dass die Arbeiten der anderen Gruppenmitglieder in die eigenen durch Verweis inkorporiert werden, so dass implizit mehrere Publikationen unterschiedlicher Individuen als ein großes (Gruppen-)Projekt erscheinen. Vgl. z. B. Rudolf Ehrenberg, Metabiologie, Heidelberg 1950, S. 299, mit Verweis auf Rosenstocks › Die europäischen Revolutionen ‹ oder umgekehrt Rosenstocks Verweis auf Ehrenbergs biologische Untersuchungen in: Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit. Konkordanz der politischen und der kosmischen Zeit, Moers 1991, S. 106 bzw. 163, wo der Bezug mit einem Seitenhieb auf die akademisch-zünftige Biologie verbunden ist: » Ehrenberg vertritt diese Lehre seit dreißig Jahren. Die Maschinenbiologen schweigen ihn tot. « Eine Begründung für diese Bezugnahme liefert Rosenstock im Vorwort zum ersten Band seiner › Soziologie ‹: » Aber ich, der ich aus Unordnung Ordnung entstehen lassen will, schreibe weder in dem flüchtigen Augenblick des witzigen Einfalls noch in der langen Zeit der Wissenschaften. Denn ich kehre jedesmal, wenn mir etwas eingefallen ist oder wenn ich mich zum Fachmann meines Systems aufgeschwungen habe, als Freund unter Freunde zurück. Für die Natur- und Geisteswissenschaftler wird diese Tatsache verkleistert, weil man dort den Kollegen mit dem Freund verwechselt. Der Soziologe hat keine Kollegen. Hingegen muß er Freunde haben. « (Eugen Rosenstock-Huessy, Soziologie. Die Übermacht der Räume, Stuttgart 1956, S. 12).
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Sinne eines Auf-Dauer-Stellens und kerygmatischen Präsentierens der Gruppenerfahrung. Der Name Patmos selbst öffnete ein weites Archiv von Anschließbarkeiten an kulturelle Formulare: von Johannes auf Patmos über Luther auf der Wartburg (› mein Patmos ‹) bis hin zu Patmos bei Hölderlin.67 Der Patmos-Männerbund inszenierte sich als fast schon eschatologische Avantgarde, vielleicht im Sinne einer frühchristlichen Charismatikergruppe. Bestimmte Szenarien, insbesondere solche der Überwindung konfessioneller oder akademischer Grenzen in einem Pfingstereignis wurden emphatisch konserviert (archiviert) und bei jeder Gelegenheit zitierend bemüht. Für einen Teil der Patmos-Leute ist dies insbesondere das sogenannte Leipziger Nachtgespräch am 7. Juli 1913 zwischen Rosenstock, Franz Rosenzweig und Rudolf Ehrenberg.68 Eugen Rosenstock hat zudem eine biographische Entscheidungssituation am symbolträchtigen Ort zu einem kairologischen Zeitpunkt in dieser mythisierenden Weise emphatisch beschrieben. Am Ende des Weltkrieges, nach dem deutschen Zusammenbruch, bedenkt der Offizier Rosenstock am 8. (bzw. 9.) November 1918 auf dem Bahnhof zu Wabern (als modernes Pendant zur Kreuzung) verschiedene sich ihm bietende
67 Patmos wird auch eine Rolle gespielt haben, wenn etwa Leo Weismantel einen › Ruf zum Aufbruch ‹ (Frese) beschreibt: » Mitten im Meer taucht eine Insel auf, und dort landen die Kähne all derer, die den Ruf hören, – die ihn aber nicht hören, schütteln die Köpfe, sind ärgerlich über eine vertane, verlorene Stunde, wissen nichts vom Meer, nichts vom Strom, nichts von der Wunderinsel der Errettung, – denn sie verließen nie das feste Land ihres Raumes, – wie sollten sie Gläubige sein ? « (Leo Weismantel, Der Geist als Sprache, Augsburg/Köln 1927, S. 36). 68 Wolfgang Ullmann bringt in seiner Darstellung des Nachtgesprächs dieses ganz im Sinne des mythischen Archivs mit dem Dialog Sokrates-Diotima im Symposion in Verbindung (vgl. Wolfgang Ullmann, Die Entdeckung des Neuen Denkens. Das Leipziger Religionsgespräch und der Briefwechsel über Judentum und Christentum zwischen Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig, in: Stimmstein. Jahrbuch der Eugen Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 2, 1987, S. 147 – 186, hier: S. 148). Die spätere › Dramatisierung ‹ des Gesprächs wird aufgezeigt von Dietmar Kamper, Das Nachtgespräch vom 7. Juli 1913. Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886 – 1929). Bd. 1: Die Herausforderung jüdischen Lernens, München/Freiburg 1988, S. 97 – 104, hier: S. 98. Grundsätzlich zum Nachtgespräch und seiner späteren erinnernden Aufbereitung durch die Teilnehmer: Hugo Gotthard Bloth, Was geschah im › Leipziger Nachtgespräch ‹ am 7. 7. 1913 zwischen den Freunden Eugen Rosenstock, Franz Rosenzweig und Rudolf Ehrenberg ?, in: Mitteilungsblatt der Eugen Rosenstock-Huessy-Gesellschaft 1982, S. 2 – 14.
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Zukunftsmöglichkeiten (Fortsetzen der Universitätskarriere, Herausgabe einer intellektuell bedeutenden Zeitschrift, Mitarbeit bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung) im › alten ‹ System, die jedoch in einem, aus dem › Ruf ‹ der Zeit resultierenden Aufbruch alle verworfen werden. Rosenstock schlägt einen neuen Pfad ein, die Wahl mit den damals möglichen Optionen wird zu einer Versuchersituation – der Versucher der alten Zeit tritt gar in dreifacher Gestalt an ihn heran – mythifiziert. Als zukünftige Träger der Erlösung und im Glauben an die Legitimität ihres historischen Anspruchs (die Weltkriegskatastrophe hat alles andere endgültig desavouiert) häretisierten sich die Mitglieder insbesondere gegen die offizielle Kirche und die offizielle Wissenschaft. Das Festschreiben und Mythisieren von Differenz in dramatischen Überstilisierungen ist besonders ausgeprägt bei Rosenstock, aber auch bei Karl Barth mit dessen entschiedenem grundlegenden Abgrenzungskriterium von Gott und Mensch als Basis seiner theologischen Überlegungen – was zu ebensolchen Abgrenzungs- (bzw. Häretisierungsbemühungen) gegenüber anderen Positionen führt. Dem Ruf zum Aufbruch wurde nicht nur selbst Folge geleistet, sondern dieser selbst entscheidendes Element eines › Neuen Denkens ‹ (Sprachdenken), welches den Vorrang der Sprache vor dem Denken und ein Theoretisieren im Sinne eines dialogischen Sprechens von Anruf und Antwort als Gegenmodell zur herrschenden Ideologie (Kulturprotestantismus etc.) propagierte. Auch die › Aura von Konversionsbereitschaft ‹ war theoretisch eingebaut, man denke an das Motto von Eugen Rosenstock respondeo etsi mutabor.69 Über die Identität des Propheten bzw. seines Erstbegleiters gab es bei den Mitgliedern des Kreises zwar unterschiedliche Auffassungen (fast jeder, insbesondere Hans Ehrenberg und Eugen Rosenstock, sah sich mehr oder minder selbst in der führenden, › stiftenden ‹ Position), die formularische Figur wie auch eine bestimmte Art von Selbstmythisierung selbst jedoch schien unhinterfragt gültig zu sein.
69 Im amerikanischen Exil schreibt Rosenstock über diese Maxime: » Thus our formula has been given in three simple words: Respondeo etsi mutabor, I answer though I have to change. That is, I will make answer to the question because Thou madest me responsible for life’s reproduction on earth. Respondeo etsi mutabor: By self-forgetting response, mankind stays › mutative ‹ in all its answerable members. « (Eugen Rosenstock-Huessy: Out of Revolution. Autobiography of Western Man, Providence/Oxford 1993, S. 751).
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III. S ymblysma Zu Beginn von Intellektuellen-Assoziationen schreibt Frese, dass es Gruppenhistorien gebe, welche » mehr Illustrationsmaterial für den einzurichtenden Extremtypus liefern als andere. «70 Dies ist sicherlich auch beim Patmos-Kreis der Fall. Was allerdings später auch Freses eigenes Interesse auf diesen Kreis und einige seiner Protagonisten zog, war, dass fast alle seine Mitglieder selbst über Bedingungen und Möglichkeiten von Gruppenprozessen von Intellektuellen (insbesondere auch die eigenen) reflektierten.71 Eine herausgehobene Rolle spielt für Frese dabei das Werk von Eugen Rosenstock(-Huessy), und hier im speziellen dessen Soziologie der Gruppe, welche insbesondere in einem Text mit dem Titel Symblysma oder Der Überschwang der Jesuiten entwickelt ist.72 Diesem Text hat Frese eine eingehende Untersuchung gewidmet, welche sich an die eigenen Versuche anschließt und diese gewissermaßen krönt bzw. einleiten könnte.73 Eigener Angabe nach hatte Rosenstock im Alter von fünfzehn Jahren im Jahre 1903 die erste Idee einer Lebensaufgabe: das Studium menschlicher Verbände74, eine Lebensaufgabe mit Entsprechung zur Theorie der Gruppe bei Frese. Das entscheidende Moment, welches Frese an den Überlegungen Rosenstock-Huessys interessierte, ist das merkwürdige Titelwort Symblysma (zusammen-(plötzlich) überströmen). Rosenstock führt dieses Wort, eine Eigenerfindung ein, um eine
70 Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 441. 71 In gleicher Weise mag es eine Rolle spielen, dass einige Vertreter des Patmos-Kreises der Sprache eine überragende Rolle für den Vollzug menschlichen Daseins zuschreiben; entsprechend hält Frese wissenschaftsökonomisch die » Beschreibung von Handlung als sprachanalogem Geschehen « im Sinne des engeren Bezugs zum Phänomen für vorteilhaft (vgl. Frese, Sprechen als Metapher für Handeln [wie Anm. 15], S. 31). 72 Eugen Rosenstock-Huessy, Symblysma oder der Überschwang der Jesuiten, in: ders., Der Atem des Geistes, Moers 1991, S. 277 – 294. 73 Jürgen Frese, Symblysma: Rosenstocks › soziologische ‹ Entfaltung der Lehre vom Heiligen Geist, in: Knut Martin Stünkel (Hg.), Ins Kielwasser der Argo. Herforder Studien zu Eugen Rosenstock-Huessy, Würzburg 2012, S. 59 – 69. Der Text wurde ursprünglich im Rahmen eines Rosenstock-Kolloquiums im Jahre 2005 vorgetragen. Im Nachlass Jürgen Freses finden sich Überlegungen, diesen Text als Einleitung eines geplanten Buches zu verwenden, welches seine sozialphänomenologischen Studien versammeln sollte. 74 Vgl. Gottfried Hofmann, Eugen Rosenstock-Huessy. Versuch einer Chronik seines Lebens, Münster 2014, S. 9.
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› Biographie der Gruppe ‹ in ihrer Spezifik vorzubereiten. Obwohl Rosenstock hier Konzepte jesuitischer Autoren (u. a. Karl Rahners und Hans-Urs von Balthasars)75 beschreibt, steht in seiner Darstellung ohne Zweifel auch ein Idealbild der eigenen Patmos-Gruppe im Hintergrund76, welche nach dem formularischen Szenario des Pfingstereignisses gebildet zu sein scheint Die These Rosenstocks im Hinblick auf die Gruppenbiographie lautet nun nach Frese wie folgt: » Es gibt kommunikative Ereignisse, die sich wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit gut als das Wirken des Heiligen Geistes verstehen lassen. Wenn unabhängig voneinander Menschen irgendetwas als an sie adressierten Aufruf erleben und dadurch entweder erschrecken oder in plötzliche Begeisterung verfallen. Wenn sie dann durch das Hören dieses Rufs zu einer Antwort in der Haltung gehorsamen Weitersagens motiviert werden, dabei frei und intensiv miteinander sprechen und fest glauben, sich intuitiv zu verstehen und dann sogar zu kooperativem Zusammenleben oder zum gemeinsamen Rückzug motiviert werden, dann wird ein solches Geschehen plausibel durch das Modell einer pfingstlichen Extremsituation gedeutet: der Geist hat die Geister zum Überströmen ihrer Impulse und zum Zusammenklingen ihrer Stimmen motiviert. Dieses Zusammen-Übergehen nennt Eugen Rosenstock-Huessy Symblysma. «77
Der Prozess, der ein harmonisches › Zusammenklingen ‹ verschiedener Stimmen bewirkt, schließt dabei einen tiefgreifenden Wandel der eigenen Person im Symblysma ein (entsprechend Rosenstocks Motto respondeo etsi muta-
75 Für Frese in besonderer Weise interessant ist sicher der Umstand, dass Rosenstock hier in seiner Liste jesuitischer Symblysmatiker als ersten Peter Browe (1876 – 1949) nennt (allerdings nicht namentlich): » Der Seelsorger der katholischen Studenten an der damals neugegründeten Universität Frankfurt, ein Jesuit, begegnete mir, als ich die Akademie der Arbeit eröffnete. Er sagte mir, die Jesuiten seien sich darüber klar, daß ihr Zeitalter vorbei sei. Denn die Gefahren, gegen die Ignatius ihren Orden gegründet habe seien nicht mehr die vornehmsten der Zukunft. Andere Formen müßten gefunden werden, um den gänzlich anders gelagerten Aufgaben von heute zu genügen. Dieser erste persönliche Bekannte gab das Stichwort. « (Rosenstock, Symblysma [wie Anm. 72], S. 280). Browe, von Haus aus ein Experte für die Moral- und Pastoraltheologie des Mittelalters, war der Freund und Beichtvater eines der Vorgänger in seinem Projekt der Untersuchung der Theoriebildung im Gruppenprozess, nämlich Alfred Seidels (vgl. Frese, › Bewußtsein als Verhängnis ‹ [wie Anm. 13], S. 51). Vgl. auch Frese, Symblysma (wie Anm. 73), S. 65. 76 Vgl. hierzu Stünkel, Kybele oder Symblysma ? (wie Anm. 57). 77 Frese, Symblysma (wie Anm. 73), S. 60.
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bor).78 Die symblysmatische Form eines Gruppenprozesses ist dabei nicht auf religiöse Kontexte beschränkt, sondern formal in der impliziten oder expliziten Selbstbeschreibung verschiedenster Gruppen aufzufinden. Frese nennt etwa das Jahr 1967 für die sogenannte › 68’er ‹ Bewegung. Bei dem Patmos-Mitglied Rosenstock, d. h. in der Objektsprache einer bestimmten gruppenbasierten Theorie findet Frese also eine präzisere Bestimmung seiner eigenen Analyse der pfingstlichen › Urszene ‹ eines Gruppenprozesses. Entsprechende Selbstbeschreibungen finden sich auch bei anderen Intellektuellen-Gruppierungen.79 An dieser Stelle sei ein weiteres, wohl auch nicht zufälliges Beispiel einer (Selbst-)Beschreibung der symblysmatischen Entstehung einer Gruppe bzw. eines › Kreises ‹ von Intellektuellen angeführt. In den Anmerkungen zu seinem Text über Alfred Seidel verweist Frese auf Carl Zuckmayers Erinnerungen › Als wär’s ein Stück von mir ‹ als vorzügliche plastische Porträts paralleler Gruppenprozesse.80 Ebenso findet sich aber auch hier eine Beschreibung eines symblysmatischen Gruppenprozesses junger Intellektueller, dessen Metaphern den Rosenstockschen sehr ähneln und das entsprechende (plötzliche) soziale Phänomen bezeichnen. Zuckmayer schreibt über die Verbindung mit Gleichgesinnten in seinem ersten Studienjahr in Heidelberg (als einem privilegierten Ort intellektueller Freiheitsspielräume81) nach dem Ende des Ersten Weltkriegs: » Nicht abwägend und allmählich, sondern explosiv, aus den Knospen platzend wie der Ausbruch einer hitzigen Baumblüte im Neckartal, stellte sich die Verbindung her, der Zusammenschluß zwischen jungen Menschen, von denen die meisten vorher nichts voneinander gewußt hatten und deren Symbiose – eine viel engere, als studentische Korporationen sie zeitigen dürften – vielfach zu Lebensfreundschaften verwuchs. «82 Seine Freundschaft mit Carlo Mierendorff, Theodor
78 Vgl. hierzu Knut Martin Stünkel, Respondeo etsi mutabor: Eugen Rosenstock-Huessy im Gespräch mit Freunden, in: Archivmitteilungen des Landesarchivs der Evangelischen Kirche von Westfalen 22, 2013/14, S. 108 – 123. 79 Frese nennt in › Intellektuellen-Assoziationen ‹ als mögliche Erfüllungen seines formularischen Mythos u. a. den Forte-Kreis in der Darstellung Christine Holstes (Der Forte-Kreis (1910 – 1915). Rekonstruktion eines utopischen Versuchs, Stuttgart 1992). 80 Frese, › Bewußtsein als Verhängnis ‹ (wie Anm. 13), S. 62. 81 Vgl. Frese, Intellektuellen-Assoziationen (wie Anm. 19), S. 453, hinsichtlich des als › neuen Athens ‹ mythisierten Heidelberg. 82 Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Bd. 1, Frankfurt a. M.1976, S. 282.
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Haubach und anderen beschreibt Zuckmayer entsprechend diesem plötzlichen Überschäumen symblysmatisch als Harmonie vieler verschiedener Stimmen: » Wir bildeten, auch wenn der eine oder andere in der sozialistischen Studentenvereinigung und im Soziologen-Club fungierte, keine › Gruppe ‹ – wir waren ein Kreis, der sich auf eine fast magische Weise zusammenfand, ein kleines Freundes-Orchester, in dem jeder seine eigene Stimme spielte, verbunden durch die neue Tonart, die wir in Kunst, Gesellschaft, Geisteswelt erspürten und erstrebten, auch durch unbändige Lebenslust, Lach-, Spott- und Spielfreude, stets etwas abenteuerlich gestimmt, weit offen für alles Ungenormte und Kühne, für allen produktiven Zündstoff der Zeit. «83
Und auch der Charismatiker des Kreises fehlt nicht: » Wenn unser Kreis wirklich, wie ich vermute, ein magischer Zirkel war, so hatte er seinen Mittelpunkt und seine zentripetale Kraft in einem ebenso singulären wie sonderlichen, veritablen Magus, der uns allen an universalem Wissen, geistiger Frequenz und geformter Persönlichkeit um viele Spannen überlegen war: dem Doktor Wilhelm Fraenger, unvergänglichen Angedenkens. «84
Kein Wunder also, dass auch jemand von den späteren Patmos-Leuten, Hans Ehrenberg nämlich, in diesem Kreise auftaucht85, wie auch Eugen Rosenstock in der Autobiographie Zuckmayers später eine wichtige Rolle zugeschrieben wird.86
83 Ebd., S. 284. Freses Kennzeichnung eines Gefühls-Formulars scheint insbesondere auf diese Beschreibung durch Zuckmayer anwendbar zu sein: » Das Formular auf der jeweils strukturierten Stimme führt das auratische Vorgefühl und gibt ihm die Chance der Dramatisierung, der Inszenierung und der Einkleidung in ein höherstufiges Gefühl. Das auratische Vorgefühl wird hier also nicht als Emanation eines Strahlungskerns beschrieben, sondern umgekehrt das Hochgefühl als Ausgestaltung einer Atmosphäre durch deren Einfließenlassen in ein Formular. « (Frese, Gefühls-Partituren [wie Anm. 23], S. 58). 84 Zuckmayer, Als wär’s (wie Anm. 82), S. 286. 85 Vgl. Zuckmayer, Als wär’s (wie Anm. 82), S. 288. 86 Im Kontext der Erzählung über die amerikanische Emigration schreibt er: » In der kleinen Universitätsstadt Hanover, dem Dartmouth-College an der Grenze von New York und New Hampshire […] gewann ich einen neuen Freund, dessen Persönlichkeit, Wissen und Weisheit mir unendlich viel bedeutete: den Professor Eugen Rosenstock-Huessy, zu Beginn der Hitler-Zeit aus Deutschland ausgewandert, wo er zu den
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An dieser Stelle kann man abschließend wieder Anschluss an die Fresesche Biographie und damit an den Anfang dieses Versuchs gewinnen. Der PatmosKreis und die an ihn anschließenden (Selbst-)Beschreibungen sind in ihrer formularisch-religiösen Geprägtheit, insbesondere durch die ihm unterstellte pfingstlich-symblysmatische Gemeinsamkeit ein besonders illustratives Beispiel der Möglichkeit der Anwendung des Freseschen › Mythos ‹ auf eine IntellektuellenAssoziation. Jedoch sind die hierdurch bezeichneten Prozesse auch nicht ohne Erläuterungskraft für andere Gruppen, Bünde oder Netzwerke von Intellektuellen, auch und gerade für solche, die mit ihrer modernen kritischen Intellektualität insbesondere gegenüber der Religion ernst machen. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die eigenen Gruppenzugehörigkeiten Freses. Die Seminarszene bei Schelsky lässt sich als ein motivierender Aufruf zum Weitersagen und Weitergeben eines bestimmten Habitus verstehen, der den Angesprochenen in eine bestimmte, Polyphonie nicht nur tolerierende, sondern auch fördernde Gruppe kooptiert und adoptiert, wobei der vormalige Gegner in einen Kollegen gewandelt wird (› ich saß plötzlich auf der anderen Seite ‹). Vielleicht ist dieses GruppenErlebnis unerwarteter (symblysmatischer) Kollegialität in der Akzeptierung bestimmter Formulare eine Beschreibung, welche der bisherigen Kennzeichnung sozialer, aber auch politischer bzw. demokratischer Prozesse fehlt und über bestimmte Freund-Feind-Schemata hinausgeht.
Männern gehört hatte, die vor dem Ende der Republik sich um neue Gemeinschaftsformen, um die organische Verbindung von produktiver Intelligenz und schaffendem Volk bemühten. Jedes Zusammensein mit diesem großartigen, tapferen, kühn und unabhängig denkenden Mann, über dessen Lebenswerk zu schreiben ein eigenes Buch erfordern würde, brachte mir einen Gewinn und Zuwachs an geistiger Frequenz, mehr, als es die Lektüre von vielen Büchern vermocht hätte. « (Zuckmayer, Als wär’s [wie Anm. 82], Bd. 2, S. 546).
Gemeinschaft, Bund oder Kreis? Walter Benjamin liest Stefan George G a br iele G u er r a
Eine plastische Darstellung des Kreises um Stefan George stammt von einem seiner ehemaligen Mitglieder, vom später brillanten Literaturkritiker und -wissenschaftler Max Kommerell. Er schreibt in einer Aufzeichnung über die Gedichtsammlung Georges mit dem Titel Der Stern des Bundes Folgendes: » Stern des Bundes nur zum kleinen Teil Gesetzgebung; zum größtem Teil Dokument des Lebens der Jünger um einen Meister im Kreis «.1 Damit beschreibt Kommerell eine geistige Topographie des Kreises, die lebensnotwendig für seine Mitglieder ist und zwei paradigmatische Richtungen zeigt: zum einen eine horizontale. Sie wird durch die Anhänger des Kreises verkörpert, die alle als Jünger im Grunde genommen gleich sind. Zum anderen eine vertikale, denn dieser Kreis organisiert sich zweifelsfrei allein durch die Figur seines Meisters, der Zentrum und Gipfel des Kreises ist und ihm eindeutige religiöse Züge verleiht. In der Tat: Kommerell beschreibt den Kreis an einer anderen Stelle seiner Notizen folgendermaßen: » Sie lesen zusammen. Er sitzt darunter. Zwischen Erzpriester und Medizinmann «.2 Schon wieder ist Kommerell besonders sensibel für die Riten und Mythen des Kreises um Stefan George: er beschreibt ihn als eine Gruppe von Jüngern, die sich um einen Meister mit religiösen und charismatischen Zügen versammeln. Sie folgen dabei einer genauen und festgelegten Hierarchisierung. (Und das tun sie, abgesehen von der Tatsache, dass die Forschung mittlerweile registriert, dass
1 Max Kommerell, Notizen zu George und Nietzsche, in: ders., Essays, Notizen, poetische Fragmente. Aus dem Nachlass hg. v. I. Jens, Olten/Freiburg Br. 1969, S. 246. 2 Ebd., S. 232.
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es um Stefan George nicht nur einen einzigen und reglementierten Kreis gab, sondern eher viele, unterschiedlich voneinander in Raum, Zeit und in der internen Hierarchie).3 Wenn wir nun Stefan George und seinen Hang zur dichterischen Gemeinschaft unter einem soziologischen Blickwinkel betrachten, stellen wir dabei auch einen gewissen » Expressionismus der Form « fest – eine Tendenz, die Gert Mattenklott treffend » Absolutismus der Formgesinnung « nannte.4 Unter » Expressionismus der Form « verstehe ich die Tatsache, dass die Anhänger den Kreis vor allem als eine pathosgeladene assoziative Lebensform erleben: darin agiert der sektiererische Geist, der die hochemotionale Beziehung zum Kreis betont und damit die Anhänger von der » normalen « Welt abtrennt. Deswegen sprach Mattenklott weiter von einem » synthetischen Habitus « in dem Sinne, dass George und sein Kreis eine » kulturelle Organisationsform formalster Art « bildeten, die deren » individuellen Verhaltensweisen, Anschauungen, ethischen Orientierungen « bestimmte und sie letztlich als » Krisentherapie « zum Erzeugen eines » quasi synthetisch[en] « kulturellen Unbewussten verstand.5 Habitus gilt nämlich hier – im Sinne Bourdieus – als Denk- und Lebensstile, die die konkreten Organisationsformen des literarischen Kreises artikulieren und die in einem einzigen erkennbaren Zug rekapituliert werden; synthetisch ist auch dieser Habitus, weil er diesen Stil zusammenfasst und emphatisch betont. Den George-Kreis möchte ich daher als eine Pathosformel der Gemeinschaftsform verstehen, die damit auch deren Pathogenese illustriert. Gefühle und die soziale Wahrnehmung von Gefühlen dienten im George-Kreis der Gemeinschaftsförderung, und dabei eben auch als Exklusions- und Inklusionskriterien. Auf diese Weise wird es möglich, eine kategoriale Steigerung darzustellen, die auf den Denkfiguren Kreis-Gemeinschaft-Bund-Sekte aufbaut: Ausgehend von dem – eher wertneutral gemeinten, wenngleich schon religionssoziologisch bestimmten – Typ des Kreises, über die Gemeinschaft und den Bund, gipfelt diese Steigerung im Typ der Sekte und damit in einer stark religiös konnotierten Form. Sie lässt sich am besten darstellen durch das Kreisen der Anhänger um ihren Meister – hier im Zeichen der Dichtung, des poetischen Auserwähltseins der Jünger durch den Meister.6
3 Von » Kreisen « um Stefan George spricht Jürgen Egyptien, Die Kreise, in: Achim Aurnhammer u. a. (Hg.), Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin 2012, Bd. 1, S. 366 ff, sowie Robert Norton, Politik des Unpolitischen ? Gemeinschaftskonzepte im George-Kreis, in: theologie.geschichte Beihefte 1/2010, S. 117 – 136. 4 Gert Mattenklott, Bilderdienst. Ästhetische Opposition bei Beardsley und George, Marburg 19852, S. 338. 5 Ebd., S. 338 und S. 340. 6 Dagegen Friedrich Gundolf, » Der Kreis ist weder ein Geheimbund mit Statuten und
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Eine solche poetische Form der Zugehörigkeit taucht bei George explizit auf: beispielhaft seien hier einige Verse zitiert, die die Form des Kreises bezeichnen: Dies ist reich des Geistes: abglanz / Meines reiches: hof und hain. / Neugestaltet, umgeboren / wird hier jeder; ort der wiege / Heimat bleibt ein märchenklang. / Durch die Sendung durch den segen / Tauscht ihr sippe stand und namen / Väter mütter sind nicht mehr … / Aus der sohnschaft der erlösten / Kür ich meine herrn der welt.7
Diese Verse, die aus der Gedichtsammlung Stern des Bundes von 1914 stammen, schildern sehr genau die Gemeinschaftskonzeptionen Georges: Auserwähltheit und die damit verbundene Exklusion zeichnen ein präzises Bild des Kreises. Konkret greifbar wird dies dort, wo George in einem Atemzug Sendung und Segen nennt. Damit beschwört George das dahinter stehende Movens der gesegneten und der sendungsbezogenen » Herren der Welt «: wer nämlich segnet, wer sendet, und wozu ? Die Antwort darauf scheint schnell und einfach zu sein, wenn man den religiösen und initiationsbezogenen Ton in diesen Verse heraushört, also das absolute Führerprinzip Georges erkennt: » Ob der Kreis nun eher pädagogisch als religiös orientiert war, ob er eine Sekte war oder ein Bund – all dies war nebensächlich angesichts der Tatsache, daß Stefan George allein über die Aufnahme neuer Mitglieder entschied, daß er allein wußte, wer in einem gegebenen Moment zum Kreis gehörte, daß er allein Sanktionen aussprach und Verstoßungen vornahm «8. So kommentiert es Wolf Lepenies in seinem Buch Die drei Kulturen, das mittlerweile zum Standardwerk zur Standortbestimmung der Soziologie in der Kultur geworden ist. Und doch ist nochmals zu betonen, dass der Kreis um George, in seiner absolutistischen und egomanischen Struktur, eindeutig religiöse Züge trägt. Und diese zeigen sich nicht nur in Ritualen und Inszenierungen, sondern auch in seinen intimen Strukturen.
Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel (die Mitarbeiterschaft an den › Blättern für die Kunst ‹ ist an sich noch kein Zeichen der Zugehörigkeit), sondern es ist eine kleine Anzahl Einzelner und bestimmte Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee, die er ihnen verkörpert (nicht diktiert), schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen «. Friedrich Gundolf, George, Berlin 1920, S. 31. 7 Stefan George, Stern des Bundes, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. VIII, Stuttgart 2013, S. 83. 8 Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. München/Wien 1985, S. 322.
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Sie zeigen sich zum Beispiel im Moment des Ausgewähltwerdens, bzw. in dem Moment der Aufnahme in den Kreis. Denn dieser setzt wiederum Exklusion voraus, die Tatsache, dass der Kreis vom Rest der Welt abgetrennt ist; beide Aspekte der Gruppenbildung zusammen, Aufnahme und Exklusion, gehören zu Max Webers Kerndefinition der religiösen Sekte.9 Die Kreiszugehörigkeit geht also mit einem Elitebewusstsein einher und manifestiert sich in den beiden, komplementären Momenten des Herrschens und des Dienens. So hat es Friedrich Wolters, ein Erzschüler Georges, in seinem programmatischen Büchlein Herrschaft und Dienst dargelegt: Er entwickelt in diesem Propaganda-Buch einen Projek tionsraum, in dem der Kreisanhänger » die lust des dienens kennen « lernt, » die in der ungeheuren schwebe der welt der lust des herrschens als das ewige gleichgewicht gesetzt ist «. Wolters fügt hinzu: » Je weiter ein Dienender von seinem Herrscher entfernt ist, um so gewaltiger ist die steigerung der lust des Dienstes, und wo die grösste macht des Herrschers die unerschöpfliche möglichkeit der hingabe gewährleistet […] ist in der endlichen einigung, und dauerte sie nur den unermessbaren bruchteil einer irdischen zeit, die höchste lust enthalten, welche ein geist empfangen kann «.10 Es ist nicht nur der pathetische Stil der Schrift, an dem sich gut jene religiös-politische Semantik zeigen lässt, die das poetische Reich Georges bestimmt. Der Kreis stellt sich als ein Bund von Eingeweihten dar, der von einem charismatischen Herrscher gestiftet und aufrecht erhalten wird. » Bund « bezeichnet dabei den sektenartigen Aspekt der Gruppenbildung, der sich in einem » Führer-Gefolgschaft-Prinzip « organisiert. (Es ist bemerkenswert, dass ein Aufsatz von Friedrich Gundolf von 1908 eben genau Gefolgschaft und Jüngertum heißt; Gundolf ist einer der brillantesten Kreisanhänger der ersten Generation).11 Und der Begriff des Bundes wiederum ist auch eine soziologische Pathosformel, wie Hermann Schmalenbach, der George-nahe deutsche Soziologe 1922 in einem entsprechenden Aufsatz konstatiert: » Für den › Bund ‹ sind Gefühlserlebnisse konstitutiv, sie sind seine › Grundlagen ‹ «.12 Gefühle sind hier also die bestimmenden Hauptmerkmale, die den Bund von anderen Formen der Zu-
9 » Die Sekte hat das Ideal der › ecclesia pura ‹ […], der sichtbaren Gemeinschaft der Heiligen, aus deren Mitte die räudigen Schafe entfernt werden, damit sie Gottes Blick nicht beleidigen «. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 2009, S. 211. 10 Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst. Berlin 19233, S. 58. 11 Friedrich Gundolf, Gefolgschaft und Jüngertum, in: Blätter für die Kunst, 8. Folge, 1908/1909, S. 106 – 112 (Neudruck in: Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, hg. v. Georg Peter Landmann, Stuttgart 1980, S. 78 – 81). 12 Hermann Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes, in: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, München 1922, S. 35 – 105, hier S. 59.
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gehörigkeit wie Gemeinschaft und Gesellschaft abgrenzt. Schmalenbach führt weiter aus, dass diese Gefühle streng hierarchisch organisiert sind: » Was die Soziologie des › Bundes ‹ hier aber überhaupt zu lernen hat, ist, dass die › Bund ‹ begründenden Gefühle nicht direkt die › Bund ‹-Genossen zu erfassen brauchen. Die Jünglinge, die gemeinsam ein hohes Ideal umschwärmen, lodern in einem › Bunde ‹ empor, auch wenn sie nicht ausdrücklich sich zueinander werden: dumpfer ist doch auch das Gefühlsbewusstsein der Gefühlsverbundenheit da. «13 Schmalenbach grenzt den Begriff des Bundes also vor allem ab von den damaligen Modekategorien der Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies. Man muss dabei aber beachten, dass Tönnies nicht explizit von Bund, sondern von Bündnissen spricht, die seiner Meinung nach » Freundschaften « sind, also Beziehungsformen, die vom Meister- und Jünger-Verhältnis und einem gemeinsamen Glauben ausgehen.14 Schmalenbach hat in seiner Stilisierung des Bundes offenbar den GeorgeKreis vor Augen. Und doch schreibt er dem Bund eine klare Nähe zum Religiösen zu und geht dabei so weit, dass er Parallelen setzt, zwischen Gemeinschaft und Bund einerseits, Kirche und Sekte andererseits: So heißt es, » › Kirche ‹ ist ein in › Gemeinschaft ‹ – oder auch sogar › Gesellschaft ‹ – umgewandelter [Bund], und › Sekte ‹ ein reiner Bund (beides relativ) «.15 Das Bündische erweist sich in diesem Sinn als die sakrale Formel des GeorgeKreises, als Ausdruck für seinen pathetischen Hang zum Beisammensein und zur Selbstabsonderung unter dem Zeichen des Führers. Und das umso mehr mit der Entstehung der Weimarer Republik nach der Kriegsniederlage und der da-
13 Ebd., S. 62. 14 » Die gemeinschaftlichen › Bündnisse ‹ werden am vollkommensten als Freundschaften aufgefasst; die Gemeinschaft des Geistes beruhend auf gemeinsamem Werk oder Beruf, und so auf gemeinsamem Glauben. Es gibt aber auch Verbindungen, die selber in der Gemeinschaft des Geistes ihren hauptsächlichen Inhalt haben, und aus freiem Willen nicht blos gehalten, sondern auch geschlossen werden: von solcher Art sind vorzüglich die Corporationen oder Genossenschaften der Kunst und des Handwerks, die Gemeinden oder Brüderschaften der Religion oder eines bestimmten Cultus zweckes: Gilden, Zünfte, Kirchen, Orden; in allen diesen bleibt aber Typus und Idee der Familie erhalten. Als Urbild der gemeinschaftlichen B ü n d n i s s e kann aber das Verhältnis von Herr und Knecht, besser: von Meister und Jünger, in unserer Betrachtung verharren; zumal inwiefern es von einer jener Ve r b i n d u n g e n als von einem wirklichen oder ideellen Hause überdacht bleibt. « (Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1979, S. 169 f). 15 Schmalenbach, Die soziologische Kategorie des Bundes (wie Anm. 12), S. 44.
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mit verbundenen Skepsis und dem Kulturpessimismus: Hören wir dazu Friedrich Wolters in seinem imposanten Werk Stefan George und die Blätter für die Kunst, das den Untertitel Deutsche Geistesgeschichte seit 1890 trägt: » Nur wer im Bunde mit dem Meister und den Gefährten seine Kräfte dem nächsten und wichtigsten widmete, nährte den Keim des Neuen Lebens, aus dem allein auch einer größeren Gesamtheit das Heil erwachsen konnte «.16. Das heißt nichts weniger, als dass nur aus dem bündischen Geist die rettende Lösung für Deutschland kommen könne, von einem » Geheimen Deutschland «, eine Formel, die 1910 von Karl Wolfskehl geprägt wurde, die aber gerade in der Weimarer Zeit an Bedeutung gewann). Dank der strengen Hierarchisierung und ebenso strengen raumzeitlichen Topographie könnten die Eingeweihten im Bund eine neue Zeit und eine neue Welt schaffen. Vor diesem Hintergrund gewinnen die Orte, an denen sich George aufgehalten hat, in Wolters Buch besondere Relevanz für das deutsche Geistesleben der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Berlin, München und Heidelberg werden zu Orten einer schicksalhaften Auserwähltheit – zu Orten einer poetischen Erscheinung, ja genauer: einer göttlichen Epiphanie.17 Besonders München und Heidelberg werden zur Bühne einer solchen Erfahrung. Zunächst möchte ich als Beispiel an das sogenannte Münchner » Kugelzimmer « erinnern: ein separates Zimmer in der Römerstraße 16, der Wohnung von Karl Wolfskehl. Das Zimmer war ganz nach Georges asketischem Geschmack gestaltet, nur mit Tisch, Stühlen, einer kugelförmigen Lampe – daher der Name. Und natürlich war es auch mit einem Bild Maximins ausgestattet, dem früh verstorbenen Knaben, der als Inspirationsquelle für die Sammlung Der Siebente Ring diente. Das Zimmer » bot den Rahmen für abendliche Lesungen in festlichen Gewändern. Pfingsten 1913 war das Kugelzimmer der Schauplatz des sogenannten › großen Symposiums ‹, bei dem Stefan George Gedichte aus dem späteren Stern des Bundes vortrug, der zuerst › Lieder an die heilige Schar ‹ heißen sollte. «18 Diese » heilige Schar « kennzeichnete den Kreis als ausgewählte Gemeinschaft, die mit dem » heiligen « Ort wechselseitig verbunden war. Der Raum ist ein wesentliches Element, der
16 Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890, Berlin 1920, S. 230. 17 » Wenn es richtig ist, Berlin, München und Heidelberg als die drei aufeinander folgenden Zentren des deutschen Geisteslebens zwischen 1890 und 1914 zu bezeichnen – und manches spricht dafür –, dann hätte George seinen Lebensschwerpunkt jetzt zum zweiten Mal in dem Augenblick verlagert, in dem der Trend in eine neue Stadt wies «. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, München 2007, S. 373. 18 Vgl. Egyptien, Die Kreise (wie Anm. 3), S. 386.
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für die rituelle Absonderung des Kreises vom Rest der Welt sorgte. Ähnliches gilt für Heidelberg. Bedenken wir dazu, wie der George-Jünger Friedrich Gundolf in einem Brief an Ernst Curtius, den Romanisten-Kollegen, begeistert über den » Zaubercharakter « der Stadt sprach.19 Und George selbst glaubte einmal in den Gesichtszügen eines künftigen jüngeren Schülers, den er zufällig auf einer Brücke antraf, die Züge eines » archaischen Relief[s] « wiederzuerkennen, so als ob er seine Jünger selbst zum Bestandteil einer denkwürdigen Landschaft machen wollte.20 Die Stadt wird auf diese Weise zur Bühne einer göttlichen Epiphanie, ja zu einem neuen symbolischen Raum. Ähnlich erlebte auch der junge Walter Benjamin Georges Erscheinung, wenn auch unter anderem Vorzeichen: 1928 wurde Benjamin, zusammen mit anderen Schriftstellern und Denkern, von der » Frankfurter Zeitung « zur Rolle des rheinischen Dichters befragt: » Im Bewußtsein […] bemühe ich mich, […] mir zu vergegenwärtigen, wie George in mein Leben hineinwirkte. Voranzuschicken ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn gesehen, sogar gehört. Stunden waren mir nicht zu viel, im Schloßpark zu Heidelberg, lesend, auf einer Bank, den Augenblick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. Eines Tages kam er langsam daher und sprach zu einem jüngeren Begleiter. Auch habe ich ihn dann und wann im Hof des Schlosses auf einer Bank sitzen gefunden. «21 Benjamins Erfahrung Stefan Georges ist, wie die nahezu seiner gesamten Generation, auf die Person des Dichters fixiert: Der Leser Georges sucht in dessen Person dieselbe Erfahrung, die er beim Lesen von Georges Dichtung gemacht hat. Und doch zeichnet sich Benjamins persönliche Erfahrung durch eine gewis-
19 Friedrich Gundolf schwärmte von dem » beängstigend unwahrscheinlichen Zauber « Heidelbergs und fürchtete dabei, » eines Morgens beraubt und ernüchtert « zu » erwachen « (Friedrich Gundolf, Brief an Ernst Robert Curtius vom April 1911, in: Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, hg. v. L. Helbing und C. V. Bock, Amsterdam 1963, S. 199). 20 » Eine zufällige Begegnung im September 1910 auf der Neckarbrücke in Heidelberg […]: › Du erinnerst dich doch dass als wir vorige woche mit ernst [Gundolf] über die brücke gingen ich euch auf einen blonden knaben aufmerksam machte der ähnlichkeit mit einem archaischen relief hätte so dass es sich lohnte von ihm eine aufnahme zu machen. Vor einigen tagen begegnete ich ihm wieder und fragte ihn nach seinem namen und erfuhr dass es der junge gothein sei. ‹ « Vgl. Stephen Schlak, Percy Gothein, in: Aurnhammer u. a. (Hg.), Stefan George und sein Kreis (wie Anm. 3), Bd. III, S. 1387 – 1390, hier S. 1388. 21 Walter Benjamin, Über Stefan George, in: ders. Gesammelte Schriften, hg. v. R. Tiede mann u. a., Frankfurt a. M. 1970, Bd. II/2, S. 622.
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se, für ihn typische Zurückhaltung, wenn nicht sogar Distanzierung aus: Weder spricht er den Dichter an, noch fällt er George bei diesem Heidelberger » Treffen « auf. Benjamin ist nicht der Typ für eine epigonale Verehrung; viel wichtiger ist ihm, das Leben und das Werk Georges intellektuell so zu erfahren, dass sie sich beide in seinem eigenen Leben und Werk widerspiegeln können. Ihm geht es um eine existenzielle Gestaltung des » Gedichteten « am Beispiel Georges. Benjamin schrieb zwischen 1914 und 1915 einen unveröffentlichten Aufsatz über zwei Gedichte Friedrich Hölderlins und erwähnte darin diesen Begriff des » Gedichteten «. » Das Gedichtete ist in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und der anschaulichen Ordnung «. Dabei betont er, dass das Gedichtete » die fundamentale ästhetische Einheit von Form und Stoff in sich bewährt und anstatt beide zu trennen, ihre immanente notwendige Verbindung in sich ausprägt. «22 Das Gedichtete lebt also vom Miteinander verschiedener Elementen und ergibt ein so dichtes Gefüge an Durchdringung poetischer, kultureller, existentieller Elementen, dass eine Sakralisierung des Dichters und seiner Worte darin keinen Platz hat. Anders gesagt, lehnt Walter Benjamin die klassische Vereinigung von Leben und Werk immer dann radikal ab, wenn sie zu einer leeren Monumentalisierung führt (wie etwa bei Wolters, dessen Bücher Benjamin verachtet). Benjamin ist also gegen die Vereinigung von Leben und Werk des Dichters, wenn das Leben die Werke beleuchten will und nicht umgekehrt. Das Gedichtete hingegen lebt von einer kritisch-dialektischen – also prozessualen – Dynamik, sowohl zwischen Leben und Werk eines Autoren als auch zwischen dem Leser und dem Leben und Werk, mit dem er sich auseinandersetzt. Also darf es uns nicht überraschen, wenn wir unter den Materialien zu dem kurzen Aufsatz Benjamins über George für die » Literarische Welt « eine Bemerkung des Autors mit dem Titel Figuren für Notiz über George finden. Darin zieht er Parallelen zwischen eini gen von Georges Gedichten aus der Sammlung Das Jahr der Seele – der Lieblingssammlung Benjamins – und seinen damaligen Freunden und Freundinnen: » Fritz Heinle, Wolf Heinle, Rika Seligson, W. S[imon] Guttmann, [Ferdinand] Cohrs, [Friedrich] Podszus, Jula Cohn, Gedichte: Ihr tratet zu dem herde (Dora) Gemahnt dich noch (Fritz) Es lacht in dem steigenden Jahr dir (Rika) Der Täter (Guttmann) Uns die durch viele Jahre (Walter) Wir werden noch einmal zum lande fliegen (Walter). «23
22 Walter Benjamin, Zwei Gedichte von Friedrich Hölderlin, in: ebd., GS Bd. II/1, S. 106. 23 Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber, in: ebd., GS Bd. II/3, S. 1430. Die zitierten Gedichte sind: Ihr tratet zu dem herde, Gemahnt dich noch und Es lacht in dem steigenden jahr dir, in: Stefan George, Das Jahr der Seele, Berlin 1921; Der Täter und
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Diese Notiz zeigt uns, was genau Benjamin unter » Gedichtetem « versteht. Er konzipiert nämlich eine poetische Gemeinschaft mit einem festen, philosophisch gesicherten Band zwischen Gedichten und Menschen. Diese Gemeinschaft erscheint als ein Kreis ohne Zentrum, ohne Führerrollen. Denn das Zentrum dieser Gemeinschaft ist keine konkrete Person, deren Charisma die Gemeinschaftsform gestaltet – sondern das Kreiszentrum ist die Erkenntnis selbst. Der Dichter ist für Benjamin also weder der Schöpfer eines heiligen Raums noch eine heroische, einsame Figur, die durch die Poesie ihre Epoche prägt, ja gestaltet. Benjamin schreibt dazu in seinem Hölderlin-Aufsatz Folgendes: » So ist der Dichter nicht mehr als Gestalt gesehen, sondern allein noch als Prinzip der Gestalt, Begrenzendes, auch seinen eignen Körper noch Tragendes. Er bringt seine Hände – und die Himmlischen. «24 Der Dichter ist also nach Benjamin ein Vermittler feinster Art: nicht nur, weil er das göttliche Bindeglied zwischen Himmlischem und Menschlichem darstellt (wie im Fall Hölderlins und eben auch Georges), sondern vor allem deshalb, weil er sich stets seiner Körperlichkeit – und somit seiner Vergänglichkeit – bewusst ist. Benjamins Auffassung des Dichterischen mündet in einen Aufsatz, den er 1915 unter dem Titel Das Leben der Studenten publizierte. Studenten sind nach Benjamin keine soziologische Kategorie, sondern gelten » als Gleichnis, als Abbild eines höchsten, metaphysischen Standes der Geschichte. «25. Die Studenten werden hier zu einer Denkfigur, in der Lehren und Lernen ineinander greifen und es um Erkenntnis, um Wissenschaft, schließlich auch um Philosophie an sich geht. Denn die Studenten streben nach einer Einheit von Wissen und Leben, in der das Absolute der Dichtung sozusagen basisdemokratisch erreicht werden kann. Solche Studenten bilden somit eine » Gemeinschaft der Erkennenden «, die an die Stelle » der Korporation von Beamteten und Studierten «26 treten soll,
Uns die durch viele jahre zum triumfe, in: Stefan George, Der Teppich des Lebens und die Lieder vom Traum und Tod, Berlin 1932; Wir werden noch einmal zum lande fliegen, in: Stefan George, Die Bücher der Hirten- und Preisgedichte der Sagen und Sänge und der hängenden Gärten, Berlin 1930. Die dabei erwähnten Figuren sind: Dora Kellner, die Benjamin 1917 geheiratet hatte; Fritz Heinle, ein mit ihm befreundeter Dichter; Rika Seligson, dessen Lebensgefährtin, sowie Wilhelm Simon Guttmann, der zur expressionistischen Avantgarde-Szene gehörte und später zum Geschäftsführer mehreren Bildagenturen wurde. 24 Benjamin, Zwei Gedichte von Hölderlin (wie Anm. 22), S. 125. 25 Ders., Das Leben der Studenten, in: ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 21), Bd. II/1, S. 75. 26 Ebd., S. 76.
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denn » die Gemeinschaft schöpferischer Menschen erhebt jedes Studium zur Universalität: unter der Form der Philosophie « Benjamin fährt fort, dass diese Gemeinschaft aus » eine[r] keusche[n] und verzichtende[n] Jugend [bestehe], die von Ehrfurcht vor den Nachfolgenden erfüllt ist. «27 Diese erkennende Jugend ist » keusch « und » verzichtend «, weil sie das Wissen anstrebt, und zwar im Einzelgängerdasein. Die Freunde und Freundinnen von Benjamin, die in seiner Notiz zusammen mit den Gedichten Georges eine Konstellation bilden, sind also keine vollkommene, geschlossene Gemeinschaft von Bewunderern des Dichters und dessen Dichtung. Sie verkörpern vielmehr eine » Anti-Gemeinschaft «, die aus einsamen, dem Tod ausgesetzten Menschen besteht, die für sich die Poesie als höchste Erkenntnis einsetzen. Das Leben der Studenten im Sinne Benjamins ist damit ein ganz anderes als das Leben der Kreisanhänger: Diese Studenten setzen eben nicht alle auf einen Meister und Führer, sondern sie wandern, teils allein, teils zusammen, in einem symbolträchtigen Raum zwischen Tod und Leben, und stellen ihr » Gedichtetes « den Nachfolgenden zur Verfügung. Das Gedichtete ist letztlich also auch bei Benjamin eine gemeinschaftsbezogene Pathosformel: nicht aber im Sinne einer horizontal und vertikal bestimmten, also bundbezogenen Zugehörigkeitsform, wie bei George und seinem Kreis, sondern als poetische Beschwörung einer » unmöglichen « Gemeinschaft: Benjamins Gemeinschaft ist eine, in der alle ihre Mitglieder – Leser und Dichter, Werke und deren Wahrnehmung – gleichgesinnt erscheinen – und dann wieder verschwinden. Eine Gemeinschaft also, in der das Eigene stetig mit dem Anderen zusammenwirkt. Dieses Andere formt die Gemeinschaft so, » daß sie konstitutiv mit dem Nichts im Bunde ist. «28
27 Ebd., S. 86. 28 Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004, S. 24.
Friedrich Naumann und seine »freiwillige Gefolgschaft« Ein zivilgesellschaftliches Netzwerk mit religiösen Wurzeln und politischen Auswirkungen auf die junge Bundesrepublik (1890 – 1960) U rsu la K r ey
1 E inleitung Am 24. August 1949 hielt Elly Heuss-Knapp1 eine Rundfunkansprache zum dreißigsten Todestag Friedrich Naumanns, der 1919 – wenige Monate nach dem Ersten Weltkrieg – im Alter von 59 Jahren gestorben war. Sie begann mit den Worten: » Es tut mir immer von Herzen leid, wenn ich merke, dass die heutige Jugend kaum mehr etwas von Friedrich Naumann weiß. «2 Dabei sei er » wie kaum eine andere politische Persönlichkeit « geschaffen gewesen, um auf junge Menschen
1 Zu Elly Heuss-Knapp (1881 – 1952), Lehrerin, Publizistin, Sozialarbeiterin, Werbefachfrau im Dritten Reich, Mitgründerin des Deutschen Müttergenesungswerks und Ehefrau des ersten Bundespräsidenten, gibt es deutlich weniger Abhandlungen als zu ihrem Gatten. Vgl. die Literaturübersicht bei der Bundespräsident-Theodor-HeussStiftung in Stuttgart. Aus der jüngeren Forschung vgl. Alexander Goller, Elly HeussKnapp – Gründerin des Müttergenesungswerkes. Eine Biographie, Köln 2012; Ursula Krey, Elly Heuss-Knapp (1881 – 1952), in: Inge Mager (Hg.), Frauen-Profile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20. Jahrhundert, Gütersloh 2005, S. 175 – 201. 2 Alle folgenden Zitate sind den gesprochenen Ausführungen Elly Heuss-Knapps entnommen. Vgl. das Tondokument (Audio-Cassette) des Südwestrundfunk Stuttgart, Ab-
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zu wirken. Das hätte zum einen an der » Unmittelbarkeit seines Wesens « gelegen: » Da gab es nie eine Redensart, keine rhetorische Floskel, kein falsches Traditionsgefühl, keine Eitelkeit, keinen persönlichen Ehrgeiz, sondern … quellklares, einfaches Denken und Reden. « Er sei der » beste Redner seiner Generation « gewesen, » obwohl er keine gute Stimme hatte. « Sie schilderte einen Abend des Evangelisch-Sozialen Kongresses in Heilbronn, wo Naumann » unter einem Dach von frisch grünem, elektrisch angestrahltem Gesträuch wie unter einem Baldachin stand « und eine denkwürdige Rede über » Deutschland, das Land der Dichter und Denker « hielt, in der es allerdings nicht um Romantik gegangen sei, von der er » sehr weit entfernt « war: » Dafür hatte er einen viel zu scharfen Blick für Wirklichkeiten «. Um dem Geheimnis seiner Ausstrahlung auf die Spur zu kommen, erzählte sie eine Geschichte von Hermann Losch, in der acht Reisende in einem Eisenbahnabteil über die Frage diskutieren: » Wer war denn dieser Friedrich Naumann ? «:3 Der erste charakterisierte ihn als evangelischen Pfarrer, als einen von der Sozialen Frage erschütterten Theologen, der zunächst in die Erziehungsarbeit der Inneren Mission statt ins Pfarramt ging. Der zweite Reisende begriff ihn als Politiker, der als Liberaler und Reichstagsabgeordneter das Parlament als öffentliche Bühne für seine Ideen zu nutzen verstand. Der dritte sah ihn als Künstler » mit Maleraugen «, der in jeder freien Minute zeichnete und seine Umgebung unter den Gesichtspunkten von » Form und Farbe « wahrnahm. Der vierte schwärmte von seinen Reiseschilderungen mit dem » Bekenntnis zur modernen Welt « in ihren Elementen » Stahl und Eisen «, beispielsweise in den » Ausstellungsbriefen «, einem Hymnus an den Eiffelturm, dokumentiert. Der fünfte Eisenbahnreisende beschrieb ihn als » Sozialpolitiker «, der das statistische Jahrbuch wie eine Grundfibel benutzte und dem aus » Zahlen lauter lebendige Menschen wuchsen «. Der sechste Bahnfahrer rühmte ihn als Europäer, der in kontinentalen Kategorien dachte und besonders an einem guten Verhältnis zu Frankreich interessiert war, als er den Begriff » Mitteleuropa « prägte – was aktueller denn je erschien. Der siebte Reisende würdigte Naumann als den » Vater einer neuen Verfassung « nach dem Ersten Weltkrieg, mit seinem beeindruckenden » Versuch volksverständlicher Grundrechte «. Sein allzu früher Tod hätte manche Entwicklung zunichtegemacht. Schließlich fragte der achte Reisende » zögernd «, ob Naumann nicht
teilung Wortdokumentation, Archivnummer 6001344 (Erstsendedatum: 24. 08. 1949. Gesamtlänge: 8’35). 3 Nach dem Schriftsteller Hermann Losch (1863 – 1935), Theologe und Nationalökonom. Er war zuletzt der Präsident des Württembergischen Statistischen Landesamts in Stuttgart.
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auch ein » Vorläufer Hitlers « gewesen sei. Immerhin habe er den » nationalsozialen Verein « gegründet, so dass bereits in der begrifflichen Parallele eine Verwandtschaft zum nationalsozialistischen Regime erkennbar sei. Alle anderen widersprachen vehement und verwiesen auf einen Kernsatz Naumanns: » Die Größe der Nation und die Volkswerdung der Masse « seien nur zwei Seiten einer und derselben Sache, nicht » Vermassung « mit einem allmächtigen Führer, sondern vielmehr im Sinne einer » Beseelung «. Die notwendige Veränderung müsse in der » menschlichen Seele « beginnen – und dies sei ein religiöser Begriff. Naumann habe jede Woche eine Andacht in der » Hilfe « geschrieben, um die » vor der Kirchtür Stehenden « zu erreichen – ausgehend von der Erkenntnis, dass die » Ratlosigkeit selbst zur Religion gehöre «. Auch wenn sich am Ende seines Lebens » das Christliche eher verflüchtigt « habe, sei er doch stets in einer fröhlich-gelassenen Glaubensgewissheit verankert geblieben. Abschließend zitierte Elly Heuss-Knapp den Schriftsteller Werner Bergengruen, dass » reine Hände nicht handeln, handelnde aber nicht rein bleiben können «. Naumann hätte zeitlebens die Macht mit der Gerechtigkeit, die Stärke mit der Reinheit der Hände vereint, auch wenn ihn die Kritiker geringschätzig einen » Idealisten « genannt hätten. Doch die Jugend hätte ihn geliebt und seine » freiwillige Gefolgschaft « gebildet. Dieses empirisch dichte und thematisch weitgespannte Tondokument bietet eine Reihe von Anhaltspunkten für weiterführende Fragen zur historischen Einordnung. Da Elly Heuss-Knapp die junge Generation in der freiwilligen Gefolgschaft Naumanns herausstellte, lässt sich fragen, inwiefern ihm auch ältere Menschen folgten. Und trifft ihre bedauernde Feststellung zu, dass die » heutige Jugend «, also die einige Jahre nach Naumanns Tod Geborenen, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kaum mehr etwas mit seiner Persönlichkeit anzufangen wisse ? Da sie selbst als junge Frau dem selbsternannten Naumann-Kreis4 angehörte, verdienen ihre Äußerungen als Zeitzeugin Aufmerksamkeit. Wie hat sie nachträglich ihre eigene Rolle reflektiert, und welche Schlussfolgerungen lassen sich aus ihren Einschätzungen ziehen ? Auch in geschlechterspezifischer Hinsicht sind
4 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Äußerungen Theodor Heuss, Erinnerungen 1905 – 1933, Tübingen 1963 (Taschenbuchausgabe 1965), S. 22 – 34 (» Im Naumann-Kreis «). Vgl. auch Ursula Krey, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Olaf Blaschke/Frank-Michael Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 350 – 381. Zur Rezeption Naumanns durch Heuss vgl. Thomas Hertfelder, Von Naumann zu Heuss. Über eine Tradition des sozialen Liberalismus in Deutschland, Stuttgart 2013.
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ihre Aussagen von Interesse: Zählte sie als sympathisierende Frau zu einer Minderheit im Umfeld Naumanns ? Weitere Fragen betreffen die Aussagen der Reisenden im Zugabteil: Was ist von deren Charakterisierungen Naumanns zu halten ? Auf den ersten Blick dokumentieren sie eine geradezu atemberaubend facettenreiche Wahrnehmung Naumanns. Das Spektrum ihrer persönlichen Zuschreibungen reicht vom evangelischen Pfarrer bis zum liberalen Sozialpolitiker, vom darstellenden Künstler und Reiseschriftsteller bis hin zu Deutungen, die auf eine Gestaltung Europas und eine neue Verfassung abzielen. Aufschlussreich ist auch der Einwand des letzten Reisenden mit einer vermeintlichen Affinität Naumanns zum Nationalsozialismus, was den entschiedenen Protest der übrigen Mitreisenden hervorruft. Interessanterweise scheinen sich die alten Kontroversen auf Rezeptionsebene in der historischen Beurteilung Naumanns zu wiederholen: Der jüngste Versuch, Naumann als Säulenheiligen des Liberalismus vom Sockel zu stoßen, wurde in der Presse 2011 durch Götz Aly ausgelöst. Darin ging es bezeichnenderweise wieder einmal um die Rolle Naumanns als » Wegbereiter des Nationalsozialismus « oder im Umkehrschluss um seine Legitimation zur Aufnahme in der Ahnengalerie des politisch organisierten Liberalismus.5 Auch hier widersprachen führende Persönlichkeiten wie Wolfgang Gerhardt und Erhard Eppler umgehend.6 Diese Debatte soll hier nicht vertieft werden, sondern dient als Beleg für die höchst ambivalente Bewertung der Verdienste Naumanns – mit argumentativer Kontinuität bis in die Gegenwart. Gleiches gilt übrigens für die akademische Theologie, in der Naumann trotz gewürdigter theologischer Verdienste durch seine » Briefe über Religion «, die ihm einen Ehrendoktor an der Universität Heidelberg 1903 einbrachten, stets umstritten war bzw. eine Außenseiter-Position einnahm.7 Doch
5 Frank Fehlberg hat diese Kontroverse für seine » Frage nach dem Woher, dem Wie und dem Wohin der politischen Ideen im Umfeld Friedrich Naumanns « aufgegriffen, ausführlich kommentiert und pointiert Stellung bezogen. Vgl. ders., Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann, Bonn 2012, bes. S. 11 f und 479 – 485. 6 Wolfgang Gerhardt, Kein Wegbereiter des Nationalsozialismus, in: Berliner Zeitung vom 5. Februar 2011 (Leserbrief), und Erhard Eppler, Der linke Liberale, in: Frankfurter Rundschau vom 16. Februar 2011. 7 Die Promotion erfolgte während des Dekanats von Adolf Deißmann und mit der Unterstützung von Ernst Troeltsch. Vgl. Hartmut Ruddies, » Kein spiegelglattes, problemloses Christentum «. Über Friedrich Naumanns Theologie und ihre Wirkungsgeschichte, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin/ New York 2000, S. 317 – 343.
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offenbar gab es auch eine anerkannt religiöse Deutungskompetenz Naumanns jenseits der Wissenschaften, die in dem Hinweis der Zugreisenden zum Ausdruck kam, dass sich Naumanns Botschaften an die » vor der Kirchtür Stehenden « richteten, zusammen mit der Erkenntnis, dass die » Ratlosigkeit selbst zur Religion « gehöre – eine Einsicht, die in der Zeit des Nationalsozialismus auf erschreckende Weise bestätigt wurde. In diesem Zusammenhang ist der Zeitpunkt von Elly Heuss-Knapps Rundfunkansprache bemerkenswert: Vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde aus dem früheren Originalzitat Naumanns, in dem er das » Bekenntnis zur Nationalität und zur Menschwerdung der Masse « als » zwei Seiten ein und derselben Sache «8 bezeichnete, » die Größe der Nation «, die mit der » Volkswerdung der Masse « identifiziert wurde.9 Dahinter verbarg sich eine tiefe Unsicherheit über das nationale Selbstverständnis, einhergehend mit einem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Orientierung und Stabilität. So gewährt die Darstellung der 68jährigen Elly Heuss-Knapp – drei Jahre vor ihrem Tod – zumindest fragmentarische Einblicke in ihren eigenen Erfahrungshintergrund und Überzeugungshaushalt. Die junge Elly Knapp war von den sozialreformerischen Ideen Naumanns so beeindruckt, dass sie ihm 1902 ein kleines Legat zukommen ließ.10 Zusammen mit Rudolf Schwander, Walter Leoni und Albert Schweitzer engagierte sie sich als gewähltes Mitglied im Straßburger » Armenrat «, einem kommunalen Gremium für die Gesetzgebung und Verteilung öffentlicher Mittel. Die Professorentochter hatte bereits zuvor als 18jährige ihr Lehrerinnenexamen abgelegt und unterrichtete das Fach » Bürgerkunde « in einer Fortbildungsschule für Mädchen. Die persönliche Begegnung mit Naumann 1905 als Studentin der Volkswirtschaft in Berlin erwies sich als weichenstellend für ihren weiteren Lebensweg, sowohl beruflich als auch privat: Hier traf Elly Knapp den drei Jahre jüngeren Theodor Heuss,11 und die beiden heirateten erst, nachdem Naumann widerstrebend dem Ehebündnis zugestimmt hatte. Enthusiastische Kommentare vermit
8 So exemplarisch das handschriftliche Zitat auf dem vorderen Deckblatt mit Foto bei Friedrich Naumann, Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit. Auszüge aus seinen Werken, Königstein i. Ts./Leipzig 1913. 9 Vgl. die Rundfunkansprache Elly Heuss-Knapps, 29. 8. 1949 (wie Anm. 2). 10 Vgl. Margarethe Vater (Hg.), Bürgerin zweier Welten Elly Heuss-Knapp. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, Tübingen 1961, S. 32: » Ich kann sagen, dass Sie keinen geringen Teil an meiner Erziehung hatten, ich war fast noch ein Kind, als ich mir schon von meinem ersten Taschengeld die › Hilfe ‹ hielt. « 11 Zu Theodor Heuss (1884 – 1963) vgl. Ernst Wolfgang Becker, Theodor Heuss. Bürger im Zeitalter der Extreme, Stuttgart 2011; Peter Merseburger, Theodor Heuss. Der Bür-
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teln das Bild einer begeisterungsfähigen jungen Frau, die später bekannte: » Wenn Naumann damals Mohammedaner geworden wäre, hätten wir es sicher nachgemacht. «12 Während des Nationalsozialismus war Elly Heuss-Knapp für den Lebensunterhalt der Familie verantwortlich, da ihr Gatte 1933 seine Dozentur an der Deutschen Hochschule für Politik verloren hatte. Die folgenden Jahre nutzte er für die Abfassung seiner opulenten Naumann-Biographie.13 Neben ihrer kreativen und finanziell lukrativen Erwerbstätigkeit in der Rundfunkwerbung engagierte sich Elly Heuss-Knapp nun verstärkt in der Kirchengemeinde um Otto Dibelius. Während sie selbst über diese Zeit später schrieb: » Halb Werbeverse, halb Gott im Herzen «14, kommentierte ihr Gatte: » Elly war inzwischen › kirchlich ‹ geworden. «15 Ihre autobiografischen Reflexionen lassen eine enge Verbindung zur Religion erkennen, während die Politik als handlungsleitendes Paradigma (trotz ihrer Mitgliedschaft in der Deutschen Demokratischen Partei) zunehmend ins Abseits geriet.16 Die Debatte um das Verhältnis von Religion und Politik wurde in der Bundesrepublik auch in den achtziger Jahren weiterverfolgt, beispielsweise 1983 in einer Bonner Ausstellung zum Thema » Widerstand, Verfolgung und Emigration Libe-
ger als Präsident, München 2012; Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013. Kristian Buchna, Im Schatten des Antiklerikalismus. Theodor Heuss, der Liberalismus und die Kirchen, Stuttgart 2016, bemüht sich um eine Neujustierung der religiösen Traditionslinie von Theodor Heuss in der Spannung zwischen Kirchen und Liberalismus. 12 Elly Heuss-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, Tübingen 1952, S. 35. Vgl. auch Vater (Hg.), Bürgerin zweier Welten (wie Anm. 10), S. 36. Einer Freundin vertraute sie ihre Gefühle an: » Außerdem stehen wir noch so ganz unter dem Eindruck der Naumann-Tage, dass es mir vorkommt, als müssten alle Menschen, die ich liebhabe, auch etwas davon spüren. « 13 Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Stuttgart 1937/1949/19683. 14 Vater (Hg.), Bürgerin zweier Welten (wie Anm. 10), S. 264. 15 Heuss, Erinnerungen (wie Anm. 4), S. 249. 16 » Das Wort von der Religion als Privatsache – es war in unserer Jugend unausgesprochen der Grundsatz der Gebildeten –, das ist in seiner Nichtigkeit erkannt. Es bezieht sich auf die freischwebende Religiosität, die man eine dritte Konfession genannt hat. Aber Religion heißt Bindung, und wenn sie überhaupt etwas ist, dann ist sie Gemeinschaftssache im tiefsten Wortverstand. « Elly Heuss-Knapp, Münsterturm (wie Anm. 12), S. 156.
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raler 1933 – 1945 «.17 Im Geleitwort des Ausstellungskatalogs bekannte die damals 62jährige Hildegard Hamm-Brücher zur Lage der Liberalen in der Zeit des Nationalsozialismus: » Wir alle waren im Grunde unpolitisch, fast immer religiös, weltanschaulich, humanitär bewegt und empört. Wir dürsteten zwar nach Freiheit – Gedankenfreiheit, Geistesfreiheit, vor allem aber Lebensfreiheit – nicht ahnend, daß dies auch ein politisches Programm sein könnte. «18 Die Ausstellung war von der Friedrich-Naumann-Stiftung initiiert, mit deren Gründung Theodor Heuss 1958 gemeinsam mit anderen Liberalen seinem lebenslangen Vorbild ein bleibendes Andenken sichern wollte. Seit 2007 trägt die Stiftung den Zusatz » für die Freiheit « und engagiert sich weltweit für politische Bildungsarbeit, samt Nachwuchsförderung durch Stipendien. Die weitgestreuten Aktivitäten der Stiftung als parteinaher Traditionsstrang des organisierten Liberalismus sind heute wohl am ehesten dafür mitverantwortlich, dass ihr Namenspatron dauerhaft im kollektiven Gedächtnis der Nation verankert geblieben ist.19 Meine Ausgangsthese lautet: Die religiösen Wurzeln eines Netzwerks erlauben Rückschlüsse auf den Grad seiner » Politikfähigkeit «, im Sinne einer aktiven, kommunikations- und aushandlungsbereiten Teilnahme an politischen Diskursen auch jenseits parlamentarischer Vertretungsansprüche, in denen es um die Ordnung des Gemeinwesens geht. Da die Politikfähigkeit mittel- und langfristig über die Durchsetzung von Ideen, Werten und Zielvorstellungen unterschiedlicher Herkunft entscheidet, ist sie ein Indikator für demokratische Prozesse der Meinungsbildung. Die religiösen Wurzeln des Naumann-Kreises verweisen auf den Einfluss evangelischer Theologen – vor allem in der Konstituierungsphase – und auf den protestantischen Charakter der zeitgenössischen Kontroversen im Kreis.
17 Vgl. den Ausstellungskatalog von Horst R. Sassin, Widerstand, Verfolgung und Emigration Liberaler 1933 – 1945, Bonn 1983. 18 Aus dem Geleitwort zur Ausstellung, ebd. S. 5. 19 Vgl. zur Geschichte der Stiftung Monika Fassbender, » Auf der Grundlage des Liberalismus tätig «. Die Geschichte der Friedrich-Naumann-Stiftung, Baden-Baden 2010, sowie die Selbstdarstellung im Internet unter: www.freiheit.org.
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zur
M odell des N etzwerks
zivilgesellschaftliches
Konzeptualisierung
Den Brüchen und Nahtstellen zwischen Religion und Politik in gesellschaftlichen Transformationsphasen nachzuspüren, ist eine Herausforderung. Die Fülle und Verwobenheit zeitgenössischer Konflikte, ausgetragen auf einer sprachlichen Ebene mit kaum mehr nachvollziehbaren, altertümlich wirkenden Wortkonstruktionen, wirken heute zunächst befremdlich: Welche Vorstellung verbirgt sich beispielsweise hinter einer » Menschwerdung der Masse « ? Hinzu kommen die divergierenden Organisationsansätze der Akteure auf politischer und religiöser Ebene, die es zu subsumieren und zu spezifizieren gilt. Mitwirkende im Naumann-Kreis engagierten sich häufig in einer Reihe von Vereinigungen. Der konzeptionelle Rahmen sollte auch die langfristigen Entwicklungsdimensionen eines Netzwerks im Blick haben, dessen Angehörige oft freundschaftlich miteinander verbunden waren. Ihre Verbundenheit resultierte weniger aus lokalen bzw. regionalen milieubedingten Gegebenheiten, sondern entstand vielmehr aus direkten Kontaktaufnahmen bei politischen Veranstaltungen mit persönlicher Präsenz Naumanns. Andere Sympathien entwickelten sich durch die Lektüre von Publikationen oder in diversen Initiativen. Joachim Radkau hat sogar den Eindruck gewonnen, » dass der Naumann-Kreis so recht erst nach seinem Tode, ohne ihn, als imaginäre Gemeinschaft von Geistesverwandten florierte. «20 Doch worin bestand ihre Geistesverwandtschaft im Kern, wenn sich das Netzwerk selbst als stark fluktuierend erwies ? Deshalb muss ein Zugriff gewählt werden, der die individuelle Motivation mit pluralistischen Organisationsformen verbinden und gesellschaftlich einordnen kann. Im Mittelpunkt steht die historische Analyse sozialer Beziehungen von Personen in der Öffentlichkeit, deren Erwartungen und Ansprüche sich explizit auf Naumann bezogen; zum zweiten wird der Ideen- bzw. Überzeugungshaushalt Naumanns als Referenzgröße fokussiert und sein Engagement auf die Angehörigen des Kreises bezogen. Um die Quellen über ihren gesellschaftlichen Kontext hinaus auf übertragbare Bedeutungsinhalte zu untersuchen, ist ein idealtypischer Bezugsrahmen erforderlich. Quasi als Brille können so auf der Basis des ausgewerteten Quellenmaterials Schlussfolgerungen für spezifische Aspekte gegenwärtiger Prozesse gezogen werden. Umgekehrt soll durch eine enge Rückbindung an die historischen Quellen das Risiko abstrakter theoretischer Konstrukte vermieden werden. Diesen Anforderungen kann das hier zugrunde gelegte zivilgesellschaftliche Modell genügen.
20 Radkau, Heuss (wie Anm. 11), S. 44.
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Dazu ein kurzer semantischer Exkurs: » Zivil « ist ein polyvalenter Begriff. Er vereinigt mehrere Bedeutungsebenen, von denen die bürgerliche als Gegensatz zur militärischen gängig ist, neben positiv konnotierten » anständigen « Eigenschaften, wie Fairness oder Toleranz. Diesem Befund entsprechen auch die Wortkombinationen, wie » Zivilcourage « oder » Zivildienst «. Der hybride Terminus » Zivilgesellschaft «21 wird im deutschen Sprachgebrauch oft mit » Bürgergesellschaft « gleichgesetzt, während sich weltweit » civil society « durchgesetzt hat.22 Auf den ersten Blick könnte die bürgerliche Konnotation als Argument für ein Feld aktiver Mitwirkung und Beziehungsarbeit dienen, doch hier geht es in erster Linie darum, einen Bezugsrahmen zu finden, der ohne prinzipielle Ausschlusskriterien handlungsleitende Verbindlichkeiten, wie die Religion, als Bestandteil der Zivilgesellschaft einbezieht.23 Die religiösen Bedürfnisse gehören zu den unverfügbaren Antriebskräften in sozialen Gefügen, während konfessionell gebundene Religionen mit dem Anspruch theologischer Deutungshoheiten europaweit zunehmend defensiver agieren. Die kirchlichen Institutionen begreifen sich inzwischen vielfach selbst als Element der Zivilgesellschaft.24 Dessen ungeachtet dominiert in Europa ein zivilgesellschaftliches Verständnis, das religiöse Elemen-
21 Seit 2010 geben Helmut K. Anheier u. a. die » International Encyclopedia of Civil Society « heraus. Vgl. auch Sigrid Roßteuscher, Religion, Zivilgesellschaft, Demokratie. Eine international vergleichende Studie zur Natur religiöser Märkte und der demokratischen Rolle religiöser Zivilgesellschaften, Baden-Baden 2009. 22 Die lange Tradition zivilgesellschaftlicher Konzepte reicht bis in die Antike zurück, wobei es sich um ein aristotelisches Gesellschafts- und Politikverständnis handelte, das die societas civilis als ideale Lebensweise der Bürger und Bürgerinnen sieht; später diente es Vertragstheoretikern der Frühen Neuzeit und schottischen Moralphilosophen als Vorbild. Jürgen Habermas und Jürgen Kocka differenzieren zwischen einer normativen, habituellen und einer deskriptiv-analytischen Komponente von Zivilgesellschaft. 23 Vgl. Manuel Borutta, Religion und Zivilgesellschaft. Zur Theorie und Geschichte ihrer Beziehung. Discussion Paper, Nr. SP IV 2005 – 404, ISSN 1860-4315. http://edoc. vifapol.de/opus/volltexte/2009/1516/pdf/iv05_404.pdf. 24 Vgl. aus der neueren Literatur die Beiträge bei Arnd Bauerkämper/Jürgen P. Nautz (Hg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge. Christliche Kirchen in den europäischen Zivilgesellschaften seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2009, insbes. den Überblick von Bettina Hitzer, Protestantische Philanthropie und Zivilgesellschaft in Deutschland: Ein vieldeutiges Verhältnis, S. 113 – 130. Vgl. auch die Beiträge in Heinz Schmidt/Klaus D. Hildemann (Hg.), Nächstenliebe und Organisation. Zur Zukunft einer polyhybriden Diakonie in zivilgesellschaftlicher Perspektive, Leipzig 2012.
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te eher ignoriert bzw. ausklammert, während in Amerika der Glaube an die Überzeugungskraft einer » Civil Religion « (Robert N. Bellah) vorherrscht.25 Formal wird die Zivilgesellschaft von den staatlichen Funktionsträgern, familiären Strukturen der Privatsphäre und den ökonomischen Marktmechanismen abgegrenzt. Diese Grenzen werden in der Praxis allerdings zunehmend durchlässiger und sind oft nicht eindeutig zuzuordnen.26 Auch wenn die Begrifflichkeit der Zivilgesellschaft normativ als vage bis schillernd gilt, herrscht doch weitgehender Konsens über ihre Verwendbarkeit als intermediärer Funktionsbegriff zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre.27 Den Kern bilden freiwillige, gemeinsame Aktivitäten zur Durchsetzung geteilter Interessen, Ziele und Werte. In einer Vielfalt von Handlungs- und Diskursräumen, Akteuren und institutionellen Formen werden soziale Energien mobilisiert. Daran anknüpfend, richtet sich mein Erkenntnisinteresse auf die Kommunikationsbereitschaft und Aushandlungsprozesse der beteiligten Personen unter Zuhilfenahme bestehender oder Schaffung neuer Strukturen. Ihr persönliches Engagement vollzog sich in der Spannung zwischen unverfügbarer Transzendenz – wie den Glauben an Gott, alle Vorstellungen von Ewigkeit, aber auch dem Handlungsmotiv der religiös begründeten Nächstenliebe – und einer Immanenz, die alle Belange des irdischen Daseins mit den Themen der Endlichkeit und Vergänglichkeit sowie das praktische Handeln umfasste.
25 Vgl. die Beiträge in Heinz Kleger/Alois Müller (Hg.), Religion des Bürgers. Zivilre ligion in Amerika und Europa, 2. Aufl., Münster 2004; Hans Joas, Die Sakralität der Person – Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 2011; sowie Andreas Nix, Zivilreligion und Aufklärung: Der zivilreligiöse Strang der Aufklärung und die Frage nach einer europäischen Zivilreligion, Münster 2012. Siehe auch den Forschungsbericht von Uta Andrea Balbier, » Sag: Wie hast Du’s mit der Religion ? «. Das Verhältnis von Religion und Politik als Gretchenfrage der Zeitgeschichte, in: H-Soz-Kult vom 10. 11. 2009, Nr. 1166. 26 Bauerkämper/Nautz, Einleitung. Zivilgesellschaft und christliche Kirchen – wechselseitige Bezüge und Distanz, in: dies. (Hg.), Zwischen Fürsorge und Seelsorge (wie Anm. 24), S. 8. Hier finden sich auch ausführliche Literaturangaben. 27 Vgl. dazu den instruktiven Überblick von Dieter Gosewinkel, Zivilgesellschaft, in: Europäische Geschichte Online (EGO), in: Institut für Europäische Geschichte (Hg.), Mainz 2010-12-03. Siehe auch den INEF Report, Heft 59/2002, von Jeanette Schade, » Zivilgesellschaft « – eine vielschichtige Debatte, http://edoc.vifapol.de/opus/voll texte/2013/4548/pdf/report59.pdf. Die aktuelle Anwendbarkeit überprüfen die Beiträge in Ludger Heidbrink/Alfred Hirsch (Hg.), Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Zur Konjunktur eines widersprüchlichen Prinzips, Frankfurt a. M./New York 2006.
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Nach Niklas Luhmann konstituiert sich das soziale System der Religion durch die unauflösbare Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz. Eine Kommunikation ist demnach immer dann religiös, wenn Immanentes unter dem Aspekt der Transzendenz betrachtet wird.28 Das Unverfügbare kann so verfügbar gemacht und in den öffentlich-politischen Diskurs überführt werden. Hier ist auch die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit im Sinne der Kontingenz angesiedelt. Ihre Bewältigung erfordert auf operativer Ebene dynamische Strategien und ökonomisch rationales Handeln. Der Gewinn besteht in struktureller Erneuerbarkeit und multiplen Vernetzungsoptionen. Daraus folgt in der Praxis: Zivilgesellschaftliche Netzwerke können sich permanent wandeln, erfinden sich quasi laufend neu in wechselnden Konstellationen. Somit resultiert aus den individuellen Strategien zur Kontingenzbewältigung die strukturelle Erneuerbarkeit und Vernetzung der Zivilgesellschaft. Aus dem Strukturierungsgrad lassen sich Rückschlüsse auf den kollektiven Prozess der Sensibilisierung für individuell wahrgenommene Missstände ziehen. In der Entwicklungsdynamik liegt das Hauptwesensmerkmal zivilgesellschaftlicher Netzwerke. Diese ungeheure Dynamik prägte auch das Netzwerk um Friedrich Naumann: Ein ursprünglich kleiner Freundeskreis konservativ gesinnter junger Männer verwandelte sich über wenige Jahrzehnte in ein weitverzweigtes, flexibles Netzwerk aller Altersgruppen unter aktiver Beteiligung von Frauen.29 Hinzu kommt ein wesentlicher, wenn auch bislang in der Forschung wenig beachteter Faktor des Zusammenhalts: Naumann agierte beruflich seit 1895 am Rande sozialer Sicherungssysteme, inklusive fehlender Pensionsansprüche. Spätestens nach seinem Wechsel aus den gesicherten Dienstverhältnissen eines Pfarrers in eine freiberufliche Existenz mit schwankenden Einnahmen war er auf die Unterstützung seines wachsenden Netzwerks angewiesen. Die Spenden reichten von unzähligen kleinen Beträgen über größere Erbschaften bis hin zu einem gesammelten Geldgeschenk von insgesamt 46 000 Reichsmark zu seinem 50. Geburtstag, überreicht
28 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2000. Vgl. auch Hermann Lübbe, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: Gerhart von Graevenitz/Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 35 – 47. 29 Zum jüngsten Forschungsstand vgl. die Beiträge im Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung von 2011 mit dem Themenschwerpunkt » 150 Jahre Friedrich Naumann «. Vgl. auch die umfassende Studie von Christian Mack, Friedrich Naumann und der » Kampf um den Glauben «. Politische Theologie zwischen Macht, Moral und Moderne (Diss. Basel 2013), Schopfheim 2015. Er bemüht sich um eine theologische Neubewertung Naumanns und verwendet den Begriff » Krisentheologie «.
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durch Gerhart von Schulze-Gaevernitz mit dem Vermerk: » auschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt «.30 Diese pekuniären Zuwendungen sind auch als ein Ausdruck von Philanthropie und christlicher Nächstenliebe zu verstehen. Daraus resultierten Abhängigkeitsverhältnisse mit gegenseitigen Rücksichtnahmen sowie Tendenzen der Vereinnahmung, die noch immer klärungsbedürftig sind.31
3 Konstituierung
des
N etzwerks
durch
K risen
Die Ursprünge des Naumann-Kreises sind im Zeitraum von 1879 bis 1889 zu finden. Einige junge Männer hatten sich bereits in der Fürsten- und Landesschule St. Afra in Meißen oder während des Studiums in Leipzig und Erlangen kennengelernt: neben Friedrich Naumann Martin Rade, Paul Göhre, Friedrich Weinhausen, Paul Rohrbach und Martin Wenck.32 Sie empfanden die Dienstleistungsangebote der Kirchen angesichts der rasanten Modernisierung samt ihren Folgeerscheinungen als unzureichend und suchten nach Alternativen.33 Das große Idol der studentischen Jugend war der konservative Hofprediger und nationalpolitische Agitator Adolph Stoecker (1835 – 1909).34 Sein Charisma in Verbindung mit der christlich-sozialen Botschaft faszinierte die Studenten. In diese Zeit 30 Die Übergabe erfolgte im Auftrag von anonymen Spendern und Spenderinnen, dem » Kreis der Freunde in Nord und Süd «, vgl. Bundesarchiv Berlin, NL Friedrich Naumann (N 3001), Nr. 214, Bl. 6 f, 10 – 13. 31 Zu diesem Themenkomplex entsteht eine Untersuchung von Ursula Krey, » Wissende, Mitdenkende, Helfende ! « Friedrich Naumann und sein Netzwerk als Protagonisten zivilgesellschaftlicher Diakonie. 32 Vgl. dazu Paul Göhre, Erinnerungen an Friedrich Naumann, in: Die Glocke, Nr. 23, 1919; Max Maurenbrecher, Vom Pfarrer zum Politiker, in: Christliche Welt, 14. Jg., Nr. 20, 1900; Martin Wenck, Der Lebensgang Friedrich Naumanns, in: Die Hilfe, 25. Jg., Nr. 36, 1919. Vgl. auch Wencks Autobiographie, Wandlungen und Wanderungen. Ein Sechziger sieht sein Leben zurück, unveröff. Manuskr., Leipzig o. Dat. (1922), im NL Wenck, B 23, Hessische Landes- u. Hochschulbibliothek Darmstadt. 33 Die Auseinandersetzungen sind vielfältig dokumentiert, vgl. die Manuskripte von Naumann: » Wie sorgen wir für die heranwachsende männliche Jugend ? « (Nr. 293); » Studenten und Kirche « (Nr. 273); außerdem Nr. 200, 180, 173, alle im NL Naumann (wie Anm. 30). 34 Vgl. Grit Koch, Adolf Stoecker 1835 – 1909. Ein Leben zwischen Politik und Kirche, Erlangen/Jena 1993.
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fällt auch der erste Organisationsversuch Naumanns, der 1881 zusammen mit Diederich Hahn den Verein Deutscher Studenten gründete, von dem er sich allerdings 1906 wieder trennte.35 Bereits 1886 hatte sich Naumann persönlich und politisch von Stoecker distanziert, nicht zuletzt aufgrund dessen antisemitischer Äußerungen.36 Die ersten überregionalen Auftritte Naumanns auf einer Tagung der Inneren Mission in Kassel 1888, seine Teilnahme am Evangelisch-Sozialen Kongress in Berlin 1892 und zahlreiche Stellungnahmen zu konfessionellen und sozialpolitischen Themen machten ihn öffentlich bekannt. Sein beruflicher Werdegang war in den Jahren 1883 bis 1890 von wechselnden Stationen bestimmt: Zunächst sammelte er praktische Erfahrungen als » Oberhelfer « bei Johannes Wichern im Hamburger » Rauhen Haus «, einer Erziehungsanstalt der Inneren Mission für junge Männer. Als Wicherns Privatsekretär verfasste er Beiträge für die » Fliegenden Blätter «37 und erprobte neue Erziehungsmethoden im Umgang mit den Jugendlichen. Vermutlich liegt in diesen prägenden Erfahrungen, zusammen mit christlich-sozialen Motiven, das Geheimnis seiner eigenen charismatischen Anziehungskraft insbesondere auf junge Menschen. Später resümierte er über seine Arbeit in dieser Zeit: » Hier erst ging mir die erziehende Macht der Gemeinschaft auf. Wer Menschen bilden will, muss Korporationen schaffen. Aller Geist, der nur individualistisch wirkt, verflattert, sobald der Geist als Organisationsgeist auftritt, wird er konstruktiv. Es will mir scheinen, dass mir später die Erkenntnis des sozialen Charakters der menschlichen Gesinnungen leichter wurde, weil ich in der Wichernschen Schule gelebt habe. «38
35 Vgl. dazu das von der Schriftleitung der » Akademischen Blätter « (Zeitschrift des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten) herausgegebene Heft: Friedrich Naumann und die Vereine Deutscher Studenten, Kiel 1960 (Deutsch-Akademische Schriften, Neue Folge – Heft 1) sowie NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 241. 36 Äußerungen von Naumann gegen den Antisemitismus sind vielfältig belegt, vgl. exemplarisch NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 5, Bl. 105 f (an Hermann Leo vom 17. 3. 1913); Nr. 10, Bl. 406 (an Max Warburg vom 24. 9. 1917); Nr. 13, Bl. 166 (an Hanna Grundke vom 4. 1. 1919); Nr. 13, Bl. 96 (an Traute Dockhorn vom 13. 1. 1919); Nr. 14, Bl. 85 (an Margarete Reinhardt vom 14. 1. 1919); Nr. 6, Bl. 124 ff (an Martin Rade vom 9. 2. 1914). 37 Vgl. Fliegende Blätter aus dem Rauhen Hause zu Horn bei Hamburg, 40. Serie 1883, S. 336, 342 – 345, 369 – 372, 41. Serie 1884, 47 ff, 42. Serie 1885, S. 243 f. 38 Friedrich Naumann, Wichern, in: Die Hilfe, 14, Nr. 16, Jg. 1908; Evangelisch-Sozial, 1908, Nr. 2, auch abgedruckt in: Friedrich Naumann Werke, Bd. 1, Köln 1964, S. 707.
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Neben dieser korporativen Grundüberzeugung prognostizierte er 1888 eine Entwicklung der Inneren Mission, » die schließlich Volkssache im allgemeinen werde und dabei den Charakter des besonderen religiösen Unternehmens vollständig verlieren « werde.39 Seine Prognose beruhte auf der Grundannahme, dass engagierte Personen Missstände erkennen und nach Abhilfe suchen. Daraus erwüchsen neue Strukturen: Organisationsansätze mit einem Trend zur Professionalisierung. Diese würden in staatliche Obhut überführt, während neue Missstände von Einzelpersonen entdeckt und tatkräftig bekämpft würden – ein immerwährender Kreislauf.40 Er begriff die Innere Mission als » freie christliche Vorarbeit für künftige bleibende Organisationen in Staat und Kirche « und prophezeite: » Der soziale Staat und die volkstümliche Kirche, das ist die Zukunft der inneren Mission, das ist, so Gott will, die Zukunft des Volkes. «41 Naumanns Refle xion über die strukturellen Ursachen sozialer Probleme enthielt somit bereits früh Konzepte für die weitere Entwicklung der Diakonie im gesellschaftlichen Arrangement, im Sinne sozialer Reformen zur Stärkung der » Volkssache «. Seit 1886 vertrat Naumann vier Jahre eine Pfarrstelle in den sächsischen Gemeinden Langenberg und Hohenstein. Hier heiratete er die Pfarrerstochter Magdalene Zimmermann und übernahm die Redaktion der neu konzipierten Kirchlichen Nachrichten als monatliche Beigabe zum Hohensteiner Tageblatt.42 Die sozialpolitischen Äußerungen des jungen Pfarrers führten zu Irritationen der lokalen Fabrikanten und sorgten für einen ersten Verweis des Konsistoriums.43 Nach dem Tod seines Vaters im April 1890 entschloss sich Naumann zu einer beruflichen Umorientierung, die sich für den Naumann-Kreis als weichenstellend erweisen sollte: In Frankfurt am Main wirkte er 1890/91 auf Drängen des Pfarrers Conrad Kayser als Vereinsgeistlicher der Inneren Mission.44 In diesen kleinräu-
39 Ebd., S. 88 f: » Aus der Enge in die Weite, aus der Tiefe in die Höhe «. 40 Vgl. den Artikel von Naumann, Was ist innere Mission ? u. a. abgedruckt in: ebd., S. 68 – 78; und ders., Die Zukunft der inneren Mission, u. a. abgedruckt in: ebd., S. 87 – 112. 41 Ebd., S. 112. 42 Vgl. NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 61 und Nr. 3. 43 Vgl. ebd., Nr. 3 (Unterlagen aus Naumanns Tätigkeit als Pfarrer in Langenberg). 44 Hartmut Ruddies, Friedrich Naumanns Frankfurter Wende, in: Matthias Benad (Hg.), Gott in Frankfurt ? Theologische Spuren in einer Metropole, Frankfurt a. M. 1987, S. 95 – 106. Zum Übergang » vom Pfarrer zum Politiker « vgl. Walter Göggelmann, Christliche Weltverantwortung zwischen Sozialer Frage und Nationalstaat. Zur Entwicklung Friedrich Naumanns 1860 – 1903, Baden-Baden 1987, S. 230 ff.
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migen Strukturen intensivierte sich der Kontakt unter den jungen Geistlichen und ihren Ehefrauen: Friedrich Battenberg, Martin Rade, der inzwischen Naumanns Schwester Dora geheiratet hatte, Hermann Dechent und Carl Jatho.45 Frauen zählten auch zu den Hauptadressatinnen der expandierenden Gemeindearbeit. Ihre Kontaktaufnahme zu dieser Zeit erfolgte durch persönliche Ansprache in den bald überlaufenen Abendvorträgen. Durch vermehrte Spenden konnte ein neues Haus eingerichtet und weitere Zusammenkünfte für junge Arbeiter organisiert werden. Besonders Frauen nahmen nicht nur das religiöse Dienstleistungsangebot in Anspruch, sondern sie unterstützten auch tatkräftig und finanziell die christliche Wohltätigkeit. Ihre Spendenangebote waren von Frömmigkeit und Hilfsbereitschaft geprägt. So stiftete eine » ergebene Schülerin « 1898 » 100 Mark Reisesteuer « für seine Fahrt nach Jerusalem.46 Aus diesen Kontakten entstanden gute Bekanntschaften und freundschaftliche Beziehungen, die oftmals Jahrzehnte überdauerten.47 Die öffentlichen Auftritte der » jungen politischen Pastoren « sorgten für Unruhe und provozierten einige Honoratioren, während sich andere wirtschaftsbürgerliche Vertreter, wie Robert Bosch und Charles Hallgarten, angesprochen fühlten. Zu den vertrauten Weggefährten gesellten sich Max Weber, Lujo Brentano, Hellmut von Gerlach, Adolf Damaschke und Rudolf Breitscheid. Zunehmend interessierten sich auch ältere renommierte Theologen wie Rudolf Sohm und Otto Baumgarten für die sozialpolitischen Aktivitäten des jungen Pfarrers Naumann, während interne Konflikte des evangelisch-lutherischen Konsistoriums die Grenzen des Handlungsraums gegenüber abweichenden Meinungen markierten. So schlug der exemplarisch dokumentierte Fall des homosexuellen Theologiekandi
45 Siehe Olaf Lewerenz, Friedrich Naumann und die Zukunft der Inneren Mission – die Frankfurter Jahre (1890 – 1897), in: Theodor Strohm/Jörg Thierfelder (Hg.), Diakonie im Deutschen Kaiserreich (1871 – 1918). Neuere Beiträge aus der diakoniegeschichtlichen Forschung, Heidelberg 1995, S. 421 – 437. Der Beitrag beruht auf seiner Dissertation: Zwischen Reich Gottes und Weltreich. Friedrich Naumann in seiner Frankfurter Zeit unter Berücksichtigung seiner praktischen Arbeit und seiner theoretischen Reflexion, Sinzheim 1994. 46 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 308, Bl. 111 und 123. Ein besonderer Ausdruck der Verehrung bestand beispielsweise darin, Predigten fein säuberlich abzuschreiben und mit Widmung zu überreichen. 47 Spätere Briefe Naumanns erinnerten oft an gemeinsame Zeiten in Frankfurt: » natürlich haben Sie das Recht, wie in alten Tagen, mir auch jetzt noch eine Predigt zu halten. « Zit. aus einem Brief Naumanns an Maria Priester aus Frankfurt am Main, ebd., Nr. 14, Bl. 57.
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daten Theodor von Wächter hohe Wellen.48 Er hatte 1893 eigenmächtig Volksversammlungen abgehalten, die Naumann zur Teilnahme und einer öffentlichen Diskussion mit dem Theologen veranlassten. Die offizielle » Missbilligung « des Konsistoriums schüchterte Naumann nicht ein, zumal seine » Amtsbrüder « ihre Solidarität bekundeten. Wie sehr er sich den Zielen einer konfessionellen So zialpolitik auf genossenschaftlicher Basis verbunden fühlte, lässt sich an der insgesamt sieben Jahre dauernden Arbeit im Evangelischen Arbeiterverein in Frankfurt a. M. erkennen, von 1891 bis 1902 als Vorstandsmitglied. Seine institutionelle Abnabelung wird dagegen an der neuen Aufgabe als Vereinsgeistlicher der » Südwestdeutschen Konferenz der Inneren Mission « mit einer Filiale in Frankfurt ab Ende 1894 deutlich. Nachdem sich das liberalisierte Klima unter Wilhelm II. wieder verschärft hatte und der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin umgehend mit einer entsprechenden Kehrtwende reagierte, schien die Gelegenheit für ein kirchlich unabhängiges Publikationsorgan gekommen zu sein.
4 Profilierung
des
über gemeinsame
N etzwerks Projekte
Ende 1894 wurde das wöchentlich erscheinende Zeitungsprojekt » Die Hilfe « mit dem Untertitel » Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe « in einer Auflage von 12 000 Exemplaren gestartet.49 Bereits einer der ersten Artikel über Georg von Vollmar in der Probenummer veranlasste einen Eklat um den Pfarrer Martin Wenck, der daraufhin vom hessischen Oberkirchenrat suspendiert wurde.50 Nach einigen Anlaufschwierigkeiten erwies sich das publizistische Experi-
48 Zu den Einzelheiten vgl. Gerd Wilhelm Grauvogel, Theodor von Wächter, Christ und Sozialdemokrat. Ein soziales Gewissen in kirchlichen und gesellschaftlichen Konflikten, Stuttgart 1994. 49 Vgl. NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 57, 60, 56. Auch die wechselnden Untertitel dokumentieren den Entwicklungsprozess: 1902 wurde die Zeitung in » Nationalsoziales Volksblatt « und ab 1906 nach langem Zaudern in » Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst « umbenannt. Die » Hilfe « erschien bis 1944 in zunehmend eingeschränkter, zensierter Form. Vgl. dazu Jürgen Frölich, » Die Umformung des deutschen Seins erlaubt keine passive Resignation «. Die Zeitschrift » Die Hilfe « im Nationalsozialismus, in: Christoph Studt (Hg.), » Diener des Staates « oder » Widerstand zwischen den Zeilen « ? Die Rolle der Presse im » Dritten Reich «, Berlin 2007, S. 115 – 129. 50 Vgl. Wenck, Wandlungen (wie Anm. 32); sowie: Die Hilfe, Probenr. 2 v. 23. 12. 1894, Nrn. 5 bis 12 des Jg. 1 (1895).
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ment als großer Erfolg mit einem unverkennbaren Profil: dokumentiert durch wachsende Auflagen, steigende Abonnements und einem treuen Lesepublikum auch in ländlichen Regionen. In größeren Orten kümmerten sich » Hilfe «-Agenturen um die Einrichtung lokaler Lesekreise. Binnen kürzester Zeit exponierte sich die Zeitung besonders in Konflikten wie dem Hamburger Streik der Hafenarbeiter oder zwischen der Großindustrie und der Arbeiterschaft im Saarland: Hier wurde die Lektüre der Wochenzeitung wegen befürchteter Unruhen zeitweilig sogar verboten.51 Neben der Verbreitung christlich-sozialen Gedankenguts sollte der Lebensunterhalt des Herausgebers Naumann gesichert werden. Das finanzielle Risiko wurde durch zahlreiche Darlehen von Professoren wie Max Weber, Adolf von Harnack, Karl Rathgen und Gerhart von Schulze-Gaevernitz, aber auch von Industriellen wie Robert Bosch, Handwerkern, bürgerlichen Frauen und anonymen Spendern reduziert.52 In den ersten drei Jahren blieb die Geschäftskasse unangetastet; die anschließende Entnahme von jährlich 4500 Mark entsprach ungefähr der Höhe seines Pfarrergehalts. So wurde der gravierende Schritt in die berufliche Unabhängigkeit Naumanns über einen längeren Zeitraum minutiös vorbereitet. Schließlich verfügte er bereits über publizistische Erfahrungen, zuletzt durch die Herausgabe des » Sonntagsgrußes « in Frankfurt, durch die Mitarbeit an der » Christlichen Welt « Martin Rades sowie an der » Zukunft « von Maximilian Harden. Die unerwartete Resonanz der » Hilfe « veranlasste 1896 das Experiment eines täglich erscheinenden Presseorgans: » Die Zeit. Organ für nationalen Sozialismus auf christlicher Grundlage « für protestantisch-bildungsbürgerliche Kreise mit gehobenen intellektuellen Ansprüchen. Dieses Projekt scheiterte bereits nach einem Jahr am 30. September 1897 trotz regen Zuspruchs aus der inzwischen etablierten » Hilfe «-Gemeinde.53 Die wachsende persönliche Popularität ging einher mit einer immensen Arbeitsbelastung: So verpflichtete sich Naumann
51 Vgl. dazu die Korrespondenz mit Pfarrer Coerßer aus Dudenweiler mit aufschlussreichen Details zur Stimmungslage: Der entgegenkommende Ton der » Hilfe « gegenüber der Sozialdemokratie sei den Arbeitern zu » dick «, da diese nur » von Hörensagen und einigen unordentlichen Subjekten « bekannt sei; deshalb gäbe es bei den » Gut-Königstreuen « eine instinktive Abneigung, besser sei keine Erwähnung der Sozialdemokratie als eine versöhnliche Beurteilung. NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 261. 52 Vgl. ebd., Nr. 60. 53 Vgl. ebd., Nr. 228. Laut Naumann hatte die Zeitung zu diesem Zeitpunkt etwa 5200 Abonnenten. Vgl. ebd., Nr. 248 (17. 9. 1898). » Die Zeit « erlebte noch einmal eine kurze Renaissance als nationalsoziale Wochenschrift von Oktober 1901 bis September 1903.
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von 1896 bis 1897 neben der Redaktion und permanenten Textproduktion für die » Hilfe « auch noch zur Mitwirkung bei der » Christlich-sozialen Volkszeitung « in Erfurt.54 Die endgültige Aufgabe des Pfarramts erwies sich – zusammen mit der Verlegung des familiären Wohnsitzes nach Berlin – als die entscheidende Zäsur im Leben Naumanns. Er war fortan ohne sicheres Einkommen noch mehr auf Unterstützung angewiesen, konnte sich aber auch freier artikulieren. Die wachsende Konzentration auf die » Hilfe « als Diskussionsforum verstärkte den inneren Zusammenhalt und bildete die Basis für eine sich politisierende Identität des Naumann-Kreises. Zugleich wurden über lokale und regionale Grenzen hinweg weite Leser- und Leserinnenkreise erreicht. Ein großer Teil von ihnen war konfessionell eingebunden, wie die Zuschriften beweisen. Im März 1906 registrierten die Herausgeber 6859 Abonnenten, die Ende 1912 auf 8466 angewachsen waren.55 Insofern ist dieses Zeitungsprojekt aus heutiger Perspektive als stabilisierendes Element in einem fluktuierenden Netzwerk zu betrachten, das sich nach Naumanns Tod mit wechselnden Herausgebern (nach Gertrud Bäumer und Wilhelm Heile Anton Erkelenz, Fritz Hermann und Theodor Heuss) noch über Jahrzehnte behaupten konnte.56 Zu den gescheiterten Projekten des Netzwerks gehörte der auf Drängen zahlreicher Weggefährten Ende 1896 gegründete » Nationalsoziale Verein «.57 » In jenen Novembertagen war im Kaisersaal zu Erfurt, wo einst Napoleon seine Parade deutscher Fürsten abgehalten hatte, die politische Blüte deutschen Geistes versammelt «, schrieb Hellmut von Gerlach in seinen Memoiren: » Das heißt eigent lich war es keine Gemeinschaft, sondern die Personalgemeinde Naumanns. Seine
54 Vgl. ebd., Nr. 36. 55 Ebd., Nr. 5, Bl. 79 (aus dem Briefwechsel mit Richard Knittel vom 27. 9. 1913). Diese Zahlen sagen jedoch wenig über die tatsächliche Leserschaft aus, da jede Zeitung vielfach weitergegeben wurde und im Rahmen von Lesezirkeln eine weitere Verbreitung fand. 56 Vgl. Thomas Hertfelder, » Meteor aus einer anderen Welt «. Die Weimarer Republik in der Diskussion des Hilfe-Kreises, in: Andreas Wirsching/Jürgen Eder (Hg.), Vernunftrepublikanismus in der Weimarer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, S. 29 – 55; sowie Frölich, Umformung (wie Anm. 49). 57 Vgl. NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 232, 53 u. 53a. Bei der Gründungsversammlung waren von 116 Delegierten 42 evangelische Pfarrer anwesend, fast alle anderen Angehörige des protestantischen Bildungsbürgertums. Vgl. auch Dieter Düding, Der Nationalsoziale Verein 1896 – 1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, München u. a. 1972.
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Persönlichkeit schien eine Brücke geschlagen zu haben, die von dem sozialistischen Pfarrer Paul Göhre bis zum konservativen Kirchenrechtler Rudolf Sohm reichte. «58 Zu den Theologen zählten Wilhelm Bousset, Adolf Deißmann und Caspar René Gregory, Gottfried Traub, Friedrich Weinhausen und Martin Wenck; hinzu kamen der Bodenreformer Adolf Damaschke und der Verleger Wilhelm Ruprecht. Die Konzeption beruhte auf der Hypothese, dass die Kluft zwischen Arm und Reich überwindbar sei, wenn die Arbeiter national und die Besitzenden sozial empfinden würden, – eine Synthese, die Pfarrer Battenberg wie » eine neue Offenbarung « erlebte.59 In der Folgezeit versuchte Naumann, den divergierenden Interessen seiner Weggefährten gerecht zu werden. Während der Nationalökonom und Freund Max Weber seinen Einfluss hinsichtlich der zukünftigen Gestaltung einer machtpolitischen Weltordnung geltend machte, trennte der Kirchenrechtler Rudolf Sohm die Zuständigkeit des Christentums von den staatlichen, politischen und rechtlichen Belangen. Auch wenn Naumann erst durch die Konfrontation für die daraus resultierende ethische Problematik sensibilisiert wurde, verfolgten die beiden Theologen völlig unterschiedliche Ziele: Während Sohm akademische Debatten ausfocht, versuchte Naumann, die wissenschaftlichen Erkenntnisse politisch umzusetzen. Während der eher konservativ gesinnte Sohm eine bildungsbürgerliche Partei mit klarer Frontstellung gegen die Sozialdemokratie beabsichtigte, gemäß der paternalistischen Devise: » Der dritte Stand als Erzieher des vierten «60, wollte Naumann das Bürgertum zur Kooperation mit der Arbeiterschaft auf Augenhöhe bewegen. Diesen bereits theoretisch unlösbaren Dissens in der Praxis zu überbrücken, erwies sich in der Folgezeit als kräfteraubendes Unterfangen. Die Bereitschaft beider Seiten zur Vermittlung zwischen den disparaten Interessenlagen war kaum vorhanden. Naumann war jedoch in weit stärkerem Maße auf die pekuniäre Unterstützung vermögender Gönner aus dem bürgerlichen Lager angewiesen.61 Sei-
58 Hellmut von Gerlach, Von Rechts nach Links, Zürich 1937 (ND Hildesheim 1978), S. 155. 59 Vgl. die emphatische Schilderung des Gründungsprozesses von Geheimrat D. Johannes Naumann (in: Evangelisch-Sozial, 1/3, 1930, S. 27 f). Vgl. auch NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 308, Bl. 92: » Wir halten Sie für einen von Gott berufenen Mann, die traurige Zerrissenheit im Innern unseres Volkes zu beseitigen « (zit. aus dem Brief eines Anhängers an Naumann vom 14. August 1896). 60 Rudolf Sohm, Die sozialen Pflichten der Gebildeten, Leipzig 1896, S. 10. 61 Im Sommer 1903 schien die » Hilfe « finanziell nur noch bis Oktober haltbar zu sein –
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ne schwierige Aufgabe bestand darin, den mächtigeren konservativen Flügel mit der zahlen- und kräftemäßig unterlegenen liberalen Fraktion im Protestantismus zu verknüpfen. Die ständigen Reibereien zwischen den Kontrahenten der beiden Richtungen, mit den Wortführern Sohm und Göhre, dokumentierten diesen Spagat.62 » Jeder Ruck nach links reißt mir den finanziellen Boden unter den Füßen weg «, beklagte sich Naumann bei Martin Rade: » ohne Geld in die Reichstagswahl ! Das geht doch nicht ! Da können wir die Bude vorher schließen. Dann ist meine Arbeit für nichts gewesen. «63 Auch in der Öffentlichkeit wurde das Vorhaben polemisch kommentiert, wie in der Leipziger Volkszeitung: » Um Naumanns Panier scharen sich die rückständigen Elemente des Gelehrtenproletariats, Kandidaten der Theologie, die achtbare und sozialpolitisch beschränkte Gruppe der Hungerpastoren, deren soziale Lage ihren Verbleib im konservativen Lager nicht mehr duldet. «64 Letztendlich ließ das Wählerverhalten die zwischen mehreren Parteifronten agierende Organisation scheitern: Zweimal, 1898 und 1903, trat der Verein vergeblich bei den Reichstagswahlen an, bevor ihn Naumann kurzerhand auflöste.65 Das öffentliche Eingeständnis der mangelnden Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren, täuschte über die Vielzahl interner Spannungen insbesondere zwischen den bildungsbürgerlichen Fraktionen hinweg. Dessen ungeachtet schwelgten alte Weggefähr-
ein Grund mehr für Naumann, mit der Unterstützung Brentanos Anschluss bei den Freisinnigen zu suchen. 62 Zu den Einzelheiten vgl. Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860 – 1919), Baden-Baden 1983, S. 80 – 86. Als wichtige, aber schwierige Ratgeber entpuppten sich auch Gerhart von Schulze-Gävernitz und Lujo Brentano, vgl. Theodor Heuss, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, 1937, 3. Aufl. 1968, S. 200 f. 63 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 126, Bl. 44. 64 Die Hilfe, 2. Jg., Nr. 39, 27. 9. 1896, S. 1. Vgl. auch exemplarisch die personellen und institutionellen Verflechtungen beim NSV in Baden (vor allem in Heidelberg und Mannheim) bei Frank-Michael Kuhlemann, Bürgerlichkeit und Religion. Zur Sozialund Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860 – 1914, Göttingen 2002, S. 227 f. 65 Erklärung Naumanns vom 19. 7. 1903, NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 53, 141. Vgl. auch die Diskussion in der » Hilfe «, die in der Nr. 26 v. 28. 6. 1903 begann und unter dem Titel » Unsere Zukunft « einen Monat die Schlagzeilen beherrschte, bis Nr. 35 v. 30. 8. 1903. Immerhin gab es gegenüber 1898 einen Zuwachs von 27 200 auf 27 900 Stimmen.
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ten noch viele Jahre später in sentimentalen Erinnerungen.66 Und über deutsche Grenzen diente die Konzeption des Nationalsozialen Vereins als Vorbild für eigene Parteiansätze wie in Russland 1905.67 Da der Naumann-Kreis nach der Auflösung des Nationalsozialen Vereins im parteipolitischen Sinne heimatlos geworden war, richtete sich der Ehrgeiz fortan auf das Ziel, über alle Parteigrenzen hinweg institutionelle Handlungsmöglichkeiten für eine » vereinigte Linke « zu schaffen. Das gesamte Spektrum des Liberalismus wurde durch die ehemaligen » Nationalsozialen « zwar erweitert; auf längere Sicht blieb jedoch deren Bemühen vergeblich, sich in die Riege der Linksliberalen konsensstiftend zu integrieren – zu zerstritten waren deren führende Vertreter. Trotzdem bewahrte sich ein Teil der alten Nationalsozialen ihr Zusammengehörigkeitsgefühl über den Ersten Weltkrieg hinweg. » Da ich mit Leib und Seele Demokrat bin, möchte ich auch meinen Teil dazu beitragen, unserer Sache zum Siege zu verhelfen «, schrieb ein Naumannianer aus Waldeck 1918 in einem Brief.68 Und er erinnerte sich an einen früheren Wahlkampf: » Mein Wirken erstreckte sich damals in der Herbeiholung von ca. 30 Stimmen aus dem nationalen und sozialdemokratischen. Lager für unsere Partei. « Diese Äußerung lässt auf eine demokratische Grundüberzeugung mit der Bereitschaft zum politischen Handeln schließen. Reinhard Jaeger aus Lengerfeld bei Waldeck monierte 1919: » Es fehlt die richtige und klare Aufklärung der Landbevölkerung, in der ich nach wie vor das solide Rückgrat der Demokratie sehe. «69 Und an Otto Klare in Geesthacht schrieb Naumann: » Daß wir selbstverständlich nicht antisemitisch sind, sehen wir mit Stolz; dem Geiste einer wahren Demokratie würde dieser Standpunkt auch auf das entschiedendste widersprechen. «70 Die meisten früheren Nationalsozialen organisierten sich in der Deutschen Demokratischen Partei und wirkten auf reichs- wie auf landes- und kommunalpolitischer Ebene in zahlreichen Funktionen. Naumann selbst wurde noch kurz vor seinem Tode zum Ersten Vorsitzenden der Deutschen Demokratischen Partei gewählt. 66 Dazu das Fazit Hellmut von Gerlachs: » Geistesarbeit höchsten Ranges wurde im National-Sozialen Verein geleistet. Jeder Parteitag brachte ein neues, sorgsam durchge feiltes Spezialprogramm: Schulprogramm, Agrarprogramm, Kolonialprogramm. Wir hatten eine Musterkarte bester Programme, wie sie nie eine andere Partei besessen hat. Nur leider fehlten die Wähler. « Gerlach, Von Rechts nach Links (wie Anm. 58), S. 155. 67 Vgl. Dittmar Dahlmann, Die Provinz wählt. Russlands konstitutionell-demokratische Partei und die Dumawahlen 1906 – 1912, Köln u. a. 1996, S. 84 f. 68 NL Friedrich Naumann (wie Anm. 30), Nr. 22, Bl. 13. 69 Ebd., Bl. 96. 70 Ebd., Nr.13, Bl. 246 f.
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5 Pluralisierung des N etzwerks nach O rientierung
und das
B edürfnis
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts fühlten sich verstärkt jüngere, in den 1880er Jahren geborene Männer wie Ernst Jäckh, Theodor Heuss, Georg Hohmann und Hans Katz von den Ideen Naumanns angesprochen.71 Außerdem meldeten sich zunehmend Nationalökonomen, Journalisten, Verleger, Unternehmer, Künstler und Kulturschaffende im Naumann-Kreis zu Wort. Als eigene Generation in dem Kreis der » alten « Weggefährten versuchten sie – zum Teil gegen erhebliche Widerstände – eigene Impulse einzubringen. Bei einigen jüngeren, stärker politisch motivierten Männern traten konfessionelle Bindungen in den Hintergrund, woraufhin eine Reihe alter Freunde ihre Zugehörigkeit aufkündigten, die ihre religiösen Ideale nicht mehr hinreichend repräsentiert sahen. Für andere Angehörige, beispielsweise Paul Göhre, Max Maurenbrecher, Hellmut von Gerlach, Rudolf Breitscheid und Gerhard Hildebrand, bedeutete der Naumann-Kreis dagegen eine Zwischenstation auf ihrem Weg in die Sozialdemokratie.72 Der offene Charakter des Netzwerks wird durch die Beteiligung organisierter Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung deutlich: Marianne Weber, Elly Knapp, Minna Cauer, Elisabeth Gnauck, Marie Martin und Katharina Kippenberg setzten verstärkt ihre Hoffnungen auf Naumann.73 Gertrud Bäumer hatte Friedrich Naumann 1906 auf einem Podium des Evangelisch-Socialen Kongresses in Jena kennengelernt, wo er als Referent und sie als Koreferentin über die Frauenfrage sprachen.74 Daraus entwickelte sich eine enge Freundschaft, die durch den gemeinsamen politischen Werdegang dokumentiert wur-
71 Vgl. Theodor Heuss, Erinnerungen (wie Anm. 4). Er schreibt auf S. 22: » Katz und ich fühlten uns als die Vertreter der zweiten Generation im Naumann-Kreise. « 72 Vgl. dazu die autobiographischen Äußerungen Hellmut von Gerlachs: Erinnerungen eines Junkers, Berlin 1924, und ders., Von Rechts nach Links (wie Anm. 58); vgl. auch Dieter Fricke, Nationalsoziale Versuche zur Förderung der Krise der deutschen Sozialdemokratie. Zum Briefwechsel zwischen Max Maurenbrecher und Friedrich Naumann 1910 – 1913, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 1983/4, S. 537 – 548. 73 Vgl. Angelika Schaser, Bürgerliche Frauen auf dem Weg in die linksliberalen Parteien (1908 – 1933), in: Historische Zeitschrift 263, 1996, S. 641 – 679. 74 Vgl. dazu die Quellensammlung von Marie Luise Bach, Gertrud Bäumer. Biographi sche Daten und Texte zu einem Persönlichkeitsbild (mit einem Vorwort von Line Kossolapow), Weinheim 1989, S. 14.
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de.75 Mit ihm trat sie erst in die Freisinnige Vereinigung und ab 1910 in den Zentralausschuss der Fortschrittlichen Volkspartei ein. Bei der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei 1919 gehörte sie als stellvertretende Vorsitzende zum linken Flügel und plädierte für eine Öffnung zur Sozialdemokratie. Diese Aufgeschlossenheit führte jedoch keineswegs zu einer Abkehr konfessionell verankerter Frauen. Sie identifizierten sich weiterhin mit Naumann und strebten eine Synthese von Religion und Politik an, wie eine » Großmutter aus dem Baltenlande « unter der Prämisse: » O könnten wir ein betendes Volk sein, ein Bollwerk gegen alle Stürme, die nicht Gottes Geist entfacht. «76 Zu ihrer politischen Position führte die selbsternannte Baltin weiter aus: » Es hat vielleicht den Anschein als ob ich sehr konservativ wäre u. daher schwer zu meinem Recht kommen könnte ? Nein, nach meinem Erleben u. meiner Erkenntnis steht unser Gott so groß da, dass wir, Seine Geistes – auch groß denken sollten, nicht eng u. selbstgerecht, nur den eignen Standpunkt erkämpfend. « Offenbar konnte diese kontingente Betrachtungsweise auch konträre Lager in Einklang bringen. Ausgerechnet jene Bücher Naumanns, die in der akademischen Welt besonders kritisch rezipiert wurden, wie » Demokratie und Kaisertum «, » Briefe über Religion «, » Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit « fanden bei einem breiten Lesepublikum großen Anklang.77 Diese nach wissenschaftlichen Kriterien angreifbaren Publikationen waren – nach Bekunden des Autors – offenbar erfolgreich in der Absicht, durch gedankliche Experimente weiterführende Debatten anzustoßen. Mit den jeweils aktuellen, popularisierten Themenfeldern entsprach Naumann dem Bedürfnis der Menschen nach lebensweltlicher Orientierung in gesellschaftspolitischen Gemengelagen. Aus den euphorischen, aber auch enttäuschten Reaktionen zahlreicher Menschen lässt sich ihr Bedürfnis nach einem Führer erkennen. So appellierte der Färbermeister Rudolf Bornemann aus Fallingbostel 1903 an Naumann, den » Führer im Kampf für Volksrecht und Freiheit «, auf dem politischen Pfad nicht sein » religiöses Ideal « zu zerstören.78 Mit
75 Vgl. Angelika Schaser, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, 2. Aufl., Köln u. a. 2010. 76 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 12, Bl. 35 f. 77 Friedrich Naumann, Demokratie und Kaisertum. Ein Handbuch für innere Politik, 4. Aufl., Berlin-Schöneberg 1905; ders., Briefe über Religion (mit einem Nachwort: Nach dreizehn Jahren), 6. Aufl., Berlin 1916; ders., Das Blaue Buch von Vaterland und Freiheit (Auszüge aus seinen Werken), Königstein i. Ts./Leipzig 1913. 78 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 233, Bl. 25. Wörtlich schreibt er: » Zu uns, denen Luther den Geist und Körper befreit und die Bismark gelehrt hat, sich zu vertragen und siegreich zu schlagen, zu uns hat er gepredigt und hoffnungsvoll haben wir
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Überlegungen zur » ferneren Menschheitsentwicklung « und des » Europäertums « richtete sich die Kölner Volksschullehrerin Else Naumann im April 1919 an Naumann und versicherte ihm, sie verehre ihn als » den geistigen Führer, an dessen starker Hand ich auch durch die Stürme unseres nationalen Zusammenbruchs u. so vieler begründeter u. unbegründeter innenpolitischer Wirren ruhigen u. festen Schrittes einherschreiten konnte. «79 Zu Beginn des Ersten Weltkriegs warb M. Zollmann aus Hellerau für die Gründung einer sozialen und ethischen Volkshochschule: » In all dem soll kein Wirken gegen die Kirche liegen ! Es wäre im Gegenteil zu wünschen, dass die Prediger diese soziale Bildungsstätte besuchen, damit das deutsche Pfarrhaus das wieder wird, was ihm früher seine hohe Bedeutung gegeben, ein belebendes Vorbild deutscher Kultur in der Gemeinde. « Er kam zu dem Schluss: » Sie sind dem deutschen Volk zum Führer berufen ! «80 Diese beliebig erweiterbaren Zeugnisse aus einem Querschnitt der Bevölkerung dokumentieren, wie intensiv Naumann mit dem Verlangen konfrontiert wurde, eine Funktion als Hoffnungsträger zu übernehmen, ausgestattet mit einer Menge überfrachteter Erwartungen, die er beim besten Willen nicht erfüllen konnte. Im Laufe des Ersten Weltkriegs verstärkte sich das Bewusstsein von der Notwendigkeit praktischer Voraussetzungen für die Politik. Viele Frauen sandten Nahrung, wie Elisabeth Schlenker aus Lauffen in Württemberg. Sie schickte Naumann Brote und Schinken, die er mit dem Hinweis annahm, sie solle sich nicht selbst berauben, da nunmehr jede Person ihren » eigenen Ernährungsbestand « bräuchte.81 Überwiegend Frauen wandten sich an ihn mit der Bitte um Unterstützung bei einer eventuellen Entlassung oder Zurückstellung, wenn ein Sohn oder Ehemann Militärdienst versah, wodurch die übrige Familie in existentielle Not geriet. In allen Fällen ließ Naumann Antworten verschicken. Mit Hilfe von informellen Auskünften, amtlichen Informationen oder Statistiken versuchte er den betreffenden Personen zu helfen, wenn auch häufig mit wenig Aussicht auf Erfolg. Frauen stellten aufgrund ihrer unmittelbaren Zuständigkeit auch Fragen zur Bewältigung des Alltags oder machten ihrerseits Vorschläge zur Linderung
zugehört. … Fürwahr, das möcht ich wissen, ob Naumann auf seinem politischen Pfad schon soweit gekommen ist, dass er zu Gunsten einer vorgefassten politischen Ansicht zu diesem religiösen Ende gelangt ist. Dass er, um sein politisches Ideal zu rechtfertigen, sein religiöses Ideal zerstört. « (Rudolf Bornemann aus Fallingbostel, der Brief ist vom 18. 5. 1903). 79 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 14, Bl. 3 f. 80 Ebd., Nr. 6, Bl. 236 – 240. 81 Ebd., Nr. 14, Bl. 153.
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von Notlagen.82 Es ging um die Analyse der aktuellen Kriegsprobleme und um die Reorganisation des Staatswesens.83 In der Diskussion um die Volksernährung überlegte er, inwieweit die sogenannten Fettbildner durch Kohlenhydrate ersetzt werden könnten.84 Mit wissenschaftlicher Akribie stellte er Theorien zur Kalorienberechnung auf und entwarf Eingaben, um Vorschläge zur Organisation der Lebensmittelversorgung zu sammeln. Aus dem vertraulichen Ton vieler Briefe spricht eine langjährige Verbundenheit aus der Vorkriegszeit.85
6 Z um Verhältnis von R eligionskompetenz und Politikfähigkeit im N etzwerk Naumanns eigener Lebensentwurf war durch tiefe Brüche und Zäsuren geprägt. Zugleich betätigte er sich zeitlebens als Brückenbauer zwischen Deutungshoheiten und über Weltanschauungsgräben hinweg. Seine religiös motivierte und auf politische Mündigkeit abzielende Gestaltung sozialer Systeme war in frühen Erfahrungen mit der Inneren Mission und späteren tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit den kirchlichen Strukturen des Protestantismus begründet. Dabei fällt es schwer, den zeitgenössischen Zuschreibungen zu entkommen: Er diente in wechselnden Konjunkturen als Projektionsfläche und Lieferant von Aphorismen aller Art, mit Handlungsanweisungen für ganz unterschiedliche Lebenslagen. Als zivilgesellschaftlicher Akteur bewegte er sich am Rande sozialer Systeme mit jeweils eigenen Handlungslogiken (die er zu überwinden versuchte). Selbst die einzelnen Stationen seines relativ kurzen Lebens geben nur begrenzt Auskunft über eine ungewöhnliche Metamorphose. Seine Deutungsangebote reichten von christlich-sozialen Erklärungsansätzen über national-soziale Versöhnungsstrategien (auch mit darwinistischen und imperialistischen Konnotationen) bis hin zu einem Plädoyer für einen erneuerten Liberalismus auf demokratischer Grundlage und leidenschaftlichen Appellen (» Erziehung zur Politik « 1914). Seine Faszination für die rasante Modernisierung der Gesellschaft ging einher mit einem
82 Ebd., Nr. 9, Bl. 25. 83 An Marie Martin vom 27. 7. 1918, in: ebd., Nr.12, Bl. 50. 84 Im Brief an Marie Martin aus Bad Soden an der Werra vom 27. 7. 1918 (ebd.) trat Naumann für eine » gewisse Erleichterung für höhere Staatsbeamte « ein und schrieb weiter: » Der Betrieb des Staates leidet z. T. darunter, daß die führenden Leute körperlich schlaff sind. Das ist meine eigene direkte Beobachtung. So etwas aber kann man nicht gut in die Welt hineinrufen. « 85 Zum Beispiel von Marta Latscha, ebd., Nr. 9, Bl. 255 ff.
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lebenslangen Engagement für soziale Teilhabe und dem Bestreben, zivilisatorische Fortschritte allen Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen – allerdings durchaus mit rassistisch-darwinistischen Zwischentönen (» Asia «).86 Zu den Entwicklungsschritten gehörten seine Konzeptionen » neudeutscher « Wirtschaftspolitik, Betrachtungen zum » Weltbild moderner Naturwissenschaft « ebenso wie sein qualitätsbewusstes, ganzheitliches Kulturverständnis. Die Ambivalenz der modernen Entwicklung hatte Naumann vielfach metaphorisch artikuliert und damit viele Menschen erreicht: » Es hat etwas Berauschendes und Beängstigendes zugleich, im Eilzug dieser Tage zu sitzen. «87 Die Entwicklungsprozesse des Naumann-Kreises waren zu Lebzeiten Naumanns von einer wechselnden Mischung religiöser und politischer Deutungsmuster geprägt. Eine gemeinsame Grundannahme bestand in der unlösbaren Verbindung zwischen nationaler Identität und sozialem Status. Den Herausforderungen der gesellschaftlichen Transformation mit all ihren Folgeerscheinungen begegneten die Angehörigen des Kreises offensiv, pragmatisch und lösungsorientiert. Dabei stärkten zeitgenössische Krisen den Zusammenhalt des informellen Netzwerks, boten Gelegenheit zur Überprüfung eigener Positionen und erweiterten die Entscheidungsfreiheit. Das variantenreich artikulierte Bedürfnis nach einem » Führer « korrespondierte mit heterogenen Vorstellungen eines nationalen Profils mit sozialkompensatorischen Maßnahmen. Zeitgenossen wie Willy Hellpach nannten Naumann einen » Präzeptor der demokratischen Ideale «, Rudolf Sohm titulierte ihn als » Magister Germaniae «, und Lujo Brentano charakterisierte ihn als » Propheten der sozialen Reform «.88 Hier wurden national aufgeladene, sogar universelle Heilserwartungen auf eine Person projiziert. Daran lässt sich ein heroisierendes Grundbedürfnis nach einer Leitfigur erkennen – allerdings waren die Weggefährten mit der gemeinsamen Realisierung von Projekten organisatorisch oft überfordert. Deshalb fällt die politische Erfolgsbilanz des Naumann-Kreises ernüchternd aus: Eine politische Repräsentation wurde in den Reichstagswahlen mehrfach vergeblich angestrebt; und selbst bei Erfolgen wie 1907 und 1912/13, als Naumann selbst in den Reichstag gewählt wurde, waren die Ergebnisse stets denkbar
86 Friedrich Naumann, » Asia «. Athen, Konstantinopel, Baalbek, Damaskus, Nazaret, Jerusalem, Kairo, Neapel, 9. Aufl., Berlin 1913, S. 67, auch in: FNW, Bd. 1 (wie Anm. 38), S. 535 – 553. 87 Vgl. FNW, Bd. 1 (wie Anm. 38), S. 151 (zit. aus der Aufsatzreihe: Das soziale Programm der evangelischen Kirche, Erlangen/Leipzig 1891). 88 Gustav Schmoller, Charakterbilder, München/Leipzig 1913, S. 302: » Aus einem Propheten des Evangeliums ist er einer der Propheten der sozialen Reform geworden. «
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knapp, dafür der Aufwand an Energien in mühsamen Wahlkämpfen erheblich und kräfteverschleißend. Auf den ersten Blick wurden die Kommunikationsformen zwar effektiv eingesetzt, aber bei näherem Hinsehen wird deutlich, wie sehr persönliche Beziehungen das politische Engagement beeinflussten, oft genug auch blockieren konnten. Die Angehörigen des Kreises verließen sich auf die moralische Instanz Naumanns und versorgten ihn mit Instruktionen, während sie sich persönlich vom politischen Tagesgeschäft distanzierten. Zahlreiche Bittbriefe Naumanns bezeugen die Schwierigkeiten, pekuniäre Mittel zur Realisierung gemeinsamer Projekte aufzutreiben. Hinzu kam der systembedingte Ausschluss von Frauen auf politischer Ebene im Kaiserreich. Sie konnten ihre Interessen nicht direkt parteipolitisch oder parlamentarisch artikulieren und waren nach heutigen Maßstäben nur eingeschränkt teilhabeberechtigt. Somit waren sie von den männlich dominierten Schaltzentralen der Politik ausgeschlossen. Weitere geschlechterspezifisch begründete rechtliche Hürden, beispielsweise in der selbstbestimmten Berufsausübung, begrenzten den Aktionsradius von Frauen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Daraus resultierten spezifische Ambivalenzen in den Biographien von Frauen, wie am Beispiel der Naumannianerin Gertrud Bäumer (1873 – 1954) ersichtlich.89 Als Lehrerin und promovierte Geisteswissenschaftlerin, Publizistin und Herausgeberin, Verbandsfunktionärin und Parteipolitikerin, Parlamentarierin und Ministerialrätin, Vortragsreisende und Schriftstellerin – um nur einige markante Stationen ihres öffentlichen Wirkens zu nennen – führte ihr » Lebensweg durch eine Zeitenwende «.90 Ihre Privilegien richteten sich auch gegen Frauen, indem sie zum Beispiel oppositionelle Pazifistinnen im Ersten Weltkrieg aus dem Bund Deutscher
89 Vgl. dazu Angelika Schaser, » Innere Emigration « als › konformer Widerstand ‹. Gertrud Bäumer 1933 bis 1945, in: Ariadne, H. 32, Nr. 11, 1997. Am Ende ihres Lebens erinnerte sich Gertrud Bäumer, die 1954 in Bethel gestorben ist, an ein Wort aus der Antike: » Homo Homini Res Sacra sit. Der Mensch sei dem Menschen eine Heilige Sache. Ich glaube, daß in diesen Worten der Kern unserer Existenz beschlossen ist. Hier – und nur hier, ist der Quell des Friedens. « Gertrud Bäumer am 2. Juli 1951 in einem Brief an einen » lieben Freund «, Bundesarchiv Koblenz, NL 76/22. 90 » Lebensweg durch eine Zeitenwende « lautete der Titel ihrer Autobiographie, die sie angesichts der gesellschaftlichen Erosionsprozesse offenbar als Zwischenbilanz konzipierte und bereits 1933 verfasste. Das Buch erwies sich als Publikumserfolg und kam 1940 in sechster Auflage auf den Markt. Weitere Selbstreflexionen: Gertrud Bäumer, Im Licht der Erinnerung, Tübingen 1953; und Emmy Beckmann (Hg.), Des Lebens wie der Liebe Band. Briefe von Gertrud Bäumer, Tübingen 1956.
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Frauenvereine ausschloss.91 Sie wollte sich in hierarchischen Konstruktionen unterordnen, der Sache » dienen « und agierte selbst als machtbewusste Führerin. Naumann war für sie ein » seelisch-genialer Führer, der dem deutschen Volke geschenkt worden ist, wie ein › brennend und scheinend ‹ Licht, das es nicht erkannt und nicht begriffen hat «.92
7 Z ur Kontinuität
des
N etzwerks
durch zivilgesellschaftliche I nitiativen
Welche Projekte des Naumann-Kreises existierten nach seinem Tod weiter und waren maßgeblich an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligt ? Dazu zählte der 1907 von etwa 100 Architekten, Ingenieuren, Industriellen und Handwerkern in München gegründete » Deutsche Werkbund «.93 Diese Organisation profitierte wesentlich von der Inspiration, dem Organisationstalent und der aktiven Mitwirkung Naumanns.94 Er kombinierte die Verarbeitung traditioneller und moderner Materialien, wie Holz, Glasbausteine und Stahl mit einem demokratisch orientierten Bewusstsein für Qualität. Klassische Funktionalität sollte sich mit moder-
91 Hierbei ging es um einen Konflikt um die deutsche Beteiligung am internationalen Frauenkongress in Den Haag, der vom 28. April bis 1. Mai 1915 unter der Leitung der amerikanischen Frauenrechtlerin Jane Addams stattfand. Der Bund Deutscher Frauen vereine lehnte unter der Vorsitzenden Gertrud Bäumer eine Teilnahme mit der Begründung ab, die pazifistische Propaganda sei unvereinbar mit der » vaterländischen Gesinnung und der nationalen Verpflichtung der deutschen Frauenbewegung «. NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 231, Bl. 57. 92 Gertrud Bäumer, Lebensweg (wie Anm. 90), S. 250 f. Die Ministerialrätin übernahm 1920 das Referat für Schule und Jugendwohlfahrt im Reichsinnenministerium und engagierte sich weit über ihre formalen Zuständigkeiten hinaus sowohl in der Schulpolitik als auch in der Jugendwohlfahrt, indem sie die Ansätze der reformpädagogischen Selbsthilfeprojekte in die Reichspolitik integrierte. Das von ihr 1922 konzipierte Reichsjugendwohlfahrtsgesetz ist zusammen mit der Einrichtung der Jugendämter als Pionierleistung anzusehen. 93 Vgl. Joan Campbell, Der Deutsche Werkbund 1907 – 1934, München 1989. 94 Vgl. Christian Albrecht, » Wortlos gewordener Pietismus «. Friedrich Naumanns Engagement für den Deutschen Werkbund, in: Volker Drehsen u. a. (Hg.), Protestantismus und Ästhetik. Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts, Gütersloh 2001, S. 250 – 285. Als Gründungsväter gelten neben Friedrich Naumann Hermann Muthesius und Henry van der Velde.
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ner Formgebung verbinden und somit einen Beitrag zur Synthese von Handwerk und Industrie leisten, auf der Basis einer kulturell verankerten Identität der » Massen «.95 Daraus resultierten ungeahnte Möglichkeiten einer neuen, quasi religiös wahrgenommenen Ästhetik der Industriearchitektur, wie überhaupt die künstlerischen Fragen in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen gerückt und auf die zukünftigen Ressourcen hin interpretiert wurden: » Es ist der Theologe Naumann mit der Sensibilität für die kulturelle Bedeutung technisch-ästhetischer Umwälzungen, der an die ethische, volkswirtschaftlich-sozialpolitische und nationalkulturelle Dimension der Umwälzungen erinnert – in einem verantwortungsethisch zu nennenden Sinne. «96 Den Aspekt der sozialen Verantwortung in seinen produktgestalterischen Ausprägungen untersuchte Naumann vielfach aus einem globalisierenden Blickwinkel97 und integrierte ihn auch in seine » Mitteleuropa «-Konzeptionen.98 Das Schicksal des Deutschen Werkbundes dokumentiert die innere Zerrissenheit einer ehemals avantgardistischen Kultur mit funktionaler Ästhetik. In der Folgezeit entwickelte sich der Werkbund zu einem Sammelbecken verschiedener Richtungen, mit einem späten Sieg nationalistischer Tendenzen bis zur Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten 1934. Ähnlich erging es dem Deutschen Bund für Bodenreform nach dem Tod des langjährigen Vorsitzenden Adolf
95 Friedrich Naumann, Deutsche Gewerbekunst, 1908 (abgedruckt in: Friedrich Naumann Werke, Bd. 6, Köln 1964, S. 254 – 289); Friedrich Naumann, Form und Farbe, 1909; ders., Ausstellungsbriefe, 1909; ders., Sonnenfahrten, 1909. 96 Albrecht, Wortlos (wie Anm. 94), S. 262. 97 Friedrich Naumann, Werkbund und Weltwirtschaft, 1914: » Wir Deutsche haben von anderen Völkern künstlerisch und seelisch so unendlich viel genommen und bekommen. Unsere ganze alte Erziehung ist ja von den andern. Griechenland, Italien, Frankreich, England, die mußten alle erst da sein, damit wir überhaupt etwas werden konnten. Auch der Dom in Köln ist nicht geworden, ohne daß vorher die hohen Bauten in Frankreich angefangen waren. «, in: FNW, Bd. 6 (wie Anm. 95), S. 349. 98 Das 1915 erstmals veröffentlichte Buch » Mitteleuropa «, das den Zusammenschluss der europäischen Kernländer als wichtigstes außenpolitisches Ziel forderte, erwies sich als Naumanns größter Publikumserfolg und avancierte binnen kürzester Zeit zum Bestseller, was sich auch in unzähligen begeisterten Leserbriefen niederschlug. Ein Jahr später erschien die Volksausgabe, ergänzt um » Bulgarien und Mitteleuropa «. Vgl. den Abdruck beider Schriften in: Friedrich Naumann Werke, Bd. 4, Köln 1964, S. 485 – 842. Vgl. auch Jürgen Frölich, Friedrich Naumanns » Mitteleuropa «. Ein Buch, seine Umstände und seine Folgen, in: vom Bruch (Hg.), Naumann in seiner Zeit (wie Anm. 7), S. 245 – 267.
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Damaschke 1935, ebenfalls ein Naumannianer. Diese kulturkritischen und sozialpolitischen Reformbewegungen waren seit der Jahrhundertwende mit dem Naumann-Kreis eng verbunden. Auch die Volksbildungsbewegung, insbesondere die kirchlichen Volkshochschulen, profitierten von den Impulsen des Netzwerks.99 Zu den fortbestehenden und später institutionalisierten Projekten gehörte auch die Deutsche Hochschule für Politik: Als Ersatz für das stornierte Projekt des » Deutschen Staatslexikons « seit 1916 geplant und 1918 als » Staatsbürgerschule « in Berlin gegründet,100 intendierte sie eine » Erziehung zur Politik «. Dahinter stand die Vision einer demokratischen Volksbildung zur Urteilsfähigkeit und Immunisierung gegen Demagogie.101 Eine Reihe wohlhabender Freunde und Förderer, wie Wilhelm Ohr, Carl Petersen, Robert Bosch, Ernst Jäckh und andere stellten Gelder bereit, so dass bereits im Sommer 1918 die ersten Kurse stattfanden, die nach der kriegsbedingten Unterbrechung im Oktober 1920 fortgeführt wurden.102 Seit Beginn der dreißiger Jahre veränderte sich das personelle Profil des Lehrkollegiums durch Auswanderung der Dozenten nach Amerika einerseits und durch die Aufnahme aktiver NSDAP-Mitglieder andererseits. Vier Jahre lebte die Bildungsanstalt unter nationalsozialistischer Prägung noch fort, bevor sie 1937 in eine Anstalt des Reiches umgewandelt und der Lehrbetrieb im Wintersemester 1939/40 eingestellt wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konstituierte sich die politische Hochschule am 15. Januar 1949 neu und wurde 1959 als Otto-Suhr-Institut in die Freie Universität Berlin integriert. Die langfristige Kontinuität dieser Projekte darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die demokratischen Ansätze in der politischen Meinungsbildung mangelhaft verankert waren. So gab es in der Zeit des Nationalsozialismus durchaus Berührungspunkte zu entsprechendem Gedankengut bei einigen Angehöri-
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Vgl. die Ausführungen von Pfarrer E. Fuchs, Von Naumann zu den religiösen Sozialisten 1894 – 1929, in: Schriften der religiösen Sozialisten, Bd. 2 (Nr. 9 – 13), Reprint Würzburg 1976, S. 3 – 20.
100 Vgl. Thomas Hertfelder, » Meteor aus einer anderen Welt « (wie Anm. 56), S. 29 – 55. 101 NL Naumann (wie Anm. 30), Nr. 25. Vgl. die Berichte von Ernst Jäckh (Hg.), Politik als Wissenschaft. Zehn Jahre Deutsche Hochschule für Politik, 1931; ders., Geschichte der Deutschen Hochschule für Politik, 1952; Antonio Missiroli, Die Deutsche Hochschule für Politik, St. Augustin 1988. Vgl. auch Norbert Friedrich, Friedrich Naumann und die politische Bildung, in: vom Bruch (Hg.), Naumann in seiner Zeit (wie Anm. 7), S. 345 – 360. 102 Theodor Heuss war bis 1927 als Studienleiter und bis 1933 als Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik tätig.
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gen des frühen Kreises.103 Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass Naumann kein ausgearbeitetes Konzept einer demokratischen Republik hinterlassen hatte. Ansätze sind beim Juristen Hugo Preuß (1860 – 1925) zu erkennen, der den » Volksstaat « statt des » Obrigkeitsstaates « vertrat.104 So blieb das Verhältnis zwischen » Volk « und » Nation « unklar, die Themenfelder » Nation «, » Demokratie « und die Führerproblematik virulent. Daraus resultierende Gefahren hatte Naumann schon früh erkannt und offen thematisiert. Dennoch überwogen insgesamt eher Haltungen der inneren und äußeren Emigration sowie resistente Grundeinstellungen. Dabei fällt es aus heutiger Perspektive schwer, zwischen liberal und religiös motivierten Widerstandsformen zu differenzieren. Jedenfalls gewannen kirchliche Allianzen an Zuspruch, die allerdings auf evangelischer Seite durch die Polarisierung in Bekennende Kirche (BK) und Deutsches Christentum (DC) tief gespalten waren. Als weitere institutionelle Refugien bzw. Sammellager erwiesen sich kirchliche Submilieus. Insgesamt ist eine schleichende Entpolitisierung der » Ex-Liberalen « Ende der 1930er Jahre zu beobachten, die sich auf verwaltungstechnische Fragen, wirtschaftliche Themen, Feuilletonistischem und » ferne Länder « konzentrierten. Statt auf die Innenpolitik wurde der Blick auf außenpolitische Aspekte gelenkt.105
8 R esümee Die eingangs erzählte Geschichte von Hermann Losch lässt sich auch zivilgesellschaftlich zugespitzt deuten: Die acht Reisenden waren mit der Eisenbahn unterwegs, d. h. ohne festen Standort. Zudem war die Reisedauer der zusammengewürfelten Gemeinschaft in einem Abteil zeitlich begrenzt – also nicht auf ewig
103 So ist der Fall des Oberregierungsrats Prof. Karl Wentz (1874 – 1962) dokumentiert, der von 1896 bis 1903 dem NSV Naumanns und von 1919 bis März 1933 der national-liberalen DVP angehörte, bevor er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat – kurz nachdem er seine langjährige Mitgliedschaft beim Evangelischen Bund und dem Gustav-Adolf-Werk aufgegeben hatte. Vgl. Andreas Müller, » Kirchenkampf « im » erweckten « Kontext. Der Kirchenkreis Minden in der Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 2013, S. 22 ff und 224 – 230. 104 Vgl. Peter Brandt, Hugo Preuss – Der Verfassungspatriot, Institut für Europäische Verfassungswissenschaften (IEV-Online Nr. 5/2009), S. 1 – 27, sowie Detlef Lehnert (Hg.), Hugo Preuss 1860 – 1925. Genealogie eines modernen Preußen, Köln 2011. 105 Vgl. Jürgen Frölich, der die » Hilfe « als Blatt des » Dissens, der Resistenz « bezeichnet (wie Anm. 49).
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angelegt. In ihren unterschiedlichen Stellungnahmen tauschten sich die Personen über eine Leitfigur aus und erzielten im Laufe der Diskussion so etwas wie einen Konsens, nämlich in der übereinstimmenden Reaktion auf den Einwand des achten Reisenden. Die einzelnen Antworten erlauben Rückschlüsse auf den zivilgesellschaftlichen Charakter eines Netzwerks, das religiös motiviert, (sozial) politisch engagiert, kulturell an der Moderne interessiert und europäisch ausgerichtet war. Trotz der Fokussierung auf Naumanns Person waren die Beziehungsaspekte mit starken emotionalen Bindungen untereinander entscheidend für den Zusammenhalt. Im Naumann-Kreis wogen frühe Freundschaften stärker als spätere inhaltliche Differenzen. Persönliche Loyalitäten verhinderten häufig einen offenen Bruch – was sich nicht immer als vorteilhaft für die verfolgten Ziele erwies. Auch wenn sich Theodor Heuss 1963 erinnerte, dass für ihn zu » Politikern der Rechten und auch zur katholischen Mitte … keinerlei Steg «106 führte, verloren im Naumann-Kreis sowohl konfessionelle Schranken als auch politische Ressentiments – insbesondere zur Sozialdemokratie, aber auch zu den Konservativen – an Gewicht. Enge persönliche Kontakte bestanden zur bürgerlichen Frauenbewegung. Eine Reihe von Personen (wie Helmut von Gerlach, Georg Bernhard, Wilhelm Abegg, der bekennende Pazifist Ludwig Quidde u. a.) emigrierten in benachbarte europäische Länder oder in die USA. Dennoch engagierten sich führende Persönlichkeiten aus der zweiten Generation des Naumann-Kreises in der jungen Bundesrepublik. Ein weiteres zivilgesellschaftliches Kontinuitätsmerkmal der Angehörigen des Naumann-Kreises ist in der hohen Organisationsbereitschaft zu sehen, wie das Beispiel der Mitgliedschaften des Thüringer Pfarrers und Naumannianers August César (1863 – 1959) verdeutlicht. Bereits im Kaiserreich war er Gründer eines Raiffeisenvereins, Mitglied des Evangelisch-Sozialen Kongresses, des Nationalsozialen Vereins und der Freisinnigen Vereinigung, der Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt, des Gustav-Adolf-Vereins und des Evangelischen Bundes, in der Weimarer Republik Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei und des Thüringer Volkskirchenbundes. Nach 1945 gehörte er in der DDR der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands an.107 Der Überblick zeigt, dass sich César unter wechselnden Regierungsformen gleichermaßen konfessionell
106 Heuss, Erinnerungen, S. 33 (wie Anm. 4). 107 Für den Hinweis danke ich Dietmar Wiegand, Leipzig. Aufzeichnungen von August César finden sich im Landeskirchenarchiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Thüringen, Eisenach. Vgl. auch Friedrich Henning, Friedrich Naumann und Thüringen, in der Zeitschrift » Thüringen «, 1960, S. 13.
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und politisch organisierte. Durch diese Haltung wird eine Symbiose aus protestantischer Gesinnung und demokratischen Ausdrucksformen dokumentiert, die sich zivilgesellschaftlich interpretieren lässt. Die Biographie des Juristen Gustav Heinemann (1899 – 1976) weist ähnliche Charakteristika auf: Noch als Student trat er der Deutschen Demokratischen Partei bei und wurde 1930 Mitglied im Christlich-Sozialen Volksdienst; später war er in der Bekennenden Kirche aktiv. Damit blieb er im Protestantismus verwurzelt, der sich auch als Refugium anbot. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm er weitere Funktionen in der Evangelischen Kirche, als langjähriges Mitglied des Rates und für sechs Jahre als Präses der Synode. Seine politische Karriere führte ihn direkt nach dem Krieg als CDU-Mitglied von der Kommunal- in die Landes- und schließlich in die Bundespolitik: als Oberbürgermeister von Essen, Landtagsabgeordneter, Justizminister von NRW und Bundesinnenminister. In dieser Funktion trat er 1950 aus Protest gegen die geheimen Wiederaufrüstungspläne Adenauers zurück. Zunächst als Gründungsmitglied der Notgemeinschaft für den Frieden Europas trat Heinemann 1952 aus der CDU aus, begründete im gleichen Jahr die kurzlebige Gesamtdeutsche Volkspartei mit und trat 1957 in die SPD ein. Als Bundesjustizminister engagierte er sich von 1966 bis 1969 für die Große Strafrechtsreform. Heinemanns Vita zeugt von einer lebenslangen, ungebrochenen konfessionellen und politischen Organisationsbereitschaft in Verbindung mit der späten Erkenntnis, dass protestantische Opposition ebenso eine Diktatur begünstigen kann, wenn es an wirksamen Kontrollmechanismen mangelt. » Wir müssen die Demokratie und die Republik aufnehmen in unser Fühlen und Denken; wir müssen Demokraten und Republikaner sein, oder wir werden nicht mehr sein ! « notierte der junge Heinemann am 31. Dezember 1919 in sein Tagebuch.108 Fünfzig Jahre nach seiner Tagebuchnotiz forderte er als erster sozialdemokratischer Bundespräsident eine intensivere Beschäftigung mit den demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte. Seine Vorstellungen von Demokratie blieben als politisches Glaubensbekenntnis protestantisch eingebettet. Damit wurde eine Traditionslinie nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt, die sich nur auf den ersten Blick säkularisiert zu haben schien. Erst im Laufe der sechziger Jahre wurde die Demokratie in den Rang einer parteiübergreifend akzeptierten Referenzgröße erhoben, die es ermöglichte, gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse zu beschleunigen. Als außerparlamentarische Opposition leisteten dezidiert demokratische Bewegungen mit protestantischer Prägung in der Bundesrepublik einen wesentlichen Bei-
108 Gustav W. Heinemann, Wir müssen Demokraten sein. Tagebuch der Studienjahre 1919 – 1922, hg. von Brigitte und Helmut Gollwitzer, München 1980, S. 36.
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trag zur Stiftung politischer Identität mit einem antiautoritären Profil.109 Auf diese Weise konnte sich das staatsbürgerliche Konzept einer sozialen Demokratie als Leitbild einer neuen gesellschaftlichen Ordnung langfristig durchsetzen. Das Eingangsbeispiel von Elly Heuss Knapp sagt auch etwas über die Spannung zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem aus. Vier Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg meinte sie in der praktizierten Religion den Schlüssel für Naumanns politisches Handeln zu erkennen. Diese interpretationsbedürftige Ambivalenz von Religion und Politik bestimmte auch ihren eigenen biographischen Werdegang. Nach Naumanns Tod gewannen die religiösen Dimensionen für sie an Bedeutung als Handlungsraum und Refugium: als Ausgangspunkt für soziale Aktivitäten und als Fluchtpunkt zur inneren Regeneration. Trotz wachsender Zweifel an kirchlichen Positionen während des › Dritten Reiches ‹ blieb ihre Kirchenbindung lebenslang erhalten und war im Überzeugungshaushalt des Protestantismus verankert. Dahinter verbargen sich sinnstiftende Elemente durch ihren Glauben an Gott (in Rekursen auf die Autorität Luthers), eine christlich-soziale Verantwortungsethik als gesellschaftliches Normensystem und zugleich als kritisches Kulturideal, mit humanistischen Leitbildern wie Fichte, Goethe und Kant.110 Die zentrale Motivation ihres pragmatischen Handelns bestand in einer frühen Vision von sozialer Gerechtigkeit angesichts der bedrückenden Realität einer gesellschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich. Die Vorstellungen von Demokratie kristallisierten sich in einem langjährigen Prozess der Meinungsbildung innerhalb des Naumann-Kreises heraus. Dieses Demokratieverständnis entsprang einem zeitgenössischen gesellschaftlichen Koordinatensystem, das mit korrespondierenden Bezugsgrößen operierte: der Monarchie mit dem Kaiser als Repräsentanten und einer Nation, deren › natür-
109 Vgl. Ursula Krey, » Der Bruch mit der Gehorsamstradition «. Die 68er Bewegung und der gesellschaftliche Wertewandel, in: Bernd Hey/Volkmar Wittmütz (Hg.), 1968 und die Kirchen, Bielefeld 2008, S. 13 – 34. 110 So auch in einem Vortrag » Religion und Alltag « (als Manuskript o. Dat., 1931), abgedruckt in: Elly Heuss-Knapp, Rat und Tat. Nachklang eines Lebens, hg. von Friedrich Kaufmann, Tübingen 1964, S. 125 – 131. Dort erläuterte sie ihre Überzeugung, dass kein Volk und keine Zeit, kein Mensch je ohne Glauben sei – an was auch immer: » Luther sagt im großen Katechismus: Woran dein Herz hängt, worauf du vertraust, das ist dein Gott – oder dein Götze. « S. 126. Weitere Bezüge auf Luther finden sich in den Vorträgen » Hilfe von Mensch zu Mensch. Ein Blick in die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege « (1908), in: ebd., S. 140 – 165; » Vom Sinn der Familie « (1926), in: ebd., S. 25 – 31; » Berufstreue und Berufsfreude « (1931), in: ebd., S. 176 – 182.
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liche ‹ Überlebensinteressen als übergeordnet galten und nicht weiter legitima tionsbedürftig schienen.111 Doch auch hier gab es ein weites Spektrum an Interpretationsansätzen mit Schlussfolgerungen, die einen › liberalen ‹ Umgang mit dem Nationalismus zuließen.112 Durch die Beschäftigung mit aktuellen Tagesthemen, auf der Suche nach politischen Alternativen, die über Reformen auf eine Umgestaltung der Gesellschaft abzielten, gewann der Schlüsselbegriff » Demokratie « in der Argumentation den Rang einer diffusen Referenzgröße. Die höchst heterogenen Deutungsmuster reichten von offener Ablehnung über Skepsis bis zu einer vorsichtigen Annäherung aus Vernunftgründen und zum politischen Glaubensbekenntnis. Gerade die soziale Vielschichtigkeit der Angehörigen des Naumann-Kreises ist ein Beleg für die Bereitschaft breiter Bevölkerungsgruppen, über eine kritische Kommunikation aktiv an der Gestaltung der Zukunft mitzuwirken. Insofern ist die Demokratie weniger als normatives Ideal, sondern vielmehr als politische Praxis mit neuen Handlungsanweisungen und Politikfeldern zu verstehen. Diese Konstellation funktionierte unter der Obrigkeitsstaatlichkeit des Kaiserreichs. Der Erste Weltkrieg verstärkte die ambivalenten Tendenzen im Naumann-Kreis. Sie bewegten sich zwischen vagen Vorstellungen von einer nationalen Solidarität und der sicheren Erkenntnis tiefgreifender, unausweichlicher Konsequenzen. Eine weitgehende Demokratisierung der Gesellschaft wurde als mittelfristiger Ausweg gesucht und seit 1918 in der Staatsbürgerschule konzeptionell realisiert. Der Erste Weltkrieg ist als die entscheidende politische Krise auf dem Weg von der Obrigkeitsstaatlichkeit zum Republikanismus anzusehen, wobei wesentliche Überzeugungen und Kulturwerte unwiderruflich zerstört zu sein schienen. Der Krisencharakter darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die entscheidenden Weichen für die politische Kultur der Weimarer Republik bereits in der Gemengelage des Kaiserreichs gestellt wurden. Nachdem sich die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Weimarer Republik grundlegend in Richtung Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit geändert hatten, wurden einige Konfliktherde entschärft. Damit schien zunächst ein Teil der früheren Forderungen erfüllt zu sein. Die einstigen Qualitätsmerkmale des zivilgesellschaftlichen Netzwerks wie Offenheit, Transpa
111 Vgl. z. B. Richard Charmatz, » Vom Humanismus zum Nationalismus, vom Nationalismus zum nationalen Weltsinn: Das ist der den Deutschen durch die Geschichte vorgeschriebene Weg «, in: ders., Deutsche Demokratie, Wien u. a. 1918, S. 120. 112 Vgl. Moshe Zimmermann, A Road not Taken – Friedrich Naumann’s Attempt at a Modern German Nationalism, in: Journal of Contemporary History 17, 1982, S. 689 – 708.
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renz, Wandlungs- und Integrationsfähigkeit erwiesen sich in dieser Situation als Manko: Dem Naumann-Kreis ohne seinen Mediator drohten nunmehr die Gefahren der Zersplitterung, Fragmentierung und Absorption. Die Demokratie war zwar in der Weimarer Verfassung institutionalisiert, sie wurde jedoch von großen Bevölkerungsteilen nur widerwillig akzeptiert. Ein weiteres Problem kam hinzu: Da die Demokratie nie als Selbstreferenz verstanden, sondern immer nur in Verbindung mit anderen Bezugsgrößen – vor allem der Nation – legitimiert wurde, entpuppte sich dieser Schlüsselbegriff auch als höchst anpassungsfähig, das heißt: Er besaß keine eingebauten Kontrollinstanzen gegenüber autoritärer Vereinnahmung und Umdeutung.
9 Ausblick: R eligion
und
Z ivilgesellschaft
Naumanns Biografie fasziniert durch ihre Metamorphosen von ungeheurer Dynamik, in seiner Akzeptanz des gesellschaftlichen Wandels und der Modernisierung sowie seines Pragmatismus, in den Krisen die Chancen zu entdecken.113 Die Tatsache, dass er in der jungen Bundesrepublik von Angehörigen fast aller Parteien – von der CDU über die FDP bis zur SPD – als Kronzeuge der jeweils eigenen Überzeugungen in Anspruch genommen wurde, lässt auf seine persönliche Unverfügbarkeit schließen. Zugleich löst er als Projektionsfigur bis heute hitzige Kontroversen aus – ein Indikator für die Aktualität seiner Impulse in einer lebendigen Diskussionskultur. Während sich einige seiner Prognosen bewahrheitet haben, sind andere seiner Ideen und Projekte unwiderruflich gescheitert. In der Gründungsphase der Bundesrepublik hatte der Naumann-Kreis als zivilgesellschaftliches Netzwerk seine Bedeutung verloren. Eine der letzten Initiativen Naumanns wurde hingegen aus der Weimarer Verfassung vom Grundgesetz übernommen: Kurz vor seinem Tod hat Naumann in mühsamen Verhandlungsetappen das spezifische deutsche Staatskirchenrecht initiiert und so den kulturell verstandenen Erziehungsauftrag der Religion rechtlich verankert.114
113 Vgl. Ursula Krey, Friedrich Naumann (1860 – 1919): » Vom kirchlichen Theologen zu einem Christen mit moderner Naturanschauung «, in: Michael Häusler/Jürgen Kampmann (Hg.), Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte, Berlin 2013, S. 305 – 337. 114 Vgl. die Aufsätze von Dieter Beese und F. Wittekind in Günther Brakelmann u. a. (Hg.), Auf dem Weg zum Grundgesetz. Beiträge zum Verfassungsverständnis des neuzeitlichen Protestantismus; sowie Ludwig Richter, Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, Düsseldorf 1996.
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Jedoch wird heute die manifestierte, gleichsam staatsadäquate Stellung der Kirchen als Körperschaften öffentlichen Rechts im Verhältnis zu anderen Reli gionsgemeinschaften zunehmend als unangemessen privilegiert empfunden – was auch den Intentionen Naumanns widersprochen hätte.115 Hier könnte ein offener Diskurs der christlichen Kirchen die grundlegende Bedeutung der Religionen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt neu gewichten.116 Die vielschichtigen Modernisierungsprozesse des 19. und 20. Jahrhunderts haben eben nicht – wie in der Säkularisierungsforschung lange vermutet – zu einem Rückgang der Religionen geführt, vielmehr einer Individualisierung und Pluralisierung sinnstiftender Deutungsangebote Vorschub geleistet. Mittlerweile wird sogar von » zwei Pluralismen « gesprochen und zwischen innerreligiösen sowie religiösen und säkularen Diskursen unterschieden.117 Schließlich wird mit der Religion Politik gemacht: entweder als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung oder als Abwehr-
115 » Nach evangelischer Überzeugung ist die Kirche ein menschliches Gefäß für überirdische Heiligtümer, und es kommt unter allerhöchsten Gesichtspunkten wenig darauf an, ob die Form der Kirche staatskirchlich ist oder freikirchlich oder sektenhaft. Hierbei entscheiden nur praktische Nützlichkeitspunkte. Wer also fest auf dem Boden der Reformation steht, kann das starke Geschrei, als ob die Religion unterginge, nur für Kleinglauben ansehen. Die Religion geht nicht unter, solange es Gläubige gibt. « Aus dieser Stellungnahme Friedrich Naumanns im Frühjahr 1919, kurz vor Beginn der Verfassungsberatungen in Weimar, spricht ein tiefes Vertrauen in die Kraft des Glaubens und des Handelns in einer Interimsphase: » Zu solchem Werke ist nun unsere Zeit berufen, da die Landeskirchen ihre Rechtsgrundlage verloren haben. Auf dem allgemeinen Priestertum der Gläubigen soll ein Kirchenbau neuer Art errichtet werden «. Glaube und Kirche, Hilfe, 25. Jg. 1919, Nr. 12, in: FNW, Bd. 1 (wie Anm. 38), S. 943. Vgl. auch Jürgen Frölich, » Aus überkommenen Bindungen zu einer individualistischen Freiheit des Glaubens «. Friedrich Naumann und die Rolle der Konfessionen und Kirchen, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 25 (2013), S. 331 – 341. 116 Hans Joas, Strafe und Respekt. Die Sakralisierung der Person und ihre Gefährdung, in: Andreas Rödder/Wolfgang Elz (Hg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 157 – 174. Vgl. in diesem Zusammenhang auch ders., Braucht der Mensch Religion ? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. B. 2004 (2. Aufl. 2007). 117 Vgl. Peter L. Berger, The Many Altars of Modernity: Toward a Paradigm for Reli gion in a Pluralist Age, Berlin/Boston 2014.
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strategie gegen fundamentalistische Bestrebungen, die als Quelle für Konflikte und Gewalt wahrgenommen werden.118 Da religiöse Deutungsmuster global sinnstiftende Elemente des Wertekanons sind, stellt sich umso dringlicher die Frage nach den einzuhaltenden Regeln auf zivilgesellschaftlicher Ebene.119 Bei der Kontingenzbewältigung im Laboratorium der Post-Moderne wird das Verhältnis von Kirchen und Religion, Staat und Markt, Individuum und Gesellschaft im 21. Jahrhundert neu strukturiert. Gegenwärtig übernimmt die Zivilgesellschaft wichtige Aufgaben auf subsidiärer Ebene. Ihr breites Spektrum reicht von Wohlfahrtsverbänden, NGO’s und Selbsthilfegruppen über Berufs-, Lobby- und Wirtschaftsverbände bis hin zu einzeln agierenden » Wutbürgern «, wie in » Stuttgart 21 « oder der Protestbewegung » Pegida « in Dresden und anderen Orten. Die Heterogenität öffentlicher Meinungsbekundungen zeigt, dass über die » Anerkennung von Differenz, Zivilität und kommunikativem Handeln «120 hinaus auch » unzivile « Umgangsformen bzw. gewaltbereite Verhaltensweisen zur individuellen Entscheidungsfreiheit gehören. Umso wichtiger ist die argumentative Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Überzeugungen, um die Kriterien für Zivilität zu schärfen. Schließlich gehört der kompetente, kritische wie sensible Umgang mit allen Religionen zum Kanon einer Politik, die zur Weiterentwicklung der Demokratie befähigen sollte – ganz im Sinne Naumanns.
118 Vgl. dazu die Beiträge in Christina von Braun u. a. (Hg.), Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007. Darin finden sich Über blicke zur Lage in den USA und Russland sowie Vergleiche mit dem Judentum, Buddhismus und Islam. 119 Siehe auch Hans G. Kippenberg, Europäische Religionsgeschichte: Schauplatz von Pluralisierung und Modernisierung der Religionen, in: Friedrich W. Graf/Klaus Grosse Kracht (Hg.), Religion und Gesellschaft, Europa im 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2007, S. 45 – 71. 120 Ralph Jessen/Sven Reichardt, Einleitung, in: dies./Ansgar Klein (Hg.), Zivilgesellschaft als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 8.
Die Sammlung der Geister Euckenkreis und Euckenbund 1900 – 1943 M ich a el S ch ä fer
1 D er K reis ,
der
B und
und das
B ürgertum
» Kreise «, so hat der Marbacher Literaturwissenschaftler Ulrich Raulff 2009 in einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung postuliert, seien in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein » Erfolgsmodell «, eine » Marke « gewesen. Raulff hatte gerade das vielbesprochene Buch » Kreis ohne Meister « veröffentlicht, das sich mit dem Wirken und dem intellektuellen Einfluss der Mitglieder des George-Kreises nach dem Tod seines Namensgebers beschäftigt. Der Dichter Stefan George und sein Kreis haben immer wieder das wissenschaftliche Interesse von Historikern und Germanisten geweckt. Der George-Kreis gilt als Prototyp einer Gruppierung mit elitärem Selbstverständnis und gesellschaftskritischem Anspruch, die – weitläufig vernetzt – wesentlichen Einfluss auf kultur-, bildungs-, wissenschafts- und andere gesellschaftspolitische Weichenstellungen ausübte. Ein weiteres typologisches Element des Kreises, das gerade George und seine Anhänger inszenatorisch verdichtet darbieten, ist die Konfiguration des » Meisters «, der seine » Jünger « um sich schart. In dieser suggestiven Imagination schwingen religiöse Obertöne mit, die Raulff als zeittypische » Erwartungs- und Erregungsmuster « kennzeichnet, die in solchen Kreisen ihren Ausdruck fanden.1 1 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. 10. 2009, S. Z6; Vgl. Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009; Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890 – 1933, Köln u. a. 1997; Jürgen Frese, Intellektuellen-Assoziationen, in: Richard Faber/Christine Holste (Hg.),
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Allerdings dürfte der Typus des Kreises elitär gesinnter Intellektueller in weiten Teilen der neueren Geschichtswissenschaft wohl kaum als » Erfolgsmodell « angesehen werden. Solche Phänomene wurden und werden immer noch vornehmlich im Interpretationsrahmen einer der Langzeitdebatten der historischen Bürgertumsforschung behandelt: der Diskussion um die Abwendung des deutschen Bürgertums von liberalen, zivil-bürgerlichen Gesellschaftsentwürfen. Demnach formierte sich im gebildeten Bürgertum, im » Bildungsbürgertum «, seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts ein » kulturkritischer « Diskurs, der im Kern auf eine Ablehnung der modernen Gesellschaft hinauslief. Solche Stimmungslagen werden gängigerweise darauf zurückgeführt, dass das Bildungsbürgertum die heraufziehende Moderne als Bedrohung für seine hergebrachte gesellschaftliche Geltungskraft und kulturelle Meinungsführerschaft wahrnahm, seine » kulturelle Enteignung « fürchtete. Bildungsbürgerliche » Kreise «, die sich womöglich um eine charismatische Führerfigur sammelten, lassen sich in diesem Rahmen als Symptom eines Entbürgerlichungsprozesses deuten, der sich zwischen der Jahrhundertwende und dem Epochenjahr 1933 vollzog.2 Hans Mommen hat diesen Prozess in einem vielzitierten Aufsatz an einem Strukturwandel kultureller Vergesellschaftung des Bürgertums festgemacht. Demnach sei das organisatorische Leitbild des Vereins als öffentliche, demokratisch konstituierte, frei zugängliche, auf spezifische und begrenzte Zwecke gerichtete Assoziation zurückgetreten gegenüber dem Typus des » Bundes «. Charakteristisch für einen » Bund « in diesem Sinne ist seine Abschließung nach außen, das Prinzip der Kooptation, die ritualisierte Einbindung der Mitglieder und ihre gegenseitige emotionale Verbundenheit und ihre persönliche Verpflichtung auf das gemeinsame Anliegen.3 Der argumentative Dreh-, Angel- und Zielpunkt dieses Interpretationsmusters ist letztlich immer der Nationalsozialismus. Die » deutsche Katastrophe « bildet sozusagen das » dicke Ende « der kulturkriti-
Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektellenassoziation, Würzburg 2000, S. 441 – 462; sowie den Beitrag von Knut Martin Stünkel in diesem Band. 2 Vgl. Dieter Langewiesche, Bildungsbürgertum und Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 4: Politischer Einfluss und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 95 – 121, hier: S. 108 – 112; Georg Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880 – 1945, Frankfurt a. M. 1999, S. 15, 128 f, 216; Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln u. a. 2009, S. 171 – 175. 3 Vgl. Hans Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288 – 315, hier: S. 292 – 300.
D ie S ammlung
der
Geister | 111
schen Abwendung des Bürgertums von der Bürgerlichkeit. Gegen die hier postulierte Zwangsläufigkeit betont aber wiederum Ulrich Raulff mit Blick auf den George-Kreis die Ambiguitäten im weiteren Werdegang von dessen Mitgliedern nach dem Tod des Meisters Ende 1933. Es habe » nicht nur Wege in die Knechtschaft und damit in den Geist des Nazitums « gegeben, sondern auch Wege in den » Widerstand oder zum Einsatz für die Unterdrückten «.4 Zum Beleg dafür, dass der Kreis um Stefan George keineswegs ein Unikum war, verweist Raulff im FAZ-Interview von 2009 namentlich auf zwei weitere ähnliche Gruppierungen, nämlich den » Forte-Kreis « und den » Eucken-Kreis «. Mit dem letzteren, dem Kreis um den Philosophen und Literaturnobelpreisträger Rudolf Eucken, beschäftigt sich der folgende Beitrag. Es werden dabei zunächst der » Meister « selbst und seine Lehre vorgestellt, dann der Prozess der Kreisbildung um Rudolf Eucken verfolgt und die organisatorischen Konfigurationen dieses Kreises, sein Programm, seine Ziele und Aktivitäten untersucht. Die Geschichte des Euckenkreises bietet die Gelegenheit, die interpretative Engführung von bildungsbürgerlicher Kulturkritik, der Ablehnung der Moderne, der Abwendung von zivil-bürgerlichen Ordnungsprinzipien und des Weges in den Nationalsozialismus am empirischen Fall zu überdenken. Waren in der Philosophie Rudolf Euckens, in ihrer weltschaulichen Ausformung und programmatischen Umsetzung durch ihn und seine Anhänger Grundüberzeugungen und Deutungsmuster angelegt, die Affinitäten zur nationalsozialistischen Ideologie aufweisen, eine Disposition zur Unterstützung der NS-Bewegung und zur Akzeptanz des Regimes förderten ? Oder finden wir auch hier die von Ulrich Raulff angesprochenen Ambiguitäten ? Legten diejenigen die sich Rudolf Eucken verbunden fühlten, seine Lehre verschieden aus, leiteten sie konträre politische Positionierungen und Handlungsoptionen daraus ab ?
2 D er M eister
und seine
L ehre
Rudolf Euckens akademischer Karriereweg liest sich einigermaßen unspektakulär. Am 5. Januar 1846 als Sohn eines höheren Postbeamten im ostfriesischen Aurich geboren, absolvierte er das humanistische Gymnasium seiner Heimatstadt und studierte von 1863 bis 1866 Philosophie und klassische Philologie in Göttingen. Nach einigen Jahren als Gymnasiallehrer in Berlin, Husum und Frankfurt am Main erhielt er 1871, 25-jährig, den Ruf auf den Philosophielehrstuhl an der Universität Basel. 1874 wechselte Eucken nach Jena, wo er bis zu seiner
4 Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24. 10. 2009, S. Z6
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Emeritierung 1920 ordentlicher Professor für Philosophie blieb. Er starb im Alter von 80 Jahren am 16. September 1926. Heute kennt man Rudolf Eucken allenfalls noch auf Grund eines etwas paradox anmutenden Superlativs: Er gilt als der unbekannteste unter den deutschen Literatur-Nobelpreisträgern. Dass ihm, dem Philosophen, diese Ehre 1908 zuteil wurde, deutet aber an, dass er in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine prominente Figur und ein vielgelesener Autor mit internationalem Prestige gewesen ist.5 Den Status als philosophischer Schriftsteller, der für ein Publikum jenseits der Fachgelehrtheit schrieb, erwarb sich Eucken erst seit den 1890er Jahren. Zuvor hatten sich seine Buchpublikationen auf philosophische Abhandlungen für einen kleinen Kreis von Spezialisten beschränkt. Nachdem sich Eucken in den 1870er Jahren vor allem mit Fragen der philosophischen Terminologie beschäftigt hatte, begann er um 1880 seine Ideen in einem philosophischen Gedankengebäude systematisch zu entwickeln, ein Unterfangen, das wohl nicht zuletzt auch von persönlicher Sinnsuche angetrieben wurde. 1888 präsentierte er den Entwurf einer eigenen Philosophie unter dem Titel Die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit. Dieses ziemlich schwer verdauliche Werk bildet das Fundament, auf dem die späteren Publikationen Euckens ruhen. Der methodische Ansatz seiner begriffsgeschichtlichen Arbeiten ist hier durchaus präsent. In den im Vorab als Einzelbändchen veröffentlichten Prolegomena entwickelt er eine » noologische « Methode, mittels derer die unüberschaubare Masse einzelner Erscheinungen auf einige wenige Grundprobleme und » Wahrheiten « reduziert werden sollen. Es geht ihm darum, Gehalt und Gefüge eines Bestands von Phänomenen aus inneren Zusammenhängen zu verstehen, oder moderner ausgedrückt: systemische Strukturen freizulegen.6
5 Vgl. Uwe Dathe, Rudolf Eucken. Philosophie als strenge Wissenschaft und weltanschauliche Erbauungsliteratur, in: Krzysztof Ruchniewicz/Marek Zybura (Hg.), Die höchste Ehrung, die einem Schriftsteller zuteil werden kann. Deutschsprachige Nobelpreisträger für Literatur, Dresden 2007, S. 37 – 60; Friedrich Wilhelm Graf, Die Positivität des Geistigen. Rudolf Euckens Programm neoidealistischer Universalintegration, in: Gangolf Hübinger u. a. (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 2: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997, S. 53 – 85. 6 Vgl. Uwe Dathe, Begriffsgeschichte und Philosophie. Zur Philosophie Rudolf Euckens, in: Volker Caysa/Klaus-Dieter Eichler (Hg.), Philosophiegeschichte und Hermeneutik, Leipzig 1996, S. 85 – 96; ders., Eucken (wie Anm. 5), S. 46 ff; Rudolf Eucken, Prolegomena und Epilog zu einer Philosophie des Geisteslebens, Berlin/ Leipzig 1922, S. 63 – 66.
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Die Einheit des Geisteslebens dreht sich um die Krise der Moderne bzw. um die Frage, wie sie zu überwinden sei. Ausgangspunkt der Krisendiagnose Euckens ist seine These, dass die moderne Gesellschaft von einer Pluralität sich gegenseitig widerstrebender Lebensordnungen – » Syntagmen « – bestimmt sei. Unter einem Syntagma versteht er ein » in geschichtlicher Wirklichkeit thatkräftig aufsteigendes Gesamtgeschehen «. Ein Syntagma konstituiert eine Ordnung des Daseins, die » Allgenügsamkeit « und Ausschließlichkeit beansprucht. Sie verleiht dem Leben eine sinnhafte innere Einheit und gibt dem Menschen verbindliche Werte und ideale Ziele vor. Bis zum Beginn der Neuzeit war der euro päische Kulturkreis in Euckens Verständnis von zwei, aufeinander folgenden Syntagmen geprägt: die vom griechischen Denken geprägte klassische Antike und das mittelalterliche Christentum. Im Laufe der Neuzeit seien neue Lebensordnungen entstanden, die nun aber nicht mehr Allgemeingültigkeit beanspruchen könnten.7 In der Einheit des Geisteslebens nennt Eucken zwei moderne Lebensordnungen, den » Naturalismus « und den » Intellektualismus «8. In späteren Werken geht er, argumentativ schlüssiger, von fünf mehr oder minder konträren » Lebenssystemen « aus. Da waren einmal die beiden alten Lebensordnungen: • die religiös bestimmte Ordnung, die das Leben an eine übersinnliche Welt binde und es ihrer Herrschaft unterwerfe; • ein » immanenter Idealismus «, der als Grundströmung seit der klassischen Antike wirke, der Moral auf das Wesen des Menschen gründe und Wirklichkeit als ein Reich der Vernunft verstehe. Zu diesen alten Syntagmen traten drei neuere Lebensordnungen: • der » Naturalismus «, der die Welt allein aus sinnlich erfahrbaren Mechanismen und Gesetzen der Natur zu ordnen und zu erklären suche; • die » gesellschaftliche « Lebensordnung, die die Ziele des Lebens ausschließlich in der menschlichen Gemeinschaft finde; • der » Subjektivismus «, der das Individuum und sein Befinden zum Maß aller Dinge erhebe.
7 Vgl. Rudolf Eucken, Die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit, Leipzig 1888, S. 2 – 6; ders., Prolegomena (wie Anm. 6), S. 74 – 80. 8 Vgl. Eucken, Einheit (wie Anm. 7), S. 322 – 329; » Intellektualismus « meint hier die spekulativen Weltentwürfe des 19. Jahrhunderts, vor allem wohl den Hegelianismus.
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Alle diese Lebensanschauungen besäßen zwar einen unverzichtbaren Wahrheitsgehalt; keine von ihnen könne aber das Ganze des modernen Daseins hinreichend erfassen und dem modernen Menschen befriedigende Antworten auf existenzielle Fragen geben. Das gleichzeitige Neben- und Gegeneinander mehrerer Syntagmen sei wiederum schon an sich problematisch und krisenträchtig. Der Mensch könne sich nicht mehr an allgemein gültigen Wertmaßstäben orientieren, die sinnhafte Einheit des Lebens zerfalle.9 Die Hauptstoßrichtung der Kritik Euckens zielt auf die wirkmächtigste der neuen Lebensordnungen, einen » Naturalismus «, der sein Weltverständnis aus den Naturwissenschaften schöpfte. Die Naturwissenschaft führe die Welt der Erfahrung auf kleinste Kräfte zurück und konstruiere aus den Beziehungen zwischen den Einzelelementen den Gesamtmechanismus der Welt. Die Existenz löse sich in lauter Beziehungen auf, alle Werte und jede Moral würden relativ. Alle Ziele und Güter würden hier innerhalb der sinnlich erfahrbaren Welt verortet, alles Geistige auf Mechanismen der Natur zurückgeführt. Eucken hielt dem entgegen, der menschliche Geist lasse sich nicht auf eine Funktion des Naturprozesses reduzieren. Die Festigkeit der natürlichen Ordnung gestatte es dem Menschen vielmehr, sich zum Herren der Natur zu machen, da er » als Geisteswesen « Zusammenhänge überblicken und zugleich » als Naturwesen bewegend in sie eingreifen « könne. Der menschliche Geist nehme einen naturüberlegenen Standpunkt ein. Aus der Natur ließen sich daher keine für den Menschen gültigen Werte, kein » höherer « Sinn menschlichen Daseins ableiten, kein gesellschaftlicher Zusammenhalt begründen. Ethische Werte und Verhaltensnormen wie Recht, Charakter, Pflicht, Nächstenliebe, ja Feindesliebe könne man schwerlich aus natürlichen Interessen und Bedürfnissen, aus Notwendigkeiten der bloßen Existenz ableiten.10 Euckens eigene Philosophie zielt nun auf nichts weniger als die Begründung einer » neuen Lebensordnung «. Sie setzt an am menschlichen Geistesleben, an der Kultur, in der sich der Mensch über die bloß sinnliche Naturexistenz hinausentwickelt hat. Dies sei die höchste Stufe der Wirklichkeit, die uns zugänglich ist. Das Geistesleben weist für Eucken aber über das Bloßmenschliche hinaus – auf eine transzendente, metaphyische Wirklichkeit, auf ein großes kosmisches Ganzes. Eucken war überzeugt, » daß es ein Reich der Wahrheit gibt jenseits des Beliebens der Menschen, daß Wahrheiten gelten nicht wegen unserer Zustimmung, sondern unabhängig davon, in einer allem menschlichen Meinen und Mögen
9 Vgl. Rudolf Eucken, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, 2., völlig umgearbeite Aufl., Leipzig 1913, S. 3 – 43. 10 Zitat: Eucken, Einheit (wie Anm. 7), S. 325; vgl. ders., Prolegomena (wie Anm. 6), S. 10 f.
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überlegenen Sphäre. «11 Der Mensch sei nun aufgerufen, sich diese höhere geistige Wirklichkeit zu erarbeiten, sie sich anzueignen und das eigene Handeln an ihren ethischen Werten und Imperativen ausrichten, sie zu verinnerlichen. Eucken beschreibt dieses Bildungs- und Aneignungsprozess in empathischer Diktion als » Kampf «, als aktiven Vorgang, in dem sich der Einzelne mit seiner ganzen Person einbringen müsse, als » Arbeit « an einem » Lebenswerk «. Gelinge es dem Einzelnen in diesem Ringen einen » geistigen Lebensinhalt « zu gewinnen und sein Leben daran auszurichten, so werde sein Handeln zur » Volltat « (im Unterschied zur bloßen Kraftentfaltung); es erschließe sich ihm eine » Tatwelt «.12 Eucken entwirft hier die Konturen und Prinzipien einer künftigen Ordnung, die auf ein Leben » weltüberlegener Innerlichkeit « ausgerichtet sei, in dem sich jede einzelne Betätigung im Ganzen begründe und vom Ganzen her verstehe. Doch setzten sich neue Syntagmen, da war sich Rudolf Eucken sicher, nicht ohne menschliches Zutun, nicht ohne erbittertes Ringen durch. Eine entscheidende Rolle komme dabei einzelnen großen Geistern zu, Männern wie Jesus von Nazareth oder Martin Luther, die » den Gesamtumfang zu einer wesenhaften und charaktervollen Einheit … erheben, die alles Besondere ergreift und von Grund aus umwandelt «.13 Euckens » Helden des Lebenswerks « deuten auch den Stellenwert an, den er der Religion in seiner Vision einer künftigen Lebensordnung einräumt. Die Religion, insbesondere das Christentum, erschließe dem Menschen die metaphyische, übermenschliche Qualität des Geisteslebens, sie eröffne ihm » zeitüberlegene « Wahrheiten und fordere ihn auf, sein Leben im Sinne dieser Wahrheit neu zu gestalten. Allerdings verknüpft Eucken diese Hochschätzung des Christentums mit einer Kritik der zeitgenössischen Kirchen, ihres Beharrens auf überlebten Traditionen, sinnlich-magischen Formen und der dogmatischen Starre fixierter Glaubensbekenntnisse. Nur ein erneuertes, überkonfessionelles, » reingeistiges « Christentum auf der Höhe des menschlichen Geisteslebens der Jetztzeit, könne auch in der Moderne wieder eine » Lebensmacht « werden.14
11 Rudolf Eucken, Die Lebensanschauungen der großen Denker. Eine Entwicklungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart, 6. Aufl. Leipzig 1905, S. 25. 12 Vgl. etwa Eucken, Einheit (wie Anm. 7), S. 375 f, 380 f, 390 – 395; ders., Der Kampf um einen geistigen Lebensinhalt. Neue Grundlegung einer Weltanschauung, 5. Aufl., Berlin/Leipzig 1925, S. 41 – 45. 13 Eucken, Einheit (wie Anm. 7), S. 470. 14 Vgl. Rudolf Eucken, Der Wahrheitsgehalt der Religion, Leipzig 1901, S. 420, 427 ff; ders., Grundlinien (wie Anm. 9), S. 134 f.
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» Wir arbeiten und arbeiten, und wissen nicht wofür «, so umreißt Rudolf Eucken das Sinndefizit einer wissenschaftlich » entzauberten « modernen Welt, der alle absoluten Werte und unhinterfragten Glaubensgewissheiten abhanden gekommen zu sein schienen.15 Demgegenüber versucht er die Gewissheit zu vermitteln, dass die Welt als ein großes sinnhaft geordnetes Ganzes zu verstehen sei und dass der Mensch Zugang dazu finden und Anteil daran nehmen könne. Ihre Attraktivität bezog die Philosophie Rudolf Euckens wohl nicht zuletzt daraus, dass sie an hochgeschätzte Traditionsbestände des gebildeten Bürgertums anknüpfte. Die aktive Auseinandersetzung mit höheren Kulturgütern (Philosophie, Literatur, Kunst), um Zugang zu einem zeit- und weltüberlegenen Geistesleben zu erlangen, die schöpferische Arbeit an einem Lebenwerk und an der eigenen Persönlichkeit, sich Ideale zu setzen und sein Leben nach diesen Idealen zu gestalten, – das waren altvertraute Denkfiguren, die in der humanistischen Bildungstradition gründeten. Eucken sprach zudem das religiöse Sentiment seiner Leser und Zuhörer an, umgab dies aber mit der Aura wissenschaftlicher Rationalität. Eine komplexe philosophische Argumentationsführung, der Verweis auf eine empirisch-wissenschaftliche Methodik unterstreichen den Anspruch, Wirklichkeit abzubilden, objektive » Wahrheiten « zu erfassen. Dies mochte auch einem kirchenskeptischen Bildungsbürger erlauben, auf die Frage » Können wir noch Christen sein ? « mit einem empathischen » Ja ! « zu antworten. Mit Schlüsselbegriffen wie » Leben «, » Tat «, » Kampf «, » Ganzheitlichkeit «, » Charakter «, » Innerlichkeit « usw. dockte Rudolf Euckens lebensphilosophisch angehauchter Neoidealismus andererseits an aktuelle Diskurs-Knotenpunkte der Jahrhundertwende an. Dabei meint » Lebensphilosophie « hier primär eine Philosophie, die sich auf die Lebenswirklichkeit des Menschen bezieht, die für seine Lebensgestaltung bedeutsam ist. Keineswegs steht » Leben « für das Recht des Stärkeren, sich eigene Werte zu setzen. Eucken argumentiert dezidiert anti-biologistisch. » Leben « ist bei ihm immer mit » Geist « verkoppelt. Der Mensch erhebt sich mit der Entwicklung eines naturüberlegenen » Geisteslebens « über sein biologisches Dasein. Die Eröffnung einer » Tatwelt « verspricht ihm die Befreiung von den natürlich-biologischen Determinanten des » bloßen « Menschseins. Mit seinem Syntagmen-Konzept entwirft Eucken zwar ein ausgeprägt holistisches Szenario, doch erscheint der daraus abgeleitete Gesellschaftsentwurf keinesfalls totalitär. » Überwunden sind … die Zeiten «, so schreibt er in der Einheit des Geisteslebens, » wo das Individuum als bloßes Glied einer Organisation galt und seine ganze Vernunft von dort empfangen sollte. « Die geistige Freiheit des
15 Eucken, Wahrheitsgehalt (wie Anm. 14), S. 83.
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Einzelnen ist für ihn die unabdingbare Voraussetzung für alle menschliche Höherentwicklung. Der Staat habe sich der » Gesammtheit der Geisteswelt « unterzuordnen und in seinem Handeln » die Überlegenheit jener Welt [zu] achten. «16 Auch der Religion billigt Eucken bei aller Wertschätzung nicht das Recht zu, sich den Bereich der Kultur zu unterwerfen. Staat, Wissenschaft, Kunst, Reli gion werden als unterschiedliche Sphären mit spezifischen Aufgabenstellungen und jeweils eigenem Wahrheits- und Geltungsanspruch verstanden. Man kann Euckens Lehre durchaus als elitär charakterisieren, doch » anti-modern « erscheint sie allenfalls, wenn man ein ziemlich enges Konzept der Moderne unterlegt. Am ehesten kommt eine Ablehnung der Moderne im » Holismus « des Syntagmenkonstruktes zum Ausdruck, wo die Pluralität und Relativität der Werte problematisiert, Eindeutigkeit und Verbindlichkeit eingefordert und die Sinnhaftigkeit des Daseins im Transzendenten und Religiösen verankert werden. Doch damit befände sich Rudolf Eucken auch heute noch mitten im Mainstream konservativen Denkens.
3 D er G eistersammler Rudolf Euckens Philosophie besaß insofern aktivistisches Potenzial, als sie eine tiefgreifende Krise der Gegenwartsgesellschaft diagnostizierte und zur Arbeit an der Überwindung dieser Krise aufforderte. Der Jenaer Philosoph selbst suchte seit den 1890er Jahren, seiner Lehre eine breitere gesellschaftliche Resonanz zu verschaffen. Seine Veröffentlichungen richteten sich zunehmend an ein breiteres, gebildetes Laienpublikum. Seine universitäre Lehrtätigkeit eröffnete Eucken die Chance, auf das weltanschauliche Grundgerüst von künftigen » Multiplikatoren « im Bildungsbereich prägenden Einfluss zu nehmen. Unter seinen Jenaer Schülern waren eine ganze Reihe künftiger Lehrstuhlinhaber: Max Scheler, Eberhard Grisebach, Julius Goldstein, der Pädagoge Hermann Leser u. a. Sie gehörten zu einem Kreis von Schülern, die der Philosophie Euckens und seiner » noologischen « Methode zumindest zeitweise nahestanden und sie in ihren Arbeiten vertraten und anwandten.17 Wesentlich größere Breitenwirkung dürfte aber Rudolf
16 Eucken, Einheit (wie Anm. 7), S. 487 f. 17 Vgl. Otto Siebert, Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel. Ein Handbuch zur Einführung in das philosophische Studium der neuesten Zeit, 2. Aufl., Göttingen 1905, S. 491 ff; Wolfhart Henckmann, Die Anfänge von Schelers Philosophie in Jena, in: Christian Bermes (Hg.), Denken des Ursprungs – Ursprung des Denkens. Sche-
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Euckens Lehre über diejenigen seiner zahlreichen Schüler entfaltet haben, die nach ihrem Hochschulabschluss eine Laufbahn im Schul- und Kirchendienst einschlugen. In der nachgelassenen Korrespondenz des Jenaer Ordinarius finden sich zahlreiche Briefe von Oberlehrern und protestanischen Pfarrern, die ihre obligatorischen philosophischen Vorlesungen und Prüfungen bei ihm absolviert hatten. Sie geben Zeugnis davon, dass der persönliche Kontakt zwischen dem Hochschullehrer Eucken und vielen ehemaligen Schülern auch nach Jahrzehnten nicht abgebrochen war. Seit den späten 1880er Jahren beteiligte sich Rudolf Eucken zudem an den universitären Weiterbildungskursen für Lehrer, die der Pädagoge Wilhelm Rein initiiert hatte. Diese Kurse standen nicht allein den akademisch gebildeten Oberschul-, sondern auch Volksschullehrern offen. Auch hier fand Eucken regelmäßig Gelegenheit, seine Weltanschauung an Personen an den Schaltstellen der gesellschaftlichen Wissensvermittlung weiterzugeben.18 Mit dem zunehmenden Erfolg seiner Bücher wuchs auch der Kreis von Anhängern, Verehrern und Lesern, die mit dem Philosophen in Kontakt treten wollten. Eucken, selbst ein eifriger Briefeschreiber, ließ es sich nicht nehmen, auf Briefe und Postkarten persönlich zu antworten. Mitunter entwickelten sich längere Korrespondenzen mit den zunächst sichtlich überraschten Empfängern der Antwortbriefe Euckens. Das » Charisma « Rudolf Euckens speiste sich wohl nicht zuletzt aus einer väterlich-besorgten Freundlichkeit, die nicht wenige seiner Briefpartner dazu animierte, ihm ihr Herz auszuschütten.19 Seit der Jahrhundertwende erschienen zudem vermehrt Bücher und Aufsätze über Euckens Philosophie und Weltanschauung. Es gab nun Versuche, vor allem von Pädagogen und Theologen, Euckens System auf den eigenen Bereich anzuwenden. Es formierte sich eine pädagogische Schule, die sich auf seine Lehre berief, die » noologi-
lers Philosophie und ihre Anfänge in Jena, Würzburg 1998, S. 11 – 33; Helmut Holzhey/Wolfgang Röd, Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts 2: Neukantianismus, Idealismus, Realismus, Phänomenologie, München 2004, S. 236. 18 Vgl. Leonhard Friedrich, Wilhelm Reins Position innerhalb der Jenaer Universitätspädagogik, in: Rotraud Coriand/Michael Winkler (Hg.), Der Herbartianismus – Die vergessene Wissenschaftsgeschichte, Weinheim 1998, S. 243 – 260, hier: S. 255 f; Matthias Steinbach, Ökonomisten, Philanthropen, Humanitäre. Professorensozialismus in der akademischen Provinz, Berlin 2008, S. 270 f; Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen Lebens, 2. Aufl. Leipzig 1922, S. 80. 19 Vgl. etwa den Briefwechsel Euckens mit Raphaela Baar zwischen 1909 und 1917, Thüringische Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) Jena, Nachlass Rudolf Eucken (NLRE) I/1: Bl. B1 – B31.
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sche «, » humanistische « oder » Persönlichkeits-Pädagogik «, mit deren Vertretern Eucken in mehr oder minder intensivem Austausch stand.20 Die Zuerkennung des Nobelpreises für Literatur Ende 1908 gab Euckens Bemühungen zur Verbreitung seiner Weltanschauung neuen Antrieb. Rudolf Eucken war wohl nicht unbedingt » heißer Kandidat « für eine solche Auszeichnung gewesen. Er verdankte den Preis letztlich vor allem einem Bewunderer und Brieffreund, der im Nobelpreiskomitee saß, dem Göteborger Philosophieprofessor Vitalis Norström. Der Nobelpreis machte Eucken zu einem prominenten Intellektuellen mit internationalem Renomée. Seine Werke wurden nun in größerem Ausmaß in fremde Sprachen übersetzt. Er konnte sich vor Einladungen zu Vorträgen, zur Übernahme von Ehrenämtern usw. kaum retten. Eucken selbst versuchte, seine plötzliche internationale Prominenz zu nutzen, um seinen Anschauungen weltweite Resonanz und Geltungskraft zu verschaffen. Mittlerweile schon Mitte 60, begab er sich auf Vortragsreisen ins europäische Ausland, trat auf internationalen Kongressen auf und war 1912/13 für ein halbes Jahr als Gastprofessor in Harvard und New York.21 Im letzten Vorkriegsjahr lässt sich schließlich ein erster konkreter Versuch Euckens belegen, seine weltanschaulichen Positionen programmatisch auszuformulieren und auf dieser Grundlage eine Bewegung zu initiieren. Im Herbst 1913 veröffentlichte er einen schmalen, aufwändig gestalteten Band mit dem Titel Zur Sammlung der Geister. Inhaltlich brachte diese Schrift nicht viel Neues. Neu war allerdings, dass Rudolf Eucken hier seine sonst als universell behandelten Zeitdiagnosen auf deutsche Befindlichkeiten fokussierte. Er beginnt mit einer kritischen Bestandsaufnahme der deutschen Gegenwart, sieht » viel Zweifel und Unsicherheit «. Die » vor hundert Jahren erreichte Höhe « habe man nicht wahren können; » eine gemeinsame geistige Atmosphäre «, die » die Individuen bei aller Mannigfaltigkeit umfing und zusammenhielt « sei verloren gegangen. Zwar stehe die » Arbeitskultur « in hoher Blüte, doch könne dies nicht recht befriedigen. Das Leben fasse sich » uns nicht zu einer Einheit, wir vermögen ihm nicht einen beherrschenden Mittelpunkt zu geben, wir erlangen kein inneres Gleichgewicht und
20 Vgl. etwa Gerhard Budde, Noologische Pädagogik. Entwurf einer Persönlichkeitspädagogik auf der Grundlage der Philosophie Rudolf Euckens, Langensalza 1914; allgemein zu der von Eucken inspirierten Pädogik: Oskar Vogelhuber, Geschichte der neueren Pädagogik in Leitlinien, Nürnberg 1926, S. 297 f, S. 315 – 318. 21 Vgl. Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013, S. 80 – 91; Dathe, Eucken (wie Anm. 5), S. 55; Barbara Beßlich, Wege in den » Kulturkrieg «. Zivilisationskritik in Deutschland 1890 – 1914, Darmstadt 2000, S. 80 – 84.
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keinen widerspruchsfreien Lebenstypus «. Nun seien dies, so führt Eucken seinen Gedankengang weiter, » Probleme und Verwicklungen, an denen heute alle Völker zu tragen haben «. Doch habe » der Deutsche « an ihnen besonders zu tragen und leide unter ihnen besonders – eben weil diese Zustände dem » deutschen Wesen « so stark widerstrebten.22 Es folgt nun in epischer Breite ein Hohelied auf » das Deutsche « und » den Deutschen «. All das, was Eucken in seinen früheren Schriften zu den Prinzipien einer neuen Lebensordnung zählt, erscheint hier in der » deutschen Art « bereits aufs Trefflichste angelegt. » Wir « neigten von jeher dazu, » unser Streben und Handeln unter Ideen und Prinzipien zu stellen und in alles Schaffen … eine Gesamtüberzeugung hineinzulegen. « Dem » deutschen Wesen « wohne das » Verlangen einer reinen Innenkultur und Ausbildung einer unsichtbaren Welt « inne. Um ein wahrhaftiges Leben zu erreichen, » bricht der Deutsche mit der nächsten Welt, stellt sich auf seine Innerlichkeit und findet hier einen Zusammenhang mit letzten Tiefen des Alls « usw. usf. Die Quintessenz seiner Ausführungen fasst Rudolf Eucken in der These zusammen, die » deutsche Art « sei » besonders geeignet, eine Erfüllung der Forderungen anzubahnen, welche die geistige Lage der Gegenwart uns immer eindringlicher vorhält «. Namentlich gelte es, das » bloße Kraftideal « zu überwinden und den Menschen » vor völligem Nichtigwerden « zu retten. Am Ende seines furiosen Essays steht ein eher vage formulierter Appell zu einem festeren Zusammenschluss » zu gemeinsamem Streben, einer Sammlung der Geister «.23 Von der Überführung seiner Lehre in ein nationalistisches Narrativ versprach sich Eucken möglicherweise einen Mobilisierungseffekt für seine Sammlungspläne. Tatsächlich rief das Bändchen bald mehrere, augenscheinlich spontane Initiativen zur » Geistersammlung « hervor. Schließlich nahm der Eucken-Schüler Julius Goldstein, nun Privatdozent in Darmstadt, die Sache federführend in die Hand. In Abstimmung mit Eucken lud Goldstein im März 1914 einen ausgewählten Kreis von etwa 80 Personen zu einer Besprechung nach Darmstadt ein. Auf der Tagung wurde die Bildung von Ortsgruppen diskutiert, dann aber schließlich vorerst nur die Gründung einer Zeitschrift ins Auge gefasst. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wenige Monate später wurde auch dieses Vorhaben erst einmal auf Eis gelegt.24
22 Rudolf Eucken, Zur Sammlung der Geister, Leipzig 1913, S. 4 f, 17, 24. 23 Ebd., S. 25, 33, 68, 87, 124. 24 Vgl. Eucken, Lebenserinnerungen (wie Anm. 18), S. 93; ThULB NLRE I/9, Bl. G235 f: Margarete Goldstein an Rudolf Eucken, 20. 3. 1914; ebd. Bl. G248-G257: Ju-
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Rudolf Eucken gehörte während des Krieges zu den prominentesten Protagonisten eines » Kulturkrieg- «Diskurses. Er bediente sich dabei zahlreicher Denkfiguren, die er bereits in der Schrift Zur Sammlung der Geister formuliert hatte. Weite Verbreitung fand vor allem die Ende 1915 in einer Auflage von 30 000 Exemplaren im Ullstein-Verlag erschienene Schrift Die Träger des deutschen Idealismus. Eucken spannt hier den Bogen von Meister Eckart über Luther zu Kant, Fichte und Hegel, fasst ihre Lehren zu einer spezifisch deutschen Art philosophischer Welterkenntnis zusammen und setzt sie in den Gegensatz zu » angelsächsischen « und » romanischen « Denktraditionen. In diesem » deutschen Idealismus « verortet er schließlich auch die eigene Weltanschauung – eine insofern bemerkenswerte Wendung, als Eucken bis dahin seine philosophische Position nicht zuletzt in der Kritik an Kant und dem Neukantianismus profiliert hatte und von jeher ein ausgewiesener Anti-Hegelianer gewesen war.25 Diese Konstruktion eines » deutschen Idealismus « und dessen ziemlich umstandslose Verschmelzung mit den eigenen Lehren bilden den Bezugsrahmen für Rudolf Euckens Deutung des Krieges. Der Drang, die Welt als ein sinnhaftes großes Ganzes zu ordnen, die » Aufgaben unserer Zeit in dem großen Zusammenhange einer Weltüberzeugung [zu] sehen «, erwies sich augenscheinlich für den Jenaer Philosophen als unwiderstehlich. Der » Kampf für das Vaterland « erschien Eucken » zugleich als ein Kampf für die idealen Güter der Menschheit, für eine Aufrechterhaltung einer höheren Welt in unserem Bereich; Kämpfende sowohl als Leidende erscheinen dann als Mehrer des Reiches des Geistes. « Mehr noch, im Krieg standen für Eucken Entwürfe von Lebensordnungen gegeneinander. Deutschland kämpfte nun für Prinzipien, die der ganzen Menschheit zum Wohl gereichten, die ihr den Weg aus der Krise der Moderne wiesen.26 Der Philosoph, der Anfang 1916 bereits das 70. Lebensjahr überschritten hatte, begab sich auf strapaziöse Vortragsreisen und nahm in zahlreichen Zeitungsund Zeitschriftenartikeln zum Krieg und seiner Bedeutung Stellung. Er versuchte zudem, seine zahlreichen Kontakte ins neutrale Ausland nutzbar zu machen, um die deutsche Sache und seine Sicht der Dinge zu vertreten. Nachdem Rudolf Eucken das Kriegsgeschehen mit hochbedeutsamen » Menschheitsfragen « verbunden, ja die Erfüllung des eigenen » Lebenwerks « an den Ausgang des Krieges
lius Goldstein an Rudolf Eucken, 30. 12. 1913, 15. 2., 7. 3. und 21. 3. 1914; ebd. I/14, Bl. K347: Albert Klein an Rudolf Eucken, 17. 2. 1914. 25 Vgl. Eucken, Lebenserinnerungen (wie Anm. 18), S, 99 ff; Beßlich, Kulturkrieg (wie Anm. 21), S. 98 – 106; Dathe, Eucken (wie Anm. 5), S. 56 f; Sieg, Geist (wie Anm. 21), S. 117 – 121. 26 Zitat: Rudolf Eucken, Die Träger des deutschen Idealismus, Berlin 1915, S. 247.
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gekoppelt hatte, konnte die propagandistische Ausrichtung seines Engagements kaum zweifelhaft sein: Es ging darum, die » Kriegsmoral « der Deutschen aufrecht zu erhalten, ihnen die immense Wichtigkeit des Durchhaltens bis zu einem » Siegfrieden « vor Augen zu führen. Eine solche Haltung war im späteren Verlauf des Krieges beinahe zwangsläufig mit einer eindeutigen innenpolitischen Positionierung verbunden. 1917/18 übernahm Eucken den Vorsitz der neu gegründeten Jenaer » Vaterlandspartei « und kündigte seine Mitarbeit an Publikationen auf, die, wie etwa Paul Rohrbachs » Deutsche Politik «, einen Verständigungsfrieden anstrebten.27 Die Zuspitzung der innenpolitischen Konfrontation brachte Rudolf Eucken möglicherweise auch dazu, die » Sammlung der Geister « im letzten Kriegsjahr wieder aufzugreifen. Das Ergebnis war die Gründung einer » Luthergesellschaft «, deren Vorsitz Eucken im Oktober 1918 übernahm. Die organisatorische Vorbereitung war zwar im Vorfeld dieser Gründungsversammlung von einem ähnlichen Personenkreis ausgegangen wie die Inititiative des Frühjahrs 1914. Die Namensgebung verweist aber darauf, dass Eucken an eine möglichst breit aufgestellte Bewegung dachte, die über den Kreis derer hinaus gehen sollte, die zu seiner Person und seiner Lehre eine engere Beziehung hatten. Die Namensgebung war es aber auch, die bald eine » Scheidung der Geister « einleitete.28 Für Eucken war Luther eine der großen Leitfiguren des deutschen Idealismus. Doch stieß er offensichtlich mit diesem eigensinnigen Luther-Bild auf weitgehendes Unverständnis, galt doch der Name des Reformators in der öffentlichen Wahrnehmung weithin als Chiffre für einen orthodox-konservativen Protestantismus. Als nun die Luthergesellschaft in den Monaten nach Kriegsende einen organisatorischen Unterbau entwickelte, zeigte sich, dass deren Namensgebung gerade diejenigen Leute abschreckte, die Euckens Vision eines undogmatischen, überkonfessionellen Christentums nahe standen. So gelang es etwa in Chemnitz einem Vertrauensmann Euckens, dem Lehrer Otto Günther, getreulich den Anweisungen aus Jena Anfang 1919 eine Gruppe von Gleichgesinnten um sich zu
27 Vgl. Uwe Dathe, Der Philosoph bestreitet den Krieg. Rudolf Euckens politische Publizistik während des Ersten Weltkrieges, in: Herbert Gottwald/Matthias Steinbach (Hg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur Jenaer Universität im 20. Jahrhundert, Jena 2000, S. 47 – 66; Sieg, Geist (wie Anm. 21), S. 146; ThULB NLRE I/6, Bl. D186: Theodor Heuss an Rudolf Eucken, 12. 2. 1918. 28 Vgl. Hans Düfel, Voraussetzungen, Gründung und Anfang der Luther-Gesellschaft. Lutherrezeption zwischen Aufklärung und Idealismus, in: Lutherjahrbuch 60, 1993, 72 – 117, hier: S. 93 – 96; Graf, Positivität, S. 83; ThULB NLRE I/29, Bl. 150: Rudolf Eucken an Luthergesellschaft, 24. 1. 1926.
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scharen. Doch wollte kaum jemand von ihnen der örtlichen Luthergesellschaft beitreten. Statt dessen konzentrierten sie sich auf das gemeinsame Studium der Schriften Euckens und schon bald firmierten sie als » Euckengesellschaft «. Schließlich überstimmte der Kreis den Meister und Rudolf Eucken willigte im Sommer 1919 ein, der neu ins Leben gerufenen Bewegung seinen eigenen Namen zu geben und sich von der Luthergesellschaft zurückzuziehen. Nachdem diese Entscheidung getroffen war, betraute Eucken den erwähnten Chemnitzer Aktivisten Günther mit der Aufgabe, Kontakt mit Mitgliedern des Kreises aufzunehmen und die Gründung eines Euckenbundes organisatorisch in die Wege zu leiten.29
4 E uckenbund
und
E uckenkreis
Umreißt man den Kreis derer, die sich nach 1919 besonders aktiv im Euckenbund betätigten, so fällt zunächst einmal die große Beteiligung von Pädagogen auf. Zu den eifrigsten Aktivisten zählten etwa Gerhard Budde, ein Oberlehrer mit Lehrauftrag an der TH Hannover, der 1914 eine auf Euckens Lehren gründende » Noologische Pädagogik « veröffentlicht hatte. Der zeitweilige Vorsitzende Kurt Hacker war Studienrat an einer Oberrealschule in Berlin-Lichterfelde. Der Alt-Philologe Benno von Hagen hatte bei Eucken studiert und war Lehrer am Jenaer Gymnasium Carolo-Alexandrinum geworden. Bruno Jordan, ebenfalls ein Eucken-Schüler, war Gymnasiallehrer in Bremen, der bereits genannte Otto Günther ein Volksschullehrer. Hans Freymark war Inhaber und Leiter einer höheren Privatschule in Düsseldorf, die er 1922 in » Rudolf-Eucken-Schule « umbenannte. Ebenfalls recht zahlreich unter den Aktivisten des Euckenbundes waren die Theologen vertreten. Dazu gehörten etwa Hans Pöhlmann als Vorsitzender der Nürnberger Euckenbund-Ortsgruppe und der spätere thüringische Generalsuperintendent Paul Kalweit, die beide um 1900 in ihren Jenaer Dissertationen die Lehre Euckens religionsphilosophisch nutzbar gemacht hatten. Die Euckenbünde in Breslau, Naumburg und Magdeburg wurden zumindest zeitweilig von evangelischen Pastoren geführt. Auch Juristen im Staatsdienst finden sich unter den Euckenianern. Der Landgerichtsrat Gustav Ziegler hatte sich vor 1914 in der katholischen » Modernisten «-Bewegung engagiert und entfaltete nach 1918 eine rührige Aktivität für den Euckenbund in Kempten im Allgäu. Der erste Vorsitzende des Münchener Euckenbundes war der Oberlandesgerichtsrat Theodor von der
29 Vgl. die Briefe Otto Günthers an Rudolf, Irene und Ida Eucken 13. 12. 1918 – 4. 10. 1919 (ThULB NLRE I/10, Bl. G522 – G530a; ebd. V/2, Bl. 515a – 536; ebd. V/13a, Bl. 5a; sowie ebd. VI/5, o. Bl.: Gustav Meyer-Lingen an Gerhard Budde, 21. 7. 1919.
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Pfordten. Der höhere Postbeamte Rudolf Voß rief zunächst in Kiel eine Ortsgruppe des Bundes ins Leben und organisierte nach seiner Versetzung auch in Halle an der Saale eine ebensolche.30 Rudolf Euckens eigene Peer Group, die Universitätsprofessoren, waren dagegen kaum im Bund aktiv. Selbst Euckens nächste akademische Schüler blieben der neuen Organisation fern. Otto Braun, lange Zeit eine Art Lieblingsschüler Euckens, hatte auf die Anfragen Günthers im Vorfeld der Euckenbund-Gründung ausweichend reagiert. Er war zum überzeugten Pazifisten geworden und überwarf sich bald darauf wegen dieser Haltung mit seinem Lehrer. Mit Eberhard Grise bach kam es Anfang 1919 zum Zerwürfnis, als dieser einen Vortrag bei einer sozialdemokratischen Jugendweihe-Feier in Erfurt gehalten hatte. Julius Goldstein, der noch 1914 die » Sammlung der Geister « organisiert hatte, war offenbar von Euckens Ehefrau Irene von der Liste seiner getreuen Anhänger gestrichen worden.31 Rudolf Eucken mochte wohl nicht einer Organisation vorstehen, die seinen Namen trug. Der Philosoph, mittlerweile Mitte 70 und seit 1920 emeritiert, nahm auch faktisch am Tagesgeschäft des Bundes kaum teil. Er hielt die Festreden auf den Jahrestagungen, ließ sich zu dem ein oder anderen Vortrag in Veranstaltungen der Ortsgruppen des Bundes herbei und fungierte ggf. als Schiedsrichter bei Meinungsverschiedenheiten. Den Vorsitz des Euckenbundes übernahm zunächst ein Jenaer Zeitungsverleger, der 1922 von Curt Hacker abgelöst wurde, dem wiederum 1928 Benno von Hagen folgte. Diese nominellen Vorsitzenden verfügten innerhalb der Organisation offensichtlich über wenig persönliche Autorität. Eine faktische Schlüsselposition im Euckenbund nahm jedoch die nominelle 2. Vorsitzende, Irene Eucken, ein. 17 Jahre jünger als der Philosoph, hatte sie schon in der
30 Die Angaben entstammen der Personendatensammlung, die im Rahmen des laufenden DFG-Projektes zum Euckenkreis an der TU Dresden angelegt worden ist.
31 Vgl. die Liste » Gesinnungsgenossen « in: ThULB Jena, NLRE VI/12, Mappe 10.1; ebd. V/2, Bl. 528: Otto Günther an Irene Eucken, 1. 9. 1919; ebd. I/3, B734: Otto Braun an Rudolf Eucken, undatiert [um 1920]; zu Grisebach: Hans-Joachim Dahms, Jenaer Philosophen in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Folgezeit bis 1950, in: Uwe Hoßfeld u. a. (Hg.), » Kämpferische Wissenschaft «. Stu dien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln u. a. 2003, S. 723 – 771, hier: S. 733 f; Matthias Steinbach, » … durch jahrelange Versumpfung jeglichen Halt verloren … « Jenaer Privatdozenten zwischen Unabhängigkeit und Lebensnot, in: ders./ Stefan Gerber (Hg.), » Klassische Universität « und » akademische Provinz «. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, Jena/Quedlinburg 2005, S. 192 – 214, hier: S. 206 f.
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Vorkriegszeit aktiv Anteil am öffentlichen Auftreten ihres Mannes genommen, begleitete ihn auf Reisen ins Ausland und betätigte sich als seine » Impressaria «.32 Bei ihr liefen organisatorisch die Fäden des Bundes zusammen, befand sich doch die Geschäftsstelle des Bundes in der geräumigen Villa der Euckens.33 Mit seinen zwischen 2 500 und 4 000 Mitgliedern und 20 bis 25 Ortgruppen war der Euckenbund als Ganzes nicht unbedingt eine auf enger persönlicher Bindung und Verpflichtung gründende Gemeinschaft. Formal war er als eingetragener Verein mit gewähltem Vorstand und beitragszahlenden Mitgliedern organisiert. Die neuen Mitglieder mussten sich mündlich oder schriftlich auf eine Liste » ethischer Richtlinien « verpflichten, doch scheint dies eher eine Formalie gewesen zu sein. Insgesamt war der Euckenbund eine überwiegend bildungsbürgerliche Veranstaltung, wobei der » gebildete Mittelstand « vorherrschte: Volksschulund Oberlehrer, Pfarrer, akademische Verwaltungs- und Justizbeamte auf eher mittlerer Hierarchieebene, wie auch zahlreiche berufstätige wie nicht-berufstätige Frauen aus ähnlichen Kreisen.34 Die Gründung des Euckenbundes 1919/20 stand stark unter dem Eindruck von Kriegsniederlage und Revolution. Die Wahrnehmung und Deutung dieser Zäsur prägte letztlich in entscheidender Weise die programmatische Umsetzung der Lehre Rudolf Euckens durch den Bund und dessen Positionierung in der politischen Landschaft der Weimarer Republik. Eucken hatte in den Jahren zuvor seine Philosophie an einem nationalistischen Narrativ ausgerichtet, sie rhetorisch mit einem » deutschen Idealismus « verschmolzen und das Kriegsgeschehen in die Sphäre des Geisteslebens als Ringen um das spirituelle Wohl der Menschheit transponiert. Nun erfuhren der Philosoph und seine Anhänger die deutsche Nie-
32 So der Jenaer Historiker Alexander Cartellieri in seinem Tagebuch 19. 9. 1926, in: Matthias Steinbach/Uwe Dathe (Hg.), Alexander Cartellieri. Tagebücher eines deutschen Historikers, München 2014, S. 556. 33 Aufschlussreich für das Kräfteverhältnis zwischen dem nominellen Vorsitzenden Hacker und Irene Eucken: ThULB NLRE VI/3, o. Bl.: Sekretariat Euckenbund an Curt Hacker, Berlin, 22. 11. 1924; ebd.: Curt Hacker, Berlin, an Irene Eucken, 8. 8. 1925; vgl. auch Brunhild Neuland, Irene Eucken: Vom Salon zum Eucken-Haus, in: Gisela Horn (Hg.), Entwurf und Wirklichkeit. Frauen in Jena 1900 bis 1933, Rudolstadt/Jena 2001, S. 219 – 233. 34 Vgl. Uwe Dathe, Der Nachlass Rudolf Euckens. Eine Bestandsübersicht, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 9, 2002, S. 268 – 301, hier S. 295 f; ThULB NLRE VI/6, o. Bl.: Sekretariat Euckenbund an H. T. Schorn, London, 17. 5. 1924; ebd. VI/12, Mappe 9, o. Bl.: Vordrucke mit den » Ethischen Richtlinien « des Euckenbun-
des.
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derlage und die Revolution als kollektives moralisches Scheitern: Die Deutschen hatten nicht ausgehalten, waren der eigenen Führung in den Rücken gefallen und hatten in der Folge einen Frieden zu schmählichen Bedingungen akzeptiert.35 Die Deutung der Ereignisse vom Herbst 1918 bestimmte in weitgehender Weise die programmatische Ausrichtung des Euckenbundes. Vor einem Wiederaufstieg der Nation stand die Lösung der geistig-moralischen Krise. Der Euckenbund präsentierte seinen Namensgeber als » kraftvollen Seelenführer «, der einen Weg zur » moralischen Wiedergeburt des deutschen Volkes « und zur Gesundung der kranken Volksseele wies.36 Über die Durchführung dieser Agenda gingen die Vorstellungen und Meinungen im Bund offenbar stark auseinander. Einige der Ortsgruppen bildeten Arbeitsgemeinschaften, die sich mit der praktischen Umsetzung der Euckenschen Lehre in die Tat befassen sollten. Manche der lokalen Euckenbünde waren eher Lese- und Diskutierzirkel, die sich mit den Werken des Meisters beschäftigten. Andere traten mit regelmäßigen Vortragsveranstaltungen an die Öffentlichkeit. Ein Teil der Ortsgruppen schlief bald nach der Gründung wieder ein oder entfaltete nur eine sehr sporadische Aktivität. Im allgemeinen lag der Schwerpunkt der Aktivitäten auf der Verbreitung der Lehre und der Werbung von Anhängern. In den 1920er Jahren erschien im Verlag Beyer & Söhne in Langensalza/Thüringen die Broschürenreihe » Schriften aus dem Eucken-Kreis «. Hier veröffentlichten vor allem die Rudolf Eucken nahestehenden Pädagogen und Theologen. Der Bund selbst gab zunächst nur ein Mitteilungsblatt für seine Mitglieder heraus. Seit 1925 trat er aber mit der Zeitschrift » Der Euckenbund «, die bald in » Die Tatwelt « umbenannt wurde, an eine breitere Öffentlichkeit. Bereits in den Vorjahren war die englischsprachige » Eucken Review « erschienen. Diese zum Jahresende 1924 eingestellte Zeitschrift verweist darauf, dass die Euckenianer trotz der dezidiert » nationalen « Ausrichtung des Bundes darauf bedacht waren, die Lehren des Meisters auch im Ausland zu verbreiten. Euckens Philosophie galt seinen Anhängern nichts weniger als ein Schlüssel zur Lösung großer Menschheitsprobleme.37
35 Vgl. etwa die kurz nach Kriegsende erschienene kleine Schrift Rudolf Euckens, Was bleibt unser Halt ? Ein Wort an ernste Seelen, Leipzig 1918. 36 Zitate: ThULB NLRE VI/28, o. Bl.: Aufruf der Euckenbund-Ortsgruppe Hannover, Februar 1920. 37 Vgl etwa das Manuskript » Grundgedanken für die Euckenfreunde « (ThULB NLRE VI/12, Mappe 10.2); Bruno Jordan auf einer Versammlung der Euckenbund-Ortsgrup-
pe Hannover, zitiert in: Weser-Zeitung Nr. 355, 23. 6. 1920 (Ausschnitt in: ebd. VI/13, Mappe 1); Pastor Dr. Siebert laut » Protokoll über die Gründungssitzung des Euckenbundes-Magdeburg am 15. 3. 1923 « (ebd. VI/30, o. Bl.).
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Die grandiosen Pläne globaler Expansion, die der Euckenbund in den ersten Jahren seines Bestehens verfolgte, wirken allerdings reichlich realitätsfremd. In den USA, in Großbritannien und in Frankreich hatte Rudolf Euckens Ansehen infolge seines Auftretens als deutscher Kriegspropagandist merklich gelitten. In den akademischen und kirchlichen Kreisen, in denen seine Ansichten vor 1914 Gehör gefunden hatten, wo man ihn geradezu umworben hatte, stieß der Jenaer Philosoph nun auf Desinteresse und Ablehnung. Ein reichlich dilettantischer Vorstoß zur Bildung einer Euckenbund-Ortsgruppe in London, die als Sprungbrett für die angelsächsische Welt dienen sollte, verlief 1924 bald im Sande, ebenso wie ähnliche Versuche in New York, Chicago und Stockholm.38 Der Tod Rudolf Euckens 1926 stellte den Bestand des Euckenbundes nicht ernsthaft infrage. In gewissen Sinne machte der Tod des Meisters den Weg frei für eine gründliche Reorganisation des Bundes. Euckens jüngerer Sohn Walter, Professor für Nationalökonomie in Tübingen und Freiburg, hatte noch zu Lebzeiten des Vaters immer wieder seine Unzufriedenheit über den Zustand des Euckenbundes und das intellektuelle Niveau seiner Publikationen geäußert. Walter Eucken war frustriert darüber, dass es in seinem universitär-akademischen Umfeld zwar nicht wenige Leute gab, die der Gedankenwelt seines Vaters nahe standen, dass aber kaum jemand mit dem Euckenbund als Organisation in Verbindung gebracht werden wollte. Der Eucken-Sohn verfolgte seine Reformbestrebungen vor allem über die neue Zeitschrift des Bundes. » Die Tatwelt « sollte als intellektuell anspruchsvolle Vierteljahresschrift einen philosophisch interessierten Leserkreis ansprechen, der über die Mitgliedschaft des Bundes hinausging. 1926 übernahm Walter Eucken selbst die Redaktion, gab sie aber 1928 an seine Frau Edith Erdsiek-Eucken ab.39
38 Vgl. zur Gründung einer Londoner Ortsgruppe vor allem die Korrespondenz zwischen dem Sekretariat des Euckenbundes und H. T. Schorn, 23. 2. – 5. 12. 1924 (ThULB NLRE VI, 6, o. Bl.); zum Plan einer New Yorker Ortsgruppe: ebd. VI/31, Mappe 10:
Irene Eucken an Josef Schwarz, 19. 6. 1923; zu Chicago: ebd. VI/4a, o. Bl.: Sekretariat Euckenbund an Flora Levy, 17. 5. 1923; zu Stockholm: ebd. V/6, Bl. 4: Irene Eucken an E. Akesson, 16. 7. 1930. 39 Vgl. Uwe Dathe, » Zu sehr hatte ich mich auf die Begegnung mit dem großen Denker gefreut. « Walter Euckens Weg zu Edmund Husserl, in: Hans-Helmuth Gander u. a. (Hg.), Phänomenologie und die Ordnung der Wirtschaft, Würzburg 2009, S. 19 – 27, hier: S. 24 ff; ders., Nachlass (wie Anm. 34), S. 295 f; Wendula Gräfin von Klinckowstroem, Zur Einführung: Edith Eucken-Erdsieck (1896 – 1985), in: Nils Goldschmidt/Michael Wohlgemuth (Hg.), Grundtexte zur Freiburger Tradition der Ordnungsökonomik, Tübingen 2008, S. 397 – 404, hier: S. 397 ff.
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Die Reorganisation der Bewegung nach 1926 ging vor allem von der Witwe des Philosophen, Irene Eucken, aus. Eine ihrer Strategien zielte darauf, die Euckenbünde in den politisch und kulturell ausstrahlungskräftigsten Großstädten des Reiches neu zu organisieren bzw. solche dort zu gründen. In Irene Euckens Visionen fungierten die Euckenbünde als Sammlungsorte der gesellschaftlich maßgebenden Kreise, wo die politischen Meinungsführer, die leitenden Beamten, die Professoren, Wirtschaftsführer und der ansässige Adel, samt der dazugehörigen gebildeten Damen, sich über die Probleme der Zeit austauschten. Zudem versuchte die Eucken-Witwe, die finanzielle Basis des Bundes auf eine solidere Basis zu stellen. Um nicht weiterhin von den Mitgliedsbeiträgen und gelegentlichen Spenden abhängig zu sein, sollten finanzkräftige Förderer aus der Wirtschaft gewonnen werden. Hilfestellung leistete dabei vor allem der Duisburger DVP-Reichstagsabgeordnete Otto Most, der über ausgezeichnete Kontakte zur Industrie verfügte.40 Irene Eucken war es auch, die eine institutionelle Verbreiterung der Bewegung in die Wege leitete. Anfang 1928 wurden Teile der Eucken-Villa in Jena zu einem Rudolf-Eucken-Haus umgewidmet. Getragen wurde diese Einrichtung von einer Stiftung, die mit Mitteln des Reiches, des Landes Thüringen und der Universität Jena ausgestattet war. Das Haus sollte ein Stützpunkt des Euckenbundes sein, das Werk Rudolf Euckens pflegen, die Betreuung ausländischer Gastwissenschaftler übernehmen und als Begegnungsstätte zwischen deutschen und ausländischen Studenten dienen. Damit war in gewisser Weise der Verlust des » Netzwerkknotenpunktes « Rudolf Eucken kompensiert worden. Bereits mit Euckens Emeritierung 1920 war der Zustrom neuer Schüler versiegt und seine zahlreichen persönlichen Kontakte auf dem Feld der universitären Wissenschaft konnten von seiner Witwe und seinen Anhängern nicht ohne weiteres übernommen werden.41 Mit der Eröffnung des Rudolf-Eucken-Hauses 1928 verlagerte sich das Aktivitätszentrum der Bewegung noch stärker auf Jena und die Familie Eucken. Die Geschäftsstelle des Bundes befand sich im Euckenhaus, während der andere Teil der Villa weiterhin von Irene Eucken und ihrer unverheirateten Tochter Ida bewohnt wurde. Ida Euckens Karriere als Konzertsängerin war in den Nachkriegs-
40 Vgl. ThULB NLRE V/6, Bl. 66: Irene Eucken an Regierungspräsident Dyckerhoff, Aurich, 5. 12. 1929; ebd. VI/12, Mappe 11, o. Bl.: Euckenbund, Jena, Rundschreiben an die Vorsitzenden der Ortsgruppen, 22. 12. 1928; ebd. VI/28, o. Bl.: Irene Eucken an Rudolf Voß, Halle, 4. 3. 1930. 41 Zum Rudolf Eucken-Haus vgl. die Mappen 2 und 3, in: ThULB NLRE VI/13; Universitätsarchiv Jena, Bestand B. A. Nr. 1918; sowie Neuland, Irene Eucken (wie Anm. 33), S. 231.
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jahren langsam im Sande verlaufen und sie hatte sich zunehmend für die von ihrem Vater ins Leben gerufene Bewegung engagiert. Am Ende der 1920er Jahre hatte sie faktisch die Geschäftsführung des Bundes wie die Logistik des Euckenhauses übernommen. 1928 ging zudem der nominelle Vorsitz des Euckenbundes auf den Gymnasialdirektor Benno von Hagen über. Der neue Vorsitzende wohnte nicht nur in Jena selbst, er erwies sich auch als willfähriger gegenüber den Wünschen und Plänen der Euckenwitwe als sein Vorgänger Curt Hacker. In Freiburg redigierten derweil Irene Euckens Sohn und ihre Schwiegertochter die Zeitschrift des Bundes, und auch ihr älterer Sohn Arnold, Professor für physikalische Chemie in Breslau und Göttingen, ließ sich immer mal wieder für die Zwecke des Euckenbundes einspannen.42 Die organisatorische Neugestaltung der Bewegung nach dem Tod des Meisters fand nicht überall im Kreis und im Bund Zustimmung. Walter Eucken hatte darauf gedrungen, dass » Die Tatwelt « so wenig wie möglich mit dem Euckenbund in Verbindung gebracht werde. Trotzdem wurden die Mitglieder des Bundes verpflichtet, die Zeitschrift zu abonnieren. Über diese Regelung wurden an der Basis immer wieder Klagen laut, zumal viele der » Tatwelt «-Artikel wenig Rücksicht auf den Bildungshorizont des » gebildeten Mittelstandes « nahmen. Auch den Stellenwert, den das Rudolf-Eucken-Haus für die Bewegung nun einnahm, stieß auf Kritik. Der ehemalige Vorsitzende Hacker bemängelte 1930 gegenüber Irene Eucken, in Jena sei man wegen des Euckenhauses bemüht, innenpolitisch und im Umgang mit fremden Nationen möglichst keinen Anstoß zu erregen. Dies widerspreche aber dem Gedanken eines Bundes, einer » auf Tat und Wirkung gestellte[n] Gemeinschaft «, die » im Kampf « und » vom Kampf « lebe. Der Euckenbund, wie ihn Hacker verstand, war » eine schlechthin nationale Angelegenheit nach innen und nach außen «, sein Ziel die praktische Lösung des » Problems der Deutschheit aufgrund der Philosophie Rudolf Euckens «. Von dieser Zielsetzung habe sich aber der Euckenbund mit einer Einrichtung verabschiedet, die » für die Bildung strebsamer Ausländer « bestimmt sei.43
42 Vgl. Dathe, Nachlass (wie Anm. 34), S. 289 – 293; zu Arnold Eucken: Margot BeckeGoehring/Margarete Eucken, Arnold Eucken: Chemiker – Physiker – Hochschullehrer, Berlin u. a. 1995. 43 ThULB NLRE V/2, Bl. 595 ff: Curt Hacker an Irene Eucken, 20. 12. 1930. Zur Konzeption der » Tatwelt « vgl. ebd. VI/1, o. Bl.: Walter Eucken an Sekretariat Euckenbund, 13. 3. 1925; ebd. VI/26, o. Bl.: Curt Hacker an Walter Eucken, 8. 4. 1926.
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im
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Die Haltung des Euckenkreises und des Euckenbundes zur nationalsozialistischen Bewegung war vor 1933 wesentlich von der politischen Verortung des Euckenbundes seit seiner Gründung bestimmt. Die Deutung der Kriegsniederlage und der Revolution als eines moralischen Zusammenbruchs begründete eine emotional unterfütterte Ausgrenzung derjenigen Kräfte, die für diesen Zusammenbruch verantwortlich gemacht wurden: Sozialdemokratie, politischer Katholizismus, linksliberale Demokraten. » Gesundung « und » nationalen Wiederaufstieg « erwartete man von der Überwindung der Nachkriegsordnung sowohl nach außen als auch im Inneren. Besonders in den frühen 1920er Jahren waren einige der Euckenbund-Ortsgruppen in die lokalen Netzwerke eines völkischen antirepublikanischen Aktivismus verstrickt. Der Vorsitzende des Münchener Euckenbundes, der Landgerichtsrat Theodor von der Pfordten, gehörte gar zum Führungskreis der frühen NSDAP und starb beim berüchtigten » Marsch auf die Feldherrenhalle « im November 1923.44 In der zweiten Hälfte der 20er Jahre trennte sich der Euckenbund zwar von den rabiatesten Vertretern dieser » unangenehm völkischen Richtung « in den eigenen Reihen.45 Dies änderte aber nichts daran, dass die NSDAP auch in den Jahren vor 1933 umstandslos zu den » nationalen Parteien «, zum eigenen Lager gerechnet wurde. Die Einschätzungen der NS-Bewegung im innersten Euckenkreis gingen allerdings durchaus auseinander. Für Irene Eucken war der Nationalsozialismus in den frühen 1930er Jahren eine noch unausgegorene Bewegung, die aber doch ein gewisses hoffnungsvolles Potenzial besitze. Den rasanten Aufstieg der Bewegung wertete sie als Zeichen eines idealistischen Aufbruchs unter der jüngeren Generation. Sie selbst hatte bereits im August 1930 ihrer Schwiegertochter angekündigt, sie werde bei den bevorstehenden Reichstagswahlen nationalsozialistisch wählen. Bei den Freiburger Euckens herrschte dagegen offenbar die Skepsis vor. Auf der Jahrestagung des Bundes im Herbst 1931 analysierte Walter Eucken die
44 Vgl. zur Position von der Pfordtens im Münchener Euckenbund: ThULB NLRE I/7, Bl. E156: Josef Schwarz an Rudolf Eucken, 4. 12. 1923; eine Schilderung der Vorgänge am 9. 11. 1923: ebd. I/21, Bl. P141 ff: Elly von der Pfordten an Rudolf Eucken, undatiert [Anfang 1924]; zu von der Pfordtens Rolle in der NSDAP: Bruno Thoss, Der Ludendorff-Kreis 1919 – 1923. München als Zentrum der mitteleuropäischen Gegenrevolution zwischen Revolution und Hitler-Putsch, München 1978, S. 342 f. 45 Zitat: ThULB NLRE VI/28, o. Bl.: Rudolf Voß an Ida Eucken, 4. 5. 1928. Vgl. ebd. VI/29, o. Bl.: Gustav Ziegler an Studienrat Dr. Auener, 3. 4. 1928; ebd. VI/32, o. Bl.:
Bruno Wunderlich an Benno von Hagen, 1. 5. 1928.
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nationalsozialistische Bewegung in der Terminologie der väterlichen Lehre: Ihr leidenschaftlicher Glauben an » den › totalen ‹, alles durchdringenden Staat und die leidenschaftliche Ablehnung des Liberalismus « entspringe dem fehlgeleiteten Streben, zu einer sinnhaften Lebensordnung zu gelangen.46 Ein Teil der Aktivisten und der Basis des Euckenbundes hatte nach 1933 kein Problem damit, den Nationalismus als Verwirklichung des eigenen Strebens und der Lehre Rudolf Euckens mit seiner holistischen Vision einer neuen Lebensordnung zu sehen. So schrieb der Chemnitzer Ortsgruppenvorsitzende Otto Günther im Herbst 1933 nach Jena: » Der ethische Aktivismus, die heroische Lebensführung, die wesensbildende Tat usw. usw., alles das sind Gedanken Rudolf Euckens, die heute lebendig sind und Tat werden «. Günther drängte die Führung des Euckenbundes, sich öffentlich zum neuen Staat zu bekennen. Doch in Jena stieß er mit dieser Forderung auf entschiedene Ablehnung und trat schließlich aus dem Bund aus. Irene Eucken war mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass die von den Nationalsozialisten verfolgten Ziele den Lehren ihres Mannes konträr zuwider liefen. Kurz nach den Reichstagswahlen vom März 1933 zog sie eine geradezu niederschmetternde Analogie zu den Novembertagen des Jahres 1918: Die derzeitige Euphorie erinnere sie, so schrieb sie an ihren Sohn Walter, an den Jubel über die Bekanntgabe der Waffenstillstandsbedingungen.47 Irene Eucken entwickelte frühzeitig eine Strategie, um das Rudolf-EuckenHaus und die » Tatwelt « zu erhalten, ohne sie im nationalsozialistischen Sinne » gleichzuschalten «. Es sei, so schrieb sie im Mai 1933 an Walter Eucken, ihr Ziel, dass das Euckenhaus » für Deutschland so unentbehrlich wird «, dass » man dankbar für Idas und meine Arbeit ist. «48 Der Plan der Euckenwitwe lief darauf hinaus, ein Betätigungsfeld abzustecken, auf dem es möglich sein würde, die Bestrebungen des Bundes weiter zu verfolgen und dabei am substanziellen Kern der Euckenschen Philosophie und Weltanschauung festzuhalten. Ihre Strategie zielte auf eine Wendung nach außen, zum Ausland hin. Es galt, das Regime von der
46 Zitat: Die Tatwelt 8, 1932, S. 86. Vgl. ThULB Jena, Nachlass Walter Eucken (NLWE): Irene Eucken, Jena, an Edith Eucken, 20. 7. 1930; ThULB NLRE V/6, Bl. 58: Irene Eucken an Prof. Curtis, 8. 4. 1931; sowie Michael Schäfer, Kapitalismus und Kulturkrise: Walter Eucken und die Philosophie Rudolf Euckens, in: Swen Steinberg/Winfried Müller (Hg.), Wirtschaft und Gemeinschaft. Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld, 2014, S. 303 – 318, hier: S. 308 ff. 47 Zitat: ThULB NLRE VI/12, Mappe 16, o. Bl.: Otto Günther an Benno von Hagen, 16. 10. 1933; ThULB NLWE: Irene Eucken an Walter Eucken, 11./12. 3. 1933. 48 ThULB NLWE: Irene Eucken an Walter Eucken, 12. 5. 1933.
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Nützlichkeit der Auslandskontakte der Euckenbewegung für die Außendarstellung des nationalsozialistischen Deutschland zu überzeugen. Gleichzeitig hoffte Irene Eucken, den maßgebenden Stellen nahezubringen, dass man diese Aufgabe nur dann glaubhaft und effektiv erfüllen konnte, wenn man an den bisherigen programmatisch-weltanschaulichen Leitlinien der Bewegung festhielt. Eine vorrangige Aufgabe des Rudolf-Eucken-Hauses lag nun darin, den ausländischen Gästen die » Normalität « des Wissenschafts- und Hochschulbetriebs und des alltäglichen Lebens in Deutschland zu präsentieren und sie dazu zu veranlassen, diese Eindrücke in ihren Heimatländern zu verbreiten. Von Jena aus wurden befreundete und bekannte Ausländer gezielt mit Propagandamaterial versorgt, vor allem in den USA. Es gab nach 1933 zahlreiche Versuche, die meist von der NS-Studentenschaft ausgingen, diesen modus vivendi zu beenden. Doch gelang es Irene und Ida Eucken, genügend Rückendeckung in der Thüringer Kultusbürokratie, der Jenaer Professorenschaft und auch in Berlin zu mobilisieren, um solche Versuche immer wieder abzubiegen. 1934 sah sich die Euckenwitwe allerdings auch veranlasst, einen, den Ideen ihres Mannes nahe stehenden » Nationalsozialisten von Ruf «, den Chefsyndikus der Münchener Industrie- und Handelskammer Hans Buchner, in den Vorstand des Euckenbundes aufzunehmen.49 In ähnlicher Weise wie das Rudolf-Eucken-Haus wurde auch die Tatwelt der auswärtigen Kulturpropaganda nutzbar gemacht. Es gelang Ida Eucken, im Auswärtigen Amt politische Rückendeckung, logistische Hilfe und einen regelmäßigen Zuschuss für dieses Vorhaben zu sichern. Es wurden nun verstärkt ausländische Autoren zur Mitarbeit herangezogen, die Zeitschrift selbst stärker auf die Verbreitung im Ausland ausgerichtet. Allerdings wollten weder die bisherige Herausgeberin Edith Erdsiek-Eucken noch ihr Mann Walter Eucken diesen redaktionellen Kurswechsel mittragen. Die Tatwelt wurde seit Anfang 1935 in Jena, hauptsächlich von Ida Eucken, redigiert. In den beiden Jahren zuvor hatte man noch in zahlreichen Artikeln relativ deutliche Kritik am Regime herauslesen können. Dies änderte sich nun. Immerhin gelang es Irene Eucken, die Tatwelt weitgehend von nationalsozialistischer Rhetorik frei zu halten. Gegebenenfalls wurden die Autoren aufgefordert, aus ihren Artikeln » die Politik zu streichen «.50
49 Zitat: ThULB NLRE VI/28, o. Bl.: Irene Eucken an Rudolf Voß, 23. 4. 1934; ebd. V/4, Bl. 1089: Otto Most, Duisburg, an Irene Eucken, 10. 10. 1934. 50 ThULB NLWE: Irene Eucken an Walter Eucken, 22. 3. 1936. Vgl. ebd.: Irene Eucken an Walter Eucken, 2. 5. 1933, 18. 8. 1934; ThULB NLRE V/6, Bl. 229: Irene Eucken an Otto Most, Duisburg, 21. 5. 1934; ebd. V/12, Bl. 123 f: Edith Eucken-Erdsiek an Irene Eucken, Freiburg, 6. 12. 1935.
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Damit waren das Rudolf-Eucken-Haus und die » Tatwelt « endgültig zu den tragenden institutionellen Säulen des Euckenkreises geworden. Die wenigen verbliebenen lokalen Euckenbünde führten nur noch ein Schattendasein. Die Hauptaktivität des Bundes bestand nun in der Veranstaltung gelegentlicher Tagungen in Jena, die den Charakter philosophisch-wissenschaftlicher Konferenzen hatten. Auf diesen Tagungen versammelte sich ein loser Kreis von Philosophen, Kultur- und Naturwissenschaftlern, die zumeist auch zu den regelmäßigen Autoren der » Tatwelt « gehörten. Darunter war eine ganze Reihe hochkarätiger Namen: die Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, Arnold Eucken und Pascual Jordan, der Soziologe Helmut Schelsky, die Philosophen Gotthard Günther, Arnold Gehlen und Bruno Bauch. Irene Eucken starb im September 1941, ihre Tochter Ida zwei Jahre später. Nach Ida Euckens Tod im Oktober 1943 wurde die » Tatwelt « eingestellt, das Rudolf Eucken-Haus ging auf einen neuen Träger über und der Euckenbund löste sich auf.51
6 Fazit: M etamorphosen
des
K reises
Die intensivere Beschäftigung mit dem Euckenkreis hat einen Unschärfe-Effekt hervorgebracht, der bei wissenschaftlichen Studien zu solchen informellen und volatilen Gebilden wohl nicht ungewöhnlich ist: Je genauer man hinsieht, desto mehr verschwimmen die Konturen des Kreises, desto diverser, unübersichtlicher und widersprüchlicher werden seine inneren Strukturen. Es lässt sich zwar durchaus – zu einem gegebenen Zeitpunkt – eine Gruppe von jeweils vielleicht 20 bis 30 Personen identifizieren, die mit dem Philosophen (bzw. seiner Witwe) und auch untereinander in persönlichem Kontakt standen, sich zu Rudolf Euckens Lehre bekannten und deren Verbreitung und Umsetzung in den Mittelpunkt ihres zivilen Engagements stellten. Zieht man den Georgekreis als Blaupause heran, so fällt beim Euckenkreis zunächst einmal eine deutlich höhere Fluktuationsrate auf: Von denjenigen, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs die » Sammlung der Geister « getragen hatten, war am Ende der 1920er Jahre kaum noch jemand übrig. Zum Zweiten scheint hier das Verhältnis des » Meisters « zu seinen » Jüngern « längst nicht so emotional aufgeladen und dicht in der persönlichen Inter-
51 Vgl. Die Tatwelt 12, 1936, S. 186 – 229; ebd. 13, 1937, S. 115 – 149; ebd. 14, 1938, S. 174 – 228; Volker Kempf, Wider die Wirklichkeitsverweigerung. Helmut Schelsky: Leben – Werk – Aktualität, München 2012, S. 22, 47 f; Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar: Thüringisches Volksbildungsministerium Nr. C 449, Bl. 311: Ministerialrat Stier an Geheimrat Dr. Roth, Auswärtiges Amt, 2. 11. 1943.
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aktion gewesen zu sein als etwa beim Kreis um Stefan George. Bemerkenswert erscheint zudem die gewichtige und im Zeitverlauf stetig wachsende Rolle der Familie Eucken, und gerade ihrer weiblichen Mitglieder im Gefüge des Kreise. Schließlich will auch die ausgeprägte Öffentlichkeitsorientierung des Euckenkreises und seine organisatorische Verfestigung im Euckenbund nicht so recht zum Idealtypus eines Kreises als im Hintergrund agierenden Personenverbundes passen. Die öffentlichen Gründungs- und Sammlungsaufrufe, die ausformulierten programmatischen Ziele und Prinzipien des Bundes, seine nach außen gerichtete Publizistik, die formale Mitgliedschaft, die Eintragung ins Vereinsregister – all dies gibt zumindest dem Euckenbund eher den Charakter einer offenen Assoziation als den eines geschlossenen Zirkels. Allerdings ist der Euckenbund nicht mit dem Euckenkreis gleichzusetzen, wenn der Kreisbegriff nicht völlig seinen analytischen Wert verlieren soll. Zwar war die Gründung des Bundes und sein Funktionieren als Gesamtorganisation wohl zu einem großen Teil dem Engagement und der Initiative eines Kreises aktiver Anhänger zu verdanken, die in mehr oder minder intensivem persönlichen Kontakt zu Rudolf Eucken und seiner Familie standen. Doch wurde zumindest ein Teil der lokalen Euckenbünde von Leuten getragen, die zunächst einmal nicht in einer solchen persönlichen Beziehung zu dem Jenaer Philosophen standen. Spätestens mit dem Tod Rudolf Euckens 1926 setzte eine Metamorphose des Kreises und seiner institutionellen Ausprägungen ein. Den » Kreis ohne Meister « kann man aber in diesem Falle nicht unbedingt als Verfallsgeschichte darstellen. In gewissem Sinne erlebte die Euckenbewegung erst im Jahrfünft nach 1926 ihre größte Ausstrahlungskraft. Es entstand nun ein institutionell wie personal heterogenes Gebilde, dessen Fäden bei der Witwe des Meisters, Irene Eucken, zusammen liefen. In den ausgehenden 1920er und den 1930er Jahren präsentierte sich der Euckenkreis in ganz unterschiedlichen Konfigurationen, die untereinander oft recht geringe Schnittmengen aufwiesen: • als Euckenbund, der von einem Kreis von Anhängern der Lehren Rudolf Euckens getragen wurde; • als loser Intellektuellenzirkel, der sich um die Zeitschrift » Die Tatwelt « gruppierte, z. T. ohne dabei selbst der Philosophie Euckens anzuhängen; • als internationales akademisches Netzwerk, das sich um das Rudolf-EuckenHaus bildete. Das grundlegende Anliegen Rudolf Euckens und seiner Anhänger erscheint auch heute noch durchaus nachvollziehbar. Es ging darum, eine Antwort auf die Frage nach der Sinnhaftigkeit des menschlichen Daseins angesichts der Zersetzung transzendenter Gewissheiten durch die Moderne zu finden. Euckens Lehre er-
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scheint trotz ihrer Verankerung im Metaphysischen keineswegs irrational. Sie besaß zwar eine lebensphilosophische Färbung, zog aber mit ihrem Bezug auf » das Leben « keine biologistischen oder rassistischen Schlussfolgerungen. Auch wenn sie einen elitären Zug hatte, war sie doch verankert in den humanistischen und zivil-bürgerlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts, setzte dem Staat Grenzen und räumte dem Individuum Platz zur Entfaltung ein. Die programmatische Ausrichtung der Euckenbewegung an einem nationalistischen Narrativ, die von Rudolf Eucken selbst formuliert worden war, ergibt sich keineswegs zwingend aus seiner Lehre selbst. Diese Ausrichtung trug aber wohl wesentlich dazu bei, dass sich Bund und Kreis nach 1918 in erbitterter Ablehnung gegenüber der Weimarer Demokratie und der sie tragenden politischen Kräfte positionierten. Die Selbstzuordnung prägte auch die Haltung zur nationalsozialistischen Bewegung. Zwar stand man in Jena der Ideologie und Politik der NSDAP keineswegs unkritisch gegenüber, doch rechnete man die Partei wie selbstverständlich zum eigenen, zum » nationalen « Lager. Nach der » Machtergreifung « drängte es zwar einige der Aktivisten des Euckenbundes, ihren verstorbenen Meister zum Vorläufer und Vorkämpfer des neuen Staates zu stilisieren. Doch in der Jenaer Führung und im Familienkreis der Euckens herrschte ein weitgehender Konsens darüber, dass von Rudolf Euckens Lehre kein Weg zum Nationalsozialismus führen könne. Irene Eucken verteidigte Ende 1935 die Entscheidung, den Bund, das Haus und die » Tatwelt « zu halten, gegenüber ihrer Schwiegertochter mit einem Gleichnis: Sie habe früher eine Zeit lang befürchtet zu erblinden und es sei ihr daher nachts immer eine Beruhigung gewesen, wenn sie die Leuchtziffern ihres Weckers gesehen habe. » Wenn ich in tiefster Dunkelheit einen bescheidenen Schein verbreiten kann, der nur von dem früheren Licht entstammt, so ist meine Aufgabe erfüllt. Vielleicht findet ein Mitmensch durch diesen Schein den Knipser, der ihm ermöglicht, sein Zimmer zu erhellen, vielleicht gibt dieser Schein einem Mitmenschen die Gewißheit, in der Dunkelheit, daß er sein Augenlicht noch hat. « Ihre selbst gewählte Rolle als » kleine Leuchte-Uhr « war allerdings mit einer unvermeidlichen Ambivalenz verbunden: Um einen Freiraum für die weitere Verbreitung der Lehren Rudolf Euckens zu erhalten, mussten sie und ihre Mitstreiter dem Regime immer wieder in Wort und Tat beweisen, dass man ihm von Nutzen sei.52
52 Zitat: ThULB NLWE: Irene Eucken an Edith Eucken, 8. 12. 1935.
Das intellektuelle Netzwerk der Dialektischen Theologie D. Timoth y G oer i ng
E inleitung Am 10. Juni des Jahres 1920 machte eine Ausgabe der Zeitschrift Die Christliche Welt den langen Weg von Marburg in die Schweiz in ein winziges Dorf namens Safenwil. Die Ausgabe dieser führenden, kulturprotestantischen Zeitschrift1 wurde in das Pfarrhaus jenes Dorfes abgeliefert und zierte zunächst einige Tage den Schreibtisch des beschäftigten Pfarrers, bis sie dann im Laufe der folgenden Woche vom 34-jährigen Pfarrer Karl Barth aufgeschlagen wurde. Nach kurzer Zeit entdeckte er darin einen Aufsatz mit der Überschrift » Zwischen den Zeiten « von einem deutschen Dorfpfarrer namens Friedrich Gogarten. Der Schweizer Pfarrer war augenblicklich so berauscht von dem, was er von dem anderen Dorfpfarrer las, dass er sich sofort an den Schreibtisch setzte und gleich drei Briefe verfasste. Zuerst schrieb er an den Herausgeber der Christlichen Welt, Martin Rade, den er sehr gut kannte. » Du weißt, daß ich auf einer ähnlichen Insel sitze wie Gogarten «, schrieb Barth. » Ich freue mich darüber, daß es nun auch in Deutschland solche Insulaner gibt, und mußte Dir das schrei-
1 Zur Bedeutung der Zeitschrift » Die Christliche Welt « siehe vor allem: Reinhard Schmidt-Rost, Die Christliche Welt. Eine publizistische Gestalt des Kulturprotestantismus, in: Hans Martin Müller (Hg.), Kulturprotestantismus. Beiträge zur Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992, S. 245 – 259; Gangolf Hübinger, Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland, Tübingen 1994, S. 129 – 142.
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ben. «2 Nachdem Barth diesen Brief beendet hatte, nahm er ein neues Blatt Papier und schrieb einen zweiten Brief an den Verfasser des Aufsatzes höchst persönlich. » Eben lese ich in der Christl. Welt. Herzlichen Dank für dieses gute Wort ! Eben das müssen wir […] nun immer wieder sagen, in allen Tonarten und Variationen. […] Bitte erheben Sie Ihre Stimme laut ! Sie haben dasjenige zu sagen, das jetzt in Deutschland gesagt werden muss und was man Ihnen doch vielleicht williger abnimmt als uns Schweizern. «3 Noch immer von Mitteilungsdrang erfüllt nahm Barth ein drittes Blatt Papier und schrieb an seinen langjährigen Freund Eduard Thurneysen, der ganz in der Nähe in St. Gallen Pfarrer war: » Hast du Gogarten › Zwischen den Zeiten ‹ in der › Christlichen Welt ‹ gelesen ? «, fragte er. » Ich habe ihm sofort eine Begrüßung geschickt und ihn aufgefordert, laut zu rufen. Der kommt gut. «4 Es gab nie eine offizielle Geburtsstunde der theologischen Bewegung der sogenannten » Dialektischen Theologie «; aber müsste eine genannt werden, dann wäre dieser 10. Juni des Jahres 1920 ein guter Kandidat. Denn von diesem Tag an betrachteten sich Barth, Thurneysen und Gogarten als Verbündete gegen das theologische Establishment. Sie erkannten ihr Renegatentum in den Schriften der anderen und suchten bald die nähere Fühlung miteinander. Im folgenden Aufsatz soll gezeigt werden, wie mit dem Zusammenschluss der Pfarrer Barth, Thurneysen und Gogarten (und später auch Rudolf Bultmann und Emil Brunner) eine Konstellation5 aus religiösen Intellektuellen entstand, die für die Zeit der Weimarer Republik die wohl imposanteste Aufbruchbewegung des Protestantismus wurde. Es wird eine sehr kurze Geschichte des intellektuellen Netzwerks der Dialektischen Theologie in drei Akten dargestellt: 1. die Entstehung, 2. die Jahre der Zusammenarbeit und schließlich 3. das Ende mit Verzögerung. Diese Erzählung stützt sich weniger auf eine einzige, übergeordnete These, sondern wird vielmehr dadurch belebt, dass sich viele, kleine Beobach-
2 Karl Barth an Martin Rade, 16. 6. 1920, in: Christoph Schwöbel (Hg.), Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, Gütersloh 1981, S. 150. 3 Karl Barth an Friedrich Gogarten, 16. 6. 1920, in: Hermann Götz Göckeritz (Hg.), Friedrich Gogartens Briefwechsel mit Karl Barth, Eduard Thurneysen und Emil Brunner, Tübingen 2009, S. 152 ff. 4 Karl Barth an Martin Rade, 16. 6. 1920, siehe: Schwöbel (Hg.), Karl Barth – Martin Rade (wie Anm. 2), S. 150. 5 Zum analytischen Begriff der Konstellation siehe vor allem: Martin Mulsow, Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung, in: ders./Marcelo Stamm (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005, S. 74 – 97.
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tungen abstrahieren und sich zu Vergleichspunkten zu anderen Netzwerken ausprägen lassen. Dieser Aufsatz versteht sich auch als Plädoyer, die Geschichte der Dialektischen Theologie stärker an die Kultur- und Ideengeschichte der Weimarer Republik anzuknüpfen und neben andere intellektuellen Netzwerken zu stellen. Mit dem Aufkommen des Netzwerkes der Dialektischen Theologie entstand ein religiösen Selbstverständnis unter den Mitgliedern, das der Binnenstruktur anderer eingeschworener Intellektuellengruppen dieser Zeit entsprach.6 So wie der George-Kreis, der Eucken-Kreis, die Ring-Bewegung oder der Tat-Kreis so gehörte auch das Netzwerk der Dialektischen Theologie zu den Intellektuellenassoziationen einer energischen, jungen Generation, die die intellektuellen Krisen der Weimarer Republik mit einer eigenen, mit einer religiösen Antwort zu überwinden versuchten. Die eingangs zitierten Briefe Barths geben den Ton meines methodisch-analytischen Zugriffs an. Mein analytischer Zugriff wahrt eine kritische Distanz gegenüber einer rein theologiegeschichtlichen Analyse. Intellektuelle Netzwerke lassen sich historisch am gründlichsten in der Weise analysieren, dass der gesamte private, öffentliche und mediale Zusammenhang des Netzwerkes herausgearbeitet wird, nicht nur isolierte Bestandteile. Damit ist es methodisch geboten, neben intellektuellen Ideenwelten auch Prozesse der Koalitionsbildung, Interaktionsrituale, erworbene Reputationen, private Kommunikationslagen und Medienstrategien (z. B. einer gemeinsamen Zeitschrift) zu berücksichtigen. Nur so wird ein Verstehen der Leistung, Entwicklung und Auswirkung des Netzwerks der Dialektischen Theologie möglich. Natürlich war der theologische Inhalt von Gogartens Aufsatz für die Etablierung der Dialektischen Theologie wichtig, aber mindestens ebenso wichtig war die Art, wie Barth kurz nach dem Lesen dieses Aufsatzes in Privatbriefen persönliche Sympathien erklärte und Distanzen markierte. Um sich als Intellektuellen-Netzwerk zu etablieren und als mediale Sozial
6 Claudia Kemper spricht in Ihrer Studie von » drei konstitutiven Aspekten intellektueller Gruppenbildung « für das frühe 20. Jahrhundert: » erstens zeichnete sich die Entwicklung zu radikaleren Grenzziehungen ab, zweitens kam der Zirkel- und Ringbildung für die Teilnehmer eine enorme identitätsstiftende Bedeutung zu und drittens existierten solche Formationen immer im dynamischen Wechsel mit dem gesellschaftlichen Außen. « Claudia Kemper, Das Gewissen 1919 – 1925. Kommunikation und Vernetzung der Jungkonservativen, München 2011, S. 143. Vgl. auch Jürgen Frese, Intellektuellen-Assoziationen, in: Richard Faber/Christine Holste (Hg.), Kreise, Gruppen, Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 441 – 462.
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konstruktion wahrgenommen zu werden, müssen seine Mitglieder mehr leisten als nur das Lesen und Schreiben von Aufsätzen und Büchern. Um diese Entstehungs- und Auflösungsprozesse dieses Netzwerkes soll es jetzt gehen.
E ntstehung Was waren die Gründungsmomente der Dialektischen Theologie ? Als Barth den Aufsatz von Gogarten im Sommer des Jahres 1920 las, waren sich die beiden jungen Pfarrer nicht völlig unbekannt. Gogarten kannte schon die berühmte erste Auflage von Barths Kommentar zum Römerbrief gut. Mit diesem Buch, das 1919 erschienen war und das später von Martin Heidegger » eine Explosion mit viel Schutt und Rauch «7 bezeichnet worden ist, war Barth schon in den frühen 1920ern zu einem bekannten Theologen avanciert und er hat mit diesem Buch einen Grundstein für die Bewegung gelegt. Aber andere Explosionen, die die Theologie der Nachkriegszeit erschütterten, wurden dann insbesondere von Gogarten gezündet; einmal mit seinem Aufsatz » Zwischen den Zeiten « in der Christlichen Welt und ferner mit einem Vortrag unter dem Titel » Krisis der Kultur «, den Gogarten auf einer theologischen Konferenz der Vereinigung der » Freunde der Christlichen Welt « im Herbst 1920 auf der Wartburg in Eisenach hielt. Diese Konferenz machte Gogarten schnell zum charismatischen Theologenstar der Weimarer Republik.8 Die dunkle Ausstrahlung seiner Totalempörung über die von ihm empfundene Scheinheiligkeit des kulturidealistischen Gedankenguts übte eine scheinbar unbezwingbare Kraft auf die Zuhörer aus. » Wenige in Deutschland werden seinen Namen gekannt haben «, schrieb ein Teilnehmer in einem Bericht für die Frankfurter Zeitung, » doch dürfte der Pfarrer Gogarten bald unter denen genannt werden, die für unser Schick-
7 Martin Heidegger an Rudolf Bultmann, 14. 3. 1927, in: Andreas Grossmann/Christof Landmesser (Hg.), Rudolf Bultmann – Martin Heidegger. Briefwechsel, 1925 – 1975, Frankfurt a. M. 2009, S. 21. 8 Vom 29. September bis 1. Oktober 1920 versammelten sich dort sehr verschiedene Gruppen zu einer gemeinsamen Tagung: eine Abordnung englischer Quäker, deutsche und englische Theologen und Pfarrer, die zu den Freunden der Freien Volkskirche und dem Bund für Gegenwartschristentum zählten, sowie jugendliche Wandervogelgruppen. Vgl. den Bericht über die Tagung: Gottfried Rade, Eisenach 1920, in: Die Christliche Welt 34, 1920, S. 670 – 671; Ewald Stier, Unsere Wartburgtagung, in: Christoph Schwöbel (Hg.), An die Freunde. Vertrauliche d. i. nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Mitteilungen (1903 – 1934), Berlin 1993, S. 754 – 758.
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sal bestimmend sind. Mit ihm trat Martin Luther in den Festsaal der Wartburg und war wieder der Junker Jörg, dem Teufel sein [sic] Tintenfaß an den Kopf zu schmeißen. […] Allen, die Ohren hatten zu hören, mußte es ein Erlebnis ohnegleichen sein, derart die Stimme Gottes aus Menschenmund zu vernehmen. «9 Ein Jahr später plante Gogarten, auf der nächsten Konferenz der Freunde der Christlichen Welt seinen Auftritt zu überbieten und in aller Deutlichkeit die Gruppe Barth-Thurneysen-Gogarten von allen anderen Theologen abzugrenzen. Er hielt zwar selber keinen Vortrag, aber er knüpfte sich den bekannten Theologen Adolf von Harnack vor. In der Diskussionsrunde, die auf den Vortrag Harnacks folgte, griff Gogarten den früheren Kaiserberater und Wissenschaftsguru öffentlich an, indem er die theologische Position, die er und Barth vertraten, demonstrativ von der theologischen Position der älteren Lehrergeneration abgrenzte. Der Generationsbegriff, der um diese Zeit einen begriffsgeschichtlichen Aufschwung erlebte, wurde auf dieser Tagung dankbar aufgegriffen, um die unterschiedlichen theologischen Lager zu markieren und um eine hermeneutische Inkommensurabilität zwischen älteren und jüngeren Theologen hervor zu heben. Die Konferenz im Herbst des Jahres 1921 markierte damit öffentlich, dass Gogarten, Barth und Thurneysen eine Kampfgemeinschaft bildeten, die demonstrativ das Gewand einer neuen Generation trug. Spätestens im Herbst des Jahres 1921 wussten alle deutschsprachige Theologen und religiös Musikalische, dass sich eine neue Aufbruchbewegung, die sich als jüngere Generation begriff, zu Wort gemeldet hatte. » Das Wichtigste an der Tagung ist ja «, schrieb Gogarten nach dieser Konferenz der Freunde der Christlichen Welt in einem Brief 1921, » daß sie zeigte, wie man nicht mehr an uns vorbeikann. «10 Konferenzen spielten eine zentrale Rolle in der Etablierung des Netzwerkes der Dialektischen Theologie. Das performative Charisma, das auf Konferenzen inszeniert werden konnte, legte sich als Folie den Schriften unter. Ein rein theo-
9 Wilhelm Schäfer, Drei Briefe mit einem Nachwort an die Quäker, München 1921, S. 37 ff. Selbst zehn Jahre später im Jahr 1930 schrieb Martin Rade in den » vertraulichen Mitteilungen « der Zeitschrift An die Freunde: » Wilhelm Schäfer wird des öfteren zitiert und sein Wort über Eisenach 1920. Einmal wenn die Rede auf Gogarten kommt, und sodann wenn über unsern Kreis und seine Zusammenkünfte geurteilt wird. « Martin Rade, Desideria (20. 8. 1930), in: Schwöbel (Hg.), An die Freunde (wie Anm. 8), S. 569. Zur Reaktion auf Schäfers Artikel siehe auch: Matthias Kroeger, Friedrich Gogarten. Leben und Werk in zeitgeschichtlicher Perspektive. Mit zahlreichen Dokumenten und Materialien, Stuttgart 1997, S. 280 – 284. 10 Gogarten an Gertrud von le Fort, 5. 11. 1921, Literaturarchiv Marbach, Nachlass Gertrud von le Fort.
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logiegeschichtlicher Zugriff, der davon ausginge, die Gruppe der Dialektischen Theologie habe sich lediglich durch das geschriebene Wort etabliert, greift viel zu kurz. Konferenzen fungierten als öffentliche Diskursmärkte, auf denen Teilnehmer Begriffe aushandelten und um Neudefinitionen kämpften. Auf Konferenzen konnte man öffentlich hervortreten als kompromissloser Religionsrevolutionär, der den Brand an den vermorschten Holzboden der Universitätstheologie legte. Hier konnte man einen neuen theologischen Gestus vorführen, eine neue Technik des Religiös-Seins inszenieren und sich dabei im Nimbus des Unbedingten kleiden. Auf Konferenzen war es dem charismatischen Redner möglich, Zustimmung und Anerkennung aus Quellen emotionaler Hingabe zu speisen. Es ging auf Konferenzen um mehr als nur Informationsaustausch religiöser Ideen. Es ging darum, situative Genialität zu beweisen und zu zeigen, dass man ein vom theologischen Ernst Getriebener war. Nicht nur das Schreiben und Lesen von Büchern machte die Dialektische Theologie zum entscheidendsten theologischen Netzwerk der 1920er Jahre. Vor allem der reale, interaktive » Kampf um Anerkennung «11 auf Konferenzen, von Angesicht zu Angesicht, trug zur Etablierung der Dialektischen Theologie bei. Eben diese Mischung aus keckem Auftreten auf theologischen Konferenzen und kantigen Schriften zeichnete die kleine Gruppe der Dialektischen Theologie von Anfang an aus. Anfang des Jahres 1922 erschien die zweite Auflage von Barths Römerbriefkommentar, den er unter Einfluss von Gogartens theologischen Impulsen stark überarbeitet hatte und der den Schweizer weltberühmt machte. In diesem gigantischen Manifest sicherte sich Barth seinen Platz als Wortführer der Dialektischen Theologie. Aber so wie der Mensch nicht allein vom Brot lebt, so lebt auch ein intellektuelles Netzwerk nicht von Büchern, Konferenzen und Vorträgen allein. Ein letztes Element war notwendig, um das Netzwerk zusammenzuschweißen. Eine Zeitschrift musste her. Diverse andere Gruppen und Bünde hatten um diese Zeit auch Zeitschriften gegründet, wie z. B. Neue Blätter für den Sozialismus, Das Gewissen, Der Ring und viele mehr.12 Spätestens im Sommer des Jahres 1922 war auch
11 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1994. 12 Vgl. Michel Grunewald/Hans Manfred Bock, Zeitschriften als Spiegel intellektueller Milieus. Vorbemerkungen zur Analyse eines ungeklärten Verhältnisses, in: Michel Grunewald u. a. (Hg.), Le milieu intellectuel de gauche en Allemagne, sa presse et ses réseaux (1890 – 1960). Das linke Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890 – 1960), Bern 2002, S. 21 – 32; Gangolf Hübinger, Intellektuelle im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: ebd., S. 25 – 40; Dieter Thomä, Im
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Barth und Gogarten klar, dass es eine Art publizistische Verstetigung der bisher noch losen Gruppe geben musste, um sich in der theologischen Öffentlichkeit dauerhaft Gehör zu verschaffen. Um medienwirksamer Teilnehmer im öffentlichen Kommunikationsraum zu werden, mussten Zugänge zu kommunikativen Knotenpunkten aufgesucht werden, die als Lautsprecher fungierten.13 Und so kamen Barth, Gogarten und Thurneysen im Sommer des Jahres 1922 zusammen und beschlossen gemeinsam mit Georg Merz, der als Organisator die Schriftleitung hatte, eine Zeitschrift im Christian-Kaiser-Verlag zu gründen. Auf dem sogenannten » Bergli «, einem Ferienhaus in der Schweiz, einigte sich das noch junge Netzwerk auf den Zeitschriftentitel Zwischen den Zeiten, nach dem Aufsatz von Gogarten. Diese Zeitschrift sollte zugleich Kommunikationsort und Vermittlungsinstanz der eigenen theologischen Strömung werden.14 Die Dialektischen Theologen konnten sich somit spätestens seit 1922 mit dieser Zeitschrift als protestantische Bewegung zu den vielen anderen Bünden und intellektuellen Netzwerken der Weimarer Republik zählen.
Dreieck balancieren. Der Intellektuelle als Zeitgenosse, in: Uwe Justus Wenzel (Hg.), Der kritische Blick. Über intellektuelle Tätigkeiten und Tugenden, Frankfurt a. M. 2002, S. 80 – 96. 13 » Seit dem Auftreten der modernen Sozialfigur des Intellektuellen Ende des 19. Jahrhunderts sind Periodika (vor allem Zeitschriften) die Ausgangs- oder Zielpunkte intellektueller Gruppenbildung. « Grunewald/Bock, Zeitschriften (wie Anm. 12), hier: S. 30. Siehe auch: Hübinger (wie Anm. 12); Thomä (wie Anm. 12). 14 Zur Geschichte der Zeitschrift vgl. Helmut Gollwitzer, Zwischen den Zeiten, in: 1845 – 1970 Almanach. 125 Jahre Chr. Kaiser Verlag München, München 1970, S. 42 – 50; Friedrich Kantzenbach, Das Ende von » Zwischen den Zeiten «, in: Theologische Zeitschrift 31, 1975, S. 161 – 172; Helmut Gollwitzer, Zum Weg der Zeitschrift, in: Evangelische Theologie 44, 1984, S. 137 – 147; Gunther Wenz, Zwischen den Zeiten. Einige Bemerkungen zum geschichtlichen Verständnis der theologischen Anfänge Karl Barths, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie 28, 1986, S. 284 – 295; Hans Friedrich Geißer, Theologie zwischen den Zeiten. Zum Gedenken an Friedrich Gogarten, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 85, 1988, S. 77 – 97; Manacnuc Mathias Lichtenfeld, Georg Merz. Pastoraltheologe zwischen den Zeiten: Leben und Werk in Weimarer Republik und Kirchenkampf als theologischer Beitrag zur Praxis der Kirche, Gütersloh 1997, S. 174 – 212.
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Bisher habe ich nur die Gründungsmomente als rein historische, empirische Fakten umrissen. Wie aber lässt sich der gemeinsame theologische Strang charakterisieren, an dem die Dialektischen Theologen zogen ? Müsste man die Inhalte ihrer Schriften zu einem griffigen Credo kondensieren, würde es wohl so lauten: Der Mensch ist absolut menschlich und Gott ist absolut göttlich. Dieser kleine Satz wirkt zwar harmlos in ihrer Kürze, konnte aber im theologischen Getriebe der 1920er Jahre einigen Schaden anrichten. Denn sagt man, dass Gott niemals menschliche und der Mensch niemals göttliche Qualitäten annehmen können, dann muss die Hoffnung auf Vermittlung mit Gott ein für alle Mal aufgegeben werden. Die Dialektische Theologie zeigte sich nicht nur skeptisch, ob man auf Tuchfühlung mit Gott sein kann, sie wollte den Vorhang vor dem Allerheiligsten zerreißen, um sichtbar zu demonstrieren, dass es schlicht kein Quantum Gottes auf der Welt gibt, das die Christenheit aufbewahren könne. Für die Dialektische Theologie war daher das Gebet menschliche Rede, die Predigt menschliches Rätselraten, die Ethik menschliches Regelwerk, die Kultur war ein großes Fantasiegebilde und die Religion war Götzendienst. Jeder Versuch, eine Brücke zu Gott zu schlagen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, da dieses Wagnis von einem anschaulichen, verfügbaren, einem menschlichen Gott ausging. Deshalb schrieb Barth im Römerbriefkommentar, dass Religion den Menschen nicht göttlicher werden ließe, sondern ihn nur in die existentielle Verzweiflung führen könne.15 Wahre Religion sei » totale Krisis «, schrieb Gogarten, sie könne immer nur die » Krisis der Kultur « bedeuten.16 Es bestehe kein Halt, an dem sich der Christ festhalten könne. Der Religiöse sei dazu verdammt, die Existenz eines Vagabunden zu führen. Der wahre Christ war für die Dialektische Theologen gleichsam ein Perpetuum mobile. Besonders brisant wurde diese Theologie auf dem Gebiet der Ethik. Denn noch wichtiger als der theologische Vatermord ihrer kulturprotestantischen Väter war den Dialektischen Theologen die rechte Lebensführung.17 Dies lässt sich ge-
15 Karl Barth, Der Römerbrief. 1922, Zürich 2005, S. 266. 16 Vgl. Friedrich Gogarten, Die Krisis unserer Kultur, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie. Teil II. Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten, Eduard Thurneysen, München 1963, S. 101 – 121. 17 Die Dialektische Theologie entwickelte eine ethische Selbsttechnologie, die wesentlich von der » vagierenden Religiosität « des Kaiserreichs vorgeformt worden war (zum Begriff der » vagierenden Religiösität « vgl. Thomas Nipperdey, Religion im Umbruch. Deutschland 1870 – 1918, München 1988, S. 143 f). Allen dogmatischen
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rade an ihren Bemühungen zeigen, ein neues ethisches Verständnis zu entwickeln. Wenn man kein religiöses Offenbarungsfaktum in Besitz nehmen kann, das das Gute anzeigt, lässt sich die grundlegende Frage » Wie kann ich ein gutes Leben führen ? « nur schwer beantworten. In der Tat kam eine Ethik nach der Dialektischen Theologie einer Quadratur des Kreises gleich. Denn sogar der selbstlose Akt der Nächstenliebe, radikal gedacht, war ein Akt des Götzendienstes. Selbst eine selbstlose Handlung aus Nächstenliebe stellte für die Dialektische Theologie den Versuch dar, aus eigener Kraft das Gute herzustellen und aus » dem jenseitig-unbekannten einen diesseitig-bekannten Gott «18 werden zu lassen. In diesem Licht war jede Handlung gleichsam der symbolische Griff Adams nach dem Apfel, sie entsprang dem menschlichen Wahn des Gottseinwollens. Sogar ein selbstloser Akt der Nächstenliebe war im grellen Licht der Dialektischen Theologie nichts anderes als die aufkeimende sündige Veranlagung des Menschen. Nur eine einzige Lösung versprach Abhilfe aus diesem ethischen Problem, nämlich die Unterwerfung des rastlosen Ichs unter die schicksalhafte Gegebenheit. Nur die Unterwerfung des Geschöpfes unter die Schöpfung des Schöpfers löste das ethische Problem. Die christliche Lebensführung war für die Dialektischen Theologen nicht in einem vernunftethischen oder utilitaristischen Prinzip verbürgt, sondern war ausschließlich im unverfügbaren und ausheilenden Handeln Gottes begründet. In ihren Händen löste sich die Ethik in eine religiöse Haltung auf, die sich darin übte, sich dem erfüllten Augenblick, dem Kairos, zu öffnen. » Wo Eigenart, Eigenwille, Eigenmacht, Eigenrecht des Menschen zusammenbricht «, schrieb Barth in seinem Römerbriefkommentar, » wo er [der Christ] der Geopferte ist und nichts sonst […], da handelt er ethisch. «19 Der Mensch sollte also niemals unabhängig von seiner vorgefundenen Situation, nie auf eigene Faust handeln, niemals eine eigene Ordnung über das kontingente Geschehen in der Welt stülpen. Er sollte die Situation, in der er sich lebensweltlich gerade vorfand, von Gott als Schöpfer annehmen und nur innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens handeln. Wirklich ethisches Handeln mündete daher paradoxerweise stets in sein Gegenteil, in ein Nicht-Handeln. » Wie kann der [ethische Mensch] drastischer handeln «, schrieb Barth, » als, indem er gerade an dieser Stelle zu-
und theologischen Differenzen zum Trotz stammten die » Lebensgebärde « und die » Technik des Seins « (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1, Reinbeck bei Hamburg 1978, S. 131) der Dialektischen Theologie von der vagierenden Religiosität des Kaiserreichs. 18 Eduard Thurneysen, Dostojewski, München 1925, S. 45. 19 Barth, Der Römerbrief (wie Anm. 15), S. 458.
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rückkehrt zum Urquell des › Nicht-Handelns ‹. «20 Gogarten fasste den gleichen Gedanken in anderen Worten, als er schrieb: » An Gott den Schöpfer glauben, das heißt, sich von dem Schöpfer in deutungsloser Verantwortlichkeit genau da hingestellt wissen, wo man sich gerade findet. Das aber geschieht eben dann, wenn ich einen Anspruch höre und wenn ich auf ihn höre. Dann bin ich gebunden an die Situation, bestimmt durch mein Gegenüber, ich erkenne dann die Situation aus ihr selbst, aus ihrer unmittelbaren Gegebenheit. Wenn ich dagegen einen Anspruch stelle, so trete ich eben damit gerade heraus aus der Situation, in der ich mich befinde; ich stelle mich sozusagen über sie, um sie zu beurteilen und um sie an meinem Anspruch, den ich an sie anlege, zu messen. «21 Die gute Handlung, die gute Lebensführung war also nicht aus der Vernunft ableitbar oder im menschlichen Ermessen begründet, sondern schlummerte im Gebundensein an Gott. Das Heraustreten aus der situativen Gebundenheit war somit der Griff nach dem Apfel, der Turmbau Babels, die sündige Natur des Menschen. An den Aufbruch der Dialektischen Theologie war also mehr geknüpft als nur eine rein theologische Neuorientierung. An diesem Strang war auch eine religiöse Anthropotechnik gebunden. Es ging nicht ausschließlich darum, theologischdogmatische Feinheiten auszubessern, sondern es ging vor allem darum, die ethische Lebensausrichtung bedachtsam zu inspizieren. Die scharfe Linie, die das alltägliche Leben von der Universitätstheologie und die Ethik von der Dogmatik schied, wurde verwischt. Es ging den Dialektischen Theologen um Selbsttransformation, um Metanoia. Anders als ihre Lehrer haben sie ihre theologischen Impulse in die Bahnen eines Exerzitiums gelenkt. Primär ging es ihnen nicht um den dogmatischen Inhalt einer Lehre, sondern um die Einübung der negativen Ethik des » Nicht-Handelns «. Diese Ethik, die in den 1920er Jahren noch von Barth und Gogarten geteilt wurde, wirkte im folgenden Jahrzehnt wie Zündstoff, der die Dialektische Theologie schließlich zersprengte. Denn für Gogarten bedeutete sie nichts Anderes, als dass er sich 1933 seiner Situation unterwerfen und die » nationale Revolution « bejahen musste. Barth kehrte im Gegensatz stillschweigend von seiner früheren Ethik ab und ging diametral andere Wege als Gogarten, indem er sich im Laufe des Jahres 1934 der Bekennenden Kirche anschloss. Doch ich greife vor. 1923 war die Zeitschrift Zwischen den Zeiten schließlich gerade erst etabliert worden. Publizistisch war sie ein sehr großer Erfolg, mit einer vergleichsweise hohen Auflage von 2 500 Exemplaren. In der Zeit vor 1914 wäre dies eine sehr kleine Auflage gewesen, aber für die krisengeschüt-
20 Ebd., S. 506. 21 Friedrich Gogarten, Ich glaube an den dreieinigen Gott. Eine Untersuchung über Glauben und Geschichte, Jena 1926, S. 125.
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telte Weimarer Republik des Jahres 1923 war sie beachtlich. Die Zeitschrift erschien zuerst vierteljährlich und wurde dann 1926 in eine Zweimonatsschrift umgewandelt. In den ersten Jahren ihres Erscheinens arbeiteten Barth, Gogarten, Thurneysen und Merz mit großem Eifer daran, Zwischen den Zeiten theologisch und medial einheitlich zu gestalten. Mit ihrer Zeitschrift wurde das Netzwerk als neue Bewegung sichtbar und anerkannt. Der Zeitgenosse Paul Tillich resümierte Mitte der 1920er Jahre, dass die Dialektische Theologie in diesen Jahren » das stärkste und für die nächste Zukunft wichtigste Element der gegenwärtigen protestantischen Theologie [ist]. «22 Die Popularität der Zeitschrift ging einher mit dem langsamen Wachstum des Netzwerks. Rudolf Bultmann sprach im Jahr 1924 – auch auf einer Konferenz – in seinem Vortrag » Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung «23 ein öffentliches Bekenntnis für die Dialektische Theologie aus und wurde bald von Barth, Thurneysen und Gogarten als vertrauenswürdiger Verbündeter betrachtet. In seinen vielen Aufsätzen zeigte er sich als eigenständiger und intelligenter Verfechter der neuen Bewegung gegen die liberalen Theologen. Auch Emil Brunner zählte, wenn auch mit einiger Verzögerung, im Laufe der 1920er Jahre zu den Reihen der Dialektiker. Hätte man einen Zeitgenossen Mitte der 1920er Jahre danach gefragt, wer die Vertreter der Dialektischen Theologie seien, hätte die Antwort wohl gelautet, dass es viele Sympathisanten gäbe, vor allem unter den jüngeren Theologen, aber, dass der harte Kern aus sechs Akteuren bestehe: Barth, Gogarten, Thurneysen, Merz, Bultmann und Brunner. Sie waren es, die mit unterschiedlicher Betonung und Klangfarbe die Melodie von » Gott ist Gott und der Mensch ist Mensch « pfiffen. Obwohl sich dieses intellektuelle religiöse Netzwerk stets darum bemühte, in der theologischen Öffentlichkeit geschlossen und vereint aufzutreten, zeigen allerdings die privaten Briefwechsel untereinander, wie brüchig die Einheit von Anfang an tatsächlich war. Schon im Sommer des Jahres 1924, nur ein Jahr nachdem das erste Heft erschienen war, kam es innerhalb der Gruppe zu einer Kri-
22 Paul Tillich, Karl Barth, in: Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. 12: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1971, S. 187 – 193, hier: S. 188. Für ähnliche zeitgenössische Einschätzungen vgl.: Max Strauch, Die Theologie Karl Barths, München 1924; Karl Adam, Die Theologie der Krisis, in: Hochland 23, 1926, S. 271 – 286; Rudolf Köhler, Kritik der Theologie der Krisis. Eine Auseinandersetzung mit Karl Barth, Friedrich Gogarten, Emil Brunner u. Ed. Thurneysen, Berlin 1926. 23 Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung, in: Theologische Blätter 3, 1924, S. 73 – 86.
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se, welche die Zeitschrift und das gesamte Netzwerk der Dialektischen Theologie fast zum Erliegen brachte. Als Gogarten im Sommer 1924 an Barth schrieb: » Ich habe schwere Bedenken gegen den Kurs, den [unsere Zeitschrift] fährt, und meine, es sei die höchste Zeit, daß wir uns klar darüber werden, was wir damit wollen «24, war der Schweizer tief verärgert. Gogartens » Nichtmehrmitmachen «, schrieb Barth an Thurneysen, » ist nun, da wir ihn einmal an Bord haben, im Angesicht des Feindes ganz ausgeschlossen. «25 Gogarten hatte schließlich der Zeitschrift ihren Namen gegeben und bis zum Sommer des Jahres 1924 hatte er auch die meisten Aufsätze beigetragen.26 Barth bekam also Angst, sich » angesichts des Feindes « zu blamieren. Seit 1925 schwebte ständig das Damoklesschwert der Auflösung über dem Netzwerk. Die Dialektische Theologie war nicht nur von der Dialektik » MenschGott « geprägt, sondern auch von einer Dialektik des inneren Zwiespalts und der äußeren Verbundenheit. Denn gerade weil der innere Zwiespalt so stark wirkte, war die äußere Zurschaustellung der Verbundenheit so wichtig, um nicht im » Angesicht des Feindes « kapitulieren zu müssen. Deshalb wurde die Zeitschrift auch so wichtig für das Netzwerk. Sie dokumentierte nach Außen eine Art der einvernehmlichen Zusammenarbeit des Netzwerkes selbst dann, wenn es als Feigenblatt benutzt wurde. Zwischen den Zeiten konnte nur deshalb überleben, weil Georg Merz die Geschäfte stärker in die Hand nahm. Er bekam von Barth, Gogarten und Thurneysen nach der ersten Krise im Sommer 1924 die » Vollmacht eines wirklichen Schriftleiters «27. Ab dem Jahr 1926 wurden die Hefte vielfältiger bezüglich des Inhalts und der Autoren. Mit dem 7. Heft im zweiten Jahrgang kamen gleich vier neue
24 Gogarten an Karl Barth, 30. 6. 1924, in: Göckeritz (Hg.), Friedrich Gogartens Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 235. 25 Karl Barth an Eduard Thurneysen, 21. 7. 1924, in: Eduard Thurneysen (Hg.), Karl Barth – Eduard Thurneysen. Briefwechsel 1921 – 1930, Zürich 1974, S. 264 f. 26 Mit sechs Beiträgen lag er noch vor Barth, der bis zum Sommer des Jahres 1924 vier Beiträge beigesteuert hatte. Vgl. Friedrich Gogarten, Die Entscheidung, in: Zwischen den Zeiten 1, 1923, S. 33 – 47; ders., Ethik des Gewissens oder Ethik der Gnade, in: ebd. 1, 1923, S. 12 – 29; ders., Die Frage nach der Autorität, in: ebd. 1, 1923, S. 6 – 26; ders., Erwiderung an E. Hirsch von Fr. Gogarten, in: ebd. 1, 1923, S. 57 – 62; ders., Hermann Herrigel, Zum prinzipiellen Denken, in: ebd. 2, 1924, S. 3 – 18; ders., Die Kirche und ihre Aufgabe, in: ebd. 1, 1923, S. 52 – 69. 27 So Georg Merz an Gogarten, 27. 7. 1924, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek (Göttingen), Cod. Ms. F. Gogarten 400:499, Nr. 30. In diesem Brief ging er auf die Krise im Sommer 1924 ein. Für die Zukunft sah er nur drei Optionen: 1. » Zwi-
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Autoren hinzu. Nach dem dritten Jahrgang der Zeitschrift, der wieder weniger Autoren beinhaltete, kamen immer mehr Autoren hinzu. Im vierten Jahrgang, im Jahr 1927, hatten insgesamt 18 Autoren im Laufe des Jahres mindestens einen Aufsatz in der Zeitschrift beigetragen und im neunten Jahrgang (1931) waren insgesamt 27 unterschiedliche Autoren mit mindestens einen Aufsatz vertreten. Damit hatte die Autorenzahl fast das Vierfache des ersten Heftes erreicht. Die Autoreninflation und anschwellende Heterogenität der Zeitschrift, die mit dem Sommer des Jahres 1924 begann, war die natürliche Konsequenz einer immer lockerer werdenden Einheit zwischen Barth, Gogarten und Thurneysen. Wie die meisten anderen Netzwerke, die mit einer intellektuellen Bewegung identifiziert wurden, war schließlich auch das der Dialektischen Theologie eine konstruierte, eine imaginierte Gemeinschaft mit einem öffentlichen Image, das gepflegt werden musste. Dass das Netzwerk der Dialektischen Theologie als eine theologische Bewegung wahrgenommen wurde, war nicht das Produkt einer inhärenten Suggestivkraft. Dieser Umstand war das Resultat strategischen Kalküls. In den privaten Briefen untereinander wird deutlich, dass persönliche Ressentiments und theologische Differenzen bewusst in den Hintergrund gedrängt wurden, um in der Öffentlichkeit einheitlich zu wirken. Die Künstlichkeit der Konstruktion der Dialektischen Theologie als ein einheitliches Netzwerk ist an allen Ecken zu spüren. Mit der Zeit wurde es aber immer schwieriger, die komplexe Konstruktion der Dialektischen Theologie aufrechtzuerhalten. Das lag vor allem daran, dass Barth und Gogarten unterschiedliche Wege gingen. Barth hatte dank seines Römerbriefkommentars ganz überraschend im Jahr 1921 einen Ruf an die Universität Göttingen bekommen und tauschte daher die Kanzel mit dem Katheder. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich infolgedessen immer stärker auf die Entwicklung einer systematischen Dogmatik. Dass er seine theologische Position dabei häufiger neu beziehen musste, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er nicht nur seinen Römerbriefkommentar in einer zweiten Auflage ganz veränderte. Dieses Muster setzte sich fort, als er seine Christliche Dogmatik von 1927 in komplet-
schen den Zeiten stellt sein Erscheinen ein. «, 2. » Z. d. Z. erscheint in loser Folge als › Organ für theologische Arbeit ‹ mit strenger Auslese. « Oder 3. die Zeitschrift erscheine weiter wie geplant, allerdings nur unter einer Bedingung: » Ihr übergebt mir im Vertrauen auf die Verbundenheit mit der Sache, um die es uns allen geht und in der sicheren Erwartung, dass ich Euch vorher informieren und in allen wichtigen Dingen mindestens mit Thurneysen mich ins Einvernehmen setze, die Vollmacht eines wirklichen Schriftleiters, der disponieren darf, sich nach Mitarbeitern umschaut, und, erschrickt [sic !] nicht, auch Mitarbeiter heranbildet. «
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ter Revision im Spätherbst 1932 mit dem ersten Band der heute weltbekannten Kirchlichen Dogmatik ersetzte. Gogartens Entwicklung verlief hingegen ganz anders. Universitätsprofessor wurde er erst 1931 in Breslau. Seine Werke scheuten jede Art der Systematik. Im Gegensatz zu Barth war der Stelzendorfer Pfarrer jemand, der es ganz ablehnte, ein theologisches System zu errichten. Theologie war für ihn immer punktuelle Intervention von Existenzentwürfen. Er war lange nicht im akademischen Betrieb und schrieb keine großangelegten Bücher für die theologische Wissenschaft. Als Pfarrer hielt er auf Anfrage Vorträge auf Konferenzen, die er dann in Aufsatzsammlungen veröffentlichte.28 Kurzum: Barth dachte in systematischen Büchern, Gogarten dachte in Essays und Predigten. Aber nicht nur unterschieden sie sich in der Art, wie sie theologisches Wissen ordneten. Mit der Wissensordnung gingen inhaltlich-theologische Unterschiede einher. Während für Gogarten die existentielle Gebundenheit des Menschen an seine situative Ordnung das organisierende Prinzip jedes theologischen und philosophischen Denkens sein musste, wollte Barth aus dem engen existentiellen Raum des Menschen heraustreten. Für Gogarten konnte dieses Heraustreten allerdings immer nur eine leere Abstraktion bedeuten. Mit dieser leeren Abstraktion wurde die christliche Botschaft, die Menschen existentiell angehen sollte, in ein Prokrustesbett gespannt, ihr Inhalt wurde damit, wie es Gogarten später über Barths Theologie ausdrückte, » geschichtslos und › entmenschlicht ‹ «.29 In Barths Augen war Gogarten ein lutherischer Existentialist und in den Augen Gogartens war Barth ein liberaler Idealist. » Irgendwie werden es schon die alten, nie recht erledigten lutherisch-reformierten Kontroversen sein, die uns ein wenig von beiden Seiten Beschwerden machen und die vielleicht noch einmal in einer großen Explosion innerhalb von ZdZ [Zwischen den Zeiten] zum Ausbruch kommen werden «30, schrieb Barth 1927 in einem Brief an Bultmann. » Es bleibt nichts übrig «, schrieb er kurze Zeit später in einem Brief an Thurneysen, » als daß wir uns
28 Friedrich Gogarten, Die religiöse Entscheidung, Jena 1921; ders., Von Glauben und Offenbarung. Vier Vorträge, Jena 1923; ders., Illusionen. Eine Auseinandersetzung mit dem Kulturidealismus, Jena 1926; ders., Glaube und Wirklichkeit, Jena 1928; ders., Das Bekenntnis der Kirche, Jena 1934. Auch Gogartens Ich glaube an den dreieinigen Gott war eine Arbeit, die eigentlich aus mehreren Vorträgen stammte. 29 So argumentierte Gogarten später in: ders., Gericht oder Skepsis. Eine Streitschrift gegen Karl Barth, Jena 1937, hier: S. 18. 30 Karl Barth an Rudolf Bultmann, 28. 4. 1927, in: Bernd Jaspert (Hg.), Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911 – 1966, Zürich 1971, S. 71.
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machen lassen und die Mitwelt nicht merken lassen, wie fragwürdig das Bindestrichlein Barth-Gogarten in Wahrheit ist. «31
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Hätten die Dialektischen Theologen nicht den Druck gespürt, sich nach außen hin als vereinte Bewegung zu zeigen, wäre der natürliche Abschluss der Zusammenarbeit spätestens in das Jahr 1930 gefallen. Denn in diesem Jahr vereinbarten die wichtigsten Akteure des Netzwerkes, mit Ausnahme von Emil Brunner, sich zu einem Treffen zu versammeln, um die angestauten Probleme zu diskutieren. Der Ärger, der in der Luft lag, sollte durch ein persönliches Treffen in Marburg im Jahr 1930 im Anschluss an eine Konferenz abgebaut werden.32 Die Hoffnung war groß, dass mit diesem Marburger Aussöhnungsgespräch im Oktober brennende Probleme und Missverständnisse, die sich über die Jahre zwischen Gogarten, Bultmann und Barth aufgetürmt hatten, ausgeräumt werden könnten. Aber zum » Marburger Religionsgespräch « sollte es nie kommen, da kurz vorher Gogarten aus ungeklärten Gründen absagte. Das Nichtzustandekommen dieser Geheimdiplomatie wirkte wie eine stille Implosion. Es war nun klar, dass keiner der Beteiligten sich mehr darum kümmern würde, die Konstruktion des Netzwerks aufrechtzuerhalten. Die Dialektische Theologie war ab dem Herbst 1930 ein gleichsam verlassenes Haus. Ab Oktober 1930 ebbte der Briefwechsel zwischen Bultmann, Barth und Gogarten merklich ab. Ohne rechten Briefwechsel geschah das, was mit allen intellektuellen Netzwerken passiert, wenn keine Briefe mehr geschrieben werden können: es erstickte langsam. Dennoch blieb die Zeitschrift Zwischen den Zeiten weiterhin bestehen. Es gab schließlich keinen Anlass, sie nicht mehr erscheinen zu lassen. Der endgültige Anlass einer Aufkündigung der Zusammenarbeit kam erst im turbulenten Jahr 1933. Gogarten trat im August den Deutschen Christen bei. Für einige Zuschauer war dieser Schritt die natürliche Konsequenz der Ethik der Dialektische Theologie33, für andere war dieser Schritt eine perverse Aberration. Wie auch immer
31 Karl Barth an Thurneysen, 15. 5. 1927, in: Thurneysen (Hg.), Barth – Thurneysen. Briefwechsel (wie Anm. 25), S. 500. 32 Vgl. Rudolf Bultmann, 6. 9. 1930, in: Hermann Götz Göckeritz (Hg.), Rudolf Bultmann – Friedrich Gogarten. Briefwechsel 1921 – 1967, Tübingen 2002, S. 184. 33 Vgl. z. B. Gerhard Leibholz, Die Auflösung der liberalen Demokratie in Deutschland und das autoritäre Staatsbild, München 1933; Hans Schlemmer, Von Karl Barth zu den Deutschen Christen. Ein Wort zum Verständnis der heutigen theologischen La-
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man diesen Schritt bewertet, er wurde als Anlass genommen, um das Ende der Zeitschrift zu verkünden. Barth teilte allen mit, dass er die Zeitschrift verlassen würde. Am 30. September 1933 traf sich eine Gruppe in München im Verlagshaus Christian Kaiser, um über das Ende der Zeitschrift zu diskutieren. Darunter fanden sich Karl Barth, seine Begleiterin Charlotte von Kirschbaum, Albert Lempp, Georg Merz und Eduard Thurneysen. Gogarten fehlte. Tatsächlich vollzog sich das schnelle Begräbnis der Zeitschrift komplett hinter seinem Rücken. Nur durch ein Sitzungsprotokoll34, das Thurneysen schrieb und das Gogarten später zugeschickt wurde, erfuhr der Abwesende Genaueres über die Gespräche in München.35 » Die Zeit zwischen den Zeiten ist abgelaufen «36, sagte Barth schroff in die Runde. Die » Zeit der gemeinsamen Front « sei vorbei. Zu unterschiedlich seien nun die eingeschlagenen Wege der einstigen Dialektischen Theologen. Er könne das » System der Käseplatte « nicht länger unterstützen, sagte der Schweizer. Das System, » wo Emmentaler neben Parmesaner liegt und man sich nach Belieben bedienen darf. […] Ich muss deutlich zu verstehen geben «, gab Barth in der Runde kund, » dass es hier für mich um ein Entweder Oder geht. «37 Über Gogarten sagte er schließlich: » Es ist wie mit zwei Schienen, die eine Zeit lang parallel laufen, um sich dann schließlich doch zu trennen. «38
ge, Gotha 1934; Franz Tügel, Unmögliche Existenz ! Ein Wort wider Karl Barth, Hamburg 1933; Wilhelm Lütgert, Die theologische Krisis der Gegenwart und ihr geistesgeschichtlicher Ursprung, Gütersloh 1936. 34 Vgl. » Sitzung › Zwischen den Zeiten ‹ 30. Sept. 1933 in München, Cod. Ms. F. Gogarten 400:778. Auch abgedruckt in: Göckeritz (Hg.), Friedrich Gogartens Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 395 – 408. 35 Zum » Abschied « der Zeitschrift vgl. Michael Beintker, Barths Abschied von › Zwischen den Zeiten ‹. Recherchen und Beobachtungen zum Ende einer Zeitschrift, in: Michael Beintker u. a. (Hg.), Krisis und Gnade. Gesammelte Studien zu Karl Barth, Tübingen 2013, S. 86 – 107. 36 » Sitzung › Zwischen den Zeiten ‹ 30. Sept. 1933 in München, Cod. Ms. F. Gogarten 400:778, siehe auch Göckeritz (Hg.), Friedrich Gogartens Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 396. 37 » Sitzung › Zwischen den Zeiten ‹ 30. Sept. 1933 in München, Cod. Ms. F. Gogarten 400:778, siehe auch Göckeritz (HG.), Friedrich Gogartens Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 396. 38 » Sitzung › Zwischen den Zeiten ‹ 30. Sept. 1933 in München, Cod. Ms. F. Gogarten 400:778, siehe auch Göckeritz (Hg.), Friedrich Gogartens Briefwechsel (wie Anm. 3), S. 398 f.
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Doch bevor die Zeitschrift ihr Erscheinen ganz einstellte sagten Barth, Thurneysen und Merz jeweils einen letzten » Abschied «, die dann als Nekrologe in der letzten Ausgabe erschienen. Gogarten durfte selbst keine Abschiedsworte abdrucken lassen, kam stattdessen indirekt durch den Beitrag von Merz zu Worte. Er hatte nämlich einige Tage zuvor an Merz einen Brief geschickt, der in Merz’ Abschiedsbeitrag in längeren Zitaten vorkam. Zudem wurde eine Predigt in der gleichen Ausgabe von ihm abgedruckt, die er im Mai des Jahres 1933 gehalten hatte.39 Mit dieser letzten Abschiedsausgabe ging das Zeitschriftenprojekt zu Ende. In der aufgeladenen Zeit des Herbstes 1933 war der Zusammenbruch des Organs der Dialektischen Theologen mehr als nur das Scheitern eines Zeitschriftenprojekts. Es war auch das Ende der theologischen Bewegung. Nach dem Jahr 1933 lässt sich nur noch sehr schwer von der Bewegung der Dialektischen Theologie sprechen. Es ging nach 1933 nur noch darum, wer berechtigt war, ihr Erbe anzutreten. Der Briefwechsel zwischen Barth und Gogarten brach komplett ab. Sie haben sich nur noch einmal in einer kirchenpolitisch sehr angespannten Situation wiedergesehen. Danach sprachen sie nie wieder miteinander, nur noch über einander. Barth, Gogarten und Bultmann gingen ganz unterschiedliche Wege, politisch wie theologisch. Die Deutungshoheit über die Erinnerungsgeschichte der Dialektischen Theologie nach dem Ende des Dritten Reiches konnten ganz eindeutig Barth und seine Schüler erringen. So sehr, dass heute die Dialektische Theologie fast ausschließlich aus der Sicht Barths erzählt wird.
S chluss » Es gibt ein Bild, « erzählte Barth einmal einigen Studenten im Frühling des Jahres 1964, » wo Thurneysen und Gogarten und ich an jenem Tag, [an dem] wir irgendwo im Kanton Zürich dieses › Zwischen den Zeiten ‹ gegründet haben, uns gegenüber sitzen. Ich habe damals noch einen größeren Schnurrbart getragen, der mir sehr wohl anstand. Und der Gogarten hat auch so ein Schnäuzchen gehabt – das hat man eben noch gehabt, vom 19. Jahrhundert her. Und ich schaue ihn merkwürdig mißtrauisch an, ganz scharf. Und Thurneysen sitzt friedlich und klar in der Mitte zwischen beiden. Er war sehr dafür gewesen, daß man diesen Gogarten aufnehme in diesen Kreis, der unter Leitung von Georg Merz aus Bayern, aus München damals, sich gebildet hatte. Und ich wollte nicht nein sagen, aber ich
39 Friedrich Gogarten, Predigt über Joh 15, 26 – 27. Gehalten in der Elisabethkirche zu Breslau am 18. Mai 1933, in: Zwischen den Zeiten 11, 1933, S. 465 – 472.
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habe nicht so recht von Herzen ja gesagt. Denn ich habe bei dem Gogarten immer so etwas gerochen, was mir nicht so einleuchtete. «40 Diese spätere Erinnerung, 40 Jahre nachdem die Zeitschrift ihr erstes Heft herausgab, macht deutlich, wie sehr das intellektuelle Netzwerk der Dialektischen Theologie eine Konstruktion war, eine schwierige Konstruktion, eine widersprüchliche, eine gebrochene Konstruktion. Aber sie war auch eine Konstruktion, die sich durch öffentliche Koalitionsbildung, durch briefliche Zusicherungen, durch Konferenzauftritte und eine gemeinsame Zeitschrift über elf Jahre lange halten konnte und den deutschen Protestantismus nachhaltig veränderte. Um einer religiösen, lebensreformerischen Bewegung Autorität zu verleihen, zahlt scheinbar jeder Kreis, jeder Bund und jedes Netzwerk den Preis der Maskierung, der Funktionalisierung und der Konstruktion und nimmt die ganze Sphäre der Künstlichkeit freiwillig auf sich. Und wenn diese vorsichtig gepflegte Konstruktion zerbricht, aus welchen Gründen auch immer, so blicken die Beteiligten aus späterer Zeit nicht selten mit erstaunter Aufmerksamkeit darauf zurück und wundern sich darüber, welche Spannkraft und Inszenierung dafür nötig war.
40 Karl Barth, Gespräch mit Tübinger › Stiftlern ‹ (2. 3. 1964), in: Eberhard Busch (Hg.), Karl Barth Gesamtausgabe IV: Gespräche 1964 – 1968, Zürich 1997, S. 31 – 129, hier: S. 119.
»Sozialismus im weitesten Sinne heißt: Verpflichtet sein!« Der Leuchtenburg-Kreis in Sachsen als Diskussionsund Experimentierfeld demokratischen Engagements J ustus H. U lbr icht
» Keiner vermag heute zu entscheiden, ob es Begnadung oder Fluch der jungen Generation ist, in dieser, gerade dieser Gegenwart zu leben. « Hermann Windschild, Leuchtenburg-Treffen, Herbst 1926
Pädagogischer Eros, religiös-weltanschauliche Sinnsuche, Orientierungsbedürfnisse im Feld des Politischen sowie der Glaube an eine sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft verändernde Macht gemeinsamer kultureller Praxis führte Mitte der Zwanziger Jahre eine gemischtgeschlechtliche Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen, die sich nach ihrem beliebten Wanderziel und Gründungsort, der thüringischen Leuchtenburg bei Kahla, im Hinterland von Jena, » Leuchtenburg-Kreis «1 nannte – dessen eigentliches Zentrum jedoch in Leipzig lag.2 1 Eine moderne Geschichte der Leuchtenburg bei Kahla fehlt bisher; vgl. aber Kurt Haufschild, Leuchtenburg – Treffpunkt der Jugendbewegung, Leuchtenburg 1975. Lichtund Skandalgestalt der Leuchtenburg war der » Messias von Thüringen «, Friedrich » Muck « Lamberty, und dessen » Neue Schar «; dazu Ulrich Linse, Barfüßige Propheten. Erlöser der Zwanziger Jahre. Berlin 1983, S. 97 – 128; Kurt Haufschild, Leuchtenburg. 1227 Luchtinberc. 1333 Luchtinbg. 1503 Luchtenburgk, Seitenroda 1983. 2 Vgl. das Vorwort von Fritz Borinski und Berti Blochwitz im gedruckten Tagungs-
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Auf der Leuchtenburg existierte seit 1920 die erste Jugendherberge Thüringens. Der damalige Burgwart Hermann Möhring war Sozialdemokrat; er meinte anlässlich des 3. Treffens der Leuchtenburger zu Ostern 1926: » Vor Zeiten waren Burgen politische Kraftzentren, sie sind es nicht mehr und harren einer anderen Aufgabe: jugendlich kulturelle Kraftzentren zu sein. Ihre Aufgabe ist unsere Forderung und Verpflichtung. In den Reihen der Jugendburgen fehlt noch die Thüringer: Die Leuchtenburg. Daß man sie unter ihnen findet, dazu helft. «3
Die Geschichte dieses Kreises wurde bisher ausschließlich von den › Ehemaligen ‹ erzählt. Sie soll im Folgenden kurz skizziert werden, da sich im Denken und Tun der Leuchtenburger4 zahlreiche Facetten jugendbewegter Existenz zwischen den Kriegen erkennen lassen und man am Schicksal dieses Kreises nachzeichnen kann, wie schwer es vielen jungen Menschen gegen Ende der Weimarer Republik gefallen ist, eine klare Position zur Politik und deren Extrempolen Kommunismus und Nationalsozialismus zu finden. Die im Kreis über mehrere Jahre debattierten Themen wie die Stellung zum Sozialismus, zur organisierten Arbeiterbewegung, zu Christentum und Religion, zur deutschen Nation und ihrer Geschichte, zum » Judentum « und zur modernen industrialisierten Massengesellschaft sowie die kulturpolitischen und pädagogischen Konzepte zur Versöhnung von Individuum und Gemeinschaft, Staat und
bericht des 3. Treffens auf der Leuchtenburg [Ostern 1926]: » Leipzig ist Vorort des Leuchtenburgkreises. « Die Tagungsberichte (1924 – 1930) des Leuchtenburgkreises finden sich im Archiv der deutschen Jugendbewegung Burg Ludwigstein (AdJB) unter der Signatur A 111 Nr. 2. 3 Hermann Möhring, Die Leuchtenburg, in: 3. Treffen. Tagungsbericht, Ostern 1926, S. 12, in: AdJB A 111, Nr. 2. – Zur Idee der Jugendburg vgl. G. Ulrich Großmann, Jugendburgen, in. G. Ulrich Großmann/Claudia Selheim (Hg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung. Nürnberg 2013, S. 82 – 91. Der Untertitel dieses Sammelbandes macht es sich etwas zu einfach. Es fehlt etwa die Kategorie der » Selbstgleichschaltung « der Bewegung um und nach 1933. Zudem brach nicht die gesamte Jugend 1900/1913 auf, sondern deren kleinster Teil, die Schüler der Gymnasien und Oberrealschulen und die Kinder des Bürgertums. Die Arbeiterjugendbewegung brach erst später auf ! 4 Detlef Oppermann, » Die Leuchtenburger «. Zwischen Jugendbewegung, republikanischem Bekenntnis und Erwachsenenbildung, in: Paul Ciupke/Franz-Josef Jelich (Hg.), Soziale Bewegung, Gemeinschaftsbildung und pädagogische Institutionalisierung. Erwachsenenbildungsprojekte in der Weimarer Republik, Essen 1996, S. 53 – 61.
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Nation, Bürgertum und Proletariat beschäftigten nahezu alle Gruppen und Bünde in den Weimarer Jahren. Anzumerken ist jedoch in aller Deutlichkeit, dass das intellektuelle Niveau der Leuchtenburger und deren liberale, oftmals dezidiert sozialdemokratische Orientierung (bei fraglos nationalem Standpunkt)5 alles andere als repräsentativ für die Mehrheit der Jugendbewegten – auch in Sachsen – gewesen ist. Durchmustert man die Kurzbiographien von 34 Mitgliedern des Leuchtenburgkreises, die dessen Chronist Fritz Borinski6 der Überlieferung für wert befand,7 so wird die Vernetzung unterschiedlicher kultureller Milieus und das Panorama der Gruppen und Bünde deutlich, aus denen die Leuchtenburger stammten: Mehrfach ist der Wandervogel genannt, sodann die Pfadfinder, zumal die sächsischen » Ringpfadfinder «,8 die » Deutsche Freischar «, der » Bund der Köngener « – auch der » Jungdeutsche Orden « (in einem Fall) fehlte nicht. Daneben stellten die » Deutsche Demokratische Jugend «9, einzelne sozialistische Studentengruppen, die » Sozialistische Arbeiter-Jugend «10 und der » Hofgeismar-Kreis « der Jung-
5 Die Fahne des Leuchtenburg-Kreises war rot, trug aber einen schwarzen, stilisierten Reichsadler auf beiden Seiten. Als verbindlich für das Selbstverständnis galt ein Diktum Friedrich Naumanns: » Das Bekenntnis zur Nation und zur Menschwerdung der Masse sind für uns nur zwei Seiten ein und derselben Sache. « Vgl. Fritz Borinski u. a. (Hg.), Jugend im politischen Protest. Der Leuchtenburgkreis 1923 – 1933 – 1977, Frankfurt a. M. 1977, S. 21. 6 Vgl. Anm. 12. 7 Borinski u. a. (Hg.), Jugend (wie Anm. 5), S. 211 – 226. 8 1922 trennten sich mehrere Pfadfindergruppen vom » Deutschen Pfadfinderbund « (DPB) und konstituierten sich als » Ringpfadfinder «. Im Herbst 1925 fusionierte dieser Bund mit den » Neupfadfindern « (Martin Voelkel, Ludwig Voggenreiter, Franz Ludwig Habbel) zum » Großdeutschen Pfadfinderbund «. Die Sachsen unter Hans Riedel gründeten die selbstständige » Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder «. 9 Die Jungdemokraten waren auf dem Demokratischen Jugendtag (25. – 27. April 1919) als » Reichsbund der Deutschen Demokratischen Jugendvereine « gegründet worden. 1928 nannten sie sich dann in » Reichsbund der Deutschen Jungdemokraten « um. Der Verband stand der Deutschen Demokratischen Partei nahe. Als diese um 1930 allmählich weiter nach rechts rutschte, distanzierten sich zahlreiche Jungdemokraten von ihr. 10 Die Sozialistische Arbeiter-Jugend (SAJ) entstand nach der Wiedervereinigung von SPD und USPD aus deren Jugendverbänden. Der SPD-nahe » Verband der Arbeiter-
jugendvereine Deutschlands « (VAJV, ca. 90 000 Mitglieder) und die USPD-nahe » Sozialistische Proletarierjugend « (SPJ, ca. 20 000 Mitglieder) schlossen sich am
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sozialisten ein weiteres Rekrutierungsfeld späterer Leuchtenburger dar. Von diesen studierten mehrere in Jena und Leipzig, wo sie sowohl dem freistudentischen Milieu näher kamen als auch Kreisen um den Jenaer Verleger Eugen Diederichs11 und um die Leipziger akademischen Lehrer Theodor Litt,12 Hermann Heller und Hans Freyer.13 Von noch größerer Bedeutung aber waren die Institutionen und Personennetzwerke der » Leipziger Richtung «14 der Erwachsenenbildung, die wieder um auch in der Diederich’schen Hauszeitschrift » Die Tat « ein Forum für ihre Ideen fanden. Fritz Borinski und Berti Blochwitz, die unbestrittenen Führer des 29. Oktober 1922 zur SAJ zusammen. Damit war dieser Verband etwa doppelt so groß wie die gesamte Bündische Jugend ! 11 Der zweitälteste Sohn des Verlegers, Niels Diederichs (1902 – 1973), legte 1921 das Abitur ab, absolvierte dann eine Buchhändlerlehre und nahm das Studium der Germanistik, Geschichte und Soziologie auf, von dem er die meiste Zeit in Leipzig verbrachte. Dort stand er in engerem Kontakt zu Hans Freyer und jüngeren Angehörigen der Jugendbewegung und einzelner Pfadfinderbünde. Seit dem Gründungsjahr 1924 war Niels auch ein Leuchtenburger, die sich in kleinerem Kreis mehrmals in seinem Jenaer Elternhaus trafen. Zur Gedankenwelt und den Prägungen von Niels Diederichs s. Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner, Die Diederichs-Verleger – Annäherungen, in: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag – Aufbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996, S. 127 – 166; insbes. S. 153 ff. – Zu Diederichs vgl. außerdem Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (1896 – 1930), Wiesbaden 1998; Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900 – 1949, Göttingen 1999. 12 Fritz Borinski war von 1931 bis 1933 Assistent bei Theodor Litt. 13 Dieser war vor 1914 bereits entscheidend geprägt worden durch die Mitgliedschaft im Sera-Kreis um Diederichs; vgl. dazu Meike G. Werner, Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena, Göttingen 2003, S. 275 – 322. Aus dem Schülerkreis Freyers stammten einige der Leuchtenburger. 14 Erste umfassende Darstellung von Klaus Meyer, Arbeiterbildung in der Volkshochschule. Die » Leipziger Richtung «. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Volksbildung in den Jahren 1922 – 1933, Stuttgart 1969; vgl. auch Thomas Adam, Eugen Diederichs und die Leipziger Volkshochschulbewegung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ulbricht/Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform (wie Anm. 11), S. 118 – 134. – Innerhalb der » Leipziger Richtung « existierten gleichwohl unterschiedliche Bildungspositionen und pädagogische Ansätze, so etwa bei Hermann Heller und dessen Nachfolger im Amt Paul Hermberg.
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» Leuchtenburg-Kreises «, waren beide über Jahre als Lehrer an der Leipziger Volkshochschule bzw. an den dortigen Volkshochschulheimen für junge Arbeiter tätig. Mit Hermann Heller und dessen Nachfolgern als Leiter der Leipziger Volksbildung (Paul Hermberg 1924 – 1929, Hermann Gramm 1929 – 1933) sowie mit Gertrud Hermes15 standen die Leuchtenburger in engem Kontakt. Sie alle teilten die Überzeugung, dass die moderne Volksbildung die Bedürfnisse und die soziale Lage des Proletariats ebenso ernst zu nehmen habe wie bestimmte theoretische Positionen des Sozialismus. Radikal kommunistische und » bolschewistische « Standpunkte jedoch wurden abgelehnt. Es ging in der praktischen Arbeit darum, die bürgerlich-idealistische Idee der Bildung der Lebenswirklichkeit der Bürger und Arbeiter anzunähern und letztere an bestimmte Kernbereiche bildungsbürgerlicher Kultur aus dem » abendländisch-christlichen Kulturkreis «16 heranzuführen. Folgt man Hermann Heller, dann ging es ihm letztendlich um die » Eingliederung der Arbeiterschaft in die nationale Kulturgemeinschaft als Aufgabe der Volksbildung «.17 Die » konkrete Bildungssituation « werde bestimmt durch » den besonderen Kulturkreis, die historische Kulturlage, die Nation, die Klasse, den Beruf, das Geschlecht und die Altersstufe. «18 Die » religiösen, politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Streitfragen « der modernen Gesellschaft dürften nicht ausgegrenzt werden, sondern » gehören geradezu in den Mittelpunkt der freien Volksbildungsarbeit. «19 Es gehe in der pädagogischen Arbeit also um sozialen, ökonomischen und politischen Realismus. » Nicht in einer voreiligen Metaphysik und Romantik, die den furchtbaren Wirklichkeiten unserer geistigen und politisch-wirtschaftlichen Lage sich nicht gewachsen zeigen könn-
15 Heller und Hermes arbeiteten auch als Lehrer an der Volkshochschule auf der Sachsenburg bei Franz Angermann; Fritz Borinski war dort von 1929 bis 1931 Hauptlehrer. 16 Hermann Heller, Freie Volksbildungsarbeit. Grundsätzliches und Praktisches vom Volksbildungsamte der Stadt Leipzig, In Gemeinschaft mit vielen Mitarbeitern [formuliert] von Hermann Heller. Leipzig 1924, S. 7. 17 Vgl. das gleichlautende, die Positionen von Heller und Hermes resümierende Kapitel bei Meyer, Arbeiterbildung (wie Anm. 14), S. 134 – 140. – Vgl. auch Adam, Eugen Diederichs (wie Anm. 14), S. 118 – 134. 18 Heller, Freie Volksbildungsarbeit (wie Anm. 16), S. 5. – Dort formuliert Heller (S. 4 – 18) den » Geist des Amtes «, also das Grundverständnis des Volksbildungs- und Volksbildneramtes. 19 Ebd., S. 6. Das Zitat wurde meinem Satzbau grammatikalisch angepasst.
160 | Justus H. Ulbricht te und schließlich nur unseren Willen einlullen wird, liegt das Heil. Alle Kulturleistungen, auch die höchsten, wachsen auf einem bestimmten Boden dieser Erde, aus einer konkreten Kultursituation, mag auch nachher ihre Wirkung und Geltung über alle Grenzen hinausgehen. Die im Wandel der Kulturlagen sich am deutlichsten abhebende Einheit der Kulturleistungen nennen wir Nation. Eine kulturproduktive, nicht nur kulturgenießerische Bildung muß deshalb die aus der Schicksalsgemeinschaft erwachsende Kulturgemeinschaft der Nation als eine der entscheidendsten Erfüllungen der konkreten Bildungssituation anerkennen […] «.20
Im Prozess der zunehmenden Individualisierung seit Renaissance und Aufklärung hätten sich alte Gemeinschaftsformen zersetzt. Aber: » Aus der Formlosigkeit der atomisierten bürgerlichen Gesellschaft hebt sich so die Nation als erste große gestaltende und gestaltgebende Gemeinschaftsform in das Bewußtsein der Zeit [um 1800 – JHU]. «
Doch der gesellschaftliche Prozeß sei danach auf problematische Weise weitergegangen: » Maschine und Rechenhaftigkeit schufen im ganzen Kulturkreis eine Wirtschaftsform, die aus der Nation eine ungeheure Masse herausriß. Für die nun Marx konstatierte. › Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben. ‹ «21
Es zeigt sich, dass Hellers kulturkritischer Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung der Moderne in seinen Augen nur eine Konsequenz zuließ: die politische und soziale Reintegration des Proletariats in die Nation22 und damit die Schaffung einer » Volksgemeinschaft «. Diese Einstellung musste sich gegen den radikalen völkischen Nationalismus der Zeit, in dem bestimmte Gruppen der Bevölkerung radikal ausgegrenzt wurden, ebenso zur Wehr setzen wie gegen die Idee des Klassenkampfes, der auf die Entmachtung und Abschaffung des Bürgertums ziele und auf die Alleinherrschaft des Proletariats setze.
20 Ebd., S. 7 f. 21 Beide Zitate: ebd., S. 9. 22 Der Tagungsbericht vom 1. Leuchtenburgtreffen im Herbst 1924 spricht von der » Volkwerdung des Proletariats « (S. 7) als einem Ziel des Kreises. Bericht in AdJB A 111, Nr. 2.
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» […] es gilt der ungestalteten Masse der Handarbeiterschaft zur Formwerdung zu helfen; es gilt eine Arbeiterkultur mitzuschaffen, und eben damit die nationale und europäische Gesamtkultur zu retten. «23
Da immer nur » Wenige bildungsfähig [sind], die dann als energetische Zentren die übrige Masse durchgestalten «,24 dürfe es sich nicht darum handeln, im Prozess der Bildung, » die Arbeiterklasse von ihren gestaltungskräftigen Individuen zu entbluten, sondern im Gegenteil [gehe] es darum, eben diese Arbeiter aus ihrer Klasse für ihre Klasse zu bilden. «25 Eine » wahre Tollhausidee « sei allerdings die » von manchen Linksradikalen gehegte Idee einer anti- oder anationalen Esperanto- oder Idokultur auf den Trümmern der nationalen Kulturen. «26 Hellers Idee der Arbeiterbildung als Volksbildung, die von Gertrud Hermes mit Blick auf die weibliche Seite der Geschichte geteilt wurde, ist hier nur deshalb so ausführlich rekapituliert worden, weil vor diesem Hintergrund klar wird, warum der » Leuchtenburg-Kreis « sich mit bestimmten Themen so intensiv befasst hat. Zudem springt die Verwandtschaft im Denken zwischen Heller und zahlreichen Jugendbewegten ins Auge, die als Nicht-Völkische und Demokraten sich dem Proletariat und dessen politischen Vorstellungen annähern wollten, ohne radikalen Klassenkampfparolen und einer linksradikalen Kulturkampf-Mentalität zu folgen. Die – oben bei Heller zitierte – Absage an jegliche Formen einer falschen Romantik galt allerdings allein für die pädagogischen Grundannahmen, die jedoch einen irrationalen Kern behielten.27 Das Gruppenleben der Leuchtenburger und deren Tagungen auf der » Burg des Lichts «, wie man die Leuchtenburg als » Kö-
23 Heller, Freie Volksbildungsarbeit (wie Anm. 16), S. 11. 24 Ebd., S. 10. 25 Ebd., S. 11. 26 Ebd., S. 11. – Ido ist eine Kunstsprache, die 1907 durch den französischen Mathematiker und Philosophen Louis Couturat und den französischen Hauslehrer Louis de Beaufront auf der Basis von Esperanto (1887 entwickelt) geschaffen worden ist. 27 Vgl. Heller, Freie Volksbildungsarbeit (wie Anm. 16), S. 4: » Bei aller Bildungsarbeit ist selbstverständlich gerade ihr Wesentliches, das irrational-persönliche Moment, nicht in Begriffe und Worte zu fassen, und deswegen auch nicht mitteilbar. « – Dies erinnert an ähnliche Denkformen in der Jugendbewegung, die vom » Geheimnis bündischer Führung « raunt und proklamierte, das, was in den Gruppen und zwischen Führern und Geführten, den Jungen und Älteren abliefe, sei letztlich nur erlebbar, nicht jedoch rational erfassbar und daher nicht zu beschreiben. Vgl. das Gespräch un-
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nigin des Saaletales « oftmals nannte, war und blieb ganz bündisch-pfadfinderisch bewegt und zollte dem Pathos neuen Werdens und Hoffens jeden Tribut. Der Bericht vom ersten Treffen der » Neudeutschen Freischaren « auf der Leuchtenburg im Herbst 1924 beginnt so: » Fackelglanz taucht empor aus der Nacht des Dohlensteines und erleuchtet die Fahne, für die unsere Väter in heiliger Liebe zum Vaterlande ihr Leben ließen und die der Hort ihrer Hoffnung war. Jetzt ist sie in den Staub gezogen und der Schmähungen sind kein Ende. Und dennoch haben sich in dieser mitternächtigen Stunde junge Deutsche aus allen Gauen des Vaterlandes um sie versammelt, um unter diesem Zeichen das neue Reich zu gründen. […] Der Morgenglanz des folgenden Tages findet diese Menschen zu froher, ernster und ehrlicher Arbeit vereint. Man flüchtet nicht vor dem ehernen Schritt unserer Zeit in die Waldeinsamkeit gegenseitiger Seelenbeichten und in sentimentale Träumereien jugendlicher Phantasie. Nein, die ganze Not der Gegenwart wird ausgebreitet und hier findet sie den entschlossenen Blick, der zum Handeln nottut. […] So sprachen wir denn über Volk und Gemeinschaft, Kultur und Staat. […] Ich habe die Überzeugung, daß alle, die von der Leuchtenburger Tagung gingen, mit neuer Kraft und stärkerem Willen in den Alltag hinabtauchen. […] Zwei Abende einten zur Feier. Führer der neuen Jugend, Dichter von Gottes Gnaden kamen zu Worte. Die inhaltsschweren Verse Georges lösten ein tiefes Erschauern aus und ein feierliches Glücksgefühl zum Kampfe des Lebens. […] Deshalb zogen wir am letzten Abend im bachantischen [sic !] Zuge hinaus, sangen wilde Lieder im Fackelschein und milde Gesänge im bleichen Mondesglanze. […] War so alles beieinander, was das heilige Deutschland von seiner Jugend erwartet ? «28
ter älteren Jugendbewegten: Vom Geheimnis bündischer Führung: Dokumentarische Gespräche mit Dr. Hermann Kügler, Ludwig Liebs, Karl-Heinrich Zimmermann, Frankfurt a. M. 1980. 28 Leuchtenburgtreffen der Neudeutschen Freischaren Herbst 1924, in: AdJB A 111, Nr 2, S. 1 f. Der Autor dieser Zeilen, Heinrich Banitza [eigentlich: Banizza] von Bazan aus Berlin, war 1924 Führer, dann Bundesführer im » Bund der Reichspfadfinder «, danach im Deutschen Pfadfinderbund. Die » Reichspfadfinder « standen im engen Kontakt zu den » Ringpfadfindern « und zählten wie diese zu den Sympathisanten der Weimarer Republik. Denn bei der erwähnten Fahne handelt es sich um die Farben » Schwarz-Rot-Gold «, für die schon » die Väter « gestorben seien. Das ist eine Anspielung auf die Befreiungskriege und die Revolution 1848. Es sei Aufgabe des Kreises, so ein anderer Teilnehmer der ersten Zusammenkunft (Franz Zwilgmeyer, Nürnberg), » die Fahne Schwarz-Rot-Gold erst zu einem würdigen Symbol des deutschen Staates zu machen. « (S. 2).
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Im Zentrum des nächsten Treffens standen Idee und Wirklichkeit des Staates und es ging so hoch her, dass » das ganze diesmal mehr einem politischen Seminar als einem Treffen der Jugendbewegung «29 glich. Man debattierte über den » politischen Menschen «30 und kritisierte bestimmte Formen des zeitgenössischen Parlamentarismus.31 Die Frage » Schule und Kirche «32 stand auf der Tagesordnung, ebenso wie Geländespiele, Körperübungen und Rezitationen der im Kreis beliebten Dichter – Stefan George, Friedrich Hölderlin oder Carl Spitteler. Hans Freyer, als junger Mensch einst ein Mitglied im » Sera-Kreis « von Eugen Diederichs, sprach zum » Sinn der griechischen Polis «; Fritz Borinski selbst beleuchtete den » deutschen Staat von 1927 «.33 Der Burgwart Möhring erörterte » Die Klasse und ihre Überwindung «.34 Im Jahre 1926 einigte man sich darauf, dass » aus der reinen Gesinnungsgemeinschaft eine Kampfgemeinschaft entstehen [muß], die jederzeit fähig ist, den politischen Kampf aufzunehmen. «35 Ostern 1928, als die Themen » Sozialismus « und » Klassenkampf « auf der Tagesordnung standen, sprach als Gastredner der Sozialökonom und religiöse Sozialist Eduard Heimann, der zudem der freideutschen Jugend nahestand, über » Soziale Frage und soziale Bewegung «.36 Heimann gab dann ab 1930 die Zeitschrift » Neue Blätter für den Sozialismus «, zusammen mit dem Reformpädagogen Fritz Klatt und dem Theologen Paul Tillich, heraus. Auf dem 7. Treffen im Jahre 1929 erörterte man die Beziehung zwischen Nation, Staat und Volk sowie die Frage, wie Deutschland zum Völkerbund und zur Gemeinschaft europäischer Staaten zu stehen habe. Zugleich vergewisserte man sich der eigenen Position des Kreises im Kontext der sich seit Ende der 1920er Jahre spürbar politisierenden jungen Generation. » Unsere Leipziger Gruppe gilt als politische Arbeitsgemeinschaft des Gaues Sachsen der Deutschen Freischar. Mit dem Jungdo [gemeint ist der Jungdeutsche Orden unter Arthur 29 Vgl. den Tagungsbericht (Typoskript) vom Pfingstreffen 1925, S. 2, in: AdJB A 111, Nr. 2. In dieser Akte finden sich auch die im Folgenden zitierten Tagungsberichte. 30 Referat von Friedrich Dessauer auf dem 3. Treffen, Ostern 1926. 31 Referat von Fritz Borinski auf dem 3. Treffen, Ostern 1926. 32 Referat von Paul Junghanns, vgl. Tagungsbericht, 5. Treffen [Herbst 1926], S. 2 – 5. 33 Beide Referatberichte in Tagungsbericht, 5. Treffen [Ostern], S. 3 – 4, 4 – 6. 34 Tagungsbericht 5. Treffen, S. 6 – 10; den Bericht verfasste Niels Diederichs, der selbst fragte » Was ist Nation ? «; ebd., S. 12 – 13. 35 So Franz Zwilgmeyer in: Tagungsbericht, 5. Treffen, S. 17. 36 Vgl. den Referatsbericht von Franz Zwilgmeyer in: Tagungsbericht, 6. Treffen [Ostertreffen 1928], S. 1 – 2.
164 | Justus H. Ulbricht Mahraun – JHU] wird in Berlin und Leipzig zusammengearbeitet. Durch die Volksbildungsarbeit und die politische Tätigkeit einzelner von uns sind die Fäden zu Reichsbanner und Sozialist. Jugend da. Zwischen dem ehemaligen Hofgeismarkreis und uns bestehen seit kurzem enge Beziehungen. «37
» Die politische Willensbildung der jungen Generation «38 und deren Verhältnis zur Parteiendemokratie sowie zum Nationalsozialismus war das zentrale Thema auf dem Herbsttreffen 1929. Es sei » eine ungeheure Aufgabe der jungen Generation, die heute übermächtige Macht der organisatorisch erstarrten Parteien mit Leben zu erfüllen. « » Die demokratische Partei mit Teilen des Zentrums und junger Kräfte aus dem nationalen und sozialdemokratischen Lager könnte vielleicht den Grundstock einer solchen so zialrepublikanischen breiten Mittelpartei im Sinne einer ausgesprochenen Staatspartei bilden. «39
Heinz Nitzschke, Doktorand bei Hans Freyer, pries den » faschistischen Verband als Überwindung der Partei «, allerdings nicht, ohne die » kritiklose Führeranbetung « zu kritisieren und einzuräumen, » daß unser Staat in irgendwelchem Sinne Parteienstaat sein müsse. « » Eine bündische Aktivierung und Disziplinierung, wie sie der Faschismus uns vorlebt, wäre vor allem im Kleinen, örtlich von unmittelbarem Werte. Dieses Gesinnungs- und Haltungsmäßige kann und soll in die Parteien getragen werden, nicht ein Diktatur- und Gewaltprinzip. In der Partei, wie wir sie erstreben, muß dreierlei zusammenklingen: einmal der Gedanke der Organisation, der ihr Bestand und Stoßkraft gibt. Organisation ist die Grundlage zur Erringung der Macht. Doch hinzukommen muß das, was uns die faschistische Haltung gezeigt hat: die irrationale Schwungkraft, der konkrete Tatwille, der die Partei mit Leben erfüllt, ihre Glieder zum Handeln, zur Gemeinschaft eint. Das letzte aber, was diesem Tatwillen erst die Aussicht auf Bestand geben kann, das ist die weltanschauliche Ge-
37 Walter Eichelbaum: Kreisbesprechung, in: Tagungsbericht, 7. Treffen [1929], S. 11 f; Zitat S. 11. 38 Fritz Borinski, Die politische Willensbildung der jungen Generation, in: Tagungsbe richt, 8. Treffen [Herbst 1929], S. 9 – 11 [Zusammenfassung von Borinskis Referat von » Mexer «]. 39 Norman Körber, Partei und junge Generation, in: Tagungsbericht, 8. Treffen [Herbst 1929], S. 3 – 5; Zitate S. 5.
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bundenheit, der Glaube an eine Idee, die uns Maßstab der Dinge ist und unserem, Willen erst Richtung und Sinn gibt. «40
Arbeiter und » aufgerütteltes Bürgertum « müssten » in einer Front kämpfen «, um den verkrusteten Weimarer Parteienstaat im Sinne der » Volkseinheit « umzugestalten, meinte Fritz Borinski.41 » Wir Leuchtenburger erwarten von unseren Leuten beides: Willen zur politischen Erziehung, zum politischen Vorleben und Willen zur politischen Richtung, zur politischen Tat. «42 Der Kreis stehe in » wahrem Bruderkampf […] gegen die jungen Kommunisten und Nationalsozialisten, deren Ziel unserem Staatswillen widerspricht. «43 Dieser thematische Faden wurde 1930 wieder aufgenommen vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Erdrutschsieges bei den Reichstagswahlen in jenem Jahr. » Stoßkraft und Lebensform des Faschismus « hätten den Kreis allerdings nicht irre gemacht » an dem Bekenntnis zur Demokratie «. » Ob der Angriff des Faschismus abgeschlagen wird, steht dahin. Sicher aber ist, daß es in absehbarer Zeit keine Partei des linken Bürgertums geben wird, die mehr ist als eine kleine Gruppe. Damit hat die politische Zerreißung des Volkes in Bürgertum und Proletariat die schärfste Form angenommen, seit wir in einem demokratischen Deutschland leben. «44
In jedem Falle aber müsse » hinter der aktuellen Front der Verteidigung der Demokratie « die » neue Angriffsfront der Jugend beider Klassen stehen. «45 Borinski prägte im Mai 1932 dafür den Terminus » Bündischer Sozialismus «; der Kreis schloss sich enger mit dem um die » Neuen Blätter für Sozialismus «, zugleich aber mit dem » Tat-Kreis « um Hans Zehrer und der » Schwarzen Front « Otto Strassers zusammen. Diese in unseren Augen merkwürdige Koalition wurde zwischen 1931 und Anfang 1933 in mehreren weiteren Treffen auf der Leuchtenburg 40 Heinz Nitzschke, Der faschistische Verband als Überwindung der Partei, in: Tagungsbericht, 8. Treffen [Herbst 1929], S. 6 ff [Zusammenfassung des Referats durch Paul Junghanns]; Zitate S. 8. 41 Borinski, Politische Willensbildung (wie Anm. 38), S. 9. 42 Ebd., S. 10. 43 [Fritz Borinski], Nachwort, in: Tagungsbericht, 8. Treffen [Herbst 1929], S. 15 f; Zitat S. 15. 44 Franz Zwilgmeyer, Zum Treffen, in: Tagungsbericht, 10. Treffen [Herbst 1930], S. 18 f; Zitate S. 18. 45 Fritz Borinski, Nachwort, in: Tagungsbericht, 10. Treffen [Herbst 1930], S. 19 f; Zitat S. 20.
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sowie konspirativen Kontakten zwischen den Führern der jeweiligen Kreise geistig entwickelt, kritisch beleuchtet und organisatorisch bekräftigt. Neue Leuchtenburg-Kreise entstanden in Jena und Chemnitz. Borinski, Hans Muhle und anderen führende Mitglieder reisten durch Deutschland, um für ihre neue Front zu werben. Hinter dieser hektischen Aktivität aber stand eigentlich eine manifeste Hilf- und Ratlosigkeit, wie dem – dank der Schützenhilfe deutschnationaler und konservativ-revolutionärer Kreise – triumphierenden Nationalsozialismus tatkräftig und erfolgreich zu begegnen sei. Anfang März 1933 erschien der letzte Rundbrief des Kreises, im Mai löste dieser sich auf. » Der Kreis war aufgelöst, aber sein Geist lebte weiter «46 kommentiert Fritz Borinski in der Rückschau. Die Restgeschichte der Leuchtenburger bis 1945 war eine zwischen Anpassung und Widerstand, Exil und innerer Emigration, einzelnen Selbstmorden und dem Tod an den eisernen Fronten eines weiteren Weltkriegs. Danach fanden sich die Überlebenden zumeist in den Westzonen wieder und nicht wenige von ihnen engagierten sich für den Aufbau einer neuen demokratischen Ordnung,47 wobei für manche erneut die Volks- und Erwachsenenbildung der Königsweg des gesellschaftlichen Gesinnungswandels werden sollte. Einige Beispiele zum Abschluss: Fritz Borinski organisiert ab 1943 in London die politische Bildung und » Reeducation « deutscher Kriegsgefangener. Er arbeitet 1946/47 als Tutor im Bildungszentrum in Wilton Park, geht dann an die Heimvolkshochschule Göhrde und an die Bremer VHD (1954 – 56). Bis 1970 ist er dann Professor für Erziehungswissenschaft an der FU Berlin. Franz Eichenberg begründet in Portland/Oregon die » Deutsche Sommerschule am Pazifik « und arbeitet an der dortigen Universität als Hochschullehrer. Herta Grimm-Garte gründet die Stadtbücherei in Walsrode: Horst Grimm geht in den Schuldienst und engagiert sich zudem im Landesverband Niedersachsen der Volkshochschulen. Fred Heinsen, Wolfgang Heybey, Gerhard Kerstan, Heinz Nitzschke und Erich Wolf arbeiten als Lehrer und Schulleiter. Walter Hildebrandt wird Akademiedirektor des Gesamteuropäischen Studienwerkes in Vlotho und ist ab 1965 an der PH Bielefeld Professor. Kurt Riedel geht 1950/51 ebenfalls nach Göhrde, ist dann bis 1954 Bildungssekretär des DGB Niedersachsen, leitet 1954 bis 1959 die Heimvolkshochschule Springe und danach bis 1971 die Bildungsstätte der Industriegewerkschaft Bau, Steine, Erden in Emmershausen. Werner Sikora ist von 1957 bis 1971 Leiter eines Jungenheims im Jugendaufbauwerk Schleswig-
46 Borinski u. a., Jugend im politischen Protest (wie Anm. 7), S. 80. 47 Walter Kolb etwa ist von 1946 bis 1956 Oberbürgermeister in Frankfurt a. M.; denselben Posten bekleidet Willi Brundert von 1964 bis 1970.
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Holstein. Irmgard Wolf-Strauch geht als Mädchenmentorin an das Internat Salem und die Schule Schloß Spetzgart, deren Leiter ihr Mann Erich Wolf ist. Franz Zwilgmeyer ist Rechtsanwalt und Notar, zugleich aber Professor an der Pädagogischen Hochschule in Braunschweig. – Arno Ehrhardt, Gottfried Fußund Ruth Reinhard-Hebsacker treten in kirchliche Dienste; andere engagieren sich in Parteien, Gewerkschaften oder in der staatlichen Administration auf Bundes- und Landesebene. Damit ist der Leuchtenburg-Kreis Teil der Bildungs- und Kulturgeschichte der frühen Bundesrepublik geworden und man ist versucht Stefan George mit seinem in der Jugendbewegung wohl meist zitierten Vers aus dem » Stern des Bundes « zu zitieren: » Wer je die flamme umschritt,/ Bleibe der flamme trabant ! « – Die Flamme war in diesem Fall wohl der pädagogische Eros und die Überzeugung, auch der zweiten deutschen Demokratie verpflichtet sein zu müssen.
Klubs gegen Parteien Geschichte eines politischen Modells in der Zwischenkriegszeit A n dr é P ostert
Das K lubleben
nach dem
E rsten Weltkrieg
In den politischen Umbrüchen und revolutionären Transformationsprozessen des 18. und 19. Jahrhunderts besaßen Klubs und Gesellschaften als Motoren des Wandels zentrale Bedeutung. Zu diesem Schluss zumindest sind zahlreiche Geschichts- und Sozialwissenschaftler gekommen. In mondänen Cafés, großbürgerlichen Villen oder geselligen Kaffeehäusern fand sich das Bürgertum der Städte zusammen; zunächst zum Zweck des gemeinschaftlichen Lesens, der Philosophie und Kunst, des Spiels oder der Debatte zeitgenössischer Themen, dann zunehmend auch, um selbstbewusste Forderungen nach politischer Teilhabe zu formulieren.1 Die Geschichtswissenschaft sah im Vereinswesen, das sich seit der Aufklärung konstituierte, nicht zu Unrecht eine frühe » Schule der Demokratie «.2 Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wiederum war in Deutschland geprägt von der Ausbildung moderner Massenparteien. Das bürgerliche Vereinswesen existierte fort und wurde differenzierter, aber zunehmend auch in parteiliche Strukturen
1 Vgl. exemplarisch Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung I, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174 – 206. 2 Stefan-Ludwig Hoffmann, Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750 – 1914, Berlin 2003, S. 103.
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eingeflochten. In diesem Prozess verloren die Klubs, Gesellschaften und Salons des Bürgertums an Bedeutung. Der auch heute geläufige Begriff » Debattierklub « kam etwa zur Jahrhundertwende auf und beschrieb politische Geschwätzigkeit ohne Durchsetzungsvermögen. Politik wurde hier vielleicht noch debattiert, aber nicht eigentlich gemacht.3 Für die Zeit nach 1918 lässt sich ein erneuter Wandel konstatieren. Je mehr sich im jungen republikanischen System der Eindruck verfestigte, Parteien seien den Krisen der Zeit nicht gewachsen, desto stärker wuchs die Anziehungskraft außerparlamentarischer Akteure. Neue Organisationen und Bewegungen versprachen, Parteigrenzen zu überwinden. Sie propagierten die Auflösung überkommener Dogmen, versprachen – mal mehr, mal weniger überzeugend – » dritte Wege « zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Gänzlich neue Modelle von Politik schienen wieder möglich. In diesem Klima politischer Experimente erzeugten die bürgerlichen Klubs und Gesellschaften ebenfalls erneuertes Interesse, insbesondere bei akademisch gebildeten Eliten. Die » Deutsche Gesellschaft 1914 «, gegründet während des Weltkriegs unter dem Eindruck des » AugustErlebnisses «, verfolgte in den Nachkriegsjahren das Ziel, die überparteilichen Ideale der » Burgfriedenszeit « mit Leben zu erfüllen. Ihr gehörten namhafte Diplomaten, Journalisten, Industrielle und Politiker an. Der 1922 gegründete SeSiSo-Club – benannt nach seinen Gründern Hans von Seekt, Walter Simons und Wilhelm Solf – bot im Berliner Hotel Kaiserhof Gesprächsmöglichkeiten für einflussreiche Persönlichkeiten. Größere Podiumsdiskussionen fanden ein Publikum von bis zu 900 Gästen. Der Klub berief sich auf die Aufklärung und den Humanismus, formulierte jedoch auch zunehmend scharfe Kritik an der Innen- und Außenpolitik der jungen Republik.4
3 Charakteristisch die Ausführungen zum Stichwort » Klub «, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig 1907, S. 159. 4 Vgl. Bernd Söseman, Politische Kommunikation im » Reichsbelagerungszustand «. Programm, Struktur und Wirkungen des Klubs » Deutsche Gesellschaft 1914 «, in: Manfred Bobrowsky/Wolfgang R. Langenbucher (Hg.), Wege zur Kommunikations geschichte, München 1987, S. 630 – 649; zur Programmatik siehe Gustav Mayer, Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung, Zürich 1949, S. 250 f: » Nun sollte eine Stätte entstehen, die Anhängern aller jener Parteien offen stand, die sich zum Burgfrieden bekannten. Parlamentarier, höhere Beamte, Männer der Wirtschaft, des Handels, der Presse, der Wissenschaft und Kunst sollten sich im Rahmen dieses […] Klubs begegnen und ihre Ansichten austauschen über das, was not täte. «
K lubs
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Der zeitweise größte liberale Klub war der am 9. März 1919 gegründete Demokratische Klub Berlin. Sein Name reichte bis in die Märzrevolution 1848 zurück, wo eine gleichnamige Vereinigung des revolutionären Linksliberalismus den Kampf gegen die Monarchie aufgenommen hatte.5 1921 zählte der Klub 1281 Mitglieder – darunter prominente Politiker, viele Journalisten, Ärzte, Staatsbeamte und Wirtschaftsvertreter. Als Präsidiumsvorsitzender agierte der Diplomat Johann Heinrich von Bernstorff, der von 1921 bis 1928 für die Deutsche Demokratische Partei im Reichstag saß.6 Der Demokratische Klub formulierte als Ziel » allen, die sich zu demokratischen Anschauungen bekennen, Gelegenheit zu gesellschaftlichem Verkehr und politischem Meinungsaustausch zu geben. «7 Obwohl die Gründungsinitiative von Seiten der DDP ausgegangen war, sollte er doch kein bloßes Parteiforum sein. Ziel war es vielmehr, die Lösung eines » Führerproblems « voranzubringen und zur » Klärung von Personenfragen innerhalb der Parteien « beizutragen.8 Auch unter den Liberalen grassierte die Sorge, dass die Parteien allein den Herausforderungen der Nachkriegszeit nicht gewachsen sein würden. Da es Regierungsbildungen auf Basis demokratischer Wahlergebnisse in Deutschland bislang nicht gegeben hatte, schien die Existenz staatsbürgerlicher Debattierforen umso notwendiger. Interessante Einblicke in das dynamische Klubwesen der 1920er Jahre bieten die Tagebücher Harry Graf Kesslers, der in den politischen Gesellschaften der Hauptstadt rege verkehrte. Kessler notierte zu seinem Besuch im Demokratischen Klub offenkundig mit einiger Wut: » Ein verlorener Abend. Bis auf einige Ausnahmen übelstes Philistertum; geistige Ebene der Bierbank. Eine Mischung aus Fett und Gold, die nur noch Ekel erregen kann. Was daran, außer den Mittel-
5 Goethe-Universität Frankfurt am Main, Universitätsbibliothek: Flugblatt: Der demokratische Klub (Extrabbeilage zum Demokraten), Anklage des Kriegsministeriums, v. 1. 6. 1848,; zum Demokratischen Klub vgl. Otto Büsch, Handbuch der preußischen Geschichte, Bd II: Das 19. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992, S. 255. 6 Freie Universität Berlin, Universitätsbibliothek: Demokratischer Klub Berlin 1921 (Mitgliederverzeichnis), Berlin 1921. Weitere Mitglieder des Präsidiums: Stellvertretende Vorsitzende: C. F. von Siemens M. d. R., Prof. Dr. H. B. Gerland, Kommerzienrat L. Lustig, Pfarrer D. Graue, A. Flinsch; Schatzmeister Dr. H. Fischer M. d. R.; stellvertretender Schatzmeister Dr. Th. Hecht; Schriftführer Landgerichtsrat Dr. R. Leiden; stellvertretender Schriftführer Prof. Dr. F. W. Jerusalem. Dem Präsidium gehörten weitere 12 Personen ohne Amt an. 7 Ebd., S. 6. 8 Ebd.
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standsmanieren, demokratisch sein soll, mir unerfindlich. Dieselbe Klasse unterhält in Frankreich wenigstens noch kleine Mädchen oder in England Bibelklassen; hier ist es der unverblümte Sumpf, ideenloses Fett, das zu irgendwelcher Politik überhaupt kein Recht hat. Und dieses Getier kriecht jetzt dank der Revolution als Republikaner heraus. «9 Tatsächlich waren es nicht so sehr die demokratischen Klubs, die in den 1920er Jahren als geistig regsam galten; ihre öffentliche Resonanz nahm ab, ihr Mitgliederschwund ab Mitte des Jahrzehnts war teils beträchtlich.10 Analog zu den liberalen Parteien befanden sich auch die demokratischen Klubs in der Defensive, obwohl viele ihrer Vertreter, auch durch eine kritische Mitgliederbasis unter Druck gesetzt, vermutete oder tatsächliche Defizite der Parteienordnung offen anzusprechen begannen. Reichsinnenminister a. D. Wilhelm Külz, Mitglied des Demokratischen Klubs Berlin, klagte in einer Festrede zum 10jährigen Bestehen: » 18 Einzelstaaten, 67 Minister und 2000 Abgeordnete sind […] eine bare Lächerlichkeit. Unser Wahlrecht ist kein geeignetes Instrument zur Verkörperung der politischen Willensbildung. Unser Parlamentarismus ringt immer schwerer mit seinen Kinderkrankheiten «.11 Das war kein Einzelurteil, sondern allgemein symptomatische Einschätzung. Theodor Eschenburg, der mit Freunden einen kleinen, alsbald auch von intellektuellen Spitzen besuchten Diskussionsklub – die Berliner » Quirinten « – gegründet hatte, resümierte rückblickend über die Veranstaltungen: » Das Bemerkenswerte […] war, daß der Kreis seriöser Demokraten offenbar zunahm, die bereit waren, die Demokratie aufzugeben, aber nicht aus einer militanten Stimmung oder einem egoistischen Interesse heraus […], sondern aufgrund rational gewonnener Überzeugungen. «12 Je mehr die Parteien in Grabenkämpfen verharrten und den Herausforderungen ohnmächtig gegenüberzustehen schienen, desto zahlreicher wurden in den Foren des Bürgertums jene Stimmen, die mit Elementen der Diktatur mindestens lieb äugelten. Spätestens seit der Mitte der 1920er Jahre waren Klubs und Gesellschaften ohnehin nicht länger die Domäne der Demokraten und das typische Organisationsmodell des politischen Liberalismus.
9 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 – 1937, hrsg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1961, S. 171 f (Eintrag vom 8. 4. 1919). 10 Darauf wurde auch hingewiesen in der Festschrift: Demokratischer Klub Berlin (Hg.), Zehn Jahre Demokratischer Klub Berlin 1919 – 1929, Berlin 1929. 11 Dr. W. Külz, Festrede anlässlich der Zehnjahrfeier am 23. März 1929, in: ebd., S. 20. 12 Theodor Eschenburg, Also hören Sie mal zu. Geschichte und Geschichten 1904 bis 1933, Berlin 1995, S. 295, 269.
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Parteienstaat
In Reaktion auf den Schock des Versailler Friedensvertrags waren 1919 die Nationalklubs gegründet worden. Die mitgliederstärksten befanden sich in Hamburg – dort zählte man in der Spitze rund 600 Mitglieder – und in Berlin. Kleinere Ableger kamen aber auch in anderen Städten wie Dresden, Würzburg oder Lübeck zur Gründung.13 Sie waren von der großbürgerlich-konservativen Elite, zum Teil vom Adel getragen: höhere Vertreter der Beamtenschaft und einige Militärs, aber vor allem Kaufleute, Bankiers und Industrielle. Der achtköpfige Vorstand des Hamburger Nationalklubs setzte sich 1930 zur Hälfte aus Vertretern des Reederei-Unternehmens Hapag zusammen. Die Tatsache, dass in den Vorständen insbesondere Wirtschaftsvertreter agierten, hat Zeitgenossen und marxistisch beeinflusste Historiker veranlasst, in den Nationalklubs eine Schaltzentrale der Hochfinanz zu vermuten.14 Tatsächlich formulierte die Satzung zum Beispiel des Hamburger Klubs als Ziel » die Stärkung des nationalen Empfindens und Vertiefung des Verständnisses für staatspolitische, insbesondere wirtschaftliche Aufgaben des Deutschen Reiches. «15 In ihrer politischen Zusammensetzung waren die Nationalklubs jedoch durchaus heterogen, sodass allzu schematische Deutungen zu kurz greifen. Gründungshintergrund und Mitgliederstruktur bedingten zu Beginn eine personell enge Anbindung der Nationalklubs an die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), insbesondere an deren monarchistisch-restaurativen Flügel. Medienmogul und DNVP-Politiker Alfred Hugenberg, der hier politische Unterstützung suchte, förderte die Klubs durch finanzielle Zuwendungen.16 Der Mitgliedsbeitrag war hoch und der Zugang nur einem kleinen Personenkreis möglich. Die meisten Nationalklub-Mitglieder hatten im wilhelminischen Deutschland Karriere gemacht. Bereits die Führungsfiguren weisen darauf hin: Oskar von Hutier, ein
13 Vgl. Werner Jochmann, Im Kampf um die Macht. Hitlers Rede vor dem Hamburger Nationalklub 1919, Frankfurt a. M. 1960, S. 32; vgl. Liste der im gegenseitigen Gastverkehr stehenden Klubs, in: Deutscher Klub Mecklenburg. Mitgliederverzeichnis, Stand 1. Januar 1934. 14 Vgl. Manfred Asendorf, Hamburger Nationalklub, Keppler-Kreis, Arbeitsstelle Schacht und der Aufstieg Hitlers, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 1999, Nr. 3/87, S. 106 – 150, hier: S. 108 f. 15 Satzung des Nationalklubs von 1919, Hamburg 1931. 16 Vgl. Stefan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat, Berlin 2003, S. 448 f.
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geachteter General, gründete den Berliner Nationalklub. Hier war der Anteil adeliger Offiziere von Beginn an besonders hoch. 1927 trat die Präsidentschaft des Klubs der inzwischen 67-jährige Hermann Kreth an; auch dessen Karriere als Reichstagsabgeordneter der Deutschkonservativen Partei war durch die Novemberrevolution 1918 jäh beendet worden, nun betätigte er sich als Wirtschaftsfunktionär in zahlreichen Aufsichtsräten und hielt enge Bande zum alldeutschen Lager.17 Ähnlich wie Hutier und Kreth fürchteten viele Nationalklub-Mitglieder um ihren gesellschaftlichen Einfluss; der Wunsch nach Rückkehr zur monarchischen Ordnung war eine psychologisch naheliegende Reaktion. Der Verwaltungsbeamte und deutschnationale Publizist Fiedrich Everling steht stellvertretend für die Geisteshaltung dieser Kreise: » Die Demokratie mit ihren Parteiregierungen führt notwendig dahin, die [gesellschaftlichen] Gegensätze zu verschärfen. Die Monarchie hat ein eigenes Interesse daran, zu versöhnen. […] Wir wollen wieder eine Stelle sehen im Staat, die sich hinaushebt aus der Parteiatmosphäre in die reine Luft der Gerechtigkeit. «18 Vertreter und Mitglieder der Nationalklubs begegneten der Weimarer Demokratie überwiegend mit Verachtung. Die Überwindung des Parlamentarismus war erklärtes Ziel der meisten Nationalklub-Mitglieder, das bevorzugte Mittel autoritäre Politik. Was an die Stelle der Weimarer Verfassung allerdings treten sollte, blieb – wie so oft im Lager der nationalen Rechten – unklar. Der Vorsitzende des ultranationalistischen Alldeutschen Verbands Heinrich Claß erklärte im Hamburger Nationalklub schon im März 1922, es bedürfe der Männer, » die den Mut haben […] dem irregeleiteten Instinkt der Masse, die geführt sein will, entgegenzutreten und sie zu zwingen, daß ihrem kranken Instinkt zum Trotz das Richtige geschieht. Das würde, meine ich, die Aufgabe der Schicht sein, die wir den werdenden deutschen Bürger nennen wollen. «19 Bürgerlichkeit wurde hier nationalkonservativ ausgedeutet: Bürger waren national und anti-sozialistisch gesinnt, agierten – zumindest dem Ideal nach – parteiunabhängig, standen fern der Masse und sollten im Sinne autoritärer Umgestaltung staatstragend sein.
17 Vgl. Daniela Gasteiger, From Friends to Foes: Count Kuno von Westarp and the Transformation of the German Right, in: Larry Eugen Jones (Hg.), The German Right in the Weimar Republic: Studies in the History of German Conservatism, Nationalism, and Anti-Semitism, New York u. a. 2014, S. 48 – 79, hier: S. 61; Gerhard Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit, München 1969, S. 299 – 322. 18 Friedrich Everling, Wiederentdeckte Monarchie, Berlin 1932, S. 114 f. 19 Vortrag von Herrn Justizrat Claß, Berlin, in: National-Club von 1919, Hamburg (Hg.), Bismarck-Erinnerungsfeier am 31. März 1922, Hamburg 1922, S. 19.
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Obwohl in den Nationalklubs die Hausmacht auf Seiten der Deutschnationalen lag, konnten Brücken zur moderat-bürgerlichen Rechten gebaut werden, zumindest solange die Kritik am parlamentarischen System noch vereinte. So wie DVP-Politiker und Stresemann-Unterstützer Siegfried von Kardorff, der in Hamburg im März 1930 kritisch über den Zustand der parlamentarischen Zersplitterung referierte, wurden vielfach prominente Parteipolitiker geladen, die hier die Ziele ihrer Politik erörterten. Kardorff plädierte im Nationalklub dafür, ein » Kartell […] der staatsbejahenden bürgerlichen Parteien « zu schaffen, um zusammen » mit dem Zentrum der Sozialdemokratie Paroli gebieten [zu] können. «20 Selbst für gemäßigte Realpolitiker wie Kardorff gehörte es in Klubkreisen zum guten Ton, sich möglichst parteikritisch zu präsentieren. In den frühen 1930er Jahren hatte die parlamentarische Zersplitterung insbesondere im bürgerlichen Lager ihren Zenit erreicht. Dass sich aus der Vielzahl untereinander zerstrittener nationalkonservativer und rechtsradikaler Parteien mittel- bis langfristig wieder eine Einheit schmieden lasse, so Kardorff weiter, sei zu bezweifeln, da der » Egoismus der Parteifunktionäre […] von den Reichstagsabgeordneten bis zu den kleinen Ehrenvorsitzenden in der Provinz hinab « dem entgegenwirke.21 Wer hier um Zuspruch warb, musste den Nutzen der Parteien für die Gesundung des Staatswesens möglichst kleinreden. Die Klubleitung ihrerseits war bemüht, keine – wie es in einem Konzeptpapier hieß – » charakterlosen Parteikonjunkturisten « zu Vorträgen zu laden.22 Stahlhelm-Führer Theodor Düsterberg wiederum erklärte im Oktober 1931, dass es das Ziel aller echten Nationalen sein müsse, den Einfluss der Parteien zu schwächen und die Macht des Reichspräsidenten durch eine Verfassungsreform zu stärken.23 So changierten die Nationalklubs bis in die frühen 1930er Jahre zwischen den Blöcken und Organisationen
20 Vortrag v. Kardorffs im Nationalklub, in: Hamburger Fremdenblatt v. 14. 3. 1930. 21 Ebd. 22 Plan zur Bildung neuer Ausschüsse, zitiert nach Schulz, Zeitalter (wie Anm. 17), S. 310. 23 Den Stahlhelm selbst pries er an mit den Worten: » Der Stahlhelm ist politisch oder er ist tot ! Aber niemals parteipolitisch. Der Stahlhelm betreibt Staatspolitik, aber keine Parteipolitik. […] Trotz vieler Versuche und Versuchungen hat der Stahlhelm abgelehnt, aus seiner großen Organisation eine Partei zu bilden. […] Durch eine Stahlhelmpartei hätten wir die Zerrissenheit im nationalen Lager nur noch vermehrt, den Bruderkampf gesteigert und die Geschlossenheit im eigenen Lager gefährdet. « Vgl. Theodor Düsterberg, Stahlhelm-Politik. Ansprache des 2. Bundesführers Herrn Oberstleutnant a. D. Duesterberg am 2. Oktober 1931, Hamburg 1931, S. 10 f u. speziell zur Stellung des Reichspräsidenten S. 12 f.
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der politischen Rechten, bewegten sich dabei jedoch mit rasanter Geschwindigkeit auf den Nationalsozialismus zu: Hitler hatte im Hamburger Klub schon im Februar 1926 und im Dezember 1930 Vorträge gehalten. Joseph Goebbels besuchte Hamburg 1931. Im Berliner Nationalklub wiederum war Hitler bereits 1921/22 aufgetreten.24 Die Vorstandsmitglieder loteten bei solchen Gelegenheiten die wirtschaftspolitische Zuverlässigkeit der Nationalsozialisten aus und waren bemüht, unternehmerfeindlichen Elementen in der Bewegung auch mittels finanzieller Zuwendungen entgegenzuwirken.25 1931 stützten die Klubs, ganz im Sinne des DNVP-Vorsitzenden Alfred Hugenberg, die » Harzburger Front «, in der sich Deutschnationale, Alldeutsche, Stahlhelm und die seit der Reichstagswahl 1930 zur zweitstärksten Kraft angewachsene NSDAP wenige Monate lang zusammenfanden. Um den Weimarer Staat zu beseitigen, schien die Schaffung eines nationalen Blocks über Parteischranken innerhalb des rechten Lagers hinweg notwendig. Noch waren Nationalklub-Kreise allerdings nicht einig in der Frage, wie weit die Einbindung der NSDAP betrieben werden sollte. Joachim von Neuhaus zum Beispiel, Mitglied des Hamburger Vorstands, plädierte 1932 für eine » von allen Parteien unabhängige Regierung «, er gab also dem Konzept starker Präsidialkabinette ohne parlamentarische Untermauerung den Vorzug.26 Mit dem Scheitern der Präsi dialpolitik im Dezember 1932 schlug das Pendel endgültig zugunsten der Nationalsozialisten aus. Wohl immer mehr Nationalklub-Mitglieder hielten es für berechtigt, dass Hitler mit Verweis auf die Wahlergebnisse auf Anerkennung seiner Führungsrolle im nationalen Lager drängte. 1932 hinterließ Hitler bei einem neuerlichen Besuch im Berliner Nationalklub so viel Eindruck, dass sich Hans Pfundtner, der stellvertretende Vorsitzende, entschloss, alle Ämter und Mandate der DNVP niederzulegen und zur NS-Partei zu wechseln.27 Mit Recht konnten leitende Figuren der Nationalklubs später verlautbaren lassen, ihre Verbindungen zur NSDAP seien seit jeher freundschaftlich und eng gewesen.28 Konsequenter noch präsentierten sich die Jungkonservativen; den Namen hatten sie gewählt, um sich vom älteren und parteilich organisierten Konservatismus abzusetzen. Nach 1918 gründeten die Jungkonservativen eine Vielzahl von mehr oder weniger kurzlebigen Vereinen. Die » Vereinigung für parteifreie Poli24 Vgl. Jochmann, Im Kampf (wie Anm. 13), S. 69. 25 Vgl. Asendorf, Nationalklub (wie Anm. 14), S. 117 – 129. 26 Wo steht der Feind, in: Hamburger Nachrichten v. 6. 11. 1932. 27 Vgl. Schulz, Zeitalter (wie Anm. 17), S. 307 f. 28 Tagung der Klubvorstände am 4./5. 11. 1933 (Protokoll, undatiert), in: Institut für Zeitgeschichte München (IZGM), ED 103 (Deutscher Club).
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tik « deutete die programmatische Linie an, die sich in den frühen 1920er Jahren im Berliner Juniklub fortsetzte. Es war eine einigermaßen konfuse und bisweilen widersprüchliche Melange aus revolutionärer Rhetorik, konservativen und nationalistischen Standpunkten, inhaltlichen Konzessionen an die Arbeiterbewegung und giftigstem Anti-Bolschewismus. Durch alle Widersprüche hindurch war allein die Abwehr der Parteipolitik als klare Verbindungslinie erkennbar. Seit 1924 fanden sich die Jungkonservativen hauptsächlich im deutlich elitäreren Deutschen Herrenklub in Berlin zusammen. Dieser exklusive Klub sollte laut seinen Richtlinien, » der gesellschaftlichen Sammlung nationalgesinnter unabhängiger Persönlichkeiten « dienen.29 Beinahe überall im Land kamen ab Mitte des Jahrzehnts sogenannte Deutsche Herrengesellschaften zur Gründung. Sie nahmen sich den Berliner Klub zum Vorbild. 1932 betrug die Zahl der größeren Herrengesellschaften etwa zwölf.30 Ähnlich zur jungkonservativen Zentrale in Berlin verschrieben sich diese Gesellschaften, oft auch satzungsgemäß, einer so genannten » Führersammlung «.31 Es entstand ein Netzwerk aus ideologisch gleichgerichteten Zusammenschlüssen. Hierzu zählte beispielsweise die Fichte-Gesellschaft. Sie war 1916 gegründet worden, besaß zeitweise bis zu 4000 Mitglieder und etablierte in den 1920er Jahren ein Geflecht aus Ortsgruppen, in denen sie ihre völkischen Staatsutopien umzusetzen hoffte. Politische Vergemeinschaftung jenseits des parlamentarischen Parteienspektrums war das erklärte Ziel all dieser Vereine und Klubs.32 Ihre Gesamtzahl ist kaum zu überschauen; in vielen Fällen ist ihre Existenz nur durch beiläufige Erwähnung in Akten dokumentiert. Edgar Julius Jung, der Grün-
29 Siehe Richtlinien für den Deutschen Herrenklub vom 11. 11. 1924, in: BArch, R118, Nr. 35; » Die mit dem Herrenklub in Gastverkehr stehenden Gesellschaften «, undatiert (vermutlich 1932), in: BArch, NS 26, Nr. 1283. Vgl. in größerem Zusammenhang: André Postert, Von der Kritik der Parteien zur außerparlamentarischen Opposition. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalsozialismus, Baden-Baden 2014, S. 144 – 156. 30 Vgl. Deutscher Herrenklub. Liste der Herrengesellschaften, undatiert (vermutlich 1932/33), in: IZGM (wie Anm. 28), ED 103. 31 Vgl. Jens Flemming, » Führersammlung «, » politische Schulung « und » neue Aristo kratie «. Die » Herrengesellschaft Mecklenburg « in der Weimarer Republik, in: Karl Christian Führer u. a. (Hg.), Eliten im Wandel. Gesellschaftliche Führungsschichten im 19. und 20. Jahrhundert, Münster 2004, S. 123 – 155. 32 Vgl. Hans Gerber, Die praktische Arbeit der Fichte-Gesellschaft, in: Fichte-Gesellschaft (Hg.), Deutsche Volkserziehung. Zwei Vorträge über das Wollen und Wirken der Fichte-Gesellschaft, Hamburg 1920, S. 34 ff.
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der eines so genannten Jungakademischen Klubs in München, sprach 1932 entsprechend von einer » Klub-Bewegung «, die jenseits der alten Parteien um Einfluss ringe.33 Akteure dieser Klub-Bewegung argumentierten mit Verweis auf die politischen und ökonomischen Krisen, das parlamentarische System sei weder innen- noch außenpolitisch handlungsfähig. Um staatliche Stabilität herzustellen, müsse zuerst der Kampf der Parteien untereinander befriedet und dann dem Reichstag eine Kontrollinstanz beispielsweise in Form eines aristokratischen Oberhauses übergeordnet werden. Der Weg zu einem neuen, möglichst partei freien Staat – dem » dritten Reich «, das der jungkonservative Publizist Moeller van den Bruck in seinem gleichnamigen Buch 1923 gefordert hatte – schien nur mittels einer Diktatur der Aristokratie möglich.34 So erhob sich die Leitung des Herrenklubs selbst zum Machtfaktor im » Kampf um das System «.35 Ein Sympathisant der Jungkonservativen sprach treffend von einer » Oase in der Wüste der Parteiödnis «.36 Unter vielen Intellektuellen, zumal den geisteswissenschaftlichen Akademikern, hatte sich schon seit der Jahrhundertwende das Gefühl der gesellschaftlichen Marginalisierung verbreitet. Wer in den Nachwehen des Weltkriegs mit einem entsprechenden Abschluss die Universität verließ, sah sich im Angesicht der Wirtschaftskrise nicht nur mit der Gefahr eines Abrutschens in prekäre Lebensverhältnisse konfrontiert, sondern aufgrund des egalitären Wahlrechts noch dazu auf eine Ebene mit dem so verachteten » Lumpenproletariat « gestellt. Nicht verwunderlich, dass die antidemokratischen Klubs und Gesellschaften über erstaunlichen Zulauf aus den Geisteswissenschaften oder aus dem Kunst- und Kulturbetrieb verfügten. Künstler, Schriftsteller, Dichter, Journalisten und selbsternannte Freidenker stellten vielerorts einen beträchtlichen Teil der Mitgliederbasis. Paul Rohrbach, der regelmäßig für Vorträge im antidemokratischen Klubwesen zur Verfügung stand, adressierte diese Kreise mit kulturpessimistischen Tönen: » Im Wesen der modernen Masse liegt es, daß sie unbildbar ist im Sinne sittlicher Erziehung und Führung. Je weiter unsre nationale Vermassung fortschreitet, desto unwiderstehlicher wird auch jedes sittliche Bil-
33 Edgar Julius Jung, Das eigenständige Volk. Bemerkungen zu Boehms Volkstheorie, in: Deutsche Rundschau, 1932, 3. Bd.: Juli-August-September 1932. 34 Moeller van den Bruck, Das dritte Reich, Berlin 1923; vgl. die neueren Darstellungen von Volker Weiß, Moderne Antimoderne. Arthur Moeller van den Bruck und der Wandel des Konservatismus, Paderborn 2012; und André Schlüter, Moeller van den Bruck. Leben und Werk, Köln 2010. 35 Heinrich von Gleichen, Brief an Alvensleben, in: Der Ring, 5. Jg., Nr. 15. 36 Conrad Conradus, Konservative Staatsgesinnung, in: B. Z. am Mittag vom 3. 9. 1931.
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dungsideal erstickt. Mit anderen Worten: die moderne Masse ist nicht nur kulturfeindlich, sondern sie ist der Kulturtod selbst. «37 Gesellige Diskussionsrunden nährten die Überzeugung, dass in den Parteien nicht Geist und Intellekt gefragt sei, sondern allein die Kunstfertigkeit der Agitation über Aufstieg und Erfolg entscheide. Klischees wurden ritualisiert: Parteien galten als Hort der Korruption und des schädlichen Einzelinteresses, ihre Führer als geistig beschränkt, Grundsatzprogramme als Kerker politischer Kreativität. Wem es um gute Politik zu tun war, der schien sich aus der Enge der Parteien erst befreien zu müssen. Fraktionsdisziplin beispielsweise war ein Unwort. Wie die bürgerlich-liberalen Klubs des 19. Jahrhunderts Freiheit gegenüber der Monarchie gefordert hatten, so forderte die Klub-Szene der 1920er Jahre die Freiheit von der » Tyrannei der Parteien «. Während die Mitgliederbasis der Nationalklubs vornehmlich aus Geschäftsleuten und finanzstarken Unternehmern bestand, knüpften die Jungkonservativen starke Bande zur Publizistik und ins Pressewesen. Das ist mithin ein Grund für den überraschend großen Einfluss, den die jungkonservativen Klubs zur Wende der 1930er Jahre entfalteten. Der Deutsche Herrenklub in Berlin gab in den 1920er Jahren gleich zwei eigene Zeitschriften heraus, um seine Ideen zu bewerben und den Staat von Weimar zu verhöhnen.38 Die Hamburger Fichte-Gesellschaft war organisatorisch und personell mit der Hanseatischen Verlagsanstalt verwoben, wo zahlreiche weltanschaulich-politische Schriften mit hoher Auflage in Druck gingen. Auch sie besaß mit dem » Deutschen Volkstum « ein eigenes ideologisches Leitorgan.39 Zahlreiche Klub-Mitglieder arbeiteten als Redakteure bei Regionalblättern oder waren bei wichtigen Zeitungen wie der Deutschen Allgemeinen Zeitung (DAZ) beschäftigt. Zudem betätigten sich gleich mehrere Klub-Gründer zeitgleich als Autoren von politischen Manifesten. Edgar Julius Jung, einem der Aktivposten der jungkonservativen Klubs in Süddeutschland, gelang mit seinem Buch » Die Herrschaft der Minderwertigen « sogar ein Publikumserfolg – der Titel, das sei erwähnt, meinte die Weimarer Staatsordnung.40 Vor allem in der nationalkonservativen Oberschicht, die sich mit dem Staat von
37 Paul Rohrbach, Deutschland ! Tod oder Leben ? München 1930, S. 117. 38 Die Zeitschriften » Das Gewissen « (1919 – 1929) und » Der Ring. Konservative Wochenschrift « (1928 – 1934). 39 Vgl. Ascan Gossler, Publizistik und konservative Revolution: das » Deutsche Volkstum « als Organ des Rechtsintellektualismus 1918 – 1933, Münster 2001. 40 Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung, Berlin 1927; ders., Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich, (2. Aufl.) Berlin 1930, hier exemplarisch S. 236: » Das Mit-
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Weimar allenfalls arrangiert, aber nie angefreundet hatte, erzielten die Klubs so Resonanz. Großveranstaltungen des Berliner Herrenklubs in der Kroll-Oper warteten seit 1929 mit namhaften Gästen auf: Minister, Reichspräsident, Reichskanzler, Politiker, Bankiers, Journalisten, Industrielle und leitende Staatsbeamte gaben den Klubs die Ehre.41 Bald entstand der öffentliche Eindruck, eine Art Geheimorganisation ziehe, quasi hinter den Kulissen, an den Strippen der hohen Politik.42 Ganz falsch war der Eindruck nicht, denn tatsächlich wollten die Klub-Leiter mittels persönlicher Verbindungen in den Staatsapparat ihre politischen Ziele erreichen.43 Der Einfluss der Parteien sollte ausgehebelt, die Ministerialbürokratie von der Notwendigkeit diktatorischer Staatsführung überzeugt werden. Sogar Reichspräsident Hindenburg war 1931 für eine Ehrenmitgliedschaft im Deutschen Herrenklub gewonnen worden.44 Ab Juni 1932 kamen zumindest die jungkonservativen Klubs ihrem Ziel so nah wie nie zuvor: Mit Franz v. Papen wurde ein langjähriges und aktives Herrenklubmitglied zum Kanzler bestellt, auch zahlreiche Minister seines Kabinetts besaßen einen Mitgliedsausweis. Spätestens als Papen zwei Tage nach Amtsantritt aus der Zentrumspartei ausschied, schien der ideale Kandidat für eine parteifreie Diktatur gefunden, die einem aristokratisch-jungkonservativen Staat den Weg eb-
tel der › Führerauslese ‹ ist die rednerische Gewandtheit. Angenommen, es gäbe zur Staatsführung geeignete, hervorragende, selbstlose Männer, aber ohne Rednergabe: so wie die Dinge heute liegen, wären sie vom politischen Leben ausgeschlossen. « 41 Vgl. Vereinigte Westfälische Adelsarchive, Nachlass Ferdinand von Lüninck Nr. 820: Teilnehmerliste zu den Jahresessen 1926 und 1927 sowie eine Sammlung von Presseberichten; siehe außerdem Tischplan für das Herrenklub-Jahresessen 1932, in: BArch, NS26, Nr. 1283. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Malinowski, Vom König zum
Führer (wie Anm. 16), S. 434; und Postert, Kritik (wie Anm. 29), S. 179 – 187. 42 Vgl. Siehe hierzu beispielhaft die völkisch-antisemitischen Schmähschriften: Paul Lehnert, Deutscher Herrenklub. Ein Stich ins Wespennest, München 1932; Prinz zu Schaumburg-Lippe, Der Berliner Herrenklub und das deutsche Volk, Köln 1932. Vgl. auch Malinowski, Vom König zum Führer (wie Anm. 16), S. 439 f; und Postert, Kritik (wie Anm. 29), S. 406 – 417. 43 Ziel war es, so formulierte es ein Tätigkeitsbericht des Herrenklubs, » Einfluss auf die Staats- und Wirtschaftsführung im Interesse des Zugriffs auf den offiziellen Apparat « zu erlangen; siehe Tätigkeitsbericht September/Oktober 1926, undatiert, gez. Radowitz (VWA NL Lüninck [wie Anm. 41] Nr. 820). 44 Vgl. Berthold Petzinna, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen » Ring «-Kreises 1918 – 1933, Berlin 2000, S. 227.
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nen sollte.45 Mochten die Parteien auch die Wählermassen benötigen, um Erfolge zu feiern; im politischen Vakuum der Präsidialkabinette schienen persönliche Verbindungen mehr zu zählen.
A ntidemokratische K lubs aus historiographischer S icht Betrachtet man das Phänomen antidemokratischer Klubs aus eher typologischem Interesse, so ergeben sich hieraus interessante Rückschlüsse auch in Hinblick auf die politischen Mentalitäten der ersten deutschen Republik. Wenn mit dem Begriff » Kreis « zunächst eine typische Form moderner bürgerlicher Vergesellschaftung beschrieben ist, so handelt es sich beim Klub um eines von vielen möglichen Modellen, das dieser bürgerlichen Assoziierung einen Rahmen gibt. Wie bei jedem Vergemeinschaftungsmodell, so lassen sich auch hier Eigenschaften herausfiltern, die zum einen auf die Funktionsweise des Konzepts an sich und zum anderen auf die Mentalität der involvierten Akteure verweisen. Bei der Analyse antidemokratischer Klubs in der Zwischenkriegszeit ist es wichtig, zunächst die anti-egalitäre und anti-liberale Ideologie der involvierten Akteure vom Klubmodell als solchem zu unterschieden. Die antidemokratischen Klubs entfalteten in bildungsbürgerlichen Kreisen nämlich Anziehungskraft, gerade weil sie im Grunde widersprüchliches vereinten: liberale, freiheitliche Vergemeinschaftung zum einen und die Forderung zum anderen, das System der Parteien autoritär zu überwinden. Gerade in dieser Vermischung von liberaler Geselligkeit mit autoritärer Ideologie bestand das Faszinosum des Modells für gesellschaftliche Eliten. Vier Elemente der antidemokratischen Klubs sind für die Einordnung in die politische Kultur nach 1918 von besonderer Bedeutung: 1. Sozialer Egalitarismus: Sowohl in Bezug auf Rituale als auch in ihrer So ziabilität unterschieden sich die antidemokratischen Klubs wenig von ihren bürgerlich-liberalen Vorläufern aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Zum Teil lassen sich dieselben Riten und Geselligkeitsformen erkennen, wie sie im liberalen Vereinswesen oder in den Logen der Aufklärung üblich waren: Geheime Wah-
45 Vgl. André Postert, Franz von Papen und die Vizekanzlei im Sommer 1934, in: Historisches Jahrbuch 134, 2014, S. 340 – 371; ders./Rainer Orth, Franz von Papen an Adolf Hitler. Briefe im Sommer 1934, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63, 2015, S. 259 – 288.
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len bei Aufnahme von Neumitgliedern – die traditionelle » Kugelung « –, einleitende Vorträge mit anschließenden Diskussionskreisen, gemeinsames Speisen, manchmal geselliges Kartenspiel. An der Spitze der Klubs stand kein » Führer «, obwohl die Akteure ständig von Führern redeten und solche forderten.46 Die Geselligkeit in den Klubs war egalitär. Anders als in den Bünden oder paramilitärischen Organisationen der Zwischenkriegszeit existierten hier allenfalls geringe Hierarchien. Und anders als in den kulturellen, oft schillernden Zirkeln – wie bei den George-Kreisen – gruppierte man sich nicht um einen Akteur, der das soziale Regelwerk bestimmte oder eine Idee hinter der Vergemeinschaftung vorgab. Die Klubs waren nicht gebunden an Personen, sondern fußten im Regelfall – entsprechend ihrem bürgerlich-liberalen Ursprung – auf Satzungen.47 Der Austausch freier, elitärer und – um den Duktus der Zeit zu bedienen – » herrenmäßiger « Geister sollte intellektuell befruchten, zum Übertritt parteipolitischer Lagergrenzen motivieren und versprach direkten Einfluss auf die politischen Entscheidungsträger. 2. Aristokratischer Elitismus: Als Vorbild hatten sich sowohl die Protagonisten der Nationalklubs wie auch die Jungkonservativen die englischen » Gentlemen’s Clubs « gewählt: » Das englische Klubleben und Klubwesen ist […] eine Hochschule für Politik an sich, […] die alles umfassende Querverbindung einer Nation, […] Basis der Gemeinschaft und […] der Lebensform, die sich zugleich in ihm verkörpert. «48 Im England des 18. und 19. Jahrhunderts hatte sich, anders als in Deutschland, die konservative Aristokratie früh in Oberschichten-Klubs organisiert, in denen zunehmend auch das Bürgertum aufgenommen wurde. Vertreter des Klubmodells argumentierten nun am britischen Beispiel, dass durch den Verkehr der gesellschaftlichen Elite eine für die Nation wertvolle politische Oberschicht entstehe, die politisch an erster Stelle berücksichtigt werden und Ver-
46 Exemplarisch der Artikel: Geist und Freiheit, in: Der Ring, 1. Jg., Nr. 32: » Wir wollen einen Staat, in dem Führer sind, und der es nur dadurch ist, daß er Führer hat; die er nur aus diesen beiden Bezirken gewinnen kann und die eine einheitliche Schicht werden müssen, eine Oberschicht. Wartet man darauf, daß irgendein Wunder geschieht ? Daß das Gottesgnadentum einer obersten Spitze uns neu beschert wird ? « 47 Kleinere Klubs, wie die Magdeburger Herrengesellschaft, lehnten Statuten ab, verstanden sich vielmehr als » gänzlich zwanglose Gesellschaft, die sich […] trifft, um politische Vorträge zu hören und sie in anschließender Diskussion zu besprechen. « Vgl. IZGM (wie Anm. 28), ED 103: Georg Bennecke an Herrn von Engelbrechten v. 1. 4. 1927. 48 Wilhelm von Kries, Der englische Klub, in: Der Ring, 5. Jg, Nr. 39.
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antwortung tragen müsse. Von der Militarisierung der Geselligkeit, wie sie im Vereinsleben der Nachkriegszeit – vor allem in den Krieger- und Frontsoldatenvereinen oder Nachläufern der Bürgerwehren – üblich war, blieben die Klubs unberührt.49 Wo Reichsbanner, Jungdeutscher Orden, Stahlhelm oder SA ihre Macht durch Straßenaufmärsche öffentlich visualisierten, zogen sich die » Herren « zu Vorträgen und Diskussion an den Kamin des Klubhauses zurück. Es war eine konservative, beinahe ausschließlich männliche Oberschichten-Geselligkeit: Frack, Vatermörder, Zylinder, Zigarre waren üblich, und die Uniform eines höheren Offiziers gern gesehen. Auch die Räumlichkeiten zeigen das. In Berlin logierten die Jungkonservativen seit 1928 unmittelbar am Brandenburger Tor in den Räumen der traditionsreichen » Casino-Gesellschaft «, einem Klub aus den Zeiten des Kaiserreichs, wo vornehmlich Militärs und Diplomaten verkehrten.50 Neben einer großen Bibliothek oder dem Speise- und Vortragssaal bot ein Spielzimmer für Schach und Kartenspiel Möglichkeiten der Unterhaltung und des Kontakts.51 Revolutionärer Gestus wirkte hier abstoßend. Die Auseinandersetzung auf der Straße zu suchen galt als vulgär. » Massenpolitik « wurde zum Synonym für gesamtgesellschaftliche Degeneration. Wenn man in Klub-Kreisen noch Kritik an den Nationalsozialisten übte, dann deshalb, weil sie sich dieser modernen Vulgarität zu bedienen schienen. Nicht das Ziel der Nationalsozialisten, die Demokratie zu beseitigen, schien gefährlich, vielmehr die Methoden, welche die NSDAP zum Erreichen ihrer Ziele gewählt hatte. Eine Melange aus von Abstiegsängsten ergriffenem Bildungsbürgertum, reicher Unternehmerelite und altem Adel schwadronierte sich demgegenüber in eine künftige Führungsrolle. Edgar J. Jung
49 Vgl. Frank Bösch, Militante Geselligkeit. Formierungsformen der bürgerlichen Vereinswelt zwischen Revolution und Nationalsozialismus, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918 – 1939, Göttingen 2005, S. 151 – 183. 50 Zur Casino-Gesellschaft vgl. die Statuten von 1919, in: IZGM (wie Anm. 28), ED 103: » Zweck ist: durch Vereinigung gebildeter Personen aus verschiedenen Ständen neben wissenschaftlicher Belehrung gesellige Unterhaltung zu fördern. […] Dem Zwecke der Gesellschaft gemäß steht der Eintritt in dieselbe gebildeten Männern jeden Ranges und Standes unter den durch dieses Statut festgestellten besonderen Bedingungen offen […]. Steife Etikette und lästiges Zeremoniell bleiben aus der Gesellschaft entfernt, wogegen die allgemeinen Gesetze des Anstandes und der Höflichkeit jedes Mitglied verpflichten. « Zur Kooperation zwischen Casino-Gesellschaft und Herrenklub vgl. Hans-Ulrich von Luck, Die Casino-Gesellschaft 1786 – 1931, Berlin 1931, S. 28 ff. 51 VWA NL Lüninck (wie Anm. 41) Nr. 819: Deutscher Herrenklub an seine Mitglieder über die Abmachungen mit der Casino-Gesellschaft vom 17. 11. 1928.
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schrieb: » Es muß alles versucht werden, um die Führerauslese […] aus der Atmosphäre der Rhetorik und der parteimäßigen Propagandaapparate zu entfernen. «52 3. Ständische Integration: Anders als in der Epoche des Vormärz waren die Klubs der Zwischenkriegszeit nicht mehr vorwiegend das exklusive Organisationsmodell des Bürgertums. Während im frühen 19. Jahrhundert noch Standesschranken existiert hatten, ja die ständische Dichotomie von Bürgertum und Adel eine bürgerliche Vergemeinschaftung überhaupt erst angetrieben und legitimiert hatte, so fiel dieser Gegensatz nun fort. Der Kampf gegen den so genannten » mechanistischen « Parteienstaat, der lediglich den » vierten Stand « zu umwerben schien, hob traditionelle ständische Gegensätze auf. » Es wird höchste Zeit «, so kommentierte der Volkstumstheoretiker Herrmann Ullmann 1929, » die natürlichen konservativen Reserven […] endlich geistig-politisch zu pflegen und nicht bloß interessenmäßig und für Wahlzwecke zu › organisieren ‹. «53 Dass es gegenüber den Parteiapparaten einer Sammlung der geistig unabhängigen, freien, gebildeten Persönlichkeiten und auf diesem Wege der Schaffung einer neuen Aristokratie bedurfte, darauf konnten sich sowohl bürgerliche Eliten als auch der politisch marginalisierte Adel einigen. Entsprechend waren in den Nationalklubs und im jungkonservativen Klub-Netzwerk vielerorts bürgerliche Beamte, Akademiker, Kaufleute, Junker und Adel gleichermaßen präsent. 4. Niedriges Organisationsniveau: Versuche, die Klubs und Gesellschaften unter die Leitung eines Dachvereins zu stellen, scheiterten zumindest vor 1933 gleich mehrere Male. Zwar trafen sich die Vorstände verschiedener Klubs zur Wende der 1930er Jahre unregelmäßig, doch ließ sich bei solchen Gelegenheiten meist nicht mehr festhalten, als dass » alle Anwesenden grundsätzlich auf monarchischem Boden stehen […] die augenblickliche Lage eine aktive Aufrollung dieser Frage [aber] nicht angezeigt erscheinen lasse. «54 Politische Initiativen konnten durch solche Treffen selten angeleitet werden. Auch die gelegentliche Teilnah-
52 Edgar Julius Jung, Die deutsche Staatskrise als Ausdruck der abendländischen Kulturkrise, in: Karl Haushofer/Kurt Trampler (Hg.), Deutschlands Weg an der Zeitenwende, München 1931, S. 109 – 125, hier: S. 223. 53 Hermann Ullmann, Das werdende Volk. Gegen Liberalismus und Reaktion, Hamburg u. a. 1929, S. 111. 54 Niederschrift über die Entwicklung der Bestrebungen für eine Sammelbewegung seit Oktober 1928, Hamburg Mai 1930, zitiert nach: Gerhard Granier, Magnus von Le vetzow. Seeoffizier, Monarchist und Wegbereiter Hitlers. Lebensweg und ausgewählte Dokumente, Boppard a. Rhein 1982, S. 269 – 276.
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me von Vertretern verschiedener rechter Parteien behob die Armut an realpolitischer Substanz wenig. Insbesondere in den frühen 1930er Jahren verschärften sich wechselseitige Spannungen. Den jungkonservativen Klubs, die ihre Kritik an den Parteien mehr und mehr radikalisierten, galten die alt-konservativen Nationalklubs als parteihörig; und die Nationalklubs ihrerseits waren nicht gewillt, sich der Führung einer vornehmlich journalistischen Clique mit ihren wolkigabstrakten Staatsideen unterzuordnen. Primär der Nationalklub in Berlin öffnete sich in den frühen 1930er Jahren – betrieben durch Hans Pfundtner, dem stellvertretenden Vorsitzenden – für die Hitler-Bewegung. Sympathien für die NSDAP galten aber andernorts, wo eher ständestaatliche Ideen dominierten, als nicht zielführend.55 Weder beim Umgang mit den Nationalsozialisten noch in der Frage, welches Staatssystem zukünftig die Weimarer Demokratie ersetzen sollte, ließ sich Einigkeit erzielen. Selbst die kleineren Herrengesellschaften weigerten sich, ihrem Vorbild, dem Berliner Herrenklub, formal unterstellt zu werden, obwohl sie personell und ideologisch eng mit ihm verwoben waren. Listen mit befreundeten Klubs zirkulierten. Wechselseitiger Gastverkehr wurde vereinbart. Die Schaffung eines Klub-Kartells, wenn man es so nennen möchte, gelang jedoch nicht.56 Auf diese Weise förderten die Klubs zwar die Akzeptanz für antidemokratische Ideen bei gesellschaftlichen Eliten, allerdings ohne selbst eine konsistente Alternative zu den Parteien in Aussicht stellen zu können. Die nationalsozialistische » Machtergreifung « im Januar 1933 war vielleicht nicht das, worauf sämtliche Klubs hinwirkten, aber doch das, was sie zumindest indirekt beförderten und deshalb mit zu verantworten hatten.
55 Protokoll über die Vorstandssitzung der Magdeburger Herrengesellschaft vom 4. 10. 1932, in: IZGM (wie Anm. 28), ED 103: » Zu Punkt 6: Pflege der Verbindungen mit den Nationalen Klubs und den anderen Herrengesellschaften. Die von dem Unterzeichneten eingeleitete Pflege der Klubbeziehungen zu den anderen Klubs gleich welcher Art wurde gebilligt. Eine Liste der Klubs, die in Frage kommen, liegt bei. Sie wird bei der Einladung der Generalversammlung oder nachher auch den Mitgliedern zugänglich gemacht werden. Der besondere Fall Nationaler Klub von 1919 Berlin wurde erörtert, die übereinstimmende Haltung der übrigen beteiligten Klubs in dieser Frage festgestellt. « 56 Vgl. Postert, Kritik (wie Anm. 29), S. 188 – 215.
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Fazit Die antidemokratischen Klubs sind ein Spezifikum von bürgerlicher Vergemeinschaftung in der Zwischenkriegszeit. Der Kampf gegen die Demokratie von Weimar wurde hier verknüpft mit einem im Kern liberalen Modell. Feinde des Parteienparlamentarismus schlossen sich eben nicht ausschließlich in proto-faschistischen Organisationen, rechtsradikalen Parteien oder paramilitärischen Bünden zusammen. In dieser Hinsicht hat der Siegeszug der NS-Bewegung nach der Weltwirtschaftskrise unseren Blick auf anders gelagerte Phänomene verstellt. Einem gewichtigen Teil des konservativen Bildungsbürgertums schien der Parteistaat zur politischen Gestaltung unfähig und von seiner Struktur her auf Demagogie, Massenparalyse und politische Nivellierung angelegt. Wer wirklich unabhängig und frei sein wollte, der schien sich dem Zugriff der Parteien erst entziehen zu müssen. Die Tragweite der Krise, in die der Liberalismus nach 1918 geriet, wird hier besonders auffällig. Ein Modell des politischen Liberalismus ließ sich mit wachsender Überzeugungskraft gegen das liberale Staatssystem einsetzen. Das Klubmodell entsprach der insbesondere im Bildungsbürgertum weit verbreiteten Gegenwartskritik. Es bot einen Rahmen, in dem politische Vergemeinschaftung jenseits der Parteien möglich schien. Die Verbindung antidemokratischer Ideologie mit liberaler Assoziierung ist eine Besonderheit in der Zwischenkriegszeit und scheint auf dem Hintergrund der weit verbreiteten Parteienkritik doch zugleich für sie charakteristisch zu sein. Das Klubmodell war aus der Zeit gefallen. Im 19. Jahrhundert hatten Foren des Bürgertums als Motor für politischen Wandel noch erfolgreich wirken können, doch in den politischen Strukturen einer Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts waren sie letztlich ein Relikt. Solange das parlamentarische System und die Parteiorganisation fragwürdig schienen, konnten politische Klubs in bürgerlichen Milieus erfolgreich mobilisieren. Mittel- und langfristig erwiesen sie sich jedoch als Scheinalternative. Nach Hitlers Machtantritt Ende Januar 1933 lösten sich die Klubs auf oder sie schalteten sich freiwillig gleich. Ein nicht unerheblicher Teil der Mitglieder trat in die NSDAP ein. Finanzielle Probleme sowie erheblicher Mitgliederschwund erschwerten die Aufrechterhaltung der Organisation. Interventionen durch das Regime stutzten den Spielraum vielerorts auf ein Minimalmaß zurecht. Ende der 1930er Jahre waren sowohl die Nationalklubs als auch die Foren der Jungkonservativen entweder aufgelöst oder am Rande der Bedeutungslosigkeit in die Strukturen des NS-Staats eingebettet.57 Gewiss existierten Klubs und Gesellschaften fort. Der jungkonservative Publizist Paul
57 Vgl. ebd., S. 436 – 490.
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Fechter zum Bespiel fand in der Berliner Mittwochsgesellschaft eine Möglichkeit, politische Kontakte zu knüpfen; die mittlerweile zum kleinen, verschwörerischen Zirkel geschrumpfte Gesellschaft wurde erst 1944, im Zusammenhang mit der Verschwörung des 20. Juli, durch die Gestapo zerschlagen.58 Der Deutsche Herrenklub wiederum hatte sich 1937 mit dem traditionsreichen Club von Berlin – eine 1864 gegründete, eher unpolitische Assoziation vorwiegend für finanzstarke Unternehmer – zum sogenannten Deutschen Klub Berlin zusammengetan. So fusioniert, gleichgeschaltet und » arisiert « konnten beide Klubs bis Kriegsende überleben. Politisch waren sie im NS-Staat jedoch ohne Einfluss.59 Ähnliches gilt für die Nationalklubs, die sich gleich nach der » Machtergreifung « in die Strukturen des NS-Staats einfügten. Versuchen, das Gegenmodell zur Parteiorganisation wiederzubeleben, war nach 1945 kein erneuter Erfolg beschieden: Während in der Ostzone bürgerliche Klubs verboten und durch sozialistische Alternativen ersetzt wurden, fanden die Initiativen im Westen Deutschlands zu wenig Resonanz, um größeren Einfluss auf das politische System zu entfalten. Die monopolistische ebenso wie die pluralistische Parteienordnung konnte sich im Kontext von Kaltem Krieg und Wiederaufbau festigen. Beide mussten die Herausforderung durch alternative Politikmodelle zumindest im Zeitraum der folgenden Jahrzehnte nicht mehr fürchten.
58 Vgl. Klaus Scholder, Die Mittwochsgesellschaft. Protokolle aus dem geistigen Deutschland 1932 – 1944 (2. Aufl.), Berlin 1982, S. 36 – 43. 59 Vgl. Ariane Knackmuß, Willkommen im Club ? Die Geschichte des Clubs von Berlin und das Schicksal seiner jüdischen Mitglieder im Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 21 – 26; Postert, Kritik (wie Anm. 29), S. 450 – 458.
Katholisch-deutschnationale Eliten Cartellverband, Deutscher Klub und ihre Mitglieder in der Hochschullehrerschaft der Universität Wien 1932 – 1950 A n dr eas H u ber
Als am 13. März 1938 die Regierung unter dem nationalsozialistischen Bundeskanzler Arthur Seyß-Inquart ein » Bundesgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich « unterzeichnete und damit die Basis für den » Anschluss « legte,1 gehörten ihr fünf Mitglieder des Deutschen Klubs an.2 Der Klub war ein 1908 gegründeter Verein mit Sitz in der Wiener Hofburg, der sich in den vorhergehenden Jahrzehnten zu einem Sammelpunkt der deutschnationalen Bewegung, in den 1930ern aber auch zu einem Hort des Nationalsozialismus entwickelt hatte. Dass seine Mitglieder, wenn auch nur kurzzeitig, in höchsten politischen Ämtern vertreten waren – ein deutlicher Kontrast zum Deutschen Reich 1933 – war auch den besonderen Verhältnissen in Österreich geschuldet, wo die NSDAP am 19. Juni 1933 verboten worden war.3 Mit dem sogenann-
1 Vgl. etwa Hanns Haas, Der » Anschluss «, in: Emmerich Tálos u. a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, 2. Aufl., Wien 2001, S. 26 – 54, hier: S. 47. 2 Es handelte sich um Handelsminister Hans Fischböck, Justizminister Franz Hueber, Sozialminister Hugo Jury und Unterrichtsminister Oswald Menghin. Vgl. dazu etwa Mitteilungen des Deutschen Klubs [im Folgenden: MDK], Nr. 122, März 1938, S. 1. 3 Ausschlaggebend für das Verbot waren wiederholte Terroraktionen, zuletzt ein Überfall mit Handgranaten bei Krems an der Donau. Vgl. Erich Zöllner, Geschichte Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 8. Aufl., Wien 1990, S. 513.
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ten Anschlusskabinett endete auch die fünfjährige Ära des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes, welches seinerseits die parlamentarische Demokratie ausgeschaltet und politisch Andersdenkende verfolgt hatte. Eine wichtige Stütze dieses klerikal-autoritären Regimes, dem der italienische Faschismus als Vorbild diente, bildete der Österreichische Cartellverband der katholischen deutschen Studentenverbindungen (ÖCV)4 bzw. dessen Mitglieder, die in führenden politischen Funktionen vertreten waren. So gehörten auch die beiden » Ständestaats «-Kanzler, der 1934 von illegalen Nationalsozialisten ermordete Engelbert Dollfuß sowie der ihm nachfolgende Kurt Schuschnigg, dem CV an.5 Deutscher Klub und Cartellverband als Zentren der katholischen und deutschnationalen Eliten prägten so maßgeblich die Geschichte Österreichs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Beitrag6 zeichnet im ersten Abschnitt die Entwicklung beider Vereine über die politischen Brüche 1933/34, 1938 und (im Falle des CV) 1945 nach und widmet sich dabei auch der Berufsstruktur und Mitgliederentwicklung bis zum Beginn der NS-Herrschaft in Österreich. Im zweiten Abschnitt werde ich am Beispiel der Universität Wien herausarbeiten, welchen Verlauf die Karrieren ihrer (ehemaligen) Mitglieder in der Hochschullehrerschaft nahmen und ob diese mit Förderungen, Zurücksetzungen und Verboten der beiden Netzwerke einhergingen. Aufgrund der quantitativen Herangehensweise erlaubt diese Studie somit auch Rückschlüsse auf die politische Zusammensetzung der Professoren- und Dozentenschaft. Als Grundlage dienen vor allem Personalverzeichnisse der Universität Wien (für die Studienjahre 1931/32, 1937/38, 1943/44 und 1949/50),7 Mitgliederver-
4 Im Folgenden verwende ich ebenso die gebräuchlichere Bezeichnung CV bzw. Cartellverband. 5 Engelbert Dollfuß war Mitglied der Franco-Bavaria Wien (6. 11. 1913), Kurt Schuschnigg Mitglied der Austria Innsbruck (27. 10. 1919). Vgl. CV-Mitgliederverzeichnisse 1929, 1935. 6 Für äußerst hilfreiches Feedback zum Artikel darf ich mich bei Klaus Taschwer bedanken. 7 Es handelt sich um die Verzeichnisse der Studienjahre 1932/33 (Stichtag: 1. 11. 1932), 1937/38 (1. 11. 1937), 1943/44 (1. 8. 1943) und 1949/50 (1. 5. 1950). Den ersten Personalstand nach Kriegsende gab das Rektorat erst mit Beginn des Wintersemesters 1948/49 heraus.
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zeichnisse des CV8 und des Deutschen Klubs,9 die von 1924 bis 1939 erschienenen Mitteilungen des Deutschen Klubs10 und schließlich Personalakten einzelner Hochschullehrer. Die Personalverzeichnisse der Universität Wien habe ich ebenso wie das Gesamtverzeichnis und die neu aufgenommenen Mitglieder des Deutschen Klubs, zu dem bis dato noch keine vergleichbaren Untersuchungen vorliegen,11 in zwei Datenbanken erfasst.
8 Die Ehrenmitglieder, Alten Herren und Studierenden des Cartellverbandes (C. V.) der katholischen deutschen Studentenverbindungen. […] vom Juni 1907, Straßburg i. Els. 1907; […] vom Juni 1911, Straßburg i. Els. 1911; […] vom Juli 1913, Straßburg i. Els. 1913; […] vom 1. Juli 1927, Wien 1927; […] von Ende April 1929, Wien 1929; […] vom 1. April 1935 mit Nachträgen [ÖCV], Wien 1935 [im Folgenden jeweils: CVMitgliederverzeichnis]. 9 Vom Deutschen Klub lag mir nur ein einziges vollständiges Mitgliederverzeichnis vor, jenes von 1919. Vgl. Deutscher Klub, Mitgliederverzeichnis nach dem Stande vom 15. März 1919. Das Verzeichnis ist u. a. in der Österreichischen Nationalbibliothek einsehbar. Zumindest für die Jahre 1913 und 1939 existieren noch vollständige Listen, die ich allerdings noch nicht durchsehen konnte und u. a im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde liegen. Vgl. Kamila Staudigl-Ciechowicz, Exkurs: Akademischer Antisemitismus, in: Thomas Olechowski u. a., Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918 – 1938, Göttingen 2014, S. 67 – 78, hier: S. 72. Jene Klubmitglieder aus der Wiener Hochschullehrerschaft, die im Zeitraum von März 1919 bis Ende 1923 beitraten, konnte ich dementsprechend nicht berücksichtigen. Gleiches gilt für 1935 – 1938 und 1945 – 1949 in den ÖCV Eingetretene, die sich im Untersuchungszeitraum habilitierten oder eine Stelle als Lektor/Lehrbeauftragter erhielten. 10 MDK, Wien 1924 – 1939. Zwar verlautbarte der Klub im Mai 1926, die Mitgliederbewegung nicht mehr in seinem Periodikum zu veröffentlichen, tatsächlich waren Neueingetretene im darauffolgenden Monat aber wieder angeführt. 11 An einem ausführlichen Beitrag zur Geschichte des Deutschen Klubs und zu dessen Rolle vor und nach dem » Anschluss « arbeite ich derzeit mit Linda Erker und Klaus Taschwer. Dieser erscheint 2017 in der Zeitschrift » zeitgeschichte «. Als umfassendste Darstellung gilt bis dato der Abschnitt in Rosars 1971 erschienener Monographie. Vgl. Wolfgang Rosar, Deutsche Gemeinschaft. Seyss-Inquart und der Anschluß, Wien u. a. 1971, S. 37 – 45. Vgl. auch Staudigl-Ciechowicz, Antisemitismus (wie Anm. 9), S. 70 – 72; Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015, S. 203 – 208.
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Cartellverband und D eutscher K lub I: Von der G ründung bis zur Auflösung 1938/39 Cartellverband Im Dezember 1856 traten die beiden katholischen Korporationen Aenania München und Winfridia Breslau in ein Cartellverhältnis und legten so den Grundstein für den Cartellverband der katholischen Studentenverbindungen. Die älteste Korporation im heutigen ÖCV ist die 1864 angemeldete Austria Innsbruck, die 1870 eine von fünf Verbindungen stellte. Um die Jahrhundertwende waren es 30. Das größte Wachstum verzeichnete der CV im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, als 39 Verbindungen, darunter zwölf österreichische, aufgenommen wurden.12 Dass CV-Korporationen wie die » Schlagenden « in Farben, also mit Mütze und Band und zu besonderen Anlässen auch mit Schläger, Uniformrock etc. auftraten, war vor allem auf die sichtbare Präsenz an den Hochschulen zurückzuführen – und damit einhergehend: der Demonstration von Macht und der Gewinnung neuer Mitglieder.13 Das Farbentragen und der Kampf um die Hegemonie an den Hochschulen führte dann auch regelmäßig zu Prügeleien zwischen katholischen und schlagenden Studentenverbindungen, da Letztere ihren Einfluss schwinden sahen und gewaltsam darauf reagierten.14 Nach dem Ersten Weltkrieg und unter dem Eindruck der gemeinsamen Kriegserfahrung gingen die Konflikte zwischen diesen zwei weltanschaulichen Lagern merkbar zurück. Ausdruck dieser neuen Harmonie war das » Erlanger Ehrenabkommen «, das die Gleichwertigkeit beider Verbindungsformen festschrieb.15 Auch in der Hochschulpolitik funktionierte die Zusammenarbeit der beiden Lager, und zwar im Rahmen der Deutschen Studentenschaft (DSt), die sich als reichsweite Vertretung der Studierenden verstand und besonders in Österreich einen streng antisemitischen Kurs verfolgte. So forderte die DSt an der Universität Wien Ende der 1920er Jahre ein auf rassistischen Kriterien basierendes Volksbürgerschaftsprinzip, welches in der – letztlich aufgehobenen – Studentenordnung des Juristen Wenzeslaus Gleispach seinen Nie-
12 Gerhard Popp, CV in Österreich 1864 – 1938. Organisation, Binnenstruktur und politische Funktion, Wien u. a. 1984, S. 13 ff. 13 Ebd., S. 190. 14 Gerhard Hartmann, Der CV in Österreich. Seine Entstehung, seine Geschichte, seine Bedeutung, 3. Aufl., Limburg/Kevelaer 2001, S. 51 f. 15 Vgl. ebd., S. 99.
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derschlag fand.16 Der CV unterstützte solche Forderungen, zumal seine Vertreter in der DSt saßen. Zwar schrieben seine österreichischen Verbindungen im Gegensatz zu den Burschenschaften keinen » Arierparagraphen « fest, stark verankert war der Antisemitismus nichtsdestotrotz: Der spätere Bundeskanzler Engelbert Dollfuß etwa forderte 1920 im Namen der Franco-Bavaria Wien, dass » alle Studenten, deren Blut von jüdischer Beimischung befleckt war, von der Mitgliedschaft ausgeschlossen werden sollten «.17 Eines seiner grundlegenden Ziele, dem politischen Katholizismus das akademisch gebildete Personal zur Verfügung zu stellen, hatte der Verband in der Ersten Republik jedenfalls erreicht: Von den neun österreichischen Bundeskanzlern waren sechs – und damit alle, die der Christlichsozialen Partei angehörten – CVer.18 Indessen konnte der Gesamtverband (einschließlich der Korporationen aus Deutschland und Österreich, aber auch anderer Länder wie der Tschechoslowakei) seine Mitgliederzahl sowohl bei den Ur- und Ehrenphilistern19 als auch bei den Studenten von 1918 bis 1929 verdoppeln.20 1931 gehörten in Wien 6,9 Prozent der Studierenden einer CV-Verbindung an, in Graz waren es 4,9, in Innsbruck 15,9 Prozent.21 Der Aufstieg des Nationalsozialismus Anfang der 1930er Jahre sollte der Kooperation mit den Deutschnationalen, deren Übergänge zu den Nationalsozialisten fließend waren, ein Ende bereiten. Nach gewalttätigen Angriffen von NSStudenten auf CV-Mitglieder im Dezember 1932 trat die Katholisch Deutsche Hochschülerschaft Österreichs (KDHÖ), in welcher der CV eine führende Rol16 Diese Studentenordnung regelte die Organisation und Selbstverwaltung der Studierenden und fasste diese nach dem rassistischen » Volksbürgerprinzip « in Studentennationen zusammen. Der Verfassungsgerichtshof hob sie im Juni 1931 auf, allerdings nicht wegen des rassistischen Charakters, sondern weil die akademischen Behörden nicht über die Kompetenz verfügten. Vgl. Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten 1930 bis 1945, in: Friedrich Stadler (Hg.), Kontinuität und Bruch 1938 – 1945 – 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, 2. Aufl., Münster 2004, S. 69 – 82, hier: S. 69 f. 17 Robert Rill, CV und Nationalsozialismus, Wien/Salzburg, 1987, S. 45. 18 Vgl. Der CV in Kirche und Politik von 1918 bis 1933, https://www.oecv.at/Home/Verband/23 (11. 6. 2016). 19 Urphilister sind gleichbedeutend mit Alten Herren, also Personen, die in ihrer Studienzeit einer Verbindung beitraten, Ehrenphilister sind ehrenhalber ernannte Mitglieder. 20 Bei den Ur- und Ehrenphilistern stieg der Mitgliederstand von 8 095 auf 15 651, bei den Studierenden von 4 303 auf 8 379. Vgl. CV-Mitgliederverzeichnis 1929, LII. 21 Popp, CV (wie Anm. 12), S. 21.
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le einnahm, aus der DSt aus.22 Ein halbes Jahr später, am 10. Juli 1933, spalteten sich die österreichischen CV-Verbindungen vom Gesamtverband – dieser wurde im Deutschen Reich » gleichgeschaltet « – ab und firmierten nun unter dem Banner des ÖCV, der im Dezember 1933 seine erste Cartellversammlung abhielt.23 Nach der » Selbstausschaltung des Parlaments « am 4. März 1933,24 dem Staatsstreich unter Engelbert Dollfuß, erreichte der CV den vorläufigen Zenit seiner Macht. Bis 1936, als infolge des » Juliabkommens « mit dem NS-Regime die » Nationalen « in die Kabinette eingebunden wurden, lag der Anteil von CVern in der Regierung stets bei über 40 Prozent, in der Regierung Dollfuß II, die während des Bürgerkrieges im Februar 1934 und der Ausschaltung der Sozialdemokratie amtierte, waren gar ausschließlich katholisch Korporierte vertreten. Eine ideologisch homogene Gruppe repräsentierte der Verband aber keineswegs. In seinen Reihen fanden sich auch NSDAP-Anhänger und -Mitglieder,25 und so gehörten mit Wilhelm Wolf (Äußeres) und Oswald Menghin (Unterricht) auch zwei CVer dem oben genannten » Anschlusskabinett « an.26
22 Vgl. Gerhard Wagner, Von der Hochschülerschaft Österreichs zur Österreichischen Hochschülerschaft, Dipl. Arb. Wien 2010, S. 85 f. 23 Popp, CV (wie Anm. 12), S. 72. 24 Im Rahmen einer von Tumulten begleiteten Abstimmung über einen Streik der Eisenbahner erklärten die drei Nationalratspräsidenten ihren Rücktritt, weshalb die Sitzung nicht regulär geschlossen werden konnte. Polizeibeamte hinderten nach einer Absprache Dollfuß’ mit dem Wiener Polizeipräsidenten die Abgeordneten am Betreten des Parlamentsgebäudes zur nächsten Sitzung am 15. März, woraufhin die Regierung unter Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes aus dem Jahr 1917 sukzessive ein diktatorisches Regime errichtete. Vgl. Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933 – 1938, 2. Aufl., Wien/Berlin 2013, S. 29 – 37. 25 Von 985 Innsbrucker CV-Studierenden etwa waren 391 der NSDAP beigetreten, 225 davon aber erst nach dem » Anschluss «. Mit zu berücksichtigen ist der in Tirol vergleichsweise hohe Anteil reichsdeutscher Studenten. Vgl. Michael Gehler, Korporationsstudenten und Nationalsozialismus in Österreich. Eine quantifizierende Untersuchung am Beispiel der Universität Innsbruck 1918 – 1938, in: Geschichte und Gesellschaft 20, 1994, S. 1 – 28, hier: S. 28. 26 Stephan Neuhäuser, » Wer, wenn nicht wir ? « 1934 begann der Aufstieg des CV, in: ders. (Hg.), » Wir werden ganze Arbeit leisten … « Der Austrofaschistische Staatsstreich 1934, Norderstedt 2004, S. 65 – 140, hier: S. 80f.
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Drei Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen, am 7. Juni 1938, wurde der ÖCV verboten und das Vermögen seiner Verbindungen beschlagnahmt.27 Katholisch-Nationale wie Menghin konnten auch unter den Nationalsozialisten ihre Karriere fortsetzen, während andere pensioniert oder entlassen wurden. Auch Inhaftierungen, Deportationen in NS-Konzentrationslager und der aktive Widerstand gegen das NS-Regime finden sich in den Biographien vieler CV-Angehöriger. Dieser von Cartellbrüdern mitgetragene Kampf gegen den Nationalsozialismus wie auch die nicht erfolgte Aufarbeitung des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes begünstigte die schnelle Wiedergründung nach Kriegsende. So genehmigte das Innenministerium am 8. Mai 1946 die (Wieder-)Bildung des ÖCV, und die Verbindungen in Wien, Salzburg und Innsbruck konnten wieder offiziell ihren Betrieb aufnehmen.28 Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war der Verband durchaus um eine konsequente » Säuberung « bemüht und schloss ehemalige Nationalsozialisten aus.29 Dieses unter dem damaligen ÖCV-Beiratsvorsitzenden Robert Krasser laufende Vorhaben nützte der Verband aber auch dazu, sich der Sozialisten und wieder verheirateten Geschiedenen in seinen Reihen zu entledigen.30 Jene CVer in der Beamtenschaft wiederum, die unter Dollfuß und Schuschnigg befördert worden waren, hatten durch das Beamtenüberleitungsgesetz ein Anrecht auf ihre alten Posten.31 Schon bald nahm der Verband eine Führungsrolle in der neu gegründeten Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ein, die ihr Führungspersonal zu großen Teilen aus ehemaligen Proponenten der Christlichsozialen Partei wie auch der » austrofaschistischen « Einheitspartei Vaterländische Front rekrutierte. Sämtliche ÖVP-Parteiobmänner und -Generalsekretäre bis 1970 gehörten dem ÖCV an,32 welcher der Partei auch heute noch als zentrales Personalreservoir dient.
27 Gehler, Korporationsstudenten (wie Anm. 25), S. 25. 28 Roland Floimair, Die Geschichte der österreichischen Studenten-Union (ÖSU), phil. Diss., Salzburg 1974, S. 42 f. 29 Neuhäuser, CV (wie Anm. 26), S. 79. 30 Vgl. den Eintrag zu Robert Krasser im Biographischen Lexikon des ÖCV, https:// www.oecv.at/Biolex/Detail/12500146 (12. 6. 2016). 31 Staatsgesetzblatt 134/1945, 30. 8. 1945. Vgl. auch Neuhäuser, CV (wie Anm. 26), S. 83. 32 Neuhäuser, CV (wie Anm. 26), S. 84.
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Deutscher Klub Richard Ridel, der Handelskammersekretär und später Gesandter Österreichs in Berlin war, aber auch als Vertrauensmann des designierten Thronfolgers Franz Ferdinand fungierte, gründete 1908 in Wien den Deutschen Klub. In den Räumlichkeiten des Vereins, der sich der deutschen Volkstumspflege verschrieben hatte, trafen seine Mitglieder zu Schach- und Bridgepartien, zum Besuch der hauseigenen Bibliothek wie auch zu Vorträgen und Musikabenden zusammen. Die unter anderem aus Großindustriellen, Ministerialbeamten und Hochschullehrern bestehende deutschnationale Gesellschaft33 war überparteilich ausgerichtet und bot nach 1918 auch dem (rassistischen) Antisemitismus zunehmend eine Plattform,34 wovon Vorträge wie » Die Wirtschaftsmacht des Judentums in Oesterreich « im November 192435 oder » Rassenhygiene und menschliche Vererbungslehre « im Monat darauf zeugen.36 Dem unmittelbar nach der Gründung eingetretenen Historiker Wilhelm Bauer zufolge waren Juden von Beginn an vom Beitritt ausgeschlossen.37 So forderte das Klub-Periodikum seine Leser auch regelmäßig dazu auf, » nur bei arischen Geschäftsleuten « einzukaufen.38 Enge Verbindungen, aber auch personelle Überschneidungen, bestanden zur Deutschen Gemeinschaft, einem Zusammenschluss katholischer und deutschnationaler Eliten, darunter vor allem Offiziere, Akademiker und Wirtschaftstreibende, die weltanschauliche Gegensätze hintanstellten und sich im Kampf gegen Marxismus, Freimaurer und Judentum zusammenschlossen. So war in dieser streng geheim agierenden Gesellschaft auch eine Kooperation von CV- und schlagenden Studentenverbindungen – eine Parallele zur oben beschriebenen Deutschen Studentenschaft – gegeben. Entsprechend der Statuten waren die Mitglieder verpflichtet, sich in ihren Berufslaufbahnen gegenseitig zu fördern. Wolf33 Rosar, Deutsche Gemeinschaft (wie Anm. 11), S. 37. 34 Vgl. Brigitte Behal, Kontinuitäten und Diskontinuitäten deutschnationaler katholischer Eliten im Zeitraum 1930 – 1965. Ihr Weg und Wandel in diesen Jahren am Beispiel Dr. Anton Böhms, Dr. Theodor Veiters und ihrer katholischen und politischen Netzwerke, Diss. Wien 2009, S. 104. 35 MDK, Folge 10, November 1924, S. 2. 36 MDK, Folge 11, Dezember 1924, S. 2. 37 Wilhelm Bauer, Nationales Zentrum in Wien. Die Entwicklung des Deutschen Klubs, in: Neue Freie Presse, 15. 1. 1939, S. 9 f. Ich danke Klaus Taschwer für die Übermittlung des Artikels. 38 Vgl. etwa MDK, Folge 4, April 1926, S. 4. Auch der Hinweis, » nur in deutsche Sprachgebiete « zu reisen, ist in den Mitteilungen öfter aufzufinden.
Katholisch-deutschnationale Eliten | 197
gang Rosar führt den langsamen Niedergang der Deutschen Gemeinschaft, der 1930 in ihrer Auflösung mündete, denn auch auf Streitigkeiten um Postenbesetzungen zurück, bei denen sich vor allem der deutschnationale Flügel übergangen fühlte.39 Mitte/Ende der 1920er Jahre traf sie zu ihren Sitzungen auch vermehrt in den Räumlichkeiten des Deutschen Klubs zusammen, der diese gewissermaßen auch absorbierte.40 Mit dem 1924 gegründeten Deutschen Herrenklub in Berlin pflegte der Deutsche Klub ein Kartellverhältnis. Dieser, so berichteten die Mitteilungen nach dessen Gründung, habe » in großen Zügen unsere Grundideen übernommen «.41 Verbindungen bestanden aber auch zu anderen jungkonservativen Klubs und Gesellschaften, so etwa zum Jungakademischen Klub in München.42 Im Gegensatz zu den reichsdeutschen Pendants, deren Einfluss auf die Politik – mit Ausnahme des Präsidialkabinetts unter Franz von Papen ab Mai 193243 – bescheiden blieb, waren Klub-Mitglieder in den Regierungen der Ersten Republik prominent vertreten. Zu den mindestens neun Ministern zählten etwa Franz Slama (Justizminister 1928 – 1930), Hans Schürff (Handel und Verkehr 1923 – 1929, Justiz 1930 – 32) und Heinrich Srbik (Unterricht 1929 – 30). Auch der von 1920 bis 1928 amtierende Bundespräsident Michael Hainisch, der in den beiden Folgejahren parteiloser Handelsminister war, fand sich unter den Mitgliedern. Das Beispiel der Minister verdeutlicht auch den Stellenwert dieses Vereins als Rekrutierungsplattform der Großdeutschen Volkspartei (die meisten dieser Minister gehörten ihr an), deren Kabinettsmitglieder relativ selten auf eine klassische Parteikarriere verweisen konnten und für die Organisationen wie der Klub umso wichtiger waren.44 Das Aufnahmeprocedere war in den Statuten klar geregelt: Zwei Mitglieder, die dem Vorstand als » Gewährsmänner « dienten, legten diesem » Name, Beruf und Anschrift (Fernruf) des Antragstellers « vor, woraufhin die nächste Hauptaus39 Rosar, Deutsche Gemeinschaft (wie Anm. 11), S. 32 ff. 40 Ebd., S. 39. 41 MDK, Folge 11, Dezember 1924, S. 2. 42 Vgl. André Postert, Von der Kritik der Parteien zur außerparlamentarischen Opposition. Die jungkonservative Klub-Bewegung in der Weimarer Republik und ihre Auflösung im Nationalsozialismus, Baden-Baden 2014, S. 275. 43 Absprachen zwischen Regierungsmitgliedern (neben Papen war auch Reichsinnenminister Wilhelm von Gayl Mitglied des Herrenklubs) und Jungkonservativen sind nach Postert unwahrscheinlich. Auf die Politik Papens aber hatten die Konzepte der jungkonservativen Klubs und Gesellschaften sehr wohl Einfluss. Vgl. ebd., S. 404. 44 Gernot Stimmer, Eliten in Österreich 1848 – 1970, 2 Bde., Wien u. a. 1997, S. 657. Nur sechs von 14 Kabinettsmitgliedern konnten auf eine solche Karriere zurückblicken.
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schusssitzung mit Zweidrittelmehrheit über das Ansuchen entschied.45 Der in den Mitteilungen oft abgedruckte Aufruf » Werbet Mitglieder «, dem teilweise eine Rangliste der erfolgreichsten Werber angeschlossen war, zeugt davon, dass der exklusive Verein durchaus um Zuwachs bemüht war.46 Zum Stichtag 15. März 1919 zählte er 1 019 Mitglieder.47 Für den Zeitraum bis Februar 1924 liegen mir bis dato keine Quellen vor, Beitritte und Todesfälle (nicht aber reguläre Austritte)48 bis zur Auflösung im Jahr 1939 sind aber in den genannten Mitteilungen verzeichnet. Zusammengefasst sind sie in Tabelle 1. Hochschullehrer, die im Zentrum des zweiten Abschnittes stehen, habe ich separat ausgewiesen. In den Jahren 1926 – 1929 blieb die Anzahl der Beitritte mit durchschnittlich 44 relativ konstant, um 1930 merklich anzusteigen und bis 1934 bei mindestens 60 pro Jahr zu liegen. Die Weltwirtschaftskrise 1929 und der daraus resultierende Vertrauensverlust in die etablierten, gemäßigteren Parteien trieben offenbar dem Deutschen Klub Mitglieder zu.49 Während aber die NSDAP bei den deutschen Reichstagswahlen im September 1930 ihren Durchbruch erzielte und zur zweitstärksten Kraft aufstieg,50 erreichte sie zwei Monate später in Österreich lediglich drei Prozent der Stimmen. Das Bekenntnis der Heimwehren zum Faschismus im gleichen Jahr, die gescheiterte Zollunion mit Deutschland und der Zusammenbruch der größten Wiener Bank, der Österreichischen Creditanstalt 1931, zeichneten auch für Österreich den Weg in die Krise vor.51 Ein Grund für den Anstieg der Beitrittszahlen 1930 war vermutlich auch die Auflösung der Deutschen Gemeinschaft, für deren nationale Mitglieder der Klub nun ein Auffangbecken bildete. Nach dem » Juliputsch « 1934 verfügte die Regierung eine amtliche Sperre des Klubs, im Zuge dessen 40 Mitglieder – soweit die Selbstdarstellung im März
45 MDK, Folge 6, März 1924, S. 4. 46 Vgl. etwa MDK, Folge 10/12, Dezember 1932, S. 5. 47 DK, Mitgliederverzeichnis 1919 (wie Anm. 9). 48 So ist es auch möglich, dass einzelne hier behandelte Hochschullehrer im Untersuchungszeitraum bereits ausgetreten waren. 49 Vgl. Ingo Haar, Zur Sozialstruktur und Mitgliederentwicklung der NSDAP, in: Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse ? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009, S. 60 – 73, hier: S. 61. 50 Ebd., S. 63. 51 Die Zollunion hatte im Übrigen laut Erkenntnis des Haagers Gerichtshofes gegen die Genfer Protokolle aus 1922 verstoßen. Vgl. Zöllner, Geschichte Österreichs (wie Anm. 3), S. 508 ff.
Katholisch-deutschnationale Eliten | 199
Tabelle 1: Beitritte zum Deutschen Klub 1924 – 1939* Jahr
Beitritte insges.
davon Hochschullehrer
1924
156
1925
77
1926
50
3
1927
40
1
1928
37
1929
47
1930 1931
Sterbefälle
Jahr
Beitritte insges.
davon Hochschullehrer
Sterbefälle
9
1932
63
3
22
6
1933
76
2
14
13
1934
77
3
16
19
1935
50
4
24
13
1936
30
3
20
4
10
1937
91
13
19
80
6
12
1938
47
2
10
60
4
8
1939
46
6
13
Gesamt 1 027
69
213
* In dieser Aufstellung finden sich auch 30 Beitritte von zwischenzeitlich ausgetretenen Personen, bei zehn davon fällt sowohl die erste als auch die zweite Aufnahme in den Zeitraum von 1924 bis 1939. Sie sind in Tabelle 2 zur Berufsstruktur nur einmal ausgewiesen, was auch die geringfügige Differenz erklärt. Quelle: Mitteilungen des Deutschen Klubs, 1924 – 1939
1938 – austraten.52 Nach Vermittlung Edmund Glaise-Horstenaus, Direktor des Kriegsarchivs und späterer Vizekanzler unter Seyß-Inquart, seit 1934 auch Staatsrat im » Ständestaat «, konnte der Verein aber seine Tätigkeit am 6. November wieder aufnehmen.53 Hatte die NSDAP den Berliner Herrenklub vor den Reichstagswahlen Ende 1932 in Veranstaltungen und auf Plakaten massiv angegriffen,54 so diente der Deutsche Klub in Wien als Anlaufstelle und Tagungsort für illegale NS-Organisationen, so etwa für die nationalsozialistischen » Rechtswahrer «.55 Anfang 1935 verlautbarte der Vorstand dann mit einiger Genugtuung, dass Beamte des öffentlichen Dienstes dem Klub weiterhin angehören durften.56 Der Fortbestand war gesichert. Nach einem Einbruch 1935/36 brachte das » Juliabkommen « Kurt Schuschniggs mit Adolf Hitler 1936 wieder eine Wende bei den Eintritten. Österreich verpflichtete sich in dem Abkommen auch, keine Propaganda gegen die NSDAP zu betreiben und inhaftierte Nationalsozialisten zu amnes52 MDK, Folge 122, März 1938, S. 2. 53 Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 203 f. 54 Postert, Klub-Bewegung (wie Anm. 42), S. 404 – 410. 55 Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 204. 56 Dabei verwies man auf eine Auskunft des Bundeskanzleramtes. Vgl. MDK, Folge 1, Jänner 1935, S. 1.
200 | Andreas Huber
tieren.57 Infolge des erhöhten Zulaufs sah sich der Klub im Juni 1937 gar zu einer Mitgliedersperre gezwungen: » [E]in allzu großes Einströmen neuer Mitglieder « drohe » das Gefüge des Klubs zu lockern «. Der Verein verschärfte nun auch den Beitrittsmodus, hob die Sperre Anfang 1938 aber wieder auf. Nach dem » Anschluss « zählte er 979 Mitglieder, womit sich der Stand vom März 1919 nur geringfügig geändert hatte.58 Kurz zuvor, am 11. März 1938, hatten sich 200 KlubAngehörige am SA-Aufmarsch vor dem Bundeskanzleramt beteiligt.59 Obwohl bereits im März 1938 eine Auflösung unmittelbar bevorstand, konnte der Verein dies vorerst hinauszögern. Gebunden war der Fortbestand daran, die Satzungen zu ändern, was konkret bedeutete, für die Ernennung von Leitungsmitgliedern die Zustimmung der NSDAP einzuholen.60 Diese Zugeständnisse konnten den Niedergang aber ebenso wenig abwenden wie der Umstand, dass der Verein im Juli 1939 – eigenen Angaben zufolge – 40 Prozent NSDAP-Mitglieder in seinen Reihen zählte.61 Im Oktober teilte der nunmehrige Obmann, der ehemalige Staatsanwalt und Hofrat d. R., Alfons Langer in einem Rundschreiben mit, dass sich das Klubleben nunmehr » auf den Betrieb im Lesezimmer, im Spielzimmer, die Ausgabe von Büchern und den Gemeinschaftsempfang von Rundfunksendungen « beschränke. De facto markierte dies das Ende eines Vereins, dessen Mitglieder intensiv auf den » Anschluss « an das Deutsche Reich hingearbeitet hatten.62
57 Zöllner, Geschichte Österreichs (wie Anm. 3), S. 521 f. Glaise-Horstenau, der am Zustandekommen des Abkommens beteiligt war, wurde als Minister ohne Portefeuille Mitglied im Kabinett. 58 MDK, Folge 124, Oktober 1938, S. 2 f. 59 Vgl. den Eintrag » Deutscher Klub « in: Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Wien 2004, S. 21. 60 MDK, Folge 124, Oktober 1938, S. 2 f. 61 MDK, Folge 127, Juli 1939, S. 1. 62 Schreiben von Alfons Langer, Oktober 1939. Anhang zu den MDK-Ausgaben 1930 – 1939 in der Österreichischen Nationalbibliothek.
Katholisch-deutschnationale Eliten | 201
Cartellverband und D eutscher K lub II: B erufsstruktur Aus welchen Berufsgruppen sich die hier behandelten Vereinigungen rekrutierten, geht aus Tabelle 2 hervor. Diese enthält einerseits die Mitglieder des Cartellverbandes 1929 (mit Verbindungen aus Deutschland und Österreich, aber auch etwa der Tschechoslowakei und Polen) und des abgespaltenen ÖCV 1935, andererseits die Angehörigen des Deutschen Klubs 1919 sowie dessen neu eingetretene Mitglieder in den Jahren 1924 bis 1939.63 Die Kategorien sind den statistischen Auswertungen zu den Urphilistern 1929 und 1935 entnommen, die naturgemäß auf den CV zugeschnitten und nur bedingt mit üblichen Berufsklassifikationen vergleichbar sind. Um einen aussagekräftigen Vergleich zu ermöglichen – und nicht Tausende CV-Mitglieder neu zuordnen zu müssen –, habe ich dieses Schema auch für den Klub verwendet. Leichte Unschärfen resultieren auch daraus, dass sich die Kategorien in den zwei genannten Verzeichnissen geringfügig voneinander unterscheiden.64 Die Berufsgruppe der Offiziere, die im CV nur äußerst schwach vertreten bzw. gar nicht ausgewiesen war, habe ich der Aufstellung hinzugefügt. Die Gegenüberstellung des CV im Jahr 1929 mit dem ÖCV offenbart eini ge Unterschiede zwischen den Verbindungen in Deutschland und Österreich bzw. der Berufsstruktur der beiden Länder.65 So lag im ÖCV 1935 der Anteil von Ärzten und Apothekern (17 Prozent),66 vor allem aber von Richtern und Staats-
63 In der Tabelle habe ich jeweils den in der Mitgliederliste bzw. zum Zeitpunkt des Eintritts genannten Beruf berücksichtigt. Fand sich dort keine Angabe, bei einer allfälligen Todesanzeige aber schon, habe ich diesen Beruf herangezogen, bei mehreren Angaben den prestigeträchtigeren, ansonsten den erstgenannten. 64 1929 sind etwa öffentlich Bedienstete aus dem Bereich Handel und Verkehr, also » Bahn-, Zoll-, Postbeamte u. dgl. « separat angeführt, während 1935 eine eigene, offenbar weiter gefasste, Kategorie » Verwaltungsbeamte « geführt wird. Beamte aus Ministerien u. Ä., die nicht » Handel und Verkehr « zuzuordnen sind, habe ich deshalb zu den höheren Beamten bzw. Verwaltungsjuristen gezählt, darunter etwa auch Politiker. 65 Wohlgemerkt waren in den Verbindungen beider Länder nicht nur deutsche bzw. österreichische Staatsbürger vertreten, den Innsbrucker Korporationen gehörten etwa verhältnismäßig viele Deutsche an. Die Korporationen in anderen Ländern haben aufgrund ihrer geringen Zahl nur bedingt Einfluss auf die Berufsstruktur 1929. 66 Von der Basis zur Berechnung der Anteilswerte sind die Kategorien » O. A./nicht zuzuordnen « und » Studierende « ausgenommen.
202 | Andreas Huber
anwälten (drei Prozent) deutlich unter den Anteilswerten im noch geeinten Verband 1929 (24 bzw. acht Prozent). Das geht einher mit den niedrigeren Anteilen von öffentlich Bediensteten und freien Berufen in Österreich.67 Höhere Beamte/ Verwaltungsjuristen waren im österreichischen CV hingegen überrepräsentiert. An den Hochschulen waren Mitglieder des Cartellverbandes nur schwach vertreten, wie die Zahlen in der Tabelle veranschaulichen. 190 von knapp 16 000 CVern, und damit nur knapp über ein Prozent, lehrten als Professoren, Dozenten oder Assistenten an einer Universität oder Hochschule. Im ÖCV waren es sechs Jahre später immerhin 66 von etwa 3 300 Urphilistern. Das lässt sich einerseits vielleicht auf die vergleichsweise hohe Zahl an Hochschullehrern in Österreich zurückführen, die gemessen an der Bevölkerungszahl dreimal so hoch lag wie in Deutschland,68 anderseits könnte sie auch aus einem vermehrten Zulauf von CVern im Dollfuß/Schuschnigg-Regime resultieren. Von den rund 1 000 Mitgliedern des Deutschen Klubs 1919 waren hingegen 113 als Wissenschaftler an einer Hochschule tätig, drei Viertel von ihnen lehrten als Professoren.69 Unter sämtlichen Lehrenden an Österreichs Hochschulen waren es 1934/35 nur 22 Prozent.70 Verglichen mit dem (Ö)CV gehörten dem Klub viele höhere Beamte an. Als Bastion ist hier das Staatsamt für Verkehrswesen hervorzuheben, das 1919 mit 34 Mitarbeitern im Deutschen Klub vertreten war. Bei den Neuaufnahmen 1924 – 1939 halbierte sich ihr Anteil aber nahezu, und vor allem nach der vorübergehenden Schließung 1934 traten nur noch wenige aus dieser Berufsgruppe bei. Neben den höheren Beamten stellten Kaufleute und Fabrikanten die zweite große Rekrutierungsbasis für den Verein dar. Diese Erkenntnisse gehen einher mit dem großen Stellenwert von Beamten und
67 Im Deutschen Reich waren es 1930 in beiden Berufsgruppen 9,3 Prozent, in Österreich 1934 6,5 Prozent. Vgl. Jörn Peter/Hasso Möller (Hg.), Wandel der Berufsstruktur in Österreich zwischen 1869 und 1961. Versuch einer Darstellung wirtschaftssektoraler Entwicklungstendenzen anhand berufsstatistischer Aufzeichnungen, Wien 1974, S. 202; Friedrich-Wilhelm Henning, Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands 3. Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Teil 1, Paderborn/Wien 2003, S. 597. 68 Christian Fleck, Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt a. M. 2007, S. 183. 69 Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass auch Dozenten mit Titularprofessur, die also in keinem beamteten Dienstverhältnis standen, vereinzelt als » Universitätsprofessor « ausgewiesen sind. Am Gesamtbild dürfte eine Überprüfung sämtlicher 84 Professoren aber vermutlich wenig ändern. 70 Im Statistischen Handbuch sind allerdings auch Honorarprofessoren einbezogen.
Katholisch-deutschnationale Eliten | 203
Tabelle 2: Berufsstruktur der Mitglieder von CV bzw. ÖCV und Deutschem Klub in der Zwischenkriegszeit CV
1929
Ärzte Tierärzte
ÖCV 1935
DK
1919
2 903
431
65
457
96
3
DK
1924 – 1939 33
Apotheker
361
24
4
10
Heilkunde
3 721
551
72
43
Richter und Staatsanwälte
1 314
115
33
37
847
218
73
96
1 107
488
198
110
2
1
3 557
821
306
244
10
71
1 631
283
36
28
263
142
3
1
74
31
19
8
255
28
4
Rechtsanwälte und Notare inkl. Anwärter Höhere Beamte/Verwaltungsjuristen Volkswirte
98
Dr. rer. pol.
124
Dr. iur. Rechts- und Staatswissenschaft
67
Offiziere Mittelschul-Professoren Fachlehrer Archiv-, Bibl.- und Musealbeamte Chemiker, Physiker Dr. phil.
63
4 1
Philosophie und Naturwissenschaften
2 286
484
62
Seelsorger, Religionslehrer
2 276
411
7
2
Kaufleute, Fabrikanten
560
87
161
194
Verwaltungsbeamte – Bahn/Zoll/Post …
200
139
51
12
Bank-/Sparkassen-Beamte
195
71
18
53
Privatbeamte
397
240
37
93
Syndici
194
Schriftleiter, Schriftsteller
42
146
42
17
23
Handel und Verkehr
1 692
579
284
375
Technik
1 044
163
42
47
Landwirtschaft
824
221
19
19
Hochschul-Professoren
111
27
84
40
Privatdozenten
38
16
21
13
Hochschul-Assistenten
41
23
8
16
190
66
113
69
61
19
13
17
36
88
65
Hochschule Sonstige O. A./nicht zuordenbar Studierende Gesamt
15 651
3 351
3
23
1 019
1 017
Quelle: CV-Mitgliederverzeichnis 1929, ÖCV-Mitgliederverzeichnis 1935, MDK 1924 – 1939; DK, Mitgliederverzeichnis 1919.
204 | Andreas Huber
Industriellen sowie leitenden Wirtschaftstreibenden für die deutschnationale Bewegung bzw. die Großdeutsche Volkspartei und dessen Parlamentsfraktion.71 Die starke Präsenz des deutschnationalen Lagers im Bankensektor der Ersten Republik ist wiederum an der Steigerung bei Bank- und Sparkassenbeamten abzulesen – verglichen mit 1919 verdreifachte sich ihr Anteil.72 Jene Berufsgruppe, die in den 1920er und 1930er Jahren (gemessen an den Ausgangszahlen 1919) am stärksten in den Klub einströmte, war die der Offiziere. Hatte der Verein nach Ende des Ersten Weltkrieges gerade einmal zehn Militärs in seinen Reihen, stammten 71 der rund 1 000 Neueintretenden aus dem Offizierskorps, darunter einige bereits Pensionierte. Mit Carl Bardolff stand dem Klub von 1932 bis 1937 auch ein Offizier als Obmann vor.
Cartellverband und D eutscher K lub in der H ochschullehrerschaft der U niversität W ien Erste Republik Den Niedergang der Ersten Republik führte die österreichische Zeithistorikerin Erika Weinzierl Ende der 1960er-Jahre u. a. darauf zurück, » daß es ihr nicht gelungen ist, ein eigenes demokratisches Staatsbewußtsein zu entwickeln «. Den Hochschulen schrieb sie wesentliche Verantwortung dafür zu.73 Die politische Haltung von Lehrenden und Studierenden war denn auch kein Spiegelbild der österreichischen Gesamtgesellschaft. Das zeigen die Wahlen zur Deutschen Studentenschaft an der Universität Wien 1931, bei denen der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) 15 von 40 Mandaten erreichte, die katholischen Hochschüler (KDHÖ) 14 und die Völkische Front elf. Ein Viertel der Studierenden war aufgrund ihrer nicht » arischen « Herkunft zu den Wahlen nicht einmal zugelassen worden, die sozialistischen Studenten, eine Minderheit an Österreichs Hochschulen, boykottierten sie.74 Wenige Monate vor diesem Wahlgang der Studenten war die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) mit 41,1 Pro-
71 Stimmer, Eliten (wie Anm. 44), S. 655. 72 Vgl. ebd., S. 653. Stimmer führt die Österreichische Industrie- und Handelsbank, die Deutsche Bodenbank und die Zentralbank der Deutschen Sparkassen als parteinahe Institute an. 73 Erika Weinzierl, Universität und Politik in Österreich. Antrittsvorlesung gehalten am 11. Juni 1968 an der Universität Salzburg, Salzburg/München 1969, S. 21. 74 Andrea Griesebner, Politisches Feld Universität. Versuch einer Annäherung anhand
Katholisch-deutschnationale Eliten | 205
zent stärkste Fraktion im Parlament geworden, gefolgt von den Christlichsozialen (35,7 Prozent) und der Allianz aus Großdeutschen und Landbund (11,6 Prozent).75 Im Lehrkörper der Wiener Universität, an der 925 von 2 469 in Österreich aktiven Hochschullehrern 1930/31 unterrichteten,76 lagen die Verhältnisse ähnlich wie bei den Studierenden, waren Liberale, Sozialisten und andere Linke deutlich unterrepräsentiert, Deutschnationale hingegen stark vertreten. Gernot Stimmer, der die Lehrenden auf Grundlage von Mitgliedschaften in Vereinigungen und Parteien einzelnen Elitegruppen zuordnete,77 stellte vom Ende der Monarchie zur Ersten Republik einen deutlichen Anstieg der deutschnationalen Eliten in der Hochschullehrerschaft Österreichs fest – von 5,4 Prozent 1914 auf 25 Prozent 1930. Weitere fünf Prozent waren Anhänger und Sympathisanten des Nationalsozialismus. Dabei konstatierte der Politikwissenschaftler für die Universität Wien eine vergleichsweise hohe Politisierung des Lehrkörpers – rund zwei Drittel der Professoren waren politischen Parteien zuordenbar. Von diesen zählten demnach 34 Prozent zu den deutschnationalen, acht Prozent zu den katholischen und 19 Prozent zu den liberal-sozialistischen Eliten.78 Nicht nur an der Universität Wien waren nicht-wissenschaftliche Kriterien wie die politische Haltung oder die Konfessionszugehörigkeit bzw. Herkunft bei Habilitationen und Berufungen entscheidend. Das zeigte etwa der Erfolg des Nationalökonomen und Philosophen Othmar Spann, der mit seinen Schülern in den 1920er und 1930er Jahren einen Faschismus katholischer Prägung, einen ständisch organisierten Staat propagierte. Spann konnte nicht nur einige seiner Schüler zur Dozentur führen, vier von ihnen erreichten in der Zwischenkriegszeit auch das Ordinariat an einer österreichischen Hochschule. Moritz Schlick, Begründer des der Sozialdemokratie nahestehenden Wiener Kreises, gelang dies in keider Mitbestimmungsmöglichkeiten der Studierenden zwischen 1918 und 1990, Dipl. Arb. Univ. Wien 1990, S. 38. 75 Vgl. Statistische Nachrichten, Sonderheft: Nationalratswahlen vom 9. November 1930, hg. v. Bundesamt für Statistik, Wien 1931, S. 8. 76 Dies sind die Zahlen für das Wintersemester. Vgl. Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, hg. v. Bundesamt für Statistik, 15. Jahrgang, Wien 1932, S. 192. 77 Diese Gruppen (deutschnationale, katholische, liberal-sozialistische, liberal-konservative, alte monarchistische und nationalsozialistische Elite) decken etwa 50 Prozent der Hochschullehrerschaft ab. Die übrigen Lehrenden waren keinem dieser Kollektive zuzuordnen. Die Kategorisierung erfolgte für die Jahre 1922, 1930, 1935 und 1937. Vgl. Stimmer, Eliten (wie Anm. 44), S. 905 ff. 78 Ebd., S. 908. Nationalsozialisten sind hier nicht extra ausgewiesen.
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nem einzigen Fall. Vielmehr scheiterten » jüdische «79 und politisch links stehende Wissenschaftler oftmals schon an der Habilitation, so etwa der Philosoph und Soziologie Edgar Zilsel, dessen marxistische Ideologiegeschichte zum Geniebegriff vom Professorenkollegium abgelehnt wurde.80 Derartigen Personalentscheidungen gingen nicht selten Absprachen zwischen den stimmberechtigten Hochschullehrern voraus. Um die deutschnationalen Professoren an der Universität Wien hatten sich – zum Teil unter katholisch-konservativer Mitwirkung – zumindest zwei Netzwerke gebildet. Es waren dies einerseits Mitglieder der obengenannten Deutschen Gemeinschaft, die eine » Fachgruppe Hochschullehrer « stellte und die unter anderem an der Juridischen Fakultät agierte. Diese versuchte systematisch Habilitationen und Berufungen sogenannter Ungerader zu hintertreiben. Darunter verstanden ihre Mitglieder vor allem Marxisten, Sozialisten und Juden, die sie in » gelben Listen « erfassten.81 Dieselben Ziele verfolgte die unter dem Paläontologen Othenio Abel agierende » Bärenhöhle «, die nach einem paläontologischen Seminarraum und Treffpunkt dieser Clique im Hauptgebäude der Universität Wien benannt war.82 In beiden Kartellen spielten Mitglieder des Deutschen Klubs, die in der Professorenschaft überaus stark vertreten waren, eine entscheidende Rolle. Tabelle 3 umfasst Klub-, aber auch CV-Mitglieder in den einzelnen Statusgruppen (ausgenommen sind nicht habilitierte Assistenten) ebenso wie die Gesamtzahl an Lehrenden in diesen vier Studienjahren. Separat ausgewiesen sind Personen, die beiden Vereinigungen angehörten, und die ich im Folgenden – soweit möglich – auch als eigene Gruppe behandeln werde. 1932 gehörten 28 von 107 und damit über ein Viertel der an der Universität Wien lehrenden Ordinarien dem Deutschen Klub an, drei weitere traten ihm bis Ende des Jahres 1937 bei. In den statusniedrigeren Gruppen lagen die Anteilswerte deutlich darunter – diese Unterschiede können Resultat zweier Entwicklungen sein: der karrierefördernden Wirkung einer Mitgliedschaft und der bevorzugten Aufnahme statushoher Wissenschaftler. Die vorliegenden Daten sprechen im Falle der Universität
79 Da es sich oftmals um eine (rassistische) Zuschreibung und keine Eigendefinition handelte, ist der Begriff unter Anführungszeichen geführt. 80 Janek Wasserman, Black Vienna. The Radical Right in the Red City, 1918 – 1938, Ithaca/London 2014, S. 91 f. Vgl. zu Zilsel auch Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 12 f. 81 Michael Siegert, Numerus Juden raus. Professoren nehmen sich Freiheit der Wissenschaft, in: Neues Forum 21, Nr. 241/242, 1974, 1, S. 35 ff. Bei Siegert finden sich auch Ausschnitte aus den Protokollen dieser Zusammenkünfte. 82 Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 103.
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Tabelle 3: Mitglieder von CV und Deutschem Klub in der Hochschullehrerschaft der Universität Wien in den Jahren 1932, 1937, 1943 und 1950 Jahr
Mitgliedschaften in Vereinen
1932
Deutscher Klub
1943
25 3
CV + Deutscher Klub
3
CV
5
2
Pd.
Sonst.
21 6
Gesamt 55
1
10
1
4
5
2
14
107
76
475
73
731
Deutscher Klub
18
6
25
1
50
Beitritt DK nach 1937
[1]*
CV + Deutscher Klub
3
CV
4
3
Personalstand gesamt
92
48
Deutscher Klub
15
4
CV + Deutscher Klub Personalstand gesamt
2
4
14
2
23
475
87
702
5
3
42 3
1 92
31
Deutscher Klub
3
1
CV + Deutscher Klub
1
CV
4
2
74
29
Personalstand gesamt
15
2 1
3
CV 1950
apl. P.
9
Beitritt DK 1933 – 1937
Personalstand gesamt 1937
Statusgruppen o. P. ao. P.
4 110
5
174
72
479
5
3
12
1
2
8
2
16
243
149
495
* Es handelt sich hierbei um den Germanisten Josef Nadler, der auch bei den vier CVern inbegriffen ist.
Wien eher für die zweite Variante. So verfügten von den 1924 bis1939 eingetretenen Hochschullehrern zum Zeitpunkt des Beitritts vier Fünftel über eine Professur. Tatsächlich dürfte gerade das Ordinariat oftmals die Tür zum Klub geöffnet haben – darauf deuten Beispiele wie jene des Anatomen Eduard Pernkopf (ordentlicher Professor 1933, Deurscher Klub 1935), des Germanisten Dietrich Kralik (o. P. 1924, DK 1925) und des Völkerrechtlers Alexander Hold-Ferneck (o. P. 1922, DK 1924) hin. In die entsprechenden Netzwerke – bekanntlich mussten zwei Gewährsmänner einen Beitritt beantragen – waren die Betreffenden naturgemäß schon vorher eingebunden. Im Vergleich zum Deutschen Klub waren 1932 vergleichsweise wenige Cartellbrüder (Urphilister und Ehrenmitglieder) in der Hochschullehrerschaft vertreten. Ihr Anteilswert lag mit 2,5 Prozent (18 von 731) nicht einmal halb so hoch wie jener bei den Studierenden (s. oben). Eine nähere Betrachtung der Ordinarien relativiert auch die verhältnismäßig starke Präsenz in dieser obersten Sta-
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tusgruppe: Drei von acht gehörten ebenso dem Deutschen Klub an, weitere drei lehrten an der Katholisch-Theologischen Fakultät, womit der Verband, gesamtuniversitär betrachtet, nur eine marginale Rolle spielte. Für CVer, die es außerhalb der Katholisch-Theologischen Fakultät zum ordentlichen Professor schaffen wollten, war die Einbindung in deutschnationale Netzwerke also äußerst förderlich, wenn nicht sogar notwendig. Am stärksten vertreten war der Deutsche Klub an der Evangelisch-Theolo gischen Fakultät – mit allerdings nur sieben Lehrenden, von denen vier, durchwegs ordentliche Professoren, Mitglied waren.83 An den übrigen Fakultäten lag der höchste Anteilswert bei 14 Prozent (Juridische), gefolgt von zehn Prozent an der Philosophischen und vier Prozent Medizinischen Fakultät. Richtet man den Blick auf die Ordinarien, so gehörten ihm 18 (+ 2 + 1)84 von 54 Professoren an der Philosophischen und fünf (+ 1) von 17 an der Juridischen Fakultät an. An der Medizin, jener Fakultät mit dem höchsten Anteil » jüdischer « Wissenschaftler und – soweit bekannt – ohne antisemitisches Professorenkartell, war hingegen nur einer der 22 ordentlichen Professoren Mitglied. Die wenigen CVer verteilten sich indessen mit Ausnahme der Katholisch-Theologischen Fakultät, wo ihm fünf von 17 Mitgliedern angehörten, relativ gleichmäßig auf die Fakultäten. Dollfuß/Schuschnigg-Regime Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime griff auf mehreren Ebenen massiv in den Universitäts- und Wissenschaftsbereich ein, etwa in Form von Pflichtvorlesungen und Hochschullagern für die Studentenschaft,85 aber auch im Personalbereich. So konnte das Ministerium ordentliche und außerordentliche Professoren ebenso wie Hochschulassistenten » zur » Herabsetzung des Personalaufwandes « ohne Angabe von Gründen in den Ruhestand versetzen.86 Eine Änderung der Habilitationsnorm ermöglichte es zudem, die Lehrbefugnis von Privatdozenten mit Vollendung des 65. Lebensjahres, aber auch » aus wichtigen Gründen des öffentlichen
83 Einer davon war der spätere NS-Dekan Gustav Entz, der überzeugter Anhänger Hitlers war. Vgl. Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014, S. 249 – 256. 84 Es handelt sich hier um die 1933 bis 1937 und 1938 bis 1939 Eingetretenen. 85 Vgl. dazu Tamara Ehs, Der » neue österreichische Mensch «. Erziehungsziele und studentische Lager in der Ära Schuschnigg 1934 bis 1938, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 62, 2014, S. 377 – 396. 86 Bundesgesetzblatt [im Folgenden: BGBl.] 1934, Stück 72, Nr. 209, Artikel III, § 1.
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Wohles «, für beendet zu erklären.87 Die neuen Machthaber konnten sich so missliebiger Hochschullehrer entledigen, ohne konkrete Gründe anzuführen. Über das weitere Schicksal entschied die politische Haltung, aber auch die Herkunft.88 Vom Verbot der NSDAP bis zum » Juliabkommen « 1936 vertrat das Regime eine durchaus strenge Linie gegenüber den Nationalsozialisten, womit nun auch Exponenten des Deutschen Klubs, der 1934 ja selbst vorübergehend geschlossen wurde, ins Visier der Behörden gerieten. Betroffen davon waren vor allem jene, die sich offen gegen den » Ständestaat « positionierten. Einer dieser Zwangspensionierten war der Kopf des » Bärenhöhle «-Netzwerkes, Othenio Abel, der während des politischen Umbruchs als Rektor der Universität Wien amtierte. Er hatte sich bereits in seiner Inaugurationsrede im November 1932 zu » Großdeutschland « bekannt und soll im Zuge der oben genannten Studentenkrawalle, die zum Bruch in der DSt führten, SA- und SS-Männer zu den Krawallen beordert haben.89 Tumulte ereigneten sich auch wenige Monate später, als die CV-Verbindung Norica in der Aula einen Festakt anlässlich ihres 50. Gründungsjubiläums abhielt – NS-Studenten hinderten die beiden Ehrengäste Dollfuß und Schuschnigg am Betreten des Hauptgebäudes. So übergab der Paläontologe das Amt noch vor Ablauf des Studienjahres dem Pädagogen Richard Meister.90 Es folgten die Pensionierung im Sommer 1934 und eine Professur an der Universität Göttingen im April des Folgejahres.91 87 BGBl. 1934, Stück 16, Nr. 34. Die Lehrbefugnis konnte auch über Vollendung des 70. Lebensjahres hinaus verlängert werden. 88 Taschwer stellte fest, dass elf von 19 zwangspensionierten außerordentlichen Professoren jüdischer Herkunft waren. Vgl. Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 185 f. In einer als Grundlage dienenden Liste waren es laut Auskunft des Autors noch deutlich mehr. Wissenschaftler jüdischer Herkunft, denen der Zugang zum Ordinariat in den 1920er und 1930 Jahren weitgehend versperrt blieb, waren unter den außerordentlichen Professoren überproportional vertreten Von 47 im Studienjahr 1937/38 waren 17 jüdischer Herkunft und vier weitere mit einer » Jüdin « verheiratet, wurden demnach 1938 aus rassistischen Gründen ihres Amtes enthoben. Vgl. Andreas Huber, Rückkehr erwünscht. Im Nationalsozialismus aus » politischen « Gründen vertriebene Lehrende der Universität Wien, Wien 2016, S. 36. 89 Klaus Taschwer, Othenio Abel. Paläontologe, antisemitischer Fakultäts- und Universitätspolitiker, in: Mitchell G. Ash/Josef Ehmer (Hg.), 650 Jahre Universität Wien – Aufbruch ins neue Jahrhundert, Bd. 2: Universität – Politik – Gesellschaft, Göttingen 2015, S. 287 – 292, hier: S. 290. 90 Vgl. Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 172, 176. 91 Taschwer, Abel (wie Anm. 89), S. 290.
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Abel war bei weitem nicht das einzige Mitglied des Deutschen Klubs, das im autoritären Ständestaat die Universität Wien verlassen musste. Von den 28 Klub-Angehörigen unter den Ordinarien 1932 (einschließlich der bis 1937 Hinzugekommenen, ohne CVer) waren bis 1937 vier verstorben und sechs emeritiert, Alfons Dopsch, Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, allerdings vorzeitig und gegen seinen Willen.92 Letzterer hatte zum Zeitpunkt seiner Zwangspensionierung das 65. Lebensjahr bereits vollendet und damit die Altersgrenze in Deutschland – in Österreich lag sie bei 70 Jahren – überschritten. Für seine jüngeren Klub-Kollegen, die entlassenen oder zwangspensioniert worden waren, führte der Weg in der Regel aber ins Deutsche Reich. Der Jurist Wenzeslaus Gleispach ging nach Berlin (Honorarprofessor 1933, ordentlicher Professor 1935), der Osteuropahistoriker Hans Uebersberger vorerst nach Breslau (o. P. 1934, o. P. Berlin 1935), der Geograph Fritz Machatschek wie auch der Botaniker Friedrich Karl Faber erhielten eine Professur in München (jeweils o. P. 1935). Nicht nur über Pensionierungen und Entlassungen – die Zahl der Professuren ging von 1932 bis 1937 immerhin um ein Viertel zurück – wie auch Enthebungen in der Dozentenschaft griff das Regime nachhaltig in die Personalpolitik ein. So setzte sich das Ministerium vermehrt über Usancen vergangener Jahrzehnte hinweg und berief Professoren gegen den ausdrücklichen Widerstand der Fakultäten, so etwa 1934 den Philosophen Dietrich Hildebrand.93 Diese Maßnahmen schwächten das deutschnationale Lager an der Universität durchaus, von einer Zäsur oder auch einer politischen » Umfärbung « der Hochschullehrerschaft kann aber wohl keine Rede sein (siehe Tabelle 3). Die Anteilswerte von Mitgliedern des Klubs in der Professoren- und Dozentenschaft gingen nur leicht zurück. Das lag auch am » Juli-Abkommen « 1936, das manchem eine Re-Integration an der Universität Wien ermöglichte, so dem späteren NS-Dekan und -Kurzzeitrektor Viktor Christian.94 Der Anatom Eduard Pernkopf (1933) und der Embryologe
92 Gernot Heiß, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: ders. u. a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 bis 1945, Wien 1989, S. 39 – 76, hier: S. 43. 93 Hildebrand folgte auf den zwangspensionierten Heinrich Gomperz, der dem Wiener Kreis nahestand. Vgl. Huber, Rückkehr (wie Anm. 88), S. 74. 94 Christian hatte den für Beamte verpflichtenden Beitritt zur Vaterländischen Front verweigert und soll am Abend des 25. Juli 1934 mit alten Studienfreunden die Ermordung Dollfuß’ gefeiert haben. Vgl. Irene Maria Leitner, » Bis an die Grenzen des
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Viktor Patzelt (1936) stiegen vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor auf, ebenso der 1932 noch als Dozent geführte Strafrechtler Ferdinand Kadecka.95 Diese Ergebnisse decken sich einigermaßen mit jenen Gernot Stimmers, der für die Universität Wien von 1930 bis 1937 einen Rückgang der deutschnationalen Eliten von 34 auf 23 Prozent in der Professorenschaft bzw. von 21 auf 16 Prozent in der gesamten Hochschullehrerschaft festhielt. Der Anteil der katholischen Eliten erhöhte sich ihm zufolge geringfügig von acht auf zehn (Professoren) bzw. von vier auf sechs Prozent (Gesamt).96 Tatsächlich blieb auch die Zahl der CVer unter den Ordinarien nahezu unverändert. Bei näherer Betrachtung ist das durchaus plausibel: So war der Anteil von Verbandsmitgliedern auch in den unteren Statusgruppen äußerst gering, weshalb nur wenige für eine Professur parat standen. Andererseits repräsentierten die CVer auf Hochschulebene in ideologischer Hinsicht kein homogenes Kollektiv, die politische Haltung mancher Cartellbrüder qualifizierten diese aus Sicht des Ministeriums dann auch nicht für höhere Aufgaben. Vielmehr wurden einige selbst enthoben. Das betraf nicht nur jene, die regelmäßig im Leopoldinischen Trakt in der Hofburg zusammentrafen, also Mitglieder im Deutschen Klub waren. Der Rechtshistoriker und ordentliche Professor Karl Gottfried Hugelmann etwa, von 1923 bis 1927 Ständiger Stellvertretender Vorsitzender für die Christlichsozialen im Bundesrat, wurde 1933 sowohl aus der Partei wie auch aus dem CV ausgeschlossen. Er hatte sich zuvor wiederholt für einen » Anschluss « an das Deutsche Reich ausgesprochen. Nach seiner Zwangspensionierung 1934 ging er noch im gleichen Jahr an die Universität Münster, wo er von 1935 bis 1937 als Rektor amtierte.97 Der Historiker Ernst Klebel (Amelungia Wien) wiederum musste 1933 aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft aus dem CV ausscheiden
Möglichen «. Der Dekan Viktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938 – 1943, in: Mitchell G. Ash u. a. (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010, S. 49 – 78, hier: S. 53 f. 95 Die Aufstiegsmobilität dieser Gruppe entsprach durchaus dem gesamtuniversitären Durchschnitt. So verfügten von den 475 Dozenten und 76 Extraordinarien 1932 fünf Jahre später sechs bzw. sieben Lehrende über ein Ordinariat. 96 Stimmer, Eliten (wie Anm. 44), S. 908. Den Rückgang der Deutschnationalen datiert Stimmer aber ausschließlich auf den Zeitraum 1930 – 1937, was nur bedingt mit den hier präsentierten Erkenntnissen übereinstimmt. 97 Vgl. Biographie zu Karl Gottfried Hugelmann, https://www.oecv.at/Biolex/Detail/ 10900751 (5. 7. 2016), Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 183.
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und verlor 1934 deshalb auch seine Venia Legendi.98 Er übernahm daraufhin Dozentenvertretungen in Frankfurt am Main und Würzburg.99 Dem standen Berufungen wie jene von Gustav Sauser 1936 entgegen. Der Anatom, Mitglied der Austria Innsbruck, hatte sich erst im Jahr davor habilitiert und übernahm als außerordentlicher Professor den Lehrstuhl des enthobenen Sozialdemokraten Julius Tandler.100 In der Professorenschaft konnten Verbandsmitglieder in diesen fünf Jahren aber nicht an Einfluss hinzugewinnen. Andererseits wurden mindestens zwölf katholisch Korporierte im Dollfuß/Schuschnigg-Regime an der Universität Wien zu Dozenten ernannt. Einer von ihnen, der Sozialphilosoph August Maria Knoll, hielt von 1935 bis 1938 mit anderen die » Pflichtvorlesungen über staatspolitische Ideen und Traditionen in Österreich «.101 Politische Einflussnahmen konnte ich hier nicht feststellen und sind angesichts des Habilitationsprocederes auch eher unwahrscheinlich. Möglich wäre, dass sich CVer unter den veränderten politischen Verhältnissen bessere Karrierechancen an den Hochschulen ausrechneten und vermehrt eine Habilitation anstrebten. Unter Umständen fiel auch der Gegenwind in den Professorenkollegien verhaltener aus. Ohne längerfristige Studien bleiben das aber Spekulationen. NS-Regime Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich wurden über 300 Professoren, Dozenten, Lektoren und sonstige Lehrbeauftragte, das waren rund 40 Prozent des wissenschaftlichen Personals, aus der Universität Wien vertrieben – mehr als an jeder anderen Hochschule im » Dritten Reich «.102 85 dieser 98
Vgl. Biographie zu Ernst Klebel, https://www.oecv.at/Biolex/Detail/41100001 (5. 7. 2016).
99
Wolfgang Leesch, Die deutschen Archivare 1500 – 1945, Bd. 2, München u. a. 1992. Im Nationalsozialismus, von 1939 bis 1945, arbeitete er als Stadtarchivar in St. Pölten.
100 Vgl. Huber, Rückkehr (wie Anm. 88), S. 73. 101 Leopold Rosenmayr, Nachruf auf August Maria Knoll, in: Die Feierliche Inauguration des Rektors der Wiener Universität für das Studienjahr 1964/65, Wien 1965, S. 52 – 56, hier: S. 52. 102 Im » Altreich « hatten mit rund einem Drittel der Lehrenden die Universitäten Berlin und Frankfurt am Main die größten Verluste hinzunehmen. Vgl. Michael Grüttner/ Sven Kinas, Die Vertreibung von Wissenschaftlern aus den deutschen Universitäten 1933 – 1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55, 2007, Heft 1, S. 123 – 186, hier: S. 126 f.
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Enthobenen mussten ausschließlich aus » politischen «103 und damit nicht rassistischen Gründen die Universität verlassen, darunter 18 Mitglieder des Österreichischen Cartellverbandes. Mit dem Psychologen und Neurologen Alexander Pilcz, seit 1909 Mitglied der Austria Wien, war auch in der Gruppe der rassistisch Vertriebenen ein CVer vertreten – Pilcz galt entsprechend der rassistischen NS-Definition als » Mischling zweiten Grades «.104 Nach der Abspaltung des ÖCV vom deutschen Gesamtverband und der engen Verbindung seiner Angehörigen zum » Ständestaat « war eine Mitgliedschaft 1938 fast gleichbedeutend mit der Enthebung. Dennoch gelang es acht von 27 CVern in der Hochschullehrerschaft, ihre Karriere an der Universität Wien fortzusetzen. Vier dieser acht gehörten auch der zweiten hier behandelten Vereinigung an – dem Deutschen Klub. Es waren dies der Ägyptologe und Afrikanist Wilhelm Czermak (ordentlicher Professor), der Germanist Josef Nadler (o. P., Deutscher Klub ab 1939), der Ägyptologe Hermann Junker (Honorarprofessor) und schließlich Oswald Menghin (o. P.). Menghin war als bis Mai 1938 amtierender Unterrichtsminister selbst einer der Hauptverantwortlichen für die Massenvertreibungen. Diese erfolgten nach Erhebungen des Ministeriums, aber auch » Vorarbeiten « der Dozentenführung und der Fakultäten, die eigene Listen erstellten.105 An der Wiener Universität waren Klub-Mitglieder maßgeblich daran beteiligt, da sie in Führungspositionen nicht minder stark vertreten waren wie in der Regierung Seyß-Inquart. Es handelte sich um den – vorerst interimistisch eingesetzten – neuen Rektor, den Botaniker Fritz Knoll (DK 1935), den Historiker und Prorektor Hans Hirsch (DK 1909), die Dekane Viktor Christian (DK 1937) von der Philosophischen, Eduard Pernkopf (DK 1935) von der Medizinischen und Gustav Entz (DK bis 1919) von der Evangelisch-Theologischen Fakultät.106 Zumindest auf Ebene der Universitätsleitung war dies kein Novum: 15 der 30 der von 1908 bis 1939 amtierenden Rektoren waren früher oder später Mitglied im Klub gewesen.107 103 In einigen Fällen konnte noch kein Vertreibungsgrund festgestellt werden, weshalb sich der Begriff unter Anführungszeichen findet. 104 Österreichisches Staatsarchiv (im Folgenden: ÖStA), AVA, Personalakte Pilcz, fol. 8 (Rückseite), Beurteilung der Ortsgruppenleitung, 19. 3. 1942. 105 Albert Müller, Dynamische Adaptierung und » Selbstbehauptung «. Die Universität Wien in der NS-Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, S. 592 – 617, hier: S. 602. 106 Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 203 f. Lediglich Gustav Entz ist bei Tasch wer nicht als Klub-Mitglied und NS-Dekan angeführt. 107 Staudigl-Ciechowicz, Antisemitismus (wie Anm. 9), S. 71.
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Bei der Besetzung von Führungspositionen nach dem » Anschluss « spielten die in den Jahren davor geschmiedeten Netzwerke offenbar eine entscheidende Rolle. Eine Schlüsselfigur bei den Personalrochaden auf Beamtenebene – und damit in der Professorenschaft – nahm mit SS-Führer Otto Wächter der Staatskommissar von Reichsminister Arthur Seyß-Inquart ein. Er war 1931 dem Klub beigetreten und bereits im Folgejahr mit seinem nunmehrigen Vorgesetzten – Seyß-Inquart war 1932 dritter Obmann-Stellvertreter – im Vorstand vertreten. Wächter übte das Amt von 24. Mai 1938 bis 30. April 1939 aus und exekutierte so die Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums – und damit Pensionierungen und Entlassungen nicht regimetreuer Beamter. Verbindungen zu den nunmehrigen Entscheidungsträgern mussten der eigenen Karriere aber nicht zwangsläufig dienen und konnten teilweise auch vor einer Zwangspensionierung nicht schützen. Das musste u. a. der 1935 für So zialversicherungsrecht habilitierte Dozent und ehemalige » Ständestaats «-Minister Robert Kerber zur Kenntnis nehmen. Dass Kerber, in den Mitteilungen von Jänner 1937 als neues Mitglied geführt, von den ersten Personalrochaden verschont blieb und nach dem » Anschluss « die Leitung des gesamten inneren Dienstes im Ministerium für soziale Verwaltung übernehmen konnte, war vermutlich eben diesen Kontakten geschuldet.108 Unter Dollfuß hatte er als Mitglied des Landbundes als Bundesminister für soziale Verwaltung (März bis September 1933) sowie als Innenminister (September 1933 bis 10. Juli 1934) fungiert und seit der Jahreswende 1933/34 führende Nationalsozialisten, darunter Hermann Neubacher (Bürgermeister Wiens 1938 – 1940) und der deutsche Gesandte Franz von Papen, mit Informationen aus Regierungskreisen versorgt.109 Sein hochrangiger Posten 1938 hatte umgehend Proteste aus NSDAPKreisen zur Folge, woraufhin sich die Reichsstatthalterei veranlasst sah, ihn nach drei Monaten wieder zu beurlauben. Für die Entscheidungsträger war der Fall Kerbers, dem eine Sonderbehandlung zukam, aber äußerst unangenehm. So traf er persönlich mit den verantwortlichen Personen zusammen, um seinen Fall zu schildern – im Oktober 1938 auch mit Otto Wächter. Nichtsdestotrotz wurde er Ende September 1939 in den Ruhestand versetzt, im April 1940 verlor er auch die Lehrbefugnis an der Universität Wien.110 Ein anderes bezeichnendes Beispiel war der Toxikologe Erich Knaffl-Lenz, 1919 im Gesamtverzeichnis des Deutschen Klubs vertreten, aber auch Mitglied in zahlreichen anderen deutschnationalen, NS-nahen Vereinigungen wie dem Ver-
108 Huber, Rückkehr (wie Anm. 88), S. 139 f. 109 Ebd., S. 94 – 97. 110 Ebd., S. 139 – 143.
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ein deutscher Ärzte in Österreich. Im Dollfuß/Schuschnigg-Regime war er gegen Wartegeld beurlaubt worden – höchstwahrscheinlich aus politischen Gründen. Nach dem » Anschluss « ersuchte er nicht nur um seine offizielle Wiedereinsetzung als Extraordinarius, sondern auch um eine Wiedergutmachung, die jenen Beamten zustand, die ihrer nationalsozialistischen Haltung bzw. Betätigung wegen gemaßregelt worden waren. Das Ministerium kam weder dem einen noch dem anderen Wunsch nach und pensionierte den Antragsteller Ende September 1938 endgültig.111 Weniger überraschend dürfte die Pensionierung für Othmar Spann (DK 1919) gekommen sein, der in den Jahren davor zahlreichen medialen Angriffen aus dem Deutschen Reich ausgesetzt war. Nach der » Machtergreifung « 1933 benötigte das NS-Regime konservative Wegbereiter wie ihn nicht mehr und griff seinen Universalismus, der den Geist über die » Rasse « stellte, scharf an. Nach dem » Anschluss « wurde Spann verhaftet, in ein Konzentrationslager deportiert und von Gestapo-Beamten derart misshandelt, dass er eine dauernde Sehbehinderung davontrug.112 Typisch waren Schicksale wie jene von Spann und Knaffl-Lenz zwar nicht, mit der überzogenen Erwartungshaltung vieler österreichischer NS-Anhänger und -Sympathisanten konnte die Postenvergabe nach dem » Anschluss « aber nicht mithalten. Dabei unterschieden sich die österreichischen durchaus von den reichsdeutschen Nationalsozialisten – nach Albert Müller durch » eine gewisse Anerkennung der katholischen Kirche sowie der habsburgisch-österreichischen Tradition «, aber auch eine leicht antipreußische Haltung. Der österreichische Autor Albert Massiczek verwendete für sie den Begriff » Austro-Nazis «.113 Die NS-Führung begegnete vielen dieser » Austro-Nazis « mit einer gewissen Skepsis, dem Deutschen Klub ebenso. Ein entscheidender Aufstieg blieb dem Großteil seiner Mitglieder im Lehrkörper verwehrt, wobei dieser ausschließliche Blick auf die Universität Wien in diesem Beitrag auch verzerrend ist, da Einzelne durchaus an anderen Institutionen Karriere machen konnten. Von den 27 Privatdozenten aus 1937 (22 davon waren 1943 noch im Personalstand) gelang einem einzigen der Aufstieg in die oberste Statusgruppe an der Universität Wien – dem Dozenten für Angewandte Medizinische Chemie Hermann Barrenscheen (ordentlicher Professor 1939). Vier dieser 27 erreichten das Extraordinariat, zwei blieben Dozenten, zwei wurden Honorar- und 13 außerplanmäßige Professoren. Diesen Status des außerplanmäßigen Professors konnten Lehrende nach sechsjähriger Tätigkeit als Dozent erlangen, mit einem künftigen
111 Ebd., S. 284. 112 Ebd., S. 254. 113 Müller, Universität (wie Anm. 105), S. 609 f.
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Lehrstuhl oder einer fixen Vergütung war dieser Posten aber nicht verbunden.114 Hohe Erwartungen lösten sich oftmals in Luft auf, so auch beim Leiter der Universitätsturnanstalt Erwin Mehl, ab Mai 1937 im Deutschen Klub, bei dem es nur zu einer Honorarprofessur reichte und der eine » Zurücksetzung der › Ostmärker ‹ durch das Reichserziehungsministerium « dafür verantwortlich machte.115 Tatsächlich ging im NS-Regime aber auch der Anteil der Hausberufungen deutlich zurück – von rund 50 auf 30 Prozent.116 Drei Dozenten und zwei außerplanmäßige Professoren aus den Reihen des Klubs waren hinzugekommen, ebenso wie die beiden Ordinarien Herbert Fuhs (Dermatologe und Syphilidologe) und Robert Stigler (Physiologie), wobei es sich bei Stigler um keine klassische Berufung handelte, er weiterhin auch an der Hochschule für Bodenkultur lehrte.117 Die Zahl der (einstigen) Klub-Mitglieder unter den Professoren war aufgrund von vier Emeritierungen/Entpflichtungen und eines Todesfalls sogar leicht gesunken. Für die statusniedrigen Mitglieder dieser antisemitischen Vereinigung taten sich indes keine besseren, aber auch keine schlechteren Chancen im Universitätsbereich auf wie für die restlichen verbliebenen Wissenschaftler.118
N achkriegsjahre
bis
1950
Der Wissenschafts- und Universitätsbetrieb setzte nach Ende des Zweiten Weltkrieges oftmals dort an, wo er 1938 aufgehört hatte – sowohl personell als auch organisatorisch. So wurde das Unterrichtsressort wieder zur Domäne der ÖVP, die für Sektion III (Hochschulen und juridisch-administrative Angelegenheiten) jenen Mann rekrutierte, der diese bereits im » Ständestaat « geführt und die Entfernung politischer Gegner aus der Studenten- und der Hochschullehrerschaft 114 Vgl. Michael Hubenstorf, Medizinische Fakultät 1938 – 1945, in: Heiß, Wissenschaft (wie Anm. 92), S. 233 – 282, hier: S. 254. 115 Edith Saurer, Institutsneugründungen 1938 – 1945, in: ebd., S. 303 – 328, hier: S. 312. 116 Andreas Huber, Die Hochschullehrerschaft der 1930er- und 1940er-Jahre. Sozialstruktur und Karrierewege vor dem Hintergrund politischer Zäsuren, in: Ash/Ehmer (Hg.), Universität (wie Anm. 89), S. 649 – 696, hier: S. 679. 117 Vgl. ebd., S. 671. 118 Von 13 außerordentlichen Professoren 1937, die sechs Jahre später noch an der Wiener Universität lehrten, hatten fünf das Ordinariat erreicht, von den 165 Dozenten zwölf.
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verantwortet hatte: Otto Skrbensky. Skrbensky war Mitglied der Katholischen Akademiker-Gemeinschaft und der Vereinigung katholischer Edelleute.119 Sein unmittelbarer Vorgesetzter war von Ende 1945 bis 1952 Unterrichtsminister Felix Hurdes, CV-Ehrenmitglied der Nibelungia Wien. Am Beginn der Zweiten Republik, so die Schätzung Christian Flecks, waren rund 200 Professuren an Österreichs Hochschulen vakant,120 da der Großteil der Professoren im Sinne des NS-Verbotsgesetzes als belastet galt und viele – zumindest vorübergehend – ihre Stellen verloren. An der Universität Wien lag der Anteil bei 74 Prozent.121 Massiv betroffen von der politischen » Säuberung « waren auch einstige Mitglieder des Deutschen Klubs. Obwohl die Entnazifizierung seit dem Ende der 1940er Jahre zunehmend versandete, so standen hochrangige Posten im NS-Regime wie jene Fritz Knolls oder Eduard Pernkopfs einer Rückkehr in das Professorenkollegium entgegen. Mitgliedschaften in deutschnationalen, NS-nahen Organisationen spielten wohlgemerkt keine Rolle. Von 15 ordentlichen Professoren aus 1943, die dem Klub angehört hatten, waren knapp sieben Jahre später noch drei in der gleichen Funktion im Personalstand geführt, zwei lehrten als Honorarprofessoren. Unter den Emeritierten, insgesamt sieben, befanden sich die oben genannten Rektoren und Dekane, aber auch der ehemalige Präsident der Akademie der Wissenschaften und Reichstagsabgeordnete Heinrich Srbik. Sie konnten ebenso wie die drei Entlassenen an keiner Hochschule mehr lehren. Einer der Entlassenen war Hans Eppinger, der im Sommer 1944 im KZ Dachau an Menschenversuchen zur Trinkbarmachung von Meerwasser beteiligt gewesen war und im Nürnberger Ärzteprozess hätte einvernommen werden sollen. Er beging 1946 Selbstmord.122 Von den Dozenten aus 1943 konnten sich ebenso wenige an der Universität Wien halten – vier von insgesamt 20 waren 1950 im Personalstand verzeichnet. Bekanntlich waren aber auch von den Klub-Mitgliedern einige, nach dem » Anschluss « gemaßregelt, aus den Hochschulen entfernt worden. Diese Katholisch-Nationalen konnten 1945 als Geschädigte auftreten und ihre alten Posten
119 Pfefferle, Professorenschaft (wie Anm. 83), S. 49, Taschwer, Hochburg (wie Anm. 11), S. 262. 120 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 7, 1996, Heft 1, S. 67 – 92, hier: S. 75. 121 Pfefferle, Professorenschaft (wie Anm. 83), 264 f. Für die Dozenten liegen bislang noch keine Studien vor. 122 Ebd., S. 188 f.
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zurückerlangen, so etwa der Jurist Karl Braunias, einst illegaler Nationalsozialist, der gegen Ende des NS-Regimes wegen seiner jüdischen Herkunft – er galt als » Mischling ersten Grades « – denunziert worden war. Braunias hatte auch der Leo-Gesellschaft und der Katholischen Akademikergemeinschaft angehört und war damit gut in katholischen Netzwerken verankert.123 Neu hinzugekommen war unter anderem Richard Kerschagl. Der Honorardozent für Weltwirtschaftslehre war 1937 an der Hochschule für Bodenkultur enthoben worden124 und lehrte nun als Professor an der Hochschule für Welthandel, wo er von 1947 bis1949 als Rektor amtierte. Wissenschaftler wie Kerschagl, die nicht emigriert waren und sich nicht allzu sehr den Nationalsozialisten angedient hatten, fanden angesichts der freigewordenen Stellen und der geringen Remigrationsraten – die Verantwortlichen im Ministerium, aber auch in den universitären Gremien bemühten sich nur wenig um diese Wissenschaftler – nun äußerst vorteilhafte Karrierebedingungen vor.125 Das betraf vor allem auch jene aus dem katholischen Milieu – und damit Mitglieder des Cartellverbandes. An der Wiener Universität stellte der Verband ähnlich viele Wissenschaftler wie 1932. Dass der Wert unter jenem im » Ständestaat « blieb, war auch der Involvierung von CVern in den Nationalsozialismus geschuldet. » Brückenbauer « wie der 1948 nach Argentinien geflüchtete Oswald Menghin, der vorerst entlassene und 1946 pensionierte Philosoph Hans Eibl126 oder der ebenfalls enthobene Josef Nadler wurden spätestens 1945 aus dem Cartellverband ausgeschlossen. Wilhelm Czermak hingegen, als CVer und (ehemaliges) Klub-Mitglied der einzig Verbliebene dieser Art in der Professorenschaft, blieb Derartiges erspart und amtierte von 1945 bis 1947 als Dekan und 1952/53 als Rektor.127 Fast durchweg erfolgreich verliefen die Karrieren jener CVer, die sich im Dollfuß/Schuschnigg-Regime habilitiert hatten, also vergleichsweise jung waren (fast alle waren nach 1890 geboren worden) und die eine gewisse Distanz zum Nationalsozialismus auszeichnete. Vor allem in der Medizin war aufgrund vieler Belasteter ein hoher Personalbedarf gegeben, und so erreichten bereits kurz nach Kriegsende Gustav Sauser (Innsbruck 1945), Karl Fellinger (Wien 1946) und Anton Musger (Graz 1946) die ordentliche Professur. Von den zwölf nach 123 Huber, Rückkehr (wie Anm. 88), S. 26 (Fußnote 35). 124 Biographie zu Richard Kerschagl, https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Richard_ Kerschagl (5. 7. 2016), 125 Vgl. dazu etwa Fleck, Provinzialisierung (wie Anm. 120). 126 Eibl war Ehrenmitglied der Verbindung Nordgau Wien gewesen. 127 Czermak war wohlgemerkt auch kein Mitglied oder Anwärter der NSDAP gewesen.
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1890 geborenen Dozenten des Verbandes im Personalstand 1937 schafften es bis zum Ende ihrer Laufbahn immerhin acht. Dass sich die Mitgliedschaft im Cartellverband als Vorteil gegenüber anderen nicht NS-belasteten Wissenschaftlern erwies, ist anzunehmen, kann im Rahmen dieser Studie aber nicht mehr überprüft werden. Außer Frage steht, dass der CV im » Ständestaat « mit vermehrten Habilitationen durchaus eine Basis an den Hochschulen legen konnte, deren tatsächliche Konsequenzen sich aber erst nach Ende des Untersuchungszeitraums zeigten. Gleiches gilt für die Entnazifizierung, und so ist anzunehmen, dass auch viele der 1945 enthobenen Dozenten früher oder später wieder in Erscheinung traten.
S chlussbetrachtung Obwohl es sich bei Deutschem Klub und CV nur um Ausschnitte des deutschnationalen und katholischen Lagers handelte, so spiegelt ihre Geschichte doch sehr gut die Kräfteverhältnisse in den Eliten von der Ersten zur Zweiten Republik wider – auch an der Universität Wien. Hier waren Angehörige des Klubs in den universitären Entscheidungsgremien über Jahrzehnte hinweg maßgeblich vertreten und mischten in den Professorenkollegien der Philosophischen, Juridischen und Evangelisch-Theologischen Fakultät entscheidend bei Berufungen und Habilitationen mit. Die Mitgliedschaft in dieser Vereinigung war zwar sicher auch » Sprungbrett « zur Professur, öfter aber und wohl eher die folgerichtige Konsequenz für deutschnationale Wissenschaftler nach einer Berufung. Im Gegensatz dazu spielte der Cartellverband – abgesehen von der Katholisch-Theologischen Fakultät – eine unbedeutende Rolle an der Universität, woran auch der Staatsstreich 1933 durch Dollfuß und die Eingriffe des Regimes in die Personalpolitik wenig änderten. Zwar verzeichnete der CV eine Zunahme bei den Dozenten (bei niedrigem Ausgangsniveau), in der Professorenschaft blieb aber alles beim Alten. Das lag auch an den Überschneidungen der hier behandelten weltanschaulichen Milieus, wofür die sogenannten Katholisch-Nationalen standen. Dem » Ständestaat « galten sie aufgrund ihrer nationalen bis nationalsozialistischen Haltung als unerwünscht, dem Nationalsozialismus aufgrund ihres Katholizismus. So kam es auch, dass einige CVer im Dollfuß/Schuschnigg-Regime ebenso wie Klub-Mitglieder im Nationalsozialismus ihre wissenschaftliche Laufbahn beenden mussten. Nach dem » Anschluss « 1938 war der Deutsche Klub in Wien ein bedeutendes Personalreservoir für die Besetzung von Führungspositionen. Das galt vor allem für die Universität, wobei sich bei näherer Betrachtung ein ambivalentes Bild zeigt: Ordinarien erhielten oftmals Leitungsfunktionen zugesprochen, so dass sich Rektoren und Dekane von 1938 bis 1945 fast ausschließlich aus (ehe-
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maligen) Mitgliedern des 1939 aufgelösten Vereins rekrutierten. Anders verhielt es sich bei Berufungen, wo die alten Netzwerke offenbar nicht mehr funktionierten. Nach den hier behandelten Fällen erreichten nur wenige das, was sie sich von der nationalsozialistischen Machtübernahme erhofft hatten. In den ersten Nachkriegsjahren schlug dann die Stunde jener (katholischen) Wissenschaftler, die in Österreich verblieben waren und sich im Nationalsozialismus nicht allzu sehr exponiert hatten – Angehörige des Deutschen Klubs fielen selten darunter, CV-Angehörige durchaus. Seit den 1950er-Jahren konnten aber auch Erstere vermehrt reüssieren, wie spätestens die Gründung der Nachfolgeorganisation Neuer Klub 1957 zeigte.128
128 Vgl. Die Geschichte des Neuen Klub, http://www.akademikerverband.at/neuerklub 3.php (10. 7. 2016).
»Innere Verwandtschaft braucht keine Organisation«1 Der Schweizerische Lichtbund im 20. Jahrhundert Eva L ocher
und
Stefan R i n dlisbacher
Der Übergang von einer traditionellen Agrar- zur technisierten Industrie- und Konsumgesellschaft gegen Ende des 19. und zum Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte nicht nur die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen der Menschen, sondern prägte auch unzählige Bereiche des alltäglichen Lebens: Mit der Intensivierung der Landwirtschaft, dem Aufstieg der Nahrungsmittelindustrie und neuen Formen der Distribution wandelte sich die Art und Weise, wie sich die Menschen ernährten. Gleichzeitig veränderte sich durch die Professionalisierung des Arztberufes und die Verwissenschaftlichung der Heilbehandlungen die medizinische Versorgung. Die anwachsende Freizeit bot neue Sport- und Vergnügungsangebote, Kleidermoden wandelten sich und die traditionellen Geschlechterrollen und Sexualnormen wurden zunehmend hinterfragt. Die entstehende Industrie- und Konsumgesellschaft bot sowohl neue Chancen als auch ungekannte Risiken. Neben den neuen Freiheiten für immer breitere Gesellschaftsschichten wurden die Folgen der Transformationsprozesse für Mensch, Natur und Umwelt immer unübersichtlicher: Welchen Einfluss haben die neuen Medikamente und Impfstoffe auf den Menschen ? Sind industriell hergestellte Nahrungsmittel gesund ? Warum breitet sich in den wachsenden Städten die sogenannte Nervosität immer stärker aus ? Was passiert mit der Natur, wenn der Einsatz von chemischem Dünger, die Rodung immer größerer Waldflächen und der Ausstoß von Abgasen immer mehr ansteigt ? Die etablierten Akteure aus Staat, Kirche und 1 Werner Zimmermann, Organisation, in: TAO – Monatsblätter für Verinnerlichung und Selbstgestaltung 5, 1924, S. 21.
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bürgerlicher Gesellschaft fanden keine Lösungen auf diese Probleme oder reagierten nur verspätet darauf. So entstanden neue Zusammenschlüsse, die sich mit diesen Fragestellungen beschäftigten. Neben der Natur- und Heimatschutzbewegung suchte eine Vielzahl lebensreformerischer Vereinigungen nach Antworten.2 Die vielbeschworene » Rückkehr zur Natur « bedeutete für die meisten Lebensreformer und Lebensreformerinnen keine Hinwendung zu vormodernen Zeiten. Vielmehr ging es ihnen um die Schaffung einer anderen, auf die Gesundheit der Menschen und den Schutz der Natur ausgelegten Moderne. Sie kritisierten die technischen und ökonomischen Veränderungen, lehnten sie jedoch nicht vollständig ab. Mit Schrebergärten, Badeanstalten, Licht- und Luftbädern sowie neuen Parkanlagen versuchten sie die Wohnqualität in den wachsenden Großstädten zu steigern, planten neue Viertel als Gartenstädte oder gründeten Vegetarier- und Obstbausiedlungen auf dem Land. In Sanatorien und Kurhäusern behandelten Naturheilärzte und -ärztinnen Patienten mit Licht-, Luft- und Wassertherapien, in den Reformhäusern und vegetarischen Restaurants gab es Vollkornbrote und Birchermüesli zu kaufen und die biologische Landwirtschaft produzierte die dazu passenden Nahrungsmittel. Viele dieser lebensreformerischen Praktiken gründeten auf einem individualreformerischen Ansatz: Indem jeder Einzelne sein Leben durch Selbstreform ändere, könne man die Gesellschaft als Ganzes umgestalten. Die Forschung zählt vor allem den Vegetarismus, die Ernährungsreform, die Naturheilkunde und die Freikörperkultur zu den Hauptfeldern der Lebensreformbewegung. Eng damit verbunden waren praktische Bestrebungen wie die Reformwarenwirtschaft und die Siedlungs- und Gartenstadtbewegung. Aber auch die Reformpädagogik, die Jugendbewegung mit dem Wandervogel, neureligiöse Bewegungen wie Anthroposophie und Mazdaznan waren mit der Lebensreformbewegung sowohl inhaltlich als auch personell verknüpft.3
2 Als Überblick zur Lebensreformbewegung: Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformistischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt/New York 1997; Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke (Hg.), Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880 – 1933, Wuppertal 1998; Kai Buchholz u. a. (Hg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001; Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006; Marc Cluet u. a. (Hg.), » Lebensreform «. Die soziale Dynamik der politischen Ohnmacht, Tübingen 2013. 3 Wolfgang Krabbe teilte 1974 in seinem Standardwerk Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform (wie Anm. 2) die Lebensreformbewegung in einen engeren
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Die Lebensreformbewegung war ein Phänomen neuer urbaner Mittelschichten. Die Bildungsexpansion und der steigende Wohlstand ermöglichten im späten 19. Jahrhundert breiten Bevölkerungsschichten den sozialen Aufstieg. In ihrer Position zwischen Proletariat und altem Bildungsbürgertum suchten die neuen Mittelschichten jedoch nach eigenen Formen kultureller Vergesellschaftung.4 Die Lebensreform versprach bürgerliche Werte wie Leistung, Disziplin und Sparsamkeit, ohne jedoch den bürgerlichen Lebensstil zu kopieren.5 Vielmehr erhoben die Anhänger und Anhängerinnen der Bewegung gesundheitliche und körperliche Selbstoptimierung zum neuen Leitmotiv. Das zeigte sich vor allem in der Ernährungsreform: Während ein hoher Fleischkonsum im Bürgertum als Statussymbol galt, entwickelte sich der Vegetarismus mit seinem gesundheitlich wie auch ethisch begründeten Fleischverzicht zum neuen Distinktionsmittel für Lebensreformer und Lebensreformerinnen.6 Ähnliches traf auch für den Alkoholund Tabakverbrauch, die verschiedensten Genussmittel und immer raffinierteren Speisen der bürgerlichen Gesellschaft zu. Die Lebensreformer und Lebensreformerinnen verlangten zwar auch hochwertige und entsprechend teure Lebensmittel, jedoch strebten sie eine einfache und gesundheitsorientierte Ernährung an. Das lässt sich typischerweise an den Produkten der Reformhäuser veranschauli-
Kreis mit » spezifischen Lebensreformbestrebungen « wie Naturheilkunde, Vegetarismus, Kleiderreform und Freikörperkultur und einen äußeren Kreis mit » peripher-lebensreformerischen Bestrebungen « wie die Antialkoholbewegung sowie die Garten-, Boden und Siedlungsbewegung. Bis heute orientiert sich die Forschung an diesem Modell, um die äußerst vielgestaltigen Bestrebungen der Lebensreformer und Lebensreformerinnen zu beschreiben. 4 Vgl. u. a. Wolfgang Krabbe, Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform (wie Anm. 2), S. 140; Walter M. Sprondel, Kulturelle Modernisierung durch antimodernistischen Protest. Der lebensreformerische Vegetarismus, in: Friedhelm Neidhardt u. a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1986, S. 314 – 330, hier S. 326; Eva Barlösius, Naturgemäße Lebensführung (wie Anm. 2), S. 164 – 171; Marc Cluet, Vorwort, in: Marc Cluet u. a. (Hg.), » Lebensreform « (wie Anm. 2), S. 11 – 48, hier S. 35 – 38. 5 Zur Verbindung von Bürgerlichkeit und Lebensreform vgl. Christoph Conti, Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 66 f. 6 Vgl. Eva Barlösius, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim 2011, S. 118 – 122.
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chen, die zwar viel kosteten, jedoch im Unterschied zu den aufwändigen Delikatessen der Kaufhäuser möglichst einfach und wenig verarbeitet waren.7 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich im deutschsprachigen Raum die ersten naturheilkundlichen, später auch vegetarischen Vereinigungen. Sie orientierten sich an bürgerlichen Vergesellschaftungsformen wie Vereinen und Verbänden.8 Um 1900 schlossen sich die Lebensreformer und Lebensreformerinnen auch vermehrt in weniger klar strukturierten Bünden und Kreisen zusammen, mit der Jugendbewegung kam zudem die Forderung nach Vereinigungen ohne jegliche Bindung auf. Ohne Statuten und Aufnahmebedingungen wollten sich die Jugendlichen nur durch die geteilten Interessen und Ideale als Gruppe definieren. In diesem Umfeld entstand 1927 der lebensreformerische Schweizerische Lichtbund als erste Freikörperkulturorganisation der Schweiz. Der vorliegende Beitrag beginnt mit der Suche der Schweizer Jugend- und Lebensreformbewegung in den frühen 1920er Jahren nach einer möglichst ungebundenen Form der Vergemeinschaftung. Die juristischen Auseinandersetzungen um die Freikörperkultur setzten dieser Phase ein Ende: Zum gemeinsamen Schutz vor Strafverfolgung drängte sich fortan ein organisatorischer Zusammenschluss auf. Der Beitrag folgt dann der Entwicklung des Schweizerischen Lichtbundes von seiner Gründung bis in die 1970er Jahre. Im Mittelpunkt steht das Spannungsfeld zwischen der jugendbewegten Forderung nach Autonomie des Individuums und der wachsenden Re glementierung, welche die Freikörperkulturbewegung bei ihrem Aufbau organisatorischer Strukturen zunehmend prägte.9
7 Die Reformhäuser mussten sich wegen ihrer hohen Preise immer wieder rechtfertigen. Häufig rechneten sie den Kunden vor, dass diese mit den » hochwertigen « Reformprodukten durch den Zugewinn an Gesundheit und den geringeren Verbrauch auch finanziell profitieren würden. Vgl. Florentine Fritzen, Gesünder leben (wie Anm. 2), S. 175. 8 Zu den Organisationsstrukturen der deutschen Naturheilbewegung vgl. Cornelia Regin, Selbsthilfe und Gesundheitspolitik. Die Naturheilbewegung im Kaiserreich (1889 bis 1914), Stuttgart 1995. 9 Zur Freikörperkultur vgl. Michael Andritzky/Thomas Rautenberg (Hg.), » Wir sind nackt und nennen uns Du «. Eine Geschichte der Freikörperkultur, Gießen 1989; Michael Grisko (Hg.), Freikörperkultur und Lebenswelt. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Freikörperkultur in Deutschland, Kassel 1999; Bernd WedemeyerKolwe, » Der neue Mensch «. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Würzburg 2004.
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L ebensreform?
Als sich um 1900 Schüler und Schülerinnen in deutschen Großstädten zusammenschlossen, um gemeinsam auf Wanderungen und Fahrten zu gehen, gehörte die Forderung nach » Selbstbestimmung « und » Unabhängigkeit « zu ihren Leitmotiven. Auch wenn vor allem bürgerliche Mittel- und Oberschichten dem Aufruf nach jugendlicher Autonomie folgten, versuchten sich die kleinen Wandergruppen jenseits von Klassenmerkmalen, Besitzverhältnissen und Parteizugehörigkeit zu formieren. Vor allem die gemeinsamen Aktivitäten sollten ein starkes Wir-Gefühl erzeugen und die Gruppen zusammenhalten.10 Auch in der Schweiz begann sich diese Form der jugendlichen Vergemeinschaftung auszubreiten: Die alkoholabstinenten Studenten- und Mittelschulverbindungen Libertas und Helvetia gründeten 1907 zusammen mit der deutschen Studentenverbindung Germania den Schweizer Wandervogel.11 Mit dem starken Fokus auf Alkoholabstinenz und der damit verbundenen gesundheitsorientierten Lebensweise war die Jugendbewegung in der Schweiz von Anfang an stark mit lebensreformerischen Bestrebungen verbunden. Nach dem Ersten Weltkrieg spaltete sich der Wandervogel in unterschiedliche Gruppierungen auf. Zu den wichtigsten Vertretern der bürgerlichen Jugendbewegung der Zwischenkriegszeit gehörte Werner Zimmermann (1893 – 1982).12 Nach einer Lehrerausbildung und einem Aufenthalt als Wanderarbeiter in den USA machte sich Zimmermann Anfang der 1920er Jahre als Autor und Übersetzer lebensreformerischer Literatur, als Herausgeber von Zeitschriften und als Redner zuerst in der Schweiz und dann auch im gesamten deutschsprachigen Raum einen Namen. Vor allem das 1922 erstmals veröffentlichte Buch Lichtwärts erreichte hohe Auf-
10 Neuere Arbeiten zur Jugendbewegung: Ulrich G. Grossmann u. a. (Hg.), Aufbruch der Jugend. Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung, Nürnberg 2013; Barbara Stambolis (Hg.), Die Jugendbewegung und ihre Wirkungen. Prägungen, Vernetzungen, gesellschaftliche Einflussnahme, Göttingen 2015. 11 Vgl. Fritz Baumann, Der Schweizer Wandervogel, Aarau 1966, S. 7 ff; vgl. Andreas Petersen, Radikale Jugend. Die sozialistische Jugendbewegung der Schweiz 1900 – 1930, Zürich 2001, S. 99 – 110. 12 Zu Werner Zimmermann vgl. Ulrich Linse, » Der alte Shinto-Geist « und die » Lebensreform «. Der Deutsch-Schweizer Werner Zimmermann (1893 – 1982) und seine drei Japan-Reiseberichte über das «geistige Nippon» , in: Inken Prohl/Hartmut Zinser (Hg.), Zen, Reiki, Karate. Japanische Religiosität in Europa, Hamburg 2002, S. 211 – 247.
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lagen. Es erschien bis in die 1960er Jahre mehrmals überarbeitet.13 Das Werk ist als Ratgeber zur jugendlichen Selbstfindung und Selbstverwirklichung ausgelegt. Es stellt vor allem persönliche Fragen der Gesundheit und Ernährung, der Partnerschaft und Sexualität sowie religiöse und (reform-)pädagogische Konzepte vor. Abgerundet wird es mit einigen sozial- und wirtschaftstheoretischen Hinweisen auf Bodenreform und Freiwirtschaft. Mit der wachsenden Popularität Zimmermanns kam die Frage nach einem organisatorischen Zusammenschluss auf.14 Zimmermann lehnte jedoch die Gründung eines Bundes oder Vereins ab. Stattdessen sollte ab 1924 die Zeitschrift TAO – Monatsblätter für Verinnerlichung und Selbstgestaltung den Aufbau einer losen Gemeinschaft vorantreiben und den Zusammenhalt der Sympathisanten gewährleisten. Im einleitenden Text der ersten Ausgabe von TAO definierte Zimmermann die Zeitschrift als Bindeglied einer Gemeinschaft ohne Verpflich tungen: » Ich habe – weil es mir freude machte und daher wohl meine aufgabe ist – auch durch wort und shrift zu wirken versucht, und viele menshen haben sich mir genähert. Wieder quellen neue gedanken aus mir und sehnen sich, auch zu andern hinzuströmen. So habe ich nun diese zeitshrift geshaffen, da durch sie, viel mehr als durch bücher, eine gemeinshaft gegenseitigen gebens und nehmens und vereinten wachsens sich heranbilden kann. «15
Das Ziel war ein » zusammenshluss[…] ohne die geringste bindung und verpflichtung «.16 Nur die geteilten Anschauungen und Interessen sollten die selbstgewählte Gemeinschaft zusammenhalten: Die Anhänger ernährten sich gleich – möglichst vegetarisch und einfach –, sie verzichteten auf Alkohol, trugen die typische Reformkleidung und übten spezifische Körperpraktiken wie Atemübungen, Gym-
13 Werner Zimmermann, Lichtwärts. Ein Buch erlösender Erziehung, Bern 1922. Weitere Auflagen u. a. 1924, 1930, 1933, 1947 und 1964. Bis 1964 erreichte » Lichtwärts « eine Auflage von 65 000 Exemplaren. 14 Zur Ausbreitung der Freikörperkultur in der Schweiz und dem organisatorischen Aufbau lebensreformerischer Gruppierungen in den 1920er Jahren vgl. Stefan Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900 – 1930), in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 3, 2015, S. 393 – 413. 15 Werner Zimmermann, Zum Geleit, in: TAO 1, 1924, S. 1 – 2. Sämtliche Zitate werden unverändert in der verwendeten Reformschreibweise wiedergegeben. Mit der » Vereinfachung « der Rechtschreibung versuchten die Lebensreformer und Lebensreformerinnen das Ideal einer einfachen Lebensweise auch in der Grammatik umzusetzen. 16 Werner Zimmermann, Organisation, in: TAO 5, 1924, S. 21.
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nastik oder Freikörperkultur aus. Sie strebten nach einer » ganzheitlichen « Erziehung und suchten nach neuen Formen der Religiosität. Auf ein allgemeingültiges Programm verzichteten sie jedoch bewusst. Alle TAO-Freunde sollten selbst entscheiden, ob und wie weit sie die angestrebten Lebensreformen umsetzten. Im Sinne der jugendbewegten Autonomieforderungen galt das Individuum als wichtigste Entscheidungsinstanz in allen Fragen des alltäglichen Lebens. Für Zimmermann war klar, dass zuerst der Einzelne sein Leben ändern müsse – die Ernährung umstellen, auf Alkohol und Drogen verzichten, die Kinder anders erziehen, sich besser um den eigenen Körper kümmern usw. –, bevor man die Gesellschaft als Ganzes ändern könne. Daraus resultierte eine scharfe Ablehnung staatlicher und kirchlicher Institutionen wie auch jeglicher politischer Parteien. Der Austausch erfolgte in erster Linie über Leserbriefe. Darüber hinaus sollten die Leser und Leserinnen durch Ausflüge, Wanderungen, Vorträge, Kurse oder Ferienlager miteinander in Kontakt treten. In den ersten Ausgaben der Zeitschrift findet man beispielsweise mehrere Berichte über eine Ferienwoche auf der Farnetsalp in den Appenzeller Alpen: Über fünfzig Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus Deutschland und der Schweiz lebten in einfachsten Verhältnissen, diskutierten über Gott und die Welt, ernährten sich vegetarisch und blieben abstinent, badeten nackt in der Höhensonne und wanderten und kletterten auf den umliegenden Bergen.17 Die TAO-Leserschaft schloss sich auch über die Schweizer Landesgrenzen hinweg zusammen. Zwar lebte Zimmermann die meiste Zeit in der Schweiz und viele Aktivitäten fanden in seinem Heimatkanton Bern statt, jedoch führten ihn seine Vortragsreisen durch halb Europa. Im Verlauf der 1920er Jahre baute er sich durch seine Auftritte im ganzen deutschsprachigen Raum eine wachsende Anhängerschaft auf. TAO wurde deshalb von Anfang an auch in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei vertrieben. Ab dem zweiten Jahrgang wurde die Zeitschrift sowohl in Bern als auch in Jena herausgegeben. Später übernahm der deutsche Verleger Rudolf Zitzmann (1898 – 1990) in Lauf bei Nürnberg die Herausgabe.18 Sogar Auswanderer in Amerika ließen sich das Blatt zusenden. Die transnationalen Dimensionen des Periodikums und der Leserschaft wurden jeweils an den Ferienlagern deutlich: Dort kamen schon Mitte der 1920er Jahre jun-
17 Erwin Hof, Ferienwoche Farnetsalp, in: TAO 6, 1924, S. 57 ff. 18 Rudolf Zitzmann gab in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 bis in die 1960er Jahre vor allem lebensreformerische und freiwirtschaftliche Publikationen heraus. Vgl. Werner Onken, Rudolf Zitzmann, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 88, 1991, S. 37 – 38.
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ge Menschen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum zusammen. Später organisierte Zimmermann auch Ferienlager in Deutschland und Österreich.19
D ie S uche
nach einer individualistischen
G emeinschaft
Diese lose Verbindung war vielen TAO-Lesern und -Leserinnen jedoch zu wenig. Sie verlangten einen » Tao-Bund «, eine » Zimmermann-Jugend « oder die Beteiligung an einem » Bund für Lebensreform «.20 Weil Zimmermann auf diese Forderungen nicht einging, begann sich die Leserschaft in kleinsten Gruppierungen selber zu organisieren. In der Folge wurden in der TAO-Zeitschrift sogenannte Sammelpunkte veröffentlicht: Einzelpersonen gaben eine Kontaktadresse bekannt und Interessierte aus der Umgebung konnten sich melden. Innerhalb dieser Zirkel diskutierten sie dann über die aktuellsten Artikel in der TAO-Zeitschrift und die praktische Umsetzung lebensreformerischer Ideen. Bis Ende der 1920er Jahre bildeten sich auf diese Weise an die hundert Sammelpunkte in deutschen, österreichischen und Schweizer Städten, zum Beispiel in Berlin bei Gudrun Luck, in Dresden bei Hans Kästner, in Wien bei Walter Marko und in Basel bei Willi Werder. Man findet auf der Liste auch typische Orte der Jugend- und Lebensreformbewegung wie die Obstbausiedlung Eden in Oranienburg oder die Jugendburg Ludwigstein sowie verschiedene Reformhäuser. Auch in anderen Teilen der Welt gab es Kontaktadressen: In Chicago konnte man sich an Hans Benthiam wenden, in Mexiko-Stadt an Walther Fritz und in Rio de Janeiro wartete Käthe Meier auf Gleichgesinnte.21 Die meisten dieser Kontaktpersonen spielten in der Jugend- und Lebensreformbewegung keine besondere Rolle. Es handelte sich um durchschnittliche Leser und Leserinnen der TAO-Zeitschrift. Aus den Sammelpunkten entwickelten sich keine festen, organisatorischen Strukturen. Die wachsende TAO-Gemeinschaft übte auch eine Anziehungskraft auf bereits bestehende Gruppierungen aus dem jugendbewegten und lebensreformerischen Spektrum in der Schweiz aus. Dazu gehörte der kleine, jugendbewegte FuturoBund. Er war 1920 vom Berner Buchhändler Eduard Fankhauser (1904 – 1998) als Sportverein Futuro-Biel (S. V. F. B.) gegründet worden. Anfänglich als Wan-
19 Beispielsweise gab es 1932 Ferienlager auf Usedom, am Wörthersee und im Tessin. Vgl. Werner Zimmermann/Rudolf Zitzmann, Ferienlager, in: TAO 97, 1932, S. 23. 20 Werner Zimmermann, Organisation, in: TAO 5, 1924, S. 20. 21 Vgl. Sammelpunkte-Liste, in: TAU 74, 1930, S. 36 ff. Seit 1926 nannte sich die TAOZeitschrift TAU. Das hatte jedoch keinen Einfluss auf den Inhalt oder die Herausgeberschaft. Im Text wird deshalb durchgehend die Bezeichnung TAO verwendet.
»Innere Verwandtschaft
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der- und Sportgruppe initiiert, entschieden sich die Mitglieder nach dem Besuch eines Vortrags von Werner Zimmermann, das Lebensreformprogramm aus dem Lichtwärts-Buch zu übernehmen und sich in Futuro Bern umzubenennen. Neben lebensreformerischen Zielen wie Alkohol- und Nikotinabstinenz, Vegetarismus, Kleiderreform und Freikörperkultur strebten sie auch die Einführung der Freiwirtschaft und die Popularisierung der Reformsprache Ido an.22 In den ersten Ausgaben der TAO-Zeitschrift erhielt die Gruppe eine eigene » Futuro-Bundesecke «. Fankhauser übernahm im September 1924 den Vertrieb der TAO-Zeitschrift und sämtlicher Publikationen Zimmermanns in der Schweiz und eröffnete in Bern eine Buchhandlung mit lebensreformerischer Literatur.23 Im Frühjahr 1925 trat Futuro Bern zum letzten Mal in der TAO-Zeitschrift auf und verkündete, fortan auf sämtliche Organisationsstrukturen zu verzichten: » Darum sprengen wir auch die letzten äußerlichkeiten, unsere nur für sehr wenige menshen aufgestellte zielsetzung, und sagen wir: FUTURO ist nichts anderes als das kennwort aller, die in irgend einer weise arbeiten, um eine lichtvollere zukunft, die Neue Zeit, das Dritte Reich, oder wie wir uns ausdrücken wollen, herbeizuführen. «24
Der Kontakt mit Zimmermann hatte nicht nur eine Hinwendung zu lebensreformerischen Praktiken zur Folge, sondern führte auch zum Verzicht auf jegliche organisatorische Bindungen, Satzungen und Aufnahmebedingungen. Einen sehr ähnlichen Vorgang ließ sich auch bei der Loge Eden in Zürich beobachten. Seit 1922 suchte die Gruppe in deutschen und schweizerischen Lebensreformzeitschriften nach neuen Mitgliedern, die sich für eine » natürliche […] Lebensweise, Körperpflege, Geisteskultur u. Nacktkultur « interessierten.25 Einige Mitglieder der Loge Eden nahmen an Zimmermanns oben beschriebener Ferienwoche
22 Vgl. Eduard Fankhauser, Futuro-Bundesecke, in: TAO 1, 1924, S. 29 ff. Ido ist eine auf Esperanto basierende Plansprache, die als » Welthilfssprache « konzipiert wurde. Fankhauser verwendete Ido in einigen Beiträgen in TAO, um auch nichtdeutschsprachige Sympathisanten des Futuro-Bundes zu erreichen. 23 Vgl. Werner Zimmermann, Mitteilungen des Verlags, in: TAO 5, 1924, S. 29. 24 Eduard Fankhauser, Futuro-Bundesecke, in: TAO 8, 1925, S. 16 ff. In der Zwischenkriegszeit erreichte der Begriff » Drittes Reich « ebenso wie » Neue Zeit « oder » Neuer Mensch « eine weite Verbreitung. Gemeint ist hier nicht eine politische Ordnungsvorstellung im Sinne Arthur Moeller van den Brucks, sondern eine nicht näher definierte Zukunftsutopie, die sich am heilsgeschichtlichen » Dreischritt « Paradies-SündenfallErlösung orientierte. 25 Vgl. Anzeige für Loge Eden, in: Volksgesundheit 9, 1922.
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auf der Farnetsalp teil. In der Folge löste sich die Zürcher Gruppe im Spätsommer 1924 auf und trat fortan in Anlehnung an Zimmermanns Hauptwerk als Lichtwärts-Schweiz nur noch als loser Zirkel ohne Satzung und Mitgliederbeiträge in Erscheinung: » Der größte teil der ehemaligen eden-freunde hat meinen vorshlag – die LOGE EDEN als organisation aufzulösen – freudig begrüßt. – Nun sind aber auch gesinnungskameraden unter uns, die sich eine vereinigung von gleichgesinnten ohne organisation einfach nicht denken können. Mir ging es lange zeit auch so. Wer aber die tage auf Farnetsalp erlebt hat und dazu gehöre auch ich in meiner länglichkeit – der wird gewiß anders denken. Wir hatten dort das shöne beispiel, daß sich 50 gleichgesinnte, die sich zum größten teil noch nie gesehen hatten, in harmonie zusammen fanden, wie sie eine LOGE oder sonst ein bund gar nicht shöner gestalten kann. «26
Jegliche Organisation wurde als Hindernis zur Umsetzung der Ziele der Lebensreform verstanden. Eine wichtige Ausnahme bildete jedoch die Freikörperkultur: Weil das nackte Sonnenbaden, unbekleidet getätigte Turn- und Gymnastikübungen und das Nacktwandern in den Bergen in der Schweiz erheblichen Widerstand hervorrief, wurde ein organisatorischer Zusammenschluss zum Schutz der Einzelnen vor juristischen Auseinandersetzungen und zur Stärkung der gemeinsamen Interessen unumgänglich. Als Eduard Fankhauser in seiner lebensreformerischen Buchhandlung in Bern deutsche FKK-Zeitschriften wie Lachendes Leben sichtbar im Schaufenster ausstellte, musste er sich kurze Zeit später vor Gericht verantworten. Der Prozess endete im Herbst 1926 in zweiter Instanz mit einem Freispruch. Der Richter betonte in seinem Urteil, dass ein nackter Körper an sich nicht anstößig sei. Die Freikörperkulturbewegung habe deshalb das Recht, ihre Anliegen öffentlich zu propagieren.27 Allen Beteiligten war jedoch klar, dass damit die juristischen Auseinandersetzungen nicht zu Ende waren. Lebensreformerische Praktiken wie die Alkoholabstinenz, der Vegetarismus oder die Reformpädagogik verstießen zwar gegen Gewohnheiten und Traditionen, strafrechtliche Relevanz hatten sie jedoch nicht. Die öffentliche Darstellung von Nacktheit und die FKK-Aktivitäten kollidierten hingegen mit den Moralvorstellungen breiter
26 Sepp Bossart, Lichtwärts Schweiz, in: TAO 6, 1924, S. 62. 27 Zu den juristischen Auseinandersetzungen vgl. Andrea Hopmann, Die Anfänge der Schweizer Freikörperkulturbewegung. Selbst- und Fremdbild anhand der Prozesse von 1926 und 1931, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 2003; Stefan Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900 – 1930) (wie Anm. 14), S. 408 f.
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Gesellschaftsschichten, weshalb jedes nackte Baden, Turnen oder Wandern ausserhalb der sichtgeschützten Licht- und Luftbäder eine Anzeige nach sich ziehen konnte. Aus diesem Grund schlossen sich Freikörperkulturaktivisten rund um Werner Zimmermann und Eduard Fankhauser 1927 » zum gemeinsamen juristischen schutz « im Schweizerischen Lichtbund zusammen.28
E ine stabile O rganisation entsteht: der S chweizerische L ichtbund Im Oktober 1928 fand auf der Burgruine Alt-Bechburg im solothurnischen Holderbank die erste Tagung des Schweizerischen Lichtbundes (S. L. B.) statt, wo die Anhänger stundenlang über die Schaffung eines Publikationsorgans, finanzielle Mittel, Kurse und Öffentlichkeitsarbeit diskutierten.29 1929 und 1930 tagte der S. L. B. bei einem Mitglied in Goldswil bei Interlaken im Berner Oberland und bei anderen Gelegenheiten trafen sich die Freikörperkulturaktivisten im Garten Werner Zimmermanns in Ringgenberg am Brienzersee. Der Lichtbund wollte bald ein eigenes, abgeschiedenes Gelände, wo seine Anhänger ungestört nackt sein konnten. 1930 kauften Eduard Fankhauser und seine Frau Elsi Fankhauser-Waldkirch (1907 – 1993) in Mörigen am Bielersee ein Grundstück. Die Behörden leisteten jedoch Widerstand gegen ihre Pläne, ein Gebäude im Bauhausstil zu errichten. Ein Flachdach wirke ortsfremd und störe das Landschaftsbild.30 Der S. L. B. erwarb deshalb 1935 stattdessen ein Landstück in Thielle am Neuen burgersee, wo das geplante Haus errichtet wurde. Nachdem zahlreiche Freiwillige das Land bearbeitet hatten, nahm das Gelände mit dem Namen Die Neue Zeit 1937 seinen Betrieb auf. Die Gelände bei Biel und später bei Neuenburg entwickelten sich zu den wichtigsten Treffpunkten der FKK-Bewegung in der Schweiz. Die Mitglieder des Lichtbundes kamen zum gemeinsamen Nacktbaden und zu sportlichen Aktivitäten zusammen oder nahmen an Vorträgen und Kursen teil. Während Jahrzehnten gehörte Werner Zimmermann zu den regelmäßig Referierenden, aber auch andere bekannte Persönlichkeiten aus der Lebensreform-
28 O. V., Berichte, in: TAU 35, 1927, S. 25. 29 O. V., Bericht über die erste Tagung des S. L. B. am 14. Oktober 1928 auf Alt-Bechburg, in: Neue Zeit 1, 1929, S. 24. 30 Eduard Fankhauser u. a., Neues Bauen verboten ? Vom Kampf um neuzeitliches Bauen in der Schweiz, in: Neue Zeit 53, 1933, S. 45 – 52, hier S. 45. Zu Lebensreform und Bauhaus vgl. Gert Selle, Von der Künstlerkolonie zum Bauhaus. Lebensreform am Objekt ? in: Kai Buchholz u. a. (Hg.), Die Lebensreform (wie Anm. 2), S. 291 – 296.
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bewegung im In- und Ausland traten in Mörigen und Thielle auf. Dienten die unzähligen Vorträge und Kurse dazu, die lebensreformerischen Konzepte und praktischen Handlungsanweisungen in der Gruppe zu internalisieren, sollten gemeinsames Singen, Turnen und Tanzen das Wir-Gefühl stärken. Die freikörperkulturelle Gemeinschaft am Bieler-, später am Neuenburgersee zog nicht nur aufgrund der lebensreformerischen Ausrichtung neue Anhänger an, attraktiv wirkte auch immer noch der aus der Jugendbewegung kommende Anspruch, unverfälscht und hierarchielos zu sein. Typisch für die Freikörperkultur war die Überzeugung, dass der Verzicht auf Kleider und Accessoires jegliche Rückschlüsse auf den gesellschaftlichen Status verunmögliche und dadurch eine Gemeinschaft von Gleichen schaffe.31 Eduard Fankhauser konzipierte den S. L. B. als zentrale Dachorganisation der Freikörperkulturbewegung in der Schweiz mit lokalen Ortsgruppen.32 Der Schweizerische Lichtbund vereinigte Menschen, » die das nackte baden in wasser, luft und sonne als natürlich und gesund betrachten und danach streben, zu zeiten entprechend leben zu können. sie erblicken darin eine aufwärtsentwicklung und befreiung des menschen geistig-seelisch, sowohl als körperlich. «33
Die geteilten Ideen und Praktiken orientierten sich auch im S. L. B. weiterhin stark an Werner Zimmermanns gesundheitsorientiertem Lebensreformprogramm, wobei der Fokus auf dem gemeinsamen Nacktsein bei Sport-, Spiel- und Freizeitaktivitäten lag. Mit der Neuen Zeit gab der S. L. B. seit 1928 eine eigene Zeitschrift heraus. Wie schon die TAO-Zeitschrift sollte auch Die Neue Zeit als » geistiges Bindeglied « zwischen den Mitgliedern funktionieren.34 Zuerst kam sie im deutschen Lauer-Verlag in Abständen von zwei Monaten heraus. In den 1930er Jahren fand
31 Vgl. Michael Hau, Körperbildung und sozialer Habitus. Soziale Bedeutung von Körperlichkeit während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahme zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 125 – 141, hier S. 138 ff. 32 O. N. S.-Bundesvorstand (= Organisation Nacktbadender Schweizer), 75 Jahre O. N. S. Jubiläumsheft verfasst im Auftrag des O. N. S.-Bundesvorstandes und illustriert vom Kulturhistoriker Peter F. Kopp, Thielle 2002, S. 12. 33 Satzungen des Schweizerischen Lichtbundes, in: Neue Zeit 36, 1931, S. 120. 34 O. V., 5. Tagung des Schweiz. Lichtbundes, in: Neue Zeit 62, 1934, S. 30 – 34, hier S. 32.
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ein Wechsel statt und Die Neue Zeit gehörte fortan zum gleichnamigen Eigenverlag, der auf dem Gelände in Thielle angesiedelt war. Eduard Fankhauser wirkte durchgehend als Verleger, Herausgeber und Redaktor; er trug die Verantwortung für die später dann nur noch jährlich erscheinende Zeitschrift.35 Sie wurde sowohl in der Schweiz als auch im deutschsprachigen Ausland vertrieben. Als FKK-Periodikum publizierte sie großformatige und aufwändig gestaltete Aktfotos sowie Grundsatzartikel über die Freikörperkultur und andere lebensreformerische Themen. Neben der Neuen Zeit führte Fankhauser in seinem Verlagsprogramm auch Literatur über Ernährungsreform, Reformpädagogik, Neureligionen und Naturheilkunde. Die Neue Zeit war in ein transnationales Zeitschriftennetz eingebettet. Autoren aus Deutschland, Frankreich, England und den Niederlanden schrieben für die Zeitschrift. Zudem gab es Berichte und Reportagen aus Amerika und Asien. Anders als in der TAO-Zeitschrift erschienen in der Neuen Zeit weniger Leserzuschriften, jedoch beteiligten sich die Leser und Leserinnen durch das Zusenden von Fotos und Erfahrungsberichten immer noch an ihrer Zeitschrift. Die Neue Zeit diente einerseits mit den ausführlichen Vereinsnachrichten als internes Informationsorgan, andererseits sollte sie als Aushängeschild der Schweizer Freikörperkulturbewegung mit den Aktfotos breitere Kreise erreichen, um sie für die Freikörperkultur anzuwerben.36 Der Lichtbund wechselte 1938 seinen Namen, um in verschiedenen Sprachen besser präsent sein zu können. Er nannte sich Organisation Nacktbadender Schweizer, auf Französisch Organisation des nudistes suisses und auf Englisch Organisation of nudists in Switzerland.37 Mitte der 1940er Jahre änderte sich die Bedeutung des Buchstabens N in der Abkürzung O. N. S.: Aus » Nacktbadenden « bzw. » Nudisten « wurden » Naturisten «.38 Wie bereits in den 1920er Jahren die Selbstdeklaration als » Freikörperkultur « anstelle der » Nacktkultur « den Blick vom nackten Körper auf den zu befreienden Körper gelenkt hatte, legten die Schweizer FKK-Anhänger und -Anhängerinnen mit dieser neuen Wortwahl den Fokus vom Nacktbaden auf die Lebensreform. Mit der Wahl des Begriffs » Naturismus « knüpften sie an zeitgenössische Diskussionen an, die insbesondere die » Gesinnungsgenossen « in Frankreich führten. Hatten die Schweizer Lebensreformer und Lebensreformerinnen rund um Zimmermann und Fankhauser in den
35 Eduard Fankhauser, 40 Jahre die Neue Zeit, in: Neue Zeit 127, 1968, S. 76 f. 36 Vgl. Rindlisbacher, Popularisierung und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900 – 1930) (wie Anm. 14), S. 410. 37 O. V., Pfingsten (5. und 6. Juni 1938), Tagung des Schweizerischen Lichtbundes, in: Neue Zeit 81, 1938, S. 20. 38 Vgl. erste Nennung im Logo, in: Neue Zeit 101, 1944, S. 17.
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1920er- und 1930er Jahre vor allem mit deutschen Aktivisten im Austausch gestanden, wandten sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg häufiger nach Frankreich. Dort hatten die Ärzte und Brüder Gaston (1887 – 1971) und André (1896 – 1979) Durville in der Zwischenkriegszeit die ursprünglich mit » Naturismus « bezeichneten naturheilkundlichen Behandlungsmethoden und Hygienebestrebungen mit lebensreformerischen Ernährungs-, Gesundheits- und Sportaktivitäten kombiniert. So umfasste der » Naturismus « Lebens- und Freizeitgestaltung im weiteren Sinne.39 In den 1950er Jahren prägte Albert Lecocq, der sich auf die Ideen der Brüder Durville stützte, mit seiner Fédération Françasie du Naturisme und der französischen FKK-Zeitschrift La vie au soleil die inhaltliche Ausrichtung der Schweizer O. N. S. Für Lecocq war der Naturismus eine » Art zu leben, zu denken und zu handeln «, die vom Grundprinzip ausgehe, dass sich die Natur gegen den Menschen richte, sobald er ihre Gesetze verletze.40 Das war ganz im Sinne der Schweizer Freikörperkulturaktivisten rund um Eduard Fankhauser und Werner Zimmermann, die sich mit dem » Naturismus «-Begriff von nudistischen Freizeitaktivitäten ohne lebensreformerische Weltanschauung und gesundheitsorientierte Lebensweise abgrenzten. Sie setzten den » Naturismus « der Nachkriegszeit mit der Lebensreform der Zwischenkriegszeit gleich41 und definierten ihn mit Verweis auf die Brüder Durville als » gesunde freizeitgestaltung ohne tabak und alkohol, möglichst mit vegetarischer ernährung, mit sportlichen spielen bei minimaler oder keiner bekleidung in freier natur. «42
39 Vgl. Arnaud Baubérot, Histoire du Naturisme. Le mythe du retour à la nature, Rennes 2004, S. 281 – 287; Sylvain Villaret, Histoire du Naturisme en France depuis le siècle de lumières, Paris 2005, S. 163 – 177; Stephen L. Harp, Au naturel. Naturism, Nudism, and Tourism in Twentieth-Century France, Baton Rouge 2014, S. 14 – 49. 40 Albert Lecocq, Le naturisme en 10 règles, Paris 1949, S. 5, im Original » manière de penser, de vivre et d’agir «. Lecocq publizierte auch in der O. N. S.-Zeitschrift Neue Zeit, vgl. beispielsweise Albert Lecocq, Bains de jeunesse, in: Neue Zeit 110, 1950, S. 98 ff. Zu Albert Lecocq vgl. Sylvain Villaret, Histoire du Naturisme en France (wie Anm.39), S. 298 – 303, 318 – 329; Stephen L. Harp, Au naturel (wie Anm. 39), S. 125 – 162. 41 Eduard Fankhauser u. a., Naturismus voran !, in: O. N. S.-Bulletin 7, 1956, S. 1. 42 Eduard Fankhauser, Grenzen des Naturismus, in: Neue Zeit 74, 1974, S. 4 – 8, hier S. 4. Früherer Bezug auf die Gebrüder Durville vgl. Hans Jakob, Surprise-Party in Héliomonde oder: wie aus Naturisten Nudisten werden, in: Neue Zeit 122, 1964, S. 130 ff, hier S. 131.
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Diese zentralen, lebensreformerischen Grundsätze, die Werner Zimmermann bereits 1922 in seinem Lichtwärts-Buch formuliert hatte, prägten die organisierte Schweizer FKK-Bewegung über das gesamte 20. Jahrhundert.43 Sie beeinflussten nicht nur den Aufbau und die Entwicklung der Organisationsstrukturen des Bundes, sondern bestimmten auch die Aufnahmebedingungen der Mitglieder.
S elektion
und
Kontrolle
im
S chweizerischen L ichtbund
Die Mitglieder der Anfangsjahre stammten vor allem aus der TAO-Leserschaft sowie den Überresten des Futuro-Bundes und der ehemaligen Loge Eden. Mit dem Erscheinen des Periodikums Die Neue Zeit stiegen die Mitgliederzahlen rasch an, denn die Zeitschrift trug aufgrund ihrer ansprechenden Aufmachung mit den großformatigen Fotoaufnahmen nackter Menschen und ihrer hohen Auflage von über 10 000 Exemplaren zur Bekanntheit des Lichtbundes bei.44 Die Mitgliederzahlen kletterten in den Anfangsjahren von 800 Personen im Jahre 1930 auf 2 500 im Jahr 1948. In den 1950er Jahren beschleunigte sich die Entwicklung weiter. Bis 1957 verdoppelte sich die Zahl der Anhänger auf 5 410. Sprunghaft stiegen die Zahlen weiter an und erreichten gegen Ende der 1970er Jahre mit rund 13 000 Mitgliedern ihren quantitativen Höhepunkt.45 Die Anhänger kamen mehrheitlich aus der Deutschschweiz. Einzelne wohnten in der französischsprachigen Schweiz oder reisten aus dem Tessin auf die Deutschschweizer FKK-Gelände. Vergleichbar mit anderen lebensreformerischen Vereinen zog der S. L. B. viele Personen aus den urbanen, neuen Mittelschichten an: Die Mitglieder kamen vor allem aus dem kaufmännischen Bereich, sie arbeiteten in technischen und mechanischen Berufen oder waren Staatsangestellte. Künstler und Künstlerinnen sowie Akademiker und Akademikerinnen waren ebenfalls dabei, während auch einige Leute aus der Arbeiterschaft und dem Handwerk vertreten waren.46 Die Mitglieder des Lichtbundes mussten strenge Aufnahmekriterien erfüllen. Theoretisch konnte zwar jeder Erwachsene beitreten, der sich mit den Satzungen und Bestimmungen des Bundes einverstanden erklärte. Die Zentralstelle behielt
43 O. N. S., Unser Leitbild, URL: http://verein-ons.ch/der-verein-ons/unser-leitbild/index.html, 10. Juni 2016. 44 Eduard Fankhauser, Bericht über die 3. Tagung des S. L. B. in Goldswil-Interlaken am 20. Juli 1930, in: Neue Zeit 4, 1930, S. 77. 45 Vgl. Angaben in den Berichten zu den Jahrestagungen, in: Neue Zeit 1, 1929, bis Neue Zeit 80, 1980. Die Zahlen werden nicht systematisch für alle Jahre aufgeführt. 46 O. V., Schweiz. Licht-Bund, in: Neue Zeit 1, 1929, S. 23.
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sich aber vor, die Aufnahme zu verweigern oder Mitglieder wieder auszuschließen.47 Die Glaubwürdigkeit des Lichtbundes hing von der konsequenten Entkoppelung der Nacktheit von jeglichen sexuellen Konnotationen und Handlungen ab.48 Es galt damit nicht nur die eigenen Mitglieder vor Übergriffen zu schützen, sondern auch die Öffentlichkeit von der Unbedenklichkeit der Freikörperkultur zu überzeugen. Wie schon Fankhauser bei seinem Prozess 1926 erklärte nun auch der S. L. B. das nackte Beisammensein als » natürlich « und » sittlich «. Das war aber nur möglich, wenn alle Aufnahmewilligen schon von Anfang an auf die strengen lebensreformerischen Ziele und Ideale eingeschworen wurden. Um die Anwärter und Anwärterinnen auf ihre Tauglichkeit für die Freikörperkultur zu prüfen, wurde Anfang der 1930er Jahre ein Fragebogen eingeführt. Aufgrund » langer erfahrungen « sei der S. L. B. gezwungen, Auskünfte über seine Mitglieder zu verlangen, » damit die bewegung von fragwürdigen elementen freigehalten werden « könne.49 In Ungnade gefallene Personen hatten mit Sanktionen zu rechnen und falsche Angaben führten zu Ausschluss. Der Fragebogen umfasste neben Angaben zu Beruf, Konfession, Zivilstand und Familiensituation auch Fragen zum sozialen Umfeld der Bewerber und Bewerberinnen. Sie mussten angeben, in welchen anderen Organisationen sie sich auch engagierten und wie sich der Ehepartner oder die Ehepartnerin zur Freikörperkulturbewegung stellten. Der S. L. B. verstand sich als Familienbewegung und wollte deshalb möglichst verheiratete Paare aufnehmen. Um auszuschließen, dass eine Mitgliedschaft zu Konflikten zwischen Eheleuten führte, mussten Partner schriftlich ihr Einverständnis geben oder ebenfalls beitreten.50 Die Anwesenheit eines Ehepartners oder anderer Familienmitglieder hatte eine zusätzliche diszi plinierende Wirkung auf die Einhaltung der Verhaltensregeln, die bei Einzelpersonen fehlte. Ein weiterer Fragekomplex befasste sich mit der Motivation und den Beweggründen für den Beitritt. Die Zentralstelle wollte wissen, ob man bereits mit den Zielen der Freikörperkultur vertraut war. Zudem ging es um die bisherige Lebensgestaltung und den Gesundheitszustand. Dazu gehörten Angaben über sportliche Betätigung, chronische Erkrankungen und körperliche Beeinträchtigungen. Wie hielt es der Bewerber oder die Bewerberin mit der Alkohol-,
47 Satzungen des Schweizerischen Lichtbundes, in: Neue Zeit 36, 1931, S. 120. 48 Die Entkoppelung von Nacktheit und Sexualität gehörte schon für die FKK-Pioniere um 1900 zu den wichtigsten Argumenten gegen die Vorwürfe ihrer Kritiker. Vgl. Oliver König, Nacktheit. Soziale Normierung und Moral, Opladen 1990, S. 144 – 149. 49 Fragebogen, in: Neue Zeit 36, 1931, S. 121. 50 O. V., 7. Tagung des Schweiz. Lichtbundes, in: Neue Zeit 68, 1936, S. 188 ff, hier S. 190.
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Tabak und Fleischabstinenz ? Welche Zeitschriften und Zeitungen oder sonstige Literatur lasen sie oder er ? Abschließend mussten die Aufnahmekandidaten ankreuzen, ob sie sich als » Lebensreformer « bezeichnen, » Sport treiben «, einen » gutgebauten Körper « haben oder » öffentlich angesehen « seien.51 Um die Legitimität der Freikörperkultur zu erhöhen, war der S. L. B. vor allem an Mitgliedern mit hohem gesellschaftlichen Ansehen wie Ärzten und Professoren interessiert. Die Beantwortung der Fragen wurde zur Selbstoffenbarung, die nicht nur der Vorselektion diente, sondern auch die S. L. B.-Leitung mit vertraulichem Wissen über die neuen Mitglieder versorgte. Die Überwachung der Mitglieder gehörte auch nach einer gelungenen Aufnahme zum Alltag der Mitglieder des Schweizerischen Lichtbundes. Diejenigen, die aufgrund des Fragebogens einen guten Eindruck machten, wurden zunächst provisorisch aufgenommen. Um sich mit der Entstehungsgeschichte des S. L. B. und den Verhaltensnormen innerhalb der Bewegung vertraut zu machen, mussten sich die neuen Mitglieder mit Zimmermanns Lichtwärts und später mit den beiden FKK-Publikationen Durchsonnte Menschen und Nacktheit vor Gericht auseinandersetzen.52 Die provisorische Mitgliedschaft wurde erst in eine definitive umgewandelt, wenn jemand entweder Mitglied einer anerkannten Ortsgruppe geworden war, mindestens drei andere S. L. B.-Mitglieder seine definitive Aufnahme schriftlich empfahlen oder wenn Eduard Fankhauser bei mehreren Geländebesuchen in Thielle genügend Gelegenheit hatte, den Interessenten kennenzulernen. Wurde jemand aber abgewiesen, konnte er sich an den Bundesvorstand wenden, der einmal jährlich über solche Fälle verhandelte. Lehnte auch dieser eine Aufnahme ab, stand den Abgewiesenen ein letzter Weg offen: Sie konnten sich an die
51 Die Bedingungen stammten aus den Richtlinien der Orts- und Sondergruppen, vgl. Richtlinien für die Orts- und Sondergruppen, in: Neue Zeit 36, 1931, S. 120. 52 Werner Zimmermann und Eduard Fankhauser hatten Durchsonnte Menschen des schwedischen FKK-Pioniers ergänzt und im Verlag Neue Zeit auf Deutsch herausgegeben, vgl. Johan Almkvist, Durchsonnte Menschen. Bedeutung der Freikörperkultur für Gesundheit und Moral, herausgegeben und mit Ergänzungen versehen von Werner Zimmermann und Eduard Fankhauser, Thielle 1939. Weitere Auflagen 1947, 1952 und 1959. Nacktheit vor Gericht enthielt Berichte über Fankhausers Prozesse für die FKK. 1984 gab Fankhauser eine ergänzte Neuauflage unter dem Titel Kampf und Sieg der FKK heraus. Vgl. Eduard Fankhauser, Nacktheit vor Gericht. Vom Angeklagten Ed. Fankhauser nach Original-Dokumenten und wörtlich aufgenommenen Stenogrammen zusammengestellt, Bern/Lauf bei Nürnberg 1930. Weitere Auflagen 1941, 1945 und 1948; Eduard Fankhauser, Kampf und Sieg der FKK. 60 Jahre Wirken für die Volksgesundheit, Thielle 1984.
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Generalversammlung des Vereins wenden, deren Entschluss dann aber unwiderruflich war.53 Diente der Fragebogen als Kontroll- und Selektionsinstrument, schlossen sich an das strenge Auswahlverfahren weitere Mechanismen an, die das gemeinsame Nacktsein regelten und kontrollierten. Das Verhalten eines Mitglieds stand unter permanenter Beobachtung der anderen.54 Sämtliche Personen, die ein FKK-Gelände betraten oder verließen, wurden registriert. Nicht-Mitglieder hatten keinen Zutritt und durften nicht an den Aktivitäten teilnehmen. Mitglieder waren verpflichtet, der Zentralstelle sofort Meldung zu erstatten, sollten sie auf den Geländen der Ortsgruppen jemand Unbefugtes antreffen. Eduard Fankhauser nahm dann mit der betreffenden Person Kontakt auf und leitete je nach Gegebenheiten eine Prüfung durch seine Vertrauensleute – die Präsidenten der Ortsgruppen – in die Wege.55 Zudem mussten sich die Mitglieder verbindlich an die Verhaltensregeln halten. Dabei ging es vor allem um die Achtung der sexuellen Integrität. Fiel jemand durch verbale Belästigungen oder gar körperliche Übergriffe auf, konnte ein Antrag zur Überprüfung des Beschuldigten gestellt werden. Regten zwei Personen eine Untersuchung an, setzten sich Zentralstelle und Vertrauensleute mit dem angezeigten Mitglied in Verbindung und bereiteten Sanktionen vor.56 Zwar formulierte die Zentralstelle die Verhaltensregeln und übernahm mit der umfangreichen Aufnahmeprozedur die Vorselektion, letztlich sorgten aber die Mitglieder durch die gegenseitige Überwachung für die Durchsetzung dieser Vorschriften beim gemeinsamen Nacktbaden.
53 I. Reglement betreffend Aufnahme-Praxis, in: Neue Zeit 104, 1945, S. 90; O. V., 19. Jahrestagung unseres Bundes, in: Neue Zeit 105, 1946, S. 112. 54 Zur Kontrolle und Überwachung in der Freikörperkultur vgl. Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890 – 1930), Köln 2004. 55 O. V., 4. Tagung des Schweiz. Lichtbundes, Pfingsten 1933, auf dem Gelände am Bielersee, in: Neue Zeit 53, 1933, S. 40 ff, hier S. 41. 56 O. V., 7. Tagung des Schweiz. Lichtbundes, in: Neue Zeit 68, 1936, S. 188 – 190, hier S. 190.
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L ebensreform und O rganisation: kein W iderspruch mehr Werner Zimmermann glaubte in den 1920er Jahren nicht daran, dass man lebensreformerische Bestrebungen organisieren könne. Zu wichtig war ihm die Stellung des Individuums als Ausgangspunkt der angestrebten Lebens- und Gesellschaftsreform. Auch Eduard Fankhauser folgte dieser individualistisch-selbstreformerischen Grundtendenz. Selbst nach 40 Jahren an der Spitze der organisierten Schweizer FKK-Bewegung betonte er, dass » die O. N. S. nicht von vereinsmeiern gegründet worden [sei], sondern möglichst eine bewegung bleiben [solle]. «57
Nichtsdestotrotz entstanden im Verlauf dieser Jahrzehnte immer stärker reglementarisch formalisierte Vereinsorgane, die den individualistischen Geist der Zwischenkriegszeit einschränkten. Der Aufbau fester organisatorischer Strukturen im S. L. B. bzw. in der O. N. S. erfolgte in drei Phasen: In einer ersten Phase unmittelbar nach der Gründung bestimmte der Lichtbund seinen organisatorischen Aufbau, erwarb das Gelände in Thielle und formulierte seine Aufnahmebedingungen. Im Schwung der Gründungsjahre legte er die Grundsteine für seine Organe, die sich in den Folgejahren nur wenig veränderten. Die Organisation bestand aus dem überregionalen Bund mit seiner Zentralstelle sowie verschiedenen Ortsgruppen. Der Bund war für den Rechtsschutz der Mitglieder zuständig, warb neue Anhänger an und kümmerte sich um die Popularisierung der Freikörperkultur in der Schweiz. Einige Ortsgruppen bildeten sich bei der Gründung des Lichtbundes aus bereits bestehenden, lokalen FKK-Vereinigungen. Weitere Ortsgruppen formierten sich, sobald sich an einem Ort genügend Mitglieder zusammenfanden. Diese lokalen Ableger des Bundes konnten frei entscheiden, wen sie in ihre Reihen aufnehmen wollten, bei den praktischen Aktivitäten genossen sie zudem viele Freiheiten. Die Zentralstelle gab jedoch die ideologische Ausrichtung vor und kümmerte sich um die Einhaltung der Reglemente. Zudem ernannte jede Ortsgruppe einen Gruppenführer, der von der Zentralstelle des S. L. B. bestätigt werden musste.58 Die zweite Phase seit Mitte der 1940er Jahre war gekennzeichnet von organisatorischen Ergänzungen und Präzisierungen, die mit steigenden Mitglieder-
57 O. V., 30 Jahre Schweizerischer Lichtbund, in: Neue Zeit 115, 1958, S. 69 ff, hier S. 69. 58 Ortsgruppen-Bestimmung, in: Neue Zeit 4, 1930, S. 77.
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zahlen und neuem Elan nach den Kriegsjahren einhergingen. Auf der Generalversammlung von 1946 wählten die Mitglieder erstmals einen Bundesvorstand, dem zwischen sieben und elf Personen angehörten und der eng mit der Zentralstelle zusammenarbeiten sollte. In den neuen Satzungen führte der S. L. B. – nun unter der Bezeichnung O. N. S. – die Anforderungen an die Mitglieder weiter aus und bestimmte deren Rechte und Pflichten. Zudem wurde die leitende Stellung Eduard Fankhausers als Zentralpräsident festgeschrieben. Der Verlag Die Neue Zeit unterstützte die Zentralstelle bei organisatorischen Arbeiten und stellte dem Bund in der Zeitschrift jeweils zwei Seiten zur Verfügung.59 In den Jahren vor 1960 setzte eine dritte Phase ein. Die Dachverbände in Deutschland und Frankreich setzten zunehmend auf eine Kommerzialisierung ihrer Angebote, indem sie die strengen Regeln auf ihren Geländen lockerten und stattdessen die sportlichen Aktivitäten und das Freizeitvergnügen betonten.60 Auch in der Schweiz führte diese Entwicklung zu organisatorischen Veränderungen. Weil die O. N. S. weiterhin an ihrer lebensreform- und gesundheitsorientierten Haltung festhalten wollte, brachen interne Konflikte um die zukünftige Ausrichtung der Schweizer Freikörperkulturbewegung auf. Wegen Meinungsverschiedenheiten spalteten sich 1956 einige Ortsgruppen ab und gründeten die Schweizerische Naturisten-Föderation (SNF). In ihren Augen war die O. N. S. zu zentralistisch ausgerichtet und ließ ihren Ortsgruppen zu wenig Entscheidungsfreiheit bei der Verwaltung der FKK-Gelände. Die neue Organisation sollte deshalb wesentlich föderalistischer funktionieren.61 Während Eduard Fankhauser die O. N. S. nach außen als » freiheitliche Bewegung « darstellte, nahmen ihn viele Mitglieder zunehmend als » selbstherrlich « wahr.62 Nicht nur der autoritäre Führungsstil gab Anlass zu Auseinandersetzungen, auch die strengen Vorgaben zu den lebensreformerischen Grundsätzen auf den Geländen provozierten Kritik. Nicht alle Ortsgruppen wollten das Rauch-, Alkohol- und Fleischverbot in voller Konsequenz umsetzen und kontrollieren. Deshalb sollten die SNF-Grup-
59 Satzungen der O. N. S., in: Neue Zeit 10, 1944, S. 17 ff; II. Reglement betreffend Bundesvorstand, in: Neue Zeit 104, 1945, S. 91. 60 Oliver König, Nacktheit (wie Anm. 48), S. 219; Giselher Spitzer, Der deutsche Naturismus nach dem zweiten Weltkrieg, in: Michael Andritzky/Thomas Rautenberg (Hg.), Wir sind nackt und nennen uns Du (wie Anm. 9), S. 146 – 162; Sylvain Villaret, Histoire du Naturisme en France (wie Anm. 39), S. 318. 61 H. S., Im Banne des Föderalismus, in: SNF-Bulletin 1, 1963, o. S. 62 Martin Halblützel, Wohin geht das Geld der SNF, in: SNF-Bulletin 1, 1978, S. 9 ff, hier S. 9 und 11.
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pen die Geländevorschriften selbstständig regeln.63 Es lässt sich aber keine klare Front zwischen den beiden Organisationen ausmachen, berücksichtigte doch auch eine der neuen SNF-Gruppen weiterhin die lebensreformerischen Grundsätze.64 Vielmehr ging es um eine grundsätzliche Infragestellung der Befugnisse und Kompetenzen innerhalb der organisierten Schweizer Freikörperkulturbewegung. Eine Kooperation zwischen der O. N. S. und der SNF war auch weiterhin möglich: 1968 formierte sich das Comité Naturiste Suisse (CNS), worin die beiden schweizerischen FKK-Dachverbände zusammenarbeiteten.65 Der Zusammenschluss in der Dachorganisation Schweizer Naturisten Union (SNU) führte 1981 zur Überwindung der Spaltung.66 Innerhalb der O. N. S. stieß die Generalversammlung ein Jahr nach der Loslösung der SNF-Gruppen eine Neuordnung an, um die lebensreformerische Ausrichtung noch stärker hervorzuheben. Sie verabschiedete 1957 eine Resolution, welche die Ortsgruppen in zwei Kategorien einteilte. Zu der sogenannten Kategorie A gehörten nur Gruppen, die auf ihren Geländen eine » naturistische, reformerische Lebensweise « ohne Alkohol, Tabak und Fleisch realisierten. Nur sie konnten als Vollmitglieder der O. N. S. angehören. Die Kategorie B hingegen umfasste Gruppierungen, die der O. N. S. freundschaftlich verbunden waren und seit mehr als zwei Jahren ein Nacktbadegelände betrieben, sich aber nicht an die kompletten Vorgaben der O. N. S. halten wollten.67 Mit dieser Ausdifferenzierung der Organisationsstrukturen festigte der lebensreformerisch orientierte Flügel der Schweizer FKK-Bewegung einerseits seine führende Stellung. Die O. N. S. reagierte andererseits zugleich auf den Vorwurf der in der SNF abgespaltenen Gruppen, sie lasse den Ortsgruppen zu wenig Freiräume. Gegen Ende der 1950er Jahre hatte die O. N. S. eine weitere organisatorische Herausforderung zu meistern. Nicht nur Eduard Fankhauser, auch seine Frau Elsi spielte bei der Leitung des Vereins eine wichtige Rolle. Die Trennung der beiden Eheleute stellte den Fortbestand der ganzen Organisation in Frage. Schliesslich hatte der Einsatz der beiden die O. N. S. über 30 Jahre lang geprägt und wich63 Georg Pfitzner, Der Naturismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Hamburg 1964, S. 112. 64 Vgl. Internationale Naturisten-Föderation INF, FKK Ferienführer, Hamburg Hjortshoj Zürich Antwerpen Thielle, 1956 – 1979. 65 O. V., Delegiertenversammlung 1968 der Schweizer Naturisten Föderation, in: SNFBulletin 20, 1968, S. 2. 66 O. V., Rückblick, in: O. N. S.-Bulletin 33, 1982, S. 18 f. 67 O. V., 30 Jahre Schweizerischer Lichtbund, in: Neue Zeit 115, 1958, S. 69 ff, hier S. 71.
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tige Teile des FKK-Geländes in Thielle befanden sich in ihrem Besitz. Um das gemeinsame Lebenswerk zu retten und die O. N. S. vom Engagement einzelner Personen stärker zu entkoppeln, richteten die Fankhausers bei ihrer Scheidung 1961 die Stiftung Die › neue Zeit ‹ für gesunde Freizeitgestaltung ein. Die Stiftung strebte weiterhin die praktische Umsetzung der Lebensreform mit den freikörperkulturellen Aktivitäten sowie der Fleisch-, Alkohol- und Tabakabstinenz an. Die beiden Gründer verpflichteten sich, im Todesfall Vermögenswerte und die Liegenschaft auf dem Gelände in Thielle der Stiftung abzutreten.68 Die O. N. S. schuf in dieser dritten Phase Strukturen, die das Weiterbestehen der Organisation unabhängig von Einzelpersonen sicherstellten und zur Langlebigkeit beitrugen. 1971 folgte schliesslich eine weitere Stärkung der lebensreformerischen Ausrichtung, indem die O. N. S. den Bundesvorstand umgestaltete: Neu bestand die Führungsebene der O. N. S. aus einem engeren sowie einem erweiterten Vorstand. Während jede der Gruppen in der Kategorie A einen eigenen Vertreter stellen konnte, mussten sich die Gruppen in der Kategorie B auf einen gemeinsamen Abgeordneten einigen. Zum engeren Vorstand waren nur » gutbeleumdete, idealgesinnte « Personen zugelassen. Diese mussten » absolute nichtraucher « sein und » gegenüber abstinenz und vegetarismus eine positive einstellung « haben.69 Damit sicherten sich die reformerisch eingestellten Gruppen eine klare Übermacht im Bundesvorstand. Obwohl auch in der Schweiz immer mehr FKK-Anhänger das Nacktbaden ausschließlich als erlebnisorientiertes Freizeitvergnügen praktizierten, blieb die O. N. S. mit diesen Maßnahmen im Vergleich zu den FKKVereinigungen in den Nachbarländern auch weiterhin ein Refugium der Lebensreform.
Fazit: I m S pannungsfeld zwischen Autonomie des I ndividuums und reglementierter G emeinschaft Im frühen 20. Jahrhundert breiteten sich in der Schweiz lebensreformerische Ideen und Praktiken aus, die im Kern eine einfache, möglichst vegetarische Ernährung, den Verzicht auf Alkohol, Tabak und andere Genussmittel und eine umfassende Körperpflege mit viel Bewegung in der freien Natur umfassten. Diese körperbetonte, gesundheitsorientierte Lebensweise fand vor allem in jugendbewegten Kreisen großen Anklang. Sie kombinierten den individualistisch-
68 Stiftungsurkunde von 1961, URL: http://www.die-neue-zeit.ch/downloads/stiftungsurkundekomplett.pdf, 10. Juni 2016. 69 O. V., 44. Jahresversammlung der O. N. S., in: Neue Zeit 130, 1971, S. 214.
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selbstreformerischen Ansatz der Lebensreform mit den jugendlichen Autonomiebestrebungen. Ihre Forderung nach mehr Selbstbestimmung galt nicht nur dem Verhältnis zu den Erwachsenen, sondern schloss auch Fragen der Ernährung, Bekleidung, Gesundheitspflege und Körperkultur mit ein. Der Berner Lehrer Werner Zimmermann schwang sich im Verlauf der 1920er Jahre zum Wortführer dieser lebensreformerisch eingestellten Jugendbewegung auf. Mit seinen Büchern und Vorträgen erlangte er über die Schweiz hinaus große Bekanntheit. Dem Wunsch nach einem organisatorischen Zusammenschluss seiner Anhänger wollte er aber nicht nachkommen. Lebensreform sollte eine persönliche Aufgabe des Individuums bleiben. Nur der Einzelne könne die eigene Ernährung umstellen und entscheiden, ob er die Finger vom Alkohol und Tabak lassen sowie nach körperlicher und geistiger Gesundheit streben wolle. Allein die geteilten Überzeugungen – die » innere Verwandtschaft « – und die lebensreformerische Praxis im Alltag sollte ein Wir-Gefühl erzeugen. Die Forderung nach einer Gemeinschaft ohne jegliche Teilnahmebedingungen und Verpflichtungen führte sogar zur Auflösung einiger schon bestehender lebensreformerischer Vereinigungen in der Schweiz wie der Loge Eden und des Futuro-Bundes. Anstelle eines festen Zusammenschlusses ermöglichte ab 1924 die monatlich erscheinende TAO-Zeitschrift den Austausch zwischen den Anhängern Zimmermanns. An Vorträgen, Kursen und Ferienlagern oder bei lokalen Treffen – an sogenannten Sammelpunkten – konnten sie ihre lebensreformerischen Erfahrungen miteinander teilen. Dass dieses lose Netz von persönlichen Kontakten und schriftlichem Austausch ganz ohne Organisation auf Dauer nicht bestehen konnte, zeigte sich schon Mitte der 1920er Jahre. Vor allem die Freikörperkultur mit dem gemeinsamen Nacktsein beider Geschlechter in Sonne, Luft und Wasser bei Sport und Spiel stieß in der Schweiz auf starken Widerstand. Der erste große FKK-Prozess gegen Eduard Fankhauser war ein Weckruf: Zum gegenseitigen juristischen Schutz schlossen sich 1927 Schweizer Lebensreformer und Lebensreformerinnen zum Schweizerischen Lichtbund zusammen. Fankhauser prägte diese freikörperkulturelle Organisation entscheidend und leitete sie viele Jahrzehnte. Wie bereits die TAO-Zeitschrift trug auch das organisationseigene Periodikum Die neue Zeit zur Vergemeinschaftung bei. Es transportierte die gemeinsamen Werte und Ideale, stärkte die geteilte Weltanschauung und wirkte so identitätsstiftend. Anders als bei der unorganisierten TAO-Leserschaft konnte sich dem Lichtbund nicht mehr jeder anschließen, der sich von den lebensreformerischen Ideen angezogen fühlte. Vielmehr arbeitete der Bund ausgeklügelte Selektions- und Kontrollmechanismen aus, weil er einerseits die eigenen Mitglieder vor Übergriffen beim Nacktsein schützen wollte und andererseits die Freikörperkultur gegen außen als unbedenkliche Gesundheits- und Freizeitaktivität positionieren musste. Ausführliche Fragebögen mit mehrstufigen Aufnahmeverfahren sowie
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eine lückenlose, gegenseitige Überwachung der Mitglieder mit Sanktionsmöglichkeiten sollte die Einhaltung der strengen Verhaltensvorschriften sicherstellen. Hatten die lebensreformerischen Konzepte und Praktiken im jugendbewegten Umfeld der frühen 1920er Jahre noch als Bindeglieder zwischen einer losen Gemeinschaft ohne festgeschriebene Strukturen und Organe gedient, entwickelten sie sich im Lichtbund und in der Nachfolgeorganisation Organisation von Naturisten in der Schweiz immer stärker zu Ausschlusskriterien. Eduard Fankhauser und Werner Zimmermann wehrten sich vor allem in der Nachkriegszeit gegen die zunehmende Praxis, das Nacktbaden ohne die gesundheitsorientierte Ernährungsreform und Körperkultur – den sogenannten Nudismus – praktizieren zu wollen. Mit der Abspaltung der Schweizerischen Naturisten-Föderation (SNF) 1956 wegen Auseinandersetzung über die richtige Organisationsform und inhaltliche Schwerpunkte sowie der Aufteilung der O. N. S. 1957 in streng lebensreformerische und eher freizeitorientierte Gruppen erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt. Auch in den 1960er und 1970er Jahren konnten die konsequenten Lebensreformer und Lebensreformerinnen ihre Position behaupten und ihre Kompetenzen mit der neuen Regelung des Bundesvorstandes sogar noch ausbauen. Im S. L. B. und der O. N. S. ging es weiterhin um die individualistische Selbstreform des Einzelnen. Die neuen Regeln und Kontrollinstrumente führten aber dazu, dass nur noch jene zur Gemeinschaft gehören konnten, die den neuen Richtlinien entsprachen. Das hatte eine homogenisierende Wirkung auf die Mitglieder: Alle strebten nun auf dieselbe Weise mit den gleichen Praktiken und Verhaltensweisen nach individueller Gesundheit und persönlicher Entfaltung. Die Freikörperkulturorganisation entwickelte sich damit zur streng reglementierten Gemeinschaft von Individuen. Diese Kombination aus individualistischem Freiheitsversprechen und exkludierendem Gruppenerlebnis gehörte zum Erfolgsrezept des Schweizerischen Lichtbundes und liess das FKK-Gelände in Thielle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Drehscheibe der lebensreformerisch ausgerichteten Freikörperkultur in Europa werden.
Bürger und Uniform Die Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr um Georg Picht H agen Stöck m an n
Die Sphäre des Militärischen setzt sich von jener des Zivillebens nicht nur in einer Reihe von Verhaltensregeln ab, die in dieser gelten, während sie in jener keine oder fast keine Bedeutung haben, sondern wird markiert vor allem auch durch eine sprachliche Barriere. Zum Vokabular des sprichwörtlichen Kasernenhoftons gehört auch eine Wendung, die mehr oder weniger Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat, nämlich die » Tiefste Gangart «: Sie bezeichnet eine Fortbewegungsart, bei welcher der Soldat sich robbend oder kriechend bewegt und nur die Knie und Ellenbogen zur Fortbewegung genutzt werden können. In eben dieser tiefsten Gangart bewegte sich der Abiturient Volker Weidemann die allermeiste Zeit fort, nachdem er am 1. April 1963 zur Grundausbildung in die Fallschirmjäger-Ausbildungskompanie 6/9 auf dem Eisberg bei Nagold einberufen worden war. Auf Befehl des Gefreiten und Rekrutenausbilders Hans-Dieter Raub kroch der Wehrdienstleistende Weidemann unter 20 Stühlen hindurch, robbte durch Kehrichthaufen oder drehte in der Stube Runden » im Entengang «. Dazu zwang der Ausbilder Raub den Rekruten Weidemann unablässig zu singen, am liebsten Soldatenlieder und zu allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten: vor versammelter Mannschaft oder alleine, im Flur oder im Lehrsaal, beim Empfang des Wehrsoldes, vor dem Kompaniegebäude und beim Waffenreinigen. Weidemann war weder der einzige Leidtragende dieser Form von Drangsalierungen, und der Ausbilder Raub gab auf Befragung zu, dass er an seinen Rekruten nur jenes Verhalten übe, das auch er in seiner eigenen Grundausbildung erfahren habe. Auch darum kam es in der Folge im Dezember zu einer Serie von neun
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Strafverfahren gegen den Gefreiten Raub und eine Reihe weiterer Offiziere und Ausbilder aus der Nagolder Kompanie 6/9 vor dem Schöffengericht in Calw. Die Anklage erkannte gleich mehrere Delikte in den fortgesetzten Schikanen, derer sich die Rekruten in der Nagolder Kaserne zu erwehren hatten, wie etwa die fortgesetzte, entwürdigende Behandlung von Untergebenen (§ 31 Wehrstrafgesetz), die vorsätzliche körperliche Misshandlung von Untergebenen (§ 30 Wehrstrafgesetz), sowie den Missbrauch von Befehlsbefugnis und Dienststellung (§ 31 Wehrstrafgesetz). Die Prozesse waren Konsequenz einer langen Reihe von Verfehlungen, deren Höhepunkt der Tod eines Rekruten am 1. August 1963 war, dem ein 15 Kilometer langer » Gewöhnungsmarsch « in voller Montur am 25. Juli 1963 bei brütender Hitze vorausgegangen war, in dessen Verlauf der Rekrut sich derart verausgabte, dass er wenige Tage später an den erlittenen Kreislaufschäden starb, zumal bei ihm eine Vorschädigung der Leber vorgelegen hatte, auf die jedoch im Rahmen der Grundausbildung keine Rücksicht genommen worden war.1 Nagold wurde nicht nur deswegen zu einem » neuralgischen Punkt « innerhalb der Bundeswehr, weil hinter den Schikanen der Ausbilder die hässliche Fratze des » deutschen Spieß « aufblitze, dem der ehemalige Wehrmachtssoldat und Romanautor Hans Hellmut Kirst in der Figur des Schleifers Platzeck mit der Romantrilogie 08/15 ein Negativdenkmal gesetzt hatte.2 Vielmehr warf die Affäre ein Schlaglicht auf die Entwicklung der vor gerade acht Jahren neu gegründeten Bundeswehr und die in der Öffentlichkeit durchaus kontrovers diskutierte Möglichkeit, dass diese Form der Rekrutenmisshandlung nur äußeres Anzeichen für einen wiedererstarkenden deutschen Militarismus und das abermalige Heranwachsen eines militärisch-soldatischen Staats im Staate sei. Die Bundeswehr, so mahnten Beobachter ausgehend von dem Prozess gegen die Fallschirmspringerkompanie in Calw, habe bei der » Erwachsenenerziehung in den Kasernen […] versäumt, ihre Chance zu nutzen. Die Bundeswehr erzieht vielfach Soldaten, die, wenn es gut geht, gehorchen, die aber, wenn es schlecht geht, keine Verantwortung tragen können und wollen. Dies ist eine Gefahr, die nicht nur die Bundeswehr, sondern uns alle bedroht. «3 Vor diesem Hintergrund wird die Skepsis begreiflich, die die Gründung der Bundeswehr von ihren Anfängen an begleitete. Nicht nur schien es vollkommen ungewiss, ob eine deutsche Armee angesichts grundsätzlich veränderter Waf-
1 Vgl. zu den Ermittlungen rund um die Ereignisse in der Nagolder FallschirmjägerKompanie » Nagold. Tiefste Gangart «, in: Der Spiegel, 43/1963, S. 52 – 59. 2 Hans Hellmut Kirst, 08/15. Gesamtausgabe der Trilogie, Klagenfurt 1994 – 2001. 3 Heinz D. Stuckmann, Es ist schön, Soldat zu sein oder Staatsbürger in Uniform, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 1.
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fentechnologien und der durch atomare Abschreckung nur leidlich stabilisierten Blockkonfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion überhaupt einen Unterschied machen würde. Vielmehr wollte eine Mehrheit der Deutschen lieber gleich auf eine Wiederbewaffnung der Bundesrepublik verzichten. Obwohl demoskopische Untersuchungen 1952 und auch in den folgenden Jahren regelmäßig feststellten, dass 66 Prozent der nach ihrer Meinung befragten Deutschen Angst vor einem bevorstehenden » Angriff aus Russland « äußerten4, war doch die überwiegende Mehrheit der Befragten gleichzeitig gegen die Wiederbewaffnung. Beide großen deutschen Meinungsforschungsinstitute kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Laut einer EMNID Umfrage aus dem Januar 1950 lehnten 75 Prozent der Befragten es vehement ab, als Soldat zu dienen oder Ehemänner und Söhne als Soldaten dienen zu sehen, während sich nur 18 Prozent vorstellen konnten, grundsätzlich oder auch nur im Kriegsfall die Uniform anzulegen.5 Eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung förderte ganz ähnliche Zahlen zutage: Hier waren es etwa die Hälfte der Befragten, die im Falle eines » Angriffs aus dem Osten « den Dienst an der Waffe verweigern wollten und ein weiteres Fünftel, das diese Option zumindest nicht ausschloss.6 Die Bundeswehr befand sich allem Anschein nach seit ihrer Gründung in einer tiefgreifenden inneren wie äußeren Krise. Allerdings sollten diese Zahlen nicht dazu verleiten, vorschnell einen ausgeprägten Antimilitarismus der deutschen Bevölkerung anzunehmen und die zögerliche bis ablehnende Haltung gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik gar als Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Dagegen sprechen auch die Zahlen der Meinungsforscher, aus denen sich eine solche Interpretation nicht ableiten lässt. Im Gegenteil: Folgt man einem Bericht über die politische Stimmung im Bundesgebiet aus dem Jahr 1951, so stellt man fest, dass eine Mehrzahl der Deutschen die Zeit des › Dritten Reichs ‹ als die beste Zeit ihres bisherigen Lebens ansahen, was zumal für die Zeit vor dem Krieg und mithin
4 Bundesarchiv Koblenz (BA) B145/4222, Institut für Demoskopie Allensbach (im Folgenden If D), Stimmung#55, Los vom Westen, 28. 08. 1952. 5 Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg (BA MA), BW9/764, Presse und Informationsamt der Bundesregierung, EMN-12/51. 6 BA B145/4220. Zum Umgang mit Meinungsumfragen als historischer Quelle und den vorliegenden Zahlen vgl. auch Michael Geyer, Der Kalte Krieg, die Deutschen und die Angst. Die westdeutsche Opposition gegen Wiederbewaffnung und Kernwaffen, in: Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 267 – 314, S. 274 ff.
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die » guten Jahre « des Regimes zwischen 1933 und 1938 gelte.7 Diese Verhältnisse werfen ein grundsätzlich anderes, ernüchterndes Bild auf den vermeintlichen deutschen Antimilitarismus, der sich in der Ablehnung einer neuen deutschen Armee nach der Wehrmacht Bahn brach. Nach dem Untergang von 1945 und vor dem Hintergrund der eingeschränkten nationalen Souveränität der Bundesrepublik waren nicht wenige der Meinung, dass » nach dem Ende des Dritten Reichs nicht mehr viel übriggeblieben war, was es zu verteidigen lohnte. […] Wenn so viele Deutsche eine Wiederbewaffnung ablehnten, dann zu einem ganz wesentlichen Teil darum, weil sie ihre militärische Ehre und Integrität, Anstand und Anständigkeit in den Schmutz gezogen fühlten. «8 Eine Melange aus Verlusterfahrungen und wütender Enttäuschung, die die Bindungen des Einzelnen an den (neuen) Staat in empfindlicher Weise schwächte. Nicht wenige der Befragten trugen schwer an dem Gefühl, dass man sich » für die da oben « geschunden und » die Kastanien aus dem Feuer geholt « habe, in der Not aber im Stich gelassen worden sei. Der neue Staat würdige ihre individuelle Leidensgeschichte nicht, schlimmer noch, er tabuisiere und verdränge sie. Dieses » gekränkte Staatsbürgertum « (Michael Geyer)9 schlug sich auch in der Frage der Wiederbewaffnung im Imaginarium der frühen Bundesrepublik nieder. Ein Blick etwa auf die Wahlplakate der Parteien zu den Bundestagswahlen verdeutlicht diese Diagnose drastisch. So positionierte sich die SPD relativ früh gegen jede Form der Wiederbewaffnung und unterstrich diese Haltung in ihren Plakaten nicht nur mit den Schrecken der Vergangenheit, sondern auch mit der allenthalben antizipierten Drohung eines bevorstehenden deutsch-deutschen Bruderkrieges zwischen Bundeswehr und NVA. Doch nicht nur die SPD appellierte an die Ängste und Emotionen der Wählerinnen und Wähler, sondern auch die CDU bediente virtuos die Klaviatur politischer und militärischer Schreckensszenarien, die mit der Wiederbewaffnung zu stehen und zu fallen schienen. Das Motiv des Rotarmisten auf der Kölner Domplatte sollte der Öffentlichkeit die Alternativlosigkeit deutscher Verteidigungsbereitschaft vor Augen führen. Jenseits der deutsch-deutschen Grenze blieb diese Form der Auseinandersetzung keineswegs unbemerkt. Eines der drastischsten Plakate, wenn es darum ging, die Mischung aus gekränkten Staatsbürgertum, Kriegsmüdigkeit und nationalistischer
7 BA B145/4221, If D, Das politische Kilma. 80 Prozent der Befragten gaben an, dass die Jahre zwischen 1945 und 1948 die schlimmsten Jahre in der deutschen Geschichte gewesen seien, nur acht Prozent dachten dasselbe über die Zeit des Zweiten Weltkriegs. 8 Geyer, Die Deutschen und die Angst (wie Anm. 6), S. 284. 9 Ebd., S. 289.
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Trotzhaltung einzufangen, stammt aus dem » Amt für Information «, dem späteren Presseamt beim Ministerpräsidenten der DDR aus dem Jahr 1951. Unter dem Titel » Verschwörung gegen Deutschland « zeigt es den wiederauferstandenen deutschen Militarismus als kleinen Michel an der verdorrten Brust seiner amerikanischen Mutter, Kanzler und Bundespräsidenten mit der Waffe an der Schläfe bedrohend.
Z ur Konzeption
des
»Staatsbürgers
in
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Die Verve, mit der die Auseinandersetzung um Form und Zweck einer wiederbewaffneten Bundeswehr geführt wurde, verweist auf die Grundsätzlichkeit, mit der das Verhältnis zwischen dem Staat und den Staatsbürgern diskutiert wurde. Wie bürgerlich der » Staatsbürger in Uniform « war und sein konnte, war eine Frage, die sich anhand der Wiederbewaffnung nur ganz besonders deutlich artikulierte. Generell war das Problem aber keineswegs auf die Konzeption der Streitkräfte beschränkt. Es ging vielmehr darum, wie die Zielutopie einer bundesrepublikanischen Zivilgesellschaft nach dem Ende des Dritten Reichs überhaupt ausgestaltet werden könnte. Die historische Bürgertumsforschung tut sich bislang schwer damit, das Offizierskorps und die Berufssoldaten als eigene soziologische oder gesellschaftshistorische Größe genauer zu bestimmen. Gleichwohl liegen Studien sowohl zur sozialen und politischen Einbindung der Streitkräfte in die bundesrepublikanische Gesellschafts- und Verfassungsordnung als auch zur sozialen Zusammensetzung des Offizierskorps vor.10 Bisher kaum thematisiert worden ist die damit verbundene Frage, wie Vertreter bürgerlicher Kreise auf die Gelegenheit und Herausforderung reagierten, die eine avisierte Verbürgerlicherung der Streitkräfte für die Bürgerkultur nach 1945 bedeutete. Unmittelbar damit zusammenhängend ergibt sich das Problem, wie der zeitgenössisch zeitweise ausgiebig ins Feld geführte Begriff des » Bürgerlichen « inhaltlich zu füllen sei. Folgt man der Analyse Joachim Fischers zur Begriffsgeschichte der » bürgerlichen Gesellschaft «, so umfasst » Bürgerlichkeit « dabei drei nicht aufeinander rückführbare Strukturmomente, denen gleichzeitig drei eigenständige Akteurs-
10 Vgl. vor allem Detlef Bald, The German Officer Corps: Caste or Class ?, in: Armed Forces and Society, 4/1979, S. 642 – 668; ders., Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierskorps im 20. Jahrhundert, München 1982. Vgl. für einen integrativen, generationellen Ansatz vor allem Klaus Naumann, Generale in der Demokratie. Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007.
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gruppen entsprechen: » erstens das Prinzip der kapitalistischen Unternehmung, zweitens das Prinzip des Vereins oder der selbstgesetzten geselligen Assoziation, drittens das Prinzip der selbstregulierten Welt- und Selbsterschließung. «11 Während die Bourgeoisie in weiten Teilen das Ergebnis dieses ersten Prinzips und Folge des kalkulierten Risikoeinsatzes von Kapital durch private Unternehmer ist, gehörte die durch Bildungsprozesse angestoßene und begleitete Selbst- und Weltdurchdringung, wie sie im dritten Strukturmoment enthalten ist, das Fischer anspricht, zu jenem Kerninventar, das die historische Forschung dem Bildungsbürgertum zuschreibt. Im vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist die Form, in der das gesellige Assoziations- und Vereinswesen gewissermaßen Öffentlichkeit als Substrat generiert und damit als Kern dessen, was im angelsächsischen Bereich als Civil Society und in der deutschen Forschung als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Dieses Assoziationswesen ist dabei – so die gängige Annahme – nach innen egalitär und nach außen sozial exklusiv.12 Anhand des Gesprächszirkels um Georg Picht und die Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr lassen sich in dieser Hinsicht erste Arbeitshypothesen formulieren und gleichzeitig Formen bürgerlicher Vergemeinschaftung im » nachbürgerlichen Zeitalter «13 untersuchen, deren Gegenstand die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen einer Einkapselung professioneller Gewaltausübung in modernen Gesellschaften aufwarf. Ausgangspunkt dieser Beschäftigung muss das Konzept des » Staatsbürgers in Uniform « sein, wie es vor allem mit dem Namen Wolf Graf von Baudissin verbunden ist. Der 1907 geborene von Baudissin war das einzige Kind, das aus der Ehe des preußischen Regierungspräsidenten Theodor von Baudissin und dessen Frau Elis, geborene von Borcke, hervorging. Nach dem Abitur, offenbar unschlüssig über den einzuschlagenden Werdegang, studierte er zunächst Jura, Geschichte und Nationalökonomie an der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, bevor er das Studium nach nur zwei Semestern abbrach und in die Reichswehr eintrat. Dort trat er jedoch nach nur kurzer Zeit wieder aus, absolvierte 1930 eine landwirtschaftliche Ausbildung an der Technischen Hochschule in München
11 Joachim Fischer, » In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich ? In der bürgerlichen !, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), 9 – 10 (2008), Bürger – Bürgertum – Bürgerlichkeit, S. 9 – 16, hier: S. 11 f. 12 Siehe ebd., S. 14. 13 Siehe für eine Deutung der Zeit nach 1945 als » nachbürgerlicher Epoche « etwa den Sammelband von Gunilla Budde u. a. (Hg.), Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010. Kritisch zu dieser Deutung auch der Aufsatz von Joachim Fischer (wie Anm. 11).
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und kehrte danach wieder in den militärischen Dienst zurück. Baudissin wurde 1933 zum Leutnant befördert – etwa zum gleichen Zeitpunkt, zu dem sein Vater durch die Nationalsozialisten aller Ämter enthoben wurde – und begann 1938 die Ausbildung zum Generalsstab an der Kriegsakademie in Berlin. 1939 wurde Baudissin zum Hauptmann befördert und zwei Jahre später auf Wunsch Erwin Rommels Teil des Generalstabs des Afrikakorps. Bei einem Aufklärungsflug in Tobruk geriet er in britische Kriegsgefangenschaft, die er bis 1947 im australischen Kriegsgefangenenlager Durringhill verbrachte.14 Baudissin arbeitete in diesem Lager offenbar die Idee einer Art » Kriegsgefangenenuniversität « aus, an der Kriegsgefangene Kurse in Strategie und Taktik belegen, sich aber auch auf ein (Zivil-)Leben nach dem Krieg vorbereiten konnten. Dies war möglicherweise der Grund dafür, dass ihn Axel von dem Bussche, der in das Attentat vom 20. Juli 1944 involviert gewesen war, im Oktober 1950 zu der militärischen Sachverständigentagung im Kloster Himmerod in der Eifel einlud. Von dem Bussche hatte Vorlesungen an der unmittelbar nach Kriegsende wiedereröffneten Universität Göttingen besucht und war danach Programmassistent in der Deutschen Abteilung von BBC London geworden. Nach einer Zwischenstation im Suhrkamp-Verlag war er in den Dienst des Amts Blank, des Vorläufers des späteren Bundesverteidigungsministeriums, eingetreten. Von dem Bussche hatte Baudissin insbesondere wegen dessen Beschäftigung mit Fragen wie der » Notwendigkeit nationaler Souveränitätseinschränkungen zu Gunsten eines – zunächst auf den Westen beschränkten – förderalen Europas « angesprochen.15 Vor dem Hintergrund des Koreakrieges sowie der Einrichtung einer militärisch organisierten Grenzpolizei in der DDR durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) sollte die im Kloster Himmerod einberufene Expertengruppe Möglichkeiten eines westdeutschen Verteidigungsbeitrags ausloten. Eine zunächst für den August 1950 vorgesehene Zusammenkunft im Kloster Waberberg musste kurzfristig abgesagt werden, da der NATO-Rat für den September eine Beratung über Möglichkeiten einer deutschen Wiederbewaffnung anberaumt hatte und vor allem Kanzler Adenauer die Ergebnisse dieser Diskussion abwarten wollte. Zwischen dem 5. und dem 9. Oktober 1950 tagten schließlich 15 ehema-
14 Zum biographischen Werdegang Baudissins vgl. Dieter S. Lutz, Graf Baudissin – Reformer, Wissenschaftler, Hochschullehrer, in: Hilman Linnenkamp/ders. (Hg.), Innere Führung: Zum Gedenken an Wolf Graf von Baudissin, Baden-Baden 1995, S. 11 – 19. 15 Hans-Georg Ehrhart, Militär und Gesellschaft im Kontext europäischer Sicherheit – Wie modern ist das Denken Graf Baudissins im 21. Jahrhundert ?, in: ders. (Hg.), Militär und Gesellschaft im Kontext europäischer Sicherheit, Baden-Baden 2001, S. 11 – 23, hier: S. 11.
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lige Wehrmachts-, Luftwaffenoffiziere und -generäle, sowie Admirale und Offiziere der Marine, die zuvor von der Zentrale für Heimatdienst (dem Decknamen, unter dem das Amt Blank zu dem Zeitpunkt geführt wurde) in die Eifel eingeladen worden.16 Entsprechend der vier Unterausschüsse der Tagung gliedert sich die Denkschrift, die in Himmerod entstanden war, in vier Abschnitte zu » Militärpolitischen Grundlagen und Voraussetzungen «, » Grundlegenden Betrachtungen zur operativen Lage der Bundesrepublik «, » Organisation des deutschen Kontingents « und » Ausbildung « sowie einen fünften Abschnitt über » Das Innere Gefüge «, der im vorliegenden Kontext besonders relevant ist.17 Gerade dem » Inneren Gefüge « kam insofern eine besondere Bedeutung zu, als hier die Sozialfigur des avisierten » Staatsbürgers in Uniform « ihre semantische Füllung erhielt und an dieser Stelle die Einflussnahme Baudissins am deutlichsten ablesbar ist. Die Himmeroder Denkschrift war in ihrem Grundtenor alles andere als eine vergangenheitspolitische Neuorientierung – im Gegenteil: Die Zäsur zum Nationalsozialismus sollte nicht zu scharf geraten, und eines der obersten Ziele der Programmschrift war die » Rehabilitierung des deutschen Soldaten «, eine Wendung, die sowohl die ehemaligen Wehrmachtsangehörigen als auch die Mitglieder der Waffen-SS einschloss.18 Letztere galten seit den Nürnberger Prozessen pauschal als Mitglieder einer » verbrecherischen Organisation « – eine vergangenheitspolitische Hypothek der jungen Bundesrepublik, der angesichts des informellen Einflusses der Ehemaligenorganisationen großes Konfliktpotenzial innewohnte.19 Gerade vor diesem Hintergrund spiegelt die Arbeit von Baudissins das Ringen um eine liberale bundesdeutsche Militärreform wider, die im Einzel-
16 Hans-Jürgen Rautenberg/Norbert Wiggershaus, Die » Himmeroder Denkschrift « vom Oktober 1950. Politische und militärische Überlegungen für einen Beitrag der Bundesrepublik Deutschland zur westeuropäischen Verteidigung. Karlsruhe 1985; Siehe für einen Überblick zur Himmeroder Tagung Detlef Bald, Die Bundeswehr: Eine kritische Geschichte, 1955 – 2005, München 2005, S. 28 – 37. 17 BA BW 9/3119, Über die Aufstellung eines Deutschen Kontingents im Rahmen einer Übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas. Siehe zur Himmeroder Denkschrift ebenfalls die Onlineressource des Bundesarchivs, URL: http://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_dokumente/01725/index-2.html.de, zuletzt aufgerufen am 3. 3. 2015. 18 Bald, Die Bundeswehr (wie Anm. 16), S. 30. 19 Karsten Wilke, Geistige Regeneration der Schutzstaffel in der frühen Bundesrepublik ? Die » Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS « (HIAG), in: Jan Erik Schulte (Hg.), Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009, S. 433 – 448.
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fall auch in Opposition zur tonangebenden traditionalistisch-konservativen Linie des Himmeroder Dokuments geriet. Man muss sich nicht Detlef Balds These anschließen, von dem Bussche und Baudissin hätten während der Tagung einen » Ansatz für eine demokratische Reform «20 vertreten. Es lässt sich aber festhalten, dass beide insofern in diesem Zusammenhang Außenseiterpositionen einnahmen, als sie nicht zur alten Wehrmachtsgeneralität gehörten. Beide traten insbesondere mit Bezug auf das » Innere Gefüge «, später die » Innere Führung «, für eine erzieherische Einflussnahme auf die jungen Soldatengenerationen ein. In der Erziehung zum » überzeugten Staatsbürger und europäischen Soldaten « sahen sie die Voraussetzung für eine neue deutsche Armee, die mehr sein wollte, als alter nationalkonservativer Wein in neuen Schläuchen. Obwohl das Konzept des » Staatsbürgers in Uniform « niemals eine offizielle Definition erfuhr,21 gibt die Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern von Baudissins liberaler Militärreform Aufschluss über die Frontlinien innerhalb der Debatte. Im Mai 1951 trat Baudissin als Mitarbeiter im Referat IV B 2, das zuständig für das » Innere Gefüge « war, in das sog. Amt Blank ein. Am 1. November wurde er in den Dienst des kurz zuvor neugegründeten Bundesverteidigungsministeriums (BMVg) übernommen. Als Unterabteilungsleiter mit Fragen der Inneren Führung betraut, boten sich Baudissin in dieser Zeit und auch den folgenden Jahren zahlreiche Gelegenheiten, seine Konzeption des » Staatsbürgers in Uniform « zu erläutern. Er tat dies öffentlichkeitswirksam durch die regelmäßige Teilnahme an den zu der Zeit für die Identitätspolitik der jungen Bundesrepublik überaus bedeutsamen Konferenzen und Tagungen der evangelischen Akademien wie auch in Form von Zeitschriftenartikeln, Zeitungsinterviews und Radiogesprächen. So erläuterte Baudissin in einer Ansprache im Südwestfunk am 9. Dezember 1954 die Aufgaben und Bedeutung der » Inneren Führung « vor dem Hintergrund der bevorstehenden Wiederbewaffnung. Die » Innere Führung « umfasse die gesamte geistige und sittliche Verfassung der Truppe und schaffe erst die Voraussetzungen dafür, dass Vertrauen, Verantwortungsgefühl, Kameradschaft, Disziplin und Gehorsam die Truppe in allen Situationen tragen könnten. Besonderes Gewicht maß er dabei der Erziehung der künftigen Soldaten bei, die sich am Leitbild des » Staatsbürgers in Uniform « zu orientieren habe. Dieser sei » keine Reaktion auf den militarisierten Bürger der Vergangenheit, sondern der Ausdruck für den
20 Bald, Die Bundeswehr (wie Anm. 16), S. 31. 21 Siehe jedoch die Anmerkungen in den jeweiligen Zentralen Dienstvorschriften (ZDv) 10/1 – Innere Führung, BA BWD 3/116, Zentrale Dienstvorschriften der Bundeswehr, 1972 – 2008.
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Standort, von dem aus allein der zukünftige Soldat in einer weithin veränderten Welt seine Aufgabe erkennen und erfüllen kann «.22 Die » weithin veränderte Welt « war vor allem durch das umfassende Ausmaß der Technisierung und der damit einhergehenden Komplexität neuer Formen der Kriegsführung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den Abschied von traditionalen Formen des klassischen Territorialkrieges charakterisiert. Der Koreakrieg hatte – ebenso wie die späteren » heißen Kriege im Kalten Krieg « – zu einem Paradigmenwechsel der Kriegsführung geführt, der militärische Auseinandersetzungen immer auch in ihrer Bedeutung im Rahmen eines taktischen Koordinatensystems des globalen Systemkonflikts verorteten.23 Dass ein bewaffneter Konflikt jederzeit den Anstoß für eine globale militärische Konfrontation bieten konnte, stellte den Soldaten vor ein paradoxes Dilemma: Ziel seiner Ausbildung sei es daher, das Handwerk, das er erlerne, niemals einsetzen zu müssen. Das exorbitante Vernichtungspotential der neuen Waffentechnik würde das, was er zu verteidigen habe, bereits mit großer Wahrscheinlichkeit vernichten. Diese ethische Problemlage alarmierte in der Folge vor allem Militärseelsorger und insbesondere protestantische Theologen. Gerade innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war die Beunruhigung angesichts der Wiederbewaffnung und vor der Möglichkeit atomarer Konfrontationen groß. Breite Teile der außerparlamentarischen Opposition gegen die Wiederbewaffnung und die atomare Ausrüstung der Bundeswehr ruhten in der Nachkriegszeit auf den Schulter der deutschen Barthianer.24 Die Folgen, die eine Wiederbewaffnung für die deutsche Gesellschaft haben würde, wurden in der EKD kontrovers diskutiert, ohne, dass man sich auf eine gemeinsame Linie hätte einigen können. Der Meinungspluralismus innerhalb des deutschen Protestantismus in dieser Frage – der in weiten Teilen eine erbitterte Auseinandersetzung zwischen Lutheranern und Barthianern war – brachte die EKD offenbar mehr als einmal an den Rand des Auseinanderbrechens.25
22 Rundfunkansprache zur Werbung für Wiederbewaffnung mit Innerer Führung, am 9. 12. 1954 gehalten im Südwestfunk, abgedruckt und mit Kommentaren versehen, in: Angelika Dörfler-Dierken (Hg.), Graf von Baudissin. Als Mensch hinter den Waffen, Göttingen 2006, S. 116 – 121, hier: S. 117. 23 Bruce E. Bechtol, Jr., Paradigmenwandel des Kalten Krieges. Der Koreakrieg 1950 – 1953, in: Bernd Greiner u. a. (Hg.), Heiße Kriege im Kalten Krieg, Hamburg 2005, S. 141 – 167. 24 Vgl. zur Dialektischen Theologie und Karl Barth den Aufsatz von D. Timothy Goering in diesem Band. 25 Thomas Sauer, Westorientierung im deutschen Protestantismus ? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises, München 1999, S. 25 – 51, hier: S. 42. Vgl. auch die
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zur politischen und
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Zwischen Traditionspflege
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und neuen
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sowohl militärische Kreise, insbesondere jene, die nach neuen soldatischen Leitbildern in einer demokratischen Umwelt suchten, als auch kritische Kirchen- und Universitätstheologen sich veranlasst sahen, das Konzept des Staatsbürgers in Uniform grundsätzlicher zu diskutieren. In diesem Zusammenhang ist die » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « zu sehen, die in der Zeit vom November 1959 bis August 1965 insgesamt vierzehn Mal zusammentrat. Ihr Ziel war es, das Verhältnis der Militärseelsorge zur jungen Bundeswehr auf eine tragfähige theoretische Grundlage zu stellen und zugleich als eine Art Korrektiv für die Ausformung neuer Leitbilder in der Bundeswehr zu dienen. Am Beispiel dieser Kommission sollen die aufgeworfenen Fragen nach dem Verhältnis zwischen bürgerlich-intellektuellen Kreisen einerseits und Experten professioneller Gewaltausübung in der neugegründeten Bundeswehr andererseits ausgelotet werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Militär in der alten Bundesrepublik auf ganz grundsätzlicher Ebene, gehörten doch die meisten zivilen Gesprächsteilnehmer dieses Zirkels deutschen Universitätsseminaren und Forschungsinstituten an und hatten – zumindest zur Zeit des Untersuchungszeitraumes – keine oder nur lose Bindungen zum Militär. Vordergründig stand die Kommission weder administrativ noch rechtlich in irgendeinem Zusammenhang mit dem Bundesverteidigungsministerium oder dessen Vorgängerorganisation, dem Amt Blank. Institutionell handelte es sich vielmehr um ein personell ausgelagertes langfristiges Projekt der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. Die FEST war und ist ein Institut für interdisziplinäre Forschung, das finanziert wird durch die Evangelische Kirche in Deutschland, die Landeskirchen der EKD, die evangelischen Akademien sowie den evangelischen Kirchentag und ging 1957/58 aus dem Zusammenschluss zweier kleinerer Institutionen, der Studiengemeinschaft der evangelischen Akademien Bad Boll und der Forschungsakademie Christo-
einschlägigen Dokumentensammlungen zur Auseinandersetzung innerhalb der EKD über die Fragen der Wiederbewaffnung und atomaren Aufrüstung: Christian Walther (Hg.), Atomwaffen und Ethik. Der Deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1954 – 1962. Dokumente und Kommentare, München 1982; ders./Werner Rausch (Hg.), Evangelische Kirche und die Wiederaufrüstungsdiskussion in der Bundesrepublik 1950 – 1955, Gütersloh 1978.
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pherusstift in Hemer, hervor.26 Entstanden aus der erbitterten Auseinandersetzung innerhalb der evangelischen Kirche über die Wiederbewaffnung und die atomare Aufrüstung, sollte die Forschungsstätte interdisziplinäre Forschungen fördern, die wissenschaftlichen Fragen auf der Grundlage und in Begegnung mit dem Evangelium nachgingen und sich insbesondere Problemen der modernen, technisierten Welt widmeten. Damit verbunden war die Auffassung, dass die Christen eine wichtige Verantwortung für die Gestaltung auch der politischen Welt trügen.27 In den Jahren nach deren Gründung entwickelte sich die Forschungsstätte zum ideellen und intellektuellen Schnittpunkt eines Netzwerkes, dessen einzelne Mitglieder sich in Bezug auf Einzelfragen und bestimmten Ordnungsvorstellungen voneinander unterschieden, jedoch eine gemeinsame Weltsicht teilten. Elke Seefried spricht hier im Hinblick auf die FEST mit einem bei Ludwig Fleck entlehnten Begriff von einem Denkkollektiv28. Zum engeren Umfeld der Forschungsstätte gehörten neben Carl Friedrich von Weizsäcker und Georg Picht der als Mitbegründer der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Deutschen Forschungsgemeinschaft hervorgetretene Rektor der Universität Göttingen, Ludwig Raiser, der Intendant des WDR, Klaus von Bismarck, sowie der wissenschaftliche Ziehvater Weizsäckers, Werner Heisenberg. Das Selbstverständnis und Selbstvertrauen dieser Gruppe speiste sich aus der Überzeugung, dass in der technischen Welt Wissen zu Macht und Verantwortung würden und die Erkenntnis über die möglichen Folgen dieser Macht dazu zwinge, deren Gebrauch zu begrenzen. 1959 trat die Forschungsstätte das erste Mal an eine breitere Öffentlichkeit, als Georg Picht und Carl Friedrich von Weizsäcker mit den » Heidelberger Thesen « dazu aufforderten, » die Zeit der Abschreckung zu nutzen, um die Logik und den Geist der Kriegsführung zu überwinden «29. Schon zuvor hatte Weizsäcker maßgeblich an der » Erklärung der Göt-
26 Ulrike Wasmuth, Geschichte der Deutschen Friedensforschung, Münster 1998, S. 90 ff. 27 Constanze Eisenbart, Profil eines Instituts. Friedensforschung an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, in: Wissenschaft und Frieden 11, 1993, S. 38 ff; dies., Historie, http://www.fest-heidelberg.de/index.php/ueber-uns/historie, zuletzt aufgerufen am 16. 11. 2016. 28 Vgl. grundlegend zur Rolle der FEST im Rahmen der Zukunfts- und Friedensforschung und unter besonderer Berücksichtigung Carl Friedrich von Weizsäckers die jüngst erschienene Habilitationsschrift Elke Seefrieds, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945 – 1980, Berlin/Boston 2015, S. 75 – 95, hier: S. 90 f. 29 Carl Friedrich von Weizsäcker, Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945 – 1981, München 1981, S. 88 – 94, hier: S. 93.
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tinger Achtzehn « mitgewirkt30 und sich einige Jahre später an der Erstellung des sog. » Tübinger Memorandums « beteiligt, mit dem sich Heisenberg, Picht, Raiser, aber auch Klaus von Bismarck und der Sohn des ehemaligen preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker, Hellmut Becker, gegen die atomare Ausrüstung der Bundeswehr und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie aussprachen.31 Kennzeichen dieser, von Ulrich Raullf auch als » protestantische Mafia «32 bezeichneten Gruppe um Weizsäcker, Picht u. a. war die ausgezeichnete Vernetzung innerhalb der sich neu etablierenden deutschen Wissenschaftslandschaft und die geschickte mediale Lancierung von Debattenbeiträgen und Schlagworten, die an öffentliche Auseinandersetzungen anknüpften. Die meisten Mitglieder dieses losen, aber weitläufig verzweigten Netzwerkes waren zwischen 1933 und 1945 nicht emigriert und erfuhren einen mehr oder minder nahtlosen beruflichen Übergang mit entsprechend robuster Verankerung innerhalb des Universitätsbetriebs im Nachkriegsdeutschland. Dabei kam nicht wenigen von ihnen ein Umstand zugute, den Robert Lorenz am Beispiel der » Erklärung der Göttinger Achtzehn « als eine konstruierte » Kontinuität des Verweigerns « ausmacht: Mit ihrer Aussprache gegen die atomare Ausrüstung der Bundesrepublik in der » Göttinger Erklärung « suggerierten die unterzeichnenden Wissenschaftler, dass sie schon im Nationalsozialismus eine widerständige Haltung verbunden habe – was allerdings keineswegs der Fall war. Trotz allem diente diese Protesthaltung in der Folge als Legitimationsressource.33 Gleiches gilt, wenn auch in abgeschwächter Form, für den weiteren Kreis um die Forschungsstätte in Heidelberg, der dezidierte Gegner des NS-Regimes – wie etwa Raiser – ebenso umfasste wie ausgesprochene Profiteure der nationalsozialistischen Herrschaft. Die netzförmige Struktur verschaffte den Mitgliedern dieses Kreises in öffentlichen Debatten, etwa um die Wiederbewaffnung, allenthalben einen Autoritätsvorsprung. Konkret lässt sich dies an der » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « verdeutlichen, die zwar keine administrative Verbindung zum Bundesverteidigungsministerium aufwies, in ihrer Zusammensetzung aber starke Brücken in die Reihen der Militärs wie auch in die Universitäten, insbesondere in die theologischen, historischen und soziolo-
30 Robert Lorenz, Die » Göttinger Erklärung « von 1957. Gelehrtenprotest in der Ära Adenauer, in: Johanna Klatt/Robert Lorenz (Hg.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, S. 199 – 227; Robert Lorenz, Protest der Physiker: die » Göttinger Erklärung « von 1957, Bielefeld 2011. 31 Seefried, Zukünfte (wie Anm. 28), S. 325 ff. 32 Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 484. 33 Lorenz, Protest (wie Anm. 30), S. 215.
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gischen Seminare, aufwies. Initiatoren und maßgebliche Motoren der Gespräche waren Georg Picht und Günter Howe. Der Altphilologe Picht war Leiter des Privatgymnasiums und Internats Birklehof gewesen und hatte dort das » Platon-Archiv « gegründet. 1958 hatte er die Leitung der Evangelischen Forschungsstätte übernommen und war somit auch mit den institutionellen Mitteln für die Leitung einer solchen Kommission ausgestattet. Günter Howe, Mathematiker und Physiker, war 1947 in den Dienst der Evangelischen Forschungsakademie Christopherusstift eingetreten, die in der Forschungsstätte aufgegangen war. Aus dieser Tätigkeit kannte er auch Carl Friedrich von Weizsäcker, mit dem er seit 1947 jährliche Tagungen an der Universität Göttingen abgehalten hatte, deren Ziel es war, den Dialog zwischen Theologen und Naturwissenschaftlern zu fördern, und aus denen die » Erklärung der Göttinger Achtzehn « hervorgegangen war. Der Anspruch der Kommission mit dem etwas barocken Titel war recht weit gesteckt und maß sich an dem Anspruch der FEST auf politische Mitgestaltung als Ausfluss christlicher Ethik im Allgemeinen. Er kristallisierte sich insbesondere in der Sozialfigur des Soldaten heraus und verband mit ihr ein ethisches wie ein volkspädagogisches Anliegen. Die » Aufgabe « – so Picht – liege darin, » in der politisch denkenden Öffentlichkeit und bei den Soldaten ein methodisch geklärtes Verständnis für die Probleme zu erwecken, mit denen die Bundeswehr sich auseinanderzusetzen hat. «34 Die Kommission sollte einerseits die Möglichkeiten einer verwissenschaftlichten seelsorgerischen Begleitung der Truppe ausloten, in diesem Zuge aber zugleich der Integration des Soldaten in die bürgerliche Nachkriegsordnung Vorschub leisten, indem sie neue Leitbilder kritisch hinterfragte und gesellschaftliche Problemherde identifizierte und mit politischen Handlungsempfehlungen versah. » Die wissenschaftliche Diagnose der inneren Strukturprobleme einer modernen Streitmacht und der Konflikte, die aus ihrer Eingliederung in den demokratischen Staat und in die Industriegesellschaft entspringen, ist deshalb nicht nur als Grundlage für eine moderne Militärseelsorge unentbehrlich; sie ist – recht verstanden – selbst schon » Seelsorge «, weil sie zu einer Aufklärung darüber verhilft, an welchen Stellen sich Krisenherde ausbilden können, wenn man es an der nötigen Wachsamkeit fehlen läßt. «35 Die personelle Zusammensetzung der Kommission ist recht imposant und weist vor dem Hintergrund des weitreichenden Anspruchs der Kommission eine Verteilung auf, die erste Rückschlüsse darauf zulässt, wie Picht und Howe das Unterfangen inhaltlich zu bewältigen versuchten. Die Kommission setzte sich
34 Georg Picht, Einführung, in: Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, Erste Folge, Witten/Berlin 1965, S. 7 – 31, hier: S. 23. 35 Ebd., S. 24.
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aus zwei Unterkommissionen zusammen, einer historisch-politischen und einer soziologischen, die sich die Aufgaben einer grundlegenden politischen und gesellschaftswissenschaftlichen Bestandsaufnahme der Bundeswehr und ihrer Stellung innerhalb der Bundesrepublik und des westlichen Verteidigungsbündnisses aufteilten. Die historisch-politische Unterkommission konzentrierte sich dabei schwerpunktmäßig auf die Geschichte der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik im Zusammenhang der internationalen Politik und legte besonderes Gewicht auf die Probleme von Strategie und Technik im Atomzeitalter. Mit dem » Atomzeitalter « fand ein zentrales Schlagwort aus dem Katalog der Göttinger und Tübinger Erklärungen Eingang in die Arbeit der Kommission, die sich aus den Historikern Karl Dietrich Bracher, Hans Herzfeld, Richard Nürnberger, Friedrich Hiller von Gaertingen und Erich Matthias zusammensetzte. Ihre Arbeit wurde dabei unterstützt von den Assistenten Gerhard Wettig, Alexander Fischer, Peter Pollmann und Krafft Freiherr von Schenk zu Schweinsberg, während Lothar Albertin und Rudolf von Thadden als regelmäßige Gäste an dieser Unterkommission beteiligt wurden.36 Karl Dietrich Bracher hatte sich zu dem Zeitpunkt, als sich die Kommission konstituierte, gerade bei Hans Herzfeld und Ernst Fraenkel mit einer Arbeit über die » Auflösung der Weimarer Republik « habilitiert. Er hatte damit die erste Habilitationsschrift im Fach Politische Wissenschaften in der Bundesrepublik vorgelegt und war unversehens in eine Historikerkontroverse mit Werner Conze über die Bewertung des Kabinetts Brüning und die damit verbundene Frage, ob dieses der letzte Versuch einer Rettung der Demokratie (Conze) oder bereits der Untergang der demokratischen Ordnung Weimars gewesen sei (Bracher). Herzfeld stach wegen seines höheren Alters aus der Gruppe der Historiker heraus. Er hatte die maßgeblichen akademischen Qualifikationsstufen schon in der Frühzeit der Weimarer Republik absolviert und war 1929 zum ao. Professor für Geschichte an der Universität Halle berufen worden. Nachdem er aufgrund eines jüdischen Großvaters keinen adäquaten » Ariernachweis « beibringen konnte, verlor Herzfeld im Zuge der verschärften judenfeindlichen Maßnahmen seit 1938 seine Anstellung als Hochschullehrer, fand jedoch aufgrund der Vermittlung ehemaliger Kriegskameraden Arbeit an der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres in Potsdam.37 Anders als Herzfeld (Jg. 1892) und Richard Nürnberger (Jg. 1912) gehörten Karl Dietrich Bracher (Jg. 1922), Erich Matthias (Jg. 1921), Friedrich Hiller von Gaertingen (Jg. 1923) jener Alterskohorte an, die unter
36 Ebd., S. 25. 37 Bernd Faulenbach, Hans Herzfeld, in: Rüdiger vom Bruch/Rainer A. Müller (Hg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zu Gegenwart, München 2002.
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Rückgriff auf den griffigen Titel von Helmut Schelskys Studie als » skeptische Generation « Eingang in die historische Forschung gefunden hat.38 Sie hatten den Krieg meistenteils als Soldaten an der Front erlebt und konnten daher erste wichtige Qualifikationsschritte erst in der Bundesrepublik absolvieren. Bracher diente als Soldat im Afrikakorps und es ist nicht auszuschließen, dass er dort auch die Bekanntschaft mit Wolf von Baudissin gemacht hat. Nach der Gefangennahme in Tunis erlebte er das Kriegsende in einem Gefangenenlager in Kansas und teilte auch diese Erfahrung mit Baudissin. Erich Matthias hatte sein Studium ebenfalls wegen seines Militärdienst unterbrechen müssen und wurde 1951 in Göttingen bei Werner Conze promoviert. Hiller von Gaertingen war bei Kriegsende Oberstleutnant in der Wehrmacht und nahm nach dem Krieg ein geschichtswissenschaftliches Studium in Tübingen auf, das er 1955 mit einer Dissertation bei Hans Rothfels abschloss. Diese Mitglieder der historisch-politischen Kommission wiesen nicht allein ähnliche, durch den Krieg gebrochene Biographien auf. Sie einte zudem die Tatsache, dass sie allesamt an kleinen und traditionsreichen Universitäten studiert hatten und promoviert wurden, in Heidelberg, Göttingen und Tübingen. Vermutlich schon während der Studienzeit kamen sie in Kontakt mit den Kreisen um Günter Howe und Carl Friedrich von Weizsäcker in Göttingen beziehungsweise Tübingen, aus denen die » Göttinger Erklärung « und das » Tübinger Memorandum « hervorgegangen waren. Die Historiker kannten sich aber auch aus der Arbeit in anderen Kommissionen, etwa der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, der Erich Matthias angehörte. Erich Matthias brachte zusammen mit Karl Dietrich Bracher und Rudolf Morsey die Reihe » Die Weimarer Republik « heraus. Zu der historisch-politischen Kommission gehörte neben Günter Howe folgerichtig auch Wolf von Baudissin, der seinen Posten im Verteidigungsministerium und die Mitarbeit in der Abteilung » Innere Führung « 1957 niedergelegt hatte, um als Brigadegeneral die Panzergrenadierbrigade 4 in Göttingen zu befehligen. Die soziologische Unterkommission war nicht minder hochkarätig besetzt: Sie teilte sich in zwei Untergruppen, die ihre Arbeit zwischen den Sozialforschungsstellen in Dortmund und Berlin aufteilte. In Dortmund arbeiteten der Schelsky-Schüler Jan Peter Kob und Hilmar Frank, der zeitweise unter Henning von Thadden Oberstleutnant der 1. Infanterie Division der Wehrmacht eingesetzt
38 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957; vgl. als kritische Auseinandersetzung mit der Generationentheorie: Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 8/2005, S. 3 – 9.
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war. Der Soziologieprofessor Rudorf Tartler, der nach dem Abitur Wehrmachtssoldat an der Ostfront gewesen war, hatte nach dem Krieg Soziologie, Psychologie und Philosophie an der Universität Göttingen studiert und sich anschließend ebenfalls bei Helmut Schelsky habilitiert. An der Arbeit der Kommission in Berlin beteiligte sich Ludwig von Friedeburg, der wie Bracher und Baudissin das Ende des Zweiten Weltkrieges in alliierter Kriegsgefangenschaft erlebte, nachdem er während des Krieges zum jüngsten Unterseebootkommandanten der Marine avanciert war. Friedeburg, der insbesondere aufgrund seiner Tätigkeit als hessischer Kultusminister und wegen seines Engagements für mehr Chancengleichheit im Bildungssektor bekannt ist, hatte zu dem Zeitpunkt, als er in die Kommission berufen wurde, sein Studium in Freiburg absolviert, bereits einige Jahre für das Institut für Demoskopie in Allensbach gearbeitet und war gerade als Abteilungsleiter in das Frankfurter Institut für Sozialforschung unter Horkheimer und Adorno gewechselt. Ihm zur Seite standen mit Gerhard Brandt und Albrecht Klausenitzer ehemalige Studierende aus dem Umfeld dieses Instituts sowie der Oberst a. D. Johannes von Heiseler. Die Arbeitspläne der beiden soziologischen Untergruppen sahen vor, eine Grundlagenstudie zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik auszuarbeiten.39 Problematisch erweis sich dabei insbesondere der Umstand, dass umfangreiche empirische Studien Mittel und Apparate erfordert hätten, die der Kommission nicht zur Verfügung standen. Daneben konnte die Gruppe – anders etwa als US-amerikanische Forscher – weder auf die Forschungstradition einer Militärsoziologie zurückgreifen noch auf die damit verbundenen elaborierten Methoden. Vielmehr sahen sich die Soziologen als Pioniere auf einem Feld, das im deutschen Kontext bis dato keine oder nur wenig akademische Aufmerksamkeit erfahren hatte, weswegen eine empirische Erforschung des Zusammenhangs zwischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Formen, Möglichkeiten und Problemen militärischer Organisation frühzeitig ausgeschlossen wurde. Stattdessen sollten die soziologischen Arbeitsgruppen zunächst einmal die wissenschaftlichen Voraussetzungen schaffen, auf denen solche empirischen Studien in der Zukunft aufzubauen hätten. Eine Gesamtkommission, der Helmut Schelsky, Helmut Becker, Oberst i. G. Dr. Wolfgang von Groote und Oberst i. G. Dr. Eberhard Wagemann angehörten. Koordinierte die beiden Unterkommissionen und stand ihnen ggf. beratend zur Seite. Sowohl von Groote als auch Wagemann hatten nach dem Krieg in Göttingen studiert, beide waren 1956 in den Stab des Bundesverteidigungsministeriums übernommen worden und hatten später an Führungsakademien der Bundeswehr
39 Picht, Einführung (wie Anm. 34), S. 25.
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gelehrt. Die militärseelsorgerischen Aspekte der Kommissionsarbeit wurden vom Militärbischof Hermann Kunst und dem Militärdekan Albrecht von Mutius begleitet. Bei dieser knappen Übersicht der Mitglieder der Kommission sticht ihre relative Homogenität ins Auge. Die Kommissionsmitglieder waren fast ausnahmslos eng in den frühen 1920er Jahren geboren. Sie verfügten mit wenigen Ausnahmen über militärische Erfahrung, waren zum überwiegenden Teil am Ende des Zweiten Weltkriegs im Offiziersrang und Kriegsgefangene. Nach dem Krieg hatten sie an den kleinen Traditionsuniversitäten, die relativ rasch nach Kriegsende den Lehrbetrieb wieder aufgenommen hatten, ihre Studien begonnen und hatten diese mit Promotionen abgeschlossen und sich teils schon habilitiert. Ihre akademischen Lehrer – wie etwa Herzfeld oder Schelsky, die teilweise selbst der Gesamtkommission angehörten – hatten indes höchst unterschiedliche Haltungen während der nationalsozialistischen Herrschaft eingenommen. Herzfeld, der seine Professur verloren hatte, war dabei untypisch für die Gesamtgruppe, deren Mitglieder sich vornehmlich als soldatisch-unpolitisch begriffen oder eine pragmatisch-opportunistische Einstellung zum Nationalsozialismus eingenommen hatten. So konnte etwa Helmut Schelksy ohne größere Verwerfungen seine Karriere an den Universitäten des Dritten Reichs verfolgen.40 Gerade vor diesem Hintergrund verblüfft die Beteiligung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zunächst. Den Gruppenleitern Picht und Howe war klar, dass man eine soziologische Perspektive einnehmen musste, wollte man nicht von vornherein methodisch hinter US-amerikanische Entwicklungen auf dem Bereich der Militärsoziologie zurückfallen. Es war jedoch keinesfalls die erste Beteiligung der Frankfurter Soziologen an der Klärung der Frage, wie der zukünftige deutsche Soldat ausgebildet und in die freiheitlich-demokratische Gesellschaftsform der Bundesrepublik integriert werden sollte. Bereits im Amt Blank hatte man Überlegungen in diese Richtung angestellt. Zu diesem Zweck war im September 1952 das sogenannte Studien-Bureau gegründet worden, dessen Zweck die Wahrnehmung von Außenkontakten des Amts Blank zu wissenschaftlichen und ausländischen Organisationen sein sollte. Die Aufgabe des Studien-Bureaus lag insbesondere darin, den Fachreferaten zuzuarbeiten sowie Gutachten und wissenschaftliche Expertisen zu den Themengebie40 Vgl. zur wechselvollen Entwicklung Schelskys jüngst Alexander Gallus (Hg.), Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe, Göttingen 2013; als Überblick: Dirk Kaesler, Schelsky, Helmut Wilhelm Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 22, Berlin 2005, S. 659 – 661 (auch online einsehbar unter http://daten.digitalesammlungen.de/0001/bsb00016410/images/index.html?seite=673, zuletzt aufgerufen am 1. 3. 2016).
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ten Personalwesen, Unterricht und Information, Ausbildung und Organisation sowie zur Betreuung der Truppe zu liefern. Das Studien-Bureau, dessen Leitung Joseph Pfister überantwortet wurde, geriet teils durch administrative Doppelungen innerhalb der Aufgabenfelder, teils durch die immense Organisationstätigkeit Pfisters in direkte Konkurrenz zur Abteilung » Innere Führung « unter der Leitung Baudissins. Während Baudissin sich im Bundesverteidungsministerium gegen die Traditionalisten zur Wehr zu setzen hatte, nahm Pfister rasch Kontakt zu Universitätspsychologen auf, um die Personalauswahl während des Aufbaus der Bundeswehr rasch zu professionalisieren und an psychologischen Kriterien der Personalauslese zu orientieren, um unter allen Umständen eine Rückkehr zu alten Formen einer deutschen Wehrpsychologie zu verhindern. In diesem Zusammenhang hatte Pfister auch Theodor Adorno in die Planungen einbezogen, der für die Gruppenstudien und vor allem die Arbeiten zum » autoritären Charakter « Fragebögen entwickelt hatte, anhand derer Bewerber für die Offiziersränge der Bundeswehr schon bei den Auswahlgesprächen auf ihre demokratische Gesinnung und politische Eignung für den Militärberuf innerhalb einer demokratischen Ordnung hin überprüft werden sollten.41 Die Fragebogenmethode stieß sowohl im Referat » Innere Führung « unter Baudissin, als auch im Personalgutachterausschuss der Bundeswehr, dem neben vielen Mitautoren der Himmeroder Denkschrift auch der Göttinger Pädagoge und Vorstandsmitglied der Internatsvereinigung der » Hermann-Lietz-Schulen « Erich Weniger angehörte, auf Ablehnung. Nach harten internen Auseinandersetzungen verständigte man sich im Verteidigungsministerium darauf, von der als zu modern, zu akademisch und zu psychologisch wahrgenommenen Fragebogenmethode zur Personalauswahl Abstand zu nehmen und stattdessen bei der Rekrutierung der Soldaten und Offiziere der neugegründeten Bundeswehr auf die traditionelle Form des » persönlichen Gesprächs « zurückzugreifen. Für Johannes Platz war dies eine verpasste Chance zur Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Personalführung innerhalb des deutschen Militärs.42 Gleichzeitig war dieses Scheitern aber auch darauf zurückzuführen, dass es den beteiligten Universitätspsychologen und -soziologen nicht gelang, sich auf eine gemeinsame wissen-
41 Zur Arbeit des Studienbureaus und der Beteiligung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung vgl. die gewinnbringende Arbeit von Johannes Platz, Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demokratie in der frühen Bundesrepublik 1950 – 1960, Diss. Trier 2012, S. 142 – 235. Online unter http://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00016410/images/index.html?seite=673; zuletzt aufgerufen am 17. 2. 2016. 42 Siehe ebd., S. 230 – 235.
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schaftliche Basis zu verständigen. Dies war mit Blick auf die beteiligten Akteure nicht weiter überraschend, gehörten dazu doch so unterschiedliche Wissenschaftler, wie Adorno oder der remigrierte Universitätpsychologe Curt Bondy einerseits, und dezidiert charakterologisch arbeitende etablierte Militärpsychologen wie Philip Lersch andererseits.43 In der Tat spricht vieles dafür, die Zusammensetzung der Kommission und deren Arbeit selbst als nachholenden Versuch für eine grundlegende wissenschaftliche Klärung und Durchdringung militärischer Erziehungs- und Sozialisationsbedingungen zu lesen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Antworten die beteiligten Soziologen, Historiker und vor allem Pädagogen auf die Herausforderung formulierten, professionelles Gewalthandelns in demokratischen Gesellschaften zu integrieren.
I nhaltliche G rundlinien
der
Kommissionsarbeit
» Es besteht […] die große innere Schwierigkeit, daß die Streitmacht sich auf ein Ereignis vorbereiten muß, dessen Eintreten sie doch verhindern soll, und daß sie es um so besser verhindert, je kräftiger, entschlossener und genauer sie sich darauf vorbereitet. Diese Spannung muß ausgehalten werden … Die Menschheit kann heute nichts Schlimmeres tun, als Krieg zu führen. Wenn der deutsche Soldat sich dennoch auf einen Krieg vorbereitet, geschieht das gerade in entschiedener Verneinung des Krieges, aus bitterer Notwendigkeit. Das muß er wissen, und die Bürger müssen wissen, daß sich der Soldat in dieser Anschauung nicht von ihnen unterscheidet. «44
43 Philipp Lersch gehörte mit seiner 1932 publizierten Habilitationsschrift zu den entschiedensten und frühesten Verfechtern einer auf charakterologischer Grundlage operierenden Ganzheitspsychologie und hatte sich schon früh für genuin nationalsozialistische Erziehungskonzeptionen engagiert. Insbesondere seine Stellungnahmen gegen die berühmte Anti-Euthanasie Predigt des Münsteraner Kardinals von Galen weisen ihn als Verfechter erbbiologischer Auslesekriterien aus. In der Tat spricht einiges dafür, seine Arbeit zum » Aufbau des Charakters «, die 1938 zum ersten Mal publiziert und bis 1970 weitere zehn Mal aufgelegt wurde, als bildungsbürgerlichen Versuch einer Anverwandlung an die nationalsozialistische Erziehungsideologie zu lesen. Zu Lersch, dessen Stellung innerhalb des NS bislang nur unzureichend untersucht wurde, vgl. vor allem Klaus Weber, Vom Aufbau des Herrenmenschen. Philipp Lersch – Eine Karriere als Militärpsychologe und Charakterologe, Pfaffenweiler 1993. 44 Soldatische Pflicht, hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Führungsstab der Bundeswehr I, o. O., o. J., S. 15.
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Der kurze Abschnitt aus einer Weisungsbroschüre des Verteidigungsministeriums, die sowohl für den Gebrauch innerhalb der Truppe als auch für die breitere Zirkulation in zivilen Kreisen konzipiert worden war, spitzt die Besonderheit des Soldatischen auf das Dilemma zu, sich auf kriegerische Auseinandersetzungen vorzubereiten, die es in erster Linie zu verhindern galt. Interessant ist an diesem Punkt, dass die Verfasser der Broschüre es eigens für notwendig erachten, auf den Umstand hinzuweisen, dass sich der Soldat in der Ablehnung des Krieges eben nicht von der Zivilbevölkerung unterscheide. Einerseits verweist diese Klarstellung auf eine Technisierung des Krieges, die die Bundeswehr wie alle militärischen Organisationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf paradoxe Grundlagen und vor schwerwiegende Entscheidungskonstellationen gestellt hatte.45 Konkreter jedoch verweist der Abschnitt auf die Frage nach dem Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik. Im Folgenden soll ein knapper Überblick über die inhaltlichen Aspekte der Kommissionsarbeit helfen, deren Reichweite und Perspektive auszuloten und nach verbindenden Elementen zu suchen. Leitmotiv aller Beiträge der Kommission war die Frage nach dem Verhältnis zwischen militärischer und ziviler Sphäre. Ludwig von Friedeburg etwa beschäftigt sich dabei auf einer grundsätzlichen Ebene mit der Rolle, welche die Bundeswehr in den Augen der Bundesbürger spielen könne. Gerade die überkommene Vorstellung der Armee als » Charakterschule der Nation « kollidiere dabei sowohl mit » den Erfordernissen einer modernen Gesellschaft « als auch mit » den Aufgaben einer technischen Armee «46. Umfragen des Allensbacher Instituts für Demoskopie aus dem Frühjahr 1956 zufolge, war es der Wunsch der Mehrheit, dass bei der Organisation der neuen Streitkräfte vornehmlich an die Erziehung der jungen Männer anstatt an die militärische Selbstverteidigung gedacht werden sollte: » Denn die heutige Jugend brauche das Militär, da werde ihr Ordnung und Anstand beigebracht. «47 Ein Mitarbeiter des Allensbacher Instituts sagte daher in einem kommentierenden Artikel voraus, dass die » Mehrheit der Bevölkerung, auch diejenigen, der es gegenwärtig nicht opportun erscheint, daß die Bundesrepublik eine Armee besitzt, …
45 Michael Salewski/Ilona Stölken-Fitschen (Hg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994; vor allem den Beitrag von Heinrich Walle, Technikrezeption der militärischen Führung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, S. 93 – 119. 46 Ludwig von Friedeburg, Zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der Bundesrepublik, in: Georg Picht (Hg.), Studien zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr, Zweite Folge, Witten/Berlin 1966, S. 10 – 66, hier: S. 28. 47 Ebd.
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sich schnell mit den Tatsachen befreunden « werde – und dies um so schneller, » je deutlicher sie in dem Gefühl bestärkt wird, daß die Armee eigentlich nichts mit Krieg und Verteidigung zu tun habe, sondern in erster Linie dazu diene, Nachhilfestunden in den Disziplinen zu erteilen, die bei der Erziehung im Elternhaus zu kurz kamen. «48 Friedeburg sieht darin vor allem die vertrauten Vorurteile der älteren Generation gegenüber der zu allen Zeiten angeblich verwahrlosten jüngeren Generation. Er bemerkt allerdings dazu, dass die Einschätzung der Bundeswehr als Erziehungsinstanz auch von Angehörigen der jüngeren Generation positiv hervorgehoben werde, worin er ein » Zeichen der überstarken Anpassungsbereitschaft dieser keineswegs rebellischen oder skeptischen, sondern eher gefügigen Generation « entdeckt, » die sich ihre Situation durchweg von der Erwachsenengesellschaft nicht nur präformieren, sondern auch interpretieren « lasse.49 Dies verwundere umso mehr, als die Jugend dem Dienst in der Bundeswehr recht eigentlich mit gemischten Gefühlen gegenüberstehe, die Erfahrung von Kameradschaft und das Herauskommen aus dem familiären Lebensbereich zwar schätze, den vermeintlichen Nachhilfeunterricht in Zucht und Ordnung aber keineswegs vermisse, auch rückblickend auf die absolvierte Dienstzeit nicht. Insgesamt plädiert auch Friedeburg für eine Abkehr von überkommenen Vorstellungen der Armee als Charakterschule für das bürgerliche Leben, sei doch der Gegensatz zwischen Militär und Zivilleben in seinem Grundsatz unaufhebbar und bleibe dies auch auf lange Sicht. Dennoch müsse die Bundeswehr an ihrem Anspruch festhalten, auf die Psyche und den Charakter ihrer Soldaten einzuwirken, sollten diese den Ansprüchen technisierter Konflikte genügen. Konkreter formuliert Johannes v. Heiseler diesen Anspruch in seinem Beitrag zum Einfluss der Technisierung auf die Sozial struktur des modernen Militärs. Von Heiseler bedient sich dazu des Begriffs der » Haltungsdisziplin « und meint damit die Notwendigkeit, dass Soldaten darauf eingestellt sein müssten, » einen gegebenen Befehl nach einem festgelegten Schema automatisch durch eine bestimmte Reaktion zu beantworten. «50 Entkleidet vom Weberianischen Vokabular umfasst dies nichts weiter als die Notwendigkeit des Drills, die auch in der technisierten Armee nicht entfalle, denn gerade wenn der technische Apparat infolge einer Fehlfunktion oder durch Sabotage
48 Gerhard Schmidtchen, Wozu dient eine Bundeswehr ?, in: Der Spiegel 29/1956, S. 30. 49 Ebd., S. 29. 50 Johannes v. Heiseler, Militär und Technik. Arbeitssoziologische Studien zum Einfluß der Technisierung auf die Sozialstruktur des modernen Militärs, in: Picht (Hg.), Stu dien zur Bundeswehr, Zweite Folge (wie Anm. 46), S. 66 – 158, hier: S. 118.
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einmal versage, erhalte die » Haltungsdisziplin « ihre volle Funktion zurück. Drill sei daher auch unter den gegebenen Umständen unverzichtbar. Von Heiseler beschreibt eine zentrale Form dieser Erziehungstechnik am Beispiel des sogenannten » Maskenballs «: » Die im Arbeitsanzug auf dem Hof angetretenen Rekruten der Ausbildungskompanie erhalten den Befehl, innerhalb einer sehr kurz bemessenen Zeit sich umzuziehen und im Dienstanzug wieder anzutreten. Die angegebene Zeit ist so knapp, daß von vornherein gewiß ist, daß nur wenige in dem Gedränge, das nun entsteht, rechtzeitig fertig werden können. Ein guter Teil der Rekruten braucht zu lange, und so wird die ganze Kompanie wieder auf ihre Stuben geschickt, um diesmal im Kampfanzug mit Sturmgepäck, im Ausgehanzug, im Sportanzug etc. wieder auf dem Hof zu erscheinen. Das wird solange fortgesetzt, bis etwa alle zur gleichen Zeit wiederkehren und der Vorgesetzte den Eindruck hat, daß sich nun alle Mühe geben, den Befehl so gut wie möglich auszuführen, ohne weiter darüber nachzugrübeln. «51
Dadurch lernten die Rekruten nicht nur, Befehlen rasch Folge zu leisten und in der Aufregung die Ruhe zu bewahren, sondern sie würden auch an die militärische Ordnung herangeführt und begännen, sich gegenseitig zu disziplinieren.52 Entscheidend sei aber der Umstand, dass diese Form der Haltungsdisziplin zwar in der technisierten Armee noch notwendig sei, aber eben die Reservestrategie für den Ausnahmezustand darstelle. Das System der unbedingten, direkten Herrschaft über Menschen, » dessen das notwendig auf Ausfall hin konstruierte Militär letzten Endes für bestimmte Situationen immer bedarf, wird im Interesse der dort Herrschenden auch da bestätigt, wo es dem militärischen Interesse zuwiderläuft. «53 Den gewichtigsten Beitrag leistete, sowohl was den Umfang als auch die Formulierung politischen Handlungsbedarfs anbelangte, Gerhard Brandt, der in seiner Studie über Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik den Hoffnungen auf eine zeitlich und finanziell begrenzte Phase der Aufrüstung eine klare Absage erteilte: » Die Rüstungspläne der frühen fünfziger Jahre waren in der Bundesrepublik wie in anderen Staaten auch von der Vorstellung bestimmt, der Aufbau bewaffneter Streitkräfte ließe sich während eines begrenzten Zeitraums bewälti-
51 Ebd. 52 Vgl. zu weiteren Praxen einer » modification of the self « (Goffman) im deutschen Militär: Ulrich vom Hagen, Homo militaris. Perspektiven einer kritischen Militärsoziologie, Bielefeld 2012, S. 246 – 270, hier: bes. S. 256. 53 V. Heiseler, Militär und Technik (wie Anm. 50), S. 154.
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gen, nach dessen Abschluß nur die Erhaltung der Streitkräfte wesentliche Aufwendungen verursachen würde. Weder läßt sich aber das Rüstungsprogramm, wie sich inzwischen gezeigt hat, zeitlich noch, was sein Ausmaß angeht, eindeutig fixieren. […] Aus einer zeitlich und finanziell begrenzten Aufrüstung, wie sie die politische und militärische Führung noch Mitte der fünfziger Jahre konzipiert hatte, ist ein Rüstungswettlauf ohne Ende geworden «.54 Dass es im Zuge dieser Erkenntnis jedoch nur zu einer sehr eingeschränkten Rüstungsproduktion im Verlauf der 1950er Jahre gekommen sei, erklärt Brandt aus der » Reformulierung der militärischen Konzeption im Einklang mit funktionalen Erfordernissen der kapitalistischen Wirtschaft. «55 Anders formuliert: Die Phase wachsenden Wohlstands und der annähernden Vollbeschäftigung während der sogenannten Wirtschaftswunderjahre hätten gerade zu einer Eindämmung der Rüstungsproduktion geführt, die eben gerade nicht als Instrument der Konjunktur- und Strukturpolitik gedient und dazu beigetragen habe, Nachfragelücken zu schließen. Ganz im Gegenteil, die Privatwirtschaft habe sich gegen staatliche Bevormundung auf dem ökonomischen Sektor mit dem Verweis auf Vollbeschäftigung und Generierung von Wohlstand als innenpolitischem Faktor erfolgreich zur Wehr gesetzt. Mit der Diagnose richtet sich die Kommission dezidiert gegen die Vorwürfe sozialistischer und vor allem ostdeutscher Autoren, die eigentliche Funktion der Rüstungspolitik sei es, die institutionelle Ordnung der kapitalistischen Gesellschaft zu erhalten.56 Insgesamt zeichnen sich die Studien, die aus der Arbeit der Kommission heraus entstanden sind, durch einen gemeinsamen kritisch-produktiven Grundton aus, dessen Tenor – die Bedeutung der deutschen Streitkräfte in ihrem politischen Verhältnis zur Westbindung und dem transatlantischen Militärbündnis zu konturieren – durchaus interventionistischer Art ist. Handelt es sich doch nicht zuletzt um die Zusammenarbeit institutionell sehr diverser aber in ihrer politischen Grundlinie relativ einmütiger Akteure aus den wissenschaftlichen Disziplinen der Soziologie, Geschichtswissenschaft, Philosophie, Theologie, Pädagogik und Psychologie, die im englischen Sprachraum als human sciences firmieren. Dabei treten alle Autoren für eine mehr oder weniger tiefgreifende Wehrreform ausdrücklich als Teil eines gewandelten Bildungsverständnisses ein. Der Wandel
54 Gerhard Brandt, Rüstung und Wirtschaft in der Bundesrepublik, in: Georg Picht (Hg.), Studien zur Bundeswehr, Dritte Folge, Witten/Berlin 1966, S. 231. 55 Ebd., S. 342. 56 Horst Hemberger, Rüstungswirtschaft in Westdeutschland: Probleme der Militarisierung der Wirtschaft in Westdeutschland, Berlin 1963; Fritz Vilmar, Rüstung und Abrüstung im Spätkapitalismus, Materialien und Analysen, Frankfurt a. M. 1965.
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kriegerischer Auseinandersetzungen im technischen Zeitalter erfordere eine Anpassung der militärischen Erziehungsmethoden, so die einhellige Überzeugung. Wenn die militärische und die zivile Sphäre auch weiterhin als getrennte zu denken seien, so finde doch eine Annäherung der beiden in der Figur des » Staatsbürgers in Uniform « statt, die Bildung der Soldaten ließe sich so als Spezialfall der Erwachsenenbildung begreifen. Es ist schwerlich ein Zufall, dass hier eines der Hauptergebnisse der Kommissionsarbeit liegt was für die Frage nach Form und Funktionsweise von Netzwerken sicherlich bedeutsam ist. Die » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « erweist sich in diesem Punkt nämlich als ein Netzwerk mit außerordentlicher historischer Tiefenstruktur. Schützenhilfe, um im Bild zu bleiben, erhielt die Kommission in ihrer kritischen Befürwortung des Leitbildes eines » Staatsbürgers in Uniform « nämlich nicht nur von Erich Weniger, der als Mitglied des Personalgutachterausschusses wenige Jahre zuvor noch die Vorschläge des Frankfurter Instituts für Sozialforschung bzgl. einer zu professionalisierenden Personalauswahl abgelehnt hatte, sondern auch und schon im Vorfeld von Werner Picht. Der Vater Georg Pichts zählte während der 1920er Jahre zu den führenden Theoretikern der Erwachsenenbildung und war im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Referent für das Volkshochschulwesen unter Robert von Erdberg. Beide, Werner Picht und Robert von Erdberg, gehörten 1923 zum Initiatorenkreis des » Hohenrodter Bundes «57: Dieser informelle Gesprächszirkel, an dem sich Teilnehmer nur auf Einladung hin beteiligen konnten, verstand sich als ein Forum für Theoriedebatten, das die in die Krise geratene Erwachsenenbildung zu reformieren helfen sollte. Bezeichnend war dabei die starke Orientierung an der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende sowie die starke Fokussierung auf überschaubare » Erziehungsgemeinschaften «, die » Volksbildung als Volkbildung « vorwegnehmen sollten. Werner Picht, der während des Zweiten Weltkrieges für das Oberkommando der Wehrmacht Propagandaberichte über die Feldzüge in Polen, Norwegen und Russland
57 Robert von Erdberg (*1866) und Werner Picht (*1887) gehörten der sog. Berliner Richtung innerhalb des Hohenrodter Bundes an. Während Reformer um Erdberg und Picht die Verwissenschaftlichung, Professionalisierung und mitunter Akademisierung der Erwachsenenbildung forderten, setzte sich die sog. Thüringer Richtung um Wilhelm Flitner, Hermann Herrigel und Erich Weniger für eine romantisierende und am Individuum ausgerichtete » Volksbildung « ein. Zum Hohenrodter Bund vgl. Jürgen Henningsen, Der Hohrenrodter Bund. Zur Erwachsenenbildung der Weimarer Zeit, Heidelberg 1958; sowie Josef Olbrich, Geschichte der Erwachsenenbildung in Deutschland, Opladen 2001, S. 200 – 216, insbesondere S. 208 f.
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verfasst hatte und sich auch sonst einschlägig zum Bild des nationalsozialistischen Soldaten geäußert hatte58, nahm daher auch keine ganz eindeutige Position zum neuen Leitbild des » Staatsbürgers in Uniform « ein. In unmissverständlicher Apologie deutschen Soldatentums ist er skeptisch gegenüber einer funktionalen Auffassung des Militärs als Garant politischen Friedens. » Im Zeitalter des Soldaten «, das Werner Picht nicht genauer datiert, als dessen Ende man aber den Mai 1945 annehmen darf, » trug das Soldatentum seinen Sinn in sich selber. Wo immer es in reiner Form erscheint, geht es im letzten nicht um die Schaffung einer Kriegsmaschine, sondern um die Gestaltwerdung einer inneren Haltung. […] Als Personifikation eines Wertungs- und Lebenswillens gewann das Soldatentum in der kategorischen Eindeutigkeit seiner inneren und äußeren Haltung eine Vorbildlichkeit und Bildungswirklichkeit weit über die Armee hinaus. «59 Picht macht keinen Hehl daraus, dass er die Idee des Bürgersoldaten für verfehlt hält, wenn damit gemeint sein soll, die Barriere zwischen der militärischen und der zivilen Lebenswelt einzuebnen. Vielmehr nähert er sich dem Phänomen von einer gesellschaftstheoretischen Seite, wenn er betont, dass die Technisierung des Krieges und nicht das Leitbild des » Staatsbürgers in Uniform « das eigentlich Neuartige an der aktuellen Lage sei: » In dieser wehrgeschichtlichen Situation und nicht in gedanklichen Konstrukten liegt das › Neue ‹. Ihr hat der Nachfolger des Soldaten zu entsprechen, wie denn jeder soziologische Typus zwar in den Rahmen des ihn tragenden gesellschaftlichen Gesamtzustandes eingepaßt sein muß, aber seine Profilierung nicht durch die allgemeinen Gegebenheiten erhält, sondern durch die ihm eigentümliche Lage und Aufgabe.60
Fazit Wollte man Jürgen Frese folgend annehmen, dass Grund wie Folge für Intellektuellen-Assoziationen im » Zuwachsen von Möglichkeiten […] andere zur Erfüllung ihres Willens zu zwingen «, also in der » Akkumulation von Macht in
58 Werner Picht, Die Wandlungen des Kämpfers. Berlin 1938; ders., Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Wahrheit u. Lüge über den September-Feldzug 1939, Hamburg 1939; ders., Der soldatische Mensch, Berlin 1940; ders., De Waarheid marcheert … Op grond van officieele gegevens samengesteld, › s-Gravenhage 1940; ders., La Fin des illusions, Bruxelles 1941. 59 Werner Picht, Staatsbürger in Uniform ? Analyse eines Leitbildes, in: Neue Gesellschaft 2, 1955, Heft 2, S. 53 – 61, hier: S. 60, Hervorhebungen im Original. 60 Ebd.
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einem Machtfeld «61 liegen, dann handelte es sich bei der » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « nur in einem sehr eingeschränkten Sinne um eine solche Intellektuellen-Verbindung. In der Tat lassen sich keine direkten Konsequenzen der Kommissionsarbeit ausmachen. Sie formulierte keine administrativen Handlungsanweisungen und war noch nicht einmal organisatorisch jenen maßgebenden Institutionen unterstellt, die solche Direktiven hätten formulieren können, namentlich etwa dem Bundesministerium der Verteidigung oder dem Wehrbeauftragen des Bundestages. Allerdings griffe eine rein funktionalistisch verstandene Definition des Netzwerkens als Machtressource insbesondere mit Blick auf Intellektuellen-Assoziationen zu kurz. Zweifelsohne lässt sich konstatieren, dass ähnlich wie in anderen Formen der intellektuellen Vergemeinschaftung in Kreisen, Bünden oder Netzwerken und unabhängig vom Grad der Institutionalisierung, der Offenheit oder Geschlossenheit dieser Assoziation das Gespräch bzw. der Gedankenaustausch im Zentrum auch dieser intellektuellen Gruppenbildung stand.62 Die Form, in der die » Kommission zur politischen und gesellschaftlichen Situation der Bundeswehr « sich über ihren Gegenstand – nämlich die Einhegung militärische Gewaltanwendung in modernen Gesellschaft – austauschte, ist selbst eine Form ostentativer Beharrung auf jenem sozial elitären bürgerlichen Assoziationswesen, das vor dem Leitbild einer liberalen Massengesellschaft nach 1945 zumindest anachronistisch wirkte. In der Krisendiagnostik des Technischen Zeitalters stellte die Verhandlung über notwenige Wandlung des Militärischen zu einem nicht geringen Teil eben auch die Verhandlung darüber dar, was in Zukunft noch unter dem Staatsbürger im Allgemeinen und dessen Bürgerlichkeit im Besonderen zu verstehen sei. Gegen die Verfallsthese vom Ende der Bür gerlichkeit63 nach 1945 hat Manfred Hettling zuletzt die Ressourcen des Bürgerlichkeitskonzepts für die bundesrepublikanische Nachkriegszeit hervorgehoben und dies dezidiert im Rückgriff auf ein Bürgerkonzept des 19. Jahrhunderts, das sittlich-moralische Fähigkeiten und politische Partizipation in einen engen Wir-
61 Jürgen Frese, Intellektuellen-Assoziationen, in: Richard Faber/Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 441 – 462, hier: S. 442 f. 62 Siehe dazu die Typologie bei Wolfgang Eßbach, Intellektuellengruppen in der bürgerlichen Kultur, in: Faber/Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde (wie Anm. 61), S. 23 – 36. 63 Hannes Siegrist, Ende der Bürgerlichkeit ? Die Kategorien » Bürgertum « und » Bürgerlichkeit « in der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode, in: Geschichte und Gesellschaft, 20, 1994, S. 549 – 583.
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kungszusammenhang stellte.64 Nachdem schon der Eskapismus des unpolitischen Bürgers im 19. Jahrhundert zu einem allmählichen Abschälen der politischen Bestimmung von Bürgerlichkeit geführt habe, hätten vor allem konservative Intellektuelle wie Hans Freyer, Friedrich Meinecke und Carl Schmitt das verbliebene Potenzial von Bürgerlichkeit auf ein reines Bildungsideal reduziert. Doch gerade darin erkennt Hettling den Grund dafür, dass » Fundamente vergangener Bürgerlichkeit « in der frühen Bundesrepublik überdauern und in eine » Neugründung von Bürgerlichkeit « einfließen konnten.65 Gewissermaßen als eine Art Synthese zwischen » Staatsbürgerlichkeit, persönlicher Selbstständigkeit und sozioökonomischer Fundierung «.66 In der Tat beschriebe diese Trias an Eigenschaften wenn auch sehr abstrakt so doch nicht minder treffend den Anforderungskatalog an den » Staatsbürger in Uniform «. Es ist sinnvoll, an dieser Stelle nochmals die unterschiedlichen Dimensionen desjenigen zu unterscheiden, was in der Kommission und auch in der öffentlichen Bewertung ihrer Arbeit als » bürgerlich « verhandelt wurde: Es ging darin weniger um Erwägungen kapitalistischer Risikounternehmungen, wie sie kennzeichnend für die Sozialformation der Bourgeoisie wären. Im engeren Sinne verhandelte der Zirkel um Georg Picht nichts geringeres als die Frage danach, inwieweit kritische Selbst- und Weltbildung und mithin ein bildungsbürgerliches Konzept von Selbstführung institutionell innerhalb der neu aufzustellenden Bundeswehr verankert werden könne. Staatsbürgerlichkeit hatte hier weniger die kühle, funktionalistisch zivilgesellschaftliche Färbung, die der Begriff insinuierte, sondern war als bildungsbürgerliches Unterfangen der Selbsterziehung zu lesen und damit eingelassen in eine Tradition der Staatsidee als Erziehungsprogramm, die weit in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Nicht allein dieser Umstand wirft ein Schlaglicht auf die politische Funktion konservativer Bürgerlichkeit in der Nachkriegszeit. Angewandt auf den Soldatenberuf, der ja seinerseits wiederum stellvertretend für die Sphäre des jungen, männlichen Erwachsenen stand, verhieß » Bildung « einen Distinktionsanker gegen gesellschaftliche » Vermassung « einerseits und pessimistisch wahrgenommene » Kleinbürgerlichkeit « auf der anderen Seite und stellte damit ein Sicherheitsversprechen in den gesellschaftlichen Ordnungsverschiebungen seit 1945 dar. Anders ließe
64 Manfred Hettling, Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland nach 1945, in: ders./ Bernd Ullrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 7 – 37. 65 Ebd. Vgl. kritisch dazu: Habbo Knoch, » Mündige Bürger «, oder: Der kurze Frühling einer partizipatorischen Vision. Einleitung, in: ders. (Hg.), Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren, Göttingen 2007, S. 9 – 56, hier: S. 25 ff. 66 Knoch, » Mündige Bürger « (wie Anm. 65), S. 26.
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es sich auch nicht erklären, dass Werner Picht in seinem Lob des Soldatischen gleichzeitig eine Generalverurteilung der Jugend der 1950er Jahre einzuflechten vermag, wenn er diese wegen ihres » Hang[s] zu politischer Abstinenz, Mangel[s] an Gemeinsinn, der Scheu vor verantwortlicher Einordnung, dem Fehlen eines Bemühens um sachlich begründete Urteilsbildung [und] der Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden «67 schalt. Es ist daher symptomatisch, dass sich die Kommission um Georg Picht in Form des intellektuellen Gesprächszirkels aus Honoratioren und (ehemaligen) Militärs eine dem Gesprächsinhalt mehr als angemessene und dezidiert bürgerliche äußere Form gegeben hat. Die Verbindungen der einzelnen Mitglieder untereinander reichen dabei von abgelegten Abhängigkeitsverhältnissen akademischer Lehrer-Schüler-Beziehungen über Kameradschaftsbande aus den ehemaligen Divisionen der Wehrmacht bis hin zu Konkurrenzverhältnissen akademischer Natur, kristallisieren sich aber alle mehr oder minder um die Forschungsstätte der evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg (FEST). Wenn auch nur schwerlich von einem direkten Machtzuwachs der einzelnen Mitglieder in einem direkten Sinne gesprochen werden kann, so gehört zu den Merkmalen dieser Form der intellektuellen Vernetzung doch die Tatsache, dass durch diese Kooperation die Sichtbarkeit auch anderer Debattenbeiträge ihrer Mitglieder ungemein erhöht wurde. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das vermeintlich wirkungslose, weil ohne direkte administrative Konsequenzen gebliebene, Kommissionsprojekt als Teil einer größeren Ordnungsbemühung nach 1945, in dem Erziehung der zentrale Platz in der » Modernisierung unter konservativen Auspizien «68 eingeräumt wurde, denkt man etwa an Georg Pichts Diagnose zur Bildungskatastrophe69 oder weitere Beiträge, mit denen dieser sich fest in die Demokratisierungsdebatten der 1960er Jahre einschrieb.70
67 Werner Picht, Staatsbürger in Uniform (wie Anm. 58), S. 59. 68 Christoph Kleßmann, Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 11, 1985, S. 476 – 494, hier: S. 485. 69 Georg Picht, Die deutsche Bildungskatastrophe. Analyse und Dokumentation, Freiburg i. Br. 1964. 70 Ders., Die Verantwortung des Geistes. Pädagogische und politische Schriften, Stuttgart 1965; ders. Prognose, Utopie, Planung: die Situation des Menschen in der Zukunft der technischen Welt, Stuttgart 1971.
Autorinnen und Autoren
D. Timothy Goering, Dr.: Visiting Fellow an der Harvard University, Cambridge/Mass. Gabriele Guerra, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter für deutsche Literatur an der Sapienza Universität Rom. Andreas Huber, MMag.: Universitätsassistent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Ursula Krey, Dr.: Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für Neuere Kirchengeschichte, Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Frank-Michael Kuhlemann, Prof. Dr.: Inhaber der Professur für Neuere und Neueste Geschichte und Didaktik der Geschichte an der Technischen Universität Dresden. Eva Locher, M. A.: Doktorandin beim SNF-Projekt » Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert « an der Universität Fribourg/Schweiz. André Postert, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut, Dresden. Stefan Rindlisbacher, M. A.: Doktorand beim SNF-Projekt » Die Lebensreformbewegung in der Schweiz im 20. Jahrhundert « an der Universität Fribourg/ Schweiz.
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Michael Schäfer, PD Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden. Hagen Stöckmann, M. A.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zeitgeschichtli chen Arbeitskreis des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der GeorgAugust Universität Göttingen Knut Martin Stünkel, Dr.: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Käte Hamburger Kolleg der Ruhr-Universität Bochum. Justus H. Ulbricht, Dr.: Redakteur der » Dresdner Hefte « und Geschäftsführer des Dresdner Geschichtsvereins.
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2366-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.) Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie August 2016, 296 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3021-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.) Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
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