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German Pages [405] Year 2019
Kultur Kunst Therapie Ideengeschichte und Praxis Heinfried Duncker / Ruth Hampe / Monika Wigger (Hg.)
Kreative Lernfelder Künstlerische Therapien in Kultur- und Bildungskontexten
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495818008
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VERLAG KARL ALBER
A
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Kultur Kunst Therapie Ideengeschichte und Praxis Herausgegeben von Karl-Heinz Menzen, Ruth Hampe und Manfred Schmidbauer Wissenschaftlicher Beirat: Senta Connert, Heinfried Duncker, Georg Franzen, Gunter Herzog, Markus von Hummel, Peter Pörtner, Rolf Schanko, Johanna Schwanberg, Gerald Trimmel, Till Velten, Marion Wendlandt-Baumeister
Band 3
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Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Hg.)
Kreative Lernfelder Künstlerische Therapien in Kultur- und Bildungskontexten
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Eds.) Creative Learning Fields Art therapies in cultural and educational contexts Art therapies are increasingly incorporated into social, cultural and educational tasks. In this volume, implementation options are presented based on contributions to various projects. Among other things, art therapies are discussed in the context of inclusive areas of action, in refugee work, in violence prevention and in the context of image based resonance.
The Editors: Professor Dr Heinfried Duncker, medical specialist for psychiatry and psychotherapy as well as psychosomatic medicine, was doctor in charge at several psychiatric clinics. He is board member at the German Association for Arts Therapies (DGKT) and the German section of the International Association for Art, Creativity and Therapy (IAACT) – as are the two other editors. Professor Dr Ruth Hampe, art and culture psychologist, psychotherapist for children and adolescents, trained in guided affective imagination as well as in art therapy. She has been working in the area of rehabilitation and art therapy in the faculty of inclusive education at the Catholic University in Freiburg. Professor Dr Monika Wigger, art therapist, inclusive pedagogist, psychotherapist and graphic designer, working in the area of aesthetics and communication with the focus of creative design. In addition she is director in training »Socio- and inclusive pedagogical art therapy« at the Institute for Applied Research, Development and Training (IAF) at the Catholic University in Freiburg.
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Heinfried Duncker Ruth Hampe Monika Wigger (Hg.) Kreative Lernfelder Künstlerische Therapien in Kultur- und Bildungskontexten Künstlerische Therapien werden in sozialen, kulturellen und schulischen Aufgabenbereichen immer stärker verankert. In diesem Band werden anhand von Beiträgen zu unterschiedlichen Projektarbeiten Umsetzungsmöglichkeiten dargelegt. Unter anderem werden künstlerische Therapien im Kontext inklusiver Handlungsfelder, in der Flüchtlingsarbeit, in der Gewaltprävention und im bildgebenden Resonanz-Bezug erörtert.
Die Herausgeber: Professor Dr. Heinfried Duncker, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin, war leitender Arzt an mehreren psychiatrischen Kliniken. Er ist Vorstandsmitglied sowohl in der Deutschen Gesellschaft für künstlerische Therapieformen (DGKT) und der Deutschen Sektion der IGKGT – wie auch die beiden anderen Herausgeber. Professorin Dr. phil. habil. em. Ruth Hampe, Kunst- und Kulturpsychologin, Pädagogin, approb. Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, ausgeb. im Katathymen Bilderleben sowie grad. Kunsttherapeutin. Ab 2006 im Studiengang Heilpädagogik der KH Freiburg für Rehabilitation und Kunsttherapie tätig. Professorin Dr. rer. medic. Monika Wigger, grad. Kunsttherapeutin, Heilpraktikerin Psychotherapie und Grafikdesignerin. Seit 2014 Professorin für den Bereich Ästhetik und Kommunikation mit dem Schwerpunkt bildnerisches Gestalten und Leitung der wissenschaftlichen Weiterbildung »Kunsttherapie« am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) an der KH Freiburg.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48993-2 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81800-8
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
I. Theoretische Zugänge Heinfried Duncker Der ewige Ödipus – Zu den Grundlagen menschlicher Gewalt .
17
Patricia Feise-Mahnkopp Bild(ende) – Resonanz. Ein Plädoyer für die Integration von (outsider-)kunstphänomenologischen Verfahren in die curriculare Kompetenzbildung angehender Heilpädagog*innen .
29
Karl-Heinz Menzen Von den Bildern in den Köpfen der Kinder, Eltern und Erzieher. Eine Heilpädagogin, ein Entwicklungspsychologe, eine Neuropsychiaterin, ein Neurologe und ein Quantenphysiker im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Barbara Wichelhaus Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern . .
58
II. Künstlerische Therapien in sozialen Netzwerken Katja Czech Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern . . . . . . . . . .
75
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Inhalt
Roger Dufern Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Anne Engler Resonanz. Neue Impulse aus der (Kunst-)Therapie zum Wandel in der Trauerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
105
Julian Feil Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte . . .
127
Christiane Ganter-Argast Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik – ein Bildungsprozess? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
Rabea Müller Trickfilm als kunsttherapeutische Methode . . . . . . . . . . .
157
III. Künstlerische Therapien in schulischen Einrichtungen Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme zur Persönlichkeitsentwicklung an einer Grundschule . . . . . . .
181
Ruth Hampe Persönlichkeitsbildung an Schulen. Ein ästhetisch-gestalterisches Förderangebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
208
Karin Lorenz In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck – Kunsttherapie in der Primarschule . . . . . . . . . . . . . . .
259
Britta Meinke Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-SchweitzerFörderschule Kehl mit Fallbeispielen . . . . . . . . . . . . . .
276
8 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Inhalt
Annette Neyenhuys Der schöpferische Prozess oder Warum das Malen Lebensgrundlagen schaffen kann . . . . . . . . . . . . . . . .
295
Renate Oepen Kunsttherapie zur Förderung von Lehrergesundheit. Eine explorative Studie über einen Gesundheitstag für Waldorflehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
Lony Schiltz Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung im schulischen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
319
Regina Sommer Einsteins Kinder®. Ein dreijähriges Märchen- und Geschichtenerzählprojekt zur Förderung von Begabungen und sozial-emotionalen Kompetenzen in Grundschulen des sozialen Brennpunkts .
331
IV. Künstlerische Therapien in kulturellen Bildungseinrichtungen Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis . .
349
Maren Heun »Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« … Der lange Weg von der Exklusion zur Inklusion – Ein Werkstattbericht aus den Städtischen Museen Freiburg . . .
371
Jochen Schmauck-Langer Einfach schauen – Teilhabe-orientierte Vermittlung im Museum. Ein Erfahrungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . 385
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Vorwort
Mit diesem Themenband zu »Kreativen Lernfeldern« werden Künstlerische Therapien in Kontexten von Bildung und Kultur vorgestellt. Es handelt sich um eine Aufsatzsammlung zu theoretischen und praktischen Sichtweisen, über die ein Einblick in verschiedene Zugänge zu Künstlerischen Therapien und ihre Bedeutung in unterschiedlichen sozio-kulturellen Feldern gegeben wird. Damit wird zugleich eine Vielfältigkeit vermittelt und ein Verstehen über die Interventionspraxis im Rahmen von Bildung und Kultur. Deutlich wird, welchen Stellenwert Künstlerische Therapien in sozialen Netzwerken und kulturellen Bildungseinrichtungen einnehmen können. In dem Zusammenhang geht es nicht nur um ein Verstehen ihrer Aussagekraft bezogen auf Diagnostik und Therapie, sondern auch um ihre kommunikative, resonanz- und ressourcenfördernde Bedeutung in sozialen Handlungsfeldern. Der Beitrag der Künstlerischen Therapien zur Integration und Inklusion als trans- und nonverbales Medium wird in den innovativen Projektarbeiten deutlich. In der Gliederung der Beiträge in alphabetischer Ordnung nach theoretischen Zugängen und Praxisfeldern wie sozialen Netzwerken, schulischen und kulturellen Bildungseinrichtungen sowie in der Arbeit mit Flüchtlingskindern werden besondere Berührungspunkte angesprochen. Dabei geht es nicht nur um die Wirksamkeit der Angebote, ihre Gestaltungsvielfalt und theoretische Fundierung, sondern gleichfalls um die Ermöglichung entsprechender Fördermöglichkeiten bzw. um Formen finanzieller Unterstützung durch Sponsoring. Bezogen auf innovative Handlungsfelder ist dieser Bereich mit zu bedenken und im Sinne einer Anschubfinanzierung für Projektarbeiten einzubeziehen. Im Hinblick auf Wirksamkeitsstudien werden aktuelle Untersuchungen vorgestellt, die auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als auch mit Pädagogen bezogen sind. Gerade im schulischen Bereich Orte zu schaffen, wo Persönlichkeitsförderung möglich wird 11 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Vorwort
und präventiv bei Schulproblemen wie Leistungsabfall, fehlende Konzentrationsfähigkeit, Gewalt, Verweigerung u. a. interveniert werden kann, ist ein besonderes Anliegen. Mittels qualitativer und quantitativer Studien wird belegt, in welchem Maße Künstlerische Therapien in ihrem multidimensionalen Ansatz – auch unter Einbeziehung von Naturmaterialien, Musik und Märchenerzählung – wirksam sind. Zugleich werden Anregungen in der methodischen Vielfalt und den Gestaltungsformen gegeben. Aber auch in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe sind ästhetisch-gestalterische Medien von Wichtigkeit, da sie in ihrer basalen Stimulation, in der Ausdrucksfindung und spielerischen Verarbeitung von Erlebnissen und Erfahrungen fördernd sind. Heilpädagogische Förderung in der Vermittlung mit Künstlerischen Therapien vermag ein breites Spektrum von Interventionsmöglichkeiten bei Belastungsformen abzudecken. Dahingehend ist die Bedeutung einer basalen Stimulation wie über die haptische Wahrnehmung als auch die ästhetisch-gestalterische Ausdrucksgebung hervorzuheben. Künstlerischen Therapien in der Vermittlung mit der Heilpädagogik kommt in der Hinsicht eine besondere Bedeutung in der Ermöglichung von Inklusion und Teilhabe zu. Bezogen auf diese exemplarischen Projektarbeiten werden methodische Besonderheiten – wie die Einbeziehung von Trickfilmen als auch die selbstbestimmte Arbeit in der medialen Dokumentation im Verlauf der Verarbeitung von Lebenserfahrungen und Trauerprozessen – eindrücklich vorgestellt. Wie Pädagogen und Mitarbeiter geschult werden können, um derartige Angebote umzusetzen, wird anhand eines Fortbildungskonzeptes neben anderen Umsetzungsformen verdeutlicht. Weiterhin wird als kultureller Bereich das Museum vorgestellt, wo es entsprechend der Behindertenrechtskonvention auch um Inklusion und Teilhabe geht. Einzelne Studien bzw. Erfahrungsberichte zur Arbeit mit Menschen unterschiedlicher Randgruppen (z. B. mit geistiger Behinderung oder Demenz) an Museen geben einen Hinweis auf die Notwendigkeit, neue Formen museumspädagogischer Arbeit umzusetzen. Generell sind im Rahmen der Museumspädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen unterschiedlicher Altersstufen sowie sozio-kultureller Auffälligkeiten innovative Konzepte in der Erarbeitung. Dies betrifft auch Menschen mit Fluchterfahrungen und das Schaffen von Orten der Begegnung bzw. von Räumen der persönlichen Ausdrucksfindung. 12 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Vorwort
Unter dem Gesichtspunkt kann Künstlerischen Therapien als Gestaltungsangebot in verschiedenen Facetten eine Brückenfunktion in der Vermittlung von Inklusion und Teilhabe zukommen. Mit diesem Themenband wird darauf in der Vorstellung vielschichtiger Praxisberichte und wissenschaftlicher Untersuchungen zur Wirksamkeit sowie in den theoretischen Zugängen Bezug genommen. Über Künstlerische Therapien werden Resonanzräume eröffnet, die einen gewandelten Zugang zum Selbst und der Umwelt unterstützen. In Resonanz zur Natur und dem von Menschen Gestalteten zu stehen, erschafft in der rezeptiven und produktiven Umsetzung ein verändertes Selbsterleben im Miteinander. Dahingehend ist auch auf ein Zitat von Albert Einstein (1953) zu verweisen: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Kunst und Wissenschaft steht. Wer es nicht kennt und sich nicht mehr wundern, nicht mehr stauen kann, der ist so gut wie tot und seine Augen erloschen.« Ruth Hampe
Wir danken der Leopold-Klinge-Stiftung und der KH Freiburg für die freundliche Unterstützung.
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I. Theoretische Zugänge
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Heinfried Duncker
Der ewige Ödipus – zu den Grundlagen menschlicher Gewalt
Abstract: Der Beitrag beschäftigt sich zusammenfassend mit den Überlegungen von Bergeret zur Frage der grundsätzlichen menschlichen Gewalt, die zum einen eine zerstörerische und zum anderen eine konstruktiv-kommunikative Seite hat. Dies wird insbesondere unter der Betrachtung der vorsprachlichen präödipalen Entwicklung deutlich, in der das kleine Kind über den Mangel und die Bedürftigkeit die Gewalt des Ausgeliefertseins erlebt. Die mit dieser Entwicklung verbundenen vorsprachlichen Prozesse führen zu einer primären Identifikation als Grundlage für die nächsten Schritte, die mit dem Erwerb der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit verbunden sind. Außerdem werden die analogen Überlegungen zu Bergeret von Klein, Spitz und Lacan ausführlich dargestellt. So wird beschrieben, wie der Weg aus der schieren Gewalt über die Kommunikation zu der Entwicklung führt, die Freud dann in seinen Überlegungen zur ödipalen Identifikation weiterführt. Diese Überlegungen sollen auch beschreiben, aus welchen Gründen sowohl primär schlecht verlaufende Reifungsprozesse als auch sekundäre, massive identifikatorische Belastungen zu regressiven Prozessen beim Menschen führen können, in denen sie, anstatt sozial-kommunikativ mit ihrer Bedürftigkeit umzugehen, zum Rückgriff auf die Gewalt verleitet oder geführt werden können. Insofern wird dargestellt, dass die Gewalttätigkeit des Menschen nicht verschwindet, sondern sich strukturell und situativ zwischen den Polen der konstruktiven und destruktiven Seite bewegt. Daraus lassen sich sowohl pädagogische wie therapeutische, aber auch präventive Gedanken zur Gewaltvermeidung ableiten.
Der Titel dieses Beitrages greift direkt den Titel der soeben im Psychosozial Verlag erschienen Übersetzung des grundlegenden Buches des französischen Psychoanalytikers Bergeret (2016) auf. Es war die 4. wissenschaftliche überarbeitete Auflage nach ihrem Ersterscheinen im Jahr 1984. Das Werk repräsentiert die Überlegungen der französischen Psychoanalyse zur Problematik der menschlichen Gewalt, ihres Ursprungs und den Möglichkeiten einer Überwindung der destrukti17 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
ven Ausdrucksformen, die sie im Leben haben kann. Diese initiale Bemerkung zum Erfolg soll nur darauf hinweisen, in welchem Ausmaß die Überlegungen von Bergeret in Frankreich auf eine fachliche und öffentliche Resonanz gestoßen sind. Die mit diesen Überlegungen verbundenen Konzeptionen zur Entstehung und Überwindung der Gewalt haben bis heute in Frankreich einen nicht unerheblichen Einfluss auch auf die Überlegungen bezüglich der Prävention manifester destruktiver Gewalt als auch bezüglich der Therapie und Wiedereingliederung von Straftätern. In seinen Überlegungen positioniert Bergeret sich zum einen in einen deutlichen Zusammenhang mit der psychoanalytischen Tradition Freuds und dessen Aussagen zum Ödipuskomplex und zum Ödipusmythos. Die diesbezüglichen Aussagen Freuds stellt er in keiner Weise infrage. Er geht allerdings auch sehr dezidiert auf die Teile der griechischen Texte ein, die von Freud in seinen Überlegungen nicht berücksichtigt wurden. Parallel hierzu greift er auch die psychoanalytischen Erkenntnisse auf, die zur präödipalen Entwicklung in der vorsprachlichen Zeit der nachgeburtlichen Entwicklung entwickelt wurden, insbesondere die Überlegungen von Melanie Klein (Satzbau) (1962), die aber in wesentlichen Teilen in Übereineinstimmung gesehen werden müssen mit den Erkenntnissen, die von Spitz (1968) und Lacan (1948) dargestellt werden, die vom Unterzeichner ja ausführlich in ihrem Gesamtzusammenhang erläutert wurden (Duncker, 1981). Bezüglich dieser Überlegungen muss festgehalten werden, dass sie als Beschreibung zu verstehen sind für die vorsprachliche Entwicklung. Diese vorsprachliche Entwicklung wird von Freud unter dem Begriff des Vorbewussten beschrieben und dieses nicht sprachliche Vorbewusste ist im Gedächtnis jedes Einzelnen fixiert. Es ist bekannt, dass Kinder nicht nur Erinnerungen an die vorsprachliche Entwicklungszeit nach der Geburt haben, sondern auch Erinnerungen an die Zeit im Mutterbauch, wie dies u. a. von Tomatis (1998) beschrieben wird. Diese Erinnerungen unterliegen, wenn sie geweckt werden, nicht unbedingt dem Einfluss und der Logik sprachlicher Funktion, schlagen sich aber in dem Bereich gegebenenfalls nieder. Insofern geht es um eine Ergänzung, und nicht um eine Korrektur Freuds. Gerade in der Zeit der vorsprachlichen Entwicklungen spielt allerdings die Gewalt oder das Erleben eines Ausgeliefertseins an sie eine nicht unerhebliche Rolle. Um diese Gedanken nachvollziehen zu können, müssen einige Automatismen erläutert werden. Diese betreffen zum einen die Über18 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der ewige Ödipus – zu den Grundlagen menschlicher Gewalt
legungen zur präödipalen Entwicklung bis zu der Zeit, in der das Kind beginnt, sprachlich im Sinne des kommunikativen Prozesses zu kommunizieren und die mit dieser Zeit verbundenen Erlebensweisen des Mangels, des Fehlens der Versorgung, der Forderung zum Beispiel durch das Schreien und der Möglichkeiten der Einbindung dieser Kommunikation in die Struktur der sprachlichen Entwicklung. Zum anderen müssen bestimmte Automatismen des in dieser Zeit in Frankreich herrschenden strukturalistischen Denkens berücksichtigt werden, die in diesem Verständnis der Modalitäten grundlegend sind. In den strukturalistischen Gedankengängen sind zum einen allgemeine Prinzipien des strukturellen Denkens zu berücksichtigen. Zum anderen muss das strukturalistische Verständnis der Sprache berücksichtigt werden. In den allgemeinen strukturalistischen Denkansätzen wird davon ausgegangen, dass bestimmte Beziehungsgefüge oder Strukturen als Ganzheit zu sehen sind und das Ganze gegenüber den Teilen berücksichtigt werden muss. In diesem Verständnis wäre das Geschlecht die Struktur, und die Pole wären das männliche und weibliche Geschlecht, und in diesem Verständnis hat jeder Mann auch weibliche und jede Frau auch männliche Anteile. Die Widersprüchlichkeit ist somit, über die Konstellationen zu denken, die dadurch auftreten, dass die Anteile der Andersartigkeit bei jedem Pol negiert würden oder der Versuch gestartet würde, die Polarität mittig zu überwinden. Hierbei bleibt immer zu überlegen: Bis zu welchem Ausmaß ist die Widersprüchlichkeit der Pole oder ihr Aufheben konstruktiv bzw. destruktiv zu betrachten? Dies gilt insbesondere auch für die Überlegungen bezüglich des autoritären oder antiautoritären Erziehungsstils. Hier hat Beauvoir (1964) ja nicht unerheblich darauf hingewiesen, dass die Auflösung des autoritären Erziehungsstils in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Einführung eines konsequent antiautoritären Erziehungsstils dazu führte, dass diktatorisch aufgezwungene Strukturen ersetzt wurden durch fehlende Strukturen und dies das gleiche Ergebnis erzielte. In dem Automatismus dieses Denkens steht dann bei den erzieherischen Funktionen, wenn von Vater und Mutter gesprochen wird, nicht unbedingt die biologische Funktion im Vordergrund, sondern es geht um die Personen, die die väterliche und mütterliche Funktion gegenüber dem Säugling oder dem Kleinkind ausüben. Hierbei ist in diesem Sinne für die mütterliche Funktion zu berücksichtigen, dass es sich also um die Person handelt, die in einer 19 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
Beziehungskonstanz diese Versorgungsfunktion ausübt. Analog würde dies bedeuten, dass die väterliche Funktion demjenigen zukommt, der in der Beziehungsqualität für die »Mutter« emotional genauso wichtig ist wie das Kind, denn folgt man Lacan in seinen Beschreibungen, aber auch Melanie Klein, dann erkennt das Kind den Vater in seiner Funktion darüber, dass es merkt, dass die Mutter ihm gegenüber die gleiche Emotionalität zeigt, wie das Kind es für sich selbst seitens der Mutter erlebt. In diesem Verständnis wird der Vater nicht zum Vater durch seine Autorität – er ist eben nicht der Herr –, sondern er wird in dieser Funktion durch die von der Mutter gezeigte Emotionalität berufen. Dieser Automatismus ist auch anzuwenden auf alle Entwicklungsschritte, die im Folgenden beschrieben werden. Sie sind nicht entweder gut oder schlecht, sondern sie pendeln zwischen zwei Extremen, z. B. der Über- oder der Unterversorgung. In diesem Verständnis gibt es somit keine perfekte Entwicklung, sondern eine, die zwischen den Polen des einen oder anderen Extrems hin- und herpendelt. Für das hier vorgeschlagene Thema ist es besonders wichtig, dieses strukturalistische Verständnis auch auf den Bereich der menschlichen Aggressivität anzuwenden. Betrachtet man die Aggressivität als Struktur, dann ist sie auch zwischen zwei extremen Polen gespalten. Der eine Pol ist die rein destruktive Seite und der andere Pol ist die konstruktive, kommunikative Seite. Auch hier ist zu beachten, dass keine Seite ohne die andere auskommt. Wenn auf der destruktiven Seite sich zum Beispiel die Zerstörung oder Beherrschung des anderen aufzwingt, dann geht dies nicht ohne Kommunikation. Denn wenn mir die Zerstörung des anderen, sei es eine Befriedigung, eine Bestätigung oder eine Aufwertung meines Selbstwertgefühles bringt, so geht das nicht, ohne dass es hier eine kommunikative Basis gegeben hätte. Zum anderen ist selbst in der konstruktivsten Lösung der gemeinsamen Entwicklung des Aufbaus usw. auch immer etwas Destruktives inbegriffen. Wenn wir uns gemeinsam ernähren, so ökologisch es auch sein mag, geht es nicht, ohne dass wir in unserem gemeinsamen Handeln auch etwas zerstören. Wenn wir ein Haus bauen, machen wir auch immer irgendetwas kaputt, sodass gesehen werden muss, dass es keine Seite der Aggressivität gibt, die nicht auch die andere beinhaltet. Die Frage kann also nicht sein, ob es ein Leben ohne Aggression gibt, sondern inwieweit die destruktive bzw. die kommunikativ-konstruktive Seite im Vordergrund steht. In diesem Verständnis geht es also nicht darum, Aggressivität zu unterdrücken, 20 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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sondern Aggressivität über kommunikative Wege konstruktiv zu gestalten. Auch hier müssen wir allerdings die Grenze sehen, die darin besteht, dass auch im konstruktiven Handeln über die fortbestehende destruktive Seite Ressourcen gebraucht werden, die nun einmal auch in der Realität in dieser Welt eine Begrenzung haben. In der strukturalistischen Linguistik spielen die Begriffe des Signifikantes und des Signifikats, der Denotation und der Konnotation in der Kommunikation eine wesentliche Rolle. Das Wort bezeichnet nur das, was gesagt wird oder es kann in dem, was es bedeutet, wechseln. Wenn das Wort in der Kommunikation nur eindeutig ist, ist die Sprache denotativ im Sinne der Handlungssprache. Wenn das kleine Kind dann »Milch« fordert, kann sie nicht durch Nähe ersetzt werden, sondern es bedeutet »Milch«. Menschliche Kommunikation im Sinne der Konsensbildung erfordert allerdings die Sprache auch in ihrer konnotativen Funktion, in der ein Wort von einem Sinn zum anderen gleiten kann und man darüber zum Konsens findet. Dies ist das Schwanken zwischen der konkreten Handlungssprache einerseits und der Sprache als Mittel des sozialkommunikativen Handelns andererseits. Wenn das Wort nur das Ding, das gefordert wird, und nichts anderes bezeichnet, dann sind wir im Bereich der Handlungssprache. Der Pol des sozialkommunikativen Handelns öffnet sich über Metaphern und Metonymien, die von der konkreten Befriedigung oder dem konkreten Objekt wegführen und zur Abstraktion finden. Bei dem einen Pol steht die objektale Befriedigung im Vordergrund, bei dem anderen der kommunikative Ersatz, wobei festzuhalten bleibt, dass auch im strukturalistischen Denken die entwickelte sozialkommunikative Sprachfähigkeit nicht wird ersetzen können, dass der zur menschlichen Existenz gehörende Mangel konkrete Objekte der Befriedigung braucht. Das Ausmaß, in dem im sozialkommunikativen Verhalten metaphorische und metonyme Mechanismen eine Rolle spielen, findet sich wieder in der Benutzung bestimmter Sprichworte, in denen sich ein psychosomatisches Grundverständnis niederschlägt, wenn wir beispielsweise bei Angstgefühlen »Schiss haben« oder uns »eine Laus über die Leber gelaufen ist«, wenn wir von dem »Rückgrat« sprechen, das jemand nicht hat oder das ihm gebrochen wurde oder wenn man sich vor »Angst in die Hose macht« oder »sauer ist«. Wir sehen es auch, wenn unser »Herz in Flammen steht« oder unsere Herzen »im gleichen Takt schlagen«. Wir müssen dann allerdings auch sehen, dass es kulturelle Unterschiede gibt. So ist für den Deutschen klar, 21 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
was er macht, wenn er jemanden »bescheißt«. Für den Franzosen würde er den anderen allerdings ärgern und langweilen und wenn der Franzose den »Rücken voll hat«, dann ist er zum Beispiel mit Arbeit völlig überlastet. Diese Überlegungen zeigen den Weg auf, den das Kind machen muss vom – bereits von Freud beschriebenen – »Fort-Da« zum Erlernen der kommunikativen Sprache der Mehrdeutigkeit. Dies zeigt aber auch auf, dass wenn dies ein progressiver Entwicklungsweg ist, ein regressiver Weg zurück auch immer möglich bleibt. Die regressive Entwicklung dieser strukturellen Entwicklung in Richtung auf eine denotative Sprache ist immer möglich. In unserer Praxis kennen wir dies aus unseren Beobachtungen in belastenden Situationen. Der Rückweg zur Handlungssprache ist zu beobachten in emotional schwer belastenden Situationen, wie zum Beispiel partnerschaftlichen Konflikten, wo wir in Beratungen merken, dass bei bestimmten Themen in der partnerschaftlichen Diskussion oder in den Äußerungen des Betroffenen die konnotative, kommunikative Sprache durch die denotative ersetzt wird, in der das Entweder-Oder in den Vordergrund tritt (s. a. Duncker, 1999). Wir kennen es aber auch aus bestimmten dynamischen Situationen in schwierigen Teamkonstellationen, wo die Frage, wer oder welche Berufsgruppe Recht behält, wichtiger wird als das gemeinsame Finden eines konstruktiven Lösungsweges im Sinne eines konnotativen sprachlichen Prozesses. Diese grundsätzlichen Überlegungen sind wichtig, um Bergerets Gedanken zur primären präödipalen Entwicklung zu verstehen, die als vorsprachliche Entwicklungen und damit verbundene Identifikationsprozesse zu verstehen sind, als »Vorbewusstes« erhalten bleiben, und um dann die Rolle der Sprache zu verstehen, mit der die Überwindung dieser primären vorsprachlichen und somit handlungsorientierten Erlebensweisen möglich wird. Bergeret verbindet in seinen Überlegungen die Entwicklung hin zur sprachlichen Kommunikation mit der Entwicklung von der schieren Gewalt zu ihrer Überwindung in der sprachlichen Kommunikation und der damit verbundenen Einbindung in die von Freud beschriebene ödipale Entwicklung im Reifungsprozess. Er beschreibt dies in der Kontinuität des Rückgriffes auf die Texte von Sophokles mit dem Hinweis, dass die erste Weissagung nicht die ist, auf die Freud zurückgegriffen hat, sondern dass die erste Weissagung heißt: »Der eine bringt den anderen um«. Hier stellt sich natürlich die Frage, ab wann es in der Wahrnehmung des Kindes den anderen gibt. Dies wird ins22 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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besondere von Klein, aber auch von Spitz für die Entwicklung in der vorsprachlichen Zeit sehr ausführlich beschrieben. Mit der Geburt wird das Kind mit der Bedürftigkeit konfrontiert. Das fängt an mit dem Atmen und zunächst einmal mit Gefühlen wie Hunger und Durst. Hier muss auf die mit dieser Entwicklung verbundenen Stadien hingewiesen werden, in denen das Kind zunächst eine Versorgungssituation erlebt, in der der Mangel behoben wird. Mit den zunehmenden Wachzeiten nehmen die Zeiten, in denen der Mangel erlebt wird, zu, und dies muss von dem Baby als bedrohlich erlebt werden, sodass es progressiv zwei Seiten gibt. Hier ist Wert auf die mütterliche Funktion und die Konstanz der Bindungsqualität zu legen, zum einen der anwesenden, versorgenden Mutter, zum anderen der fehlenden Mutter. Progressiv wird auch die Situation wichtig, wenn sie nur anwesend ist und nicht versorgt. Hierbei ist auf den strukturalistischen Automatismus hinzuweisen, dass eine nur versorgende Mutter genauso Entwicklungsprozesse verhindert wie eine viel zu wenig versorgende Mutter, die den Eindruck der Bedrohlichkeit des Mangels verstärkt. Hier muss auf den Mangel eingegangen werden. Der Mangel beginnt mit dem Leben. Insofern gehört der Mangel zur menschlichen Existenz, und das Ziel der primären frühkindlichen Entwicklung ist nicht die Aufhebung des Mangels, sondern die Einbindung des Mangels in die Kommunikation. Dies bedeutet im gesellschaftspolitischen Sinne, dass der Mangel als eine Qualität des Menschen zu betrachten ist. Ohne den Mangel gäbe es keinen Bedarf an Kommunikation und die Kommunikation dient der Behebung des Mangels. Insofern wäre in Anwendung des französischen Gleichheitsgrundsatzes der Verfassung darauf hinzuweisen, dass für den Mangel das Gleiche gilt wie für die Gleichheit. Die Gleichheit ist keine mit der Geburt gegebene Qualität des Menschen, sondern ihr Erreichen ist das Ziel einer auf Gleichberechtigung ausgerichteten demokratischen Gesellschaft. Ebenso ist der Mangel als eine mit der Geburt verbundene Qualität zu betrachten, dessen Behebung Ergebnis ausreichender sozialkommunikativer Beziehungsqualitäten ist. Das Auftreten von Mangel in der menschlichen Existenz müsste somit im demokratischen Prozess betrachtet werden als das Ergebnis einer unzureichenden gesellschaftlichen Versorgung und nicht als Ergebnis einer individuellen Macke. Insofern wäre in einer demokratischen Gesellschaft die Aufrechterhaltung von Gleichheit und die Behebung, nicht Bekämpfung des Mangels eine grundlegende gemeinschaftliche Aufgabe. 23 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
Melanie Klein beschreibt in der weiteren Entwicklung als erstes und zweites Stadium die gute, versorgende Mutter, das Stadium der Zeit, in der das Bemerken des Mangels in den Wachzeiten zunächst relativ übereinstimmend ist mit den Versorgungs- und Ernährungszeiten und der, mit der Ausweitung der Wachzeiten verbundenen, verstärkten Wahrnehmung des Mangels, der dann auch nicht nur als mit dem körperlichen Bedürfnis verbunden erlebt wird, sondern auch mit Präsenz und Zuneigung. In dieser Entwicklungsphase macht das Kind in seiner Wahrnehmungsfähigkeit auch die Entwicklung, dass über Schreien und Kommunikation mit der mütterlichen Kontaktperson erste Worte wahrgenommen und gesagt werden können und die Worte auch Mehrdeutigkeiten finden. Gleichzeitig wird in der Wahrnehmung des Kindes der eigene Körper auch über die Versorgung durch die Mutter zu einem Empfinden der Ganzheitlichkeit dieses Körpers geführt. Das Kind nimmt die Umgebung wahr, und über das Bemerken der Ausdrücke der Zuwendung und Emotionalität der Mutter dem Vater gegenüber, bemerkt das Kind auch »den Anderen« der Mutter, demgegenüber auch analoge emotionale Kontakte empfunden werden. Über diese Funktion der emotionalen Zuwendung definiert sich der »Vater« als »der Andere« der Mutter. In dieser frühen Triangulierung ist auch diese Strukturierung wieder strukturalistisch zu verstehen. Je ausgeprägter das Kind den Vater als den »genauso Begehrten« der Mutter erlebt, desto intensiver wird in der Konkurrenzsituation das Auftauchen des »Entweder ich oder Du« verbunden mit dem Gedanken: Wenn du nicht da wärst, hätte ich meine Mutter ganz, und damit gäbe es keinen Mangel mehr. Es ist aber deutlich, dass mit beginnender Empathiefähigkeit hier auch eine Grenze gesetzt wird, die nicht autoritärer Natur ist. Je autoritärer dieser »Andere der Mutter« in Erscheinung tritt, desto mehr geht die Entwicklung des »Ich oder Du« in Richtung eines Unterwerfungsprozesses unter den stärkeren »Anderen«. Dies beschreibt Lacan in seinen Überlegungen zum Spiegelstadium mit der Analogie an Hegels Herr und Knecht. In dem Prozess der spiegelbildlichen Identifikation geht es zum einen darum, dass dem Kind ermöglicht wird, im Spiegel den Körper als Ganzes zu erleben, nicht mehr als willkürliche Teile wahrzunehmen, und dies ist ein erster enormer Fortschritt für das Kind. Zum anderen geht es darum, die Begrenztheit zu akzeptieren, dass es statt der Symbiose die Reduktion auf dieses Spiegelbild gibt. Je ausgeprägter dies das Kind als positives »Ich bin so wie dieses Bild, aber ich bin auch nur 24 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der ewige Ödipus – zu den Grundlagen menschlicher Gewalt
wie dieses Bild« erlebt, desto ausgeprägter kann es sich mit diesem primären Bild im Sinne des Hegelschen Knechtes identifizieren, der, indem er sein Knechtsein akzeptiert, die Welt erobern kann. Je ausgeprägter dies ein Unterwerfungsprozess ist, durch welche autoritäre Verhaltensweisen auch immer hervorgerufen, desto fragiler ist diese primäre Identifikation im Sinne des unterworfenen Knechtes, der insgeheim immer darauf wartet, zum Stärkeren heranzuwachsen, den »Anderen« zu unterwerfen und selbst zum Herrn zu werden. Hier wird das »Ich oder Du« überwunden und dies geht einher mit dem Beginnen der Erweiterung der sprachlichen Kommunikation, in – wie Freud es in »fort oder da« beschreibt – einer progressiven Sprachentwicklung, in der die Worte Handlung ersetzen, die Worte mehrdeutig werden und die Kommunikation die Bedürftigkeit reguliert. Die erwähnten vorsprachlichen Erinnerungen bleiben vorbewusst, und entscheidend ist lediglich das Ausmaß in der Stabilität, die mit dieser frühen Identifikation erreicht werden konnte. Diese primäre Identifikation stellt die Grundlage der darauf folgenden von Freud beschriebenen ödipalen Entwicklung dar. Sie ist die Grundlage dafür, das »Ich oder Du« im Sinne der primären Gewalt zu überwinden und die Gewalt, die mit der Befriedigung der Bedürfnisse verbunden ist, im Bereich sprachlicher Kommunikation einzubinden und darüber die Bedürftigkeit zu überwinden. In diesen Überlegungen werden Entwicklungen beschrieben, die einen Weg aufzeigen, der vom »Ich oder Du« der schieren Gewalt dahin führt, dass über sozialkommunikative Verhaltensweisen ein konstruktiver gemeinsamer Umgang mit dem Mangel und seiner Behebung entsteht. Wenn man diesen Weg im Sinne einer progressiven Entwicklung versteht, wird auch verständlich, warum und in welchen Situationen und unter welchen konstellativen Faktoren die Umkehrung dieses Weges im Sinne eines regressiven Prozesses möglich ist und so der Rückgriff auf die schiere Gewalt scheinbar unumgänglich wird. Diese Überlegungen verbinden sich mit den Entwicklungsschritten, die sich zunächst in der primären Triangulierung über die Qualität der Identifikation mit dem eigenen begrenzten Bild ergibt. In der ödipalen Triangulierung verbindet sich diese primäre narzisstische Identität dann in einem zweiten Schritt und einer gewissen Wiederholung bereits mit der Frage der Stabilität der eigenen Identität als Mann oder Frau. Hier ist auch entscheidend, wie stabil diese primäre Triangulierung gewesen ist, um sich auch in dieser schwierigen Situation 25 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
in der Identifizierung als Mann oder Frau stabilisieren zu können. Allerdings kann dieser zweite Schritt die Entwicklung des ersten Schrittes sowohl stabilisieren als auch fragilisieren. Dies macht aber auch deutlich, dass massive Infragestellungen, die mit dem ersten bzw. zweiten Identifikationsschritt verbunden sind, entstehen können. Hierbei ist insbesondere im primären Identifikationsprozess wichtig, darauf hinzuweisen, dass es sich um vorsprachliche, vorbewusste Erinnerungen handelt, die eher die Frage der eigenen Existenz oder des Mangels betreffen, und die Infragestellungen des zweiten Identifikationsschrittes eher verbunden sind mit den Infragestellungen der eigenen Existenz als Mann oder Frau. Diese Überlegungen machen deutlich, dass die Gewalt grundsätzlich eine menschliche Qualität ist, die in ihren primären Ausdrucksweisen auf ihre zerstörerisch-destruktive Seite verweist. Der Reifungsprozess und seine Qualität ermöglichen dem Mensch, diese destruktive Seite zu überwinden und über sozialkommunikative Wege die konstruktive Seite zur Lebensgestaltung zu nutzen. Die Überwindung der primär destruktiven Seite ist direkt verbunden mit der Qualität der primären vorsprachlichen Identifikationsprozesse. Die Qualität der Überwindung ist somit abhängig von der Stabilität des mit diesem primären Prozess verbunden Narzissmus, der sich weitergehend stabilisieren oder destabilisieren kann. Mit der zweiten Phase des Identifikationsprozesses im Verlauf der ödipalen Entwicklung und der Qualität der Identität als Mann oder Frau folgt der mit dieser Identifikation verbundenen weitergehenden Möglichkeit der die primäre Gewalt überwindenden, sozialkommunikativen Einbindung. Dieser Entwicklungsprozess ist nie als abgeschlossen zu betrachten. Der primäre Entwicklungsprozess stellt über die Qualitäten oder die in diesen Prozessen auftretenden Schwierigkeiten eine grundlegende Ressource für das Individuum im Umgang mit lebensgeschichtlich auftauchenden Problemstellungen dar. Die in diesen Prozessen gewonnene innere Stabilität des Narzissmus ist mehr oder weniger gelungen, und dies wiederum gibt dem Individuum mehr oder weniger Möglichkeiten, über sozialkommunikative Prozesse den Mangel, der mit dem Leben und der Lebensgestaltung verbunden ist, konstruktiv zu überwinden. In einem salutogenetischen Verständnis ist aber die damit geschaffene Ressource nur die eine Seite, die davor schützt, im Falle erheblicher identitärer Infragestellungen auf die Lösungsmöglichkeiten der schieren Gewalt zurückzugreifen. Die andere Seite ist direkt verbunden mit den Belastungen, die im Leben durch identitäre 26 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Infragestellungen auftreten können, und dies sind Situationen, in denen ressourcenfördernde Interventionen für die Stabilisierung notwendig sind, um zu verhindern, dass diese massiven Infragestellungen zur Folge haben, dass Prozesse der primären destruktiven Gewalt zum Durchbruch gelangen. In einem derartigen Verständnis ist zu beachten, dass eine narzisstische Fragilisierung nicht nur Ergebnis eines schwierigen oder schlecht verlaufenden primären Entwicklungsprozesses sein kann. Narzisstische Infragestellungen können auch Ergebnis akuter oder chronischer Belastungssituationen sein, denn Gesundheit und Stabilität sind in dem salutogenetischen Verständnis Ergebnis der Interaktion zwischen Belastung und Ressource, und auch der primär stabilste Narzissmus kann durch externe Faktoren so massiv infrage gestellt werden, dass es zum Durchbruch der primären Gewalt kommen kann. Wichtig ist, zu verstehen, dass der Durchbruch der Gewalt in Zusammenhang zu sehen ist mit der Stabilität des Narzissmus, und im Sinne der Prävention stellt sich somit die Frage, wie es erreicht werden kann, dass eine ausreichend qualitative Versorgung von den primären Identifikationsprozessen die Grundlage für einen stabilen primären Narzissmus legt. Eine weitere Aufgabe betrifft das Erkennen von Situationen, in denen narzisstische Kränkungen und Destabilisierungen auftreten können oder müssen, und hier dafür Sorge zu tragen, dass über entsprechende kommunikative Hilfestellungen das Ausmaß der Infragestellungen begrenzt wird, um die regressive Entwicklung zur destruktiven Seite des Narzissmus hin zu vermeiden. Die Überlegungen zu diesen Entwicklungsprozessen erlauben aber auch weitergehende präventive Überlegungen. Dies betrifft zum einen die Auswirkungen eines repressiven, autoritären Erziehungsstils, wie dieser im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert prägend war. Die Auswirkungen auf die Stabilität des primären Narzissmus wurden anderenorts ausführlich beschrieben (s. a. Duncker, Hirschelmann, 2017). In der heutigen Zeit müssen wir uns aber auch darüber Gedanken machen, dass dieser Erziehungsstil auch in islamisch geprägten Ländern vorherrschend ist. Diese Überlegungen müssen aber auch angewandt werden auf Situationen der massiven identitären Infragestellung, wie sich dies zum Beispiel in den arabischen Ländern nach der Kolonialzeit zwischen den verschiedenen Religionsgruppen entwickeln musste und wie es die Praxis beim Umgang mit Flüchtlingen und der ihnen gegenüber geäußerten Akzeptanz und Unterstützung deutlich zeigt. Wenn diese Korrelation zwi27 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heinfried Duncker
schen dem durch den Erziehungsstil geprägten Identitätsqualitäten einerseits und der durch Flucht, Vertreibung und Aufnahmebedingungen geprägten Massivität der identitären Infragestellung andererseits berücksichtigt wird, könnten wir uns überlegen, wie über akzeptierende und stützende Angebote außerhalb sicherheitsorientierter und repressiver Vorgehensweisen eine Gewaltprävention aufgebaut werden könnte.
Literatur Beauvoir, S. (1964). Soll man de Sade verbrennen? München: Rowohlt. Bergeret, J. (1984). La violence fondamentale L’inépuisable Oedipe. Paris. Bordas. Bergeret, J. (2016). Der ewige Ödipus. Zu den Grundlagen menschlicher Gewalt. Gießen: Psychosozial Verlag. Duncker, H. (1981). Einführung in die psychoanalytischen Theorien der »Ecole freudienne« (Lacan). In: Materialien zur Psychoanalyse und analytisch orientierten Psychotherapie. (S. 212–266). Duncker, H. (1999). Gewalt zwischen Intimpartnern. Liebe, Aggressivität, Tötung. Lengerich: Pabst. Duncker, H./Hirschelmann, A. (2017). Von Schreber zum nationalsozialistischen Körperkult. In: Musik- Tanz- und Kunsttherapie, 2, i.Vorb. Klein, M. (1962). Das Seelenleben des Kleinkindes und andere Beiträge zur Psychoanalyse. Stuttgart: Klett-Cotta. Lacan, J. (1948). L’aggressivité en psychanalyse. In: Drs. (1966). Ecrit I (S. 101– 124). Paris: Edition du Seuil. Spitz, R. (1968). Nein und ja: die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Stuttgart: Klett. Tomatis, A. (1998). Der Klang des Lebens. Hamburg: Rowohlt.
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Patricia Feise-Mahnkopp
Bild(ende) – Resonanz. Ein Plädoyer für die Integration von (outsider-)kunstphänomenologischen Verfahren in die curriculare Kompetenzbildung angehender Heilpädagog*innen Abstract: Auf der Grundlage von Erfahrungen mit einer Studiengruppe einerseits sowie im Rekurs auf kunst- und gestaltungsphänomenologische Parameter andererseits wird im vorliegenden Beitrag die These artikuliert, dass die responsiv-gestaltende Auseinandersetzung mit Outsiderkunst, hier mit Werken der Sammlung Prinzhorn, Kompetenzbildungen anzuregen vermag, die für heilpädagogische Handlungsfelder unverzichtbar sind, und daher auch ein integrales Element in heilpädagogischen Curricula sein sollten.
Vorbemerkung Im Sommersemester 2017 führte ich mit Studierenden des BA-Studienganges Social Care / Heilpädagogik die experimentelle Lehreinheit »Reflexion künstlerischer Selbstbildung« in Auseinandersetzung mit Werken der Sammlung Prinzhorn am Studienzentrum Mannheim (SzM) der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft (AH) durch. Die systematische Auswertung der die Lehreinheit begleitenden methodenpluralistisch angelegten Studie – in modifizierter Anlehnung an die von Henn & Keller (2011) im Rekurs auf die viergliedrige Werkbetrachtung nach Golombek entwickelte »Dialogische Werkbegegnung« gestalteten Protokolle der Studierenden 1 verIm Gegensatz zu der von Henn / Keller favorisierten Vorgehensweise – in einem ersten Schritt werden objektive Gegebenheiten des betrachteten Werkes, z. B. Materialbeschreibungen, Größenverhältnisse festgehalten; in einem zweiten Schritt subjektive Implikationen der Werkwahrnehmung, z. B. die Anmutungen leicht oder schwer erfasst; in einem dritten Schritt werden Auswirkungen dieser Anmutungen thematisiert, z. B. dass die wahrgenommene Schwere im Betrachter eine Traurigkeit auslöst; im vierten und letzten Schritt wird die unverwechselbare Differenzästhetik des Werkes gewürdigt – entschied ich mich für ein modifiziertes Vorgehen. D. h. die Studierenden wurden bei einem Besuch der aktuellen Ausstellung »Geistesfrische.
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binden sich mit leitfrageorientierten Diskussionen im Plenum sowie hermeneutisch-phänomenologischen Analysen der in Auseinandersetzung mit Werken aus der Sammlung kreierten eigenen studentischen Artefakte – ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen 2; dennoch können die auf Basis der bereits gesichteten Werkbegegnungsprotokolle sowie im Rekurs auf die erfolgten Gruppendiskussionen gewonnenen Einsichten im vorliegenden Beitrag thesenhaft dahingehend zugespitzt werden, dass die phänomenologische Beschäftigung mit Werken der Outsiderkunst / Art brut die Bildung von maßgeblichen Kompetenzen angehender Heilpädagog*innen in nicht unerheblichem Ausmaß anzuregen vermag. 3 Zu diesem Zweck werde ich zunächst unverzichtbare heilpädagogische Kompetenzen bzw. daraus für die curriculare Gestaltung folgernde Konsequenzen im Allgemeinen kurz skizzieren, um in einem Alfred Kubin und die Sammlung Prinzhorn« angehalten, sich in einem ersten Schritt für ein bestimmtes Werk zu entscheiden. Maßgeblich war hier der erste Eindruck à la das Werk zog mich an, stieß mich ab, faszinierte mich. In einem zweiten Schritt erfolgte die objektive Beschreibung des Werkes; im dritten Schritt galt es, subjektive Implikationen der Werkwahrnehmung näher zu erfassen – erkenntnisleitend war dabei die Frage, welche Komponenten der Bildgestaltung für die subjektiven Reaktionen (Angezogen- bzw. Abgestoßensein, Faszination, Freude, Trauer etc.) verantwortlich zeichneten. Im vierten und letzten Schritt sollte die werkimmanent-objektive sowie die subjektive Ebene verlassen und ein kontextanalytisch-interpretierender Blickwinkel eingenommen werden (dieser durfte sowohl patientkünstlerbiographische, d. h. individuelle, als auch kunst- und bewusstseinsgeschichtliche, d. h. überindividuelle, Parameter mit einbeziehen). Mit diesem Vorgehen verfolgte ich ein ähnliches Ziel wie die »Dialogische Werkbetrachtung«: Schärfung der Wahrnehmung für objektive und subjektive Komponenten der Werkbetrachtung bzw. Schärfung der Wahrnehmung im Hinblick auf die Reziprozität von objektiven und subjektiven Komponenten der Werkbetrachtung (vgl. zu Letzterem exemplarisch Gloy 2011, S. 156 ff.). Darüber hinaus wurde nicht nur die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit geschult, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und -reflexion. 2 Die Verfertigung und Analyse der Responses steht noch aus. 3 Ein in diesem Sinne produktiver Zusammenhang zwischen künstlerischer (Selbst-) Bildung und heilpädagogischer Kompetenzbildung ist in der Forschungslandschaft kein unbekannter Topos (vgl. Schmalenbach 2011); neu ist der hier gewählte Fokus auf phänomenologisch begründbare Implikationen dieser Wechselbeziehung. Zudem ist ein zweiter Studienteil in Planung, der Teilnehmer*innen der experimentellen Lehreinheit zu einem Zeitpunkt, an dem diese in heilpädagogischen Berufsfeldern tätig sind, dahingehend befragen wird, inwieweit sie selbst einen produktiven Zusammenhang zwischen den – im BA-Studiengang Social Care / Heilpädagogik am SzM prinzipiell stark gewichteten – künstlerisch-gestaltenden Komponenten und den in heilpädagogischen Berufsfeldern unerlässlichen Grund- und Schlüsselkompetenzen erkennen können.
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zweiten Schritt die Produktivität von outsiderkunst- und gestaltungsphänomenologisch ausgerichteten Komponenten im Hinblick auf die Bildung von heilpädagogischen Grund- und Schlüsselkompetenzen im Besonderen auszuführen. Im Anschluss daran wird die Besonderheit von Werken der Sammlung Prinzhorn schlaglichtartig dargestellt bzw. deren besondere Eignung für eine Nutzbarmachung in heilpädagogischen Denk- und Handlungszusammenhängen aufgezeigt. Beschlossen wird dieses Vorgehen durch pointierte Einblicke in die Erfahrungs- und Erkenntniszusammenhänge der experimentellen Lehreinheit.
Unverzichtbare heilpädagogische Kompetenzen – curriculare Impulsgebung Als eine, wenn nicht gar die, Grundkompetenz heilpädagogisch Handelnder ist das Vermögen anzusehen, jedwede (Inter-)Aktion – personal wertschätzend bzw. auf Augenhöhe – an den individuellen Dispositionen und Bedürfnissen derer auszurichten, die in heilpädagogischen Prozessen begleitet werden (vgl. Greving / Ondracek 2009, S. 35 ff.). Vor diesem Hintergrund sollten heilpädagogische Curricula in besonderer Weise darauf bedacht sein, die hermeneutische bzw. Fremdwahrnehmungskompetenz angehender Heilpädagog*innen zu stärken. 4 Neben dem Einbezug eines Habermaschen, d. h. auf sprachlichkommunikativer Verständigung basierenden Handlungstyps (Habermas 1981), generiert sich heilpädagogisch wirksam werdende hermeneutische Kompetenz in besonderem Maße über einfühlende bzw. leibliche, d. h. immer auch vorsprachlich-präreflexive Interaktionen im Merleau-Pontyschen Sinne (1993). 5 Daher sollte die Aneignung hermeneutischer Kompetenz in heilpädagogischen Kontexten auch Tatsächlich ist die verstehend-deutende Haltung ein unverzichtbares Element heilpädagogischen Handelns (vgl. Ondracek / Greving 2009, S. 37 ff.). 5 Bedingung der Möglichkeit jedweder Interaktion – mit Welt oder dem / der Anderen – ist bei Merleau-Ponty die leibliche Inkarniertheit des Menschen (dabei umfasst die Leiblichkeit sowohl körperliche als auch geistige Momente; in Merleau-Pontyscher Erkenntnislogik: Leiblichkeit ist der Kreuzungspunkt, in dem Körperliches und Geistiges zusammenlaufen; vgl. Merleau-Ponty 2004). Desweiteren ist der Mensch via Leiblichkeit kopräsentisch mit Welt oder den / der Anderen verbunden. Diese 4
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und gerade die Aneignung resonanter Kompetenz beinhalten. 6 Resonant kompetent heilpädagogisch Handelnde sollten u. a. ein Gespür dafür entwickelt haben, inwieweit die Wahrnehmung des Gegenübers durch das eigene Denken und Fühlen beeinflusst wird, bzw. das Vermögen ausgebildet haben, derlei Beeinflussungsmomente (selbst-)kritisch sowie unter Einbezug professionsbezogener Verfahren (Bewusstmachung von Prozessen der Übertragung – Gegenübertragung, Erkenntnis der Notwendigkeit von Supervision etc.) im Resonanzfeld zu identifizieren. D. h. in heilpädagogischen Curricula sollte nicht nur eine intensive Fremdwahrnehmungskompetenz geschult werden, sondern auch und gerade eine intensive Selbstwahrnehmungs- bzw. Reflexionskompetenz (die Aneignung von fachwissenschaftlichen bzw. methodisch-diagnostischen Kompetenzen wird dabei selbstredend vorausgesetzt). Auch wenn heilpädagogische Handlungskompetenz zu einem gut Teil intentional-planerisches Handlungsvermögen beinhaltet, bezieht sich ein weit größerer Teil – dies lehrt uns zumindest die Praxiserfahrung – auf Unvorhersehbarkeiten oder beinhaltet Kontingenzerfahrungen; d. h. der heilpädagogisch kompetent Handelnde kann oftmals nur intuitiv-geistesgegenwärtig bzw. experimentell-ergebnisoffen reagieren (vgl. Greving / Ondracek 2009, S. 34). In dieser Hinsicht sollte als eine unabdingbare Schlüsselkompetenz heilpädagogischen Handelns die Fähigkeit gefördert werden, in heilpädagogischen Prozessen u. a. auch auf eine kreative Geistesgegenwärtigkeit, Spontanität oder Offenheit zurückgreifen zu können. Im weitesten Sinne lässt sich die Schulung dieser Fähigkeit unter der Schulung von Selbstkompetenz verbuchen, konkret im Hinblick auf die Gewinnung von Selbstsicherheit im angloamerikanischen Sinn der
Verbundenheit geht jedweder bewusst-sprachlicher Interaktion voraus (vgl. MerleauPonty 2004). 6 Unter diesem Neologismus verstehe ich, im Rekurs auf responsivitätstheoretische Überlegungen Waldenfels’ (2002; 2007) – ausgehend vom leibphänomenologisch geprägten intersubjektiven Zwischenraum betont dieser die Möglichkeit nicht-sprachlicher Artikulation von Ansprüchen bzw. die Möglichkeit nicht-sprachlichen Antwortgeschehens auf diese Ansprüche – bzw. resonanztheoretische Überlegungen Rosas (2016) – auch dieser betont, wenngleich auch nicht auf dem gleichen leibphänomenologischen Niveau wie Waldenfels, die Resonanzbeziehungen, die zwischen Subjekten bzw. Subjekten und der Welt bestehen – mit leiblichen Signalen des Gegenübers in empathisch-deutende Interaktion zu treten. Vgl. zur Signifikanz leiblicher Kommunikation in (psycho-)therapeutischen Kontexten Fuchs (2003).
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assessiveness: d. h. eine Implikation von Selbstkompetenz, die durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, der Aneignung einer grundsätzlich sinnstiftend-daseinsbejahenden wie auch selbstsorgend-psychohygienischen Haltung sowie eine kritische Selbstwahrnehmungsund Reflexionsfähigkeit genährt werden kann (vgl. ebd., S. 106 f.). Last but not least sollten heilpädagogisch kompetent Handelnde des Umstandes gewahr sein, dass sich nur ein auf wechselseitiger personaler Anerkennung und Zugewandtheit beruhendes Miteinander im Sinne eines »Antlitzes der ausgestreckten Hand« (Lévinas 1989) als ethisch geboten (und produktiv) erweist.
Bedeutung von (Outsider-)Kunstbetrachtung bzw. künstlerisch-reflexiver Komponenten im heilpädagogischen Curriculum Ausgangspunkt der im Pflicht-Modul »Studium Generale 2: Kunst und Gesellschaft« des BA-Studienganges Social Care / Heilpädagogik am SzM der AH angesiedelten experimentellen Lehreinheit war die Annahme, dass die Bildung der eingangs geschilderten Grund- und Schlüsselkompetenzen auch und gerade durch die curriculare Implementierung von Kunstbetrachtung bzw. die künstlerisch-reflexive Auseinandersetzung mit Outsiderkunst respektive Kunst von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen, wie sie die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg beherbergt 7, befördert werden könne. Thesenhaft zugespitzt heißt dies: die Begegnung mit Werken der Sammlung Prinzhorn vermag, insbesondere im Verbund mit einer eigenen gestalterischen Response auf die jeweilige Werkbegegnung, im Hin-
Der bekannte historische Bestand der Sammlung umfasst ca. 6.000 von Insassen psychiatrischer Anstalten zwischen 1840 und 1945 geschaffener Artefakte. Der größte Teil der Sammlung geht auf eine Initiative des Kunsthistorikers und Psychiaters Hans Prinzhorn (1886–1933) während seiner Zeit als Assistenzarzt an der Psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg zurück (1919 schrieb Prinzhorn zahlreiche psychiatrische Einrichtungen im deutschsprachigen In- und Ausland mit der Bitte um Zusendung von patientenkünstlerischen Werken an). Zu den bekanntesten Künstler*innen der Sammlung sind u. a. Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Karl Genzel, Paul Goesch, Emma Hauck, August Klett, August Natterer, Agnes Richter, Joseph Schneller, Barbara Suckfüll und Adolf Wölfli zu zählen (vgl. http://prinzhorn.ukl-hd.de/ index.php?id=84, zuletzt eingesehen am 15. 07. 2017).
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blick auf das benötigte Kompetenzspektrum angehender Heilpädagog*innen produktive Transferwirkungen zu zeitigen. 8 Das Zustandekommen dieses produktiven Transfereffekts ist, wie ich argumentieren möchte, insbesondere leib- bzw. gestaltungsphänomenologisch im Merleau-Pontyschen Sinne sowie responsivitätstheoretisch im Sinne von Bernhard Waldenfels zu erklären. D. h. kunstphänomenologische Betrachtungen vermögen zwar zunächst die Bildung ästhetischer, d. h. sowohl sinnen- und artefakt- als auch zeit- und kulturbasierte, Wahrnehmungs- und Deutungskompetenzen anzuregen. Darüber hinaus vermögen sie zugleich die Bildung von Selbstwahrnehmungs- bzw. Reflexionskompetenz anzuregen, ebenso wie die Bildung von resonanter Kompetenz, d. h. Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeiten in Bezug auf die z. T. harmonisch, z. T. disharmonisch akzentuierten Anteile im Resonanzfeld zwischen Produzent, Kunstwerk und Rezipient. 9 Auch gestaltende Prozesse vermögen, neben der Möglichkeit, dabei übend künstlerisch-technische Fähigkeiten (aus-)zubilden, zunächst eine Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch eigene schöpferische Produktivität, die mitunter auch die Meisterung / Überwindung von inneren und äußeren Widerständen beinhaltet (vgl. Waldenfels 2002; 2010). Darüber hinaus vermögen gestaltende Prozesse das Erleben von flow-Zuständen im Sinne eines beglückenden Aufgehens des gestaltenden Subjekts in seiner Tätigkeit zu stiften (vgl. Csíkszentmihályi 2010). Eine Erfahrung, die in Folge reziproker bzw. chiastischer Verhältnisse zwischen Gestaltendem und Gestaltetem (vgl. Merleau-Ponty 2003; 2004) auch die Wahrnehmung einer Auflösung vermeintlich starrer Subjektund Objektrelationen beinhalten kann. 10 Unter Transferwirkung seien hier in Anlehnung an Rittelmeyer die über primäre Wirkungen künstlerisch-ästhetischer Bildungsprozesse (i. e. die Verfeinerung ästhetisch-künstlerischer Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeiten) hinausgehenden Wirkdimensionen verstanden (z. B. die Verfeinerung sozio-empathischer Wahrnehmungsfähigkeit, vgl. hierfür Rittelmeyer 2012). 9 Dazu gehört z. T. auch die Wahrnehmung eines für psychotische Erkrankungen charakteristischen »Verlustes der natürlichen Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 2011), der aus einigen Werken der Sammlung zu sprechen scheint – und eine intersubjektive Verständigung oftmals geradezu unmöglich macht. 10 Die Reziprozität zwischen Gestaltendem und Gestaltetem lässt sich anhand der Merleau-Pontyschen Denkfigur des Chiasmus, ursprünglich ein rhetorisches Stilmittel der Überkreuzung, verdeutlichen: Die Gleichzeitigkeit von subjekt- und objekthaftem Status, die sich prototypisch in der menschlichen Selbstberührungsfähigkeit zeigt (einerseits ist die Hand, die die andere berührt, aktiv, und andererseits ist die 8
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Die auf kunst- wie gestaltungsphänomenologischer Ebene angestoßenen (primären) Kompetenzbildungen vermögen sodann jedoch auch heilpädagogisch wirksam werdende Transferwirkungen zu zeitigen, d. h. sekundäre Kompetenzbildungen zu befördern. Es ist anzunehmen, dass dabei die hermeneutische Kompetenz (einschließlich ihrer resonanten Spielart), die Selbstwahrnehmungsbzw. Reflexionskompetenz sowie die spontan und kreativ gestaltende Handlungskompetenz angehender Heilpädagog*innen besonders profitieren. Die prinzipiell in Bezug auf jede kunst- bzw. gestaltungsphänomenologische Praxis anzunehmenden heilpädagogischen Transferwirkungen erhalten durch die Spezifität der Werke der Sammlung Prinzhorn eine besonders intensive Prägung.
Werke der Sammlung Prinzhorn: Multivalente Artefakte mit psycho(patho)logischer, anthropologischer und künstlerischer Signifikanz Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, die auf eine Initiative des deutschen Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht, beinhaltet eine – weltweit einmalige – Kollektion von Artefakten, die von Menschen mit psychischen Ausnahmeerfahrungen – eigeninitiativ, d. h. nicht im eigentlich-kunsttherapeutischen Sinn – geschaffen wurden. 11 Nicht wenige Werke der Sammlung Prinzhorn beeindrucken durch eine Differenzästhetik, die namhaften Werken der ästhetischen Moderne in nichts nachsteht 12, als auch durch eine z. T. anrührende, z. T. abstoßende bzw. z. T. auch verstörende Anmutung, der den Betrachter nicht nur mit Spuren von pathischem und / oder pathologischem Erleben konfrontiert 13, sondern diesen darin, gleichsam als Spiegelef-
Hand, die berührt wird, passiv), gilt auch in erkenntnistheoretischer bzw. ontologischer Hinsicht (vgl. Merleau-Ponty 2004, S. 172 ff.). 11 Vgl. dazu auch Anmerkung 7. 12 Beispielsweise finden sich zwischen dem Werk Paul Goeschs und Paul Klees frappierende Ähnlichkeiten. 13 Beide Termini stehen für die äußersten Pole eines Kontinuums, das von leidenschaftlichem Ausdruck (pathisch) bis hin zu leidendem Ausdruck (pathologisch) ver-
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fekt, auch allgemein-menschliche Aspekte im Jasperschen Sinn erkennen lässt. 14 In letztgenannter Hinsicht können Werke der Sammlung Prinzhorn zudem als eindrückliche Dokumente der conditio humana gelesen werden – eine conditio humana, die nicht nur von überzeitlichen Parametern Zeugnis ablegt, sondern auch und gerade von zeitspezifischen Parametern – d. h. den sozio-kulturellen, epistemologischen und ideologischen Gegeben- und Gepflogenheiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Psychologie, Psychiatrie und Pflegewesen noch in ihren Kinderschuhen steckten. Die Werke oszillieren somit zwischen dem Status von Artefakten mit pathisch / pathologischem Ausdruck, ästhetisch-künstlerischem Status sowie dem Status als Zeugnis der conditio humana (sei diese nun in einem zeitlichen oder überzeitlichen Sinn verstanden). Zugleich führen uns die Werke eine existentiell-überlebenssichernde Dimension vor Augen, die mit dem kreativen Gestaltungsvermögen des Menschen verbunden ist. D. h. viele Fälle legen die Annahme nahe, dass der um jeden Preis verfolgte Wunsch nach künstlerischer Gestaltung so elementar ist, dass Patienten-Künstler*innen angesichts nicht verfügbarer Materialien auf einfach alles zurückgriffen, dessen sie habhaft werden konnten (Toilettenpapier, Matratzenfüllungen, Anstaltskleidung, Essen bis hin zu eigenen körperlich-organischen Komponenten wie Haare, Haut, Exkremente). 15 schiedenste Misch- und Zwischenformen umfasst (die wiederum unterschiedliche Grade intersubjektiver Einfühlung möglich machen). 14 In der Allgemeinen Psychopathologie spricht dieser davon, dass »(…) das Psychotische zu einem Gleichnis allen Menschseins werden (kann) durch sein Äußerstes« (Jaspers 1948, S. 257). 15 Marie Lieb beispielsweise fertigte aus zerrissenen Bettlaken ornamentale Rauminstallationen (von denen wir durch erhalten gebliebene Fotographien wissen); eine andere Künstlerpatientin, Katharina Detzel, fertigte, nachdem man ihr alles genommen hatte, was sie zum kreativen Gestalten benötigt hätte, aus dem Matratzeninhalt ihres Bettes eine überlebensgroße männliche Puppe; Paul Goesch, Patienten- und Avantgardekünstler, formte in akuten Phasen aus Brotbrei kleine Skulpturen und Josef Forster, auf den das Logo der Prinzhorn-Sammlung zurückgeht, benutzte die eigenen Exkremente, um der »Edelmensch« zu werden, der er sein wollte; Gertrud Schwyzer verwendete eigene Haare, um Kleidungsstücke zu nähen (vgl. zu Ersteren und zu Letzterer den die Ausstellung »Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie« begleitenden Katalog, herausgegeben von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, 2004, zu Goesch den die Ausstellung »Paul Goesch. Zwischen Avantgarde und Anstalt« begleitenden Katalog, herausgegeben von Thomas Röske, 2016b, und zu Forster den die Ausstellung »Durch die Luft gehen
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Der Eindruck, dass dem kreativen Gestalten nachgerade eine existenzsichernde Bedeutung zukommt bzw. dieses angesichts des entpersonalisierten Anstaltslebens den Patient*innen oftmals die einzig verbliebene Möglichkeit zum Selbstausdruck bzw. zur Selbstvergewisserung bot, lässt sich am Beispiel der Patientenkünstlerin Agnes Richter besonders deutlich machen: diese benähte ihre Anstaltsjacke mit Wort- und Satzkaskaden, in denen die Worte »Ich« und »Mein« dominieren, so, dass die Schrift äußerlich spiegelverkehrt, innerlich aber, d. h. aus der Warte Ihrer ureigenen Haut aus betrachtet, richtig herum zu lesen war. Aber auch das umfängliche Œuvre Paul Goeschs, von dem einige Werke in der mit den Studierenden besuchten Ausstellung vertreten waren, verdeutlicht die ich-stabilisierenden Kräfte, die dieser aus seiner fast lebenslang andauernden Schaffenskraft zu gewinnen vermochte – ein Umstand, der von Ernst Maschmeyer, einem seiner behandelnden Ärzte, auch höchst erstaunt vermerkt wurde (vgl. Ruckdeschel 2016). Hinzu tritt in vielen Fällen aber auch eine transformierend-apotropäische Funktion – d. h. die gestalterische Tätigkeit vermag Bedrohlich-beunruhigendes bzw. Irrationales gewissermaßen zu beruhigen, zu ordnen oder gar zu bannen. Zugleich führen uns die Werke die komplexe, z. T. in Aporien führende, Frage nach hinreichenden Distinktionsmerkmalen zwischen Kunst und Nicht-Kunst, Gesundheit und Krankheit, Norm und Abweichung vor Augen. Begeisterte Hans Prinzhorns 1922 erschienene Publikation mit reichhaltigen Abbildungen, »Bildnerei der Geisteskranken«, doch nicht nur die Pariser Surrealistenszene, die darin gewissermaßen die eigenen Kunstideale gespiegelt sah, sondern Werke der Sammlung schlugen (und schlagen) immer wieder auch andere Künstler und Intellektuelle als Kunst in ihren Bann. 16 Der Umstand, dass zwischen patientenkünstlerischen Werken und Werken der klassischen Moderne in stilistisch-phänomenologischer Hinsicht z. T. kaum ein Unterschied gemacht werden kann (vgl. Sass 1991) 17, sollte allerdings nicht bedeuten, jegliche Differenzen ein– Josef Forster, die Anstalt und die Kunst« begleitenden Katalog, herausgegeben von Thomas Röske und Doris Noell-Rumpeltes, 2011). 16 Der Graphiker Alfred Kubin wertschätzte die Sammlung sehr (vgl. Kubin 1922), auch Jean Dubuffet, Begründer der Art-Brut-Bewegung, achtete ausgewählte Werke sehr (vgl. Brun 2015). Einblicke, inwieweit gegenwärtige Künstler*innen von der Sammlung fasziniert sind bzw. durch diese angeregt werden, finden sich in von Beyme / Röske (Hrsg.) 2013 und 2014. 17 Als Beispiel sei ein Werk August Natterers, Der Wunder-Hirthe (ca. 1911–1913)
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zuebnen; als entscheidendes Differenzkriterium ist dabei sicherlich die unterschiedlich hohe Dichte pathischer bzw. pathologischer Spuren zu berücksichtigen, die sich in den jeweiligen Werken finden lassen (vgl. Waldenfels 2014, S. 44 f.). Die fraglos existierenden Schnittstellen zwischen Patientenkunst und moderner Kunst aber wurden von den Nationalsozialisten zur Diskreditierung von Letzterer genutzt. 18 Die Ermordung von Patientenkünstler*innen wie Paul Goesch als »unwertes Leben« durch nationalsozialistische Ärzte bietet darüber hinaus Anlass, Studierende mit der wohl unmenschlichsten Phase der deutschen Geschichte bzw. mit deren (verheerender) Bedeutung für die Geschichte der Heilpädagogik bekannt zu machen. Eine nähere, d. h. immer auch kritische, Beschäftigung mit den medizinisch-diagnostischen, institutionellen, pflegerisch-therapeutischen Wissensständen und Praxen um 1900 – vermittelt über Werke und Krankenakten der Sammlung Prinzhorn sowie andere zeitgenössische Quellen – kann schließlich dazu beitragen, dass den Studierenden – in einem Foucaultschen Sinn (1991) – die Abhängigkeit von Konzepten wie Kunst und Nicht-Kunst, Gesundheit und Krankheit, Norm und Abweichung von sozio-kulturellen, epistemologischen und ideologischen Diskursen und Praktiken bewusst wird. Zugleich können die Studierenden für ein Verständnis psychischer Ausnahmeerfahrungen sensibilisiert werden, das nicht in binären Modellvorstellungen aufgeht (dazu gehören auch Überlegungen, ob nicht-organische psychische Krankheitsbilder u. U. nicht als Störung, sondern als Krisenbewältigungsstrategien anzusehen sind). 19 Über diese wissensbasierten Dimensionen hinaus können die angehenden Heilpädagog*innen in der Auseinandersetzung mit Werken der Sammlung Prinzhorn aber auch ihre hermeneutische Kompetenz (unter besonderer Berücksichtigung der resonanten Kompetenz, d. h. ihren Fähigkeiten, auch leibliche, d. h. nicht sprachlichrationale, sondern körpersprachlich-intuitive Signale registrieren und verstehen zu können) schulen. Ein Umstand, der selbstredend nicht bedeuten sollte, Diagnosen aus den Krankenakten, die aufgrund
und Max Ernsts Ödipus (1937) angeführt; tatsächlich ist von einer direkten Beeinflussung Ernsts durch Natterer auszugehen. 18 Einzelne Blätter Paul Goeschs wurden beispielsweise in der Wanderausstellung »Entartete Kunst« gezeigt, vgl. Röske (2016a). 19 Vgl. in diesem Zusammenhang exemplarisch Mentzos (2012, S. 13).
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der historischen Distanz nicht (mehr) verifizier- bzw. falsifizierbar sind, gleichsam als Leitmotiv für ihre Werkwahrnehmung zu nutzen. Vielmehr sollten sich die Studierenden darum bemühen, den Werken, im Sinne der der Lehreinheit zugrundeliegenden phänomenologischen Methode 20, mit einer (zumindest annähernd) vorurteilslosen Haltung zu begegnen, d. h. zunächst einmal nur das wahrzunehmen, was ihnen resonant entgegen tritt. 21 In dieser Hinsicht erweist sich die nähere Betrachtung des responsivitätstheoretischen Verständnisses Bernhard Waldenfels’ als hilfreich: Kunstwerke, so Waldenfels, weisen eine pathisch-responsive Qualität auf. D. h. zum einen haben sich ihnen spezifische Widerfahrnisse als Eindruck eingeschrieben. Zum anderen verwandelt sich jedes Pathos im Versuch, dieses gestaltend zu verarbeiten, in ein responsives Moment. Diese Gesetzmäßigkeit gilt für jeden künstlerischen Gestaltungsprozess, also auch für die Gestaltung patientenkünstlerischer Werke. Allerdings kann sich in Bezug auf Letztere das Verhältnis zwischen Ausdruck und Eindruck verschieben. Z. B. könnte der pathische Eindruck so stark werden – also pathologische Qualität aufweisen –, dass Response kaum noch möglich ist bzw. inadäquat wird. Oder aber die betreffende Person ist nicht mehr in der Lage, Eindrücke zuzulassen, da das Kreiseln um den eigenen Ausdruck zu wirkmächtig geworden ist (vgl. Waldenfels 2014, S. 45 ff.). Für die Wahrnehmung genau dieser (Un-) Verhältnismäßigkeiten bzw. dem Wechselspiel zwischen eigenem und fremdem Eindruck und Ausdruck kann die Begegnung mit Werken der Sammlung Prinzhorn Studierende sensibilisieren. Vor allem aber vermag die Gestaltung einer eigenen kreativen Response das resonante Kompetenzspektrum – im Waldenfelschen Sinne – zu vertiefen. 22
Dieses Vorgehen ist den Husserlschen Überlegungen geschuldet, zu Beginn jedes Erkenntnisprozesses zunächst die »Ausklammerung« allen Vorwissens / nicht sachgemäßer Bewusstseinsinhalte anzustreben (Epochè) (Husserl 1962, S. 260). 21 Im Anschluss daran könnte sich eine nähere Beschäftigung mit psychopathologischer Diagnostik anschließen; eine Erweiterung, auf die ich im konkreten Lehrveranstaltungsverlauf verzichtet habe. 22 Anders als in der von Henn & Keller favorisierten Vorgehensweise zu Phase II der Dialogischen Werkbetrachtung (Henn / Keller 2011, S. 204) – ausgehend von einer möglichst identischen Kopie des betrachteten Werkes werden, gemäß eigener, innerer Entwicklungsimpulse, spezifische Abwandlungen vorgenommen – werden die Studierenden gleich zu einer eigenen Antwort auf das jeweilige Werk eingeladen. 20
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Einblicke in Erfahrungs- und Erkenntniszusammenhänge der experimentellen Lehreinheit Das experimentelle Lehrformat bestand einerseits aus seminaristischen Anteilen – Einführung in die Sammlung Prinzhorn, Vermittlung eines Strukturmodells zur phänomenologischen Werkbetrachtung in Anlehnung an die von Henn / Keller (2011) im Rekurs auf Golombek vertretene »Dialogische Werkbetrachtung« 23, Auseinandersetzung mit Werken der Sammlung Prinzhorn auf kunst- und kulturwissenschaftlicher sowie (therapeutisch-)phänomenologischer Basis (kritische Textarbeit) – und andererseits aus praktischen Anteilen – Werkbetrachtung eines selbst gewählten Artefaktes (nebst deren Verschriftlichung) bzw. eine vertiefte Auseinandersetzung mit den durch die Werkbetrachtung evozierten Gedanken und Gefühlen unter besonderer Berücksichtigung der objektiven und subjektiven bzw. intersubjektiven Komponenten im Wahrnehmungsprozess auf der einen sowie einer künstlerisch-praktischen Response auf das ausgewählte Werk auf der anderen Seite (hinsichtlich Medien und Materialwahl wurden die Studierenden dabei völlig freigelassen). Die Werkbetrachtung wurde, gemäß der Logik der phänomenologischen Methodik 24, an den Anfang gestellt; seminaristische Anteile, d. h. die kritische Auseinandersetzung mit (Outsider-)Kunst, schlossen sich an. Ans Ende gestellt wurde die Aufgabe, eine eigene Response auf ein spezifisches Werk der aktuellen Ausstellung in der Sammlung Prinzhorn zu kreieren. Die Werkbetrachtungen bestechen mehrheitlich durch eine hohe Unterscheidungsfähigkeit der Studierenden hinsichtlich dessen, was in ihren Reaktionen auf das ausgewählte Artefakt durch das je SoSein des spezifisch gestalteten Artefakts begründbar ist (i. e. ein bestimmter Mundwinkel, eine bestimmte Handhaltung, die benutzte Farbe, ein malerischer Gestus, eine ausgesparte Stelle etc. signalisieren / transportieren beispielsweise Traurigkeit und / oder Fröhlichkeit, sehr häufig benannten die Studierenden auch Irritationsmomente, die durch Besonderheiten in Sujet, Gestus oder Material in ihnen ausgelöst wurden; z. B. deformiert-leblose Hände, Füße, die über dem Boden schweben, Gesichter, die eines und doch zugleich mehrere sind
23 24
Vgl. zum konkreten Vorgehen Anmerkung 1. Vgl. Anmerkung 20.
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etc.), aber auch hinsichtlich dessen, was sie durch ihre persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle in die Werke »hineinlasen«. 25 Als ein besonderer »Aha«-Effekt wurde von den Studierenden in den Plenumsdiskussionen der Umstand benannt, dass trotz subjektiver Unterschiede in den Werkbetrachtungen die Menge der intersubjektiven Schnittstellen verblüffend hoch ist (Anmutungen einzelner Werke wurden mehrheitlich oft als fast identisch wahrgenommen). In dieser Hinsicht legte die Mehrheit der Studierenden eine hohe Sensibilität in Bezug auf die pathisch-pathologischen Erfahrungsspuren an den Tag (z. B. die Wahrnehmung klaustrophobischer Enge, reifizierte oder hyperreflexive Anmutungen, aber auch grotesker Humor, Ironie, entgrenzende Sehnsucht oder Hoffnung). 26 Gemäß der Multivalenz der Werke ließe sich jedoch ebenso gut sagen, dass sich die Studierenden vom allgemein-menschlichen bzw. existentiellen Gehalt der Werke berühren ließen. Über allem aber stand die ästhetisch-künstlerische Faszination, die die Werke auf die Studierenden ausübten – bzw. die verblüffende Wahrnehmung, wie viele Analogien zwischen Werken der Sammlung und dem Kanon der Kunst der Moderne feststellbar sind. D. h. als vielleicht wichtigste Erkenntnis, die die Studierenden formulierten, ist zu nennen, dass die Grenzen zwischen dem, was als Kunst und was als Nicht-Kunst, bzw. was als gesund und was als krank zu gelten habe, fluide bzw. kontextabhängig sind. Eine Erkenntnis, die weder den ästhetisch-künstlerischen noch den pathisch-pathologischen Gehalt der Werke schmälert, sondern vielmehr beiden Spielarten ihre Referenz erweist (vgl. zur Multivalenz von Werken aus der Sammlung Prinzhorn Bernet 2014). Die Rückmeldungen der Studierenden auf die Lehreinheit waren insgesamt sehr positiv, sodass diese curricular fest verankert wurde. Dabei reichten die Rückmeldungen von »faszinierendes Thema«, d. h. Outsiderkunst um ihrer selbst willen, über »die Beschäftigung mit der Sammlung Prinzhorn hat mir vieles aus der Psychiatriegeschichte konkret vor Augen geführt« bis hin zu »die intensive Beschäftigung mit einem Werk hat mich viele Zusammenhänge, von denen in den kritischen Texten die Rede war, besser begreifen lassen«. Als DesideZ. B. als ein See von einer Studentin als beruhigender Rückzugsort beschrieben wurde, wusste sie diese Wahrnehmung mit eigener Erfahrung zu begründen, wohingegen eine andere Studentin genau diesen See als Bedrohung empfand – und diesen Eindruck ebenfalls mit einer sehr persönlichen Erfahrung verband. 26 Vgl. in diesem Zusammenhang Feise-Mahnkopp über Werke Jakob Mohrs (2016) bzw. Paul Goeschs (in Vorbereitung). 25
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rat stellte sich jedoch die Berücksichtigung heilpädagogisch-diagnostischer Lehrinhalte dar. 27 Beschließen möchte ich den Ergebnisteil mit der (sinngemäßen) Rückmeldung eines Studierenden, die deutlich macht, dass die Lehrveranstaltung nicht nur heilpädagogischer Kompetenzbildung zuträglich ist, sondern auch transdisziplinäre Bildungszwecke erfüllt (und damit im Studium Generale wohl situiert ist): die Lehrveranstaltung habe, so der Studierende, neben erhellenden Einblicken in ästhetische und kunsttherapeutische Zusammenhänge, nicht nur seinen Blick auf Kunst bzw. Patientenkunst verändert, sondern auch seinen Blick auf den Menschen – und damit sich selbst.
Ausblick Um eine abschließende Bewertung der Lehreinheit vornehmen zu können, bedarf es des Einbezuges der kreativen Responses der Studierenden. Zum jetzigen Zeitpunkt kann nur vermutet werden, dass diese, ebenso wie die Werkbetrachtungen, die resonante Kompetenz sowie die Fähigkeit der Studierenden zu kreativ-gestaltendem Handeln in heilpädagogischen Kontexten anzuregen vermögen. Was die Sichtbarmachung der (heilpädagogischen) Transferwirkungen anbelangt, bedarf es Folgestudien 28, die den etwaigen Einfluss ästhetisch bzw. künstlerisch-reflexiver Lehrkomponenten 29 auf die Bildung hermeneutischer, insbesondere aber resonanter, Kompetenz, Selbstwahrnehmungs- und Reflexionskompetenz sowie die Fähigkeit, kreativ und geistesgegenwärtig heilpädagogisch angemessen handeln zu können, thematisieren.
Die Kopplungsmöglichkeit der Lehrveranstaltung mit diagnostischer Lehrveranstaltung wird daher z. Z. geprüft. 28 Geplant ist eine Befragung der später in heilpädagogischen Berufsfeldern tätigen Studierenden. Selbstredend kann es dabei nicht um »Beweise« einer Transferwirkung gehen, wohl aber um eine differenzierte Einschätzung derer, die diese Einschätzung von Berufs wegen vornehmen können – und auch müssen. 29 Das heilpädagogische BA-Curriculum am SzM beinhaltet intensive künstlerische (Selbst-)Bildung in Kunstmodulen bzw. die Aneignung künstlerischer Methoden und Verfahren im Rahmen des Moduls Heilpädagogische Intervention. 27
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Karl-Heinz Menzen
Von den Bildern in den Köpfen der Kinder, Eltern und Erzieher. Eine Heilpädagogin, ein Entwicklungspsychologe, eine Neuropsychiaterin, ein Neurologe und ein Quantenphysiker im Gespräch Abstract: Objekte, Bilder, Gestalten, unser alltägliches Leben, all das, was wir tun, es wird angeleitet, ist nicht frei von Vorgaben, ist in der Regel gesteuert von Vorstellungen, von Handlungsmustern, die sich uns im Laufe des Lebens eingeprägt haben. Zuweilen aber sind die Verlaufsmuster, nach denen wir handeln, gestört. Dafür gibt es nicht nur biologische Gründe (gestörte Gen-Reaktionsbereitschaften, Informationsaufnahme, -verarbeitung, -weiterleitung), auch psychische Gründe können u. U. dafür verantwortlich sein (fixe Ideen, neurotische Reaktionen, depressive, ängstliche, zwanghafte, gestörte Handlungsmuster, besonders schwere traumatische Erfahrungen). Die Hilfestellungen im Kultur- und Bildungsbereich sind angehalten, die im Alltag kommunikativ hemmenden Irritationen von Bild- und Verhaltensmustern nicht nur zu berücksichtigen, sondern sie zu unterscheiden und im salutogenetischen Sinn als Ausdrucksformen einer erschwerten psychischen Situation zu verstehen.
Nicht nur Eltern und Erzieher, auch Therapeuten haben oft Schwierigkeiten, die Eindrücke, Vorstellungen und Bilder der ihnen anvertrauten Kinder nachzuvollziehen. Der folgende Beitrag versucht in der Art eines fiktiven Symposions, die Positionen der Experten nachzuvollziehen.
I
Von ungestörten und gestörten Wahrnehmungs- und Vorstellungsbildern
Eine Psychopathologie der Entwicklung unterscheidet Störungen der Affekte, der Sinne, der Motorik und der Kognition.
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Von den Bildern in den Köpfen der Kinder, Eltern und Erzieher
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Sie weist uns darauf hin, dass affektive Störungen in der Regel Störungen der Beziehung sind, Irritationen in den Verhältnissen von Kindern zu ihren Bezugspersonen. Was in der Begrifflichkeit der Entwicklungspsychologie »Objekte« genannt ist, betrifft diejenigen, die dem Kind gegenüber sind (objicere = lat. gegenüber stehen) und zuweilen – das Präfix »gegen« unterstreicht die Aussage – als Personen unerreichbar bleiben. Die daraus resultierenden Persönlichkeitsstörungen der Kinder sind darüber erklärbar, dass die Schemata des kindlich-angemessenen Verhaltens nur schwer gelernt werden können, da die Spiegel-Funktion der Bezugspersonen ggfs. nicht gelingt und die Schemata, die zuweilen irritierend und krankmachend gelernt worden sind, nur über eine Psychotherapie, beispielsweise über eine Schemaoder Bild-/Kunsttherapie, aufgearbeitet werden können. Als schwerste Irritationen der Affekte gelten Psychotraumata, die eine spezielle therapeutische Weiterbildung der Behandelnden verlangen, was in neuerer Zeit immer mehr in Vergessenheit gerät. Sie weist uns darauf hin, dass Sinnesstörungen in der Regel gleichermaßen mit einer Irritation in der Aneignung der Welt der Objekte zusammenhängen. Die Störungen der Sinne sind nur auf dem Hintergrund der stufen- oder phasenförmigen, jedenfalls aufeinander aufbauenden Entwicklung der Sinnesaneignung zu verstehen. Gegebenenfalls zeigen sie sich spezifisch als umgrenzte, sog. Teilleistungsstörungen. Diese werden entsprechend in heilpädagogischen Behandlungsverfahren versuchsweise restituiert. Und auch in diesen Fällen ist zu vermerken, dass entsprechende Irritationen sich nicht nur auf die affektiven, auf die Bindungsverhältnisse von Kindern und Bezugspersonen auswirken, also nicht ausschließlich sinnesfunktional behandelt werden können, sondern diese affektiven Störungen verursachen. Sie verweist uns auf die Störungen des Körperausdrucks und Verhaltensrepertoires, die in jedem Fall prä-, peri- oder postnatal erklärt werden können. In der Regel sind sie psychomotorischer Natur, da das motorisch gesteuerte Verhalten immer affektiv besetzt ist, wie neuere Studien zeigen. Ob pränatal (Gen- und Proteinstörungen), perinatal (Sauerstoffdurchblutungsmangel) oder postnatal (beispielsweise bei Meningitis, infektiöser Hirnhautentzündung) erklärt, die Störungen des Körper- und Verhaltensausdrucks sind oft reversibel (ADHS), körper- und ver47 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Karl-Heinz Menzen
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haltensmotorisch zuweilen kompensierbar (Spastik, Schlaganfall), sind aber progredient (im Fall des sog. Pick’schen oder Parkinson-Syndroms, von Eiweißablagerungen im Gehirn, schon in jüngeren Jahren diagnostiziert). Sie verweist uns auf die Störungen in der Entwicklung der Kognition der heranwachsenden Kinder und Jugendlichen, wo sie in ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung), im Autismus (eine Art der frühkindlichen Informationsverarbeitungsstörung) oder kognitiv-teilleistungsgestört Formen der menschlichen Kommunikation (LRS, Lese-Rechtschreib-Schwäche etc.) betrifft und generell eine Störung der fokussierten Wahrnehmung mit sich bringt.
Die Entwicklungspsychopathologie stellt sich generell die Aufgabe, die Irritationen des kindlichen und jugendlichen Verhaltens umfassend zu diagnostizieren und gegebenenfalls speziell konkret anzugehen. Entsprechend versucht der vorliegende Beitrag, in der Art eines fiktiven Interviews eine Heilpädagogin, einen Entwicklungspsychologen, eine Psychiaterin, einen Neurologen und einen philosophisch argumentierenden Quantenphysiker ins Gespräch darüber zu bringen, wie die je spezifische Expertise die Eindrücke, die Bilder, die Verhaltensmuster der Heranwachsenden grundsätzlich in den Blick nimmt, und welche Vorschläge sie unterbreitet, mit den irritierten Bildern umzugehen.
II
Die Wahrnehmungs- und Ausdrucksstörung aus der Sicht der Heilpädagogin
Die Heilpädagogin erklärt uns (vgl. Senckel 1999), dass Wahrnehmungsstörungen da entstehen, wo Informationen der verschiedenen Sinne nicht angemessen codiert werden können – man spricht dann von modalen Störungen. Wenn diese unzureichend miteinander verknüpft worden sind, geht man von intermodalen Störungen aus. Und wenn es gar nicht gelingt, sie in ihrer Reihung, in ihrer Aufeinanderfolge, d. h. in ihrem Zusammenhang zu erfassen, dann sind dies seriale Störungen. Wir erfahren, dass das Gehirn die visuellen, akustischen, taktilen, vestibulären, propriozeptiven, olfaktorischen und gustatorischen Reize, dass es die eingehenden Informationen ana48 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Von den Bildern in den Köpfen der Kinder, Eltern und Erzieher
lysieren, vergleichen, bewerten und schließlich miteinander verknüpfen muss, um sie interpretativ auf die Umwelt reagierend in Handeln zu übersetzen. Wir erfahren auch, dass Gesichts-, Gehör-, Tast-, Körper-, Bewegungs-, Geschmacks- und Geruchssinn unseren Sinnesorganen modalspezifisch, sprich: in einer genau abgestimmten Wahrnehmungsmodalität übermittelt werden müssen, – das betrifft die Art und Weise dieser Übermittlung, hier »modal« genannt, und dabei ganz besonders die spezielle Reizvermittlung (Licht- und Schallwellen, Tast-, Druck- und Temperaturdifferenzen, Infos über die Gleichgewichtslage, die Lageveränderungen und Muskelkontraktionen, letztendlich über die Körperschemata, und nicht zu vergessen: über die neuronalen und zerebralen Meldungen der Rezeptoren von Geschmacks- und Geruchsorgan). Die Heilpädagogin kann uns mithilfe der Entwicklungsneurologen vermitteln, wann in welcher vorgeburtlichen Phase welche Organe zur Entwicklung kommen. Sie weiß inzwischen auch, welche Störungen sich in welchen Zeiträumen vor der Geburt ereignen können. Félicie Affolter, gleichermaßen Heilpädagogin und eine Schülerin des Entwicklungspsychologen Jean Piagets, hat die Sinnesspezialitäten der modalen, der intermodalen und serialen Entwicklungsstufe herausgearbeitet und mit ihrer Arbeit bewirkt, dass eine intensive Diskussion darüber in Gang kam, wie die Entwicklung der Sinneskanäle mit den Bindungs- und Beziehungsmodalitäten zu korrelieren seien (vgl. Menzen 2017. S. 124 f.). Anna Jean Ayres (1920–1989), eine Heilpädagogin der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, entwickelte aus diesen Erkenntnissen ein Modell der sogenannten sensorischen Integration. Sie wies zum ersten Mal genauer darauf hin, dass komplexe höhere Hirnfunktionen im Maße der Entwicklung der Sinne und deren Integration aus einer sich aufeinanderbeziehenden Stufigkeit von Kompetenzen zu erklären seien, und beispielsweise Augenbewegungen, Haltungen, Tones der Muskeln und Gleichgewicht, wenn miteinander koordiniert, zu einer besseren Koordination der Körperseiten, der Körperwahrnehmung und Bewegungsplanung führe; dass die Mutter-KindBindung, die Art und Weise des Stillens und damit verbunden das kindliche Wohlbefinden erst zur emotionalen Stabilität und in Folge zur Steigerung des kindlichen Aktivitätsniveaus und seiner Aufmerksamkeit führe; dies wiederum den sprachlichen und visuellen Wahrnehmungsprozess verantworteten (Ayres 1984). Die Heilpädagogin schlussfolgert: Ihr Fach hat aus all diesen Er49 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Karl-Heinz Menzen
kenntnissen gelernt, dass die Bilder im Kopf des heranwachsenden Kindes von der gelungenen wie der gestörten Entwicklung der jeweiligen Sinnesmodalitäten beeinflusst werden. Für die Heilpädagogik der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde hiermit eine Grundlage gelegt, die empirisch sensomotorisch ausgerichtete Entwicklungspsychologie eines Jean Piaget zunächst daraufhin zu befragen, in welcher Ordnung, Reihenfolge die Tätigkeit des Kindes zu organisieren sei, um Störungen in dessen Entwicklung zu vermeiden. Umgekehrt setzte sich eine Heilpädagogische Kunsttherapie daran (Menzen 1994), die Kompensationsmöglichkeiten einer Entwicklungsverzögerung schon bei Kleinstkindern auf einer noch nicht sprachlich gebundenen Kommunikationsebene zu eruieren. Ihr war es ein besonderes Anliegen, die sinnesphysiologischen, bindungsund gefühlsorientierten mit dem gestaltungspädagogischen Aspekten einer solch verstandenen Förderung in Zusammenhang zu bringen.
III
Die Wahrnehmungs- und Ausdrucksstörung aus der Sicht des empirisch orientierten Entwicklungspsychologen
Jean Piaget (1973) und vor ihm schon in anatomischer Kleinarbeit Johannes W. Rohen (1971) haben fünf Aspekte der Entwicklung des Kindes, fünf sensorisch-motorische Funktionskreise von den frühen Reflexen bis zu dem später sich entwickelnden Bewusstsein beschrieben: 1. die frühen Reflexe und Automatismen, 2. die reflexartigen Abwehrreaktionen, 3. die im Hirnstamm angesiedelten Steuerungsmechanismen für die Sinneseindrücke, 4. das unwillkürliche extrapyramidale System und die unbewusst-affektiven Bewegungen, schließlich 5. das pyramidale System und die willkürlich-bewussten, willentlich ausgeführten Bewegungen. Piaget hat in Folge fünf Stadien der Intelligenzentwicklung entworfen: Das sensomotorische, vor-begrifflich-voroperationale, das anschaulich-intuitive, das konkret- und schließlich das formal-operationale Stadium. Er hat beschrieben, wie ein ständig korrelierender Prozess der Assimilation (der Informationsaufnahme) und Akkommodation (der kognitiven Um- und Neustrukturierung) diese Entwicklung vorantriebe. Und entsprechend musste auch eine mit Bildern arbeitende heilpädagogische Kunsttherapie lernen, die Bild-, Objekt- und Muster-, An- und Übereignung in den sich hier darstellenden entwickelnden, aufeinan50 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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der aufbauenden Schemata eines sinneseindrücklichen und gestalthaften Wahrnehmens zu begreifen. Hiergegen wehrten sich zumindest in den Anfängen dieser Theoriebildung psychoanalytische, später auch neurologisch orientierte Entwicklungspsychologen mit einem gewissen Recht, da zuweilen die empirische Entwicklungspsychologie die affektiv sich gestaltenden Bindungen zu wenig berücksichtigte.
IV Die Wahrnehmungs- und Ausdrucksstörung aus der Sicht der psychoanalytisch und neurologisch orientierten Entwicklungspsychologen Der amerikanische Entwicklungspsychologe Daniel Stern beschäftigte sich schon früh mit jenen Schemata, die das noch sehr kleine Kind über die Ausdrucksgebungen von Mutter und Vater erlernt (vgl. Stern 1995; 1996. S. 17–30; 2011). Jetzt standen nicht nur, und dies in Ausweitung der Erkenntnisse Jean Piagets, die bisher erarbeiteten sensomotorischen Schemata, sondern auch die perzept- und konzeptgebundenen, die inneren gefühlsgestalt- und erzählerisch-geprägten Schemata im Mittelpunkt der Studien. Der Ausdruck der Bezugspersonen, das je Situative von deren Mimik, Stimme, Körperhaltung und Berührung, – diese repräsentative, innerbildhafte Erfahrung schien dem Entwicklungspsychologen wesentlicher Faktor für die Ausbildung eines Körpergefühls, einer proprio- und kinästhetischen Empfindung. Was sich entsprechend im Kind bildhaft-schematisch manifestierte, konnte eine bisher unbelegte These begründen, nämlich dass »durch leiblich-affektive Resonanz […] der Säugling sich selbst im Anderen kennen(lernt)« (Fuchs 2011. S. 15). Daniel Sterns These war, dass die Affektregulation des Säuglings vor allem über die affektive Gestimmtheit der Bezugspersonen geschehe; dass der mütterliche und väterliche Ausdruck neuronal markiert und in den Gefühlszuständen des kleinen Kindes schließlich gespeichert werde. Was zunächst primär-affektregulativ geschehe, werde in Folge in der Art eines ständigen Biofeedbacks verstärkt. Zunehmend wisse das heranwachsende Kind beispielsweise den mimischen oder gestischen Ausdruck von Vater oder Mutter mit den seiner Gefühlslage korrespondierenden Erregungen zu verknüpfen. Das Bild von Vater oder Mutter repräsentiere geradezu dessen Gefühlszustände, so der Ent51 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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wicklungspsychologe. In der Zusammenarbeit Sterns mit seinem neurologischen Kollegen Damasio (2011) wurden auf diese Weise die Grundlagen gelegt für eine neurologisch orientierte Bildarbeit mit den von Störungen betroffenen Kindern. Die psychoanalytisch entwickelte These von der frühen Objektbildung und sogenannten Cathexis, d. h. von deren emotionaler Besetzung, fand auf diese Weise ein entwicklungsneurologisches Pendant. Das, was fortan Selbst- und Objekt-Repräsentanz genannt wurde, schilderte entwicklungspsychologisch die Geschichte eben jener sich im Kind abbildenden Objekte, der sog. Objektrepräsentanzen, an denen das Kind seine Selbst-Repräsentanz vorbildhaft gelernt hatte. Und es wurde deutlicher als vordem, dass im Vorgang der affektiven Spiegelung seitens der Bezugspersonen ein fremdes Selbst entstehen und sich neuronal manifestieren konnte. Jetzt wurde auch deutlich, wie in all diesen Vorgängen, in denen das Kind gefüttert, geschaukelt, gewiegt, getröstet, zurückgewiesen oder auch psychisch verletzt wird, – wie sich in all diesen Vorgängen Muster, Erinnerungsbilder auszubilden in der Lage waren, die als archaische Gefühle vom Anfang des Lebens bis in die späte Kindheit und Jugendzeit die Heranwachsenden bestimmen konnten. Selbst-Bilder, wie sie zunehmend in den Fokus von den mit Bildern arbeitenden Therapeuten gerieten, erwiesen sich zunehmend als Teilobjekte einer vergangenen, aber noch andauernden kindlichen Körpererfahrung. In der Arbeitsbeziehung mit den Therapeuten schienen diese Bilder zuweilen sinnbildlich mit primitiven, d. h. ursprünglichen Körpererfahrungen der Kinder assoziiert; konnten im Rahmen dieser Arbeitsbeziehung auch symbolisch verstanden werden. Auf den inneren Bühnen der Kinder waren sozusagen die Replikanten der Mütter- und Väter-Erfahrungen wie Kopien arrangiert (vgl. Peichl 2015. S. 47), sozusagen verinnerlichte Standbilder, die die Heranwachsenden ein Leben lang begleiten sollten. In dem Maße, wie eine neurologische »In-Blick-Nahme« der Entwicklung auch die neuronalen Veränderungen auszumachen in der Lage war, schienen die gestörten Bindungs- und Gefühlsmuster oft erst in ihren Folgewirkungen, wie zum Beispiel in einem viel später sich entwickelnden Burnout, dokumentiert (Söllner 2016. S. 66). Und auch eine Entwicklungsgenetik unserer Tage (Strüber 2016. S. 52 f.) konnte zeigen, dass und wie eine mangelhafte Betreuung in früher Kindheit die genetisch gesteuerte Rezeptortätigkeit der Neurotransmitter zu beeinflussen vermag. 52 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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V
Die Wahrnehmungs- und Ausdrucksstörung aus der Sicht der wahrnehmungspsychologisch interessierten Neurologie und Neuropsychiatrie
Die Neurologie der Wahrnehmungsstörungen, die sich zuweilen schon in den Bildern von Kindern zu manifestieren schien, war auf einmal im Mittelpunkt des pädiatrischen Interesses. Der Prozess der Informationsaufnahme, -weiterleitung und -verarbeitung stand aber über lange Zeiten immer wieder insoweit zur Diskussion, als man sich entwicklungs-psychologischerseits die Frage nach der Bewertung der neuronal fokussierten, genauer zu bestimmenden Entwicklungsprozesse stellte. Die Diskussion kam schließlich zu der nicht unumstrittenen Feststellung (Fuchs 2011), dass eben diese Prozesse lediglich als Bestandteil eines Austauschprozesses von Individuum und Umwelt zu betrachten seien. Aber auch diese kritische Hinterfragung des Stellenwerts der Neurologie der Entwicklung, zunächst unterstützt aus phänomenologischer Sicht (das Gehirn als Organ, als Instanz einer Transformation) (Fuchs 2011. S. 57), musste in den letzten Jahren insoweit eine Relativierung hinnehmen, als der quantenphysikalische Hinweis auf die biologische Basierung der geistigen – inklusive der psychischen Prozesse – nicht mehr zu überhören war. Die Verknüpfung von Quanten- und Bewusstseinstheorie schien nicht nur reale Beziehungen widerzuspiegeln; sie wurde immer vehementer von Quantenphysikern wie H.-P. Dürr, Th. Görnitz u. a. vorgelegt (Görnitz 1999. S. 263). Selbst unbewusste Vorgänge, so die Erörterungen von C. G. Jung und dem Nobelpreisträger für Physik, Wolfgang Pauli (vgl. Görnitz 1999. S. 290), schienen nahezulegen, dass die bisherig dualistisch geprägte Grundlage der Entwicklungspsychologie als eine in ihrem Verhältnis zur Umwelt sich ausformende individuelle Entwicklung klassisch-physikalisch durchaus als Arbeitsmodell hinreichend, aber unter den quantentheoretischen Aspekten und deren monistischer Positionierung grundsätzlich zu hinterfragen war. Die Einschätzung des Physikers und Nachfolgers von Heisenberg, H.-P. Dürr, lautete allerdings einschränkend, man brauche »den alten Weg des Begreifens nicht gänzlich zu verlassen«; diese Art des Denkens sei »anwendbar auf einen bestimmten Bereich« (Dürr & Oesterreicher 2015. S. 78). Wo die Quantenphysik »keine deutlich zu definierende Grenzlinie zwischen mir als Beobachter und der äußeren Welt« konstatierte, wo sie die Frage nach der »Grenze zwischen Ich und Welt gar nicht 53 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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mehr zu stellen« schien, räumte sie der klassisch-physikalischen Position dennoch ein, angesichts ihrer Erfolge ihre bisher praktizierten wiewohl nicht unumstrittene aristotelische Ausschlusslogik in der Forschung (im medizinischen wie psychotherapeutischen Bereich: einer Evidence-based-Medicine), ihren bisher geltenden Objektivierungsstandpunkt beizubehalten, ihre Vorstellungs- und Erkenntnispraxen unter der Prämisse, dass die »Dinge gar nicht so sind, wie wir sie begreifen«, vorbehaltlich einer unzulässigen Verabsolutierung weiter zu pflegen; jedoch nicht auszuschließen, dass das bisher geistig-körperlich Getrennte u. U. unteilbar, zwei Äußerungsformen des Geistigen selbst seien (Dürr & Oesterreicher 2015. S. 18 f.; S. 78; 132 f.). Für viele Naturwissenschaftler waren es pragmatische Gründe, die bisherige Praxis ihres methodischen Herangehens beizubehalten. Auch wenn quantenphysikalisch hinterfragt, hatte doch mit dieser Haltung die moderne neurologische Forschung der letzten 25 Jahre (1993–2018) erstaunliche Erfolge vorzuweisen. Für viele, auch naturwissenschaftlich ausgerichtete Psycho- und speziell Bildtherapeuten schien die quantenphysikalische Erklärung der verstörten Objekt-Bild-Vorstellungsmuster, wie sie schon Fritz Perls angedacht hatte, aber geradezu die einzige Möglichkeit, spontane und zuweilen nicht erklärbare psychische Störungen in ihren Ausdrücken zu verstehen. Sie verwies auf die »Berührungspunkte zwischen Gestaltpsychologie und Quantenphysik« und deren Holismus; sie verwies auf C. G. Jungs Beitrag »Über die Energetik der Seele« und den psychisch verstandenen Energiebegriff Sigmund Freuds (vgl. Krüger 2015. S. 140 f.). Sie verwies auf die quantentheoretisch eher als vordem verstehbaren Zustandsformen alles geistig-Informationellen, wie es sich in seiner grundsätzlich realisierungsfähigen Potentialität, eben nicht: immer-Vorhersehbaren, zeige. Die für unser Thema interessanten Ergebnisse, wenn auch noch geprägt von klassisch-physikalisch fundiertem (neuro-)biologischen Denken, waren folgende. Selbst sie waren bis in unsere Tage unerhört, d. h. nicht nur ungewohnt zu denken, sondern die großen Errungenschaften der europäischen Philosophie und Erkenntnislehre, beispielsweise das Körper-Geist-Verhältnis betreffend, infrage stellend. Sie forderten uns auf, die bisher erarbeiteten und durchaus brauchbaren Resultate der Wahrnehmungsforschung zur Synchronie bzw. Dyssynchronie (sprich im letzteren Fall: zur Wahrnehmungsstörung) in einen neueren Zusammenhang zu stellen. Die folgenden
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Thesen vermögen dies zu erläutern. Sie können als Zusammenfassung der bislang erarbeiteten Wahrnehmungstheorien gelten: • Der Wahrnehmungsprozess in der Aufnahme, Weiterleitung und Verarbeitung von Informationen werde, so die erste These, in der Regel initiiert von genetischen Reaktionsbereitschaften, angefangen in der Reproduktion und Übertragung, endend in der Signalgebung der genetischen Informationen. Hierbei würden die aus der DNA transkribierten Botschaften durch eine Messenger-RNA unter Zuhilfenahme der Ribosomen in den Proteinen weitergegeben. • Prä-, inter- und postsynaptisch werde die genetische Botschaft im Zusammenspiel von Proteinkomplexen und Neurotransmittern weitergereicht, wobei sie auf diesem Weg vielfältig steuerund beeinflussbar, also störbar sei. • Die auf diesem Weg vorkommenden Signalstörungen hätten Einfluss auf die Frequenzen der Signalweitergabe. Weitverbreitete Formen der informationellen Behinderung, beispielsweise in ADHS, Schizophrenie, Autismus, Alzheimer- oder Parkinson-Demenz wären diesem Umstand geschuldet. • Im Fall der nicht gestörten Informationsweitergabe wären die neuronalen Objekt-, Gestalt- und Bildpräsentationen durch eine räumliche und zeitliche Synchronisation der sinneshaften und motorischen Signale erklärbar. Die Synchronisation der Wahrnehmungssignale verlaufe hierbei nach neuronalen Grundmustern in der Art einer Wahrnehmungsgrammatik. • Die geistigen (kognitiven, psychischen) und physischen (neuronalen, körperlichen) Erscheinungsformen dieses Vorgangs seien unter quantenphysikalischen Gesichtspunkten nicht dual und sich gegenüber stehend, sondern als zwei Ausdrucksformen ein und derselben Manifestation von Information zu verstehen. Eric R. Kandels Botschaft (2006), die Wahrnehmungs- und Gedächtnisleistungen biologisch, speziell: molekularbiologisch zu verstehen (Kandel 2006. S. 257 f.), war natürlich für die gesamte psychiatrische, psychologische und psychoanalytische Fachwelt eine Provokation, blieb jedoch lange Zeit unbemerkt. Wenn Kandel sagte, dass »Gene […] einen wesentlichen Beitrag zu geistigen Funktionen (leisten) und […] für Geisteskrankheiten verantwortlich sein (können)« (Kandel 2006. S. 89), dann betraf dies im Kern gerade das spezielle Thema, das wir in diesem Beitrag vorlegen: Es verlangte von uns, den Rezi55 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Karl-Heinz Menzen
pienten und Lesern dieser Botschaft, die Expression eines Verhaltens von den Bild- und Vorstellungsmustern bis zu den auf diese reagierenden Handlungsmuster im Sinne des Statements Kandels zu verstehen. Wie wir in unserem Vorspann konstatierten: Objekte, Bilder, Gestalten, unser alltägliches Leben, all das, was wir tun, es wird angeleitet, ist nicht frei von Vorgaben, ist in der Regel gesteuert von Vorstellungen, von informationellen Handlungsmustern, die sich uns im Laufe des Lebens eingeprägt haben. Zuweilen aber sind die Verlaufsmuster, nach denen wir handeln, gestört. Und wir, ob erziehend oder therapeutisch begleitend, stehen in der Pflicht, diese Bildmuster des Vorstellens und Handelns zu verstehen; erst recht dann, wenn wir sie in unseren Kultur- und Bildungsangeboten offerieren.
Literatur Ayres, A. J. (1984). Bausteine der kindlichen Entwicklung. Berlin: Springer. Damasio, A. (2011). Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins. München: Siedler. Dürr, H.-P. & Oesterreicher, M. (2015). Wir erleben mehr als wir begreifen. Quantenphysik und Lebensfragen. Freiburg: Herder. Fuchs, Th., Vogeley, K. & Heinze, M. (Hrsg.) (2011). Subjektivität und Gehirn. Berlin: Pabst. Görnitz, T. (1999). Quanten sind anders. Die verborgene Einheit der Welt. Vorwort C. Fr. v. Weizsäcker. Berlin: Spektrum Akad. Verlag. Kandel, E. R. (2006). Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Krüger, H. (2015). Quanten und die Wirklichkeit des Geistes. Bielefeld: Transcript. Menzen, K.-H. (1994). Heilpädagogische Kunsttherapie. Freiburg: Lambertus. Menzen, K.-H. (2017). Heil-Kunst. Entwicklungsgeschichte der Kunsttherapie. Freiburg: Alber-Herder. Piaget, J. (1973). Einführung in die genetische Erkenntnistheorie (Introduction l’épistemologie génétique (Bd. 3, Paris 1950). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Peichl, J. (2015). Jedes Ich ist viele Teile. München: Kösel. Rohen, J. W. (1971). Anatomie des Nervensystems. Stuttgart: Schattauer. Senckel, B. (1999). Mit geistig Behinderten leben und arbeiten. Eine entwicklungspsychologische Einführung. München: Beck. Söllner, W., Behringer, J., Böhme, St., Stein, B., Reiner, I. & Spangler, B. (2016). Repräsentation früher Bindungsbeziehungen und Emotionsregulation bei Patienten mit Burnout-Syndrom. In. PPmP. Psychotherapie. Psychosomatik. Medizinische Psychologie. 66 (06). Thieme. S. 227–234.
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Von den Bildern in den Köpfen der Kinder, Eltern und Erzieher Stern, D. (1995). Motherhood Constellation. A unified view of parent-infant psychotherapy. London: Basic Books: London 1995. Stern, D. (1996). Selbstempfindung und Rekonstruktion. In: Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (Hrsg.). Bewegte Augenblicke im Leben eines Säuglings – und welche therapeutische Konsequenzen? Köln: Claus Richter. Stern, D. (2011). Ausdrucksformen der Vitalität. Die Erforschung dynamischen Erlebens in Psychotherapie, Entwicklungspsychologie und den Künsten. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Strüber, N. (2016). Erste Schritte in Richtung Persönlichkeit. In: Gehirn & Geist. 10. S. 52–55.
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Barbara Wichelhaus
Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern
Abstract: Inklusiver Unterricht ist konsequenter als Förderschulunterricht, der an allgemeinen Richtlinien und Lehrplänen orientiert ist. Unter dieser Prämisse wird der Frage nachgegangen, ob Kunsttherapie in einem solchen Bildungskonzept noch eine Chance der Anwendung hat. Trotz kritischer Einstellungen zu einer mit der Kunsttherapie einhergehenden Diagnostik im Kunstunterricht können informelle Ansätze der Prozess- oder Interaktionsdiagnostik, verbunden mit einer Bilddiagnostik, die anstelle des Entwicklungsstandes das ästhetische Ausdrucksvermögen berücksichtigt, dafür wichtige Hilfen sein. Sie lenken den Blick auf Pluralität und individuelle Persönlichkeitsentwicklungen und ermöglichen, Differenzen positiv zu bewerten und zu fördern.
Vorbemerkung Die nachfolgenden Überlegungen zur Thematik beziehen sich vorwiegend auf den schulischen Bereich. Mit dem Elternrecht, das seit 2009 durch die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gilt, haben alle Schüler die Möglichkeiten, an Regelschulen unterrichtet zu werden. Da viele Eltern dieses Recht auf inklusiven Unterricht für ihre Kinder in Anspruch genommen haben, rückten – bildungspolitisch betrachtet – neue Aufgaben, aber auch Probleme in den Blick. Inklusion wird von den Ministerien der Bundesländer sehr unterschiedlich und meistens nur sehr zögerlich und z. T. auch unzureichend umgesetzt. Das hat Nachteile für Schüler mit spezifischem Förderbedarf, aber auch für andere Schüler und den mit dieser Aufgabe betrauten Lehrern. Es stehen personell und finanziell nicht genügend Ressourcen zur Verfügung, sodass sich die Situation mit steigendem Inklusionsbedarf stetig verschlechtert hat. In NRW spricht man sogar
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Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern
davon, dass sich die bisherigen Anstrengungen zur Umsetzung von Inklusion in einer »Sackgasse« befinden. Unabhängig von dieser Situation sollten Chancen, Potentiale und Risiken von Kunsttherapie im inklusiven Unterricht thematisiert werden. Können kunsttherapeutische Konzepte, die für Förderschulen entwickelt wurden, übertragen werden, oder bedarf es für den inklusiven Unterricht einer neuen Ausrichtung? Liegen darin sogar Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Veränderung der Kunsttherapie? Im Folgenden werden diese Fragestellungen aus verschiedenen Richtungen beleuchtet, problematisiert und diskutiert.
Inklusiver Unterricht – ein neues Aufgabenfeld der Kunsttherapie? Obwohl Inklusion alle Lebensbereiche von der Geburt bis ins hohe Alter betrifft, gibt es in der Schule besondere Herausforderungen, dieses Menschenrecht zu realisieren. Für die Schule als gesellschaftliche Institution existieren u. a. Aufgaben, die auch der Stabilisierung und Sicherung einer Gesellschaft dienen und mit der Vermittlung von Qualifikationen verbunden sind. Das heißt, dass besondere Begabungen gefördert werden müssen, was auch mit Leistungsanforderungen, Auslese und Selektion einhergehen kann. Solche Intentionen stehen häufig im Konflikt mit anderen Erziehungszielen wie Sozialisation, Integration oder auch Inklusion. In beiden Zielbereichen geht es um Persönlichkeitsförderung, jedoch mit differenter Ausrichtung. Im Unterschied zu den pädagogischen Konzepten an Förderschulen ist der inklusive Unterricht wesentlich stringenter an Richtlinien und Lehrplänen der jeweiligen Schulstufen und Schulformen orientiert. Insbesondere für Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, soziale und emotionale Entwicklung sowie geistige Entwicklung können Intentionen, die sich vorrangig auf Förderung, Rehabilitation und Kompensation von Entwicklungs- und Reifeverzögerungen verschiedenster Ursachen beziehen, kaum schwerpunktmäßig thematisiert werden. Auch für die Kunsttherapie bedeutet das, dass sie ihre bisherigen Konzepte und Maßnahmen für diese Zielgruppen unter
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den Bedingungen eines inklusiven Unterrichts reflektieren und verändern muss. Heilpädagogisch-kunsttherapeutische (Menzen 1994) und pädagogisch-kunsttherapeutische Ansätze (Richter 1984, Hampe 2008), vorwiegend in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts erstellt, beziehen sich auf Probleme der Entwicklungsverzögerung und auf Beeinträchtigungen durch erschwerte Sozialisationsbedingungen und den damit verbundenen Andersartigkeiten im Lernen und Verhalten. Ästhetische Erziehung und kunsttherapeutische Maßnahmen sind deshalb in diesen Konzepten förderdiagnostisch und ressourcenorientiert ausgerichtet und dienen neben der Stärkung von Interkulturalität dem Abbau von negativen Integrations- und Differenzerfahrungen. Die Regelschule war im Rahmen solcher kunsttherapeutischen Überlegungen ein »Nebenschauplatz«, der erst durch gesellschaftliche Veränderungen, bedingt durch rasante technologische Neuerungen, auch mit zunehmender digitaler Ausrichtung und den Folgen, wie z. B. Verlusten an primären Erfahrungen und familiären Bindungen, als potentielles Aufgabenfeld Bedeutung gewann (Wichelhaus 1995; 1996). Kunsttherapie in Inklusionsklassen ist ein neues und sehr aktuelles Thema. Vorhandene kunsttherapeutische Ansätze für pädagogische Arbeitsfelder müssen an diesen Kontext angepasst werden. Kunsttherapeutische Maßnahmen für Förderschüler und für Regelschüler gehören auf den Prüfstand. Es geht vor allem darum, Exklusion zu vermeiden. Kunsttherapie kann unter Differenzierungsgesichtspunkten nicht nur den Förderschülern einer Inklusionsklasse gewährt und den Regelschülern »verweigert« werden.
Kunsttherapie als Problem und/oder Chance der Kunstpädagogik 1993 hat G. Otto einen bemerkenswerten Aufsatz über Therapie als Problem der Kunsttherapie geschrieben. Darin wird deutlich, warum sich viele Kunstpädagogen so schwer tun, die Kunsttherapie in die ästhetische Erziehung im Kunstunterricht zu integrieren. Die Ablehnung resultiert u. a. aus der Kritik an der Musischen Erziehung, einem Ansatz der Kunstpädagogik, der in den 20er Jahren des vorigen 60 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern
Jahrhunderts entstanden ist. Die Vertreter dieser Richtung haben stets das Subjektive und Affektive, das Irrationale und Utopische, das Spontane und Spekulative sowie die kompensatorische Funktion des bildnerischen Ausdrucksverhaltens betont und so auch zu einer mystifizierenden Betrachtungsweise kunstpädagogischer Aufgaben beigetragen (vgl. Richter 2003, 261). Daraus resultiert die Ideologieanfälligkeit dieses Ansatzes, der in der NS-Zeit zu Propagandazwecken missbraucht wurde. Dieses Manko ist für viele Kunstpädagogen auch in der Kunsttherapie enthalten. Deshalb sehen sie darin ein »neumusisches« Konzept, das bereits überwundene Positionen wieder aufleben lässt (vgl. Otto 1993). Im Unterschied dazu kritisieren Vertreter einer psychotherapeutisch ausgerichteten Kunsttherapie die Bemühungen, diese in pädagogischen Kontexten zu etablieren, aus einer anderen Perspektive. Schleiffer (1994), der das Verhältnis von Pädagogik und Therapie aus systemischer Sicht untersucht hat, liefert dafür mehrere Anhaltspunkte. Bei Pädagogik und Therapie handelt es sich nach seiner Auffassung um zwei unterschiedliche Systeme, die mit unterschiedlichen Codes arbeiten. Die Therapie mit dem medizinischen Code »krank – gesund«, die Pädagogik, weniger eindeutig, mit »ungebildet – gebildet« oder mit »unqualifiziert – qualifiziert«. Systemisch betrachtet sind diese Codes nicht anschlussfähig. Er führt jedoch aus, dass in manchen Förderschulen beide Systeme existieren und Schnittmengen bilden, sodass es sinnvoll sein kann, sowohl (kunst-)pädagogisch als auch (kunst-)therapeutisch ausgewogen zu intervenieren. Wird dieses Vorgehen für die Regelschule übernommen, kann das nach Auffassung von Kritikern den »pädagogischen Blick« trüben, da bei Lern- und Verhaltensproblemen vor allem Erkrankungen und Störungen fokussiert werden. Man spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Medizinalisierung der Schule. Das würde den Grundannahmen jeglicher Inklusion widersprechen, die das Anderssein nicht als eine Abweichung von der Normalität, sondern lediglich als eine Differenz im Rahmen des Normalen sieht. Nur darin liegen echte Chancen für »Inklusionskinder«, und dass die durch Förderschulen manifestierte Exklusion in den Regelschulen nicht aufrechterhalten oder sogar noch weiter vorangetrieben wird.
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Theorie und Praxis der Kunsttherapie im inklusiven Unterricht Das Charakteristische eines inklusiven Kunstunterrichts sind die Bedingungen, die sich durch eine sehr heterogene Lerngruppe ergeben. De facto handelt es sich um den Versuch einer Synthese aus Schülern mit unterschiedlichen Lernniveaus, die die Lerngruppe prägen und gleichermaßen am Gelingen Anteil haben. In zahlreichen Unterrichtsfächern wie z. B. Mathematik oder Fremdsprachen werden selten Versuche unternommen, Inklusion zu wagen; Exklusion ist in diesen Fächern Standard. Der Kunstunterricht hat es vergleichsweise einfacher als diese Fächer, den Anforderungen an einen inklusiven Unterricht gerecht zu werden. In der doppelten Orientierung an Erziehungstheorien einerseits und an Kunst in ihren vielfältigen Ausprägungen andererseits, sind Lernanforderungen und -ergebnisse denkbar, in denen extreme individualistische Darstellungsformen, unabhängig von intellektuellen Voraussetzungen, unter ästhetischen Gesichtspunkten nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar erwünscht sind. Kunstrichtungen wie z. B. Expressionismus und Tachismus sowie einige Künstler der Postmoderne haben darauf aufmerksam gemacht, wie wesentlich primäre, ursprüngliche und nicht kulturell überformte Prozesse die Kreativität und den künstlerischen Ausdruck prägen können. Hierin liegt ein häufig von der Schule nicht oder kaum genutztes ästhetisches Potential, das durch Inklusion gefördert werden kann und so für alle Schüler vermittelbar wird. D. h. die Kunsttherapie ist geeignet, unkonventionelle und ungewohnte Ausdrucksweisen nicht nur aus entwicklungspsychologischer, bildungstheoretischer und künstlerischer Sicht zu fördern und zu unterstützen, sondern sie auch verstehbar zu machen. Das gelingt dann, wenn das ästhetische Verhalten der Schüler und ihre bildnerischen Ergebnisse auch unter dem Aspekt der individuellen Persönlichkeitsentwicklung, in der engen Verflechtung von Innenwelt und Außenwelt, Gedanken und Erfahrungen, Empfindungen und Gefühle, Bewusstem und Unbewusstem gesehen werden. Abb. 1–6 (Aleyna, Alperen, Celina, Emma, Henri und Marius) zeigen kunstunterrichtliche Ergebnisse einer 6. Klasse eines Gymnasiums. Die ersten drei Abbildungen sind Arbeiten von »Inklusionsschülern«, die nachfolgenden von Regelschülern erstellt. Das Thema »Im Reich der Farbherrscher« intendiert sachorientierte formale Inhalte mit af62 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern
fektiv besetzbaren Motiven zu verbinden. Trotz einiger Unterschiede im bildnerischen Entwicklungsstand, sowohl bei »Inklusionsschülern« als auch bei einem Regelschüler, zeigen alle Ergebnisse, unabhängig vom Lernniveau, ausdrucksstarke ästhetische Lösungen. Intendiert man im inklusiven Kunstunterricht zieldifferent vorzugehen, was keineswegs immer sein muss, dann steht dafür ein breites Methodenrepertoire zur Verfügung, das sowohl aus kunsttherapeutischer als auch aus kunstpädagogischer Perspektive wechselseitig genutzt werden kann. Vor diesem Hintergrund können kunstpädagogische Interventionen auch therapeutische Ziele intendieren und realisieren – für G. Otto eine Mischform von »Heilen« und »Lernen« (Otto 1993, S. 83). Umgekehrt können kunsttherapeutische Zielsetzungen, die z. B. eng mit Spielen und Malen, mit Experimentieren und entdeckendem Lernen verbunden sind, den einzelnen Schüler in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellen und die Lerninhalte daran orientieren, als Lern- und Erziehungshilfen zu fungieren, oder, wie Richter es ausdrückt, eine »Lernbasis« (1984) zu schaffen, die darauf aufbauend sachorientierte Vermittlungen möglich macht. Durchforstet man die kunstpädagogische und die kunsttherapeutische Praxis, wie sie in zahlreichen Büchern und Fachzeitschriften erörtert wird, unter dem Aspekt der Überschneidungen von Materialien, Verfahren, Themen und Motiven in beiden Aufgabenfeldern, dann lassen sich mehrere wechselseitig benutzte Bereiche nennen, z. B.: • • • • • • •
sensorische Erfahrungen und sinnliche Wahrnehmungen Fantasie und Einbildungskraft Selbstwahrnehmung, Selbstdarstellung, Selbstinszenierung Materialisierung multimediale Prozesse Kunst und Natur Symbolisierung und Kommunikation (vgl. Wichelhaus 1995).
Innerhalb dieser Bereiche kann im Prinzip jedes künstlerische Verfahren (Zeichnen, Malen oder Plastizieren, aber auch Collagieren, Montieren, Bauen, Inszenieren etc.) angewendet werden. Die Anknüpfungspunkte zum Einsatz von Aufgaben aus diesen Bereichen sollten stets individuell und situativ legitimiert werden.
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Richter hat für die Umstrukturierung eines sachorientierten kunstpädagogischen Themas, das dem Lehrer dazu dient, künstlerische Probleme erfahrbar zu machen ein plakatives Beispiel gewählt. Das Motiv »Eule«, das eine gegenständliche Einbindung von Bildproblemen, wie z. B. Farbdifferenzierung, Hell-Dunkel-Kontraste (Gefieder) oder Raum-Flächen-Organisationen (großformatige Frontalansicht, mit Attributen (Zweige etc.)) ermöglicht, wird in kunsttherapeutischer Absicht zum Motiv »Nachtvogel«. Wölffel, an der sich Richter mit der Themenbedeutung für Kinder orientiert, hat dieses Motiv in einer Erzählung für Kinder mit Gefühlen wie Einsamkeit und Trennungsängsten verbunden (Richter 1984, 129/130). Dadurch ist es im besonderen Maße geeignet, Assoziationen zu individuellen psychischen Erfahrungen auszulösen, die auch den Gestaltungsprozess beeinflussen oder determinieren. Bei dieser Konzentration auf das Inhaltliche bzw. auf das psychische Motiv wird der formal-künstlerische Aspekt keineswegs aufgegeben, sondern tritt in den Hintergrund.
Inklusion, Kunsttherapie und Diagnostik Diagnostik in Inklusionsklassen der Schule kann nicht psychoanalytisch ausgerichtet sein, um anhand von bildnerischen Prozessen und Ergebnissen Krankheiten und Störungen zu erheben. Sie sollte auch nicht einseitig an einem schulischen Notensystem partizipieren, das sich an dem Entwicklungsniveau der zeichnerischen Entwicklung und der Aufgabenbewältigung im Sinne der Lösung von bildnerischen Problemen orientiert. Beide Diagnostikansätze sind m. E. »inklusionsfeindlich«, was jedoch nicht heißt, dass sie nicht auch bei einem ganzheitlichen methodentriangulierten Vorgehen als Elemente für eine Inklusionsdiagnostik verwendet werden können (Wichelhaus 2015, S. 216). Diagnostik in Förderschulen, in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Förderdiagnostik entwickelt und etabliert, veränderte den Standpunkt und die Sichtweise auf Schüler mit Förderbedarf. Im Mittelpunkt dieses Ansatzes stehen Methoden und Verfahren, die Interessen und Motivation, Fähigkeiten und Kompetenzen, Kreativität und Ressourcen etc. erheben und dadurch die Unterrichtsinhalte und 64 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Diagnostik in inklusiven Handlungsfeldern
ihre Vermittlung prägen. Förderdiagnostik hat einen großen Einfluss auf positive Einstellungen der Schüler zum Lernen, verbunden mit Handlungsbereitschaft und Stabilisierung der Persönlichkeit. Curriculare Zielsetzungen, wie sie in Richtlinien und Lehrplänen vorgegeben sind, werden dadurch nicht außer Kraft gesetzt, werden aber durch ein breites Spektrum zusätzlicher Intentionen erweitert, die dort nicht oder nur ansatzweise formuliert sind. In der ästhetischen Erziehung z. B. werden andersartige Wahrnehmungen und Gestaltungsweisen, die auch im Zusammenhang mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen stehen, als besondere Stärken betrachtet, die den bildnerischen Ausdruck unter ästhetischen Gesichtspunkten einmalig und unverwechselbar prägen. Psychodiagnostische Verfahren, zur Feststellung von Erkrankungen wie z. B. AD(H)S (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom), Entwicklungsdiagnostik, die das Zeichenniveau in Korrelation zu Alter und Geschlecht betrachtet, sowie Förderdiagnostik, die Sonderentwicklungen in ihren spezifischen Möglichkeiten für Unterricht und Lernen analysiert, sind nur Elemente einer wesentlich umfassenderen inklusiven Diagnostik. Inklusive Diagnostik ist eine pädagogische Diagnostik, die in ihren Grundlagen und fachbezogenen Ausprägungen noch wenig entwickelt ist (vgl. Reich 2015, S. 34 ff.), und die einen Perspektivwechsel, weg von bisherigen pädagogischen und sonderpädagogischen Diagnostikvorstellungen, erforderlich macht. Für Reich geht es dabei nicht mehr um Durchschnittsqualifikationen, die an festgelegten curricularen Zielen orientiert sind, sondern um Differenzierungen in einem breiten Feld, mit Standortbestimmungen für jeden einzelnen Schüler (vgl. Reich 2015, S. 37). Dazu benötigt man vor allem qualitative Erhebungen, die auch informeller Art sein können. Neben der vorrangig angewandten Bilddiagnostik sollten zusätzlich Methoden der Prozessdiagnostik und der Interaktionsdiagnostik angewendet werden (vgl. u. a. Thier-Patscher 2014, Sehringer 1999). Thier-Patscher hat zahlreiche Kategorien und Beobachtungskriterien für diese diagnostisch relevanten Felder entwickelt. In der Prozessdiagnostik werden in ihrem Ansatz z. B. Motivationsfaktoren, Antrieb und Bereitschaft, sich auf Gestaltungsprozesse einzulassen, auch Aufmerksamkeit, Konzentration und Einfühlung bzw. Gleichgültigkeit und Ablenkungen erfasst. Darüber hinausgehend werden Parameter wie das Maß an Initiative und Selb65 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ständigkeit sowie emotionale Stabilität und Selbsttätigkeit im Zusammenhang mit der Psychomotorik, dem Materialumgang, der Dauer der Aktivitäten und der Bewältigung von Gestaltungsanforderungen erhoben. Weitere Kriterien beziehen sich auf Aspekte wie Planung und Kontrolle oder Aufgeben und Neuanfang bei scheinbar schwierigen Gestaltungsaufgaben sowie die Art der Lösungen, z. B.: ängstlich, rigide, spielerisch, experimentell oder chaotisch etc. (vgl. Thier-Patscher 2014). Die in der Einzelbeobachtung von Thier-Patscher bei psychisch erkrankten Kindern gewonnenen, erprobten und evaluierten Faktoren lassen sich nicht problemlos auf schulische Bedingungen übertragen. Sie liefern jedoch wichtige Anhaltspunkte über die Vielfältigkeit von Prozessbedingungen und können als Bausteine – selektiv – für eine eigene informelle Diagnostik verwendet werden. Für eine inklusive Lernorganisation wird auch das soziale Miteinander als eines der wesentlichsten Momente betont. Dabei kann das besondere Beziehungsgefüge sehr schnell auch zu Rollenfestschreibungen führen, mit Helfern auf der einen und den Schülern, denen geholfen wird (oder geholfen werden muss), auf der anderen Seite. Das hat eine interne Exklusion zur Folge. In manchen Schulen werden solche Tendenzen gefördert, indem in der Zusammensetzung von Inklusionsklassen Schüler ausgewählt werden, von denen man annimmt, dass sie aufgrund ihres Elternhauses über besondere soziale Kompetenzen verfügen. Mit der Interaktionsdiagnostik, die vorwiegend für gemeinschaftliche Aufgaben, z. B. künstlerische Projekte, arbeitsgleiche oder arbeitsteilige Gruppenarbeiten und dialogische Prozesse Konzepte entwickelt hat (vgl. Thier-Patscher 2015), können positive und negative soziale Beziehungsstrukturen und individuelle soziale Kompetenzen sehr konkret erfasst werden. Die ästhetische Erziehung und die Mehrzahl der Kunstpädagogen haben sich – das zeigt auch die Historie – mit diagnostischen Vorstellungen immer sehr schwer getan. Der Spagat zwischen der Orientierung an normativen Vorstellungen von Pädagogik und Didaktik einerseits und dem davon unabhängigen Gegenstandsbereich der Kunst andererseits ist die Ursache dafür. In dieser Divergenz liegt jedoch eine große Chance für den inklusiven Kunstunterricht. Dabei sollte man auch den jahrelang durch Kunsttherapie geschulten Blick für Sonderentwicklungen und Außenseiterkunst im Schulbereich 66 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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hinterfragen. Sehr individuelle Bildsprachen, wie sie vermehrt in Inklusionsklassen auftauchen, können auch für manchen Lehrer ein Rezeptionshindernis sein. In der Moderne und der Postmoderne, z. B. in Museen und Ausstellungen, haben wir uns daran gewöhnt, dass es solche Hürden gibt, die wir jedoch dort akzeptieren. In der Schule, auch durch Notensysteme verpflichtet, nehmen wir eine Deutungshoheit für alle Schülerarbeiten in Anspruch. Wir rezipieren sie, ordnen sie ein und benoten sie, auch wenn sie den dafür vorhandenen Rastern nicht entsprechen. Jeder Inklusionspädagoge muss in der ästhetischen Erziehung auch von seinen Schülern lernen, um seine Kompetenzen zu erweitern Die Vielfalt und Pluralität ästhetischer Ausdrucksweisen, auch in Schülerarbeiten sichtbar, kann sonst weder gewürdigt noch beurteilt werden.
Abschließende Bemerkungen In dem für die Pädagogische Kunsttherapie thematisierten dreirelationalem Beziehungsgefüge aus Kunst, Pädagogik und Therapie geraten im inklusiven Unterricht zwei Achsen – »Pädagogik – Kunst« und »Therapie – Kunst« – verstärkt in den Blick. Kunstpädagogische Lernziele und -inhalte der Regelschulen und kunsttherapeutisch orientierte Förderziele und -inhalte der Förderschulen können für Inklusionsklassen nicht einfach übernommen werden, um sie zieldifferent anzuwenden. Hier liegt m. E. eine der größten Fehleinschätzungen inklusiver Lernorganisation. Intentionen, die mit Kunst, dem künstlerischen Ausdruck, mit Einbildungskraft und Innovation, mit Fantasie und Kreativität verbunden sind, unterliegen keiner Zuordnung zu Lerngruppen mit unterschiedlichen Niveaus. Gefördert und anerkannt werden muss das ästhetisch Differente in heterogenen Lerngruppen, nicht die Anpassung oder Abweichung von einer Norm. Heinrichs (1995) hat das Differente als ein Korrelat (von vielen anderen) des Identischen bezeichnet (vgl. Heinrichs 1995, S. 92). Differenz und Pluralität sind deshalb die maßgeblichen Zielsetzungen für den inklusiven Unterricht. Diese kann vor allem mit der Kunst in Pädagogik und Therapie gewährleistet werden. Das bedeutet, dass wir manche unserer pädagogisch-kunsttherapeutischer Vorstellungen aus den Ansätzen für den Unterricht an Förderschulen revidieren sollten und neue, stärker an der Qualität des 67 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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künstlerischen Ausdrucks orientierte Konzepte und darauf aufbauende diagnostische Möglichkeiten entwickeln müssen.
Literatur De Thier-Patscher, A. (2013). Kunsttherapeutische Diagnostik in der Psychiatrie und Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Entwicklung und Evaluation eines dynamischen Konzeptes. Regensburg: S. Roderer. Hampe, R. (1991): Kunsttherapie als Förderunterricht in der Sek. I. In: Musik-, Tanz- und Kunsttherapie, H. 1, 3. Jg. S. 30–36. Heinrichs, H.-J. (1995). Wilde Künstler. Über Primitivismus, Art Brut und die Trugbilder der Identität. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt. Menzen, K.-H. (1994). Heilpädagogische Kunsttherapie. Freiburg i. Br.: Lambertus. Otto, G. (1993). Therapie als Problem der (Kunst-)Pädagogik. In: Wichelhaus, B. (Hrsg.): Kunsttheorie. Kunstpsychologie. Kunsttherapie. Berlin: Cornelsen, S. 82–95. Reich, K. (2015). Inklusion – Grundlagen. In: Schäfer, H. & Rittmeyer, Ch. (Hrsg.) (2015): Handbuch. Inklusive Diagnostik. Weinheim/Basel: Beltz. S. 23–43. Richter, H.-G. (1984). Pädagogische Kunsttherapie. Düsseldorf: Schwann. Richter, H.-G. (2003). Eine Geschichte der Ästhetischen Erziehung. Niebüll: videel OHG. Schäfer, H. & Rittmeyer, Ch. (Hrsg.) (2015). Handbuch. Inklusive Diagnostik. Weinheim/Basel: Beltz. Schleiffer, R. (1994). Zur Unterscheidung von Erziehung und Therapie bei dissozialen Kindern und Jugendlichen. In: Heilpädagogische Forschung 20/1. S. 2–8. Sehringer, W. (1999). Zeichnen und Malen als Instrumente der psychologischen Diagnostik. Ein Handbuch. Heidelberg: C. Winter. Wichelhaus, B. (2000). Kompensatorischer Kunstunterricht. In: Sammelband der Zeitschrift Kunst + Unterricht. Lernchancen im Kunstunterricht. Velber: Friedrich, S. 22–26. Wichelhaus, B. (2015). Ästhetische Erziehung und Diagnostik. In: Schäfer, H. & Rittmeyer, Ch. (Hrsg.) (2015). Handbuch. Inklusive Diagnostik. Weinheim/ Basel: Beltz. S. 250–269.
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Abbildungen Alle Abbildungen sind Ergebnisse aus dem inklusiven Kunstunterricht einer 6. Klasse am Erasmus von Rotterdam Gymnasium in Grevenbroich.
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II. Künstlerische Therapien in sozialen Netzwerken
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Katja Czech
Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern
Abstract: Die Arbeit mit von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen ist in der kulturellen Bildung wie auch in der Kunsttherapie derzeit ein präsentes Thema. Das IRIS-Regenbogenzentrum, ein Familienzentrum im Herzen der Stadt Halle/Saale suchte 2015, auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise, nach Möglichkeiten, die von Flucht und Vertreibung betroffenen Kinder und Familien zu erreichen und ihnen das Ankommen und das In-Kontakt-Kommen trotz bestehender Sprachbarrieren zu erleichtern. Die Kunst und die Kunsttherapie schienen hierfür geeignete Formate zu sein und führten zur Entwicklung des Projektes Atelier »Regenbogen«. Anhand von Fallbeispielen aus der Praxis wird das Projekt vorgestellt.
Ausdrucksmalen als kunstpädagogisch-kunsttherapeutisches Angebot des Ateliers Mit Unterstützung der Aktion Mensch konnte die Projektidee Atelier »Regenbogen« der Familienbildung des IRIS-Regenbogenzentrums im Februar 2016 realisiert werden. Das Angebot richtet sich vornehmlich an von Flucht und Vertreibung betroffene Kinder, steht vor dem Hintergrund der integrativen und inklusiven Haltung des Familienzentrums aber auch allen anderen interessierten Kindern und Familien offen. Zentrales Angebot des Ateliers ist das Ausdrucksmalen. Es findet im Malraum statt, welcher in Anlehnung an das Closileu von Arno Stern (Stern 2012a+b) in Paris gestaltet ist. In der Mitte des Raumes steht ein Farbentisch mit 18 Farben und je zwei dazugehörigen Pinseln. Gemalt wird an den Wänden. Bis zu 13 Kinder haben hier zur gleichen Zeit Platz zum Malen. Es gibt keine thematischen Vorgaben, die Kinder bringen aufs Papier, was im Augenblick des Malens für sie bedeutsam ist. Die Atelierleiterin sichert die strukturellen Abläufe und sorgt dafür, dass die Kinder ungestört, in ihrem 75 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Katja Czech
eigenen Tempo und auf ihre persönliche Weise malen können, frei von Leistungsdruck und Bewertung. Primäres Anliegen des Projektes ist es, von Flucht und Vertreibung betroffenen Kindern und deren Familien Raum zum Ankommen und In-Kontakt-Kommen zu bieten. Beim Ausdrucksmalen zeigt sich, dass beide Aspekte sehr vielschichtig sind. In subjektiv unterschiedlichem Maße bezieht es sich auf die Kultur, die Stadt, das Haus, besonders aber das neue Leben als solches und die Menschen, denen im Malraum begegnet wird. Entsprechend sind die Bedarfe der Ateliernutzer verschieden und erfordern unterschiedliche Formate, insbesondere hinsichtlich zeitlicher und räumlicher Strukturen. Gemeinsamkeit aller Formate ist, dass die Vermittlung künstlerischer Methoden und Techniken im Hintergrund steht und das Setting vordergründig auf die Aktivierung von Selbstbildungsprozessen und Erfahrungslernen abzielt. Die Kinder werden weder durch Themen noch durch technische Impulse zum Gestalten angeregt. Inspiration erhalten sie durch die Materialien und durch das Tun der Anderen im Raum. Entsprechend sind die subjektiven Wege wie auch die gruppendynamischen Prozesse im Vorhinein nicht planbar. Die Kinder bestimmen die Entwicklungsrichtungen selbst und werden nicht durch zielgerichtete Interventionen von außen geführt. Somit müssen und dürfen die Kinder Verantwortung für ihren Prozess und ihre Werke übernehmen. Sie werden mit einem Setting konfrontiert, in welchem ihnen niemand sagt, ob das, was sie tun und was dadurch entsteht, richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. Sie dürfen und müssen alle Entscheidungen ihr Bild und ihren Prozess betreffend, selbst fällen, bis hin zu der Frage, ob sie malen wollen oder nicht. Für manche Kinder ist das eine willkommene Abwechslung und Befreiung von Bewertung, für andere ist es verunsichernd und herausfordernd. Im Folgenden werden zwei sehr verschiedene Settings vorgestellt, die zeigen, wie sich Kinder diesen Aufgaben stellen und wie sie hierbei von der Atelierleiterin begleitet werden. Beide Beispiele geben Einblicke in derzeitig noch laufende Prozesse.
Die Kinder der Grundschule Seit September 2016 kommen Kinder einer staatlichen Grundschule einmal wöchentlich in den Malraum. Die Schule wird von etlichen geflüchteten Kindern besucht. Eine feste Gruppe von 8–12 interes76 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern
sierten Kindern aus Syrien kommt regelmäßig einmal wöchentlich zum Malen. Die Kinder werden neben der Schulsozialarbeiterin von mindestens einer Mutter begleitet. Meist kommen mehrere Mütter, um während der Malzeit ihrer Kinder in Kontakt miteinander zu treten, mit einer Kollegin des Familienzentrums Deutsch zu lernen oder sich von ihr Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen etc. zu holen. Sie bringen häufig jüngere Geschwister mit, welche dann zum Teil mit im Malraum sind. Wenn die Kinder das Atelier betreten, ist der Farbentisch so vorbereitet, dass die Kinder mit dem Malen beginnen können. Sie nehmen sich selbständig Malkittel aus einem großen Korb und erhalten auf Nachfrage Hilfe beim Anziehen. Die Atelierleiterin unterstützt die Kinder anschließend dabei, ihre Blätter an den Malplätzen in der von ihnen gewählten Höhe und Ausrichtung zu befestigen. Am Farbentisch bedienen sich die Kinder selbst. Sind Farben verbraucht, werden sie durch die Atelierleiterin aufgefüllt, wollen Kinder Farben mischen, werden ihnen die Ausgangsfarben auf einem Teller oder in einem Glas ausgegeben. Die Atelierleiterin entfernt fertige Bilder und hilft beim Anpinnen neuer Blätter an die Wände. Alle anderen Tätigkeiten werden von den Kindern selbst übernommen, die Verantwortung für die Entstehung ihrer Bilder liegt bei ihnen selbst. Das vorrangige Thema der Kinder im Malraum sind weniger individuelle Gestaltungsprozesse sondern die Beziehungen der Kinder untereinander. Diese sind geprägt von Aushandlungs- und Abgrenzungsprozessen wobei Geschlechtszugehörigkeit und Freundschaftsbeziehungen interaktionsleitend sind, wie es für Kinder dieses Alters üblich ist (vgl. Krappmann & Oswald 1995). Sowohl die Jungen als auch die Mädchen suchen den Kontakt und die Kommunikation zu gleichgeschlechtlichen Partnern. Überschritten wird die Geschlechtergrenze selten und nahezu nur bei vermeintlichen Überund Angriffen aus der anderen Gruppe. Diese können sich auf Personen richten oder aber auf die Bilder oder Malprozesse zielen. In die Interaktionsprozesse wird seitens der Atelierleiterin möglichst nicht eingegriffen. Die Kinder erhalten so die Chance, Reaktionsweisen zu probieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Braucht ein Kind Unterstützung, so wird ihm diese durch die Atelierleiterin gewährt. Die Interaktionen innerhalb der Mädchen- und Jungengruppen sind sehr intensiv. Zugehörigkeiten und Exklusion einzelner Kinder 77 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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werden hier auf verschiedenen Ebenen geklärt. So spielgelt bereits die Wahl des Malplatzes die Qualität der Beziehungen. Freunde wollen nebeneinander malen, Nicht-Freunde werden an eine andere Wand im Raum verwiesen. Die Beziehungen werden auch in der Wahl der Farben, der Pinselstärken, der Formen und der Bildthemen sichtbar. Freunde malen ähnliche oder gleiche Dinge mit möglichst gleichen Materialien und reagieren empört, wenn ihre Motive und Techniken von NichtFreunden aufgegriffen werden. Kinder, welche nicht zu den Freunden zählen, werden außerdem über verbale Abwertungen ihrer Bilder angegriffen. Zu Beginn drückten sich im Verhalten und auch in den Bildern typische Rollenklischees von Jungen und Mädchen aus. Es war klar definiert, welche Farben und Motive den Jungen bzw. den Mädchen vorbehalten sind. Überschritten Kinder die ihnen zugewiesenen Grenzen, wurden sie sanktioniert. Im Laufe der Zeit wurden die Grenzen weicher und lösten sich teilweise auf. Die Mädchen nutzen häufig Symbole. Wiederholt finden sich Herzen und Sterne auf den Bildern, immer wieder sind Blumen, Luftballons und Handabdrücke zu sehen. Die Symbole stehen häufig unverbunden nebeneinander auf dem Blatt. Nur selten malen die Mädchen gegenständliche und komplexe Bilder. Sehr wichtig ist es ihnen, ihre Namen zu schreiben und auf ihren Bildern ihre Familien- und Freundschaftsbeziehungen darzustellen (Abb. 1). Deutlich ausgeprägt ist ihre Vorliebe zur Farbe Rosa. Diese Farbe wurde in den ersten Stunden von allen Kindern als Mädchenfarbe bewertet und war den Jungen somit verboten. Zuschreibungen zu einer Geschlechtergruppe erfolgten auch bezogen auf bestimmte Motive. Ein Junge wurde von den anderen Kindern ausgelacht, als er ein Herz auf sein Bild malte. Diskussionen der Kinder untereinander über derartige Zuschreibungen führten im Laufe der Zeit dazu, die Grenzen überdenken und teilweise aufgeben zu können. So kam es in einer der letzten Stunden dazu, dass mehrere Jungen selbstbewusst ihre Bilder mit einem selbst gemischten Violett-Ton füllten (Abb. 2). Einer der Jungen kommentierte sein Tun begeistert: »Die Farbe ist 30 Kilo schön!«, und füllte mit Hingabe ein Papier vollständig mit der Farbe aus. Die Jungen greifen in ihrer Motivwahl häufiger auf Impulse ihrer Umgebung zurück als die Mädchen. So malten sie beispielsweise begeistert Bagger und andere Baumaschinen (Abb. 3), nachdem sie auf dem Weg zum Atelier an einer Baustelle vorbeikamen. Die 78 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Jungen experimentieren häufig mit Materialen und Techniken und loten deren Möglichkeiten und Grenzen aus. So bemalten in einer Stunde beispielsweise zwei Jungen ihre Hände und untersuchten, welche Abdrücke diese auf dem Papier hinterließen, in Abhängigkeit von Geschwindigkeit, Stärke und Richtung mit der sie die Hand auf das Papier drückten oder schlugen. In den letzten Stunden zeigten die Jungen großes Interesse am Mischen von Farben. Sie waren fasziniert davon, selbst neue Farbtöne erzeugen zu können und verwendeten diese anschließend begeistert zum Malen. Hierbei entstand auch der Violett-Ton, den sie in großen Mengen herstellten und verarbeiteten (Abb. 2). Nur einmal, in der bisher letzten Stunde, thematisierten zwei Jungen ihre Heimat Syrien in Verbindung mit dem Krieg. Ein Thema, welches hingegen sowohl bei den Jungen und bei den Mädchen häufig auftaucht, ist die Schrift. Alle Kinder nutzen Schrift in ihren Bildern, schreiben in lateinischen Buchstaben und setzen gerne ihre Namen auf ihre Bilder. Deutlich ausgeprägt war am Anfang die Konkurrenz nichtbefreundeter Kinder untereinander. Diese bestand sowohl innerhalb der Geschlechtergruppen als auch zwischen ihnen. Das jeweils eigene Bild sollte das Schönste sein, das Motiv das Größte und wichtig war es, schnell möglichst viele Bilder zu produzieren. Dieser Konkurrenzkampf nahm in dem Maße ab, in welchem die Kinder stärker in ihre subjektiven Malprozesse eintauchten. Die Kinder konzentrieren sich zunehmend stärker auf ihre eigenen Bilder und lassen die Anderen mittlerweile unkommentiert malen. Sie können mehr und mehr davon absehen, die Bilder der Anderen und ihre eigenen Bilder abzuwerten. Viele Kinder arbeiten länger an einem Bild als zu Beginn und tauchen tiefer in ihr Tun ein. Sie haben ihren Platz in der Gruppe gefunden und können sich dem Malen zuwenden. Die Übernahme von Motiven Anderer wird seltener als »Abmalen« und häufiger als »Anregung« interpretiert. Freunde können hin und wieder davon absehen, das Gleiche malen zu müssen und mitunter auch eigene Motive umsetzen. Die Handlungsalternativen der Kinder haben sich somit erweitert und ihr Ausdrucksrepertoire nimmt zu.
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Familie B – die Kinder G. und A. Familie B. besucht das Atelier seit Jahresbeginn. Die Mutter und ihre beiden Kinder erreichten nach langer Flucht im November 2015 Deutschland, der Vater starb in Syrien. Seit März 2016 besuchen die Kinder die Schule. Das Mädchen G. ist elf Jahre alt, sehr aufgeschlossen und auffallend fröhlich. Der Junge A. ist zwölf Jahre alt. Auch er ist aufgeschlossen und interessiert, wirkt allerdings auch häufig erschöpft und belastet. Die Mutter und ihre Kinder gehen sehr liebevoll und herzlich miteinander um. Sie sind einander zugewandt und lachen viel miteinander. Hauptanliegen der Familie ist es, gemeinsam etwas zu tun, was allen Freude bereitet. Beim Malen sind die drei in Kontakt, gleichzeitig arbeitet jeder für sich an seinem eigenen Bild. Das parallele Tun verbindet die Familienmitglieder miteinander, wobei jeder für seine eigenen Bilder verantwortlich bleibt. Manche Bilder werden am Ende einer Stunde zum Gesprächs- oder Interaktionsanlass untereinander, andere werden zur Kenntnis genommen und nicht weiter kommentiert.
Das Mädchen G. G. betrat zur ersten Stunde begeistert von den Farben den Malraum und probiert diese ohne Zögern aus. Sie zog Spuren mit schmalen und breiten Pinseln, schrieb ihren Namen in lateinischen Buchstaben, spritzte und tupfte fast alle Farbtöne auf das Blatt. Nachdem sie Farben und Pinsel erprobt hatte, begann sie auf einem neuen Blatt eine Landschaft mit einem Haus zu malen (Abb. 4). Dies ist das erste Bild einer Serie von Häusern, die in den folgenden Stunden entstanden. G. setzte Haus, Baum, Blumen und die Sonne auf das Blatt. Hintergrund und Boden zu füllen schien ihr schwer zu fallen, sie wechselte immer wieder zwischen Wiese und Himmel, zwischen dem ziehen von Grenzen und dem Füllen von Flächen. Unerwartet erklärte G. ihr Bild für fertig, obwohl noch weite Flächen ungefüllt waren. Auf einem zweiten Blatt trug sie dann Farben nebeneinander auf und füllte das Papier vollständig mit ihnen aus. Das zweite Haus entstand in einem Bild, in welchem G., wie auf einem Skizzenblatt, vieles probierte und wieder verwarf, weil es nicht ihren Vorstellungen entsprach. Sie brach 80 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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schließlich ab und begann ein neues Bild mit ihr vertrauten Elementen Haus, Baum und Blumen sowie einer Bergkette. Auch in diesem Bild füllte sie die Himmelsfläche nur zu einem Bruchteil. Stattdessen färbte sie Haus und Baum ein, wobei sie die bereits gemalten Früchte am Baum und die Fenster und Tür am Haus übermalte. Das bisher letzte Haus war eine Bleistift-Umrisszeichnung der Schule, die G. besucht. Es ist kein fiktives Haus wie in den vorangegangen Bildern, sondern eines, in welchem G. sich täglich bewegt. G. wollte die Zeichnung nicht weiter bearbeiten, weder etwas hinzufügen noch Farbe in das Bild bringen. Im Wechsel zu den Häusern malte G. ungegenständliche, farbige Bilder. Im Gegensatz zu den Haus-Bildern, welche immer leere Flächen zeigten, waren die Farb-Bilder vollständig gefüllt. G. gestaltete sie mit viel Energie und Ausdauer bis zum Ende. Neben den HausBildern waren bisher drei verschiedene Motive unterscheidbar, die G. immer neu variierte. Ein Motiv bestand aus nebeneinanderliegenden Farbflächen. Das erste dieser Bilder entstand nach dem ersten Haus. Mit großer Ruhe und Ausdauer fügte G. hier Farbfläche an Farbfläche. Am Ende setzte sie auf die getrocknete Farbe sorgfältig ihren Namen. Der »Regenbogen«, wie G. ihr Bild nannte, erfüllte sie sichtlich mit Stolz. Ein weiteres dieser Farb-Bilder entstand am Ende einer Sitzung (Abb. 5). G. war bei seiner Entstehung sehr in den Prozess vertieft. Ihre Striche wirkten sicher, sie arbeitete konzentriert und führte alle Handlungen ohne Zögern aus. Sie malte so zielgerichtet, als hätte sie das Bild bereits fertig im Kopf, ganz anders als bei ihren Haus-Bildern. G. nahm beim Gestalten ihrer Farb-Bilder kaum Notiz vom Geschehen im Raum und trat beim Malen häufig so dicht an ihre Blätter heran, dass nur wenige Zentimeter Platz zwischen ihr und dem Papier lagen. Ähnlich versunken, jedoch dynamisch statt ruhig, entstanden die Bilder, bei denen G. Farbflächen schichtete (Abb. 6). Einige Schichten waren flächig, andere zeigten figurative Pinselstriche. Die Schichten entstanden durch das Auftragen und Übermalen von Farbe mit Pinseln, Rollen und Schwämmen oder durch das Abtragen der Farbe mit einem feuchten Schwamm oder einer Wassersprühflasche. Auftragen und Abtragen wechselten sich immer wieder ab, bis ein Bild beendet war. Beim Gestalten dieser Bilder spielte und experimentierte G. Sie verfolgte interessiert die Effekte und versuchte gezielt, bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Die Arbeit an diesen Bildern war geprägt vom Wechsel zwischen Absicht und Zufall sowie von großer 81 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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körperlicher Aktivität. Immer wieder trat G. nah an ihre Bilder heran oder betrachtete sie aus der Ferne, zeichnete behutsam mit einem Pinsel hinein oder strich mit beiden Armen mit einem Schwamm über die gesamte Bildfläche. Ihr Vorgehen war spielerisch und experimentell, ihre Reaktionen waren impulsiv. Häufig trat sie von den Bildern zurück und rief »Fertig!«, um dann mit einem »Ah!« noch etwas hinzuzufügen. Das dritte Thema war die Variation eines »Sternenhimmels«. G. füllte hierfür zuerst das Blatt mit blauer Farbe. Dieser Prozess nahm viel Zeit in Anspruch. G. ging gewissenhaft dabei vor und ließ keine Ecke aus. Im rechten Bildbereich entstand auf der getrockneten Farbe eine weiße Spirale. Abschließend spritzte G. mit dem Pinsel weiße, gelbe und rote Farbe wie Sterne auf das gesamte Blatt. Das jüngste Bild dieser Serie unterschied sich von den vorherigen. Statt einer Spirale auf der rechten Blatthälfte wurde eine unausgefüllte Mondsichel in der linken oberen Bildecke sichtbar. G. spritzte die Sterne nicht auf das Blatt, sondern tupfte sie mit der Pinselspitze. G. erzählte mitunter nach dem Malen, was ihre Bilder zeigen, kommentierte das Dargestellte jedoch nicht weiter. Die Entstehung ihrer Bilder genoss G. sichtlich. Bereits beim Malen erfreute sich G. an dem, was sie absichtsvoll erzeugte und was zufällig entstand. Das fertige Bild betrachtete sie jeweils einige Sekunden mit freudigem Gesichtsausdruck, bevor sie ein neues Blatt nahm oder sich zum Gehen verabschiedete. G. hat verschiedene Bildthemen gefunden, in denen sie sich abwechselnd bewegt. Jedes Thema ist mit seinen spezifischen Handlungsmustern und emotionalen Reaktionen verknüpft. Im Umgang mit den Farben ist G. unverkennbar sicher und klar. Sie genießt die Farben, deren Verhalten auf dem Papier und die entstehenden Mischungen und Verläufe. G. fühlt sich im ungegenständlichen Gestalten mit den Farben wohl und entspannt sich beim Malen der Farbbilder. Die motivgeleiteten »Sternenhimmel« entstehen schnell und routiniert. G. scheint hier nicht über Arbeitsschritte, Komposition, Technik- oder Farbwahl nachdenken zu müssen. Die geschichteten Farbbilder sind Spiel mit dem Zufall. Hier tritt für G. der Interaktionsaspekt mit dem Bildgeschehen in den Vordergrund. Das Bild fordert immer wieder wechselnde Reaktionen heraus und provoziert neue Strategien. Die Haus-Bilder hingegen verlangen G. Kraft ab und erfordern Mühe. Sie stellt sich dieser Herausforderung aber immer wieder und kommt in diesen Bildern immer ein Stück weiter voran. 82 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Über den Wechsel der Bildthemen hat G. für sich eine Strategie gefunden, zwischen Anstrengung und Spiel zu wählen, sich selbst mit positiven Emotionen zu versorgen und sich ihren Herausforderungen zu stellen.
Der Junge A. A. begann in der ersten Stunde sofort mit dem Malen, sichtlich beeindruckt von der Fülle des Farbentischs. Sofort experimentierte er mit Pinsel und Farben. Er strich die Farben auf das Papier oder spritzte sie mit dem Pinsel drauf. Die Spuren auf dem Blatt wurden zu Impulsen für sein Tun. Das Blatt erinnerte schließlich an einen Notizzettel mit Kritzeleien, welche entstehen, wenn ein Stift ausprobiert wird. Auf dem Blatt erschienen Buchstaben und Symbole: Euro- und Dollarzeichen, der Schriftzug »Syrien« und A.’s Name, geschrieben in lateinischen Buchstaben. Sein zweites Bild zeigte die Landschaft seiner Heimat mit einem Haus und Bergen (Abb. 7). Den oberen und den rechten Bildbereich füllte A., der mittlere Bereich und das Haus blieben weiß. Zum Schluss verteilte A. mit einem Pinsel Farbspritzer über das Bild. Das Thema Syrien wurde in symbolischer Form noch ein weiteres Mal in seinem nächsten Bild sichtbar. A. malte eine formatfüllende syrische Flagge. In die Mitte setzt er den Schriftzug »Syrien« in arabischen Buchstaben und malt ein Herz darunter. Das gesamte Bild entsteht im Hochformat. A. dreht zum Schreiben nicht das Blatt sondern beugt sich zur Seite. Die Flagge wurde noch ein zweites Mal klein im Bildzentrum sichtbar. Nach diesen Darstellungen in der ersten Stunde tauchte das Thema Syrien in dieser Deutlichkeit nicht wieder in A.’s Bildern auf. In der bisher letzten Stunde malte A. jedoch das YouTube App Icon von seinem Smartphone ab. Währenddessen sprach er davon, dass er sich um das Wohlergehen der Menschen in Syrien sorge. In seiner Freizeit nutzt A. häufig sein Handy, schaut Videos und spielt Spiele, um die düsteren Bilder und Gedanken in seinem Kopf nicht wahrnehmen zu müssen. Die klare vorgegebene Form des Icon zu malen beruhigte A. und war für ihn eine durchführbare Aufgabe mit einem zufriedenstellenden Ergebnis. In den anderen Bildern von A. wurden besonders zwei Themen
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Katja Czech
sichtbar, die mitunter in einem Bild zusammentrafen: Bewegung und Gesichter. A.’s Malstil war beim Gestalten der meisten Bilder sehr dynamisch. Der Raum, den A. beim Malen einnahm, befand sich nicht irgendwo zwischen Farbtisch und Malplatz an der Wand, sondern erstreckte sich auf den gesamten Malraum. A. lief viel umher, nahm Anlauf, sprang vor dem Blatt auf und ab und setzte beim Malen seinen ganzen Körper ein. Oft wirkte es, als wolle A. seine Bewegungen auf dem Blatt sichtbar machen. Ein Bild zeigt Pinselspuren, welche durch Drehungen um seine eigene Achse entstanden waren (Abb. 8). Dabei streckte A. den Pinsel waagerecht seitlich seines Körpers aus und drehte sich schnell auf einem Fuß um sich selbst, sodass der Pinsel das Blatt streifte. Diese Bewegungsspuren sollten ein Gesicht überdecken, welches A. zuvor malte, aber nicht mochte. A. experimentierte hier mit dem Abstand zum Blatt, Farbmenge und Drehgeschwindigkeit. Ein weiteres Bild begann mit den Spuren seiner Fäuste. A. pinnte das Papier an die Wand, wobei er es mit auffällig ausholenden Bewegungen glatt strich. Dann drückte er in Zeitlupe abwechselnd seine Fäuste auf das Papier. Auf seine Bitte hin bestrich ich seine Handrücken mit blauer Farbe und er boxte auf das Blatt. Die sichtbaren Spuren waren so gering, dass er die Hände abermals langsam auf dem Papier abrollte, um Abdrücke zu hinterlassen. Nachdem A. auf diese Weise einige Abdrücke auf das Papier brachte, übermalte er die Faustspuren mit einer Rolle blauer Farbe und verstrich diese teilweise mit seinen Fingern. Er ließ dabei zwei Flächen weiß und schrieb mit gelber Farbe in eines der Felder seinen Namen, in das zweite ein unbekanntes Wort. Sein jüngstes bewegungsbedingtes Bild beginnt A. mit verschiedenfarbigen Spritzern. Er besprühte diese anschließend mit Wasser und beobachtet, wie die Farbe nach unten verlief. Vorsichtig verteilte er einen feuchten Farbklecks mit dem Zeigefinger und rieb anschließend mit der Handfläche über das gesamte Blatt. Er bewegte seine Hand immer schneller und in alle Richtungen. Aus Kreisen wurden Achten und kreuz und quer verlaufende Wischbewegungen. A. spritzte und wischte abwechselnd Farbe über das Blatt, wobei er für seine Bewegungen zunehmend den gesamten Körper einsetzte. A. bearbeitete das Blatt mit so viel Kraft und Wasser, dass es von der Wand zu fallen drohte und die Ateliereleiterin es mit mehreren Pins sicherte. Dann nahm A. in jede Hand einen Pinsel und malte damit 84 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern
gleichzeitig Kreuze auf sein Blatt, wobei er auf und ab sprang. Anschließend rieb er die Farbe mit den Händen in das Papier hinein. Er stemmte sich dabei mit seinem gesamten Körpergewicht gegen die Wand bis ein Stück des Papiers herausriss. A. war überrascht davon, lachte schließlich und zeigte das Blatt mit gewissem Stolz seiner Mutter und Schwester. Er riss den gesamten linken Teil des Blattes ab und beendet den Prozess, indem er mit goldener Farbe seinen Namen auf das Bild schrieb. A.’s zweites Thema waren Gesichter. Immer wieder gab es Bilder, die A. mit einem Gesicht begann. Dieses entsprach zumeist nicht seinen Vorstellungen, weshalb er es anschließend übermalte. Häufig blieben aber Teile des Gesichts unter den darüber liegenden Farbspuren sichtbar. Nach einigen übermalten Gesichtern gelang es A., eins zu malen, welches er stehen lassen konnte. Es war ein stilisiertes Gesicht, gemalt in ein Herz. Um das Herzgesicht herum entstand anschließend eine Figur, die A. später als Vogel benannte. Er setzte dem Vogel zum Abschluss eine Mütze auf, in welche er seinen Namen hineinschrieb. Anschließend setzte A. ein zweites Blatt links an sein Bild an und malte dort einen weiteren Vogel drauf. Das Gesicht des Vogels gelang ihm sofort und auch dieser bekam eine Mütze, in welche A. zwei Buchstaben schrieb, die er nicht näher kommentierte. Die Identität des Vogels blieb somit für den Betrachter ungeklärt. Wieder setzte A. links ein Blatt an, ließ dieses aber leer (Abb. 9). In der darauffolgenden Stunde malte A. kein Gesicht, schrieb aber seinen Namen formatfüllend auf ein Blatt. Mit auffällig großer Ruhe und viel Konzentration malte er die Flächen zwischen den Buchstaben an. Dabei trat er auffällig nah an das Blatt heran. Nach diesem ruhigen und konzentrierten Malen wechselte A. in seinen bewegten Malstil. Er spritzte rote Farbe über das Blatt, hielt den Pinsel dabei zum Teil mit beiden Händen, sprang oder drehte sich und begleitete sein Tun gelegentlich mit Geräuschen. A.’s bisher letztes Bild thematisierte wieder das Gesicht. Er setzte mit schwarzer Farbe Augen und einen lachenden Mund auf das Papier. Beim Füllen der umliegenden Fläche mit gelber Farbe verwischte das Schwarz und A. zerstörte das Bild, indem er mit einer Rolle über die feuchte gelbe und schwarze Farbe malte. Das Gesicht blieb darunter erkennbar und A. nahm ein neues Blatt. Auf Zureden der Mutter versuchte er es erneut und malte schwarze Augen und einen schwarzen Mund auf das Papier. Vorsichtig und langsam fuhr er mit dem gelben Pinsel darum. Diesmal gelang es ihm, die gesamte 85 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Fläche mit Gelb zu füllen, ohne dass die schwarze Farbe verwischte. A. freute sich sichtlich und schnitt das Gesicht kreisrund aus dem Papier. Er legte es zum Trocknen zur Seite und schrieb anschließend seinen Namen in schwarzen Buchstaben darauf. Er hielt sein Bild, ein »Smiley«, wie eine Maske vor sein Gesicht und lief lachend durch den Raum. A. wünschte sich ein Foto mit dem Bild vor dem Gesicht auf seinem Handy, welches er lachend betrachtete. A. war besonders in den letzten Stunden sehr erschöpft und hatte wenig Kraft. War er bei den ersten Atelierbesuchen erfüllt von Bewegungs- und Tatendrang, so wurden diese Phasen zusehends kürzer und unterbrochen von Zeiten der Müdigkeit und Erschöpfung. Trotz seiner Konzentrationsschwierigkeiten wendet er sich immer wieder dem Thema Gesichter zu. Er gibt nicht auf, sondern setzt seine Suche fort. Erfolge machen ihn stolz und glücklich. Dazwischen versucht er, seinem Bewegungsbedürfnis auf dem Papier Raum zu geben. Hier bricht sich seine Lust am Spiel Bahn. Zuweilen wird hier auch etwas von dem Chaos und der Sorge sichtbar, welche ihn bewegen. A. schafft es nicht alleine, mit diesen unangenehmen Gefühlen umzugehen. Er ist sehr auf die Zuwendung seiner Mutter und seiner Schwester angewiesen. Dies zeigt sich deutlich während der Malprozesse. Er sucht häufig die Aufmerksamkeit der Mutter oder der Schwester. Die Konzentration und das selbstbestimmte Tun kann er nicht über längere Zeit hinweg halten. In regelmäßigen Abständen bricht er in den Raum von Mutter oder Schwester ein, kommentiert ihr Tun und ihre Bilder oder macht auf seine Bilder und sein Tun aufmerksam. Die Grenzen seiner Schwester verletzt er mitunter, indem er mit dem Pinsel Spuren und Spritzer auf ihre Bilder setzt. In den ersten Stunden entwickelten sich daraus gemeinsame Spiele. Später jedoch wies G. ihren Bruder zurück, da sie die Spritzer nicht mehr auf ihren Bildern haben wollte. Auf derartige Zurückweisungen reagiert A. sichtlich gekränkt und hilflos. A. ist sehr stark auf seine Schwester bezogen, weshalb es ihm schwer fällt, auszuhalten, dass diese alleine und konzentriert an ihren Bildern arbeitet. A. ist dann auf sich selbst zurückgeworfen und muss seine eigenen Bilder finden und entwickeln. Hat A. die Zurückweisung verdaut, kann er für kurze Zeit an seinen eigenen Bildern arbeiten. Hier macht er, wie am Beispiel des »Smileys« zu sehen, zunehmend die Erfahrung, dass ihm die Bilder gelingen, er selbständig und aus sich heraus etwas schaffen kann.
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Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern
Das Atelier »Regenbogen« – Angebot des IRISFamilienzentrums Die Angebote des Ateliers sind primär an Materialien und Verfahrensweisen der Bildenden Kunst orientiert, aber nicht darauf beschränkt. In unmittelbarer räumlicher Nähe zum Malraum, dem Herzstück des Ateliers, befinden sich eine Holz- und eine Tonwerkstatt, die im Rahmen des Projekts nutzbar sind. Verschiedene Kursräume im Haus ermöglichen das Angebot von Tanz- und Theaterangeboten. Das Projekt umfasst weiterhin die Möglichkeit, Künstler einzubeziehen und im Sozialraum aktiv zu werden. Die Resonanz auf das Ausdrucksmalen ist so groß, dass es als zentrales Angebot des Projektes in verschiedenen Formaten angeboten wird. Eine offene Gruppe findet mittwochnachmittags statt. Hier können Eltern und Kinder ohne Altersbeschränkung und ohne Voranmeldung kommen und innerhalb von drei Stunden so lange malen, wie sie wollen. Sie können gemeinsam malen oder die Eltern bringen die Kinder und holen sie später wieder ab. Manche Kinder (und Eltern) nutzen das Angebot bereits seit einem Jahr regelmäßig jede Woche, andere kommen über einen kurzen Zeitraum wöchentlich und wieder andere kommen in großen Abständen. Kindertageseinrichtungen nutzen das Angebot vormittags sehr rege, jedoch in unterschiedlicher Weise. Einige nehmen es als einmaliges kulturelles Angebot im Rahmen ihrer Vorschularbeit wahr, andere Kitas vereinbaren Termine für einen bestimmten Zeitraum. Bei letzteren handelt es sich um integrative Einrichtungen und um Einrichtungen in sozialen Brennpunkten der Stadt. Viele der Kinder kommen aus prekären Verhältnissen, in einigen Kitas ist der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund vergleichsweise hoch. Diese Einrichtungen nehmen das Angebot als ergänzendes Bildungs- und Förderangebot für ihre Kinder wahr. Eine Kita besucht den Malraum seit Projektbeginn regelmäßig jede Woche mit einer Gruppe wechselnder Kinder. Lässt der Betreuungsschlüssel den Atelierbesuch nicht zu, geht die Malleiterin in die Einrichtung und arbeitet dort für ca. 1,5 Std. mit den Kindern im Kita-Atelier um die Kontinuität des Angebots aufrechtzuerhalten. Neben Kindertageseinrichtungen nutzen auch Schulen und Horte das Angebot bspw. mit den Willkommensklassen oder als Angebot der Schulsozialarbeit. In Zusammenarbeit mit einem Träger der Familienhilfe kommen Kinder und Jugendliche zu Einzel- bzw. Klein87 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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gruppensettings in den Malraum, um kunsttherapeutisch zu arbeiten. Ferner finden im Malraum Workshops für Kunstpädagogikstudenten der Universität Halle-Wittenberg bzw. der Kunsthochschule Burg Giebichenstein Halle und Weiterbildungen für pädagogische Fachkräfte statt. Das Atelier »Regenbogen« ist ein Projekt der Familienbildung im IRIS-Regenbogenzentrum, einem Familienzentrum in Trägerschaft des IRIS e. V. für Frauen und Familie in Halle/Saale. Unter einem Dach sind dort eine staatlich anerkannte Schwangerenberatungsstelle, eine staatlich anerkannte Ehe-, Familien-, Lebens- und Erziehungsberatungsstelle mit Bibliothek, eine Familienbildungsstätte mit vielfältigen Kursen und Weiterbildungsangeboten für Familien mit Babys (z. B. PeKiP, Lesebabys) oder (Klein-)Kindern (z. B. musikalische Früherziehung, Turnen) sowie für Erwachsene (Yoga, Tai Chi) angesiedelt. Im Haus treffen sich zahlreiche Selbsthilfegruppen, Weiterbildungsveranstaltungen werden durchgeführt und Familien mieten sich ein, um Feste zu feiern. Weiterhin befinden sich im Haus eine Hebammenpraxis und eine Tagesmutter-Kinderbetreuung.
Literatur Krappmann, L. & Oswald, H. (1995). Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim: Juventa. Stern, A. (2012a). Das Malspiel und die natürliche Spur. Malort, Malspiel und die Formulation (3. Aufl.). Klein Jasedow: Drachen. Stern, A. (2012b). Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll. München: Zabert Sandmann.
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Arbeit im Malraum mit geflüchteten Kindern
Abbildungen
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Abb. 5
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Roger Dufern
Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
Abstract: Dieser Beitrag gibt einen kleinen Einblick in die Arbeit einer Heilpädagogischen Praxisgemeinschaft in einem Brennpunktviertel der Stadt Freiburg im Breisgau. Dort werden Künstlerische Therapien als ambulantes Angebot der Kinder- und Jugendhilfe als Methoden der Heilpädagogik angeboten. Es geht um die Leitmotive, z. B. die Durchsetzung von Teilhabe an den ästhetischen Mitteln unserer Gesellschaft bei sogenannten bildungsfernen Schichten. Außerdem beschreibt dieser Beitrag Therapieziele mit den Klienten, rechtliche und finanzielle Fragen, spezielle Therapieangebote, insbesondere im Rahmen der Elternbildung, und weitere Aktivitäten im ästhetisch-bildenden Bereich in ambulanten, interkulturellen Kontexten.
1.
Leitmotiv(e) unserer Arbeit in sozialen Brennpunkten
»Nur aus der Kreativität des Menschen heraus können sich die Verhältnisse ändern.« Beuys, 2008. S. 278
Die Teilnahme an Malkursen, Theaterworkshops, Musikschulen etc. ist bis heute in der Regel, insofern diese nicht an den allgemeinbildenden Schulen direkt angeboten werden, ein Privileg von Kindern aus den sogenannten »gutsituierten Mittelschichten«. Dies führt dazu, dass die Teilhabe aller sozialen Schichten an den ästhetischen Mitteln unserer Gesellschaft aus unserer Sicht nicht hinreichend gewährleistet ist. Dies kann als Aufforderung verstanden werden, ein differenziertes Angebot künstlerisch-kreativer Bildung in sozialen Brennpunkten anzubieten, mit dem Ziel, die Chancengleichheit in unserer Gesellschaft auf diesem Gebiet umzusetzen. Die Teilhabe unserer Kinder und Jugendlichen an der ästhetischen Bildung darf nicht allein den sozial bessergestellten Kreisen unserer Gesellschaft vorbehalten bleiben! 93 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Roger Dufern
Im erweiterten Kapitalbegriff, insbesondere bei Pierre Bourdieu (1983), wird in der Soziologie neben dem ökonomischen Kapital auch vom sozialen und kulturellen Kapital gesprochen. Inkorporiertes kulturelles Kapital wird u. a. durch verinnerlichte Bildung ausgedrückt. Objektiviertes Kulturkapital lässt sich durch seine materiellen Träger wie Schriften, Gemälde, Musikinstrumente etc. darstellen. Insofern sind die Bereitstellung und der Erwerb dieser besonderen Form des Kapitals durch die Anwendung der Künstlerischen Therapien ein weiteres wichtiges Motiv unserer Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. Es ist unser Ziel, kulturelles Kapital jeder sozialen Schicht zugänglich zu machen. Dadurch wird ein wichtiger Impuls verwirklicht, nämlich Kinder und Jugendliche aus sogenannten »bildungsfernen Schichten« an die ästhetischen Mittel unserer Gesellschaft heranzuführen. Kinder und Jugendliche sollen selbst kreativ werden und nicht nur den Verlockungen des passiven Konsumierens (Stichwort Medien, Medienabusus) ausgesetzt bleiben. Virtuelle Medien sollen in kreative Projekte einbezogen werden. Kreative Bildung soll auch besonders in interkulturellen Kontexten implementiert werden. Die Kraft nonverbaler Mittel des ästhetischen Ausdrucks wird durch die heilpädagogische Arbeit genutzt, insbesondere und gerade auch dort, wo die deutsche Sprache nicht immer zur Gänze ein Allgemeingut darstellt, oder wo für uns vielfältige, zunächst fremde kulturelle Hintergründe, wie z. B. in der Flüchtlingshilfe, immer neue und komplexe Herausforderungen schaffen. So werden neue Wirkungsfelder der Künstlerischen Therapien in ambulanten sozial- und heilpädagogischen Arbeitsbereichen geschaffen und vermehrt wirksam implementiert. Der Name unserer Einrichtung wird durch das Symbol der Insel beschrieben und zusammengefasst. Im Rahmen eines kollegialen Imaginationsvorganges wurden innerbildliche Prozesse externalisiert und in ein Label für soziale Räume gegossen, die die Möglichkeit zum Rückzug, Schutz, zum Ab- und Umschalten und zu kreativer seelischer »Nachernährung« in einem oft widrigen urbanen Umfeld bieten.
94 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
2.
Ziele für die Einzelnen
Uns ist es ein zentrales Anliegen, dass Kinder- und Jugendliche ihre verborgenen Ressourcen und Talente entdecken. Sie sollen kreative Fähigkeiten entwickeln, um den Herausforderungen des Alltags mit einem Gefühl der Stärke, des Mutes und des Vertrauens auf eigene Kompetenzen begegnen zu können. Es werden Anregungen und Handlungsalternativen angeboten, um Konflikte kreativ verarbeiten und lösen zu können. Damit verbunden entstehen Perspektiven für eine vielseitige und sinnvolle Freizeitgestaltung. Ganz im Sinne von Karl König sehen wir die Heilpädagogik selbst als eine praktische Kunst, die keinen festgefügten Schemata folgt, sondern immer wieder in ihrer Methodik situativ schöpferisch aus dem Augenblick handelt (König, 2016). Künstlerische Therapien auf der Basis heilpädagogischen Handelns sollen auch für den Einzelnen Ventile schaffen, sie sollen Möglichkeiten des nonverbalen Ausdrucks bieten, um so die Fähigkeiten zur sozialen Kommunikation und Interaktion auszubilden. Es können sich die Kompetenzen zur Kooperation, Achtsamkeit und Rücksichtnahme entfalten. Der Empathiefähigkeit kann somit eine Entwicklungsmöglichkeit geebnet werden, aber auch den eigenen verborgenen Wünschen können Ausdrucksformen verliehen werden, die so, zunächst symbolhaft, einen ersten Ansatz der praktischen Realisierung erfahren. Nicht vergessen wollen wir die vielseitigen Möglichkeiten für Verbesserungen im Bereich der Grob- und Feinmotorik, der ganzen Bewegungskoordination oder der Augen-Hand-Koordination, die im Umgang mit künstlerischen Medien und Materialien (Musizieren, Plastizieren, Malen, Tanzen etc.) eingeübt werden können. In siebenfacher Weise erlebt das »Selbst« durch unsere Hilfe eine Verwandlung: Die Selbstsuche wird schrittweise in eine Selbstfindung überführt. Durch das Erreichen von mehr Selbstbewusstsein wird das Selbst aktualisiert. Es entsteht die Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstkontrolle. Dies schafft wiederum Selbstsicherheit, welche ein positives Wachstum der einzelnen Klienten ermöglicht.
95 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Roger Dufern
3.
Rechtsgrundlage, Anspruchsgrundlagen
Künstlerische Therapien als Methoden der Heilpädagogik werden im Rahmen der Frühförderung und Jugendhilfe als ambulante Leistungen der Eingliederungshilfe von den Sozial- und Jugendämtern erstattet (Dufern et al. 2014). Im Einzelnen sind dies: – der § 35a, SGB VIII, Leistungen der Eingliederungshilfe bei (droh.) seelischer Behinderung, – der § 53, 54, SGB XII, Sozialhilfe, Leistungen der Frühförderung bei (droh.) Behinderung, – therapeutische Leistungen der ambulanten Hilfen zur Erziehung, Kinder- und Jugendhilfe (§ 27 ff, Abs. 3, SGB VIII). Die künstlerischen Therapien erscheinen hier als Teil des Repertoires der Heilpädagogik, Psychologie oder der sozialen Arbeit/Pädagogik, d. h. in Form von zusätzlich ausgebildeten Kunsttherapeuten oder auch, in zunehmendem Maße, als die Arbeit von grundständig ausgebildeten künstlerischen Therapeuten, die in den ambulanten Heilpädagogischen Praxen oder interdisziplinären Frühförderstellen tätig werden.
4.
Kostenträger und Voraussetzungen
Damit die Kosten der ambulanten Leistungen der Heilpädagogischen Kunsttherapien im Rahmen der Frühförderung oder der Jugendhilfe von den Behörden übernommen werden, ist es notwendig, dass die Heilpädagogischen Praxen von den Sozial- und Jugendämtern der Städte und Landkreise anerkannt sind. Um eine Anerkennung als freipraktizierende/r Heilpädagoge/in zu bekommen, müssen verschiedene Voraussetzungen hinsichtlich des Studien-/Ausbildungsabschlusses, der Berufserfahrung und der vorgehaltenen räumlichen Ausstattung erfüllt werden. Die Anerkennung muss von einem der Berufsverbände erteilt werden. Eine alternative Finanzierung der Maßnahmen ist auch durch freie Kostenträger, d. h. durch Stiftungen, Fördervereine, regionale Solidargemeinschaften oder auch durch Privatzahlungen möglich. Im Rahmen von Einzelfallentscheidungen können auch die gesetzlichen Krankenkassen als Kostenträger fungieren.
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Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
5.
Methodik und Angebote
5.1 Künstlerische Methoden in multimodaler Anwendung Joseph Beuys (1972, S. 13) meinte: »Plastik hört man, bevor man sie sieht, auch Bilder und Skulpturen nimmt man mit dem Ohr wahr.« Im Hinblick darauf soll ein Hinweis auf eine spartenübergreifende Betrachtung der Arbeit durch und mit verschiedenen Künsten – bezogen auf die Sinne – gegeben werden. Im multimodalen kunsttherapeutischen Prozess können sich unterschiedliche Materialien und Methoden gegenseitig wunderbar bereichern. Es können sich z. B. Farben, Ton, Filzwolle und Musikinstrumente in ihren Ausdrucksmöglichkeiten sinnvoll ergänzen. Je nach den Bedürfnissen der Klienten kombinieren sich Methoden entsprechend dem Befinden im inneren Prozess des Einzelnen (Beier: in Dufern et al. 2014). Die Anwendung der Künstlerischen Therapien in Einzelform (z. B. Musiktherapie, Maltherapie, Tanz, Jeux Dramatiques) ist davon selbstverständlich unbenommen. Beispiele für multimodale künstlerische Therapien: Rollenspiel und Musik (Reise in den Dschungel, in den Weltraum etc.): Es werden vornehmlich Klang-und Geräuschinstrumente zur Begleitung von gemeinsam erarbeiteten Szenen improvisatorisch eingesetzt und der dramatischen Darstellung unterlegt. Märchen, Musik und Malen: Passende Lieder werden zu internationalen Märchen gesungen, einzelne Szenen werden untermalt durch Musik. Der innere Bilderreichtum der Märchen wird zeichnerisch interpretiert und nachvollzogen. Andere Angebote mit multimodalem Ansatz: Geschichten, umrahmt von Musik, werden in Rhythmik, Tanz und Bewegung in Verbindung mit Tüchern, Jonglierbällen und entsprechender Kostümierung vor Publikum dargebracht. Multimodale Künstlerische Therapien werden im Familientheater in Form von Tanz, Liedern oder als Methode in der interkulturellen Familienschule integriert (Elternbildung, s. u.).
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Roger Dufern
Abb. 1: Johannifeier, Sprung über das Feuer
Künstlerische Methoden begleiten in vielfältiger Weise bei rhythmisch wiederkehrenden Jahresfesten. Lieder und Tänze am Johannifeuer mit entsprechenden Sinnsprüchen, die stimmungsvolle Inszenierung eines musikalisch durchdrungenen Adventsgärtleins oder die künstlerische Gestaltung der Sage vom Ritter Georg als Puppenspiel, die durch Musik begleitet und anschließend von den Kindern selbst szenisch nacherlebt wird.
5.2 Künstlerisch-kreative Angebote in der Elternbildung 5.2.1 Tanzabende für Mütter Einmal in vierzehn Tagen wird in der Insel ein spezielles Angebot für die Mütter unserer Klientenkinder angeboten. Während eines 90-minütigen Programmes wird freier, improvisierter Tanz zu betont rhythmischer Musik durchgeführt. Kleine Meditationen und zusätzliche Entspannungsübungen werden als passende Sequenzen eingebaut, um die Wirkung des Tanzes noch zu verstärken. Das »Tanzen für Mütter« dient dem Stressabbau, wobei die Teilnehmerinnen dadurch neue Kraft schöpfen können. Sie vermögen 98 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
Abb. 2: Adventsgärtlein mit Spriale
abzuschalten von den Geschehnissen des Alltags und sich auf sinnvolle Weise abzulenken. Zusätzlich kann sich das Körpergefühl der Teilnehmerinnen verbessern. 5.2.2 Interkulturelle, kreative Familienschule und Familientheater Die Motivation zum Aufbau der Familienschule war der Wunsch, im sogenannten »sozialen Brennpunkt« besonders Migrantenfamilien anzusprechen, und zwar mit einer Sprache, die universell und für alle verständlich ist: die Sprache der Kunst, der Musik, der Farben, der Symbole usw. (Basina & Hagemann 2014, 134). Das Familientheater bietet Eltern und Kindern die Möglichkeit, sich im Theaterspiel neu zu erleben. Es wird mit verschiedenen Elementen wie Musik, Tanz, Bewegung und kreativem Gestalten gearbeitet, gespielt und improvisiert. Internationale Märchen werden zu kleinen Szenen verflochten und als Stehgreifspiel, Tischtheater oder Schattenspiel vor einem kleinen Publikum aufgeführt. Dieses Elternbildungsangebot wird vom Landesprogramm STÄRKE für die Eltern finanziert. Es entsteht ein gemeinsamer Erlebnisraum, der das Familienleben befruchtet und bereichert. Auch der Begegnung und dem Kennenlernen unterschiedlicher Kulturen wird viel Platz eingeräumt. Die 99 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Roger Dufern
TeilnehmerInnen werden ermutigt, ihre kulturellen Besonderheiten als Ressource und Bereicherung wahrzunehmen im schwierigen Prozess der Verwurzelung in einem neuen kulturellen Kontext. Auch Eltern und Kinder finden mit den kreativen Medien einen leichteren, unkomplizierten Zugang zueinander. Die Eltern entdecken ihr eigenes »inneres Kind«, ihre Spielfreude, ein Stück Unbeschwertheit neu (Basina & Hagemann 2014). Vierzehntägig haben die Treffen je zwei Teile: 1. Teil – Eltern mit Kindern: spielen, singen, musizieren, malen, filzen. 2. Teil – Eltern mit Eltern: sich über den Familienalltag, über Hürden und Erfolge, Herausforderungen und Perspektiven austauschen. Darüber hinaus werden die Eltern in Fragen der Erziehung durch Gruppen- und Einzelcoaching von den Therapeuten unterstützt.
5.3 Künstlerische Angebote und Therapien im Rahmen einer Kulturwoche Anlässlich unseres 10-jährigen Bestehens feierten wir gemeinsam mit den Kindern, Jugendlichen, deren Angehörigen, mit Freunden und Kollegen bzw. mit Netzwerkpartnern eine Kulturwoche. Dies bot die Gelegenheit, unsere vielseitigen Arbeitsansätze für die weitere Umgebung der Praxisgemeinschaft transparent und nachvollziehbar darzustellen. Die Kulturwoche startete mit einem kurzen Rückblick auf die Ereignisse im Rahmen des Praxisaufbaus und deren Stationen. Ein Festvortrag zu den Künstlerischen Therapien stellte einen ersten Einstieg in diese Woche dar. Es folgte eine Vernissage mit künstlerischen Werken von Kindern und Jugendlichen unserer Praxis. Durch das Tätig-Sein in der Form, der Farbe, der Musik und mit der Sprache wurden in den einzelnen Ausstellungsexponaten Wege zum Selbst und zum Anderen dargestellt. Die Klienten konnten das eigene, gestaltende Ich erleben, sie schufen Äußerungen ihrer Seele mit ihren Bedürfnissen, Möglichkeiten und Hindernissen. Indem sie ihre Werke ausstellten, ließen sie andere an diesen Prozessen und Seelenäußerungen teilhaben. Ein Elterncafé mit Kinderbetreuung wurde durch ein Impulsreferat zum Thema: »Herausforderung Kinder erziehen« eröffnet. Klassische 100 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
Abb. 3: Plastische Gestaltung im Rahmen einer Vernissage in der Praxis
Elternprobleme wie Grenzüberschreitungen der Kinder, die Zu-Bettgeh-Situation, die Pubertät mit ihren vielfältigen Herausforderungen etc. wurden in eigens eingerichteten Thementischen gemeinsam erörtert. Anschließend wurde ein offenes Atelier zum Plastizieren und Malen für die Eltern angeboten, wo diese Themen nonverbal auf andere Weise be- und verarbeitet werden konnten. Bei einem Liederabend, gestaltet durch Musiker des Praxisteams, wurden mit Eltern und Freunden gemeinsam jahreszeitliche, inter101 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Roger Dufern
nationale Lieder gesungen. Ein Schwerpunkt der therapeutischen Arbeit in der Insel liegt im Bereich der Autismus-Spektrum-Störung. In diesem Bereich ist sie einer von zwei Anbietern im ganzen Kreis Breisgau-Hochschwarzwald, die dazu spezialisierte ambulante Eingliederungshilfen anbietet. Passend dazu wurde eine Lesung zum Thema Autismus mit Lyrik und Bildern organisiert. Eine Dame, die selbst mit der Diagnose Autismus lebt, erzählte aus Sicht einer Betroffenen, wie sie diese Störung im Alltag empfindet. Es erfolgte ein Kinderfest an einem Nachmittag. Dazu gab es eine »Bunte Insel Bühne«. Diese Bühne wird von Kindern und Mitarbeitern der Insel vierteljährlich gestaltet und vor Eltern und Angehörigen aufgeführt. Akrobatik, Tüchertanz, Klaviervorspiel, szenische Darstellungen von Märchen waren diesmal Themen der Aufführungen.
Abb. 4: »Bunte Insel Bühne«
Die Kulturwoche wurde durch ein Symposium unter dem Titel »Insel-Einblicke« mit einer Darstellung des Insel-Gesamtkonzeptes abgeschlossen. Am Nachmittag wurden die besonderen methodischen Herangehensweisen der künstlerischen Therapien in der Insel in Arbeitsgruppen gemeinsam praktisch geübt.
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Künstlerische Therapien in der ambulanten Kinder- und Jugendhilfe
Abb. 5: Insel Imagination, malerisch dargestellt
6.
Resümee
Eines kann einem jeden Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendhilfe in der Insel auf jeden Fall garantiert werden: Es ist immer spannend, keine Zeit für Langeweile! Der soziale Brennpunkt ist ein zugleich komplexes wie auch inspirierendes Arbeitsfeld für Therapeuten, die mit künstlerischen Therapien auf der Basis der Heilpädagogik arbeiten. Probleme werden nicht nur vom Verstand, sondern kreativ-intuitiv und umgestaltend, oft multimodal, gemeinsam mit den Klienten angegangen und bewältigt. Künstlerische Therapien helfen dabei, Kulturgüter in unsere Gesellschaft zu implementieren. Aus Bildungsferne entsteht Bildungsnähe, die kreative Auseinandersetzung mit interkulturellen Kontexten kann als positive Herausforderung und zugleich als Bereicherung erlebt werden.
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Roger Dufern
Literatur Basina, N., Hagemann U. (2014). Interkulturelle, kreative Familienschule. In: Dufern, R., Menzen K. H. & Beier, A. (2014). Künstlerische Therapien im sozialen Brennpunkt. Dortmund: Verlag modernes Lernen. Beuys, J. (1972). Zeichnungen 1947–59. Köln: Schirmer. Beuys, J. (2008). Beuys im Gespräch mit Frank J. Heinemann. In: E. Blume, Nichols, E. & Beuys, J. (Hrsg.). Beuys. Die Revolution sind wir. Göttingen: Steidl. Borudieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Kreckel, R. (Hrsg.) (1983). Soziale Ungleichheiten, Göttingen: Schwarz. Dufern, R., Menzen K. H. & Beier, A. (2014). Künstlerische Therapien im sozialen Brennpunkt, S. 156–159. Dortmund: Verlag modernes Lernen. König, K. (2016) »Heilpädagogik ist eine praktische Kunst«, Zur Erinnerung an Karl König, der vor 50 Jahren starb. In: Heilpädagogik.de, 2/2016, Fachzeitschrift des Berufs- und Fachverbandes HP e. V. S. 23–24.
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Anne Engler
Resonanz. Neue Impulse aus der (Kunst-) Therapie zum Wandel in der Trauerkultur
Abstract: In diesem Artikel werden neue Entwicklungen aus der Kunst/-Therapie im Überblick dargestellt, die sich im Umgang mit Tod-, Trauer-, Verlust- und Trennungserlebnissen im lösungsorientierten Sinn bewährt haben. Im Mittelpunkt der Darstellung wird der Resonanzbegriff eingeführt, der es fachlich ermöglicht, den Umgang mit einer Lebensrealität weiterhin gestalten zu können. Dabei ist es die Kunsttherapie selbst, die in Bezug auf das Resonanzerleben grundlegende Orientierungen in sich vereint. Abschließend werden konkrete Interventionen und Arbeiten aus dem Palliativbereich vorgestellt, die exemplarisch die spezifischen Themenwelten und Verarbeitungsmöglichkeiten illustrieren. Das komplexe innere Resonanzerleben in Folge eines schweren, nachhaltigen Verlustes, ist unter Umständen – für einen Betroffenen – im Alltag schwer gestaltbar. (Kunst-)Therapie lädt uns zu neuen Erfahrungen ein und dokumentiert, dass ein friedvoller, bereichernder und hilfreicher Umgang mit vielen Ereignissen möglich ist bzw. ermöglicht wird.
1.
Trauer, Kreativität und Kunst(-Therapie)
Trauer-, Trennungs- und Verlusterfahrungen sind individuelle Erfahrungen, die jedoch in einem wirksamen kulturellen, gesellschaftlichen Kontext erlebt werden. Um mit einer komplexen Erfahrung umgehen zu können, müssen gesellschaftliche Rahmenbedingungen diesen Umgang positiv unterstützen. Dennoch kann auf einer persönlichen Ebene immer noch ein Schmerz verbleiben, der beispielsweise im Rahmen kreisender Gedanken, einem Gefühl einer innerlich verbleibenden Isolation, aber auch einer erfahrenen Einschränkung zunächst noch nicht transformiert werden kann. Hier ist es nur möglich, durch eine intensive und authentische Selbstzuwendung, SelbstErforschung, wie auch dem Entdecken neuer Fähigkeiten – beispiels105 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anne Engler
weise mit Hilfe von Kunsttherapie – eine erweiterte Grundlage zu erhalten, auf der ein Verlust ausgedrückt bzw. verarbeitet wird und möglicherweise zu ganz neuen Erfahrungen und Erlebnissen führt. Therapeutische Fragen. Welche Faktoren belasten das innere System wirklich? Worin liegt der Sinn einer Lebensphase oder eines Lebensereignisses, welches Schutz und Sicherheit erst einmal infrage stellt? Wie kann eine reiche und vollständige Beziehung zu sich selbst weiterhin gelebt werden? Kreative Wege entdecken. Die Kunsttherapie ist sinnlich orientiert, bleibt aber stets mit dem geistigen und seelischen Erleben eines Menschen verbunden. Ergänzend zu einer guten Medizin, die man einnimmt, kann man hier – wie in einem Training – selber etwas zu dem Thema gestalten und ausdrücken. Eine real existierende Erfahrung kann somit erlebnisorientiert mit subjektiv bedeutsamen Inhalten verknüpft werden, die nicht als ich-fremd, sondern als zugehörig empfunden werden. Dieses Vorgehen kann eine innere Heilung unterstützen bzw. den betroffenen Menschen sehr stark entlasten (Bolton, 2008). Materialwahl. In der kreativen Begleitung kann man darüber hinaus mit neuen Medien, d. h. beispielsweise mit Licht, Farbe, Duft, Musik, Natur, Bildern und Worten in Berührung kommen. Von diesen Medien geht eine spezifische Wirkung aus. Ein Mensch entscheidet nun subjektiv selbst, was ihn im Kontext von Trauer am besten erreicht. Dieser Prozess kann aktiv oder rezeptiv erfahren werden, daher bietet er sich auch für schwerst-bettlägerige Bewohner und Patienten an. Das Ziel ist es, ein erstes gegenwärtiges Resonanz-Erlebnis zu ermöglichen. Lösungsorientierung. Von diesem Anknüpfungspunkt aus, kann selbstständig und/oder begleitet die Zukunft im kreativen Medium gestaltet werden. Es handelt sich hier um einen geschützten Raum, der Probehandeln erst ermöglicht. Entdeckte, wirksame Impulse dürfen unseren Alltag nun relevant verändern. Etwas, das bedeutsam und angenehm ist, möchte man gerne wieder und wieder erleben. Dieses ist in der Kunst möglich: Wir können ein Musikstück bzw. ein Bild wieder anschauen oder ein Wort, eine Affirmation wieder denken. Dieser positive Kreislauf kann das Verlust-Denken überschreiben bzw. bereichern und/oder in sinnvoller Weise mit unserem Leben verknüpft werden.
106 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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2.
Heilsame Potentiale im Resonanzerleben
Elementare Resonanz und Kreativität. Hartmut Rosa ist ein soziologischer Wissenschaftler, der sich aktuell in vielen Veröffentlichungen und Vorträgen zum Thema Kreativität und Resonanz äußert. Resonanz sei eine Grundfähigkeit eines jeden Menschen (Hansen & Rauner, 2016). a. Es ist uns möglich – vergleichbar mit einem schwingenden Draht – eine innenwohnende Resonanz zu jedem Vorgang, jeder Person, jedem Gedanken, wie auch in Kontakt mit jedem Material usw. in uns selbst wahrzunehmen. b. Weiterhin kann Resonanz auch – wie ein Ton – von uns selbst ausgesendet werden. Bekannt ist das populäre Zitat über den Flügelschlag des Schmetterlings (bzw. der Möwe). Dieser Flügelschlag hat im Rahmen einer nicht linearen Unvorhersehbarkeit physikalisch die potentielle Kraft, auf der anderen Seite der Erde einen Tornado auszulösen (Lorenz, 1972). In der Ableitung bezeugt dieses eine grundlegende, machtvolle und feinsinnige Multidimensionalität, die jedem Tun gegeben ist. Unsere Resonanz hat weiterhin die Kraft, sich in der Wahrnehmung sämtlicher alltagsnaher Aktivitäten und in einer inneren Haltung dazu zu zeigen. Es sind daher weniger esoterische Vorgänge gemeint. Grundlegend für eine Erfahrung ist vielmehr das ganz basale SichEinlassen auf die eigenen Sinne bzw. das Entschleunigen der eigenen Befindlichkeit (Rosa, 2005). Dieses kann uns zu einer kreativen Wahrnehmung in vielen Augenblicken führen, die uns vollumfänglich erfüllt. Resonanz in Bezug auf Verlusterfahrungen. Die Resonanz (lat. resonare = wiederhallen) bei einem komplexen Verlusterlebnis hält an und zeigt sich psychophysiologisch vielgestaltig: Angst, Trauer, Verlustgefühle, innere Leere, Antriebslosigkeit, Bedrohung, Schuldgefühle, Ärger, Zorn und Zweifel sind einige mögliche emotionale Reaktionsmuster. Diese Resonanzerfahrung ist unter Umständen stärker als gewöhnliche Alltagserfahrungen. Ausgleichende Erholungsmöglichkeiten und harmonische Beziehungserfahrungen fallen unter Umständen systembedingt weg. Dadurch entsteht sehr viel Raum für ein sich ausbreitendes Verlusterleben, das gestaltet werden möchte. In Anbetracht einer komplexen Verlusterfahrung ist die äußere Realität unter Umständen zunächst nicht mehr veränderbar. Auch 107 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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das innere Erleben braucht eine gewisse Zeit und Unterstützung, um sich nach einer Phase des Schocks wieder neu ausrichten. Es ist wichtig, dass eine erste Übersicht gewonnen wird. Allmähliches Leit-Ziel ist die Stabilisierung auf einer erweiterten Basis und das Wiederentdecken der eigenen Selbstwirksamkeit. Im Falle unentschiedener, wiederholter, bzw. anhaltender und wiederkehrender Belastungen, z. B. im Kontext einer lebensbedrohlichen Erkrankung, kann sich das krisenhafte Erleben jedoch immer wieder von Neuem einstellen. Das Erlebnis der Selbstwirksamkeit wird somit gedämpft. Im klinischen Bereich, oder im Fall von Tod, Trauer und Trennung sind die äußeren Stressoren darüber hinaus nicht immer vermeidbar. Dennoch ist es möglich, sich durch achtsame und präsente Augenblicke wieder mehr in seiner Lebensqualität zu erfahren. Wo der Einzelne in Krisenzeiten kaum noch Kraft hat, einen Zugang zu seinem Potential oder einer Lösung zu finden, kann eine unterstützende therapeutische Begleitung sinnvoll sein. Resonanz und Präsenz in der therapeutischen Begleitung. In einer therapeutischen Situation wird das Selbsterleben – auch in Bezug auf Resonanz – als Fülle oder Mangelerleben häufig im Kontext der Bindungsforschung gesehen. Die Erfahrungen von Präsenz, Vertrauen, Tuning und Einfühlung als frühe Einheitserfahrungen in der primären Eltern- und Kind-Bindung sind hier wichtige Entwicklungsräume. Positive Erlebnisse, d. h. sichere Bindungen begünstigen nachweislich die Bildung einer neuronalen Grundlage, die für das lebenslange Lernen wichtig ist und fördern das Selbstverständnis des Kindes (Bowlby, 2010; Hüther, 2004). Diesen Beziehungsraum anzubieten wird demnach weiterhin auch als grundlegend für die therapeutische Arbeit angesehen (Siegel, 2012a). Daniel Siegel beschreibt die Wichtigkeit, sich als Begleiter in Achtsamkeit auf das therapeutische Resonanzphänomenen einzulassen. Es sei nur durch Präsenz möglich, eine wirkliche Kunst der Heilung zu praktizieren. Präsenz sei noch wichtiger als jedes methodische Wissen und fördere die Heilung messbar, auf vielen verschiedenen – d. h. auch auf ganz basalen – Ebenen. Dieses fördere gleichermaßen die Gesundheit beim Klienten als auch beim Therapeuten. Dementsprechend ist der Begleiter stets dazu aufgefordert, sich in seinen Resonanzen zu reinigen bzw. sich in einer professionellen Weise zum Klienten zu tunen. Resonanz und Selbstverantwortung. Die optimale Balance im Beziehungserleben kann unter den Bedingungen des praktischen Lebens – beispielsweise im Palliativbereich – als Betroffener, Angehöri108 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ger oder Fachkraft nicht immer, überall und in jeder Form gelingen bzw. aufrecht erhalten werden. Unabhängig von der Außenwelt ist es möglich, sich in jeder der beteiligten Rollen, in seiner Achtsamkeit, seiner Kreativität und Resonanzfähigkeit vermehrt selber zu üben und zu erforschen. Zu diesem Zweck schlägt Daniel Siegel (2012b) grundlegend Mindsight-Methoden vor, die zunächst einmal die innere Achtsamkeit verbessern. Erwerben von Prozesswissen. Viele Methoden im Bereich des Mentaltrainings orientieren sich an einer vorgegebenen Form, d. h. der Beobachtung des Atems. Kreativität und Resonanz sind jedoch auch hoch flexible Vorgänge, die sich eventuell sehr kraftvoll bei geeigneten Tätigkeiten wie von selbst einstellen. Besonders bei starken Belastungen geht es daher nicht ohne die Untersuchung und Erforschung des eigenen Resonanzfeldes in den verschiedensten Situationen und Tätigkeiten: Unabhängig vom äußeren Raum und den äußeren Begebenheiten kann ein innerer Beobachter eingeführt werden. Hier können wir uns scheinbar selbst einen Raum geben und einer schwingenden Resonanz auf Lebensereignisse gewahr werden. Die Resonanz schwingt, bildlich gesehen, höher oder tiefer, ist intensiver oder schwächer wahrnehmbar. In Form einer Partitur gäbe es eventuell Aussetzer, Brüche, Wechsel … manchmal unruhig und unterbrochen, an manchen Stellen ein schöner Flow, der in ein passgenaues Gewahrsein von innen und außen mündet. Was habe ich (dort) gehört? Was habe ich dann gedacht? Welche Gefühle sind mit diesen Gedanken verbunden? Wie stark sind diese Gefühle? Was sehe ich bildlich, wenn ich dieses Gefühl denke? Welche Musik, welches Instrument, welche Stimmlage würde dazu passen? In vielen Momenten – mit einer harmonischen Resonanz – steht das Denken eher im Hintergrund und die erlebnisorientierte Betrachtung im Vordergrund. Kunsttherapeutische Resonanz – Ein voraussetzungsloses Tun. In der kunsttherapeutischen Forschung darf im eigenen Erleben gespielt, geforscht und experimentiert werden. Es ist möglich – im Kontext einer Übung – regressiv und bewusst für einige Momente die Haltung eines Kindes einzunehmen, das möglicherweise erst zwei oder drei Jahre alt ist. Dazu wird beispielsweise ein Kritzel mit geschlossenen Augen auf das Blatt gesetzt (Winnicott, 2007). Dieses geschieht lustvoll und unabsichtlich aus einem kindlichen Anteil heraus, der scheinbar nicht weiß, wie man zeichnet bzw. zeichnen müsste. Es bleibt reine Motorik. Nun erfolgt das aufmerksame Betrachten, 109 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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dieses entspricht einem Selbst-Anteil aus dem Erwachsenen-Ich. Von allen Seiten wird das Bild interessiert angeschaut. Was kommt mir entgegen? Was entdecke ich? Scheinbar erlebnisoffen wird das Bild studiert. Welchen Titel könnte ich – mit Sicht auf das Ganze, oder einen Teil – geben? Aus welcher Richtung? (Vgl. Abb. 1: Kritzelbild zum Thema eines komplexen Verlustes, mit vier Titeln bzw. Sichtweisen: 1. Saisonal rain, 2. Aiming, 3. Grace, 4. Access. Übersetzung: 1. Saison-bedingter Regen, 2. Zielen, 3. Gnade, 4. Aufstieg bzw. Zugang.)
Abb. 1
Reflexion. Durch die Zuordnung von motorischen, bildlichen, sprachlichen bzw. sinnhaften Anteilen können linke und rechte Gehirnhälfte, wie auch Hirnstamm, Mittelhirn, Zwischenhirn und Großhirn zueinander in Beziehung gesetzt und integriert werden. Dies geschieht spielerisch in wenigen Minuten. Diese Übung ist eigenaktiv, aber auch gestützt, und ist sogar geführt mit schwerstbettlägerigen Bewohnern durchführbar. Die Abstimmung des Titels bei Aphasie erfolgt dann beispielsweise über einen Code mit Ja- und Nein-Karten und/oder Augen- bzw. Blinzelbewegungen (Engler, 2016). Dieses Zeichen-Spiel ist neben der Beschäftigung mit den Sinneserfahrungen auch eine Beschäftigung mit den Projektions-, Spiegel- und Resonanz-Phänomenen unseres Geistes. Wir erhalten eine 110 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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wichtige Grundlage, um die Begrifflichkeiten rund um das Beziehungserleben zur Welt und zu uns selbst nachhaltig zu erweitern. Jede kreative Arbeit mit jeder Methode kann in einer spiegelnden Haltung zum Resonanzbild werden. Auch Gisela Schmeer (2006) weist daraufhin, wie einfach und voraussetzungslos dieses Tun ist, und wie viele Spiele und Forschungsmöglichkeiten sich daraus ergeben können. Erfahrungen mit Resonanzen verändern unsere Kommunikations- und Welterfahrung ganz grundsätzlich. Das Entdecken eines größeren Prozesswissens geschieht beispielsweise in der Zusammenschau eigener Bilder, in sequenziellen Verfahren, durch den Wechsel im Medium (Knill, 1992) oder beispielsweise im Gruppenprozess in der Ansicht – und inhaltlich formalen Anordnung – sämtlicher Gruppenbilder (Schmeer, 2003). Das Prozess-Wissen bedeutet, dass subjektiv bedeutsame Zusammenhänge und Inhalte dadurch erfahrbar, konkreter begreifbar, sichtbar wie auch strukturierbar werden und – in der Folge – wieder auf ein Wesentliches reduziert werden können. Weitere Aktivitäten zur Erhöhung der Kreativität. Um bei komplexen Themen (z. B. bei Verlusterfahrungen) mehr Kreativität und Resonanz zu erfahren, bieten sich ergebnisoffene Aktivitäten an. Es beginnt mit einer einfachen Frage: Welches Medium passt (heute) zu meinem Bedürfnis? a. Es kann beispielsweise sein, dass der Blick von etwas Zerbrochenem angezogen wird. Dieses würde als erste kreative ResonanzErfahrung schon reichen. b. Auch eine rein imaginative Beschäftigung mit den Scherben, ihrem Klang, ihren scharfen Kanten wie auch der Sensation des sehr vorsichtigen Berührens und des langsamen Betrachtens – eigentlich von etwas ganz Kaputtem – und diese wieder weglegen zu können, kann gewinnbringend sein. c. Kunsttherapeutisch kann man beispielsweise mit diesen Fundstücken auch weiter arbeiten und nach Lust und Laune z. B. einen Turm daraus bauen, den man unter Umständen auch bewusst wiederholt einstürzen lässt und erst später absichert und/oder ein Mosaik, eine digitale Geschichte, ein Fotobuch, oder eine Geschichte dazu erstellt. Die Lösungsfindung wird hier dem »Klienten« überlassen. d. Eher alltagsnahe Impuls-Fragen wären: Welche Farbe spricht mich heute an? Welche Kleidung? Wo oder wann kann ich noch mehr wählen? Wie viel Variation habe ich in meinen Entscheidungen? 111 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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In welchen Bereich bräuchte ich noch mehr Rituale, die mir guttun? Durch die ästhetische Wahrnehmung kann eine verbesserte und/oder veränderte Akzeptanz des Themas erreicht werden. Es ist demnach eine wichtige Entscheidung, ob das Papier heute weiß bleibt und was stattdessen getan wird: So können Spaziergänge und Naturerleben einen erlebnisoffenen Fokus begünstigen, auch hier wird die Welt der Farben, Formen, des Lichtes und der Düfte häufig intensiv erfahren. Bei schwerst-bettlägerigen Bewohnern wird entsprechendes Naturmaterial zur Förderung mitgenommen und bereitgehalten (Pickenhain, 2000). Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit. Ergebnisoffene Aktivitäten können Assoziationsketten begünstigen. Manchmal ist es jedoch gerade wichtig, die Präsenz in einem Augenblick in ein Maximum zu bringen, um mit einen kraftvollem Fokus in Beziehung zu treten. An dieser Stelle entscheidet man sich im palliativen Bereich unter anderem zum Spielen mit dem Bewohner, zum Beispiel mithilfe eines Brettspiels oder etwas, bei dem gerechnet wird. Welche Tätigkeit modelliert das Sein in die gewünschte Form? Sind ergebnisoffene Momente gewünscht, in denen wir uns spontan überraschen lassen? Oder eher haltgebende Lieblingsbeschäftigungen und Rituale bzw. spannende Konzentrationsmomente? Nach Jörns (1999, S. 26) »kann (man) nicht nicht in Beziehung sein.« Dies bedeutet, eine erweiterte Beziehung zu sich selbst und zu seiner kulturellen Identität zu pflegen.
3.
Resonanz und Kreativität im Bereich der Palliativ Care
Ausgangssituation und -wahrnehmung. Besonders Menschen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung umgehen, sei es als Angehörige, als Betroffene, oder als Pflegende und/oder Therapeuten sind in der Resonanz stark von Themen wie Tod, Trauer und Verlust betroffen. Ein Fallbeispiel: »Ich bin am 6. Januar 2017 zum Arzt gegangen. Seitdem bin ich nicht mehr nach Hause gekommen, sondern mit 17 Wechseln in klinischen Institutionen untergebracht worden. Mein Denken und Fühlen ist seither stark beeinträchtigt. An vielen Tagen habe ich Angst, dass ich wahnsinnig werde (anonym, 26. 04. 2017).« 112 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Resonanz. Neue Impulse zum Wandel in der Trauerkultur
Das aktuelle Zimmer auf der Palliativ-Station wird unter Umständen nicht mehr eingerichtet. Es bleibt weiß. Wie ginge es dir, wenn du wüsstest, dass du nicht mehr lange zu leben hättest? Wie ginge es dir, wenn du nun auf dem Bett liegst oder sitzt? Was wäre jetzt noch wichtig? Was bedeutsam? Ein Bewohner im Haus Katharina Egg, der bisher einzigen Palliativ-Station in einem Freiburger Pflegeheim (Stand 05/2017), zeigt bei einem Erstgespräch nach zahlreichen Klinik-Aufenthalten, dass er sich auf das kreative Angebot freut. Zum Behandlungsbeginn zeigt er große Atemnot und wird als Notfall mit einem stark wachsenden, sich verdichtendem Lungentumor erneut auf die Palliativ-Station im Universitätsklinikum Freiburg gebracht. Erstmalig wird er dort mit einer Morphium-Pumpe eingestellt. Dieses ermöglicht ihm ein sich schmerzfreies Einlassen auf den künstlerischen bzw. kreativtherapeutischen Prozess.
4.
Verlauf der kunsttherapeutischen Begleitung. Ein Fallbeispiel
Das rezeptive Erleben – Eine erste Resonanzachse. Der Patient ist in seinen Händen – nach vorausgegangenen Chemotherapien, Atemnot und einer Überweisung in den Palliativ-Bereich – noch so kraftlos, dass er zunächst nur ganz kleine Tonkügelchen zwischen den Fingerspitzen drehen und berühren kann. Die begleitende Kunsttherapeutin und deren Praktikantin modellieren stellvertretend eine Reihe von kleinen Formen und stellen diese sichtbar auf der Fensterbank auf. Rosa beschreibt, wie »durch die Belebung der Resonanzachse« in der therapeutischen oder pädagogischen Beziehung die Resonanzbereitschaft wieder geweckt werden kann (Rosa, 2016, S. 412/13). Eigenaktives Gestalten – Erwecken der internalen Resonanz. In Bezug auf Somato-psychische Prozesse – wie lebensbedrohliche Erkrankungen – wird die natürliche horizontale, interaktionale Resonanz auf das Leben häufig unterbrochen bzw. erschwert. Es kommt jedoch vertikal bzw. internal unter Umständen zu intensiveren Zuständen und Erlebnissen (Kachler, 2015). Auf der Palliativ-Station erhält der Patient ein offenes Angebot von kleinformatigen Blanko-Postkarten im Din-A6 Format – mit Buntstiften dazu – zum Verbleib im Zimmer. Es ist ihm freigestellt, 113 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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dieses Material zu benutzen. Bei entsprechender Tagesform fertigt er nun spontan eine locker gekritzelte Stiftzeichnung an. Dieses zeigt ein körpernahes Bild mit tanzenden Zellfasern. Das Bild kann somit eine angenehme, körpernahe internale Resonanz aufnehmen bzw. spiegeln. Im Ausdruck des Erlebens wird dieses Erleben gleichzeitig strukturierbar. Derjenige, der kreativ ist, das Thema, das ausgedrückt werden möchte, wie auch der gesamte Prozess werden an dieser Stelle in Bezug auf das Resonanzerleben miteinander verknüpft und somit gestaltbar. Die begleitende Oberärztin gibt ihm bei einem Zimmerbesuch, bei dem Sie überrascht auf dieses Bild schaut, einen Auftrag: »Gerne könne er als Betroffener seine Ideen einbringen, um die Station noch weiter zu verschönern und kreativ zu bereichern.« Nach Rosa entstehen »in der Kunst Resonanzbeziehungen dadurch, dass ein Werk den Rezipienten zu berühren vermag« (Rosa, 2016, S. 485). Durch das Sichtbar-machen eines Bildes adressiert sich dieses sowohl an den Künstler selbst als auch an den Begleiter, gegebenenfalls die Gruppe, bzw. häufig auch an das Personal und/oder die Familie des Betroffenen. Dadurch ist die Grundlage für eine transparente Prozessreflexion und auch die Kommunikation auf der Grundlage einer reichhaltigen Resonanzbeziehung gegeben. Dieses erweitert den Fokus bei allen Beteiligten. Im Sinne der Kommunikation gestaltet der Künstler nun einen visionären Entwurf für ein Poster, da »er sich in sich versenkt und zugleich ein außenstehendes Du adressiert« (Rosa, 2016, S. 485). Inhaltlich thematisch zeigt dies »eine Verbindung zwischen der Innenwelt des Wahrnehmenden und dem gestalteten Phänomen der Außenwelt« (Rosa, 2016, S. 485). Es sind hier Ideen zum Thema der Gestaltung des palliativen Raumes beschrieben: »Licht, Farbwechsler, Fernbedienung, Programme, Lichtwirkung, Z-Therapie, Illumination, Optik, Seele Therapie, Wellen, Frequenz, Lumen, Bewegung, Strahlen, illustrierte Wände, (Projektionsflächen), Tiefen-Wirkung?, Milchglastür, an der Zimmerdecke, Fangen spielen, Kinderklinik, Sternenhimmel, Kometen Wünschen« (vgl. Abb. 2). Das offene Erfragen von Wünschen (auch zur Gestaltung des Raumes) ist darüber hinaus eine verbreitete Methode in der Begleitung final erkrankter Menschen. Es wird dem beschriebenen Bewohner weiterhin angeboten, bei einem Interview für das Klinik-TV mitzuwirken. Hier handelt es sich um Lehrfilme für Medizin-Studenten. Es soll ein psychologisches Gespräch auf der Palliativ-Station dokumentiert werden. Dazu wird 114 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Resonanz. Neue Impulse zum Wandel in der Trauerkultur
Abb. 2
ihm vorher der entsprechende Fragenkatalog ausgehändigt. Nach Rosa entstehe so ein gewinnbringendes Resonanzdreieck, da der Betroffene selbst etwas zu sagen hat, und das Wissen – durch den Film – die Studenten unmittelbar erreichen kann, wenn diese offen sind und darüber in entsprechender Atmosphäre lernen dürfen (Rosa, 2016, S. 413 ff.). Weiterhin sollte in diesem Rahmen eine rezeptive musiktherapeutische Sitzung angeboten und gefilmt werden. Diese zeigt die Einführung des Mediums durch die begleitende Musiktherapeutin, d. h. den Verlauf eines Erst-Gesprächs mit einer Joining-Phase an den Musikinstrumenten und den ersten Resonanzen, Fragen und Erlebnissen des Bewohners. Dieses entspricht demnach einer dialogischen musiktherapeutischen Arbeit, die in ihrem Einführungscharakter auch pädagogische Elemente enthält. Neben der Anbahnung einer therapeutischen Beziehung im Medium Musik wird somit auch die große Sorgfalt dokumentiert, die es grundlegend für diesen Prozess braucht, um beispielsweise im kreativen Medium Musik eine veränderte Weltbeziehung ausdrücken zu können (Rosa, 2016). Durch psychologische Begleitung, wie auch den Empfehlungen seines Freundes wird der Patient dazu angeregt, seine von ihm ge115 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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trennt lebende Ehefrau und seinen Sohn einzuladen. Er sollte darüber sprechen, wie krank er tatsächlich ist und den Sohn entsprechend auf die kommende Zeit mental vorbereiten. Es finden intensive KontaktMomente statt. Die Familie bleibt für drei Tage und trauert immer wieder authentisch und intensiv zusammen. Er erklärt dem Sohn, wie er selbst mit dem Verlust des Vaters umgegangen ist und bis heute eigentlich kein Tag verginge, wo er nicht innerlich immer noch mit ihm reden würde. Es sei ein Geschenk des Lebens gewesen, dass er seinem Vater in der Situation von Tod und Sterben so nahe sein durfte, bemerkte er später. So gestärkt wird er wieder zu uns auf die Palliativ-Station im Haus Katharina Egg verlegt, welche er nun als »Residenz« ansieht. Er hat den Wunsch, diesen noch weißen Raum in ein Atelier zu verwandeln. Er hat weiterhin die Vision, das Atelier als öffentliche Bühne zu nutzen, um etwas in die Welt zu bringen, was sie bewegen könnte (Rath, 2015). Die Idee, dass Künstler die Atmosphäre, die Gewohnheiten und Sehgewohnheiten in einer Institution beeinflussen bzw. verändern können, ist im Fachbuch »Kunst und Kreativität in der Palliativ Care« (Bolton, 2008) auf sehr vielfältige Weise dokumentiert. Im Haus Katharina Egg hatte es immer wieder Künstler gegeben, die ihr Zimmer in ein Atelier verwandelten. Durch den Einsatz von neuen Medien gelingt es Rath jedoch seinen Prozess zu dokumentieren, um ihn so für sich selbst, aber auch mit anderen wiederholt betrachten zu können. Er erstellt somit Fotos vom Raum, von seinen Aktivitäten, von Besuchen und experimentiert mit kleinen Videosequenzen (vgl. Abb. 3) Kreatives Journaling. Er hat weiterhin eine größere Sammlung von Blanco-Notizbüchern. Hier notiert er Tagesgedanken, Tageszeichnungen, Ideen und Kontakte. Diese natürliche Prozess-Dokumentation zeigt die Wertschätzung und den Respekt, die er den TagesEreignissen zugesteht. In früheren Phasen malt er in eine Aufklärungsbroschüre der deutschen Krebshilfe. Er markiert sich wichtige Textstellen, arbeitet die Inhalte durch und gestaltet thematisch dazu direkt in das Buch. Reflexion. Dieses wäre beispielweise auch bei einem Ratgeber zum Thema »Trennung und Scheidung« ein interessantes Experiment, da Kreativität und Resonanzen so einerseits durch die Themen des Ratgebers einen thematisch strukturierten Aufforderungs-Charakter er116 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 3: Raum, Erstwahrnehmung, fotografiert mit dem Handy (Rath, 10/2015
Abb. 4: Text »Risikofaktoren Rauchen und Alkohol«, Bild gemalt im Kontext Alkohol- und Nikotin-Sucht (Rath, 2013)
Abb. 5: Text »Kernspintomographie«, Bild gemalt mit handschriftlicher Notiz: »Mo 26. 08. 13 Hals« (Rath, 2013)
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halten und andererseits auch prozessorientiert und sicher im Rahmen dieses Ratgebers abgelegt werden könnten. Eine weitere Variante wäre das Schmerztagebuch von Joyce Mills (Mills & Crowley, 2011), das jeden Tag lösungsorientiert zwei Bilder zeigt: Wie sieht mein Schmerz heute aus? Und wie sähe es aus, wenn der Schmerz etwas besser wäre? Da es um Resonanzen geht, kann der Ausdruck auch in Worten, Fotos, achtsamen Augenblicken usw. erfolgen. Im Medium der Kunst bleibt der eigentliche Prozess jedoch geschützt und ist umfassend nur vom Schaffenden selbst erfahrbar und einsehbar. Nach meiner Beobachtung erforscht sich der künstlerisch orientierte Bewohner somit maximal in seiner Kreativität, Resonanzfähigkeit und Prozessreflexion. Er versteht es auch, den Moment der Kunstrezeption in zufälligen Begebenheiten zu nutzen. Selbst das Fachpersonal reagierte auf diese charismatische Persönlichkeit mit Erstaunen. Weiterhin schickte er Videos – im Sinne eines »sharings« – an interessierte Freunde. Videosharing bzw. digitales Geschichtenerzählen. Im Zuge der onkologischen Behandlung und in der Patientenrolle werde nach Ansicht dieses künstlerisch orientierten Bewohners allgemein die Passivität gefördert. Er setzte sich daher selbst zum Ziel, möglichst viele wache und aktive Augenblicke zu erleben. Eine Form einer starken Selbstbeschäftigung ist das digitale Geschichtenerzählen. Durch die Krebserkrankung hatte er vorausgehend strukturelle Einsamkeit erlebt und war sogar von Obdachlosigkeit bedroht. In einer ersten Video-Aufnahme mit dem Handy ist sein Thema daher, das neue Zimmer als ein Zuhause zu erfahren. Er benennt es mit Humor: »Earthquake at egg (shake my residence)«. Der Titel zeigt Anspielungen auf den Namen des Hauses: Egg (egg = Ei). Im Hintergrund ist eine beleuchtete Wanddekoration zu sehen, die er aus den medizinischen Verpackungskartons ausschneidet. Dieses strahlt er durch einen Farbwechsler an. Die Bewegung der Farbe und der Schatten zeigen ihm ein lebendiges wechselndes, intensives Licht. Im Vordergrund steht der Arbeitstisch. Hierauf hat er ein Blatt im Format DIN-A2 gelegt. Von mir erhält er einen Kasten Wachsmalkreide. Um sich selbst nicht zu überfordern, wählt er ein bekanntes Motiv, das er schon oft gezeichnet hat. Es ist Gaia – die Göttin der Erde und der Natur, die weibliche Urmutter. In diesem Urmotiv ist die potentielle Erfahrung einer sich erfüllenden Resonanzbeziehung be118 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 6: Atelierplatz und Filmausschnitt aus »Earthquake at egg. Shake my residence« (Rath, 11/2015)
Abb. 7: Atelierplatz und Filmausschnitt aus »Earthquake at egg. Shake my residence« (Rath, 11/2015)
reits gegeben: »Was wir als Schönheit erfahren, ist die zum Ausdruck gebrachte Weltbeziehung, die Möglichkeit einer Art des In-der-WeltSeins, in der Subjekt und Welt einander antworten« (Rosa, 2016, S. 482). Nachdem das Bild fast fertig ist, befestigt der Künstler das Handy an einem Nahrungsständer und stellt einen Videomodus ein, den er auf diesen Atelierplatz ausrichtet. Während der Abschlusssequenz nimmt er sich nun selbst in seinem Tun auf. Dazu spielt er einen Song, der Bezug zu seiner Zeit hat: »Senses out of balance, language undefined, a little bit confused sometimes. Confidently in my little sweet exile. In my father’s promised land, days were full of time. Now I’m between two worlds, don’t know which one is mine« (Appleton, 2011: Homeland). Nach Rosa ist es 119 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 8: »Gaia« Papier, Acrylfarbe, Ölkreide (Rath, 11/ 2015)
möglich, dass Texte, Musik und Bilder – besonders auch in einer kombinierten Form – wie Resonanzdrähte direkt in das Herz treffen. In einer neuen Sequenz übernimmt der Künstler das Handy mit beweglicher Handführung, um den Raum zu zeigen, das heißt sein Bett, den Vorhang, das Fenster. Er bewegt die Kamera leicht im Rhythmus der Musik und fängt gleichzeitig Bilder aus dem Raum ein, die ihm ein ästhetisches Wahrnehmungserlebnis ermöglichen. Allmählich schwenkt er zum Ausblick aus dem Fenster. Die Bewegungen des Handys kommen langsam zur Ruhe und die Bäume vor dem Fenster werden formal und dialogisch so aufgenommen, als könnten sie narrativ etwas über sich selbst und den Prozess im Haus Katharina Egg, als auch von der Krebserkrankung erzählen. Kunst ist dazu geeignet, »dass sie über die Erfahrung reiner Resonanz hinaus die gesamte Bandbreite der möglichen Weltbeziehungen nachzubilden und zum Ausdruck zu bringen und damit fühlbar zu machen vermag. (…) Ästhetische Resonanz wird so zu einem Experimentierfeld für die Anverwandlung unterschiedlicher Muster der Weltbeziehung« (Rosa, 2016, S. 483). Varianten. Viele Betroffene im palliativen Raum wären zu stark geschwächt, um sich ein eigenes Video zu drehen. Dennoch ist es mög120 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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lich, an erster Stelle präsent auf das Tun des Bewohners zu reagieren und ihn auch in der Bettlägerigkeit als aktiv anzuerkennen. In Schritt zwei kann man Bezug auf Gegenstände im Raum nehmen, auf Musik oder auf die Raumerfahrung selbst, und in Schritt drei (beim Blick aus dem Fenster) werden häufig interessante Naturwahrnehmungen eingefangen (Engler, 2016). Ein Beispiel: Ein bettlägeriger Bewohner sagt, er schaue immer wieder gerne zu dem Baum dort oben und bemerkt, dass er gerne in seinen Zweigen wohnen würde. Etwas ähnliches wird manchmal über Wolken oder z. B. Blüten und Bäume gesagt. Das Besondere ist hier das erlebnisoffene Wahrnehmen der Klienten und die innerlich sehnsuchtsvolle Begegnung mit den Orten des Seins. Dieses sind Resonanzprozesse auf das Leben selbst. Viele Betroffene schaffen es hier beispielsweise, sich auf sehr intensive Entspannungs-, Trance- und Flowprozesse einzulassen. Der Körper bzw. der Geist selbst wird hier zu einem Resonanzraum. Erinnerungsstücke. Der Künstler wünscht sich Gipspulver, dass er selbst im Zimmer anrührt. Er nennt sein Projekt: »Wer Hand, der hat.« (Rath, 2016) Er legt seine linke Hand in einen Karton und formt erst die Unterseite, dann die obere Seite seiner Hand ab. Die Negativform gießt er mit Gips aus, hat aber keine Armierung drin und kein wirklich geeignetes Trennmittel. Beim Ausformen brechen einzelne Finger ab. Es gibt zum Glück einen guten Montagekleber. Die Sehnsucht nach Form lässt ihn alles wieder zusammenkleben. Die Hand räumt er anschließend weg, da er den Vorgang als zu belastend erlebt hat. Erst als ich ihn danach frage, stellt er die Hand von nun an im Zimmer auf und beleuchtet sie. Die Hand ist authentisch und voller Spuren. In der Rezeption berühre und betrachte ich sie mit sehr viel Respekt, dies vor und erstaunlicherweise auch nach seinem »Tod«. Die berührbare Hand, die noch vom lebendigen Körper als Erinnerungsstück abgeformt ist, verhindert Entfremdungserfahrungen. Statt einer beziehungslosen Welt bleibt ein Du berührbar, sichtbar und begreifbar. Dieses gilt für den Schaffenden als auch den Rezipienten (Rosa, 2016). Varianten. Mit weicher Kinderknete wäre eine Abformung sicher noch einfacher gewesen, ähnlich dem Schwangerenbauch, der BabyHand oder dem Fuß-Abdruck. Es ist ein basal berührbares Erinnerungsstück und auch für den respektvoll Trauernden wertvoll. Als Erinnerungsstück kann jeder Gegenstand, der im Kontakt ist bzw. 121 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anne Engler
Abb. 9: »Wer Hand, der hat«. Hand-Abformung mit Gips (Rath, 2015)
war, zum Beispiel auch ein Stofftier, ein Bild oder ein Kissen verwendet werden. Kulturgeschichtlich wurden jedoch – beispielsweise im alten Ägypten – bereits Totenmasken abgeformt oder ein Fingerabdruck in Gips angefertigt. Speicherung von mentalem Wissen. Der Künstler hat oft von einer Wolke gesprochen, einer Cloud, die er bewohnen und in der er sein mentales, erworbenes Wissen speichern wolle. Nur der engste Bekanntenkreis, so stellte er sich das vor, habe dann Zugang zu dieser Cloud und könne so jederzeit mit ihm in Kontakt treten. Erstaunlicherweise erwerben sich viele Menschen im Kontext der Medienkultur gegenwärtig eine virtuelle Cloud, in der sie ihr digitales und ideelles Wissen abspeichern können. Auch in der Bibel heißt es, dass Jesus nach dem Tod vor den Augen der Jünger von einer Wolke emporgehoben wird (Apostel 1, 9–11). Andererseits erfahren die Räume des Übergangs in der Natur, beispielsweise der Sonnenuntergang, oder auch unscharfe, sphärische Wahrnehmungen, wie sie Wolken, 122 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Resonanz. Neue Impulse zum Wandel in der Trauerkultur
Wasser, Lichtreflexe, Lichtspiele und Bäume in Resonanz auf einen Trauerprozess ermöglichen, eine besondere Anziehung. Das Besondere im künstlerischen Prozess ist jedoch die Selbstwirksamkeit. Es handelt sich nicht nur um einen Gegenstand, sondern um einen wechselseitigen Prozess, in der sich Welt transformierend anverwandelt wird (Rosa, 2016). »Ich möchte den Dingen nahe kommen, die ich schaffe. Manchmal sind es dann natürlich die absoluten Glücksmomente, wo was gelingt. Natürlich nicht perfekt, aber wo man dem sehr nahe kommt. Das durchzuckt einen. Das ist wie so ein Funke. Das ist unbeschreiblich. Das ist ein Moment der Einheit – mit allem eigentlich –, dass das dann gelingt« (Rath, 2016).
Abb. 10: »Cloud« aus Zahnstochern, Acrylfarbe und Sekundenkleber (Rath, 12/ 2015)
Ein Dokumentarfilm. Im therapeutischen Prozess mit dem Bewohner konnte immer wieder auf vorausgehende Erfahrungen aufgebaut werden. Es standen eine Vielfalt an Medien und Beiträgen aus einem gemeinsamen Interview zur Verfügung, so auch Szenen der Kunstrezeption im Raum, die Arbeitsweisen, biografische Momente oder sein unmittelbares Erleben in selbst gedrehten Videos, d. h. prozessreflektierend, zeigen konnten. Es gab Sequenzen, die den DiagnoseSchock und die Krankheitsverarbeitung zum Thema hatten sowie Szenen aus einer Lebensrückschau in Resonanz darauf. Ebenso sich weitende Szenen, die das Erlebnis des Todes und den Räumen dahinter einladend und würdevoll beleuchten. Es gibt Augenblicke, in de123 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anne Engler
nen die eigene Haltung eines Kettenrauchers nüchtern bilanziert und der Zusammenhang mit dem frühen Tod im Alter von 56 Jahren in seiner schwerwiegenden Bedeutung realisiert wird. Der künstlerische Weg sowie der Weg mit der Erkrankung wurden als Kreuzweg visualisiert und in Film-Szenen durch einen Stellvertreter, den er noch mit seiner Kleidung selbst einkleidet, am Rande des Schwarzwaldes im Schnee gedreht (Rath, 2016). Der Kreuzweg endet dort, wo seine Asche vier Wochen später, nur 30 m entfernt, auf einem Baumfeld im Boden Platz finden wird. Doch auch in diesen Einrichtungen kann ein Wandel in der Bestattungs- und Trauerkultur dokumentiert werden. Die Stadt Freiburg folgt einem bundesweiten Trend, in dem eine Zunahme von Urnengräbern beobachtet wird. Der jetzige Anteil liegt bei 66 %. Es ist ein deutlicher Rückgang bei anonymen Bestattungen zu beobachten. Vielen Menschen gefalle die Vorstellung, unter einem Baum begraben zu sein. Die zunehmende Mobilität der Familien sowie die vereinfachte Grabpflege und geringen Kosten sind weitere, wichtige Faktoren (Faller, 2012; Peikert, 2008). Auch die Gestaltung einer kleinen Grabplatte ist im Wandel: Durch neue computergestützte Lasertechniken kann jedes auch mitgebrachte Motiv und auch die Originalhandschrift des Namens auf einfache Weise in den Stein graviert werden. Dieses ermöglicht eine verstärkte Teilhabe an der Gestaltung. Auch im Rahmen der Trauerkultur gibt es neue Anbieter, die die Beziehungsgestaltung nach dem unmittelbaren Todesereignis erleichtern möchten. Sie werben beispielsweise mit dem Motto: »Wir geben Ihrer Trauer Raum.« Die Angehörigen erhalten tatsächlich einen Schlüssel und können Tag und Nacht für eine vereinbarte Übergangszeit jederzeit noch bei ihrem Verstorbenen bleiben. Diese Räume sind prächtig und ästhetisch gestaltet und unterscheiden sich wahlweise thematisch – in beispielsweise bläulich gestaltete anmutige Himmelräume oder auch Räume, die an Tempel erinnern. Hier ist es nun möglich, das Ableben und die Resonanz darauf in einer feierlichen Atmosphäre zeugenhaft in einem Zustand ästhetischer Präsenz mitzuerleben. Dies wird durch das Angebot dieses Kulturträgers ermöglicht (vgl. Horizonte). Es gibt weiterhin Angebote für den Freundeskreis und die Familie, um sich gewinnbringend an der Gestaltung aller wesentlichen Schritte innerhalb des Trauerrituals maximal kreativ selbst beteiligen zu können und hier entsprechende Erfahrungen zu sammeln. 124 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Resonanz. Neue Impulse zum Wandel in der Trauerkultur
In Bezug auf Tod, Trauer und Resonanz sind Bücher von Roland Kachler (2010) Wegweiser für einen neuen Trend, der die Realität des Sterbens anerkennt, und dennoch dem Wunsch nach einer weiteren Beziehungsgestaltung zum Verstorbenen Raum gibt. Roland Kachler ist einerseits selbst Betroffener, andererseits professionell arbeitender Psychologe und Psychotherapeut, der mit sehr vielen Angehörigen und Fachkräften gearbeitet hat. Nur durch die Intensivierung des Kontaktes in Form von Ritualen und einer Visualisierung des Erlebten gelang es ihm selbst, eine angemessene Beziehungsgestaltung und einen gewinnbringenden Umgang mit einem schwerwiegenden Lebensereignis – wie dem Verlust eines eigenen Kindes – zu finden. Die Beziehung zum Verstorbenen wird so zu einer Ressource. Sie versieht den Angehörigen mit der Fähigkeit, gestärkt aus dem Erleben seiner Resonanzerfahrung, selbst zu einem intensiveren Dasein zu gelangen.
Literatur Bolton, G. (2013). Kunst und Kreativität in der Palliativ Care. Bern: Verlag Hans Huber. Bowlby, J. (2010). Bindung als sichere Basis: Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie. München, Basel: Reinhard. Engler, A. (2016). Grün ist die Hoffnung. In Maier-Michalitsch, N. & Grunick, G. (Hrsg.). Aktivität und Kreativität bei Menschen mit komplexer Behinderung. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben. Faller, S. (2012). Auf dem Hauptfriedhof wird neues Baumfeld für Urnen geschaffen. Verfügbar unter: http://www.badische-zeitung.de/freiburg/aufdem-hauptfriedhof-wird-neues-baumfeld-fuer-urnen-geschaffen-63100777. html (31. 07. 2017). Hansen, A. & Rauner, M. (2016). Das Geheimnis der Resonanz. Verfügbar unter http://www.zeit.de/zeit-wissen/2016/04/selbstverwirklichung-kreativi taet-resonanz-selbstfindung (31. 07. 2017). Haus Katharina Egg. Freiburg. Verfübar unter: http://www.stiftungs ver waltung-freiburg.de/fileadmin/media/downloads/downloads_flyer/flyer_ hauskatharinaegg.pdf (31. 07. 2017). Horizonte Bestattungen. Freiburg. Verfügbar unter: http://www.horizontebestattungen.de. (31. 07. 2017). Hüther, G. (2004). »Was wird aus unseren Kindern? Neue Erkenntnisse zur Betrachtung der frühen Eltern-Kind-Bindung und praktische Konsequenzen daraus«. Vortrag, gehalten auf dem Symposium am 3. Februar 2004 in Frankfurt/M.
125 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anne Engler Mills, J. & Crowley, R. (1996). Therapeutische Metaphern für Kinder und das Kind in uns. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Jörns, K. P. (1999). Die neuen Gesichter Gottes, was die Menschen heute wirklich glauben. München: C. H. Beck. Kachler, R. (2015). Die Therapie des Paar-Unbewussten: Ein tiefenpsychologisch-hypnosystemischer Ansatz. Stuttgart: Klett-Cotta. Kachler, R. (2010). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Ein Leitfaden für die Praxis. Heidelberg: Carl-Auer. Knill, P. (1992). Ausdruckstherapie. Bremen: Eres Edition. Lorenz, E. (1972). Predictability: Does the flap of a butterfly’s wings in Brazil set off a tornado in Texas? Titel des Vortrags im Jahr 1972 während der Jahrestagung der American Association for the Advancement of Science, laut Science 320 (2008, S. 431). Peikert, A. (2008). Letzte Ruhe unter Bäumen. Verfügbar unter: http://www. badische-zeitung.de/freiburg/letzte-ruhe-unter-baeumen–9119538.html. Rosa, H. (2005). Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Berlin: Suhrkamp. Rosa, H. (2016). Resonanz: eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp. Pickenhain, L. (2000). Basale Stimulation: Neurowissenschaftliche Grundlagen. Düsseldorf: Verlag selbstbestimmtes Leben. Rath, M., Engler, A. (2016). Transkription eines Interviews (M. Rath im Gespräch mit J. Charakter) im Rahmen eines Dokumentations-Filmes (KameraFührung: Jonas Eckert). Drehort: im Haus Katharina Egg, Freiburg am 16. und 17. 01. 2016 durch Köln: Charakter-Medien. Schmeer, G. (2003). Kunsttherapie in der Gruppe: Vernetzung – Resonanzen – Strategeme. Stuttgart: Klett-Cotta. Schmeer, G. (2006). Die Resonanzbildmethode: Visuelles Lernen in der Gruppe. Stuttgart: Klett-Cotta. Siegel, D. (2012a). Der achtsame Therapeut. München: Kösel. Siegel, D. (2012b). Mindsight: Die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. München: Goldmann. Winnicott, D. (2007). Die therapeutische Arbeit mit Kindern, Die Technik des Squiggles oder Kritzelspiels. Karlsruhe: Gerardi. Abb. 2 – Abb. 10 Rath M. (1956–2016), Künstlerischer und privater Nachlass (temporär gelagert) bei Engler A, Freiämterstr.4, 79312 Landeck, Eigentümer: Darius James Leon Rath, 14 Boscombe Ct., Frinton Rd, Holland on Sea, Essex, CO155TA, GB, weitere Veröffentlichungen, Kopien, auch auszugsweise nur mit Einwilligung des Autors
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Julian Feil
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
Abstract: Weit über 5 Mrd. Euro werden in Deutschland jedes Jahr für gesellschaftliche Zwecke gespendet. Selbstverständlich gehen davon große Summen in die Förderung von Gesundheit und therapeutische Projekte. Im Fundraising geht es darum, andere Menschen für etwas zu begeistern und ihnen Wege zu zeigen, es zu unterstützen. Und Spaß daran zu haben, zu seiner positiven Weiterentwicklung beizutragen. Fundraising ist über weite Strecken Handwerk. Man kann es lernen und erfolgreich umsetzen. Der folgende Artikel zeigt auf, wie das gelingen kann.
Der Autor des Textes, Julian Feil, ist Fundraisingexperte und berät seit über 10 Jahren Social-Profit-Einrichtung aus Bildung, Gesundheit, Kirche, Kultur, Soziales, Sport und Umwelt.
1.
Was ist Fundraising?
Der Begriff Fundraising leitet sich ab von den englischen Wörtern »fund« für Geld, Kapital, Vermögen, Schatz und »to raise« für heben, schöpfen, aufbringen. Das auch im Deutschen verwendete Wort Fundraising steht für Mittelbeschaffung für Social-Profit-Einrichtungen – also auch Kunsttherapie-Projekte – und den Einsatz der dazu notwendigen Instrumente. Darüber hinaus geht es im Fundraising darum, eine für potenzielle Spender*innen attraktive Organisation zu schaffen: mit spendenwirksamen Projekten, angesehenen AnsprechpartnerInnen und innovativen, erfolgreichen Angeboten. Fachleute sprechen dabei von »Institutional Readiness« – der institutionellen »Bereitschaft« einer für Spendenwerbung funktionierenden gemeinnützigen Organisation. Hier spielen etwa die Transparenz der Spendenverwendung und die Effizienz der Organisation eine bedeutende Rolle. 127 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
Fundraising hat übrigens nichts mit »Betteln« zu tun. Im Gegenteil: Spendensammelnde Organisationen beziehen aktiv Position für ein gesellschaftlich wünschenswertes Angebot – zum Nutzen einer funktionierenden Gemeinschaft.
2.
Fundraising in Deutschland – Daten, Zahlen, Fakten
Die jedes Jahr im März aktuell veröffentlichte deutsche Untersuchung »Bilanz des Helfens« 1 weist für 2016 rund 5,3 Mrd. Euro Spenden aus. Ihr zufolge haben 2016 33 % der Deutschen über 10 Jahre finanziell gespendet. Also mehr als jede(r) Dritte. Nicht eingerechnet sind dabei Spenden und Sponsoring von Firmen und Fördermittel zum Beispiel aus Stiftungs-Erträgen. Nur private Spenden. Statistisch heißt das, jede(r) Dritte, den oder die wir fragen, gibt. Oder umgekehrt: Bei drei Anfragen gibt es zwei Absagen. Diese Dritten spendeten statistisch 6,7-mal – entweder 6,7 Institutionen oder 6,7 Spendenvorgänge. Pro Spendenakt belief sich das auf durchschnittlich 35 Euro. Insgesamt spendete die oder der Durchschnittsspender*in also insgesamt rund 234,50 Euro. Dabei gibt es sowohl eine Konstanz der Spendenadressen wie auch eine Fluktuation: Jedes Jahr tauschen die Spender*innen ca. zwei bisher unterstützte Einrichtungen gegen zwei neue aus, vier bleiben bestehen. Fast die Hälfte aller Spenden – rund 42 % – kamen durch im weiteren Sinne persönliche Ansprachen zustande, überwiegend durch Spendenbriefe, durch die Empfehlung von Freunden und Bekannten und die Begegnung mit Spendenbedarfen im persönlichen Umfeld z. B. im Verein, in der Kirche oder bei Veranstaltungen. Und fast 40 % der Spendeneinnahmen erfolgten im Zeitraum Oktober bis Dezember – allein im Dezember 2016 wurden 23 % des Gesamtjahresaufkommens, 1,2 Mrd. Euro, gespendet. Rund 56 % der Spender*innen waren dabei über 60 Jahre alt, 40 % über 70.
http://www.spendenrat.de/wp-content/uploads/2017/02/Bilanz_des_Helfens_2017. pdf
1
128 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
Zusammenfassung Spenden in Deutschland – Daten, Zahlen, Fakten: Was lernen wir daraus? • Spendenerfolg kommt durch persönliche Ansprache – und durch Briefe. Allerdings funktionieren hier vor allem Adressen, die schon einen Bezug zur Einrichtung haben. Und Regelmäßigkeit in der Ansprache führt vielfach erst dazu, überhaupt wahrgenommen zu werden. • Organisationen oder Projekte, die nicht regelmäßig etwas von sich hören lassen, werden durch andere, die aktiver sind, verdrängt. • Wer im Zeitraum vor Weihnachten keine Spendenaktion fährt, lässt die Chancen, die sich durch die spendenfreudige Stimmung in dieser Zeit ergeben, ungenutzt. Und auch durch das Weihnachtsgeld, die Jahresboni und auch die nach dem Jahreswechsel anfallenden Steuererklärungen steigt die Spendenbereitschaft. • Das hohe Durchschnittsalter der deutschen Spender*innen erklärt, warum die persönliche Ansprache so wichtig ist. Denn die Älteren wollen nicht in Mails für Spenden geworben werden. Und: Die Älteren fragen nach Sinn, nach Wert, nach konkretem Nutzen der Projekte – aber auch nach der Solidität und der Verlässlichkeit des Projekts.
3.
Fundraisingkonzept
Für ein funktionierendes Fundraising brauchen wir ein Konzept – einen Plan, der das Fundraising-Jahr und die Fundraising-Aktivitäten und die Fundraising-Verantwortlichen definiert. Unser Konzept sollte die folgenden Fragen beantworten: • Wen möchten wir ansprechen? Wer sind unsere Zielgruppen? • Mit welchen Botschaften? Was ist wichtig zu wissen? • Über welche Kanäle? • Mit welchen Medien? • Was interessiert unsere möglichen Spender*innen? • Was gefällt Ihnen? Was hören Sie gern? • Was könnten wir tun, um ihre Erwartungen und Wünsche zu erfüllen? 129 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
• •
Wer ist bei uns Ansprechpartner*in? Welche Spendensummen brauchen wir – und wofür genau?
4.
Schlüssel zum Fundraising-Erfolg: Kommunikation
Gemeinnützige Einrichtungen sollten im Fundraising das Ziel verfolgen, bei ihren Zielgruppen Zustimmung und Unterstützung für ihren Verein und ihre Aktivitäten zu gewinnen. Das heißt, sie sollten: • die Kompetenz ihrer Organisation, ihrer Vertreter und ihrer Leistungen vermitteln, • den Menschen den sozialen Wert, den gesellschaftlichen Nutzen und den messbaren Erfolg ihrer Arbeit zum Beispiel für Gesundheit, Therapie oder geistiger Weiterentwicklung in der Gesellschaft deutlich machen. Diese Ziele zu erreichen, braucht Zeit. Erfolgreich ist dabei, wer langfristig und nachhaltig vorgeht und einen langen Atem beweist • mit geeigneten Botschaften und Inhalten, • geeigneten Medien, • Unterstützer*innen und Fördereinrichtungen, die hinter der Einrichtung stehen und in der Öffentlichkeit anerkannt sind. Zusammenfassung Beispielhafte Botschaften und Inhalte der Kommunikation für gemeinnützige Institutionen: • Wir setzen uns mit beispielhaften Aktivitäten für Gesundheit und soziale Weiterentwicklung ein – konkret heißt das zum Beispiel � für bestimmte Klienten, z. B. Verhaltensauffällige, psychisch Kranke, Demente, � für Selbsterkenntnis, � für sanfte Therapie, � für niederschwellige Gemeinschaftserlebnisse zur Selbstwirksamkeit aller Altersgruppen, z. B. in Förderschulen, Rehabilitations-Einrichtungen, Pflegeheimen und anderes, vor Ort Spezifisches konkret durch Beispiele belegt.
130 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
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5.
Unsere wichtigste und bekannteste Aktivität ist (hier benennen, was die Einrichtung, das Projekt, die Initiative konkret tut). Unsere Veranstaltungen und Angebote werden im Einzelnen von (konkrete Zahl) Menschen genutzt und erreichen jedes Jahr insgesamt ca. (konkrete Zahl) Menschen. Unsere Einrichtung hat rund (konkrete Zahl) Mitglieder und besteht seit (Jahr benennen). (Konkrete und bekannte Persönlichkeiten und Institutionen benennen) kooperieren mit uns und setzen sich für uns ein. Wir werden gefördert durch (konkrete Fördereinrichtungen benennen). Wir sind Mitglied bei (Mitgliedschaften benennen).
Fundraising-Medien
Welche Medien sind erste Wahl? Zu den wichtigsten zählen: • Geschäfts- oder Jahresbericht. Der Jahresbericht kann einen Überblick über die Institutionsaktivitäten des vergangenen Jahres geben. Das macht einen professionellen Eindruck. Denn im Jahresbericht ist es zum Beispiel auch möglich, den Spendenbedarf oder das öffentliche Interesse an den Projekten oder einen Pressespiegel und natürlich auch die handelnden Personen darzustellen. • Flyer oder Folder. Ein Projekt-Folder, der um Spenden wirbt, sollte folgende Fragen deutlich herausstellen: Wie viel brauchen wir, wofür genau? Und natürlich die Kontoverbindung und ein (e) Ansprechpartner*in. Wichtig auch, dass die Zielsetzung, Spenden zu werben, schon auf der Titelseite klar wird. So wissen die Leser*innen gleich, worauf es ankommt. • Spendenbrief. Spendenbriefe sind vor allem dann erfolgreich, wenn die Adressaten unsere Einrichtung kennen und schätzen. Ein Beispielbrief, der an 10.000 (auch in der Vergangenheit bereits schon mit ihren Mitgliedsbeiträgen spendende) Fördermitglieder ging, brachte innerhalb weniger Wochen vor Weihnachten 54.000 Euro Spenden. • Dankbrief. Der Dank ist als Wertschätzung und Bindung von Spender*innen von großer Bedeutung. • Newsletter. Ein Newsletter – am besten nicht nur elektronisch, sondern gedruckt – ermöglicht, regelmäßig über die Projektakti131 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
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6.
vitäten und die Spendenentwicklung zu informieren und damit stärker in der Öffentlichkeit wahrnehmbar zu sein. Weil er mehr Platz bietet als ein Folder, ist es zum Beispiel möglich, emotionalisierende Geschichten zu erzählen oder Nutzer*innen des Angebots zur Sprache kommen zu lassen. Ein Newsletter in gedruckter Form kann zum Beispiel in Bürgerhäusern oder anderen passenden, öffentlichen Stellen ausgelegt werden und damit neue Interessent*innen erreichen. Pressemeldung. Regelmäßige Informationen an die Presse sind die Voraussetzung dafür, dass eine breitere Öffentlichkeit von unseren Aktivitäten erfährt.
Adresspflege, Beziehungs- und Dankkultur
Praktisch ist es, grundsätzlich für alle Zielgruppen eine gut gepflegte, jederzeit aktualisierte Adressdatei zu führen. Hier werden neben den Adressdaten alle Infos über unsere Kontakte vermerkt: Verbindungen zu weiteren interessanten Personen, Spenden, Dankbriefe, erhaltene Informationen, Treffen, Gesprächsinhalte – aber auch, sofern man das weiß, Geburtstage oder »Mitglied bei«. Neben Geburtstagsgrüßen ist es nützlich, Weihnachtsgrüße, Neujahrswünsche, Einladungen oder kleine Geschenke zu verschicken. Damit gelingt es uns, das ganze Jahr über präsent zu sein. Denn Zielgruppenarbeit mit Spender*innen und möglichen Spender*innen ist systematische Beziehungspflege. Insofern gilt es, für jede Zielgruppe – Presse, Meinungsmacher, VIPs, Fürsprecher, Politiker, Spender, Potenzielle Spender – einen Jahresaktionsplan zu machen: Wann sehe ich wen, wer bekommt wann mit welchen Maßnahmen welche Medien und Botschaften? Gerne unterschätzt wird das Danken. Zeitnah und persönlich, unverwechselbar zu danken – sei es brieflich, telefonisch, persönlich, mit einem kleinen, individuellen Geschenk – ist das A und O jeder auf Spenden ausgerichteten Arbeit.
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Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
7.
Zielgruppe Presse
Im Bereich der Presse empfiehlt es sich, im Laufe der Zeit Ansprechpartner*innen zu finden, von denen man weiß, dass sie für unser Thema aufgeschlossen sind. Zumindest einmal im Jahr sollte eine Pressemeldung zur Arbeit der Einrichtung herausgegeben werden. Anbieten würde sich dazu der Zeitpunkt der Veröffentlichung des Jahresberichts. Inhaltlich müsste die Meldung neben dem Rückblick auf das vergangene und dem Ausblick auf das kommende Jahr einen Neuigkeitswert anbieten. Zum Beispiel eine Meldung über ein neues Angebot oder einen besonderen Erfolg der Institution. Neben der Pressemeldung selbst enthält die Ansprechperson Informationsmaterial dazu und darüberhinaus auch eine Visitenkarte mit den Kontaktdaten der Ansprechperson in der Einrichtung. Mit der Pressemeldung adressieren wir uns an eine breite Öffentlichkeit, deren Interesse wir mit spannenden Botschaften erst gewinnen müssen. Insofern will wohl überlegt sein, was »Aufmacher« unserer Meldung ist – und der erste »Filter«, an dem sich erweist, wie interessant wohl unsere Botschaften sind, ist der oder die Journalist*in selbst. Vielfach bewährt sich deshalb mit den Vertreter*innen der Presse auch eine persönlich geprägte Verbindung. Denn dann gibt es vielleicht sogar die Möglichkeit, informell zu besprechen, welche Themen für die Leser*innen interessant sein und welche Berichte im Blatt größeren Raum einnehmen könnten. Versetzt man sich in die Situation der Journalist*innen, so sollte man sich klar machen, dass sie mit Nachrichten und Informationen »handeln«, deren Wert davon geprägt ist, wie viele Leser daran interessiert sein könnten. Und dass sie froh sind, wenn ihnen möglichst viel Struktur- und Schreib-Arbeit abgenommen wird. Die Frage der Journalist*innen ist: Welches neue Verständnis einer gesellschaftlich wichtigen Situation kann ich mit dieser Information anbieten? Hat die Einrichtung einen Experten-Status zu seinem Thema wie wenige andere?
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Julian Feil
8.
Zielgruppe Spender*innen und potenzielle Spender*innen
Der Einstieg in die Kommunikation mit dieser Zielgruppe ist sicherlich vor allem über die breit streuende Arbeit mit der Presse möglich. Deshalb sollten Berichte, die dort erscheinen, immer auch auf den Spendenbedarf hinweisen. Wenn möglich am besten mit Kontonummer und der erforderlichen Summe und mit einem Angebot der Kontaktaufnahme. Wobei die Presse das manchmal nicht umsetzt, weil sie fürchtet, dass andere protestieren. Sind erst einmal Adressen gewonnen, gilt es, die Spender in regelmäßigen Abständen, zumindest aber zu Weihnachten mit einer Aussendung informiert zu halten. Und die klare Botschaft zu vermitteln: Wir brauchen eine definierte Höhe an Spenden, um unsere Arbeit kontinuierlich und gut zu machen. Deine Spende zählt – bitte spende jetzt! Sinnvoll ist es, regelmäßig Einladungen zu Veranstaltungen der Einrichtung zu verschicken – Zielgruppen-Arbeit ist Beziehungs-Arbeit. Parallel ist es wichtig, aufmerksam zu verfolgen, wer als potenzielle(r) Spender*in möglicherweise auch persönlich angesprochen werden könnte. Direkt, zum Beispiel per Brief, oder auch über eine (n) Fürsprecher*in, die oder der eine Verbindung zu der Zielperson über Bekanntschaft, Freundschaft oder berufliche Beziehungen hat. In der Statistik der Effizienz von Fundraising-(Mittelbeschaffungs-)Aktivitäten führt die persönliche Ansprache oder die per Brief zu herausragenden Ergebnissen. Über persönliche Kontakte und Ansprachen werden die größten Spendensummen in Deutschland – aber auch weltweit – eingeworben.
9.
Spender*innen finden
Bei Spender*innen, die sich bereits in der Vergangenheit für Ihre Einrichtung engagiert haben, können Sie mit Recht davon ausgehen, dass sie Ihrer Sache gegenüber positiv eingestellt sind. So positiv, dass sie bereits schon einmal gespendet haben. Insofern gilt nicht, wie man vielleicht meinen könnte, dass hier keine Bereitschaft mehr zu finden sei, erneut zu unterstützen. Im Gegenteil lehrt die Erfahrung, dass unter den Gebern viele bereitwillige Wiederholungsspender*innen
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Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
zu finden sind. Denn gerade sie müssen nicht mehr gewonnen werden, sie sind bereits Freund*innen Ihres Anliegens.
Welche Aktivitäten entfalten wir, die zusätzliche Interessenten für unser Projekt gewinnen könnten? Mit Veranstaltungen laden wir dazu ein, einfach einmal der Neugier zu folgen und das Projekt oder die Menschen hinter einem Anliegen kennenzulernen. Natürlich muss man dafür sorgen, dass zum Beispiel über gezielte Öffentlichkeitsarbeit möglichst viele davon erfahren. Und auch dafür, dass während der Veranstaltung genügend Personen dazu bereitstehen, unbekannte Menschen anzusprechen und ihre eventuellen Fragen zu beantworten.
Wie gewinne ich ihre Adressen? Um in der Folge regelmäßig über das Projekt und seinen Fortgang informieren zu können, ist es von entscheidender Bedeutung, gezielt Kontaktdaten zu sammeln. Zum Beispiel über: • den Austausch von Visitenkarten, • das Angebot, sich in Listen für weitere Infos zum Verein einzutragen, • Adress-Hinterlassung im Rahmen von Preisausschreiben, Tombolas oder Bazar-Angeboten, • Mögliche Spender*innen sind vielleicht auch alle begeisterte Veranstaltungs-Besucher, die sich darauf freuen, auch künftig wieder dabei zu sein – dann müsste ich anbieten, die Adresse zu hinterlassen, damit sie rechtzeitig informiert werden können.
Welche wohlhabenden Menschen kennen oder erreichen wir? Unternehmer, Ärzte oder Freiberufler wie etwa Anwälte oder Steuerberater sind aufgrund ihrer in der Regel guten Vernetzung in den honorigen Kreisen hochinteressante Multiplikatoren für unser Anliegen. Entweder können sie uns von daher Personen nennen, die als Spender*innen in Frage kommen. Oder sie können sich sogar bei solchen Personen persönlich für unser Anliegen einsetzen. 135 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
Welche weiteren potenziellen Interessenten kennen möglicherweise unsere Vereinsmitglieder? Über ihre Familie, ihren Bekanntenkreis, über ihren Arbeitsplatz oder anderweitige ehrenamtliche Tätigkeiten wie zum Beispiel im Sportverein oder über ihre Hobbies kennen unsere Vereinsmitglieder möglicherweise potenzielle Spender*innen, ohne dass Ihnen das bisher bewusst gewesen wäre. Es lohnt sich, bewusst mit denen das Gespräch zu suchen, denen unterstellt werden kann, dass sie kommunikativ sind und vermutlich über einen ausgedehnten Freundes- und Bekanntenkreis verfügen. Die Schlüsselfrage ist: »Wer fällt Ihnen ein, wenn Sie an mögliche Spender*innen in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis denken? Und könnten Sie die betreffenden Personen ansprechen – oder dürfen wir das in Bezug auf Sie tun?«
Welche Privatpersonen und Firmen engagieren sich für ähnliche Projekte oder sind generell als Spender bekannt? Ein regelmäßiges Studium der Zeitung, eine gezielte Suche im Internet oder Besuch von Veranstaltungen, die ähnliche Themen wie unsere Einrichtung haben, bringen Hinweise, wer sich für welche öffentlichen Anliegen wohltätig engagiert und entsprechend auch für ein Anliegen der Einrichtung zu gewinnen sein könnte. Dabei ist es natürlich eine große Hilfe, geeignetes Informationsmaterial zur Verfügung zu haben – zum Beispiel die unter »5. Medien« genannten Unterlagen. Neben den wichtigsten Informationen zum Anliegen beinhalten diese Werbemittel vor allem auch Spendenbedarf, Ansprechpartner und Kontoverbindung. Zusammenfassung So finde ich Spender: • Wer hat unseren Verein bereits in der Vergangenheit unterstützt? • Welche Aktivitäten entfalten wir (Tag der offenen Tür, Straßenfest, Briefkasten-Einwurf-Aktionen etc.), die zusätzliche Interessenten für unser Projekt gewinnen könnten? • Wie gewinne ich ihre Adressen (Gewinnspiel, Info-Angebote)? 136 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
• • •
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Wer profitiert vom Projekt (Lieferanten, Nutzer, Interessenten)? Welche gut situierten Menschen (Unternehmer, Ärzte, Freiberufler etc.) kennen oder erreichen wir? Welche weiteren potenziellen Interessenten kennen möglicherweise unsere Vereinsmitglieder – über ihre Familie, ihren Bekanntenkreis, Arbeitsplatz, ehrenamtliche Tätigkeiten? Welche Privatpersonen und Firmen engagieren sich für ähnliche Projekte (Quellen: Zeitung, Internet, Veranstaltungen) oder sind generell als Spender bekannt?
10. Fürsprecher*innen Fürsprecher*innen sind Menschen, die vertrauensvolle, entweder durch Geschäfts- oder Privatbeziehungen geprägte Verbindungen zu potenziellen Spender*innen haben. Damit sind sie in der Lage, uns zu Menschen Türen zu öffnen, die wir selbst nicht öffnen könnten. Fürsprecher*innen fällt es leicht, die potenzielle Spender-Person zu erreichen, weil ihm oder ihr ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird. Wie ich Fürsprecher*innen finde? Die Schlüsselfrage lautet: Wen kenne ich, wen kennen wir mit guten Verbindungen und welche Verbindungen sind das? Führen sie uns zu den potenziellen Spender*innen? Man kann aber auch umgekehrt fragen: An wen möchte ich mich wenden – und wer hat Zugang zu dieser Person? Zusammenfassung Checkliste Fürsprecher*innensuche: • Liste »Wen kenne ich mit guten Verbindungen?« • Liste »Wen kenne ich, der Kontakte zu weiteren Menschen mit guten Verbindungen hat?« • Liste »Bei welchen Anlässen, Veranstaltungen lerne ich Menschen mit guten Kontakten kennen?« • Liste »Zu welchen potenziellen Spender*innen suche ich Kontakt – und wer hat Zugang zu ihnen?«
137 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
Potenzielle Fürsprecher*innen sind Leute, die mitten im Leben stehen und viele Kontakte haben. Kontakte zu Potenzial-Spender*innen. Zu Menschen, die begütert, sozial eingestellt und gerne wohltätig aktiv sind. Zu Unternehmer*innen und hochrangigen Manager*innen, zu Entscheider*innen. Sie haben diese Kontakte aufgrund ihres Berufs – wie zum Beispiel Steuerberater*innen. Oder aufgrund ihres Amtes – wie zum Beispiel Vorsitzende von Gremien, Verbänden oder Ausschüssen aller Art. Oder auch aufgrund ihrer Freizeitaktivitäten – weil sie im Sportverein sind, Golf spielen oder ähnliches. Oder weil sie in einem Wohltätigkeits-Club mitwirken – Rotarier, Lions und andere mehr. Und man vertraut ihnen – wie zum Beispiel Ärzt*innen, Anwält*innen oder Notar*innen. Vielleicht aber genießen sie auch einen besonderen Respekt, weil sie prominent sind durch ihre Erfolge – wie es bei Sportler*innen oder Künstler*innen der Fall sein kann. Große Anerkennung wird natürlich auch Personen gezollt, die sich wohltätig engagieren und denen die Gemeinschaft hohen öffentlichen Nutzen verdankt. Eine besondere Rolle spielen Politiker*innen. Denn sicherlich kennen sie viele auch gesellschaftlich hochstehende Leute und sitzen in einflussreichen Gremien und Zirkeln. Zugleich aber besteht die Möglichkeit, dass sie mit den Meinungen, die sie vertreten, polarisieren könnten. Und damit das Projekt auf eine vielleicht nicht förderliche Weise repräsentieren. Politiker*innen und ganz allgemein Persönlichkeiten, die auch einmal für strittige Positionen stehen, sind daher als Fürsprecher*innen nur mit Vorsicht zu empfehlen. Zusammenfassung Geeignete Fürsprecher*innen: • Unternehmer*innen • Hochrangige Manager*innen • Freiberufler wie Ärzt*innen, Steuerberater*innen, Anwält*innen, Notar*innen • Rotarier, Lions • Spender*innen, Mäzene, Wohltäter*innen • Professor*innen • Sportler*innen, Künstler*innen • Politiker*innen 138 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
Welche Materialien brauchen Fürsprecher*innen? In Ihren Gesprächen sollten sich Fürsprecher*innen darauf konzentrieren können, in Kontakt zu sein, das Gegenüber wahrzunehmen und ihn für das Anliegen zu gewinnen. Über das Projekt und seine Bedingungen sollte Klarheit und Eindeutigkeit herrschen. Es ist von hoher Bedeutung, dass alle veröffentlichten Unterlagen in ihren Aussagen übereinstimmen. Und Fürsprecher*innen sollten in der Lage sein, Gesprächspartnern aussagefähige Unterlagen auszuhändigen – zum Beispiel in der Form eines sauber geschriebenen WORD-Dokuments. Zusammenfassung Fürsprecher-Infomaterial-Bedarf: • Projektbeschreibung in Bild und Text: Projekt, Nutzen, Zeitbedarf, Kosten, Spendenbedarf. • Mitmacher: Wer steht hinter dem Projekt, wer setzt sich dafür ein? • Aktivitätenplanung, Kommunikationsmedien. • Häufig gestellte Fragen zum Projekt und entsprechend vorformulierte Antworten. • Spendenkonto, Spendenzweck, Hinweis auf steuerliche Abzugsfähigkeit. • Kontakt, Ansprechpartner.
11. Spender*innen-Gespräch Um sich auf das persönliche Gespräch mit Spender*innen und potenziellen Spender*innen vorzubereiten, könnten gute Fragen an sich selbst sein: • Was begeistert mich an dieser Arbeit? • Warum muss sie unbedingt getan, wie müsste sie weiterentwickelt werden? • Und was müsste ich den potenziellen Spender*innen darüber erzählen, wie würden sie mich verstehen und meiner Initiative folgen?
139 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
Welche erlebte Geschichte macht auf einen Schlag klar, was ich ihnen sagen möchte? Die im Folgenden aufgelisteten Motive zeigen, was Spender*innen dazu bewegen kann, zu spenden. Erfolgreich sind wir immer dann, wenn die Menschen in unseren Projekten eine Möglichkeit sehen, diese Motive zu verwirklichen. •
Zusammenfassung Spendermotive privater Spender*innen: • Der Gesellschaft etwas von der selbst empfangenen Förderung zurückgeben • Menschen in Schwierigkeiten helfen • Nächstenliebe • Positive gesellschaftliche Entwicklungen bewirken • Persönliches Glücksgefühl durch die Unterstützung anderer • Jemandem einen Gefallen tun • Sinnerlebnis durch Wohltätigkeit • Gewinn öffentlichen Ansehens • Neue Kontakte knüpfen können • Möglichkeit, von dem durch Spenden Unterstützten selbst etwas zu haben (z. B. Konzert, Fest) • Fortsetzung einer Familientradition • Die Möglichkeit, durch Spenden auch Einfluss nehmen zu können • Steuerersparnis. Finden Spendergespräche mit Unternehmern oder leitenden Managern statt, werden diese Spendermotive noch ergänzt durch Nutzen, die spendende Unternehmen gerne »mitnehmen«. Denn die positive öffentliche Wahrnehmung der Wohltätigkeit und des gesellschaftlichen Engagements einer Firma wirkt sich auch positiv auf das Unternehmen selbst, sein Image und die Akzeptanz und das Wohlwollen gegenüber den Geschäften aus. Zusammenfassung Das motiviert Unternehmen, zu spenden: • Lokale oder regionale Imagepflege, • Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, 140 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
Beitrag des Unternehmens zur Lösung gesellschaftlicher oder öffentlicher Probleme, • Beziehungspflege, • Mitarbeiterzufriedenheit, • Kundenpflege, Kundengewinnung, • Stärkung der Unternehmensattraktivität. Jedes einzelne Gespräch sollte gemeinsam mit den Fürsprecher*innen gut vorbereitet werden. • Wen trifft man, wie »tickt« die Person, was verbindet uns persönlich, was die Person mit dem Projekt? • An welchem Ort und wann treffen wir uns? • Was ist im Hinblick auf die voraussichtlichen Gesprächsinhalte zu erwarten? • Welche Fragen werden kommen? • Gibt es vielleicht Themen, die kritisch sein könnten? • Wie stellt man das Projekt vor, welche Worte wählt man? • Was könnte ein guter Einstieg, was eine gute Formulierung für die entscheidende Frage nach der Spendensumme sein? • Welche Spendensumme könnte man realistisch erwarten? • Wie verbleibt man? • Welche Informationen braucht man vor Ort, was könnte man beim potenziellen Spender lassen? • Was soll nach dem Gespräch passieren? •
Wie auch immer das Gespräch verläuft, es wird lehrreich sein – zumindest eine Erkenntnis, neue Ideen und Erfahrungen bringt es mit sich. Und gerne natürlich auch eine möglichst konkrete Spendenzusage. Entscheidend ist es, gute Gesprächsnotizen anzufertigen und die Ergebnisse sauber zu dokumentieren. Denn denken Sie immer daran: Keine Spendenstrategie ist so erfolgreich wie die, die auf vertrauensvolle und glaubwürdige, persönliche und verbindlich gehaltene Kontakte und Fürsprache setzt.
11. Fundraising-Organisation Um nachhaltig am »Fundraising-Ball« bleiben zu können – und wir haben gesehen, dass das eine wesentliche Bedingung für den Fundraising-Erfolg ist –, braucht es ein Team, das regelmäßig zusammen141 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Julian Feil
kommt, die Arbeit plant und auf mehrere Schultern verteilt. Das Team kann mit ca. vier bis acht zweistündigen Sitzungen im Jahr auskommen – vorausgesetzt, die Sitzungen sind gut vorbereitet, die »Hausaufgaben« gemacht und die erforderlichen Umsetzungsschritte delegiert und zwischen den Terminen weitergetrieben worden. Wichtig ist auch, dass das Team entscheidungsfähig ist. Deshalb sollte jemand aus dem Vorstand mitmachen. Idealerweise umfasst ein Team fünf bis acht Leute (mehr erschwert das Gespräch, weniger Leute erlauben keine gute Arbeitsteilung mehr), die sich gegenseitig gut verstehen, kommunikationsfreudig sind, unterschiedliche Kompetenzen einbringen und in ihrer Zusammensetzung die Vereinsvielfalt gut abbilden. Von Vorteil ist etwa, Männer und Frauen und verschiedene Altersstufen gleich zu verteilen und Menschen auszusuchen, die Begabungen oder Verbindungen mitbringen, die für Fundraising nützlich sind. Dazu gehören Menschen, die gut schreiben, gut reden können, die gerne rechnen, kalkulieren, die gerne organisieren oder ordnen und strukturiert denken und sprechen können. Gute PC-Fähigkeiten sind nützlich. Gute Zuhörer sind nützlich. Hinzu kommen vielleicht Menschen mit guten, persönlichen Verbindungen in das gesellschaftliche Umfeld und weitgefächerten Netzwerken. Eine sorgfältige Gesprächsleitung hilft. Zusammenfassung Das Fundraising-Team und seine Funktionen: • Jourfixes, • Steuerung, • Planung, • Arbeitsteilung, • Begleitung, • Organisation, • Danksystem, • Öffentlichkeitsarbeit, • Adressmanagement, • Medien- und Maßnahmenplanung, • Eventplanung, • Terminvorbereitung, • Controlling.
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Fundraising funktioniert – auch für Kunsttherapie-Projekte
Und nicht zuletzt: Die Sitzungen sollten protokolliert werden, zu jeder Sitzung sollte eingeladen werden, ein Raum organisiert, Getränke, Kaffee, Tee bereitgestellt. Eine Person sollte den »Hut aufhaben« – fürs Fundraising zuständig und hauptverantwortlich – und eine Person sollte Vertretung sein. Damit sichergestellt ist, dass Fundraising auch bei Krankheit oder Urlaub eine(n) Ansprechpartner(in) hat. Und natürlich »brennt« das Team für die stetige Weiterentwicklung des Vereins zu einer Organisation, die Unterstützer*innen anzieht und durch inspirierende Projekte, attraktive Kommunikation und breite öffentliche Zustimmung begeistert.
Literatur Fundraising Akademie (Hrsg.) (2008). Fundraising. Handbuch für Grundlagen, Strategien und Methoden. 4. akt. Aufl., Wiesbaden: Gabler Verlag. Haibach, M. (2006). Handbuch Fundraising. Spenden, Sponsoring, Stiftungen in der Praxis. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. Urselmann, M. (2007). Fundraising. Professionelle Mittelbeschaffung für Nonprofit-Organisationen. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt Verlag. Watenphul, J., Vöge, I., Kreuzer & Th. (Hrsg.) (2005). Fundraising: 46 Experten erläutern Kampagnen, Events, Sponsoring u. v. m. Ostfildern: Fink Medien Verlag. Gregory, A. & Schmotz, T. (Hrsg.) (2015). Fundraising-Praxis vor Ort, München: AG SPAK BücherVerlag.
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Christiane Ganter-Argast
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik – ein Bildungsprozess?
Abstract: Der Beitrag möchte Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Behandlung von Patientinnen mit einer Essstörung vorstellen. Dabei werden die kunsttherapeutischen Prozesse mit Hilfe der transformatorischen Bildungstheorie von Koller (2012) als beginnende Bildungsprozesse interpretiert und in ihrer spezifischen Erlebensqualität anhand von qualitativ ausgewerteten Therapiedokumentationen von n = 10 Patientinnen präsentiert.
Einleitung Im folgenden Beitrag möchte ich den Land Art Ansatz als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik vorstellen. Der Kontext ist somit ein medizinisch-therapeutischer. Da es in diesem Themenband jedoch um »Künstlerische Therapien in Kultur- und Bildungskontexten« geht, möchte ich versuchen, die aufgeführten kunsttherapeutischen Prozesse aus der klinischen Arbeit auch als Bildungsprozesse darzustellen. Dafür möchte ich mich auf die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse von Hans-Christoph Koller (2012) beziehen. Koller (2012) beschreibt Bildung als ein Prozess der Erfahrung, aus dem das Subjekt verändert hervorgeht. Dieser Veränderungsvorgang betrifft nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selbst. Koller (2012) möchte das Bildungsgeschehen als Anderswerden begreifen. Diese Veränderungen vollziehen sich immer dann, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden und die bisherigen Figuren ihres Welt- und Selbstverhältnisses (vgl. Kokemohr, 2007) diese nicht mehr bewältigen können. Der Anlass für Bildungsprozesse ist also eine Art Krisenerfahrung. Koller nennt hierfür beispielsweise alterstypische Krisenerfahrungen, die mit der Adoleszenz oder mit Statuspassagen einhergehen, wie körperlicher Veränderungen oder ver144 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
änderte soziale Erwartungen, die das einmal erworbene Welt- und Selbstverhältnis zur Aktualisierung zwingen (Koller, 2012). Weitere Anlässe für eine Transformation könnte die Enttäuschung unseres Erwartungshorizontes sein (Buck 1981, S. 54) oder nach Waldenfels (2006) die Erfahrung des Fremden. Fremd ist für Waldenfels (2006) das, was als störend in die Ordnung einbricht. Diese beiden Konzeptionen betonen laut Koller (2012) die überindividuellen Dimensionen der Anlässe und verdeutlichen, dass Bildungsprozesse nicht einfach als Selbstbildung verstanden werden können, sondern ein interaktives Geschehen vorherrscht. Gerade bei Kollers Suche nach Anlässen für Bildungsprozesse wird deutlich, dass Bildung durch ähnliche Anlässe wie die Therapie beginnen kann. Koller nimmt darauf jedoch noch keinen Bezug. Auch bei seiner Beschreibung von transformatorischen Bildungsprozessen wird die Nähe zu therapeutischen Prozessen sichtbar. Hierfür zieht Koller Oevermann (1991) heran, der die Entstehung des Neuen zu erklären versucht. Die Entstehung neuer Welt- und Selbstverhältnisse in transformatorischen Bildungsprozessen ist nach Oevermann (1991) ein kreatives Geschehen, das dem künstlerischen Schaffensvorgang ähnlich ist und eine charakteristische Phasenstruktur aufweist, so Koller (2012). Bedingung für solch innovative Prozesse sind Spielräume, die benötigt werden, wie sie auch für den Traum und künstlerisches Tun kennzeichnend sind (Koller, 2012). Bildung ist für Koller ein unabschließbarer Prozess der Infragestellung oder Verflüssigung bestehender Ordnungen, in dem das Anderswerden einen offenen Ausgang hat. Für ihn ist Bildung nicht mehr nur zu begreifen als Prozess einer produktiven Verarbeitung bzw. Bewältigung, sondern Bildung besteht auch darin, Fremdheitserfahrungen bzw. Krisen anzuerkennen. Dabei geht es darum, sie als Herausforderung anzunehmen und darauf Antworten zu suchen, anstatt zu resignieren (Koller, 2012). Wird Bildung so aufgefasst, wie Koller (2012) es in seiner transformatorischen Bildungstheorie beschreibt, nämlich als krisenhaftes Geschehen und als grundsätzliche Veränderung der gesamten Person, kann der kunsttherapeutische Prozess auch einen Bildungsprozess freisetzen. Der kunsttherapeutische Prozess kann beispielsweise eingeordnet werden in Zacharias (2014, S. 120) Beschreibung: »Die Basis aller kulturellkünstlerischer Bildung und allen ästhetischen Lernens ist der Zusammenhang von Wahrnehmen, Handeln, Erfahren, Reflektieren, Erinnern als Einheit und am Exempel attraktive, auch experimentelle Neugierde herausfordernder Phänomene, die in der Summe transfor145 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Christiane Ganter-Argast
mative Bildungsprozesse auslösen.« Bildung und Therapie besitzen somit aus meiner Sicht ähnliche Ausgangslagen und Veränderungsprozesse. Der wesentliche Unterschied zwischen den Bereichen Therapie und Bildung wird deutlich, wenn Bildungs- und Therapieprozesse als zwei unterschiedliche Systeme der modernen Gesellschaft betrachtet werden, die mit eigenen Kommunikationsstrukturen arbeiten. Die Therapie gehört somit zu einem medizinischen System, das mit dem Code gesund – krank arbeitet (Wichelhaus, 2006). Therapie beinhaltet die Behandlung und Heilung von Störungen bzw. Krankheiten. Die Sicht aus dem Blickwinkel des Pathologischen ist für die Therapie kennzeichnend (Hörmann, 1987). Therapie wurde von Cohn (1975) auch als nachträgliche Pädagogik verstanden. Das Erziehungssystem dagegen operiert mit weniger strengen und unbestimmteren Chiffrierungen, so Wichelhaus (2006). Sie resümiert, dass Entwicklung, Wachstum und Reife zur Therapie und zur Pädagogik gehören und ästhetische Erfahrungen diese in pädagogischen wie auch in klinischen Kontexten befördern (Wichelhaus, 2006). Es ist also der Kontext, der die ästhetische Erfahrung zur Kunsttherapie oder zur Kunstpädagogik werden und uns von Bildung oder Therapie sprechen lässt. Ästhetische Erfahrung kann zu einem Bildungs- und/ oder Therapieprozess werden. Zu unterscheiden ist dabei ebenfalls, dass Sozialpädagogik das Ziel der sozialen Integration verfolgt und Psychotherapie das Ziel der personalen Integration, so Gildemeister und Günther (2005). Psychotherapie fokussiert die Veränderung von psychischen Leidenszuständen und setzt eine Störung mit Krankheitswert voraus. Soziale Arbeit hat dagegen eine breitere Perspektive, es geht um die Stabilisierung von Lebensverhältnissen durch Alltagsbegleitung, Bildungsangebote oder sozial-rechtliche infrastrukturelle Hilfen. Der Alltagsbezug ist stärker und die Soziale Arbeit besitzt mit subjekt- und strukturbezogenen Problemanalysen und Veränderungsprozessen ein eigenes Profil (Schneider, Heidenreich, 2011). Für die vorliegende Arbeit ist von Bedeutung, dass ästhetische Erfahrungen in der Kunsttherapie, aus dem Betrachtungswinkel der Pädagogik, Bildungsprozesse auslösen können, bzw. kunsttherapeutische Prozesse auch bildungstheoretisch verstanden werden können. Zusammengefasst geht es – unabhängig ob Bildungs- oder Therapiekontext – bei kunsttherapeutischen wie auch bei künstlerisch-ästhetischen Bildungsprozessen um die Wirkung einer ästhetischen Tätigkeit (Mollenhauer, 1995). Somit entsteht eine mögliche An146 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
schlussstelle der Kunsttherapie an die Pädagogik und zeigt auf, dass beide Disziplinen ähnliche Ausgangslagen, Prozesse und Ziele besitzen und sich sehr gut ergänzen. Im Folgenden möchte ich den Fokus auf die künstlerisch-ästhetische Tätigkeit in der Natur lenken und die Land Art Methode in der Kunsttherapie vorstellen.
Land Art in der Kunst, Pädagogik und Kunsttherapie Land Art (Landschaftskunst) oder auch Earth Art ist eine Ende der 60er Jahre in den USA entstandene Kunstströmung der Bildenden Kunst. Von Land Art spricht man bei Künstlern, die sowohl in der Natur als auch im öffentlichen Raum oder für Ausstellungen mit Naturmaterialien arbeiten, Hilfsmittel benutzen und in der Wahl ihrer Materialien offen sind. Der bekannte Künstler Christo mit seinem aktuellsten Projekt »Floating Piers« am Iseosee gehört beispielsweise zu dieser Kunstrichtung. Aber auch Andy Goldworthy, der nur mit Naturmaterialien arbeitete und keine Hilfsmittel benutzte, ist ein bekannter Vertreter der Natur Kunst. Da die Kunstwerke vergänglich sind, stellen die Künstler ihre Werke in Dokumentationen vor, die aus Zeichnungen, Texten, Landkarten und Fotos bestehen. In der pädagogischen Publikationslandschaft spielt Land Art als Methode eine etwas größere Rolle als in der kunsttherapeutischen Literatur. Künstlerisch- ästhetische Naturerfahrungen werden hier oftmals in der Schulpädagogik (vgl. Kirchner, 1997; Nowack-Göttinger, 2007; Bross, 2008) verwendet, und es werden beispielhaft Bildungsprozesse aufgezeigt. Land Art als kunsttherapeutische Methode im klinischen Setting anzubieten ist noch kaum verbreitet, ebenso gibt es bisher nur sehr wenige Veröffentlichungen zum Thema Land Art und Kunsttherapie (Keßler, 2005; Jiminez-Alonso, 2005; Henin 2008). Im vorliegenden Beitrag möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit Land-Art-Ansätze als kunsttherapeutische Methode bei Patienten mit Essstörungen im Rahmen von psychosomatischen Behandlungskonzepten eingesetzt werden können. Von Interesse sind zudem die spezifischen Erlebensaspekte und Erfahrungsqualitäten in den Land Art Sitzungen, und wie diese therapeutisch genutzt werden und für die Patienten hilfreich sein bzw. als Bildungsprozess erkannt werden können. 147 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Christiane Ganter-Argast
Beschreibung der kunsttherapeutischen Methode Die Land-Art-Methode wurde innerhalb der regulären Kunsttherapiegruppensitzungen (100 Minuten) im Wechsel mit üblichen kunsttherapeutischen Methoden durchgeführt. Der übliche kunsttherapeutische Ansatz kann als Einzeltherapie in der Gruppe beschrieben werden. Dabei wird non-direktiv vorgegangen, die Materialien wie Ton, Speckstein, Holz, Filzwolle sowie verschiedene Farben können frei ausgewählt werden. Die Patienten haben ca. 60 Minuten Zeit zu gestalten, darauf folgt eine ca. 30-minütige Reflexionsphase in der Gruppe über das Erlebte und das entstandene Werk. Die Land-ArtSitzungen besaßen den gleichen zeitlichen Rahmen, fanden jedoch im Therapiegarten statt. Hierbei wurde zunächst der Therapiegarten kennengelernt, und es wurde auf die Naturmaterialien wie Erde, Steine, Gräser, Zweige, Blätter, Tannenzapfen etc. als Gestaltungsmaterialien hingewiesen. Zudem wurde die Kunstströmung Land Art auch anhand von Fotos verschiedener Land-Art-Künstler vorgestellt. Außerdem wurde die Vergänglichkeit thematisiert. Danach folgte die Einladung an die Patienten, sich auf die Suche zu begeben, die Natur und ihre Formen wahrzunehmen und mit dem gefundenen Naturmaterial gestalterisch zu arbeiten. Bei Schwierigkeiten konnte zunächst auch mit Ton, Speckstein und Kreide im Garten gestaltet werden. In einer weiteren Land-Art-Sitzung erhielten die Patientinnen folgende Anleitung, der sie nachgehen konnten: »Finden Sie ein Naturobjekt und den dazu passenden Platz, der bei Ihnen bestimmte persönliche Erinnerungen, Gefühle, Wünsche etc. hervorruft.« Nach der Gestaltungsphase in der Natur, konnten die Werke fotografiert werden. Darauf folgte die übliche Reflexionsphase. Die Patienten wurden im Rahmen eines multi-modalen psychosomatisch-psychotherapeutischen Settings stationär behandelt. Für die Untersuchung meiner Forschungsfrage wurden die dokumentierten kunsttherapeutischen Sitzungen von insgesamt 10 Patientinnen mit einer Essstörung (ICD10 Codierung: F50.–), angelehnt an die Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010), ausgewertet. Dabei wurden spezifische Erlebensaspekte des Land-Art-Ansatzes in Kategorien zusammengefasst und im Folgenden dargestellt:
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Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
Das Erleben der Natur Die natürliche Ästhetik des Materials erleichtert den kreativen Schaffensprozess, da den Naturmaterialien eine Wertschätzung entgegengebracht wird. Dadurch erleben die Patientinnen sich und ihr Tun in und durch die Natur eher positiv. Die vorgefundenen Naturmaterialien erinnern nicht an leistungsorientierte Erfahrungen im Kunstunterricht, wie es häufig bei anderen künstlerischen Materialien der Fall ist. Zudem steht der spielerische Prozess des Suchens, Findens, Wahrnehmens, Bauens und Gestaltens zunächst im Mittelpunkt. Dadurch erleben sich die Patientinnen handlungsfähig und gleichzeitig treten ihr Leistungsdenken und Perfektionismus in den Hintergrund. Diese Aspekte werden am Beispiel des Natur-Mandalas (Abbildung 1) sichtbar; hier war die Patientin durch die Naturmaterialien gezwungen, ihr Streben nach Perfektion und Symmetrie aufzugeben, da mit Blättern und Zweigen nicht genauso exakt gearbeitet werden konnte wie ansonsten mit Bleistift und Papier.
Abb. 1: Natur-Mandala
Zudem machen die unerschöpflichen Formen der Natur die Vielfalt des Lebens bewusst. Das Entdeckte wird angenommen, wie es ist. Unscheinbare Naturobjekte werden hervorgehoben, umgestaltet und mit der eigenen Geschichte verknüpft. Eine Patientin sammelte beispielsweise verschiedene Stöcke, Steine, Tannenzapfen und ein Schnecken149 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Christiane Ganter-Argast
haus und band diese zu einem Mobile zusammen. Die verschiedenen Naturobjekte schwebten im Raum und mussten ein Gleichgewicht finden. Die Gestaltung erinnerte die Patientin an ein Karussell, das sich immer weiter dreht. Das Karussell stand stellvertretend für ihr Leben. Die Einzelobjekte symbolisierten verschiedene Belastungsfaktoren, die sie zu bewältigen hatte. Die Befürchtung war hierbei, dass mit jeder Runde, die das Karussell dreht, ein neuer Schicksalsschlag hinzukommen könnte. Die Patientin schien hierbei dem sich kreisenden Karussell ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Die Möglichkeit, das Karussell auch als Mobile zu sehen und sich bewusst zu werden, dass auch die Gestalterin einen aktiven Part einnehmen kann, um die Einzelobjekte in ein Gleichgewicht oder in ein Arrangement zu bringen, ermöglichte eine veränderte Sichtweise. Zudem verdeutlichte es auch, dass positive Erlebnisse im Mobile fehlten und zu ergänzen sind. Die einseitige Sichtweise konnte bewusst werden und auf die Vielfalt ihrer Erfahrungen aufmerksam machen. Die eigene Handlungsmöglichkeit und ihre Selbstwirksamkeit wurden dadurch begreifbar. Die Vergänglichkeit des Materials und der künstlerischen Produktion machte die eigene Vergänglichkeit bewusst. Beispielsweise band eine Patientin einen Blütenkranz, setzte ihn auf den Kopf und stellte sich in Szene. In der nächsten Land-Art Sitzung hing der Kranz vertrocknet über einem Hochbeet, und schmerzlich erinnerten wir uns an den saftigen, bunten Blütenkranz. Er erinnerte dadurch daran, wie schnell die Zeit vergeht und schließlich auch an unsere Vergänglichkeit. Eine andere Patientin brachte eine Zeichnung mit in den Garten. Die Zeichnung zeigt ihre Anorexie als Skelett im Wolfspelz, welche das Maul weit aufsperrt (Abbildung 3). Sie arrangierte ihre Land Art Gestaltung, indem sie grüne Blätter und Tannenzapfen auf einen Stein legte und oben auf diese sorgfältig ausgelegte Unterlage ein Schneckenhaus setzte. Das Schneckenhaus stand für ihre langsamen und kleinen Schritte in Richtung Gesundheit. Die behutsam mit grünen Blättern ausgelegte Unterlage symbolisierte u. a. die bereits vollzogene (therapeutische) Arbeit der Patientin. Auf meine Anregung hin versuchte sie ihre Zeichnung mit der Land-Art-Gestaltung zu kombinieren, und so entstand eine Gestaltung, in der die Anorexie (Wolfsskelett) die Schnecke (Therapiefortschritte) fressen möchte. Zum einen wurde in dieser Gestaltung die zerstörerische Kraft der Anorexie sichtbar und die große Therapieambivalenz der Patientin. 150 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
Abb. 2: Kopfkranz
Zum anderen war in der nächsten Stunde das Blätterfundament der Schnecke vertrocknet und verweht und machte auf die möglicherweise nicht andauernde Substanz ihrer bereits geleisteten Arbeit (u. a. die Gewichtszunahme) aufmerksam. Sehr eindrücklich thematisierte die Patientin hiermit, wenn auch teilweise unbewusst existentielle Themen wie den Tod und die Erkrankung.
Abb. 3: Wolfsskelett und Schnecke
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Christiane Ganter-Argast
Der Ort des Schaffens Ein weiterer wichtiger Aspekt in den Land-Art-Sitzungen ist der Ort des Schaffens. Die Land-Art-Sitzungen finden nicht im Kunsttherapieraum in der Medizinischen Klinik statt, sondern etwas abseits vom Klinikgelände im Therapiegarten. Dadurch entsteht eine örtliche Distanz zum Klinikum und eine gewisse Distanz zum Patient-Sein. Die Gruppe erlebt sich wieder mehr als Teil der Natur und des Lebens, und die Ausgrenzung durch die Erkrankung wird zeitweise aufgehoben. Der Therapiegarten lädt zusätzlich dazu ein, sich und die Umgebung im »Hier und Jetzt« mit allen Sinnen und dem Körper wahrzunehmen. Dadurch können eigene Bedürfnisse und Wünsche besser erspürt werden. Eine Patientin arbeitete zeichnerisch mit verschiedensten Naturmaterialien auf dem Boden. Es entstand ein weibliches Gesicht. Sie brachte es mit der »Mutter Natur« in Verbindung und äußerte somit ihren Wunsch nach Geborgenheit, Akzeptanz und Versorgung. An diesem besonderen Ort des Therapiegartens geht es auch darum, seinen Platz zu finden. Die Patienten müssen sich damit auseinandersetzen, wo genau sie ihre Gestaltung anfertigen oder platzieren möchten, wie dieser Ort aussehen muss und was sie benötigen, um sich dort wohlzufühlen oder ihr Anliegen ausdrücken zu können. Hierbei geht es oft um die Auseinandersetzung mit Grenzen und Schutz. Bei einer Patientin kam dabei das Thema Schutzraum auf, sie suchte für ihre Gestaltung mit Tannenzapfen einen sehr versteckten Platz, der kaum von außen einsehbar war. Auch in einer zweiten Naturgestaltung baute sie sich eine Art Nest. Durch diese Gestaltung konnten wir über ihren Wunsch nach Schutz, Sicherheit und Geborgenheit sprechen und auch darüber, inwiefern die Anorexie diese Funktion ausführt. In der Land Art Sitzung war jedoch die Patientin diejenige, die ihren Schutzraum aktiv gestalten oder aussuchen musste und konnte somit wenigstens zeitweise diese Funktion der Anorexie entziehen. Eine andere Patientin mit Bulimie baute aus kleinen Stöcken eine Art Schutzhütte (Abb. 5) und thematisierte u. a. damit die Herausforderung, als erwachsene Frau ihren Platz im Leben zu finden und ihre Kindheit hinter sich zulassen. Im Therapiegarten ist auch das Wetter (Regen, Sonne, Kälte, Wind) zu beachten und konfrontiert direkt mit der Realität. Es ist dadurch 152 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
Abb. 4: Mutter Natur
notwendig, sich dementsprechend einzurichten und auszurüsten, sozusagen wiederum auf seine Bedürfnisse zu achten. Das Gestalten in der Natur, im Garten weckt häufig Kindheitserinnerungen, die dadurch reflektiert werden können. Die Patientin, die den Blütenkranz gestaltete, fühlte sich beispielsweise daran erinnert, wie sie dieses oft 153 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Christiane Ganter-Argast
Abb. 5: Schutzhütte
in der Kindheit mit der Schwester machte. Für die Patientin selbst konnte durch die Arbeit in der Natur positive Erfahrungen in der Beziehung zur Schwester erinnert werden und beleuchtete die auch von Neid erfüllte Beziehung aus einer anderen Perspektive. Auch die Patientin, die eine kleine Schutzhütte (Abb. 5) baute, fühlte sich an Erlebnisse als Kind erinnert. Sie berichtete, wie sie oft mit ihrem Vater solche Hütten im Wald gebaut habe. Spürbar wurde dabei die innige Beziehung zum Vater als Kind und auch den schmerzlichen Verlust der Unbekümmertheit. Familienbeziehungen können somit wiedererlebt und reflektiert werden.
Ausblick Die vorgestellten Beispiele und Erlebensaspekte zeigen, wie mit der Land-Art-Methode eine Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation und mit eigenen Verhaltensweisen möglich wird. Hierbei können die bildungstheoretischen Gedanken von Koller nachvollzogen werden. Beispielsweise wurden die »bestehenden Ordnungen« von den Patienten selbst in Frage gestellt oder wurden gar erst bewusst. Dies wurde am Beispiel des Strebens nach Perfektion am Natur-Mandala (Abb. 1), dem sich weiterdrehendem Naturkarussell 154 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Land Art als kunsttherapeutische Methode in der Psychosomatik
oder der sichtbargewordenen Therapieambivalenz (Abb. 3) deutlich oder als Thema ausgedrückt (beispielsweise Krankheit als Schutz). Es kommt dadurch zu einer Bewusstwerdung und auch zu einer Anerkennung von Fremdheitserfahrungen und Krisen (Erwachsenwerden, Belastungsfaktoren, Krankheit). Dabei resignieren die Patienten in den Land-Art-Sitzungen nicht, sondern versuchen durch den künstlerisch-ästhetischen Prozess die Herausforderung anzunehmen, auszudrücken und gestalterisch nach Antworten zu suchen. Beginnende Bildungsprozesse konnten somit in einem medizinisch-therapeutischen Kontext identifiziert werden und das Anderswerden hat auch hier einen offenen Ausgang. Im Hinblick darauf befindet sich die Erstellung eines Manuals für die Kunsttherapie mit intergierten Land-Art-Ansätzen bei Patienten mit einer Essstörung in Vorbereitung. Dieses Manual kann als Grundlage für zukünftige Wirksamkeitsstudien genutzt werden.
Literatur Bross, C., Nass, A. (2008). »Was guckst du?« Kunst in der Natur! Land Art-Projekte: Farbiger Wasserfall und Pferd im Fluss. In: Praxis Förderschule, 3:2; S. 36–39. Buck, G. (1981). Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre. München: Fink. Cohn, R. (1975). Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Stuttgart: Klett- Cotta. Gildemeister, R., Günther, R. (2005). Therapie und Soziale Arbeit In: Otto, H.-U. Thiersch, H. (Hrsg.) Handbuch Soziale Arbeit. München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag. S. 1901–1909. Henin, M., Joulia, M. Mengual, F. (2008). Le land’art: une approche thérapeutique groupale à mediation artistique pour les adolescents souffrant de troubles de la personnalité. In: L’Information psychiatrique: 84, S. 225–233. Hörmann, G. (1987). Erziehung, Bildung, Therapie. Vortrag 6. Jahrestagung Internationale Gesellschaft Kunst, Gestaltung und Therapie Heidelberg. https:// www.unibamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/huwi_lehrstuehle/allgpaed/ Publ._Hoermann_pdf/Erziehung_Bildung_Therapie.pdf (zuletzt aufgerufen am 12. 01. 2015). Jimenez-Alonso, L. (2005). »Projekt Maulwurf« – Landart und Kunsttherapie. In: Kunst & Therapie. 2, S. 27–36. Keßler, W. Paul, M. (2005). Therapie im Wald-Kunst-Raum. In: Kunst & Therapie. 2, S. 16–26.
155 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Christiane Ganter-Argast Kirchner, C., Kirschenmann J. (1997). Ästhetische Zugänge zur Natur. In: Kunst und Unterricht. 215, S. 22–34. Koller, H. Ch. (2012). Bildung anders denken. Stuttgart: Kohlhammer. Kokemohr, R. (2007). Bildung als Welt- und Selbstentwurf im Fremden. Annäherung an eine Bildungsprozesstheorie. In: Koller, Marotzki & Sanders. Bildungsprozesse und Fremdheitserfahrung. Bielefeld: transcript, S. 13–69. Mayring P. (2010). Qualitative Inhaltsanalyse – Grundlagen und Techniken (11. Aufl.). Weinheim/Bael: BELTZ. Mollenhauer, K. (1995). Grundfragen der ästhetischen Bildung. Weinheim: Beltz Juventa. Nowack-Göttinger, N. (2007). Draußen riechts nach Frühling. Land Art im Kunstunterricht der Grundschule. In: Grundschulmagazin. 75:2; S. 51–54. Oevermann, U. (1991). Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen. In: MüllerDohm, St. (Hrsg.). Jenseits der Utopie.Theoriekritik der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 267–336. Schneider, S., Heidenreich, T. (2011). Therapie und Soziale Arbeit. In: Otto, H.-U. Thiersch, H. (Hrsg.) Handbuch Soziale Arbeit. München/Basel: Ernst Reinhardt. S. 1661–1669. Waldenfels, B. (2006). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wichelhaus, B. (2006). Die Therapie in der Pädagogik – Kunsttherapie in pädagogischen, sozialen und klinischen Anwendungsbereichen. Ottersberg: PDF zum Vortrag am 18. 05. 2006. http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=& esrc=s&source=web&cd=1&ved=0CCAQFjAA&url=http%3A%2F% 2Fwww.kunsttherapieforschung.de%2Fstatic%2Fdownload.php%3Fdatei% 3D%2Fdownloads%2Fvortraege%2FVortrag_Wichelhaus.pdf&ei=xBGgU_ i6H6HA7Aa4qYCICg&usg=AFQjCNHDkF3x1uhPgCfCEL49iYYmi_jLcg (zuletzt aufgerufen am 11. 07. 2017). Zacharias, W. (2014). Ästhetisches Lernen 2.0. Kulturelle Bildung in einer technisch-medialen Welt In: Faas, St. Zipperle, M. (Hrsg.). Sozialer Wandel. Wiesbaden: Springer VS. S. 113–126.
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Rabea Müller
Trickfilm als kunsttherapeutische Methode
Abstract: Digitale Medien prägen das Aufwachsen junger Menschen wie nie zuvor. Die mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit auf immer neuen Geräten und mit immer neuen Inhalten und Interaktionsmöglichkeiten verbundenen Chancen und Herausforderungen erfordern eine fortlaufende Positionsbestimmung. Fernseher, Smartphone, Computer und Internet gehören mittlerweile zur Grundausstattung fast jeder Familie. Medien nehmen in unserer Gesellschaft einen immer größeren Platz ein und stellen für viele einen festen Bestandteil ihres Lebens und ihres Kommunikationsverhaltens dar. Weil digitale Medien unaufhaltsam in alle Bereiche unserer Lebenswelt vordringen, gehört ein kompetenter Umgang mit diesen zu einer wesentlichen Voraussetzung für die Verwirklichung von Bildungs- und Teilhabechancen, für die eigene Persönlichkeitsentwicklung und im umfassenden Sinne für eine souveräne Lebensführung.
Aufgrund der Tatsache, dass unterschiedlichste digitale Medien in Gesellschaft und Kunst eine immer größere Rolle einnehmen und auf vielfältige Weise heute zur Alltagswelt gehören, stellt sich die Frage, ob die Kunsttherapie diesen Entwicklungen nicht Rechnung tragen und neben den Materialien für zwei- oder dreidimensionales Arbeiten ebenso digitales und virtuelles »Material« anbieten sollte. Es liegt auf der Hand, auch im therapeutischen Kontext »digitale Erfahrungswelten« mit einzubeziehen, sei es rezeptiv, in der Form der Verarbeitung oder eines gesunden Umgangs etc.; oder auch aktiv, indem man Computer, Smartphones o. ä. nutzt, um sich kreativ auszudrücken. Eine rein digitale Erfahrungswelt distanziert sich vom Sinnlichen, Empathischen und Intuitiven. Diese rationale Reduktion kann eine Kluft zwischen dem Ich und der Mitwelt fördern. In der Kunsttherapie kann eine Verbindung zwischen den bildenden Künsten und den Neuen Medien hergestellt werden, die im Trickfilm offensichtlich wird. Im Folgenden wird in diesem Zusammenhang der Trickfilm in157 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Rabea Müller
nerhalb der Kunsttherapie als gewinnbringende Methode in Abgrenzung zu den herkömmlich analogen Medien auf seine Möglichkeiten, Chancen und Grenzen vorgestellt. Einleitend wird eine kurze historische Annäherung an den Trickfilm mit unterschiedlichen Klassifizierungen dieser Technik dargestellt. Die sich daraus ergebenden Optionen bezüglich eines narrativen bzw. dramaturgischen Moments im künstlerischen Schaffen sind hierbei zentral und verdeutlichen, welche Eigenschaften der Animationsfilm bezüglich der Psychodynamik in der kunsttherapeutischen Triade verfügt. Nach der theoretischen Herangehensweise werden die Möglichkeiten des Einsatzes von Trickfilmen in der Kunsttherapie anhand des innovativen Projektes »Sichtweise« aufgezeigt. In diesem Projekt berichten Kinder und Jugendliche, die von einer plötzlichen Behinderung eines Elternteils betroffen sind, anhand bewegter Bilder von ihrer belastenden Lebensgeschichte.
Bilder in Bewegung – eine historische Annäherung Innerhalb des Schwerpunktes Film nimmt der Trickfilm eine besondere Rolle ein. Die Animation orientiert sich zunächst am einzelnen Bild. Das Einzelbild in Reihung mit stetig sequenzorientierten kleinen Veränderungen lässt – begünstigt durch die Trägheit des menschlichen Auges in der Rezeption – Bewegung entstehen. Diese filmische Bewegung bietet nun wiederum den höchst möglichen Freiraum narrativer Einfälle oder Erfahrungen. Kurz gesagt, bietet Trickfilm einen unbegrenzten Raum der darstellbaren Möglichkeiten. Die Geschichte des Animationsfilmes beginnt bereits lange vor der Erfindung der Kinematografie. Bereits in steinzeitlichen Höhlenmalereien oder altägyptischen Darstellungen wird Bewegung, ähnlich wie bei einem Zeichentrickfilm, in einzelnen Bewegungsphasen dargestellt. Mit der Laterna Magica wird es im Mittelalter möglich, gezeichnete und gemalte Abbildungen zu projizieren. Anfang des 18. Jahrhunderts wird diese Erfindung um die Möglichkeit bewegter Bilder erweitert. Eine ganze Reihe optischer Spielzeuge und prä-kinematografischer Apparaturen ermöglicht es, immer komplexere Bewegungsabläufe darzustellen. 1825 erfand der englische Physiker John Ayrton Paris das Thaumatrop. Dabei handelt es sich um eine 158 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Trickfilm als kunsttherapeutische Methode
Papierscheibe mit jeweils verschiedenen Abbildungen auf der Vorderund Rückseite. Wird die Scheibe mit Hilfe von zwei Schnüren zwischen Daumen und Zeigefinger zum Rotieren gebracht, verschmelzen die beiden Bilder zu einem Bild. Ist beispielsweise auf einer Seite ein Vogel und auf der anderen Seite ein Käfig abgebildet, so entsteht der Eindruck, dass der Vogel in dem Käfig sitzt. 1829 veröffentlichte der Belgier Antoine Ferdinand Plateau seine Untersuchungen zum »Netzhauteffekt«. Dabei ging es um die Fähigkeit unseres Auges, den Eindruck eines Bildes nach dessen Verschwinden für den Bruchteil einer Sekunde festzuhalten. Das Auge ist aufgrund seiner Trägheit nicht in der Lage, das Intervall zwischen zwei schnell nacheinander gezeigten Bildern zu erkennen. Wenn sich die Einzelbilder nur geringfügig voneinander unterscheiden, genügen bereits etwa 15 bis 18 Bilder pro Sekunde, damit beim Zuschauer die Illusion einer fließenden Bewegung entsteht. Mit seinen Erkenntnissen entwickelte Plateau 1831 das Phenakistiskop, eine drehbare Scheibe, auf der Zeichnungen von Figuren in verschiedenen Bewegungsposen kreisförmig angeordnet sind. Damit immer nur eine Zeichnung sichtbar ist, muss der Zuschauer durch Schlitze sehen, die am Rand einer weiteren Scheibe sind, die sich parallel zur Scheibe mit den Zeichnungen dreht. Durch den Wechsel zwischen Schlitz und Scheibe entsteht der Eindruck einer fortlaufenden Bewegung. Die Sammlungen von Fotos des britischen Fotografen Eadweard Muybridge, die Tiere und Menschen in Bewegung zeigen, werden bis heute von Animationsfilmern und Künstlern für ihre Arbeit genutzt. Muybridge wurde beauftragt, die Unsupported-Transit-Theorie bei Pferden zu beweisen. Die Theorie besagt, dass sich beim galoppierenden Pferd zeitweise alle vier Beine in der Luft befinden. Dafür installierte er 12 Fotoapparate entlang einer Pferderennbahn, die von dem vorbeigaloppierenden Pferd über Zugdrähte ausgelöst wurden und bewies mit seinen Aufnahmen die Theorie. Dieses Projekt wurde das Lebenswerk von Muybridge, der in den folgenden Jahren viele Bewegungsaufnahmen produzierte, etwa von fliegenden Vögeln, rennenden Tieren und Menschen, die viele verschiedene Bewegungsabläufe vorführen. 1879 erfand er das Zoopraxiskop, eine Variation des Praxinoskop von Reynaud, um seine Reihenaufnahmen als eine Art Film einem Publikum präsentieren zu können. Emile Reynaud präsentiert mit seinem »Théâtre Optique« im Jahr 1892 erstmals eine Projektion eines handgezeichneten Filmstreifens, bevor die Brüder Lumière drei Jahre später die erste »fotografische« Filmprojektion vorstellen. 159 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Heute haben sich die Erscheinungsformen von Animation auf viele Bereiche der Kunst, der Unterhaltungsindustrie und des Alltags ausgebreitet. Seit etwa 1980 ist ein neuerlicher internationaler Boom im Bereich Animationsfilm zu beobachten, der an der Vielzahl neu gegründeter Ausbildungsstätten, Produktionsstudios, Fernsehsender und Animationsfilmfestivals ablesbar ist. Neben einer Renaissance der klassischen handwerklichen Animationstechniken, die durch digitale Aufnahmetechniken weitergeführt und erweitert werden, sind durch Computeranimation völlig neue Möglichkeiten entstanden. In der zeitgenössischen bildenden Kunst tritt Animation in den unterschiedlichsten Formen auf – von Internetkunst bis zur interaktiven Installation. Im Alltag begegnen wir Animation immer öfter in Form von bewegten Bilderfolgen, die die sprachliche Mitteilung ersetzen, etwa auf Handy- oder großflächigen Hinweis- und WerbeDisplays. In den vergangenen Jahren hat sich eine ausgeprägte Kultur des narrativen Trickfilms entwickelt. Auch wenn sich Produktionstechniken und Verbreitungswege inzwischen explosionsartig erweitert haben – die Fähigkeit, Geschichten mit animierten Bildern zu erzählen, ist unabhängig von der technischen Entwicklung und bereits mit einfachen Mitteln möglich.
Klassifizierung von Trickfilmen Die große Vielfalt moderner Animation reicht von der digitalen Produktionsweise bis zu experimentellen Techniken, interaktiven Erzählformen und transmedialer Verbreitung. Die technischen Möglichkeiten des Animationsfilmes expandieren permanent. Prinzipiell lassen sich zwei verschiedene Arten von Trickfilmen oder Animationen voneinander unterscheiden: die 2D- oder die 3D-Animationen. Die 2D-Animation ist die Kurzform für zweidimensionale Animation und der Sammelbegriff für alle »flachen« Animationstechniken wie Legetrickfilm, Flachfigurenfilm, Silhouettenfilm, Zeichentrickfilm usw. Der Begriff steht für Animation in der Ebene. Der Begriff 3DAnimation wird meist auch als Überbegriff in der Abgrenzung zur 2D-Animation für räumliche Animationen mit Figuren und Körpern verwendet. Hierbei stellt die Stop-Motion- oder Objekt-Animation die älteste und einfachste Form der Animation dar. Sie umfasst eine Filmtechnik, in der einzelne Bilder (Frames) von unbewegten Moti160 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ven aufgenommen und anschließend aneinandergereiht werden. Bei der Stop-Motion-Technik werden Objekte animiert, indem sie für jedes einzelne Bild des Filmes immer nur geringfügig verändert werden. In diesem Bereich unterscheidet man: • Brickfilme, bei denen sämtliche Figuren und Kulissen aus Legosteinen zusammengesetzt werden. • Pixilation, bei der die Schauspieler genauso einzelbildweise abfotografiert werden wie Objekte. • Collagefilme, bei denen beliebige Materialien unter der Kamera zu bewegten Bildern zusammengesetzt werden. • Knetanimation oder Claymation, bei der Figuren im Stop-Motion-Verfahren einzelbildweise animiert werden. Die Figuren können so ausdrucksreich agieren, Metamorphosen durchmachen und physikalisch Unmögliches tun. • Puppentrickfilme, in denen die »Skelette« der Puppen meist aus metallenen oder stählernen Kugelgelenkarmaturen bestehen. Darüber hinaus können aber auch Puppen mit Drahtskelett sowie Knetfiguren verwendet werden. Wichtig ist dabei, dass die Gelenke der Puppen dem Animator genügend Freiheit lassen, um alle Bewegungen relativ naturgetreu ausführen zu können. Gleichzeitig muss aber auch sichergestellt sein, dass sie bei jeder Aufnahme so stehen bleiben, wie sie eingestellt sind, sich also die Position der einzelnen Gliedmaßen nicht zu stark verändert. Nach jeder Aufnahme muss die Haltung der Figur minimal in Richtung der gewünschten Gesamtbewegung verändert werden. Um diesen ohnehin schon sehr langwierigen Prozess nicht noch länger zu gestalten, werden die Puppen oft mit Stiften oder Schrauben fixiert, um nicht umzufallen. Einen besonderen Vorteil bietet diese Animationstechnik durch die Möglichkeit der beliebigen Positionierung der Kamera sowie die Ausführung von Schwenks, Kamerafahrten oder Zooms. • Bei der Cutout-Animation werden ausgeschnittene Objekte aus Materialien wie Papier, Pappe, Stoff oder Photographien zu beweglichen Szenarien gelegt und mittels Stop-Motion animiert. Das berühmteste Verfahren, das auf dem Ausschneiden basiert, ist der Silhouettenfilm. In den meisten anderen Formen, die oft an Techniken der Collage erinnern, geht es weniger um die Eleganz und Flüssigkeit der Bewegung, sondern gerade darum, die Unbeweglichkeit der Grundelemente der Animation, ihr Ausgeschnittensein auszustellen. 161 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Bei der Erstellung eines Sand-Animationsfilms werden auf einer von vorne oder hinten beleuchteten Glasplatte oder einem Leuchttisch einzelne Bilder aus Sand erstellt. Diese Einzelbilder werden aufgenommen und später zu einer Filmsequenz zusammengesetzt. Die Wahl der Technik kann den räumlichen Gegebenheiten und der Ausstattung angepasst werden und richtet sich nicht zuletzt auch an den Entwicklungsstand und den Vorlieben der Klienten im kunsttherapeutischen Setting. Egal welche Technik man wählt, ein Trickfilmprojekt enthält immer klar gegliederte Arbeitsschritte, die einen strukturgebenden Rahmen bieten, innerhalb dessen ein großer Freiraum zur individuellen Gestaltung und kreativ vielfältigem Ausdruck besteht. •
Kunsttherapie und Trickfilm Obgleich unsere visuellen Erfahrungen primär Bilderfahrungen sind und das Fernsehbild, der Bildschirm von Computer, Laptop, I-Pad, Handy und Kinobild weitgehend unsere heutige visuelle Kultur bestimmen, ist eine Einführung in die Trickfilmarbeit notwendig, um den Akteuren das notwendige Handwerkzeug zu vermitteln, um ihren Gedanken, Ideen, Gefühlen, Wünschen etc. filmisch Ausdruck verleihen zu können. Vor allem Kindern ist nicht bewusst, dass durch das Erstellen und Anzeigen von Einzelbildern in einer sequenziellen Abfolge ein bewegtes Bild erzeugt wird. Die profunde Kenntnis über filmische Ausdrucksmöglichkeiten ist unverzichtbar, um die Konstrukthaftigkeit medialer Darstellungen aufzeigen und für einen bewussten Umgang mit filmischen Angeboten sensibilisieren zu können. Trickfilm als Praktik wurde in kunstpädagogischen Zusammenhängen schon vielerorts thematisiert und dabei zahlreiche Anregungen für die Umsetzung von Trickfilmarbeit im (Kunst-)Unterricht vermittelt (vgl. Kaiser 2011). Animierte Bilder sind jedoch nicht nur thematisch und didaktisch nutzbare Unterrichtsmittel – sie sind vor allem Ausdrucksmedien mit spezifischen ästhetischen und kommunikativen Möglichkeiten, die in therapeutischen Kontexten facettenreiche Möglichkeiten bieten. Während der Schwerpunkt in kunstpädagogischen Zusammenhängen auf der unterrichtsbezogenen 162 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Praktikabilität liegt, fehlt es aus Perspektive der Kunsttherapie noch an Wirksamkeitsstudien, die den Trickfilm als geeignete Methode beschreiben und erläutern. Als rezeptive Methode wird der Trickfilm bereits wirksam genutzt. So haben britische Forscher von der Universität Cambridge mit speziellen Trickfilmen außergewöhnliche Erfolge in der Therapie von autistischen Kindern erzielen können. Durch die Filme konnte erreicht werden, dass die Kinder eine verbesserte Wahrnehmung und Einordnung von Gefühlen entwickeln konnten (vgl. Baron-Cohen, 2007). Der generelle Gebrauch von digitalen Medien innerhalb der Kunsttherapie wird erstmalig in den 1980er Jahren von Weinberg (1985) und Canter (1987) beschrieben. Weinberg hatte damals herausgefunden, dass Patienten, die körperlich eingeschränkt sind (querschnittsgelähmte Patienten), von Kunsttherapie mit Computern profitieren, da nur ein minimaler physischer Aufwand notwendig ist, um z. B. eine Maus zu bewegen (Parker-Bell 2005). Bis heute werden Experimente und der Einsatz von neuen Medien in der Therapie von einigen Kunsttherapeuten kritisch beäugt. Sie sind der Meinung, dass sich Kunsttherapie auf Malen, Zeichnen und Modellieren beschränken sollte, da Klienten bereits technologisch überflutet seien. Der traditionelle Kunstprozess biete einen sensorischen Beitrag, den die digitalen Medien nicht leisten können (Orr, 2012). McNiff (1999) beschreibt die Grenzen der digitalen Kunsttherapie; so fehlen beim ausschließlich digitalen Vorgehen das Riechen des Materials und die Möglichkeit, physisch auf alle möglichen Materialen einzuwirken, weshalb, laut ihm, die digitale Kunsttherapie die dreidimensionale Präsenz von etwas, das tatsächlich gemacht wird, nie ersetzen wird. In der Trickfilmerstellung kann künstlerisches Material mit dessen Animierung den kunsttherapeutischen Handlungsspielraum erweitern, ersetzt dabei aber nicht die klassischen Materialien (McNiff 1999), sondern bezieht diese in der Vorbereitung von Bühnenbild, Erstellung der Protagonisten etc. mit ein, was sich von einem rein digitalen Arbeiten unterscheidet. Bilder und Skulpturen sind innerhalb der Kunsttherapie ein verbreitetes Kommunikationsmedium, denen in der Methode Trickfilm eine erweiterte Bedeutung zugesprochen werden kann. Aus dem aktiven, partizipatorischen Umgang mit verschiedenen Medien entsteht in einem weiteren Schritt mittels Animation im Trickfilm ein neues Medium. Der Animationsfilm, dessen Wurzeln im ursprünglichen Ausdrucksmittel des gezeichne163 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ten Bildes liegen, erlaubt einen spielerischen Einstieg in die Welt des Erzählens von lebensrelevanten Themen und ermuntert zur Eigeninitiative. Vorteile mit digitalen Medien können auch in der Praktikabilität gesehen werden, da digitales Material nicht viel Platz einnimmt und sich eine große Anzahl von Werken auf kleinstem (digitalen) Raum aufbewahren lässt. Beim digitalen Arbeiten ist es zudem möglich, verschiedene Arbeitsschritte abzuspeichern. Das ursprüngliche Bild bleibt erhalten, während es in verschiedenen Programmen durch Veränderung des Hintergrundes, Schattierungen, etc. bearbeitet werden kann. Die gespeicherten Arbeitsschritte liefern wichtiges Material für den therapeutischen Prozess, der in den verschiedenen Stadien abgebildet und gespeichert wurde (McNiff 1999). Auch Fehler sind weniger tragisch, da sie rückgängig gemacht werden können, bzw. das Bild in Etappen abgespeichert wurde. Es ist möglich, schnell verschiedene Versionen eines Bildes zu erschaffen. Der Patient kann dann entscheiden, welches der Bilder am ehesten das wiedergibt, was er ausdrücken will. Diese Punkte ermöglichen ein freieres Arbeiten, da man zum Experimentieren eingeladen wird (McNiff 1999; Parker-Bell 2005). Nicht zuletzt stärkt es das Selbstvertrauen, wenn ein Klient ein Software-Programm neu erlernt und die Erfahrung macht, damit gut umgehen zu können. In der kunsttherapeutischen Fachliteratur wird der Gebrauch von digitalen Medien bis heute noch wenig thematisiert. Bei online-Recherchen trifft man jedoch zunehmend auf Beiträge, in welchen Tablets o. ä. als Instrumentarium innerhalb der Kunsttherapie dargestellt werden. Bridget Pemberton Smith (2012), eine amerikanische Kunsttherapeutin, beschreibt ihre Arbeit mit iPads in ihrer Arbeit mit Kindern in Krankenhäusern sowie Vorteile im hygienischen Gebrauch und der leichten Transportierbarkeit. Cathy Malchiodi (2000) beschreibt das Arbeiten mit Tablet und Touchscreen als sehr gut geeignet für Menschen mit Autismus. Im autoethnografischen Selbstversuch hat Janetta Robard (2012) das iPad als passendes Medium zum kreativen Ausdruck für die Kunsttherapie erprobt. Aus dem Bereich der Palliativversorgung fasst Michele Wood (2015) die Möglichkeiten der digitalen Kunsttherapie in einem Erfahrungsbericht zusammen.
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Trickfilm als kunsttherapeutische Methode
Animierte Bilder als Ausdrucksmedium innerhalb der Kunsttherapie Filme spielen eine wesentliche Rolle im Freizeitverhalten von Kindern und Jugendlichen, sie beeinflussen massiv ihre Sicht auf die eigene Erlebniswelt. Animationsfilme eröffnen Kindern meist den Zugang zum Film. In oft einfachen Formen reduziert sich die komplexe Welt auf ihr Minimum, gleichzeitig sind die fantastischen Möglichkeiten des Mediums unbegrenzt. Wie im heimischen Kinderspielzimmer entstehen aus wenigen Formen und Figuren wundersame Welten, die das Kind spielend begreifen und in der eigenen Fantasie weiterentwickeln kann. Das Kind als Regisseur kann bewusst mit jedem einzelnen Bild der Filmsekunden arbeiten. Dabei gibt es unendliche Möglichkeiten, durch verschiedene Techniken Gedanken, Wünsche, Ideen und Erlebnisse darzustellen. Trickfilme ermöglichen erweiterte Erzählstrukturen; neben klaren, reduzierten Visualisierungen besteht die Möglichkeit, assoziativ vorzugehen: Verschiedene (Sinn-)Ebenen lassen sich verweben und eröffnen dabei ungewohnte Perspektiven auf komplexe Zusammenhänge, die sich inhaltlich auf wenige Sekunden/Minuten konzentrieren. Die kreative Auseinandersetzung mit bildnerischen Medien geht zurück auf das kindliche Spiel, das eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung des Kindes ist. Neurobiologische Erkenntnisse belegen, dass das Spiel für die emotionale und kognitive Entwicklung eines Kindes enorm wichtig ist (vgl. Zimpel 2012). Die Animation im Trickfilm verwandelt das eigene Bild in eine Bühne. Sie eröffnet so einen Handlungs- und Erzählraum, der als Funktion des Bildes meist mit Beginn der Adoleszenz zugunsten der Übernahme einer konventionalisierten Bildsprache in den Hintergrund tritt. Das Medium Trickfilm ermöglicht es, intensiv in narrativen Strukturen an persönlichen Themen zu arbeiten. Aufgrund des stark kontrollierten technischen Aspekts bei der Filmherstellung kann immer wieder eine schützende Distanzierung hergestellt und dadurch auch hoch bedeutsame Inhalte auf der Bühne des Filmsets zugelassen werden. Der Trickfilmer kann seiner Kreativität freien Lauf lassen, alles darstellen und sogar Gesetzmäßigkeiten verändern. Er ist in der Lage, sich über Raum und Zeit hinwegzusetzen, neue Formen und Bewegungen zu bestimmen und damit Dinge wahr zu machen, die in der Realität unmöglich sind. Produzieren Kinder einen Trickfilm, können sie reale oder fantastische Ideen und abenteuerliche Geschichten zum 165 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Leben erwecken und dabei im Produktionsprozess ihre jeweiligen Fähigkeiten einsetzen und entdecken: Die einen haben Ressourcen für das Bauen von Figuren, Hintergründen und Requisiten, andere begeistern sich für die Aufzeichnung von Dialogen, Musik und Geräuschen. Kindern fällt der Umgang mit der Technik viel leichter als manch einem Erwachsenen, der nicht so selbstverständlich mit einem Equipment zur Herstellung wie einem Handy oder Tablet aufgewachsen ist. Trickfilmarbeit erfordert auch Konzentration und Ausdauer. Es benötigt viele Schritte bis zur Fertigstellung. In der Arbeit innerhalb einer Gruppe können, anders als beim Realfilm, bei der Trickfilmproduktion die Rollen jederzeit getauscht werden, sodass die Kinder alle Arbeitsbereiche ausprobieren können. Sie machen außerdem die wichtige Erfahrung, dass der Film besonders schnell wächst, wenn alle mitdenken und zusammenarbeiten. Dies fördert das soziale Miteinander. Der Zeitbedarf für ein Trickfilmprojekt lässt sich an die Rahmenbedingungen anpassen und flexibel gestalten. Er bemisst sich unter anderem daran, ob man vorgefertigte Texte oder selbst entwickelte Geschichten als Grundlage verwendet, wie aufwendig Hintergründe und Figuren gestaltet werden, wie lang das Endprodukt werden soll und auf welche Weise die Nachvertonung durchgeführt wird. Die unterschiedlichen mit der Produktion verbundenen Schritte können arbeitsteilig ausgeführt und erteilt werden, oder auch von einer Person erfolgen. Ein Trickfilm ist für alle Altersstufen geeignet – bereits im Vorschulalter lässt sich diese Methode ein- und umsetzen. In der Produktion lässt ein Trickfilmprojekt viel Freiraum und kann daher auf unterschiedliche Entwicklungsniveaus angepasst werden. So kann beispielsweise bei der Entwicklung der Handlung, der Gestaltung der Figuren und Hintergründe, der Länge des Films und der Nachvertonung variiert werden, sodass ein mehr oder weniger komplexes Produkt entsteht. Bilder in Bewegung machen sichtbar, was ansonsten oft unerkannt bleibt. Sie spiegeln Emotionen, regulieren Gefühle, verdeutlichen Geschehenes oder verhelfen, neue Perspektiven einzunehmen. Es offenbart sich ein tröstender Beziehungsraum mit Erlebnissen von Verstanden- und Ernst-genommen-Werden. In der Arbeit an einzelnen Bildsequenzen werden im kreativen Prozess Aspekte der eigenen Persönlichkeit und Biographie sowie individuelle Erwartungen und Konflikte sichtbar, erfahrbar und damit auch veränderbar. »Bildnerische Prozesse erneuern beschädigte Handlungskompetenz, verbinden
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Erinnerungen zu kohärenten Sinneseinheiten und dokumentieren biografische Wendepunkte« (Reichelt, 2016, 9). In der Annäherung des Trickfilms als aktive Methode der Kunsttherapie dienen Bezüge zu Bildtheorien (vgl. Sinapius et al. 2010, Tietze, 2006) und zum Einsatz von Fotografie in der Therapie (vgl. Heine et al. 2009). Während in einzelnen Bildern Bewegung durch Farbe, Struktur oder Elemente dargestellt werden kann, bietet sich im Trickfilm ein erweiterter Handlungsspielraum der bewegenden Erzählung. Der Blick auf die sogenannten narrativen Methoden der Kunsttherapie (vgl. Schneider 2009) bietet hierfür weitere Anhaltspunkte. Narrative Kunsttherapie gilt als innovative therapeutische Variante, die über Bild-Geschichten Identitätsarbeit und Salutogenese fördert. Für das Narrative bietet sich in der Methode des Trickfilms darüber hinaus die besondere Qualität, dass Bewegung in Form von Bildfolgen ausgedrückt werden kann. Zum Erzählen der Geschichte bietet sich die Wahlmöglichkeit aus den Aktivitäten Zeichnen, Bauen, Kneten, Ausschneiden, Legen, Positionieren sowie digitaler Bildbearbeitung. Die Komponente der Zeitachse erlaubt es zudem, die Zeitebenen Vergangenheit, Präsens und Zukunft zusammenhängend als Einheit darzustellen. Weitere Quellen der bildenden Kunst für den Animationsfilm sind neben dem Bild unter anderem vielfältige Collagemöglichkeiten im zweidimensionalen Bereich, Bildhauerei und Schauspielerei. Der Animationsfilm als nonverbale Mitteilung spricht eine international verständliche Sprache mit einem breiten Spektrum verschiedener Techniken – von Zeichen- und Legetrick über die Modell-Animation hin zur Animation am PC. Alle klassischen Animationstechniken können heute kostensparend und effektiv mit einer digitalen Kamera oder einem Scanner, einem Computer, Mobiltelefon oder Tablet und der passenden Software aufgezeichnet werden. Entsprechend der Ressourcen und Vorlieben eines einzelnen kann dementsprechend eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden werden, die eher bildnerisch oder dreidimensional ist. Ob man eigenes Material herstellt oder auch auf vorgefertigtes zurückgreift, Trickfilm bietet die Handhabe, aus statischen Bildern eine organische und flüssige Szene entstehen zu lassen, indem Figuren, Materialien und Gegenständen durch kleine Veränderungen Leben eingehaucht wird. In dem Prozess, aus dem vielfältigen Themenmaterial eine Szene zu gestalten, lassen sich Verbindungen zur Spieltherapie herstellen (vgl. Simon 2013). Eigene Probleme können mit Abstand betrachtet und verschiedene Lösungsstrategien erprobt werden. Als erweiterte Er167 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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zählstruktur bietet der Trickfilm interaktive Erzählformen und verwebt verschiedene (Sinn-)Ebenen, die nach Belieben auch vertont werden können. Neben vorgefertigten Geräuschen, Klängen oder Melodien können solche auch eigens komponiert werden und in Untermalung der Bilder deren Aussage und Stimmungen hervorheben. Hierdurch eröffnen sich ungewohnte Perspektiven auf komplexe Zusammenhänge, die es dem Regisseur (Klienten) im therapeutischen Prozess ermöglichen, assoziativ vorzugehen, und machen den Trickfilm zu einem idealen Ausdrucks- und Kommunikationsmittel im therapeutischen Setting. Das Arbeiten an einem Trickfilm hat positive Auswirkungen auf die grob- und feinmotorische Koordination, fördert eine Wahrnehmungsdifferenzierung, Kognition und Ausdrucksvermögen und schult darüber hinaus die Handlungskompetenz. Dabei nimmt die Begleitung und Intervention des Kunsttherapeuten einen wichtigen Raum ein, um den Klienten zur Erreichung eines seelischen und körperlichen Gleichgewichtes zu unterstützen. Er erschafft eine Arbeitsatmosphäre, in welcher der Wunsch, künstlerisch zu arbeiten, über allen anderen Interessen steht und regt den Klienten zu bildnerischen oder dreidimensionalen Ausdruck an, erkennt und fördert dabei die Kreativität und die schöpferischen Fähigkeiten und Anlagen der Person, um gleichzeitig zu wissen, wann er welche Art von Material oder technischer Unterstützung anbieten muss, wann er Anregungen geben oder aktiv helfen oder sich zurückhalten muss. Das verlangt, dass der Therapeut sich mit dem Medium und der Technik zur Trickfilmerschaffung auskennt. Im Trickfilmemachen bieten sich neue Zugänge zum eigenen künstlerischen Gestalten und neue Formen des Ergründens und Bearbeitens innerer Spannungen und Konflikte, wie es in der folgenden Projektskizzierung deutlich wird.
Das Projekt Sichtweise Sichtweise ist ein künstlerisch-kunsttherapeutisch ausgerichtetes Projekt vom Atelier artig in Köln mit vornehmlich präventivem Charakter für Kinder und Jugendliche, die von einer plötzlichen Behinderung eines Elternteils nach Unfall oder Krankheit betroffen sind (vgl. http://www.kunststueck-familie.de/?p=1). Aufgrund dieses un168 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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vorhergesehenen Lebensereignisses stehen Kinder unter enormer Belastung. Für alle Familienmitglieder kann dies ein traumatisches Ereignis sein, das mit starken Ängsten, existenziellen Sorgen und Schuldgefühlen verbunden ist. Besonders betroffen sind dabei Kinder, die neben den Verlustängsten und der Verunsicherung über die Behinderung eines Elternteils auch die Not, Betroffenheit und den Stress des gesunden Elternteils erfahren, der sich auf einmal um viele alltagspraktische Familienangelegenheiten alleine kümmern muss. Aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das weitere gesunde Aufwachsen eines Kindes durch eine derart gravierende Situation stark beeinflusst und eine therapeutische Unterstützung ratsam. Nicht selten sind Auffälligkeiten in den Bereichen Verhalten, Lernen und Leistung, Körper und Motorik sowie der mentalen Entwicklung Ausdruck solch kritischer Lebensereignisse. Die aktive Auseinandersetzung mit Stressoren und Anforderungen erfordert Handlungskompetenzen, die abhängig sind von individuellen, sozialen und materiellen Ressourcen. Zu den individuellen Ressourcen zählen neben relevanten Persönlichkeitseigenschaften emotionale, kognitive und handlungsbezogene Kompetenzen ebenso wie psychische und physische Konditionen. Reicht das Verhaltensrepertoire nicht aus, um produktiv mit den Anforderungen umzugehen, kann es zu Überforderungen kommen. »Leiderfahrungen sind für jedes Kind in seiner Eigenart, in seiner Lebensgeschichte und Zeitepoche einmalig« (Friebel 1982, 10), deshalb verbietet sich eine Bewertung im Sinne von mehr oder weniger Leid aufgrund der subjektiven Empfindung des einzelnen. Jedes Kind braucht darum einen individuellen Blick auf seine Stärken, seine Strategien und seine Lebenswelt und auch eine individuell ausgerichtete kunsttherapeutische Unterstützung. Das Projekt Sichtweise bietet individuelle Möglichkeiten zur Entlastung und Verarbeitung der neuen Lebenssituation. Unter professioneller Anleitung von zwei Kunsttherapeuten können sich die betroffenen Jungen und Mädchen im halboffenen Kleingruppensetting ressourcenorientiert mit dem sie belastenden Thema aktiv auseinandersetzen. Zimbel (2012) postuliert, dass Kinder Zeiten des Spielens und des Quatsch-Machens brauchen. Es sind damit unbeschwerte Zeiten des Miteinanders gemeint, angenehme Momente, in denen die Betroffenen die Möglichkeit haben, Gefühlen der Verzweiflung, des Niedergeschlagen-Seins, der Ohnmacht, Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit ausdrücken können und trotz der Krise im Schmieden 169 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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von Zukunftsplänen und im nach vorne gerichteten Blick Erleichterung und Zuversicht erfahren. Im Schutze des kunsttherapeutischen Ateliers bietet sich Raum für alltägliche Sorgen und Freuden, Zeit zum Trauern, Weinen, Lachen, Spielen und Experimentieren, wofür angesichts der schweren, möglicherweise tödlichen Krankheit oft kein Platz im Familienalltag bleibt. Regelmäßig triff sich eine sechs- bis achtköpfige Gruppe von Betroffenen im Schutzraum des Ateliers. Sie erhalten hier die Möglichkeit, Abstand vom Alltag zu gewinnen und durch künstlerischen Ausdruck neue Bewältigungsstrategien zu erlernen. Hinter diesem Projekt steht die zentrale Annahme, dass die Kinder durch eine Teilnahme an den kunsttherapeutischen Sitzungen langfristig in ihrer psychischen Widerstandsfähigkeit gestärkt werden. Kreativität ist ein wichtiges Element zur Entwicklung von Resilienz. Das bedeutet, dass Kinder einerseits durch kreative Prozesse Resilienz, andererseits aber auch durch Herausforderungen kreative Kompetenz entwickeln können, wenn sie Unterstützung darin erfahren, eigene Problemlösungsmöglichkeiten zu suchen, zu finden und anzuwenden. Die Methode Trickfilm bietet den 7- bis 14-jährigen Projektteilnehmern die Möglichkeit, sich altersgerecht frei entfalten zu können, Erleichterung in diese enorme Belastungssituation zu bringen und eine gesunde Verarbeitung anzubahnen. Hierzu gehört neben Erinnerungsarbeit (vgl. Abb. 1) auch eine Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt, mit Wünschen für die Zukunft oder einer Bewusstseinsentwicklung für die Gegenwart. Im Vordergrund stehen die Stärkung der Eigenkompetenzen und die Unterstützung der Selbstbefähigung. Erlebte Ohnmacht kann in der kreativen Arbeit mit bewegten Bildern mittels Stop Motion aufgelöst werden und in Eigenaktivität münden. Zur Umsetzung des Trickfilms werden den Kindern ansprechende auffordernde Materialien zur Verfügung gestellt, die mittels unterschiedlicher Techniken (s. o.) animiert werden können. Bewusste und unbewusste Gefühle, Gedanken und Fantasien können so nach außen auf eine Bildfolge projiziert werden. Auf diese Art kann ein distanzierter Standpunkt eingenommen und Konflikte können deutlicher wahrgenommen werden. Die anleitende Therapeutin hat dabei sowohl die Förderung der Ressourcen des einzelnen im Blick als auch die Auswahl der Interventionen für die Gruppe. Die Arbeit in der Gruppe mit anderen, die ein ähnliches Schicksal erleben, ist für die Betroffenen befreiend, da sie erleben, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Sie haben die 170 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Möglichkeit, ihre Gefühle und Erfahrungen rund um die Verunfallung bzw. Erkrankung des Elternteils nach außen zu transportieren, ohne darüber sprechen zu müssen (vgl. Abb. 2). Das Kind stellt die Szene dar, als zwei Polizisten nach Hause kommen und vom Motorradunfall des Vaters berichten. Dieses »nach außen bringen« und »der Erfahrung gegenüber stehen« verschafft Erleichterung und bringt inneren emotionalen Abstand zum Geschehen. Verdrängtes kann so allmählich offengelegt und bearbeitet werden. Das Tempo wird vom einzelnen Projektteilnehmer in doppelter Hinsicht bestimmt. Zum einen bezogen auf die thematische Darstellung, zum anderen bezogen auf die Geschwindigkeit der Abfolge der Bilder für den daraus entstehende Trickfilm. Insbesondere die Möglichkeit, verschiedene Zeitebenen im Trickfilm darzustellen, bietet eine Zukunftsorientiertheit, was Personen, die sich in einer stark belastenden Lebensphase befinden, Zuversicht und Mut geben kann (vgl. Abb. 3). Ein betroffenes Mädchen stellt hier ihren Wunsch dar, noch einmal nach Teneriffa in den Urlaub zu fahren, so, wie sie es gemeinsam als Familie vor dem Unfall des Vaters getan hatten. Die aktuelle Belastungssituation überschattet häufig Erfahrungen, die vor dem Ereignis stattgefunden haben und verhindert unbeschwerte, an die Zukunft gerichtete Wünsche. In der unmittelbaren thematischen Auseinandersetzung mit dem belastenden Lebensereignis wie dem Unfall oder der Erkrankung eines Elternteils ergibt sich die Möglichkeit, das Erlebte zu reflektieren und gleichsam seine eigene Sicht der Dinge öffentlich darzustellen. Kinder reagieren mit Überforderung, wenn sie unter Bedingungen leben müssen, die ihre eigenen Möglichkeiten übersteigen. Für das Kind ist manches Verhalten, das Erwachsene vielleicht als auffällig beschreiben, eine intuitive Lösung, um eine schwierige, sie belastende Situation zu bewältigen. Kinder offenbaren sich in besonderen Verhaltensweisen; im Spiel, im Malen und Zeichnen, in Bewegungsaktivitäten und durch Erzählungen in ihrer altersentsprechenden Sprache. Kinder sind aufgrund von unbewältigten bzw. chronischen Leiderfahrungen häufig konfrontiert mit Gefühlen der Einsamkeit und des Ausgeliefert-Seins, mit emotionaler Verschlossenheit und mit sozialem Misstrauen. Belastungen wirken sich darüber hinaus in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien verschieden aus und zeigen sich in mannigfachen Ausdrucksformen. Körperbezogene Überreaktionen wie Bauch- oder Kopfschmerzen können die Folge sein 171 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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(vgl. Butterwegge et al. 2008). Auch Albträume gehören zu den Problemen, von denen Kindern in Zeiten der Krise häufig berichten. Sie träumen z. B. von schrecklich ausweglosen Situationen, denen sie passiv ausgeliefert sind (vgl. Abb. 4–6). Das 9-jährige Mädchen träumt häufig von einem Maulwurf, der sie nachts aus dem Bett unter die Erde in dunkle Gänge zieht, in denen sie diesem machtlos gegenübersteht. Diesen Albtraum als Filmsequenz darzustellen erlaubt es ihr, in seine Handlungsfolge einzugreifen und das Geschehen positiv umzuwandeln, den Maulwurf zu besiegen und sich damit selber zu helfen und die Situation zu beherrschen. Der erlebten Ausweglosigkeit im Traum wird damit entgegengewirkt, die Angst vor dem Schlafengehen gemildert. Am Anfang der Trickfilmumsetzung standen die Ideenfindung und die Entwicklung des Storyboards, nach dem sich die Herstellung der Figuren, Hintergründe, Requisiten etc. ausrichtete. Die Teilnehmer haben sich dabei darauf geeinigt, anhand einer Geschichte darzustellen, was sie jeweils an Ereignissen, Gefühlen etc. erlebt haben. Die Geschichte zweier Geschwister, deren Vater nach einem Motorradunfall querschnittsgelähmt ist, steht dabei stellvertretend für die Erfahrungen aller Betroffenen. Diese Vorgehensweise erlaubte eine entlastende Gruppenarbeit und einen Rückzug in Einzelarbeit im Gruppensetting. Nach der Herstellung der einzelnen Protagonisten, Requisiten und Hintergründe erfolgte das Fotografieren der Szenen, die mit Sprachaufnahmen und Musik von der Gruppe nachvertont und nach Sichtung bzw. Reflexion an einzelnen Stellen noch einmal überarbeitet, verändert und ergänzt wurden. Bewegte Bilder sprechen, wo Worte fehlen, vermögen es unbewusste Konflikte sichtbar zu machen und verarbeiten zu können. Der Film spricht für sich: https://www.youtube.com/watch?v=Qsh5z XfnXkk.
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Trickfilm als kunsttherapeutische Methode
Abbildungen
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Rabea Müller
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Trickfilm als kunsttherapeutische Methode
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III. Künstlerische Therapien in schulischen Einrichtungen
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Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme zur Persönlichkeitsentwicklung an einer Grundschule Abstract: Nach wie vor sehen sich Regelschulen wegen fehlender personeller, räumlicher und sachlicher Ressourcen vor dem Dilemma, Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten inklusiv zu beschulen und ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Folgender Artikel möchte diesem Dilemma unterstützend und klärend zur Seite stehen, indem über die Sinnhaftigkeit von Sozial- und Heilpädagogischer Kunsttherapie an Schulen nachgedacht wird. Im Best-Practice-Format wird Kunsttherapie als praktische und forschungsbasierte Arbeit mit integrierten themenspezifischen Gruppenprojekten vorgestellt und diskutiert, wobei sich der Forschungszeitraum über ein Schuljahr erstreckt. In diesem Artikel wird zum einen die im Gruppensetting stattfindende Projektarbeit »Eigene Welt gestalten – die schwarzen Flecken« und zum anderen das Einzelsetting »Exemplarisches Fallbeispiel zur Förderung von Selbstwirksamkeit und zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes mittels ästhetisch-gestalterischen Handelns« näher beschrieben.
Vorstellung und Setting der heilpädagogischkunsttherapeutischen Präventionsmaßnahme Ausgehend von der Schulbegleitforschung in Bremen von Frau Prof. Dr. Ruth Hampe wurde in Freiburg ein Schulprojekt in Kooperation mit einer Jugendbegegnungsstätte und der Katholischen Hochschule Freiburg, die die wissenschaftliche Begleitung übernimmt und PraktikantInnen stellt, initiiert. Seit dem Schuljahr 2007/2008 besteht diese heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme für Kinder an einer Ganztagesgrundschule. Sie wird durch den Landesjugendplan Baden Württemberg, durch das Amt für Schule und Bildung der Stadt Freiburg, verschiedene Sponsoren und private Spender finanziell unterstützt. Es bestehen zwei Gruppen mit je sechs Kindern, die in Zweit- und Drittklässler und Dritt- und Viertklässler aufgeteilt sind. Sie treffen sich während eines Schuljahres regelmäßig 181 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
einmal pro Woche für eineinhalb Stunden. Wird bei einem Kind ein anhaltend hoher Bedarf festgestellt, kann es ein weiteres Schuljahr teilnehmen. Die Auswahl der Kinder erfolgt durch Vorschläge der LehrerInnen und SchulsozialarbeiterInnen. Dies sind Kinder, die starke seelische Konflikte bewegen wie beispielsweise schwere Krankheit eines Familienmitglieds, psychische Erkrankung eines Elternteils oder erlebte Übergriffshandlungen. Häufig sind multifaktorielle Schwierigkeiten in den Familien anzutreffen. Das Verhalten der Kinder zeigt sich entsprechend durch emotionalen Rückzug oder sehr nach außen agierend mit teils impulsivem, aggressivem Verhalten. Die seelischen Belastungen verhindern oftmals sowohl ein konzentriertes Mitwirken am Unterricht als auch ein Integriertsein in der Klassengemeinschaft. Die vorgeschlagenen Kinder werden zu einer Kurzanamnese eingeladen, bei der sie unter anderem sich selbst bezüglich ihrer familiären Bezüge und ihres Schulalltags einschätzen. Als wesentlicher Bestandteil im menschlichen Miteinander wird außerdem ihr Umgang mit Konflikten und Aggressionen abgefragt. Es sollen möglichst Kinder mit sowohl nach außen gerichteter Aggression als auch aggressionsgehemmte Kinder teilnehmen, die sich idealerweise im Laufe des Schuljahres einander annähern. Im Forschungszeitraum des letzten Schuljahres wurden die Kinder mittels projektiver Tests und Fragebögen getestet, um im Rahmen eines Forschungsprojekts (siehe Beitrag von Ruth Hampe) die Effektivität dieser Maßnahme nachweisen zu können. Die Gruppen werden aufgrund der Kurzanamnesen eingeteilt und zu einem ersten Treffen eingeladen. Aus den Erfahrungen heraus ist eine eigene Motivation der Kinder für die Gruppe und für künstlerisches Gestalten wichtig, sei es, dass sie gerne malen, zeichnen oder tonen oder dass sie die Kleingruppe als Raum für soziale Beziehungen erfahren möchten. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt und ist Bedarf vorhanden, werden nach Möglichkeit Alternativangebote in der Schule oder außerhalb – beispielsweise durch die Jugendbegegnungsstätte – gesucht. Wird das Kind an der Gruppe teilnehmen, bedarf es der schriftlichen Einwilligung seitens der Eltern. Begleitend zu den Gruppenstunden finden Gespräche mit den SchulsozialarbeiterInnen, LehrerInnen und den Eltern statt, um die auftretenden Themen systemisch zu betrachten und anzugehen. Die SchulsozialarbeiterInnen spielen eine bedeutende Rolle im Projekt, da 182 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
sie in der Regel die Kinder und deren Familien kennen und teils in regelmäßigem Kontakt stehen. Im Austausch kann überlegt werden, in welcher Form die durch die kunsttherapeutische Arbeit gewonnenen Erkenntnisse zu den Eltern gelangen, um mit ihnen besprochen zu werden. Die Persönlichkeitsentwicklung ihres Kindes mit dem Verhalten und der Leistung in der Schule in Beziehung zu setzen, kann für die Eltern erstmals ungewohnt sein und Widerstände hervorrufen. Gleichzeitig bietet es jedoch die Chance, gezielt die Themen anzugehen mit der Möglichkeit, dass die LehrerInnen, die SchulsozialarbeiterInnen oder die GruppenleiterInnen die Gespräche allein oder in Kombination mit der jeweiligen Fachrichtung führen. Der kunsttherapeutische Blick auf die Persönlichkeit des Kindes kann hier Verständnis bringen, vermitteln und die Empathie der Eltern für die Befindlichkeiten ihrer Kinder erweitern und dazu beitragen, deren künstlerisches Tun wertzuschätzen. In der Arbeit mit den Kindern steht deren Persönlichkeitsentwicklung im Vordergrund. Grundlegende Ziele sind die Steigerung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens. Zum einen werden heilpädagogische Förderelemente wie Umgang mit dem Material, Strukturbildung, Handlungsplanung, Entwickeln eigener Ideen und Bilder eingebracht, zum anderen erhalten die Kinder Möglichkeiten, mit ihren Gefühlen, Empfindungen und belastenden Erfahrungen in Kontakt zu kommen und sie zu verarbeiten. Das Malen und kreative Gestalten hat auf die Kinder zumeist eine entlastende und entspannende Wirkung. Zudem wird ihr Konzentrations- und Durchhaltevermögen gestärkt und ihre Phantasie- und Vorstellungskraft erweitert. Beim Arbeiten zu zweit oder in der Gruppe werden die Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit gefördert. Durch die gesteigerte Selbst- und Fremdwahrnehmung erhöht sich die Empathie, und das gesamte Projekt ist letztendlich eine Gewaltpräventionsmaßnahme. Die Spannbreite erstreckt sich also zusammenfassend über fördernde Elemente, Erlernen sozialer Kompetenzen bis zum Entfalten der Persönlichkeit. In den Gruppenstunden selbst werden die SchülerInnen zum gemeinsamen Malen, Zeichnen, Plastizieren und Werken angeleitet. Der inhaltliche Ablauf der Gruppe während des Schuljahres beginnt mit dem Gestalten einer eigenen Mappe, in der die persönlichen Bilder gesammelt werden. Anschließend werden Themen wie beispielsweise Musikmalen oder Dialogisches Malen angeboten. Dann teilt sich die Gruppe in diejenigen, die ohne Themenvorgabe in ihren in183 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
dividuellen Prozess gehen können und diejenigen, die Impulse und Hilfestellung benötigen. Im zweiten Schulhalbjahr wird ein Gruppenprojekt initiiert, in dem zu unterschiedlichen Themen wie »unser neuer Planet« oder »Urwald« zuerst jedes Kind einen eigenen sicheren Ort gestaltet und dies dann in der Gruppe zum jeweiligen Thema weiterführt. In diesem Artikel wird das Thema »eigene Welt gestalten – die schwarzen Flecken« beschrieben. Die Abschlussphase zum Schuljahresende hin bietet nochmals Freiraum für persönliche Prozesse. Bis dahin haben sich in der Regel die Beziehungen der Kinder untereinander stabilisiert, sodass die Erwachsenen sich aus der anfangs sehr starken Präsenz zurückziehen können und die Kinder die Stunde zunehmend eigenverantwortlich und konfliktfrei gestalten. Teilweise sind die Kinder derart belastet, dass neben der Gruppe eine heilpädagogisch-kunsttherapeutische Einzelförderung angeboten wird, die unter »Exemplarisches Fallbeispiel zur Förderung von Selbstwirksamkeit und zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes mittels ästhetisch-gestalterischen Handelns« beschrieben wird. In der in diesem Beitrag vorgestellten Gruppe hat ein Junge beispielsweise Adipositas und eine starke Entwicklungsverzögerung im sprachlichen und kognitiven Bereich sowie in der Fein- und Grobmotorik. Er zeigt sehr wenig Eigeninitiative, kann nur rudimentär innere Bilder entwickeln und hat wenig Handlungsplanung. Er ist wiederholt Mobbingopfer in der Schule. Zu Hause beschäftigt er sich vor allem mit Kriegscomputerspielen. Eigene Gestaltungsimpulse zeigt er zu Gruppenbeginn nur zum Thema Essen und Computerspiel. Bei einem weiteren Jungen geht es um Kindeswohlgefährdung und das grundlegende Thema für ihn, einen Platz für sich zu finden und mit seinen Aggressionen umgehen zu lernen, anstelle sich in ständig wiederkehrenden Konflikten auszuagieren. Bei einem der Mädchen hat die Mutter eine Borderline-Erkrankung und das Mädchen selbst eine diagnostizierte Bindungsstörung.
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Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
Projektarbeit »Eigene Welt gestalten – die schwarzen Flecken« (Anja Beier & Thorsten Weber) »Märchen versprechen dem Kind, das den Mut hat, sich auf diese furchterregende, mühevolle Suche zu machen, daß wohlwollende Mächte ihm zu Hilfe kommen werden und daß ihm der Erfolg sicher ist.« (Bettelheim, 2011, S. 32) Kinder lassen sich von Märchen begeistern. Wer kennt das Bild nicht: Fasziniert, mit großen Augen dasitzend und dem Erzähler zuhörend, scheinen sie jedes Wort aufzusaugen und ganz gespannt und erwartungsvoll auf die nächste Szene zu warten. Setzt sich das Kind also mit dem Medium Märchen auseinander, dann erfährt es einen Zugewinn an Fähigkeiten, wenn dem Ansatz zum Erfolg von Bettelheim gefolgt wird. Doch wie definiert sich der Erfolg? Wie zeigt sich der Erfolg im Verhalten und Handeln des Kindes? Und von welchen wohlwollenden Mächten kann hier die Rede sein? Aus der Praxis der heilpädagogisch-kunsttherapeutischen Projektarbeit wird anhand eines Fallbeispiels der »Weltbaukasten« exemplarisch vorgestellt. Den wissenschaftstheoretischen Kontext zu dieser Methode nach Dora Kalff (2017) bietet die analytische Psychologie nach Carl Gustav Jung. Die Arbeit mit dem Weltbaukasten verfolgt das Ziel, die Kinder mit den eigenen bewussten und unbewussten Anteilen in Kontakt treten zu lassen. Diese Aufgabe kommt nach C. G. Jung einer großen Überfahrt durch unbekannte Gewässer gleich. Murray Stein (2015, S. 11) vergleicht dies treffend mit einem Sprung in ein »Meer der Geheimnisse«. Jede Seekarte gilt es neu zu entdecken und zu kartographieren. So wie zwei Menschen auch nie identisch in ihren Vorerfahrungen, ihrer Sozietät, ihrem Verhalten und Denken sind (Stein 2015, S. 16). Das Märchen von Michael Ende (Ende 1979) mit seiner Dramaturgie bietet mit dem Erfolgsbegriff hierzu eine Ermutigungsstruktur. Im Duden wird »Erfolg« als »ein positives Ergebnis einer Bemühung; Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung« beschrieben (Duden.de, 2017). Ausgehend davon, dass Struktur Sicherheit und Orientierung bietet, kann das Schiff erfolgreich gesteuert und eine beabsichtigte Wirkung angestrebt werden. Es werden Voraussetzungen geschaffen, um die eigene Kreativität zu mobilisieren, mit dem Ziel, in stürmischen Zeiten kreative Lösungsansätze generieren zu können und ein bestimmtes und beabsichtigtes Ziel zu erwirken. 185 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
Setting Für das Projekt wurden sechs Sitzungen geplant. Die Kinder hatten innerhalb dieses Zeitraums die Möglichkeit, sich ebenfalls mit anderen Themen zu beschäftigen und Nebenschauplätze zu errichten. Damit wurde antizipierend möglicherweise aufkeimenden und verpflichtenden Auseinandersetzungen mit einer bestimmten Thematik begegnet und in der Weise gelöst, sich auch zurückziehen zu können, um den therapeutisch-gestalterischen Rahmen nicht zu gefährden. Sowohl gruppendynamische Prozesse als auch Individuationsprozesse fanden hierbei besondere Berücksichtigung. Das Streben nach Individuation ist nach Jung der Königsweg und beschreibt das Werden zu einer geeinten und einmaligen Persönlichkeit. Nach Jung besitzt das Streben nach Individuation einen psychologisch imperativen Charakter und ist jeder Person quasi angeboren (Stein 2015, S. 205). Dies lässt sich treffend an dem Beispiel eines zweijährigen Kindes darstellen, das seine Autonomiebestrebungen mit dem Wort »Nein« verdeutlicht. Individuation ist eingebettet in die natürliche Entwicklung des Menschen, entsteht im Moment der Spontanität, mobilisiert die Kreativität und wirkt förderlich auf die Ich-Entwicklung (Stein 2015, S. 206). In diesem Beitrag stehen insbesondere die kreativen Momente der Kinder im Vordergrund der Förderung. Kreativität meint an dieser Stelle das Auf-sich-zurückgeworfen-Sein und das prozesshafte Handeln, welches bedeutet, eigene Strategien einzusetzen und sich gleichzeitig im Kontext der Gruppe zu erleben sowie als Gruppe etwas zu gestalten.
Projektdurchführung Die Gruppe findet sich im Stuhlkreis zusammen. Die Gruppenleiterin, eingekleidet in einem Feenkostüm, ist die Geschichtenerzählerin. Sie bezieht sich auf das Buch »Die Unendliche Geschichte« von Ende. »Es heißt, das NICHTS übt eine unglaubliche Anziehungskraft auf einen aus. Und manche lassen sich sogar absichtlich hineinfallen. Es tut nicht weh, wenn man hineinfällt oder seinen Fuß hineinsteckt. Es ist nur so, dass an der Stelle des hineingesteckten Fußes NICHTS ist. Gleichwohl bedroht das NICHTS Phantasien und deren Herrscherin, die kindliche Kaiserin. Sie ist keine Herrscherin im herrschenden 186 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Sinne. Vielmehr ist sie nur da und das auf eine besondere Art und Weise. Sie ist der Mittelpunkt allen Lebens in Phantasien und sie braucht eure Hilfe, damit Phantasie gerettet werden kann« (Ende 1979). In der Geschichte spielt der auserwählte Held Atréju die Hauptrolle. Der Held, der vor keinen unwegsamen Wegen und lauernden Gefahren zurückschreckt. Er soll einen Weg finden, um die Krankheit der kindlichen Kaiserin zu heilen, die zugleich mit der Vernichtung durch das »Nichts« Phantasiens gekommen ist. Das NICHTS kann mit einer Depression, Rationalität oder auch Phantasielosigkeit beschrieben werden. In der Mitte des Stuhlkreises liegt die Kartonage aus. Diese ist punktuell bemalt und mit schwarzen Flächen versehen und repräsentieren das NICHTS, mit dem es umzugehen gilt. Auf der Kartonage liegen die Materialien bereit. Die Welt ist zerlegt worden in Einzelteile.
Abb. 1: Ausgangszenario mit punktuell bemalten schwarzen Flächen
Abbildung 1 zeigt das Ausgangszenario mit punktuell bemalten schwarzen Flächen. Die einzelnen Kartonstücke sind sternförmig angeordnet. Mittig ist die schwarze Kugel zu sehen. Sie symbolisiert jene dunkle Macht. Jedes Kind nimmt sich die Materialien, die es braucht. Sowohl Acryl-, Pastell- und Aquarellfarben als auch Ton zum Modellieren, verschiedene Stoffreste, Wolle, Schuhkartons und anderes stehen zur Verfügung. Hier geht es um Anbahnung von Kommunikation, Absprachen mit anderen zu treffen und mögliche Konfliktpotenziale einzufangen und zu thematisieren. In den ersten 187 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
Abb. 2: Grüne Fläche mit Pferd, Vögeln und Baumhaus
beiden Sitzungen wird die Möglichkeit, einen eigenen »Startpunkt« in der Geschichte zu finden und einen eigenen Phantasiestrang weiterzuentwickeln, gegeben. Dazu wird jeweils ein eigener Arbeitsplatz mit Tisch und Stuhl zur Verfügung gestellt. Im Folgenden werden die teilnehmenden Kinder, alle Dritt- und Viertklässler, anonymisiert vorgestellt und deren Prozessentwicklung geschildert. Merle gestaltete ihren Phantasiestrang auf der Ebene »Farbgestaltung und Anordnung der Elemente« reduziert. Die Kartonage wurde komplett in der Farbe Grün bemalt. Auf einer schwarzen Fläche steht ein Baum, worin sich ein Baumhaus befindet. Merle lebt mit ihrer Familie in diesem Baumhaus. Beim Arbeiten hatte sie ihr eigenes Tempo. Sie sagte am Ende der letzten Sitzung, dass sie mehr Zeit für dieses Projekt benötigt hätte. Merle hatte den Impuls, spontan weiter zu gestalten. Unter dem kommunikativen gruppendynamischen Aspekt gesehen, nahm Merle eine beobachtende Rolle ein. Gestaltungen der anderen Teilnehmer wurden selten von ihr kommentiert. Gleichzeitig zeigte sie durch ihre ruhige Art stetige Präsenz und großes Interesse in den Feedbackrunden am Ende der Sitzungen. In Abbildung 2 und 3 sind differenziert gestaltete Tiere (Pferd und Vögel) zu sehen. Der Hintergrund wurde komplett mit der Farbe Grün überdeckt. Luisa (siehe »Exemplarisches Fallbeispiel zur Förderung von Selbstwirksamkeit und zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes mittels ästhetisch-gestalterischen Handelns«) gestaltete ihren Phantasie188 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
Abb. 3: Vergrößerter Ausschnitt mit Pferd, Vögeln und Baumhaus
strang auf der Ebene »Farbgestaltung und Anordnung der Elemente« großzügig. Laut Beobachtungsprotokoll zeigte sich Luisa in einer Sitzung – im Vergleich zu früheren Beobachtungen – im Kontakt wenig beeinflusst und unabhängig von Max. Sie ging der Möglichkeit nach, ihre individuelle Kreativität zum Ausdruck zu bringen. Dabei formulierte sie klare Vorstellungen, was ihre inneren Bilder anbelangte, jedoch fiel es ihr sehr schwer, diese eigenständig umzusetzen und konstant bei der Sache zu bleiben. Im direkten Kontakt mit den begleitenden Kunsttherapeuten wirkte sie dagegen sehr offen und teilte ihre Vorstellungen mit. In der folgenden Sitzung wirkte Luisa in ihrer Suche nach Nähe zunächst überschwänglich und im nächsten Moment verschlossen. Sie schien auf Ansprachen nicht zu reagieren und schien wie verhaftet in ihrer eigenen Welt. Beim gestalterischen Arbeiten zeigte sie sich stark ergebnisorientiert. Gleichzeitig folgte sie ihren spontanen Impulsen. In der dritten Sitzung griff Luisa eine Idee aus einem Film auf. Sie baute ein Haus, das von außen mit der Fassade harmlos, von innen aber wie ein Horrorhaus wirkte. Es waren viele Menschen gestorben, 189 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Anja Beier, Solveig Majer & Thorsten Weber
wie sie sagte. Ihre Befindlichkeit beschrieb sie anfangs als fröhlich und gleichzeitig als traurig und wütend, dagegen am Ende der Sitzung als fröhlich. Unter kommunikativem und gruppendynamischem Aspekt gesehen, zeigte Luisa inkonsistentes Verhalten. Einerseits brachte sich Luisa in den Feedbackrunden engagiert ein und stellte viele Fragen zu den Gestaltungen der anderen. Andererseits wollte sie vereinzelt vor den Feedbackrunden die Sitzung verlassen. Sie kommentierte dies damit, dass sie nichts beizutragen habe. Lennard gestaltete seinen Phantasiestrang auf der Ebene »Farbgestaltung und Anordnung der Elemente« aus dem Abstrakten heraus. Lennard beschrieb in der ersten Sitzung seine Befindlichkeit anfangs traurig bis weinerlich. Am Ende der Sitzung gab er an, fröhlich zu sein. Im Arbeiten wirkte er am Anfang der Sitzung stärker ergebnisorientiert, apathisch und distanziert. Gegen Ende der Sitzung schien ein mehr prozessorientiertes Handeln beobachtbar. Über den gesamten Zeitraum der darauffolgenden Sitzungen wirkte Lennard stark am Thema interessiert. Beobachtbar war ein durchgehend prozessorientiertes Handeln. Im Arbeiten zeigte er sich mehr und mehr thematisch verbunden und spontanen Impulsen folgend. Er verspürte einen starken physischen Durst und beschäftigte sich erstmals gestalterisch nicht mit dem Thema Essen. Für Lennard spielte das Thema Essen in früheren Sitzungen eine omnipräsente Rolle.
Abb. 4: Installation der 3. Sitzung
Auf Abbildung 4 ist ein Schuhkarton aus der Vogelperspektive zu sehen. Der Deckel wurde schwarz bemalt. Auf dem Deckel befinden sich zwei Papierrollen. Zusätzlich wurde eine orangefarbene abstrakte Form aus Karton aufgeklebt, daneben liegend eine rechteckige schwarze Form mit rundem Ausschnitt in der unteren Hälfte. Schuh190 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
karton und rechteckige Form sind so zu den schwarzen Flecken angeordnet, dass sie sich nicht berühren.
Abb. 5: Finale Installation, letzte Sitzung
An der darauffolgenden Sitzung war Max nicht anwesend und Lennard identifizierte sich sehr stark mit ihm, sodass von einer Überidentifizierung gesprochen werden kann. Lennard sagte beispielsweise: »Ich bin Max«. Lennard imitierte dabei das Verhalten von Max. Danach gestaltete er seinen Abschnitt der Welt weiter und verkabelte sein Haus mittels einer Batterie und Sensoren auf dem Karton (Abb. 5). Mit Unterstützung modellierte er aus dem Material Ton ergänzend einen Helm. Sein Gestalten war stark ergebnisorientiert geprägt, und seine Befindlichkeit änderte sich von anfangs wütend zum Ende als fröhlich. Bezogen auf einen kommunikativen gruppendynamischen Aspekt zeigte sich Lennard mit einer starken Zurückhaltung. Oftmals hatte er nicht das Bedürfnis, etwas zu seiner eigenen oder den Gestaltungen der anderen zu sagen. Manchmal kroch er zu Beginn der Feedbackrunden unter einen Arbeitstisch. Er wirkte dabei stark verunsichert und wenig überzeugt, was seine Gestaltung anbelangt. Max gestaltete seinen Phantasiestrang auf der Ebene »Farbgestaltung und Anordnung der Elemente« großflächig und farbintensiv. In der zweiten Sitzung schwärzte Max seinen Teil der Welt komplett ein. Es war wie eine »Materialschlacht«, in der er sich mit dem Bösen zu identifizieren schien. Sein Gestalten war stark prozessorientiert und spontanen Impulsen folgend. Sein Handeln und seine Ausdauer wirkten dabei konstant. Seine Befindlichkeit wurde anfangs als zufrieden und am Ende mit einer Steigerung zur Fröhlichkeit beschrieben. Be191 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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zogen auf den kommunikativen gruppendynamischen Aspekt wurde Max punktuell als übergriffig erlebt. Er konnotierte die Gestaltungen der anderen zum Teil mit stark negativen Wertungen. Hatte er nichts beizutragen am Ende der Sitzungen, wollte er sich oftmals dem Gruppenkontext entziehen und die Sitzung vorzeitig verlassen. Lieke gestaltete ihren Phantasiestrang zu Anfang der Sitzungen reduziert und von den Themen her wechselhaft. Dabei war sie anfangs stark ergebnisorientiert. Sie gestaltete mehr planvoll, während sie am Ende ein gehemmtes Arbeiten zeigte. Ihre Befindlichkeit bezeichnete sie am Anfang und Ende als fröhlich. Zunächst war sie mit ihrem eingangs gestalteten Sessel nicht zufrieden, begann dann mit einem Haus im Wald, mit dem sie auch nicht zufrieden war. Danach baute sie aus Kartons ein großes Haus mit ineinander gesteckten Pappröhren als Hausstützen. Es erhielt ein rotes Dach. Sie nahm Impulse auf, setzte diese um, hörte auf, versuchte es erneut. In der nächsten Sitzung erfolgte ein stark ergebnisorientiertes Arbeiten, das planvoll und konzentriert war. Diese Wechselhaftigkeit wandelte sich über den Zeitraum in ein fulminantes und opulentes Schauspiel, welches gleichzeitig von Reduktion durchzogen war. Es wurde aufgebaut, abgerissen und wieder neu aufgebaut, bis sie thematisch einen Gegenpool zur Gestaltung von Max bildete. Nun konnte sie sich thematisch binden. Auf ihrer schwarzen Fläche arbeitete sie mit weißer Farbe und positiv assoziiertem Gestalten wie Rosen und Engeln. Die Papierschnipsel wurden zusammengeknüllt und in Weiß getaucht und im Anschluss auf die schwarzen Flecken der bereits weißen Fläche aufgeklebt (Abb. 6 und 7). Dabei wirkte sie sehr aufgeschlossen. In der folgenden Sitzung erfolgte für Lieke eine Einzelarbeit, wobei sie ein weißes Feenreich erschuf, das sie mit goldenem Glitzer überzog. Sie erzählte während des Malens aus ihrer Kleinkindzeit, ihrer Traurigkeit, die Mutter verlassen zu müssen und auszuziehen. Sie wolle solch starke Gefühle nicht mehr erleben und deshalb in ihrem Feenreich auch das Schwarze verbannen. Unter dem kommunikativen und gruppendynamischen Aspekt gesehen zeigte sich Lieke stark begeisterungsfähig, was die Gestaltungen der anderen anbelangte. Oftmals ging sie zu den Tischen der anderen hin, stellte Fragen oder schaute interessiert zu.
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Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
Abb. 6: Weiße Fläche mit weißen Papierblumen fixiert
Abb. 7: Weiße Fläche mit Schuhkarton und neuer Anordnung
Zusammenfassung Die Kinder sind sehr unterschiedlich mit der geschichtlichen Umsetzung umgegangen. Luisa überdeckte die schwarzen Flecken mit Häusern. Dies könnte die Annahme implizieren, dass ein sicheres Fundament für das Kind eine übergeordnete und wichtigere Rolle spielt. Auffällig war, dass Luisa nicht nur ein sicheres Haus gestaltete, sondern ebenfalls – entsprechend der eigenen Angabe – ein Horrorhaus. In diesem Horrorhaus starben die Leute. Betrachtet man diese Aussagen vor dem Hintergrund des familiären Systems, d. h. der Mutter mit der Diagnose einer Borderline-Symptomatik, wird deutlich, dass dieses charakteristische Bild sich auch in der Gestaltung des Kindes zum Ausdruck brachte. Das Kind machte den Versuch, die Krankheit der Mutter zu unterdrücken oder zu überdecken. Dies zeigte sich letztlich in der Thematik als Polarität – sicheres Haus versus Horrorhaus. Bei Max konnte eine Überidentifikation mit dem Bösen beobach193 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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tet werden (ohne Abbildung). Er malte die gesamte Fläche schwarz an. Dies lässt die Annahme zu, dass destruktive Verhaltensmuster ausgelebt wurden, die in Form einer »self-fullfilling-prophecy« zu Tage traten. Max war oftmals dadurch aufgefallen, dass er Regeln für ein gruppendynamisch konstruktives Arbeiten sprengte. Es hatte den Anschein, dass Restriktionen von ihm geradezu erwartet wurden. Davon ausgehend schienen hinter der Überidentifikation Wut, Trauer und Verzweiflung zu stecken. Lennard definierte die schwarzen Flecken als »Tobe«-Raum. Im Haus lag nach Angaben von Lennard eine Bombe, damit die Bösen nicht hereinkommen konnten. Dies mochte implizieren, dass er negative Erfahrungen oder eigene inadäquate Verhaltensmuster abwehrte und möglicherweise von sich abspaltete. Das Böse wartete überall, und Lennard teilte mit, dass 1.000 böse Seiten darauf warteten, in das Haus einzudringen. In den Sitzungen wirkte das Kind oft apathisch und im eigenen Gestaltungsprozess distanziert. Bei Lennard erscheint eine massive Wut in Form des Bösen, worauf er mit Apathie und Distanz reagiert. Dies impliziert die Annahme, dass Lennard in Konfliktsituationen, sei es in der Schule oder im familiären Umfeld, mit den Mustern der Apathie und Distanziertheit reagiert und Konflikte als eine Gefahr oder Bedrohung einstuft. Während der Sitzungen zeigten sich diese Muster im anfänglich ergebnisorientierten Gestalten ebenfalls sehr deutlich. Im Verlauf schien sich das damit verbundene Verhalten mehr und mehr aufzuweichen und in einem verstärkt prozessorientierten Handeln zu münden. Die durchlebte Apathie und die Distanziertheit, die einhergingen mit einer körperlich wahrnehmbaren Starre und Emotionslosigkeit, und die repräsentative Elemente des eigenen Schattendaseins verkörperten, wurden durch ihre psychodynamische Anschauung Teil des Integrations- und Individuationsprozesses. Auffällig bei Merle war die Aussage, dass auf dem schwarzen Fleck ein Baumhaus stände oder aus ihm erwuchs. In dem Baumhaus lebte Merle mit ihrer Familie. Merle wirkte in den Sitzungen sensitiv in Bezug auf interaktive Prozesse mit den anderen Kindern. Sie zeigte sich offen und interessiert bei gleichzeitiger Zurückhaltung. Die anderen Flecken wurden von Merle komplett mit Grün übermalt. Lieke hat alles mit der Farbe Weiß angemalt. Die dunklen Flecken wurden zusätzlich mit weißen Blüten überdeckt. Nach Aussage von Lieke fühlte es sich so schöner an. Sie beschrieb die Außenwirkung der Gestaltung als klar, rein und schön. 194 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Allen gemein schienen die Kinder sich auf der zweiten Ebene des Individuationsprozesses nach der Jungschen Analyse zu befinden. Das Individuum beginnt in der zweiten Stufe, bestimmte Unterscheidungen zwischen dem Selbst und den Objekten seiner Umwelt zu machen. Beispielsweise entwickelten die Kinder auf dieser Stufe durchgehend ein Gewahrsein für das eigene psychische Sein. Sie sind mit den äußeren Objekten an bestimmten Stellen in Konflikte geraten. Ergebnisorientiertes Handeln und der Moment des Scheiterns an den eigenen Erwartungen und Vorstellungen war bei allen Kindern beobachtbar. Projektionsträger sind für das Kind in erster Linie die Eltern. Auf die Eltern wird unbewusst Allwissenheit und Allmacht projiziert, wie z. B.: »Mein Vater ist allwissend und der stärkste Mann der Welt«. Auch sind Verliebtheit und Heirat typische Projektionen (Stein 2015, S. 212). Solange man sich, nach Jung, von der Verliebtheit bezaubern lässt und den Hauch von Romantik und Abenteuer spürt und alles für eine starke Überzeugung riskiert, handelt man weiterhin »aus der Projektion auf konkrete Objekte in der Welt« (Stein 2015, S. 212). Gruppendynamisch sind die Gestaltungen in ihrem Aufbau und Umgang, vor dem Hintergrund der Geschichte, reziproke und stärker aufeinander beziehend zu interpretieren. Lieke konnte sich thematisch erst binden, nachdem sie einen Anker oder einen Bezugspunkt in der Gestaltung von Max erkannte. Lennard identifizierte sich sehr stark mit dem Verhalten von Max. Bei drei von fünf Gestaltungen wurden in sich geschlossene Formen gewählt. Die Idee, einen Schuhkarton als Schutz- und Rückzugsraum zu verwenden, ist somit dem gruppendynamischen Prozess zuzuschreiben. Das gruppendynamische Arbeiten zeigte sich als ein befruchtendes und Orientierung bietendes wesentliches Element im Umgang mit den eigenen Schattenanteilen. Orientierung und Stabilität förderten die Kreativität in einem reziproken Prozess; auf sich zurückgeworfen zu sein und einen Umgang mit dem Eigenen zu finden sind direkte Abbilder des alltäglichen Lebens.
Ausblick Wobei hat nun die psychodynamische und prozessorientierte Herangehensweise geholfen? Welche Beziehungserfahrungen mit Transfer
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in Schule und Freizeit wurden hierdurch ermöglicht? Hatte dieses Angebot am Ende auch präventiven Charakter? Der Gestaltungsraum ermöglichte den Kindern ein aktives Probehandeln im Bezug auf das eigene Leben. Der Gestaltungsraum wurde zum Explorationsfeld für Assimilation und Akkommodation. Nach Frances Dupierry (1999, S. 78 f.) werden die Erfahrungswerte »(…) während des Gestaltungsprozesses ein Stück gelebtes Leben«. Die aktive Auseinandersetzung bot die Chance, bekannte und als inadäquat empfundene Lebensmuster zu durchbrechen und Neues zu erproben. Umschriebene klinische und diagnostisch wertvolle Verläufe wie Apathie, depressive Erscheinungen oder Ängste wurden durchlebt, aber auch Ambivalenzen, Freude und Erfolge erlebt. Zentral ist die These, dass hierdurch dem inneren Ideal und der mit Jung beschriebenen Individuation näher gekommen wird. Insofern ist die Bereitstellung von psychodynamisch-prozessorientierten kreativen Gestaltungsräumen notwendig, damit das Selbst sich manifestieren kann und das Ich an Stabilität gewinnt. Kalff beschreibt die Manifestation des Selbst »(…) als den wichtigsten Augenblick in der Entwicklung der Persönlichkeit« (Kalff 2017, S. 9).
Exemplarisches Fallbeispiel zur Förderung von Selbstwirksamkeit und zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes mittels ästhetisch-gestalterischen Handelns (Solveig Majer) »Wie machst du das, Max? Ich könnte das niemals so gut wie du!« 1 »Wenn ich daran glaube, dann schaffe ich alles, was mir in den Sinn kommt. Ich kann machen, was ich will in der Kunst.« Betrachtet man die beiden Aussagen, ist es kaum vorstellbar, dass beide von ein und derselben Person stammen. Es wird deutlich, dass zwischen der ersten und der zweiten Aussage ein Veränderungsprozess stattgefunden haben muss. Doch was waren die entscheiden-
Alle aufgeführten Aussagen von Luisa wurden so wörtlich getätigt oder im Rahmen einer ressourcenstärkenden Maßnahme schriftlich als Reflexion der Stunde festgehalten. Die niedergeschriebenen Aussagen wurden von Luisa in einer selbst gestalteten Schatzkiste gesammelt.
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den Faktoren und die notwendigen Rahmenbedingungen, damit eine solche Veränderung eines Menschen geschieht? Dieser Frage nach dem Kontext einer Zunahme von Handlungsfähigkeit und Selbstvertrauen wird im folgenden Abschnitt nachgegangen, und es wird sich hierbei insbesondere den Wirkungsfaktoren heilpädagogischer Kunsttherapie im Gruppensetting an Schulen gewidmet. Anhand des Einzelfalls wird aufgezeigt, welches Potential für eine gesunde Entwicklung in der Kunst liegt und welche Rolle dabei eine inklusive Gestaltung des Angebotes spielt. Es soll ein kritischer Blick auf die Gesellschaft getroffen und herausgearbeitet werden, wie Therapie in diesem Kontext zu verstehen ist. Grenzen der Kunsttherapie und eines inklusiven Vorgehens werden aufgeführt und ein abschließendes Fazit wird gezogen.
Familiärer Kontext Die 10-jährige Luisa nahm in ihrem 3. Schuljahr an dem zuvor beschriebenen Kunstangebot teil. Luisas alleinerziehende Mutter leidet an Depressionen und einer Borderline-Störung. Wie zahlreiche Forschungen belegen sind psychische Erkrankungen von einem Elternteil als ein Risikofaktor für fehlangepasste Entwicklung und psychische Störungen von Kindern zu sehen (Lenz 2014). Hoff & Pietsche (2012) weisen daneben darauf hin, dass Kinder psychisch erkrankter Eltern eine signifikant höhere Auffälligkeitsrate in der Ausbildung von internalisierenden oder externalisierenden Syndromen haben. Während stationärer therapeutischer Behandlungen ihrer Mutter musste Luisa bereits wiederholt für einige Zeit in einer Pflegefamilie untergebracht werden. Das erste Mal, dass Luisa aus ihrem familiären Umfeld gerissen wurde, ereignete sich noch vor der Vollendung ihres ersten Lebensjahres. Dies kann als ein Risikofaktor für eine gesunde Entwicklung betrachtet werden. Reim et al. (2015) sprechen hier vom erlebten Spannungsfeld der Ressourcen und multifaktoriellen Belastungen. Die Kinder müssen sich in einem neuen, ihnen zunächst unverständlichen Lebensumfeld zurechtfinden. Fremde Regeln oder unbekannte Umgangsformen in der Pflegefamilie dienen als Beispiel für solche neuen Anforderungen (Wehn 2015). Gassmann (2015) benennt Identitätsbildung als eine Entwicklungsaufgabe, mit der jeder Mensch sich auseinandersetzen muss und die für Pflegekinder ein spezifisches Metathema darstellt. 197 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Identität ist abhängig von sozialen Beziehungen und in diesen erfahrbar. Die Persönlichkeitsbildung hängt eng mit der Selbstachtung und Selbstwirksamkeitserfahrungen im sozialen Zusammenleben zusammen, welche durch die Anerkennung und Wertschätzung von der Familie bestimmt werden. Aus diesem Grund müssen sich Pflegekinder in besonderer Weise mit der Entwicklungsaufgabe der Identitätsbildung und Selbstachtung auseinandersetzten, da sie mit Brüchen und Verletzungen in Beziehungen und dadurch möglicherweise resultierendem Misstrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen konfrontiert sind. Diese Vulnerabilität im Bezug auf ein positives Selbstkonzept und das Aufrechterhalten stabiler Beziehungen kann auch bei Luisa wahrgenommen werden. So fiel es ihr zunächst schwer, ein begonnenes Projekt zu Ende zu führen, da sie während des Gestaltungsprozesses immer wieder mit Zweifeln über die eigenen Fähigkeiten und das davon abhängende Gelingen des Projekts konfrontiert war. Häufig kam es vor, dass Luisa ein angefangenes Werk verbal negativ bewertete und in Folge davon verwarf. In Luisas Identitätsbildung hatte die Erfahrung, dass nichts verlässlich oder kontrollierbar ist, dazu geführt, dass Luisa wenig Vertrauen hatte mit ihrem eigenen Handeln ihrer Umstände handhabbar zu werden, was sich sowohl im künstlerischen Gestalten als auch im ambivalenten Beziehungsverhalten äußerte. Häufig versuchen Kinder von psychisch erkrankten Eltern nach einer Fremdunterbringung »jede zusätzliche Belastung zu vermeiden, verzichten auf Kritik, Forderungen und stärkere Gefühlsäußerungen. Sie passen sich an Tagesstruktur und Ruhebedürfnisse an und stellen ängstlich beobachtend die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurück. Sie […] werden in ihrem eigenen Handeln immer vorsichtiger und geben dabei […] mehr und mehr Spontanität auf« (Lenz 2008, S. 26). Auch bei Luisa wurde eine solche Entwicklung deutlich. Sie hatte wenig Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und schöpfte ihre Handlungskompetenzen kaum aus. Sie stellte ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück und orientierte sich eher an den Vorstellungen anderer Kinder. Luisa wirkte in ihrem Verhalten unsicher, und es fiel ihr zunächst schwer, feste Beziehungen aufzubauen, was den Verdacht auf eine Bindungsstörung bei ihr offenlegte. Im Rahmen des Kunstangebotes orientierte sich Luisa zunächst an dem 10-jährigen Max, welcher einer ihrer engsten Bezugspersonen war, und sie vermied es, ihre eigenen inneren Bilder ästhetisch zum Ausdruck zu bringen. Die beiden Kinder arbeiteten zusammen, 198 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Max gab die Richtung vor und benannte die Handlungsschritte, und Luisa führte diese in einer assistierenden Rolle aus. Um selbst in einen künstlerischen Prozess zu gelangen, mangelte es ihr zunächst an ausreichend Selbstvertrauen, und sie hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Zugang zu ihrer eigenen Kreativität. In diesem Setting des gemeinsamen Arbeitens entstand die erste oben zitierte Aussage von Luisa: »Wie machst du das, Max? Ich könnte das niemals so gut wie du!« Auf der einen Seite kommt Luisas Unsicherheit und mangelndes Vertrauen in ihr eigenes künstlerisches Vermögen zum Vorschein. Gleichzeitig stecken aber auch Bewunderung für die Kreativität und das gestalterische Vermögen ihres Gegenübers sowie der Wunsch, selbst etwas Ästhetisches zu erschaffen, in Luisas Ausruf. An dieser Stelle muss auf die Ressourcen des Gruppensettings bei künstlerischen Therapien verwiesen werden. Sipos & Schweiger (2013) sind der Auffassung, dass die Arbeit im Gruppensetting die Möglichkeiten zur Schulung der sozialen Kompetenz und ein Feld für Verhaltensexperimente bietet. Zudem ergibt sich die Chance, sich selbst in verschiedenen Rollen zu erleben und auszutesten. Ebenso kann dieses Setting ein Gleichgewicht zwischen Selbstakzeptanz und Selbstkritik begünstigen und eine gesunde Selbstbetrachtung des Verhaltens fördern. Das Erlernen eines angemessenen Umganges mit Emotionen und der Selbsterkenntnis in der Gruppe sind weitere positive Wirkungsfaktoren des Gruppensettings (Sipos & Schweiger 2013). Im Fall von Luisa spielt das Lernen am Modell (Beobachtungslernen), wozu das Arbeiten in der Gruppe die Vorlage bietet, eine entscheidende Rolle in ihrer Veränderung hin zu mehr Handlungsfähigkeit. Bandura (1979) beschreibt in seiner sozial-kognitiven Lerntheorie den entscheidenden Faktor von Beobachten und Nachahmen bei Lernprozessen. Lernen als eine Adaption und Assimilation neuer Eindrücke, welche zu Verhaltensänderungen und Erweiterung der bisherigen Handlungsstrategien führt, findet nicht allein auf kognitiver Ebene statt, sondern ist immer eingebettet in ein soziales Gefüge. Der Blick auf den Menschen sieht seine Ganzheitlichkeit und das Wechselspiel verschiedener Komponenten wie Körperlichkeit, Kognition, Emotionalität, Soziale Interaktion und vielen mehr. Lernprozesse wie sie Bandura (1979) beschreibt, finden durch das aufmerksame Beobachten von Handlungsweisen einer Person mit affektiver Valenz, positiv bewerteten Eigenschaften, statt. Wird das Verhalten der beobachteten Person positiv bewertet, dient dieses als Modell für Imi199 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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tation des Verhaltens. Bandura (1997) geht hierbei insbesondere auf den Stellenwert der Selbstwirksamkeit als Verstärkungsmechanismus bei Lernprozessen ein. Woolfolk (2008) beschreibt Selbstwirksamkeit als eine Überzeugung der eigenen Kompetenz beziehungsweise das Vertrauen auf die eigene Tüchtigkeit in einem Bereich. Bandura (1986) geht davon aus, dass der Glaube an die eigenen Fähigkeiten und die Möglichkeit, mit diesen ein bestimmtes Ergebnis durch zielgerichtetes Handeln zu erreichen, die Vorhersagen über erfolgreiches Lernen stark beeinflussen. Das »subjektive Erleben einer Person, eine bestimmte Aufgabe effektiv meistern zu können« (Woolfolk 2008, S. 404) ist abhängig von Erfolgserlebnissen und der Attribuierung des eigenen Handelns durch die Selbst- und Fremdbewertung. Für Luisa heißt dies konkret, dass das Beobachten der als positiv bewerteten künstlerischen Gestaltung von Max den Drang zur Nachahmung in ihr geweckt hat. Der geschützte Rahmen des Kunstangebotes ermöglichte ihr, in anderen ein Modell zu finden, welches wert ist, imitiert zu werden, und dadurch die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Erst durch die Anregung des Beobachtungslernens war Luisa in der Lage, eigene Selbstwirksamkeitserfahrungen zu sammeln. Dieses Austesten und Sammeln neuer Erfahrungen wurde in einer Atmosphäre von Wertschätzung und »bedingungsloser« Annahme nach dem heilpädagogischen Grundverständnis (Greving & Ondracek 2009) positiv verstärkt, und somit konnte Luisas Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die Bereitschaft, neue Handlungen auszuprobieren, erhöht werden. Manchmal bedarf es keiner großen Worte oder ausgefeilter didaktischer Konzepte, als vielmehr eines Gegenübers und Freundes, der den Klienten auf neue Ideen bringt und ihn ermutigt an Stellen, wo er zögerlich ist. Dies geschieht oftmals schon durch ein wohlwollendes Lächeln, welches vermittelt, dass das Gegenüber nicht nach Leistung bewertet, sondern ihm durch sein bloßes Mensch-Sein Achtung und Würde entgegengebracht wird. Diese Gedanken mögen sich in der heutigen Leistungsgesellschaft, welche von Zeitdruck und wenig Achtsamkeit für den Moment geprägt ist, weltfremd und idealistisch anhören. Sie bilden jedoch die Grundlage für ein heilpädagogisches, wertegeleitetes Handeln. Darüber hinaus sind die Werte von bedingungsloser Annahme und Wertschätzung jedes menschlichen Lebens die Grundpfeiler unserer Verfassung (GG Art. 1), die jedem Menschen Würde unabhängig von Leistung zuspricht. Die Relevanz dieser Grundhaltung geht somit 200 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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über das Grundverständnis heilpädagogischen Handelns hinaus und kann als ein Kampf um gelebte Menschenrechte betrachtet werden. Der Leistungsdruck macht in der heutigen Zeit auch vor dem Schulalltag keinen Halt mehr und dass Kinder »einfach einmal Kind sein dürfen«, fern von Bewertung, scheint nicht möglich. Umso wichtiger ist es für Kinder wie Luisa, die neben den hohen Anforderungen unserer Gesellschaft noch durch weitere Risikofaktoren – wie oben beschrieben – belastet sind, dass »Oasen des Innehaltens« und »Orte der Selbsterfahrung« ohne Angst vor Verurteilung für sie geschaffen werden.
Fazit Luisa gelang es im Kunstangebot, sich selbst mit ihren eigenen Stärken und Fähigkeiten neu zu entdecken, und sie wurde durch das für sie beeindruckende Können anderer Kinder angeregt, selbst aktiv zu werden und Neues auszuprobieren. Die zweite Aussage entstammt der Vertiefung und Weiterführung des Kunstangebotes im Einzelsetting. Erst an dieser Stelle kann die weitreichende Auswirkung von Luisas veränderter Selbstwahrnehmung sichtbar werden. Die Aussage: »Wenn ich daran glaube, dann schaff ich alles, was mir in den Sinn kommt. Ich kann machen, was ich will in der Kunst.« steht keineswegs alleine da, sondern reiht sich in ein Netz von Verbalisierungen ein, in denen Luisa zum Ausdruck bringt, dass ihrem Handeln keine Grenzen gesetzt sind, wenn sie an ihr eigenes Können glaubt. Diese Mitteilungen wurden von ihr ergänzt durch zahlreiche Aussagen, mit denen sie sich selbst ermutigte, Neues zu wagen, wie beispielsweise: »Wenn du glaubst, du kannst etwas nicht, dann probiere es einfach mal aus.« Weitere Aussagen von Luisa wie: »Die Kunst ist das Schöne im Leben.« ergänzen diese Sichtweise und geben einen Ausblick auf die positiven Wirkungsfaktoren von Kunst und dem gestalterischen Selbstausdruck. Die gemachten Erfahrungen der Selbstwirksamkeit im Bereich der Kunst können als Anlass für eine veränderte Selbstwahrnehmung und einem gestärkten Selbstwert dienen. Das Erleben, dass das eigene Handeln direkten Einfluss auf die Umgebung hat, leistet nach dem salutogenetischen Grundverständnis von Antonovsky (1997) einen entscheidenden Beitrag zu einem gesundheitsförderlichen Kohärenzgefühl. Durch einen Transfer der in der Kunst gemachten Erfahrung von Verstehbarkeit und 201 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Handhabbarkeit der eigenen Umstände in andere Lebensbereiche wie beispielsweise die soziale Interaktion oder schulische Leistungsanforderung, kann der Klient dazu befähigt werden, auch dort neue Dinge auszuprobieren und aktiv seine Umgebung zu gestalten. Auch die Erfahrung von Sinnhaftigkeit kann in der Kunst gemacht und als Förderung zur ganzheitlichen Gesundheit verstanden werden. So strebt die Kunst nicht nach einer festgelegten Norm oder einem Erfüllungskriterium und lässt sich auch nicht präzise fassen. Vielmehr definiert sie sich in jeder künstlerischen Handlung neu und verändert sich dynamisch in der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters. Kunst hat sich selbst zum Zweck, und dies ermöglicht es Menschen wie Luisa um der Handlung selbst willen etwas zu unternehmen. Handhabbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit sind drei Komponenten, die in der Kunst erfahren werden und Kinder wie Luisa stark machen können, auch in herausfordernden Umständen ihrer Lebensrealität. Wie genau der Transfer der in der Kunst gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse in andere Lebensbereiche erfolgt, ist bisher unzureichend erforscht (Siegmund 2007). Doch sowohl die Rückmeldung von Luisas Bezugspersonen, als auch die Beobachtung ihres Verhaltens im Schulkontext geben Anlass zur Vermutung, dass eine solche Übertragung des Vertrauens in ihre künstlerischen Fähigkeiten hin zu einem selbstbewussteren Verhalten im Schulalltag geführt hat. Es ist zu vermuten, dass die gemachten Selbstwirksamkeits-erfahrungen und das Lernen am Modell anderer Kinder dazu beigetragen haben, Luisas Selbstkonzept zu verändern und ihr mehr Sicherheit im eigenen Handeln zu ermöglichen. Über das Potential von kunsttherapeutischen Förderangeboten an der Regelschule kann festgehalten werden, dass die sich in der Kunst ergebenen Selbstwirksamkeitserfahrungen einen wichtigen Beitrag zur gesunden Entwicklung von Kindern leisten können. Insbesondere solche Kinder, welche in instabilen und belastenden Familienverhältnissen aufwachsen, profitieren maßgeblich von therapeutischen Fördermaßnahmen im Schulsetting. Hier spielen mehrere Faktoren hinein. Zum einen kann einer Stigmatisierung der Inanspruchnahme einer Therapie vorgebeugt werden, da ein mögliches Förderangebot, wie zuvor beschrieben, inklusiv gestaltet werden kann. Der inklusive Charakter des Angebotes ermöglicht Kindern wie beispielsweise Luisa von den Stärken anderer Kinder durch Beobachtungslernen und positive Verstärkung zu profitieren. Zusätzlich sind die Zugangswege zu einem solchen therapeutischen Grup202 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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penangebot im Kontext des Schulalltags für Kinder, Eltern und alle Beteiligten weitaus niederschwelliger als Therapie- und Förderangebote in einer Praxis. Das Angebot orientiert sich an der Lebenswelt der Kinder und bettet sich in ihren Schulalltag ein. Die Frage, ob »Therapie« in der Schule gerechtfertigt ist, hängt stark davon ab, wie der Terminus definiert wird. Baer (2010, S. 13) beschreibt Therapie als Kunst und jeden therapeutischen Kontakt »als eine menschliche Begegnung, die sich als organaler kreativer Akt vollzieht«. Die Beziehung stellt für ihn das wesentliche Kernstück, die Grundlage und den Inhalt einer Therapie dar. Der Begriff »Therapie« kommt von dem altgriechischen »therapeia«, was auch mit »dienen« übersetzt werden kann. Somit kann Therapie als Dienst einer tragfähigen, vertrauensvollen Beziehung, auf deren Basis Klienten ihr Potential entfalten können, verstanden werden. Eine Beziehung, »die ermöglicht, das Risiko einzugehen, gefrorene Muster des Fühlens und des Verhaltens, der Bewegung und des Empfindens aufzutauen, zu flexibilisieren, in Frage zu stellen und neue Varianten zumindest experimentell zu erproben« (Baer 2010). Den Verfassern stellen sich aus diesem Gedankengang heraus folgende rhetorische Fragen: Sollte es als Gesellschaft nicht unser Anspruch sein, jedem Kind ein solches Umfeld der Wertschätzung und der Annahme zu ermöglichen, in dem es sich ohne Angst vor Verurteilung ausprobieren und sich selbst mit allen Attributen kennenlernen darf? Solange die Normen dieser Zeit die Effizienz eines Objektes und nicht den Mensch als Subjekt im Blick haben und auch darüber hinaus, bedarf es inklusiver therapeutischer Förderangebote, um Kindern mit und ohne Entwicklungsauffälligkeit in der Entfaltung ihres Potentials zu unterstützen. Selbstverständlich ist die Kunsttherapie kein »Wunderheilmittel« und auch ein inklusives Gruppensetting kann keine bestehenden Defizite »wegzaubern«. Deshalb soll an dieser Stelle auch eine kritische Betrachtung vorgenommen werden, die die Grenzen der heilpädagogischen Kunsttherapie anerkennt. Da das Potential der heilpädagogischen Kunsttherapie in einer gelungenen Klienten-TherapeutenBeziehung zur Entfaltung kommt, können hier auch gleichsam die Grenzen der Kunsttherapie bemessen werden. Nicht in jedem Fall entsteht zwischen Klienten und Therapeuten eine Beziehung des Vertrauens, in der Gefühle und der persönliche Selbstausdruck Raum zur Exploration finden. Dies muss nicht zwangsweise an einem Fehlverhalten oder einer mangelnden Kompetenz des Therapeuten liegen, sondern kann seine Ursache in mangelnder Frequenz oder im zeitli203 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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chen Umfang des Therapieangebotes haben. Manche Kinder sind mit solch massiven Herausforderungen in ihrer Lebenswelt konfrontiert, dass ein einmal wöchentlich stattfindendes Angebot im Gruppensetting nicht ausreichend ist, um den Aufbau einer stabilen Beziehung zum Therapeuten zu ermöglichen. Solche Kinder brauchen ein weitaus engmaschigeres Hilfsangebot, das sich nicht nur auf den Lebensbereich des Schulkontextes erstreckt. Ein Kunstangebot wie zuvor beschrieben (siehe auch: Beitrag Hampe) wäre auch bei diesen Kindern förderlich, jedoch dürfte es nicht isoliert stehen, sondern müsste Teil einer Netzwerkarbeit sein. Es bedarf der Zusammenarbeit von vielfältigen Hilfsangeboten und Fördermaßnahmen, um Kindern mit belastetem sozialem Hintergrund eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen, in der sie ihre Potentiale entfalten können. Auch der derzeit inflationär verwendete Begriff der Inklusion (Bernhard 2015) darf nicht zur »Mogelpackung« werden. Nicht in jedem inklusiven Angebot kommen auch die in der Literatur in den höchsten Tönen gelobten positiven Wirkungsfaktoren eines von vielfältigen Begabungen geprägten Miteinanders (Bernhard 2015) bei Lernprozessen zum Zuge. Allein die Tatsache, dass mehrere Menschen mit unterschiedlichen Stärken im selben Raum sind, ist noch nicht ausreichend, damit jeder von den Begabungen des anderen profitiert und positive Lernerfolge hat. Es ist die Kunst des Heilpädagogen bzw. Therapeuten, ein Angebot zu konzipieren, bei dem die Kinder in ein soziales Miteinander finden und in dem das gemeinsame Gestalten zum Selbstzweck wird. Im Vergleich zum inklusiven Setting in der Pädagogik, das sich der Vermittlung von Lerninhalten zuwendet, gibt es eine so konkret gefasste Zielsetzung in der heilpädagogischen Therapie nicht. Die Kunsttherapie lebt davon, dass die Lösung im Prozess verborgen ist. Sie entsteht im ästhetischen Selbstausdruck und kann gleichsam nicht objektiv festgehalten werden. Die Besonderheit in einem inklusiven, kunsttherapeutischen Angebot liegt somit darin, einen gemeinsamen Gestaltungsprozess in Bewegung zu setzten, in dem von allen Beteiligten Persönlichkeitsanteile mit einfließen und sich in der Kunst vermischen. Durch die subjektive Wahrnehmung des Gestaltungsprozesses und des entstehenden Kunstobjektes kommt jeder Beteiligte mit den Einflüssen des anderen in Kontakt und kann hiervon profitieren. Selbstverständlich gibt es auch dabei eine Kontraindikation. Bei Klienten, die mit Lebensumständen konfrontiert sind, die eine erlebte Hilflosigkeit und ein Ohnmachtsgefühl erzeugen, sollten stabilisierende Angebote im Ein204 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Präventionsmaßnahme
zelsetting, die eine Handhabbarkeit und Verstehbarkeit der Umstände ermöglichen, bevorzugt werden.
Ausblick Abschließend lässt sich festhalten, dass unter den passenden Bedingungen Kunsttherapie im inklusiven Gruppensetting eine Bereicherung, teils sogar Notwendigkeit für Kinder aus den unterschiedlichsten psycho-sozialen Kontexten im Schulalltag darstellt, um die Schule nicht wechseln zu müssen. Durch die Niedrigschwelligkeit des Angebotes werden Kinder erreicht, deren Eltern für Angebote außerhalb der Schule nicht zugänglich sind. Sei es, dass sie beispielsweise durch den Lebensalltag stark belastet sind, dass sie Angst vor Kontrolle haben oder aus Kulturen stammen, in denen familiäre Hilfsangebote als Versagen empfunden werden. Es bestehen vielfältige Gründe, um (heil-)pädagogische und therapeutische Förderangebote für ihre Kinder nicht in Anspruch zu nehmen. Je nach Belastung und Diagnose des Kindes kann das vorgestellte Gruppenprojekt ausreichen oder eine Plattform bieten, Kontakt zu den Eltern aufzubauen und diese für eine geeignete Hilfe zu motivieren. Es ist für die heranwachsende Generation von Bedeutung, nicht nur auf Leistung und Effizienz getrimmt zu werden, sondern Möglichkeiten zu bekommen, die eigene Persönlichkeit kennenlernen und entfalten zu können. Die Kunst kann hierfür einen entscheidenden Beitrag leisten. Zudem kann das soziale Miteinander in einem geschützten Rahmen ein Gemeinschaftsgefühl, das Vielfalt als Stärke und Bereicherung ansieht, ermöglichen. Heilpädagogische Kunsttherapie an Schulen sollte somit vom Pionierprojekt zu einem flächendeckenden Angebot zur Förderung sowie Prävention gegen Entwicklungsrisiken werden.
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Ruth Hampe
Persönlichkeitsbildung an Schulen. Ein ästhetisch-gestalterisches Förderangebot
Abstract: Der Beitrag bezieht sich auf zwei Studien zur Einbeziehung von ästhetisch-gestalterischer Förderung an Schulen in sozialen Brennpunkten. Zum einen auf eine Studie beginnend 2003 in Bremen und zum anderen auf eine Studie beginnend 2007 in Freiburg. In beiden Studien wurden vergleichende standardisierte Prä- und Post-Testverfahren eingesetzt, und zwar 2004–2005 über ein Jahr und 2014– 2016 über zwei Jahre. In der zweiten Studie wurden ergänzend die projektiven Testverfahren »Ein Mensch pflückt einen Apfel vom Baum« und das »Vogelnest« durchgeführt. Allgemein wurden auch alle gestalterischen Ausdrucksformen qualitativ ausgewertet. Die Untersuchungen belegen, dass das Förderangebot zur Persönlichkeitsbildung – auch im Sinne von Inklusion und Teilhabe – eine wichtige Funktion im Schulalltag einnehmen kann und stellenmäßig verankert werden sollte.
Persönlichkeitsbildung an Schulen. Ein ästhetisch-gestalterisches Förderangebot Der Auftrag der schulischen Bildung ist es auch zur Entfaltung der Persönlichkeit der Schüler in der Gemeinschaft beizutragen. Neben kognitiven sollen die sozialen, kommunikativen, emotionalen, ästhetischen und psychomotorischen Aspekte der Persönlichkeitsbildung berücksichtigt werden. Die Förderung der Persönlichkeit und Begabung ist auf Subjekt-Bildung an Schulen bzw. im gemeinschaftlichen Lernraum bezogen, d. h. auf Subjekt-Werdung, Selbstachtung, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, aber auch auf Verantwortung und Teilhabe in der Gemeinschaft. Im Hinblick auf Inklusion beinhaltet es zudem eine Förderung und Verbesserung des Lernens, eine Wahrnehmung des Lernpotenzials der Schülerinnen und Schüler. Dies zielt u. a. auf eine Dynamik des Lehrens und Lernens ab, mit Einblick in die Lernfortschritte, die eine Schülerin oder ein Schüler 208 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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erreicht hat und wie zu dieser Entwicklung beigetragen werden kann. Im Folgenden soll auf die Durchführung eines Schulprojektes an Schulen und dessen quantitative als auch qualitative Auswertung eingegangen werden, und zwar im Bezug auf Persönlichkeitsbildung und schulische Förderung unter Berücksichtigung von Inklusion. Vorweg werden einige Modelle aus dem Bereich der Schulpsychologie und Schulsozialarbeit vorgestellt, um die Besonderheit des heilpädagogischen ästhetisch-gestalterischen Ansatzes deutlich zu machen.
I.
Persönlichkeitsbildung und die Förderung emotionaler Kompetenz an Schulen
Im Hinblick auf die Veränderung von Lebenssituationen scheinen allgemein auch Schulprobleme zuzunehmen. Verhaltenauffälligkeiten wie Aggression, Verweigerung, Konzentrationsschwierigkeiten, Ängste, Hyperaktivität, Depression, Essstörungen, aber auch Mobbing und Schulverweigerung sind vermehrt zu beobachten. Zudem sind harmonische, dauerhafte Familienstrukturen nicht mehr als etwas Normales anzusehen. Dagegen sind zerrüttete Familienverhältnisse, die Trennung und/oder Scheidung von Eltern, Arbeitslosigkeit, Vernachlässigung von Kindern, weiterhin sexueller Missbrauch, Gewalt als auch psychische Probleme keine Seltenheit mehr. Kinder werden in dieser Hinsicht psychisch und/oder körperlich vernachlässigt (vgl. Julius, 2001a, S. 175), und Lehrer werden mit konfliktbeladenen psychosozialen Problemsituationen im Rahmen des Schulunterrichts konfrontiert, was ihre Kompetenzen und Möglichkeiten der Intervention zum Teil überschreitet. Ebenso haben sich die kulturellen Einflüsse in den letzten Jahren durch das Aufkommen von Videospielen, Computern, Internet, durch Simulation des Realen in generierten Computerbildern und Fantasiespielen u. a. verändert. Kinder und Jugendliche beginnen in einer digitalen Welt – nicht nur vor dem Fernsehapparat – am Computer und über die neue Medienindustrie, ihr Weltbild zu bilden, wobei Dualitäten in Schwarz und Weiß dominieren. Die sozio-kulturelle Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen stellt sich als komplex dar und ist für den einzelnen nicht unmittelbar durchschaubar bzw. wird vielfach auf der Ebene imaginierter und nicht realer Kommunikationsbezüge erlebt. 209 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Im Rahmen der Schulpsychologie (vgl. Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP) 2014; Seifried, Drewes & Hasselhorn, 2016) wird versucht, diesen Herausforderungen zu begegnen. Häufige in den Schulen anzutreffende Problemlagen sind laut schulpsychologischen Erhebungen Lernschwierigkeiten, Schulangst, Schulphobie, Mobbing unter Schülern, Gewalterfahrungen sowie Drogen-, Medikamenten- oder Alkoholkonsum (vgl. Nübling et al., 2017, S. 123). Unter anderen hat die BELLA-Studie (BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten) als bundesweit durchgeführte Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, beginnend mit der Erhebung von Basisdaten zwischen 2003 und 2006 und weiteren Erhebungswellen in den Folgejahren, ergeben, dass ca. 25 % der Kinder und Jugendlichen psychische Probleme haben. Zu den häufigsten Beeinträchtigungen zählen demnach Störungen des Sozialverhaltens, Ängste und Depressionen. Dies wird auch durch die Ergebnisse des Gesundheitssurveys von 2007 bestätigt (vgl. Ravens-Sieberer et al., 2007) bzw. verweist auf einen Trend zu einzelnen Störungsbildern wie Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Legasthenie, schulbezogene Störungen, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens, Borderline-Störungen und Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) (vgl. Nübling et al., 2017, S. 124). Schulpsychologen in der Verbindung mit der ambulanten und stationären Versorgung, auch mit heilpädagogischen Praxen, können diese Anforderungen an Versorgung kaum bewältigen. Entsprechend sind spezifische Konzepte erarbeitet worden, um präventiv im schulischen Raum wirksam zu werden. Exemplarisch handelt es sich zum einen um ein Emotionstraining zur Förderung emotionaler Kompetenz als Präventionsmaßnahme (vgl. Petermann et al., 2016). In diesem lern- und verhaltenspsychologischen Konzept wird von einem multimethodalen Ansatz ausgegangen, wobei es um Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation geht. Es werden in den aufeinander aufbauenden elf Sitzungen sinnlich stimulierte Übungen zur Achtsamkeit, Methoden der Wahrnehmung von Gefühlen in den unterschiedlichen Dimensionen der Mimik, Gestik, Körperhaltung als auch einer gefühlsmäßig akustischen Wahrnehmung durchgeführt. Dabei werden vier Gefühlsarten zugrunde gelegt, d. h. Ärger, Angst, Freude und Trauer. Im Modelllernen über Rollenspiele und Gefühlsquiz sollen mit der Schülergruppe differenzierte Wahrnehmungsformen eigener und fremder Gefühle geschult
210 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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und modifiziert werden. Dabei wird mit Bildkarten, Fragebögen zu Gefühlsstrategien und mehr gearbeitet. Bereits im Vorschulbereich lassen sich Trainingsformen zur Prävention und Resilienzförderung in der Einbindung von ästhetischgestalterischen Medien einbinden (vgl. Fröhlich-Gildhoff, Dörner & Rönnau, 2007). Es geht gleichfalls um die Entwicklung von Kompetenzen zur Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Selbstwirksamkeit, Stressbewältigung, zu sozialen Fähigkeiten, Problemlösungsstrategien etc. Altersentsprechend wird bei diesem Programm mit Erzählungen anhand von Bildkarten zu einem Kinderpaar (»Eva und Paul«), Rollenspielen mit Ampelanzeige zum Verhalten, FeedbackRitualen sowie mit eigenen Geschichten als gespielte und malerische Umsetzungen sinnlich-konkret gearbeitet. In Großbritannien sind an der Sekundarschule I Projektarbeiten zu Schulabstinenz und Lernförderung durchgeführt worden. Es beinhaltet die Einrichtung eines gesonderten Raumes an Schulen, dem sogenannten »Quiet Place«, in dem eine Auszeit und alternative Achtsamkeits- und Entspannungsübungen für Schüler und Lehrer über einen bestimmten Zeitraum angeboten werden (vgl. Goetze & van Bockern, 2002; Spalding, 2001). Dieses Konzept ist auf eine frühzeitige Interventionspraxis ausgerichtet, um Exklusion bei Kindern mit emotionalen und verhaltensbestimmten Schwierigkeiten vorzubeugen. Es geht von einem ganzheitlichen Ansatz aus in der Förderung der Persönlichkeitsbildung und beinhaltet eine Anzahl von therapeutischen Methoden wie Beratung, Visualisierung, Geschichtenerzählen, Metapher-Arbeit, Massage, computerunterstütze Software-Programme, um Entspannung zu fördern etc. Diese frühe Kriseninterventionspraxis bezieht auch langfristige Angebote anderer Einrichtungen bei Bedarf mit ein. In der schulischen Bereitstellung des Angebotes ist es leicht zugänglich und nicht stigmatisierend. Es betrifft auch Familien, die in risikoreichen sozialen Verhältnissen leben. Die Kinder werden in erster Linie von den Lehrern ausgewählt, oft in Absprache mit dem Personal des »Quiet Place« und immer in Absprache mit den Eltern (vgl. Spalding, 2001). Es handelt sich um ein kurzzeitiges Interventionsangebot von sechs Wochen mit möglichen Wiederholungen. Aus quantitativen und qualitativen Evaluationen geht hervor, dass dieses Interventionsprogramm einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten von Kindern mit emotionalen und verhaltensbedingten Schwierigkeiten hat. Beobachtungsdaten verweisen auf eine signifikante Verbesserung des Verhaltens bei den teil211 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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nehmenden Schülern, die eine »Quiet Place«-Intervention erhalten haben. Im Vergleich mit einer übereinstimmenden Kontrollgruppe sind zudem statistisch signifikante Ergebnisse zustande gekommen. Damit wird auch ein Beitrag zur Inklusion von Schülern an Allgemeinbildenden Schulen geleistet (vgl. Renwick & Spalding, 2002). Vergleichsweise ist in Luxemburg ein multimediales Angebot für Schüler an Schulen als Förderansatz integriert und evaluiert worden, und zwar mittels ausgewählter Musikrezeption und folgenden Textproduktionen bei aggressiven und verhaltensauffälligen Jugendlichen – mit positiven Resultaten (vgl. Schiltz, 2008). Allgemein ist stellenmäßig an deutschen Schulen in sozialen Brennpunkten die Schulsozialarbeit (vgl. Deutsches Rotes Kreuz, 2013) bereits als ein Teil des Bildungs- und Erziehungssystems integriert worden. Es geht um Prävention sowie Intervention im bewussten Umgang mit Heterogenität zur Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe und Anschlussfähigkeit, um migrationsbedingte Defizite, Risiko- und Belastungsdiskurse, methodologische Defizitorientierung und schulische und/oder soziale Probleme von Zuwanderern oder ihren Nachkommen (vgl. Spiess & Pötter, 2011, S. 23). Im Hinblick darauf wird auch hervorgehoben: »Die Schule braucht Ressourcen – Motivation und soziale Unterstützung, die sie selbst nicht herstellen kann, zu deren ›Lieferung‹ sie aber auf eine mehr oder weniger funktionierende Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen angewiesen ist. Solche ›Reproduktionsleistungen‹ für die Schule erbringen z. B. die Mütter mit ihrer Beziehungsarbeit in der Familie, werden aber auch in den psychosozialen Stützungsleistungen von jugendlichen ›Subkulturen‹ erbracht« (Böhmisch & Schefold, 1985, S. 81). Schulsozialarbeit ist als Ergebnis der Kooperation von Kinderund Jugendhilfe und Schule zu verstehen, bezogen auf einen gemeinsamen Erziehungs- und Bildungsauftrag. Als Kernaufgaben der Schulsozialpädagogik werden verstanden: Einzelhilfe und Beratung in individuellen Problemlagen, sozialpädagogische Gruppenarbeit, Projekte und Arbeiten mit Schulklassen, inner- und außerschulische Vernetzung und Gemeinwesenarbeit, offene Angebote für alle Schülerinnen und Schüler (vgl. Haupt, 2013, S. 23). Es geht um die Stützung der individuellen Entwicklung von sozial benachteiligten und individuell beeinträchtigten Schülern, die durch biografische Risiken von Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, wie auch jene, die den vorhandenen Zugang zur Angebotspalette für sich nutzen wollen. In dem Zusammenhang wird auch die Schaffung von Lernanlässen für 212 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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positive Selbstwirksamkeitserwartungen und den Abbau der für marginalisierende Lebenslagen typischen Selbststigmatisierungstendenzen einhergehend mit der Durchführung von Trainingsprogrammen wie zur Gewaltprävention und Peer-Mediationen hervorgehoben. Gleichfalls sind die individuellen Ressourcen in ihren Lebenswelten wahrzunehmen. Dahingehend wird die Schaffung von komplexen Fördersettings, welche die Perspektive der Resilienz betonen, damit die grundsätzliche Fähigkeit der Krisenbewältigung als Anlass zur Entwicklung genutzt werden kann, als Hilfe für biografische Lebensbewältigung und der damit verbundenen Bewältigungsanforderungen gefordert (vgl. Spiess & Pötter, 2011. S. 53). Zugleich beinhaltet es sozialräumliche Handlungsansätze, d. h.: »Der Sozialraum wird im Rahmen eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses in die Arbeit einbezogen (Stadtteil, Infrastruktur, Betriebe, Freizeitangebote, Familien, Sozialstruktur u. a.), Schulsozialarbeiter/innen unterstützen die Schule in deren Bestreben, sich dem Sozialraum zu öffnen« und dazu »gehört auch die Vernetzung mit sozialen Diensten und Einrichtungen und die Kooperation mit dem Jugendamt, freien Trägern, Initiativen, Stadtteilarbeitskreisen, Vereinen und Betrieben. Schulsozialarbeiter/innen arbeiten in bestehenden Kooperationsstrukturen« (Kooperationsverbund Schulsozialarbeit, 2006, S. 11). Auch in diesen Kontexten werden Partizipation und Inklusion unterstützt, und zwar insbesondere im sozialen Handlungsraum.
II.
Heilpädagogische Förderung über ästhetischgestalterische Mittel an Schulen
Wenn das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011, S. 11) fordert: »Gemeinsamkeit von Anfang an. Das gilt für die Erziehung und Bildung in Familie, Kindergarten und Schule«, so sind in diesem Kontext auch Heilpädagogen besonders gefordert, um eine Schule für alle zu gestalten bzw. Bildung unter dem Aspekt der Inklusion und Partizipation voranzutreiben (vgl. Berufs- und Fachverband Heilpädagogik, 2012). Heilpädagogik ist als Handlungswissenschaft zu verstehen, um Menschen mit individuellen körperlichen, geistigen oder psychosozialen Beeinträchtigungen über spezielle Angebote Unterstützung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. An Schulen ist – wie bereits ausgeführt – eine Zunahme von 213 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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psychischen Belastungssituationen aufgrund von Migrationskontexten, familiären Konfliktsituationen wie Trennung, Krankheit, Arbeitslosigkeit etc., aber auch Missbrauchserfahrungen, gruppendynamischen Ausgrenzungen, Lernstörungen etc. wahrzunehmen. In Beziehung zur Schulsozialarbeit wird mit der Einbeziehung heilpädagogischer Förderangebote eine Multiprofessionalität und interdisziplinäre Zusammenarbeit an Schulen gestützt. Heilpädagogen können förderdiagnostische, lernbegleitende, beratende, methodische und organisatorisch-rechtliche Unterstützung an Schulen bieten und zugleich als Hilfe bei der Zusammenarbeit mit dem sozialen Umfeld wirksam werden. Es geht dabei um eine Vernetzung bildungsbegleitender und außerschulischer Integrations- und Förderangebote. Heilpädagogische Handlungskonzepte sind allgemein zu beziehen auf die Förderung von individuellen und gemeinsamen Entwicklungsprozessen von Schülern sowie ein Begleiten von Teilhabemöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen mit Unterstützungsbedarf innerhalb der schulischen und außerschulischen Bezugssysteme. Im Hinblick darauf ist auch eine heilpädagogische Förderung an Schulen mittels ästhetisch-gestalterischer Mittel sinnvoll, da der Zugang niederschwellig ist und ein selbstbestimmtes Gestalten ermöglicht. Eine Schulbegleitforschung an drei Schultypen in Bremen (vgl. Hampe, 2006; 2007; Hampe & Hegeler, 2004; 2008; 2009) belegt in den qualitativen und quantitativen Erhebungen die Wirksamkeit dieses Angebotes auf die Persönlichkeitsentwicklung. Dabei geht es beispielsweise um die Stärkung der Beziehungskompetenz, die Unterstützung von Selbstwahrnehmung und Identitätsbildung, die Aktivierung von Motivation, Vitalität und Lebensfreude, ein »GesehenWerden«, Erleben von Beachtung und Zugehörigkeit, die Stärkung der Empathiefähigeit in Resonanz zu Anderen, die Mobilisation innerer Bilder und gestalterischer Ausdrucksgebung sowie um Ressourcenaktivierung und Stimulation von Resilienzfähigkeit. In Relation zu den heutzutage bestehenden kulturellen Erfahrungen von Schülern, wie beispielsweise über japanische Spielkarten, Comicspiele, Videos und DVD-Filme, fordert der ästhetisch-gestalterische Zugang ein aktives selbstbestimmtes Handeln heraus und basiert auf Lernen am Material – ähnlich wie es auch die BauhausPädagogik vertrat – und einer Kreativitätsförderung für die Bewältigung von Alltagsproblemen. Demgegenüber ist die Lebenswelt von Schülern vielfach von Science-Fiction-Gestalten als teuer zu erwerbende Kartenspiele und ähnliches geprägt, weiterhin von vielschich214 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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tigen Computerspielen und Filmen, wobei es stets um die Potenz des Stärkeren geht. Eigene sinnlich erlebbare Kompetenzen und Gefühlswahrnehmungen bleiben hinter der Identifizierung mit Scheinidolen – auch aus der Werbeindustrie – zurück. Im gemeinsamen ästhetischgestalterischen Tun, wo es um die Aktivierung eigener Vermögensformen und auch einen regressiven Nachvollzug von Abgewehrtem wie z. B. im Manschen und Schmieren gehen kann, werden Schüler aktiv in ihrer Ausdrucksgebung gefordert. Es beinhaltet zugleich eine Sinnesschulung im Miteinander-Gestalten der Schüler und ein Aufeinanderzugehen durch methodisch angelegte Lernprozesse. Im Gestalten von Gemeinschaftsobjekten neben individuellen Ausdrucksgebungen kann exemplarisch ein Miteinander-Kooperieren geübt werden, wobei das entstandene ästhetische Objekt zur Identifikationsgestalt des gemeinsamen Prozesses wird. Im Hinblick darauf sind methodische Anleitungen bzw. Hinführungen für die Schüler erforderlich und bilden einen Rahmen für den gestalterischen Prozess. Dies kann sich auch auf ein Einander-Zuhören, ein Mitfühlen und ein sich gegenseitiges emotionales Stützen beziehen, ebenso auf ein Miteinander-Gestalten und ein gemeinschaftliches Zusammentragen zu einem neuen ästhetischen Ganzen. Zu ästhetisch-gestalterischen Medien bei verhaltensauffälligen Schülern an allgemeinbildenden Schulen als integrative Fördermaßnahme liegen kaum Arbeiten vor (vgl. Hampe, 1991; Richter-Reichenbach, 2007). Dagegen sind zur Integration kunsttherapeutischer Methoden an Sonderschulen umfangreichere Schriften veröffentlicht worden (vgl. Richter, 1984; Bröcher, 1997; Hampe et al., 1999; RodeSchulte & Kenzler, 2006). Die Projektstudie in Bremen sollte als Förderangebot erprobt werden, um eine präventive und interventive Stützung von verhaltensauffälligen Schülern vor Ort über den Einsatz ästhetisch-gestalterischer Medien zu untersuchen – ohne eine mögliche stigmatisierende Ausgrenzung von Schülern bezogen auf andere Institutionen vornehmen zu müssen. Wesentliche Erkenntnisse aus der Prä- und Poststudie beinhalten eine Zunahme der Empathiefähigkeit, was zugleich auch als Gewaltprävention verstanden werden kann. So blieben bei der Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie (IVE-Fragebogen) bei Grundschülern Impulsivität und Risikoverhalten zwar annähernd gleich, die Empathie stieg dagegen an. Die Kinder waren zum Ende der Förderung eher bereit, sich auf die Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse Anderer einzulassen und 215 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Inventar
Diagramm a) Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie (IVE) bei Grundschülern in Bremen
konnten sich nach eigener Einschätzung besser in andere Kinder einfühlen. Dies stellt ein wichtiges Ergebnis dar, da es aufzeigt, dass es sich in der Fördergruppe nicht um unsensible, ich-bezogene Einzelkämpfer handelte, sondern um einfühlsame Kindern, die im Miteinander ihr Einfühlungsvermögen noch steigerten. Anzumerken ist, dass alle drei Faktoren (Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie) schon zum ersten Befragungszeitpunkt im Durchschnittsbereich lagen (vgl. Diagramm a). In der Erfassung der sozial-emotionalen und sozial-kognitiven Kompetenz sowie der Kompetenz im Sozialverhalten hatten sich die beteiligten Schüler vom ersten zum zweiten Messzeitpunkt gesteigert. Damit hatte die Förderung offensichtlich auch Auswirkungen auf die von den Lehrern wahrgenommenen Bereiche der sozialen Kompetenz. Dabei handelte es sich nicht um eine Selbsteinschätzung der Schüler mit allen Unwägbarkeiten der Verzerrung, sondern um die Fremdeinschätzung durch die Klassenlehrerinnen oder Klassenlehrer (vgl. Diagramm b) mit tendenzieller Verbesserung in allen Bereichen.
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Soziale Kompetenz
Diagramm b) Soziale Kompetenz (Lehrerfragebogen) bei Grundschülern in Bremen
Die Bedeutung sinnlich-symbolischer Erfahrungen für Lernprozesse und ästhetisch-gestalterische Angebote an Schulen Aus den neueren neurobiologischen Forschungsergebnissen mit bildgebenden Verfahren geht hervor, dass Lernen einen erlebnisorientierten Zugang oder Erfahrungen zur Grundlage hat, die sinngebend sind. Entsprechend hebt Gerhard Roth (vgl. 2001) hervor, dass eine Willensentscheidung vom limbischen System motiviert wird und die Bahnen, die von den unbewussten Zentren zur bewusstseinsfähigen Großhirnrinde führen, viel stärker ausgeprägt als die Bahnen in umgekehrter Richtung sind. »Bewusste Vorgänge werden daher stark vom unbewussten, limbischen System beeinflusst, haben aber selbst nur geringe Entwicklungsmöglichkeiten in die umgekehrte Richtung« (Roth, 2000, S. 414). Auch Gerald Hüther hebt die Bedeutung innerer Bilder hervor, die prägend für einen positiv verlaufenden Lebensprozess werden können (vgl. Hüther, 2004, S. 49 ff.). Demzufolge ist es das emotionale Gedächtnis, das Handeln bestimmt und für die Veränderung von Handlungen entscheidend ist. Um Gewohnheiten oder festgefahrene Verhaltensweisen zu überwinden, bedarf es folglich auch alternativer Erlebenssituationen. Wie im affektiven Traumerleben neue Formen der Affektmusterzusammenhänge erprobt werden bzw. Tages- und Lebensereignisse affektiv verarbeitet und spielerisch neue Formen gefunden werden können (vgl. Rüther et al., 217 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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2000), lässt sich ein erlebnisbezogener Handlungszusammenhang im spielerischen Sinne therapeutisch nutzen. Diese spielerische Veränderung von Affektmustern kommt auch dem ästhetischen Gestaltungsprozess zu – ähnlich wie auf einer Art Tagtraumebene. Es können neue Handlungsmuster erprobt und über ein affektives Ausdrücken im gestalterischen Prozess belastende Erfahrungen transformiert und transzendiert werden, und zwar in der assoziativen Lockerung der Hirnfunktionen unter der Schwächung der zentralen ordnenden Kontrolle, dem Auflösen affektiver Muster und dem spielerischen Erproben und Erleben neuer affektiver Muster. Weiterhin wird, bezogen auf die Entdeckung neurobiologischer Zentren, die für Lebenswille, Energie, Motivation und Lust an Leistungen sorgen, der Aspekt der persönlichen Beziehung in der Anerkennung und Wertschätzung über eine Beziehungsperson sowie die Bedeutung von Vorbildern als Lernen am Modell in der Aktivierung von Spiegelneuronen im Gehirn (vgl. Bauer, 2007, S. 16 ff.) betont. In der Hinsicht können ästhetisch-gestalterische Prozesse in ihrer sinnlichen Präsenz und im gestalterischen Miteinander auf vielschichtigen Ebenen förderlich für Kinder und Jugendliche sein. Kinder- und Jugendzeichnungen können zudem als Ausdrucksmedium auf belastende Lebenssituationen wie auch auf ungelebte Wünsche und Hoffnungen verweisen. Über den Gestaltungsprozess kann eine kathartische und entspannende Wirkung zustande kommen (vgl. Hampe, 1999, S. 104 ff.), wobei Ängste, Widerstände und Blockaden in der Ausdrucksebene wieder einem Kommunikationsprozess auf der transverbalen Ebene zugänglich werden. Die bildnerischen Ausdrucksformen lassen sich als Sprachformen des Unbewussten wahrnehmen und vermögen in verschlüsselter Form Erlebnisinhalte zu repräsentieren (vgl. Bach, 1995; Furth, 1991; Richter, 1999 u. a.). Vielfach sind es Gestaltungsformen, wo unproportionale Größenverhältnisse, Verzerrungen, Deformierungen und destruktive Spuren, d. h. Gestaltzerfall und rigide Ordnungsstrukturen, Retardierungen und Regressionen u. ä. auftreten, die erlebte bedrückende Erfahrungen ausdrücken können. Von daher werden Kinderzeichnungen bei Beratungsstellen und Therapieeinrichtungen vermehrt verwendet, nicht nur bezogen auf den Wachstums- und Reifungsprozess, sondern auch als Persönlichkeitsdiagnostik und therapeutisches Mittel (vgl. Wichelhaus, 1993). Als Präventionsund Interventionsformen sind ästhetisch-gestalterische Praxisformen stets an ein Setting gebunden. 218 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Bezogen auf frühe Entwicklungsprozesse ist zu bedenken, inwieweit diesen spielerischen ästhetisch-gestalterischen Prozessen nicht nur eine aufdeckende, sondern auch eine verarbeitende Funktion in der Reorganisation, Differenzierung und Integration von Lebenserfahrung zukommen kann bzw. eine Brückenfunktion in der Schaffung von Übergängen zu Neuanfängen und in der Transformation von Vergangenem als zyklischem Prozess. Dies betrifft auch Bindungsproblematiken, die auf frühe Beziehungspersonen zurückverweisen und allgemein ein sicheres, unsicher-vermeidendes, unsicherambivalentes oder ein desorientiertes/desorganisiertes Verhalten zur Folge haben können (vgl. Bolwby, 1982/1969; Julius, 2001a, S. 176). Unter diesem Gesichtspunkt geht es um den Aufbau von Übergangserfahrungen mittels des ästhetischen Spiels und Ausdrucks, und zwar gleichfalls im Aufbau von sozialen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Rahmen einer tragenden Beziehung, auch im Verhältnis von Schülern und begleitenden Heilpädagogen. Allgemein beinhaltet das ästhetisch-gestalterische Angebot eine Förderung zur Selbstkompetenz. Es ist ein ressourcenorientiertes Arbeiten – wie beispielsweise mit dem Stärketier, der Schatzkiste, dem sicheren Ort, Malen nach Musik etc. – und ist multimedial verankert mit Achtsamkeitsübungen und Resilienzförderung, der Stimulation innerer Bilder über Märchen, Tagtraumimaginationen etc. als auch einhergehend mit der Einbeziehung des Körpers im Sinne des Embodiments (vgl. Storch et al., 2007). Ein dialogisches Arbeiten wie das Schnörkelspiel bei Winnicott (vgl. 1971; 1973) und Lernspiele entsprechend dem Ansatz einer Lernförderung gehen einher mit dem Aufbau von tragfähigen Beziehungen, der Stärkung des Selbstwertgefühls, einer psychischen Stabilisierung, der Stützung der eigenen Selbstwahrnehmung sowie einer Anleitung zu konstruktiven Umgangsformen mit Stützung einer Lebenszielorientierung und Vermittlung von Sinnzufuhr in der Identitätsbildung im gestalterischen Erlebensprozessen.
Zum Setting des ästhetisch-gestalterischen Förderangebotes Ausgehend von der Annahme, dass über alternative Erfahrungs- und Handlungsfelder eine Veränderung von festgefahrenen Verhaltensformen leichter initiiert werden kann, beinhaltet das Setting im Projekt eine Verknüpfung von Entspannung, Tagtraumimagination, ge219 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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stalterischem Ausdruck und assoziativer Belebung des Gestalteten. Es geht darum, im schulischen Rahmen einen intermediären Zeit- und Raumbezug zu schaffen, wie es beispielsweise Donald Woods Winnicott (vgl. 1973, S. 10 ff.) für den spielerischen Prozess hervorgehoben hat. Dabei bedarf es einer Begegnung im Spielerischen, wo eine Dialogfindung über Initiierung eines ästhetischen Prozesses zustande kommt. Für Winnicott (vgl. 1973) ist es das Schnörkel-Spiel in der assoziativen Ausgestaltung von einer vorgegebenen Linie im Wechsel, bei dem dialogischen Malen ist es die gemeinsame Erstellung eines Gesamtbildes im Wechselspiel und beim Märchendialog das additive Erzählen. Grundlegend ist ein offener Gestaltungsprozess, in dem ein Zugang zu Potentialen der eigenen Kreativität ermöglicht wird. Der Aufbau des Angebotes gliedert sich grob in drei Phasen unter Einbindung multimodaler Angebote, d. h. in eine Einleitungsphase mit einer Befindlichkeitsrunde – wie mittels Blitzlicht, Symbolkarte als Smiley zum Selbstempfinden, Entspannungsübung etc. –, eine Aktivierungsphase mit thematischen und/oder freien Gestaltungsanlässen in der Einbeziehung unterschiedlicher Materialangebote, auch Lernspiele sowie eine Abschlussphase mit gemeinsamem Betrachten und Kommentieren der gestalteten Arbeiten, einer Symbolkarte als Smiley zum Selbstempfinden etc. Als ästhetisch-gestalterische Ziele können allgemein gelten, Entspannung und Zugang zu inneren Bildern, kreative Gestaltungsformen zu erproben, Gefühle ästhetisch-gestalterisch auszudrücken, soziale Kompetenz im »Miteinander-Gestalten« zu entwickeln, psychisch-soziale Konflikten in dem Gestalteten zu projizieren, persönlichkeitsbildende Ausdrucksformen zu finden, Konzentrationsfähigkeit und kommunikative Ausdrucksbildung zu fördern, Mitteilungsfähigkeit im Dialog als soziale Kompetenz zu stützen, Sinnfindung und Zielorientierung zu ermöglichen u. a. Das Gestaltete ist stets Ausdruck eines inneren Erlebens und einer Interaktionspraxis. In der Hinsicht verweist es auch auf Verarbeitungsformen von Lebensereignissen in ikonisch-symbolischen Darstellungsformen bzw. bildet eine Projektionsebene assoziativer Erlebensinhalte, wie sie auch in einem projektiven Test bestehen. Der ästhetische Ausdruck in der gestaltbildenden Objektivierung kommt einem Gestalten innerer Bilder in ästhetischen Objekten gleich. Es erfolgen Übertragungen in der Resymbolisierung innerer Bilder, die eine Objektivierung im ästhetischen Prozessverlauf erhal220 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ten. In dem Sinne geht es auch um eine Aktivierung innerer Ressourcen in der Transformation innerer Gefühle, wobei ästhetisch-gestalterische Ausdrucksmöglichkeiten zur spielerischen Förderung von Selbstkontrolle und Selbststeuerungspotentiale bzw. zur Entwicklung von Empathiefähigkeit dienen und zur Persönlichkeitsbildung sowie frühen Förderung bei Lernstörungen, Lernschwierigkeiten und Lernbehinderung beitragen. Es ist das dialogische Moment in der Beziehungsdynamik zwischen dem Gestaltenden, dem Gestalteten und dem Begleitenden als spielerische Komponente. So kann auch das dialogisches Spiel mit Kritzelzeichnungen und projektiven Geschichtenerzählungen in Anlehnung an Winnicott (vgl. 1973) eingesetzt werden, aber auch andere projektive Testverfahren wie der »Silver Drawing Test« (vgl. Silver, 2007) zur Diagnostizierung von Aggression und Depression sind verwendbar. Auch die beiden projektiven Testformen wie das »Vogelnest« (Bird’s Nest – BND) und »Ein Mensch pflückt einen Apfel vom Baum« (A Person Picks an Apple from a Tree – PPAT) bieten Gestaltungsanlässe, die zum einen auf Bindungsaspekte und zum anderen auf die Selbst- und Handlungskompetenz bezogen sind. Als Prä- und Post-Test zu Beginn und zum Ende des Schuljahres eingesetzt, vermitteln sie tendenziell einen Eindruck über die Erweiterung von Kompetenzen.
Heilpädagogische Förderung mittels ästhetisch-gestalterischer Mittel an einer Grundschule in Freiburg In Bezug auf einen Transfer des Pilotprojektes von Bremen wurde an einigen Schulen in Freiburg ein ähnliches Angebot aufgebaut, und zwar insbesondere für Kleingruppen an einer Ganztagsschule im sozialen Brennpunkt. Aber auch Einzelinterventionen, die jeweils über ein ganzes Schuljahr mit Prä- und Postuntersuchungen verliefen, wurden über die studienintegrierte Praxis von Studierenden der Heilpädagogik der KH Freiburg mit wöchentlichen Beratungseinheiten durchgeführt. Um eine vergleichende Studie zu erstellen, wurden entsprechende Testmaterialien (IVE und Lehrerfragebogen) wie in Bremen eingesetzt. Die Studie bezog sich auf einen Zeitraum von zwei Schuljahren, während die Projektarbeit bereits seit 2007 über Honorarverträge und studentische Mitarbeit von Heilpädagogen mit kunsttherapeutischem Studienschwerpunkt etabliert wurde. Es wur221 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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IVE (m = Paare, 8–10 Jahre) 1. + 2. Jahrgang
den nur Prä- und Posttestergebnisse mit der entsprechenden Altersstufe aus den Gruppenangeboten in der Vergleichsstudie ausgewertet; und diese wiederum nur bei Vollständigkeit der Unterlagen. Von daher ist die Anzahl der Teilnehmer geringer im Vergleich zum tatsächlichen Angebot. Zusätzlich wurde noch der BND-Test und PPAT-Test, auch als Prä- und Postuntersuchung, mit einbezogen. Wie in der vorherigen Studie lagen die drei Faktoren des IVE (Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie) zu Beginn der ersten Befragung bereits im Normbereich zwischen 40 bis 60. Dennoch kam es zu einer Zunahme in der Empathiefähigkeit, z. T. über den Normbereich hinaus. Gleichzeitig hat in einigen Bereichen die Impulsivität zugenommen, insbesondere im ersten Jahrgang, was möglicherweise auf eine Stärkung des Selbstbewusstseins verweisen mag, aber weitergehend untersucht werden müsste. Diese Abweichungen zur Impulsivität in den beiden Jahrgängen kamen auch durch Ausreißer im ersten Durchgang zustande, was auf die unterschiedliche Gruppenzusammensetzung an einer Schule im sozialen Brennpunkt und vielen Schülern mit Migrationshintergrund verweisen mag. Da es sich um kein standardisiertes Trainingsprogramm gehandelt hat, sondern um ein gestalterisches Angebot, in dem eine multimodale Förderung vorlag und Schüler nicht im Vorfeld nach einheitlichen Gesichtspunkten ausgewählt, sondern von Klassenlehrern und Schulsozialarbeitern empfohlen wurden, ist die Spannbreite verständlich. Weiterhin sind kontextbezogene Einflüsse wie längerer Lehrerausfall aufgrund von Krank222 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Inventar Schuljahr 2014/15 Mittelwert (n = 6)
Inventar Schuljahr 2015/16 Mittelwert (n = 8)
Diagramm c) Inventar zum IVE bei Grundschülern in Freiburg, ergänzend 1. + 2. Jahrgang
223 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Soziale Kompetenz (Lehrerfragebogen) Paare – 2. Jahrgang
Diagramm d) Soziale Kompetenz (Lehrerfragebogen) bei Grundschülern in Freiburg Kritische Selbstkontrolle
Diagramm e) Beobachtungsbogen zur Selbstkontrolle von Grundschülern in Freiburg
heit, familiäre Belastungen etc. zu berücksichtigen. Es handelt sich um eine Studie, die im Vergleich zu der Studie in Bremen ebenso die Wirksamkeit des Angebotes zur Empathiefähigkeit aufzeigt bzw. die Forschungsergebnisse bestätigt (vgl. Diagramm c). In der Auswertung des Lehrerfragebogens (vgl. Diagramm d) wurde deutlich, dass trotz aller Störvariablen die Einschätzung der sozialen Kompetenz stabil bzw. tendenziell als verbessert von den Klassenlehrern in der Fremdeinschätzung wahrgenommen wurde. 224 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Frustrationstoleranz
Diagramm f) Beobachtungsbogen zur Frustrationstoleranz von Grundschülern in Freiburg Durchsetzungsvermögen
Diagramm g) Beobachtungsbogen zum Durchsetzungsvermögen von Grundschülern in Freiburg Selbstbild
Diagramm h) Beobachtungsbogen zum Selbstbild von Grundschülern in Freiburg
225 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Anzumerken ist, dass eine Auswertung stets abhängig ist von dem Mitwirken der Klassenlehrer, was bei dem ersten Durchlauf aufgrund von schulischen Überforderungen nicht durchgehend bestand. Die Beobachtungsbögen der Gruppenleiter von den beiden Angeboten pro Schuljahr im Rahmen von Wochenprotokollen zum zweiten Jahrgang ergaben ergänzend zur kritischen Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz, zum Durchsetzungsvermögen und Selbstbild tendenzielle Verbesserungen (vgl. Diagramm e–h). Ergänzend wurden bei dieser Studie noch zwei projektive Testverfahren als Prä- und Posterhebung einbezogen. Auch wenn die zeitlichen Bedingungen durch die Gruppenleiter nicht immer den zeitlich notwendigen Rahmen berücksichtigt haben, sind die Ergebnisse dennoch interessant. Der projektive Test »Ein Mensch pflückt einen Apfel vom Baum« (PPAT) wurde mit 14 gleichwertigen Intervallmess-Schemata als formale Elemente des FEAT (Formal Elements Arttherapy Scale) im Rating Manual (Gantt & Tabone, 1998; Bat, 2014) ausgewertet. Die formalen Elemente oder globalen Variablen sind an Symptome spezifischer DSM-IV TR Axis-I psychischer Störungen angelehnt und nach folgenden Items von 0–5 unterschieden. 0 Baum, Apfel und/oder die Person fehlt; Gegenstände können nicht identifiziert werden. 1 Die Person hat keinen Apfel in der Hand, oder es gibt keine Äpfel in einem Behältnis auf dem Boden. 2 Die Person hat den Apfel in der Hand, aber es ist nicht offensichtlich, wie er/sie ihn bekommen hat. 3 Die Person pflückt den Apfel gepflückt, aber diese Lösung ist nicht realistisch. 4 Die Person steht auf dem Boden oder z. B. auf einer Leiter und streckt sich nach dem Apfel. 5 Die Person wird im Prozess des Apfelpflückens gezeigt, das gesamte Bild drückt dies aus. Es ist auffallend, dass sich eine Zunahme in der Kompetenz zum Pflücken des Apfels überdurchschnittlich in den Zeichnungen zeigt (vgl. Diagramm i), während die Items 0 und 1 gleich blieben. Die PPAT – CPP Skala (Children’s Picking Process Scale) bezieht sich dagegen auf das Problemlösungsverhalten bzw. auf die Position des Pflückens und die Art der Darstellung wie folgt: 1. Keine Resonanz zur gestellten Aufgabe: Zeichnung enthält keinen Baum, Person oder Apfel.
226 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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PPAT: FEAT-Skala Problemlösung 1. + 2. Jahrgang
Diagramm i) projektiver Test PPAT: FEAT Skala zur Problemlösung
2. 3.
4. 5.
Juxtaposition: Die Person pflückt keinen Apfel; (mit oder ohne Apfel in der Hand). Juxtaposition mit »Pflück«-Hilfsmittel: Die Person pflückt nicht (mit oder ohne Apfel in der Hand); jedoch wurde eine »PflückHilfe« gezeichnet (z. B. Leiter). Magisches Pflücken: Die Person pflückt den Apfel durch eine magische Lösung. Realistisches Pflücken: Die Person wird in einem realistischen Pflückmoment gezeigt, mit oder ohne Hilfsmittel (Leiter, etc.). Die Person erreicht den Apfel mit der Hand.
Ein realistisches Pflücken beinhaltet, dass die Person in einem konkreten Pflückmoment gezeigt wird, mit oder ohne Hilfsmittel (Leiter etc.). Die Person erreicht den Apfel mit der Hand. In den beiden untersuchten Schuljahren wurde in Prä- und Posttests deutlich, dass es zu einer Zunahme in der Darstellung von einer Person beim Apfelpflücken gekommen ist. Dies könnte einerseits entwicklungspsychologisch im besseren Verstehen der Aufgabe begründet sein, aber andererseits auf eine Verbesserung der Selbstkompetenz in Anlehnung an die Testausrichtung verweisen. Nur ein kleiner Anteil der Kinder hatte nicht auf die Aufgabe Bezug genommen, dennoch wird insgesamt eine überdurchschnittliche Zunahme in der Kompetenzdarstellung sichtbar.
227 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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PPAT: CPP-Skala Kompetenz des Pflückens 1. + 2. Jahrgang
Diagramm j) projektiver Test PPAT: Kompetenz des Pflückens
Mit einer exemplarischen Darstellung von Prä- und Post-Zeichnungen soll dies im Folgenden anschaulich verdeutlicht werden (vgl. Abb. 1–3). Anzumerken ist, dass die Schüler in keinster Weise auf die Testausrichtung aufmerksam gemacht wurden.
Abb. 1a + b) Prä- und Post-Test zum PPAT
228 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 2a + b) Prä- und Post-Test zum PPAT
Abb. 3a + b) Prä- und Post-Test zum PPAT
229 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Im Hinblick auf den projektiven Test zum Vogelnest (BND: Bird’s Nest Diagnosis) wird das Bindungsverhalten untersucht (Kaiser & Deaver, 2009; Harmon-Walker & Kaiser, 2015). Dieser Test ist auf die Bindungstheorie von Bowlby (vgl. 1982) und Ainsworth (vgl. 1978) bezogen. Zum einem geht es um die bildnerische Darstellung einer Vogelfamilie und Störungen im Nestbau nach zwei Hauptkategorien (unterteilt in 11 Items) bezogen auf vorhanden (ja) und nicht vorhanden (nein): 1. Vögel 2. eine Vogelfamilie 3. eine Umgebung 4. vier oder mehr Farben 5. Grün ist die dominante Farbe. 6. Braun ist die dominante Farbe. 7. Das Nest ist geneigt. 8. Das Nest hat keinen Boden. 9. Das Nest befindet sich in einer ungeschützten Position. 10. Es gibt mehrere Zeichenanläufe, durchgestrichene Bereiche oder Radierspuren. 11. Es gibt bizarre, zusammenhangslose oder planlose Elemente. In Hinsicht auf die Darstellung einer Vogelfamilie und die Art des Nestbaus hat sich bezogen auf zwei Hauptkategorien, unterteilt nach den 11 Items, eine tendenzielle Verbesserung gezeigt. Entsprechend der Testauswertung bezieht sich eine Kategorie auf die Darstellung einer Vogelfamilie (1–5) und die andere auf Störungen in der Nestgestaltung (6–11). In der Auswertung (vgl. Diagramm k) hat sich Folgendes ergeben: Die Zunahme von vorhandenen Darstellungen bei den Items 1–5 bzw. die Abnahme von nicht-vorhandenen Gestaltungen verweist auf eine tendenzielle Verbesserung im Beziehungsverhalten. Die Zunahme von nicht-vorhandenen Darstellungen bei den Items 6–11 lässt dagegen auf eine gewandelte positivere Wahrnehmung des Beziehungsfeldes schließen. In der exemplarischen Wiedergabe einiger Bildbeispiele (vgl. Abb. 4–7) lässt sich die Auswertung vom leeren Nest, Abwesenheit bzw. Abwendung von Elternvögeln tendenziell nachvollziehen.
230 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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PPAT: 2 Kategorien Vogelfamile (1–5) / Störung am Nest (6–11) 1. + 2. Jahrgang
Diagramm k) projektiver Test BND: Vogelfamilie (1–5) – Störung des Nestbaus (6–11)
Abb. 4a + b) Prä- und Post-Test zum BND
231 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 5a + b) Prä- und Post-Test zum BND
Abb. 6a + b) Prä- und Post-Test zum BND
232 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 7a + b) Prä- und Post-Test zum BND
Im Hinblick auf das Bindungsverhalten werden in diesem projektiven Test (BND) zwischen vier Kategorien zum Gesamteindruck unterschieden. Demzufolge lassen sich im Prä- und Post-Test Veränderungen ableiten. Es betrifft: sicher – Gesamteindruck ist heiter, realistisch und/oder gelassen; wirkt einladend. (Bild ist einladend / wirkt strukturiert und geordnet / kann eine realistische Umgebung beinhalten / Vogel oder Vögel sind dargestellt / Grün ist die dominante Farbe in der Zeichnung) vermeidend – Gesamteindruck ist Isolation oder Einsamkeit, Abwesenheit von Verbundenheit und/oder Abwesenheit von Ereignissen oder Bewegung. (Nest ist leer oder enthält Eier, aber keine Vögel (mit Ausnahme von Schemen) / wenig oder keine Farbe wird verwendet / keine oder wenig Umgebung wird gestaltet / Nest kann sich neigen und/oder keinen Boden haben) ambivalent – Gesamteindruck ist Schutzlosigkeit/Verletzlichkeit / das Nest ist unsicher oder ungeschützt vor den Elementen und/ oder Raubtieren / das Nest ist in einer ungeschützten Art gezeichnet. (Nest ist gefährlich am Ende eines Astes gemalt / Nest ist an der Spitze eines Baumes oder einer anderen Stütze oder ungeschützt am Boden / Braun ist die vorherrschende Farbe / Nest oder sein Inhalt sind ungewöhnlich groß oder klein / Zeich-
233 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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nung zwängt sich in eine »Papierecke« / Zeichnung zeigt eine übertriebene »Niedlichkeit« oder »Lieblichkeit«) desorganisiert – Gesamteindruck ist irrational, desorganisiert, ominös und/oder unheilverkündend. (Bild vermittelt einen verstörenden Eindruck / Neustarts auf der Rückseite des Blattes oder auf einem neuen Blatt Papier / exzessive Radierspuren, die das Bild nicht verbessern / komische Zeichen, irrationale Elemente, unbeendete Objekte und/oder ausgelöschte Objekte /signifikante Elemente sind an die Papierkante gedrängt, wie z. B. Elternvögel, die ihre Babys füttern oder nur der Kopf eines Elternvogels) In der Auswertung zum Gesamteindruck zeigte sich entsprechend der vier Kategorien eine Verbesserung, wobei anzumerken ist, dass äußere familiäre Faktoren nicht immer beeinflussbar sind. Die Durchführung der Zeichnung erfolgte zu einem situativen Zeitpunkt, der den Kontext der aktuellen Familiensituation unberücksichtigt ließ, und zwar bezogen sowohl auf den Prä- als auch Post-Test. Zudem bestanden zeitliche Einschränkungen in der projektiven Gestaltung durch die Vorgaben der Gruppenleiter. Die Auswertung des Tests zeigt dennoch auf, dass es bei einem Großteil der Kinder zu einer Verbesserung gekommen ist. Nur vereinzelt haben teilnehmende Kinder Positionen im belastenden Bereich gezeigt, wobei sich diese Positionen teilweise aufgelöst haben (vgl. Diagramm l). Demzufolge kam es zu einer tendenziellen Verbesserung, was die Kategorie »sicher« mit »ja« betrifft und zu einer tendenziellen Verbesserung, was die Kategorie »desorganisiert« mit »nein« betrifft. Ein Großteil der teilgenommenen Schüler ist demnach zwischen »sicher« und »vermeidend« einzuordnen gewesen. Interessant ist, dass es trotz der begrenzten Testzeit durch die Gruppenleiter und die situativen Testbedingungen auch in relativ einfachen Bildgestaltungen zu auffälligen Verbesserungen in der Darstellung gekommen ist, ohne dass Schüler darauf aufmerksam gemacht worden sind.
Exemplarische Falldokumentationen Unter dem Gesichtspunkt einer qualitativen Analyse sind auch die ästhetisch-gestalterischen Prozesse mit den Bildgestaltungen zu reflektieren. Anhand einiger kurz zusammengefasster Fallbeispiele in 234 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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BND: 4 Kategorien zur Bindung Gesamteindruck 1. + 2. Jahrgang
Diagramm l) projektiver Test BND: Gesamteindruck zur Bindungsthematik
der selbst durchgeführten Begleitung von Schülern im Rahmen des Projektes in Bremen an drei Schulformen soll ein Einblick gegeben werden, was anhand des bildnerischen Ausdrucks unbewusst verarbeitet werden kann. Die Namen und Kontextbezüge wurden in der Darstellung anonymisiert. Es soll ein Eindruck von Gestaltungsverläufen vermittelt werden, wobei der Prozess des ästhetisch-gestalterischen Ausdrucks auf sinnlich-symbolische Bearbeitungsformen von exemplarischen Konfliktfeldern und Identitätsbildungen verweist. Miriam, 1. Klasse Sie war acht Jahre alt und ging in die 1. Klasse, als sie im Frühjahr erstmalig an einer Gruppensitzung mit zwei bis vier anderen Schülern teilnahm. Sie wurde von ihrer Klassenlehrerin empfohlen, da sie durch Vernachlässigung aufgefallen war. Sie hatte eine 3-jährige Schwester und musste sich morgens selbst versorgen, kam öfters zu spät und ohne Pausenbrot zur Schule. Sie war im Unterricht zum Teil leicht unkonzentriert. Ihr Vater war Türke und ihre Mutter Deutsche. 235 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Einführend begann die Sitzung mit einer kleinen Phantasiereise wie Blume, Wiese, Haus, Berg usw. (vgl. Kottje-Birnbacher, 1997) oder der Erzählung einer Geschichte. Miriam symbolisierte oft ein Herz, ihren Namen als auch ein Haus oder einen Regenbogen mit der Sonne auf der rechten Seite, d. h., nach den Ausführungen von Iten (1974, S. 80 ff.), einen Ort der Angst vor dem Verlassen-Werden oder mit dem tiefen Wunsch, die eigene Persönlichkeit zu erhöhen. Ihre Lieblingsfarbe war Blau, und ihre ersten Bilder waren differenziert gestaltet. Ab der 3. Sitzung begann sie die Einführungsübung zu stören, indem sie die mit ihr teilnehmenden Jungen mit Späßen über anale Aspekte oder mit Bemerkungen zum Penis provozierte. Bei der Gestaltung mit Ton formte sie konzentriert verschiedene Schneckenformen, nachdem Spiele zu Penisgestalten mit Ton zustande gekommen waren, und nannte eine dieser Formen eine Penis-Schnecke. Bei dem Gestalten mit Deckfarben hatte die ganze Gruppe Freude daran, die Farben zu mischen und im Wasserglas Veränderungen wahrzunehmen. Sie übermalte verstärkt ihre Bilder und verdunkelte sie mit Schwarz. In den verschiedenen Motiven war die Anzahl ihrer Familienmitglieder präsent, wie in den Zahlenverhältnissen Drei und Vier. Zu Hause war die Diddlemaus ein bevorzugtes Malobjekt und auch manchmal in den Gruppensitzungen. Eine Art Regression im Bildprozess setzte ein, indem sie mit den Händen zu schmieren und sich malerisch expressiv auszudrücken begann, wobei eine zunehmende Verdunkelung in der Überlagerung der Farben auffällig war, was zu den Sommerferien zunahm. In einer Sitzung, als sie an der Staffelei gestaltete, begann sie mit einer Blume, rahmte dann das Blatt ein. Danach malte sie einen Berg und verwandelte die Blume in eine menschliche Gestalt. Ein roter Punkt wie ein zerlaufendes Herz wurde rechts oben gesetzt und danach Farbe auf das Papier gespritzt (Abb. 8a). Auf dem zweiten Blatt begann sie mit einem roten Diagonalkreuz, gefolgt von einem Berg, und bespritzte das Blatt dann mit Farbe. Auf dem dritten – nachdem den Kindern mitgeteilt wurde, aufgrund der Räumlichkeiten nicht mehr spritzen zu dürfen – begann sie mit einer Hauptfigur, einer Sonne rechts und einer kleinen Figur oben links. Sie übermaltes alles, indem sie einen Penis anfügte – wie sie anmerkte – und alles mit roter Farbe als Blut übermalte (Abb. 8b). Eigentlich sollte das Angebot auch in der Ferienzeit für sie aufrecht erhalten werden, aber die Mutter teilte mit, dass Miriam während der ganzen Ferienzeit bei den Großeltern auf dem Land sein würde. In der ersten Sitzung nach den Ferien kam sie alleine zu einer Sitzung. Sie 236 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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begann mit einem Himmelsband, dann zwei dunklen Linien und einer Figur, um die von ihr Regen gemalt wurde. Als nächstes ergänzte sie einen Regenbogen mit dunklen Linien (Abb. 9). Sie erwähnte, dass sie seit gut einer Woche vor Ferienende wieder bei ihren Eltern war, da sie an einer Ohrenentzündung erkrankte trotz der sommerlichen Hitze. In der folgenden Gruppensitzung malte sie ein Herz und ein Haus. Das Herz wurde in einen Drachen verwandelt, aber am Schluss fügte sie schwarze Linien an und teilte mit, dass das Herz weinen würde (Abb. 10a). Das zweite Bild war eine Maus, dann malte sie den Turm von Pisa und ein Loch, in dem sich die Maus verkriechen konnte. Auf der rechten Seite malte sie noch eine Gestalt, die sie als Alien bezeichnete (Abb. 10b). In dem Test »Zeichne deine Familie als Tiere« bezeichnete sie ihren Vater und ihre Mutter als Gorilla, ihre Schwester als Affen und sich als Pferd. Zuerst malte sie den Zauberer mit langen Fingernägeln und energetischem Mundauswurf, der ihre Familie in Tiere verwandelte. Auf der Rückseite malte sie dann ihre Familie – zuerst mit Schwarz ihren Vater mit einer Sprechblase (»Aaahh«), dann wollte sie ihre Schwester malen, korrigierte sich und benannte die Gestaltung als ihre Mutter, die »Blödmann« sagte, danach malte sie sich mit Blau als Pferd und einer Krone auf dem Rücken. Auf die Nachfrage nach ihrer Schwester meinte sie, dass sie auf dem Pferd säße. Sie wollte nicht noch etwas hinzusetzen. Daraufhin kam es zu einem Treffen mit der Mutter, die Hausfrau war, im Beisein einer befreundeten türkischen Mutter. Sie teilte mit, dass Miriam das Zimmer mit der jüngeren Schwester teilte und abends noch im Zimmer Videokassetten oder Fernsehen sehen durfte. Sie hatte sich angewöhnt, nach 20 Uhr das Gerät aus dem Zimmer zu nehmen, da Miriam nachts öfters aufwachte und dann nach Mitternacht den Fernsehapparat angestellt hatte, wobei sie wahrscheinlich nachts freizügige Werbung gesehen hätte. Sie war zwar eifersüchtig auf ihre jüngere Schwester, setzte sich aber sehr für sie ein. Im Hinblick auf ihre freien sexuellen Bemerkungen meinte die Mutter, dass der Vater als Türke sogar seine Toilettentür abschließen würde und Miriam nur mit Badeanzug schwimmen gehen ließe, während ihr Großvater offener war und sie auch in die Toilette ließe. Sie hatte einmal mit ihrer Tochter über den Penis des Großvaters als Penisschnecke gesprochen. Die Mutter zeigte sich sehr kooperativ – meinte aber, auch sie hätte Probleme – und bezog die Bildgestaltungen von Miriam auf die späte Fernsehwerbung oder Comic- bzw. Fantasy-Gestalten. In der Elternkonferenz engagierte sie sich zum Erstaunen der 237 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Klassenlehrerin am nächsten Tag sehr. Später teilte Miriam in der Gruppe mit, dass ihre Mutter von den Großeltern adoptiert worden wäre, da ihr Vater sie nach dem Tod der Mutter geschlagen hätte. Sie machte mir zudem in der folgenden Einzelsitzung den Vorwurf, dass ihrer Mutter erzählt worden war, dass sie schlimme Wörter gebrauche, während sie sie doch nur vor den befreundeten Jungen in der Gruppe geäußert hätte. Auf die Anmerkung, ob sie gewöhnlich solche Worte äußerte, meinte sie, dass sie diese schlimmen Worte nicht mehr benutzen würde. Sie baute dann mit Knetmasse eine Schildkröte, die riesige Augen und einen Penis bekam und dann ständig einen Haufen als Kot fallen ließ. Im Ganzen kann gesagt werden, dass Miriam immer mehr anale Aspekte zum Ausdruck brachte wie Koten, ins Regressive über das Schmieren auf der Bildfläche ging und dabei immer expressiver und dynamischer wurde. Einerseits drückte sie ihre Einsamkeit und Depression aus, andererseits versuchte sie mit ihren Ausdrücken die anwesenden Jungen zu beeindrucken und die Führerschaft zu übernehmen. Zudem verwiesen die Bilder auf eine konflikthafte Familiensituation, insbesondere bezogen auf das Elternpaar. Die Arbeit nach den Ferien verlief mit Miriam zweimal wöchentlich, und zwar als Gruppensitzung und Einzel- oder Zweiersitzung, damit sie beobachtet und stabilisiert werden konnte. Hinsichtlich des Ansatzes einer Prävention konnte im Vorfeld mit der Mutter auf einer Kooperationsbasis in Kontakt getreten werden und möglichen Missbrauchsoder Vernachlässigungstendenzen entsprochen werden. Die Mutter hatte nach dem Gespräch einen Hortplatz für das Kind besorgt, wo sie am Nachmittag bleiben konnte. Auch bekam Miriam ein Pausenbrot und -getränk mit, sodass sie nicht mehr bei Mitschülern etwas erbitten musste. Vor den nächsten Ferien bei den Großeltern, wo auch ihre Tante mit Ehemann und Hund lebte, erzählte sie, dass sie alleine bei der Großmutter schlafen würde, während der Großvater in einem anderen Raum schliefe. Über den wiederholten Austausch mit der Mutter schien es, dass sich der Aufenthalt für die Tochter bei der Großmutter, an der sie sehr hing, zu wandeln schien. Zum Teil wurde Miriam verschlossener und wollte nicht alles mitteilen. In ihren Gestaltungsarbeiten, bei denen sie verstärkt Ton bevorzugte, zeigten sich aber die Symbolisierung einer familiären Identität und Formen einer Selbstfindung.
238 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 8b Abb. 8a
239 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 9
Abb. 10a
240 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 10b
Erwin (3./4. Klasse) Erwin war in der 4. Klasse, als ich mit ihm in Einzelsitzungen zu Beginn des neuen Halbjahres zu arbeiten begann. Es handelte sich um einen elektiv mutistischen türkischen Jungen, der nur zu Hause Türkisch sprach und sich in der Schule – auch seinen türkischen Klassenkameraden gegenüber – still verhielt. Er hatte eine jüngere, noch nicht schulpflichtige Schwester. Seine Mutter sprach kein Deutsch und der Vater aufgrund seiner Arbeitstätigkeit nur ein wenig. Zwei Wochen nach Halbjahresbeginn wurde Erwin in die 3. Klasse zurückversetzt, mit einer jüngeren Klassenlehrerin. Er fühlte sich in dieser Klasse wohl, arbeitete aber weiterhin still und konzentriert mit. In den ästhetisch-gestalterischen Förderstunden wurde immer mit einer Atementspannung, Tagtraumimagination, dem bildnerischen Gestal241 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ten mit unterschiedlichen Malmitteln auf Din-A2-Papier sowie dem gemeinsamen Betrachten zum Abschluss mit Austausch über den Prozess gearbeitet. In der Kommunikation äußerte er sich gestisch mit schwachem Kopfnicken, um seine Bejahung oder Verneinung auszudrücken. Ungefähr zur gleichen Zeit begann er nach wiederholtem Anraten eine Therapie bei einer jungen türkischen Verhaltenstherapeutin, die bei der Behörde für Ausländerkinder tätig war. Sie konnte gleich bei dem ersten Treffen mit Erwin im Beisein der Eltern türkisch sprechen. Die Mutter machte auf sie einen depressiven Eindruck, da sie eigentlich wieder in die Türkei zurückkehren wollte. Erwin kam gerne zu den Förderstunden, zu denen er aus der Klasse abgeholt wurde, malte intensiv und detailliert an seinen Bildern, wobei er selbst das Ende setzte. Auffallend in seinen Bildern war die Symbolisierung seiner Familie in der Anzahl von Blumen, Enten, Fischen und ähnlichem sowie von männlichen und weiblichen Anteilen, wie er sie in unterschiedlichen Baumgestalten zeigte. Stets erschien auch etwas nach links Abgewandtes oder Dunkles, was für etwas Depressives als auch für einen ins Passive zurückgezogenen Bereich stand (Abb. 11). Im Laufe der Zeit wandelte sich diese Ordnungsstruktur in seinen Bildern und seine Person wurde als zentrale, stabile und handelnde Gestalt immer deutlicher. Die Sonnendarstellung war bei ihm stets auf der linken oberen Seite und wurde zur ganzen Sonne im Feld des Sonnenaufgangs, d. h. zu einer Kraft und Hoffnung ausströmenden Sonne. Vielfach standen die Sonnenstrahlen bei Erwin in Relation zu seinem Alter. Einleitend für einen Wandel bei Erwin war das Bild der 4. Sitzung (Abb. 12), drei Wochen vor den Osterferien, bei dem die Imagination eines Weges vorgegeben war. Er malte zentral einen See mit Enten, dahinter zwei Bäume mit unterschiedlichen Kronen und links einen Reiter auf einem Pferd sowie rechts am See, ihm gegenüber, einen Osterhasen mit einem Eierkorb auf dem Rücken. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass er eine Woche später zum ersten Mal der Therapeutin deutsche Worte mitgeteilt hatte und seitdem langsam begann, mit ihr auf Deutsch zu sprechen. Immer öfter trat das Symbol des Pferdes (Abb. 13a + b), das er fütterte oder tränkte, in seinen Bildern auf. Da sich die Lebenssituation der Familie wandelte – durch einen Wohnungskauf wurde eine Rückkehr in die Türkei aufgehoben –, erkannten die Eltern die Wichtigkeit des Erlernens der deutschen Sprache auch für sich selbst mehr. Dies war in den Bildern von Erwin ablesbar, der mittlerweile sicherer wurde und mit den tür242 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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kischen Kindern begann, auf dem Schulhof auf Türkisch zu sprechen. Einige Wochen nach den Sommerferien konnte er erstmals im Rahmen eines Spiels mit Unterstützung der türkischen Therapeutin in der Klasse leise etwas auf Deutsch sagen. In den Förderstunden wurde zusätzlich zu der Verbalisierung des Gestalteten von ihm ein Dialogspiel ergänzt, bei dem er schriftlich satzweise Sprachäußerungen einbringen konnte. Bei den Tagtraumimaginationen wurden immer mehr der Handlungs- und Sprechaspekt mit einbezogen, sodass er seine Kompetenz wie als Kapitän eines Bootes, Fußballspieler mit Ball sowie als Sprechender in einem Theaterspiel mit anderen Kindern u. ä. erlebte. Auch dunkle Farbgebungen als symbolische Setzungen zur Mutterproblematik und zu seiner Solidarisierung mit ihr traten zurück, und die Ausrichtung nach rechts, zum Leben hin, war auffallend. In den Bildgestaltungen kam es vermehrt zu Selbstdarstellungen in der Begegnung mit einer anderen Beziehungsfigur, der Wiedergabe von Handlungsräumen wie dem eigenen Wohnumfeld als Motiv des sicheren Ortes u. a. Dem Gestaltungsprozess schloss sich ein freier Märchendialog zum Bild in schriftlicher Form an, was mit knappen Sprachbelebungen von einem dargestellten Motiv ab der 10. Sitzung begann und sich im Laufe der Zeit zu einer kleinen Geschichte – als Sätze im Wechsel geschrieben – weiterentwickelte. Nach den Herbstferien begann er, zuerst leise, den geschriebenen Text im Rollentausch vorzulesen. Es zeigte sich, dass er in der deutschen Grammatik Lücken hatte und auch deshalb Ängste vor dem Sprechen zu haben schien. Der Anteil des Malens wurde kleiner, sodass mehr Zeit zum Schreiben und Vorlesen blieb. Im Unterricht verweigerte er noch die sprachliche Mitteilung, sprach aber bereits lauter auf Türkisch mit seinen Mitschülern auf dem Schulhof. Die externe Therapie mit der Familie brach ab, da Vereinbarungen für den Therapieverlauf nicht eingehalten wurden. Erwin hatte zwar mit der Therapeutin vor der Klassenlehrerin und anderen Lehrkräften – bereits vor den Sommerferien – unter Tränen einen Text laut vorgelesen, traute sich aber weiterhin nicht, sich sprachlich einzubringen. Im dem neuen Schuljahr begann er langsam, in den Gestaltungsstunden mit Worten zu antworten, seine Stimme wurde beim Lesen kräftiger, und er begann auch im Hort der Schule vereinzelt vorzulesen und zu sprechen. Im Türkischunterricht sprach er normal Türkisch, während er sich in seiner Klasse hauptsächlich schweigend verhielt, aber emotional sicherer geworden war. In der Imagination tauchten vermehrt aktivie243 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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rende Symbole auf, wie das rote Fahrrad, das er als blaues Rennrad bildnerisch umsetzte. Insgesamt schien er zufrieden zu sein und langsam seine Ängste abzubauen, um seinem inneren Leistungsanspruch auch in der deutschen Sprache zu entsprechen. Vor dem Übergang zur neuen Schule nahm Erwin in den Sommerferien noch an einer Kur zum Sprachtraining teil, was die Therapeutin organisiert hatte, um auf den Schulübergang in der Förderung seiner sprachlichen Kompetenz in einer fremden Gruppe vorbereitet zu werden. Daraufhin konnte er als sprechender Schüler in der neuen Schulsituation beginnen, wie die dortige neue Lehrerin nach einer Hospitation mitgeteilt hatte, da sie keine Kenntnisse über seine vorherige mutistische Haltung besaß. Anscheinend bestanden aber Probleme mit Mitschülern während der Pausen, da er sich noch nicht frei in Deutsch äußern konnte und sich dann körperlich zur Wehr setzte. Über Kooperation mit den Eltern und unter Kenntnisnahme der Vorgeschichte von Erwin versuchte man dieser Problematik erfolgreich zu begegnen. In der Folge hat sich Erwin zu einem voll integrierten sprachlich kompetenten Jungen entwickelt, dem seine vorherige Geschichte nicht mehr anzumerken war.
Abb. 11
244 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 12
Abb. 13a
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Abb. 13b
Tom, 5./6. Klasse Bei Tom, 11 Jahre, aus der 5. Klasse einer Gesamtschule, lag ein Verlust des Vaters vor, von dem sich die Mutter in seinem Kleinkindalter, zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr, getrennt hatte und der als negativ besetzt in der Familie mit zwei älteren Brüdern, 18 und 21 Jahre, ausgegrenzt wurde. Die Auseinandersetzung von Tom mit Ich-Idealen und seiner Identitätsbildung wurden in eigenen Bildgestaltungen symbolisiert. Er war im Unterricht durch sein störendes und herabsetzendes Verhalten gegenüber Schwächen von Mitschülern aufgefallen. Für ihn war das dialogische Gestalten wichtig, d. h. ein dialogisches Schnörkelspiel nach Winnicott verbunden mit einer Anreicherung in der anschließenden Umsetzung zu einer Bilderzählung, um Kontakt aufzunehmen. In seinen Bildern zeigten sich zum einem stark aggressive Impulse im Vernichten anderer und anderseits 246 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ein Heldenkult bezogen auf die Fußballmannschaft Werder Bremen und besondere Comicgestalten. Diese Ambivalenz zog sich durch seine Gestaltungen. Auffallend war zudem eine Orientierung an Marken wie »Young Spirit« bei Werder Bremen oder »Duff« als Biermarke. Der Wechsel von Vernichtungs- bzw. Tötungsphantasien und Größenphantasien (Abb. 14) als auch eine Identifikation mit einem Heldenkult belegten seinen Weg der Identifikationsfindung (Abb. 15). Die Beeinflussung durch die Medienwelt wurde dabei deutlich, wobei Tom anscheinend bedingt durch den Verlust eines positiven Vaterbildes seine Helden in der Außenwelt suchte. Hinzukam, dass die Mutter nach der Trennung von dem Vater, der mittlerweile wieder verheiratet war, einen negativen Bezug zu ihm zu haben schien, bzw. der Vater stellte ein Tabu-Thema dar und wurde von Tom als nicht existent wahrgenommen. In dem Zusammenhang übernahm der älteste, 22-jährige Bruder, der wie auch der andere Bruder nicht mehr in der Wohnung lebte, eine wichtige Rollenidentifikation. Der Wunsch von Tom, Fußballspieler beim Verein Werder Bremen zu werden, erfüllte sich vorerst nicht, dagegen nahm er mehrmals in der Woche am Schwimmtraining teil. Nach einem halben Jahr – mit den Sommerferien – hatte vorerst seine Betreuung geendet, da er an einer anderen Veranstaltung der Schule teilnehmen sollte. Dennoch war er in Kontakt geblieben und hatte von Leistungsverbesserungen berichtet, auch bezogen auf seine sportlichen Leistungen. Anscheinend hatten sich seine Schwierigkeiten im Unterricht zum Teil lösen können, und er vermochte zwischenzeitlich dem Unterricht etwas besser zu folgen. In den Gestaltungsfolgen war eine zunehmende Identifikation mit seiner zeichnerischen Kompetenz wahrnehmbar, ein Interesse an Lernverbesserungen und eine veränderte Ausrichtung auf sein Selbstbild. Klaus, 6. Klasse Klaus war 12 Jahre alt und Schüler an einer Gesamtschule in der 6. Klasse. Er hatte einen zwei Jahre älteren Bruder, der zu einem Förderzentrum ging. Bei ihm wurde eine Legasthenie diagnostiziert und mit Beginn der ästhetisch-gestalterischen Förderung nahm er auch wöchentlich an einem Rechtschreibkurs teil. Die Eltern waren berufstätig, und beide Kinder waren sich viel selbst überlassen, wobei technische Geräte wie jeweils ein eigenes Fernsehgerät, später auch DVDPlayer, Gameboy u. ä. die Freizeit bestimmten. Bereits bei der ersten 247 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 14
Abb. 15
248 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Persönlichkeitsbildung an Schulen
Abb. 16
Tagtraumimagination zur »Wiese« sah er ein Baumhaus, in dem er sich wohlfühlte. Die bildnerische Umsetzung ähnelte einem »DreiBäume-Testbild« – mit links und rechts zwei großen Bäumen und mittig einem kleinen Busch (Abb. 16). Im Märchendialog zu dem Bild wollte er den Busch mehr links zum Baumhaus rücken lassen, damit er nicht so alleine wäre. In der 7. Sitzung, nach den Weihnachtsferien, wurde das Motiv »Haus« vorgegeben. Er berichtete von einem Haus mit zwei Etagen und einem Garten. Als er durch die Fenster blickte, erschien ihm alles bunt und originell, nur vieles wirkte vertauscht, bzw. einige Dinge passten in den Zimmern nicht zusammen – wie der Herd und der Kühlschrank in der Küche, oder dass im Schlafzimmer ein Bett bezogen war und das andere nicht. Als angenehmen Ort fand er sein angewärmtes Bett von Zuhause. In der bildnerischen Gestaltungsphase malte er rechts zwei Baumstämme mit Laubkrone, mittig einen Busch und links zwei Figuren, zu den Bäumen ausgerichtet (Abb. 17). In der 9. Sitzung wurde das Motiv »Ich-Ideal« vorgegeben, wobei er sich gut in seinem realen Alter fühlte. Danach malte er seine Bildidee, d. h. rechts ein Haus mit zwei Personen davor. Mittig zog sich eine Buschreihe und links war ein Baum (Abb. 18). Er berichtete, wie sehr sich seine Leistungen verbessert hätten und was er sich noch vorgenommen hätte. Auch sein Lehrer berichtete von der 249 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 19
Verbesserung seiner schulischen Leistungen und seines Verhaltens. Für ihn schien auch das Getragensein im dialogischen Prozess von Wichtigkeit, ein Miteinander, das einer technischen Spielwelt gegenüber stand. Jan, 6. Klasse Jan war Schüler am Förderzentrum für Lernbehinderte und nahm an einem Gruppenangebot von sechs Schülern teil, d. h. zwei Jungen und vier Mädchen der Klasse 7. Er hatte seine beiden Eltern aufgrund von Krankheit und Unfall kurz nacheinander vor über einem Jahr verloren. Als Nachkömmling wurde er zuerst in einem Heim untergebracht, das er nach kurzer Zeit verließ, und seitdem bei seiner verheirateten Schwester lebte. Auffällig war Jan in der Schule geworden durch sein unkontrolliertes Verhalten, seine aggressiven Ausbrüche und sein beständiges Schreien. In den ästhetisch-gestalterischen Sitzungen gelang es ihm, sich in der Kreisrunde mehr einzubinden, anderen zuzuhören und sich auf Entspannungsübungen mit Imaginationen einzulassen. Seine Bildproduktionen, die anfangs in schneller Blattfolge impulsiv nacheinander entstanden (Abb. 19) und auch eine unbewusste Trauerarbeit symbolisierten, konzentrierten sich zunehmend auf einzelne Bildgestaltungen, denen er mehr Aufmerksamkeit widmete (Abb. 20). Wichtig war es, dass er im Gestaltungsprozess begleitet wurde, sodass er sich mehr auf sich selbst beziehen konnte. Die Wertschätzung seiner Gestaltungen half ihm auch, empathisch auf seine Mitschüler einzugehen und sich konzentriert über einen 251 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 20
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längeren Zeitraum auf seine bildnerischen Ausdrucksformen einzulassen. Das Arbeiten mit besonderem Malmaterial an der Staffelei (Abb. 21), das Arbeiten an Gruppenbildern u. ä. trugen zu einer zunehmenden Wertschätzung und zur Veränderung seiner Selbstwahrnehmung bei.
Ausblick Das Förderangebot an Schulen über den ästhetisch-gestalterischen Ausdruck ist sowohl als Prävention für Schüler in belastenden Lebenssituation mit den entsprechenden Auswirkungen auf das Schulverhalten als auch als Intervention zu verstehen, um Schüler in kritischen Lebensphasen und mit Beeinträchtigungen im schulischen Bereich zu integrieren und zu stabilisieren. Es steht gegen eine Stigmatisierung und stellt sich als ein niederschwelliges Angebot an Schulen dar, dass Schülern einen Ort zur Persönlichkeitsbildung bietet. Es ist multimodal angelegt, indem verschiedene Sinnesmodalitäten angesprochen bzw. Transferformen geschaffen werden, indem z. B. Bildgestaltungen in ein anderes Ausdrucksmedium wie Bewegung, Geschichtenerzählen, Musik, Theaterspiel etc. umgesetzt werden. In der Einbindung von Tagtraumimaginationen oder Märchenerzählungen unter Anleitungen zu Entspannungsübungen können unterschiedliche ästhetisch-gestalterische Ausdrucksformen innere Bilder aktivieren. In der Transformation in ein anderes Medium kommt es zudem zu einer Anreicherung gefühlsbesetzter Inhalte. Ein Probehandeln im spielerischen Ausdruck bietet Freiräume, um emotionale Blockaden zu überwinden. Was das Angebot bedingt, ist eine Rahmensetzung mit einer Einführungs- und Abschlussphase als sicherer Orientierung einhergehend mit situativen Abwandlungen wichtig. Darin eingebettet ist die ästhetisch-gestalterische Aktivierungsphase, um dem innerpsychischen Ausdruck Raum zu geben. Wesentlich ist, dass der Gestaltungsprozess keiner Bewertung unterliegt, sondern nur die Einhaltung von Regeln, die ein ruhiges Arbeiten bedingen und u. U. gemeinsam festgelegt werden können. Es hat sich gezeigt, dass eine Achtsamkeitsübung in der Einführungsphase sinnvoll ist, um beispielsweise Entspannungs- und sensorische Wahrnehmungsformen einzuüben. In der Abschlussphase bietet es sich an, dass sich die teil253 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe
nehmenden Schüler im Kreisgespräch über das Erfahrene im Gestaltungsprozess austauschen, ihre gestalteten Arbeiten vorstellen etc. Dabei geht es weder um Deutungsaspekte noch um weiterführende Interpretationen, sondern vielmehr um ein Verstehen dessen, was der Schüler mit dem Gestalteten verbindet bzw. seine eigenen Wahrnehmungen, um Missdeutungen auszuschließen. Die Arbeiten werden zumeist in selbst gefertigten Mappen über den Zeitraum der Teilnahme am ästhetisch-gestalterischen Angebot aufbewahrt und auf Wunsch am Ende des Angebotes den Schülern mitgegeben. Damit entfällt ein geschenkorientiertes Gestalten bzw. eine Ausrichtung auf gefällige Gestaltungsformen, sodass das Prozesshafte im Gestalten vorrangig ist. Im Sinne der heilpädagogischen Förderung geht es folglich auch um Teilhabe und Inklusion bzw. um die Annahme eines jeden Einzelnen mit seinen besonderen Fähigkeiten. Es gilt einen Resonanzraum zu schaffen, in dem der einzelne positiv wahrgenommen wird und einen Entfaltungsspielraum erfährt. Für ein solches Angebot bedarf es einer stellenmäßigen Verankerung an Schulen, und zwar als Teil eines Teams, das Inklusion und Teilhabe gemeinsam stützt. Ich bedanke mich bei der Leopold-Klinge-Stiftung für die freundliche Unterstützung und bei Stefanie Margarete Moser für ihre Mitarbeit bei der statischen Auswertung der Studie in Freiburg sowie bei dem Projektteam an der Schule.
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Karin Lorenz
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck – Kunsttherapie in der Primarschule »Irritation ist kostbar.« Niklas Luhmann Abstract: Im Artikel wird kunsttherapeutische Arbeit in der Schule aus systemischem Blickwinkel betrachtet, um die Bedingungen und Herausforderungen für diese Arbeit und den Nutzen des Angebots für das System Schule aufzuzeigen. Als Beispiel aus der Praxis dient das Mal- und Formatelier der Primarschule Herrliberg im Kanton Zürich. Ein Ziel dieses Angebots ist aus Organisationssicht die tagesstrukturelle Betreuung der Kinder. Aus kunsttherapeutischer Sicht sind die Ziele Förderung der kindlichen Entwicklung, Inklusion aller Kinder und Gesundheitsprävention. Die Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit der Kinder wird gefördert. Sie können ihre Ressourcen entfalten und diese für ihre weitere Entwicklung nutzbar machen. Im Mittelpunkt steht das Kind mit seinen individuellen Möglichkeiten und Begrenzungen. Ein geschützter und klar strukturierter Ort mit sinnesfreundlichem Material bildet den Rahmen für die kreative Gestaltung. Die Arbeit im Malatelier ist geprägt von der humanistischen Grundhaltung der Leiterinnen. Es wird prozessorientiert und fokussiert auf die jeweiligen Fähigkeiten und Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder gearbeitet. Die Arbeiten entstehen ohne thematische Vorgaben. Sie werden nicht bewertet. Anhand mehrerer Beispiele wird verdeutlicht, welche Prozesse im Rahmen der Schule möglich sind. Im Ausblick werden Fragen gestellt, die die Integration eines kunsttherapeutischen Angebots in der Schule unterstützen können.
Wie geht das System Schule mit kreativen Impulsen von außen um? Die Schule ist ein Ort des Lernens. Hier kommen Lernende und Lehrende zusammen, um Wissen und Können zu erwerben bzw. zu vermitteln. Neben diesem pädagogischen Auftrag besteht auch ein Be259 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Karin Lorenz
Abb. 1: »Hamburgeria«
treuungsauftrag. Das System Schule ist geprägt von hoher Komplexität, besteht aus unterschiedlichen Systemkomponenten – zudem bestehen viele Wechselwirkungen zwischen diesen Komponenten. Darüber hinaus weist es eine hohe Dynamik im zeitlichen Verlauf auf. Kommunikation und Austausch findet zwischen allen Akteuren und allen Systemebenen statt, ebenso nach außen. Aus systemtheoretischer Sicht kann die Schule als komplexes adaptives System bezeichnet werden, wie Manfred Stüttgen (2003) es beschreibt, und ist damit ein hochlernfähiges System. Gleichzeitig stoßen Impulse von außen immer an Systemgrenzen; die Integration von Neuem verringert zunächst die Stabilität jedes Systems und erhöht eventuell seine Komplexität. Das führt zu Irritation und Mehraufwand. So ist es wenig verwunderlich, dass das System Schule Neues auch kritisch betrachtet und auf seinen Nutzen und die Gefahren für das System hin prüft.
Wie kommt das kunsttherapeutische Angebot in das System? Die Implementierung von Neuem gelingt in komplexen Systemen leichter, wenn sie von innen initiiert wird. Ein Akteur lernt Neues außerhalb des Systems kennen, bewertet es als nützlich und integriert es zunächst in sein Subsystem. Dann bringt er es in das Gesamtsystem ein. Zu Beginn des kunsttherapeutischen Angebots an der Primar260 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
schule lernt ein Lehrer die kunsttherapeutische Arbeit im Malatelier außerhalb der Schule kennen. Im Austausch mit der leitenden Kunsttherapeutin, Ursula Roth, entsteht die Idee, ein kreatives Integrationsangebot in der Schule zu implementieren. Alle Schüler sollen Zugang zu diesem Angebot haben und in ihrem kreativen Ausdruck gefördert werden. Unterstützt wird in einem komplexen System die Aufnahme von Neuem, wenn mit diesem ein bereits vorhandenes Bedürfnis korrespondiert, also Interesse, etwas Neues zu integrieren und Offenheit bzgl. seiner Beschaffenheit besteht. Das System sieht dann konkreten Nutzen im Neuen. So entsteht ein Lernprozess im Innern, angestoßen von außen und innen. Das Konzept der Kunsttherapeutin stößt auf das Interesse der Schulleitung, da sie gleichzeitig Kernzeiten einführen muss und nach passenden Angeboten sucht. Die Kunsttherapeutin passt Ihr Angebot den Gegebenheiten der Schule an. Fraglich ist in dieser Phase, was das System Schule mit dem Neuen macht – assimiliert es das neue Angebot und/oder akkommodiert es seine bestehenden Angebote? Darauf wird im Ausblick nochmals eingegangen.
Welche Ziele hat das Angebot? Das kunsttherapeutische Angebot in der Schule dient der Gesundheitsförderung auf mehreren Ebenen und wirkt damit gleich mehrfach präventiv. Das Mal- und Formatelier fördert den schöpferischen Ausdruck der Kinder. Christina Studer (2003) spricht von der persönlichen Schatzkiste, in der jedes Kind seine eigenen Kraftquellen, Ressourcen und besonderen Fähigkeiten hat. Dieser Selbstausdruck ist eine Form des Lernens. Das Kind lernt, seine eigene Art zu erfassen und zu zeigen. Seine Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit kann sich verbessern, worauf auch Katrin Uhrlau hinweist. Zudem hat ein Kind, das sich selbst schöpferisch ausdrücken kann, Vorteile in bestimmten Bereichen des Lernens, z. B. beim Lösen von Problemen. Howard Gardner (1999) nennt diese Fähigkeit kreative Intelligenz und sieht sie als eine Form von sieben Intelligenzen, die der Mensch im Laufe seines Lebens entwickeln kann. Er geht davon aus,
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Karin Lorenz
Abb. 2: »Neugieriger Frosch«
dass wir umso fitter fürs Leben werden, je mehr wir diese Intelligenzen ausbauen. In Zeiten der visuellen Reizüberflutung ist der Ausdruck der inneren Bilder für Kinder sehr schwer zu finden, zu reizvoll ist das unstete Wandern im Außen. Edith Kramer (2003) nennt es die »verführerische Umwelt«. Obwohl die Wahrnehmung nach außen gerichtet ist, bleibt sie oft oberflächlich und vollzieht sich als »schneller Film des Lebens«, wie Karl-Heinz Menzen (1999, S. 54) es beschreibt. Ziel im Atelier in der Schule ist, im intensiven Beschäftigen mit einem Material die differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit des Kindes zu schulen, z. B. für Farben oder Oberflächenstrukturen. Wenn das Kind beginnt, die eigenen inneren Bilder auszudrücken, ist das ein starker Antrieb. Es setzt seine ganze Energie dafür ein und lässt sich auf einen Prozess ein, in dem es Frustration überwinden lernt, seine gestalterischen Fähigkeiten ausbaut, schließlich sein Werk abschließt. Auf diesem Weg stärkt das Kind seine Bewältigungsfähigkeiten im Umgang mit Stress. Um sich auf diesen Weg zu machen, auf ihm zu bleiben und ihn ganz zu gehen, braucht es einen entsprechenden Rahmen und Begleitung. 262 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
Wie sind die Rahmenbedingungen? Die Kunsttherapie hat in der Schule eigene Räume, die ausschließlich von ihr genutzt werden. Im Sinne Arno Sterns (1998) wurde ein Ort geschaffen, der geschlossen ist und durch seine Architektur und Einrichtung dem kreativen Gestalten dient. Es ist ein Ort der Beständigkeit, die Kinder finden immer die gleichen Bedingungen und Materialien vor, sie können sich ganz auf das kreative Tun konzentrieren. Das Material lädt zum Gestalten ein, es weist den Weg ins kreative Schaffen. Die Art der Farben und Beschaffenheit der Pinsel locken die Sinne und fördern die Gestaltungslust. Bettina Egger (1980) nennt sie »Anregungsmittel für das kreative Gestalten«. Nach Maria Montessori (2007b) fördert die vorbereitete Umgebung das Lernen. Auch bei der Begrenzung des Materials finden sich Parallelen zwischen Montessori und der kunsttherapeutischen Arbeit im Schulatelier. Im Malatelier werden bewusst nur Gouachefarben in einer großen Farbpalette angeboten. Die Farbe ist deckend, gut mischbar und von großer Leuchtkraft. Sie erlaubt verschiedene Techniken. Für das Kind soll es leicht sein, »seine« Farbe zu finden, es soll »Fehler« übermalen und verschiedene Malweisen ausprobieren können. Durch die Beschränkung auf Gouachefarben und die gute Farbqualität kann das Kind die spezifischen Farbqualitäten und Varianten der Intensität für den Selbstausdruck nutzen. Es entwickelt ein differenziertes Vokabular im Farbensehen und Farbausdruck, ohne durch die Verschiedenartigkeit des Materials abgelenkt zu werden. Diese Rahmenbedingungen bahnen so den Weg ins kreative Tun und das findet im Rahmen der Schule statt.
Was haben Kunsttherapie und Pädagogik gemeinsam? Wenn kunsttherapeutisches Schaffen in der Schule stattfindet, steht immer auch die Pädagogik im Raum, denn das System Schule ist – wie bereits erwähnt – per definitionem ein pädagogisches. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, dient sozusagen die Kunsttherapie der Pädagogik, indem sie die Kreativität zur Entfaltung bringt und nutzbar macht für Lernprozesse. Gleichzeitig nutzt auch die Kunsttherapie in ihren Interventionen pädagogische Grundsätze und Mittel. Theoretische Überlegungen der Montessori-Pädagogik weisen 263 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Abb. 3: »Mal-Diener«
große Überschneidungen mit humanistisch-kunsttherapeutischen Ansätzen in der Schule auf. Studer (2003) weist auf diese Gemeinsamkeiten hin. Wie bereits beschrieben, zeigen sich diese Überschneidungen bei den Rahmenbedingungen, des Weiteren in der Stille während des Gestaltungsprozesses und in der inhaltlichen Freiheit. Ähnlich wie bei Montessoris »Lektion der Stille« (vgl. 2007a) wird im Malatelier in Ruhe gearbeitet. Ziel ist es, die Kinder in eine Stille zu führen, aus der heraus sich die Kreativität entfalten kann. Das ist im Rahmen der Schule nicht einfach, wo Stille meist ein Mittel der Disziplin ist, also von außen verlangt wird. Im kreativen Prozess ist Stille ein Zustand des konzentrierten Daseins, während dessen sich die schöpferische Kraft ausdrücken kann. Diese Stille breitet sich von innen aus. Ohne den Rückzug in die Stille ist Selbstausdruck für viele schwer möglich. Das bedeutet auch, dass ein solcher Rückzug für die meisten Kinder nur möglich ist, wenn im Raum auch eine 264 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
äußere Ruhe ist. In diese Ruhe muss die Begleiterin die Kinder führen. Am leichtesten gelingt ihr das aus der eigenen Stille heraus, im Vorleben des konzentrierten Daseins. Hier zeigen sich Parallelen zu den gängigen Theorien der Achtsamkeit. Die inhaltliche Freiheit ist der Montessori-Pädagogik ebenso bekannt wie die »Personenorientierte Maltherapie« nach Egger und Hartmann (vgl. 2017). Wenn Montessori (vgl. 2007a) von Freiheit des kindlichen Lernens spricht, meint sie die Freiheit im Lerngegenstand, im Lernprozess und in den Mitteln. Im Atelier findet das Kind selbst sein Gestaltungsobjekt, es gibt keine inhaltlichen Vorgaben. Das Werk gestaltet sich aus dem Selbst heraus. Das Kind findet sein Motiv und wählt seine Gestaltungsmittel. Es kann im Prozess ausprobieren. Nur so kann es im eigenen Rhythmus das Herantasten, das Scheitern und das Gelingen kennenlernen, den eigenen kreativen Prozess durchleben. Während des Gestaltungsprozesses ist die Freiheit niemals grenzenlos. Das Kind findet seine Grenzen im Material, in den eigenen Fähigkeiten, in der verfügbaren Hilfe von außen und in den Rahmenbedingungen. Diese Grenzen sind wichtig, sie schützen vor Überforderung. Sei es die Überforderung durch unbegrenzten Raum, in dem sich der oder die Malende verloren fühlt und meint, nie fertig zu werden. Gerade das Beenden eines Bildes kann nach Egger (vgl. 1984) Zufriedenheit auslösen. Ein wichtiger Teil des kreativen Prozesses ist, herauszufinden, wann das Werk fertig ist. Charlotte Kollmorgen (1999) spricht vom Glück des Momentes, in dem das Werk »geschafft« ist. Der kreative Prozess ist geprägt von einem Austarieren von Ordnung und Chaos, das eine ohne das andere ist nicht möglich. Nach Judith Rubin (2005) ist eine wesentliche Aufgabe, in der Begleitung einerseits Disziplin zu nutzen, um größere Freiheit im kreativen Tun zu erlangen, und andererseits Unordnung zu erlauben oder gar Verwirrung zu initiieren, um eine höhere Ordnung und größere Komplexität zu erschaffen. Im praktischen Tun ist der Übergang zwischen Pädagogik und Therapie fließend. Was aus Sicht der Lehrerin pädagogisch motivierte Intervention ist, würde die Kunsttherapeutin als therapeutischen Schritt in der Prävention bezeichnen. Aus der Sicht des Kindes und seiner Eltern ist es in diesem Kontext immer »Lernen«, also ein konstruktiver Prozess der Entwicklung mit Erweiterung des eigenen Wissens und dem Sammeln von Erfahrungen.
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Karin Lorenz
Was unterscheidet kunsttherapeutisches Arbeiten vom Kunstunterricht? Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem kunsttherapeutischen Atelier und dem Kunstunterricht in der Schule ist, dass im Mal- und Formatelier nicht das Werk und sein künstlerischer Wert im Mittelpunkt stehen, sondern sein Entstehungsprozess und sein Wert für die kindliche Entwicklung. Die Gestaltung des Werkes dient dem Kind, um sein Selbst auszudrücken. Dieser kreative Selbstausdruck ist das Wesentliche, nicht sein Produkt. Das impliziert, dass das fertige Bild oder die Skulptur zwar wahrgenommen und wertgeschätzt, aber gleichzeitig nicht in ihrem gestalterischen Gehalt bewertet wird. Im schulischen Rahmen, wo Bewertung ein wesentlicher Teil des Lernprozesses ist, ist es manchmal schwierig, dies den Kindern zu vermitteln, wenn sie neu ins Atelier kommen. Im kunsttherapeutischen Atelier lernen die Kinder, zu beschreiben, wie sie den Gestaltungsprozess erleben, also eine Qualität im Sinne von Egger & Hartmann (2017) oder Baer (2016) zu entdecken. Zum Beispiel: »Mir wird ganz heiß« (beim Malen) oder »Das Streichen mit dem Pinsel fühlt sich weich an«. Ebenso können sie die Qualitäten ihres Werkes beschreiben: »Die orangene Farbe leuchtet« oder »Das Wasser sprudelt ganz wild«. Dabei lernen sie, dass ihr Erleben individuell und unterschiedlich ist. Gleichzeitig wird ihnen vermittelt, dass die verschiedenen Qualitäten gleichwertig sind, nicht die eine besser als die andere ist. Dieser Schritt unterscheidet sich sehr von der Bewertung durch Noten. Im Laufe der Zeit schätzen die Kinder diesen qualitativen Raum aber immer mehr, denn er bietet Schutz und ermöglicht gestalterische Freiheit ebenso wie Verfeinerung. Sichtbar wird dieser Prozess, indem sie in ihrem Selbstausdruck immer freier und präziser werden. In der Schule besteht das Angebot, Werke auszustellen, sie in den öffentlichen Schul-Raum zu geben. Auch dies ist eine Möglichkeit des Selbstausdrucks: Seht her, das habe ich geschaffen! Dies ist aber nicht geschützt und birgt das Risiko des Ausgesetztseins und Bewertetwerdens, wie es im Kunstprojekt »Wir sind schon da« von Titze und Hellinger (2007) beschrieben wird. Im Atelier in der Primarschule entscheiden die Kinder, welche Werke sie ausstellen wollen und welche nicht. Sie üben auch dabei, sich selbst wahrzunehmen und abzugrenzen bzw. Grenzen zu erweitern. Sie auch in diesem Ent-
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In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
scheidungsprozess achtsam, empathisch, wertschätzend und gleichzeitig neutral zu begleiten, ist wichtig.
Die Rolle der Kunsttherapeutin – Begleitung im kreativen Prozess Ist »kreativ sein« außergewöhnlich? Diese Frage wirft Kollmorgen (1999) auf und fragt weiter, ob wir Kreativität nur wahrnehmen und schätzen, wenn sie ein gewisses Maß überschreitet. Gerade im Kontext der Schule sind diese Fragen und unsere Antworten als Kunsttherapeutinnen wichtig. Kreativer Ausdruck ist ein urmenschliches Bedürfnis in allen Kulturen. Er gehört zum Menschsein dazu wie der sprachliche Ausdruck oder der Ausdruck in Beziehungen. Die Arbeit im Atelier ist geprägt von einer humanistischen Grundhaltung. Jedes Kind verfügt über ein kreatives Potential, seine Entwicklung wird gefördert (vgl. Schmeer, 1996). Die Kunsttherapeutin führt hinein in diesen Entwicklungsraum, lässt inhaltliche Freiheit und gibt gleichzeitig äußere Struktur. Begleiten heißt: im Prozess präsent sein und zum nächsten Schritt ermutigen. Das Kind lernt anzufangen, sich auf den Prozess einzulassen, Entscheidungen zu treffen, Fehler zu machen, aus Fehlern zu lernen, ein Werk zu vollenden. Die Begleiterin muss die eigenen Antennen weit ausfahren und wahrnehmen, wo sich das Kind im Gestaltungsprozess befindet. Eine Veränderung ist innerhalb von Sekunden möglich. Kommt die Intervention der Begleiterin zu spät, ist der Gestaltungsprozess schon unterbrochen oder beendet. Kinder sind manchmal besonders schnell im Aufgeben oder Verwerfen von Werken. Das kann eine schöpferische Qualität sein, ebenso gut kann es auch eine innere Abwertung des Werkes, resigniertes Abwenden von der Gestaltung oder die schnelle Ablenkbarkeit vom Gestaltungsprozess sein. Es ist wichtig, diesen Moment der Unterbrechung zu erfassen und in Kontakt zum Kind zu sein, um je nach Ursache eine andere Intervention anzubieten, um den Gestaltungsprozess wieder in Gang zu bringen. Begleiten heißt: sich auf die Begegnung einlassen, eine tragfähige Beziehung aufbauen, innerhalb der das Vertrauen in die Begleiterin groß genug ist, auch die Schwierigkeiten im Gestaltungsprozess mitzuteilen, gemeinsam zu tragen und zu überwinden. 267 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Karin Lorenz
Die Rollen, Freundschaften und Abneigungen innerhalb der Klasse zeigen sich auch im Atelier in der Schule. Sie nehmen Raum ein, der dann zwar nicht mehr völlig frei gestaltet, aber kreativ genutzt werden kann. Ein Konflikt mit einer anderen Schülerin kann z. B. im Bild ausgedrückt und bearbeitet werden oder die Freundschaft mit einem anderen Schüler sich in einer Tongestaltung zeigen. Schon Janet Bush (1997) beschreibt, wie wichtig ein guter Austausch mit der Klassenlehrerin und anderen Lehrpersonen ist. Er eröffnet allen ein erweitertes Bild von den Kindern und ermöglicht eine gezielte Förderung der Kinder.
Der gestalterische Prozess in der Schule – Beispiele Im Schulalltag sind die Kinder schnell auf bestimmte Rollen festgelegt, im Malen können sie im Bild auch andere Seiten zeigen; sich selbst und den anderen. Sie können spielerisch mit der Wirkung experimentieren, sich aber auch wieder vom gestalteten Objekt distanzieren. Die folgenden beiden Bildbeispiele eines Mädchens (Abb. 4 + 5) dokumentieren einen Teil solcher Vielfalt im Verlauf eines Jahres. Im gestalterischen Prozess begegnen die Kinder immer wieder schwierigen Phasen. Vor allem Kinder, die Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren und über längere Zeit an einer Gestaltung zu bleiben, profitieren sehr von der Begleitung, die sie unterstützt, weiterzumachen. Im folgenden Beispiel war der Junge (Abb. 6 + 7) sehr bestrebt, sein Werk schnell fertigzustellen, er war ungeduldig mit sich. Mit Begleitung ließ er sich auf den mühsamen Prozess der Detailarbeit und einen zweiten Versuch ein. Nachdem ihm das Werk gelungen war, ließ er sich beim nächsten Mal leichter auf die schwierigen Phasen ein. In Gemeinschaftswerken können die unterschiedlichen Kinder jeweils ihre Qualitäten einbringen. Die Begleitung kann darin bestehen, die jeweiligen Qualitäten des Einzelnen für alle deutlich zu machen, z. B. durch »Schau, wie sorgfältig er den Ton verstreicht«. Einzelne Kinder zeigen so Qualitäten, die sonst nicht sichtbar werden. Die Kinder üben im gemeinsamen Arbeiten Kooperation, sie müssen sich von der Idee über die Planung bis zur Durchführung und zum Abschluss einigen, die Arbeit aufteilen und beenden. Die Gruppendynamik kommt stärker zum Tragen, wie es auch Dean Reddick 268 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
(2008) beschreibt. Die Kunsttherapeutin unterstützt die Kooperation, indem zum Beispiel von vornherein abgemacht wird, was mit dem fertigen Werk geschehen soll und wie viel Zeit und Raum zur Verfügung steht. Der Rahmen muss anfangs für alle Beteiligten klar sein, dann können sie oft sehr autonom arbeiten. Während des gemeinschaftlichen Arbeitens kann es auch passieren, dass ein Kind die Gestaltung bestimmt und die anderen nur noch mitmachen. Passiert das mehrmals, versiegt die schöpferische Kraft bei allen Beteiligten. Auch starke Freundschaften können manchmal für das Gestalten hinderlich sein, da das harmonische Miteinander so wichtig ist, dass der individuelle Ausdruck eher im Hintergrund bleibt. Manchmal schaffen es die Kinder auch nicht, beim Zusammenarbeiten zur Ruhe zu kommen. Sie sind z. B. so mit dem Ideenaustausch beschäftigt, dass sie nicht ins Gestalten kommen. In jedem Fall ist es sinnvoll, dies anzusprechen, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und die Kinder evtl. wieder einzeln arbeiten zu lassen. Im Atelier setzen die Therapeutinnen auch aus diesen Gründen den Schwerpunkt auf die Einzelarbeit, vor allem am Anfang, wenn die Kinder mit dieser Art des Malens und Formens noch nicht vertraut sind. Jedes Kind kann zuerst seinen eigenen Ausdruck finden und vertiefen. Die Kinder in der Primarschule sind in ihrer Entwicklung mit verschiedenen Aufgaben konfrontiert. Sie müssen ihre kognitiven Fähigkeiten weiterentwickeln, sich mit Regeln und Verhaltensnormen auseinandersetzen, ihren Platz in der Gruppe finden, sich selbst behaupten und Freundschaften führen. Das beeinflusst den gestalterischen Prozess. Im Beispiel von zwei Jungen wird das deutlich: Eine Änderung in der Gruppenzusammensetzung durch die Leiterinnen hatte die beiden so geärgert, dass sie die Arbeit im Tonatelier zunächst ebenso verweigerten wie das Gespräch. Sie fühlten sich ungerecht behandelt und saßen zunächst untätig am Tisch. Die Therapeutin bot ihnen ein Stück Ton an und ließ ihnen offen, ob sie es gestalten wollten. Nach einiger Zeit begannen sie, den Ton zu schlagen, mit Werkzeug zu zerfurchen und zu quetschten, bis der Ärger etwas nachließ. Im anschließenden Gespräch konnten sie die von ihnen empfundene Ungerechtigkeit in Worte fassen und ein Kompromiss für alle gefunden werden. Beide wechselten zum Malen und es entstand bei dem einen Jungen folgendes Bild:
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Karin Lorenz
Abb. 8: Brücke und Blumen
Ausblick Das Atelier besteht in seiner Art schon viele Jahre und wurde von der Kunsttherapeutin Rosa Zürcher im Rahmen eines Workshop auf der Tagung der Deutschen Sektion der IGKGT den interessierten KollegInnen vorgestellt. Die Resonanz auf das Angebot ist sowohl von den Kindern als auch von deren Eltern über all die Jahre sehr positiv. Um den aktuellen Stand des Projektes zu erfragen und die systemische Perspektive in diesen Artikel zu integrieren, traf sich die Autorin mit der Kunsttherapeutin Irena Leuenberger, der Nachfolgerin von Rosa Zürcher. Aus systemischer Sicht wirft der aktuelle Stand der Integration des kunsttherapeutischen Angebots in das System Schule folgende Fragen auf: Gibt es eine gemeinsame Zielsetzung des Angebots, in der sich sowohl die Systembedürfnisse der Schule als auch die professionellen Anliegen der Kunsttherapeutinnen widerspiegeln? Daraus ergibt sich die Frage, welchen Wert das Angebot für das System Schule und vor allem für die schulische Entwicklung der Kinder hat? Wie wird das Angebot und seine Ziele nach innen und außen kommuniziert? Gibt es Austausch über die Entwicklungsverläufe 270 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
der Kinder mit den Lehrpersonen? Welche weiteren systemimmanenten Faktoren spielen eine Rolle, z. B. Budget, Betreuungsangebot, Rollenerwartungen und -konfusionen, Kommunikationsgewohnheiten und -hindernisse? Diese Fragen können Hinweise geben, welche Faktoren wichtig sind bei der Integration des kunsttherapeutischen Angebots in einen schulischen Rahmen.
Abb. 9: Ausstellungsaussicht
Gestalterischer Ausdruck gehört zum Menschsein! Ursula Roth, Gründerin des Schulateliers im Interview (2011) Alle in diesem Artikel gezeigten Bilder entstanden im Schuljahr 2008/09. Mein herzlicher Dank gilt allen Kindern und ihren Eltern für die kreative Leihgabe.
Literatur Baer, U. (2016). Gefühlssterne, Angstfresser, Verwandlungsbilder. (9. Aufl.). Berlin: Semnos. Bush, J. (1997). The Handbook of School Art Therapy. Springfield, Illinois: Charles C. Thomas Publisher. LTD. Case, C. & Dalley, T. (Hrsg.) (2008). Art Therapy with Children. Oxford: Routledge.
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Karin Lorenz Egger, B. (1980). Faszination Malen – Praktisches, Erzieherisches, Anregendes. Bern: Zytglogge Werkbuch. Egger, B. (1984). Bilder verstehen – Wahrnehmung und Entwicklung der bildnerischen Sprache. Bern: Zytglogge Werkbuch. Egger, B. & Hartmann, U. (2017). Personenorientierte Maltherapie. Bern: Hogrefe. Gardner, H. (1999). Kreative Intelligenz. München: Piper Verlag. Hampe, R., Ritschl, D. & Waser, G. (Hrsg.) (1999). Kunst, Gestaltung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Bremen: Universität Bremen. Hentig, H. v. (2000). Kreativität – Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Weinheim/Basel: Beltz. Kollmorgen, Ch. (1999). Die Entwicklung schöpferischen Potentials durch bildnerisches Gestalten in einem pädagogischen Beispiel (2. Klasse). In: Hampe, R., Ritschl, D. & Waser, G. (Hrsg.) (1999). Kunst, Gestaltung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Bremen: Universität Bremen. S. 410–418. Kramer, E. (2003). Kindheit und Kunsttherapie. Graz/Wien: Nausner & Nausner Verlag. Luhmann, N. & Baecker D. (Hrsg.) (2017). Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer. Menzen, K.-H. (1999). Neue Paradigmen jugendlicher Entwicklung. In: Hampe, R., Ritschl, D. & Waser, G. (Hrsg.) (1999). Kunst, Gestaltung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Bremen: Universität Bremen. S. 44–57. Menzen, K.-H. (2017). Kunsttherapie in der Förder- und Heilpädagogik. Neurobiologische Grundlagen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. Montessori, M. (2007a). Zehn Grundsätze des Erziehens. Freiburg: Herder. Montessori, M. (1997). Kinder sind anders. Stuttgart: Deutscher Taschenbuch Verlag. Montessori, M. (2007b). Das kreative Kind: Der absorbierende Geist. Freiburg: Herder. Reddick, D. (2008). Working with the whole class in primary schools. In: Case, C. & Dalley, T. (Hrsg.) (2008). Art Therapy with Children. Oxford: Routledge. S. 86–102. Rubin, J. A. (2005). Child Art Therapy. Hoboken New Jersey: John Wiley & Sons Inc. Schmeer, G. (1996) Das sinnliche Kind. Stuttgart: Klett-Cotta. Stern, A. (1998). Der Malort. Einsiedeln, Schweiz: Daimon. Studer, Ch. (2003). Kinderwerkstatt Malen. Aarau/München: AT Verlag. Stüttgen, M. (2003). Strategien der Komplexitätsbewältigung in Unternehmen. Ein transdisziplinärer Bezugsrahmen. Bern: Haupt Verlag. Titze, D. & Hellinger, Th. (2007). Wir sind schon da, ein Körper-Bild-Projekt. Dresden: Hochschule der bildenden Künste. Uhrlau, K. (2002). Bildnerisches Gestalten als Therapie in der Schule. Hamburg: Kovac.
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In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
Abbildungen
Abb. 4: Rollenvielfalt 1
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Karin Lorenz
Abb. 5: Rollenvielfalt 2
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In der Berührung der Systeme entsteht kreativer Ausdruck
Abb. 6: »Monster«
Abb. 7: »Rakete«
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Britta Meinke
Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl mit Fallbeispielen Abstract: In diesem Beitrag wird die kunsttherapeutische Arbeit an einer Förderschule beschrieben. Was benötigt ein Kind, um sich und seine Gefühlswelt zu regulieren?
Wie kann die Kunsttherapeutin hierbei unterstützend wirken? Und was braucht es überhaupt, um Kunsttherapie an einer Förderschule dauerhaft zu etablieren? Grundbedingungen, Ziele und Arbeitsweisen von Kunsttherapie an der Schule werden thematisiert. In zwei Sequenzen aus Einzeltherapien wird geschildert, wie Schülern wirkungsvoll mit künstlerischen Mitteln und im parallel verlaufenden Dialog mit der Therapeutin geholfen werden kann. Projektarbeit an der Schule spielt ebenfalls eine große Rolle. In zwei geschilderten Projekten geht es darum, mit fremdartigen oder fremden Menschen – sehbehinderten und blinden Menschen sowie unseren französischen Nachbarn – über Kunst in Austausch zu gehen. Bei einem dritten Projekt – dem Bilderbuchprojekt – ist die Selbstwirksamkeit des Kindes ein Schlüsselbegriff. Durch die Anregungen in diesem Buch soll der Angst und der Ohnmacht, die Kinder in Anbetracht von Umweltverschmutzung, Kriegen und Tierleid empfinden, etwas entgegengesetzt werden.
Frühe Kindheitserlebnisse Wie alle Kinder liebte ich es, zu kritzeln und wie alle Kinder in den ersten Lebensjahren kritzelte ich nicht nur auf das immer zu kleine Stück Papier, das man mir gab. Ich kritzelte raumgreifend, am liebsten auf die Tapete neben meinem Bett. Da malte ich hingebungsvoll, so weit mein Arm reichte. Das Besondere daran war, dass meine Eltern mich ließen. Sechs Jahre lang bemalte ich die Wände meines 276 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
Kinderzimmers. Ich liebte diese Wände. Niemand verurteilte mich dafür, niemand verbesserte mich oder hatte eine Meinung über das, was ich tat. Die Gefühle der Freiheit, des weiten Raums, den ich mit meinen Stiften einnehmen durfte und des Vertrauens meiner Eltern in mich und mein Tun haben mich tief geprägt und meine Entscheidung, kunsttherapeutisch zu arbeiten, sicherlich beeinflusst. Auch ich wollte Kindern und Jugendlichen den Halt und den Raum bieten, sich frei auszudrücken und ihnen das tiefe Vertrauen in ihre sich selbst regulierenden Kräfte entgegenbringen. Kurz vor der Einschulung wurden die Wände meines Kinderzimmers neu tapeziert. Ich erinnere mich wehmütig an diesen Tag. Dann aber überwand ich den Schmerz schnell, weil andere Dinge in meinem Leben wichtig wurden. Durch diese Kindheitserfahrung entdeckte ich aber vier Grundbedingungen für eine gelingende Kunsttherapie.
Vier Grundbedingungen für gelingende Kunsttherapie 1.
Raum schaffen
– – –
durch das Atelier mit seinen Möglichkeiten Offenheit für das Kind/den Jugendlichen und Respekt für sein So-Sein
2.
Halt geben
– – – –
durch einen geschützten, sicheren Ort Kontinuität der Sitzungen echtes Interesse am Leben des Kindes Materialien und Methoden
3.
Vertrauen entgegenbringen
–
in die selbstheilenden und selbstregulierenden Kräfte eines jeden
277 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Britta Meinke
4.
Annahme
–
»Du bist in Ordnung, so wie du bist und mit allem, was du mitbringst.«
Sind diese Rahmenbedingungen gegeben, kann das zur Fähigkeit von Selbstregulierung beim Kind/Klienten führen. Geben wir als KunsttherapeutInnen unseren KlientInnen den Raum, den Halt und das Vertrauen, nehmen wir sie an, wie sie sind, beginnen sie sich wohlzufühlen. Sie können sich leichter öffnen und entfalten. Wenn die KlientInnen im kunsttherapeutischen Prozess einfühlsam begleitet werden, wissen sie selbst, was sie brauchen, um sich und ihre Gefühlswelt zu klären.
Die Albert-Schweitzer-Schule, Förderschule »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben das leben will.« (Albert Schweitzer) Die zutiefst humane Haltung Albert Schweitzers versuchen wir an unserer Schule zu leben. Die Förderschule ist eine Brennpunktschule mit den Klassen 1 bis 9. Sie wird besucht von Schülern im Alter von sechs bis sechzehn Jahren. Die Schüler zeigen Leistungsbeeinträchtigungen in den Bereichen Kognition, Sprache, Wahrnehmung, Motorik und Verhalten. Finanzierung der Kunsttherapie: – 2001. Bewilligung von Opferwochemitteln der evangelischen Kirche für das Kinderprojekt »Kinder psychisch erkrankter Eltern« – Wolfram Fuchs: ein enorm engagierter Schulleiter als Motor und Vermittler – 2004. Weiterfinanzierung durch den Diakonie- und Krankenpflegeverein – 2007. Ein Geschäftsmann und Freund der Schule sponsert eine 25-%-Stelle – Projekt- und Preisgelder
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Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
–
2012. Der Förderverein beginnt mit geplanten Fundraisingmaßnahmen für die Finanzierung der Kunsttherapie und findet Unterstützung bei Stiftungen, Firmen, bei der Stadt und bei privaten Spendern
Vermittlung der SchülerInnen an die Kunsttherapeutin: 1. Der Lehrer/die Lehrerin informiert die Kunsttherapeutin. 2. Der Schüler/die Schülerin wird gefragt, ob er/sie an der Kunsttherapie teilnehmen möchte. 3. Die Eltern werden um ihr schriftliches Einverständnis gebeten. 4. Das Kind wird von der Kunsttherapeutin aus der Klasse geholt. 5. Beziehung wird im Gespräch und durch Malen und Gestalten aufgebaut. Beziehungsaufbau: – Die Kunsttherapeutin stellt sich dem Kind vor und zeigt ihm das Atelier. – Hier dürfen die SchülerInnen frei malen, gestalten, tonen, experimentieren. – Das Atelier dient als Schutzraum. Es gibt keine Noten, keine Beurteilung, kein Richtig und Falsch. – Die Kunsttherapeutin erklärt dem Kind, dass es zu seinen Bildern Geschichten erzählen darf, wenn es das möchte. In der Kunsttherapie arbeitet die Kunsttherapeutin mit SchülerInnen, – die depressive oder aggressive Verhaltensweisen zeigen – in deren Leben ein gravierender Einschnitt war oder bevorsteht: eine eigene Erkrankung oder eine Erkrankung/ein Unfall eines Familienangehörigen bzw. Freundes – die Geschwisterkinder, Elternteile oder andere Familienangehörige durch Tod verloren haben – deren Eltern sich trennen/getrennt haben – die in Pflegefamilien leben bzw. aufgrund von Adoption einen schwierigen Start ins Leben hatten und heute Verhaltensauffälligkeiten zeigen – die in ihrer Familie als eines von vielen Kindern nicht wahrgenommen werden – die Vernachlässigungstendenzen durch einen familiären Mangel an Halt und Geborgenheit aufweisen
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Britta Meinke
Aktuelle Fälle: – Ein Schüler, der vor kurzem seinen Bruder bei einem Autounfall verlor – Zwei Schülerinnen, die als Kleinkinder adoptiert wurden und nun Auffälligkeiten zeigen: sie sind impulsiv, rasten aus, fühlen sich unverstanden – Ein Schüler, dessen Eltern sich getrennt haben: er ist traurig, wütend, verwirrt – Eine Schülerin, die sich ritzte und jetzt bulimische Tendenzen aufweist – Ein Schüler, der auf einmal depressiv wirkt, er ist eines von vielen Geschwisterkindern – Eine Schülerin alkoholkranker Eltern, sie verhält sich überangepasst und zeigt selbst Suchttendenzen – Geschwisterkinder, deren Mutter sie verließ und deren Vater schwer erkrankt ist – Eine Schülerin, deren Mutter psychisch erkrankt ist
Die fünf »B’s« einer gelingenden Kunsttherapie an einer Schule Begegnung – Die Kunsttherapeutin begegnet in wertschätzender, warmer Haltung dem Kind, das Kind begegnet dem Material und dem offenen, weitgehend konzeptfreien Raum, sowie den Möglichkeiten, die dieser bietet. Beziehung – Die Kunsttherapeutin und das Kind erschaffen Beziehung, das Kind kann dann in Beziehung zu seiner Gestaltung gehen und durch die Gestaltung einen neuen Zugang zu sich selbst finden. Gelingt dies, so ist eine Grundlage für gelingende mitmenschliche Beziehungen gelegt. Begleitung – Den persönlichkeitsfördernden Prozess beim Kind einfühlsam zu begleiten, ist Voraussetzung für gelingende Kunsttherapie. Berührung – Das Kind kommt in Berührung mit seiner Gestaltung, es wird wiederum von seinem Werk und von der Erzählung, die sich oft aus seiner Gestaltung schält, berührt. Die Kunsttherapeutin lässt sich von der Geschichte und der Gestaltung des Kindes berühren.
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Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
Bewegung – Der Pinsel, die Kreide, die Hände und Arme kommen beim Gestalten in Bewegung. Synonym hierzu kommt Festes, Blockiertes und Erstarrtes im Erleben des Kindes in Bewegung.
Abb. 1: »Die 5 B’s«
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Britta Meinke
Ziele kunsttherapeutischer Arbeit an der Schule Die Stärken stärken – Entdecken bisher verborgener Quellen/Ressourcen – Stärken des Selbstwertgefühls – Neue Lösungswege finden Entlastung – Sicherheitserleben im Schutzraum des Ateliers – Symptome können sichtbar werden und lassen sich somit bearbeiten – Abbau von Ängsten und Stress – Aufarbeitung von Traumata – Lösung emotionaler Blockaden Kompetenzförderung – Förderung von Kommunikation, Handlungsfähigkeit, Realitätssinn – Vermittlung der Erfahrung, dass durch Beständigkeit Beziehung gelingen kann – Förderung von Geduld, Ausdauer und Fantasie – Förderung von Begabung, Schaffensfreude, Konzentration, Interesse – Regulierung von Verhaltensauffälligkeiten
Zwei hilfreiche Übungen zur Entlastung vor der Wahl des Materials und des Motivs Wenn ein Kind mit großen Sorgen oder Ängsten in die Sitzung kommt, haben sich folgende Übungen bewährt:
1.
Die Schüttel-Übung
Ich bitte das Kind, sich in die Mitte des Raums zu stellen und sich vorzustellen, es wäre ein Baum im Sturm. Ich sage: »Schüttle deine Arme und Schultern, stelle dir vor, dass du alle Sorgen, alles, was dich belastet, von dir abwirfst, als wären es dürre Äste. Schüttle deinen Kopf, deine Beine und Füße.« (Den Baum kann man wahlweise durch eine Marionette oder eine Schlenkerpuppe ersetzen.) 282 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
2.
Das Tonkneten und Tonschleudern
Ich bitte das Kind, ein Stück Ton zu nehmen und den Ton zu kneten. Ich sage: »Stelle dir vor, dass alles Belastende, deine Sorgen und der Stress durch deine Arme in diese Tonkugel fließen. Nehme jetzt die Tonkugel und werfe sie mit Kraft auf die Platte, auf den Boden. Sage dabei: »Ich lasse meine Sorgen / meine Angst / meinen Stress jetzt los. Mache das »x«-mal.«
Abb. 2: »Entlastungsübung Tonkneten«
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Britta Meinke
Meine Arbeitsweise als »L’Art de travailler dans l’Art« Kunsttherapie-Methoden biete ich an, wenn die Kinder keine eigenen Ideen mitbringen, wenn sie der Strukturierung bedürfen und/oder wenn ich denke, dass diese Übungen sehr hilfreich für das Kind sein könnten. Unzählige Methoden wurden bisher an der Schule angewandt, neu entdeckt, weiter entwickelt, variiert und situativ verändert. Die entstandenen Werke können in den fortlaufenden Sitzungen durch weitere Bilder eine Ergänzung erfahren. Wenn das Kind gerne erzählt, darf es zu den entstandenen Bildern/Gestaltungen eine Geschichte erfinden, die ich notiere. Auch diese Geschichten können immer weiter ergänzt und verändert werden. In ihren Bildern und Erzählungen erzählen die Kinder immer von sich selbst und ihrer Innenwelt. Ich arbeite ressourcenorientiert und lasse die SchülerInnen niemals mit einer ungeklärten Geschichte, einem akut ungelösten Problem oder einem unerträglichen Gefühl aus der Sitzung gehen. Ich achte darauf, in zugewandtem, warmherzigem Kontakt zu bleiben und nicht zu retraumatisieren. Eine gute Zusammenarbeit mit dem Schulleiter, den LehrerInnen, der Schulsozialarbeiterin und den Eltern ist meiner Ansicht nach ebenfalls Voraussetzung für erfolgreiche Kunsttherapie an Schulen.
Zwei Fallbeispiele 1.
Kunsttherapie-Sequenz: Es gibt doch noch einen Hoffnungsschimmer
Tommy ist 14 Jahre alt und nimmt schon lange an den KunsttherapieSitzungen der Schule teil. Er ist ein sehr schwacher Schüler, liebt es aber, sich künstlerisch auszudrücken. Tommy ist immer Außenseiter in der Klasse, er fühlt sich von seinen Mitschülern unverstanden. Sein größtes Problem ist, dass er nicht der starke Junge ist, den sich sein Vater erträumt hat. Tommy ist sehr emotional und sensibel, er ist ein Einzelkind. Die Mutter beschützt ihn, der Vater ist ausgesprochen streng. Tommy hat oft Angst vor ihm, weil er weiß, dass er ihm nicht genügen kann. An diesem Tag ist Tommy sehr aufgewühlt. Er geht im Atelier 284 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
Abb. 3: »Hoffnungsschimmer«
»wie ein Tiger im Käfig« auf und ab. Er spricht, weint und seufzt laut. Nach und nach erfahre ich, dass er bei dem einmal in der Woche stattfindenden Praktikum, das er in einer KFZ-Werkstatt absolviert, einen Fehler gemacht habe. Offenbar habe er ein Fahrzeug aus Versehen an einer Stelle zerkratzt. Tommy fürchtet nun, seine Praktikumsstelle zu verlieren. Er fürchtet, der Chef schimpfe mit ihm, rufe seine Eltern an und dann bekomme er Ärger mit seinem Vater. Ich bitte Tommy, seinen Gefühlen auf dem Papier Ausdruck zu verleihen. Er malt mit kräftigen Bewegungen seine Wut und seine Angst mit viel schwarzer, ein wenig gelber und blauer Farbe in Strichen und Punkten auf das Papier. »Was könnte man nur tun?«, fragt er laut. Ich schlage ihm vor, in der Werkstatt anzurufen und einfach nachzufragen, ob sein Fehler wirklich so gravierend war. Schließlich sei er ja nur Praktikant. Nun taucht Tommy den Pinsel in orange Farbe, schleudert Orange über die dunklen Farben und sagt: »Es gibt doch noch einen Hoffnungsschimmer.« Wir telefonieren im Anschluss mit der Werkstatt. Der Werkstattleiter bestätigt, dass Tommy keinen schlimmen Fehler gemacht habe, als Praktikant dürfe er Fehler machen. Tommy ist sehr erleichtert. In der Einzelsitzung der Kunst285 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Britta Meinke
therapie erhielten seine Sorgen einen Platz, er konnte sich Luft verschaffen, er konnte seine Angst gestalterisch ausdrücken und mithilfe der Kunsttherapeutin eine Lösung für sein Problem finden.
2.
Kunsttherapie-Sequenz: Die Farbe des Nichts
Der 12-jährige Max fällt im Unterricht durch völlige Apathie auf. Immer wieder liegt er mit dem Kopf auf dem Tisch und gibt keine Antworten. Alle Interventionen der Lehrer laufen ins Leere. Max kommt schon lange regelmäßig in die Kunsttherapie. Es macht ihn froh, wenn er im Atelier ungeteilte Aufmerksamkeit erhält. Er malt sehr gerne und über seine Bilder komme ich gut mit ihm ins Gespräch. Max’ Mutter ist psychisch krank, er lebte viele Jahre bei ihr, doch sie konnte sich nicht gut um ihn kümmern. Max zeigte starke Vernachlässigungstendenzen. In Zusammenarbeit mit dem Jugendamt erklärte sich Max’ Vater dann bereit, ihn bei sich und seiner neuen Familie aufzunehmen. Max war 9 Jahre alt, als er zum Vater zog. In der neuen Familie gab es viele Kinder und Pflegekinder. Max besuchte seine Mutter manchmal an den Wochenenden – sie überließ ihn meist sich selbst. Als ich Max an diesem Tag ins Atelier mitnehme, wirkt er sehr niedergeschlagen. Auf meine Frage, wie es ihm geht, sagt er: »Ich fühle nichts.« Ich frage Max, welche Farbe das Nichts hat. Nach einigem Überlegen sagt Max »Weiß«. Nun stelle ich Max großes schwarzes Tonpapier und weiße Acrylfarbe zur Verfügung. Max beginnt sofort, konzentriert an der Staffelei zu arbeiten. Eine halbe Stunde lang malt er mit weißer Farbe auf das Blatt, bis es vollständig bedeckt ist. Als ich ihn dann frage, wie es ihm jetzt geht, sagt er erneut: »Ich fühle nichts.« … »Da ist nichts.« Ich frage Max, ob er eine schriftliche Bildbeschreibung machen möchte. Trotz seiner Niedergeschlagenheit lässt er sich darauf ein. Sein Blatt füllt er mit dem Wort »Weiß«. Max zeigt deutliche depressive Symptome. In der Kunsttherapie kann ein Raum für die innere Leere, die er verspürt, geschaffen werden. Max kann sich mit allem zeigen, was ihn ausmacht. Er darf so sein. In der nächsten Sitzung wirkt Max immer noch bedrückt, er sagt mir, dass er wieder mit Weiß malen möchte. Diesmal aber erscheinen in seinem Schneebild weiße Bäume und ein kleines, weißes Häschen, das man kaum erkennen kann. Max lässt sich wiederum auf eine
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Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
schriftliche Bildbeschreibung ein und wieder steht auf dem Blatt viele Male das Wort »Weiß«. Eine Woche später bittet mich Max um die Farben Orange, Blau, Braun, Schwarz und Weiß. Er teilt mir mit, dass er ein großes Blatt braucht. Heute malt er zügig und frisch einen Bagger, der an einer Baustelle eine Grube aushebt. Er sagt mir, dass er beim nächsten Mal das Haus malen möchte, das hier gerade entsteht. Den Zustand, in dem sich das Gegenüber befindet, anzuerkennen, ihn wahrzunehmen, anzunehmen und nicht auf Veränderung zu drängen, den Klienten zu begleiten und ihm den Raum zu geben, dieses innere Erleben auszudrücken, kann zur Veränderung seiner Fühl- und Gedankenwelt führen. Die Kunsttherapeutin sollte Gefühle von Leere, Trauer, Wut aber auch Überschwänglichkeit und Euphorie des Klienten aushalten können und innehalten. Ausbalancierung der Emotionen und Neuausrichtung geschehen durch ihre wachsame Präsenz oft wie von selbst. Max hat seine depressive Stimmung überwunden und stellt seine Kraft dem Leben wieder zur Verfügung.
Kunstprojekte 1.
Berührungspunkte: »Wir erschaffen Kunst für blinde und sehbehinderte Menschen.«
2011 entwickelten wir unser Berührungspunkte-Projekt für blinde, sehbehinderte und sehende Menschen. Unsere Idee war, durch unsere Kunst Menschen mit und ohne Behinderung zusammenzuführen. Die SchülerInnen erschufen in Kleingruppen Werke aus unterschiedlichsten Materialien zum Anfassen: – Formenreliefs aus Pappmaché und Holz – Große Fadenbilder – Bild-Mosaike aus Steinen, Muscheln und Sand – Speckstein-Skulpturen – Ton-Skulpturen – Hand-Abdrücke (positiv und negativ) aus Gips – Einen Tast-Turm aus verschiedensten Materialien und mit Fächern, in denen Gegenstände zum Fühlen und Raten versteckt sind …
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Britta Meinke
Abb. 3: »Hoffnungsschimmer«Abb. 4: »Ein Formenrelief entsteht«
Ganzheitliches Erleben wurde somit möglich. Schon beim Gestalten wurden alle Sinne angeregt: – Die Kinder und Jugendlichen erstasteten die fertiggestellten Objekte mit verbundenen Augen und schulten eine differenziertere Wahrnehmung und Ausdrucksweise. Sie versuchten in Worte zu fassen, was sie spürten. – Sie übten eine Frage- und Gesprächstechnik ein, die sie später bei Führungen mit behinderten Menschen anwenden konnten. – Sie lernten, auf andere Menschen zuzugehen und sich in sie einzufühlen. – In einem Sinnes-Parcours können interessierte Gruppen mit verbundenen und offenen Augen von unseren Schülern durch die Ausstellung geführt werden. Die entstandenen Objekte werden mit unserem »Art-Mobil« als Wanderausstellung in Behinderteneinrichtungen, Gottesdienste und Altersheime gebracht. Für dieses Projekt, das wir mit einer Konzeption bei der Kinderlandstiftung Baden-Württemberg einreichten, erhielt die Schule einen Ersten Preis von 20.000 €. 288 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
2.
Das deutsch-französische Kunst-Projekt: »Lasst uns unsere Farben mischen – Mélangeons nos couleurs
Seit 2011 haben 32 Begegnungen mit einer französischen Kindergartenklasse und den Jüngsten der Albert-Schweitzer-Schule stattgefunden. Abwechselnd treffen wir uns in Straßburg und Kehl. Der Schwerpunkt dieser grenzüberschreitenden Treffen liegt nicht auf der sprachlichen Verständigung, da die Kinder die Sprache des Nachbarlandes (noch) nicht lernen. Es geht uns darum, durch eine Vielfalt an kreativen Mitteln eine Brücke zu den französischen Nachbarn zu schlagen und den kleinen SchülerInnen die Eigenheiten des Nachbarlandes wie Klang der Sprache, Landschaft, Architektur, Kunst und Kultur auf einfache Weise näherzubringen und Freude am Austausch und an den entstehenden Freundschaften zu erfahren. Für unsere Förderschüler ist der Kontakt nach Frankreich anders als an anderen Schulen nicht selbstverständlich. Wir malen, gestalten, spielen und essen miteinander, wir machen gemeinsame Ausflüge. Hier einige Beispiele: – »Wir zeichnen unseren Austauschpartner mit Kohle, indem wir ihm gegenüber sitzen« – »Wir malen in Kleingruppen auf großen Papierbögen Frühlingsgärten« – »Wir spielen mit selbst hergestellten Schlägern aus Papiertellern mit Luftballons« – »Wir lernen kleine artistische Kunststücke« – »Wir suchen Naturmaterialien und legen Muster auf Sand und Wiesen« – »Wir wandern auf dem Hotzenplotz-Pfad in Gengenbach und suchen einen Schatz« – »Wir verbinden uns gegenseitig die Augen und gehen durch einen Sinnesparcours aus unseren Berührungspunkte-Objekten« – »Wir besuchen Ausstellungen, lassen uns von einer Museumspädagogin führen und für eigene Werke inspirieren«. Besonders interessant waren für uns: die Bilderbuchzeichnungen von Tomi Ungerer, die Sandstein-Objekte des Straßburger Münsters und das Hurrle-Museum in Durbach.
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Britta Meinke
Abb. 5 »Tastübung«
Für unsere Konzeption und Durchführung wurden wir mit dem Silbermann-Preis von 2.500.– € belohnt und erhielten 5.000.– € vom Eurodistrikt Kehl/Straßburg.
3.
»Die Taube mit den bunten Federn – Ein Ideen-Bilderbuch für junge Weltverbesserer«
»Die Taube mit den bunten Federn – Ein Ideen-Bilderbuch für junge Weltverbesserer« ist eine von Kindern für Kinder gemalte MitmachGeschichte zu den Themen Umwelt- und Tierschutz, soziales Miteinander und Weltfrieden. Zusammenfassung der Geschichte: »Die weiße Taube ist krank und unglücklich. Auf der Erde gefällt es ihr nicht mehr. Luft, Wasser und Erde sind schmutzig geworden, die Tiere leiden, die Menschen streiten und führen Krieg. Als die Taube auf einen anderen Stern flüchtet, begegnet sie vier bunten Vögeln, die ihr mit ihren Zauberfedern neue Kraft schenken. Sie schicken sie mit dem Auftrag zurück, der Erde zu helfen, auch wieder gesund zu werden. Die Taube lässt die Zauberfedern auf die Erde fallen, aber erst als die rote Feder auf die Menschen fällt, wachen die Menschen auf und ändern ihr Verhalten. Jetzt können alle Wesen wieder glücklich werden. Auch die Taube fühlt sich auf der schönen Erde nun wieder wohl.«
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Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
Abb. 6 »Der Tast-Turm«
Unsere Kinder und Jugendliche machen sich viele Gedanken und Sorgen, die sie mit in die Schule bringen. Sie wissen nicht, was sie der Umweltverschmutzung, dem Tierleid, den vielen Katastrophen und Kriegen entgegensetzen sollen. Sie sehen die Bilder im Fernsehen und Internet, hören oft täglich mit ihren Eltern die Nachrichten und sind davon tief betroffen. Sie fühlen sich bedroht. Ängste und Alp291 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Britta Meinke
Abb. 7: »Dt.-frz. Projekt, Sandeln«
Abb. 8: »Dt.-frz. Projekt, Mandalamalen«
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Kunsttherapie und Kunstprojekte an der Albert-Schweitzer-Förderschule Kehl
träume, Depressionen und ein Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit sind oft die Folge. Die Sehnsucht nach einer guten und friedlichen Welt ist groß. Mit unserem Buch wollen wir vermitteln, dass jedes Kind einen Beitrag für eine lebenswertere Welt liefern und schon früh lernen kann, wie man gut mit den Ressourcen dieser Erde umgeht. Dem Gefühl der Ohnmacht, das viele Kinder empfinden, soll etwas entgegengesetzt werden. Dadurch, dass die Leser des Buches angeregt werden, Ideen zu entwickeln, diese dann formulieren, gestalten und mutig Initiative ergreifen, erhoffen wir uns einen großen therapeutischen Effekt. Es gibt in diesem Mitmach-Buch viele leere Seiten, die die jungen Betrachter – durch die Geschichte inspiriert – mit eigenen Zeichnungen und Texten füllen können. Ein Memory und ein Begleitheft zu der »Taube mit den bunten Federn« sind in Arbeit. In dem Begleitheft werden die bisherigen sozialen Projekte sowie die Umwelt- und Tierschutzaktionen der Albert-Schweitzer-Schüler zur Nachahmung aufgeführt. Geplant ist auch ein Weltverbesserer-Preisausschreiben, bei dem andere Schulen beteiligt werden sollen. Selbstwertgefühl, soziale Kompetenzen, kommunikative Fähigkeiten, Kreativität und Fantasie werden durch die in diesem Buch vorgeschlagenen Ideen und Übungen gefördert.
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Britta Meinke
Abb. 9: »Die Taube mit den bunten Federn«
Abb. 10: »Auf der Welt gibt es Krieg«
Abb. 11: »Als die rote Feder auf die Menschen fällt, wachen die Menschen auf«
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Annette Neyenhuys
Der schöpferische Prozess oder Warum das Malen Lebensgrundlagen schaffen kann
Abstract: Der Vortrag stellt die Beweg- und Hintergründe für die Entwicklung eines Seminarangebotes für Fachpersonen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, dar. Das pädagogische Konzept des Seminarangebotes verbindet (lat. »sociare«) biografische und berufspraktische Erfahrungen der Referentinnen mit deren kunsttherapeutischer Sozialisation zu einer Haltung, die den schöpferischen Prozess als eine salutogene Ressource wertschätzt, der wirklichkeitsaneignende und wirklichkeitsauseinandersetzende, aber auch protektive und kathartische Funktionen erfüllt und deshalb keinen normativ definierten Leistungsansprüchen unterliegen sollte. Unsere Arbeitshypothese, dass eine gelingende Begleitung des Kindes im schöpferischen Prozess nicht zuletzt die eigene (reflektierte) Erfahrung des Erwachsenen im künstlerischen Prozess voraussetzt, wird in diesem Vortrag diskutiert.
Aus der Zusammenarbeit mit meiner Kollegin Frau Sperlich aus Berlin ist ein Seminarprogramm, das sich an Erzieher, Pädagogen und Therapeuten richtet, erwachsen, das wir, an der gleichen Hochschule sozialisiert, aber mit unterschiedlichen beruflichen Erfahrungen ausgestattet, erarbeitet haben. Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Definitionen, was unter Sozialisation (lat. »sociare« = verbinden) zu verstehen ist, deren gemeinsamer Kern Klaus Hurrelmann definiert »als Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet« (Hurrelmann, Bauer, 2015a, S. 19). Meine kunsttherapeutische Sozialisation begann sehr früh, ohne dass ich sie zu diesem Zeitpunkt je so hätte benennen können. In meinen ersten Kinderjahren wechselte meine Familie häufig den Wohnort, und so zogen wir von Nord nach West, von dort in den Süden Deutschlands und dann wieder 295 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Annette Neyenhuys
Richtung Norden. Das Malen und Gestalten war mir in diesen bewegten Kindheitsjahren ein verlässlicher und wichtiger Begleiter, der mir Sinnhaftigkeit im Tun, Versenkung und aus heutiger Sicht die spielerische Verarbeitung der immer wieder neuen Eindrücke und Herausforderungen kultureller Divergenz ermöglichte. Das Interesse am gestalterischen Tun und der Kunst blieb mir erhalten und zeigte sich in besonderem Masse während meiner ersten, dual angelegten Ausbildung, die Studium und Lehre zeitgleich und sehr intensiv miteinander verzahnte und meinen Stresspegel dauerhaft hoch hielt. In Phasen großer Belastung versuchte ich im ästhetischen Gestalten, Distanz aufzubauen. Aus unterschiedlichen, zuvor gesammelten farbigen Papieren, Geweben, Folien und Kartonagen entstanden in einem kombinatorisch-selektiven Gestaltungsprozess Werke und Objekte, die meiner ästhetischen Vorstellung entsprachen. Das künstlerische Tun verschaffte mir Entlastung und ein positives Selbstwirksamkeitserleben. Ich hatte mir einen Raum gestaltet, so wie ich ihn brauchte, sodass ich in ihm arbeiten konnte. Mit Abschluss des Studiums war das Marketing für einige Jahre mein Arbeitsbereich. Produktentwicklung, werbewirksame Anzeigengestaltung und Absatzförderung auch mit ästhetischen Mitteln wie Farbe, Form, Schrift, Text waren das Handwerkszeug zur Manipulation des Konsumenten. Für ein ganzes Berufsleben schien mir dieses Arbeitsfeld nicht erfüllend genug, auch fehlte mir der konkrete Bezug zur Kunst und zum Menschen. Eine Kurskorrektur wurde nötig. Nach dem Kunsttherapiestudium begann ich in Einrichtungen der jugendkulturellen Bildung mit Kindern und Jugendlichen meine ersten pädagogischen Erfahrungen zu sammeln. In einer Fachschule für Sozialpädagogik in Norddeutschland unterrichtete ich die Fächer Bildnerisches Gestalten und Werken und betreute die Schüler*innen auch während der Praktikumsphasen vor Ort in den Kindergärten und Kitas (es fanden mehrere Visitationen statt, die mit einer praktischen Prüfung in der Einrichtung abgeschlossen wurden). Diese Aufgabe gewährte mir vertiefte Einblicke in verschiedene pädagogische Konzepte und ihre didaktisch-methodische Ausgestaltung. Die pädagogischen Bemühungen, die Entfaltung kindlicher Kreativität zu fördern, zielte tendenziell in die gleiche Richtung: ein großer rechteckiger, mit einer farbigen Lackdecke bedeckter Tisch, auf dem Bunt- und Filzstifte, weißes EDV-Papier, Schere und Klebstoff bereitstanden. Jahreszeitlich gefärbte Bastelangebote in der Gruppe rundeten das 296 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der schöpferische Prozess
Bild ab. Die Bildwerke der Kinder wurden in Mappen archiviert. Bei den Erzieher*innen nahm ich mehrheitlich eine Unsicherheit hinsichtlich einer äußeren und inhaltlichen Gestaltung des für kreative Prozesse nötigen Raumes wahr. Diese Unsicherheit spiegelte sich nicht nur in der Gestaltung und Einrichtung des Arbeitsplatzes, sondern auch in einem breiten Angebot von Ausmalbüchern und Gestaltungsvorlagen wider. Es ist ein offenes Geheimnis, dass, indem man den kindlichen Erfahrungsweg abkürzt oder vorwegnimmt, man dem Kind damit auch die Möglichkeit, seine Sicht der Welt zum Ausdruck zu bringen, nimmt. Gleichzeitig vermittelt man auch das Gefühl, Dinge nicht selber gut gestalten zu können. Darüber hinaus wurde zunehmend deutlich, dass die Erzieher*innen die Werke der Kinder nicht wertschätzen konnten, weil ihnen das nötige Wissen über die Kinderzeichnung fehlte. Diese Beobachtungen und die Erfahrungsberichte der Schüler*innen gaben den Anlass für die Konzeption unseres ersten Seminares für Erzieher*innen und Pädagog*innen, das die Entwicklung der Kinderzeichnung zum Thema hatte. Im Austausch mit den Seminarteilnehm*innen stellten meine Kollegin Frau Sperlich und ich einmal mehr fest, dass wir beide, unabhängig voneinander, sowohl in unserer kunsttherapeutischen Praxis als auch in unseren pädagogischen Arbeitsfeldern die Rahmenbedingungen, die kreativitätsfördernde Prozesse ermöglichen, in einer anderen Weise als vorhergehend beschrieben gestalten. Neben anregenden (Erfahrungs-)Räumen und einer entspannten Atmosphäre, geben wir dem Kind, dem Klienten Zeit, Geduld, Zuwendung und ein Material, das durch seine (auch sinnlichen) Qualitäten und strukturellen Eigenschaften zur Interaktion und ästhetischen Kommunikation anregt. Die Feststellung der Differenz war ein wesentlicher Anhaltspunkt für die Weiterentwicklung des Seminarkonzeptes. Mit dem Umzug in die Schweiz ergab sich eine Zusammenarbeit mit dem Marie-Maierhofer-Institut für das Kind in Zürich. Angeregt durch den damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des MMI Zürich, Jeremy Hellmann, suchten wir nach einem überzeugenden und zugleich praktikablen Weg, (Entwicklungs-)Phänomene, die in der Kinderzeichnung sichtbar werden, nachvollziehbar zu machen. Die neue Seminarstruktur verzahnte Theorie, ästhetische Selbstbildung und Reflektion in geeigneter Weise. Unsere Intention, die Teilnehmer*innen für eine achtsame und ressourcenorientierte Begleitung des heranwachsenden Kindes zu sensibilisieren, gelang vor allem 297 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Annette Neyenhuys
dort, wo wir den Teilnehmer*innen einen aus der eigenkünstlerischen Erfahrung hervorgegangenen Zugang zum schöpferischen Prozess des Kindes eröffneten. Auf die Konsequenzen, die aus einer unzureichenden elterlichen oder pädagogischen Unterstützung selbstinduzierter kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse erwachsen, macht ein in der Süddeutschen Zeitung zum Thema Lernen erschienener Artikel aufmerksam. Unter der Überschrift »Kritzeln, Malen, Kneten, Basteln – das sind die klugen Mütter und Tanten des Schreiben-Könnens« subsumiert der Autor Gründe für die mangelhafte Feinmotorik der Schüler, deren Ursache 53 % der Grundschullehrer an der »fortschreitenden Digitalisierung der Kommunikation« festmachen. Den Kindern fehlten die Grundlagen zum Erlernen der Schrift. Ein geführtes Schreibtraining und die gezielte Förderung dieser Kinder in der Schule seien ein möglicher Weg, den Defiziten zu begegnen. Ein anderer Weg, so Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes (SZ, 2015, S. 30), sei die Kinder – wie früher – in den Familien feinmotorisch zu schulen. Feinmotorische Defizite gehören zu einem Potpourri an Entwicklungsdefiziten, die von Eltern, Pädagogen und Psychologen bei Kindern heute diagnostiziert werden. Zudem sind Kinder zunehmend »mit Konflikten und Schwierigkeiten konfrontiert, die sie in Form von Verhaltensauffälligkeiten ausagieren, weil ihnen die Bearbeitung dieser Probleme schwer fällt«. So treten Wahrnehmungsstörungen, Konzentrationsschwächen, Hyperaktivität oder Lese-/Rechtschreibschwäche im Kinder- und Jugendalter vermehrt auf (Pfeiffer, 2005a, S. 11). Demgegenüber steht ein »Kinderalltag«, schon von frühester Kindheit an, der »heute mehr als je zuvor institutionell strukturiert« ist (Pfeiffer, 2005b, S. 8 f.). Georg Peez hat in seinem Artikel »Kinder kritzeln, zeichnen und malen – Warum eigentlich?« festgestellt, dass die sensomotorische Entwicklung des Kleinkindes Analogien zur Malentwicklung aufweist. So zeigen beobachtete Schmieraktivitäten der Kinder »Wiederholungen und Rhythmisierungen ein und derselben Bewegung« (Peez, 2011, S. 45), wie wir sie aus den Anfängen der Malentwicklung kennen. Sowohl in der Horizontalen wie auch in der Vertikalen werden Bewegungen mit den Fingern und Händen ausgeführt, wobei der taktile Reiz das sensuelle Erleben anregt und auch dynamisiert. Wie auch beim Malen widmeten sich die beobachteten Kinder dem 298 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der schöpferische Prozess
Schmieren mit hoher Konzentration. Sie beobachteten ihr Tun und die mit der Bewegung einhergehenden Veränderungen der Breispuren. Auf dem Papier sind diese Kritzelspuren bleibende Zeugnisse selbstvergessener sinnlicher Weltaneignung und Selbstbildung (Peez, 2011, S. 45 f.). Eine anregende gestaltete Umgebung fördert die leiblich-ästhetische Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt. Ohne sensomotorische Aktivität kann sich ein abstraktes begriffliches Denken nicht entwickeln, denn »alle unsere Sinnessysteme und ihre inneren Verarbeitungsformen sind körperlich strukturiert. Sie zu gebrauchen, entwickelt den Geist … Die frühen Sinneserfahrungen spielen dabei eine grundlegende Rolle« (Schäfer, 2012, S. 9). Sicher ist, dass die meisten Kinder eine fast selbstverständlich erscheinende Lust verspüren, sich in Bildern zu äußern, mit Bildern auf die Innen- und Außenwelt zu reagieren. In einem Wechsel von Entdeckung, Veränderung und Anpassung de- und rekonstruieren Kinder ihr Bild von der Welt. Das Material (Papier, Farbe, Ton …) ist nicht mehr nur Mittel zum Zweck der Aufarbeitung und Förderung der Sinneswahrnehmung, sondern Mittel zur Gestaltung der Umwelt und der eigenen Persönlichkeit und ermöglicht ein Selbstwirksamkeitserleben im Tätigsein, das die Ausbildung eines guten Kohärenzgefühls begünstigt und damit, so Eckhard Schiffer, »positive Lernprozesse« (Walbach, 2012, S. 62) fördert. Die Ausformung der Bildsprache entspricht dem Entwicklungsstand des jeweiligen Kindes, ihre zunehmende Differenzierung ist eine Frage der Bewusstheit und des Bewusstseins. Affektiv-sensomotorische Welterfahrung im ästhetischen Handeln ist die Voraussetzung für die kognitive Entwicklung in der frühen Kindheit. Die Kinderzeichnung ist hier das Dokument, welches das Selbst- und Weltverhältnis des Kindes widerspiegelt. Im erzieherischen Geschehen werden die zuvor geschilderten Erlebens- und Entwicklungsbereiche oft nicht erkannt und durch gut gemeinte Förderversuche kindlicher Gestaltungen unterlaufen. Erwartungen und Kritik der Bezugspersonen führen dann zu Anpassungsdruck und Entmutigung. Die durch Bewertung, die eine Abwertung meint, hervorgerufene Beschämung des Kindes führt in die Angst vor dem weißen Blatt und in eine mitunter lebenslange Verweigerung, wieder einen Farbstift in die Hand zu nehmen. Mit den Worten: »Ich kann aber nicht malen«, »Ich habe kein Talent«, »Ich bringe nichts Gescheites aufs Papier« wurde ich an nahezu allen Arbeitsorten immer wieder konfrontiert. »Ich kann aber nicht malen« 299 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Annette Neyenhuys
ist die Narration einer wiederkehrenden Herausforderung in therapeutischen und pädagogischen Arbeitsfeldern, die uns Therapeut*innen und Pädagog*innen die Arbeit erschwert, mitunter verunmöglicht und nur über eine tragfähige Beziehung, durch Ermutigung, das Gewähren von Frei- und Möglichkeitsräumen aufgebrochen werden kann. Es gelingt – immer wieder! Aber was macht das Gelingende aus? Und wie schaffe ich die Voraussetzungen, dass diese Worte gar nicht erst gedacht, gefühlt, erlebt und ausgesprochen werden müssen? Anknüpfend an unser Seminar für das MMI haben wir, meine Kollegin Frau Sperlich und ich, ein modular aufgebautes Seminarangebot für Erzieher und Pädagogen erarbeitet, das den Versuch unternimmt, den schöpferischen Prozess des Kindes nachvollziehbar zu machen und in der künstlerischen Selbsterfahrung des Erziehers zu spiegeln, sodass erkenntnisleitende Prozesse möglich werden, die Einstellung, Haltung und Handlung reflektieren und ermutigende Erfahrungen im schöpferischen Tätigsein ermöglichen. Dem ging eine intensive Beschäftigung mit der Malentwicklung des Kindes voraus und am Rande die Theoriebildung über die Kinderzeichnung, auf die ich hier kurz zu sprechen kommen möchte, weil diese in pädagogischen Zusammenhängen nicht ohne Auswirkungen geblieben ist, und u. a. im Übergang zur Schule als diagnostisches Instrument Einschätzungen über die Schulreife erlaubt. Luquets Entwicklungsphasentheorie und dessen am »Realismus« orientierte Thesen, die Erklärungen für die Phänomene der Kinderzeichnung anboten, beeinflussen noch heute neuere Forschungen. Alle Theorien suchen nach Erklärungen für die Bildwelten der Kinderzeichnung, »insbesondere für die ›Abweichungen‹ ihrer graphischen Inhalte von der visuellen Realität« (Yusuf, 2010, S. 13). Es werden im Wesentlichen kognitionspsychologische, künstlerisch-kulturspezifische und tiefenpsychologische Positionen vertreten. Einige Forscher, die Phänomene von Kinderzeichnungen nicht als monokausal erklären, vertreten holistische Thesen, um zu einem umfassenderen Verständnis des zeichnenden und malenden Kindes zu gelangen. Schäfer, der grundsätzlich davon ausgeht, »dass bildhafte Gestaltungen von Kindern etwas erzählen« (Schäfer, 2005a, S. 215), fasst die Mehrdimensionalität der Einflüsse, die er anhand seiner Beobachtungen feststellt, in einem Modell, das die Kinderzeichnung »als kom300 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der schöpferische Prozess
plexes Produkt innerer und äußerer Strukturierungsprozesse« darstellt, zusammen (Schäfer, 2005b, S. 220). Er schreibt: »Zur inneren Welt der Selbstbilder lässt sich die Dynamik der Triebschicksale ebenso hinzufügen wie vielleicht archaische Formen idealisierter Selbstbilder oder Archetypen« (Schäfer, 2005c, S. 220). Die Annahme, dass der schöpferische Prozess des Kindes mehrdimensional und als wichtigstes Merkmal prozessual ist und dass »ein Bild nie ein Abbild« ist, sondern »Zeugnis eines komplexen Prozesses der ästhetischen Auseinandersetzung zwischen Subjekt und Welt« (Wiedmeier, 2007, S. 62), begründet unsere Herangehensweise und ist ein Ansatz für unsere therapeutische und pädagogische Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Der schöpferische Prozess beim kleinen Kind entfaltet sich in dem dafür geschaffenen »Frei-Raum«, der gleichermaßen ein Alleinsein mit sich und Unabgelenktheit wie ein förderliches und wertschätzendes Umfeld, das kreativitäts- und erkenntnisleitende Prozesse ermöglicht und somit die »intrinsische Motivation«, die das Lernen aus eigener Motivation meint, unterstützt, und die begleitende, empathische Haltung des Erwachsenen erfordert. Empathie heißt, dass wir zwischen der Welt des Anderen und unserer Welt Ähnlichkeit entdecken und erleben können, uns einfühlen können. Der Erwachsene füllt diesen »Frei-Raum« mit seiner empathischen Haltung, indem er seine Aufmerksamkeit dem Kind, und dem, was es gestaltet oder gestalten möchte, zuwendet und mit ihm teilt. Es geht hier auch um das Gesehen-Werden durch den anderen, denn in dem Maße, in welchem das Kind sich selbst in Beziehung setzen kann zu den Menschen, zu den Dingen und seiner Umwelt, kann es Beziehungen aufbauen und halten und sich in einem sozialen Gefüge geborgen fühlen. Eine gelingende Begleitung des Kindes im schöpferischen Prozess setzt nicht zuletzt die eigene künstlerische Erfahrung des Erwachsenen voraus. Das aus eigenem Tun erwachsene Verständnis für die lebendige Dynamik und Komplexität gestalterischer Prozesse ermöglicht grundlegende Einsichten und Erkenntnisse, die schöpferischen Prozessen innewohnen und somit universell und mit dem Anderen teilbar sind. Die künstlerischen Übungen in unseren Seminaren aktivieren vergleichbare innerpsychische und physische Konstitutionen im Gestaltenden wie in der »Echtsituation« und erlauben somit ein nacherlebendes und nachvollziehendes Verstehen. 301 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Annette Neyenhuys
Unsere Seminare regen in diesem Sinne Bildungs- und Selbstbildungsprozesse an, die in vier resp. fünf Bildungsbereiche gegliedert, in einer geplanten Abfolge sowohl prozesserorientierte, erfahrungsbezogene als auch inhaltliche Lernerfahrungen ermöglichen, die im Zusammenspiel einen größeren Erkenntnisgewinn zulassen: – künstlerisches Tun, das sensibilisiert und den Bogen schlägt zwischen eigenkünstlerischer Selbsterfahrung und Selbstbildung und den ästhetischen Prozessen des Kindes und damit neue Zugänge und Sichtweisen eröffnet, – die Kinderzeichnung als das Dokument, das das Selbst- und Weltverhältnis des Kindes widerspiegelt, – theoretische Einschübe als Fundament und Orientierung für die Arbeit und das professionelle Selbstverständnis, – die Arbeit an der »Haltung«, die Erzieher*innen schult und ermutigt, die ihnen anvertrauten Kinder in der Ganzheit ihrer Manifestationen wahrzunehmen, um sie liebevoll, kompetent, fördernd und fordernd begleiten zu können. In künstlerischen Selbstversuchen sensibilisieren wir die Teilnehmer*innen für die Tätigkeit des malenden und gestaltenden Kindes und eröffnen ihnen über eigenes künstlerisches Tun Zugänge zu ästhetischen Prozessen. Kenntnisse über die Kinderzeichnung werden in Beziehung gesetzt zu dem beobachteten Wissen, das Einschätzungen hinsichtlich der seelischen, sozialen, motorischen und sprachlichen Entwicklung des Kindes umfasst. Entwicklungs- und Lernprozesse des Kindes werden so nachvollziehbar. Bilder sind Transformationsmedien, die sowohl in ihrem »Prozess der Entstehung« als auch als Werk »Auskunft über die Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt Auskunft geben« (Hurrelmann, Bauer, 2015b, S. 19) können. Die von Klaus Hurrelmann dem Vortrag vorangestellte Definition zum Begriff Sozialisation findet hier seine Einbindung. In dem Bemühen, über unsere Seminararbeit eine Brücke zu einem tieferen Verständnis des schöpferischen Prozesses des Kindes zu bauen, verbinden (lat. »sociare«) sich biografische und berufspraktische Erfahrungen mit unserer kunsttherapeutischen Sozialisation zu einer Haltung, die den schöpferischen Prozess als eine salutogene Ressource wertschätzt, der wirklichkeitsaneignende und wirklichkeitsauseinandersetzende, aber 302 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Der schöpferische Prozess
auch protektive und kathartische Funktionen erfüllt und deshalb keinen normativ definierten Leistungsansprüchen unterliegen sollte.
Literatur Frick, J. (2007). Die Kraft der Ermutigung. Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und Selbsthilfe. Bern: Huber. Hurrelmann, K., Bauer, U. (2015). Einführung in die Sozialisationstheorie. (11. Aufl., S. 19). Weinheim Basel: Beltz. Peez, G. (2011). Kinder kritzeln zeichnen und malen – Warum eigentlich? Von der Welt- und Selbsterkundung. Forschung Frankfurt, S. 45–48. http://www. forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/36050772/10Peez.pdf (abgerufen am 18. 02. 2017). Pfeiffer, U. (2005). Kindheit im Wandel – Zur Genese der Kindheit in der Moderne und den Bedingungen des Aufwachsens heute. Vortrag Lutherakademie Sondershausen Ratzeburg (07. 10. 2005). http://www.ph-weingarten.de/erziehungswissenschaft/downloads/geschichte_kindheit.pdf (abgerufen am 01. 03. 2017). Richter, H.-G. (1999). Pädagogische Kunsttherapie: Grundlegung, Didaktik, Anregungen. (2. Aufl.). Hamburg: Kovač. Schäfer, G.-E. (2005). Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. (3. Aufl.). Weinheim: Juventa. Schäfer, G. E. (2012). Sinnlichkeit und Sprache. Wissenschaftliche Texte. Deutsche Jugendinstitut e. V. (DJI). http://www. dji.de/fileadmin/user_upload/ bibs/672_14398_Expertise_Schaefer.pdf (abgerufen am 06. 01. 2017). Schuster, M. (2000). Die Psychologie der Kinderzeichnung. Göttingen/Bern/Toronto/Seattle: Hogrefe. Süddeutsche Zeitung/EPD (2015). Nr. 109. Lernen. »Kritzeln, Malen, Kneten, Basteln – das sind die klugen Mütter und Tanten des Schreiben-Könnens«. (13./14. 05. 2015). München. Walbach, K. (2012). Neurobiologische Aspekte der Bildungsprozesse im Kleinkindalter: Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Kinderkrippen. Wiesbaden: Springer VS. Wiedmaier, M. (2007). Wenn sich Mädchen und Jungen Gott und die Welt ausmalen … Feinanalysen filmisch dokumentierter Malprozesse. Universität Bielefeld: univ. Diss. Yusuf, A. (2010). Kulturvergleichende Studie über die Menschzeichnung deutscher und palästinensisch-israelischer Kinder. Universität Köln: univ. Diss.
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Renate Oepen
Kunsttherapie zur Förderung von Lehrergesundheit. Eine explorative Studie über einen Gesundheitstag für Waldorflehrer Abstract: Körperliches und seelisches Wohlbefinden von Schülern und Lehrern stellen eine wesentliche Determinante für Leistungsfähigkeit und ein positives Schulklima dar. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien zur Lehrerbelastung weisen auf einen hohen Belastungsgrad dieser Berufsgruppe hin. Über ein Drittel der Waldorflehrer fühlen sich trotz empfundener beruflicher Zufriedenheit gesundheitlich belastet. Somit gehören sie zu einer burnoutgefährdeten Berufsgruppe. Die Pilotstudie prüfte, ob ein neu entwickeltes kunsttherapeutisches Interventionskonzept, durchgeführt an einem Gesundheitstag für Waldorflehrer an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft, das Wohlbefinden der Lehrer aktuell und habituell steigern könnte, und welche kunsttherapeutischen Wirkfaktoren mit einem möglichen positiven Outcome in Verbindung gebracht werden könnten. Die Evaluation erfolgte mit quantitativen und qualitativen Methoden. In der quantitativen Analyse wurde eine positive Veränderung des habituellen Wohlbefindens in sieben von acht Skalen des SF36 Health Survey ermittelt. Die Messung der Veränderung des aktuellen Wohlbefindens mithilfe der Beschwerdenliste (B-L) und der Aktuellen Stimmungsskala (ASTS) ergab eine signifikante Reduktion der Gesamtbeschwerden und eine ebenso signifikante Steigerung der positiven Stimmung. Drei allgemeine und sieben spezifische kunsttherapeutische Wirkfaktoren, die mit der Wohlbefindenssteigerung in Verbindung gebracht werden konnten, wurden in der qualitativen Analyse durch eine strukturierende Inhaltsanalyse nach Mayring ermittelt. Besonders relevant für das positive Outcome waren die Förderung von Symbolisierungsfähigkeit und Imagination, von Gemeinschaftsgefühl und Selbstwirksamkeit sowie die Unterstützung beim Aufbau von Copingstrategien. Ein längerfristig angelegtes, auf diesem Konzept aufbauendes kunsttherapeutisches Programm sollte mit einer größeren Anzahl von Waldorflehrern mit kontrollierten Methoden evaluiert werden. Regelschullehrer könnten in eine vergleichende Untersuchung einbezogen werden.
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Kunsttherapie zur Förderung von Lehrergesundheit
Einführung Körperliches und seelisches Wohlbefinden ist sowohl für Schüler als auch für Lehrer 1 gut. Wohlbefinden wirkt sich positiv auf die Leistungsfähigkeit und ein positives Schulklima aus. Denn Lernen und Gesundheit gehören zusammen (Korves, 2013). Das Bedingen von Bildung und Gesundheit und die Bedeutung von Gesundheitsförderung als grundlegender Bestandteil von Schulentwicklung wurde auch in einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) herausgestellt (Beschluss v. 15. 11. 2012, ebd.). Die KMK-Empfehlung schließt Schüler, Eltern und Lehrer ausdrücklich in ihre Empfehlung mit ein; sie reicht über Kompetenzerwerb (Wissen über Gesundheit), Ressourcenförderung bis hin zur Stärkung von Lebenskompetenzen (Korves, 2013). Auf der anderen Seite jedoch zeichnen die Ergebnisse verschiedener Studien zur Arbeitswelt, zur Altersstruktur und zur Frühpensionierung von Lehrkräften sowie die Daten des statistischen Bundesamtes das Bild eines hoch belasteten Berufsfeldes auf (Schuhmacher et al., 2012). Dabei stellt sich die Frage, inwieweit künstlerisch-therapeutische Maßnahmen 2 dabei helfen können, Lehrer in ihrer belasteten Situation zu unterstützen. In einer explorativen Studie mit 18 Waldorflehrern, die an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn an jeweils zwei Projekttagen durchgeführt wurde, zeigte sich, dass kunsttherapeutische Maßnahmen zu einer signifikanten Wohlbefindenssteigerung der Lehrer am Projekttag führten. Im folgenden Beitrag werden – analog zum am 29. 04. 2017 an der Katholischen Hochschule Freiburg durchgeführten Workshop – wesentliche Elemente dieser Studie sowie deren Hintergründe aufgezeigt. Dabei wird insbesondere auf die Belastungssituation der (Waldorf)Lehrer eingegangen. Die Determinanten des Wohlbefindens werden anhand des zweidimensionalen Modells von Becker (1994) erörtert. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Beschreibung der kunsttherapeutischen InAufgrund der besseren Lesbarkeit wird in den folgenden Ausführungen ausschließlich die maskuline Form bei der Nennung von Personen verwendet. Gemeint ist immer auch die feminine Form. 2 Der Begriff »Kunsttherapie« bezeichnet in diesem Zusammenhang ausschließlich Maßnahmen mit bildnerischen Mitteln. Dabei ist der an dieser Stelle verwendete Begriff »Therapie« als Begleitung und Unterstützung der Probanden im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung zu verstehen. Es geht somit nicht um Diagnostik und Heilung von Erkrankungen. 1
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Renate Oepen
terventionen 3 am Projekttag, die mithilfe eines Beispiels näher erläutert werden. Abschließend werden die Ergebnisse des Projekttages aufgezeigt und Schlussfolgerungen für die weitere gesundheitsfördernde Arbeit mit Lehrern gezogen.
Fragestellung, Ziel und Hypothesen der Pilotstudie Die Studie hatte das Ziel, den Nachweis der Regulation des aktuellen und habituellen Wohlbefindens 4 zu erbringen. Sie ging von folgender Fragestellung aus: • Steigern kunsttherapeutische Interventionen an einem Projekttag das aktuelle und habituelle Wohlbefinden bei Waldorflehrern? • Welche kunsttherapeutischen Wirkfaktoren können mit einer möglichen Veränderung des Wohlbefindens in Verbindung gebracht werden? Dabei wurde von der Hypothese ausgegangen, dass mit einer positiven Veränderung des aktuellen und habituellen Wohlbefindens von belasteten Waldorflehrer zu rechnen ist, habituell jedoch in deutlich abgeschwächter Form. Zusätzlich wurde angenommen, dass kunsttherapeutische Wirkfaktoren mit einem positiven Outcome in Verbindung stehen.
Die Belastungssituation von (Waldorf-)Lehrern Belastung bedeutet mangelndes Wohlbefinden. Für den Regelschulbereich ist im Rahmen der Lehrerbelastungsforschung vor allem die Potsdamer Lehrerstudie von Schaarschmidt (2006) zu nennen, für den Waldorfschulbereich die Studien von Randoll (2012) und Peters (2012). Belastungen sind:
Der Begriff der Intervention stammt aus dem therapeutischen Bereich (Hager, W., Hasselhorn, M., 2000). In diesem Zusammenhang (Beratung, Gesundheitsförderung) wird dieser Begriff synonym zum Begriff »Maßnahme« verwendet. 4 Aktuell: auf den Moment bzw. einen kurzen Zeitraum bezogen; habituell: auf einen längeren Zeitraum bezogen. 3
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»Beeinträchtigungen der individuellen Befindlichkeit und Stimmung, der Erlebnis-, Verarbeitungs- und Handlungsmöglichkeiten einer Person in einer gegebenen Situation, die subjektiven Leidensdruck hervorrufen. Belastung ist also der Zustand des Erleidens von Beeinträchtigungen und Mangelzuständen, das Erleben von negativen Veränderungen oder Einbußen an positiven Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten.« (Ulich et al., 1985, S. 74 zit. n. Ulich, 1996, S. 64)
Wie nun ein Lehrer mit Belastungen umgeht, welche Muster arbeitsbezogenen Verhaltens und Erlebens (Bewältigungsmuster) er aufzeigt, spiegelt das Ausmaß seiner psychischen Gesundheit wider (Schaarschmidt, 2000, 2006). Die vier Bewältigungsmuster zeigen an, ob die Auseinandersetzung mit den Arbeitsanforderungen gesundheitsförderlich oder -schädlich erfolgt (vgl. Tab. 1). Die Bewältigungsmuster A und B gehören zu den gesundheitsgefährdenden Mustern. Sehr häufig sind Mischtypen der vier Muster zu beobachten (Schaarschmidt, Arold & Kieschke, 2000). Muster
Erläuterung
G
Gesundheit, gekennzeichnet durch Engagement, Belastbarkeit und Zufriedenheit
S
Schonung, gekennzeichnet durch reduziertes Engagement, Ruhe und Gelassenheit sowie relative Zufriedenheit
A
Selbstüberforderung, gekennzeichnet durch exzessive Verausgabung und verminderte Erholungsfähigkeit bei eingeschränkter Belastbarkeit und Zufriedenheit
B
Überforderung, gekennzeichnet durch reduziertes Engagement bei eingeschränkter Erholungs- und Widerstandsfähigkeit sowie umfassende Resignation
Tab. 1: Bewältigungsmuster nach Schaarschmidt, Arold & Kieschke (2000) – tabellarische Übersicht
In der umfassenden Studie von Schaarschmidt (2006) wurden in den Jahren 2000–2006 insgesamt 16 000 Lehrer sowie ca. 2 500 Lehramtsstudierende und Referendare sowie ca. 1 500 Lehrer aus anderen Ländern und etwa 8 000 Vertreter anderer Berufe zu Vergleichszwecken im Hinblick auf ihre Bewältigungsmuster untersucht. Auf der Basis dieser Untersuchung wurden in der Studie von Peters (2012) die Bewältigungsmuster von Waldorflehrern in die vergleichende Betrachtung einbezogen.
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Abb. 1: Bewältigungsmuster von Waldorflehrern im Vergleich mit anderen Berufsgruppen (Peters, 2012. S. 191)
Abb. 1 zeigt, dass im Vergleich zu anderen belasteten Berufsgruppen (Pflegeberufe, Existenzgründer, Polizei, Strafvollzug) Lehrer die höchsten gesundheitsgefährdenden Risikomuster (A und B) aufwiesen. In der ungünstigsten Konstellation konnte aufgrund der bestehenden Symptomatik auf ein akut vorhandenes Burnout (B-Muster) geschlossen werden. In der Studie von Peters (2012) wurde festgestellt, dass die Belastung mit insgesamt 50 % (A- und B-Muster) zwar geringer ausfiel als bei den untersuchten Regelschullehrern, Waldorflehrer aber im Vergleich mit anderen Berufsgruppen die zweithöchste Belastung nach den Regelschullehrern zeigten. Das gesundheitsförderliche GMuster war in beiden Lehrergruppen lediglich bei 17 % der Lehrer vertreten und wies somit die geringste Rate aller Berufsgruppen auf. Trotz dieser hohen Belastungsraten wurde bei den befragten Waldorflehrern ermittelt, dass Freude an der pädagogischen Arbeit bestand (Barz & Kobusek, 2013). Auch bei Regelschullehrern wurde deutlich, dass die Zufriedenheit mit dem Lehrerberuf nicht in erster Linie aus dem Grad der beruflichen Belastung ableitbar ist, sondern die Entfaltung der Persönlichkeit, das Lehrer-Schüler-Passungsverhältnis und die kognitiv-affektive Einstellung zum Unterrichten eine wesentliche Rolle für Zufriedenheit spielten (Merz, 1979). Als Ursachen für die empfundene Belastung von Waldorflehrer wurden von den Lehrern angegeben, dass oft nicht zielführende und nicht effektive Entscheidungsfindung verbunden mit hohem Zeitaufwand (Kon308 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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ferenzen) sowie eine hohe Unzufriedenheit mit kollegialer Selbstverwaltung und Schulführung für das mangelnde Wohlbefinden verantwortlich waren. Zusätzlich wurden Mängel in der kollegialen Zusammenarbeit, fehlende Wertschätzung von Schülern und Eltern, eine hohe Anspruchshaltung an sich selbst und resultierend aus den Anforderungen der Waldorfpädagogik als Gründe für Unzufriedenheit und Belastung genannt. Übergreifende Faktoren wie Geschlechtszugehörigkeit (weibliches Geschlecht) sowie das Alter (mittleres Alter) spielten eine weitere Rolle beim empfundenen Grad der Belastung (Randoll, 2012; Peters, 2012).
Determinanten des Wohlbefindens Als Folge der subjektiv empfundenen hohen Belastung im Lehrerberuf ergibt sich ein mangelndes Wohlbefinden. Nach dem zweidimensionalen Modell zur Charakterisierung des Wohlbefindens nach Becker (1994) bezeichnet das aktuelle Wohlbefinden das momentane Erleben einer Person, und zwar auf der psychischen Ebene (positive Gefühle, Stimmungen, Beschwerdefreiheit) und auf der physischen Ebene (positive körperliche Empfindungen, Beschwerdefreiheit). Das habituelle Wohlbefinden bezieht sich auf Zeiträume von einigen Wochen bis zu mehreren Monaten und weist somit eine relativ hohe Stabilität auf (ebd.). Das psychologische Konzept des Wohlbefindens entwickelte sich im Rahmen der positiven Psychologie (Seligman & Csikszentmihalyi, 2000), die sich auf Basis der salutogenetischen Betrachtung von Gesundheit und Krankheit hervorgebracht wurde (Antonovsky & Franke, 1997). Wohlbefinden kann nach Becker (1994) direkt durch angenehme sensorische Reize, Erfolgserlebnisse und Phantasietätigkeiten erreicht werden, indirekt durch die Beseitigung oder Reduktion aversiver Zustände, z. B. Beschwerden (ebd.). Somit erschien es sinnvoll, kunsttherapeutische Interventionen zur Wohlbefindenssteigerung von Waldorflehrern anzubieten, insbesondere vor dem Hintergrund, dass 60 % der in der Studie von Peters (2012) befragten Waldorflehrer angaben, Kraft aus künstlerisch-handwerklichen Betätigungen zu schöpfen.
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Ein kunsttherapeutischer Projekttag zur Wohlbefindenssteigerung Der Planung der Interventionen lagen neben kunsttherapeutischen und pädagogischen (didaktisch-methodischen) Grundätzen die bereits beschriebenen bezugswissenschaftlichen Erkenntnisse aus der (Wohlbefindens-)Psychologie und den Gesundheitswissenschaften (Salutogenese) zu Grunde (Becker, 1994, Seligman & Csikszentmihalyi, 2000; Antonovsky & Franke, 1997). Da am Beginn einer Beratung Klienten sehr stark auf ihre Probleme fokussieren, ist es sinnvoll, zu Beginn positive Zukunftsaspekte und Zielperspektiven zu entwickeln, die ein Gefühl der Handlungsfähigkeit vermitteln und somit eine wichtige Ressource darstellen (Grawe, 2000; Csikszentmihalyi, 2010; Kossak, 2007). Relevant für die Planung der kunsttherapeutischen Maßnahmen waren somit auch Ergebnisse der Burnoutforschung (Maslach & Jackson, 1981). Mangelnde kollegiale Zusammenarbeit wurde als ein Grund für die Unzufriedenheit von den Waldorflehrern genannt (Peters, 2012). Dies geht einher mit Ergebnissen der Burnoutforschung, in der Depersonalisation (Verlust empathischer Fähigkeiten) neben emotionaler Erschöpfung und verminderter Leistungsfähigkeit als ein Kernsymptom von Burnout ermittelt wurde (Korczak, Kister & Huber, 2010). Aus kunsttherapeutischer Sicht ist gemäß Riedel & Henzler (2004) zu betonen, dass der kreative Gestaltungsvorgang mit seinen spezifischen Gesetzmäßigkeiten, den Wirkgesetzen komplementärer Farben und Formen, Komposition und Raumsymbolik bereits eine heilende Wirkung auslöst. Künstlerisches Gestalten kann nach Riedel & Henzler auch sehr gut prophylaktisch zur Vermeidung von gesundheitlichen Störungen im Rahmen von Prävention und Gesundheitsförderung eingesetzt werden (ebd.). Der Symbolisierungsvorgang, die spezifischen Wirkgesetze künstlerischen Gestaltens, die Förderung der Kreativität im Gestaltungsvorgang, die Kommunikation über das Ausdrucksmedium mit den daraus resultierenden Emotions- und Kognitionsregulationsmechanismen gehören laut Riedel & Henzler (2004) zu den wesentlichen Wirkfaktoren kunsttherapeutischer Interventionen. Unter Berücksichtigung der genannten Prinzipien (positive Betrachtungsweise einer Situation, Ziel- und Lösungsorientierung, Handlungsfähigkeit und Empathie) wurde der kunsttherapeutische Projekttag modulartig (Emotionsregulation, Soziale Kompetenzen, 310 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Zielfindung) geplant. Er umfasste insgesamt sieben Stunden mit vier Interventionen, die jeweils ca. 60 bis 90 Minuten dauerten. Eine breite Auswahl künstlerischer Materialien und Impulsmaterialien wurde zur Verfügung gestellt. Didaktisch-methodische Prinzipien wie Sozialformwechsel, Phasierung des Projekttages wurden berücksichtigt (Oepen & Gruber, 2012). Die folgende Übersicht (Abb. 2) gibt einen Überblick über das didaktisch-methodisch-therapeutische Konzept des kunsttherapeutischen Projekttages. Kunsttherapeutische Interventionen zur Wohlbefindenssteigerung Interventionen
Ziele
Ressourcen
Inhalte
Methoden
Medien/ Material Technik
1 Positive Gefühle
Anregung der Gesundheit, Emotionsregula- Ausgeglichention heit, Mut, Kreativität, Gelassenheit, Zuversicht, Heiterkeit
Positive Gefühle Einzelarbeit, als Facette des Gruppengespräch Wohlbefindens imaginieren, benennen und gestalten
Impulsmaterialien (Gegenstände aus dem Alltag), künstlerische Materialien nach freier Auswahl, freie Technik
2 Gruppenmandala
Erweiterung der sozialen Fertigkeiten: sich selbst und den anderen Raum geben
Selbstsicherheit, soziale Kompetenz, Extraversion, Beziehungsfähigkeit, Heiterkeit
das eigene Verhalten und das der anderen beim gemeinsamen Malen wahrnehmen, benennen und reflektieren
Gruppenarbeit, Gruppengespräch (jede Kleingruppe für sich), gemeinsame Abschlussreflexion
je Gruppe: ein Karton (63 H cm � 88 B cm), Ölkreide, Mandalastruktur als Vorzeichnung
3 Fluss der Wunder
Entwicklung einer positiven Zielperspektive
Selbstwertgefühl, Selbstakzeptanz, Kontrollgefühl, Selbstwirksamkeit, Kreativität, Zuversicht
innere Bilder zu positiven Zielen entwickeln und gestalten
geleitete Imagination, Einzelarbeit, Partnerund Gruppengespräche
Kurzgeschichte in Anlehnung an die Wunderfrage von De Shazer, Impulsmaterialien (Kunstdrucke, Fotos), Scheren, künstlerische Materialien nach Belieben; Collage (Mischtechnik)
311 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Renate Oepen Kunsttherapeutische Interventionen zur Wohlbefindenssteigerung 4 Unser Wunschbaum
Entwicklung einer kurzfristigen positiven Zielperspektive, Handlungsstrategie
Selbstwertgefühl, Selbstakzeptanz, Kontrollgefühl, Selbstwirksamkeit, Kreativität, Schaffenskraft
Imagination und Einzelarbeit, gestalterische/ Gruppengespräch schriftliche Fixierung von je einem Wunsch/ Ziel für die nächsten 3 Tage und die nächsten 14 Tage
Plakat »Wunschbaum« (70 B cm � 100 H cm), vorgeschnittene »Blätter« (2 für jeden Probanden) für den Wunschbaum, Stifte, künstlerische Materialien nach freier Auswahl; freie Technik
Abb. 2: Kunsttherapeutische Interventionen zur Wohlbefindenssteigerung (Oepen, 2015, S. 94)
Am Beispiel von Intervention 1 »Positive Gefühle« werden die zu Grunde liegenden Prinzipien näher erläutert. Die erste kunsttherapeutische Intervention hatte die Anregung der Emotionsregulation zum Ziel. Abb. 3 zeigt die Komponenten der Intervention am Beispiel der künstlerischen Arbeit der Waldorflehrerin Frau K. Ziel dieser Intervention war es, die eigenen Emotionen bewusst wahrnehmen und auch benennen zu können, sie im Bedarfsfalle in positivere transformieren zu können (Oepen, 2015). Die Klienten wählten aus einer Reihe von Alltags- und Dekorationsgegenständen denjenigen aus, der ihre momentane Befindlichkeit am besten repräsentierte. Der zunächst gewählte Gegenstand konnte auf Wunsch in einem zweiten Schritt, sofern er zu negativ besetzt war, gegen einen anderen, positiver besetzten Gegenstand ausgetauscht werden (Oepen & Gruber, 2012). In der Gestaltungsphase wurde das wahrgenommene positive Gefühl mit frei wählbaren gestalterischen Mitteln dargestellt. Durch die freie Wählbarkeit der künstlerischen Materialien wurde die Möglichkeit eröffnet, mit bereits bekannten, eventuell bereits vertrauten künstlerischen Mitteln in den Tag einsteigen zu können, gleichzeitig aber auch ein kreatives Experimentieren zu ermöglichen (Oepen & Gruber, 2012).
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Abb. 3: Intervention 1 »Positive Gefühle« (Oepen, 2015)
Die Benennung des momentan empfundenen Gefühls erfolgte im verbalen Austausch mit der Gruppe und zusätzlich nonverbal durch schriftliches Fixieren des dargestellten positiven Gefühls auf einem »Merkzettel« (Oepen & Gruber, 2012). Auf diese Weise wurde eine Integration von Kognition und Intuition/Imagination, von bewussten und unbewussten Inhalten, linker und rechter Gehirnhemisphäre intendiert (Klemm, 2003), sodass den Klienten eine ganzheitliche, umfassendere Sichtweise ihrer eigenen Befindlichkeits- und Gefühlslage ermöglicht wurde und in Form eines schriftlich fixierten Begriffes geankert werden konnte. Bei dieser ersten kunsttherapeutischen Intervention wurde als Sozialform Einzelarbeit mit anschließendem Gruppengespräch eingesetzt, damit jeder Klient erst einmal Raum für sich selbst erhielt und die Gruppe Zeit hatte, langsam zueinander in Kontakt zu treten (Oepen & Gruber, 2012). Frau K. wählte als Gegenstand eine Weltkugel aus, da diese sie an einen Tag in den Ferien im Allgäu erinnerte. Der Himmel war blau, sie fühlte sich glücklich. Zusätzlich wählte sie ein Notenblatt aus, das für Frau K. das »fröhlich, hüpfende« Klavierspiel symbolisierte, dem sie in ihrer Freizeit nachging und das ihr viel Freude bereitete und viel Energie für sie bereitstellte (Oepen, 2015).
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Methodik und Ergebnisse der Studie Die Studie bediente sich eines Mixed-Methods-Designs, es wurde mit quantitativen Methoden (Fragebögen) als auch mit qualitativen Methoden (Interviews) gearbeitet. Im quantitativen Teil der Studie wurde das aktuelle Wohlbefinden mithilfe der Beschwerdenliste (B-L) und der Aktuellen Stimmungsskala (ASTS) unmittelbar vor und nach den kunsttherapeutischen Interventionen erhoben (Zerssen v., 1976; Dalbert, 2009). Erste Tendenzen einer habituellen Wohlbefindensveränderung wurden mit dem SF-36 eine Woche vor und eine Woche nach dem Projekttag ermittelt (Bullinger, 1994, zit. n. Bullinger & Kirchberger, 1998). Die Auswertung erfolgte mit dem Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test (Oepen & Gruber, 2014). Die qualitative Analyse diente der Ermittlung kunsttherapeutischer Wirkfaktoren und der nachhaltigen Absicherung der Ergebnisse. Sie umfasste halbstandardisierte Interviews mit offenen Leitfragen an zwei unterschiedlichen Erhebungszeitpunkten (ca. 2 Wochen und ca. 5 Wochen nach dem Projekttag) mit ausgewählten Probanden (n = 4). Die Auswertung wurde mit Hilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2008) durchgeführt (Oepen, Gruber & Heusser, 2015). Im Ergebnis zeigte sich – bezogen auf das aktuelle Wohlbefinden – eine signifikante Reduktion der Gesamtbeschwerden (B-L; p = .040) und eine signifikante Steigerung der positiven Stimmung (ASTS; p = .018). Hinsichtlich der Veränderung des habituellen Wohlbefindens wurde mithilfe des SF-36 tendenziell eine positive Veränderung in sieben von acht Dimensionen des Fragebogens, die nicht signifikant war, ermittelt (Oepen, Gruber & Heusser, 2015). Im Rahmen der qualitativen Analyse wurden drei allgemeine (1–3) und sieben spezifische (4–10) kunsttherapeutische Wirkfaktoren generiert (ebd.; vgl. Tab. 2). Dabei wurde zwischen allgemeinen und spezifischen kunsttherapeutischen Wirkfaktoren differenziert. »So ist unter einem allgemeinen kunsttherapeutischen Wirkfaktor eine Ursache/Element für Ergebnisse/Wirkungen zu verstehen, die durch Kunsttherapie erzielt werden, aber auch von anderen Therapieformen erzielt werden können.« (Oepen & Gruber, 2012, S. 124).
Die sieben generierten spezifischen kunsttherapeutischen Wirkfaktoren werden definiert
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»als eine Ursache/Element für Ergebnisse/Wirkungen, die insbesondere durch Kunsttherapie und nicht durch andere Therapieformen erzielt werden.« (ebd., S. 124).
Tab. 2: Kunsttherapeutische Wirkfaktoren (Oepen, Gruber & Heusser, 2015, S. 125)
Für das Outcome besonders bedeutsame Wirkfaktoren sind in Tab. 2 durch Fettdruck hervorgehoben (Faktoren 2, 4 und 7). Die Anzahl der Fundstellen pro Wirkfaktor in den Interviews wurde für beide Erhebungszeitpunkte (ca. 2 Wochen und ca. 5 Wochen nach dem Projekttag) quantitativ erhoben. »Förderung von Erkenntnisprozessen / Unterstützung bei Aufbau von Copingstrategien« (2) stellte einen wesentlichen allgemeinen kunsttherapeutischen Wirkfaktor dar. Bei den spezifischen kunsttherapeutischen Wirkfaktoren zeigte sich eine Häufung der Fundstellen insbesondere bei den Faktoren »Stimulation von Symbolisierungsfähigkeit und Imagination« (4) und »Förderung von Gemeinschaftsgefühl und Selbstwirksamkeit durch Gestalten in der Gruppe« (7) (Oepen, Gruber & Heusser, 2015). Eine habituelle Veränderung des Wohlbefindens über einen längeren Zeitraum konnte – auch auf Grund von Bias-Faktoren (Schulferien vor dem letzten Interview) – nicht festgestellt werden (Oepen, Gruber & Heusser, 2015).
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Zusammenfassung und Ausblick Durch einen kunsttherapeutischen Projekttag zur Förderung der Lehrergesundheit wurde das aktuelle Wohlbefinden der 18 Waldorflehrer signifikant gesteigert. Habituell zeigte sich kurzfristig eine positive Tendenz, über einen längeren Zeitraum konnte keine langfristige Wohlbefindensveränderung festgestellt werden. Dies konnte auch nicht erwartet werden, da lediglich ein Projekttag stattgefunden hatte. In der vorliegenden Studie ging es in erster Linie um die Erprobung eines neuen kunsttherapeutischen Modells zur Gesundheitsförderung bei (Waldorf-)Lehrern, wobei davon ausgegangen wurde, dass ein empirisch evaluierter Projekttag erste Hinweise für die angestrebte Entwicklung, Durchführung und Evaluation eines längerfristig angelegten kunsttherapeutischen Unterstützungskonzepts geben kann. In der vorliegenden Studie zeigten sich die in der kunsttherapeutischen Literatur von Riedel & Henzler (2004) beschriebenen Wirkmechanismen der Symbolisierung, Imagination, Bewusstwerdung innerer Bilder sehr deutlich in den Gestaltungen und im Gespräch über die Gestaltungen (Jung, 2001; Klemm, 2003; Riedel & Henzler, 2004; Kast, 2007). Es liegt die Vermutung nahe, dass der hohe Anteil der Fundstellen in den Interviews zum Faktor »Förderung von Erkenntnisprozessen / Unterstützung beim Aufbau von Copingstrategien« durch den kunsttherapeutischen Projekttag, auf die intensive Anregung der Symbolisierungsprozesse, die Symbolisierung in den Gestaltungen und deren Besprechung in den Reflexionsphasen zurückgeführt werden könnte. Dieser Prozess wurde offenbar durch die didaktisch-methodisch-therapeutische Ausgestaltung des kunsttherapeutischen Interventionskonzepts initiiert. Durch die angeregten Bewusstwerdungsprozesse konnten möglicherweise verstärkt Erkenntnisprozesse und Copingstrategien entwickelt werden. Bei nachfolgenden Studien wäre es sinnvoll, ein auf den Interventionen dieser Studie aufbauendes, modulartig konzipiertes, längerfristig angelegtes kunsttherapeutisches Interventionskonzept zur Wohlbefindenssteigerung mit einer größeren Anzahl von Waldorflehrern mit kontrollierten Methoden zu evaluieren, und auch Regelschullehrer, die eine Affinität zu künstlerischen Methoden verspüren, in die (vergleichende) Untersuchung mit einzubeziehen.
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318 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Lony Schiltz
Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung im schulischen Umfeld
Abstract: Eine im schulischen Umfeld durchgeführte Pilotstudie analysierte die Reaktionen der Schüler auf Auszüge traditioneller Musik, gefolgt von verbaler Verarbeitung. Eine der Versuchsfragen lautete, inwiefern diese spezielle Form rezeptiver Musiktherapie dazu geeignet ist, die Verarbeitung der inneren Konflikte und die Entwicklung der metakognitiven Fähigkeiten der Jugendlichen zu fördern.
Die Teilnehmer gehörten den Entwicklungsstufen der frühen Adoleszenz (n = 250) oder der mittleren Adoleszenz (n = 156) an. Ihre während dem Musikhören aufgeschriebenen Reaktionen und Bewertungen wurden zuerst einer qualitativen Analyse unterzogen. Mithilfe eines speziell entwickelten inhaltsanalytischen Auswertungsschemas wurden die Daten der zwei Altersgruppen miteinander verglichen sowie die Beziehungen zwischen den Reaktionen der Schüler zur traditionellen Musik und ihren Antworten im FAF (Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren, Hampel & Selg, 1975) berechnet. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Methode dazu geeignet ist, die Mentalisierung der Jugendlichen zu fördern. Sie kann sowohl präventiv als auch psychotherapeutisch eingesetzt werden.
1.
Einleitung
Wir stellen einige Ergebnisse einer im schulischem Umfeld gemachten Studie vor, welche zeigt, dass eine spezielle Form der rezeptiven Musiktherapie dazu geeignet ist, die Mentalisierung (Fonagy et al., 2004), d. h. die Entwicklung der metakognitiven Fähigkeiten zu fördern. 319 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Lony Schiltz
Dieser Ansatz kann ungünstige Entwicklungen bei Jugendlichen verhindern, die Schwierigkeiten haben, ihre intrapsychischen Konflikte mit der nötigen Reife zu verarbeiten und zu ihrer eigenen Identität zu finden (Kerpelman et al., 2012), sei es, dass sie ein falsches Selbst entwickelt haben, sei es, dass sie dazu neigen, ihre innere Aggressivität gegen sich selbst oder andere zu richten. Das falsche Selbst, das man mit der von Dorothea McArthur (1988) beschriebenen »beeinträchtigten« Eltern-Kind-Beziehung in Zusammenhang bringen kann, führt zu einem Stillstand der persönlichen Entwicklung. Hinter einem freundlichen und scheinbar angepassten Verhalten versteckt sich eine mehr oder weniger umfassende Hemmung der affektiven und kognitiven Fähigkeiten sowie der persönlichen Initiative. Anstatt zu versuchen, sich zu behaupten und selbstständig zu werden, drücken die Jugendlichen keine persönlichen Vorlieben mehr aus. Sie entwickeln auch keine weitreichenden Pläne. Sie äußern keine offene Kritik an ihrem familiären Umfeld. Die projektiven Tests zeigen jedoch ihre unterschwellige Aggressivität und ihre verdrängten Schuldgefühle (De Kernier, 2008). Andererseits begegnen wir Jugendlichen mit aggressiven Verhaltensstörungen, welche nicht fähig sind, eine gesunde, angepasste Aggressivität im Sinne der »grundliegenden Gewalt« Bergerets (1996) zu entwickeln, sondern ihre aggressiven Triebe in einer blinden Wut gegen andere oder gegen den eigenen Körper richten. Die Gefahr zu einer Fehlentwicklung ist umso grösser, je mehr die Propaganda extremistischer politischer und religiöser Gruppen durch die Medien verbreitet wird. Der übermäßige Konsum gewalttätiger Computerspiele (Gentile et al., 2004; Anderson et al., 2010) sowie die Abhängigkeit vieler Jugendlicher von sozialen Netzwerken (Kuss & Griffith, 2011; Blachnio et al., 2015) vermehren die mit der Schwäche der Mentalisierung verbundenen Risiken (Radovic et al., 2017). Im Rahmen eines Pilotprojektes konnten wir zeigen, dass eine spezifische Art rezeptiver Musiktherapie eine vorbeugende Rolle bei Jugendlichen spielen kann, indem sie die Fähigkeit zur imaginären und symbolischen Verarbeitung der inneren Spannungen und der aggressiven Triebregungen fördert.
320 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung
2.
Das affektive Klima der traditionellen Musik: Vorstellung der Forschungsmethodik
2.1 Verfahren und Teilnehmer Fünf Auszüge traditioneller Musik, die in einem natürlichen Umfeld aufgenommen und von Edith Lecourt (1997) zusammengestellt worden waren, wurden Schülern eines klassischen Gymnasiums vorgespielt. Die Jugendlichen wurden aufgefordert, ihre Reaktionen und Überlegungen während des Hörens der Musik niederzuschreiben. Danach wurden die Reaktionen der einzelnen Teilnehmer vorgelesen und in der Klasse verbal verarbeitet. Die Untersuchung wurde von klinischen Psychologen geleitet. Sie war Teil eines umfassenderen Projektes zu Entwicklung der Kreativität im Klassenverband. Die Teilnehmer gehörten zwei Altersstufen an, nämlich der frühen und der mittleren Adoleszenz: • Gruppe I (frühe Adoleszenz): 220 Schüler aus den Klassen VII– VI im Alter von 12–13 Jahren. • Gruppe II (mittlere Adoleszenz): 156 Schüler aus den Klassen IV–III im Alter von 15–16 Jahren.
2.2 Methodik der qualitativen Analyse Die Methode war während einer vorbereitenden Studie entwickelt worden. Die Kommentare der Schüler wurden zunächst unter den folgenden Rubriken zusammengefasst: • Bilder, Erinnerungen (z. B. »ein Karnevalsumzug«) • Gefühle, Beschreibung der Stimmung (z. B. »in Wut umschlagende Trauer«) • Körperliche Empfindungen (z. B. »nervenaufreibend«) • Ästhetische Urteile, kritische Beurteilungen (z. B. »schöner Klang der Stimme«) • Beschreibung der Vorgehensweisen, technische Erklärungen (z. B. »sie singen im Kanon«) Anschließend wurden die folgenden Analyserichtlinien herausgearbeitet:
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Lony Schiltz
Zur Form: – Gibt es stilistische Besonderheiten, z. B. aus einzelnen Wörtern oder ganzen Sätzen bestehende Antworten, längere Erörterungen, die Beschreibung vollständiger Szenen? – Gibt es eine logische oder affektive Verbindung zwischen den einzelnen Antworten oder sind sie komplett zusammenhanglos? – Gibt es stereotypisch wiederkehrende Antworten? – Zeigt die Sprechweise auf das Empfinden einer Unwirklichkeit hin (Benutzen des Konjunktiv II, »man hätte sagen können, dass«, »man könnte vielleicht sagen«)? – Gibt es einen zeitlichen Ablauf, eine Zuwendung zur Vergangenheit, einen Ausblick auf die Zukunft oder klammert sich der Schüler an die Gegenwart? Zum Inhalt: – Gibt es persönliche Projektionen, welche auf die vorherrschenden Sorgen und ungelösten Probleme hinweisen? – Gibt es Überlieferungen aus Büchern oder Filmen, oder sind es persönliche und originelle Antworten? – Gibt es eine Abwechslung zwischen dem Zustand der Trauer und dem der Freude, zwischen Zuwendung und Aggressivität? Gibt es ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Grundstimmungen und Emotionen? – Gibt es Beschreibungen, technische Erklärungen, ästhetische Urteile und intellektualisierende Bemerkungen? – Gibt es Möglichkeiten einer humoristischen Ausarbeitung?
2.3 Methodik der quantitativen Analyse Die quantitative Analyse bezieht sich auf den psychometrischen Test FAF und auf ein speziell entwickeltes inhaltsanalytisches Schema. Dabei sollen folgende Fragen beantwortet werden: – Welches sind die Unterschiede zwischen der frühen und der mittleren Adoleszenz betreffend der Reaktionen zur traditionellen Musik? – Welche Zusammenhänge bestehen zwischen der psychometrischen Erfassung der Aggressivitätsfaktoren und den in der Inhaltsanalyse auftauchenden Variablen?
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Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung
a) FAF Der FAF (Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren, Hampel & Selg, 1975) besteht aus den folgenden Dimensionen: • FAF 1 = Spontane Aggressivität • FAF 2 = Reaktive Aggressivität • FAF 3 = Erregbarkeit • FAF 4 = Selbstaggression • FAF 5 = Aggressionshemmungen • FAF O = Offenheit • FAF Sigm = Gesamtwert Aggressivität (FAF 1–3) b)
Schema zur Inhaltsanalyse der Reaktionen auf die traditionelle Musik Das inhaltsanalytische Schema wurde nach phänomenologischstrukturellen Gesichtspunkten entwickelt (Mucchielli, 1993). Es erlaubt, von der qualitativen Analyse zur Quantifizierung und zur Anwendung der nichtparametrischen inferentiellen und mehrdimensionalen statistischen Verfahren überzugehen (Schiltz, 2006).
3.
Ergebnisse
3.1 Qualitative Analyse 3.1.1 Das affektive Klima der einzelnen Auszüge a) Marokko: »Anrufungen des Rabbi Moulay« Die meisten Jugendlichen waren empfänglich für ein sakrales, rituelles Element mit den Eigentümlichkeiten einer tranceinduzierenden Musik: Monotonie, schneller Rhythmus, accelerando-crescendo. Sie haben die Ambivalenz der unterschwelligen Gefühle erwähnt: Fehlen einer freimütigen Fröhlichkeit, Gefühl einer Bedrohung, Gefühl unterschwelligen Kummers. Sie haben die mitreißende Wirkung dieser Art von Musik in ihren Körpern gespürt. Beispiel: »Szene einer Anrufung von Göttern oder Geistern von Toten, mit einem Tanz um ein Lagerfeuer und Versetzen in einen tranceähnlichen Zustand.« 323 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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b) Gabun: »Mebasie der Bibayake Pygmäen« Viele Jugendliche unterstreichen den besonderen Klang der Stimmen (schrille Tonlage, verzerrte Stimmen, Tierschreie). Sie erleben eine Mischung komplexer Gefühle: Leiden, Bedrückung, Wunsch nach Befreiung, Energie, Revolte. Aus formaler Sicht empfinden sie einerseits Chaos, andererseits Einheit. Beispiele: »Es verursacht Ohrenschmerzen, es macht aggressiv.« »Die Stimmen sind verzerrt, als würden sie Außerirdischen gehören.« c) Burundi: »Gesang mit geflüsterten Stimmen« Ein Teil der Schüler unterstreicht den religiösen oder magischen Charakter der vorgestellten Szene. Die anderen denken an eine sehr alte Person und an einen dunklen und abgeschotteten Ort. Sie sind fast alle empfänglich für den besonderen Klang der Stimme, für ihre Monotonie und ihren Rhythmus. Beispiele: »Ein Dämon in einer finsteren Höhle, der versucht, einen zu betören und zu verführen; zugleich beunruhigend und erregend; man fühlt sich wohl wegen der geflüsterten Stimme.« »Ein alter Matrose in einer Hafenkneipe, der gerade seinen Kameraden erzählt, wo sie einen Schatz finden können.« d) Salomonen: »Aeare« Fast alle Schüler sind empfänglich für den intimen Charakter dieser Musik, einige empfinden Melancholie. Die heraufbeschworenen Bilder sind einander recht ähnlich. Dieser Auszug wird von den Jugendlichen für seine Musikalität und seine beruhigende Wirkung geschätzt. Beispiele: »Frauen, die für ihre Kinder ein Wiegenlied singen oder für sie beten.« »Junge Mädchen bereiten sich auf ihre Hochzeit vor.« e) Indien: »Gesang im Tibetischen Kloster von Gysin« Die Schüler unterstreichen im Allgemeinen den fremdartigen Aspekt dieses Auszugs. Sie verbinden ihn mit dem Bösen. Aber einige unter ihnen sind sich gleichzeitig der Möglichkeit bewusst, es fernzuhalten; es gibt zwischen ihnen und den bösen Geistern ein unüberwindbares Hindernis. Einige von ihnen empfinden die warmen Klänge und die Vibrationen der tiefen Töne als positiv. 324 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Beispiele: »Das Böse befindet sich vor der Tür und bereitet sich darauf vor, hereinzukommen; ich jedoch habe die Tür verriegelt.« »Ein Geist unter Wasser; er scheint unheimlich zu sein, aber in Wahrheit ist er freundlich.« 3.1.2 Zusammenfassung der qualitativen Ergebnisse Dank ihres emotionsgeladenen Klimas und der ungewohnten stimmlichen Technik, rufen diese Auszüge tiefe Gefühle hervor. Sie regen die Phantasie an und erlauben die Projektion der Ängste, der Wünsche und persönlichen Sehnsüchte, wobei sie eine humoristische oder künstlerische Verarbeitung ermöglichen. Im Allgemeinen waren die Antworten der Schüler sehr reichhaltig. Je ungewohnter und fremdartiger die Musik erscheint, desto vielfältiger sind die Reaktionen. Dies gilt ebenfalls für die Komplexität der wahrgenommenen Gefühle. Viele Schüler scheinen den Schauder zu suchen, weil sie wissen, wie sie sich die Monster vom Leibe halten können (»Das Monster versucht, hereinzudringen, aber die Tür ist stabil, und es gelingt ihm nicht.«). Ihren Abwehrmechanismen gelingt es, ihrer Angst entgegenzuwirken. Die schnelle Musik mit Schlaginstrumenten ruft bei fast allen ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Gefühl von Stammesbindung hervor und verursacht die meisten körperlichen Empfindungen (»Es ist aufregend, mitreißend, euphorisierend«). Die Jugendlichen bringen sich auf der affektiven und körperlichen Ebene sehr stark ein, wobei sie heftige Reaktionen der Akzeptanz oder der Ablehnung gegenüber den verschiedenen Auszügen ausdrücken. Auf der formalen Ebene unterstreichen sie den Unterschied zwischen einer Musik, die sie als spontan und improvisiert empfinden, und einer Musik, die ihnen ausgearbeitet und künstlerisch erscheint.
325 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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3.2 Quantitative Ergebnisse 3.2.1 Vergleichende Studie zwischen früher und mittlerer Adoleszenz a)
Unterschiede in der Inhaltsanalyse der Reaktionen zur traditionellen Musik
Variable
Mittlerer Mittlerer Rang VII–VI Rang IV–III
Signif. (unilat.)
Richtung der Differenz
Mentalisierte 13.34 Aggressivität
27.61
< 0.1 %
VIIe < IVe
Produktivität 15.97
25.34
< 1%
VIIe < IVe
Kreativität
15.37
25.86
< 1%
VIIe < IVe
Sensibilität für den Gefühlsausdruck
16.92
24.52
< 5%
VIIe < IVe
Körperliche und emotionale Einbindung
18.29
23.34
< 10 %
VIIe < IVe
Tabelle 1: Inhaltsanalytisches Schema; Vergleichsstudie zwischen früher und mittlerer Adoleszenz; U Test (Mann-Whitney)
Der Vergleich zwischen der frühen und der mittleren Adoleszenz zeigt eine positive Entwicklung in der Fähigkeit zur imaginären und symbolischen Verarbeitung und im persönlichen Ausdruck. Für die primäre Aggressivität, das Intellektualisieren und das Auftauchen depressiver Gefühle sind die Unterschiede nicht signifikant, was sich dadurch erklärt, dass die Werte bei diesen Variablen seit Beginn der Adoleszenz hoch sind.
326 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung
b) Unterschiede im FAF Variable
Mittelwerte VIIe–VI
Mittelwert IV–III
Signif. (unilatat.)
Richtung der Differenz
FAF 5
48
43.86
< 5%
VIIe > IVe
FAF O
45.95
50.41
< 5%
VIIe < IVe
Tabelle 2: FAF; Vergleichsstudie zwischen früher und mittlerer Adoleszenz; t Test (Student)
Die Hemmung ist größer in der frühen Adoleszenz, die Offenherzigkeit ist weiter entwickelt in der mittleren Adoleszenz. Für die anderen Skalen konnte kein Unterschied hervorgehoben werden. 3.2.2 Korrelationsstudie zwischen den Werten der Inhaltsanalyse und dem FAF Variable Schema
Variable FAF
Rho
Signif.
Primäre Aggressivität
FAF 2
0.3909
< 5%
Intellektualisierung
FAF 4
0.3906
< 5%
Kreativität
FAF 5
-0.3643 < 5 %
Intellektualisierung
FAF 2
0.3467
Sensibilität für den Gefühlsausdruck
FAF 2
-0.3205 < 5 %
Produktivität
FAF 5
-0.3001 < 10 %
Sensibilität für den Gefühlsausdruck
FAF 4
-0.2985 < 10 %
Intellektualisierung
FAF Sigm
0.2806
< 10 %
Produktivität
FAF O
0.2696
< 10 %
< 5%
Tabelle 3: Inhaltsanalytisches Schema und FAF; Rangkorrelationen; Rho Test (Spearman)
Die Skala der Reaktiven Aggressivität (FAF 2) korreliert positiv mit dem Ausdruck der primären Aggressivität, der Intellektualisierung, und negativ mit der Sensibilität für den Gefühlsausdruck in der Musik. Die Selbstaggression (FAF 4) korreliert positiv mit der Intellektualisierung, und negativ mit der Sensibilität für den Gefühlsausdruck. Die Aggressionshemmung (FAF 5) korreliert negativ mit der Kreativität und mit der Produktivität in den Reaktionen auf die traditionelle Musik. Die aggressive Spannung (FAF Sigm.) korreliert po327 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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sitiv mit der Intellektualisierung in den Reaktionen auf die traditionelle Musik. Wir bemerken hier den Einsatz von Abwehrmachnismen gegenüber einer triebhaften und emotionalen Überflutung. Die Offenheit (FAF O) korreliert positiv mit der Produktivität in den Reaktionen auf die traditionelle Musik. 3.2.3 Synthese Die Resultate der quantitativen Analyse ergänzen die qualitativen Ergebnisse. Die Untersuchung zeigt die Allgegenwart der aggressiven Thematik innerhalb der Vorstellungswelt der Jugendlichen. Jedoch wird das Auftauchen der primären Aggressivität meistens moduliert vom anpassungsfähigen Spiel der Abwehrmechanismen. Die »grundliegende Gewalt« im Sinne Bergerets (1996) beeinträchtigt die Kreativität nicht, sondern sie wird vielmehr im Rahmen der künstlerischen oder humoristischen Ausarbeitung einer persönlichen Idee eingesetzt. Das freie Handhaben aggressiver Themen wird von den Spezialisten der Adoleszenz mit den Faktoren der Kreativität und der Fähigkeit zur imaginären und symbolischen Ausarbeitung in Zusammenhang gebracht (Mahy, 1992; Segal, 1993). Es ist eher das Fehlen von Aggressivität in der imaginären Produktion, welches auffällig ist. Die signifikanten und psychologisch plausiblen Korrelationen zwischen den Variablen des inhaltsanalytischen Schemas und denjenigen des psychometrischen Tests entsprechen den allgemeinen theoretischen Überlegungen der Entwicklungspsychologie der Adoleszenz. Sie erlauben es außerdem, die inhaltliche Validität des inhaltsanalytischen Schemas zu belegen.
4.
Schlussfolgerung und Ausblick
Die traditionelle Musik vieler außereuropäischer Kulturen ist gekennzeichnet durch ihr emotionsgeladenes Klima, ihren einprägsamen Rhythmus und ihre ungewohnte stimmlichen Technik (Fubini, 2017). Aus diesem Grund sind die Auszüge dieser Art von Musik ein relevantes Werkzeug, um den Prozess der Mentalisierung während der Adoleszenz zu fördern. Unsere Studie hat gezeigt, dass sie vielfältige Gefühle hervorrufen, die Fantasie anregen und die Projek328 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Rezeptive Musiktherapie zur Förderung der Mentalisierung
tion von Ängsten, Wünschen und Sehnsüchten fördern, jedoch zugleich die Möglichkeit einer humoristischen und künstlerischen Verarbeitung beinhalten. Eine verbale Durcharbeitung im Sinne der kognitiv-psychodynamischen Richtung (Batesman & Fonagy, 2006) vervollständigt diese Methode in optimaler Weise. Die Arbeit mit Auszügen traditioneller Musik kann sowohl präventiv im normalen schulischen Umfeld benutzt werden als auch kurativ in einem therapeutischen Umfeld mit gefährdeten Jugendlichen. Sie kann den Schülern bei der Verarbeitung ihrer inneren Aggressivität helfen und sie für die Gefahren sensibilisieren, die mit einer Vereinnahmung durch die sozialen Medien (Dugain & Labbé, 2016) sowie einer von verschiedenen politischen und religiösen Gruppen ausgehender extremistischen Propaganda verbunden sind. Eine besser entwickelte Mentalisierung ist ein Schutz gegen jede Form von Beeinflussung. Das inhaltsanalytische Schema kann für weitergehende Forschungsprojekte benutzt werden, zum Beispiel im Rahmen der Evaluierung von Psychotherapien, da es zur Sinnfindung beiträgt (Neimeyer & Raskin, 2000; Metzhoff & Kornreich, 2008) und da es die Berechnung der Beziehungen zwischen psychometrischen, projektiven und expressiven Verfahren veranschaulicht.
Literatur Anderson, D. A., Shibuya, A., Ihori, N., Swing, E. L., Bushman, B. J., Sakamoto, A., Rothstein, H. R. & Saleem, N. (2010). Violent video game effects on aggression, empathy and prosocial behavior in eastern and western countries: a meta-analytic review. In: Psychological Bulletin, 136 (2), 151–173. Batesman, A. & Fonagy, P. (2006). Mentalization-Based Treatment for Borderline Personality Disorder. Oxford: Oxford University Press. Blachnio, A., Przeiorka, A. & Patic, J. (2015). Internet use, Facebook intrusion and depression: Results of a cross-sectional study. In: European Psychiatry, 30(6), 681–684. Bergeret, J. (1996). La violence fondamentale. L’inépuisable Œdipe. Paris: Dunod. De Kernier, N. (2008). Quête d’intimité à l’adolescence et images parentales intrusives. In: Dialogue, 182 (4), 89–103. Dugain, M. & Labbé, C. (2016). L’homme nu. La dictature invisible du numérique. Paris: Plon.
329 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Lony Schiltz Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L. & Target, M. (2004). Affect Regulation, Mentalization and the Development of the Self. London: Karnac. Fubini, E. (2017). Geschichte der Musikästhetik: Von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler. Gentile, D. A., Lynch, P. J., Linder, J. R. & Walsh, D. A. (2004). The effects of violent video game habits on adolescent hostility, aggressive behaviors and school performance. In: Journal of Adolescence, 27 (1), S. 5–22. Hampel, R. & Selg, H. (1975). Fragebogen zur Erfassung von Aggressivitätsfaktoren. Göttingen: Hogrefe. Kerpelman, J. L., Pittman, J. F., Saint-Eloi Cadely, H., Tuggle, F. J., Harrell-Levy, M. K. & Adler-Baeder, F. M. (2012). Identity and intimacy during adolescence: Connection among identity styles, romantic attachment and identity commitment, In: Journal of Adolescence, 35 (6), S. 1427–1439. Kuss, J. K. & Griffith, M. D. (2011). Online Social Networking and Addiction – A Review of the Psychological Literature. In: International Journal of Environmental Research and Public Health, 8 (9), S. 3528–3552. Lecourt, E. (1997). Voix et émotion, recherche collective. In: La Revue de Musicothérapie, XVII, 2/3, S. 63–65. Mc Arthur, D. S. (1989). Birth of a self in adulthood. Northvale: Jason Aronson. Mahy, J.-F. (1992). D’une nécessaire agressivité à l’adolescence. In: Van Meerbeeck, P. (Hrsg.). Peau d’âme. Bruxelles: De Boeck Université, S. 93–108. Meltzoff, J. & Kornreich, M. (2008). Research in Psychotherapy. New Brunswick and London: Aldine Transaction. Mucchielli, A. (1983). L’analyse phénoménologique et structurale en sciences humaines. Paris: PUF. Neimeyer, R. A. & Raskin, J. D. (Hrsg.) (2000). Constructions of Disorder. Meaning-Making Frameworks for Psychotherapy Washington D.C.: American Psychological Association. Radovic, A., Gmelin, T., Stein, B. D. & Miller, E. (2017). Depressed adolescents’ positive and negative use of social media. In: Journal of Adolescence, 55, S. 5– 15. Schiltz, L. (2006). Grilles d’analyse de contenu basées sur l’approche phénoménologico-structurale. In: Bulletin de la Société des Sciences Médicales du Grand-Duché de Luxembourg, 2, S. 265–280. Segal, H. (1993). Rêve, art, phantasme. Paris: Bayard.
330 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Regina Sommer
Einsteins Kinder®. Ein dreijähriges Märchen- und Geschichtenerzählprojekt zur Förderung von Begabungen und sozial-emotionalen Kompetenzen in Grundschulen des sozialen Brennpunkts »Fantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt!« (Albert Einstein) »Wir waren auf der Bühne des Lebens!« (Dalcha Kololo, 7 Jahre, Nigeria) Abstract: Einsteins Kinder® ist ein dreijähriges Geschichtenerzählprojekt, das von der Erzählerin Regina Sommer entwickelt und von der Universität Köln unter Leitung von Professor Dr. Thomas Hennemann wissenschaftlich untersucht wurde. 105 Kinder von Inklusionsklassen mehrerer Schulen in sozialen Brennpunkten nahmen 2013–16 an der Pilotstudie zur Entwicklung unterschiedlicher Fähigkeiten und sozial emotionaler Kompetenzen in einem Kontrollgruppendesign teil.
Erzählen – eine Kunstform? Erzählt der Mensch doch von Kindesbeinen an! Tatsächlich kann jeder erzählen und es ist eben auch eine Kunst. Der wahre Erzähler weiß um die Verbindung zwischen Sender und Empfänger. Der eine ist bereit, etwas mit-zu-teilen, der andere ist willig, sein Ohr zu leihen. Ein jeder ist auf den anderen angewiesen. Zwischen beiden befindet sich im virtuellen Raum das Märchen, das es gilt, ins Hier und Jetzt zu holen. Es liegt am Erzähler, die Zuhörer aus dem realen Raum der Umgebung in den vorgestellten der Erzählhandlung zu entführen und zudem die Geschichte so zu erzählen, dass der andere nicht nur passiv dem Gesagten lauscht, sondern beim Entstehen der Geschichte mitwirkt. Und hier ist der Künstler gefragt, der nicht nur das Handwerkszeug des Erzählens besitzt: bewusster Einsatz von Sprache, Mimik, Gestik, Bewegung, Rhythmus (das Wie des Erzählens) und Repertoire (das Was), sondern über seine Begabung hinaus das Gefühl 331 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Regina Sommer
und das Gespür entwickelt hat, welches Märchen wann wie erzählt werden soll. Zwar kommt ein Erzähler oft mit einer bestimmten Geschichte zum Erzählort, doch kann eine Situation, ein Gespräch, eine Atmosphäre plötzlich etwas Anderes in einem auftauchen lassen. Hier muss der Erzählende bereit sein, dem Moment zu folgen und in sich zu lauschen. Ein kurzes Gespräch mit den Zuhörern, ein paar einleitende Worte lassen die richtige Geschichte in einem wach werden und nun nimmt die Erzählung ihren Lauf. Doch wie? Denn wer erzählt, hat meistens keinen festen Text, an den er sich hält. Die Erzählung verwirklicht sich während des Erzählens und dazu ist der Erzähler auf sein Publikum angewiesen. Dieses lauscht, kommentiert, rollt die Augen, bewegt sich unruhig auf den Stühlen, beugt sich gebannt nach vorne, alles Äußerungen, die der Erzähler aufnimmt und die die Erzählung beeinflussen. Diese Signale und andere kaum merkbare Zeichen geben dem Erzähler zu verstehen, wie seine Geschichte aufgenommen wird. Es liegt an ihm, die Zuhörer mit seiner Geschichte zu berühren und mit seiner Kunstfertigkeit zu fesseln. Kein Erzähler ist nur auf die Sprache reduziert. Seine Hände, seine Stimme, ja sein ganzer Körper erzählen mit. Eine Kopfwendung und sein Blick nach hinten, wo er innerlich den Helden auftauchen sieht, veranlasst den Zuhörer, sich umzudrehen. Eine Handbewegung zeichnet eine Landschaft nach und lässt sie in dem Zuhörer ebenfalls entstehen. Der Erzählende stellt manchmal ganze dramatische Szenen alleine dar, schlüpft abwechselnd in die beteiligten Personen, lässt alles lebendig werden, wobei alle Sinne mit einbezogen werden. Somit entstehen Bilder vor den inneren Augen. Der Zuhörer, der auch immer zugleich Zuschauer ist, nimmt die Erzählung als Bilderfolge wahr. Der gleiche Prozess spielt sich im Erzähler ab. Er merkt sich die Geschichte, indem er so etwas wie einen inneren Film bildet, den er visualisierend abtastet und versprachlicht. Es ist u. a. dieses »interaktive« und »audiovisuelle«, das den Reiz jedes Erzählens ausmacht. Das Hier und Jetzt erzählt die Geschichte und dieses ist eben einmalig. »Wir waren auf der Bühne des Lebens!« (Dalcha Kololo, Nigeria, 7 Jahre)
Die Kinder der Klasse 2a lauschen gebannt dem Zaubermärchen aus Ghana, das ihnen eine professionelle Erzählerin erzählt. Kein deutsches Kind ist in dieser Klasse, in der 15 Nationen vertreten sind. Es sind Kinder, die im sozialen Brennpunkt leben, zumeist Migrations332 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Einsteins Kinder®
hintergrund haben, Flüchtlinge oder Inklusionskinder sind. Kinder, die es schwer haben. Studien belegen, dass (Kinder-)Armut auch in Deutschland ein »gesellschaftliches Kardinalproblem« darstellt (Butterwegge 2012). Durch die soziale Ungleichheit/ Benachteiligung kommt es zu einer Einschränkung in der Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Das Aufwachsen in einem Multiproblem-Milieu oder auch in sozialen Brennpunkten stellt somit einen Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. Genau an diesem Punkt setzt Einsteins Kinder an, dass die Erzählerin Regina Sommer auf der Basis von Mus-e des Musikers und Komponisten Yehudi Menuhin entwickelt hat. Könnten hier Märchen und auch das Erzählen derselben helfen, die Fantasie anzuregen, Selbsthilfefaktoren (Resilienzen) zu aktivieren, wieder neugierig zu werden und sich dem Wundersamen und damit dem Leben zu öffnen? So stellt Bruno Bettelheim die These auf, dass Märchengeschichten »dem Kind die Möglichkeit geben, innere Konflikte, die es in Phasen seiner seelischen und geistigen Entwicklung erlebt, zu erfassen und in der Phantasie auszuleben und zu lösen« (Orde 2012). Geschichten und insbesondere Märchen drücken auf symbolisch-bildhafter Ebene aus, was ein Kind bewegt und setzen dort an, wo sich das Kind gerade befindet und geben Möglichkeiten zur Lösung von potenziellen Problemen (Hoeppel 1994). Weiter führt Bettelheim aus, dass das Erzählen und nicht Vorlesen elementar für die Fantasieentwicklung der Kinder ist, da durch Erzählen eine höhere Identifikation und persönliche Bedeutung für die Geschichte entsteht (Bettelheim 1980). Nach einem Jahr Märchen hören, ruft E. laut in die Klasse: »Frau Sommer, ich sehe es (das Märchen). Es ist ein Film. Es ist wie Fernsehen!« (E., 8 Jahre alt, Nigeria). Ist erst einmal die Fantasie wieder aktiviert, denn sie schlummert in jedem, versetzt sie der Vorstellungskraft Flügel. Diese Kraft ist laut der Psychoanalytikerin Luise Reddemann sogar ein Zaubermittel: »Wir haben alle jederzeit und überall ein Zaubermittel zur Verfügung: unsere Vorstellungskraft. Mit Hilfe dieser Vorstellungskraft ist es möglich, uns innere Welten des Trostes, der Hilfe und der Stärke zu erschaffen, unabhängig von der Freundlichkeit und Gewogenheit unserer Umgebung.« (Reddemann 2002, S. 14). Amina, 9 Jahre, Albanien, am Ende des Projektes: »Märchen hören ist wichtig, weil man nicht mehr alleine ist, wenn man ausgelacht wird, denn in den Geschichten gibt es das auch!« Dalcha Kololo, 10 Jahre, Nigeria: »Meine Lieblingsfigur ist der Dummling, denn ich bin auch tollpatschig und in den Märchen ist er der Kluge. Das wissen alle erst am ®
®
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Regina Sommer
Ende!« Destino, 10 Jahre, Kongo: »Märchen hören und dann erfinden ist wichtig, denn es gibt Fantasie und Kinder brauchen Fantasie.« Für Kinder ist nicht nur die Schule wichtig. Ich möchte, dass die Kinder – auch meine – nicht denken wie ich: »Das geht doch alles gar nicht!« Ich will, dass sie etwas versuchen. Lokman, 10 Jahre, Syrien: »Jede Woche Märchen hören, war sehr gut. Dann konnten wir selbst erfinden und ich konnte das meinen Eltern erzählen. Es war leicht, eine Banane mit Augen zu erfinden, nachdem ich selbst zuerst viel gehört hatte.« Mitko,11 Jahre, Roma aus Bulgarien und der Türkei: »Geschichten hören macht Spaß und es ist wichtig. Wenn ich Kopfschmerzen habe oder wütend bin oder nicht gut drauf bin, dann geht das weg, wenn ich eine Geschichte höre. Ich ändere mich!«
Verlauf Erstes Jahr, Beginn im 2. Schuljahr Die wöchentliche Erzähleinheit umfasst zwei Schulstunden und findet im Kernbereich des Unterrichts unter Mitwirkung/Begleitung des Lehrers statt. Diese Stunden sind kein Ersatz für regulären Kunst-, Deutsch- oder Sachunterricht. Sie werden nicht benotet und folgen keinem direkten Lehrplan. Einsteins Kinder® ist prozessorientiert und langfristig angelegt, somit bietet es nicht nur Freiraum für Entfaltung, sondern auch Zeitraum zur Entwicklung. Von Beginn des Schuljahres bis zu den Weihnachtsferien ist es wichtig, dass nach Möglichkeit wöchentlich erzählt wird. Nicht alle Kinder sind gewohnt in eigene innere Bilderwelten zu tauchen und brauchen am Anfang die Regelmäßigkeit, um die Entwicklung der Fantasie in Gang zu setzen. Die Erzähleinheit findet in der ersten oder dritten Schulstunde statt, und zwar im Klassenraum, wobei die Kinder an ihren Plätzen sitzen bleiben. Positive Erfahrungen werden im vertrauten Umfeld gemacht. Jeder kann zuhören, jeder kann er selbst sein. Jeder wird respektiert, wie er ist. Das Märchen dauert zwischen 20 bis 40 Minuten. Es werden im ersten Jahr ausschließlich Zaubermärchen aus den in der jeweiligen Klasse vertretenen Völkern oder Kulturen erzählt. Dass Märchen aus Ländern erzählt werden, zu denen die Kinder Bezüge haben, ist sowohl wichtig für die Schüler als auch für die Lehrkräfte. Für die ersteren bedeutet ihr nationales Mär334 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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chen eine Anerkennung und Achtung für das, was sie mitbringen und über ihre Kultur wissen. Sie fühlen sich respektiert, was wiederum ihr Selbstwertgefühl steigert. Die Lehrkräfte empfinden diese Märchen als Bereicherung, da sie die Kinder anders als sonst erleben. Diese erzählen, berichten, korrigieren Aussprache und bringen Gegenstände oder Essen mit. Nach dem Hören wird gemalt, wobei es keinerlei Einschränkungen bezüglich des »Wie« oder des »Was« gibt. Aus den gesammelten Bildern entwickelt jedes Kind am Ende des Schuljahres sein Märchen-Klassen-Buch. Was wird erzählt und warum? Es sind Zaubermärchen, die im ersten Jahr ausschließlich erzählt werden. Der kanadische Erzähler und »keeper of the stories« (Geschichtenhüter) Ron Evans (vom Volk der Cree-Indianer) drückt es folgendermaßen aus: »In diesen Geschichten verbirgt sich die Wahrheit! Historische Fakten sind Wirklichkeiten, die sich den entsprechenden Wiedergebenden (Ort, Zeit, Sieger/Besiegter) entsprechend unterordnen.« (nach Horowitz 2004). Die keltische Erzähltradition spricht von den »großen und den kleinen Wahrheiten« (Macpherson Vortrag Oktober 2010, Aachen). Märchen haben Zeiten und Räume durchschritten. Sie sind geschliffene Diamanten, die sich den jeweiligen Verhältnissen anpassen können, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu verlieren. Max Lüthi, Schweizer Literaturwissenschaftler und Märcheninterpret des 20. Jahrhunderts bemerkt dazu: »Das Märchen aber fordert gar nichts. Es deutet und erklärt nicht, es schaut nur und stellt dar. Und diese traumhafte Schau der Welt, die nichts von uns fordert, keinen Glauben und kein Bekenntnis, sie ist sich selber so selbstverständlich und wird mit solcher Notwendigkeit Sprache, dass wir uns beglückt von ihr tragen lassen.« (Lüthi 1992, S. 79). Alle Märchen haben gleiche Strukturen, die den Kindern die Sicherheit gibt, sich mit auf den Weg des Helden / der Heldin zu begeben. (»Ich weiß, sie muss dreimal zur Hexe« J., 7 Jahre, nach 4 Wochen). »Jetzt hat er es gleich geschafft. Er hat die dritte Aufgabe bekommen!« (Rohin, 8 Jahre, Sri Lanka). In den ausgewählten Märchen macht sich eine Person, meistens ein Kind, auf den Weg, etwas zu verändern. Der auslösende Moment kann ein Befehl, eine Pflicht, eine Bitte oder ein eigener Entschluss sein. Während des Prozesses muss die Hauptperson Entscheidungen fällen, Lösungen suchen, sich mit Neuem auseinandersetzen, Schwierigkeiten überwinden, Freun335 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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den vertrauen, Feinde kennenlernen, das Gewissen in sich entdecken, sich seiner Möglichkeiten und Grenzen bewusst werden. Diese Gedanken, Gefühle, Überlegungen, Entwicklungen können sich in jedem individuell abspielen. Beim Erzählen handelt es sich jedoch zusätzlich um ein gemeinschaftliches Erlebnis. Im angelsächsischen Raum wird das Erzählen auch als »communal art form« bezeichnet. Miteinander wird gelacht, zusammen wird sich gegruselt, gemeinsam regt man sich über die Dummheit, das Unvermögen oder die Uneinsichtigkeit der handelnden Personen auf. Ein Wir-Gefühl entwickelt sich. Alle sind ein Teil der Geschichte, sind in der Geschichte. Sie sehen und fühlen und wollen oft ändern oder helfen und so rufen sie in die Geschichte hinein: »Nein, nicht dorthin gehen!« oder »Der ist doch nicht so blöd und macht das wieder!« Es wird mitgefiebert, mitgedacht, kombiniert, vorausgedacht. Manchmal still für sich, manchmal als leise Bemerkung, manchmal als Einwurf, manchmal als kurzer Austausch mit dem Nachbarn, manchmal den Klettverschluss des Schuhes auf- und zumachend, manchmal aufstehend, manchmal … So vielseitig der Mensch ist, so vielseitig ist seine Reaktion auf das Gehörte. Alles wird respektiert! Nach dem Erzählen, wo die Kinder über lange Strecken stillsitzen, besteht ein Bedürfnis nach Bewegung. Die Kinder können einmal um den Schulhof laufen, um wieder ins Hier und Jetzt zu kommen und den Bewegungsdrang zu normalisieren. Ebenfalls besteht ein Verlangen nach Verständnis. Eine häufig gestellte Frage ab der 10. Erzählung ist: »Ist das Märchen wahr?« Und ja, jedes Märchen besitzt laut Regina Sommer einen Wahrheitsgehalt. Jetzt unterhalten sich alle darüber, welche Wahrheit es in sich birgt. Oft hilft die moderne Wissenschaft, hier besonders die Quantenphysik, uns über Paralleluniversen zu unterhalten und über Ungeklärtes, Rätselhaftes zu sinnieren. »Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt« (Horatio. Englische Übersetzung. 1. Akt, 5. Szene; Hamlet, William Shakespeare) wird oft von ihr zitiert. Die Kinder fangen an, zu philosophieren und Dinge infrage zu stellen. Beispiel: Nach dem Erzählen eines marokkanischen Märchens, in dem eine Prinzessin nicht heiraten möchte und ihre Eltern das gutheißen, meinte Leis aus Syrien, das wäre nicht möglich. Jeder muss heiraten, ob Frau oder Mann, wegen der Kinder! Er diskutierte dann noch 15 Minuten mit den anwesenden Mädchen, wie sie das sähen. Am Ende des Jahres werden die gemalten Blätter zu einem Märchenbuch zusammengefügt. Gemeinsam werden Titel gesucht. Vor336 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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geschlagene Überschriften: »Die Erfinder der Welt!« »Das Schloss voller Wunder!« »Die Kindermärchenwelt!« »Menschenwelt!« »Wir reisen um die Welt!« Alle Äußerungen werden notiert und dann davon sucht sich jedes Kind seinen eigenen aus. Jedes Kind entwirft sein Buch mit Farbe, Schriften und Titelbild. Forschungsdesign, Messinstrumente Das Design basiert zum einen auf den Erfahrungen von Regina Sommer, die sie im Laufe ihrer 12-jährigen Tätigkeit im Mus-e® Projekt von Yehudi Menuhin gesammelt hat. Es galt, die Kinder im Sinne Yehudi Menuhins zu respektieren. »Heißt zuzulassen, was schon vorhanden ist, was das Kind in sich trägt und es zur Entfaltung, zum Erblühen zu bringen. Die Gaben, die Fähigkeiten, die Talente, die sie alle von Anfang haben und die zu oft von unserer Gesellschaft (Eltern) verbogen werden.« (Menuhin 2001, S. 1). Dazu kamen die Forschungsideen von Professor Dr. Thomas Hennemann, der die Förderung sozial-emotionaler Kompetenzen und Begabungen wie auch die Entfaltung der Kreativität und Fantasie mithilfe von quantitativen und qualitativen Messinstrumenten wissenschaftlich untersuchen wollte. Das Projekt in sozialen Brennpunkten durchzuführen, ist ein Anliegen von Regina Sommer und Prof. Hennemann. Nicht nur entsteht dort eine Einschränkung in der Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten, zudem stellt die KiGGS Studie heraus, dass ein niedriger sozio-ökonomischer Status ein Risikofaktor für die Ausbildung von Gefühls- und Verhaltensstörungen sei (Hölling et. al. 2007, S. 784– 793). Das Aufwachsen in einem Multiproblem-Milieu oder auch in sozialen Brennpunkten stellt somit ein Risikofaktor für die kindliche Entwicklung dar. Interessant ist auch, dass die meisten Kinder dieser Schulen aus einer oralen Kultur stammen. Diese ist mit der narrativen Intelligenz verbunden, die sich von unserer linearen, logischen sehr unterscheidet. Das Projekt begann nach den Herbstferien 2013 und erstreckte sich über einen Zeitraum von 3,5 Jahren. In der wissenschaftlichen Begleitstudie wurden sowohl qualitative als auch quantitative Forschungsfragen untersucht. Dabei wurden die nachfolgenden Kompetenzen der Kinder systematisch erhoben und prozessbezogen ausgewertet:
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Die sozial-emotionalen Fähigkeiten der Schüler werden mithilfe wissenschaftlich erprobter Messinstrumente erhoben, insbesondere das Emotionswissen, das Wissen über Emotionsregulationsstrategien und die Problemlösefähigkeiten und das Verstehen von sozialen Situationen. Die psychische Gesundheit der Kinder wird mittels standardisiertem Screening-Verfahren (SDQ) erhoben. Durch ein standardisiertes Verfahren wird das Klassenklima untersucht. Es können soziale Beziehungen der Schüler untereinander sowie das soziale Gefüge der Klasse aufgezeigt werden. Die Erfassung des Lern- und Arbeitsverhaltens der Schüler zeigt ihre Kompetenzen in den Bereichen Anstrengungsbereitschaft, Konzentration, Selbstständigkeit und Sorgfalt beim Lernen auf. Der akademische Lernerfolg. Umfangreiche Videoaufzeichnungen und Videoauswertungen der Erzählstunden. Umfangreiche, qualitative Auswertungen der Kinderzeichnungen. Bei der Erhebung werden alle datenschutzrechtlichen Bedingungen beachtet!
Ergebnisse des ersten Erzähljahres Nachdem die Schülerinnen und Schüler im zweiten Schuljahr Geschichten gehört haben, liegen uns zwei Messzeitpunkte vor. Die Grafiken stellen die Mittelwerte aller Experimental- und Kontrollgruppen über die Zeit von Messzeitpunkt 1 (t1) und Messzeitpunkt 2 (t2) dar. Es ist zu erkennen, dass sich das Klassenklima der Experimentalgruppe (EG) im Verlauf verbessert und gegensätzlich dazu das Klassenklima der Kontrollgruppe (KG) zum Zeitpunkt t2 schlechter eingeschätzt wird als zum Zeitpunkt t1. Die statistische Analyse ergibt, dass hier ein signifikanter Interaktionseffekt zugunsten der Experimentalgruppe vorliegt. Somit lässt sich sagen, dass sich das Klassenklima in den Klassen, in denen regelmäßig Zaubermärchen aus den in der jeweiligen Klasse vertretenen Völkern oder Kulturen erzählt werden, nach Einschätzung der Schülerinnen und Schüler verbessert.
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Vergleich von EG und KG im FEESS (Klassenklima)
Abb. 1: Vergleich von Experimentalgruppe (EG) und Kontrollgruppe (KG) im FEESS (Skala Klassenklima)
Auch bzgl. des Verständnisses von sozialen Situationen sind Effekte zu verzeichnen. Die Kontrollgruppe baut in dieser Dimension ihr Wissen aus, allerdings zeigt die EG eine deutlich größere Verbesserung, was sich auch hier durch die statistische Analyse als einen signifikanten Interaktionseffekt ausmachen lässt. Vergleich von EG und KG im IDS (Soziale Situationen verstehen)
Abb. 2: Vergleich von EG und KG im IDS (Skala: soziale Situationen verstehen)
Das dritte Instrument (SDQ) basiert auf Einschätzung der Lehrkräfte. Auch hier zeigen sich Effekte zugunsten der Gruppe, die Geschichten gehört haben. Die emotionalen Probleme sinken in den Experimentalgruppen, und in den Kontrollgruppen ist ein leichter Anstieg zu erkennen. Die statistischen Analysen zeigen hier ebenfalls einen signifikanten Interaktionseffekt.
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Ergebnisse des SDQ (Skala emotionale Probleme = Verminderung von Ängsten)
Abb. 3: Vergleich von EG und KG im SDQ (Skala: Emotionale Probleme)
Zweites Jahr, 3. Schuljahr »Theseus wäre doch heute ein Mörder!« (D., Türkei, 8 Jahre)
Im zweiten Jahr werden Geschichtenthemen behandelt. Hier entscheiden die Kinder selbst, welche Arten von Geschichten sie gerne hören möchten. Manchmal beeinflussen Fernsehfilme, die sie während der Sommerferien sahen, ihre Wahl. So führte »Der Herr der Ringe« zu dem Thema »Zauberwesen der Welt!« und »Superman« inspirierte zu »Heldengeschichten«. Andere vorgeschlagene Themen waren: »Prinzessinnen«, »Griechische Götterwelt«, »Hexen«, »Die vier Elemente« und in allen dritten Klassen: »Geister, Gespenster, Gruselwesen!«. Wieder wird zuerst zugehört und dann gemalt. Die Erzählungen setzen sich aus Märchen, Mythen, Fabeln, Sagen, Geschichten, literarischen Erzählungen zusammen. Sie variieren sehr in ihrer Länge, zwischen 15 und 60 Minuten. Die Inhalte sind dichter und verlangen mehr Konzentration. Hier ist die im ersten Jahr erlangte Zuhörfähigkeit gefragt. Die Inhalte des Gehörten werden oft vor dem Malen besprochen. Fragen, Ideen, Gedanken werden ausgetauscht. Zum Beispiel: »Warum ist Theseus ein Held? Heute wäre er ein Mörder!«, »Warum hat der Geist einen Körper und der andere nicht!«, »Sind Hexen vielleicht auch Schicksalsgöttinnen?« oder »Warum kommt die Zahl Drei so oft vor?«. In einer Klasse beschäftigten wir uns nach den Hexengeschichten aus aller Welt mit dem Hexeneinmaleins von Goethe. Als die Zahl 4 (Verlier die Vier) im Raume stand, sagte Leis (8 Jahre, Syrien): »Das heißt verlier den Tod, 340 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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den gibt es nicht.« Hier war des Rätsels Lösung jenseits von Raum und Zeit von einem 8-Jährigen erfasst worden. Gemäß Howard Gardner (1983) hat dieser Junge eine spirituelle Intelligenz. Howard Earl Gardner (* 11. Juli 1943 in Scranton, Pennsylvania) ist ein US-amerikanischer Erziehungswissenschaftler. Er ist Professor für Kognition und Pädagogik an der »Harvard Graduate School of Education« und außerordentlicher Professor für Psychologie an der Harvard University. Er ist als Autor populärwissenschaftlicher Bücher erfolgreich, zudem beschäftigt er sich mit Fragen der Neuroethik. Er entwickelte eine alternative Theorie zur Intelligenz: die Theorie der multiplen Intelligenzen. Titelvorschläge der Kinder zu dem Thema »Geister, Gespenster, Gruselwelt«: »Die erwachte Seele!« (L., 8 Jahre, Polen), »Liebe und Schmerz!« (Rohin, 8 Jahre, Afghanistan). Am Ende des zweiten Erzähljahres haben die Kinder 60 bis 70 Geschichten gehört. Jetzt kann erfunden werden. »Ich habe Fantasie bekommen!« (Niko, 10 Jahre)
Drittes Jahr, 4. Schuljahr Im dritten Erzähljahr steht das Geschichten-Erfinden im Mittelpunkt. Erzähltechniken und -methoden geben den Schüler*innen die Möglichkeit, selbst zu Erzähler*innen zu werden, zu erfinden und zu fabulieren! Spontane Geschichten unterschiedlicher Genres entstehen: Krimis, Lügengeschichten, Nonsens, Märchen, Fiktion – gemeinsam im Klassenverband oder in Kleingruppen. Im ersten Halbjahr wird mit den verschiedensten Methoden und Techniken das freie Erfinden, das Fabulieren entdeckt. Aus Reimwörtern entstehen, wie auch aus zusammengewürfelten Wörtern, Geschichten. Es gilt immer den Verstand zu überlisten, um das Unerwartete, das Fantastische zu Wort kommen zu lassen. Die Kinder setzen ihre Geschichten in Raps, in Lieder, in kleine Theaterstücke oder Geschichten um. Wobei sie Begriffe wie »Hotelmauslaus« erfinden, was sich zu einer Klassengeschichte entwickelte. Sehr wichtig für viele Kinder. Raza, 9 Jahre, Kongo: »Das war schön, weil man fühlt sich als ein Teil von allen, weil alle zusammen geschrieben haben!« Im zweiten Halbjahr lernen sie, mithilfe von Karten Geschichten bzw. Märchen zu erfinden. Dass un341 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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bewusst das Magische als etwas »Heilendes, Grenzen übersteigendes« empfunden wird, zeigte sich in einer Klasse, wo die Klassenlehrerin während der Osterferien mit Krebs diagnostiziert wurde und nach den Ferien nicht zurückkam. Den Kindern wurde ihre Krankheit nicht genannt. Sie lösten ihre Ängste, Zweifel, Empfindungen, indem sie nur Geschichten erfanden, wo jemand starb und wo es immer ein magisches Objekt gab, das half, entweder glücklich zu sterben, sich in eine andere Welt zu begeben oder wieder hierher zurückzukommen. Diese Arten von Geschichten entwickelten sie über zwei Wochen, dann entstand etwas Anderes. In den letzten Monaten sucht sich jedes Kind ein Märchen seiner Wahl aus und lernt, es frei vor der Klasse zu erzählen. Hier können die Kinder ein Märchen von den Eltern nehmen oder eines aus einem Märchenbuch. Sie können es verändern, ergänzen und sind frei in den Inhalten. Am Ende des Schuljahres werden diese Märchen vor der Schulgemeinschaft und den Eltern erzählt. Einsteins Kinder befinden sich auf der Bühne des Lebens und spielen mit! Ergebnisse des zweiten und dritten Erzähljahres Es sind wieder vier Messzeitpunkte vorhanden, die statistisch analysiert werden können. Das Klassenklima verbesserte sich im ersten Jahr in der EG und in der KG nimmt es etwas ab. Dieses Ergebnis ändert sich im Laufe der nächsten Schuljahre. Im dritten Messzeitpunkt schätzt auch die EG das Klima in ihrer Klasse schlechter ein als zuvor. Im vierten Messzeitpunkt wird das Klassenklima wieder etwas besser eingeschätzt, jedoch konnten mithilfe der statistischen Analyse keine signifikanten Effekte von t3 zu t4 ermittelt werden. In Bezug auf die sozialen Situationen lässt sich der positive Trend nur teilweise weiter nachzeichnen. Während die Kontrollgruppen sich auf einem fast gleichbleibenden Niveau in ihrem Wissen um soziale Situationen befinden, ist die Experimentalgruppe Schwankungen unterworfen. Der Wert der EG fällt von t2 zu t3 ab, um dann in t4 wieder aufzusteigen. Wodurch dieser Verlauf zu erklären ist, wäre zu diesem Zeitpunkt reine Spekulation und bedarf noch weiterer statistischer Ana342 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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Ergebnisse des FEESS (Skala Klassenklima)
Abb. 4: Vergleich von EG und KG im FEESS (Skala Klassenklima)
lysen und Folgestudien, um zu sehen, ob diese Ergebnisse replizierbar sind. Ergebnisse des IDS (Skala Soziale Situationen verstehen)
Abb. 5: Vergleich von EG und KG im IDS (Skala soziale Situationen verstehen)
Zuletzt gab es noch die weitere Auswertung der Lehrereinschätzung zu den emotionalen Problemen der Schülerinnen und Schüler. Es ist zu erkennen, dass die Kinder aus der Kontrollgruppe einen wachsenden Wert in diesem Bereich aufzeigen (dies spricht also für eine Steigerung der emotionalen Problembelastung). Bei der Experimentalgruppe hingegen fällt der Wert in t4 fast auf 0 und ein signifikanter Interaktionseffekt ist zu ermitteln.
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Ergebnisse des SDQ (Skala emotionale Probleme = Verminderung von Ängsten)
Abb. 6: Vergleich von EG und KG im SDQ (Emotionale Probleme)
Zusammenfassung »Wenn man viele Märchen hört (Vergangenheit) kann man für seine Zukunft vorbereiten, weil man bekommt viele Ideen!« (Omar, 10 Jahre)
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein Projekt wie Einsteins Kinder® die verschiedensten Kompetenzen und Resilienzen der Schüler fördert, denn die Ergebnisse stimmen optimistisch. Jedoch sind nach dieser Pilotstudie weitere Folgestudien notwendig, um die Ergebnisse weiter abzusichern. Zudem kämen weitere statistische Analysen der bisherigen Ergebnisse und die Auswertung der qualitativ erhobenen Daten. Ein eigens für das Projekt entwickeltes Anschauungsvideo, in dem die Projektidee sowie die konkrete Umsetzung im Klassenzimmer zu sehen ist, findet sich auf der folgenden Seite: https://www. youtube.com/watch?v=1Kgb5KAjTAk.
Literatur Butterwegge, C. (2010). Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsformen und Ursachen. Wiesbaden: Springer VS. Butterwegge, C. (2012). Kinderarmut in Deutschland. In: Der Bürger im Staat. Heft 4. S. 241–247.
344 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Einsteins Kinder® Bettelheim, B. (1980). Kinder brauchen Märchen. München: dtv. Gardener, H. (1983). Frames of Mind: The Theory of Multiple Intelligences. New York: Basic Books. Hoeppel, R. (1994). Kinder brauchen Märchen. In: R. Kaufhold. Annährerung an Bruno Bettelheim. Mainz: Matthias-Grünewald. S. 207–219. Hölling, H., Erhart, M., Ravens-Sieberer, U. & Schlack, R. (2007). Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz. S. 784–793. Hölling, H., Schlack, R., Kamtsiuris, P., Butschalowsky, H., Schlaud, M. & Kurth, B. (2012). Die KiGGS-Studie. Heidelberg: Springer. Horowitz, G. (2004). Die seelenerweckende Kraft der Märchen und ihrer Symbole. Öffentlicher Vortrag vom 15. 10. 2004 in Freiburg im Breisgau, veranstaltet vom Freiburger Forum für Analytische Psychologie. Lüthi, M. (1992). Das Europäische Volksmärchen (9. Aufl.). Tübingen: UTB. Macpherson, G. (2010). Vortrag »Gandolph der Weiße« am 10. Oktober im Rahmen des Erzählfestivals Zwischen-Zeiten in Aachen. Menuhin, Y. (2001). Infomappe Heft 2 für alle Mus-E Künstler. Düsseldorf: Yehudi Menuhin Stiftung Deutschland. Düsseldorf. Orde, H. v. (2012). Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen. In: Bayrischer Rundfunk, 8–9. Von http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/25–2012–2/vomOrde-pdf (abg. 14. 11. 2017). Reddemann, L. (2002). Imagination als heilsame Kraft (5. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.
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IV. Künstlerische Therapien in kulturellen Bildungseinrichtungen
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
Abstract: Im Folgenden werden unterschiedliche Angebotsformen an Museen zur Teilhabe und Inklusion vorgestellt. Es geht zum einen um Projektarbeiten für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung am Übersee-Museum in Bremen, zum anderen um Projektarbeiten sowohl für Hirntumorpatienten im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster als auch für Menschen mit Demenz im Kunstraum Alexander Bürkle in Freiburg. Hier wurde mit der TimeSlips-Methode gearbeitet – in Anlehnung an das Züricher Projekt »Aufgeweckte Kunst-Geschichten«, eine Weiterführung des Ansatzes vom Museum of Modern Art (MoMa) in New York.
Museumspädagogische Praxisformen zur Umsetzung von Teilhabe und Inklusion Von Menschen mit Beeinträchtigungen sind seit den 70er Jahren verstärkt Einzelausstellungen an Museen mit künstlerischen Gestaltungen gezeigt worden. Dies betraf insbesondere Menschen mit psychischen Störungen aus der Psychiatrie. In der Hinsicht waren im Rahmen der Documenta 5 in Kassel zum Thema »Befragung der Realität, Bildwelten heute« unter Harald Szeemann (vgl. Szeemann et al. 1972) auch künstlerische Arbeiten von schizophrenen Menschen aus Psychiatrien um die Jahrhundertwende zu sehen. Im Jahr 1978 wurde im Musée d’Art Moderne (vgl. 1979) in Paris die Ausstellung »Les Singuliers de l’Art« mit einer großen Sammlung von sogenannter »Außenseiterkunst« gezeigt. Es folgte 1981 das »Haus der Künstler« auf dem Gelände des Niederösterreichischen Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg-Gugging unter Leo Navratil (vgl. 1983), einhergehend mit verschiedenen Ausstellungsprojekten im Rahmen der Anti-Psychiatriebewegung, wie z. B. 1975 »La Tinaia«, Centro de Attività Expression – als Insel der Normalität 349 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
auf dem Gelände der psychiatrischen Klinik von Florenz (vgl. Baumann 1991). Aber auch andere psychiatrische Einrichtungen (vgl. Fricke & Thoma 1987) haben ästhetische Gestaltungsformen von Patienten dokumentiert bzw. eine Aufarbeitung der Psychiatriegeschichte durchgeführt (vgl. Gercke & Jarchov 1980). Für Menschen mit geistiger und körperlicher Beeinträchtigung wurden Ausstellungen an Museen vorgenommen – für Sehbehinderte wurden z. B. Tastobjekte als Repliken bereitgestellt. In München wurde 1984 mit der Ausstellung »Wir haben Euch etwas zu sagen« über die Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte (vgl. 1984) erstmalig im etablierten öffentlichen Raum ihr kreatives Potential vorgestellt, gefolgt von vielen anderen Projektarbeiten (vgl. Kunstverein Hannover 1983; Centre de Réadaption Capellen 1983; Künstler aus Stetten 1987; Boulangé 1987) und der Etablierung öffentlicher Ausstellungsräume zur Durchbrechung gruppenspezifischer Stigmata wie der Arbeitslosigkeit (vgl. Landesamt für Weiterbildung Bremen 1986), die Kunst und Inklusion vom Blaumeier-Atelier in Bremen (vgl. 2014), aber auch über die Wanderausstellung »Touchdown« (vgl. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH 2016) u. a. Was an museumspädagogischen Projektarbeiten seit den 90er Jahren hinzugekommen ist, ist die teilhabende und inklusive Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen als Bezugsgruppen. Im Folgenden sollen exemplarische Projektarbeiten vorgestellt werden, um die Erweiterung dieses museumspädagogischen Angebotes zu erläutern.
»Ich und Du – leben wie in Afrika?« Eine inklusive Projektarbeit mit geistig und nicht beeinträchtigten Menschen am Übersee-Museum Bremen bildete Anfang der 90er Jahre ein Novum (vgl. Übersee-Museum Bremen 1992). Für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und chronischer psychischer Erkrankung kann die Förderung des ästhetischen Ausdrucksvermögens eine wichtige Funktion hinsichtlich einer Rehabilitation einnehmen. Im Hinblick darauf konnte mit finanzieller EU-Unterstützung eine Projektarbeit durchgeführt werden, bei der parallel mit zwei Gruppen 350 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
einmal wöchentlich im Museum gearbeitet wurde, d. h. zum einen eine Gruppe mit älteren erwachsenen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung aus der aufgelösten Anstalt Blankenburg als Langzeithospitalisierte sowie Student*innen aus dem Studiengang Behindertenpädagogik der Universität Bremen, und zum anderen mit jungen erwachsenen Schüler*innen mit geistiger Beeinträchtigung im Alter von 23–25 Jahren sowie Schülerinnen im Alter von 16 Jahren eines Gymnasiums im Sinne eines inklusiven kooperativen Ansatzes. Es ging um eine psychosoziale Stützung und Förderung von Selbständigkeit als auch Entscheidungsfähigkeit sowie um eine Befähigung zu mehr Partizipation in der Öffentlichkeit, einhergehend mit der Verbesserung der Lebensqualität bezogen auf Kontaktfähigkeit und Entfaltung von Lebensfreude im Erleben eigener kreativer Fähigkeiten. Der Aufbau der Einheiten orientierte sich an folgenden Themenbereichen mit entsprechenden Abwandlungen im museumspädagogischen Raum: Zum Ich (Abb. 1, 2a–d), Farbe und Musik; vom Ich zum Du; Ich und Du und Menschen in fremden Ländern; afrikanische Textilien; Schutz- oder Glücksschatz (Abb. 3a–b); einwöchiger Workshop in den Ausstellungsräumen zu Maske, Musik und Spielobjekt mit Workshop-Leitern aus drei europäischen Ländern (Abb. 4a–c) (vgl. Döhner & Hampe 1992, S. 14 ff.). Insgesamt beinhaltete es eine Heranführung an den Ort des Museums mit seinen besonderen Ausstellungsexponaten zum Thema Afrika. Die einzelnen Phasen waren aufeinander aufbauend gestaltet, wobei Bekanntes in den darauffolgenden Sitzungen nochmals aufgegriffen wurde. Eingebunden waren die Treffen in ein Anfangs- und Abschlussritual zur Begrüßung und Verabschiedung mit Spielen auf Percussion-Instrumenten sowie einer thematischen Aktivierungsphase einhergehend mit einer gemeinsamen Tee-Pause. Diese Begrüßungs- und Abschiedsrituale (Abb. 5) hatten auch in den Körperberührungen wie im Anfassen der Hände, in der Umarmung, dem leichten Anstoßen u. ä. eine wichtige Bedeutung eingenommen. Weiterhin beinhaltete die Begegnung mit dem Fremden, Lebensaspekte des afrikanischen Kulturraumes kennenzulernen. Dabei bildete ein nachgebautes Baham-Gehöft aus einem Mali-Dorf im Museum einen Angelpunkt in der Auseinandersetzung. Es ging um das Eigene und das Fremde in einem erlebnisorientierten Miteinander, wobei Geschichtenerzählen und das Nachvollziehen von traditionellen Techniken einen Einstieg darstellten. So wurden beispielsweise bei dem Thema »Glücks- oder Schutzschatz« beliebte Objekte in der Alltagswelt des Einzelnen angesprochen. Oft 351 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
zeigten die Schüler*innen nach der einführenden, thematisch orientierten Erzählung und den vorgestellten Objekten ihre eigenen Ketten und Anhänger bzw. andere Dinge, die für sie eine besondere Bedeutung trugen. In Zweiergruppen mit einer bzw. einem beeinträchtigten und nicht beeinträchtigten Schüler*in wurde danach ein fantasievoller Glücks- oder Schutzschatz mithilfe eines vorgefertigten Grundgerüstes mit verschiedenen haptischen Materialien wie Baumrinde, Moos, Zweige, Knetmasse, Knöpfe, Nägel, Perlen, Nägel, Stoff, Wolle usw. erstellt (Abb. 3a). Dabei verlief der Gestaltungsprozess in den Zweiergruppen teilweise nacheinander oder parallel zueinander in einer engen Kontaktaufnahme. Es war ein unterstützendes und anregendes Arbeiten, ohne den anderen in seinem eigenen Antrieb zu behindern. Der Stolz über das Entstandene zeigte sich in der darauffolgenden Sitzung mit der gemeinsamen Vorstellung der Figur in Form einer kleinen Bühnendarbietung (Abb. 3b). Zugleich wurden damit den selbsterstellen Figuren ein Name verliehen und mitgeteilt, was sie für den Einzelnen bedeuten könnten. Diese Vorstellung kam einem Theaterspiel gleich, indem das Zweierteam vor der Gruppe seine Imaginationen zu dem Entstandenen darlegte. Von der teilnehmenden Gruppe wurde dieses Vorstellungsspiel jeweils mit Aufmerksamkeit und Ernsthaftigkeit wahrgenommen. Darüber erlangte der Gestaltungsprozess eine andere Ebene der Verarbeitung, auch im Sinne einer Stützung der Identitätsbildung. Allgemein bildeten Fantasiegeschichten eine Brücke, um mit einer fremden Kultur in Kontakt zu treten; so etwa die erlebnisorientierte Wahrnehmung des Baham-Gehöftes, einhergehend mit dem Abflug von Bremen, der Ankunft in Afrika und einer langen Busreise zum Mali-Dorf, wo sich das Gehöft befand. Das Erleben von Hitze, der Sonne am Himmel, der Klänge von Trommeln, des Stimmengewirrs und anderem mehr wurde imaginativ vorgegeben. Eine Musikeinblendung rundete die Fantasiereise ab, und jeder konnte danach berichten, was er wirklich wahrgenommen, oder ob er von etwas anderem geträumt hatte. Über die konkreten Objekte im ausgestellten Baham-Gehöft ließen sich dann eigene Imaginationen vergleichen, wobei die einzelnen Objekte berührt und in die Hand genommen werden konnten. Dabei entwickelte sich wie von selbst das Nachspielen eines Tagesablaufes. So wurden Hirse gestampft, eine Wasserschale aus getrocknetem Kürbis auf dem Kopf balanciert, ein Essen in der Fantasie spielerisch zubereitet, an die im Kreis Sitzenden verteilt und mit den Hände verzehrt. Eine Ungezwungenheit und fröhliche Lebendigkeit entstand im frei352 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
en Spiel mit den Objekten und der Gruppe. Dieser spielerische Umgang mit den Objekten und Mitwirkenden wurde mit einem rhythmischen Tanz zur afrikanischen Musik im Gehöft abgeschlossen. Als Ganzes vermochte das szenische Spiel ein Erfahrungsfeld vorzugeben, über das Kooperations- und Kommunikationsbarrieren abgebaut werden konnten sowie ein Spielraum zur Entfaltung individueller Bedürfnisse und Formen der Selbstverwirklichung, der menschlichen Begegnung, der sozialen Integration u. a. antizipiert wurde (vgl. Hampe 1992, S. 48). In der qualitativen Erhebung zur Wirksamkeit des Angebotes zeigte sich, dass eine positive Veränderung auf beiden Seiten der Teilnehmenden zustande kam und in den Ausstellungsräumen des Museums eine Teilhabe auch in Bezug auf die anderen Besucher gelungen war. So äußerten beispielsweise die teilnehmenden Schülerinnen ihr anfängliches Befremden und ihre Ängste vor Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, was sich in der darauffolgenden Zeit zu einer emotionalen Hinwendung umkehrte. Auch bezogen auf die Teilnehmenden mit Beeinträchtigung war eine (Vor-)Freude in der Teilnahme an den wöchentlichen Veranstaltungen wahrnehmbar. Die intensive Zeit des gemeinsamen Workshops in der afrikanischen Abteilung des Museums mit weiteren Workshop-Leitern aus dem Ausland wurde positiv aufgenommen. Zusammenfassend hat dieses Projektangebot zur Förderung museumspädagogischer Angebote in abgewandelter Form für geistig beeinträchtigte Menschen am Übersee-Museum Bremen geführt, auch zur Erstellung eines Museumskoffers für Angebotsformen außerhalb des Museums. Der handlungsorientierte Ansatz mittels Sammlungsgegenständen, Materialien, Tätigkeiten und Themen beinhaltete, Teilnehmern einen Zugang zu sich selbst und zum Verständnis ihrer Umwelt zu ermöglichen. Das Angebot orientierte sich sowohl an dem Lernverhalten von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung mit unterschiedlichen kognitiven Einschränkungen und psychosozialen Auffälligkeiten als auch mit organischen Erkrankungen. Dabei war eine große Heterogenität zu berücksichtigen. Gerade für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung ist es wichtig, dass sie nicht nur mit ihresgleichen konfrontiert und dadurch ausgegrenzt werden. So war beispielsweise bei der Projektarbeit am Übersee-Museum auffallend, dass über die Kommunikation von Menschen ohne Beeinträchtigung, auch im Sinne der Aktivierung 353 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
von Spiegelneuronen, veränderte Mitteilungsformen entwickelt werden konnten. Auf der neuronalen Grundlage der Spiegelneuronen können Gefühle allein durch Nachahmen von Gestik oder Mimik empfunden werden (vgl. Bauer 2008, S. 141). Zudem war es für die betreuenden Lehrpersonen und in der Sozialen Arbeit Tätigen eine bedeutsame Erfahrung, die Beeinträchtigten einmal ganz anders zu erleben, andere Interessen an ihnen zu entdecken u. ä. Dies vermochte ihre Arbeit und ihr Verhältnis zu den Beeinträchtigten neu zu befruchten (vgl. Döhner & Hampe 1992, S. 22 f.).
»Kunst als Überlebensmittel …« Gemeinsam Kunst betrachten und aktiv gestalten – ein Begleitprojekt für Hirntumorpatient*innen und deren Angehörige im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster 2011 brachte der Impuls einer Patientin, die im Hirntumorzentrum des Uniklinikums Münster behandelt wurde, ein in Deutschland einzigartiges Projekt auf den Weg. Womöglich angeregt durch die eigene Affinität zur Kunst und dem damit einhergehenden positiven Gefühl in Momenten der Begegnung ihr, mutmaßte die junge Patientin, dass die Beschäftigung mit Kunst, insbesondere Besuche im Museum, für Hirntumorpatient*innen wohltuend sein könnten (vgl. Wiewrodt 2018). Ihre behandelnde Psychoonkologin, Dorothee Wiewrodt, griff die Anregung mit der Aussicht auf Verbesserung des Wohlbefindens für die schwer Erkrankten gerne auf. Auf die intensiven Planungsgespräche zwischen den Mitarbeitenden des Hirntumorzentrums und des Kunstmuseums Pablo Picasso folgten sehr bald schon erste Ideen für ein rezeptiv-aktives Kunstkonzept für Patient*innen und deren Angehörige. In Begleitung der Kunstvermittlerin Britta Lauro, der Psychoonkologin Dorothee Wiewrodt und der Kunsttherapeutin Monika Wigger starteten dann im Herbst 2011 die ersten Besuchstermine. Infusionsständer, Katheterbeutel und Rollstühle wurden schnell zu einer Selbstverständlichkeit und erwiesen sich nicht als Hinderungsgrund für die Teilnahme an den Führungen. Für einige der Teilnehmenden war der Besuch im Kunstmuseum Pablo Picasso eine Premiere. Erstmalig in ihrem Leben kamen sie mit einem Kunstmuseum in Kontakt. Es ergab sich dadurch für alle Beteiligten eine besondere Atmosphäre. Museumserfahrene Teilnehmende wurden 354 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
durch den unverbildeten Blick und die unvermittelten spontanen Äußerungen der Erstbesuchenden zu den Kunstwerken neu berührt und die Erstbesuchenden ließen sich gerne von den Kenntnissen der Museumserfahrenen anregen. Die gemeinsame Kunstbetrachtung der jeweiligen aktuellen Ausstellung wurde anschließend durch einen aktiv gestalterischen Workshop im Atelier des Kunstmuseums Pablo Picasso ergänzt (Abb. 6). Hier konnten die Teilnehmenden kreativ durchstarten und selbst aktiv werden. Inspiriert durch die bevorzugten Techniken der Exponate wurden von der Kunstvermittlerin künstlerische Techniken aufgegriffen und vorgestellt. Dabei war die jeweilige Technik lediglich impulsgebend und konnte nach individuellen Vorstellungen, Wünschen und Möglichkeiten modifiziert werden. Die Vermutung der jungen Patientin, dass in dieser Weise konzipierte gemeinsame Museumbesuche für Patient*innen mit Hirntumor wohltuend sein könnte, war offensichtlich richtig. Vertraut werden mit Anderen, gemeinsame Treffen, gemeinsames Schauen, Austausch über das Gesehene und gemeinsames kreatives Tun trotz einer schweren onkologischen Erkrankung, erwies sich auf den ersten Blick als geeignetes Konzept. Die Nachfrage nach einer Fortsetzung eines solchen Angebots war bereits nach den ersten Veranstaltungen erfreulich hoch. Sicherlich nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass sowohl die behandelnde Psychoonkologin als auch die begleitende Kunsttherapeutin stets bei allen Veranstaltungen mit dabei sind. Die Rolle als Ärztin bzw. Kunsttherapeutin rückt dabei in den Hintergrund. Bei jeder Veranstaltung sind auch sie Teilnehmende wie alle anderen. Sie folgen den Führungen und probieren sich gestalterisch beim jeweiligen Praxisangebot aus. Allerdings sind sie immer als Ansprechpartnerinnen verfügbar. Um die Wirkfaktoren dieser erfolgsversprechenden Intervention zu ermitteln, lohnt es sich an dieser Stelle, spezifische Aspekte des Gruppenphänomens und der Kunst näher zu betrachten. Die Wurzeln der Psychologie des 19. Jahrhunderts sind zunächst fokussiert auf die individuellen Verhaltensweisen des Menschen. »In den 20er Jahren stellten die Forscher plötzlich fest, dass die individuellen Fähigkeiten sich bemerkenswert veränderten, sobald andere Personen anwesend sind« (Schmeer 2006, S. 11). Der Psychologe Kurt Levin (1890–1947), ein Zeitgenosse Sigmund Freuds, entwickelte den Aspekt dieser Gruppenphänomene intensiv weiter. »Wahrnehmung war für ihn nicht mehr etwas Passives, Objektives, Elementares, sondern 355 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
war ein aktiver Prozess, bei dem der Einzelne die objektiven Reize nach subjektiv vorhandenen ›Gestaltgesetzen‹ verarbeitete. Diese Situation beschrieb er als ›soziales Kraftfeld‹, als einen ›Lebensraum‹, der zu jedem Zeitpunkt eine eigene, subjektive Charakteristik hat« (Schmeer 2006, S. 11). Levin kam nicht mit fertigen Konzepten daher, sondern begab sich in die offene Situation der Begegnung in der Gruppe, wurde ein Teil des Prozesses und machte die Teilnehmenden / Klienten zu Experten in eigener Sache. Bezüglich der Weiterentwicklung des spezifischen musealen Gruppenangebots für Hirntumorpatienten könnte dieser Ansatz nach wie vor innovativ sein und den Teilnehmenden, Betroffenen und Angehörigen gleichermaßen eine Möglichkeit zur Ressourcenaktivierung und zur Bewältigung individueller akuter emotionaler Belastung bieten. Wie verhält es sich innerhalb dieses Konzeptes mit der Komponente Kunst? Ist Kunst überhaupt wichtig, wenn das Leben in Gefahr ist? »Die Beschäftigung mit Kunst und Kunstpsychologie könnte als Luxus aufgefasst werden, für den erst dann Zeit ist, wenn alle wichtigen Lebensprobleme bewältigt sind« (Schuster 2016, S. 24). Es existiert hingegen ein Wissen darum, dass Kunstwerke für Menschen gerade in Zeiten vieler Fragen und Zweifel hilfreich sein können und Möglichkeiten bieten, in einen inneren Dialog zu treten. Im christlichen Kontext kann beispielweise die Andacht vor einem Altarbild oder einer figürlichen Darstellung eines Engels oder anderen biblischen Figuren hilfreich, stärkend und klärend sein. In dieser konkreten Situation kann daher nicht von Luxus die Rede sein, sondern vielmehr von einem zutiefst menschlichen Bedürfnis nach einem Gegenüber. »Kunstbetrachtung und Kunstschaffen können zu Gipfelerlebnissen (peak experiences), Momenten des absoluten Glücks und des Gefühls der Einheit mit der umgebenden belebten und unbelebten Natur verhelfen und geleiten den Menschen in den Bereich der transzendenten Erfahrungen« (Schuster 2016, S. 25). Ist diese Aussicht nicht Grund genug für die weitere Etablierung entsprechender Angebote? Der fortlaufende Charakter des musealen Gruppenangebots mit den über das Jahr festgelegten Terminen strukturierte für viele Teilnehmende neben den Arzt-, Therapie- und Untersuchungsterminen den Kalender. »[…] die Termine stehen dick in meinem Kalender […], da bekommt man Inspiration!« (Zitat einer Patientin aus dem Film »Kunst als Lebensmittel« 2015). Die von der Patientin im Film be356 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
schriebene Qualität der »Inspiration« ist an dieser Stelle zwar eine einzelne subjektive Aussage, verweist allerdings noch einmal auf die bereits herausgearbeiteten Spezifika und den besonderen Nutzen dieses musealen Angebots für die Teilnehmenden. »Inspiration« bedeutet bildungssprachlich übersetzt u. a. »erhellende Idee«, »schöpferischer Einfall«, »Impuls«. Ergänzend dazu hat der Begriff in der Medizin die Bedeutung »das Einatmen«. Demnach gehören diese Parameter essentiell zum Leben jedes Menschen, ihre (Lebens-)Notwendigkeit steht daher außer Frage. Mittlerweile sind die einmal im Monat stattfindenden Museumsbesuche für Patient*innen und deren Familien und Angehörige etabliert und komplettieren eine Versorgung im Sinne einer ganzheitlichen Sichtweise.
Geschichtenerzählen und -gestalten mit Senioren im Kunstraum Alexander Bürkle in Freiburg – eine Brücke zwischen Vergessen und kreativem Neuanfang »Viele Farben. Schön, bunt, bunt und schön – die Farbe bunt. Sehr unterschiedliche Farben: Blau, Grün, Dunkelgrün, Rot und kein richtiges Rot, ein helleres. Weiß und Schwarz – ganz einfach bunt […].«
Dies ist die erste Passage einer gemeinsam assoziierten Geschichte, inspiriert durch die Betrachtung eines Werks des Künstlers Adrian Schiess. Die ersten Zeilen des Essays sind hinreichend genug, um ein Bild vor dem eigenen, inneren Auge entstehen lassen zu können: heiter, farbintensiv, nicht unbedingt gegenständlich. Vom 12. Februar bis zum 30. April 2017 waren Werke aus der Sammlung Schiess im Rahmen der Ausstellung »Blickwechsel« im Kunstraum Alexander Bürkle in Freiburg zu sehen. Die damit verbundene Geschichte entstand kurz vor Ende der Ausstellung, beim ersten Termin eines besonderen Kunstprojekts der Sammlung Paul Ege. In enger Kooperation mit den Expert*innen des Kunstraums, besonders mit der dort tätigen Kunsthistorikerin und Kunstvermittlerin Kathrin Gut-Hackmann, entwickelten Studierende des Studiengangs Heilpädagogik der Katholischen Hochschule Freiburg ein spezielles Angebot für Menschen mit Demenz, deren Angehörige und Begleitpersonen. Seitens der Hochschule begleiteten Henriette Schwarz und Monika Wigger die357 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
ses über ein Jahr terminierte Lehrforschungsprojekt. Die Idee für dieses Angebot knüpfte an die Projektarbeit von Karin Wilkening zu »Aufgeweckte Kunst-Geschichten« – Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise im Museum (2012–2015) im Kunsthaus Zürich an. Dem Ansatz von Karin Wilkening ging ab Herbst 2012 ein Multiplikatoren-Training in der Gerontopsychiatrie des Sanatoriums Kilchberg, die Suche nach Sponsoren, Kooperationspartnern sowie nach geeigneten Teilnehmenden für das Projekt mit entsprechenden Evaluationen und ein Vorlauf an verschiedenen Museen in der Schweiz voraus. Zugrunde liegt dieser Arbeit die »TimeSlips-Methode« (vgl. www.timeslips.org), die nach dem Vorbild vom Museum of Modern Art (MoMa) in New York übernommen worden ist. Es wird hierbei mit einer Gruppe von Menschen mit Demenz gearbeitet, in Anwesenheit von Betreuungspersonen, und zwar in einer validierenden Haltung auf der Basis offener Fragen zu einem mehrdeutigen konkreten Bild (Foto/Gemälde) aus der Sammlung des Museums. In dem Zusammenhang geht es um die Motivierung zu einer gemeinsamen Bildergeschichte aus dem assoziativen Lebenshorizont bezogen auf das jeweilige Bild mit Themenfindungen, ohne auf kunsthistorische Besonderheiten Bezug zu nehmen. Die Aussagen werden wörtlich notiert und präsentiert (vgl. Basting 2009). Parallelen dazu sind bei Kindern zu finden, die auf ein Bild ihrer Wahl Bezug nehmen, und zwar ausgehend von ihrer inneren Betroffenheit und fantasievollen Auskleidung des Gesehenen in der Projektion eigener Erlebnisinhalte, wie es jeweils in den art-Magazinen anhand eines Lieblingsbildes von einem Kind vorgestellt wird (vgl. v. Schwerin 2017, S. 146). Die Ansatzpunkte der TimeSlips-Methode sind auf die Probleme der Demenz bezogen. Diese zeigen sich durch zunehmende Gedächtnis-, Sprachverständnis- und Wortfindungsprobleme und einer Diskrepanz von Selbst- und Fremdbild mit häufigem Verlust der Orientierung. Für die Betreuenden können diese Probleme extrem belastend sein und zur Abnahme freudvoller Gemeinsamkeiten und sozialen Rückzug führen. Hingegen ist diese Methode auf Ressourcen der dementiellen Teilnehmenden bezogen: auf ihre Kreativität, Emotionalität, Spontanität, Offenheit, Neugierde und Entdeckerfreude, auf die erlebte direkte Zuwendung, eine Entschleunigung im Miteinander und das Erleben im Hier und Jetzt. Die Durchführung erfolgte jeweils wöchentlich an regulären Öffnungszeiten des Museums mit dem gemeinsamen Geschichtenerfinden vor dem Bild. Es 358 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
folgte ein Sitzungsabschluss mittels eines entspannten Aperos im Museumsbereich und der Gelegenheit, soziale Kontakte knüpfen zu können. Die Gesamtdauer betrug circa zwei Stunden. Anders verhält es sich im MoMa in New York (vgl. www.moma.org/meetme/prac tice/index), wo die TimeSlips-Methode mit an Demenz erkrankten Teilnehmenden mit Angehörigen und / oder Betreuungspersonen außerhalb der Öffnungszeiten erfolgt, und wo zum Abschluss der Sitzungen auch auf den kunsthistorischen Kontext der betrachteten Kunstobjekte eingegangen wird. Was über die Evaluation des Züricher Modells festgestellt wurde, ist eine Verbesserung der Stimmung, der Konzentrationsfähigkeit, der kommunikativen Fähigkeiten sowie des Selbstwertes bei Menschen mit Demenz durch die Sitzungen im Museum. Es wurde auch eine Verstärkung positiver Interaktionen zwischen Angehörigen und Betreuten in den Tagen nach der Sitzung sowie eine signifikante Einstellungsänderung zur Demenz bei Freiwilligen festgestellt, mit erhöhter Nachfrage und Akzeptanz des Angebots der Museen bei Alterseinrichtungen im Sinne eines Barriere-Abbaus (vgl. Oppikofer, Nieke & Wilkening 2015). Ausgehend von diesen Forschungsergebnissen wurde im Rahmen des Lehrforschungsprojektes an der Katholischen Hochschule Freiburg eine Abwandlung der TimeSlips-Methode vorgenommen. Deutliche Unterschiede waren dabei, dass vor allem abstrakte und ungegenständliche Ausstellungsbilder bzw. -objekte ausgewählt wurden und der Kunstrezeption immer eine gestalterische Aktion folgte (Abb. 7). In der hier angewandten Methode der Kunstbetrachtung ging es besonders um die Initiierung eines Erzählraumes im Sinne einer assoziativen Fantasieerzählung zum vorgestellten Kunstobjekt durch zwei studentische Moderierende mittels offener Fragen, einer validierenden Haltung und verstärkten Wiederholungen. Eine gemeinsame Titelfindung stand am Abschluss, wobei das Gesagte von zwei Studierenden parallel protokolliert wurde und im zwischenzeitlichen sowie abschließenden Vorlesen des Gesagten in Form einer Geschichtenerzählung einen Resonanzraum schaffte. Diese gemeinsam erfundene Geschichte wurde inklusive eines Fotos der Erzählsituation vor dem Werk zur nächsten Sitzung als gefalteter Ausdruck auf Din-A4-Papier den Teilnehmenden mitgebracht bzw. zu Beginn der Sitzung als Erinnerungsbrücke vorgelesen. Ergänzend zu dem assoziativen Austausch vor den Kunstobjekten erfolgte immer eine Ge-
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
staltungseinheit, in der passend zum Gesehenen gemalt, gezeichnet oder gestaltet wurde. Mittels Assistenz der Studierenden oder Begleitpersonen konnte Gesehenes in ein eigenes Bild oder Objekt umgesetzt werden. Die praktische Intervention knüpfte dabei an formale Gegebenheiten, Techniken oder Materialienqualitäten des jeweiligen Werkes an. Da Kunstrezeption kein passiver Vorgang, sondern anregend für das Sinneserleben sowie für kreative und kognitive Verarbeitungsprozesse ist, komplettierte der aktive Teil in dieser Hinsicht das neu kreierte Setting. In dem Zusammenhang kann u. a. nach möglichen Wirkfaktoren des Bildhaften aus Beobachtungen der kunsttherapeutischen Praxis differenziert werden. Besonders der Aspekt des Erinnerns und Reaktivierens ist hinweisend für die Kombination eines rezeptiv-aktiven Angebots. »Sinnlich-ästhetische Gestaltungsvorgänge können Parallelen zu Tätigkeiten in früheren Lebensphasen aufweisen […]« (Pöppel 2015, S. 167). Mit dieser Vorgehensweise – in Anlehnung an die TimeSlipsMethode (nach Anne Basting 2009) – können Gedächtnis- und Wortfindungsprobleme in der Arbeit mit dementiellen Senior*innen kompensiert werden, und zwar durch die Wiederholung des Geäußerten sowie die Wertschätzung, die eine Verschriftlichung vermittelt. Zudem wird ein Erlebnisraum mit den Angehörigen und Begleitpersonen geschaffen, der ein freudvolles Miteinander stützt. Dies kann zu einer Verbesserung der Lebensqualität beitragen und wurde – neben anderen Aspekten – auch in der Untersuchung von Karin Wilkening bestätigt. Dazu exemplarisch die Wiedergabe der erfundenen Geschichte zu dem Werk von Ingo Meller in der Ausstellung »Für die Ewigkeit – Archivarische Strategien in der Kunst«, entstanden im Lehrforschungsprojekt (Abb. 8):
Der Anfang ist gemacht – morgen mache ich weiter Ich habe mich ganz von Anfang an gefragt, wie es von Nahem aussieht, habe mich aber bewusst dagegen entschieden, da es sonst zu viel Farbe werden kann. 360 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
Blau ist doch die einzige richtige Farbe, die da ist. Ich würde noch ein paar andere Farben drauf machen, ich weiß es noch nicht, aber bunter. Ein gutes Rot und Weiß, zwischendurch auch ein bisschen Grau, Grün und ein kleines bisschen Lila – Lila ist sowieso, was ich mag. Nehmen wir es, wie es ist. Das schaut so aus, als wenn es in Wasser getaucht wär. Wie Wasser, wenn es irgendwo von der Höhe runterkommt. Ich seh nicht alles als Wasser. Es erinnert mich an den Hausbau, ans Verputzen einer Wand. Ich stell mir jetzt vor, ein Handwerker, der das so mit seiner Kelle hinschmeißt und es dann verstreicht – so ordentlich draufklatscht. Ich war so sechs Jahre alt, da wollte ich auch mithelfen, das war nicht immer recht, aber Spaß gemacht hat es – ein bisschen gemalt. Immer wieder Neues, man kann ewig drauf schauen. Morgen mach ich weiter – wir kommen wieder.
Ausblick In der museumspädagogischen Praxis sind in den letzten Jahren immer mehr Konzepte entwickelt worden, um kulturelle Teilhabe ermöglichen und ein Miteinander gestalten zu können. Es erfordert besondere konzeptionelle Vorgaben, die es im Rahmen der museumspädagogischen Praxis zu erarbeiten gilt bzw. die auch gemeinsam mit den Beteiligten und den Institutionen entwickelt werden können. In dem Zusammenhang geht es um die Öffnung der Bildungsinstitution Museum für alle als Ort des kulturellen Miteinanders. In der Kombination von Kunstrezeption mit gestalterischen Angeboten wird eine nachhaltige Verinnerlichung des Erlebten ermöglicht. Die vorgestellten Methoden eignen sich auch für andere Besuchergruppen 361 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
im musealen Raum im Sinne einer Herangehensweise an das Wahrgenommene über projizierende und assoziative Ausschmückung, ausgehend von dem eigenen Alltagswissen. Kunst- und kulturwissenschaftliches Kontextwissen ist nicht unbedingt erforderlich, sondern die Schaffung eines Zugangs aus der persönlichen Betroffenheit unter Einbeziehung von Assistenz in der Begleitung. Wesentlich in der museumpädagogischen Arbeit sind das gemeinsame Erleben am Ausstellungsort und das Entstehen eines emotionalen Resonanzbezuges zu den Ausstellungsobjekten. Das Angebot von praktischen Gestaltungseinheiten im Nachhinein schafft zudem eine Stimulierung basaler Sinnesformen im Fühlen, Ertasten, rhythmischen Gestalten, aber auch im Rahmen des gustatorischen Erlebens im gemeinsamen Miteinander. Projektmodelle bestehen am Städel Museum Frankfurt a. M. mit dem ARTEMIS-Programm für Menschen mit Demenz oder auch an der Hamburger Kunsthalle sowie am Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg (vgl. Ganß, Kastner & Sinapius 2016), um nur einige innovative Forschungsansätze zu nennen. Es geht allgemein um die Einbeziehung breiter Bevölkerungsgruppen über die Entwicklung einer Vielschichtigkeit von Angebotsformen. Der Einbindung von gestalterischen Umsetzungsformen in Ergänzung zur rezeptiven Kunstbetrachtung kommt dabei eine besondere Bedeutung in der Verankerung des Erlebten zu. Damit wird eine Nachhaltigkeit der Angebotsformen erwirkt. Verschiedene Studien belegen sowohl eine präventive als auch intervenierende Wirkung auf die jeweilige Beeinträchtigung bzw. eine Verbesserung des Zustandsbildes sowie eine tendenzielle Zunahme an Lebensqualität von Betroffenen – auch in Bezug auf ihre Angehörigen.
Literatur Anstalt Stetten (Hrsg.) (1987). Künstler aus Stetten. Stuttgart: Dr. Cantz’sche Druckerei. Basting, A. (2009). Forget Memory. Creating better lives for people with dementia. Baltimore: John Hopkins (deutsch 2012. Das Vergessen vergessen. Bern: Huber). Bauer, J. (2008). Warum ich fühle, was Du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneuronen. München: Hoffman und Campe. Baumann, U. (Hrsg.) (1991). La TINAIA. Zürich: Baumann & Stromer.
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Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis Blaumeier-Atelier e. V. (Hrsg.) (2014). HimmelHölleLiebeTod. Bremen: Blaumeier-Atelier. Boulangé, L. (1987): Art et Handicap Mental, Liège: Créham. Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig Behinderte e. V. (Hrsg.) (1984). Wir haben Euch etwas zu sagen. Katalog. München. Centre de Réadaption Capellen: & Dann (1983). Das Capellenprojekt, Luxemburg. Fricke, J. & Thoma, P. (Hrsg.) (1987). LebensZeichen. Bilder aus der Psychiatrie. Braunschweig: Hinz & Kunst. Fritsch, T. et al. (2009). Impact of TimeSlips, a Creative Expression Intervention Program, on Nursing Home Residents With Dementia and their Caregivers. In: The Gerontologist. 49 (1), 117–127. Fuchs, Th. (2004). Das Gehirn, ein Beziehungsorgan. Stuttgart: Kohlhammer. Ganß, M. (2009). Demenz-Kunst und Kunsttherapie. Künstlerisches Gestalten zwischen Genius und Defizit. Frankfurt: Mabuse. Ganß, M., Kastner, S. & Sinapius, P. (2016). Kunstvermittlung für Menschen mit Demenz – Kernpunkte einer Didaktik. Hamburg, Potsdam, Berlin: HPB University Press. Gercke, H. & Jarchov, I. (1980). Die Prinzhornsammlung. Königstein/Ts.: Athenäum. Hampe, R. & Döhner, O. (1992). Eine Projektarbeit am Übersee-Museum Bremen zum Thema: »Ich und Du – leben wie in Afrika?«. In: Übersee-Museum (Hrsg.). Ich und Du – leben wie in Afrika? Bremen. Übersee-Museum. S. 7– 24. Hampe, R. (1992). Erfahrungen aus der ästhetischen Praxis mit der Schülergruppe. In: Übersee-Museum Bremen (Hrsg.) (1992). Ich und Du – leben wie in Afrika? Bremen: Übersee-Museum. S. 25–54. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH (2016). TOUCHDOWN. Die Geschichte des Down-Syndroms. Bonn: bpb. Kunsthaus Kannen (Hrsg.) (1993). Das Haus Kannen. Münster: AlexianerKrankenhaus. Kunstverein Hannover (Hrsg.) (1983). Zwischen Kunst und Psychiatrie. Hannover. Landesamt für Weiterbildung Bremen (Hrsg.) (1986). Kreatives Arbeiten mit Arbeitslosen. Bremen: Eigendruck. Loizeau, A., Kündig, Y. & Oppikofer, S. (2015). »Awakened Art Stories« – Rediscovering pictures by persons living with dementia utilising TimeSlips: A pilot Study. In: Geriatric Mental Health Care (3). 13–20. Musée d’Art Moderne (1978). Les Singuliers de l’ART, Katalog, Paris: l’ARC. Navratil, L. (1983). Die Künstler aus Gugging. Berlin/Wien: Medusa. Neubauer, F. & de Groote, K. (2012). Auf Flügeln der Kunst. Ein Handbuch zur künstlerisch-kulturellen Praxis mit Menschen mit Demenz. BKJ: Kopaed. Oppikofer, S., Nieke, S. & Wilkening, K. (Hrsg.) (2015). Aufgeweckte Kunstgeschichten. Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise im Museum. Zürich: Universität Zürich, ZfG. Pöppel, S. (2015). Das therapeutische Potenzial der Kunstrezeption. Berlin: Logos Verlag.
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger Schmeer, G. (2006). Die Resonanzbildmethode – Visuelle Lernen in der Gruppe, Stuttgart: Klett-Cotta. Schuster, M. (2016). Wodurch Bilder wirken, Psychologie der Kunst. Köln: Dumont. Schwerin, A. v. (2017). Kinder erklären Kunst. In: art. 12. Hamburg: Gruner + Jahr GmbH & Co KG. Szeemann, H., Güterich, M. & von den Velden, K. et al. (1972). Befragung der Realität – Bildwelten heute. Katalog. Kassel/München. Übersee-Museum Bremen (Hrsg.) (1992). Ich und Du – leben wie in Afrika? Bremen: Übersee-Museum. Wiewrodt, D. (2018). »Kunst als Lebensmittel, Kunst als Überlebensmittel«. Ein Pilotprojekt zwischen der Neurochirurgie des Universitätsklinikums, dem Kunstmuseum Pablo Picasso und der Malwerkstatt Münster. In: Duncker, H., Hampe, R. & Wigger, M. (2018). Gestalten – Gesunden. Zur Salutogenese in den Künstlerischen Therapien. Freiburg: Karl Alber. S. 49–58.
Abbildungen
Abb. 1: Malen der Lieblingsfarbe, stehend
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Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
Abb. 2a: Selbstportrait auf Lieblingsfarbe
Abb. 2b: Selbstportrait auf Lieblingsfarbe
Abb. 2c: Selbstportrait auf Lieblingsfarbe
Abb. 2d: Selbstportrait auf Lieblingsfarbe
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
Abb. 3a: »Ein Schutz- oder Glücksschatz«, gemeinsames Gestalten und Vorstellung
Abb. 3b: »Ein Schutz- oder Glücksschatz«, gemeinsames Gestalten und Vorstellung
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Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
Abb. 4a: Workshop-Arbeiten
Abb. 4b: Workshop-Arbeiten
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
Abb. 4c: Workshop-Arbeiten
Abb. 5: Begrüßungs- und Abschlussritual mit Percussion-Instrumenten
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Teilhabe und Inklusion in der museumspädagogischen Praxis
Abb. 6: Ergebnisse aus der Picassowerkstatt (Foto: Monika Wigger)
Abb. 7: Ingo Meller »Für die Ewigkeit – Archivarische Strategien in der Kunst«, Szene aus der Projektarbeit im Kunstraum Alexander Bürkle (Foto: Johanna Nietert)
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Ruth Hampe, Henriette Schwarz & Monika Wigger
Abb. 8: Kunstvermittlung im Kunstmuseum Pablo Picasso (Foto: Micha Richter, Picasso Museum)
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Maren Heun
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« … Der lange Weg von der Exklusion zur Inklusion – Ein Werkstattbericht aus den Städtischen Museen Freiburg Abstract: Die Städtischen Museen Freiburg, ein Museumsverband aus fünf verschiedenen Häusern, widmen sich seit einigen Jahren verstärkt dem Thema Inklusion. Drei Jahre lang waren die Freiburger Museen an dem bundesweiten Projekt »Pilot Inklusion« beteiligt. Im Rahmen dieses Kooperationsprojektes wurden auch in Freiburg verschiedene Module entwickelt und in Ausstellungen integriert, die Menschen mit Behinderungen eine größere Teilhabe am kulturellen Leben der Stadt ermöglichen. In den letzten Jahren konnten so z. B. regelmäßige Führungen für Menschen mit verschiedenen Einschränkungen in das Veranstaltungsangebot aufgenommen werden. Im Rahmen der Ausstellungsdidaktik wurden verschiedene Formate erprobt, um die Zugänglichkeit zu den Ausstellungen der Museen auch für Menschen mit Einschränkungen zu garantieren. Diese Formate werden, so ist es geplant, in die Dauerausstellungen der Häuser implementiert.
Die Städtischen Museen Freiburg sind ein Museumsverband aus fünf verschiedenen Häusern: Das Augustinermuseum als das größte Haus, das Museum Natur und Mensch, das Museum für Neue Kunst, das Archäologische Museum Colombischlössle sowie das Museum für Stadtgeschichte. Unter der Federführung der Abteilung Kommunikation und Vermittlung unternehmen die Städtischen Museen viele Anstrengungen, um Häuser und Ausstellungen inklusiver zu gestalten. In diesem Zusammenhang sind die Städtischen Museen seit 2015 Teil des bundesweiten Pilotprojektes zum Thema Inklusion im Museum. Das Projekt wird von der Bundeskunsthalle geleitet. Gemeinsam mit der Klassik-Stiftung in Weimar und dem Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg wurden drei Jahre lang verschiedene Methoden und Möglichkeiten erprobt, Inklusion in Museen zu implementieren (Tellmann 2017). Die in diesem Zusammenhang durch-
371 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Maren Heun
geführten Projekte lagen sowohl im Bereich der personellen Vermittlung als auch in der Ausstellungsdidaktik. Im Bereich der personellen Vermittlung wurden einige Projekte neu initiiert, andere fortgeführt und das Angebot verstetigt. Die Städtischen Museen Freiburg bieten derzeit eine Führung für blinde und sehbehinderte Besucher*innen pro Quartal und eine Familienführung für diese Gruppe pro Halbjahr an. Diese Führungen sind inklusiv, d. h. sie sind öffentlich und sprechen nicht nur blinde und sehbehinderte, sondern auch sehr viele sehende Besucherinnen und Besucher an. Die konzipierten Veranstaltungen und Module wurden mit dem Beirat für Menschen mit Behinderungen der Stadt Freiburg, Pro Retina Freiburg e. V. sowie mit dem Studienzentrum für Blinde und Sehbehinderte in Karlsruhe erarbeitet (Zinsmaier 2017, S. 82). Weiterhin wird einmal pro Monat eine öffentliche Führung in einem der fünf Häuser von einer Gebärdensprachdolmetscherin begleitet. Die Konzepte dazu wurden auf der Grundlage mehrerer Workshops gemeinsam mit gehörlosen Menschen und einer Gebärdensprachdolmetscherin erarbeitet. Auch Menschen mit dementiellen Einschränkungen oder besonderen psychischen Dispositionen werden im Rahmen besonderer Projekte dazu eingeladen, sich die Ausstellungen der Städtischen Museen Freiburg entsprechend ihrer Bedürfnisse zu erschließen. In diesem Rahmen gab bzw. gibt es bereits Kooperationen mit unterschiedlichen Trägern und Vereinen (Zinsmaier 2017). Parallel dazu konnten mehrere Projekte im Bereich der Ausstellungsdidaktik realisiert werden. So verfügte zum Beispiel die Ausstellung »Baustelle Gotik«, welche 2013–2014 im Augustinermuseum in Freiburg zu sehen war, über eine große Bandbreite an Hands-On-Stationen, die von vielen Besucherinnen und Besuchern genutzt wurden. Die taktilen Objekte sprachen nicht nur Besucherinnen und Besucher mit Sehbehinderungen an, sondern auch Gäste mit geistigen Einschränkungen oder auch Besuchergruppen aus Reha-Zentren, in denen verschiedene psychische Erkrankungen therapiert werden. Möglicherweise erlaubte der taktile Zugang eine unmittelbare, intensivere Beschäftigung mit dem Thema. In Rahmen der Ausstellung »Hans Baldung Grien. Holzschnitte«, sie war 2016/17 im Haus der Graphischen Sammlung zu sehen, wurden einige Holzschnittdrucke des Künstlers in dreidimensionale Objekte umgesetzt. Diese wurden jeweils mit einer Hörstation kombiniert, die das Dargestellte beschrieb und kunsthistorische sowie kulturelle Hintergründe lieferte (Abb. 1). 372 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« …
Die Ausstellung »Freiburg sammelt. Erinnerungen für morgen« war 2018 im Museum für Stadtgeschichte zu sehen. Das partizipative Format wird Freiburger Sammlerinnen und Sammler genauso zu Wort kommen lassen wie neue und alteingesessene Freiburger Bürgerinnen und Bürger. Ziel der Ausstellung ist es u. a., die jüngste Stadtgeschichte aus mehreren Perspektiven zu erzählen und zu hinterfragen. Die Städtischen Museen Freiburg versprechen sich davon neben anderem einen Reigen an multiperspektivischen Sichtweisen auf ein und dasselbe Ereignis. Die Erfahrungen aus den genannten Projekten fließen schrittweise in neue Sonderausstellungen, aber auch in neu konzipierte Dauerausstellungen ein. Durch den Neubau des Augustinermuseums in Freiburg, welcher 2020 abgeschlossen sein wird, bietet sich die Chance, die Ausstellungen der Städtischen Museen Freiburg im Bereich der Inklusion auf den Prüfstand zu stellen. Erste Erfolge konnten schon erzielt werden. Inklusion ist bei den Städtischen Museen Freiburg nicht nur eine Aufgabe der Abteilung Kommunikation und Vermittlung, die sich traditionell auf die Besucherinnen und Besucher fokussiert. Sie wird bei den Freiburger Museen mittlerweile in allen Bereichen von Anfang an mitgedacht. Der leitende Direktor der Städtischen Museen Freiburg trägt diese Entwicklung mit. Zudem können sich die Museen dadurch, dass sie als städtische Einrichtungen auf die Infrastrukturen der Stadt zurückgreifen können, auf eine breite Expertise städtischer Akteure und Gremien stützen (Heun & Metzger 2017).
Literatur Heun, M. & Metzger, F. (2017). Wege zur Inklusion in deutschen Museen. In: Tellmann, B. (Hrsg.). Pilot Inklusion. Module und Prozesse für Inklusion im Museum. Abschlussdokumentation des Förderprojektes »Entwicklung eines modularen Vermittlungskonzeptes zu inklusiver Bildung im Museum (2015– 2017)«. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. S. 97–110. Tellmann, B. (Hrsg.) (2017). Pilot Inklusion. Module und Prozesse für Inklusion im Museum. Abschlussdokumentation des Förderprojektes »Entwicklung eines modularen Vermittlungskonzeptes zu inklusiver Bildung im Museum
373 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Maren Heun (2015–2017)«. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. Zinsmaier, A. (2017). Augustinermuseum Freiburg. Vielfalt ist das Ziel. In: Tellmann, B. (Hrsg.). Pilot Inklusion. Module und Prozesse für Inklusion im Museum. Abschlussdokumentation des Förderprojektes »Entwicklung eines modularen Vermittlungskonzeptes zu inklusiver Bildung im Museum (2015– 2017)«. Bonn: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH. S. 79–88.
Abbildung
Abb. 1: Hans Baldung Grien. Holzschnitte, 17. 09. 2016 – 15. 01. 2017. Darstellung des heiligen Simon (um 1519) als dreidimensionales Tastobjekt mit Hörstation, Foto: Rita Eggstein
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Jochen Schmauck-Langer
Einfach schauen – Teilhabe-orientierte Vermittlung im Museum. Ein Erfahrungsbericht Abstract: Der Autor geht davon aus, dass eine Teilhabe-orientierte Vermittlung Menschen mit kognitiven, psychischen oder emotionalen Einschränkungen sowie Menschen mit nur wenig Erfahrung mit »Hochkultur« ein »Ankommen« im Museum ermöglicht. Besonders zentral für die Teilnehmenden ist die Chance, selbst etwas beitragen zu können – auf der Basis eigener Ressourcen, losgelöst von Krankheitsbild, Bildungsauftrag und Fachwissen. Das ästhetische und emotionale Erleben wird dabei mit eigenen lebensweltlichen Inhalten erschlossen.
»Nein, Bananen gab es damals noch nicht!« Ein historischer Marktplatz als starke Vergrößerung eines Kupferstichs aus dem 17. Jahrhundert. Zu sehen sind unterschiedlichste Waren und viele Menschen, die den Markt besuchen. Eine Gruppe von Vorschulkindern hat sich vor der Abbildung ausgebreitet. Die Museumspädagogin hatte gefragt, was es da alles zu kaufen gab, und ein kleines Mädchen war es, die den Mut hatte, sich im Stadtmuseum, einem öffentlich herausgehobenen Raum, zu melden: »Bananen!« Warum sagte sie nicht Äpfel? Oder Kartoffeln? Warum? Wir können es vermuten: Weil das Mädchen gerne Bananen isst; weil sie mit ihrer Mutter vielleicht ab und zu auf einem Wochenmarkt Bananen kaufen darf; weil das Teil der Lebenswelt ist, in der sie sich bewegt. Zufällig und beiläufig hatte ich die Szene miterlebt, die sich gewiss so oder ähnlich auch mit anderen Altersgruppen und anderen Sammlungen in vielen Museen wiederholt. Das Kind, ein Besucher traut sich, in einer ungewohnten Öffentlichkeit etwas von sich preiszugeben, was für die Person selbst unzweifelhaft scheint: Auf dem Markt kauft man Bananen! Die Kollegin hätte auch antworten können: »Ja, auf dem Markt kann man sehr gut Bananen kaufen.« Und dann vielleicht noch empathisch-neugierig: »Gehst Du mit deiner Mama oder deinem Papa auch manchmal Bananen auf dem Markt kaufen?« Das Mädchen hät375 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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te – wir nehmen es an – genickt und geantwortet: »Mit der Mama!« – Lebenswelt. Kollegen 1, die sich vor allem der Kunstgeschichte und einem »Bildungsauftrag« verpflichtet sehen, werden sich jetzt mit Grausen abwenden. »Teilhabe-orientierte Vermittlung«, wie ich sie hier skizzieren möchte, orientiert sich jedoch im Museumsraum weniger an solchen Metaebenen. Im Vordergrund stehen die kognitiven, psychischen und emotionalen Bedingungen, die Menschen ins Museum mitbringen.
Und die Hemmschwellen. Etwa keine oder keine nennenswerten Erfahrungen mit »Hochkultur« zu haben. Bei weit mehr als der Hälfte der Bevölkerung ist das so (vgl. Renz 2014, S. 25 f.). Oftmals verfügt diese Gruppe, die keineswegs als homogen zu betrachten ist, auch nicht über bestimmte formale Bildungsvoraussetzungen, die immer wieder im Kontext »normaler« Führungen mitschwingen. Will man diese Menschen teilhaben lassen an den wunderbaren ästhetischen Welten, die im Museum zu finden sind, muss man andere Wege gehen, um ein Ankommen zu ermöglichen. Ich möchte hier ein Vermittlungsmodell im Museumsraum vorstellen, das die auf kognitives Wissen ausgerichteten Bildungsprogramme nicht ersetzen soll. Es soll sie – für bestimmte Zielgruppen – vielmehr ergänzen. Das Modell hat sich aus jahrelangen Erfahrungen mit Führungen für Menschen mit Demenz entwickelt. In Kooperation mit dem Museumsdienst Köln und den beteiligten Museen sprechen wir Menschen mit Demenz sowohl in den drei wesentlichen Phasen der Erkrankung als auch in unterschiedlichen Sammlungen an: in Kunstmuseen wie dem Ludwig und dem Wallraf-Richartz, im Kölnischen Stadtmuseum, im Museum für Angewandte Kunst sowie im Museum für Ostasiatische Kunst; ferner auch im Kolumba. Die Erfahrung aus sehr vielen Führungen hat vor allem gezeigt, dass man ab einer bestimmten Phase einer Demenz nicht mehr mit einem sicheren Bildungskontext rechnen kann. Insofern war es für Der besseren Lesbarkeit wegen wird im ganzen Text nur die männliche Sprachform genutzt.
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Einfach schauen
dementia+art ein konsequenter Schritt, sich zunächst auf das zu beziehen, was für alle Beteiligten einer Besuchergruppe zu sehen ist: Einfach schauen 2. Vielleicht haben Sie innerlich schon abgewunken: »Einfach schauen« dümpelt wohl letztlich auf dem »Bananen-Niveau« dahin. Wenn Sie vor allem wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse weitergeben wollen, tun Sie Recht daran. Für einen Wissenstransfer wie bei der »klassischen« Bildungsvermittlung eignet sich die Teilhabe-orientierte Vermittlung nicht. Wenn Sie aber die Neugier und durchaus auch den Mut aufbringen, Lebenswelten mit ihren nur schwer kalkulierbaren Haltungen, Erinnerungen und Meinungen als das eigentliche konstitutionelle Element einer Vermittlung im Museumsraum zuzulassen, sind Sie bei der Teilhabe-orientierten Vermittlung richtig. In Aussicht stellen kann ich allen Beteiligten bei einem Gelingen der Begegnung mit ästhetischen Objekten eine nachhaltige soziale Erfahrung. Menschen mit Demenz etwa verinnerlichen mit dem Fortschreiten ihrer Krankheit häufig die Erfahrung, »ständig« und »schon wieder« etwas vergessen zu haben oder etwas nicht mehr zu können und somit »falsch« zu machen. Wir versuchen deshalb, durch eine geschickte Objektauswahl und eine lebensweltlich-orientierte Kommunikation verbliebene »Inseln des Selbst« (Andreas Kruse, Interview, 2016) bei diesen Führungen anzusteuern. Die Betroffenen sind sodann diejenigen, die mit ihren Ressourcen ein Bild oder Objekt mit (ihrem) Sinn und (ihrem) Leben füllen. Dabei gibt es kein »falsch«. Vielmehr bekommen Menschen mit Demenz Anerkennung und Wertschätzung. Anerkennung und Wertschätzung in einer Gruppe sind vermutlich für die meisten Menschen etwas Schönes – umso mehr, wenn ein neuer Ort, eine neue Situation noch ungewohnt sind. Mit geringen Modifikationen lässt sich Teilhabe-orientierte Vermittlung auch für andere Zielgruppen nutzen, etwa für Menschen mit psychischen und emotionalen Erkrankungen oder Krisen, für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Erwachsene. Und sie nimmt vor allem auch jene große Gruppe »bildungsferner« Menschen in den Blick.
Menschen mit Seheinschränkungen benötigen – wie auch bei anderen Vermittlungsformen – besondere Hilfehilfestellungen.
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Zum Setting Je Durchgang werden nur drei bis max. vier Objekte in den Blick genommen. Die Dauer beträgt 60 bis 90 Minuten. Es gibt kein weiteres »Regelwerk«, außer dass man die Objekte gemeinsam entdecken will und dass dabei die Erfahrungen und Meinungen der Besucher besonders willkommen sind. Es ist hilfreich, sich für diese Vermittlung von Kunst einige scheinbare Banalitäten wieder bewusst zu machen: Ein Gang durch die Kunstgeschichte zeigt, dass sich Kunst stets mit Menschen, ihren Lebensverhältnissen und Lebensräumen (einschließlich der inneren) auseinandergesetzt hat. Der weitaus größte Teil unserer gesamten Kommunikation wird durch unsere Emotionen gesteuert. Deren Ausdruck ist ebenfalls bestimmt durch emotional gesteuerte Körpersprache (Mimik, Gestik, Kinesik, Proxemik). Eine Teilhabe-orientierte Vermittlung nutzt diese Informationen aktiv als Leitgedanken sowohl für die Auswahl der Objekte als auch für die Vorbereitung der Kommunikation und letztlich für deren Gestaltung selbst. Die Besucher entdecken gemeinsam ein Kunstobjekt – auf der Basis dessen, was für alle zu sehen bzw. sinnlich zu erfahren ist. Diesen gemeinsamen Prozess tatsächlich zu ermöglichen, ist ebenso konstitutiv wie der Umstand, dass das (Kunst-)Objekt allein durch die jeweiligen Ressourcen, die Erfahrungen und Meinungen der Besucher erschlossen wird. Es gibt auch für andere Gruppen kein therapeutisches Setting, keine (auch keine impliziten) Leistungsanforderungen, keine Bewertung, keine Aufgabe, keinen »außerschulischen Lernort«. Nehmen wir ein Bild, das ich zunächst für Menschen mit Demenz ausgewählt hatte: »Mädchen am Fester« von Wilhelm Leibl (1899). Die äußeren Bedingungen von Barrierefreiheit wie die Zugänglichkeit, gute Sichtbarkeit etc. setze ich hier voraus. Die gedachte Gruppe von Menschen mit Demenz hat max. acht Betroffene und bis zu acht Begleiter. Das Durchschnittsalter ist deutlich über 80 Jahre. Die Gruppe wird mit freundlicher Einladung möglichst nah vor dem Bild aufgestellt. Eine gute Sichtbarkeit des Objektes und die Möglichkeit einer unmittelbaren Kontaktaufnahme zu den Betroffenen sind entscheidend.
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Einfach schauen
»Das ist das erste Bild, das ich Ihnen zeigen möchte: Schauen Sie mal, was da zu sehen ist …« »Eine Frau!« – »Eine Frau, ja! … Ist es eine ältere Frau?« Deutlicher Widerspruch: Es ist eine junge Frau, kein Zweifel. »Finden Sie, dass sie hübsch ist?« Die Gruppe schaut wieder – nun aber genauer – auf das fast lebensgroße Gemälde, auf dessen Details ich im Folgenden immer wieder mit orientierenden Gesten verweisen werde. »Ja, sehr hübsch!« Eine emotionale Bewertung, die sich schon auf dem Gesicht der alten Dame abgezeichnet hat. Ich gehe zu der Frau, die im Rollstuhl sitzt, begebe mich ein wenig in die Hocke – die Beweglichkeit ist strukturell angelegt; der Moderierende gibt immer wieder die »normale« Distanz auf, um einen persönlichen Kontakt herzustellen. Das jeweilige Maß variiert dabei je nach Zielgruppe. Ich nehme also Blickkontakt auf, um empathisch-neugierig zu fragen: »Sie finden die junge Frau hübsch: Was gefällt Ihnen an ihr besonders?« »Die Haare … und die Lippen.« »Ja, das finde ich auch. Vielen Dank! – Was sind das denn für Haare?« »Die sind rot!« Ich habe den Blick wieder freigegeben auf das Bild, um die Gruppe auf den Stand der Dinge zu bringen (»Update-Funktion«): »Frau X gefallen die roten Haare und die Lippen besonders gut … Geht es Ihnen auch so?« Wir sind jetzt wieder mitten im Kunstobjekt. Und die Gruppe vermag nun deutlich zu erkennen, dass ihre Meinungen dazu ernst genommen werden. Ich zeige auf den leuchtenden Haarschopf der jungen Frau. »Wie sagt man eigentlich im Rheinischen, wenn jemand so rote Haare hat?« Ein Mann hebt etwas unbeholfen den Arm und sagt genüsslich: »Fussisch!« Alle lachen. »Et fussisch Julche!«, schiebt er hinterher. Er war Schrotthändler und (wie ich später höre) noch nie im Museum. Die meisten kennen diese weibliche Tanzfigur aus dem rheinischen Karneval. Ich gehe etwas näher zu ihm hin. »Ja … Das haben Sie gut gesehen!« Eine Anerkennung, die wir vielleicht als Provokation ansehen würden, die jedoch für Menschen mit Demenz elementar wichtig ist. In der Folge tragen wir weitere Details zusammen. Falls der emotionale Kern des Bildes noch nicht angesprochen wurde, würde ich ihn als Moderierender nun ansteuern. Der emotionale Anteil unserer Kommunikation liegt wie bereits erwähnt sehr hoch. Ihr körper379 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
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sprachlicher Ausdruck ebenso. Beides nutze ich sowohl für die Objektauswahl als auch für die Vermittlung. »Geht es dieser jungen Frau eigentlich gut?«, frage ich also die kleine Gruppe. »Was meinen Sie?« Der Schrotthändler sagt: »Nee. Die schaut traurig aus! Ganz klar!« »Ja. Sie schaut so ernst … So als hätte sie Kummer.« Ich gehe zu der Dame, die weit über 80 ist und an ihrem Rollator sehr gebrechlich wirkt. »Verraten Sie mir, woran Sie das erkannt haben?« Wir tragen also zusammen: den Ausdruck von Traurigkeit und Melancholie in den Augen, verstärkt durch die Mundwinkel, die leichte Neigung des Kopfes, die hängenden Schultern … Solche körpersprachlichen Bedeutungen in Bezug zu ihrem emotionalen Gehalt zu dekodieren, erweist sich als eine gut verankerte Fähigkeit, die konkret immer wieder durch lebensweltliche Bezüge angereichert wird. Es ist ein Hin und Her zwischen (Kunst-)Objekt und dem Einzelnen sowie der Gruppe. Ein Prozess, bei dem in 15 bis 20 Minuten ein solches Bild gemeinsam entdeckt werden kann. Dabei haben wir uns auch der entscheidenden Frage genähert, warum diese Frau eigentlich traurig ist. Das Gemälde gibt eine Antwort darauf, wenn wir auf die Darstellung achten: die rechte Hand, die auf das Herz verweist; der Zeigefinger, der noch genauer auf eine Art Medaillon zeigt. … »Ja, früher war dergleichen häufig aufklappbar …« Natürlich möchte ich wissen, ob jemand in der Gruppe auch so ein Medaillon besessen und was man darin aufbewahrt hat. Die Antworten »ein Bild des Liebsten«, »eine Haarlocke« öffnen das ästhetische Objekt und geben ihm eine tiefere soziale Dimension. Dies gelingt, weil der Prozess des Entdeckens zugleich spürbar durch vergleichbare lebensweltlich-geprägte (Liebes-/Verlust-)Erfahrungen der Besucher angereichert wird. Dies als Moderierender sowohl anzusteuern als auch bewusst wertzuschätzen, ist für jede dieser Zielgruppen von entscheidender Bedeutung. »Ankommen« bedeutet hier, an einem Ort der »Hochkultur« mit seinen eigenen Ressourcen, Meinungen, Erfahrungen etwas beitragen zu können. Für Menschen mit Demenz ist es oftmals eine schöne Zeit, damit verbunden Glücksgefühle und ein Stück mehr an Lebensqualität, die wir anstreben. Für andere Gruppen, etwa bei »Kunst für die Seele« (vgl. Psychosoziale Umschau, 2017/3), unserem Projekt mit der Eckhard Busch Stiftung für Gruppen von Schülern und Erwachsenen mit 380 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Einfach schauen
psychischen Erkrankungen, stehen Anerkennung und Ermutigung sowie eine Steigerung des Selbstwertgefühls im Vordergrund. Die jeweilige Auswahl der Objekte ist dabei entscheidend für ein Gelingen: Die Objekte müssen ein Potential für »Teilhabe-Orientierung« haben, und der Moderierende muss für die geeignete Auswahl und die Aufbereitung der Möglichkeiten eines Objektes (die in eine Art von »roten Faden« eingehen können), sein ganzes Wissen und seinen gesamten Erfahrungshorizont einsetzen. Dabei stehen jene aus Kunstgeschichte, Geschichte oder anderen Wissenschaftsbereichen gespeisten Metaebenen eines herkömmlichem »Bildungsauftrags« nicht aktiv zur Verfügung. Vielmehr müssen die wesentlichen Aspekte des für alle Sichtbaren so aufgearbeitet werden, dass sie von den Besuchern selbst im Anklang an eigene Ressourcen erkannt werden können. Die Vermittlung ist die gleiche wie die für die Demenzgruppen skizzierte. Die Methode ist freilich flexibel und kann auf den jeweiligen Kommunikationslevel angepasst werden; stets in dem Bemühen, die Gruppe gemeinsam auf dem Stand der Dinge zu halten. Insofern ist der Moderierende niemals »neutral«: Er hält die Gruppe zusammen, hat aber auch eine Schutzfunktion dem Einzelnen gegenüber. Die Ähnlichkeit zu Methoden wie dialogischer, psychologischer, sinnlich-aktivierender Kommunikation wird deutlich. Aber auch die Unterschiede: Die Teilhabe-orientierte Vermittlung hat das Ziel, Besucher selbst in die Lage zu versetzen, unabhängig von (kunst-)historischen Aspekten ein Objekt zu erschließen, und verfolgt dies konsequent. Im Vorfeld bei der Planung und Vorbereitung, vor allem aber in der Auswahl der Objekte, spielen historische, kunsthistorische und andere Fachkenntnisse eine wichtige Rolle, selbst wenn diese in der Führung nicht augenscheinlich Anwendung erfahren. Die Begegnung mit den Museumsbesuchern steht im Vordergrund. Es ist eine Herausforderung für den Vermittler, eine Art roten Faden zu entwickeln. Dieser setzt sich aus zahlreichen Details eines Kunstobjekts zusammen. In der Führung werden diese situativ in einen Prozess überführt, bei dem die Besucher strukturell in die Lage versetzt werden sollen, selbst zu Ansichten des Bildes, des Objektes zu kommen. Der Museumsbegleiter gibt die Rolle des Bildungsvermittlers konsequent ab und übernimmt die Rolle eines Moderierenden. Insofern gehen auch wesentliche Elemente von Validation und lebensweltlicher Ausrichtung in die Kommunikation mit ein. 381 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Jochen Schmauck-Langer
Zudem ist die Objektauswahl entscheidend: Die Praxis zeigt, dass es in den Sammlungen sehr viele Objekte gibt, die nicht-Teilhabe-orientiert sind. Diese Auswahl stellt wohlgemerkt keine Abwertung eines Objektes in seinem künstlerischen Wert dar. Vielmehr ist sie eine notwendige Konsequenz, um bestimmte Zielgruppen nach dieser Methode ansprechen zu können und idealerweise ein Ankommen zu erreichen. In der Folge fallen bei Fortbildungen zur Teilhabeorientierten Vermittlung am Ende nicht selten Aussagen von Museumsmitarbeitern wie: »Ich fange an, meine eigene Sammlung mit ganz anderen Augen zu sehen!« Das setzt die souveräne Haltung eines Moderierenden voraus, der bereit ist, die Sicherung der eigenen Referentenrolle aufzugeben und sich auf eine Begegnung einzulassen, deren Verlauf und Ende ungewiss sind. Der sich zugleich aufrichtig empathisch-neugierig gegenüber den Beiträgen der Teilnehmer zeigt, der seinen kunsthistorisch-gespeisten roten Faden sogleich aus der Hand gibt, wenn sich situativ durch lebensweltlich geprägte Meinungen, Erinnerungen, Erfahrungen die Richtung der Bildbetrachtung ändert. Dieser Moderierende weiß um die Möglichkeiten eines Objekts und kehrt immer wieder zu den Aspekten zurück, die das Objekt noch bereithält.
Chancen Durch den Charakter der Vermittlung als ein Gespräch, bei dem jeder etwas beitragen kann, sind intensive soziale Erfahrungen mit ästhetischen Objekten in öffentlich herausgehobenen Räumen möglich. Möglich sind dabei auch eine Erhöhung von Lebensqualität (Menschen mit Demenz), ein Abbau von Hemmungen und damit eine Stärkung von Selbstbewusstsein (Menschen mit psychischen Einschränkungen), eine Vergewisserung der eigenen lebensweltlich geprägten Ressourcen (Menschen mit geringen Museumserfahrungen). Man kann eine solche Vermittlung als Vorstufe jener Bildungsangebote verstehen, wie sie heute von vielen Museen kompetent, engagiert und kreativ ermöglicht werden.
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Einfach schauen
Teilhabe-orientierte Vermittlung Museumsraum Aura / Ästhetisches Objekt Äußerlich: Potential barrierearm Innerlich: Teilhabeorientiert Auswahl Orientierung Lenkung
Gruppe Teilnehmer
Moderator empathisch, situativ, beweglich, neugierig
Lebenswelt Ressourcen Erinnerungen Erfahrungen Meinungen
Abb. 1: C: dementia+art
Literatur Renz, Th. (2014). Besuchsverhindernde Barrieren im Kulturbetrieb: In: Dokumentation der Tagung MIND THE GAP. Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung, am 09. und 10. Januar 2014 im Deutschen Theater in Berlin. PDF (https://www.unihildesheim.de/media/fb2/kulturpolitik/publikationen/Tagungsdokumenta tion_Mind_the_Gap_2014.pdf; abgerufen: 03. 02. 2018). Kruse, A. Interview mit A. Petry (21. 07. 2016) (http://www.durchblick-gesund heit.de/article/170085; abgerufen: 03. 02. 2018). Emsermann, T., Westphal, E.: Kunst für die Seele. In: Psychosoziale Umschau (2017/3), S. 51–52, PDF (https://www.eckhard-busch-stiftung.de/fileadmin/ 62eckbusch/medien/Presse/Presseartikel/2017/PSU_Kunst_fu__r_die_Seele. pdf; abgerufen: 03. 02. 2018).
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Beier, Anja. Dipl. Sozialpädagogin (B.A.), Dipl. Heilpädagogin (FH), grad. Kunsttherapeutin (DGKT), Leitung einer Praxisgemeinschaft für Heilpädagogik, künstlerische Therapien und integrative Hilfen in Freiburg, Leitung von heilpädagogisch-kunsttherapeutischen Schulgruppen, Dozentin an der Katholischen Hochschule Freiburg. Czech, Katja. Doktorandin, Studium Soziologie und Psychologie, Dipl. Kunsttherapeutin, Familienzentrum (IRIS-Regenbogenzentrum für Frauen und Familien). Dufern, Roger. Dr. phil., Dipl. Heilpädagoge, Anthrop. Kunsttherapeut (BVAKT) und Heilkundlicher Psychotherapeut (HPG), Soziologe, Gründer und Geschäftsführer der Praxisgemeinschaft für Heilpädagogik, künstlerische Therapien und integrative Hilfen (Zentrum Insel) in Freiburg, Gründer und Regionalleiter der Solidarkunst Solidargemeinschaft GbR sowie Vorstandsmitglied des Fördervereins HAWei e. V. für heilpädagogische Arbeit und künstlerische Therapien insbesondere in sozialen Brennpunkten. Duncker, Heinfried. Prof. Dr., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse. Engler, Anne. Dipl. Kunsttherapeutin (FH), Heilpädagogin M.A., mehrjährige Ausbildung in Hypno-Systemischer Therapie (MEG). Klinische Kunsttherapie (seit 1999) im Kontext Onkologie und Neurologie in Freiburg im Breisgau. Feil, Julian. Marketing- und Fundraising-Berater in Stuttgart, berät und begleitet Institutionen aus allen Social-Profit-Bereichen: Bildung, Kirche, Kultur, Gesundheit, Soziales, Sport und Umwelt. Lehr385 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
aufträge für Fundraising und Sozialmarketing an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, Seminare, Workshops und Vorträge an der Paritätischen Akademie Süd und in Süddeutschland. Feise-Mahnkopp, Patricia. Dr. phil. Juniorprofessur für Phänomenologie im bildungswissenschaftlichen Kontext an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaf in Alfter/Bonn. Ganter-Argast, Christiane. Dr. rer. soc. Dipl. Kunsttherapeutin (HkT Nürtingen), Dipl. Päd., seit 2005 Kunsttherapeutin in der Psychosomatik am Uniklinikum Tübingen. Hampe, Ruth. Prof. Dr. phil. habil. em., KH-Freiburg, grad. Kunsttherapeutin (DGKT), approb. Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin, Katathym-imaginative Psychotherapeutin (KIP), Kunst- und Kulturpsychologin, Pädagogin. Heun, Maren. Dr. phil. Kunsthistorikerin, Leiterin der Abteilung Kommunikation und Vermittlung bei den Städtischen Museen in Freiburg, Forschungsaufenthalte in Italien und den USA, Lehraufträge zum Thema Bildungsarbeit in Museen. Lorenz, Karin. Diplom-Psychologin & Kunsttherapeutin, mehrere Jahre als Kunsttherapeutin an der Primarschule Herrliberg, aktuell an der Privatklinik Hohenegg in Meilen am Zürichsee und im eigenen Atelier in Zürich als Kunsttherapeutin und Kreativberaterin tätig, Dozentin an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften im Departement Gesundheit sowie an der Katholischen Hochschule Freiburg und an der Sigmund-Freud-Universität Bregenz. Majer, Solveig. Heilpädagogin (B.A.), Zusatzqualifikation in Sport und Soziale Arbeit (SPOSA). Meinke, Britta. Dipl. Sozialpädagogin, Kunsttherapeutin (IAF), Heilpraktikerin für Psychotherapie, klientenzentrierte Gesprächsführung, Diakonisches Werk und Albert-Schweitzer-Förderschule in Kehl.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Menzen, Karl-Heinz. Prof. Dr. phil. em. Psychol. Psychotherapeut (approb. DE und AT), Lehrtherapeut für Kunsttherapie in der DGKT e. V., Leiter des Masterstudiengangs Kunsttherapie an der Sigmund Freud Universität Wien/Österreich. Müller, Rabea. Dr. Heilpädagogisch-kunsttherapeutische Praxis. Atelier ARTIG GmbH. Neyenhuys, Annette. Dipl. Kunsttherapeutin (FH), Kunsttherapeutische Fachberaterin für Psychotraumatologie (IKT-München), Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel, Medizinisch Therapeutische Dienste, Leitung der Ergo-, Kunst-, Musik- und Aromatherapie. Oepen, Renate. Dr. rer. medic. Kunsttherapeutin M.A. Kunst- und Wirtschaftspädagogin, Dipl.-Kauffrau, Personal Coach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte im Fachbereich Künstlerische Therapien & Therapiewissenschaften an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn. Leitung kunsttherapeutischer Projekte zur Burnoutprophylaxe. Schiltz, Lony. Dr. phil. Habil., klinische Psychologin, Leiterin der Forschungseinheit in Klinischer Psychologie (PCSA), Laboratoire de Psychologie clinique, Hôpital Kirchberg Luxemburg, Lehrkrankenhaus der Medizinischen Fakultät Mannheim (Universität Heidelberg). Leiterin des Aufbaustudiums in Kunsttherapie an der Universität Luxembourg. Schmauck-Langer, Jochen. Geisteswissenschaftliches Studium, Arbeit als belletristischer Autor, Qualifikation zur Alltagsbegleitung von Menschen mit Demenz, Kulturgeragoge, Geschäftsführer von dementia+art – Kultur für Menschen, Schwerpunkte: Kunst und Musik, Netzwerke, Weiterbildungen für die Bereiche Kultur, Pflege/Demenz, Schule und Sozialkultur. Schwarz, Henriette. Dr. phil., grad. Kunsttherapeutin (DFKGT), Hp., ECP, Leitung der Wissenschaftlichen Weiterbildung Kunsttherapie am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung der Katholischen Hochschule Freiburg, Dozentin und Supervisorin für Kunsttherapie, langjährige Tätigkeit als leitende Kunsttherapeutin in einer Klinik für Verhaltensmedizin. 387 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Sommer, Regina. Professionelle Geschichtenerzählerin, viele interkulturelle Schulprojekte, gründete 1996 »Das Haus der Märchen und Geschichten«, EU-Kulturprojekt »Seeing stories«, organisiert »Zwischen Zeiten«, das erste deutsche internationale Erzählfestival, board member von FEST (Federation of European Storytelling). Weber, Thorsten. Heilpädagoge (B.A.), Kunsttherapeut (DGKT), Heilerziehungspfleger, cand. Klinischer Heilpädagoge (M.A.), Leitung einer Therapeutischen Kinderwohngruppe in Homfeld, Gutachtentätigkeit im Rahmen der Hochschulentwicklung, AHPGS, Freiburg. Wichelhaus, Barbara. Univ.-Prof. Dr. i. R., bis 2007 Lehrstuhlinhaberin für Heilpädagogische Kunsterziehung/Kunsttherapie an der Universität zu Köln; danach bis 2011 Gastprofessorin im Masterstudiengang Kunsttherapie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter/Bonn; Mitherausgeberin von K+U von 1990– 2007; nationale und internationale Ausstellungen mit grafischen und plastischen Werken. Wigger, Monika. Prof. Dr. rer. medic., grad. Kunsttherapeutin, Heilpraktikerin, Psychotherapie und Grafikdesignerin. Seit 2014 Professorin für den Bereich Ästhetik und Kommunikation mit dem Schwerpunkt bildnerisches Gestalten und Leitung der wissenschaftlichen Weiterbildung »Kunsttherapie« am Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) an der KH Freiburg.
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Anhang
Beitrag von Barbara Wichelhaus, S. 69
Beitrag von Barbara Wichelhaus, S. 69
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Beitrag von Barbara Wichelhaus, S. 70
Beitrag von Barbara Wichelhaus, S. 70
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Beitrag von Katja Czech, S. 90
Beitrag von Katja Czech, S. 90
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Beitrag von Katja Czech, S. 91
392 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Beitrag von Roger Dufern, S. 99
Beitrag von Roger Dufern, S. 101
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Beitrag von Christiane Ganter-Argast, S. 149
Beitrag von Christiane Ganter-Argast, S. 151
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Beitrag von Christiane Ganter-Argast, S. 154
Beitrag von Rabea Müller, S. 175
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Beitrag von Rabea Müller, S. 175
Beitrag von Rabea Müller, S. 176
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Beitrag von Anja Beier, Thorsten Weber & Solveig Majer, S. 188
Beitrag von Anja Beier, Thorsten Weber & Solveig Majer, S. 191
Beitrag von Ruth Hampe, S. 240
Beitrag von Ruth Hampe, S. 241
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Beitrag von Ruth Hampe, S. 240
Beitrag von Ruth Hampe, S. 245
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Beitrag von Ruth Hampe, S. 250
Beitrag von Ruth Hampe, S. 251
399 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Beitrag von Ruth Hampe, S. 252
400 https://doi.org/10.5771/9783495818008 .
Beitrag von Britta Meinke, S. 281
Beitrag von Britta Meinke, S. 292
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Beitrag von Britta Meinke, S. 294
Beitrag von Britta Meinke, S. 294
Beitrag von Britta Meinke, S. 294
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Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 365
Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 365
Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 365
Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 365
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Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 369
Beitrag von Hampe, Schwarz & Wigger, S. 369
Beitrag von Maren Heun, S. 374
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