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German Pages 400 Year 2020
Susanne Henning Architektur wird plastisch
Architekturen | Band 54
Susanne Henning (Dipl. Ing. FH), geb. 1967, ist Architektin und Kunstpädagogin. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin lehrt und forscht sie im Bereich Kunstpädagogik des Faches Kunst an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind skulpturale Auseinandersetzungen mit gebauter Umwelt sowie skulpturales Handeln als Erkundung der Schnittstellen von Materialität und Medialität.
Susanne Henning
Architektur wird plastisch Skulpturales Handeln in architektonischen und künstlerischen Bildungskontexten
Dissertation an der Fakultät II Bildung – Architektur – Künste der Universität Siegen Gutachterinnen/Betreuerinnen der Promotion: Prof. Dr. Sara Hornäk und Prof. Dr. Susanne Hauser
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5012-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5012-3 https://doi.org/10.14361/9783839450123 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Einleitung | 7 Monika Sosnowska, The Tired Room (2005) | 11 1.1 Konzeptionelle Hintergründe von The Tired Room | 15 1.2 The Tired Room – Zwischen Ding und Zeichen | 16 1
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Synergien ästhetischer Erfahrungen in Skulptur und Architektur | 25
2.1 Ästhetische Erfahrung | 26 2.2 Erfahrungen der gebauten Umwelt als Gegenstand ästhetischer Erfahrungsprozesse | 40 2.3 Synergien zwischen ästhetischer Erfahrung und Architekturerfahrung | 111 3
Skulpturale Erweiterungstendenzen als Grundlage von Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen | 125
3.1 Skulpturale Erkundungsmöglichkeiten von Architektur im Sinne sozialen Handelns | 129 3.2 Skulpturale Raumbezügen als Basis von Erkundungen architektonischen Raums | 172 3.3 Skulpturale Perspektiven auf Architektur | 242 4
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen im Feld des Architektonischen | 251
4.1 Erfahrungs- und Erkenntnischancen skulpturaler Produktion zwischen Affirmation, Kritik und Transformation | 252 4.2 Bildungsverständnisse | 262 4.3 Bildungspotenziale ergebnisoffener Erkundungen architektonischer Zusammenhänge | 271
Architekturerfahrungen skulptural erkunden | 289 5.1 Skulpturales Handeln | 292 5.2 Formen des Machens und Werdenlassens in skulpturalen Prozessen | 293 5.3 Skulptural-handelnde Erkundungen des Architektonischen | 299 5.4 Elemente skulpturaler Erkundungsprozesse von Architekturerfahrungen | 311 5
Literatur | 365 Abbildungen | 391
Einleitung
Die Frage, welche Bildungschancen sich durch Prozesse skulpturalen Handelns, die in Lehr- und Lernkontexten entwickelt werden können, im Feld der Architektur eröffnen, kann an einer Schnittstelle zwischen baukultureller Bildung bzw. Architekturvermittlung und Kunstpädagogik verortet werden. Wenngleich diese Schnittstelle – oder vielmehr ein an seinen Grenzen verschwimmender Überschneidungsbereich – in der Praxis stark frequentiert wird, fehlt es diesem Kontext bislang an theoretischen Fundierungen. Das kann damit in Zusammenhang gebracht werden, dass zum einen die Forschungslage auf dem relativ jungen Gebiet der Architekturvermittlung insgesamt noch dünn ist1, zum anderen auch daran liegen, dass das Thema Architektur in der Kunstpädagogik einen Randbereich darstellt, der von dieser Seite, möglicherweise aufgrund fehlender Expertise, wenig erforscht wird. Ein für beide Seiten gleichermaßen relevanter Hintergrund eines Mangels an theoretischen Überlegungen hinsichtlich der Frage, wie Architektur künstlerisch erkundet werden kann, könnte darüber hinaus sein, dass sich in einer differenzierten diesbezüglichen Auseinandersetzung immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Kunst stellt. Hierdurch wird eine Betrachtung insofern erschwert, als das »unmögliche Verhältnis von Archi-
1
Vgl. Riklef Rambow: »Über Architekturvermittlung nachdenken. Ein Forschungskolloquium zur Architekturvermittlung«, in: Christina Budde (Hg.), Architektur ganztags. Spielräume für baukulturelle Bildung ; Dokumentation der Tagung im Deutschen Architekturmuseum 20./21. November 2013, München: kopaed 2014, S. 93-95, hier S. 93
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tektur und Kunst«2, über das auch in der Architekturphilosophie auf sehr unterschiedliche Weise nachgedacht wird3, als Spannungsfeld betrachtet werden kann. In einer genaueren Erforschung von Bildungschancen skulpturaler Erkundungen des Architektonischen wird deutlich, dass ein sinnvolles Agieren innerhalb dieses Spannungsfeldes vor allem dann möglich ist, wenn skulpturale und architektonische Bildungsprozesse in ihrer Reziprozität erkundet werden. Ein solches, die Unidirektionalität einer einseitigen Indienstnahme skulpturalen Handelns für eine architektonische Bildung überwindendes Vorgehen scheint erforderlich, sollen Parallelen, die u.a. aus dem besonderen Verhältnis von Architektur und Skulptur in ihrer Zugehörigkeit zu angewandter bzw. freier Kunst resultieren, ebenso erkennbar und produktiv werden wie Unterschiede. Der Hintergrund dieser Überlegung ist, dass in einer beobachtbaren Nähe von Architektur und Skulptur einerseits offenkundige didaktische Chancen liegen, andererseits aber auch die Gefahr der Begünstigung unklarer Architektur- und Skulpturbegriffe. Architektur ist nicht Skulptur und gerade auch dies zu erkennen, ist ein zentrales Ziel architektonischer Bildung. Gleichzeitig ist es für ein Verständnis von Kunst im Allgemeinen und Skulptur im Besonderen von Bedeutung, sie auch in ihrer Autonomie zu erkennen. Die für ein Verständnis beider Bereiche erforderliche Differenzierung der Begriffe von Architektur und Skulptur erscheint daher vor allem dann möglich, wenn skulpturales Handeln auch selbst zum Gegenstand der Erkenntnisgewinnung wird. Eine Betrachtungsweise, die eine solche Erschließung auf dem besonderen Verhältnis von Architektur und Skulptur beruhender Synergieeffekte ermöglicht, könnte darin bestehen, dass skulpturales Handeln als besonderer Zugang zu wahrgenommenen Wirklichkeiten in den Blick genommen, das Architektonische als ein Bereich gedacht wird, der in diesem Zugang erschlossen wird, in dem sich dieser Zugang aber auch gleichermaßen erschließt. Diese These soll im Rahmen der Arbeit geprüft werden. Erkundet wird dabei, welche Implikationen eine solche Perspektive für die Konzeption skulpturaler und architektonischer Bildungsprozesse mit sich bringt.
2
Tom Holert: »Mit dem Rücken zur Wand. Das unmögliche Verhältnis von Architektur und Kunst«, in: Texte zur Kunst (1994), S. 33-47
3
Architekturphilosophische Überlegungen, die die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Kunst betreffen, können z. B. hier nachgelesen werden: Christoph Baumberger (Hg.): Philosophie der Architektur. Grundlagentexte (= Band 10), Münster: mentis 2012
Einleitung | 9
Vorgehensweise Hierzu wird, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Monika Sosnowskas The Tired Room (2005), zunächst Synergieeffekten zwischen Wahrnehmungsund Erfahrungsmöglichkeiten der gebauten Umwelt und ästhetischen Erfahrungen im Kontext Produktion und Rezeption verbindender skulpturaler Prozesse nachgegangen. Dabei wird diese Arbeit als zeitgenössische Skulptur eines erweiterten Verständnisses hinsichtlich der sich anhand ihrer eröffnenden ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten, Reflexionsweisen und architekturrelevanten Erkenntnischancen sowie in Bezug auf ihr architekturkritisches Potenzial in den Blick genommen. Auf dieser Basis wird über Chancen nachgedacht, die ästhetische Erfahrungen in künstlerischen, insbesondere skulpturalen Kontexten bieten, um das Erleben der gebauten Umwelt zu erkunden. Unter zentraler Bezugnahme auf Überlegungen Martin Seels und Juliane Rebentischs wird zunächst ein ästhetischer Erfahrungsbegriff konturiert, der die Besonderheiten zeitgenössischer Kunst berücksichtigt. Architekturerfahrungen als mögliche Gegenstände ästhetischer Erfahrungen werden als im täglichen Umgang gesammelte Erfahrungen vor allem hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden, unbewusst oder teilbewusst verarbeiteten Wahrnehmungen eines beiläufigen Modus in ihrer Historizität in den Blick genommen. Einen Schwerpunkt bildet dabei eine phänomenologische Perspektive, die durch den Einbezug soziologischer und ökologischer Betrachtungsweisen erweitert wird. Werden Architekturerfahrungen in ästhetische Erfahrungsprozesse, die in der Produktion und Rezeption von Skulpturen in Gang gesetzt werden, einbezogen, können sie Gegenstand spezifisch ästhetischer Formen der Reflexion werden, die es ermöglichen, dem Erleben der gebauten Umwelt in seiner Komplexität nachzugehen. Ein hierdurch ermöglichtes Erkennen sozialer und kultureller Einflussfaktoren, die die Wahrnehmung moderieren, kann die Basis eines Nachdenkens über die reziproke Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft bilden. Weitere Erkenntnischance beruhen darauf, dass sowohl die Performativität der gebauten Umwelt als auch die eigene Performativität als Basis der Beziehung von Mensch und Architektur erfahren werden kann. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass die spezifischen Möglichkeiten der Bezugnahme auf Architektur und Architekturerfahrungen, über die zeitgenössische Skulpturen wie The Tired Room verfügen, skulpturalen Entwicklungen seit Beginn der Moderne geschuldet sind, werden diese Entwicklungen unter den Aspekten sich erweiternder Bezüge zu den Betrachterinnen und Betrachtern sowie zum Raum vorgestellt und im Hinblick auf sich damit ebenfalls erweiternde Chancen und intrinsische Motivationen zur Erkundung architektonischer Fragestellungen betrachtet. Auf diese Weise wird ein skulpturaler Zugang zur ge-
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bauten Umwelt in Bezug auf mögliche Strategien, Interessenschwerpunkte und Perspektiven konturiert. Nachgedacht wird dabei insbesondere über sich anhand seiner bietende Chancen des Erkennens reziproker Verbindungen zwischen der Materialität der Architektur, ihrer Wahrnehmung und ihren kulturellen und sozialen Bezügen sowie über sich auf der Basis eines solchen Erkennens eröffnende kritische und transformative Potenziale. Motiviert ist die Betrachtung einer sich entwickelnden Architekturaffinität des Skulpturalen vor allem auch dadurch, dass anhand ihrer gezeigt werden kann, inwiefern eine Auseinandersetzung mit skulpturalen Möglichkeiten der Bezugnahme auf architektonische Wirklichkeiten zu einem Verständnis zeitgenössischer skulpturaler Entwicklungen beitragen kann. Die Ergebnisse dieser – ungeachtet eines erkenntnisleitenden pädagogischen Interesses vor allem fachwissenschaftlichen – Auseinandersetzung, die ästhetische und architekturtheoretische Diskurse sowie kunstwissenschaftliche Perspektiven einbezieht, bilden die Grundlage pädagogischer und didaktischer Betrachtungen, in deren Kontext Überlegungen Sara Hornäks zu einem kunstpädagogischen Konzept Skulpturalen Handelns aufgegriffen und in Bezug auf Auseinandersetzungsmöglichkeiten mit Architekturerfahrungen spezifiziert werden. Hierzu werden zunächst die Bildungschancen eines skulptural handelnden Zugangs zur gebauten Umwelt reflektiert und mit Zielen der Kunstpädagogik sowie der Architekturvermittlung bzw. der baukulturellen Bildung verglichen. Überlegt wird dabei, inwiefern Bildungsprozesse, die auf der Basis kunstpädagogischer Konzeptionen initiiert werden können, Wege aufzeigen, um sowohl kunstpädagogische als auch baukulturelle Bildungsziele zu erreichen. Anschließend wird auf der Basis eigener Seminarkonzeptionen über didaktische Möglichkeiten nachgedacht, um im Umgang mit der gebauten Umwelt gesammelte Erfahrungen als Erkundungsfeld skulpturalen Handelns zu erschließen und skulpturale Prozesse zu initiieren, anhand derer Perspektiven auf Fragestellungen eines zeitgenössischen architektonischen Diskurses eröffnet werden.
1
Monika Sosnowska, The Tired Room (2005)
Abbildung 1: The Tired Room, 2005, 300 x 300 x 300 cm, bemalte MDF-Platte, Installationsansicht: Sigmund Freud Museum, Wien
Im Rahmen der Ausstellungsreihe Außenansichten fortgesetzt der SigmundFreud-Stiftung Wien zeigt Monika Sosnowska 2005 die Installation The Tired Room. Die Arbeit, mit der sie ein ehemaliges Ladenlokal bespielt, kann durch eine vorhandene, in vier Elemente gegliederte und eine gesamte Seite des für die Installation zur Verfügung stehenden Raumes umfassende Fensterkonstruktion betrachtet, jedoch nicht betreten werden. Das Fenster, durch das die Installation von der vor dem Gebäude liegenden Straße aus eingesehen werden kann, gibt
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allerdings nur zum Teil die Sicht in einen Innenraum frei, bei ungefähr der Hälfte der Fensterfläche endet der Blick dagegen unmittelbar oder knapp hinter der Scheibe auf einer grauen Fläche, die den sichtbaren Innenraum in unregelmäßigen geometrischen Formen begrenzt.
Abbildung 2: Monika Sosnowska, The Tired Room, 2005, Installationsansicht Sigmund Freud Museum Wien
Die von der Horizontalen und Vertikalen abweichenden Begrenzungen setzen sich in das Innere des Gebäudes weiter fort. Der durch sie gebildete Raum ist ein teils spitzwinkliges Vieleck, dessen Komplexität von links nach rechts zunimmt: In der linken Hälfte dieses Raumes, deren Form nur wenig von einem regelmäßigen Quader abweicht, herrschen größere Flächen vor. Zunehmend kleinflächiger und polygonaler werden die räumlichen Begrenzungen im rechten Bereich. Während die seitlichen und oberen Begrenzungsflächen, die aus MDF-Platten bestehen, dieselbe sehr helle oder weiße Farbigkeit aufweisen, haben die den unteren Raumabschluss bildenden Flächen die Farbe und Materialität hellen Holzes. An einer der linken, der Vertikale angenäherten Flächen besitzt der Raum eine fast rechteckige Öffnung. An der oberen Begrenzungsfläche ist unterhalb einer schräg in den Raum ragenden Stange eine leuchtende Kugel befestigt. Ein mögliches Ergebnis dieser Überlegungen beschreibt Monika Sosnowska folgendermaßen: »... die Türe lässt sich nicht schließen; beim Versuch sie zu zumachen, scheint sie nicht mehr in den Rahmen zu passen; sie kann weder ganz geöffnet noch vollständig geschlossen werden; zusätzlich wirkt sie leicht deformiert; der Boden ist ein wenig größer als die
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obere Kante; die Türschwelle ist breiter als der obere Rahmen. Vielleicht hängt das mit der sich leicht neigenden Wand zusammen. Aber ist die Wand schief, oder der Boden abschüssig? Einige sichtbare Ausbuchtungen an der Decke erzeugen eine auf den Kopf gestellte Hügellandschaft; drückt etwas von oben auf den Raum? Der Raum wirkt auch verkleinert; die Wände ziehen einander magnetisch an und rücken näher und näher...«1
Indem die Installation sich von der Ausrichtung an einem unsere architektonischen Raumvorstellungen bestimmenden dreidimensionalen Gitternetz löst, verliert die Wahrnehmung ihre gewohnten Bezugspunkte2. Die so bewirkte Irritation kommt in der von Monika Sosnowska beschriebenen Wirkung des Raumes deutlich zum Ausdruck: Eine eindeutige Festlegung, welche der Raumachsen von der gewohnten horizontalen oder vertikalen Ausrichtung abweicht, scheint nicht mehr möglich zu sein. Insofern der Raum sich auf diese Weise einerseits von alltäglichen Räumen unterscheidet, andererseits aber aufgrund wiedererkennbarer Elemente auf sie verweist, bewirkt er, dass Betrachtende seine Form als Ergebnis eines Prozesses wahrnehmen, in dem ein vorgestellter Ursprungszustand3 verändert wird. Die Veränderung wird als Verformung oder Deformierung interpretiert, als Einwirkung einer äußeren Kraft. Der destabilisiert erscheinende Raum erfüllt nicht mehr seine gewohnte Schutzfunktion und wirkt in seiner Alterität verunsichernd oder – unterstützt durch die dunklere Bereiche erzeugende Beleuchtungssituation – sogar unheimlich. Die hiermit einhergehende, dehabitualisierende Wirkung wird durch die Entfunktionalisierung der Tür, deren Form eine vollständige Öffnung und Schließung verhindert, verstärkt. Einen verunsichernden Effekt hat auch die schräg in den Raum ragende, vermeintlich hängende Lampe, die den Eindruck einer Außerkraftsetzung der Schwerkraft innerhalb des betrachteten Raumes erweckt. Hierdurch scheint eine weitere verlässliche Orientierungsgröße unserer Lebenswelt zu entfallen. Wie Adam Szymczyk darstellt, konfrontieren Verformungen als wiederkehrendes Moment in Monika Sosnowskas Schaffen Betrachtende mit der Instabilität ihrer eigenen psychischen Verfasstheit.4 In der Betrachtung von The Tired Room kommt es zu einer Einfühlung in die Situation des Raumes, der nicht mehr
1
Sigmund Freud Museum: Monika Sosnowska »The Tired Room«, Wien 2005,
2
Vgl. Adam Szymczyk: »The sound of its making. On the sculpture of Monika Sos-
http://www.freud-museum.at/online/pdf/Folder_Sosnowska.pdf vom 09.12.2016 nowska«, in: Monika Sosnowska/Adam Szymczyk/Heidi Zuckerman et al. (Hg.), Monika Sosnowska, Aspen, CO: Aspen Art Museum 2013, S. 106-115, hier S. 108 3
Vgl. ebd., S. 106
4
Ebd., S. 108
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in der Lage zu sein scheint, den Erwartungen, die wir an architektonische Räume stellen, gerecht zu werden. Gleichzeitig verweist die Spitzwinkligkeit der den Raum bildenden Flächen aufgrund der durch sie entstehenden dynamischen Wirkung auch auf den Versuch, sich gegen den äußeren Druck zur Wehr zu setzen. Die durch diese Einfühlung hervorgerufenen widerstreitenden Emotionen werden dem Raum zugeschrieben, sodass dieser als gleichermaßen architektonischer wie mentaler Raum erfahren wird. Die Müdigkeit, die der Titel als möglichen Hintergrund einer Schwächung des Raumes anbietet, kann als ein gleichermaßen psychisches wie physisches Phänomen betrachtet werden. Der somit durch den Titel implizierte und für die Betrachtenden deutlich wahrnehmbare Bezug zum Körper basiert darauf, dass der deformierende Druck, dem der Raum durch eine äußere Kraft ausgesetzt zu sein scheint, ebenso wie diese Kraft selbst, mitvollzogen werden. Da aufgrund der vertikalen Ausrichtung des menschlichen Körpers sowie der horizontalen Anordnung der Augen unsere räumliche Orientierung axial ausgerichtet ist, werden auch die dargestellten diesbezüglichen Abweichungen von The Tired Room in ihrer Bezogenheit auf den Körper der Betrachtenden wahrgenommen. Dadurch, dass der Raum ausschließlich durch die Fensterfront betrachtet werden kann, ist eine Perspektive und mit ihr eine Betrachtungsrichtung vorgegeben. Durch sie wird die von der linken Seite ausgehend zunehmende Verformung des Raumes als Prozess wahrgenommen, innerhalb dessen die Möglichkeiten, dem äußeren Druck zu widerstehen, zu schwinden scheinen. Aufgrund der dargestellten spezifischen Angebote an das Empathievermögen der Betrachtenden wird The Tired Room als Raum erfahren, der unmittelbar vor der Überschreitung der Grenze seiner physischen wie auch psychischen Belastbarkeit zu stehen scheint. Er befindet sich somit in einem Zustand, dessen Zurschaustellung Betrachtende, insbesondere dann, wenn es sich um zufällig Passierende handelt, nicht erwarten. Das eigene Interesse an einer Betrachtung der Installation, deren zunächst anziehende Wirkung durch ihre warme Beleuchtung noch gesteigert wird, kann bei genauerem Hinsehen als voyeuristisch empfunden werden. Auch hierdurch weicht der anheimelnde erste Eindruck dem Gefühl des Unheimlichen.
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1.1 KONZEPTIONELLE HINTERGRÜNDE VON THE TIRED ROOM In der Konzeption von The Tired Room setzt sich Monika Sosnowska mit den spezifischen Gegebenheiten der Ausstellungssituation von Außenansichten fortgesetzt auseinander. Bestimmt werden diese zum einen durch den zu bespielenden Raum, zum anderen durch die für alle innerhalb dieser Reihe eingeladenen internationalen Künstlerinnen und Künstler geltende Vorgabe, aktuelle künstlerische Bezüge zur Psychoanalyse herzustellen. Auf einen solchen Bezug weist Karol Sienkiewicz hin, wenn er Parallelen zwischen The Tired Room und szenografischen Elementen des Stummfilms Das Cabinet des Dr. Caligari (1919) aufzeigt5, die erkennen lassen, dass Monika Sosnowska Elemente einer expressionistischen Formensprache verwendet. Ebenso wie durch erkennbare Parallelen zu Kurt Schwitters Merzbau (1923) stellt sie auf diese Weise Bezüge zu künstlerischen Herangehensweisen her, die im zeitlichen Entstehungskontext der Psychoanalyse genutzt werden, um subjektives Erleben – im Film ist es das Erleben eines psychisch Kranken – zum Ausdruck zu bringen. Eine weitere Verbindung zu den Arbeiten Sigmund Freuds besteht nicht zuletzt im Moment des Unheimlichen, das in The Tired Room dadurch evoziert wird, dass zunächst zu einer Identifikation architektonischer Elemente eingeladen wird6. Reflexiv wird dieses Erleben, indem die daraus resultierenden Erwartungen unterlaufen werden. Ein »Interesse an dem Moment, in dem der architektonische Raum in einen mentalen Raum übergeht«7 ist für Monika Sosnowska jedoch nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem spezifischen Ausstellungskontext von The Tired Room von Bedeutung, sondern kann für ihr gesamtes bildhauerisches Schaffen als handlungsleitend erkannt werden. In ihren Installationen arbeitet sie einer-
5
Vgl. Karol Sienkiewicz: The Tired Room ‒ Monika Sosnowska | Architecture Cul-
6
Wie Sigmund Freud in seinem Aufsatz »Das Unheimliche« (1919) überlegt, kommt
ture.pl, http://culture.pl/en/work/the-tired-room-monika-sosnowska vom 10.02.2017 »das Unheimliche des Erlebens […] zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt erscheinen.« In Sigmund Freud: Studienausgabe, Frankfurt am Main: S. Fischer 2009, S. 271 7
Monika
Sosnowska,
zitiert
nach culture.pl: Monika Sosnowska, http://
culture.pl/en/artist/monika-sosnowska vom 09.07.2018. Eigene Übersetzung folgender Originalformulierung: »Sosnowska remarked that she was especially interested in the moments when architectural space begins to take on the characteristics of mental space.«
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seits mit der jeweiligen Ausstellungssituation in ihrer Räumlichkeit, verbindet dies jedoch mit einem Interesse an architektonischen Fragestellungen, die sich ihr in Auseinandersetzung mit dem größeren Kontext ihrer gebauten Umwelt stellen. Wie sie darstellt, versucht sie so »eine Psychoanalyse des Ortes«8, an dem sie lebt und stellt Verbindungen zwischen Räumen und Emotionen her9. Zentrale Referenzen sind dabei durch funktionalistische Architekturen geprägte Orte in ihrem Heimatland Polen, die ihre architektonische Sozialisation bestimmen, sowie ihr heutiger Wohnort Warschau, dessen rasanten Umbau sie in Zeiten des Postsozialismus beobachtet. In Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie in dieser Umbruchsituation negative sowie positive Entwicklungen der östlichen Moderne gleichermaßen getilgt werden, entwickelt sie die für eine Vielzahl ihrer Projekte zentrale Strategie der Deformierung und Entfunktionalisierung architektonischer Elemente, die auch für The Tired Room kennzeichnend ist. Insofern Monika Sosnowska Architektur in ihren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen betrachtet, bezieht sie eine gleichermaßen architektur- und gesellschaftskritische künstlerische Position10, die kontextspezifisch agiert, dabei jedoch immer auch in der eigenen Erfahrung ihren Ausgang nimmt: »Ich beobachte einfach meine Nachbarschaft. Ich bin inspiriert von dem, was ich aus dem Fenster sehe, von meinen persönlichen Erfahrungen.«11
1.2 THE TIRED ROOM – ZWISCHEN DING UND ZEICHEN 1.2.1 Unabschließbare Sinnproduktionen The Tired Room weist vielfältige Parallelen zu architektonischen Räumen auf, gibt sich aber als künstlerische Arbeit zu erkennen. Letzteres ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass der Raum im Rahmen einer Ausstellungssituation betrachtet wird. Das Wissen um diesen institutionellen Kontext kann von Anfang
8
Monika Sosnowska: »Ich versuche eine Psychoanalyse des Ortes, an dem ich lebe. Ein Gespräch mit Georg Imdahl«, in: Kunstforum International (Bd. 205, 2010), S.
218.
https://www.kunstforum.de/artikel/ich-versuche-eine-psychoanalyse-des-
ortes-an-dem-ich-lebe/ (31.07.18) 9
Vgl. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: »Presseinformation zur Ausstellung Monika Sosnowska, Ohne Titel (2010) im K21 Düsseldorf vom 24.04.2010-15.04.2012«, hier S. 2
10 Vgl. ebd. 11 M. Sosnowska: Ich versuche eine Psychoanalyse des Ortes, an dem ich lebe, S. 218
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an in die Betrachtung einfließen, wenn Betrachtende den Ausstellungsort gezielt aufsuchen, um die Arbeit zu sehen. Es kann aber auch erst in der Betrachtung erworben werden, wenn die Suche nach Erklärungen den Blick auf den im oberen Bereich des Fensters unmittelbar auf die Glasscheibe aufgebrachten, relativ unscheinbaren und aus größerer Entfernung kaum ins Auge fallenden Schriftzug lenkt, der über den Namen der Künstlerin und den Titel der Arbeit informiert (s. Abb. 2). Auch ohne auf diese Weise als künstlerische Arbeit ausgewiesen zu werden, verweist The Tired Room allerdings durch werkimmanente Eigenschaften auf einen möglichen Kunststatus, indem sich Erwartungen, die durch seine offenkundigen Parallelen zu architektonischen Räumen aufgerufen werden, nicht erfüllen. So begünstigt die erhaltene Fensterfront des ehemaligen Ladenlokals zunächst eine Wahrnehmung als Schaufenster (Abb. 3).
Abbildung 3: The Tired Room, Ausstellungskontext Berggasse 19, Wien Von Schaufenstern wissen wir auf der Basis unserer architektonischen Sozialisation, dass sie uns einen Einblick in das Angebot des dazugehörigen Geschäfts bieten, das explizit dazu gedacht ist, von einer Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Dieser erste Eindruck wird bei näherer Betrachtung unterlaufen: Hinter dem Fenster können keinerlei Waren oder Hinweise auf angebotene Dienstleistungen erkannt werden. Vielmehr ist ein fast leerer Raum sichtbar, der aufgrund der für Wand, Boden, Decke und Tür verwendeten Materialien und deren Farbigkeit ebenso wie durch seine warme Beleuchtung Eigenschaften von privaten Wohnräumen besitzt. Zu dem hierdurch hervorgerufenen Impuls, den Blick von etwas abzuwenden, das möglicherweise doch nicht für die Blicke der Betrach-
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tenden bestimmt ist, tritt jedoch ein weiterer, sobald die besonderen Eigenschaften, die The Tired Room von einem gewohnten Zimmer unterscheiden, die Neugier wecken: Die als architektonisches Element identifizierbare Tür erweist sich bei genauerem Hinsehen als dysfunktional, räumliche Begrenzungen affirmieren zwar durch Materialität und Verarbeitung das aus der Architektur Bekannte, stellen dies jedoch in ihrer von der Vertikalität und Horizontalität abweichenden Struktur unmittelbar wieder in Frage. Selbst die aus der Erfahrung gewonnene Erkenntnis, dass Architektur den Gesetzen der Schwerkraft unterliegt, erscheint – in Betrachtung der Lampe – nicht mehr gesichert. Durch seine Parallelen zu einem architektonischen Raum und verstärkt durch seine Verortung innerhalb eines Gebäudes, dessen erkennbares Alter seine Dauerhaftigkeit verbürgt, wird an The Tired Room die für Architektur grundlegende Erwartung herangetragen, Schutz zu bieten. Diese Erwartung wird jedoch dadurch unterlaufen, dass der Raum nicht in der Lage zu sein scheint, Schutz zu bieten12, vielmehr sogar selbst schutzbedürftig wirkt. Unaufgelöst bleibt dieser Widerspruch insbesondere dadurch, dass der Raum nicht betreten werden kann, wodurch die Frage nach seiner Belastbarkeit für die Dauer der Betrachtung unbeantwortet bleibt. Der anheimelnde Eindruck, der sich einstellen kann, wenn The Tired Room zunächst als vertrauter Innenraum identifiziert wird, weicht einer Irritation: Der sich uns schutzlos darbietende Raum entspricht nicht einer erwarteten Norm, er ist den an ihn gestellten Anforderungen offensichtlich nicht gewachsen und befindet sich in einem derangierten und geschwächten Zustand13, der Empathie hervorruft, die Betrachtung aber zugleich als voyeuristisch, das Mitgefühl als übergriffig erscheinen lässt. Vertrautes und Fremdes, Wohnliches und Un-Heimliches14, architektonischer und mentaler Raum sind in der Betrachtung auf komplexe Weise ineinander verwoben, sodass die Pole der sich so eröffnenden Spannungsfelder in eine Wechselbeziehung treten, in der architektonische Gewissheiten und Erwartungen, Erfahrungen, auf denen sie basieren, sowie kontextuelle Faktoren reflexiv werden können.
12 Vgl. K. Sienkiewicz, The Tired Room – Monika Sosnowska 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd.: »Heimlich lurks behind unheimlich, like in the philosophy of Sigmund Freud. The room, which we expect to stay what it is and give us shelter, loses its basic features, changing in a horror-like manner into something not fit to live in, becoming dangerous and baleful.«
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Aus Sicht Juliane Rebentischs ist eine solche »Dynamik einander widerstreitender Sinnproduktionen und Sinnsubversionen«15 kennzeichnend für ästhetische Erfahrungen, die anhand von Werken der zeitgenössischen Kunst gemacht, die aber auch als strukturelles Merkmal jeglicher Kunst erkannt werden können: »Ästhetische Erfahrung sitzt nicht, wie der Erfahrungsbegriff vielleicht zunächst suggerieren mag, allein im Subjekt, sondern vollzieht sich in einem Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, der beide verwandelt: Das Objekt, indem es durch diesen Prozeß allererst ins Werk gesetzt: als Kunstwerk frei wird; das Subjekt, indem es in diesem Prozeß eine selbstreflexive Gestalt annimmt, der ihre eigene Bedeutungsproduktion im Modus des ästhetischen Scheins eigentümlich fremd entgegentritt, eine Gestalt mithin, die weder in terms einer das Kunstwerk intentional bestimmenden Aktivität noch aber in terms einer die Vorgaben des Kunstwerks bloß erleidenden Passivität richtig beschrieben wäre«.16
The Tired Room ermöglicht ästhetische Erfahrungen dieses Verständnisses durch seine »Verdopplung in Ding und Zeichen«17, indem die Arbeit aufgrund von Kontextbezügen und Bezügen zu Betrachtenden einerseits als Teil einer empirischen Faktizität betrachtet, andererseits außerhalb dieser verortet werden kann. Sie wird also insofern als dinghaft wahrgenommen, als sie auf der Basis ihrer phänomenalen Beschaffenheit Betrachtenden Anknüpfungspunkte bietet, um Eigenes an sie heranzutragen. Sie geht in dieser Dinghaftigkeit jedoch dadurch nicht auf, dass sie sich einer konsumierenden Verfügung entzieht, indem Sinnzuweisungen immer wieder in Frage gestellt und in einem unabschließbaren Prozess erneuert werden.18 Dadurch, dass eigene Erfahrungen in die Betrachtung einfließen, können Bezüge zur Lebenswelt der Betrachtenden hergestellt werden. Eine Besonderheit von The Tired Room ist in dieser Hinsicht, dass das Eigene, das in der Betrachtung an einer Sinnproduktion beteiligt ist, auf Erfahrungen, die im Umgang mit der gebauten Umwelt gesammelt werden, basiert. Ermöglicht wird dies durch
15 Juliane Rebentisch: »Autonomie? Autonomie! Ästhetische Erfahrung heute«, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.), Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit, Berlin 2006a, hier S. 4-5 16 Ebd., S. 5 17 Ebd., S. 4 18 Auf die anhand von The Tired Room vorgestellte »doppelte Existenzweise der Kunst« als Materialität und Zeichenhaftigkeit, verweist, unter Bezugnahme auf Martin Seel auch Ursula Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik. Bild Musik Sprache Körper (= Band 3084), Köln: Böhlau 2008, S. 74-75
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eine Architekturparallelität der Arbeit, die insbesondere ihrer Räumlichkeit und ›Gebautheit‹ geschuldet ist, bei der aber auch Betrachtungskontexte eine wichtige Rolle spielen. Dadurch, dass die auf Architekturerfahrungen basierenden Sinnproduktionen nicht affirmiert, sondern in veränderter Form zurückgespiegelt werden, werden diese Erfahrungen Teil eines ästhetischen Erfahrungsprozesses. 1.2.2 Architekturerfahrungen als Basis des Produktionsprozesses von The Tired Room Betrachtet man den Entstehungsprozess von The Tired Room, wird erkennbar, dass auch in diesen, ebenso wie in den Rezeptionsprozess, Wahrnehmungen und Erfahrungen der gebauten Umwelt einfließen. Wie bereits dargestellt, ist für Monika Sosnowska ein Interesse an der urbanen Welt, die sie aus ihrem Fenster sieht19, ein Ausgangspunkt skulpturalen Handelns. Die hier beobachteten Veränderungen materialer Strukturen werden in ihrer phänomenalen Beschaffenheit aufgegriffen und fließen in skulpturale Formfindungen ein. So können Eindrücke von Abrisssituationen Grundlage der Arbeit Concrete Ball (2008) werden, einer Betonkugel, deren Oberfläche durch das Hervortreten des Zuschlagstoffes Kies grob strukturiert ist und aus der rostende, verbogene Stahlstäbe unterschiedlicher Länge herausragen. In seiner Materialität und offensichtlichen Dysfunktionalität verweist Concrete Ball auf fragmentierte Betonelemente, die beim Abriss moderner Gebäude anfallen. Ebenso wie in einer Vielzahl von Arbeiten, die an deformierte architektonische Elemente erinnern, geht es Monika Sosnowska hier jedoch nicht lediglich um die Dokumentation ihre Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, sondern um deren genauere Erkundung, in deren Kontext sie architektursoziologische Hintergründe kritisch reflektiert20 sowie Räume im Hinblick auf Atmosphären und Gestimmtheiten untersucht, sie dem Versuch einer »Psychoanalyse«21 unterzieht.
19 Vgl. M. Sosnowska: Ich versuche eine Psycholanalyse des Ortes, an dem ich lebe, S. 218 20 Vgl. Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: Presseinformation zur Ausstellung Monika Sosnowska, S. 3 21 M. Sosnowska: Ich versuche eine Psychoanalyse des Ortes, an dem ich lebe, S. 218
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Abbildung 4: Monika Sosnowska, Concrete Ball, 2008. Installationsansicht: Mo nika Sosnowska, Andrea Zittel, 1:1, Schaulager Basel 2008
Indem sowohl Erfahrungen der phänomenalen Beschaffenheit einer auch von anderen wahrnehmbaren gebauten Umwelt als auch deren Reflexion im Hinblick auf intersubjektiv relevante psychologische und soziologische Hintergründe in den skulpturalen Prozess einfließen, entsteht eine Basis dafür, dass Monika Sosnowska ihre Arbeiten als Erfahrungsangebote entwickeln kann, die Sinnproduktionen aufrufen, innerhalb derer Erfahrungen der gebauten Umwelt eine Rolle spielen. Als ein solches Erfahrungsangebot ist The Tired Room auf eine performative Rolle der Betrachtenden angewiesen, um reziproke Bezüge zwischen physischem und mentalem Raum herstellen zu können: Solange niemand die Arbeit betrachtet, wird sie ihrem diesbezüglichen Anspruch, auf den auch der Titel verweist, nicht gerecht, da mit ihrer physischen Struktur nur dann ein psychisches Moment in Verbindung gebracht werden kann, wenn Betrachtende ihre eigenen Gefühle und sich in der Betrachtung entwickelnde psychische Befindlichkeiten auf die Arbeit projizieren. Auf diese Weise erhält die Betrachtungsabhängigkeit konzeptionelle Relevanz. Dass eine daraus resultierende Orientierung an Adressaten und Adressatinnen Einfluss auf Monika Sosnowskas Arbeiten hat, zeigt sich auch darin, dass für The Tired Room bei einer späteren Ausstellung in Warschau (2006) die spezifische Wandfarbe polnischer Behördenflure verwendet wird22. Diese ortsspezifische Modifikation der Arbeit, die Monika Sosnowska aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit Fluren dieser Art, denen sie in ihrem Wohnort Warschau begegnet, und den darin entwickelten Befindlichkeiten und
22 Vgl. K. Sienkiewicz, The Tired Room – Monika Sosnowska
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Gefühlen vornehmen kann, hat zur Folge, dass Erfahrungen, die Einwohnerinnen und Einwohner Warschaus mit diesem spezifischen Element ihrer gebauten Umwelt machen, in deren Betrachtung relevant werden können. Mit dem nicht abschließbaren, auf einer Wechselbeziehung zwischen den Betrachtenden und The Tired Room beruhenden Rezeptionsprozess, innerhalb dessen die auf Architekturerfahrungen basierenden Sinnkonstruktionen immer wieder unterlaufen sowie neue evoziert werden können, korrespondiert ein ebenfalls auf Reziprozität basierender Formfindungsprozess. Die dargestellten Erfahrungsmöglichkeiten, die The Tired Room bietet, sind das Ergebnis eines skulpturalen Prozesses, den Monika Sosnowska folgendermaßen zusammenfasst: »Ich bereite das Projekt vor, indem ich ein Papiermodell mache, das ich anschließend in meinen Händen zusammen drücke. Die endgültige Arbeit wird natürlich anders aussehen. Der deformierte Raum präsentiert nicht die Folgen einer Katastrophe, sondern ist vielmehr präzise nach geometrischen Formen gestaltet und entworfen.«23
In diesem Prozess interagiert zunächst das Papier, das für die Erarbeitung des Modells verwendet wird, mit den Vorstellungen und Handlungsweisen der Künstlerin sowie ihren Antizipationen der Wirkung auf Betrachtende. Wie Prozessfotos zeigen, geht die Formfindung des Papiermodells über dessen Bau und anschließendes Zusammendrücken hinaus: Das zunächst stark zerdrückte Modell wird offenbar Schritt für Schritt wieder seiner ursprünglichen Form angenähert, wobei bestimmte Knicke und Falten, die durch das Zusammenwirken der Materialeigenschaften und des auf das Modell ausgeübten Drucks der Hände entstanden sind, nach und nach wieder geglättet werden, andere erhalten bleiben, bis eine Form entsteht, die in der Betrachtung den Eindruck erweckt, zwischen Nachgeben und Standhalten zu oszillieren. Für diesen Formfindungsprozess spielt die Methode des Zerdrückens eines Papiermodells eine wesentliche Rolle. Sie ermöglicht es dem Papier, zunächst seinen eigenen Gesetzen zu folgen, ohne dass die Künstlerin einen auf subjektiven Entscheidungen beruhenden Einfluss auf das konkrete Ergebnis des Zerdrückens nimmt. Das zerknüllte Modell als Ergebnis dieses Verfahrens kann dann in der weiteren Auseinandersetzung als Interaktionspartner den Prozess der schrittweisen Wiederannäherung an die Ursprungsform des Modells mitbestimmen.
23 Sigmund Freud Museum: Monika Sosnowska »The Tired Room«, https://www.freudmuseum.at/online/pdf/Folder_Sosnowska.pdf (09.12.2016)
The Tired Room | 23
Abbildung 5: Monika Sosnowska, Untitled, Installationsansicht Sprengel Museum, Hannover, 2006
Während die in dieser Interaktion entstehende Form für die Arbeit Ohne Titel (2006, Abb. 5) weitgehend übernommen werden kann, weil das hier verwendete emaillierte Stahlblech die Formensprache des Papiermodells unterstützt, erfordern die für die Installation The Tired Room gewählten MDF-Platten eine erneute Auseinandersetzung, in die einerseits Momente des Papierexperiments einfließen, in der andererseits aber auch Neues entsteht. Um für die Umsetzung mit MDF-Platten eine Form zu entwickeln, die den Eindruck erweckt, durch einen von außen einwirkenden Verformungsprozess entstanden zu sein, ist eine genaue Planung erforderlich24. In ihr wird das Sägen als dem Material entsprechende Bearbeitungsweise insofern berücksichtigt, als anstelle der gebogenen oder komplexen polygonalen Linienverläufe, die beim Knicken und Zerknittern von Papier entstehen können, vor allem geradlinige Schnittführungen umgesetzt werden. Durch das Zusammensetzen geometrischer Formen entwickelt sich eine kristalline Formensprache. Der entstehenden Arbeit kann es nach Aussage der Künstlerin nicht mehr darum gehen, die »Folgen einer Katastrophe«25 zu präsentieren, vielmehr entwickelt sie sich als eine »präzise nach geometrischen Formen gestaltet[e] und entworfen[e]«26 Konstruktion, die das Spannungsfeld zwischen Nachgeben und Standhalten auf andere Weise erkundet. Die so entstehende Installation erweckt den Eindruck einer stärkeren Dynamik aufgrund der erkennbaren Stabilität des nicht-plastischen Materials, zu dessen Verformung eine größere Kraft notwendig zu sein scheint. Wie bereits im 24 Vgl. ebd. 25 Ebd., S. 2 26 Ebd.
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Entstehungsprozess des Modells ist auch hier ein interaktiver Prozess erkennbar, in dessen Verlauf sich im Austausch zwischen Vorstellungen der Künstlerin und Eigenschaften des Materials eine gegenüber dem Modell eigenständige Formensprache entwickelt, die sich auch im Hinblick auf ihre Erfahrungsmöglichkeiten vom Modell unterscheidet. Vor dem Hintergrund dieses Versuchs, das The Tired Room zugrundeliegende künstlerische Handeln nachzuzeichnen, kann die phänomenale Beschaffenheit der Arbeit als Ergebnis eines Prozesses betrachtet werden, in dem subjektives Denken und Empfinden in der Interaktion mit Materialien, ihren Eigenschaften und Verarbeitungsmöglichkeiten, aber auch mit kontextuellen Bedingungen transformiert werden. Auf subjektiven und intersubjektiv relevanten Architekturerfahrungen basierende Ideen und Vorstellungsbildungen können somit nicht unmittelbar in eine Form gebracht werden, sondern werden in einem sich interaktiv entwickelnden, ästhetische Erfahrungen umfassenden Formungsprozess im Umgang mit dem Material, seinen Möglichkeiten und Widerständen verändert.
2
Synergien ästhetischer Erfahrungen in Skulptur und Architektur
Den erkenntnisleitenden Hintergrund der Auseinandersetzung mit The Tired Room bildeten die Fragen, inwiefern bildhauerische Arbeiten Bezüge zu Architektur bzw. gebauter Umwelt herstellen und welche Besonderheiten skulpturale Zugänge zum Architektonischen aufweisen, vor deren Hintergrund über Bildungschancen skulpturaler Erkundungen des Architektonischen nachgedacht werden kann. Hierzu wurde überlegt, dass ein Architekturbezug The Tired Rooms zunächst darin erkannt werden kann, dass in der Rezeption Architekturerfahrungen aufgerufen werden. Die Besonderheit des anhand der Betrachtung der Arbeit eröffneten Zugangs zu architektonischen Fragestellungen besteht den vorangegangenen Überlegungen folgend darin, dass auf diesen Erfahrungen basierende Sinnzuschreibungen nicht affirmiert, sondern in spezifischer Weise irritiert, hinterfragt oder transformiert werden. Auch in der Produktion spielen Architekturerfahrungen eine Rolle und stellen so einen Bezug zu Architektur her. Sie bilden den Ausgangspunkt und den reflexiven Hintergrund des skulpturalen Prozesses, werden in der Interaktion mit dem Material ausdifferenziert und somit ebenfalls Teil eines Transformationsprozesses. Darüber hinaus werden sie, aufgrund einer als konzeptionell relevant erkannten Betrachtungsabhängigkeit der Arbeit, im Hinblick auf ihre intersubjektive Relevanz reflektiert. Als mögliche Basis des besonderen transformatorischen Potenzials eines skulpturalen Zugangs zu Architektur und damit verbundener spezifischer Erkenntnismöglichkeiten und Bildungschancen wurden, unter Bezugnahme auf Überlegungen Juliane Rebentischs, ästhetische Erfahrungsprozesse in den Blick genommen. Bevor anhand einer Auseinandersetzung mit weiteren bildhauerischen Positionen und Werken einer über The Tired Room bzw. die spezifische Position Monika Sosnowskas hinausgehenden Relevanz der bisherigen Überlegungen nachgegangen werden kann, sollen die in der Betrachtung von The Tired Room aufscheinenden grundlegenden Möglichkeiten und Chancen skulpturaler Aus-
26 | Architektur wird plastisch
einandersetzungen mit Architektur zunächst genauer analysiert werden. Hierzu ist einerseits nach den Besonderheiten und Erkenntnischancen ästhetischer Erfahrungen im Kontext skulpturaler Bezugnahmen auf Architektur zu fragen, andererseits zu überlegen, welche Formen von Architekturerfahrungen anhand ihrer erschlossen werden können. Auf der Grundlage dieser Klärungen soll anschließend darüber nachgedacht werden, wie sich ästhetische Erfahrungen und Architekturerfahrungen zueinander verhalten. Zu fragen wird in diesem Zusammenhang sein, welche Erkenntnischancen ästhetische Erfahrungen in Bezug auf Architekturerfahrungen bzw. auf architektonische Fragestellungen bieten und inwiefern ein skulpturaler Zugang zu Architektur geeignet sein kann, um ästhetische Erfahrungsprozesse in Gang zu setzen, auf deren Basis wechselseitig aufeinander bezogene skulpturale und architektonische Bildungsprozesse möglich werden.
2.1 ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG Wie unter Bezugnahme auf Überlegungen Juliane Rebentischs anhand von The Tired Room gezeigt wurde, bilden ästhetische Erfahrungen eine wichtige Grundlage dafür, dass Architekturerfahrungen, die in die Betrachtung der Arbeit einfließen, Teil eines besonderen, transformativen Prozesses werden können. Juliane Rebentisch betrachtet ästhetische Erfahrungen als unabgeschlossenen »Prozeß zwischen Subjekt und Objekt, der beide verwandelt«1. Auf diese Weise grenzt sie sie von anderen Formen der Erfahrung ab, die durch einen konsumierenden Zugriff auf die wahrgenommene Wirklichkeit gekennzeichnet sind, einen Zugriff also, innerhalb dessen das betrachtende Subjekt über das Objekt verfügt, indem es ihm einen Sinn zuweist. Als Auslöser ästhetischer Erfahrungsprozesse, innerhalb derer solche Sinnzuweisungen auf besondere Weise zur Disposition gestellt werden, nimmt Juliane Rebentisch künstlerische Arbeiten in den Blick und erkennt ihnen somit ein spezifisches diesbezügliches Potenzial zu. Damit stellt sie eine Perspektive vor, aus der ästhetische Erfahrung in ihrer Besonderheit und in ihrem Zusammenhang zur Kunst betrachtet wird. Den Hintergründen einer solchen Perspektive soll im Folgenden nachgegangen werden, da sie besonders geeignet erscheint, einen skulpturalen und damit künstlerischen Zugang zum Architektonischen im Hinblick auf seine Besonderheit gegenüber anderen möglichen Zugängen konturieren zu können. Ästhetische Erfahrungen sollen dazu zunächst in ihrer Abweichung von anderen Erfahrungsformen in den Blick ge-
1
J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 5
Synergien ästhetischer Erfahrung
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nommen werden, um eine Grundlage zu erhalten, auf deren Basis anschließend über das komplexe und keineswegs dichotome Verhältnis von ästhetischen Erfahrungen und Architekturerfahrungen und über mögliche Wechselbeziehungen bzw. Synergien beider Erfahrungsformen nachgedacht werden kann. 2.1.1 Die Besonderheit ästhetischer Wahrnehmung Eine Betrachtungsweise ästhetischer Erfahrung, die diese in ihrer Besonderheit in den Blick nimmt, hält auch Martin Seel für erforderlich, um sich ihrem Begriff nähern zu können. Wie er darstellt, »kommt [es] einem trennscharfen Begriff der ästhetischen Erfahrung zugute, wenn man ihn nicht als Oberbegriff für ästhetische Reaktionen jedweder Art, sondern als Terminus für eine Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung versteht«2. Aus diesem Grund erfordere eine Differenzierung des Begriffs ästhetischer Erfahrung zunächst eine Auseinandersetzung mit den Besonderheiten, die ästhetische Wahrnehmung als deren Grundlage im Vergleich zu Wahrnehmungen im Allgemeinen aufweise.3 Eine solche Differenzierung hält Martin Seel in Ästhetik und Aisthetik insofern für möglich, als erstere als Modifikation letzterer und auf dieser basierend betrachtet werden könne: »ästhetische Wahrnehmung setzt erstens eine nichtästhetische Wahrnehmung voraus und stellt zweitens eine Modifikation dieser nicht-ästhetischen Wahrnehmung dar.«4 Diese Modifikation ästhetischer Erfahrung besteht aus seiner Sicht darin, dass es sich bei ihr um »erstens vollzugsorientierte und zweitens in einem bestimmten Sinn selbstbezügliche Formen sinnlichen oder sinnengeleiteten Vernehmens«5 handele. Damit unterschieden sich ästhetische Formen der Wahrnehmung von anderen sinnlichen Wahrnehmungen, die auf ein Ziel, z. B. eine Handlung, ausgerichtet sind und somit eine orientierende Funktion haben.6 Der ästhetischen Wahrnehmung gehe es trotz ihrer Selbstbezüglichkeit und Vollzugsorientierung jedoch nicht ausschließlich um sich selbst, sondern auch um den Gegenstand der Wahrnehmung, da beides im
2
Martin Seel: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung Fünf Thesen«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Meiner 2004c, S. 73-81, hier S. 73
3
Vgl. ebd., S. 74
4
Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien (= Band 1249), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996a, S. 48
5
Ebd.
6
Vgl. ebd., S. 47
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Vollzug der Wahrnehmung untrennbar miteinander verbunden sei. »Ihr ist nicht allein der Akt, sondern zugleich das Objekt der Wahrnehmung ein Selbstzweck.«7 Indem es in der ästhetischen Wahrnehmung somit zu einem »Verweilen in einer Wahrnehmung und bei einem Objekt dieser Wahrnehmung«8 und damit in der Gegenwart des Wahrnehmens komme, verfüge sie über ein präsentisches und nicht-lineares Zeitbewusstsein. Dies bedeute jedoch nicht, dass Vergangenheit und Zukunft in der auf den Augenblick des Wahrnehmens gerichteten Wahrnehmung keine Rolle spielen, vielmehr fließen Erfahrungen und Erwartungen in das ästhetische Wahrnehmungsgeschehen mit ein. Mit dem präsentischen Zeitbewusstsein ästhetischer Wahrnehmung korrespondiert, wie Seel weiter überlegt, ein ebenfalls präsentisches Raumbewusstsein. Dieses basiere auf dem Mitwahrnehmen einer räumlichen Dimension, dessen Hintergrund er in der Leiblichkeit ästhetischer Wahrnehmung begründet sieht. Dieser erkennt er darüber hinaus auch insofern eine besondere Bedeutung zu,9 als sie für die auf Simultanität und Synästhesie basierende Komplexität ästhetischer Wahrnehmung verantwortlich sei10. Ein solcher Zusammenhang findet sich auch in den Überlegungen Maurice Merleau-Pontys, der die Vermittlung der leiblichen Erfahrung als Voraussetzung dafür erkennt, dass räumliche Situationen ungeachtet ihrer nur sukzessiven Wahrnehmbarkeit als Einheit erfasst werden können.11 Die jegliche Wahrnehmung mitbestimmende Leiblichkeit erfährt, wie Ursula Brandstätter zeigt, in der ästhetischen Wahrnehmung insofern eine Steigerung, als sie hier nicht mehr nur als »Apriori, das nicht hintergangen werden kann«12 einfließe, sondern »selbst thematisch«13 werde. Wenn Seel die Selbstbezüglichkeit und Vollzugsorientierung als Charakteristika der ästhetischen Wahrnehmung hervorhebt und sie damit als eine Art Wahrnehmung der Wahrnehmung konturiert, ist dies jedoch nicht mit einem naturwissenschaftlichen Interesse an den eigenen sinnlichen Wahrnehmungsweisen zu verwechseln. »Die ›Selbstbezüglichkeit‹ ästhetischer Wahrnehmung […] schließt nicht notwendigerweise eine Selbstrückbezüglichkeit mit ein. Ästhetische Wahrnehmung reflektiert nicht notwendigerweise auf ihren eigenen Voll-
7
Ebd., S. 50
8
Ebd., Hervorhebung im Original.
9
Vgl. ebd., S. 50-52
10 Vgl. M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung, S. 74 11 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: De Gruyter 1966, S.320 12 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 111 13 Ebd.
Synergien ästhetischer Erfahrung
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zug oder auf ihre eigenen Bedingungen.«14 Anstelle einer bewussten Thematisierung der Wahrnehmungsleistung handele es sich vielmehr um ein »›spürendes‹ Bewußtsein der Aufmerksamkeit für das jeweils Wahrgenommene«15. Eine solche »vorreflexive Selbstbezüglichkeit«16, die Seel auch als »Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem«17 definiert, kann aus seiner Sicht gleichwohl mit einer auch begrifflichen Reflexion oder bildhaften Vorstellungen verbunden sein, muss es jedoch nicht18. 2.1.2 Ästhetische Erfahrung als Steigerung ästhetischer Wahrnehmung Wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, ist ästhetische Erfahrung aus Martin Seels Sicht als »Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung«19 auf diese angewiesen, gehe aber über sie hinaus. Diese Steigerung bestehe in dem Ereignischarakter ästhetischer Erfahrung. Durch ihre Ereignishaftigkeit erhielten ästhetische Wahrnehmungen eine besondere Bedeutsamkeit, die sie »in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken lässt«20. Von Seel als »Risse in der gedeuteten Welt«21 charakterisierte Ereignisse, die ästhetische Erfahrungsprozesse auslösen können, basierten auf unerwarteten und unerwartbaren ästhetischen Wahrnehmungen. Parallel dazu sieht auch Ursula Brandstätter »ein wesentliches Charakteristikum ästhetischer Erfahrung in ihrem Anspruch, die Aufmerksamkeit aufgrund von Neuheit zu erregen«.22 Aus ihrer Sicht kann aber auch eine besondere Komplexität oder Ambiguität von Reizkonfigurationen Aufmerksamkeit für Wahrnehmungen hervorrufen und damit eine Grundlage ästhetischer Erfahrungsprozesse bilden.23 In der Ereignishaftigkeit steigert sich die durch ein ruhiges Verweilen in der Gegenwart der Wahrnehmung gekennzeichnete ästhetische
14 M. Seel, Ethisch-ästhetische Studien, S. 54-55 15 Ebd., S. 55 16 Ebd. 17 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 74 (Hervorhebung im Original) 18 Vgl. M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 55 19 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 73 20 Ebd., S. 75 21 Ebd. 22 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 99 23 Vgl. ebd.
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Wahrnehmung »zu einer bewegenden Anschauung bewegter Gegenwart«24, wodurch sich, wie Seel darstellt, der subjektive »Sinn für das, was wirklich und möglich ist, auf bis dahin ungeahnte Weise verändern«25 kann. Mit einer solchen Wirkung ästhetischer Erfahrungsprozesse weist Martin Seel auf ein ihnen inhärentes Erkenntnispotenzial hin, das auch Ursula Brandstätter als eines ihrer Distinktionsmerkmale betrachtet: »Jede ästhetische Erfahrung baut auf ästhetischen Wahrnehmungen auf, geht jedoch über sie hinaus, indem sie […] sich in einem besonderen Verhältnis zur Erkenntnis und zur Sprachlichkeit befindet.«26 2.1.3 Formen der Erkenntnisgewinnung ästhetischer Erfahrung Die Frage, inwiefern ästhetische Erfahrungen Erkenntnisgewinne ermöglichen, ist im Rahmen eines Nachdenkens über Bildungschancen skulpturaler Auseinandersetzungen mit architektonischen Fragestellungen von besonderem Interesse. Aus diesem Grund soll die von Brandstätter angesprochene Besonderheit des Verhältnisses ästhetischer Erfahrung zur Erkenntnis und deren sprachlicher bzw. begrifflicher Verfasstheit im Folgenden genauer betrachtet werden. Insofern ästhetische Erfahrung immer in der Wahrnehmung verankert bleibt27, sich »im Medium der Sinnlichkeit«28 hält, muss sie sich notwendig einer vollständig begrifflichen Reflexion entziehen, da diese in ihrer verengenden Fixierung die Verbindung zu durch Merkmalsvielfalt geprägten Formen der Wahrnehmung trennen würde. Wie Heinz Paetzold darstellt, zeichnet sich ästhetische Erfahrung trotzdem gerade dadurch aus, dass sie Reflexionsstrukturen aufweist. Wird Reflexion als die Herstellung von Verbindungen zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Verstand begriffen29, stellt sich die Frage nach besonderen Formen der Reflexion, die imstande sind, eine begrifflich strukturierte Verstandesebene mit der vorbegrifflichen oder unbegrifflichen Ebene der Sinneswahrnehmungen zu verbinden. Paetzolds diesbezüglichen Überlegungen folgend, handelt es sich bei Reflexionen im Kontext ästhetischer Erfahrungen um spezi-
24 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 76 25 Ebd. 26 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 101 27 Vgl. ebd. 28 Heinz Paetzold: Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der Konzeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart: F. Steiner 1990, S. 72 29 Vgl. Wulff D. Rehfus (Hg.): Handwörterbuch Philosophie (= UTB, Band 8208), Göttingen, [Stuttgart]: Vandenhoeck & Ruprecht; UTB 2003.
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fisch ästhetische, die »grenzenlos offen«30 blieben, d.h. eher weitere Fragen generieren, als Antworten suchen31. Sie dienen damit nicht einer immer auch verengenden oder vereinseitigenden Klärung der Spannungsverhältnisse, die durch eine die ästhetische Erfahrung auslösende Wahrnehmungssituation etabliert werden, sondern ermöglichen deren unabschließbare Erkundung. Solcherart gedachte Formen der Reflexion führen demnach nicht zu positiven Ergebnissen. Der somit im Kontext der Erkenntnismöglichkeiten ästhetischer Erfahrungen erforderliche »Verzicht auf die Kategorien ›wahr‹ oder ›falsch‹«, begründet jedoch nicht die Infragestellung dieser Erkenntnismöglichkeiten. »Erkenntnis kann es auch abseits der Differenzierung in wahre und falsche Aussagen geben«.32 Es kann daher als sinnvoll erachtet werden, in ästhetischen Erfahrungsprozessen gewonnene Erkenntnisse als spezifisch ästhetische Erkenntnisse zu betrachten, die aufgrund ihrer »kontinuierliche[n] Rückbindung an das sinnliche Erleben«33 niemals vollständig im begrifflichen Erkennen aufgehen. Mit ihnen korrespondiert ein eher analoges und divergentes als kausales Denken, ein Denken also, das auf Basis der Herstellung von Ähnlichkeitsbeziehungen »eine Vielzahl an Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten nebeneinander stellt«34 und somit Möglichkeitsräume des Denkens eröffnen kann. Zentraler Hintergrund der Erkenntnismöglichkeiten ästhetischer Erfahrung ist allerdings, dass in ihr das begriffliche Verstehen, die bewusste Reflexion oder auch kausale Denkstrukturen nicht zugunsten eines vollständigen Aufgehens im Wahrnehmungsvollzug suspendiert werden. Vielmehr kann ein Wechsel zwischen den im täglichen Erleben tendenziell unverbundenen Polen von sinnlichem Erleben und Verstand als spezifisches Charakteristikum ästhetischer Erfahrungen und als konstituierend für die Möglichkeit ästhetischer Erkenntnisgewinnung erachtet werden. »Sinnliches Sosein und ästhetisches Erscheinen, Bestimmtes und Besonderes, Bestimmbares und Unbestimmbares sind wechselseitig aufeinander bezogen: ohne das eine kann es das andere nicht geben.«35 Im ästhetischen Erfahrungsprozess, der als Wechsel zwischen »den unbewussten und automatisierten Wurzeln der sinnlichen Wahrnehmung«36 und Formen einer diese überschreitenden und in einem ihr eigenen Verhältnis zur Begrifflichkeit
30 H. Paetzold: Ästhetik der neueren Moderne, S. 53 31 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 104 32 Ebd., S. 103 33 Ebd. 34 Ebd., S. 104 35 Ebd., S. 108 36 Ebd.
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stehenden Reflexion betrachtet werden kann, können unbewusste oder vorreflexive Bereiche partiell zugänglich werden. Als Merkmale dieser besonderen ästhetischen Reflexion erkennt Heinz Paetzold deren Entspezialisiertheit oder Entfunktionalisiertheit sowie deren Offenheit. Eine weitere Besonderheit sieht er darin, dass der wechselseitige Bezug von Reflexion und Sinnlichkeit im ästhetischen Erfahrungsprozess zu deren gegenseitiger Steigerung führe.37 Demnach würde in der ästhetischen Erfahrung nicht nur ein Zugang zur Sinnlichkeit eröffnet, sondern auch deren Vertiefung ermöglicht. Zusammenfassend können Erkenntnispotenziale ästhetischer Erfahrungsprozesse als darin bestehend betrachtet werden, dass in der ästhetischen Erfahrung sinnliches Erleben mit spezifischen Formen der Reflexion in Verbindung gebracht werden kann, wodurch einerseits Zugänge zu Bereichen des Erlebens eröffnet und vertieft werden können, die in alltäglichen Wahrnehmungen und Erfahrungen tendenziell unzugänglich bleiben, andererseits ergebnisoffene, Analogien und Assoziationen einbeziehende Formen des Denkens erschlossen werden können. 2.1.4 Ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten in künstlerischen Kontexten Die bisherigen Überlegungen zu Besonderheiten und Erkenntnismöglichkeiten ästhetischer Erfahrungen stehen insofern noch nicht notwendigerweise in einem Zusammenhang zu künstlerischen bzw. künstlerischem Arbeiten, als ästhetische Erfahrungen auch außerhalb dieser Bereiche gemacht werden können. Als ästhetische Wahrnehmungen mit Ereignischarakter können sie, wie Martin Seel darstellt, auch durch unerwartete Situationen in außerkünstlerischen Kontexten ausgelöst werden, »sich immer und überall vollziehen«.38 Im Zusammenhang mit der Frage, inwiefern rezeptive und produktive Auseinandersetzungen mit Skulpturen als Werken der Kunst auf der Basis ästhetischer Erfahrungen skulpturale und architektonische Bildungsprozesse auszulösen vermögen, ist es daher erforderlich, Zusammenhänge von ästhetischer Erfahrung und Kunst in den Blick zu nehmen. Wie Ursula Brandstätter unter Bezugnahme auf Martin Seels Ästhetik des Erscheinens zeigt, kann ein wichtiges Charakteristikum künstlerischer Arbeiten in ihrer »doppelten Existenzweise«39 gesehen werden. Diese basiere darauf, dass
37 Vgl. H. Paetzold: Ästhetik der neueren Moderne, S. 71-72 38 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 76 39 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 74
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sie nicht nur auf außerhalb ihrer liegende Wirklichkeiten verwiesen, sondern gleichzeitig auch immer in ihrem sinnlich wahrnehmbaren »So-Sein als Wirklichkeit für sich«40 in Erscheinung träten. Eine ähnliche Sichtweise kommt auch in Juliane Rebentischs Überlegungen zum Ausdruck, wenn sie eine »Verdopplung in Ding und Zeichen«41 als »Strukturmoment aller Kunst«42 bezeichnet. Diese Eigenschaft künstlerischer Arbeiten wurde bereits anhand von The Tired Room gezeigt, indem dargestellt wurde, auf welche Weise seine phänomenale Beschaffenheit Bedeutungskonstruktionen in Gang setzen kann, diese gleichzeitig aber auch immer zu unterlaufen vermag. Seine Verdopplung in Ding und Zeichen als Grundlage seines Kunstcharakters besteht Juliane Rebentischs Überlegungen folgend also darin, dass er trotz aller möglichen Sinnzuschreibungen immer auch in seiner Dinghaftigkeit wahrgenommen wird. In seiner Betrachtung entstehen durch den schnellen Wechsel, »die oszillierende Bewegung zwischen Ding und Zeichen«43, Spannungsverhältnisse, die als Basis spezifischer ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten im Kontext zeitgenössischer Kunst genauer betrachtet werden sollen. Kennzeichnend für in der Betrachtung vieler zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten ermöglichte ästhetische Erfahrungen ist, dass es sich um Erfahrungsprozesse handelt, innerhalb derer sowohl die Performativität der Betrachtenden als auch die der künstlerischen Arbeit von Bedeutung sind. Innerhalb dieser Prozesse durchlaufen beide Seite Transformationen, die wechselseitig aufeinander bezogen sind. »Die Konstruktion einer Werkbedeutung als fortschreitende und prinzipiell unabschließbare Semiose bedingt eine Veränderung im Bedeutungssystem des Rezipienten, eine Veränderung im Bedeutungssystem des Rezipienten wiederum bewirkt eine Veränderung der zu konstruierenden Werkbedeutung usf. ad infinitum.«44
Damit einher geht eine Verunsicherung der Betrachtungssituation: Wie Juliane Rebentisch unter Bezugnahme auf Michael Frieds Kritik an Arbeiten der Minimal Art zeigt, scheinen künstlerische Arbeiten durch den curricularen Prozess der Sinnproduktion und Sinnsubversion ein Eigenleben entwickeln zu können,
40 Ebd. 41 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 4 42 Ebd. 43 Ebd. 44 Erika Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen: Francke 2001, S. 350
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das sie »unheimlich«45 werden lässt. Verunsicherung ist auch aus Martin Seels Perspektive ein wesentliches Merkmal insbesondere moderner und zeitgenössischer Kunsterfahrungen, das er ebenfalls mit deren zunehmender Performativität in Verbindung bringt. Hintergrund seiner diesbezüglichen Überlegungen ist, dass künstlerische Arbeiten im Zuge von Entgrenzungstendenzen künstlerischer Gattungen ihre Darbietungsweisen immer wieder neu verhandeln, wodurch ihr Charakter als Darbietungsereignisse betont werde.46 Dadurch kann in der Betrachtung insbesondere zeitgenössischer künstlerischer Arbeiten ein zusätzliches Spannungsverhältnis zwischen Dargebotenem und Darbietungsweise besonders hervortreten. Insgesamt wird vor diesem Hintergrund mit Ursula Brandstätter ein dreipoliges Spannungsfeld zwischen »Repräsentation, Präsentation [und] Präsenz«47 erkennbar. Besonders deutlich wird die Spannung innerhalb dieses Feldes, wenn Grenzziehungen zwischen künstlerischen Arbeiten und lebensweltlichen Handlungsräumen, in die sie intervenieren, unscharf werden. Gerade weil solchen »Arbeiten, die ein Reales mit hervorkehren, zugleich auch immer ein Moment des Scheins, des Als-ob anhaftet, wird der an ihnen Teilnehmende auf sich, sein Verhalten, seine Wahrnehmung sowie die ihnen zugrunde liegenden sozialen Deutungsschemata zurückgeworfen.«48 Die dargestellten Spannungsfelder, die sich in der Betrachtung von Kunst im Allgemeinen, verstärkt jedoch im Kontext ihrer zunehmenden Entgrenzung und Performativierung eröffnen, können als Grundlage der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten künstlerischer Arbeiten erkannt werden, wenn deren Besonderheit, wie im vorangegangenen Abschnitt dargestellt, in der Verbindung von sinnlicher Wahrnehmung und spezifischen Formen der begriffsnahen Reflexion besteht. Wie Erika Fischer-Lichte überlegt, ermöglicht der Doppelcharakter der Kunst die Eröffnung eines Zwischenraums, einer Schwelle, deren Passage fragile und temporäre Zugänge zu unbewussten oder vorreflexiven Wahrnehmungen und ihren Wirkungen gewähren kann.49 Zentrales Moment einer solchen Erfahrung ist ein »Zustand zwischen allen möglichen Bereichen«50, innerhalb dessen bestehende Deutungsmuster verunsichert oder auch suspendiert werden können. Während Fischer-Lichte die transformative Wirkung dieser Erfahrung und damit die Auflösung der ihr zugrundeliegenden Spannungsverhältnisse in den Blick
45 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 4 46 Vgl. M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 76-77 47 U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 77 48 Ebd. 49 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 347-363 50 Ebd., S. 347
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nimmt, betont Juliane Rebentisch, dass die Besonderheit ästhetischer Erfahrung in künstlerischen Kontexten gerade darin bestehe, »die Unsicherheit der Schwellenerfahrung selbst ästhetisch zu isolieren und ihr reflexives Potenzial freizusetzen«51. Dadurch, dass in durch künstlerische Arbeiten ermöglichten ästhetischen Erfahrungsprozessen gewohnte Sichtweisen zur Disposition gestellt werden können, werden Erkenntnispotenziale eines divergenten, sich im Mehrdeutigen haltenden Denkens unterstützt. Eine weitere Besonderheit ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten im Kontext von Kunst sieht Martin Seel darin, dass künstlerische Arbeiten nicht auf Neuheit angewiesen sind, um ästhetische Erfahrungsprozesse in Gang setzen zu können. »Ein künstlerisches Objekt muß weder neu noch für den Rezipienten neu sein, um durch seine Präsenz einen Bruch im Kontinuum seines Selbstverständnisses zu bewirken. Denn es bezeichnet das Potenzial bedeutender Kunstwerke, in der Begegnung mit ihnen einen neuen Blick auf die Gegenwart zu gewähren.«52 Hintergrund dieser Besonderheit ist, wie Seel darstellt, der besondere Charakter künstlerischer Arbeiten als Darbietungen, deren immer wieder andere Neuheit sich im dargestellten, verunsichernden Spannungsfeld zwischen Ding, seiner Vermitteltheit als Kunst und Zeichen ereigne. Künstlerischen Arbeiten erkennt er damit eine immanente Ereignishaftigkeit zu, die es ihnen ermögliche, die bereits erwähnten »Risse in der gedeuteten Welt«53 zu erzeugen. Dies verweist ebenfalls auf ihr besonderes Potenzial, ein divergentes Denken zu unterstützen. Darüber hinaus deutet Seel aber auch an, dass die Fähigkeit, Dinge neu zu sehen, auch »einen neuen Blick auf die Gegenwart«54 gewährt, d.h. möglicherweise auf lebensweltliche Kontexte übertragen werden kann, worin eine besondere Relevanz von Erkenntnischancen künstlerischer Auseinandersetzungen erkennbar würde. 2.1.5 Besonderheiten ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten im Bereich der Skulptur Besonderheiten ästhetischer Erfahrungsprozesse einer sich entgrenzenden Kunst, die aufgrund ihrer Relevanz im Kontext zeitgenössischer Kunst in den vorange-
51 Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg: JuniusVerl. 2014b, S. 78 52 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 78 53 Ebd., S. 75 54 Ebd., S. 78
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gangenen Überlegungen in den Blick genommen wurden, entwickelt Juliane Rebentisch in kritischer Abgrenzung von Michael Frieds in Art and Objecthood vertretenen Überlegungen. Hierzu bezieht sie sich wie er zentral auf Arbeiten Robert Morris’, die aus Frieds Sicht in einer Objekthaftigkeit aufzugehen und damit ihren Status als autonome Kunstwerke zu verlieren drohen.55 Wenngleich die oben vorgestellten Konturierungen ästhetischer Erfahrungen im Kontext zeitgenössischer Kunst schon deshalb nicht gattungsspezifisch sein können, weil zeitgenössische Kunst gerade durch eine zunehmende Auflösung von Gattungsgrenzen gekennzeichnet ist, kann überlegt werden, inwiefern Skulpturen eines erweiterten Gattungsverständnisses besondere Voraussetzungen bieten, um die vorgestellte Form ästhetischer Erfahrung zu ermöglichen: Nicht zufällig nimmt Juliane Rebentisch auf eine Position Bezug, die aus heutiger Sicht als im erweiterten Sinne skulptural bezeichnet werden kann. Vielmehr wählt sie sie, da sich anhand ihrer ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten, die auf einem Changieren zwischen »Ding und Zeichen«56, zwischen Objekthaftigkeit und Autonomie basieren, besonders gut darstellen lassen. Grund für die Skulpturen damit implizit zuerkannte Exemplarität ist, dass sie »einen spezifischen Realitätscharakter besitzen«57 und somit über besondere Potenziale verfügen, sich mit lebensweltlichen Objekten zu überschneiden. Eine hiermit korrespondierende Besonderheit skulpturaler Arbeiten ist ihre Präsenz im Raum, den sie mit den Betrachtenden teilen: »Solange es sich nicht um vollkommen materialunabhängige konzeptuelle Formen handelt, sehen, spüren, hören oder ertasten wir skulpturale Werke und erfahren dabei zwingend ihre Präsenz. Skulpturen sind im Raum verortet. Sie stehen uns gegenüber.«58
Als dreidimensionale, multisensorisch wahrnehmbare Objekte bieten Skulpturen besondere Anknüpfungspunkte für Übertragungen des eigenen, auf Verbindungen zwischen physischen und psychischen Prozessen basierenden Erlebens. Wie anhand der ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten, die The Tired Room eröffnet,
55 Vgl. J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S.2 56 Ebd., S. 4 57 Sara Hornäk: »Skulptur lehren. Künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Perspektiven auf Skulptur im erweiterten Feld«, in: Sara Hornäk (Hg.), Skulptur lehren. Künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Perspektiven auf Skulptur im erweiterten Feld, Paderborn: Fink, Wilhelm 2018, S. 9-40, hier S. 9 58 Ebd.
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aufgezeigt wurde, spielen die genannten Besonderheiten skulpturaler Arbeiten im Kontext der Herstellung von Bezügen zu Architekturerfahrungen eine besondere Rolle, der in Kapitel 3 genauer nachgegangen wird. 2.1.6 Ästhetische Erfahrung im künstlerischen Prozess Während die vorangegangenen Überlegungen in erster Linie ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten rezeptiver Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten in den Blick nehmen, soll nun zusätzlich überlegt werden, welche besonderen ästhetischen Erfahrungs- und damit zusammenhängenden Erkenntnispotenziale sich im künstlerischen Handeln eröffnen. Die Bildhauerin Anja Ciupka charakterisiert in einer Reflexion des Zusammenhangs zwischen künstlerischer Praxis und Lehre59 ihren Arbeiten zugrundeliegende künstlerische Prozesse als Aushalten einer Unsicherheit, die darauf basiere, die materielle Form des entstehenden Werks aufgrund der Offenheit des Prozesses vorab nicht kennen zu können60. Somit eröffnet sich aus ihrer Sicht auch im künstlerischen Handeln ein Spannungsfeld zwischen dessen kontextuellen Bedingungen, dem Material mit seinen Bearbeitungsmöglichkeiten und Konnotationen sowie subjektiven Vorstellungen und Ideen, die auf der Basis impliziten und expliziten, auf Vorerfahrungen beruhenden Wissens in den Prozess einfließen. Wie Ciupka betont, kommt einem Offenbleiben für Entwicklungen, die der künstlerische Prozess jenseits konvergenter Planungen seitens der Künstlerin nimmt, hierbei eine zentrale Bedeutung zu. Als wichtige Momente des künstlerischen Prozesses erkennt Ciupka unerwartete und unerwartbare Wendungen, deren Potenzial für die Weiterentwicklung der Arbeit erkennen zu können, eine wichtige künstlerische Fähigkeit sei.61 Ein Zustand des Dazwischen, über dessen Rolle im Kontext ästhetischer Erfahrung in der Rezeption künstlerischer Arbeiten bereits nachgedacht wurde, scheint somit auch für das Zustandekommen künstlerischer Produktionsprozesse konstitutiv zu sein, da in ihm eine durch die notwendige Offenheit gekennzeichnete Interaktion zwischen dem Künstler oder der Künstlerin und der entstehenden Arbeit erst möglich wird. Die Bedeutung
59 Vgl. Anja Ciupka: »›Hauptsache dreidimensional‹. Selbstreflexive Überlegungen zur künstlerischen Lehre im ersten Semester des Lehramtsstudiums Kunst«, in: Sara Hornäk (Hg.), Skulptur lehren. Künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Perspektiven auf Skulptur im erweiterten Feld, Paderborn: Fink, Wilhelm 2018, S. 207-226 60 Vgl. ebd., S. 213 61 Vgl. ebd., S. 213-214
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einer solchen Offenheit für die Entwicklungen künstlerischer Prozesse stellt auch Miwon Kwon dar, für die »die Schaffung von Kunst nicht an ein festgelegtes Ziel gekoppelt, sondern vielmehr generativ ist. Das Werk bewegt sich mit oder reagiert auf die Entdeckung der Grenzen und Möglichkeiten von Materialien, Methoden oder Kontexten.«62 Um dies zu ermöglichen bleibe sie als Künstlerin »offen für die Idee, dass das Werk zu etwas sehr anderem werden kann als das, als was es ursprünglich entwickelt oder angedacht wurde.«63 Auch im künstlerischen Prozess werden also in einem spezifischen Dazwischen Bedingungen geschaffen, innerhalb derer ein multiperspektivisches, divergentes Denken, das Analogien und Assoziationen einbezieht, sowie die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten begünstigt werden. Wie im Kontext der Überlegungen zu Erkenntnismöglichkeiten und -formen ästhetischer Erfahrung dargestellt wurde, entziehen sich diese einer vollständigen begrifflichen Fassung. Insbesondere eine Verbalisierung ästhetischer Erfahrungen und der ihnen zugrundeliegenden ästhetischen Wahrnehmungen erweist sich insofern als problematisch, als mit ihr immer auch eine Fixierung und Vereinseitigung einhergeht64. Wie ebenfalls bereits überlegt wurde, sind daher spezifische, auch das Nicht-Sprachliche einbeziehende Formen der Reflexion erforderlich, damit Erkenntnispotenziale ästhetischer Erfahrungen erschlossen werden können. Als eine solche Form der Reflexion können Prozesse betrachtet werden, innerhalb derer ästhetische Erfahrungen ohne den Umweg über die Verbalisierung in künstlerisches Handeln einfließen. Diese Prozesse wiederum können als mögliche Grundlage dafür betrachtet werden, dass auf ihrer Basis entstehende Arbeiten in einer spezifischen Mehrdeutigkeit ästhetisch wahrgenommen und erfahren werden können. Einen solchen Zusammenhang deutet auch Oscar Tuazon an, wenn er einen auf Interaktion zwischen dem Künstler oder der Künstlerin und dem Werk basierenden Entstehungsprozess künstlerischer Arbeiten als Grundlage dafür erkennt, dass »ein Objekt am Ende etwas in mir anspricht.«65 Indem ästhetische Erfahrungen, die künstlerische Prozesse auslösen oder innerhalb ihrer gemacht werden, in eine anschauliche Form einfließen, werden sie somit jenseits des Sprachlichen oder im engeren Sinne Begrifflichen kommunikabel.
62 Miwon Kwon/Nico Machida: »Echte Duplikate. Oscar Tuazon im Gespräch mit Miwon Kwon und Nico Machida«, in: Anna Brohm (Hg.), Oscar Tuazon. Live, Los Angeles, CA: DoPe Press 2014, S. 67-78, hier S. 69 63 Ebd. 64 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 100 65 M. Kwon/N. Machida: Echte Duplikate, S. 69
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Die vorangegangenen Überlegungen zu Zusammenhängen zwischen Kunst und ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten zeigen, dass sich sowohl in rezeptiven wie auch in produktiven Auseinandersetzungen mit Kunst besondere Chancen ästhetischer Erfahrungen und damit verbundener spezifischer Reflexionsund Erkenntnisformen eröffnen. Als zentraler Hintergrund dieser Möglichkeiten wurden dabei Spannungsfelder in den Blick genommen, die dadurch entstehen, dass künstlerische Arbeiten einerseits in ihrer Dinghaftigkeit wahrgenommen werden, sich also einem konsumierenden Zugriff anzubieten scheinen, diesen jedoch andererseits unterlaufen, indem sie immer wieder neue Sinnproduktionen herausfordern. Auf diese Weise können Bereiche außerkünstlerischer Wirklichkeiten Gegenstände besonderer Formen ästhetischer Reflexion werden. Mit Blick auf Erkenntnischancen ästhetischer Erfahrungen erlaubt dies wiederum, Wahrnehmungs- und Umgangsspielräume dieser Wirklichkeitsbereiche zu erschließen. Wie Juliane Rebentisch insbesondere im Hinblick auf in den realen Raum intervenierende Kunst zeigt, ermöglicht es diese, »Erfahrung zu erfahren, das heißt: den lebensweltlich bekannten Erfahrungswelten im Modus einer reflexiven Distanz neu zu begegnen«66. Eine solche lebensweltliche Relevanz ästhetischer Erfahrungen sieht auch Martin Seel, wenn er den »Stellenwert ästhetischer Erfahrungen im Haushalt menschlicher Orientierungen«67 betont und darstellt, »daß die ästhetische Erfahrung ihre Subjekte mit einer Art der Bewußtheit versorgt, mit der sie keine andere Erfahrungsweise versorgen kann.«68 Folgt man diesen Überlegungen, können auch Erfahrungen, die im Umgang mit der gebauten Umwelt gemacht werden, als Gegenstand ästhetischer Erfahrungen in spezifischer Weise reflexiv werden, wodurch Orientierungen im Umgang mit Architektur gefunden werden können. Um das sich hiermit eröffnende spezifische Potenzial künstlerischer Erkundungen genauer zu untersuchen, ist zunächst zu fragen, welche Bereiche von Architekturerfahrungen in ästhetischen Erfahrungsprozessen erschlossen werden können und inwiefern deren Erschließung zu einem Verständnis architektonischer Zusammenhänge beitragen kann.
66 J. Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 80 67 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 73 68 Ebd.
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2.2 ERFAHRUNGEN DER GEBAUTEN UMWELT ALS GEGENSTAND ÄSTHETISCHER ERFAHRUNGSPROZESSE Wie einleitend überlegt, stellen sich an das Vorhaben, anhand skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt ein umfassendes Verständnis des Architektonischen zu ermöglichen, bestimmte Anforderungen. Grund hierfür ist, dass dieses Verständnis eine Relevanz für den alltäglichen Umgang mit der gebauten Umwelt besitzen soll. Gekennzeichnet ist ein solcher, alltäglicher Umgang dadurch, dass hier das bauliche Umfeld nicht in einem kontemplativen Modus betrachtet, sondern genutzt wird. In ästhetischen Erfahrungsprozessen möglich werdende Erkenntnisse sind für das tägliche Leben nur dann von Bedeutung, wenn sie Erfahrungen, die mit Architektur in ihrer Nutzbarkeit gesammelt werden, reflexiv werden lassen. Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, dass in skulpturalen Auseinandersetzungen mit Architektur nicht nur das subjektive Erleben der gebauten Umwelt erkundet, sondern Architektur auch als soziales Projekt wahrgenommen werden kann. Um Architekturerfahrungen in ihrer diese Aspekte umfassenden lebensweltlichen Relevanz in den Blick nehmen zu können, liegt es nahe, sie als Erfahrungen zu betrachten, die im Umgang mit der uns täglich umgebenden Architektur gemacht werden. 2.2.1 Architekturerfahrungen als alltägliche Erfahrungen gebauter Umwelten Erfahrungsbegriffe Als mögliche Grundlage der Überlegungen zu den Besonderheiten alltäglicher Architekturerfahrungen werden zunächst unterschiedliche Erfahrungsbegriffe betrachtet, die anschließend in Bezug auf ihre Eignung zur Konturierung eines Architekturerfahrungsbegriffs reflektiert werden. In einer umgangssprachlichen Verwendung bezeichnet Erfahrung »eine durch den fortgesetzten Umgang mit einer bestimmten Tätigkeit erworbene Übung und Fähigkeit der Beherrschung der Tätigkeit, ohne dass dazu theoretisches Wissen um die relevanten Ursachen und Vorgänge erforderlich wäre. [...] Daneben steht der Begriff
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der Erfahrung für eine Art von Wissen, das auf der Beobachtung einer endlichen Anzahl von einzelnen Fällen beruht.«69
Auf einen solchen kumulativen Aufbau von Erfahrungen verweist auch der Ausdruck ›Erfahrungen sammeln‹. Aus philosophischer Sicht ist, wie Stefan Deines, Jasper Liptow und Martin Seel in den einleitenden Überlegungen des Bandes Kunst und Erfahrung70 bemerken, eine eindeutige Definition des Begriffes nicht möglich. Zur Annäherung an unterschiedliche Begriffsverständnisse schlagen die Autoren eine Systematisierung vor, nach der in phänomenologische, epistemische und existenzielle Erfahrungsbegriffe differenziert werden kann. Gemeinsam ist ihnen, dass Erfahrungen als »Arten des kognitiven Zugangs zur Welt und zu uns selbst«71 bzw. als deren Grundlage verstanden werden. Als »Ereignisse, Episoden oder Akte«72 sind sie ihrem Wesen nach zeitlich und verfügen sowohl über einen Gegenstand, also etwas, dessen Wahrnehmung die Erfahrung auslöst, als auch über einen Inhalt, der in der Art und Weise besteht, wie dieser Gegenstand uns begegnet. Die »phänomenologische Erfahrung«, als »vor allem in der Philosophie der Wahrnehmung prominente Verwendung des Ausdrucks ›Erfahrung‹, versteht hierunter einfach Episoden phänomenalen Bewusstseins, wie sie paradigmatisch in der sinnlichen Wahrnehmung vorkommen.«73 In einem »epistemischen« Erfahrungsbegriff wird eine kognitive Komponente, die in der phänomenologisch verstandenen Erfahrung noch nicht unmittelbar enthalten ist, in den Vordergrund gestellt.74 Hier werden Erfahrungen als Formen des Wissenserwerbs verstanden, die, im paradigmatischen Fall ebenfalls von sinnlichen Wahrnehmungen ausgehend, unmittelbar, d.h. ohne auf Schlussfolgerungen zu basieren, zu der Erkenntnis führen, »dass etwas der Fall ist«75, also als wahr angenommen wird. Als dritte Konzeption legt die der »existenziellen Erfahrung«76, die insbesondere
69 Thomas Blume: »Erfahrung«, in: Wulff D. Rehfus (Hg.), Handwörterbuch Philosophie, Göttingen, [Stuttgart]: Vandenhoeck & Ruprecht; UTB 2003, hier 328 70 Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel: »Kunst und Erfahrung. Eine theoretische Landkarte«, in: Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel (Hg.), Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 7-38 71 Ebd., S. 16 72 Ebd. 73 Ebd., S. 12 (Hervorhebung im Original) 74 Ebd., S. 13-14 75 Ebd., S. 13 (Hervorhebung im Original) 76 Ebd., S. 11
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auf Gadamer und Dewey zurückgeht, Wert darauf, der Komplexität von lebensweltlichen Erfahrungen gerecht zu werden und damit empiristische »Verkürzungen einer auf das Verständnis von (naturwissenschaftlicher) Erkenntnis zugeschnittenen Konzeption von Erfahrung zu vermeiden«77. Für John Dewey ist Erfahrung keine ausschließlich intellektuelle, auf begriffliche Erkenntnis ausgerichtete Angelegenheit. Seinem Erfahrungsbegriff folgend, gehören zu ihr ebenso »Gefühlsqualitäten wie Erstaunen, Furcht und Hoffnung sowie sinnliche Empfindungen wie Wärme und Kälte und Körperempfindungen wie Hunger und Durst«78. Eine weitere Besonderheit von Erfahrungen eines existenziellen Verständnisses liegt darin, dass sie sich von anderen Formen des Erlebens abheben. Insbesondere Gadamer betont, dass Erfahrungen gemacht werden, wenn auf vorherigen Erfahrungen basierende Erwartungen nicht bestätigt werden. Auf diese Weise erlangen sie aus seiner Sicht eine spezifische Bedeutsamkeit. Über eine solche Bedeutsamkeit verfügen existenziell begriffene Erfahrungen auch aus Deweys Perspektive. Seinen Überlegungen folgend sticht eine »in sich geschlossene Erfahrung« 79 deshalb hervor, weil sie sich von dem Vorangegangenen und dem Nachfolgenden abhebe. Architekturerfahrungen: Machen oder sammeln? Reflektiert man die vorgestellten Erfahrungsbegriffe in Bezug auf ihre Eignung als Grundlage eines Architekturerfahrungsbegriffs, scheint zunächst ein existenzielles Verständnis besonders geeignet zu sein, da es der Komplexität alltäglicher Erfahrungen zu entsprechen vermag. Grenzte man auf der Grundlage dieses Verständnisses Architekturerfahrungen jedoch dahingehend ein, dass sie auf durchkreuzten Erwartungen basieren, könnten sie insbesondere dann gemacht werden, wenn architektonische Lösungen durch eine Abweichung vom als ›normal‹ Erkannten gekennzeichnet und somit gerade nicht alltäglich sind. Einen solchen, existenziellen Erfahrungsbegriff legt Achim Hahn seinen Überlegungen zu architektonischen Erfahrungen zugrunde.80 »Wenn ich die Treppe hinaufsteige, mache ich nicht die Erfahrung, dass die Treppe noch da ist, denn das habe
77 Ebd. 78 Martin Suhr: John Dewey zur Einführung (= Zur Einführung), Hamburg, Hamburg: Junius 2016, S. 64 79 John Dewey: Kunst als Erfahrung (= Band 703), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 48 80 Vgl. Achim Hahn: Architekturtheorie. Wohnen, entwerfen, bauen (= Band 2963), Konstanz: UVK-Verl.-Ges. 2008, S. 207-223
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ich ja erwartet.«81 Im Umkehrschluss kann eine Treppe aus dieser Sicht also z.B. bedeutsam und damit Grundlage einer Erfahrung werden, wenn sie es, anders als erwartet, nicht ermöglicht, hinaufzusteigen. Die Erwartung, dass Treppen ein Hinaufgehen ermöglichen, kann jedoch ebenfalls als erfahrungsbasiert betrachtet werden. Auf einer Erfahrung dieses Verständnisses würde das induktiv gewonnene Wissen beruhen, dass Treppen unterschiedliche Ebenen, in der Regel Stockwerke, miteinander verbinden und dass man sie unbesorgt begehen kann, da trotz der zunehmenden Höhe, die man im Hinaufgehen erreicht, keine Absturzgefahr zu erwarten ist. Gerade im Kontext von Architektur, für deren tägliches Erleben als kennzeichnend betrachtet werden kann, dass sie gleichbleibend ist und die somit, Walter Benjamin folgend, »auf dem Wege […] der Gewohnheit«82 rezipiert wird, erscheint es sinnvoll, Architekturerfahrungen weniger als gemachte, als vielmehr als gesammelte Erfahrungen in den Blick zu nehmen. Auf diese Weise können, bei dem Treppenbeispiel bleibend, Erfahrungen berücksichtigt werden, die anhand des Begehens einer Vielzahl von Treppen gemacht werden und unter anderem zu der als wahr angenommenen, jedoch kaum reflektierten Erkenntnis führen, dass Treppen nicht nur verschiedene Ebenen verbinden, sondern in der Regel auch über ein durchgehend einheitliches Steigungsverhältnis und ein sicherndes Geländer verfügen. Wichtig wäre jedoch, diesen Erfahrungsbegriff nicht auf eine, pragmatische Aspekte fokussierende Erkenntnisfunktion zu reduzieren, sondern so zu konzipieren, dass neben dem Gemeinsamen der gesammelten Erfahrungen auch deren jeweilige Besonderheit in ihrer Vielschichtigkeit berücksichtigt werden kann. Einen diesen Überlegungen entsprechenden Erfahrungsbegriff verwendet Peter Zumthor in Architektur denken, wenn er Grundlagen seiner »am tiefsten gründenden Architekturerfahrungen«83 vorstellt. Gebildet werde diese, wie er darstellt, z.B. »[…] von allen Türklinken, die auf jene Klinke am Gartentor meiner Tante folgten und von Böden, von weichen Asphaltflächen, von der Sonne erwärmt; von Steinpflästerungen, bedeckt von Kastanienblättern im Herbst, und von Türen, die auf so unterschiedliche Wei-
81 Ebd., S. 207 82 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien Kunstsoziologie (= Suhrkamp, Band 28), Frankfurt an Main: Suhrkamp Verlag op. 1977, S. 41 83 Peter Zumthor: Architektur denken, Basel: Birkhäuser 2010, 2010, S. 8
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se ins Schloss fielen: die einen satt und vornehm, andere dünn und billig scheppernd, wieder andere hart, grossartig, einschüchternd.«84
Für einen Begriff von Architekturerfahrungen, der einerseits ihrem in diesem Zitat deutlich werdenden Beziehungsreichtum gerecht wird, andererseits aber auch ihren beiläufigen und kumulativen Erwerb in den Blick zu nehmen vermag, sprechen auch Überlegungen zu Wahrnehmungsmodi, die im täglichen Umgang mit Architektur als relevant betrachtet werden können. Wie Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit darstellt, ist für die Wahrnehmung der Architektur ein Modus der Zerstreuung kennzeichnend85, bei dem ein breites Spektrum von Sinnesdaten simultan aufgenommen wird, ohne jedoch umfassend reflektiert zu werden. Überlegungen Jonathan Crarys folgend, ist die zerstreute Wahrnehmung eine Form des unaufmerksamen Wahrnehmens.86 Anders als aufmerksame Wahrnehmung, die selektiv und fokussiert ist, ist unaufmerksames Wahrnehmen auf der einen Seite in seiner Verarbeitungstiefe reduziert87, andersherum betrachtet, bleibt in ihr jedoch die Vielschichtigkeit des Wahrgenommenen erhalten. Ein Architekturerfahrungsbegriff, der nur Wahrnehmungsereignisse in den Blick nimmt, die bedeutsam erscheinen und damit zu einem Aufmerken führen, würde im zerstreuten, oder neutraler formuliert, beiläufigen Modus gesammelte Erfahrungen unberücksichtigt lassen. Er wäre demnach nicht in der Lage, der Komplexität lebensweltlicher Architekturerfahrungen umfassend gerecht zu werden. Erfahrungen des täglichen Umgangs mit Architektur können vor diesem Hintergrund eher als gesammelte denn als gemachte Erfahrungen verstanden werden. Geeignet erscheint eine Betrachtung von Architekturerfahrung als Alltagserfahrung, die, wie Helga Peskoller darstellt, gerade nicht als Ausnahme Bedeutsamkeit erlangt, sondern durch Ge-
84 Ebd. 85 Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 40-41 86 Vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 47-51. Gemäß Crarys hier vertretener These kann allerdings nicht von einer Dualität von Aufmerksamkeit und Zerstreuung ausgegangen werden, sondern beide Wahrnehmungsmodi sind innerhalb eines Kontinuums zu verorten. 87 Vgl. Joseph Krummenacher/Hermann-Josef Müller/Torsten Schubert: »Aufmerksamkeit«, in: Herbert Hagendorf (Hg.), Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Allgemeine Psychologie für Bachelor, Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011, S. 179-228, hier S. 179 ff.
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wohnheit und Normalität gekennzeichnet ist. Die Alltagserfahrung »führt in der Regel ein unauffälliges Dasein und markiert kein Ende, sondern ein Mittendrin. Ihre Existenz hängt von der Selbstverständlichkeit ab, mit der sie stattfindet und nebenher, mehr oder weniger unbemerkt in den Wissensbestand einwandert.«88 Werden Architekturerfahrungen als Alltagserfahrungen und somit als Erfahrungen, die im Umgang mit der gebauten Umwelt gesammelt werden, betrachtet, wirkt sich dies auf den Gegenstandsbereich skulpturaler Erkundungen des Architektonischen aus. Dieser erweitert sich insofern, als er nicht nur Erfahrungen dreidimensionaler Objekte, die nach architektonischen Entwürfen erstellt sind, umfasst, sondern Erfahrungen von allem, was gebaut ist. Gleichzeitig schränkt sich der Gegenstandsbereich dahingehend ein, dass ein besonderer Fokus auf das täglich umgebende Umfeld gerichtet wird. Skulpturale Erkundungschancen alltäglicher Architekturerfahrung Wie in Kapitel 2.1 dargestellt wurde, bieten ästhetische Erfahrungen spezifische Möglichkeiten, um auch vor- oder unbewusste Bereiche des Erlebens zu erschließen. Hintergrund ist, dass in ihnen Verbindungen zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und verschiedenen Ebenen der Reflexion hergestellt werden können. Insbesondere in künstlerischen Kontexten eröffnen sie Zwischenräume, innerhalb derer bestehende Deutungsmuster verunsichert und so ebenfalls reflexiv werden können. Ein damit korrespondierendes spezifisches Erkenntnispotenzial ästhetischer Erfahrungen betrifft demnach diejenigen Architekturerfahrungen, die auf unaufmerksamen Wahrnehmungen basieren, da in deren Kontext vorbewusste Verarbeitungsprozesse eine besondere Rolle spielen. Der hohe Stellenwert unaufmerksamen Wahrnehmens im Kontext des Erlebens gebauter Umwelten, den u.a. Walter Benjamin konstatiert und über den im vorangegangenen Kapitel bereits nachgedacht wurde, kann aus einer wahrnehmungspsychologischen Perspektive damit begründet werden, dass die gebaute Umwelt sich in der Regel nicht bewegt und auch nur relativ geringen Veränderungen unterworfen ist, weshalb sie kaum Neues oder gar Unerwartetes bereithält. Als dem paradigmatischen Gewohnten89 fehlen ihr somit zwei zentrale Eigenschaften, die ihr ei-
88 Helga Peskoller: »Erfahrung/en«, in: Johannes Bilstein (Hg.), Erfahrung Erfahrungen, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 51-78, hier S. 53 89 Begriffe wie das Gewohnte oder Gewöhnliche werden etymologisch auch in anderen Sprachen häufig mit dem Kontext des Wohnens verbunden. Dies gilt auch für den psychologischen Fachterminus: »Der Begriff Habituation bezeichnet im experimentalpsychologischen Kontext generell das allmähliche Nachlassen einer Reaktion auf
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nen größeren Anteil unserer begrenzten90 Aufmerksamkeit verschaffen könnten91, sodass sie vor allem als Hintergrund des sich in ihr abspielenden Lebens wahrgenommen wird. Über eine vorwiegend naturwissenschaftliche Perspektive hinausgehende Betrachtungsweisen des Phänomens Aufmerksamkeit verorten diese in einem sozialen und kulturellen Feld, innerhalb dessen sie u.a. normativen Einflüssen unterliegt. Vor ihrem Hintergrund kann mit Georg Franck und Jonathan Crary überlegt werden, dass Aufmerksamkeit im Informationszeitalter als zunehmend umkämpfte Ressource zu betrachten ist92, von der aufgrund von Aufmerksamkeitsimperativen in den Bereichen »Arbeit, Erziehung und Massenkonsum«93 wenig für die Wahrnehmung der gebauten Umwelt verbleibt. Geht man auf der Grundlage der in Kapitel 1 vorgestellten Betrachtungen von The Tired Room davon aus, dass in dessen Rezeption und Produktion Verbindungen zwischen unbewussten Bereichen des Erlebens von Architektur und einer bewussten Ebene, auf der architektonische Wirkungen in Bezug auf ihre individuelle und gesellschaftliche Relevanz in einer kritischen Weise analysiert werden können, erschlossen werden, kann überlegt werden, dass künstlerische Auseinandersetzungen mit Architektur deren Nutzerinnen und Nutzer in die Lage versetzen können, Übergänge und Verbindungen zwischen bewusstem und unbewusstem Erleben der gebauten Umwelt zu erkunden. Sie können damit ein im alltäglichen Umgang mit der gebauten Umwelt tendenziell fehlendes Bindeglied zwischen Architekturwahrnehmungen und Bewusstseinsebenen bilden, auf denen Reflexion und Erkenntnis möglich sind.
die wiederholte Darbietung eines Stimulus über längere Zeit« Guski, Rainer, Blöbaum, Anke: »Umweltwahrnehmung und Umweltbewertung«, in: Carl F. Graumann (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Göttingen: Verlag für Psychologie C.J. Hogrefe 1983-, S. 443-470, hier S. 447 90 Vgl. Herbert Hagendorf (Hg.): Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Allgemeine Psychologie für Bachelor (= Allgemeine Psychologie für Bachelor), Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011, S. 8 91 Plötzlich auftretende Reize ziehen unmittelbare Aufmerksamkeit auf sich. Vgl. J. Krummenacher/H.-J. Müller/T. Schubert, S. 186; zum Zusammenhang von Aufmerksamkeit und Bewegung: Rainer Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie. Sinne, Körper, Bewegung (= Uni-Taschenbücher, Band 3142), Wien: Facultas.wuv 2013, S. 167 92 Vgl. Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München: Hanser 1998, 49 ff. 93 J. Crary: Aufmerksamkeit, S. 13
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Die Auseinandersetzung mit sich in der Rezeption von The Tired Room eröffnenden Chancen, Architekturerfahrungen zu reflektieren, lässt darüber hinaus erkennbar werden, dass es sich bei Erfahrungen, die in skulpturalen Kontexten aufgerufen werden, um räumliche Erfahrungen in ihrer (bau)körperlichen Be-Dingtheit handelt. Eine in ästhetischen Erfahrungsprozessen möglich werdende Erschließung dieser Erfahrungen eröffnet damit Einblicke in die Arten und Weisen, wie dreidimensionale Objekte und Strukturen auf das Erleben des durch sie gebildeten oder sie umgebenden Raumes Einfluss nehmen. Ebenfalls ausgehend von den Überlegungen zu The Tired Room, aber auch vor dem Hintergrund der Bedeutung, die leiblichem Erleben im Kontext ästhetischer Erfahrungen zuerkannt werden kann, deutet sich ein besonderes Potenzial skulpturaler ästhetischer Erfahrungen an, das Erleben des eigenen Körpers, in dem sich physische und mentale Prozesse verschränken, als Basis von Erfahrungen der gebauten Umwelt zu reflektieren. Im Folgenden sollen die damit umrissenen Erkenntnischancen ästhetischer Erfahrungsprozesse, die im Rahmen skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt in Gang gesetzt werden können, genauer betrachtet werden. Hierzu wird zunächst dargestellt, auf welche Arten und Weisen Imaginationen und Assoziationen in Verarbeitungsprozesse von beiläufigen Wahrnehmungen dreidimensionaler baulicher Strukturen einfließen und damit das Erleben der gebauten Umwelt mitbestimmen. Gezeigt wird so, inwiefern das räumliche Erleben in seiner körperlichen und baukörperlichen Bedingtheit die Beziehung zur gebauten Umwelt mitgestaltet. In einem zweiten Schritt wird diese Betrachtung um eine soziologische Perspektive erweitert, in der auf der Basis der Historizität der Wahrnehmungsweisen Zusammenhänge zwischen dem Wahrnehmen und Erfahren der gebauten Umwelt und sozialen und kulturellen Entwicklungen in den Blick genommen werden können. Schließlich wird unter Bezugnahme auf Überlegungen der ökologischen Psychologie dargestellt, inwiefern unbewusste Verarbeitungsprozesse beiläufiger Wahrnehmungen als handlungsrelevant betrachtet werden können. Anhand des Einbezugs sowohl der soziologischen als auch der ökologischen Perspektive soll gezeigt werden, dass dem Erleben der gebauten Umwelt nicht nur subjektive, sondern auch soziale Relevanz zukommt. Ziel der Betrachtung insgesamt ist es, zu zeigen, dass eine in ästhetischen Erfahrungsprozessen möglich werdende Erschließung des auf beiläufigen Wahrnehmungen basierenden Erlebens gebauter Umwelten eine Basis für ein umfassendes Verständnis des Architektonischen bilden kann. Gleichzeitig dient die folgende Betrachtung aber auch der Ermittlung von Grundlagen für die weitere Betrachtung skulpturaler und architektonischer Bildungschancen, indem konkretere Facetten des Erlebens gebauter Umwelten aufgezeigt werden, die Gegenstand skulpturaler Erkundungen werden können.
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Forschungslage zur baukörperlichen Bedingtheit räumlichen Erlebens Um das körperliche Erleben als Grundlage von Erfahrungen der gebauten Umwelt in den Blick zu nehmen, eignet sich eine phänomenologische Perspektive, aus der allerdings, wie im Folgenden noch genauer gezeigt werden soll, nur bedingt Anknüpfungspunkte erkennbar werden, um dieses Erleben in seiner baukörperlichen Bedingtheit betrachten zu können. Um konkrete Anhaltspunkte für die Erschließung des Zusammenwirkens leiblichen und baukörperlichen Erlebens zu finden, wird die phänomenologische Perspektive daher im Folgenden erweitert, indem zum einen einfühlungsästhetische, zum anderen zeitgenössische architekturästhetische Betrachtungsweisen einbezogen werden. Erschwert wird eine Erkundung der baukörperlichen Bedingtheit des Erlebens gebauter Umwelten dadurch, dass Auseinandersetzungen mit der Ästhetik der Architektur, wie Detlev Schöttker konstatiert, relativ selten sind. Dies führt aus seiner Sicht zu einem »Mangel an Wissen über die sinnliche Wirkung architektonischer Formen im Alltagswissen wie in den Wissenschaften«94. Ein möglicher Hintergrund dieses von Schöttker beobachteten Phänomens ist, dass sich die von Baumgarten als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis«95 begriffene Ästhetik erstmals in einem Zeitraum etabliert, in dem sich progressive Strömungen der Architektur zunehmend auf deren funktionale und technische Seite zu konzentrieren beginnen. Historisch entwickelte Vorbehalte gegenüber einer Betrachtung architektonischer Fragen aus ästhetischer Perspektive basieren zum Teil auch auf einem Begriff der Ästhetik, bei dem, anders als von Baumgarten ursprünglich überlegt, ihr Gegenstandsbereich auf die Kunst und/oder das Schöne beschränkt wird. Dies kann erklären, dass ihre Zuständigkeit für die Architektur der Moderne, die sich bewusst von einer sich künstlerisch verstehenden Beaux-Arts-Architektur im Besonderen und damit auch von der Kunst im Allgemeinen distanziert, in Frage gestellt wird. Beobachtet werden kann jedenfalls, dass auf der einen Seite ästhetische Überlegungen den Bereich der Architektur aussparen96, dass auf der anderen Seite aber auch in Architekturtheorie und Entwurfspraxis offiziell wenig Interesse daran gezeigt wird, Architektur aus einer Wahrnehmungsperspektive zu
94 Detlev Schöttker: »Auge und Gedächtnis. Für eine Ästhetik der Architektur«, in: Merkur 56 (2002a), S. 494-507, hier S. 499 95 Alexander G. Baumgarten/Hans R. Schweizer: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der »Aesthetica« (1750/58) Lateinisch-Deutsch (= Philosophische Bibliothek, Bd. 355), Hamburg: F. Meiner 1988, S. VII 96 Vgl. D. Schöttker: Auge und Gedächtnis, S. 499
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betrachten97. Eine Ausnahme bilden u.a. einfühlungsästhetische Überlegungen des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich auf Befunde der experimentellen Psychologie berufen, damit einen dem Selbstverständnis der architektonischen Moderne entsprechenden Positivismus beanspruchen und so aus architekturtheoretischer Sicht interessant werden können. In postmodernen architekturtheoretischen Diskursen werden ästhetische Überlegungen umfassender berücksichtigt. Dies steht in einem Zusammenhang zu einer (erneuten) Erweiterung des Begriffs der Ästhetik, die Wolfgang Welsch nun »als Thematisierung von Wahrnehmungen aller Art, sinnenhaften ebenso wie geistigen, alltäglichen wie sublimen, künstlerischen wie lebensweltlichen«98 verstanden wissen möchte. Insofern in der postmodernen Architektur allerdings eine semiotische Ebene in den Vordergrund tritt, bleiben Betrachtungen der sinnlichen Architekturwahrnehmung weiterhin selten. Im Kontext der zuvor vorgestellten Absicht, Architekturwahrnehmungen eines beiläufigen Modus als alltägliche Wahrnehmungen zu erkunden, sind ästhetische Perspektiven nur dann als Grundlage geeignet, wenn sich ihr Interesse nicht ausschließlich auf Betrachtungen von Architektur als Baukunst richtet. Die im folgenden vorgestellten Positionen wurden daher bewusst so ausgewählt, dass anhand ihrer die Besonderheiten von Architekturwahrnehmungen im täglichen, handelnden Umgang mit der ganz normalen und gewohnten gebauten Umwelt in den Blick genommen werden können. Positionen wie die Gernot Böhmes oder auch Roger Scrutons, innerhalb derer, einem postmodernen Ästhetikbegriff (im Sinne einer Aisthesis) folgend, nicht zwischen ästhetischen Wahrnehmungen in künstlerischen und außerkünstlerischen Kontexten differenziert wird, werden aufgrund dieses spezifischen Erkenntnisinteresses ausschließlich in Bezug auf ihre Relevanz für das tägliche Erleben der gebauten Umwelt jenseits eines besichtigenden Modus betrachtet bzw. hinsichtlich ihrer Eignung für eine solche Betrachtung reflektiert. Ein weiteres zentrales und die Auswahl möglicher Bezüge maßgeblich einschränkendes Kriterium betrifft die Frage, inwiefern aus der jeweiligen Perspektive Hinweise auf die baukörperliche Bedingtheit räumlichen Erlebens erkennbar werden.
97
Paradigmatisch für das Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und einem architektonischen Diskurs der Moderne ist Le Corbusiers ambivalentes Verhältnis zu einer für sein Schaffen äußerst wichtigen ästhetischen Perspektive, z.B. erkennbar in Le Corbusier: 1922, Ausblick auf eine Architektur (= Bauwelt-Fundamente, Band 2), Braunschweig [u.a.]: Birkhäuser 2013b
98
Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken (= Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 8681), Stuttgart: Reclam 2010, S. 9-10
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2.2.2 Das Erleben der gebauten Umwelt Der gleichermaßen physisch-materielle wie erlebte Körper des Menschen bildet eine Schnittstelle, vor deren Hintergrund Besonderheiten der Wahrnehmungsbeziehung von Mensch und gebauter Umwelt erkannt werden können. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kommt körperlichen Erfahrungen der gebauten Umwelt gerade im Kontext der nur teilweise bewussten Verarbeitungsprozesse beiläufiger Wahrnehmungen eine wichtige Rolle zu. Um diesem Aspekt nachzugehen, werden in den folgenden Betrachtungen zu Erfahrungsweisen gebauter Umwelten, die in ästhetischen Erfahrungsprozessen reflexiv werden können, zunächst Perspektiven auf die Frage vorgestellt, auf welche Arten und Weisen in Verarbeitungsprozessen von Wahrnehmungen der gebauten Umwelt Bezüge zum Körper hergestellt werden. Als Grundlage von Betrachtungsweisen, die das Erleben der gebauten Umwelt und damit die Herstellung einer unmittelbaren Beziehung zwischen der wahrgenommenen Architektur und dem erlebten Körper der Wahrnehmenden in den Vordergrund stellen, eignen sich insbesondere phänomenologische Perspektiven. Diese gehen auf Edmund Husserl zurück, der im Kontext der durch ihn begründeten phänomenologischen Philosophie den Leibbegriff verwendet, um zwischen einem als Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung verstandenen physischen Körper und einem als Einheit von Körper und Seele begriffenen und damit nicht distanziert betrachtbaren Leib zu unterscheiden.99
99 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (= Philosophische Bibliothek, Band 602), Hamburg: Meiner 2009. Dadurch, dass bei einer Verwendung des Leibbegriffs unmittelbar deutlich wird, dass der Körper der Wahrnehmenden gleichermaßen als Subjekt wie als Objekt der Wahrnehmung gemeint ist, bietet sich seine Verwendung im Kontext der folgenden Überlegungen an, da er Möglichkeiten bietet, um Hintergründen der wahrnehmungsbasierten Beziehung zwischen Menschen und gebauten Umwelten nachzugehen. Der Begriff Leib entspricht daher im Folgenden immer dann, wenn er nicht explizit in den Blick genommen und abweichend definiert wird, einer Formulierung Benno Hinkes folgend einem »Wie-es-sich-anfühlt, physisch-verfasster-Mensch-zu-sein«. Vgl. Benno Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt. Grundlagen einer künstlerisch-philosophischen Forschungspraxis (= Architekturen, Band 39), Bielefeld: transcript 2017, S. 420
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Die Bedeutung des körperlichen Erlebens im Kontext von Architekturerfahrungen wird, verstärkt seit den 1990er Jahren100, von vielen Autorinnen und Autoren als zentral eingeschätzt.101 Im Kontext von Auseinandersetzungen mit Architekturerfahrungen, die in der sinnlichen Wahrnehmung gründen, bietet insbesondere Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung102, in der Husserls Bewusstseinsphänomenologie in eine Leibphänomenologie überführt wird, interessante Denkansätze. Im Unterschied zu einfühlungsästhetischen Positionen, die als »Phänomenologie avant la lettre«103 zwar bereits einen leiblichsinnlichen Ansatz entwickeln und über Verschränkungen von Subjekt und Objekt im Wahrnehmungsvollzug nachdenken, dabei jedoch eine Trennung von Innen- und Außenwelt aufrecht erhalten, ermöglicht es die Leibphänomenologie, der »Frage nach der in der leiblich-sinnlichen Vermittlung sich vollziehenden bewusstseinsmäßigen Konstitution unserer Lebenswelt«104 systematischer und begrifflich präziser nachzugehen. Der Begriff des Leibes, den Gernot Böhme als »unsere eigene Natur, wie sie uns in Selbsterfahrung gegeben ist«105 definiert, trägt im Zusammenhang mit Fragen der Architekturerfahrung dem Aspekt Rech-
100 Vgl. Gernot Böhme: »Leibliche Anwesenheit im Raum«, in: Egon Schirmbeck (Hg.), RAUMstationen. Metamorphosen des Raumes im 20. Jahrhundert, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung 2001a, S. 92-98, hier S. 92. Böhme begründet die »Wiederentdeckung des menschlichen Leibes« einerseits mit der im Rahmen technischer Entwicklungen zunehmenden Freisetzung des Menschen als Arbeitskraft, andererseits mit dem im gleichen Kontext wachsenden Bedürfnis nach einer Rückbesinnung auf grundlegende Fragestellungen menschlicher Existenz. 101 Zuletzt u.a. Wolfgang Meisenheimer: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, Köln: König 2004; Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006; Steven Holl/Juhani Pallasmaa/Alberto Pérez Gómez (Hg.): Questions of perception. Phenomenology of architecture, San Francisco, CA: William Stout Publishers 2006; Fred Rush: On architecture, London, New York, N.Y.: Routledge 2009; Harry F. Mallgrave: Architecture and Embodiment. The implications of the new sciences and humanities for design, London, New York: Routledge 2013a; Saskia Hebert: Gebaute Welt, Gelebter Raum. Vom möglichen Nutzen einer phänomenologischen Raumtheorie für die städtebauliche Praxis, Berlin: Jovis 2012. 102 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. 103 Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter: »Einleitung«, in Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hg.): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst (= Bd. 5), Berlin: Lit 2007, S. 7-33, hier S. 8 104 Ebd. 105 Gernot Böhme: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006b, S. 14
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nung, dass Körper und Geist im Kontext konkreter Raumerfahrungen untrennbar miteinander verbunden sind. Der Leib ist somit gleichermaßen Subjekt und Objekt, weshalb die Leibperspektive den Hintergrund der Erfahrung eines unmittelbaren Eingebundenseins in die dinghafte gebaute Umwelt bildet. Auf der Leiblichkeit der Wahrnehmung basiert aus phänomenologischer Sicht u.a. eine grundlegende Orientierungsfähigkeit in konkreten Räumen, die es z.B. erlaubt, rechts und links sowie oben und unten auf der Basis der leiblichen Direktionalität und damit nicht als Ergebnis einer kognitiven Leistung unmittelbar zu unterscheiden.106 Insofern alle Seiten räumlicher Gebilde, die, wie wesentliche Teile der gebauten Umwelt, selbst unbeweglich sind, nicht gleichzeitig gesehen werden können, setzt deren vollständiges Erfassen zum einen die Bewegung der Betrachtenden voraus, erfordert aber zum anderen auch leibliches Bewusstsein. Dies wird in folgendem Zitat Maurice Merleau-Pontys zum Ausdruck gebracht: »Die mannigfaltigen Aspekte, unter denen ich meine Wohnung sehe, wenn ich in ihr auf und ab gehe, können mir nur daher als Anblicke ein und desselben Dinges erscheinen, daß ich zum voraus schon weiß, daß ein jeder dieser Aspekte die Wohnung von hier oder da gesehen darstellt, und meiner eigenen Bewegung sowie meines Leibes als eines durch die Phasen dieser Bewegung hindurch Identischen mir bewußt bin.«107
Die Leiblichkeit der Wahrnehmung ist, wie Merleau-Ponty argumentiert, also insofern als grundlegende Basis räumlicher Erfahrung zu betrachten, als wir räumliche Gebilde nur dadurch erfassen können, dass wir selbst einen Körper haben, mit dem wir uns als identisch erleben. So begriffen wir körperliche Formen nicht dadurch in ihrer Gesamtheit, dass wir sie innerlich konstituieren, sondern durch ein wahrnehmend-erfahrendes Eintauchen »in die Dichte der Welt«108. Von einem Würfel, den er als elementare körperliche Form exemplarisch heranzieht, können wir maximal drei Seiten gleichzeitig sehen, zusätzlich sind diese Seiten in der visuellen Wahrnehmung perspektivisch verzerrt, sodass sie nicht als Quadrate gesehen werden. Einen Würfel an sich oder ein absolutes Würfelsein könnte daher nur der Würfel selbst wahrnehmen. Wie Merleau-Ponty argumen-
106 Vgl. Wolfgang Welsch: »Räume bilden Menschen«, in: Egon Schirmbeck (Hg.), RAUMstationen. Metamorphosen des Raumes im 20. Jahrhundert, S. 12-24, hier S. 16-18 107 M. Merleau-Ponty M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung S. 239 108 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 240
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tiert, sind wir jedoch aufgrund der Leiblichkeit der Wahrnehmung in der Lage, dieses Würfelsein unmittelbar zu erfassen: »Ding und Welt sind mir gegeben mit den Teilen meines Leibes, nicht dank einer ›natürlichen Geometrie‹, sondern in lebendiger Verknüpfung, vergleichbar oder vielmehr identisch mit der, die zwischen den Teilen meines Leibes selbst herrscht.«109
Raum wird aus dieser Perspektive nicht als objektiv oder anhand von Sinnesdaten gegeben, sondern nur im Hinblick auf seine Erfahrbarkeit erfasst. Insofern die leibliche Dimension der Raumerfahrung unbewussten Bereichen der Architekturwahrnehmung zuzuordnen ist, spielt sie als Grundlage einer Analyse in einem beiläufigen Modus aufgenommener sinnlicher Wahrnehmungen eine zentrale Rolle. Dadurch, dass es der phänomenologischen Perspektive darum geht, eine Trennung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommener Umwelt möglichst umfassend zu überwinden, ist es allerdings nicht in ihrem Interesse, die baukörperlichen Bedingungen des Erlebens in den Blick zu nehmen, da ein Nachdenken über diese Bedingungen eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt implizieren würde. Dennoch enthalten auf phänomenologischen Gedanken basierende Auseinandersetzungen mit dem Erleben von Architektur zum Teil Hinweise auf Besonderheiten, die deren baukörperlicher Bedingtheit geschuldet sind. Neben phänomenologischen Betrachtungen werden jedoch weitere Perspektiven vorgestellt, die eine solche Trennung nicht konsequent vollziehen, da sie interessante und teils sehr konkrete Einblicke in mögliche Zusammenhänge, die zwischen baukörperlichen Formen und Strukturen und deren Erleben bestehen, eröffnen. Einfühlungsästhetische Überlegungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nehmen unter den vorzustellenden Perspektiven eine besondere Stellung ein, da sie eine wichtige Basis aktuellerer Betrachtungen darstellen, auf die diese z.T. auch explizit Bezug nehmen. Architekturerfahrung aus der Perspektive der Einfühlungsästhetik Einfühlungsästhetische Überlegungen, die durch Erkenntnisse der experimentellen Psychologie Wilhelm Wundts motiviert werden110, entwickeln sich zunächst
109 Ebd., S. 241 110 Vgl. Aḱos Moravánszky: »Die Wahrnehmung des Raumes«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 121-146, hier S. 124
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ohne expliziten Architekturbezug, betreffen jedoch insofern immer auch architekturrelevante Fragestellungen, als sie sich mit der Wahrnehmungsbeziehung von Mensch und Umwelt auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung wendet sich von bis dahin vorherrschenden, vorkantischen Betrachtungsweisen ab, die der Frage, wie etwas wahrgenommen wird, anhand von Eigenschaften der Objekte nachgehen, ohne dabei subjektive Anteile zu berücksichtigen.111 Einer Definition Theodor Lipps’ folgend, ist »Einfühlung ganz allgemein gesagt dies, daß etwas von mir oder ein in Wahrheit mir und nur mir zugehöriges Element, also etwas Subjektives, für mich in dem vom Subjekt aufgefaßten oder ihm geistig gegenüberstehenden Gegenstand liegt, nicht in dem Gegenstand also, so wie er an sich ist, oder in dem reinen Gegenstand, sondern in dem Gegenstand für mich oder dem Gegenstand, wie er für das auffassende Subjekt da ist oder ihm erscheint.«112
Erstmals verwendet wird der Begriff der Einfühlung von Robert Vischer.113 In Über das optische Formgefühl (1873)114 geht er zunächst von Überlegungen aus, die einen subjektiven Bezug zu Formen, damit erklären, dass diese auf der Grundlage von Assoziationen als Symbole aufgefasst werden. Aus dieser Sichtweise wird z.B. die physische Größe einer Form mit geistiger Größe assoziiert und erlangt somit subjektive Bedeutung. Diese Erklärung befriedigt Vischer insofern nicht, als eine solche Vorstellungsbildung bewusste Verarbeitungsprozesse erfordert, er sich jedoch für Wirkungen interessiert, die von Formen im Rahmen ihrer unbewussten Wahrnehmung unmittelbar auszugehen scheinen und so zu einer »tiefen, dunklen, sichern, innigen und doch freien Ineins- und Zusammenfühlung«115 von Subjekt und Form führen.116 Als Erklärung für dieses Phänomen entwickelt er seinen Einfühlungsbegriff, den er in sensitive und motorische Einfühlung weiter ausdifferenziert, zunächst als ein »unbewusstes Verset-
111 Vgl. T. Friedrich/J. H. Gleiter: Einleitung, S. 7 112 Theodor Lipps: Zur Einfühlung, zitiert nach Kirsten Wagner: »Vom Leib zum Raum. Aspekte der Raumdiskussion in der Architektur aus kulturwissenschaftlicher Perspektive«, in: Wolkenkuckucksheim Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 9 (2004) 113 Vgl. A. Moravánszky: Die Wahrnehmung des Raumes, S. 124 114 Robert Vischer: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig: Credner 1873. 115 Ebd., S. VI 116 Vgl. ebd., S. VI-VII
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zen der Leibform und hiemit auch der Seele in die Objektform«117. Die sensitive Einfühlung oder »Zufühlung«118 beruhe auf der »Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit des Objekts zunächst mit dem Bau des Auges, weiterhin aber mit dem Bau des ganzen Körpers«119, die motorische »Nachfühlung«120 auf einem rhythmischen Eindruck der Form, »der nichts anderes ist als die wohlige Gesammtempfindung einer Reihe von gutgelungenen Selbstbewegungen«121. Hinweise auf eine konkrete architektonische Relevanz seiner Überlegungen werden erkennbar, wenn Vischer anhand von Beispielen zeigt, welche auf Einfühlung basierenden Wirkungen Formen und Räume entfalten. »In niedrigen Stuben bekommt unser ganzer Körper eine Empfindung von Last und Druck. Alterskrumme Mauern können die Grundempfindung unserer leiblichen Statik beleidigen.«122 Und auch das für Architektur wesentliche Moment, ein räumliches Inneres gegen ein Außen abzugrenzen, kann über die Einfühlung erfahrbar werden: »Die Anschauung der äußeren Grenzen einer Form kann sich in dunkler Weise mit der Empfindung der Körpergrenzen combiniren, welche ich an oder vielmehr mit meiner allgemeinen Hauthülle spüre.«123 Ähnlich wie Vischer erklärt auch Theodor Lipps das Phänomen der Einfühlung mit dem unhintergehbaren menschlichen Bedürfnis, Objekte als lebendig wahrzunehmen.124 Deren Maß sei der Mensch als »das schönste, zugleich auch wiederum das häßlichste der sichtbaren Objekte«125, vor allem aber insofern, als in der eigenen Erfahrung als lebendiger Mensch »der Gehalt an Leben und Lebensmöglichkeiten am unmittelbarsten einleuchtend ist.‘126 Die Einfühlung in einen Wahrnehmungsgegenstand bewirkt aus Theodor Lipps Sicht jedoch nicht dessen Vermenschlichung, sondern wird von ihm als eine Art Übertragung von Gefühlen als einem »seelischen Inhalt«127 konzipiert, der mit dem Körper, seinen
117 Ebd., VII 118 Ebd., S. 8 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 10 123 Ebd., S. 11 124 Vgl. Theodor Lipps: Grundlegung der Ästhetik (= Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst), Hamburg, Leipzig: Leopold von Voss 1903, S. 102 125 Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd., S. 96
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Bewegungen, seiner Aktivität oder Passivität sowie den auf ihn wirkenden Kräften in Verbindung stehe128. Wie er betont, ist Einfühlung »nicht ein freies Spiel der Phantasie, sondern sie geschieht mit psychologischer Notwendigkeit. Sie umwebt nicht das Wahrgenommene oder Vorgestellte mit menschlichem Leben, sondern sie findet es darin als ein unweigerlich daran Gebundenes, in und mit dem Wahrgenommenen oder Vorgestellten zugleich Gegebenes, von ihm Unabtrennbares.«129
Mit dieser Betonung ihrer Unhintergehbarkeit impliziert Lipps, dass Einfühlung als grundlegendes Phänomen auch im alltäglichen Umgang mit Architektur von Bedeutung ist. Er erkennt aber auch ihre Steigerungsmöglichkeiten in eine ästhetische Einfühlung, die, als ein »vollkommenes Aufgehen meiner in dem optisch Wahrgenommenen und dem, was ich darin erlebe«130, einer Überschreitung dieser Alltagssicht entspräche. Eine solche Überschreitung wiederum sieht er als Basis der Möglichkeit, zu einem intellektuellen Verständnis des sinnlich Wahrgenommenen zu gelangen, einem Verständnis, das aus der vorangehenden, zunächst unbewusst erfolgenden Einfühlung hervorgeht und diese nicht umgekehrt erst ermögliche.131 Einfühlung basiert aus Lipps Sicht damit nicht auf explizitem Wissen, sondern hat zunächst ›instinktive‹ Grundlagen. Er vermerkt jedoch, »dass zu diesem Instinkt die Erfahrung ergänzend, bereichernd, ausgestaltend, verfeinernd hinzutritt.«132 Besondere Relevanz im Hinblick auf wahrnehmungsbasierte Grundlagen der Architekturerfahrung kommt Lipps Überlegung zu, dass eine Einfühlung, die er zunächst anhand der Wahrnehmungsbeziehung zu natürlichen Objekten konturiert, keine Ähnlichkeitsbeziehung voraussetzt und somit für geometrische Formen ebenfalls von Bedeutung ist. Als grundlegendes Prinzip betrifft sie darüber hinaus auch die Raumwahrnehmung. Durch die Einfühlung werde »der von den Wänden eines Gebäudes eingeschlossene Teil lebendig. […] Er ist belebt in allen seinen Teilen, im gleichen Sinne wie der Raum des menschlichen Körpers.«133 Obgleich die vorgestellten einfühlungstheoretischen Positionen eine Architekturaffinität aufweisen, die in deren optisch-taktiler Wahrnehmung eines all-
128 Vgl. ebd., S. 169-178 129 Ebd., S. 165-166 130 Ebd., S. 125 131 Vgl. ebd., S. 126 132 Ebd. 133 Ebd., S. 258
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täglichen und damit durch Beiläufigkeit gekennzeichneten Modus begründet ist134, wird die Wahrnehmung der gebauten Umwelt hier kaum eigens thematisiert. Anders ist das in Heinrich Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur sowie in August Schmarsows Ueber den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde, innerhalb derer einfühlungsästhetische Überlegungen auf Architektur bezogen und somit in einen architekturtheoretischen Diskurs eingebracht werden.135 Heinrich Wölfflin geht hierbei von der Frage aus, wie es möglich ist, »dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können«136 und beantwortet sie, indem er den Bezug zum Körper, den vor ihm bereits Robert Vischer ästhetisch produktiv gemacht hatte, explizit auf die Architektur bezieht: »Körperliche Formen können charakteristisch sein nur dadurch, dass wir selbst einen Körper besitzen«137, dessen Erfahrungen wir auch »auf die Auffassung linearer und planimetrischer Verhältnisse«138 übertragen. So kann beispielsweise das architektonische Problem des Tragens und Lastens, dessen Relevanz bereits Schopenhauer betont, indem er Stütze und Last als »das einzige und beständige Thema der Architektur«139 bezeichnet, aus Wölfflins Perspektive nur vor dem Hintergrund eigener körperlicher Erfahrungen verstanden werden: »Wir haben Lasten getragen und erfahren, was Druck und Gegendruck ist, [...] aus diesem Grund wissen wir das stolze Glück einer Säule zu schätzen und begreifen den Drang alles Stoffes, am Boden sich formlos auszubreiten.«140 Zentrales Einfühlungsprinzip ist aus seiner Sicht die Übertragung eines Formwillens auf die wahrgenommenen architektonischen Formen, »der zur Form sich durchzuringen versucht und den Widerstand eines formlosen Stoffes zu überwinden hat«141. Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur erwecken zunächst den Eindruck, eine anthropomorphistische Sichtweise auf architektonische Gestaltung fortzuschreiben, deren Wurzeln in zentralen architektonischen
134 Vgl. T. Friedrich/J. H. Gleiter: Einleitung, S. 12 135 Vgl. ebd. 136 Heinrich Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1999, S. 7 137 Ebd., S. 9 138 Ebd. 139 Arthur Schopenhauer: »Zur Aesthetik der Architektur (1859)«, in: Klaus T. Edelmann/Gerrit Terstiege (Hg.), Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel: Birkhäuser 2010, S. 293-299, hier S. 293 140 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 9 141 Ebd., S. 17
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Paradigmen des späten 18. Jahrhunderts liegen142. Allerdings reduziert Wölfflin eine Einfühlung in architektonische Formen nicht auf ein Wiedererkennen menschlicher Körperformen oder Physiognomien. »Das Bild unserer selbst schieben wir allen Erscheinungen unter. Was wir als die Bedingungen unseres Wohlbefindens kennen, soll jedes Ding auch besitzen. Nicht so, daß wir den Schein eines menschlichen Wesens in den Formen der anorganischen Natur verlangten, aber wir fassen die Körperwelt mit den Kategorien auf (wenn ich so sagen darf), die wir mit derselben gemeinsam haben.«143
Konkret meint er damit »die Verhältnisse der Schwere, des Gleichgewichts, der Härte usw.«144. Auf ihnen basierten »die großen Daseinsgefühle«145, die in der Architektur zum Ausdruck gebracht werden können. Ebenso wie Heinrich Wölfflin stellt auch August Schmarsow in Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894) einen expliziten Architekturbezug einfühlungsästhetischer Ideen her. In diesem Text vertritt er die These, dass eine aus den Empfindungen des eigenen Körpers resultierende »räumliche Anschauungsform«146 für die Wahrnehmungsbeziehung von Mensch und Architektur konstituierend sei. Mit seiner Fokussierung des Bezugs zum Raum, »der uns umgiebt, wo wir auch seien, den wir fortan stets um uns aufrichten und notwendig vorstellen, notwendiger als die Form unsers Leibes«147, möchte Schmarsow den unmittelbareren Anthropomorphismus, den er in den, die körperlichen Formen der Architektur fokussierenden Überlegungen Wölfflins erkennt, überwinden. Architektur als Raumgestaltung orientiere sich an dem »Innersten unserer Organisation«148, das einem axialen System entspreche: »In sich selber trägt ja das Subjekt die Dominante des Axensystems, das Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen. […] Nächst dem Höhenlot, dessen lebendiger Träger mit seiner
142 Vgl. T. Friedrich/J. H. Gleiter: Einleitung, S. 13 143 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 10 144 Ebd. 145 Ebd. 146 August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Form (Ausschnitt)«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 153-158, hier S. 154 147 Ebd. 148 Ebd., S. 155
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leiblichen Orientierung nach oben und unten, vorn und hinten, links und rechts bestimmend weiter wirkt, ist die wichtigste Ausdehnung für das eigentliche Raumgebilde vielmehr die Richtung unserer freien Bewegung, also nach vorwärts, und zugleich unsers Blicks, durch Ort und Stellung unserer Augen bestimmt, also die Tiefenausdehnung.«149
»Architektur kann so als Projektion der räumlichen Ausrichtung des Menschen verstanden werden, wobei sie den Raum, den der Leib um sich aufspannt, zugleich gliedert, begrenzt und umschließt.«150 Mit der Bedeutung, die die reale oder vorgestellte Bewegung in die der Blickachse entsprechende Tiefenausdehnung des Raumes erlange, geht aus Schmarsows Perspektive einher, dass Bewegungsmöglichkeiten und mit ihnen verbundene körperliche Empfindungen eine wichtige Grundlage der Bewertung von Architektur bildeten. So würden enge und verwinkelte Räume, die die Bewegung einschränken auf einer körperlichen Basis als unangenehm empfunden.151 Schmarsows Sicht erweitert die einfühlungsästhetischen Positionen seiner Vorgänger insofern, als Architektur hier erst in der Wahrnehmung zum Raum und somit ihrer raumbildenden Bestimmung gerecht werden kann. Insbesondere seine Überlegungen zu einer »Verbindung zwischen Körperhaltung, Bewegung und Wahrnehmung einerseits und Räumlichkeit des Bauwerks andererseits«152 eröffnen eine neue Perspektive auf Architektur und sind für den architekturtheoretischen Diskurs des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung. Die vorgestellten einfühlungsästhetischen oder einfühlungspsychologischen Überlegungen zusammenfassend, können assoziative und imaginative Momente, die in Verarbeitungsprozessen beiläufiger Wahrnehmungen eine Rolle spielen, darauf basieren, dass ein unmittelbares Hineinversetzen in architektonische Formen und Räume erfolgt. Grundlage dieser Möglichkeit bilden Kategorien, die Menschen und Gebäude aufgrund ihrer Körperlichkeit teilen oder auch eine räumliche Organisation, die eine Gemeinsamkeit von Mensch und Architektur ist. Eine weitere Basis von Assoziationen und Imaginationen sind, wie Robert Vischer überlegt, Mitbewegungen. Gemeinsam ist den vorgestellten einfühlungsästhetischen Positionen, dass eine Verlebendigung und Beseelung architektonischer Formen und Räume erfolgt, auf deren Basis es möglich ist, Formen unmittelbar als ausdrucksvoll wahrzunehmen.
149 Ebd., S. 155-156 150 K. Wagner: Vom Leib zum Raum 151 Vgl. August Schmarsow: »Das Wesen der architektonischen Form, S. 156-157 152 A. Moravánszky: Die Wahrnehmung des Raumes, S. 128
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Leibliche Erfahrung architektonischer Gesten Verbindungen zwischen einfühlungsästhetischen und phänomenologischen Überlegungen zu Fragen des Erlebens von Architektur stellt der Architekt Wolfgang Meisenheimer in Das Denken des Leibes und der architektonische Raum her. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen sind einfühlungspsychologische Gedanken, die Heinrich Wölfflin in seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur formuliert. Diese möchte Meisenheimer auf der Basis einer von Max Scheler, Helmut Plessner, Hermann Schmitz und Gernot Böhme entwickelten Philosophie des Leibes weiterführen, um so zu einer architekturtheoretischen Berücksichtigung der »Erkenntnis des Leibes«153 beizutragen. Während die Einfühlungspsychologie davon ausgeht, dass architektonische Wirkungen vor dem Hintergrund eines Hineinversetzens in die jeweilige architektonische Raum- oder Körperform wahrgenommen werden, kann aus einer phänomenologischen Perspektive, die, wie oben dargestellt, eine Überwindung des cartesianischen Dualismus von Körper und Seele anstrebt, eine unmittelbare Verschränkung des wahrnehmenden Subjekts und der gebauten Umwelt gedacht werden. Die von Wölfflin gestellte Fragen nach Hintergründen einer der einfühlenden Wahrnehmung architektonischer Wirkungen zugrundeliegenden »unbegreiflichen ›Selbstversetzung‹«154 bzw. danach, »wie nun die Beseelung dieser fremden [architektonischen] Gestalten zu denken sei«155 werden damit weniger beantwortet als vielmehr insofern obsolet, als aus phänomenologischer Sicht kein Akt des Hineinversetzens stattfindet, sondern eine unmittelbare Verbindung zwischen wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt immer schon gegeben ist. Wölfflins Ausgangsfrage »Wie ist es möglich, daß architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können?«156 kann daher von Meisenheimer auf der Basis seiner phänomenologischen Vorannahmen folgendermaßen umformuliert werden: »Wie kommt es, dass unser Leib architektonische Formen als ausdrucksvoll wahrnimmt und daraus Erkenntnisse über das Wesen dieser Dinge entstehen?«157 Wenngleich die Formulierung dieser Frage aufgrund ihres tendenziellen Essenzialismus hinterfragt werden könnte, sind die Betrachtungen, die Meisenheimer in ihrer Beantwortung anstellt, dennoch interessant, da sie weitere mögliche Facetten der unbewussten Verarbeitungsprozesse beiläufiger Architekturwahrnehmungen aufzeigen.
153 W. Meisenheimer: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, S. 9-10 154 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 13 155 Ebd., S. 10 156 Ebd., S. 7 157 W. Meisenheimer: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, S. 17
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Der im Kontext seiner diesbezüglichen Überlegungen aufgestellten These zufolge, spielt für die leibliche Wahrnehmung architektonischer Wirkungen, die Meisenheimer trotz ihrer baukörperlichen Bedingtheit in erster Linie als räumliche Wirkungen in den Blick nimmt158, eine unmittelbare, d.h. vor jedem begrifflichen Verstehen zu verortende, »gestische Korrespondenz«159 eine zentrale Rolle. »Unter den vielen Aspekten architektonischer Bedeutung gibt es einen, der allen andern zugrunde liegt oder vorausgeht: die Wirkung architektonischer Gesten auf den Leib des Betrachters und Benutzers und umgekehrt die Prägung architektonischer Gesten durch Gefühle des Leibes. […] Alle anderen Bedeutungsqualitäten, soziale, psychologische, kulturelle und politische, sind ihm nachgeordnet, denn sie können im konkreten Fall in Architekturphänomene einbezogen sein oder auch nicht, Architekturraum-LeibraumZusammenhänge aber sind unausweichlich, sie sind bei jeder Begegnung mit gebauten Dingen gegeben.«160
Als grundlegende architektonische Gesten, die er von kulturell oder konventionell vermittelten Gesten aufgrund ihrer unmittelbaren »vom Wissen des Betrachters, von ästhetischer Bildung oder pragmatischem Interesse«161 unabhängigen Korrespondenz zum Leib unterscheidet, erkennt Meisenheimer »die Geste der Aufrichtung (die Vertikale errichten), die Geste hier! und dort! (Orte setzen), das Trennen von innen und außen (Grenzen ziehen) sowie die Gesten für Enge und Weite (Spannung erzeugen)«162. Insbesondere in der Bezugnahme auf die vertikale Raumachse sowie die Aspekte der Spannung bzw. der Enge und Weite, über die Wölfflin im Zusammenhang mit der Atmung der Betrachtenden nachdenkt163, werden Parallelen zu einfühlungspsychologischen Überlegungen erkennbar. Darüber hinaus verweist die Idee der Geste auf Mitbewegungen, die Robert Vischer als Grundlage von Einfühlungen erkennt164. Auch wenn diese einfühlungsästhetischen Phänomene auf Wahrnehmungsweisen beruhen, die sich einem bewussten Zugang weitgehend entziehen, handelt es sich hier im Ver-
158 Vgl. ebd., S. 14-15 159 Ebd., S. 12 160 Ebd., S. 11 161 Ebd., S. 24 162 Ebd., S. 25 163 Vgl. H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 12 164 Vgl. R. Vischer: Über das Optische Formgefühl, S. 8
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gleich zur gestischen Korrespondenz, die Meisenheimer vorstellt, allerdings um aktivere Wahrnehmungsprozesse. Architekturerfahrung als Erfahrung von Atmosphären Eine weitere Perspektive, die leib-phänomenologische Überlegungen auf Fragen des Erlebens von Architektur bezieht, stellt Gernot Böhme in Architektur und Atmosphäre vor. Ein besonderes Augenmerk richtet er auf das Erspüren einer architektonischen Situation in ihrer Gesamtheit, wobei er ebenso wie Wolfgang Meisenheimer Architekturerfahrungen vor allem als Raumerfahrungen in den Blick nimmt. Architekturerfahrungen interessieren Gernot Böhme im Kontext der hier vorgestellten Überlegungen zu Wahrnehmbarkeit und Begriff von Atmosphären. Atmosphären werden innerhalb dieser Überlegungen »als Grundtatsache menschlicher Wahrnehmung deutlich, nämlich der Wahrnehmung, in der der Mensch durch sein Befinden zugleich spürt, wo er sich befindet.«165 Die Besonderheit von Atmosphären besteht aus Böhmes Sicht darin, dass sie »weder Zustände des Subjektes noch Eigenschaften des Objektes« sind. »Gleichwohl werden sie nur in aktueller Wahrnehmung eines Subjektes erfahren und sind durch die Subjektivität des Wahrnehmenden in ihrem Was-Sein, ihrem Charakter, mitkonstituiert. Und obgleich sie nicht Eigenschaften der Objekte sind, so werden sie doch offenbar durch die Eigenschaften der Objekte in deren Zusammenspiel erzeugt.«166
Dadurch, dass sie auf diese Weise Subjekt und Objekt verbinden, bestimmen Atmosphären die Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung. Da diese wesentlich auch als gebaute, d.h. architektonische Umgebung begriffen werden kann, betrachtet Böhme Atmosphären als »für Theorie und Praxis der Architektur außerordentlich bedeutsam.«167 Um Architekturerfahrung als Erfahrung von Atmosphären in den Blick nehmen zu können, stellt Böhme die Räumlichkeit der Architektur in den Vordergrund, wobei er Raum in diesem Kontext weder als Ortsraum (topos) noch als Abstandsraum (spatium) betrachtet, sondern vielmehr als den Raum leiblicher
165 G. Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 105 166 Gernot Böhme: »Atmosphären«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 236246, hier S. 242 167 G. Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 105
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Anwesenheit168, der Einfluss auf die Befindlichkeit hat. Diese wiederum besteht sowohl darin, »sich in einem Raum [zu] befinden«169, als auch darin, »sich so und so [zu] fühlen, so und so gestimmt [zu] sein.«170 Architektur in ihrer Materialität und Dinghaftigkeit droht im Kontext dieser Betrachtungsweise aus dem Blick zu geraten, spielt jedoch insofern eine Rolle, als sie, neben nicht-körperlichen Komponenten wie vor allem Licht und Ton, zu den »Erzeugenden von Atmosphären«171 gehört. Als objektive Konstituente von Atmosphären trägt Architektur in ihren »geometrischen Strukturen« und »körperlichen Konstellationen«172 damit zu Befindlichkeiten bei, deren Relevanz für die Erfahrung der gebauten Umwelt Böhme folgendermaßen darstellt: »Die Befindlichkeit, insofern ich spüre, wo ich mich befinde, gibt gewissermaßen eine Art Grundstimmung ab, die alle anderen Stimmungen, die mich noch heimsuchen oder die aus mir aufsteigen, tönt. Diese Grundstimmung wird uns deshalb in der Regel als solche nicht bewusst sein, hat aber gleichwohl eine außerordentliche Bedeutung, auch als überspielte, verdrängte, also unbewusste, insofern sie sich nämlich über den leiblichen Tonus psychosomatisch auswirken kann. Es ist dies der Grund, weshalb die atmosphärische Wirkung von Räumen nicht nur für besondere Situationen, sei es nun touristischer oder festlicher Art, ernst genommen werden muss, sondern auch für den Alltag von Arbeit, Verkehr, Wohnen.«173
Architektonische Strukturen tragen demnach aus Böhmes Sicht zur Schaffung von Räumen mit Atmosphären bei, die z.B. als beengend oder offen, niederdrückend oder erhebend empfunden werden oder von denen Bewegungssuggestionen ausgehen können, ohne dass diese Wirkungen bewusst reflektiert werden. Grund hierfür ist, dass eine reflexive Distanz zu Atmosphären aufgrund ihres eingangs dargestellten spezifischen Status als Relation zwischen Subjekt und Objekt nicht möglich ist. Eine Atmosphäre ist etwas, »demgegenüber eine vollständige Distanzierung nicht möglich ist, ohne dass es, […] zusammenbricht oder sich auf ein Ding zusammenzieht.«174
168 Vgl. ebd., S. 113 169 Ebd. S. 122 170 Ebd. 171 Ebd., S. 123 172 Ebd. 173 Ebd., S. 122 174 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2003, S. 46
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Wird die leibliche Anwesenheit für die Erfahrung architektonischer Räume als grundlegend betrachtet, ist neben ihrem Einfluss auf Befindlichkeiten ihr synästhetischer Charakter kennzeichnend. Als Synästhesien begreift Böhme, Wahrnehmungen, die nicht einem einzelnen Sinnesbereich zugeordnet werden können, sondern sich durch Intermodalität auszeichnen.175 Wenn zum Beispiel gekachelte oder blau gestrichene Räume unabhängig von ihrer messbaren Lufttemperatur als kalt wahrgenommen werden, wird deutlich, dass Raumerfahrungen »Erfahrungen leiblichen Spürens sind und deshalb nur in ambivalenter Weise auf Sinnesbereiche verteilt werden können.«176 Insofern Böhme seinen Überlegungen einen Wahrnehmungsbegriff zugrunde legt, der sich nicht auf sinnliche Wahrnehmungen beschränkt, sondern auch Gefühle umfasst, kann der synästhetische Charakter einer Atmosphäre aber auch darin bestehen, dass sie Verbindungen zwischen sinnlichen Reizen und Emotionen begünstigt. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn die Atmosphäre eines dunklen Raumes als traurig empfunden wird. Die Architekturerfahrungen aus Böhmes Sicht maßgeblich zugrundeliegende Wahrnehmung von Atmosphären umfasst neben synästhetischen aber auch konventionelle Anteile. Als Beispiel für den gesellschaftlichen Charakter von Atmosphären verweist Böhme auf den Aspekt der Gemütlichkeit, dem er kulturspezifische Komponenten zuerkennt. Konventionen unterliegt aus seiner Sicht unter anderem auch der Einfluss von Materialien auf die atmosphärische Wirkung der gebauten Umwelt. So habe z.B. Granit im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine »vaterländische Atmosphäre«177 begünstigen können. Unter Einbezug von Böhmes Überlegungen zu atmosphärischen Erfahrungen lässt sich ein Verständnis von alltäglichen Architekturerfahrungen insofern weiter differenzieren, als sie erlauben, diese in ihrer auf der Leiblichkeit der ihnen zugrundeliegenden Wahrnehmungen basierenden Breite zu berücksichtigen. Wie Böhme darstellt, werden Atmosphären auf der Grundlage einer Synthese vielfältiger Wahrnehmungen in ihrer Gesamtheit erspürt. Sie können insofern als Form
175 Damit weicht Böhme von einer neurowissenschaftlichen und psychologischen Begriffsverwendung ab. Hier »ist der Begriff reserviert für Querverbindungen zwischen Modalitäten. Dabei hebt man Synästhesie von den transmodalen Qualitäten ab.« Synästhetisches Wahrnehmen ist in diesem Sinne Synästhetikern vorbehalten, die zwei unterschiedliche Modalität gekoppelt wahrnehmen (z.B. Klang und Farbe). Vgl. Rainer Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie. Sinne, Körper, Bewegung (= Uni-Taschenbücher, Band 3142), Wien: Facultas.wuv 2013, S. 268. 176 G. Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 124 177 Ebd., S. 124-125
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der »diffusen Erregung«178 betrachtet werden, als ihre Auslöser nicht einzelnen konkret-dinglichen Besonderheiten der Umgebung zugeordnet werden können. Somit kommen sie in besonderer Weise als Basis von Architekturerfahrungen in Betracht, die in einem für die Wahrnehmung der gebauten Umwelt bedeutsamen Modus der Zerstreuung gesammelt werden, in dem ebenfalls keine Fokussierung auf einzelne Aspekte oder Sinneskanäle erfolgt. Einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines umfassenden Verständnisses von Architekturerfahrungen leisten Böhmes Überlegungen aber auch dadurch, dass sie sie als Raumerfahrung genauer in den Blick nehmen. Dies trägt zu einem Verständnis von Architekturerfahrungen bei, das den raumbildenden Charakter der Architektur in den Vordergrund stellt. Martin Seel weist allerdings darauf hin, dass eine einseitige Fokussierung des Atmosphärischen dazu führen kann, dass Erfahrungen von Dingen in ihrer phänomenalen Beschaffenheit aus dem Blick geraten.179 Visuelle und multisensorische Architekturwahrnehmung Architekturerfahrungen, in deren Kontext Inbezugsetzungen zum eigenen, erlebten Körper eine zentrale Rolle spielen, erkennt auch der finnische Architekt und Architekturtheoretiker Juhanni Pallasmaa einen besonderen Stellenwert zu, wobei er Zusammenhänge zwischen in einem zerstreuten Wahrnehmungsmodus besonders relevanten peripheren visuellen Wahrnehmungen180 und Einflüssen multisensorischer Wahrnehmungsweisen herstellt. Konkret befasst er sich dabei mit der Frage, auf welche Weise multimodale Wahrnehmungen, unter denen insbesondere haptische, taktile und kinästhetische Wahrnehmungen den gesamten Körper einbeziehen, sowie Inbezugsetzungen des Wahrgenommenen zum körperlichen Erleben in die vor allem visuelle Wahrnehmung der gebauten Umwelt einfließen. Seine Überlegungen sind im Kontext von Betrachtungen der Relevanz auf beiläufigen Wahrnehmungen basierender Besonderheiten des Erlebens von Architektur interessant, da sie diesen Wahrnehmungsmodus als Grundlage eines unmittelbaren Eingebundenseins in die gebaute Umwelt in den Blick nehmen und somit aufwerten. Gleichzeitig richten sie einen Fokus auf die Frage, warum und inwiefern Materialwirkungen im Kontext des auf beiläufigen Wahrnehmungen basierenden Erlebens gebauter Umwelt eine Rolle spielen.
178 R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 293 179 Vgl. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München [u.a.]: Hanser 2000b, S. 153 180 Das menschliche Auge verfügt über einen zentralen (fovealen) Bereich, der scharfes Sehen ermöglicht und einen peripheren Bereich, innerhalb dessen unschärfer und weniger farbintensiv gesehen wird. Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 141-144
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In seiner Schrift Die Augen der Haut verfolgt Pallasmaa »die Absicht, die immer unüberwindbarer scheinende Dominanz des Sehsinns aufzubrechen und ihn konzeptionell enger an den Tastsinn und dessen besondere Eigenschaften zu binden.«181 Ein besonderes Interesse richtet sich in seinen diesbezüglichen Überlegungen auf Wechselwirkungen zwischen den Sinnen, auf deren Bedeutung auch aus wahrnehmungspsychologischer Sicht hingewiesen wird182. Wie Pallasmaa darstellt, ist »jede tiefergehende Architekturerfahrung […] multisensorisch; Auge, Nase, Zunge, Ohr, Haut, Skelett und Muskeln beurteilen die Eigenschaften von Raum, Material und Maßstab. Architektur bestärkt uns in unserer existenziellen Erfahrung, in unserem Empfinden, in der Welt zu sein und dadurch verhilft sie uns zu einer tieferen Erfahrung unseres Selbst. Anstatt nur den Sehsinn oder die fünf klassischen Sinne zu berücksichtigen, integriert Architektur verschiedenste Bereiche sinnlicher Erfahrung, die ständig interagieren und schließlich zu einer einzigen Erfahrung verschmelzen.«183
Auch wenn Architekturwahrnehmungen durch Multimodalität gekennzeichnet sei, nehme das Sehen innerhalb ihrer einen zentralen Stellenwert ein. Begründet ist die Bedeutung des Sehens im Kontext von Wahrnehmungen der gebauten Umwelt und der darauf basierenden Architekturerfahrungen dadurch, dass »der visuelle Sinn […] sich im Verlauf der Evolution zu unserer primären Quelle der Erfahrung entwickelt«184 habe. Eine besondere Rolle im Umgang mit Architektur spiele die »überlegene Leistungsfähigkeit des Sehens im Wahrnehmen räumlicher Sachverhalte«185, weshalb »bei ortsbezogenen Aufgaben die visuelle Modalität wegen des besseren räumlichen Auflösungsvermögens des visuellen Systems dominant ist«.186 Auch Ulf Jonak erkennt in seinen Überlegungen zur
181 Juhani Pallasmaa: Die Augen der Haut. Architektur und die Sinne, Los Angeles: Atara Press 2013, S. 12 182 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 253 183 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 52 184 Axel Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, Halle: Burg Giebichenstein Kunsthochschule 2010, S. 182 185 R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 259 186 H. Hagendorf/J. Krummenacher u.a.: »Zusammenwirken der Sinne«, in dies.: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, S. 159-166, hier S. 162
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Architekturwahrnehmung der visuellen Wahrnehmung eine wichtige Rolle zu und begründet dies mit ihrer besonderen Komplexität und Schnelligkeit.187 Juhanni Pallasmaa folgend, handelt es sich bei der visuellen Wahrnehmung im Kontext beiläufiger Architekturwahrnehmungen jedoch um ein besonderes Sehen. Es steht aus seiner Sicht in besonders umfassender Weise mit anderen Sinnen in Verbindung und wird durch die Leiblichkeit der Wahrnehmung moderiert. Einflüsse anderer Sinne auf die visuelle Wahrnehmung sowie die leibliche Fundierung konkreter Architekturerfahrung spielen aus Pallasmaas Sicht vor allem im Bereich des peripheren Sehens eine wichtige Rolle. 188 Anders als ein fokussiertes Sehen bewirke peripheres Sehen keine Distanzierung, sondern binde den Menschen in seine Umwelt ein. »Unbewusste periphere Wahrnehmung überführt rein visuelle Gestalt in räumliche und körperliche Erfahrungen. Eine periphere Sichtweise umgibt uns immer mit Raum, während eine streng ausgerichtete uns aus ihm herausdrängt und zu bloßen Zuschauern macht.«189 Eine ähnliche Position nimmt schon Robert Vischer ein, dessen Konzeption eines ›einfachen Sehens‹ Parallelen zum peripheren Sehen aufweist. »Dieses einfache ›Sehen‹ ist immer ein verhältnismäßig unbewusster Vorgang«190, den Vischer als »den notwendigen Anfang aller konkreten Raumerfassung«191 betrachtet. Er unterscheidet diese Form des Sehens insbesondere von einem fixierenden und identifizierenden Sehen, das er als »abstraktes Zwecksehen«192 bezeichnet. Sowohl Pallasmaas als auch Vischers Sichtweisen korrespondieren mit neurobiologischen Erkenntnissen zu möglichen Hintergründen des visuellen Wahrnehmens.193
187 Vgl. Ulf Jonak: Architekturwahrnehmung. Sehen und Begreifen, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2015, S. 3 188 Vgl. J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 13 189 Ebd., S. 17 190 Robert Vischer: »Über das optische Formgefühl (1927)«, in: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin: Lit 2007b, S. 37-70, hier S. 40 191 Ebd., S. 41 192 Ebd., S. 40 193 Sinnesdaten die durch die Sensorzellen im Randbereich der Netzhaut aufgenommen werden, münden vorwiegend in die »Wo/Wie-Bahn« des visuellen Kortex, dienen also nicht wie die zentral aufgenommenen und in die »Was-Bahn« mündenden Daten dem Erkennen und Benennen von Objekten. Wie das folgende Zitat nahelegt, können sie mit dem Phänomen der Einfühlung in Verbindung gebracht werden, für das H. F. Mallgrave Spiegelneuronen und kanonische Neurone verantwortlich
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Dadurch, dass in das periphere Sehen in stärkerem Maße als in ein fokussiertes Sehen Sinnesdaten einfließen, die mit anderen, untereinander wiederum transmodal verbundenen Sinnen aufgenommen werden, bezieht dieser Modus des visuellen Wahrnehmens den gesamten Körper ein. Eine besondere Bedeutung erkennt Pallasmaa hierbei Verbindungen von Seh- und Tastsinn zu, die für das »visuelle Begreifen von Materialität, Entfernung, und räumlicher Tiefe«194 erforderlich seien.195 Aus Pallasmaas Perspektive, die dem Tastsinn, den er als »das Unbewusste des Sehsinns«196 versteht und als dessen Erweiterungen er alle anderen Sinne betrachtet197, einen zentralen Stellenwert im Kontext von Architekturerfahrungen zuerkennt, ist die Materialität der gebauten Umwelt für deren Erfahrung ungeachtet derer vor allem visueller Wahrnehmung demnach von großer Bedeutung. Die visuelle Wahrnehmung als Basis von Architekturerfahrungen in Anwesenheit ist über die dargestellten Besonderheiten hinaus auch dadurch gekennzeichnet, dass sie mit Bewegungen der Betrachtenden verbunden ist. Wie Steen Eiler Rasmussen anhand der Beschreibung seines Erlebens einer städtebaulichen Situation zeigt, wird Architektur in unmittelbarer bewegter Anwesenheit als rundum umgebend erfahren, da neben Bereichen, die in einem peripheren Sichtfeld liegen, auch Erinnerungen an außerhalb des sichtbaren Bereichs Liegendes in den Gesamteindruck einbezogen werden.198 Auch aufgrund der mit ihr häufig verbundenen Bewegung bindet die visuelle Wahrnehmung erlebter Räume die Betrachtenden in die gebaute Umwelt ein, indem sie sie physisch aktiviert.199
macht: »Das System von Spiegelneuronen […] die sowohl beim eigenen Agieren wie beim Beobachten von Handlungen anderer aktiv sind, ist der Wo/Wie-Bahn bzw. dem ventro-dorsalen Pfad zuzurechnen. Neben den Spiegelneuronen finden sich in den genannten Bereichen auch sogenannte kanonischen Neurone, die sowohl bei eigenen objektbezogenen Aktionen als auch beim Anblick der Objekte aktiv sind.« Vgl. R. Schönhammer, S. 141-145, Zitat auf S. 142. 194 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 53 195 Auch Robert Vischer erkennt eine enge Verbindung von Seh- und Tastsinn, die er folgendermaßen formuliert: »Das Tasten ist ein ‚derberes Schauen in die unmittelbare Nähe›, das Sehen ein ‚feineres Tasten in die Ferne‹«. R. Vischer, S. 3 196 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 54 197 Vgl. ebd., S. 13 198 Vgl. Steen E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, Stuttgart: Krämer 1980, S. 42 199 Vgl. Rudolf Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form. Gestützt auf die 1975 an der Cooper Union in New York gehaltenen ›Mary Duke Biddle Lectures‹, Köln: DuMont 1980, S. 123
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Unabhängig davon, ob die visuelle Wahrnehmung der gebauten Umwelt beiläufig-peripher oder aufmerksam-fokussiert ist, bewirkt der Aspekt der Bewegung außerdem ein tendenziell dynamisches und offenes Sehen. Diese Eigenschaft tritt jedoch besonders deutlich in den Vordergrund, wenn eine Fokussierung vollständig zugunsten eines umherschweifenden Blicks aufgegeben wird, wie es im Kontext eines nicht unmittelbar ziel- bzw. zweckorientierten Umgangs mit der gebauten Umwelt, z.B. bei Spaziergängen, der Fall sein kann. Wie Juhanni Pallasmaa unter Bezugnahme auf David Michael Levin überlegt, korrespondiert mit der Variabilität des Betrachtungsstandortes bzw. dessen Aufgabe ein »pluralistischer, demokratischer, kontextueller, horizontaler, einschließender und fürsorglicher Blick«200. In Bezug auf die Frage, auf welche Weise Architektur in ihrer Dinghaftigkeit im täglichen Umgang auf das Erleben einwirkt, sind Pallasmaas Überlegungen insofern von Interesse, als sie die Bedeutung der Materialität, die sich in Texturen und Strukturen der Oberfläche zeigt, als Grundlage des Erlebens von Architektur hervorheben. Sie zeigen darüber hinaus, dass die visuelle Wahrnehmung zwar eine zentrale Grundlage von Architekturerfahrungen bildet, dies jedoch nicht bedeutet, dass Architektur als zweidimensionales Bild vollständig erfasst werden kann. Wie Rudolf Arnheim betont, gilt dies auch für die bewegten Bilder des Films. Ihr »Ergebnis kann in sich selbst interessant sein, aber es entspricht keineswegs dem für das Erleben von Architektur typischen Wechselspiel zwischen dem Gebäude und dem Besucher.«201 Die Schwierigkeit, einen Eindruck des Erlebens von Architektur als Bild zu vermitteln, beobachtet auch Richard Neutra. Wie er darstellt, scheitert der Versuch, die Besonderheit seines Versuchshauses am Silbersee (1934) in Los Angeles, dessen Entwurf sich an menschlichen Nutzungs- und Wahrnehmungsbedürfnissen orientiert, fotografisch zu demonstrieren. »Eine solche Demonstration führt im Leben weit über und hinter das Visuelle und […]in eine Darbietung, die sich an alle menschlichen Sinne wendet. Sie sind sämtlich in ihrer Reaktion intim verschmolzen. […] Wie könnte also ein Fotograf eine derart allsinnliche Demonstration illustrieren?«202
200 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 48 201 R. Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 123 202 Richard Neutra: Bauen und die Sinneswelt, Dresden: Verlag der Kunst 1977, S. 30
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Abbildung 6: Richard Neutra: Versuchshaus am Silbersee, Los Angeles (1934)
Aus der Sicht des Philosophen und Kunsttheoretikers Karsten Harries entspricht ein vorwiegend visueller Zugang zu einer als Bild begriffenen Umwelt einer cartesianischen Sichtweise, auf deren Basis eine Beziehung zur gebauten Umwelt unvollständig bliebe: »To the extend that we understand the world as a picture, confuse it, say, with what appears on our television screens, we stand before it, have lost our place in it.«203 Embodiment Eine Perspektive, aus der Erfahrungen der Umwelt in ihrer leiblichen Fundiertheit betrachtet werden, ist auch im Kontext des relativ jungen EmbodimentDiskurses204 von Bedeutung. Harry Francis Mallgrave bezieht diesen Diskurs in Architecture and Embodiment205 auf Erfahrungen der gebauten Umwelt, indem er unter anderem Verbindungen zwischen einfühlungstheoretischen Überlegun203 Karsten Harries: »The Task of Art in the Age of the World Picture«, in: Deborah Hauptmann/Bart Akkerhuis (Hg.), The body in architecture, Rotterdam: 010 Publishers 2006, S. 82-93, hier S. 84 204 Der Begriff Embodiment (engl. für Verkörperung) »ist [...] kein einheitlich verwendeter Begriff, sondern er steht für versch. Phänomene, die sich um die Wechselwirkung von Körper und psych. Prozessen wie Denken und Fühlen (Gefühl, Emotionen) sowie Handeln (Handlung) gruppieren. Bisher ist noch kein allg. anerkanntes, umfassendes theoretisches Konzept zu E. vorhanden.« Christina Bermeitinger: Embodiment, https://portal.hogrefe.com/dorsch/embodiment/ vom 14.09.2017 205 Harry F. Mallgrave: Architecture and Embodiment. The implications of the new sciences and humanities for design, London, New York: Routledge 2013
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gen und aktuellen neurowissenschaftlichen Befunden herstellt. Ein besonderes Interesse gilt dabei den in den 1990er Jahren entdeckten Spiegelneuronen, anhand derer empathische Fähigkeiten erklärt werden können. »This systemic firing of specialized neurons means that we mentally simulate or embody most of what we apprehend through the senses, whether we are aware of it or not.«206 Insbesondere der von Robert Vischer in seiner Dissertation Über das optische Formgefühl (1873) entwickelte Einfühlungsbegriff weist aus Mallgraves Sicht vielfältige Parallelen zu neurowissenschaftlichen Befunden auf.207 Auch Überlegungen Heinrich Wölfflins bieten, Mallgrave folgend, Anschlussmöglichkeiten für Erkenntnisse der Hirnforschung, kann diese doch Hinweise zur Beantwortung einer Frage geben, die Wölfflin in seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur stellt, und zwar der Frage, »wie nun die Beseelung dieser fremden Gestalten [der Architektur] zu denken sei.«208 Die Möglichkeit, mit dem Körpergefühl das Objekt zu durchdringen, möchte Wölfflin nicht wie Johannes Volkelt oder Friedrich Vischer durch eine pantheistische Auffassung der Welt begründen.209 Vielmehr interessiert ihn die Frage, inwiefern sich die Wahrnehmung architektonischer Formen unmittelbar auf körperliche Empfindungen auswirkt, die dann wiederum Einfluss auf Stimmungen und Befindlichkeiten nehmen. Als Beispiel für eine solche Wirkungsweise der Architektur führt er die Einflüsse architektonischer Formen auf die Atmung an: »nach der Weite oder Enge der räumlichen Verhältnisse richtet sich die Respiration«210. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtung kann er die Überlegungen seiner Vordenker konkretisieren: »Statt einer unbegreiflichen ›Selbstversetzung‹ hätten wir uns dann etwa vorzustellen, der optische Nervenreiz löse direkt eine Erregung der motorischen Nerven aus, die die Kontraktion bestimmter Muskeln veranlassen.«211 Mit dieser Hypothese, die, wie er feststellt auf der Basis des Erkenntnisstandes seines eigenen zeitlichen Kontextes nicht belegt werden könne, nähert sich Wölfflin deutlich neurowissenschaftlichen Erklärungsmodellen für empathische Vorgänge. Interessant im Kontext einer Annäherung an Besonderheiten von Architekturerfahrungen, die auf unbewusst oder weniger bewusst verarbeiteten Wahrnehmungen basieren, sind Mallgraves Aktualisierungen einfühlungsästhetischer
206 Ebd., S. 13 207 Vgl. ebd., S. 122 208 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der architektonischen Form, S. 10 209 Vgl. ebd., S. 11 210 Ebd., S. 12 211 Ebd., S. 13
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Überlegungen insofern, als die Aktivität der Spiegelneuronen vorreflexiven Verarbeitungsprozessen zugordnet wird.212 Weitere für Architekturerfahrungen relevante Verarbeitungsprozesse, die durch neurobiologische Erkenntnisse bestätigt werden, deuten auf ein unbewusstes emotionales Bewertungssystems der gebauten Umwelt hin, das psychische und physische Bereiche verbindet.213 Eine evolutionsbiologische Perspektive verweist in diesem Zusammenhang auf die Existenz von unbewussten Wahrnehmungsgrundlagen, die bewirken, dass die Umwelt insbesondere hinsichtlich der Frage bewertet wird, ob sie günstige Überlebensbedingungen bereithält214. Neuere Erkenntnisse zu einem der Aufnahme sensorischer Reize und ihrer kognitiven Verarbeitung zwischengeschalteten perzeptuellen System, innerhalb dessen »evolutionsgeschichtlich festgelegte, nicht erlernbare«215 Konzeptformen wirksam sind, stützen diese Vermutung. Aus Mallgraves Sicht ermöglicht eine Berücksichtigung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandes neue Einsichten in die Bedeutung des Körpers im Kontext von Architekturerfahrungen, da anhand ihrer z.B. einfühlungstheoretische Überlegungen bestätigt und konkretisiert werden können. Gleichzeitig relativiert er die Bedeutung neurobiologischer Befunde, indem er auf die Komplexität von Architekturerfahrungen verweist: »Whereas emotional circuits and mirror neurons will never explain all dimensions of the architectural experience, they provide us with important insights into how we encounter and respond to certain materials, spaces, forms scales, lighting conditions, and creative intentions put forth by the designer.«216
Architekturerfahrung als imaginative Erfahrung: Einfühlungen und leibliche Korrespondenzen zweiter Ordnung Aus der Sicht des britischen Philosophen Roger Scruton, die gemeinsam mit Überlegungen Steen Eiler Rasmussens vorgestellt werden soll, spielen im Kontext des Erlebens von Architektur Erfahrungsformen eine besondere Rolle, die er als imaginative Erfahrung beschreibt. Scrutons und Rasmussens imaginative Erfahrungen betreffende Überlegungen eröffnen weitere Perspektiven auf unbe-
212 Vgl. H. F. Mallgrave: Architecture and Embodiment, S. 14 213 Vgl. ebd., S. 13 214 Vgl. ebd., 73–75 215 Rainer Mausfeld: »Wahrnehmungspsychologie«, in: Astrid Schütz (Hg.), Psychologie. Eine Einführung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder, Stuttgart: Kohlhammer 2011, S. 66-88, hier S. 75 216 H. F. Mallgrave: Architecture and Embodiment, S. 14
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wusste und vorbewusste Wahrnehmungen der gebauten Umwelt und ermöglichen so zusätzliche Einblicke in die baukörperliche Bedingtheit räumlichen Erlebens im Modus der Beiläufigkeit. Ebenso wie Steen Eiler Rasmussen, auf den er sich bezieht, nimmt Scruton nicht explizit auf phänomenologische oder einfühlungsästhetische Überlegungen Bezug. Parallelen zu diesen Überlegungen können jedoch hergestellt werden, da sich die von beiden als Hintergründe des Erlebens von Architektur vorgestellten Imaginationen auf ihre Basis im leiblichen Erfahren zurückführen lassen. Um imaginative Erfahrungen in ihrer Besonderheit darzustellen, grenzt Scruton sie von »normalen« oder »bloßen«217 sinnlichen Erfahrungen ab, die »von ihrem Gegenstand erzwungen«218 seien. Anders als in ihnen komme dem erfahrenden Subjekt in der imaginativen Erfahrung eine aktive Rolle zu, die darin bestehe, Aspekte einzubeziehen, die nicht den wahrgenommenen Sinnesdaten entnommen werden könnten, sondern aus einem anderen Bereich auf sie übertragen würden.219 Eine solche Übertragung finde zum Beispiel immer dann statt, wenn architektonische Formen als bewegt wahrgenommen würden. Hier werde eine zeitliche Dimension an die wahrgenommenen Sinnesdaten herangetragen, über die sie selbst nicht verfügten. Anstelle einer statischen Anordnung von Mauerwerk, die dem bloßen Erfahren entspräche, nähmen wir Formen wahr, die hervorzuspringen scheinen, andere riefen den Eindruck einer »ruhige[n] horizontale[n] Bewegung«220 hervor. Diese Leistung ist, wie Scruton darstellt, auf Imagination angewiesen, die er jedoch von einer Einbildungskraft im Sinne Kants abgrenzt. Während letztere als eine an jeglicher Wahrnehmung beteiligte grundlegende Strukturierungsleistung verstanden wird, handelt es sich bei der Imagination nach Scrutons, sich an Sartre und Wittgenstein orientierendem Verständnis um einen kreativen Akt.221 »Das Ziel der imaginativen Erfahrung ist keine Überzeugung, sondern eine andere Form des Verstehens. Die imaginative Erfahrung ist deswegen nicht durch den Wunsch, Dinge ›herauszufinden‹ und nicht durch die Beschäftigung mit Tatsachen charakterisiert.«222 Wie Scruton betont, überschreitet die imaginative Erfahrung zwar die sinnliche Wahrnehmung, bleibt jedoch an sie gebunden, d.h. sie dauert nur so lange an, wie etwas sinnlich wahr-
217 Roger Scruton: »Die Architekturerfahrung«, in: Christoph Baumberger (Hg.), Philosophie der Architektur. Grundlagentexte, Münster: mentis 2012, S. 67-93, hier S. 89 218 Ebd. 219 Vgl. ebd. 220 Ebd., S. 88 221 Vgl. ebd., S. 71 222 Ebd., 84
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genommen wird.223 Der in ihr enthaltene kreative Akt, der »über die Ziele eines Wörtlich-Verstehens hinausgeht«224, sei dabei immer schon Teil der Erfahrung und somit nicht als zeitlich nachgeordnete kognitive Leistung zu betrachten. Die Imagination kann aus Scrutons Sicht zwar auch bewusst gesteuert werden, eine solche Kontrolle sei jedoch nicht erforderlich. Vielmehr laufe der Imaginationsprozess normalerweise ohne bewusste Kontrolle ab225, entziehe sich dieser sogar insofern, als er sich nicht abstellen lasse226. Imaginationen basieren also auf kreativen Prozessen, die einerseits die Aktivität der Betrachtenden erfordern, die aber andererseits nicht abgestellt werden können und somit jenseits einer AktivitätsPassivitäts-Dichotomie verortet werden: »Die Imaginative Wahrnehmung […] unterliegt Denkmustern und Mustern der Steuerung unserer Aufmerksamkeit«227 und umfasst Momente freier Willensentscheidung. Z.B seien wir in der Lage, architektonische Elemente »zunächst auf diese, dann auf jene Weise zu sehen.«228 Unser aktiver Zugriff erstrecke sich jedoch nicht auf die Möglichkeit, zwischen imaginativer und nicht-imaginativer Wahrnehmung der gebauten Umwelt zu wählen. Imaginative Erfahrung, die Scruton u.a. auch als Bedingung der Möglichkeit, Musik nicht nur als bloße Aneinanderreihung von Tönen zu hören, versteht, spielt aus seiner Sicht für den Umgang mit Architektur eine besondere Rolle: »Architektur ist nicht nur hin und wieder ein Gegenstand imaginativer Erfahrung […], sondern ein genuiner Gegenstand dieser Erfahrung, denn sie kann nur mittels der Einbildungskraft verstanden werden.«229 Dies gelte nicht nur für eine als Baukunst verstandene Architektur wie die gotischer Kathedralen, bei der ein »Sehen-als«230 seitens des Entwurfs angestrebt werde, sondern sei für Architekturerfahrung insofern allgemein grundlegend, als Architektur in besonderem Maße mehrdeutig sei. Wie Scruton andeutet, hängt dies unter anderem damit zusammen, dass Architektur nicht ausschließlich visuell wahrgenommen werde, sondern in der Architekturerfahrung auch »Bewegungen, Geräusche, Veränderungen und Berührungen Teile eines einheitlichen Ganzen bilden«.231 Ohne sie
223 Vgl. ebd., S. 86 224 Ebd., S. 84 225 Vgl. ebd., S. 87 226 Vgl. ebd., S. 88 227 Ebd., S. 83 228 Ebd., S. 86 229 Ebd., S. 84 230 Ebd. 231 Ebd., S. 91
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explizit zu benennen, verweist Scruton damit und auch mit dem von ihm beobachteten Wahrnehmungsphänomen vorgestellter Eigenbewegungen architektonischer Formen auf die Fundierung imaginativer Architekturerfahrung in der Leiblichkeit der Wahrnehmung, die als Hintergrund der Synthese unterschiedlicher Sinneswahrnehmungen betrachtet werden kann. Scruton entwickelt seine Überlegungen zum imaginativen Erfahrungspotenzial der Architektur vornehmlich an Gebäuden der Renaissance232. Diese ordnet er zwar nicht explizit einer von der Alltagsarchitektur abzugrenzenden Baukunst zu, impliziert jedoch eine Differenzierung zwischen beiden Bereichen, indem er die Erfahrung alltäglicher, außerarchitektonischer Dinge dem Bereich der normalen sinnlichen Erfahrung zuordnet233. Seine Beispiele in die Erfahrung einbezogener Imaginationen basieren allerdings auf architektonischen Besonderheiten, die auch in alltäglichen architektonischen Settings eine Rolle spielen. So stellt er dar, dass bestimmte Kombinationen von Material, Form und Oberflächengestaltung als hart, andere als weich wahrgenommen werden, ohne dass ein messbarer Unterschied besteht, oder er zeigt, dass Anordnungen architektonischer Elemente als rhythmisch erkannt werden. Scruton bezieht sich in seinen Überlegungen zu den Besonderheiten von Architekturerfahrungen auf den dänischen Architekten Steen Eiler Rasmussen, der in seinem 1959 erstmals erschienenen Buch Om at opleve arkitektur (Architektur Erlebnis) unterschiedliche Bereiche vorstellt, aus denen vor allem implizites Wissen auf Architektur übertragen wird und damit die Grundlage von Erwartungen, die an diese herangetragen, oder Antizipationen, die durch sie ausgelöst werden, bilden. So zeigt Rasmussen am Beispiel einer gemauerten Brücke, die sowohl im horizontalen als auch im vertikalen Verlauf gebogene Linienführungen aufweist, dass in die Wahrnehmung ihrer Form ein Wissen über die Verformbarkeit plastischer Materialien einfließe. Vor dem Hintergrund dieses Wissens werde die Form der Brücke als Ergebnis eines Prozesses wahrgenommen, in dem sie durch die Kräfte des unter ihr hindurchfließenden Flusses sowie der über sie hinwegfahrenden Fahrzeuge modelliert werde.234
232 Vgl. ebd., S. 83-88 233 Vgl. ebd., S. 88 234 Vgl. S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 22
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Abbildung 7: Steen Eiler Rasmussen, »Beispiel einer weichen Form, ausgeführt in Ziegel.«
Die Wahrnehmung der Brückenform als Produkt eines plastischen Prozesses sei dabei unabhängig von einem Wissen um ihren tatsächlichen Entstehungsprozess. Im Fall der von Rasmussen angeführten Brücke ist anhand der sichtbaren Struktur des verwendeten Ziegelmaterials zum Beispiel erkennbar, dass sie gemauert ist. Ihr tatsächlicher Entstehungsprozess beruht also nicht auf einem modellierenden, sondern auf einem additiven Verfahren. Wenn die Brücke dennoch als plastisch wahrgenommen werden könne, zeige dies, dass die Betrachtenden oder Nutzenden ihr in anderen Kontexten erworbenes Wissen um die Plastizität von Materialien und den Prozess ihrer Verformung auf ein architektonisches Element übertrügen. Als weiteres Beispiel des Einflusses in anderen Bereichen erworbenen Erfahrungswissens stellt Rasmussen unterschiedliche Einschätzungen der Masse von architektonischen Elementen dar. So tendiere eine glatt verputzte Wand dazu, als leicht, eine aus sichtbaren bossierten Natursteinquadern bestehende Wand als schwer empfunden zu werden. Rasmussen führt diese Wirkung darauf zurück, dass bei letzterer die erkennbare Massivität der Steinquader dafür sorgt, dass der für die Erstellung der Wand erforderliche Kraftaufwand imaginiert wird.235 Ebenfalls auf Übertragungen in anderen Kontexten gesammelter Erfahrungen basiere es, wenn architektonische Formen als gespannt oder schlaff wahrgenommen werden. Im ersten Fall sieht Rasmussen eine mögliche Grundlage dieser Wahrnehmung in der Kenntnis der Form eines gespannten Bogens, im
235 Vgl. ebd., S. 23
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anderen der eines hängenden Fischernetzes236, Hintergründe von Imaginationen erkennt er jedoch auch in Bezügen zum menschlichen Körper, dessen Muskelspannung auf Architektur übertragen werde. In beiden Fällen führen Imaginationen dazu, dass architektonischen Formen Eigenschaften zuerkannt werden, über die sie nicht verfügen.
Abbildung 8: Steen Eiler Rasmussen: »Fischernetz zum Trocknen in Venedig.« Wie wiederum Scruton betont, bewirken imaginative Anteile der Wahrnehmung von Architektur allerdings nicht, dass diese betreffende Überzeugungen suspendiert werden. »Wenn ich ein Material als warm, weich oder feindselig sehe, muss ich nicht glauben, es sei warm, weich oder feindselig. Ich erwarte nicht, dass es schmerzhafter wäre, meinen Kopf gegen die Mauer des Palazzo Pitti zu schlagen, als gegen die des Baptisteriums San Giovanni; dennoch haben die Mauern des ersten Bauwerks ein ›schmerzhaftes Aussehen‹, die des zweiten nicht.«237
Auch Rasmussens Betrachtungen der Brücke, angesichts derer man sich trotz des Wissens um ihre Erstellung aus harten Ziegelsteinen nicht »des Eindrucks von etwas Geknetetem und Modelliertem erwehren«238 könne, deuten darauf hin, dass die imaginativen Anteile alltäglicher Architekturerfahrungen unabhängig
236 Vgl. ebd., S. 28 237 R. Scruton: Die Architekturerfahrung, S. 90 238 S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 22
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von positivem Wissen über z.B. statische Zusammenhänge oder Materialeigenschaften Einfluss auf des Erleben der gebauten Umwelt haben. Insbesondere anhand von Scrutons Beispiel einer ›schmerzhaft aussehenden‹ Mauer ist ohne Weiteres vorstellbar, dass sich imaginative Anteile der Architekturerfahrung darauf auswirken können, wie wir uns in der gebauten Umwelt befinden. Werden sie, wie sowohl Scrutons als auch Rasmussens Beispiele andeuten, nicht mit positivem Wissen in Verbindung gebracht, zeigt dies, dass sie dazu tendieren, nicht bewusst reflektiert zu werden. Insofern die durch die gebaute Umwelt ausgelösten Imaginationen sich, wie Scruton darstellt, durch Mehrdeutigkeit auszeichnen, umfassen sie bereits selbst Momente ästhetischer Erfahrungen.239 Im Kontext von Überlegungen zu Hintergründen des Erlebens gebauter Umwelten, die im alltäglichen Umgang auf einer unbewussten Ebene verbleiben und in ästhetischen Erfahrungsprozessen reflexiv werden können, sind Scrutons und Rasmussens Überlegungen insofern von besonderem Interesse, als hier das Spektrum in Verarbeitungsprozesse beiläufiger Wahrnehmungen einfließender Imaginationen und Assoziationen über die Herstellung von Bezügen zum körperlichen Erleben hinaus erweitert wird. Auf diese Weise werden architektonische Wirkungen erkennbar, die nur mittelbar mit dem körperlichen Erleben zusammenhängen. Im täglichen, auch handelnden Umgang mit der Welt der Dinge erworbenes Erfahrungswissen kann so als Basis architektonischen Erlebens in den Blick genommen werden. Architekturerfahrungen als Basis einer Beziehung zur gebauten Umwelt Vor dem Hintergrund von Überlegungen, die leiblichen Bezügen zwischen wahrnehmenden Subjekten und gebauten Umwelten implizit oder explizit einen zentralen Stellenwert zuerkennen, wird deutlich, dass alltägliche, auf beiläufigen Wahrnehmungen basierende Architekturerfahrungen eine wichtige Grundlage für den Aufbau einer Beziehung zur gebauten Umwelt bilden. Dieser Beziehung kann vor dem Hintergrund phänomenologischer Überlegungen zu einer existenziellen Dimension des Wohnens eine grundlegende Bedeutung zuerkannt werden. »Der Begriff des Wohnens, der in diesem Zusammenhang vor allem von Heidegger und Merleau-Ponty benutzt wird, geht über das, was im Rahmen von Architektur und Urba-
239 Vgl. R. Scruton: Die Architekturerfahrung, S. 89
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nismus gewöhnlich darunter verstanden wird, weit hinaus: Das ›Wohnen in der Welt‹ […] ist eine notwendige Tätigkeit, ohne die eine gelingende Existenz nicht möglich ist.«240
Als Basis eines »wesentlich gedachte[n] Wohnen[s]«241 kann unter Bezugnahme auf Maurice Merleau-Pontys Überlegungen in Die Phänomenologie der Wahrnehmung die Erfahrung des Innen und Außen betrachtet werden, die ein unmittelbares Verstehen der räumlichen Welt ermöglicht. »Die paradoxe Leiberfahrung«242, d.h. die gleichzeitige Erfahrung des eigenen spürenden und gespürten Leibes, »die es mir ermöglicht, mich selbst als räumlich zu erfassen, erschließt mir zugleich eine Welt, die immer schon da ist und in der ich doch stets mir selbst begegne.«243 Obwohl ein phänomenologisch begriffenes Wohnen das Bewohnen von Gebäuden wesentlich überschreitet, kann mit Otto Friedrich Bollnow darüber nachgedacht werden, inwiefern der gebauten Umwelt in seinem Kontext eine besondere Bedeutung zukommt. So ist aus Bollnows Sicht die »Doppeltheit von Innen- und Außenraum«244 der der Mensch im Umgang mit Häusern begegne, »grundlegend für den weiteren Aufbau des gesamten erlebten Raumes, ja für das menschliche Leben überhaupt«245. Schon Martin Heidegger erkennt dem Gebauten und damit der gebauten Umwelt im Zusammenhang mit einem existenziell begriffenen Wohnen eine wesentliche Bedeutung zu: »Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes als das wesentlich gedachte Wohnen. Wenn wir auf die versuchte Weise der Beziehung zwischen Ort und Raum, aber auch dem Verhältnis von Mensch und Raum nachdenken, fällt ein Licht auf das Wesen der Dinge, die Orte sind und die wir Bauten nennen.«246
Geht man den in Kapitel 2.2.2 dargestellten Überlegungen folgend davon aus, das eine leibliche Inbezugsetzung zur gebauten Umwelt in ihrer Körperlichkeit
240 Saskia Hebert: Gebaute Welt, Gelebter Raum. Vom möglichen Nutzen einer phänomenologischen Raumtheorie für die städtebauliche Praxis, Berlin: Jovis 2012, S. 70 241 Martin Heidegger: »Bauen Wohnen Denken«, in: Martin Heidegger (Hg.), Vorträge und Aufsätze, Frankfurt am Main: Klostermann, S. 147-164, hier S. 160 242 M. Merleau-Ponty: Die Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 169 243 Ebd., S. 110 244 Otto F. Bollnow: Mensch und Raum, Stuttgart: Kohlhammer 2010, S. 130 245 Ebd. 246 M. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 160
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und Räumlichkeit insbesondere im beiläufigen Wahrnehmen erfolgt, kommt diesem im Kontext eines umfassend begriffenen Wohnens eine zentrale Bedeutung zu. 2.2.3 Soziologische Perspektiven auf Architekturwahrnehmung Wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, wird anhand von Betrachtungsweisen, die einem erweiterten phänomenologischen Kontext zugerechnet wurden, erkennbar, inwiefern das auf beiläufigen Wahrnehmungen basierende Erleben baulicher Strukturen die eigene Beziehung zur gebauten Umwelt wesentlich mitkonstituiert. Wird dieses Erleben in ästhetischen Erfahrungsprozessen potenziell reflexiv, bieten diese Prozesse damit architekturrelevante Erkenntnischancen. Um Architektur oder vielmehr das umfassender begriffene »Architektonische«, das nach einer Definition Heike Delitz‘ als aus »den architektonischen Artefakten und den spezifischen Wissens- und Praxisformen, die mit ihnen verbunden sind«247, besteht, zu verstehen, ist es darüber hinaus allerdings erforderlich, Einblicke in die komplexe Verwobenheit von Architektur und Gesellschaft zu erhalten. Um zeigen zu können, dass ein das eigene Erleben zunächst in den Vordergrund stellender skulptural handelnder Zugang zur gebauten Umwelt pädagogisch sinnvoll ist, weil er nicht nur das subjektive Erleben selbst zu erschließen vermag, sondern auch eine Basis bilden kann, um Architektur in ihrer gesellschaftlichen Relevanz erkennen zu können, bedürfen die bisher vorgestellten Perspektiven auf Wahrnehmungen und Erfahrungen der gebauten Umwelt der Erweiterung. Hinweise auf soziale Implikationen des subjektiven Erlebens architektonischer Gestaltungen können bereits den vorgestellten Positionen entnommen werden. Dies ist insofern der Fall, als diese Positionen anhand der Analyse von Hintergründen des Architekturerlebens dessen interindividuelle Gemeinsamkeiten aufzeigen. Diese Gemeinsamkeiten bilden eine Grundlage dafür, dass Architektur auf gesellschaftliche Strukturen Einfluss nehmen kann, indem sie sich auf Stimmungen, Befindlichkeiten, Handlungen und Verhaltensweisen unterschiedlicher Menschen ähnlich auswirkt. Motiviert ist die Erschließung interindividueller Überschneidungen des subjektiven Erlebens im Rahmen der bisher dargestellten Perspektiven allerdings vor allem durch ein Interesse an der Ableitung
247 Heike Delitz: »Architektur als Medium des Sozialen. Der Blick der Soziologie«, in: Susanne Hauser/Julia Weber (Hg.), Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen, Bielefeld: transcript 2015b, S. 257-282, hier S. 257
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möglichst dauerhafter und allgemein gültiger Entwurfsgrundlagen. Aufgrund einer dadurch begründeten Fokussierung konstanter Faktoren bilden sie noch keine ausreichende Grundlage, um über reziproke Bezüge zwischen architektonischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nachdenken zu können. Überlegungen zu interindividuellen Grundlagen der Wahrnehmungs- und Beurteilungsweisen architektonischer Gestaltungen finden sich vor allem in einfühlungsästhetischen Schriften, die aus heutiger Sicht hinsichtlich ihrer Vernachlässigung von Faktoren, die das Erleben der gebauten Umwelt moderieren, kritisiert werden können.248 Einfühlungsästhetische Überlegungen sind insbesondere dann an intersubjektiv geteilten Wahrnehmungsgrundlagen interessiert, wenn sie auf die Formulierung einer Gestaltungslehre ausgerichtet sind.249 So fokussiert z.B. August Schmarsow die genetischen Bedingungen der Architekturerfahrung mit dem Ziel, Architektur jenseits ihrer historischen Bildung betrachten zu können250 und auch andere einfühlungsästhetische Positionen sind daran interessiert, möglichst allgemein- und überzeitlich gültige gestalterische Kriterien zu erschließen.251 Hinsichtlich der aus dieser Motivation resultierenden Vernachlässi-
248 Kirsten Wagner kritisiert die Einfühlungsästhetik aus heutiger Sicht folgendermaßen: »Einer rein ästhetisch-psychologischen Architektur- und Raumbetrachtung, die sich bewusst von den materiellen, funktionalen und sozialen Aspekten des architektonischen Raumes abgegrenzt hatte, mussten diese Zusammenhänge notwendig zu einem blinden Fleck werden.« K. Wagner 249 Dass die Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsurteile nicht verallgemeinert werden können, wird allerdings auch in einfühlungsästhetischen Positionen reflektiert. Wie Johannes Volkelt erkennt, haben einfühlungsästhetische Urteile keine absolute, sondern nur eine relative Gültigkeit, da sie »für eine bestimmte Zeit, für gewisse Kreise und Kulturströmungen« gelten. Johannes Volkelt: Grundlegung der Ästhetik (= System der Ästhetik, Band 1), München: Beck 1905, S. 25 250 Vgl. T. Friedrich/J. H. Gleiter: Einführung, S. 13. 251 Für einfühlungsästhetische Hintergründe ästhetischer Urteile interessiert sich z.B. Theodor Lipps. Aus seiner Sicht ist »aller Genuß der Schönheit […] Eindruck der in einem Objekt liegenden Lebendigkeit und Lebensmöglichkeit« (T. Lipps: Grundlegung der Ästhetik, S. 102), da dieser durch die Form des Objekts begünstigte Eindruck das eigene Lebendigkeitserleben steigere. Aus Robert Vischers Perspektive sind durch optische Reize ausgelöste Mitbewegungen, die er als motorische »Nachfühlungen« (R. Vischer: Über das optische Formgefühlt, S. 8) in den Blick nimmt, dann als Basis positiver ästhetischer Bewertungen geeignet, wenn sie den Bewegungen des menschlichen Körpers entsprechen. Heinrich Wölfflin wiederum möchte in seinen Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur zeigen, »daß wir in unmit-
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gung sozialer und kultureller Faktoren bilden Heinrich Wölfflins Prolegomena zu einer Psychologie der architektonischen Form insofern eine Ausnahme, als hier die Historizität von auf Einfühlungen basierenden Wahrnehmungsweisen trotz des Ziels einer »normativen Architekturästhetik«252 erkannt und im Hinblick auf Fragen der Entwicklung architektonischer Stile in den Blick genommen wird. Erkennbar wird dies, wenn Wölfflin am Beispiel der Gotik zeigt, dass deren überschlanke Bauformen mit einem in ihrem zeitlichen Kontext erkennbaren Drang nach dem »Präzisen, Scharfen, Willensbewußten«253 korrespondieren. »Körperlich stellt sich dies Streben dar als exakteste Bewegung, Zuspitzung aller Formen, kein Gehenlassen, nichts Schwammiges […].«254 Ebenso wie die Mehrzahl einfühlungsästhetischer Positionen richten sich Maurice Merleau-Pontys phänomenologische Überlegungen vor allem auf konstante Grundlagen der Wahrnehmung.255 Auch Otto Friedrich Bollnow, der diese Überlegungen in Mensch und Raum konkret auf das Erleben der gebauten Um-
telbarem Gefühl die Vollkommenheit architektonischer Gebilde nach demselben Maßstab bemessen, wie die der lebenden Geschöpfe« (H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 20) Diese Sichtweise erlaubt es ihm, auf der Basis seiner einfühlungsästhetischen Überlegungen eine Architekturästhetik zu entwickeln, deren normativen Anspruch er durch die gleichbleibende »leibliche Organisation« (ebd. 15) des wahrnehmenden Subjekts gerechtfertigt sieht. Positiv bewertet werden architektonische Formen aus seiner Perspektive, wenn in ihnen eine Überwindung der »niederziehende[n] Schwere des Stoffes« (ebd. S. 18) durch einen Formwillen erkennbar wird. Wenngleich August Schmarsow in Das Wesen der architektonischen Schöpfung keine expliziten gestalterischen Konsequenzen seiner Sichtweise formuliert, werden auch hier Zusammenhänge zwischen einer den Körper einbeziehenden Wahrnehmung und der Bewertung von Architektur erkennbar. So leitet er aus seinen Überlegungen zu einer aus der Axialität des menschlichen Körpers resultierenden Axialität der Raumwahrnehmung z.B. ab, dass Bewegungsspielräume sowie eine unvollkommene Achsensymmetrie als positiv eingeschätzt werden A. Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, S. 157) 252 Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 147 253 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der architektonischen Form, S. 40 254 Ebd. 255 Ludger Schwarte: »Taktisches Sehen. Auge und Hand in der Bildtheorie«, in: Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hg.), Auge und Hand. [interdisziplinäre Ringvorlesung im Wintersemester 2009/2010 an der Kunstakademie Düsseldorf], Oberhausen: Athena 2011, hier S. 356
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welt bezieht, klammert bewusst situative, soziale und kulturelle Einflussfaktoren aus. So betrachtet er die aus seiner Sicht für das Verhältnis von Menschen und Raum zentrale Erfahrung des »Geborgenseins« bzw. der »Unbehaustheit«256 vor allem im Hinblick auf deren anthropologische Grundbedingungen257. Zeitgenössische phänomenologische Perspektiven vermerken dagegen z.T. die Historizität und Kulturalität leiblicher Wahrnehmungsgrundlagen. So weist z.B. Bernhard Waldenfels auf die Kontingenz auf einer »leiblich verankerten Räumlichkeit«258 basierender »Ordnungen des Wohnens und Bauens«259 hin, die aus seiner Sicht z.B. an unterschiedlichen Betonungen der Horizontalen und Vertikalen in unterschiedlichen zeitlichen Kontexten (Historizität) oder in unterschiedlichen Durchlässigkeiten baulicher Umgrenzungen in Europa und Japan (Kulturalität) erkennbar wird. In gestalttheoretischen Überlegungen, die Schnittstellen zur Einfühlungsästhetik260 aufweisen und eine Grundlage von Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung bilden, ist ein solches Interesse wiederum nicht erkennbar, auch hier werden überindividuelle Wahrnehmungsgrundlagen bewusst in den Vordergrund gestellt. Kennzeichnend ist ein solcher Blickwinkel sowohl für Rudolf Arnheims Die Dynamik der architektonischen Form261 als auch für Axel Seylers empirische Erkundung der »Grundzüge der angewandten Gestaltpsychologie«262 in Wahrnehmen und Falschnehmen, die auf den Überlegungen Arnheims aufbaut. Insofern es Seyler darum geht, intersubjektive Elemente von Ge-
256 O. F. Bollnow: Mensch und Raum, S. 305-306 257 Vgl. Eduard Führ: »Einleitung: Zur Rezeption von ›Bauen Wohnen Denken‹ in der Architektur«, in: Eduard Führ (Hg.), Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster, New York, München, Berlin: Waxmann 2000, S. 9-29, hier S. 20 258 Bernhard Waldenfels: »Architektonik am Leitfaden des Leibes«, in: Wolkenkuckucksheim Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur 1 (1996) 259 Ebd. 260 Als Übergangsposition kann Paul Klopfers Aufsatz Das Räumliche Sehen betrachtet werden. Vgl. Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter: »Einleitung«, in: Thomas Friedrich/Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin: Lit 2007, S. 7-33, hier S. 15 261 R. Arnheim, S. 11-14 262 Axel Seyler: Wahrnehmen und Falschnehmen. [Praxis der Gestaltpsychologie; Formkriterien für Architekten, Designer und Kunstpädagogen; Hilfen für den Umgang mit Kunst], Frankfurt am Main: Anabas-Verl. 2004, S. 14
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schmacksurteilen u.a. für die Architektur nutzbar zu machen263, ist er vor allem an »allgemeingültigen Grundlagen der Wahrnehmung«264, nicht jedoch an sozialen und kulturellen Faktoren interessiert, die auf unterschiedliche Weise auf die Wahrnehmung Einfluss nehmen. Das Interesse an konstanten und überindividuell gültigen Grundlagen des Erlebens gebauter Umwelten, das in einfühlungsästhetisch, gestalttheoretisch oder phänomenologisch orientierten Betrachtungen des Wahrnehmens und Erlebens von Architektur erkannt werden kann, trägt zwar der Öffentlichkeit von Architektur, die Adolf Loos mit seiner Feststellung »Das haus hat allen zu gefallen«265 zum Ausdruck bringt, Rechnung, aus der diesem Interesse entsprechenden Betrachtungsperspektive ist es jedoch nur begrenzt möglich, Architektur in ihrer sozialen Bedingtheit zu erkennen. Um zeigen zu können, dass eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben der gebauten Umwelt Möglichkeiten bietet, Architektur als Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse in den Blick zu nehmen, ist vielmehr eine Perspektive erforderlich, aus der erkennbar wird, inwiefern dieses Erleben nicht nur interindividuelle Übereinstimmungen aufweist, sondern auch gesellschaftlich vermittelt ist. Hierzu greift eine Betrachtungsweise, die auf anthropologischen Gemeinsamkeiten basierende Schnittmengen der Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen gebauter Umwelten fokussiert, zu kurz. Auch aufgrund ihrer vorwiegend statischen Konzeption des Erlebens von Architektur bieten die vorgestellten Perspektiven auf Architekturerfahrungen kaum Möglichkeiten, um Zusammenhänge zwischen Architektur und Gesellschaft, die auf wechselseitigen Einflüssen architektonischer und gesellschaftlicher Entwicklungen basieren, erkennen zu können. Ansätze, anhand derer es möglich ist, über Verbindungen zwischen dem subjektiven Erleben gebauter Umwelten und gesellschaftlichen Entwicklungen nachzudenken, können u. a. in Überlegungen Ludger Schwartes266 und Detlev Schöttkers267 gefunden werden. Indem beide Perspektiven entwickeln, aus denen
263 Vgl. ebd., S. 11 264 Ebd., S. 16 265 Adolf Loos: »Architektur«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 504-506, hier S. 504 266 Vgl. Ludger Schwarte: Philosophie der Architektur (= Schriften des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie, Band 1), München: W. Fink op. 2009 267 Vgl. Detlev Schöttker: »Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis. Die »Architektur der Gesellschaft« aus Sicht der historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie«,
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u.a. kulturelle, soziale und politische Bedingtheiten von Architekturerfahrungen erkennbar werden, können sie einerseits deren Individualität berücksichtigen, sie zum anderen aber auch in ihrer Historizität betrachten. Letzteres ermöglicht eine Erschließung intersubjektiver Wahrnehmungsgrundlagen, die nicht auf konstanten anthropologischen Faktoren basieren, sondern im Hinblick auf ihre Relevanz innerhalb bestimmter zeitlicher und räumlicher Kontexte in den Blick genommen und somit als sozial vermittelt betrachtet werden können. Aus einer pädagogischen Sicht ist eine solche Erweiterung der Perspektive auf das Erleben gebauter Umwelten insofern von Bedeutung, als anhand ihrer gezeigt werden kann, dass Auseinandersetzungen mit den Hintergründen des eigenen Erlebens einen Ausgangspunkt bilden können, um Architektur als soziales Projekt zu begreifen Die Historizität des Körpers als Hintergrund der Historizität von Architekturerfahrungen Ludger Schwarte hinterfragt im Kontext seiner architekturphilosophischen Überlegungen zu Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichen und architektonischen Entwicklungen die Berechtigung eines statischen Körperkonzepts. Ein solches kennzeichnet aus seiner Sicht Perspektiven auf Architekturerfahrungen, die diese unter Bezugnahme auf Überlegungen Maurice Merleau-Pontys auf ihre phänomenologischen Grundlagen verkürzen.268 Wenngleich aus seiner Sicht »Merleau-Pontys Ansatz überaus triftig ist, so können wir doch nicht einfach die Körperstruktur oder ein aus dieser abgeleitetes Denkschema als gegeben postulieren. Vielmehr müssen wir auch die Disposition, die Selbstveränderung und die Diversität in Betracht ziehen, wenn wir nach einer zureichenden Erklärung dafür suchen, wie sich die Dinge zeigen und welche Erfahrungen daran überhaupt gemacht werden können. Körperstrukturen und Denkschemata sind von der Architektur einer kulturellen Welt abhängig: Der Körper kann als eine Schnittstelle zwischen der Objekt- und der Subjektwelt analysiert werden, aber er ist per se weder ein Apriori noch ein Programm noch ist er eine Oberfläche, die allein die Dinge zur Erscheinung bringt.«269
Wie Schwarte hier überlegt, weist der Körper als Grundlage einer leiblichen Wahrnehmung zum einen individuelle Eigenschaften auf und kann zum anderen nicht als statisch in den Blick genommen werden. Er unterliegt Veränderungen,
in: Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009b, S. 137-162 268 Vgl. L. Schwarte: Philosophie der Architektur, S. 356 269 Ebd.
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die durch konkrete auch architektonische Wahrnehmungssituationen mitbestimmt werden, die aber auch den kulturellen und sozialen Hintergründen der Wahrnehmenden bzw. der Wahrnehmungssituation geschuldet sind. Eine ähnliche Sicht vertritt auch Wolfgang Welsch, der auf ihrer Basis über eine Erweiterung des Leibbegriffes nachdenkt, dessen Eignung als Grundlage einer Betrachtung von Architekturerfahrungen jedoch nicht in Frage stellt. Wie Welsch feststellt, ist der Leib »nicht einfachhin ein natürliches, sondern ein historischkulturelles Gebilde. Gewiss gibt er eine gewisse Grundstruktur vor, aber diese ist auch modifizierbar – der Leib ist ein dynamisches und offenes Potential.«270 Über eine Historizität leiblicher Wahrnehmungsweisen der gebauten Umwelt und die anhand ihrer erkennbar werdenden Zusammenhänge zwischen diesen Wahrnehmungsweisen und gesellschaftlichen oder kulturellen Entwicklungen kann nachgedacht werden, wenn gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse auf das Erleben des eigenen Körpers in den Blick genommen werden. Hinweise auf eine Historizität des Körpers, die in diesem Zusammenhang von Interesse sein können, finden sich in den poststrukturalistischen Überlegungen Michel Foucaults und Judith Butlers. Da diese allerdings den Körper nicht als Leib konzipieren, sondern als »diskursiv bestimmtes Wissensobjekt«271, erscheint es zunächst fraglich, ob und wie ihre Betrachtungen mit einem leiblichen Erleben der gebauten Umwelt in Verbindung gebracht werden können.272 Auch wenn Foucault und Butler eine solche Verbindung selbst nicht herstellen, bedeutet dies, wie Ulle Jäger aus soziologischer Sicht darstellt, allerdings nicht, dass ihre Überlegungen und Ziele mit phänomenologischen Perspektiven grundsätzlich inkompatibel sind. »Die Berücksichtigung der Ebene des Leibes« stünde Jägers Meinung nach z.B. gerade dann »nicht im Widerspruch zu den von Butler verfolgten Zielen der Dekonstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität, wenn der Leib als historisch begriffen würde.«273 In Bezug auf Foucaults Betrachtungen zu einem Verhältnis von Macht und Körper erkennt Jäger unmittelbarere Anknüpfungspunkte für leibphänomenologische Überlegungen. Foucaults diskursiver Körperbegriff biete diese vor allem dann, wenn der Leib nicht als Konstante, sondern in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit in den Blick genommen werde.274 Eine Grundlage, um darüber nachdenken zu können, inwie-
270 W. Welsch: Räume bilden Menschen, S. 18 271 Ulle Jäger: C. Entwurf einer Theorie der Inkorporierung (= Facetten (Königstein im Taunus [Germany]), Königstein: Helmer 2014, ©2004, S. 63 272 Vgl. B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 422-425 273 U. Jäger: Entwurf einer Theorie der Inkorporierung, S. 80 274 Vgl. ebd., S. 83
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fern sich ein diskursiv entwickelter Körperbegriff auf ein leibliches Bewusstsein als ein »Wie-es-sich-anfühlt, physisch-verfasster-Mensch-zu-sein«275 auswirkt, kann mit dem Soziologen Hubert Knoblauch darin gesehen werden, dass diskursives und damit explizites Körperwissen durch Habitualisierung zunächst explizit überlegter Handlungen zu implizitem Körperwissen sedimentieren kann.276 Wie er zeigt, wird auf diese Weise »gesellschaftliches Wissen über das Bewusstsein vermittelt so in den Körper eingeschrieben, daß es als verkörpertes Wissen fungiert«277, als ein Wissen also, das aus phänomenologischer Perspektive einem leiblichen Bewusstsein zugehört278. Eine weitere Möglichkeit, wie Verbindungen zwischen der sprachlichen Ebene der Diskurse und einem leiblichen Bewusstsein gedacht werden können, zeigt Benno Hinkes auf. Wie er überlegt, könnte mit Michel Foucault und Judith Butler »von einer ›kognitiven Verinnerlichung‹ ausgegangen werden, dergestalt, dass gesellschaftliche Körperkonventionen, wie sie auch und nicht zuletzt in der Alltagssprache eingelagert sind, das Denken über meine eigene Physis so weitgehend prägen, dass dies Auswirkungen auf ein leibliches (Selbst-)Wahrnehmen zeitigt.«279
Vor dem Hintergrund der vorgestellten Überlegungen zu möglichen Schnittstellen von diskursivem Körper und Leib wird es möglich, über eine historische Dimension der leiblichen Verfasstheit von Architekturerfahrungen unter Bezugnahme auf Michel Foucault nachzudenken, der den Körper in seiner Untrennbarkeit von Machtstrukturen in den Blick nimmt. Anhand dieser Betrachtungsweise stellt er die Historizität eines diskursiven Verständnisses des Körpers, das wie oben überlegt mit dem leiblichen Bewusstsein in Verbindung gebracht werden kann, heraus. Verbindungen von Machttechnologien und Technologien des Selbst280, die es Subjekten ermöglichen, sich über Transformationen des eigenen
275 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 420 276 Vgl. Hubert Knoblauch: »Kulturkörper. Die Bedeutung des Körpers in der sozialkonstruktivistischen Wissenstheorie«, in: Markus Schroer (Hg.), Soziologie des Körpers, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2012, S. 92-113, hier S. 100-103 277 Ebd., S. 104 278 Vgl. ebd., S. 100 279 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 437 280 »Technologies of the self, which permit individuals to effect by their own means or with the help of others a certain number of operations on their own bodies and souls, thoughts, conduct, and way of being, so as to transform themselves in order to attain a certain state of happiness, purity, wisdom, perfection, or immortality.«, Michel
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Körpers selbst zu optimieren, werden von ihm unter dem Begriff der Gouvernementalität gefasst281. Vor dem Hintergrund dieser Verschränkung verbinden sich aus der Perspektive Foucaults in der modernen Regierung Formen der Lenkung durch andere mit Formen der Selbstführung, innerhalb derer der Körper, dessen Normierung in die eigene Verantwortung des Subjekts verschoben wird, eine zentrale Rolle spielt. Machttechniken einer modernen Regierung können so als individualisierende Disziplinartechniken verstanden werden, die dem einzelnen Körper nicht mehr äußerlich bleiben, sondern sich in ihn einschreiben und ihn somit konstituieren.282 Mit diesen Überlegungen dekonstruiert Foucault aus der Sicht Hania Siebenpfeiffers eine »diskursive und kulturelle Vorgängigkeit des Körpers«283 und historisiert ihn »bis in seine materielle, leibliche Erscheinung hinein«284. Kennzeichnend für Foucaults Überlegungen zu einer Hervorbringung des Körpers durch Machtstrukturen ist, dass dem Subjekt innerhalb dieses Prozesses insofern eine aktive Rolle zukommt, als es Machtmechanismen verinnerlicht und somit in der Lage ist, sich selbst entlang gesellschaftlicher Imperative auszurichten.285 Wie Foucault in Überwachen und Strafen u.a. am Beispiel von Gefängnissen zeigt286, tragen Architekturen wesentlich zu einer Verinnerlichung der vorgestellten Machttechniken bei und sind damit an einer Formung des Körpers und der (Selbst-)Gestaltung des als seelisch-leibliche Einheit verstandenen Subjekts beteiligt. Anhand seiner Überlegungen kann daher über eine dynamische Beziehung zwischen Architektur und Subjekt nachgedacht werden, innerhalb derer dem Körper eine Schlüsselposition zukommt.
Foucault: »Technologies of the Self«, in: Michel Foucault/Luther H. Martin/Huck Gutman et al. (Hg.), Technologies of the self. A seminar with Michel Foucault, London: Tavistock 1988, S. 16-49, hier S. 18. 281 Ebd., S. 18-19. 282 Maren Möhring: »Die Regierung der Körper. ›Gouvernementalität‹ und ›Techniken des Selbst‹«, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (2006), S. 284-290, hier S. 284-286. 283 Hania Siebenpfeiffer: »Körper«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich J. Schneider et al. (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 266-272, hier S. 267 284 Ebd. 285 Vgl. ebd. 286 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976a, S. 251-293
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Eine in den Überlegungen Foucaults deutlich werdende Hinterfragung der vermeintlichen Realität von Körpern führt auch bei Judith Butler zu einer Reformulierung ihrer Materialität. Diese werde »neu gefaßt als die Wirkung einer Machtdynamik, so daß die Materie der Körper nicht zu trennen sein wird von den regulierenden Normen, die ihre Materialisierung beherrschen.«287 Indem sie Foucaults Theorien um eine Perspektive erweitert, die geschlechtliche Identitäten in den Blick nimmt, zeigt sie, dass Körper nicht unabhängig von einer gesellschaftlich hervorgebrachten geschlechtlichen Differenzierung gedacht werden können. Vielmehr müsse ihre Materialisierung als Produkt einer erzwungenen, ständigen Wiederholung geschlechtsdifferenter Normen betrachtet werden.288 Wie Roland Meyer im Anschluss an Judith Butler überlegt, dient Architektur der Verfestigung sozialer Praxis, indem sie dazu beiträgt, dass »räumliche Anordnungen und die mit ihnen verbundenen Praktiken eingeübt und aufrechterhalten werden.«289 Die Wahrnehmung und Erfahrung gebauter Umwelten kann, verbindet man den eingangs vorgestellten Überlegungen folgend die Perspektiven Michel Foucaults und Judith Butlers mit phänomenologischen, als auf einem komplexen Wechselverhältnis von Architektur, Körperbegriff und leiblichem Erleben basierend betrachtet werden: der diskursiv geformte Körper nimmt Einfluss darauf, wie Architektur leiblich wahrgenommen wird, an der Formung des Körperbegriffs ist Architektur als Medium einer performativen Wiederholung von Körpernormen selbst wiederum beteiligt, indem sie Diskursen und Machtstrukturen eine räumliche Form gibt. Möglichkeiten, um über die Historizität und Kulturalität leiblicher Wahrnehmungsgrundlagen nachzudenken, erschließen sich allerdings nicht erst in den Überlegungen Foucaults und Butlers. Vielmehr leistet hierzu bereits der Begriff der Körpertechniken, den Marcel Mauss in den 1930er Jahren prägt, einen Beitrag, indem er den Blick auf Zusammenhänge zwischen Bewegungsweisen und soziokulturellen Entwicklungen lenkt. Obwohl auch in diesen Überlegungen nicht explizit über leibliche Wahrnehmungen nachgedacht wird, sind diesbezügliche Anschlussmöglichkeiten, u.a. unter Bezugnahme auf die oben dargestellten Gedanken Hubert Knoblauchs zu einer auf Habitualisierungen basierenden Verkörperung von Wissen erkennbar.
287 Judith Butler: Körper von Gewicht. Gender Studies, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 22. 288 Vgl. ebd., S. 21. 289 Roland Meyer: »Praktiken und Situationen. Zur Einführung«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 315-325, hier S. 319
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Wie Mauss beobachtet, sind Bewegungsweisen nicht nur physiologischanatomisch bestimmt, sondern unterliegen auch psychologischen und soziologischen Einflüssen290, auf deren Basis sie einerseits individuelle Besonderheiten aufweisen, andererseits aber auch als orts- und zeitspezifisch erkannt werden können. Im Kontext seiner diesbezüglichen Überlegungen vermutet er daher z.B., dass »es beim Erwachsenen gar keine ›natürliche‹ Art zu gehen«291 gebe. Gehgewohnheiten variieren aus seiner Sicht vielmehr »nicht nur mit den Individuen und ihren Nachahmungen, sie variieren vor allem mit den Gesellschaften, den Erziehungsweisen, den Schicklichkeiten und den Moden, dem Prestige.«292 Insofern die Bewegung der Nutzerinnen und Nutzer für die Wahrnehmung städtebaulicher und architektonischer Strukturen kennzeichnend ist293, erscheint es plausibel, dass unterschiedliche Bewegungsweisen mit unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen der gebauten Umwelt, aber auch mit unterschiedlichen Formen leiblichen Erlebens einhergehen. Darauf, dass die von Mauss betrachtete Körpertechnik des Gehens überindividuell relevanten und somit auf einen sozialen Hintergrund verweisenden Veränderungen unterliegt, deutet z.B. eine 2007 veröffentlichte Studie hin, der zufolge die Gehgeschwindigkeit in verschiedenen Städten innerhalb eines Jahrzehnts im Durchschnitt um zehn Prozent gestiegen ist. Wie diese Studie ebenfalls zeigt, variiert die Gehgeschwindigkeit von Stadt zu Stadt,294 sodass mit Mauss ein Bezug zu den dort jeweils herrschenden sozialen Einflüssen, den »Schicklichkeiten und den Moden«295 hergestellt werden kann. Silke Wichert führt die Steigerung der Gehgeschwindigkeit auf eine zunehmende Beschleunigung des Lebens zurück: »Schnell zum Zug, schnell noch was besorgen, schnell irgendwo reinspringen, ein häufig genutzter Status in Social Media: ›Always on the run‹.«296 Der Aspekt, dass chronischer Zeitmangel offenbar zum
290 Vgl. Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie (= Band 2), Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1997, S. 203 291 Ebd., S. 204 292 Ebd., S. 202 293 Vgl. Fritz Schumacher: »Sinnliche Wirkungen des baulichen Kunstwerks«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 192-199, hier S. 197, Hinweise auf die Bedeutung von Bewegung finden sich außerdem u.a. bei Steen Eiler Rasmussen, August Schmarsow und Hermann Sörgel. 294 Vgl. Silke Wichert: »Geht's noch?«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin (2017), S. 2627, hier S. 27 295 M. Mauss: Soziologie und Anthropologie Bd. 2, S. 202 296 S. Wichert: Geht's noch, S. 27
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Statussymbol zu avancieren vermag, verweist auf die soziale Erwünschtheit eines beschleunigten Lebensstils, die auf der Basis der vorgestellten Überlegungen Michel Foucaults mit einer Verinnerlichung neoliberaler Selbstoptimierungsimperative in Verbindung gebracht werden kann. Diese wirken also über Körpertechniken auf den Körper und damit auf die mit ihm verbundenen leiblichen Wahrnehmungsweisen ein. Auch im Anschluss an die Überlegungen Mauss’ kann darüber nachgedacht werden, dass sich Körpertechniken nicht nur auf die Wahrnehmung der gebauten Umwelt auswirken, sondern ihrerseits durch die gebaute Umwelt beeinflusst werden. Wie er am Beispiel des Gehens anmerkt, werden dessen soziokulturell bedingte Besonderheiten verstärkt, »wenn technische Mittel hinzukommen«297, in seinem Beispiel sind es Schuhe. »Körpertechniken verfestigen sich [demnach] mit kulturellen Artefakten: Schuhe bestimmen unsern Gang, Stühle unsere Art zu sitzen, die gesamte gebaute und gestaltete Umwelt formt unsere Körper mit.«298 Weiterverfolgt werden kann Mauss’ Gedanke, indem überlegt wird, dass kulturelle Artefakte den Körper nicht nur mittelbar formen, indem sie seine Bewegungen beeinflussen, sondern auch unmittelbar ergänzen können, womit eine Veränderung der leiblichen Selbstwahrnehmung bewirkt würde, die dann wiederum Einfluss auf die Wahrnehmung der gebauten Umwelt nähme. Eine Auseinandersetzung mit Zusammenhängen zwischen Körperergänzungen und Wahrnehmungen ist unter Bezugnahme auf Überlegungen Mark Wigleys möglich, der die Auffassung vertritt, dass »der Körper schon vor langen Zeiten zu einer Art von Cyborg geworden [ist], einer Kombination aus Gewebe, Elektronik und Mechanik«299. Aus seiner Sicht »stellt der nunmehr nicht mehr natürliche Körper einen Apparat dar, der an ein digitales Gedächtnis, einen Speicher angeschlossen ist.«300 Im Kontext seiner diesbezüglichen Überlegungen stellt er einen Architekturbezug her, indem er überlegt, dass auch Räume zu einer neuen Art von Prothese werden können, wenn z.B. eine virtuelle Realität Körper und Raum gleichermaßen erfüllt301, oder indem er unter Bezugnahme auf entsprechende Überle-
297 M. Mauss: Soziologie und Anthropologie Bd. 2, S. 204 298 R. Meyer, Praktiken und Situationen, S. 318 299 Mark Wigley: »Die Architektur als Prothetik. Anmerkungen zu einer Prähistorie des Virtuellen«, in: Egon Schirmbeck (Hg.), RAUMstationen. Metamorphosen des Raumes im 20. Jahrhundert, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung 2001, S. 60-77, hier S. 60 300 Ebd. 301 Vgl. ebd., S. 61
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gungen Sigfried Giedions und Buckminster Fullers zeigt, dass Architektur als eine prothetische Erweiterung des menschlichen Körpers betrachtet werden kann.302 Darüber hinaus kann aber auch darüber nachgedacht werden, dass ein durch ›Prothesen‹ ergänzter Körper, dadurch, dass er eine Grundlage von Wahrnehmungen der gebauten Umwelt bildet, Einfluss auf Architekturerfahrungen hat. Deren Historizität ist aus dieser Perspektive dadurch gegeben, dass sich mechanische und digitale Ergänzungen des Körpers weiterentwickeln. Eine Veränderung des Körpergefühls wird zum Beispiel beim geübten und somit weitgehend automatisierten Autofahren erkennbar, bei dem die Tendenz besteht, die Größe des Fahrzeugs, seine Wendigkeit und Leistungsstärke als eigene körperliche Eigenschaften wahrzunehmen. Indem so die Grenzen zwischen dem menschlichen Körper und seinen Erweiterungen verschwimmen, können Erweiterungen als organisch, umgekehrt aber, wie bereits Marcel Mauss überlegt 303, auch der eigene Körper als technisches Objekt wahrgenommen werden. Über den Einfluss medialer Entwicklungen auf die Konzeption des Körpers denkt Paul Virilio nach, aus dessen Sicht »die neuen Techniken der augenblicklichen Interaktivität«304 zu einer Virtualisierung der eigenen Körperlichkeit führt. »Dem weit entfernten viel näher als unserem Nachbarn, lösen wir uns in zunehmendem Maße von uns selbst. Nicht nur der volle Körper der Erde verliert und verflüchtigt sich in unseren Augen, sondern unser eigener Körper verblasst seinerseits«.305 Die hier vorgestellten Dimensionen einer Historizität des Körperbegriffs, des physischen Körpers und der mit diesen möglicherweise einhergehenden Historizität des Leibes als Grundlage von Wahrnehmungen bilden insofern eine wichtige Ergänzung der bisherigen Überlegungen zu Grundlagen von Architekturerfahrungen, als sie wie schon im einleitenden Zitat von Ludger Schwarte angedeutet eine wahrnehmungsvermittelte reziproke Beziehung zwischen Mensch und Architektur zu erschließen vermögen. An die Stelle einer tendenziell essentialistischen Sicht kann so eine Perspektive treten, die die Wahrnehmungsbeziehung zwischen Mensch und gebauter Umwelt in ihrer Vernetztheit und Veränderlichkeit erkennbar werden lässt. Die Historizität des Körpers als Hintergrund einer Historizität der Wahrnehmung ist in diesem Kontext von besonderem Inte-
302 Vgl. ebd., S. 66-69 303 Vgl. M. Mauss: Soziologie und Anthropologie Bd.2, S. 206 304 Paul Virilio: »Rasender Stillstand (1989)«, in: Klaus T. Edelmann/Gerrit Terstiege (Hg.), Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel: Birkhäuser 2010, S. 311-315, hier S. 312 305 Ebd.
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resse, erscheint es auf ihrer Basis doch möglich, von der Leiblichkeit der Wahrnehmung ausgehend Faktoren wie soziale und technische Entwicklungen in den Blick zu nehmen, die Architekturerfahrungen mitbestimmen, indem sie Einfluss auf Körper und die Formen ihres Erlebens nehmen. Auf diese Weise können zum Beispiel einfühlungsästhetische Überlegungen, die aus neurobiologischer Perspektive bestätigt werden, wie z.B. von Kirsten Wagner gefordert306, um wichtige Dimensionen erweitert werden. Architekturwahrnehmung aus Sicht der »historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie«307 Während die vorangegangenen Überlegungen die Historizität von Architekturerfahrungen vor dem Hintergrund der Leiblichkeit der diesen zugrundeliegenden Wahrnehmungen erkunden, betrachtet eine »historisch-soziologische Wahrnehmungstheorie« Zusammenhänge zwischen vor allem durch technische Innovationen bedingten gesellschaftlichen Entwicklungen und visuellen Wahrnehmungsweisen, die im Umgang mit der gebauten Umwelt relevant sein können. Wie Detlev Schöttker zeigt, wird eine solche Wahrnehmungstheorie unter anderem durch Sigfried Giedion, Walter Benjamin und Siegfried Kracauer be gründet.308 In Das neue Bauen stellt Kracauer 1927 die soeben fertiggestellte Weißenhof-Siedlung als Beispiel einer Architektur vor, die den Wahrnehmungsbedürfnissen von Bewohnern entgegenkommt, deren Existenz von einer modernen Lebensweise geprägt ist. »Es geht darum, mit den Mitteln der modernen Technik Menschen eine Wohnung zu schaffen, die in rationellen Großbetrieben stehen, Auto und Flugzeug benutzen, im Stadion den notwendigen Sport treiben und durch ihr massenhaftes Auftreten im Wesen bestimmt sind. Die neue Wohnung muß zu dem veränderten Raumgefühl dieser Menschen passen, sie hat sich polemisch zu verhalten zu der privaten Abgeschiedenheit, die eine
306 »Wenn die Ansätze von Schmarsow und Wölfflin heute wieder attraktiv erscheinen, gerade weil sie erlauben, die Produktion und Rezeption des gebauten Raumes vom Leib her zu bestimmen, dann sind die genannten anderen Aspekte ebenso zwingend einzubeziehen. Zumal es auch die gesellschaftlichen Funktionen sind, die ein Gebäude erfüllt, und die sozialen Handlungen, die in ihm ausgeführt werden, welche die Architektur- und Raumwahrnehmung organisieren.« K. Wagner, Vom Leib zum Raum 307 D. Schöttker: Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis 308 Vgl. ebd., S. 138
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noch an vielen Orten in die Gegenwart wirkende vergangene Epoche mit ihren Innendekorationen erstrebte.«309
Kracauer stellt hier einen Zusammenhang zwischen einer als typisch erkannten Lebensweise der 1920er Jahre und einem ihr entsprechenden Raumgefühl her und greift dabei insofern Überlegungen Foucaults vor, als der von ihm erwähnte »notwendige Sport«310 als eine sich in diesem zeitlichen Kontext entwickelnde Form der gesellschaftlich erwünschten Selbstoptimierung begriffen werden kann. Inwiefern das von ihm konstatierte veränderte Raumgefühl auf veränderten Wahrnehmungsweisen basiert, zeigt er besonders explizit anhand des Einflusses, den moderne Fortbewegungsweisen auf die Wahrnehmung nehmen: »Ausdrücklich wehren sich die Fassaden dagegen, ein Gesicht zu haben, als geschlossenes Bild von einem festen Blickpunkt aus betrachtet zu werden; denn Menschen, die sich mit hundert Kilometer Geschwindigkeit bewegen, tragen mit Recht kein Verlangen nach solchen Bildern. Nicht der angewurzelte Beobachter ermißt die Häuser, sondern der sie umstreifende und durchdringende.«311
Bezogen auf die beiden Le Corbusier-Bauten der Weißenhof-Siedlung entspricht damit sein in der Rezeption gewonnener Eindruck den Entwurfsüberlegungen des Architekten. Le Corbusier interessiert sich für die Einflüsse eines ›automobilen Wahrnehmens‹ insbesondere im Kontext seiner städtebaulichen Überlegungen, gelangt aber auch in seinen Wohnungsbauentwürfen zu Lösungen, die auf veränderte Wahrnehmungsweisen an das Fahren von Autos gewohnter Bewohnerinnen und Bewohner Rücksicht nehmen. Zu nennen ist hier insbesondere seine Favorisierung von Fensterbändern, die für die Gestaltung seines gemeinsam mit Pierre Jeanneret entworfenen Doppelhauses in der Weißenhofsiedlung kennzeichnend ist. Anders als Lochfenster, die Einzelbilder präsentieren, ermöglichen Fensterbänder ebenso wie das für Le Corbusiers Entwürfe ebenfalls bedeutsame Konzept der promenade architecturale fließende Betrachtungen.
309 Siegfried Kracauer: »Das neue Bauen«, in: Klaus T. Edelmann/Gerrit Terstiege (Hg.), Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel: Birkhäuser 2010, S. 249-257, hier S. 249 310 Ebd. 311 Ebd., S. 250
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Abbildung 9 und 10: Le Corbusier und Pierre Jeanneret, Doppelhaus Weißenhofsiedlung, Stuttgart, 1927
Ein Interesse an dem »Zusammenhang zwischen Architektur- und Erfahrungswandel«312 wird auch in Texten Sigfried Giedions deutlich. Seine Perspektive auf diesen Zusammenhang ist insofern eine spezifische, als er Veränderungen der Wahrnehmungsweisen auch als Folge der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Ingenieursarchitektur betrachtet und so den wechselseitigen Einfluss von Architektur und Architekturwahrnehmung in den Blick nimmt. Erkennbar wird dies z.B., wenn er in Bauen in Frankreich (1928) die Architektur des Eiffelturms als exemplarisch für »das ästhetische Grunderlebnis des heutigen Bauens«313 vorstellt. Dieses ist aus Giedions Sicht durch eine »möglichste Überwindung der Schwere. Leichte Dimensionierung. Öffnung, Durchspültsein von Luft«314 gekennzeichnet und korrespondiert aufgrund dieser Charakteristika mit dem »allgemeinen Lebensprozeß«315 des zeitlichen Kontexts. Ebenso wie Kracauer erkennt er, dass die veränderten Lebensbedingungen nicht nur die Wahrnehmungsweisen, sondern auch die Wahrnehmungsbedürfnisse beeinflussen, was dazu führt, dass Transparenz und Leichtigkeit auch im Wohnungsbau zu relevanten Entwurfsqualitäten werden.316 Dass sich die Veränderungen der Wahrnehmungsweisen nicht nur darauf auswirken, was wir wie wahrnehmen, sondern viel umfassender einen Einfluss auf unsere Sicht der Welt haben, zeigt Sigfried Giedion in Raum, Zeit, Architektur. In einer parallelen Betrachtung architektonischer Entwürfe und künstlerischer Arbeiten erkundet er
312 D. Schöttker, Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis, S. 141 313 Sigfried Giedion/Sokratis Georgiadis: Bauen in Frankreich, Bauen in Eisen, Bauen in Eisenbeton, Berlin: Gebr. Mann 2000, S. 7 314 Ebd., S. 9 315 Ebd. 316 Vgl. D. Schöttker: Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis, S. 142
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hier Zusammenhänge zwischen der Entwicklung der Relativitätstheorie und einer Abkehr von einer zentralperspektivischen Weltsicht hin zu einer von einer zeitlichen Dimension untrennbaren Raumkonzeption.317 Über Beziehungen zwischen sich verändernden Wahrnehmungs- und Lebensweisen denkt auch Walter Benjamin nach, aus dessen Sicht sich »innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume […] mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung«318 verändert. Ausgangpunkt seiner diesbezüglichen Überlegungen sind u.a. in den 1920er Jahren aufkommende Einkaufspassagen. Sie halten auf engem Raum eine bis dahin unbekannte Vielfalt gleichzeitiger Eindrücke bereit und werden von Benjamin als symptomatisch für gesellschaftliche und technische Entwicklungen der frühen Moderne betrachtet. Wie er überlegt, führt die hier exemplarisch hervortretende Simultaneität von Sinneseindrücken zu einer zerstreuten Wahrnehmungsweise. Diese begünstigt, wie in Kap. 2.2.1 bereits dargestellt, einen beiläufigen Aufmerksamkeitsmodus, den Benjamin für das Erleben der gebauten Umwelt als grundlegend erkennt. Das moderne Großstadtleben in seiner Beschleunigung und Simultanität wird auch von Georg Simmel in Bezug auf mit ihm zusammenhängende Veränderungen der Wahrnehmungsweisen untersucht. Dabei erkennt er einen Zusammenhang zwischen einem sich vor allem an ökonomischen Erfordernissen orientierenden Leben in der Großstadt und abgestumpften, »blasierten« Wahrnehmungsformen.319 Ein weiterer Faktor, über dessen Einfluss auf die Wahrnehmungsweisen seit den 1930er Jahren zunehmend nachgedacht wird, sind mediale Entwicklungen. In seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/39) befasst sich Walter Benjamin mit den Auswirkungen, die Film und Fotografie auf die künstlerische Produktion haben, und überlegt in diesem Kontext auch, inwiefern sie alltägliche Wahrnehmungsweisen beeinflussen. Diese Fragestellung wird in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der umfassenden Weiterentwicklungen auf dem Gebiet der Medien aufgegriffen. Besonders grundlegende Betrachtungen zu medialen Auswirkungen auf die Wahrnehmungsweisen stellt Marshall McLuhan an. Aus seiner in Understanding Media
317 Vgl. Sigfried Giedion: Raum, Zeit, Architektur, Ravensburg: Otto Maier Verlag 1965, S. 278-287. 318 W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 14. 319 Vgl. Georg Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 147-157, hier S. 147-157.
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(1964) dargestellten Sicht wird durch technische Neuentwicklungen ein bestehendes Gleichgewicht des sinnlichen Wahrnehmens gestört, wodurch Anpassungen erforderlich werden. Wie er konstatiert, hat »im audio-taktilen Europa […] das Fernsehen den Gesichtssinn verstärkt«320, in den zuvor bereits vorwiegend visuell orientierten USA jedoch eine gegenteilige Wirkung entfaltet. Aus der Perspektive Paul Virilios führt die Entwicklung der Telekommunikation, insbesondere des Fernsehens, zu einem »Töten der unmittelbaren Gegenwart«321. Als Grund hierfür führt er an, dass zur Überwindung räumlicher Distanz keine räumliche Fortbewegung mehr erforderlich ist. Der Fernsehzuschauer werde so »endgültig aus der aktiven Welt der sinnlichen Erfahrung des ihn umgebenden Raums«322 herausgelöst. Hierdurch verflache die Welt zum Bild. Negative Folgen für die Fähigkeit räumlichen Wahrnehmens, die Virilio hiermit impliziert, können unter Einbezug von Überlegungen August Schmarsows damit erklärt werden, dass die für das Erleben von Räumlichkeit zentrale physische Bewegung entlang der Tiefenachse des Raumes323 entfällt, wenn räumliche Entfernungen nicht mehr erfahren werden. Den in Kap. 2.2.2 vorgestellten Überlegungen Juhanni Pallasmaas folgend führt eine bildhafte Wahrnehmung zu einer Distanzierung zwischen Nutzerinnen und Nutzern und gebauter Umwelt, durch die ein Erkennen der durch Reziprozität gekennzeichneten Beziehung (bzw. ein Wohnen im Sinne Heideggers und Bollnows, vgl. Kap. 2.2.2) erschwert wird. Betrachtet man die medialen Entwicklungen den vorangegangenen Überlegungen entsprechend unter dem Aspekt der in ihrem Kontext zur Verfügung gestellten technischen Erweiterungen des Körpers, verbindet sich die Perspektive der historisch-soziologischen Wahrnehmungstheorie mit den Überlegungen zu einer Historizität des leiblichen Erlebens als Grundlage von Architekturerfahrungen. Unter Einbezug soziologischer Perspektiven wird erkennbar, dass Wahrnehmungsweisen, die in einem beiläufigen Modus des täglichen Umgangs mit der gebauten Umwelt eine Rolle spielen, in vielfältiger und komplexer Weise durch gesellschaftliche Faktoren moderiert werden. So wurde unter anderem gezeigt, dass das leibliche Erleben der gebauten Umwelt interindividuelle Gemeinsamkeiten aufweist, die nicht nur auf geteilten biologischen Grundlagen basieren,
320 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf: Econ 1992, S. 61 321 Paul Virilio: »Der echtwahre Augenblick«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 360-363, hier S. 363 322 Ebd. 323 Vgl. A. Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, S. 155-156
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sondern auch darauf, dass die Arten und Weisen, »Wie-es-sich-anfühlt, physisch-verfasster-Mensch-zu-sein«324, gesellschaftlichen, aber auch architektonischen Einflüssen unterliegen. Gemeinsam mit Hintergründen des eigenen Erlebens können diese Einflüsse reflexiv werden. Ästhetische Erfahrungen im Kontext skulpturaler Erkundungen von Architekturerfahrungen in ihrer Subjektivität und die damit verbundenen spezifischen Möglichkeiten der Reflexion bieten damit eine Basis, um zu überlegen, inwiefern die Arten und Weisen, wie Architektur erlebt wird, durch gesellschaftliche Entwicklungen moderiert werden. Auf dieser Grundlage wird es möglich, über das Verhältnis von Architektur und Gesellschaft jenseits eines Subjekt-Objekt-Dualismus325 nachzudenken und Architektur ausgehend von ihrer wahrnehmbaren Gestalt als soziales Projekt in den Blick zu nehmen. 2.2.4 Ökologische Perspektiven auf die Wahrnehmung von Handlungsoptionen in gebauten Umwelten Wie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurde, kann ausgehend von Reflexionen des subjektiven Erlebens gebauter Umwelten Zusammenhängen zwischen Architektur und Gesellschaft nachgegangen werden, indem die soziale Vermitteltheit des eigenen Erlebens betrachtet wird. Um darüber hinaus zeigen zu können, dass Reflexionen des subjektiven Erlebens der gebauten Umwelt diese in ihrer Nutzbarkeit in den Blick zu nehmen vermögen, soll im Folgenden überlegt werden, inwiefern beiläufige Wahrnehmungen und Erfahrungen von Architektur auf einen handelnden Umgang Einfluss nehmen. Auf diese Weise sollen Zusammenhänge zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Gestaltung von Gebäuden und ihrer Funktion hergestellt werden, die aus ästhetischen Perspektiven auf die Frage reduziert zu werden tendieren, inwiefern eine Passung zwischen beiden besteht. So wird z.B. aus Roger Scrutons Sicht ein Einfließen von Nutzungsüberlegungen in die beiläufige Wahrnehmung von Architektur darin erkennbar, dass eine architektonische Gestaltung als der Funktion eines Gebäudes mehr oder weniger entsprechend aufgefasst werde.326 Auch Adolf Loos stellt ähnliche Überlegungen an, die ihn zu folgender Forderung veranlassen: »Das zimmer muss gemütlich, das haus wohnlich aussehen. Das jus-
324 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 420 325 »In Gesellschaften verändern sich sowohl die Architekturen permanent, als auch, mit ihnen und durch sie, die Gesellschaft selbst.« H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen, S. 262 326 Vgl. R. Scruton: Die Architekturerfahrung, S. 68.
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tizgebäude muß dem heimlichen laster wie eine drohende gebärde erscheinen. Das bankhaus muß sagen: hier ist dein geld bei ehrlichen leuten fest und gut verwahrt.«327 Vor dem Hintergrund der vorgestellten Leiblichkeit der Architekturwahrnehmung kann überlegt werden, dass beiläufige Wahrnehmungen die Nutzbarkeit von Architektur auch über solche Passungsüberlegungen hinausgehend einbeziehen, da sie sich nicht nur auf ästhetische Urteile, Stimmungen und Befindlichkeiten, sondern auch auf einen handelnden Umgang mit der gebauten Umwelt auswirken. Nimmt man z.B. einen Durchgang auf der Basis einer unbewussten Inbezugsetzung zum eigenen Körper als beengend wahr, entscheidet man sich möglicherweise dazu, einen anderen Weg zu nehmen, ohne die Hintergründe dieser Entscheidung bewusst zu reflektieren. Auch die unmittelbaren Vorbewertungen, auf die im Zusammenhang mit Überlegungen des Embodimentdiskurses hingewiesen wurde, können als Hintergründe von Entscheidungen, die im Kontext eines handelnden Umgangs mit der gebauten Umwelt bewusst oder unbewusst getroffen werden, betrachtet werden. So dürfte die Wahl eines Aufenthaltsortes sowie die eigene Positionierung zu Begrenzungsflächen und Öffnungen auf unbewussten Bewertungen basieren, in die implizite Einschätzungen der sich durch sie gestaltenden Sichtbarkeiten einbezogen werden. Explizite Erkundungen teilbewusster oder unbewusster Hintergründe wahrgenommener Handlungsmöglichkeiten sind Gegenstand architekturpsychologischer Betrachtungen, anhand derer im Folgenden dargestellt werden soll, inwiefern unbewusste Verarbeitungsprozesse beiläufiger Wahrnehmungen auf individueller wie sozialer Ebene handlungsrelevant sind. Dazu werden die zu Beginn des Kapitels vorgestellten phänomenologischen Perspektiven durch eine umweltpsychologische Betrachtungsweise ergänzt. Eine solche Verbindung stellt bereits Lenelis Kruse her. Wie sie im Kontext ihrer Überlegungen zu räumlichen Umwelten als Handlungsräumen darstellt, ermöglicht die Verbindung phänomenologischer und umweltpsychologischer Betrachtungsweisen, das Erleben der gebauten Umwelt als in einen sozialen Kontext eingebunden zu erkennen328 und somit die tendenziell egologische Perspektive329 der Phänomenologie zu überwinden. Um das Potenzial einer solchen Verbindung erkennbar werden zu las-
327 A. Loos: Architektur, S. 505 328 Vgl. Lenelis Kruse: Räumliche Umwelt. Die Phänomenologie des räumlichen Verhaltens als Beitrag zu einer psychologischen Umwelttheorie (= Phänomenologischpsychologische Forschungen, Band 15), Berlin, New York: De Gruyter 1974, S. 151-155 329 Vgl. ebd., S. 104
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sen, werden im Folgenden zunächst Grundzüge der ökologischen Perspektive in der Psychologie vorgestellt. Anschließend werden mögliche Verbindungen zwischen beiläufigem Wahrnehmen und Handlungen anhand zweier architekturpsychologisch relevanter Konzepte der ökologischen Psychologie konkreter in den Blick genommen. Die ökologische Perspektive als Grundlage der Architekturpsychologie Der durch seine »Multidisziplinarität«330 gekennzeichnete Ansatz der ökologischen Psychologie bezieht neben psychologischen auch soziologische Überlegungen ein und verbindet so natur- und geisteswissenschaftliche Perspektiven. Architekturpsychologie als »Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen in gebauten Umwelten«331 ist eine auf die gebaute Umwelt spezialisierte Teildisziplin der ökologischen Psychologie332, die aber auch selbst bereits in ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein besonderes Interesse an der gebauten Umwelt entwickelt.333 Eines der zentralen Paradigmen der ökologischen Psychologie ist eine transaktionalistische Denkweise, die unter anderem von William Ittelson vertreten wird.334 Die architektonische Relevanz dieses Paradigmas ist dadurch begründet, dass es aus seiner Perspektive möglich ist, das Erleben und Verhalten des Menschen in gebauten Umwelten unter Berücksichtigung der komplexen Verwobenheit und Dynamik des Verhältnisses von Mensch und Umwelt zu betrachten. Reziproke Verbindungen zwischen der Art und Weise,
330 Carl F. Graumann/Lenelis Kruse: »Umweltpsychologie Ort, Gegenstand, Herkünfte, Trends«, in: Carl F. Graumann (Hg.), Enzyklopädie der Psychologie. Themenbereich C: Theorie und Forschung, Göttingen: Verlag für Psychologie C.J. Hogrefe 1983-, S. 3-65, hier S. 4 331 Peter G. Richter: »Mensch-Umwelt-Einheit(en) als Gegenstand der Architekturpsychologie«, in: Peter G. Richter (Hg.), Architekturpsychologie. Eine Einführung, Lengerich: Pabst Science Publishers 2009, S. 21-30, hier S. 21 332 Gemeint ist hier die Perspektive der Environmental Psychology des englischen Sprachraums, deren Begriff sich insofern von dem der Umweltpsychologie unterscheidet, als er Umwelt in einem umfassenden Sinn betrachtet und somit nicht nur ›natürliche‹ Umwelten, sondern auch gebaute und soziale einbezieht. Vgl. ebd., S. 22-23 333 Vgl. C. F. Graumann/L. Kruse: Umweltpsychologie, S. 5 334 Vgl. Jürgen Hellbrück/Elisabeth Kals: Umweltpsychologie (= Basiswissen Psychologie), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2012, S. 22
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wie Menschen die Umwelt verändern und welchen Einfluss diese wiederum auf die in ihr lebenden Menschen hat, können auf dieser Basis untersucht werden.335 Insofern Fragen der Wahrnehmung den Kern menschlichen Daseins betref336 fen , sind Betrachtungen der Art und Weise, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, eine wichtige Grundlage aller Überlegungen der ökologischen Psychologie zum reziproken Verhältnis von Mensch und Umwelt. Die Basis dieser Betrachtungen bilden Erkenntnisse anderer, traditionellerer Bereiche der Wahrnehmungspsychologie.337 Die Besonderheit der ökologischen Perspektive gegenüber dieser traditionellen Sichtweise beruht darauf, dass Umweltwahrnehmung grundsätzlich als situativ eingebettet betrachtet wird und somit davon ausgegangen wird, dass sie auch nur in ihren situativen Kontexten adäquat untersucht werden kann. Begründet wird dies aus transaktionalistischer Sicht damit, dass die Art und Weise, wie wir etwas wahrnehmen, von der Wahrnehmungssituation abhängt, die wiederum dadurch, dass wir sie – auf der Grundlage von Erfahrungen, Stimmungen, Zielen etc. – wahrnehmen, modifiziert wird. Sowohl die Wahrnehmungssituation als auch die Wahrnehmungsweisen des sich in der Situation befindenden Menschen entwickeln sich in einem reziproken Prozess weiter, sodass in der Wahrnehmung Mensch und Umwelt untrennbar miteinander verwoben sind.338 Die für diese Verwobenheit kennzeichnenden Wechselwirkungsprozesse zeigen sich z. B. darin, dass die Umwelt im Kontext einer Handlung zunächst Informationen zur Verfügung stellt, die u. a. vor dem Hintergrund eines Handlungsziels aufgenommen werden. Wird die Handlung umgesetzt, bildet die Umwelt den Kontext dieser Aktion und verändert sich durch sie. Diese Konsequenz der Handlung wird wiederum wahrgenommen und bildet die Basis weiterer Handlungsschritte.339 Die Komplexität der Wahrnehmungsbeziehung zwischen Subjekten und ihrer Umwelt, die die ökologische Perspektive der Psychologie in ihrer Vernetztheit in den Blick nimmt, gelangt allerdings im täglichen handelnden Umgang nicht auf eine bewusste Ebene. Vielmehr wird in einem der Alltagsperspektive entsprechenden, funktionell sinnvollen naiven Rea-
335 Vgl. P. G. Richter: Mensch-Umwelt-Einheiten, S. 24 336 Vgl. William H. Ittelson: »Environment Perception and Contemporary Perceptual Theory«, in: Harold M. Proshansky (Hg.), Environmental psychology, New york: Holt, reinhold and winston, S. 141-154, hier S. 141 337 Vgl. William H. Ittelson/Harold M. Proshansky/Leanne G. Rivlin/Gary H. Winkel: An Introduction to environmental psychology, New York: Holt, Rinehart and Winston 1974, S. 103 338 Vgl. ebd., S. 104 339 Vgl. ebd., S. 113
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lismus davon ausgegangen, dass die Wirklichkeit, wie wir sie wahrnehmen, mit einer wahrnehmungsunabhängigen Realität übereinstimmt.340 Anhand des in umweltpsychologischen Betrachtungen erkennbar werdenden Versuchs, ein dualistisches Verständnis von Menschen und ihren Umwelten zu überwinden, werden aus der Sicht Carl F. Graumanns Anschlussmöglichkeiten an phänomenologische Überlegungen erkennbar.341 Wie Lenelis Kruse in Räumliche Umwelt überlegt, kann die Umweltpsychologie in der Phänomenologie eine geeignete Basis finden, durch die es ihr gelingt, ihre durch »Theorielosigkeit, Eklektizismus und inadäquate Gegenstandsbestimmung«342 bedingten Probleme zu überwinden. Andersherum betrachtet, bilden Überlegungen der ökologischen Psychologie eine Grundlage, auf der darüber nachgedacht werden kann, auf welche Weisen das auf beiläufigen Wahrnehmungen basierende Erleben gebauter Umwelten, die u.a. vor dem Hintergrund von Überlegungen James J. Gibson in ihrer konkreten Dinghaftigkeit in den Blick genommen werden können, Verhaltensweisen und Handlungen beeinflussen kann. Das Affordanzkonzept nach James J. Gibson Ein grundlegendes Prinzip, das innerhalb einer auf Handlungen bezogenen Wahrnehmung der gebauten Umwelt wirksam wird, stellt James J. Gibson in den 1960er Jahren mit seinem Affordanzkonzept vor. Als Vertreter der vorgestellten ökologischen Perspektive in der Psychologie betrachtet er hierin die Wahrnehmung der Umwelt als aktiven Prozess, der durch eine reziproke Beziehung zwischen Wahrnehmendem und wahrgenommener Umwelt gekennzeichnet ist. Seinen in The Ecological Approach to Visual Perception343 dargestellten Überlegungen folgend, werden Elemente unserer Umwelt nicht einzeln wahrgenommen, sondern zu Reizmustern zusammengefasst, die er als Texturen bezeichnet.344 Zentraler Gedanke des Affordanzkonzepts ist, dass diese Texturen nicht
340 Vgl. R. Mausfeld: Wahrnehmungspsychologie, S. 66-67 341 Vgl. Carl F. Graumann: »Der phänomenologische Ansatz in der ökologischen Psychologie«, in: Lenelis Kruse/Carl F. Graumann/Ernst-Dieter Lantermann (Hg.), Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen, München: Psychologie Verlags Union 1990, S. 97-104, hier S. 97 342 L. Kruse: Räumliche Umwelt, S. 152 343 James J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, New York: Psychology Press 2011 344 Vgl. Peter G. Richter (Hg.): Architekturpsychologie. Eine Einführung, Lengerich: Pabst Science Publishers 2009, S. 80
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im Hinblick auf ihre Qualitäten wahrgenommen werden, die zunächst analysiert werden müssten, um herauszufinden, welche Handlungsmöglichkeiten sie bereithalten. Vielmehr würden Handlungsmöglichkeiten und deren Grenzen als Affordanzen unmittelbar wahrgenommen: »what we perceive when we look at objects are their affordances, not their qualities.«345 In die Wahrnehmung visueller Reize werden aus Gibsons Sicht auch Bereiche einbezogen, die außerhalb des Sichtfeldes liegen. Sichtbare und nicht sichtbare Bereiche bildeten somit die Basis einer mentalen Gesamtrepräsentation der Situation. Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass die Affordanz einer solchen Situation unmittelbar erkannt werden könne, sei dadurch gegeben, dass sich die Wahrnehmung der visuellen Umweltreize mit einer »Mitwahrnehmung des Selbst«346 verbinde. Indem so die Situation mit den eigenen physischen und anatomischen Voraussetzungen abgeglichen werde, könnten die sich in ihr bietenden Handlungsmöglichkeiten individuell unterschiedlich wahrgenommen werden: »Terrestrial surfaces, of course, are also climb-on-able or fall-off-able or getunderneathable or bump-into-able relative to the animal. Different layouts afford different behaviors for different animals, and different mechanical encounters. The human species in some cultures has the habit of sitting as distinguished from kneeling or squatting. If a surface of support with the four properties is also knee-high above the ground, it affords sitting on it. We call it a seat in general, or a stool, bench, chair, and so on, in particular. It may be natural like a ledge or artificial like a couch. It may have various shapes, as long as its functional layout is that of a seat. The color and texture of the surface are irrelevant. Knee-high for a child is not the same as knee-high for an adult, so the affordance is relative to the size of the individual. But if a surface is horizontal, flat, extended, rigid, and knee-high relative to a perceiver, it can in fact be sat upon. If it can be discriminated as having just these properties, it should look sit-on-able. If it does, the affordance is perceived visually. If the surface properties are seen relative to the body surfaces, the self, they constitute a seat and have meaning.«347
Wie dieses Zitat erkennen lässt, betrachtet Gibson die Beziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt im Allgemeinen, seine Überlegungen lassen sich jedoch sinnvoll auf die menschliche Wahrnehmung gebauter Umwelten anwen-
345 J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 134 346 Katharina König: Architekturwahrnehmung. Die Anwendung empirischer Erkenntnisse der Kognitionspsychologie auf architekturpsychologische Fragestellungen, Diss., Universität Paderborn 2013, S. 67 347 J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 128
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den. Sieht man z.B. als Mensch mit bestimmten körperlichen Maßen und Fähigkeiten eine Tür innerhalb ihres räumlichen Kontexts, bedarf es aufgrund der wahrgenommenen Affordanz dieser Situation keiner bewussten Analyse der sich in ihr bietenden Handlungsmöglichkeiten, sondern die auf der Funktion basierende und mit der eigenen körperlichen Beschaffenheit in Verbindung stehende Bedeutung wird ihr unmittelbar angesehen. Eine besondere Eignung der Affordanztheorie in einem architekturpsychologischen Kontext sieht Katharina König darin, dass es »um die Wahrnehmung von Objekten von unterschiedlichen Beobachtungspunkten aus geht. In der Architektur bewegt sich der Nutzer in der Regel und es gibt keinen spezifisch definierten Beobachtungspunkt, von dem aus sie wahrgenommen werden muss. Die Erkenntnisse Gibsons sprechen außerdem dafür, dass der Nutzer den Raum auch ›versteht‹, das heißt sich in ihm orientieren und handeln kann, und zwar auch dann, wenn er vorher nicht alle möglichen Raumpositionen eingenommen hat.«348
Ein weiterer Aspekt, der den Erklärungswert des Affordanzkonzepts im Kontext von Wahrnehmungen der gebauten Umwelt unterstützt, kann darin gesehen werden, dass Gibson die kulturelle Dimension der Wahrnehmung von Affordanzen berücksichtigt. Wie am Beispiel des unmittelbaren Erkennens eines Stuhles als ›sit-on-able‹ deutlich wird, ist es für seine sichtbare Affordanz von Bedeutung, dass das wahrnehmende Subjekt die Bevorzugung einer diesem Stuhl entsprechenden Sitzweise, die seinem kulturellen Hintergrund entspricht, in die Wahrnehmung einbezieht. Im Hinblick auf unbewusste Anteile von Wahrnehmungen, die mit einer Handlungssteuerung zusammenhängen, sind Gibsons Überlegungen insofern von Interesse, als anhand ihrer erkennbar wird, dass die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten baulicher Strukturen keine bewussten Reflexionen erfordert. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass die Wahrnehmung von Affordanzen nicht auf einer Analyse baulicher Eigenschaften beruht, sondern den Objekten der Umwelt auf der Basis eines unmittelbaren Abgleichs von Umweltsituationen und eigenen Möglichkeiten angesehen wird. Berücksichtigt man, dass unsere Alltagswahrnehmung durch einen naiven Realismus bestimmt ist und in der Regel keine Reflexion der reziproken Beziehung zwischen aufgenommenen Umweltreizen und eigenen Verarbeitungsweisen umfasst, ist davon auszugehen, dass insbesondere der eigene Anteil an der Wahrnehmung von Affordanzen im täglichen Erleben unbewusst bleibt. Nutzungsmöglichkeiten baulicher Strukturen
348 K. König: Architekturwahrnehmung, S. 68
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können so als objektiv gegeben erlebt werden. Dafür, dass bewusste Überlegungen im Kontext der Wahrnehmung von Affordanzen eine untergeordnete Rolle spielen, spricht auch, dass aus Gibsons Sicht die Fähigkeit, Affordanzen wahrzunehmen, im Verlauf der Sozialisation anhand unbewusst verarbeiteter Erfahrungen erworben wird, teilweise auch angeboren ist und somit in die jeweilige Wahrnehmungssituation auf der Basis impliziten Architekturwissens einfließt. Gibson betont darüber hinaus, dass Affordanzen von Objekten auch dann wahrgenommen werden, wenn sie im Kontext eines aktuellen Handlungsziels irrelevant sind.349 Somit kann überlegt werden, dass Affordanzen auch in einem beiläufigen Modus wahrgenommen werden und dazu beitragen, dass in nicht unmittelbar zweckorientierten Wahrnehmungen der gebauten Umwelt implizites Wissen hinsichtlich der Funktionalität der Architektur eine Rolle spielt. Der Behaviour Setting-Ansatz von Roger G. Barker Wie auf der Basis des Affordanz-Konzept James J. Gibsons gezeigt wurde, steht die wahrgenommene Umwelt mit Handlungsmöglichkeiten der wahrnehmenden Subjekte in einem, zum Teil auf unbewussten Wirkungen beruhenden Zusammenhang. Eine noch umfassendere Betrachtung dieses Zusammenhangs wird unter Einbezug des Behaviour Setting-Ansatzes Roger G. Barkers dadurch ermöglicht, dass auf dessen Basis eine soziale Komponente berücksichtigt werden kann. Barkers Erkundungen von Behaviour Settings erfolgen im Zeitraum zwischen 1947 und 1972 und sind insofern einem ökologischen Gedanken verpflichtet, als er besonderen Wert darauf legt, »das Verhalten von Menschen in seiner Ganzheit und in ihrer natürlichen Umgebung zu beobachten«350. Wie er anhand eines Vergleichs der Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern im Unterricht und in der Pause feststellen kann, sind intraindividuelle Verhaltensunterschiede in verschiedenen Kontexten größer als interindividuelle im gleichen Kontext. Dies weist auf die Bedeutung des Einflusses kontextueller Bedingungen auf Verhaltensweisen hin, dem er in seinen Forschungen zu Behaviour Settings nachgeht.351 Mit dem Begriff des Behaviour Settings bezeichnet Barker »ein System mit der physischen Umwelt (dem ›Setting‹ oder ›Milieu‹) und den
349 Vgl. J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 138 350 Berit Schulze: »Der Behaviour Setting-Ansatz (Roger G. Barker)«, in: Peter G. Richter (Hg.), Architekturpsychologie. Eine Einführung, Lengerich: Pabst Science Publishers 2009, S. 41-52, hier S. 41 351 Vgl. ebd., S. 42
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Menschen, den ›Teilnehmern‹ als Systemkomponenten«352, für das ein bestimmtes Verhaltensmuster charakteristisch ist. Dieses System sei nicht feststehend, reguliere sich jedoch selbst und behalte so ein »quasistationäres Niveau«353 bei. Aus einer architekturpsychologischen Perspektive ist der Behaviour SettingAnsatz insofern von Interesse, als zu einem Setting neben Personen in verschiedenen Rollen auch nicht-psychologische, jedoch verhaltensrelevante Objekte gehören354. Letztere werden in Barkers eigenen Erkundungen nur grob erfasst, der Ansatz erlaubt aber auch Herangehensweisen, die eine differenzierte Betrachtung der materiellen Komponente eines Settings umfassen. Dabei können z.B. die Lage, Größe und Position von Räumen ebenso einbezogen werden wie Durchlässigkeiten von Verbindungen oder auch die Positionierung von Mobiliar.355 Auch die Arten und Weisen, wie die einzelnen Komponenten eines Behaviour Settings auf Verhaltensmöglichkeiten einwirken, werden von Barker nicht genauer betrachtet, lassen sich aber unter Einbezug der vorgestellten Überlegungen Gibsons unter anderem auf Affordanzen zurückführen.356 Die mit ihnen unmittelbar sichtbar werdenden Handlungsmöglichkeiten werden aus der Perspektive des Behaviour Setting-Ansatzes u. a. durch soziale Normen und Regeln moderiert, die in dem jeweiligen, auch andere Menschen einschließenden Setting gelten. Wie diese Überlegungen zeigen, können auf der Basis des Behaviour Setting-Konzepts komplexe Zusammenhänge zwischen der gebauten Umwelt in ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit und sich in ihr aus der Perspektive der Nutzenden bietenden Verhaltensmöglichkeiten in den Blick genommen werden. Aus verschiedenen Gründen kann angenommen werden, dass die verhaltensregulierende Wirkung von Behaviour Settings unter anderem teilbewussten oder unbewussten Verarbeitungsprozessen geschuldet ist, die im Kontext ästhetischer Erfahrungen reflexiv werden könnten. Einer dieser Gründe ist, dass, wie oben
352 Antje Flade: Architektur psychologisch betrachtet, Bern: Huber 2008, S. 58 353 B. Schulze: Der Behaviour Setting-Ansatz, S. 44 354 Vgl. Jens-Jörg Koch: »Behaviour Setting und Forschungsmethodik Barkers. Einleitende Orientierung und einige kritische Anmerkungen«, in: Gerhard Kaminski/U. Bauer (Hg.), Ordnung und Variabilität im Alltagsgeschehen, Göttingen: Verlag für Psychologie 1986, S. 31-42, hier S. 35 355 Vgl. Agnes Schaible-Rapp/Helmut von Brenda: »Ist das Konzept ›Behaviour Setting‹ auf ›Problemlöse-Settings‹ abwendbar«, in: Gerhard Kaminski/U. Bauer (Hg.), Ordnung und Variabilität im Alltagsgeschehen, Göttingen: Verlag für Psychologie 1986, S. 61-70, hier S. 68-69 356 Vgl. B. Schulze: Der Behaviour Setting-Ansatz, S. 45
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überlegt wurde, Affordanzen materiellen Objekten unmittelbar angesehen werden. Darüber hinaus wird angenommen, dass die in einem Behaviour Setting angemessen erscheinenden Verhaltensmuster in »impliziten teilbewussten Prozessen«357 erworben und somit auch eher unbewusst an eine Situation herangetragen werden. Aus der anthropologischen Perspektive eines genetischen Ansatzes werden raumbezogene Verhaltensentscheidungen »nicht als bloße Reaktionen auf Umwelt-Stimuli verstanden, sondern mindestens zu einem wichtigen Teil als Folge einer biologisch verankerten Disposition.«358 Auch hierauf basieren unbewusste Anteile der Wirkung von Behaviour Settings auf wahrgenommene Verhaltensmöglichkeiten in gebauten Umwelten. Bleibt die Wahrnehmung von Affordanzen oder eines Behaviour Settings auf einer unbewussten Ebene und werden an ihr beteiligte eigene Anteile, die nicht nur durch eine physiologisch-anatomische Verfasstheit des Subjekts bestimmt sind, sondern auch kulturellen, sozialen und emotionalen Einflüssen unterliegen, somit nur bedingt reflexiv, können Handlungsmöglichkeiten als objektiv vorgegeben betrachtet und sie betreffende Spielräume unerkannt bleiben. Wie unter Einbezug einer ökologischen Perspektive deutlich wird, wird die gebaute Umwelt auch im Kontext ihres beiläufigen Erlebens in ihrer Nutzbarkeit und den sich in ihr bietenden Verhaltens- Aktions- und Interaktionsmöglichkeiten wahrgenommen. In ästhetischen Erfahrungsprozessen möglich werdende Reflexionen der Wirkungen, die von beiläufig wahrgenommenen gebauten Umwelten ausgehen, können diese Aspekte damit ebenfalls einbeziehen. 2.2.5 Die individuelle und gesellschaftliche Relevanz eines beiläufigen Architekturwahrnehmungsmodus Auf beiläufigen Wahrnehmungen des täglichen Umgangs mit Architektur basierenden Erfahrungen kommt vor dem Hintergrund der dargestellten Überlegungen insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie eine zentrale Grundlage der Beziehung zwischen Menschen und gebauten Umwelten bilden. Sie sind damit nicht nur quantitativ relevant, sondern verfügen über besondere Qualitäten, die darauf beruhen, dass in einem unaufmerksamen Modus vielfältige Stimuli mit unterschiedlichen Sinnen aufgenommen und verknüpft werden, in deren Verarbeitungsprozesse ebenso vielfältige individuelle wie überindividuelle, kulturelle
357 Ebd. 358 Peter Weber: »Räumliche Bedingungen des Verhaltens in der Geographie«, in: Gerhard Kaminski/U. Bauer (Hg.), Ordnung und Variabilität im Alltagsgeschehen, Göttingen: Verlag für Psychologie 1986, S. 203-212, hier S. 208-209
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wie gesellschaftliche Faktoren einfließen. Auf diese Weise werden architektonische und städtebauliche Formen unmittelbar, d.h. auch ohne eine Beteiligung bewusster Kognitionen mit Bedeutungen verbunden und bewertet. Wie anhand der vorgestellten architekturpsychologischen Perspektiven erkennbar wurde, sind diese Bedeutungen insofern architekturspezifisch, als architektonische und städtebauliche Situationen gerade in ihrer unmittelbaren, d.h. nicht bewusst reflektierten Wahrnehmung mit ihrer Funktionalität bzw. mit den sich anhand ihrer bietenden Nutzungsmöglichkeiten untrennbar verbunden zu sein scheinen. Als eine zentrale Schnittstelle zur gebauten Umwelt kann der Körper der Wahrnehmenden betrachtet werden, dessen Erleben den Überlegungen zur Historizität der Wahrnehmung folgend sozialen und kulturellen Entwicklungen unterliegt. Folgt man Welschs in Räume bilden Menschen359 dargestellter Sicht, stehen Menschen und gebaute Umwelten vor dem Hintergrund ihrer weit gefassten, auch mentale und imaginative Funktionen einschließenden, sowie Visionen und Wünsche produzierenden Leiblichkeit in einer Wechselbeziehung.360 Diese besteht darin, dass Menschen nicht nur architektonische Räume bilden, sondern Architektur umgekehrt »langfristig Existenzformen bilden und prägen«361 kann. Spielt ein solcher, umfassend begriffener Bezug zwischen erlebtem Körper und gebauter Umwelt vor allem in der Verarbeitung beiläufiger Wahrnehmungen und der auf ihnen basierenden Erfahrungsbildung eine Rolle, kann überlegt werden, dass dieser Wahrnehmungsmodus für ein existenzmodulierendes Potenzial der Architektur konstituierend ist. Auch Juhanni Pallasmaa erkennt zerstreuten Bereichen der Wahrnehmung ein solches Potenzial zu: »Die Welt der vorbewußten Wahrnehmung, welche nur außerhalb des fokussierten Sehbereichs wahrgenommen werden kann, scheint existenziell genauso wichtig zu sein wie das fokussierte Bild selbst.«362 Aufgrund ihrer Komplexität kann beiläufige Wahrnehmung als besonders umfassend betrachtet und somit auch hinsichtlich der auf ihrer Basis möglichen unbegrifflichen Erkenntnisformen gegenüber einer aufmerksamen Wahrnehmung als komplementär betrachtet werden. Eine solche positive Sicht wird bereits bei Alexander Gottlieb Baumgarten erkennbar, der die Auffassung vertritt, dass »Sinneserkenntnis im Unterschied zu den abstrakten Begriffen reich«363 sei. Wie Jonathan Crary in seiner Betrachtung von Aufmerksamkeits-
359 W. Welsch: Räume bilden Menschen, S.20 360 Vgl. ebd., S. 18-20 361 Ebd., S. 20 362 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 16 363 Arbogast Schmitt: »Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten«, in: Gert Mattenklott (Hg.), Ästhetische Erfahrung im Zeichen der
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diskursen der frühen Moderne darstellt, wurde ein zerstreuter Wahrnehmungsmodus auch hier zum Teil positiv bewertet. Während Zerstreuung in ästhetischen Diskursen der Jahrhundertwende tendenziell »als Ergebnis eines ›Verfalls‹ oder einer ›Verkümmerung‹ der Wahrnehmung im Rahmen eines umfassenderen Verfalls der Erfahrung verstanden«364 werde, werte z.B. Ferdinand Tönnies unaufmerksames Wahrnehmen implizit auf, indem er Aufmerksamkeit »als ein Charakteristikum der modernen Formen von Isolation und Fragmentierung«365 betrachte. Auch in Überlegungen Max Horckheimers erkennt Crary insofern eine eher kritische Sicht auf aufmerksames Wahrnehmen, als Horckheimer dieses als Anpassungserscheinung an soziale Strukturen begreife, die von Individuen ein augenblickliches Funktionieren forderten.366 Im Umkehrschluss seiner Überlegungen käme unaufmerksamem Wahrnehmen ein emanzipatorisches Potenzial zu. Unmittelbar postuliert wird ein sich hier andeutender Zusammenhang von Wahrnehmungsmodi und Grundhaltungen aus der zeitgenössischen Sicht Juhanni Pallasmaas. So verbindet dieser mit einem unfokussierten Blick die Überwindung einer patriarchalischen und kontrollierenden Weltsicht zugunsten einer defensiven und empathischen Grundhaltung.367 Darüber hinaus stellt auch er die positiven Aspekte unaufmerksamer Wahrnehmung indirekt in den Vordergrund, wenn er fokussiertes Sehen gegenüber peripherem Sehen als verengt betrachtet. Aus seiner Sicht nimmt die durch erstere bewirkte »Reduzierung […] der Wahrnehmung ihre natürliche Vielschichtigkeit, ihren Reichtum und ihre Plastizität, sie fragmentiert sie und verstärkt so ein Gefühl der Distanz und Entfremdung.«368 Verfolgt man den Gedanken weiter, indem man das reziproke, auf der Ebene der individuellen Existenz bestehende Verhältnis von Architektur und Mensch bezüglich seiner gesellschaftlichen Relevanz reflektiert, sind die in einem nach wie vor oder vielleicht auch mehr denn je relevanten beiläufigen Wahrnehmungsmodus wirksamen Einflüsse der Architektur im Hinblick auf die von der
Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich, Hamburg: Meiner 2004, S. 55-71, hier S. 55 364 Vgl. J. Crary: Aufmerksamkeit, S. 47. Crary erkennt entsprechende Tendenzen u.a. in Überlegungen Konrad Fiedlers, Rainer Maria Rilkes und Auguste Rodins. 365 Ebd., S. 49 366 Vgl. ebd., S. 50 367 Vgl. J. J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 16 368 Ebd., S. 50
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Architektursoziologie konstatierten Wechselbeziehungen von Architektur und Gesellschaft369 von Interesse. Wie anhand der vorgestellten architekturpsychologischen Perspektiven erkannt werden kann, sind unaufmerksame und damit tendenziell nicht bewusst reflektierte Wahrnehmungsweisen darüber hinaus auch im Kontext eines handlungsorientierten Umgangs mit der gebauten Umwelt von Bedeutung. Handlungssteuernde Wahrnehmungen und beiläufige Wahrnehmungen erscheinen somit nicht als getrennte Wahrnehmungsbereiche, sondern stehen in einem Zusammenhang. Parallel dazu können auch aufmerksame und beiläufige Wahrnehmungen als in einander übergehend betrachtet werden. Beiläufige Wahrnehmung als Grundlage impliziten Architekturwissens Die Bedeutung unbewusster oder teilbewusster Verarbeitungsprozesse gerade auch peripherer Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, die deren Hintergrundrolle im täglichen Erleben geschuldet ist, führt dazu, dass im Zuge der architektonischen Sozialisation gesammelte Architekturerfahrungen in besonderem Maß zu einem Erwerb impliziten Wissens beitragen, das dann wiederum in die Wahrnehmung der gebauten Umwelt einfließt. Bei dieser Wissensform handelt es sich um Erfahrungswissen, das nach dem Begriffsverständnis Michael Polanyis Bereiche menschlichen Erkennens umfasst, in denen »wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen«370. Wie Axel Buether zeigt, ist eine aufmerksame Wahrnehmung zwar Voraussetzung für eine bewusste Verarbeitung sensorischen Daten entnommener Informationen, jedoch werden auch ohne Aufmerksamkeit »Inhalte im Hintergrundbewusstsein verarbeitet und implizit gespeichert«.371 Dies erklärt, warum unaufmerksame Wahrnehmungen sich auf der Basis ihrer in diesem Kapitel vorgestellten Verarbeitungsgrundlagen einerseits auf Befindlichkeiten und Stimmungen auswirken und zu unmittelbaren Bewertungen architektonischer Situationen führen, andererseits aber auch langfristig zum Aufbau architekturbezogenen Erfahrungswissens beitragen können. Auch aus der umweltpsychologischen Sicht James J. Ittelsons trägt gerade die periphere Wahrnehmung zur Er-
369 Vgl. Heike Delitz: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 90, s. auch Kap. 2.2.3 370 Michael Polanyi: Implizites Wissen (= Band 543), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 14 371 A. Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 153
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fahrungsbildung bei: »Although much peripheral information may never enter awareness, its long-range effects may be measurable and important.«372 Die vorangegangenen Überlegungen lassen erkennen, dass grundlegende Bereiche impliziten Architekturwissens auf der Erfahrung des eigenen Körpers und seines Raumbezugs beruhen, dabei aber auch immer mittelbar oder unmittelbar mit der Funktionalität von Architektur in Verbindung stehen. Wie anhand der Darstellungen zur Historizität der Wahrnehmung in ihrer leiblichen Fundiertheit gezeigt wurde, wandern darüber hinaus kulturelle und gesellschaftliche Prägungen in den impliziten Wissensbestand ein. Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer erkennen implizitem Wissen auch in der architektonischen Gestaltung einen wichtigen Stellenwert zu: »Nicht alles Wissen, das in einen Entwurfsprozess einfließt, ist gleichermaßen explizit. Das architektonische Entwerfen scheint sich dadurch auszuzeichnen, dass es in hohem Maß durch die Verarbeitung impliziten Wissens bestimmt ist.«373 Eine solche Betrachtungsweise teilen auch Mark Mückenheim und Juliane Demel, die unter Bezugnahme auf Polanyis Begriff des impliziten Wissens die Grenzen der Lehrbarkeit architektonischen Entwerfens mit der Bedeutung emotionaler und intuitiver Anteile in Gestaltungsprozessen begründen: »This intuitive ability consists of a knowledge that cannot be clearly explained. It is a highly trained ›gut feeling‹ that becomes apparent when we instinctively apply the right choices in a given work of architecture or try to solve a complex set of design problems.«374
2.3 SYNERGIEN ZWISCHEN ÄSTHETISCHER ERFAHRUNG UND ARCHITEKTURERFAHRUNG Die erkenntnisleitende Fragestellung der Betrachtung von Besonderheiten in einem beiläufigen Modus gesammelter Architekturerfahrungen in Kap. 2.2 war, inwiefern deren Reflexion zu einem umfassenden Architekturverständnis beitra-
372 W. H. Ittelson/H. M. Proshansky/L. G. Rivlin/G. H. Winkel: An introduction to environmental psychology, S. 107 373 Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer: »Das Wissen der Architektur«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 9-13, hier S. 11 374 Mark Mückenheim/Juliane Demel: Inspiration. Contemporary design methods in architecture, Amsterdam, The Netherlands: BIS Publishers 2012, S. 12
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gen kann. Zu zeigen versucht wurde, dass anhand von Reflexionen des subjektiven Erlebens gebauter Umwelten zum einen Einblicke in deren existenzielle Bedeutung gewonnen sowie Hintergründe wahrgenommener Handlungsmöglichkeiten erschlossen werden können, dass sie zum anderen aber auch eine Basis bilden können, um über reziproke Beziehungen zwischen Architektur und Gesellschaft nachzudenken. Im Folgenden wird überlegt, inwiefern ästhetische Erfahrungsprozesse, in denen Architekturerfahrungen eine Rolle spielen, Reflexionen des Erlebens gebauter Umwelten ermöglichen, darüber hinaus aber auch zu einer Differenzierung der Architekturwahrnehmung beitragen können. 2.3.1 Architekturwahrnehmung zwischen Beiläufigkeit, Vollzugsorientierung und Aufmerksamkeit Wie Susanne Hauser, Christa Kamleithner und Roland Meyer bemerken, kommt ästhetischen Wahrnehmungen, die dem vorgestellten Begriffsverständnis Martin Seels folgend vollzugsorientiert und selbstbezüglich sind, im täglichen Umgang mit Architektur ein sehr geringer Stellenwert zu, da Architektur nur selten »Gegenstand einer handlungsbefreiten und intensiven Wahrnehmung«375 sei. Dieser Einschätzung kann vor dem Hintergrund eigener Erfahrung ohne Weiteres zugestimmt werden. Unter Berücksichtigung der vorangegangenen Überlegungen deutet sich allerdings an, dass gerade beiläufige Architekturwahrnehmungen in keinem dichotomen Verhältnis zu ästhetischen Wahrnehmungen im Sinne Seels stehen. Vielmehr können neben Unterschieden auch Parallelen zwischen beiden Wahrnehmungsformen erkannt werden, die auf Verbindungen verweisen und im Kontext eines Nachdenkens über mögliche Synergieeffekte von ästhetischen Erfahrungen und Erfahrungen, die im beiläufigen Wahrnehmen der gebauten Umwelt gesammelt werden, von Interesse sind. Parallelen zwischen beiläufigen Wahrnehmungen der gebauten Umwelt und ästhetischen Wahrnehmungen können insbesondere in ihrer Assoziativität und Multimodalität sowie in den dargestellten Bezügen zum Körper gesehen werden. Ein weiterer Aspekt, der beiläufige Wahrnehmungen der gebauten Umwelt in die Nähe ästhetischer Wahrnehmungen rückt, ist ihre teilweise nur mittelbare Verbindung zu einer Zweckorientierung. Gerade auf dieser Verbindung basieren aber auch Unterschiede, die die Sichtweise Adornos, der zerstreute Wahrneh-
375 Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer: »Ästhetik des sozialen Raumes zu Band 1«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 14-23, hier S. 18
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mungen als regredierte Form der ästhetischen Wahrnehmung einstuft376 und somit ein Differenzierungserfordernis impliziert, stützen können: Wenn beiläufige Wahrnehmungen im Kontext eines zweckorientierten Umgangs mit der gebauten Umwelt auftreten und somit an diesen gebunden bleiben, können sie nicht als selbstbezüglich betrachtet werden. Sie verweilen aus dem gleichen Grund auch nicht in sich und verfügen somit über keine eigene, präsentische Zeitstruktur. Damit fehlen ihnen wesentliche Eigenschaften, die aus Martin Seels Perspektive ästhetische Wahrnehmungen in ihrer Besonderheit charakterisieren. Aufgrund der genannten Parallelen zu ästhetischen Wahrnehmungen weisen beiläufige Wahrnehmungen allerdings Besonderheiten auf, die Übergänge in ästhetisches Wahrnehmen unterstützen. Solche Übergänge entstehen, wenn dem eigenen beiläufigen Wahrnehmen der gebauten Umwelt nachgespürt wird, dieses sich also von seinen Handlungsbezügen temporär löst. Eine solche spezifische Form ästhetischen Wahrnehmens ist insofern architekturspezifisch, als sie ihren Ursprung in einer auf den Umgang mit der gebauten Umwelt ausgerichteten Situation nimmt und diese Verbindung nicht vollkommen, sondern nur vorübergehend aufgibt. Auf diese Weise wird es möglich, eine wenn auch fragile Verbindung zwischen nicht oder nur teilweise bewussten Verarbeitungsprozessen beiläufiger Wahrnehmungen und bewussteren Kognitionen herzustellen. Die Möglichkeit, die Verbindung zum alltäglich-beiläufigen Wahrnehmungsmodus der gebauten Umwelt beizubehalten, die erforderlich ist, um deren Besonderheiten nachspüren zu können, basiert auf der spezifischen Form der Aufmerksamkeit ästhetischen Wahrnehmens, die mit Martin Seel als »ästhetische Aufmerksamkeit«377 in den Blick genommen werden kann. »Ästhetische Aufmerksamkeit […] schließt lediglich ein nicht-reflexives – ein, wie man sagen könnte ›spürendes‹ – Bewusstsein der Aufmerksamkeit für das jeweils Wahrgenommene mit ein.«378 Georg Franck konstatiert eine solche Zwischenposition der Aufmerksamkeit im Kontext der ästhetischen Wahrnehmung der Architektur, indem er diese zwischen Beiläufigkeit und Vollzugsorientierung verortet: »Um der Alchemie der erlebten Qualitäten innezuwerden, bedarf es einer Art ›Blinzeln‹ der Aufmerksamkeit, einer unscharfen Einstellung des Achtgebens, das die
376 Vgl. Theodor W. Adorno: »Über den Fetischcharakter und die Regression des Hörens«, in: Theodor W. Adorno (Hg.), Dissonanzen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, hier S. 34. Adorno bezieht sich hier auf akustische Wahrnehmungsfähigkeiten, deren kollektives Gesamtniveau aufgrund massenmedialer Entwicklungen gesunken sei. 377 M. Seel: Ethisch-ästhetische Studien, S. 55 378 Ebd.
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klaren Kategorien, nach denen der Verstand die Eindrücke sortiert, etwas ins Schwimmen bringt. Dieses ›Blinzeln‹, nicht das Hinüberwechseln in eine ganz andere Wirklichkeit ist es, wodurch das Wahrnehmen ästhetisch wird.«379 Eine spezifische »unbeabsichtigte Aufmerksamkeit«380 betrachtet auch Anne Brandl als Grundlage einer Erweiterung von Wahrnehmungsfähigkeiten im Umgang mit der gebauten Umwelt. Roger Scruton stellt ebenfalls Überlegungen zu einem spezifischen Aufmerksamkeitsmodus an, der die von ihm als konstituierendes Merkmal der Architekturwahrnehmung erkannte Imaginativität ermöglicht. »Die imaginative Aufmerksamkeit ist […] nicht durch den Wunsch, Dinge ›herauszufinden‹, und nicht durch die Beschäftigung mit Tatsachen charakterisiert.«381 Vielmehr handele es sich um »eine Aufmerksamkeit […] die über die Ziele des wörtlich Verstehens hinausgeht.«382 Ästhetische Architekturwahrnehmung der hier vorgestellten Verständnisse kann innerhalb eines Kontinuums verortet werden, in dem sich, wie Jonathan Crary überlegt, Aufmerksamkeit und Zerstreuung nicht fundamental gegensätzlich zueinander verhalten, sondern »unablässig ineinander übergehen«383. Alltägliche Architekturwahrnehmung umfasst vor dem Hintergrund dieser Überlegungen immer auch ästhetische Momente, in denen beiläufige Wahrnehmungen der gebauten Umwelt in ihrer besonderen Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit wahrgenommen werden. Trotz einer solchen zeitweiligen Vollzugsorientierung wird die für alltägliche Formen des Umgangs mit gebauten Wirklichkeiten konstituierende Handlungsorientierung dabei nicht suspendiert, da Architektur bereits auf einer unbewussten Ebene in Bezug auf die sich in ihr bietenden Handlungsmöglichkeiten und ihre Funktionalität vorbewertet und somit immer als Architektur wahrgenommen wird. Eine solche Vorbewertung, die zu einem Wahrnehmen-als-Architektur führt, könnte auf die bereits erwähnten, im Wahrnehmungsvorgang vor jeglicher bewusster Bewertung wirksam werdenden Konzeptformen384 zurückgeführt werden, was erklären könnte, warum bereits in eine unaufmerksame Betrachtung architektonischer Formen und Räume architekturspezifisches implizites Wissen einzufließen kann.
379 Georg Franck/Dorothea Franck: Architektonische Qualität (= Edition Akzente), München: C. Hanser 2008, S. 230 380 Anne Brandl: Die sinnliche Wahrnehmung von Stadtraum. Städtebautheoretische Überlegungen, Zürich: ETH Zürich Research Collection 2013, S. 6 381 R. Scruton: Die Architekturerfahrung, S. 84 382 Ebd. 383 J. Crary: Aufmerksamkeit, S. 48 384 Vgl. R. Mausfeld: Wahrnehmungspsychologie, s. Kap. 2.2.2, Abschnitt Embodiment
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2.3.2 Gewohntes als Ereignis? Damit ein Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Verarbeitungsprozesse beiläufiger Architekturwahrnehmungen möglich wird und somit Hintergründen ihrer Wirkungen und einer auf ihnen basierenden unmittelbaren Verbindung zwischen Mensch und gebauter Umwelt nachgegangen werden kann, ist es, wie in Kapitel 2.1 gezeigt wurde, erforderlich, Wahrnehmung nicht nur wahrzunehmen, sondern auch reflexiv werden zu lassen, d.h. in eine ästhetische Erfahrung zu überführen. Diese ist, wie Martin Seel formuliert, »offen für reflexive Bewegungen, mit denen sie Kalküle und Konstruktionen von Objekten des Erscheinens eruiert. Dabei verwendet und erzeugt sie vielerlei Wissen, das dazu dient, im Prozess der Wahrnehmung komplexen Prozessen am Gegenstand dieser Wahrnehmung auf die Spur zu kommen.«385 Ebenfalls unter Bezugnahme auf Überlegungen Martin Seels wurde bereits dargestellt, dass eine solche Überführung ästhetischer Wahrnehmungen in ästhetische Erfahrungen durch ihre Steigerung ins Ereignishafte möglich ist. Die gebaute Umwelt ist jedoch gerade dadurch charakterisiert, dass sie an sich nicht neu, innovativ, schockierend oder unerwartet ist, und auch die Situationen des Umgangs sind weitgehend durch Routinen geprägt. Insofern hiermit eine im Modus der Gewohnheit erfolgende Wahrnehmung zusammenhängt, die aus Walter Benjamins Sicht sogar als »an der Architektur gebildete Rezeption«386 begriffen werden kann, kann das Moment der Ereignishaftigkeit als Grundlage einer mit Reflexionen verbundenen Erfahrung in der Regel nicht von der gebauten Umwelt ausgehen. Ein Innehalten in der Wahrnehmung beiläufiger Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, das eine Reflexion dieser Wahrnehmungen und ihrer Verarbeitungsprozesse auszulösen vermag, setzt damit voraus, dass die an sich nicht neue gebaute Umwelt für die Nutzenden oder Betrachtenden neu wird, d.h. neu gesehen werden kann. Die Möglichkeit, Architektur im Sinne des dargestellten Verständnisses ästhetisch zu erfahren, wird damit zu einer Frage der Rezeption bzw. der Rezeptionsfähigkeiten und -haltungen.
385 M. Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 147-148 386 W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 41
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2.3.3 Erfahrungen erfahren in künstlerischen und architektonischen Kontexten Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, eröffnen sich in Auseinandersetzungen mit Kunst besondere Chancen ästhetischer Erfahrungen, die im Folgenden hinsichtlich ihres Potenzials betrachtet werden sollen, gebaute Umwelt in ihrer Gewohntheit neu zu sehen. Sie basieren darauf, dass in künstlerischen Kontexten Spannungsfelder eröffnet werden, die daraus resultieren, dass künstlerische Arbeiten gleichermaßen in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Dinghaftigkeit präsent sowie durch ihre Präsentation in einem Kunstkontext verortet sind und darüber hinaus eine Projektionsfläche subjektiver Erfahrungen anbieten. Zwischen diesen Polen wechselnd, werden in einem unabschließbaren Prozess Sinnproduktionen an sie herangetragen und wieder verworfen, wodurch die diesen Sinnproduktionen zugrundeliegenden Deutungsmuster fragwürdig werden und eine so erkennbar werdende Mehrdeutigkeit zur Hinterfragung bestehender und zur Erprobung neuer Sichtweisen führen kann. Wenn in Rezeption und Produktion künstlerischer Arbeiten Architekturerfahrungen als auf der Grundlage beiläufiger Wahrnehmungen der gebauten Umwelt gesammelte Erfahrungen oder auch Formen impliziten Architekturwissens an Sinnproduktionen beteiligt sind, können somit Grundlagen von Verarbeitungsprozessen dieser beiläufigen Wahrnehmungen reflexiv werden. Auf diese Weise wird ermöglicht, dass gesammelte Architekturerfahrungen Gegenstand ästhetischer Erfahrungen werden. Aus Sicht Rudolf Arnheims besteht das besondere Potenzial künstlerischer Auseinandersetzungen mit Architektur darin, die elementaren Bedingungen vielschichtiger individueller Erfahrungen der gebauten Umwelt zu erkennen.387 Doch inwiefern können sich ästhetische Erfahrungsprozesse im Kontext künstlerischer Auseinandersetzungen auf den täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt auswirken? Wie Juliane Rebentisch insbesondere im Hinblick auf in den realen Raum intervenierende Kunst zeigt, ermöglicht es diese, »Erfahrung zu erfahren, das heißt: den lebensweltlich bekannten Erfahrungswelten im Modus einer reflexiven Distanz neu zu begegnen«388. Damit verweist sie auf erweiterte Möglichkeiten des Umgangs mit der gebauten Umwelt, die auf der Basis künstlerischer Auseinandersetzungen mit Architektur eröffnet werden und es erlauben, die an sich nicht neue, sondern gewohnte gebaute Umwelt neu zu sehen. Diese Möglichkeiten basieren allerdings auf einer besonderen Form der von Juliane Rebentisch angeführten reflexiven Distanz, die nicht mit einer Lösung aus
387 Vgl. R. Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 73 388 J. Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 80
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dem Wahrnehmungsvollzug einhergehend konzipiert werden kann. Erkenntnispotenziale einer in rezeptiven oder produktiven Auseinandersetzungen gewonnenen spezifisch künstlerischen Sicht auf Architektur scheinen den vorangegangenen Überlegungen folgend vielmehr gerade darin zu bestehen, dass die Fähigkeit eines Oszillierens zwischen Distanz und der Erfahrung unmittelbarem Eingebundenseins und damit eine spezifisch ästhetische Form der Aufmerksamkeit für beiläufiges Wahrnehmen erworben und eingeübt wird389. Auf ihrer Basis können Verarbeitungsprozesse von Architekturwahrnehmungen zugänglich und für alternative Deutungsmöglichkeiten geöffnet werden. In dem somit aufscheinenden Potenzial des Erkennens von Möglichkeitsräumen sieht Martin Seel die »besondere Reichweite der ästhetischen Erfahrung: Sie läßt am Bestimmten das Unbestimmte, am Realisierten das Unrealisierte, am Faßlichen das Unfaßliche kenntlich werden und stellt darin ein Bewußtsein der Offenheit von Gegenwart her.«390 Wenn auf der Grundlage in künstlerischen Kontexten erworbener Fähigkeiten und Erkenntnisse Wahrnehmungsweisen der gebauten Umwelt zum Ereignis und ihre Verarbeitungsprozesse in der dargestellten Weise reflexiv werden, kann die reziproke Performativität des Verhältnisses von Mensch und Architektur auch außerhalb künstlerischer Kontexte erfahren, eine Dichotomie von aktivem Bestimmen und passivem Erleiden, die das tägliche Erleben der gebauten Umwelt kennzeichnet, überwunden werden. 2.3.4 Vertiefung beiläufiger Architekturwahrnehmung Über die Chancen des alternativen Einbezugs einer künstlerischen Sicht auf Architektur und die damit verbundenen, auf der Ereignishaftigkeit eines NeuSehens basierenden ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten hinaus kann überlegt werden, dass die eher gesammelte oder vertiefte als fokussierte Aufmerksamkeitsform ästhetischer Erfahrungsprozesse, die in künstlerischen Kontexten eingeübt wird, zu einer erweiterten oder vertieften Wahrnehmungsfähigkeit391 ge-
389 Über das Potenzial eines Aufmerkens für das eigene Wahrnehmen denkt auch Alexandra Abel nach: »Wenn wir Architektur in ihrer Bedeutung für uns verstehen wollen, müssen wir aufmerksam werden: nicht auf Architektur, sondern auf unsere Interaktion mit Architektur.« Alexandra Abel: »Architektur und Aufmerksamkeit«, in: Alexandra Abel/Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript 2018, S. 21-47, hier S. 22 390 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 81 391 Geht man den bereits dargestellten Überlegungen Walter Benjamins und Georg Simmels folgend von einem Zusammenhang zwischen einem durch Simultanität und
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bauter Umwelten beitragen könnte. Ein solches Einüben wäre insbesondere im Hinblick auf das Erkennen körperlicher Wahrnehmungsgrundlagen von Bedeutung. So ist die Leiblichkeit der Wahrnehmung aus der Sicht Merleau-Pontys zwar einerseits unhintergehbar, muss aber anderseits auch immer erst gefunden werden392 und auch das Vermögen, sich des Einfühlens in architektonische Formen bewusst zu werden, kann nicht als ohne Weiteres gegeben betrachtet werden393. Beides erfordert einen Ausbau der Verbindungen zwischen unaufmerksamen Wahrnehmungen und bewussteren Ebenen der Weiterverarbeitung, der durch die besondere Form der Aufmerksamkeit künstlerischer Rezeptions- und Produktionsprozesse unterstützt werden könnte. Robert Vischer stellt diesen Vorgang als Übergang von einfachem »Sehen«394 in ein bewussteres »Schauen«395 dar, das allerdings nicht fokussiere, sondern auf einer ›natürlichen‹ und einem künstlerischen Blick entsprechenden Aufmerksamkeitsebene bleibe. In diesem Schauen erfolge ein »antreibendes Beleben der toten Erscheinung«396 und eine anschließende Rückkehr zum einfachen Sehen führe zu dessen Erweiterung: »Und jetzt, nachdem dem Schauen Genüge getan ist, wiederholt sich der Eindruck des Sehens auf eine höhere Weise. […] Ich habe wieder ein geschlossenes Gesamtbild, aber ein entwickeltes, durchfühltes.«397 Darauf, dass ein solcher Ausbau der Verbindungen zwischen beiläufiger und aufmerksamer Wahrnehmung grundsätzlich möglich ist, verweisen Befunde empirischer Studien der Wahrnehmungspsychologie. Sie zeigen, dass Verbindungen zwischen unaufmerksamen und aufmerksamen Bereichen der Wahrnehmung bestehen, deren
Geschwindigkeit gekennzeichneten Erleben der gebauten Umwelt und zerstreuter Wahrnehmung aus, kann vor dem Hintergrund zunehmender Konkurrenz um die Ressource Aufmerksamkeit überlegt werden, inwiefern beiläufiges Wahrnehmen die Verarbeitungstiefe betreffenden Veränderungen unterliegt. Eine Verflachung der Wahrnehmung und der auf ihrer Basis möglichen Erfahrungen beobachtet John Dewey: »Besonders in der hektischen, ungeduldigen, vom Menschen geschaffenen Umwelt, in der wir leben, verbleibt gar mancher bei allem Eifer und Tatendrang ganz an der Oberfläche, in einer Erfahrung von schier unglaublicher Dürftigkeit.« J. Dewey: Kunst als Erfahrung, S. 58 392 Vgl. M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 242 393 Vgl. H. F. Mallgrave: Architecture and Embodiment, S. 122 394 R. Vischer: Über das optische Formgefühl, S. 40 395 Ebd., S. 41 396 Ebd. 397 Ebd.
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Durchlässigkeit durch Übung gesteigert werden kann.398 Auf diese Weise kann die Zugänglichkeit impliziten Architekturwissen erhöht werden. Eine solche Möglichkeit erkennen zum Beispiel Mückenhaupt und Demel, wenn sie gestalterische Intuition als »highly trained gut feeling«399 definieren. Die sich andeutenden Chancen einer Defragmentierung der Wahrnehmung erstrecken sich auch auf Förderungsmöglichkeiten intermodalen Wahrnehmens, die wahrnehmungspsychologisch ebenfalls nachgewiesen werden können400. Auf ein diesbezügliches Potenzial von Auseinandersetzungen mit Kunst, das allerdings mit Blick auf z.B. konzeptuell verfasste Werke der Relativierung bedarf, verweist Juhanni Pallasmaa. Wie er unter Bezugnahme auf Bernard Berenson darstellt, »stimuliert ein authentisches Kunstwerk unseren imaginären Tastsinn und diese Stimulation wiederum ›steigert‹ das Leben«401. Auch aus einfühlungsästhetischer Perspektive intensivieren künstlerische Auseinandersetzungen die Wahrnehmungsfähigkeit.402 2.3.5 Gebaute Umwelt als skulpturales Erkundungsfeld Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass einerseits in künstlerischen Kontexten gewonnene Erkenntnisse und Rezeptionshaltungen dazu führen können, dass die gebaute Umwelt als ereignishaft erlebt und damit Gegenstand spezifisch architektonischer ästhetischer Erfahrungen werden kann, dass andererseits ein in Auseinandersetzungen mit Kunst eingeübtes ästhetisches Wahrnehmen aber auch eine Vertiefung und erweiterte Zugänglichkeit beiläufiger Architekturwahrnehmungen bewirken kann. Auf diese Weise erscheint es möglich, die eigene Beziehung zur gebauten Umwelt, über die unter Einbezug phänomenologischer Überlegungen in Kap. 2.2.2 nachgedacht wurde, in ihrer Vernetztheit erkunden und vertiefen zu können und damit Einblicke in die Bedeutung zu erhalten, die die gebaute Umwelt für die eigene Existenz hat. Indem im Kontext ästhetischer Erfahrungen eine distanzierte und distanzierende Sicht zugunsten des Erkennens des eigenen, leiblichen Engagiertseins in die gebaute Umwelt temporär aufgegeben werden kann, wird es möglich, sich einem über funktionale Beziehungen hinausgehenden Wohnen anzunähern. Dies kann auf der Grundlage von Überlegungen Heideggers inso-
398 Vgl. J. Krummenacher/H.-J. Müller/T. Schubert: Aufmerksamkeit, S. 182 399 M. Mückenheim/J. Demel: Inspiration, S. 12 (eigene Hervorhebung) 400 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 83 401 J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 54 402 Vgl. H. F. Mallgrave: Architecture and Embodiment, S. 122
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fern als pädagogisches Ziel begriffen werden, als Wohnen erst erlernt werden müsse403. Wird Leibliches Erleben als u.a. gesellschaftlich vermittelt und in seinem Zusammenhang mit technischen und medialen Entwicklungen betrachtet, können ästhetische Erfahrungen in ihrer Subjektivität und die in ihrem Kontext möglichen Reflexionen aber auch eine Basis bilden, um darüber nachzudenken, inwiefern die Arten und Weisen, wie Architektur erlebt wird, durch gesellschaftliche Entwicklungen moderiert werden. Ästhetische Erfahrungsprozesse, in denen Erfahrungen mit Handlungsmöglichkeiten der gebauten Umwelt an Sinnkonstruktionen beteiligt sind, können darüber hinaus Grundlagen schaffen, um vermeintliche Handlungsdeterminierungen hinterfragen zu können. Eine diesbezügliche Reflexion könnte Hintergründe von wahrgenommenen Handlungsmöglichkeiten zugänglich werden lassen, erweiterte Handlungschancen404 eröffnen und somit die Einnahme einer ökologische Perspektive ermöglichen, die sich Gibson folgend durch die Überwindung einer dualistischen Sichtweise auszeichnet.405 Sie könnte aber auch erkennbar werden lassen, inwiefern die gebaute Umwelt den eigenen Nutzungsmöglichkeiten reale Grenzen setzt und eine Auseinandersetzung mit planerischen Entscheidungen in Gang setzen. Doch nicht nur in künstlerischen Kontexten gewonnene Fähigkeiten und Erkenntnisse haben Einfluss auf die Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten der gebauten Umwelt, sondern auch in umgekehrter Richtung können mit Martin Seel Synergieeffekte erkannt werden:
403 Vgl. M. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 163 404 Das emanzipatorische Potenzial der ökologischen Perspektive, die auf der Basis ästhetischer Erfahrungen eingenommen werden kann, wird in folgender Erläuterung Gibsons erkennbar: »To perceive an affordance is not to classify an object. The fact that a stone is a missile does not imply that it cannot be other things as well. It can be a paperweight, a bookend, a hammer, or a pendulum bob. It can be piled on another rock to make a cairn or a stone wall. These affordances are all consistent with one another. The differences between them are not clear-cut, and the arbitrary names by which they are called do not count for perception. If you know what can be done with a graspable detached object, what it can be used for, you can call it whatever you please.« J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 134 405 Vgl. ebd., S. 139
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»Die Erfahrung der Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst – und hier gerade von ästhetischen Erfahrungen in den Räumen der Stadt und der Natur, in denen die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinander geraten.«406
Synergieeffekte, die Martin Seel vor allem auf rezeptiver Ebene in den Blick nimmt, werden auch im Hinblick auf künstlerische Produktionsprozesse erkennbar, da sowohl die anhand der rezeptiven Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten gewonnene Fähigkeit, Aspekte der gebauten Umwelt neu wahrzunehmen und somit ereignishaft werden zu lassen, als auch eine Vertiefung der beiläufigen Wahrnehmung auf der Basis in künstlerischen Kontexten erworbener und eingeübter ästhetischer Wahrnehmungsmöglichkeiten Chancen für künstlerisches Arbeiten eröffnen. So kann das Erkennen einer unmittelbaren Beziehung zur gebauten Umwelt sowie ihres Einflusses auf die eigenen Lebensmöglichkeiten eine Basis künstlerischer Produktion bilden und diese motivieren, wie dies exemplarisch an der Position Monika Sosnowskas erkannt werden kann. Auf diese Weise können in der gebauten Umwelt gewonnene Erkenntnisse vertieft, in anschaulicher Weise zum Ausdruck gebracht und kommuniziert werden, ohne begrifflich expliziert und somit tendenziell vereinseitigt zu werden.407 Architekturerfahrungen können aber auch zu Anknüpfungspunkten weiterführender, stärker auf einer begrifflichen Ebene verorteter Verarbeitungsprozesse werden, anhand derer unter Einbezug architekturtheoretisch relevanter Bezugswissenschaften Fragestellungen eines architektonischen Diskurses nachgegangen werden kann. Zwischen den beiden Polen des anschaulichen Ausdrucks und der diskursiven Durchdringung von Architekturerfahrungen eröffnet sich ein kontinuierliches Feld künstlerischer Möglichkeiten, innerhalb dessen auf unterschiedliche Weise die wechselseitige Performativität von Architektur und der in ihr lebenden Menschen erkundet werden kann. Auch im künstlerischen Prozess spielt dabei eine spezifisch ästhetische, gesammelte und zwischen Nähe und Distanz wechselnde Aufmerksamkeit eine besondere Rolle, die es ermöglicht, die Mehrdeutigkeit der Architekturerfahrungen in ihrer Komplexität einfließen zu lassen und die somit der Rezeptionsoffenheit der entstehenden Arbeiten zugrunde liegt.
406 M. Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrungen, S. 81 407 Die Unmöglichkeit, die Erfahrung einer architektonischen Situation zu verbalisieren, beschreibt z.B. Peter Zumthor in Architektur denken, S. 83.
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Von The Tired Room zur Architektur, von der Architektur zur künstlerischen Praxis Die dargestellten Synergien zwischen beiläufigen Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, künstlerischen und architektonischen Erfahrungsmöglichkeiten sollen im Folgenden anhand von The Tired Room und eines Architekturbeispiels konkretisiert werden. Wie in der einleitenden Betrachtung der Arbeit Monika Sosnowskas bereits dargestellt, erweckt The Tired Room den Eindruck, als wirke eine äußere Kraft auf ihn ein, die ihn zusammendrückt. Sein räumliches Volumen ist gegenüber einer angenommenen quaderförmigen Ursprungsform verkleinert, die ihn begrenzenden Wände scheinen somit dem Druck bereits nachgegeben zu haben. Das unmittelbare Erkennen der Verformung setzt Architekturerfahrungen voraus, auf deren Grundlage erst eine rechtwinklige Ursprungsform vorgestellt werden kann, und auch der Eindruck, der Raum gebe einem auf ihn wirkenden Druck nach, bedarf der Vorerfahrungen in Bezug auf statische Gegebenheiten baulicher Konstruktionen. Vor diesem Hintergrund und auf der Basis von Empathievermögen kann der Raum als müde empfunden werden. Eine solche Zuschreibung, die sich durch den Titel der Arbeit bestätigt sehen kann, wird allerdings durch die Spitzwinkligkeit des Raumes und der ihn umgebenden Wandflächen gleich wieder zurückgewiesen. Der Raum hat sich im Nachgeben eine Dynamik bewahrt, die es ihm zu erlauben scheint, sich gegen den äußeren Druck zu wehren. Unterschiedliche Deutungsmuster können auf diese Weise aktiviert, in ihrer Widersprüchlichkeit erlebnishaft und somit reflexiv werden. Aufgrund der besonderen Form ästhetischer Aufmerksamkeit, die auf den Wahrnehmungsvollzug gerichtet wird, bleibt deren Komplexität erhalten und bildet die Grundlage unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Deutungsweisen. Eine von vielfältigen vorstellbaren Möglichkeiten, wie der dargestellte Aspekt möglicher ästhetischer Erfahrung The Tired Rooms Einfluss auf das Erleben der gebauten Umwelt nehmen kann, soll anhand des Gebäudeteils Q der Universität Paderborn überlegt werden.
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Abb ildung 11: Universität Paderborn, Q-Gebäude und Bibliothek
Ein oberer quaderförmiger Teil dieses Gebäudes ist im rechten Winkel zu einem darunterliegenden angeordnet und kragt über diesen einseitig mehrere Meter aus, wobei der auskragende Bereich, wie aus der abgebildeten Perspektive erkennbar, nur von einer sehr schlanken, runden Stütze gestützt wird. Die Hauptlast des oberen Gebäudekörpers wird offenbar von dem darunterliegenden Baukörper getragen. Im peripheren Wahrnehmen, beispielsweise beim Passieren des Gebäudes auf dem Weg zu einem der Eingänge der Universität, gehen von dieser architektonischen Lösung möglicherweise Wirkungen aus, die insbesondere auf dem in diesem Wahrnehmungsmodus besonders einflussreichen Moment einer Inbezugsetzung zum eigenen körperlichen Erleben beruhen. Sie können z.B. auf einer Einfühlung in den unteren Gebäudekörper basieren und auf diese Weise Einfluss auf Stimmung und Befindlichkeit haben. Eine vor dem Hintergrund ästhetischer Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit The Tired Room ermöglichte Sensibilisierung für den Aspekt des Tragens und Lastens kann dazu führen, dass diese Wirkungen bemerkt werden und dem ihnen zugrundeliegenden beiläufigen Wahrnehmen nachgespürt wird. Eine ebenfalls im künstlerischen Kontext erworbene Bereitschaft, sich unterschiedlichen Deutungsweisen zu öffnen, kann dann erlauben, auch hier zwischen verschiedenen Wahrnehmungsmöglichkeiten zu wechseln. So ist eine Einfühlung in den oberen Gebäudeteil ebenfalls möglich. Auch kann der obere Gebäudeteil als kraftlos aufliegend betrachtet werden, wobei dem unteren Baukörper die Aufgabe des kraftvollen Tragens zukäme. Wird im beiläufigen Wahrnehmen, das vollkommen unbemerkt bleibt, eine Wirkung passiv erlitten, kann nun neben der Performativität des Gebäudes auch die
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eigene Performativität in der Entwicklung von Wahrnehmungsalternativen erfahren werden, die wiederum zusätzliche Möglichkeiten des Umgangs eröffnen. Insofern der vorgestellte Prozess in einer peripheren Wahrnehmung im Kontext des täglichen Umgangs mit der gebauten Umwelt gründet, sie auch nicht in eine aufmerksam-fokussierte transformiert, sondern ihr in ihrer Komplexität nachzugehen vermag, bleiben kontextuelle Bezüge zur Funktion des Gebäudes, der eigenen Rolle im Rahmen dieser Funktion und zu implizitem und explizitem Architekturwissen erhalten. Die erlebte Besonderheit kann als gleichermaßen aktiv gemachte und passiv gesammelte Architekturerfahrung beide Formen des Architekturwissen erweitern. Sie kann aber auch eine eigene künstlerische Auseinandersetzung motivieren, bei der es darum gehen kann, das wahrgenommene Spannungsverhältnis in einer anschaulichen Weise zum Ausdruck zu bringen. Darüber hinaus kann ein Nachdenken über den Entwurf des Q-Gebäudes ausgelöst werden, das unterschiedliche architekturrelevante Diskurse einbezieht. Ansatzpunkt eines solchen Nachdenkens, dass ebenfalls Grundlage künstlerischer Prozesse werden kann, ist zum Beispiel die Funktion des Gebäudes, bei dem es sich um einen Neubau zur Unterbringung der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät handelt. Unabhängig davon, ob explizite diesbezügliche Überlegungen den Entwurf mitbestimmt haben oder nicht, kann vor dem Hintergrund der Bedeutung impliziten Wissens im architektonischen Entwerfen z.B. überlegt werden, inwiefern das Gebäude hierarchische Strukturen widerspiegelt. Interessant ist in diesem Kontext ein Vergleich mit dem benachbarten Bibliotheksgebäude (auf der Abbildung im Hintergrund zu erkennen), das als Wissensspeicher über einen monolithischen Baukörper mit gleichmäßiger (demokratischer) Fassadengestaltung verfügt.
3
Skulpturale Erweiterungstendenzen als Grundlage von Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen
Ausgehend von The Tired Room wurde bisher überlegt, inwiefern Architekturerfahrungen in der rezeptiven und produktiven Auseinandersetzung mit Kunst und den innerhalb ihrer möglich werdenden ästhetischen Erfahrungsprozessen eine Rolle spielen können. Als Bereiche von Architekturerfahrungen, hinsichtlich derer ästhetischen Erfahrungsprozessen ein besonderes Erkenntnispotenzial zuerkannt wurde, wurden diejenigen Erfahrungen mit der gebauten Umwelt fokussiert, die auf einem für den täglichen Umgang sowohl quantitativ als auch qualitativ relevanten beiläufigen Wahrnehmungsmodus oder auf teilbewussten Wahrnehmungen in handlungssteuernden Kontexten basieren. Grundlegende Erkenntnischancen ästhetischer Erfahrungen in skulpturalen Kontexten können vor dem Hintergrund der in diesem Zusammenhang angestellten Überlegungen darin gesehen werden, dass auf ihrer Basis Zugänge zu Verarbeitungsprozessen beiläufiger Wahrnehmungen gefunden werden können, die es ermöglichen, Wirkungen der gebauten Umwelt auf eigene Befindlichkeiten, Stimmungen und Handlungsweisen zu reflektieren. Indem somit die Hintergründe eines existenzmodulierenden Einflusses der gebauten Umwelt auf eine bewusstere Ebene gelangen, besteht die Chance einer aktiven Auseinandersetzung. Die in der Wahrnehmung immer schon inbegriffene eigene Performativität kann auf diese Weise erkannt und auch genutzt werden, um Möglichkeiten des Umgangs mit der gebauten Umwelt zu erweitern. Um zeigen zu können, dass skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur Anschlussmöglichkeiten bieten, um Architektur als soziales Projekt in den Blick nehmen und so zu einem umfassenden Verständnis architektonischer Zusammenhänge beitragen zu können, wurde des Weiteren dargestellt, dass das Erleben gebauter Umwelten implizite Handlungserwägungen umfasst, dass es in-
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terindividuelle Überschneidungen aufweist und sozial und kulturell vermittelt ist. Auf einer theoretischen Ebene wurde so überlegt, dass skulpturale Erkundungen des subjektiven Erlebens der gebauten Umwelt eine Basis architekturtheoretischer und kritischer Auseinandersetzungen bilden können. Doch inwiefern korrespondiert mit den vorgestellten Überlegungen eine skulpturale Praxis, in der architektonische oder architekturrelevante Fragestellungen erkundet werden? Inwiefern verfügen die anhand von The Tired Room erkannten spezifischen Erkundungs- und Erkenntnismöglichkeiten des Architektonischen über eine allgemeinere skulpturale Relevanz? Welche über die anhand von The Tired Room erkannten skulpturalen Erkundungschancen hinausgehenden Möglichkeiten bieten skulpturale Auseinandersetzungen im Feld des Architektonischen? Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund des diese Arbeit motivierenden Interesses an Synergieeffekten skulpturaler und architektonischer Bildungsprozesse. Um zeigen zu können, dass skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur zum einen ein diese betreffendes Erfahrungs- und Erkenntnispotenzial bergen, zum anderen aber auch zu einem Verständnis des Skulpturalen beitragen können, ist nachzuweisen, dass Erkundungen architektonischer Fragen genuinen skulpturalen Interessen entsprechen, die sich seit Beginn der Moderne entwickeln. Ein solches, mit sich erweiternden Erkundungsmöglichkeiten architektonischer Fragestellungen korrespondierendes Interesse kann anhand einer Vielzahl skulpturaler Arbeiten, die seit dem frühen 20. Jahrhundert entstehen, erkannt werden und kulminiert in den 1970er Jahren dahingehend, dass es zum Teil nicht mehr möglich ist, architektonische und skulpturale Objekte aufgrund ihrer phänomenalen Beschaffenheit voneinander zu unterscheiden. Besonders eindrücklich bringt Rosalind Krauss diese Entwicklung auf den Punkt, wenn sie die Elemente von Robert Morris’ Installation at the Green Gallery (1963) als »quasi-architektonische Einheiten«1 beschreibt, »deren Status als Skulptur sich fast vollständig auf die einfache Bestimmung reduziert, daß sie im Raum das sind, was nicht wirklich der Raum ist«2, oder die »Produktion skulpturaler Kunst in der Schwebe« »zwischen dem Gebauten und dem Nicht-Gebauten«3 verortet.
1
Rosalind E. Krauss: »Skulptur im erweiterten Feld«, in: Rosalind E. Krauss/Herta Wolf (Hg.), Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, [Amsterdam]: Verlag der Kunst 2000, S. 331-346, hier S. 337
2
Ebd.
3
Ebd., S. 338
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Abbildung 12: Robert Morris, Installation at the Green Gallery, New York, 1963
Auch aus Manfred Schneckenburgers Sicht entwickelt sich eine immanente Verbindung zwischen skulpturalen Erweiterungen in die Betrachtungssituation und einer Annäherung an Architektur, die er insbesondere anhand von Formen eines performativen Einbezugs der Betrachtenden erkennt: »Die Annäherung an Architekturformen […] erwächst aus der autochthonen Entwicklung der Plastik zum Handlungsraum, aus einem neuen plastischen Konzept, nicht aus einer äußerlichen Angleichung an die Architektur.«4 Plastische Arbeiten, die »im Dialog mit der eigenen Körperlichkeit«5 räumliche Situationen schaffen, stehen für ihn einerseits in der Tradition anthropomorpher Plastik, stellen aber darauf basierend Bezüge her, »die ins Spannungsfeld des Architektonischen führen«6. Sowohl die Beobachtungen Rosalind Krauss’ als auch die ebenfalls unter Bezugnahme auf skulpturale Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre angestellten Überlegungen Manfred Schneckenburgers weisen darauf hin, dass die Annäherungen von Skulptur und Architektur, die die Basis skulpturaler Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen bilden, auf den Erweiterungstendenzen der Skulptur basieren und zwar zum einen auf ihren erweiterten Bezügen zu den Betrachtenden, zum anderen auf ihren Erweiterungen in den Raum.
4
Manfred Schneckenburger: »Plastik als Handlungsform«, in: Kunstforum International 1979, S. 20-115, hier S. 28
5
Ebd.
6
Ebd.
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Als Hintergrund der Entwicklung eines skulpturalen Interesses am Architektonischen können die im vorangegangenen Kapitel dargestellten Synergieeffekte zwischen ästhetischen Erfahrungen und Architekturerfahrungen betrachtet werden. Hier wurde mit Martin Seel überlegt, dass skulpturale Erkundungen des Architektonischen nicht nur dessen Verständnis vertiefen können, sondern dass Architektur auch als Erfahrungsfeld für skulpturales Arbeiten von Bedeutung ist. Eine solche Wechselbeziehung bestätigt Lukas Feireiss im Hinblick auf zeitgenössische bildhauerische Positionen: »Architecture shows an impressive flexibility as a partner for arts. It is both a subject of investigation and a venue for experience.«7 Wie Feireiss hier darstellt und wie auch anhand der Position Monika Sosnowskas bereits erkannt wurde, ist die gebaute Umwelt nicht nur Erfahrungsfeld des Skulpturalen in dem Sinne, dass in der gebauten Umwelt gesammelte oder gemachte Erfahrungen in skulpturale Prozesse einfließen können. Vielmehr kann Architektur darüber hinaus auch expliziter Gegenstand skulpturaler Erkundungen sein. Um zum einen möglichen Hintergründen eines genuin skulpturalen Interesses am Architektonischen als Erfahrungsfeld und diskursivem Rahmen bildhauerischer Produktionsprozesse nachzugehen, gleichzeitig aber auch ein breites Spektrum der im Kontext dieses Interesses relevanten Fragestellungen und Erkundungsweisen zu erschließen, das für die weiteren pädagogischen und didaktischen Überlegungen in den Kapiteln 4 und 5 von Bedeutung ist, soll die Entwicklung skulpturaler Erweiterungstendenzen in ihrem Zusammenhang zu der sich parallel entwickelnden Architekturaffinität skulpturalen Arbeitens im Folgenden genauer dargestellt werden. Hierbei werden Schwerpunkte auf die im Kontext skulpturaler Annäherungen an Architektur als besonders relevant erkannten Erweiterungen der Betrachtungs- und Raumbezüge gelegt. Vor dem Hintergrund des anhand von The Tired Room erkannten architekturkritischen Potenzials skulpturaler Arbeiten richtet sich das Erkenntnisinteresse der Betrachtung beider in der zeitgenössischen Skulptur konvergierender Erweiterungsrichtungen, vor allem aber der erweiterten Raumbezüge skulpturalen Arbeitens auch auf die Frage, inwiefern kritische Bezugnahmen auf architektonische Entwicklungen erkannt oder anschlussfähig werden. In den Blick genommen werden die Entwicklungen sich erweiternder Betrachtungs- und Raumbezüge, mit einem besonderen Fokus auf Arbeiten der
7
Lukas Feireiss: »Space and Architecture in the Artistic Process. Panel Discussion with Ute Meta Bauer; Marjetica Potrc; Sasha Waltz«, in: Susanne Hauser/Julia Weber (Hg.), Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen, Bielefeld: transcript 2015, S. 381-397, hier S. 381
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früheren Moderne, der 1960er und 1970er Jahre und des 21. Jahrhunderts. Erstere Zeiträume sind als gleichermaßen skulpturale wie architektonische Umbruchphasen von besonderem Interesse, während die Entwicklungen der Gegenwart aufgrund ihrer Verbindungen zu aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen Relevanz besitzen.
3.1 SKULPTURALE ERKUNDUNGSMÖGLICHKEITEN VON ARCHITEKTUR IM SINNE SOZIALEN HANDELNS Erweiterungen des Bezugs zu den Betrachtenden sind für die Entwicklung eines skulpturalen Interesses an Architektur und entsprechender skulpturaler Erkundungsmöglichkeiten insofern relevant, als Architektur nicht selbstreferenziell oder Ausdruck entwerferischer Subjektivität, sondern auf Nutzende als Adressatinnen und Adressaten bezogen ist bzw. sein sollte. Eine solche Orientierung an der Nutzung richtet sich dabei, wie z.B. László Moholy-Nagy betont, nicht nur an pragmatischen Aspekten aus, sondern nimmt das Erleben der zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner in den Blick.8 Wie Bernhard Waldenfels überlegt, besteht ein Adressatenbezug architektonischen Entwerfens allerdings nicht darin, für andere zu planen und zu bauen, sondern darin, das in den entstehenden Räumen mögliche (im oben vorgestellten Sinne umfassend verstandene) Wohnen von den Nutzerinnen und Nutzern aus zu denken. »Der Bauende baut zuallererst nicht zugunsten Anderer, die ihn dazu beauftragen oder dafür bezahlen, sondern baut im Zuge eines Fremdbauens von Anderen her.«9 Das Planen und anschließende Bauen, bei dem Räume nicht hergestellt, sondern durch die Herstellung materieller Strukturen bedingt werden, ist aus dieser Sicht nicht darauf
8
Das »bedeutet, daß eine wohnung nicht nur durch preisfragen und bautempo, nicht allein durch mehr oder weniger äußerlich gesehene relationen von verwendungszweck, material, konstruktion und wirtschaftlichkeit bestimmt werden kann. es gehört dazu das raumerlebnis als grundlage für das psychologische wohlbefinden der einwohner.« Laszlo Moholy-Nagy/Hans M. Wingler/Otto Stelzer: Von Material zu Architektur (= Neue Bauhausbücher. neue Folge der von Walter Gropius und Laszlo Moholy-Nagy begründeten »Bauhausbücher«), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2001, S. 197-198
9
Bernhard Waldenfels: »Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes«, in: Susanne Hauser/Julia Weber (Hg.), Architektur in transdisziplinärer Perspektive. Von Philosophie bis Tanz. Aktuelle Zugänge und Positionen, Bielefeld: transcript 2015, S. 73-95, hier S. 91 (Hervorhebung im Original)
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ausgelegt, Nutzerinnen und Nutzern Umgangsmöglichkeiten vorzugeben. Vielmehr geht es darum, Möglichkeiten und Bedürfnisse des Wohnens von (meist nicht persönlich bekannten) Nutzerinnen und Nutzern ausgehend auf einer impliziten oder expliziten Ebene zu erkennen und durch die Herstellung materieller Strukturen Räume zu bilden, die den hieraus resultierenden Anforderungen gerecht werden. »Räumlichkeit entspringt einer Anforderung, die dem Bauenden von den künftigen Bewohnern entgegenschlägt, wenngleich in der Regel auf anonyme und typische Weise.«10 Eine solche Herangehensweise entspricht derjenigen sich in die Rezeption entgrenzender skulpturaler Prozesse, in denen Arbeiten entstehen, die sich erst dadurch in jeweils unterschiedlicher Weise vervollständigen, dass Betrachtende räumliche Erfahrungen machen. Bildhauerische Prozesse dieses Verständnisses richten sich nicht darauf, subjektive Erfahrungen in einem abgeschlossenen Werk zum Ausdruck zu bringen, sondern erfordern es, die Erfahrungsmöglichkeiten, die sich in ihrer Rezeption eröffnen, implizit oder explizit mitzudenken. Dadurch nähern sie sich in einem wesentlichen Punkt architektonischem Entwerfen und Bauen an. Darüber hinaus ist die Erweiterung des Bezuges zu den Betrachtenden und die mit ihr verbundene Rezeptionsoffenheit der entstehenden Arbeiten eine Voraussetzung dafür, dass Architekturerfahrungen in die Betrachtung künstlerischer Arbeiten einfließen und Teil ästhetischer Erfahrungsprozesse werden können. Nur wenn skulpturalen Arbeiten subjektiver Sinn zugewiesen werden kann, eröffnen sie ästhetische Erfahrungschancen im oben dargestellten Sinn, d.h. solche, die auf einem Oszillieren zwischen Ding und verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten basieren. Aus der Sicht Juliane Rebentischs ist diese Voraussetzung ästhetischer Erfahrung zwar grundlegendes Moment jeglicher Kunst, finde jedoch »im Zeichen der Entgrenzung der Künste«11 besondere Bedingungen vor, da hier eine solche »ästhetische Verdoppelung des Objekts«12»reflexiv thematisch«13, d.h. konzeptionell relevant werde. Diese besonderen Bedingungen entwickeln sich verstärkt seit den 1960er Jahren und beziehen wichtige Impulse aus Arbeiten der Minimal Art, deren Objekte sich einem unmittelbaren verstehenden
10 Ebd., S. 90 11 Titel des Sonderforschungsbereichs 626 der Freien Universität Berlin Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste in dessen Kontext Juliane Rebentischs Text Autonmie? Autonomie!, auf den hier Bezug genommen wird, entstanden ist. 12 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 5 13 Ebd.
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Zugriff gezielt entziehen und somit die Mitwirkung der Betrachtenden erforderlich werden lassen. Im Folgenden soll überlegt werden, wie sich der Einbezug der Betrachtenden in der modernen und zeitgenössischen Skulptur entwickelt. Dabei richtet sich das Interesse auf die Fragen, in welcher Weise Erfahrungsmöglichkeiten der Rezeption für skulpturale Prozesse Bedeutung erlangen (d.h. inwieweit vom Betrachtenden her gearbeitet wird) und auf welche Weise in der Betrachtung von Skulpturen Architekturerfahrungen relevant und damit Teil ästhetischer Erfahrungsprozesse werden können. (Kap. 3.1.1) Gefragt wird außerdem, inwiefern mit einer zunehmend auch konzeptionellen Betrachtungsabhängigkeit von Skulpturen eine Annäherung skulpturaler und architektonischer Erfahrungsformen und Fragestellungen einhergeht (Kap. 3.1.2). 3.1.1 Formen der Teilhabe an Skulpturen Wie Gottfried Boehm an Rodins Balzac zeigt, verfügt die moderne Plastik über die Möglichkeit, im Raum nicht einfach vorzukommen, sondern ihn als plastischen Raum zu etablieren. Die daraus resultierende, von Boehm als »Nichtaufhören«14 bezeichnete Entgrenzung bewirkt, dass sich die Betrachtenden im Raum der Plastik befinden. Wie Guido Reuter darstellt, kann bereits anhand einer Hinterfragung des Sockels, der mit Beginn der Moderne wegfallen oder als Bildhauersockel zum Teil der Skulptur werden kann, »das verstärkte Interesse der Künstler, die ästhetische wie ideelle Grenze, die zwischen der Welt des Kunstwerks und der des Betrachters besteht, aufzulösen«15, erkannt werden. Eine solche Entgrenzung in Richtung auf die Betrachtenden erfolgt aus Margit Rowells Sicht bis in die 1960er Jahre jedoch nur bedingt, da sich die moderne Skulptur nach wie vor in ihrem eigenen Raum von den Betrachtenden abgrenze, indem sie in einer »rein ästhetischen Sphäre«16 verbleibe. Ihr damit verbundener
14 Gottfried Boehm: »Plastik und plastischer Raum«, in: Gundolf Winter (Hg.), Das Raumbild. Bilder jenseits ihrer Flächen, Paderborn, München: Fink 2009, S. 21-46, hier S. 33 15 Guido Reuter: »Mit Sockel oder ohne. Der Sockel als künstlerische Handlung in der Bildhauerei des 20. Jahrhunderts«, in: Sabiene Autsch/Sara Hornäk (Hg.), Material und künstlerisches Handeln. Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst, Bielefeld: transcript 2017, S. 169-185, hier S. 169-170 16 Margit Rowell: »Minimal Art: Das neudefinierte Verhältnis zwischen Betrachter und Werk«, in: Margit Rowell (Hg.), Skulptur im 20. [zwanzigsten] Jahrhundert. Figur Raumkonstruktion Prozess; [anlässl. d. Ausstellung »Qu’ est-ce Que la Sculpture
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Status als autonomes Subjekt basiert, wie Guido Reuter anhand von Arbeiten Anthony Caros zeigt, auf einer aus den inneren Beziehungen ihrer Elemente zueinander resultierenden skulpturalen Qualität. Durch die tendenzielle Selbstreferentialität moderner Skulpturen bleibt eine Distanz zwischen Werk und Betrachtenden erhalten. Indem diese Arbeiten nicht mehr in einem abbildenden Bezug zur Wirklichkeit stehen und teilweise sogar vollständig darauf verzichten, auf außerhalb ihrer selbst liegende Inhalte zu verweisen, verfügen sie jedoch über eine gesteigerte Präsenz, die den Bezug zu den Betrachtenden bereits unmittelbarer werden lässt.17 Gleichzeitig nähern sie sich auf diese Weise insofern der Architektur, als diese ebenfalls nur sich selbst präsentiert. Teilhabemöglichkeiten im Kontext der Minimal Art Eine grundlegende Veränderung des Bezugs zu den Betrachtenden, mit der sich auch die Möglichkeiten der Bezugnahme auf Architekturerfahrungen im eingangs überlegten Sinn erweitern, entwickelt sich ab den 1960er Jahren. In diesem zeitlichen Kontext realisieren entstehende »Formen der Plastik das Fehlen des Sockels in seiner ganzen Bedeutung«18, sie agieren »in einem wirklichen Existenzraum«19. Dies steht in einem Zusammenhang mit künstlerischen Tendenzen der Nachkriegszeit, denen es darum geht, »die individuelle Handschrift und die handwerklichen Fähigkeiten der KünstlerInnen zu entauratisieren zu Gunsten einer werkkonstituierenden Rolle der BetrachterInnen.«20 Skulpturen aus dem Kontext der Minimal Art, an denen diese von der zeitgenössischen Kritik als Bruch mit der modernistischen Kunst empfundene Veränderung des Verhältnisses zwischen Skulptur und Betrachtenden besonders deutlich erkannt werden kann, befinden sich nun auf deren Augenhöhe und erfordern sowohl im Wortsinn als auch in einem übertragenen Sinn kein Aufblicken mehr. Um die hierzu erforderliche Überwindung einer ästhetischen Distanz zwischen Werk und Betrachtenden zu erreichen, bringt die Minimal Art »literalistische«21 oder
Moderne?« im Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris (3. Juli - 13. Oktober 1986)], München: Prestel 1986b, S. 126-127, hier S. 126 17 Vgl. G. Reuter: Mit Sockel oder ohne, S. 181 18 M. Rowell: Minimal Art, S. 126 19 Ebd. 20 Sabeth Buchmann: »Conceptual Art«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 49-52 21 Michael Fried: »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 334-374, hier S. 346
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auch buchstäbliche Objekte hervor, die jegliche transzendente Bedeutung vermeiden möchten. Ihr dadurch begründeter Positivismus bewirkt, dass die Wahrnehmung selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird: »Anstatt die Oberfläche eines Werks topografisch auf die Eigenschaften des Mediums zu untersuchen, wird der Betrachter dazu gebracht, sich mit den Folgen eines bestimmten Eingriffs an einem gegebenen Ort auf die Wahrnehmung auseinanderzusetzen.«22 Arbeiten einer frühen und ›orthodoxeren‹ Form der Minimal Art, zu denen u.a. die ›spezifischen Objekte‹23 Donald Judds gerechnet werden können, streben eine Übereinstimmung von wahrgenommener und kognitiv erfassbarer Form an, wie dies in Frank Stellas Postulat »What you see is what you see.«24 zum Ausdruck kommt. Ihre Erfahrung bleibt allerdings auf einer eher abstrakten Ebene25, auf der eine Inbezugsetzung zu lebensweltlichen Erfahrungsbereichen wie der gebauten Umwelt erschwert wird.26 Eine diesbezügliche Veränderung kann anhand von Arbeiten Robert Morris’ erkannt werden. Insofern in ihrer Betrachtung erfahrene Formen das Wissen, das wir über sie haben, nicht affirmieren, sondern zu ihm in ein Spannungsverhältnis treten, wird hier die Erfahrung der Betrachtenden zum primären skulpturalen Thema. Anhand von Morris’ 1965 entstandener Arbeit Untitled (L-Beams) kann die in dem von ihm stammenden Zitat »Einfachheit der Form ist nicht unbedingt das gleiche wie Einfachheit der Erfahrung«27 zum Ausdruck kommende Veränderung der Rezeptionsleistung, die einen verstärkten Einbezug der Betrachtenden in die Werkentstehung bewirkt, genauer in den Blick genommen werden.
22 Hal Foster: »Die Crux des Minimalismus«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 589-633, hier S. 592 23 Donald Judd: »Spezifische Objekte«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 59-73 24 Dieser Ausspruch Frank Stellas fasst die antiillusionistischen Tendenzen der Minimal Art insbesondere seines Freundes Donald Judd treffend zusammen. Zitiert nach Daniel Marzona/Uta Grosenick (Hg.): Minimal art, Köln, Los Angeles: Taschen 2006, S. 10 25 Vgl. Dorothea von Hantelmann: »Formen des In-der-Welt-Seins. Bruce Nauman und die Gegenwartskunst«, in: NRW-Forum Kultur und Wirtschaft (Hg.), Bruce Nauman. Mental Exercises, Düsseldorf 2006, S. 44-55, hier S. 46 26 Vgl. M. Schneckenburger: Plastik als Handlungsform, S. 24-25 27 Robert Morris: »Anmerkungen über Skulptur«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 92-120, hier S. 100
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Abbildung 13 Robert Morris, Untitled (L- Beams) Installationsansicht in der Green Gallery, New York 1965 Die Arbeit besteht aus drei identischen, L-förmig aus Sperrholz gefertigten Hohlkörpern mit einer Schenkellänge von 2,45 m, die im Ausstellungsraum in unterschiedlicher Weise präsentiert werden: Ein L liegt auf dem Boden, bei einem zweiten ist ein Schenkel horizontal auf dem Boden positioniert, sodass der andere vertikal nach oben zeigt, das dritte wiederum steht, mit beiden Schenkeln ein dachförmiges Dreieck bildend, auf seinen beiden Enden. Die Komplexität einer zunächst einfach erscheinenden Erfahrung besteht im Fall von Untitled (L-Beams) darin, dass deren drei Elemente auf der Basis des als Konstante fungierenden eigenen Körpers als identisch erkannt werden, gleichzeitig allerdings die Erfahrung gemacht wird, dass sie in ihrer spezifischen Anordnung im Ausstellungsraum nicht als identisch wahrgenommen werden können.28 »Die erfahrene Form […] hängt offensichtlich von der Orientierung der L’s im Raum ab, den sie sich mit unseren Körpern teilen – so ändert sich beispielsweise die Größe der L’s mit ihrer jeweiligen spezifischen Beziehung zum Hintergrund, sowohl was die Gesamtgröße als auch was den Vergleich zwischen den beiden Armen eines L’s betrifft.«29
Insofern es Morris nicht um die Form selbst geht, sondern darum, den Betrachtenden diese komplexen Erfahrungen zu ermöglichen, wird die Arbeit erst in der Rezeption ihrer Intention vollständig gerecht. Anders als modernistische Skulpturen, die den Betrachtenden ungeachtet ihrer Tendenz zu einer Auflösung des Volumens als in sich geschlossenes Subjekt gegenübertreten, ermöglicht Un-
28 Vgl. Rosalind Krauss: »Sinn und Sinnlichkeit. Reflexionen über die nachsechziger Skulptur«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 471-497, hier S. 489 29 Ebd.
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titled (L-Beams) daher bereits eine veränderte Form der Teilhabe Betrachtender an der Werkkonstituierung. Dadurch, dass die Erfahrung der Arbeit Bewegung sowie eine Inbezugsetzung zum eigenen Körper erfordert, weist sie Parallelen zu Architekturerfahrungen auf, die in der Produktion antizipiert werden. Indem durch die hier eingeforderten Partizipationsweisen Bezüge zu Umgangsweisen mit der gebauten Umwelt hergestellt werden, bestehen besondere Möglichkeiten, in der ästhetischen Erfahrung der Arbeit gewonnene Erkenntnisse auf Architektur zu übertragen. Die durch Arbeiten wie Untitled (L-Beams) ermöglichte Partizipation bleibt allerdings insofern elementar, als die Skulpturen selbst statisch bleiben. Eine diesbezügliche Weiterentwicklung sieht Manfred Schneckenburger in einer in den 1970er Jahren entstehenden »neuen Plastik«30, insofern diese als »Handlungsform«31 durch die Partizipation der Betrachtenden modifiziert wird und sich damit der Architektur annähere.32 »Plastik als Handlungsform«33: Robert Morris Bodyspacemotionthings (1971) Eine solche Form der Interaktion lassen die skulpturalen Arbeiten, die Robert Morris für die Ausstellung Bodyspacemotionthings (1971) in der Londoner Tate Gallery konzipiert, zu. Aus rohem Sperrholz erstellte Elemente wie Rampen, Tunnel, Wippen, Balken und Walzen ermöglichen den Besuchenden eine aktive Erkundung, die in einigen Fällen zu einer Bewegung der skulpturalen Formen führt. In einem anlässlich der Aufführung geführten Interview stellt Morris sein skulpturales Interesse folgendermaßen dar: »I want to provide a situation where people can become more aware of themselves and their own experience rather than more aware of some version of my experience.«34 Anhand dieser Zielsetzung wird deutlich, dass es Morris in der Konzeption der Arbeiten weniger um einen Ausdruck seiner künstlerischen Subjektivität als vielmehr darum geht, sich durch die skulpturalen Elemente bietende intersubjektiv relevante, gleichzeitig aber auch offene Erfahrungsmöglichkeiten zu antizipieren, die handelnd erschlossen werden können. Wie Morris bereits 1966 in Notes on sculpture dar‘
30 M. Schneckenburger: Plastik als Handlungsform, S. 21, unter Bezugnahme auf eine Bezeichnung Clement Greenbergs 31 Ebd. 32 Vgl. ebd., S. 28 33 Ebd. 34 dandelion burdock/www d.-b. com: Robert Morris: Bodyspacemotionthings, http://thisistomorrow.info/articles/robert-morris-bodyspacemotionthings (11.01.2017)
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stellt, wird das skulpturale Objekt durch einen solchen Einbezug der Betrachtenden nicht weniger wichtig, bezieht seine Wichtigkeit nun allerdings weniger als zuvor auf sich selbst.35 Es fungiert jetzt als Katalysator in einer Erfahrungssituation, die es gemeinsam mit dem Raum und den Betrachtenden konstituiert. Abbildung 14: Robert Morris, Element der Installation Bodyspacemotionthings, Tate Gallery 1971. Das Foto dient in der Ausstellung einer Veranschaulichung der Nutzungsmöglichkeiten
Dadurch, dass die verschiedenen Elemente der Ausstellung Bodyspacemotionthings erst durch die Handlung der Betrachtenden ihrer Intention gerecht werden können, wird eine strikte Trennung von Rezeption und Produktion aufgehoben, der Werkcharakter der Arbeiten tritt in den Hintergrund. Indem sich ein handelnder Zugang nicht mehr auf die Bewegung im Raum der Skulptur beschränkt, sondern in eine Nutzung übergeht, werden Parallelen zwischen ästhetischen Erfahrungen der Skulptur und Architekturerfahrungen weiter ausgebaut, oder, folgt man der Sichtweise Manfred Schneckenburgers allererst etabliert.36 Für die Produktion bedeutet diese Entwicklung, dass hier versucht wird, Betrachtenden Möglichkeiten eines handelnden und sich damit architektonischen Formen annähernden Umgangs einzuräumen. 35 Vgl. R. Morris: Anmerkungen über Skulptur, S. 108 In dieser deutschen Übersetzung wird das englische »It has merely become less self-important« des englischen Originals mit »Es hat nur etwas von seiner Wichtigtuerei verloren« übersetzt, wodurch m.E. die Überwindung der Selbstbezüglichkeit, die im englischen Original deutlich wird, nur bedingt zum Ausdruck kommt. 36 Vgl. M. Schneckenburger, S. 28
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Bezüge von Skulptur und Betrachtenden in der zeitgenössischen Skulptur In der weiteren Entwicklung der Skulptur stellt die Tendenz einer Verschränkung von Rezeption und Produktion ein wesentliches Moment dar. Ausgehend von den grundlegenden Entwicklungen der 1960er und 1970er Jahre, die anhand der beiden Arbeiten Robert Morris’ dargestellt wurden, entstehen einerseits weiterhin Skulpturen, die die Betrachtenden insofern in den Werkentstehungsprozess einbeziehen, als sie als Erfahrungsangebote konzipiert werden. Vor einem institutionskritischen Hintergrund der 1980er und 1990er Jahre37, verstärkt aber auch in der Kunst des gegenwärtigen Zeitalters eines interaktiven Web 2.038 erlangen dabei partizipative Strategien an Bedeutung. Auf ihrer Basis entstehen Arbeiten, die auch soziale Interaktionen ermöglichen. Besonderheiten solcher, partizipativer Strategien in der zeitgenössischen Skulptur können anhand einer Betrachtung von Rirkrit Tirvanijas Untitled (Tomorrow is another day) genauer in den Blick genommen werden. Für diese Arbeit installiert Tirvanija 1996 ein 1:1-Modell seines New Yorker Apartments, dessen konstruktive Elemente aus einem mit Sperrholzplatten verkleideten Holzständerwerk bestehen, in den Räumen des Kölnischen Kunstvereins.
Abbildung 15: Rirkrit Tirvanija, Untitled (Tomorrow is another day), Kölnischer Kunstverein, 1996 Durch das Vorhandensein von Mobiliar, Wasser- und Elektroinstallationen ermöglichen die so entstehenden Räume Nutzungsweisen, die Betrachtende von Wohnungen kennen: Es kann gekocht, gegessen und geschlafen werden, sanitäre Anlagen sind nutzbar. Durch diese Rahmenbedingungen wird
37 Vgl. Astrid Wege: »Partizipation«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 236-240, hier S. 236 38 Vgl. Max Glauner: »Get involved! Partizipation als künstlerische Strategie«, in: Kunstforum International (Bd. 240, 2016), S. 30-55, hier S. 31
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»eine Situation inszeniert, in der die Rezipierenden Handlungen vollführen, und die damit den Rahmen vorgibt für die Teilnahme an einem gemeinsamen Essen, das ursprünglich nicht in institutionelle Ausstellungskontexte gehört. Die gebauten Holzkisten, die in ›Un titled (Tomorrow is another day)‹ (1996) einen begehbaren Raum im Raum bilden, setzen in den öffentlichen einen privaten Raum und erzeugen eine Laborsituation für soziale Prozesse.«39
In dieser Laborsituation werden soziale Interaktionen Teil eines institutionalisierten Kunstkontextes, wodurch gewohnte Handlungen außergewöhnlich werden. Auf diese Weise wird eine Grenzsituation etabliert, innerhalb derer zwischen einer unmittelbaren Verwobenheit in die stattfindenden Prozesse und einer distanzierteren Betrachtung sowie den mit dieser verbundenen Reflexionsmöglichkeiten gewechselt werden kann. Ein solches Oszillieren zwischen Gewohntem und Ungewohntem steht mit Spannungsverhältnissen zwischen Privatem und Öffentlichem, Kunst und Alltag in Verbindung. Hieran anschlussfähige, in architektonischen Kontexten relevante Überlegungen können sich auch in kritischer Weise auf Teilhabemöglichkeiten in architektonischen Entscheidungsprozessen beziehen. Hintergrund dieser Möglichkeit ist, dass sich in der Auseinandersetzung mit partizipativen künstlerischen Arbeiten auch immer die Frage nach den sich innerhalb ihrer zeigenden hierarchischen Strukturen stellt.40 Diese Frage steht z.B. im Raum, wenn »lots of people«41 wie bei Rirkrit Tiravanijas vorgestellter Arbeit oder Michael Sailstorfers Pulheim gräbt (2009) in der Materialliste auftauchen. Übertragen auf einen architektonischen Kontext kann auf der Basis einer Sensibilisierung für diese Problemstellung überlegt werden, inwiefern Angebote, an architektonischen und städtebaulichen Entscheidungen teilzuhaben, einen demokratischen Zugang suggerieren, den sie dann nur sehr bedingt einzulösen vermögen. Skulptur als Erfahrungsangebot Folgt man Manfred Schneckenburger, vollzieht die ›neue Plastik‹, deren Entstehung er in den 1970er Jahren beobachtet, erst in der Ermöglichung einer die skulpturale Form modifizierenden Teilhabe der Betrachtenden eine grundlegen-
39 Sara Hornäk: »Skulptur als Raumkunst Handlungsformen und Erfahrungsräume«, in: Marc Fritzsche/Ansgar Schnurr (Hg.), Fokussierte Komplexität. Ebenen von Kunst und Bildung, Oberhausen: ATHENA-Verlag 2017b, S. 111-124, hier S. 111 40 auf dieses Spannungsfeld verweist u.a. M. Glauner in Get Involved 41 »Rirkrit Tiranvija«, in: Amada Cruz/Robert Nickas (Hg.), Performance anxiety. Artists’ pages, Chicago, IL: Museum of Contemporary Art 1997
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de Veränderung der Betrachtungsrolle, mit der ein skulpturales Interesse an architektonischen Fragestellungen einhergehe. Obwohl partizipative Strategien sich in der Kunst bereits seit den 1960er Jahren entwickeln, bleibe bis in die 1970er Jahre »im engeren Bereich der Plastik die Rolle des Betrachters letztlich passiv festgeschrieben«42. Erst eine Mitgestaltung des realen Objekts führe dazu, dass »ihr plastischer Sinn […] weniger in ihrer Struktur als in unserem Umgang mit dieser«43 liege. Eine elementare Form dieses von Schneckenburger beschriebenen Einbezugs der Betrachtenden in die Werkentstehung kann indessen auch an Arbeiten erkannt werden, die wie Untitled (L-Beams) selbst statisch bleiben. Ein solcher Einbezug ist immer dann erkennbar, wenn Skulpturen erst im Wechselspiel mit der Rezeptionserfahrung die intendierte Wirkung entfalten können und somit auf eine Interaktion mit den Betrachtenden angewiesen sind. Aber auch moderne, konzeptionell nicht oder weniger betrachtungsabhängige Skulpturen weisen durch ihre Allansichtigkeit und ihre Präsenz im Raum der Betrachtenden Eigenschaften auf, die zu einer Prozessualisierung der Betrachtung führen können und so die aktive Teilhabe der Betrachtenden zwar nicht einfordern, aber doch zumindest ermöglichen oder sogar begünstigen. Insofern diese Teilhabe darin besteht oder damit einhergeht, dass skulpturalen Arbeiten subjektiver Sinn zugewiesen werden kann, erfüllen sie eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass eine Verbindung zu lebensweltlichen Erfahrungen und damit auch zu Architekturerfahrungen hergestellt werden kann. Auch wenn die sich erweiternden Partizipationsmöglichkeiten keine notwendige Voraussetzung dafür darstellen, dass Architekturerfahrungen anhand von skulpturalen Erfahrungen reflexiv werden können, sind sie in insofern relevant, als Skulpturerfahrung zunehmend zur Umgangserfahrung wird und sich somit in einem zentralen Aspekt Architekturerfahrungen annähert. Je deutlicher Parallelen zwischen Erfahrungsweisen von Skulptur und Architektur auf diese Weise hervortreten, desto unmittelbarer können Architekturerfahrungen in die durch die Betrachtung der Skulpturen ausgelöste ästhetische Reflexion einbezogen werden. Darüber hinaus ist die besonders deutlich zutage tretende Verschränkung von Rezeption und Produktion betrachtungsabhängiger Skulpturen insofern von Interesse, als durch sie ein dichotomes Verständnis von Aktivität oder Passivität in der Betrachtung zugunsten des Erkennens einer wechselseitigen Performativität von Skulptur und Betrachtenden überwunden werden kann. Werden diesbezügliche Erkenntnisse in den Umgang mit der gebauten Umwelt einbezogen, kann
42 M. Schneckenburger: Plastik als Handlungsform, S. 20 43 Ebd.
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auch hier eine Sensibilisierung für gegenseitige Einflussnahmen sowie für Gestaltungsmöglichkeiten erfolgen. Eine für skulpturale Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen besonders zentrale Form der Annäherung von Skulptur an Architektur bewirkt die zunehmend konzeptionelle Betrachtungsabhängigkeit von Skulpturen in Bezug auf die Produktion. Wenn es Künstlerinnen und Künstlern nicht mehr vor allem darum geht, Eigenes zum Ausdruck zu bringen, sondern vielmehr wichtig wird, ausgehend von eigenen Erfahrungen Betrachtenden Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen, erhalten Adressatenbezüge in der Produktion eine andere Relevanz: Wahrnehmungs- und Umgangsmöglichkeiten werden umfassender und z.T. auch expliziter antizipiert und so zu wichtigen Fragestellungen des skulpturalen Prozesses. Um Erfahrungsangebote machen zu können, bildet die Erkundung und Vertiefung eigener räumlicher Erfahrungen einen wichtigen Ausgangspunkt. Insofern diese vor allem auch im Umgang mit der gebauten Umwelt gesammelt werden können, ist vorstellbar, dass im Kontext eines skulpturalen Prozesses ästhetische Wahrnehmungen bzw. ästhetische Wahrnehmungsmomente im Kontext beiläufigen Wahrnehmens von architektonischen Räumen und Baukörpern eine wichtige Rolle spielen. Von Bedeutung für die Schaffung von skulpturalen Erfahrungsangeboten ist aber auch ein Einbezug von Erfahrungen hinsichtlich der Intersubjektivität von Beziehungen zwischen Mensch und Raum bzw. von implizitem oder explizitem Wissen um interindividuell relevante Wahrnehmungsweisen räumlicher und körperlicher Formen. Beides bildet eine Voraussetzung, damit Wahrnehmungen und Erfahrungsmöglichkeiten Betrachtender in der skulpturalen Produktion antizipiert werden können. Auf diese Weise nähert sich die bildhauerische Produktion in einem weiteren wichtigen Punkt architektonischem Entwerfen, innerhalb dessen eine Orientierung an den Bedürfnissen möglicher Bewohnerinnen und Bewohner, die aufgrund der Produktionsbedingungen von Architektur in der Regel nicht in ihrer Individualität in den Blick genommen werden können, erfordert, dass subjektive gestalterische Entscheidungen im Hinblick auf ihre intersubjektive Fundierung reflektiert werden. Eine Reflexion intersubjektiver Wahrnehmungs- und Erfahrungsgrundlagen kann sowohl im bildhauerischen Arbeiten als auch im architektonischen Entwerfen auf der Basis impliziten, d.h. erfahrungsbasierten Wissens erfolgen. Mögliche Quellen dieses intersubjektiv relevanten impliziten Wissens wurden bereits im Kontext der Überlegungen zu Besonderheiten von Architekturerfahrungen in den Blick genommen. Hier wurden sie insbesondere mit der Leiblichkeit der Wahrnehmung in Verbindung gebracht. Darüber hinaus spielen aber auch die Historizität, kulturelle und soziale Bedingtheit von Wahrnehmungsweisen und Wahrnehmungsbedürfnissen eine wichtige Rolle, die im Kontext skulpturaler
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Produktion, die sich auf die Schaffung von Erfahrungsangeboten richtet, auf anschaulichen und begrifflichen Ebenen reflektiert werden kann. Ein Unterschied zwischen architektonischem Entwerfen und bildhauerischem Arbeiten, den Adolf Loos benennt, bleibt in diesem Kontext allerdings tendenziell bestehen: »Das kunstwerk will die menschen aus ihrer bequemlichkeit reißen. Das haus hat der bequemlichkeit zu dienen«44. Während in der Architektur außerhalb besonderer Bauaufgaben oft angestrebt wird, Wahrnehmungsbedürfnisse zu affirmieren, werden in der skulpturale Produktion unterschiedliche Strategien angewendet, um Spannungsfelder zu eröffnen, innerhalb derer diese Wahrnehmungsbedürfnisse reflexiv werden: »Habiter signifie communément le fait de vivre habituellement dans un lieu, mais lorsque les artistes contemporains s’ y intéressent, c’est précisement pour contrarier les habitudes et faire réagir les spectateurs.«45 3.1.2 Parallelen skulpturaler und architektonischer Erfahrungsformen Wie im vorangegangenen Kapitel überlegt wurde, entwickeln sich im Zuge einer zunehmenden Verschränkung von skulpturaler Produktion und Rezeption Parallelen skulpturaler und architektonischer Prozesse, die darauf basieren, dass die Erfahrungsmöglichkeiten Betrachtender zum einen in der skulpturalen Produktion antizipiert werden, ihre Verwirklichung zum anderen konstituierender Bestandteil der Arbeiten wird. Erkennbar wurden hier bereits erste Hinweise auf im Zusammenhang mit dieser Entwicklung relevant werdende Überschneidungen skulpturalen und architektonischen Erlebens. Diese Überschneidungen verstärken sich ab den 1960er Jahren, indem die Rezeption um Handlungs-, Nutzungs-, und soziale Interaktionsmöglichkeiten erweitert wird, können aber bereits seit Beginn der Moderne beobachtet werden. Im Folgenden sollen Parallelen architektonischer und skulpturaler Erfahrungsformen, die die Voraussetzung dafür bilden, dass Skulpturen architektonisches Erleben erkunden können, in ihrer Entwicklung dargestellt werden. Skulpturale Bezüge zum menschlichen Körper Wie in der vorangegangenen Betrachtung sich seit Beginn der Moderne erweiternder Bezüge zwischen Skulpturen und Betrachtenden überlegt wurde, sorgen
44 A. Loos: Architektur, S. 504-505 45 Les abbatoirs Musée FRAC Occitanie Toulouse: L’habitat vu par l’art contemporain, http://www.lesabattoirs.org/blog/des-histoires-doeuvres/lhabitat-vu-par-lartcontemporain (Hervorhebung im Original) (14.12.2017)
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nicht erst die seit den 1960er Jahren zunehmende Handlungsorientierung der Rezeption oder die partizipativen Strategien zeitgenössischen skulpturalen Arbeitens für eine Annäherung skulpturaler und architektonischer Erfahrungsformen. Im Folgenden sollen Parallelen des Erlebens von gebauter Umwelt und Skulptur in den Blick genommen werden, die zeigen, dass Skulpturen bereits dadurch, dass sie nicht mehr in einem abbildenden Verhältnis zur wahrgenommenen Wirklichkeit stehen, Möglichkeiten der Bezugnahme auf den Körper der Betrachtenden entwickeln, die auch im Kontext von Architekturerfahrungen relevant sind. Den sich hierdurch eröffnenden Chancen, in der gebauten Umwelt gesammelte Erfahrungen in ästhetische Erfahrungen skulpturaler Kontexte einfließen zu lassen, soll dabei nachgegangen werden. Alternativen zu einem vorwiegend figurativen und somit abbildenden Verhältnis der Skulptur zum menschlichen Körper, das für die traditionelle Bildhauerei kennzeichnend ist, entwickeln sich seit Beginn der Moderne. Aus Carola Giedion-Welckers Sicht erfolgt in der modernen Skulptur eine »völlige Auslöschung des bisher aufs Menschliche spezialisierten Themas zu Gunsten des allgemeinen plastischen Gebildes. In ihm ist sublimiert, aber nicht imitiert, natürlich auch unser spezifisch Menschliches enthalten[…].«46
Michael Fried zeigt anhand von Skulpturen Anthony Caros, dass modernistische Skulpturen ein unmittelbares Abbildungsverhältnis zum menschlichen Körper überwinden, »indem sie nicht direkt Gesten, sondern die Leistung von Gesten imitieren, sie sind […] besessen von einer Kenntnis des menschlichen Körpers und seinen unzähligen Arten und Weisen, etwas zu bedeuten«47. Eine Abkehr von der Figuration ist demnach nicht gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die Herstellung von Bezügen zwischen skulpturaler Form und menschlichem Körper, der von Fried insofern als erlebter Körper bzw. Leib begriffen zu werden scheint, als er unmittelbar ›etwas bedeutet‹. Vielmehr bilden sich mit Beginn der Moderne neue Möglichkeiten einer solchen Bezugnahme aus, die eine Verbindung zwischen traditioneller, moderner und zeitgenössischer Skulptur herstellen. Wie anhand von zwei Arbeiten Barbara Hepworths gezeigt werden kann, tendieren bereits ihre in den 1930er Jahren entstehenden Skulpturen dazu, sich in zunehmend abstrakter Weise auf den menschlichen Körper zu beziehen. Die Arbeit Mother and Child von 1934, deren Titel auf eine noch in der Figuration
46 Carola Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts. Volumen- und Raumgestaltung, Stuttgart: Hatje 1955, XII 47 M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, S. 357
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gründende Verbindung zum Körper verweist, ist eine Kombination zweier Formen aus Alabaster. Abbildung 16: Barbara Hepworth, Mother and Child, 1934
Die größere, länglich-liegende Form zeigt vier unterschiedlich stark gerundete, konvexe Wölbungen, die Ausdehnungen der Form in der Horizontalen und Vertikalen bewirken. Zwischen zweien der horizontal in den Raum weisenden Wölbungen ist die zweite Form positioniert. Bei ihr handelt es sich ebenfalls um eine längliche, abgerundete Form, deren eine, sich verjüngende Seite nach oben gebogen ist. Die Oberfläche des Alabasters ist gleichmäßig glattpoliert, lediglich an der oberen Ausbuchtung der großen Form ist eine kreisförmige Vertiefung zu erkennen. Obwohl die Skulptur von menschlichen Körpern stark abstrahiert, bleibt es möglich, ihre Aus- und Einbuchtungen menschlichen Gliedmaßen zuzuordnen. Affirmiert wird eine solche Zuschreibung allerdings nur in den nach oben weisenden Bereichen der Formen, die, unterstützt durch das kreisförmige ›Auge‹ der großen Form, an Köpfe erinnern. Als Mutter und Kind können die beiden Formen jedoch weniger aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum menschlichen Körper in seiner Anatomie wahrgenommen werden, sondern vor allem vor dem Hintergrund eines sich in der Betrachtung entwickelnden Nachempfindens des ruhigen Lagerns der großen Form und ihrer schützenden Umschließung der kleineren, die sich an sie anzuschmiegen scheint. Dadurch, dass eine diesen Eindruck begründende Einfühlung nicht eindeutig an bestimmbaren Eigenschaften der Form festgemacht werden kann, sondern auf ihr basierende Zuweisungen an die Skulptur aufgrund deren abstrakter Form immer auch wieder fragwürdig werden, wird das Moment des Einfühlens selbst reflexiv. Verstärkt wird dieser Effekt, wenn formale Bezüge zum menschlichen Körper in seiner anatomischen Form noch weiter zurücktreten. Dies ist in Barbara Hepworths Arbeit Two
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Forms (1935) der Fall, die ebenfalls eine Beziehung zweier skulpturaler Elemente zum Ausdruck bringt. Abbildung 17: Barbara Hepworth, Two Forms, 1935
Die Arbeit besteht aus zwei annähernd ovalen Formen, die so angeordnet sind, dass ihre leicht schräg nach oben weisenden Bereiche einander zugewandt sind. Eine Einfühlung in diese beiden Formen, in der ihre anthropomorphe Wirkung gründet, bewirkt, dass ihr Bestreben, sich einander zu nähern, wahrgenommen und eine ihm zugrundeliegende nahe emotionale Beziehung nachempfunden werden kann. Eine Erklärung für die Möglichkeit, sich in die gegenseitige Annäherung der Formen einzufühlen, kann in dem Phänomen der Mitbewegung48 gesucht werden. In der Betrachtung von Constantin Brancusis L’Oiseau d‘or (1919) ist dieses Phänomen, das bereits in der Einfühlungsästhetik erkannt wurde und aus neurobiologischer Sicht mit der Existenz kanonischer Neurone erklärt werden kann, an einem hier hervorgerufenen Eindruck des Emporstrebens oder Auffliegens beteiligt.
48 Vgl. R. Vischer: Über das optische Formgefühl, S. 49
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Abbildung 18: Constantin Brancusi, L’Oiseau d’or, 1919
Anders als in Mother and child wird unter vollständigem Verzicht auf antropomorphe Bezüge ein nur auf Einfühlungen und Mitbewegungen basierender Bezug zum Körper der Betrachtenden hergestellt, der für das Erleben architektonischer Formen besonders relevant erscheint. Die Skulptur besteht aus einem zylindrischen Sockel aus Marmor, dessen Gestaltung ihn als Bestandteil der Arbeit ausweist, sowie einer langgestreckten Form aus polierter Bronze mit kreisförmigem Querschnitt, die im unteren Bereich zunächst einen Kegel bildet, von dessen Spitze aus sie sich in einem leicht gebogenen Verlauf erweitert und wieder verjüngt, um schließlich in einer in den Raum weisenden Spitze zu enden. Gerade dadurch, dass auch Bezugnahmen auf die anatomische Gestalt eines Vogels auf ein Minimum reduziert sind, kann das Moment des Auffliegens als solches in den Vordergrund treten und bewirken, dass in der Betrachtung ein unmittelbar bevorstehendes Abheben imaginiert wird. Wie Friedrich Teja Bach anhand einer Gegenüberstellung von Brancusis L’oiseau, Henri Laurens Le petit Boxeur (1920) Umberto Boccionis Sviluppo di una bottiglia nelle spazio (1913) und Architekturen wie Norman Fosters Swiss Re (London 2004) oder auch dem Shanghai World Financial Centre (Kohn Pedersen Fox Associates1997-2008) zeigt, kann der von Skulpturen hervorgerufene dynamische Eindruck auch durch skulptural wirkende architektonische Formen hervorgerufen werden.49
49 Friedrich Teja Bach: »Der Sieg über den Massstab. ›Architektur ist Skulptur‹ (Brancusi)«, in: Markus Brüderlin/Friedrich T. Bach (Hg.), ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute [anlässlich der Ausstellung »ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhun-
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Abb. 19: Gegenüberstellung von Skulpturen und Architekturen in Friedrich Teja Bachs Der Sieg über den Massstab. »Architektur ist Skulptur« (Brancusi)
Die Frage, ob Schwere und Stabilität durch einen architektonischen Entwurf betont oder tendenziell überwunden werden soll, spielt jedoch auch im Kontext weniger baukünstlerisch orientierter Entwürfe explizit oder auch implizit eine wichtige Rolle.50 Bezieht man die vorangegangen Überlegungen ein, kann der Eindruck der Leichtigkeit in Skulptur und Architektur durch Einfühlung in eine anhand ihrer Formen wahrgenommenen Bewegung erklärt werden. Sie bewirkt, dass eine Überwindung der Schwerkraft möglich zu werden scheint. Wird dieses Phänomen im Kontext ästhetischer Erfahrungen reflexiv, kann auf der Basis einer Bewusstwerdung der am eigenen Körper erfahrenen Gravitationskraft deren Wirkung auf körperliche Formen der Umwelt nachvollzogen werden. Indem sowohl in Two Forms als auch in L’Oiseau d‘or eine Einfühlung in Formen hervorgerufen wird, die kaum noch figurative Anklänge aufweisen, wird die Herstellung eines Zusammenhangs zu architektonischen Formen begünstigt. Auch in der Betrachtung minimalistischer Arbeiten bildet eine Inbezug setzung zum eigenen Körper eine wichtige Grundlage der durch sie ermöglichten Erfahrungen. Dabei nähert sich das Erleben dieser Arbeiten dadurch, dass sie vor allem geometrische Formen aufweisen, noch deutlicher dem Erleben von Objekten der gebauten Umwelt an. Peter Schjeldahl berichtet von seiner ersten Begegnung mit einer Arbeit Carl Andres, in der dieser 1966 Ziegelsteine auf dem Boden einer Galerie anordnet: »Die Ziegelsteine waren. Sie lagen vor meinen Füßen, ich ging durch die Galerie, sammelte Blicke, und dabei wurde ich mir auf unangenehme Weise meiner selbst bewußt, dert bis Heute« in der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, vom 3. Oktober 2004 bis 30. Januar 2005], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 85-95, hier S. 86-87 50 Vgl. R. Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 149-153
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körperlich und psychisch; ich hatte das Gefühl, daß ich hier aufgewertet wurde, daß ich zum Mittel- und Zielpunkt eines Experiments geworden war.«51
Während z.B. Donald Judd und Robert Morris ihre Arbeiten u.a. insofern von der modernistischen Skulptur unterscheiden möchten, als sie sich gegen deren Anthropomorphismus wenden, erkennt Michael Fried in der in minimalistischen Arbeiten deutlich werdenden und durch die Künstler auch intendierten Wechselbeziehung zwischen den als körperliche Objekte präsenten Skulpturen und dem Körper der Betrachtenden, die sich in Schjeldahls Erfahrung wiederspiegelt, eine Art impliziten oder auch »latenten Anthropomorphismus«.52 Dieser bestehe darin, dass sich Objekte der Minimal Art zwar insofern von modernen Skulpturen unterschieden, als sie »weder metaphorisch noch symbolisch auf irgendetwas außerhalb ihrer selbst«53 verwiesen, dennoch aber Bezug auf den menschlichen Körper nähmen, indem ihre Formgebung grundlegende anthropomorphe Prinzipien berücksichtige. Fried nennt in diesem Zusammenhang Aspekte wie Entität, Symmetrie sowie eine anhand eines sichtbaren Außen auf ein Innen verweisende Hohlheit.54 Wie die Erfahrung Schjeldahls zeigt, werden Betrachtende durch diese Form des Verweisens in ihrer physischen wie psychischen Verfasstheit zum Teil eines künstlerischen Experiments. Vergleicht man die geometrischen Formen von Arbeiten der Minimal Art mit den vorgestellten Skulpturen Barbara Hepworths, werden Bezugnahmen auf den Körper der Betrachtenden also keineswegs aufgegeben, sondern lediglich auf eine andere Ebene verlagert. Arbeiten wie Untitled (L-Beams) können so trotz ihrer regelmäßigen geometrischen Formen einerseits »geradezu aufdringlich anthropomorph«55 wirken, weisen durch ein Fehlen unmittelbar erkennbarer Ähnlichkeiten zum menschlichen Körper körperbezogene Zuschreibungen jedoch noch dezidierter zurück als z.B. Two Forms. Aufgrund des sich in dieser Widersprüchlichkeit eröffnenden Spannungsfeldes können sie eine Wirkung entfalten, die Michael Fried als geheimnisvoll oder beunruhigend erlebt und die aus der Sicht Juliane Rebentisch für die ästhetische Erfahrbarkeit der Arbeiten konstituierend ist: »In dem Moment, in dem die minimalistischen Objekte in den Augen des Betrachters anthropomor-
51 Peter Schjeldahl: »Minimalismus«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden, Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 556-588, hier S. 558 52 M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, S. 349 53 D. Marzona/U. Grosenick (Hg.): Minimal Art, S. 11 54 Vgl. M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, S. 346-347 55 Ebd., S. 347
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phe Bedeutung angenommen zu haben scheinen, ist zugleich klar, daß nichts an ihnen dies objektiv rechtfertigt: die Sinnproduktion erweist sich als Sinnprojektion.«56 In auf einem solchen Wechsel von Sinnzuschreibung und Zurückweisung basierenden ästhetischen Erfahrungen werden Reflexionen von Wirkungen impliziter Bezüge zum körperlichen Erleben möglich. Sie können mit in der gebauten Umwelt gesammelten Architekturerfahrungen in Verbindung gebracht werden und für die hier eine wichtige Rolle spielende Leiblichkeit der Wahrnehmung sensibilisieren. Aus Manfred Schneckenburgers Sicht stehen plastische Arbeiten, die in einem solchen »Dialog mit der eigenen Körperlichkeit« räumliche Situationen schaffen, in der Tradition anthropomorpher Plastik und stellen darauf basierend Bezüge her, »die ins Spannungsfeld des Architektonischen führen«.57 Skulpturale Bezüge zum menschlichen Körper als physischer Realität Die vorgestellten Formen der skulpturalen Bezugnahme auf den Körper der Betrachtenden nehmen diesen in seiner Leiblichkeit in den Blick. So kann unter Bezugnahme auf Überlegungen Merleau-Pontys z.B. das unmittelbare Erkennen anthropomorpher Anklänge wie Einheit, Symmetrie und dialektische Verbundenheit von Innen und Außen als darauf basierend betrachtet werden, dass »äußere Wahrnehmung und die Wahrnehmung des eigenen Leibes«58 als »zwei Seiten ein und desselben Aktes«59 verstanden werden. In der Rezeption von Arbeiten wie Bodyspacemotionthings, die in einer handelnden Auseinandersetzung bestehen kann, wird eine auf mentalen Prozessen basierende Verbindung zwischen Skulptur und Betrachtenden in ihrer jeweiligen Körperlichkeit insofern konkretisiert, als hier die Skulptur in ihrer Materialität und Dinghaftigkeit mit dem ebenfalls materiellen physischen Körper der Betrachtenden in Beziehung tritt. Aspekte einer solchen physisch-materiellen Verbindung zeigt Robert Morris in Bezug auf die Installation Bodyspacemotionthings auf, indem er sie als »an opportunity for people to involve themselves with the work, to become aware of their own bodies, gravity, effort, fatigue, their bodies under different conditions«60 vorstellt. Auch in Bruce Naumans
56 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 4 57 M. Schneckenburger: Plastik als Handlungsform, S. 28 58 M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 241 59 Ebd. 60 Zitiert nach Robert Morris exhibition, Tate Gallery, 1971; Bodyspacemotionthings, Tate Modern, 2009, http://www.tate.org.uk/research/publications/performance-attate/perspectives/robert-morris vom 11.01.2017
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Werkgruppe der Corridors ist die physische Realität der Beziehung zwischen Betrachtenden und den Arbeiten von Bedeutung. Die erste Arbeit dieser Gruppe, Performance Corridor (1969), ist ein Gang, der aus zwei einfachen Sperrholzwänden mit einer sie von außen stützenden Holzkonstruktion besteht. Abbildung 20: Bruce Nauman, Performance Corridor, 1969
Die Aufstellung des Ganges erfolgt so, dass er vor einer Wand endet. Der Abstand seiner beiden seitlichen Begrenzungsflächen ist so bemessen, dass Betrachtenden eine für ein Hineingehen erforderliche Mindestbreite zur Verfügung steht. Geht man in den Korridor hinein, gelangt man in einen Raum, der aufgrund seiner Enge einen körperlichen Kontakt zu den Wänden begünstigt. Bei einem weiteren Corridor, Diagonal Sound Wall (1970), ist eine Sperrholzwand mit schalldämmendem Material bekleidet. Sie läuft spitzwinklig auf eine Wand des Ausstellungsraumes zu und verursacht während der zunehmend enger werdenden Passage zusätzlich zu haptischen Eindrücken Veränderungen des Schalldrucks auf den Gehörgang61. In beiden Fällen wirkt ein Durchschreiten der Korridore auf den physischen Körper der Betrachtenden ein. Die sich in der Rezeption einstellende klaustrophobische Wirkung62 basiert so auf einer Verschrän-
61 Vgl. Brigitte Kölle: »Frühe Ausstellungen von Bruce Nauman in Düsseldorf«, in: NRW-Forum Kultur und Wirtschaft (Hg.), Bruce Nauman. Mental Exercises, Düsseldorf 2006, S. 152-165, hier S. 162 62 Vgl. ebd.
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kung physischer und mentaler Prozesse. Eine elementare Form des Erfahrens der eigenen physischen Realität ermöglichen aber bereits Skulpturen, deren Betrachtung ein Herumgehen erfordert, indem sie, wie Robert Morris Arbeit Untitled (L-Beams), keine privilegierte Betrachtungsperspektive erkennbar werden lassen und sich erst erschließen, wenn man um sie herum- oder zwischen den einzelnen Formen hindurchgeht. Eine besondere Nähe anhand dieser Arbeiten möglich werdender ästhetischer Erfahrungen und in unmittelbarer Anwesenheit in der gebauten Umwelt gemachter bzw. gesammelter Erfahrungen kann darin erkannt werden, dass auch in deren Kontext eine physische Komponente bedeutsam ist. Gernot Böhme konzipiert leibliche Anwesenheit in der gebauten Umwelt als Form des Erlebens, die sich »keineswegs bloß auf die Wirklichkeit, sondern auch auf die Realität, nämlich die Dinglichkeit von Orten, Gegenständen und Menschen«63 bezieht. »Gebäude und Räume in der Realität sind nicht frei und mühelos verfügbar, man muss sie begehen, man muss um sie herumgehen, und das kostet Zeit und Mühe. Die darin liegende Erfahrung eigener Körperlichkeit ist, ebenso wie das Moment der Befindlichkeit, zentral für leibliche Anwesenheit.«64 Architektur kann auf der Basis einer durchaus mit körperlicher Anstrengung verbundenen Rezeption von Arbeiten wie Bodyspacemotionthings oder einer mit physischem Kontakt einhergehenden Auseinandersetzung mit Naumans Corridors unter anderem in Bezug auf ihre reale Dinghaftigkeit reflektiert werden, die Handlungsmöglichkeiten eröffnet, ihnen aber auch gleichzeitig Grenzen setzt. Insbesondere Naumans Corridors ermöglichen zusätzlich auch eine Reflexion des manipulativen Potenzials architektonischer Gestaltungen, indem sie »den Betrachter bzw. die Betrachterin präzise konstruierte körperlich-sinnliche Erfahrungen machen lassen«65 und somit zwischen Erfahrungsangebot und Erfahrungsgestaltung verortet werden können. Um die Erfahrungen, die Betrachtende anhand seiner Corridors machen können, möglichst genau zu steuern, verwendet Nauman z.B. in Live-Taped Video Corridor (1970) Monitore, auf denen Betrachtenden sich selbst während des Passierens des Ganges sehen oder kombiniert sie mit Soundinstallationen. Arbeiten wie diese, die Erfahrungsformen stärker vorgeben, anstatt wie von Robert Morris mit Bodyspacemotionthings angestrebt66, offene Er-
63 G. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum, S. 98 64 Ebd. 65 D. von Hantelmann: Formen des In-der-Welt-Seins, S. 44 66 »I want to provide a situation where people can become more aware of themselves and their own experience rather than more aware of some version of my experience.« Robert Morris, zitiert nach d. burdock/w. d.-b. com
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fahrungsmöglichkeiten anzubieten, können Reflexionen handlungs- und bewegungssteuernder Gestaltungen in der gebauten Umwelt begünstigen.
Abbildung 21: Bruce Nauman, Live-Taped Video Corridor, 1970
Skulpturale Bezugnahmen auf Körpermaße Betrachtender Die Enge der Corridors, die eine wesentliche Voraussetzung der sich durch sie eröffnenden Erfahrungsmöglichkeiten darstellt, setzt eine Orientierung der Arbeit am menschlichen Maß voraus und steht auf diese Weise mit einer weiteren Form skulpturaler Bezugnahme auf den physischen Körper der Betrachtenden in Verbindung. Erkennbar ist eine solche Bezugnahme in Arbeiten Monika Sosnowskas, in denen der Zusammenhang skulpturaler Maße und menschlicher Körpermaße erkundet wird. Eine dieser Arbeiten ist die begehbare Installation im Künstlerhaus Bethanien aus dem Jahr 2004, die einen sich sowohl in der Höhe aus auch in der Breite verjüngenden, mehrfach die Richtung wechselnden Gang bildet.
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Abbildung 22: Monika Sosnowska, Ohne Titel, Installation im Künstlerhaus Bethanien, 2004
Betreten werden kann dieser Gang durch eine Öffnung mit üblichen Türmaßen, die ein bequemes Hindurchgehen ermöglicht. Um weiter in den Raum vorzudringen, ist es jedoch erforderlich, von der aufrechten zunächst in eine gebückte, dann in eine kriechende Haltung überzugehen, bevor die zunehmende Enge ein Weiterkommen verhindert. Während hier auf den menschlichen Maßstab gerade durch eine fehlende Passung Bezug genommen wird, ist anhand von Arbeiten, die dem menschlichen Maß angepasst sind, eine entgegengesetzte Strategie erkennbar. Franz Wests Passstücke oder Tim Mapstons Torso Device (1973) werden als maßgefertigte skulpturale Elemente zu Erweiterungen des menschlichen Körpers und stehen so mit dessen Abmessungen in einer unmittelbaren Verbindung. An den Maßen seines eigenen Körpers orientiert auch Absalon seine Cellules (1992), die grundlegendste Wohnbedürfnisse, insbesondere ein Rückszugsbedürfnis, erfüllen.
Abbildung 23: Franz West, Passstück, 1970
Abbildung 24: Tim Mapston, Torso Device, 1973
Eine Parallele zu Architekturerfahrungen bieten Skulpturen, die den Zusammenhang von skulpturaler Form und den Körpermaßen der Betrachtenden erfahrbar werden lassen, insofern, als in der Architektur eine Orientierung an menschli-
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chen Maßen Grundbedingung ihrer Funktionalität ist. Dieser Grundbedingung wird z.B. mit der Maßeinheit der Tatamis in der traditionellen japanischen Architektur67, der Entwicklung von Maßsystemen wie dem Modulor Le Corbusiers oder nicht zuletzt der Omnipräsenz von Ernsts Neuferts Bauentwurfslehre68 in Architekturbüros entsprochen. Besonders deutlich erfahrbar wird eine Passung von Architektur und Körpermaßen z.B. anhand der Steigungsmaße von Treppen, die unabhängig von dem Grad ihrer Steilheit immer an einem menschlichen Schrittmaß von 63 cm orientiert sind. Betrachtet man menschliche Behausungen, wie es Mark Wigley u.a. anhand von Entwürfen Buckminster Fullers und Le Corbusiers aufzeigt, als eine »prothetische Erweiterung«69, die notwendig ist, um körperlichen Insuffizienzen des Menschen abzuhelfen70, verweisen insbesondere Skulpturen, die unmittelbar an den menschlichen Körper angepasst sind, auf die Erfahrung eines grundlegenden menschlichen Schutzbedürfnisses, dessen Erfüllung Aufgabe der Architektur ist. Aus Sicht Walter Benjamins prägt eine solche Betrachtungsweise, bei der Architektur das Bedürfnis nach einem »Gehäuse«71 zu erfüllen hat, das Wohnen des 19. Jahrhunderts, das »die Wohnung als Futteral des Menschen«72 begriffen habe. Wie Mapstons Torso Device bildet Architektur aus dieser Sicht einen vermittelnden Zwischenbereich zwischen Mensch und Umwelt. Sie erfüllt damit ihre Grundfunktion, eine passgenaue schützende Hülle zu bilden, der mit der metaphorischen Bezeichnung der Architektur als dritter Haut des Menschen Rechnung getragen wird. Weniger als Schutz vor Umwelteinflüssen als vielmehr als Rückzugsmöglichkeit in einen privaten Bereich sind Andrea Zittels A-Z Escape Vehicles konzipiert. Ebenso wie
67 Vgl. Steven Holl: »Questions of Perception. Phenomenology of architecture«, in: Steven Holl/Juhani Pallasmaa/Alberto Pérez Gómez (Hg.), Questions of perception. Phenomenology of architecture, San Francisco, CA: William Stout Publishers 2006, S. 38-119, hier S. 116 68 Ernst Neufert/Johannes Kister: Bauentwurfslehre. Grundlagen, Normen, Vorschriften über Anlage, Bau, Gestaltung, Raumbedarf, Raumbeziehungen, Maße für Gebäude, Räume, Einrichtungen, Geräte mit dem Menschen als Maß und Ziel Handbuch für den Baufachmann, Bauherrn, Lehrenden und Lernenden, Wiesbaden: Springer Vieweg 2016 69 M. Wigley: Die Architektur als Prothetik, S. 65 70 Vgl. ebd. 71 Walter Benjamin: »Fragmente zum Wohnen (Passagen-Werk)«, in: Detlev Schöttker/Walter Benjamin (Hg.), Über Städte und Architekturen, Berlin: DOM publishers 2017, S. 178, hier S. 178 72 Ebd.
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Absalons Cellules sind sie nicht an generalisierten menschlichen Körpermaßen orientiert, sondern werden als maßgeschneiderte Minimalbehausung an ihre Bewohnerinnen und Bewohner angepasst. Damit verweisen sie zusätzlich auf das architektonische Problem, sich an einem Normalmaß orientieren zu müssen (und dazu das eines männlichen Durchschnittseuropäers zu wählen), dem nur wenige Menschen entsprechen. Abbildung 25 und 26: Andrea Zittel, A-Z Escape Vehicle, 1996
Abbildung 27: Absalon, Cell No. 1, 1992
Skulpturerfahrung und Bewegung Architektur und Skulptur verbindet, dass für die Wahrnehmung beider die Bewegung der Betrachtenden bzw. Nutzenden eine wichtige Rolle spielt. Bereits in der vorangegangenen Auseinandersetzung mit skulpturalen Bezugnahmen auf den Körper der Betrachtenden wurden verschiedene Möglichkeiten erkennbar, die skulpturale Arbeiten eröffnen, um die Einflüsse von Bewegung auf die
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Wahrnehmung zu erkunden. So ist Bewegung im Raum von Skulpturen u.a. ein wesentliches Moment handelnder Auseinandersetzungen, bildet aber ebenso eine Grundlage von Bezügen zwischen Skulptur und Betrachtenden in ihrer jeweiligen Körperlichkeit. Im Folgenden soll skulpturalen Möglichkeiten, den Zusammenhang von Wahrnehmung und Bewegung zu erkunden, genauer nachgegangen werden, wobei ein besonderer Fokus auf die visuelle Wahrnehmung gelegt wird. Hintergrund dieser Schwerpunktsetzung ist, dass Bewegung ein wesentliches Moment visueller Wahrnehmungen ist, die Architektur nicht als Bild erfassen, sondern den Bezug zur gebauten Umwelt in seiner reziproken Performativität erfahrbar werden lassen. Die Bewegung der Betrachtenden ist somit elementar für Formen des Sehens, die nicht distanzieren und unmittelbar identifizieren, sondern in die Umwelt einbinden, indem sie die räumliche Wahrnehmung mit einer zeitlichen Dimension verbinden. Die Möglichkeit, sich um plastische Formen herum zu bewegen, sie aus unterschiedlichen Perspektiven und Distanzen wahrzunehmen, ist bereits in vielen skulpturalen Arbeiten der Moderne angelegt. Gerade Skulpturen, die in einem Abbildungsverhältnis zur menschlichen Figur stehen, weisen hier allerdings noch privilegierte Betrachtungspositionen auf, die seit den 1960er Jahren zunehmend aufgegeben werden. Ein wesentlicherer Unterschied zwischen moderner Skulptur und vielen der nun entstehenden bildhauerischen Arbeiten besteht allerdings in dem Stellenwert, den die Bewegung der Betrachtenden in ihrer Konzeption einnimmt. Wie Michael Fried anhand von Arbeiten Anthony Caros und David Smiths zeigt, bieten moderne Skulpturen zwar unterschiedliche Betrachtungsperspektiven, die durch Bewegung erschlossen werden können. Da modernistische Skulpturen wie die Caros und Smiths allerdings »in jedem Moment gänzlich manifest«73 und mit sich selbst identisch seien, seien sie von ihrer Wahrnehmbarkeit aus unterschiedlichen Perspektiven unabhängig, ihre Qualität könne aus jedem Blickwinkel vollständig erfahren werden.74 Selbstidentität strebt auch Katarzyna Kobro mit ihren »unistischen« Skulpturen der 1920er und 1930er Jahre an, was daran erkannt werden kann, dass sie besonderen Wert darauf legt, dass deren »Teile alle gleichwertig und von einander abhängig sind«75. Insbesondere ihre Raum-Kompositionen stellen allerdings insofern be-
73 M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, S. 365 74 Vgl. ebd. 75 Yve-Alain Bois: »Strzemiński und Kobro: Auf der Suche nach Motivation«, in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991, S. 13-34, hier S. 20
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reits einen Vorgriff auf spätere Entwicklungen dar, als sie nur dann in ihrer Besonderheit wahrgenommen werden können, wenn Betrachtende sich um sie herumbewegen und verschiedene Perspektiven zu einem Gesamteindruck vereinen. Aus der Perspektive Ive-Alain Bois’ ziehen sie damit »zum ersten Mal in der Geschichte der Bildhauerei ausdrücklich die Dauer der ästhetischen Erfahrung in Betracht.«76 Raum-Komposition 4 (1929) besteht aus rechteckigen und L-förmigen Stahlblechen unterschiedlicher Proportionen, die rechtwinklig miteinander verbunden sind und so eine offene Konstruktion mit horizontalen und vertikalen Flächen bilden. Ein Element im Zentrum der Arbeit ist zu einer U-Form gebogen, deren beide vertikale Schenkel unterschiedlich lang sind, und weist darüber hinaus die Besonderheit auf, an seinem kürzeren Ende nur punktförmig mit einem anderen Element verbunden zu sein. Die geraden Elemente sind in den Primärfarben und Schwarz so bemalt, dass ausschließlich rechteckige, entweder horizontal oder vertikal ausgerichtete Farbfelder entstehen, während das gebogene Element weiß bemalt ist. Abbildung 28: Katarzyna Kobro, Raumkomposition 4, 1929
Wie Yve-Alain Bois in Bezug auf diese und weitere Arbeiten Katarzyna Kobros darstellt, ist für ihre Betrachtung Bewegung konstituierend. »Während wir um ihre besten Skulpturen herumgehen, wird das Negative (Leere) positiv (voll), wird die Linie zur Fläche oder zum Punkt, wird das Gerade gebogen, wird das
76 Ebd., S. 29
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Breite schmal.«77 Aus Überlegungen, die Kobro gemeinsam mit Wladyslaw Strzeminski in Raumgestaltung. Berechnungen eines raum-zeitlichen Rhythmus anstellt, geht hervor, dass diese Besonderheit ihrer Raum-Kompositionen konzeptionellen Überlegungen geschuldet ist, bei denen es um Möglichkeiten geht, Skulpturen zu schaffen, die vom Raum nicht ausgesondert werden, sondern vielmehr aufgrund ihrer Zeitlichkeit eine Einheit mit ihm bilden.78 Kobro überlegt, dass die Räumlichkeit »ihre Existenz offenbart […], indem sie Veränderlichkeit schafft; wenn der Betrachter sich bewegt, zeigen sich einige Formen, andere verbergen sich; die Wahrnehmung dieser Formen ändert sich ständig.«79 Dadurch, dass in der Betrachtung ihrer Raum-Kompositionen »keine Erhebung aus eine anderen gefolgert werden kann«80, wird einerseits Bewegung motiviert, andererseits werden Spannungsverhältnisse zwischen Wahrnehmungen und Erwartungen erzeugt, auf deren Basis ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet werden. Um Betrachtenden diese Erfahrungen zu ermöglichen, nimmt Katarzyna Kobro Wahrnehmungsweisen ihrer Skulpturen hinsichtlich ihrer überindividuellen Relevanz in den Blick. Sie betont, dass »Skulptur weder Literatur noch Symbolik noch eine individuelle, psychologische Emotion ist. Die Skulptur ist einzig und allein die Gestaltung der Form im Raum. Die Skulptur wendet sich an alle Menschen in gleicher Weise.«81
Mit ihrem Interesse an der Intersubjektivität der Wahrnehmungsweisen nähert sie sich architektonischen Fragestellungen, mit denen sie sich im Zusammenhang mit sozialutopischen Überlegungen auch explizit auseinandersetzt. Ein disjunktives Prinzip, das als Besonderheit der Raum-Kompositionen Katarzyna Kobros erkannt werden kann, führt bei Skulpturen, die Tony Smith in den späten 1960er Jahren entwickelt, ebenfalls dazu, dass einer Betrachtung in
77 Ebd. 78 Katarzyna Kobro/Władisław Strzeminski: »Raumgestaltung. Berechnungen eines raum-zeitlichen Rhythmus.«. (Auszüge), in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991b, S. 77-83, hier S. 78 79 Katarzyna Kobro zitiert nach Y.-A. Bois: Strzeminski und Kobro, S. 29 80 Ebd. 81 Katarzyna Kobro: »Die Skulptur und der Körper«, in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991b, S. 73-74, hier S. 74
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Bewegung besondere Relevanz zukommt. Anders als Katarzyna Kobro untersucht er dieses Prinzip allerdings anhand geschlossener Volumina. »Sein nicht auf dem rechten Winkel basierendes Werk kann man nicht von einem einzigen Blickpunkt aus in seiner Gesamtheit erfassen. Es erscheint frontal, aber vielfältig frontal; flächig, aber veränderbar im Volumen«.82 For P.C. (1969) ist eine seiner Arbeiten, die diese Eigenschaft deutlich erkennbar werden lassen. Geht man um sie herum, lässt sich anhand einer Ansicht nicht auf eine folgende schließen und dennoch geht durch diese Unvorhersehbarkeit die Einheit der Form nicht verloren. Abbildung 29: Tony Smith, For P.C., 1969
Eine solche »Dialektik von Einheit und Vielfalt«83, die sich nur in der Bewegung erkennen lässt, bezeichnet Smith als »das langsame Entfalten der Form«.84 Die massive und schwere Wirkung der Skulptur wird durch die dunkle Farbigkeit, das Material und eine »Art Rauheit«85 der Verarbeitung unterstützt und führt dazu, dass die der sich im Entfalten der Form entwickelnde Dynamik als gleichermaßen kraftvoll und schwerfällig wahrgenommen wird. Besondere Bedeutung erlangt Bewegung auch in Richard Serras Arbeit Shift (1970-1972). Sie besteht aus sechs 1,50 m hohen, 20 cm breiten und zwischen 30 und 70 m langen, rechtwinkligen Betonformen, die in unterschiedlichen Abständen und Winkeln zu einander auf einem Feld in der Nähe von Toronto errichtet, eine unterbrochene Zickzack-Linie bilden. Ihre auf unterschiedlichen Höhen befindlichen, waagerechten Oberkanten ragen aufgrund der Topografie des Feldes und ihrer daran ausgerichteten Positi-
82 Tony Smith/Lucy R. Lippard/Elisabeth Jappe: Tony Smith (= Kunst heute, Band 18), Stuttgart: G. Hatje 1972, S. 10 83 Ebd., S. 11 84 Ebd. 85 Ebd., S. 9
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onierung an einer Seite in ihrer gesamten Höhe über die Geländeoberfläche hinaus, an der anderen dagegen nur um ca. 30 cm, sodass ihre sichtbaren Seitenflächen jeweils eine einem Dreieck angenäherte Form annehmen. Aufgrund ihrer Größe und verstärkt durch die bewegte Geländeoberfläche lässt sich die Arbeit nur aus der Vogelperspektive in ihrer Gesamtheit wahrnehmen.
Abbildung 30: Richard Serra, Shift, 1970-71
Betrachtende, die sich ihr zu Fuß nähern und sie sukzessive erwandern, erleben sie dagegen in Ausschnitten, die erkennbar werden lassen, wie die Formen sich in das Gelände und aus ihm heraus verschieben: »Eher als Barriere denn als Perspektive empfunden, verstärken die Mauern somit die Erfahrung des physischen Aufenthaltsorts unseres Körpers.«86 Rosalind Krauss erkennt in der Konzeption dieser Arbeit eine deutliche Nähe zu Überlegungen Maurice Merleau-Pontys. In der Phänomenologie der Wahrnehmung beschreibt dieser die Welt als ein Erfahrungssystem, das, wie Shift, nicht aus einer distanzierten und festgelegten Perspektive wahrgenommen, sondern nur dann erschlossen werden kann, wenn man zu einem Teil dieses Systems wird.87 Bewegung ist in der Rezeption von Shift damit nicht nur eine Option, sondern Voraussetzung dafür, dass die angebotenen Erfahrungsmöglichkeiten erschlossen werden können. Zu ihnen gehört ein Erkennen der wechselseitigen Bedingtheit von Bewegung und Wahrnehmung, die, wie Serra beschreibt, zu einer dynamischen Raumauffassung führt: »Die Stufen der Landschaft setzen sich zu einem sich ständig verändernden Horizont in Be86 Rosalind Krauss: »Richard Serra, eine Übersetzung«, in: Rosalind E. Krauss/Herta Wolf (Hg.), Die Originalität der Avantgarde und andere Mythen der Moderne, [Amsterdam]: Verlag der Kunst 2000, S. 315-330, hier S. 323 87 Vgl. ebd., S. 315-320
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ziehung, und als Masse sind sie vollkommen transitiv: höher werdend, niedriger werdend, sich ausweitend, sich verkürzend, kleiner werdend, verdichtend und drehend.« 88 Damit, dass durch diese Transitivität auch das Zentrum der Arbeit vom Betrachtungsstandort abhängig wird, intendiert Serra die Überwindung einer zentralperspektivischen Raumauffassung.89 Hiermit korrespondiert, dass Bewegungen und Blicke, die für die Rezeption von Shift konstituierend sind, zwar motiviert, jedoch nicht vorgegeben werden. Auch andere seiner Arbeiten sind, wie aus einer Äußerung Richard Serras aus dem Jahr 1973 hervorgeht, nicht als Erfahrungsgestaltungen, sondern als Erfahrungsangebote gedacht: »My pieces are most involved with walking and looking. But I can’t tell someone how to walk and look.«90 Wie in Kapitel 2.2.2 anhand von Überlegungen Juhanni Pallasmaas und Steen Eiler Rasmussens gezeigt wurde, ist Bewegung konstituierend für Wahrnehmungsweisen, die den gesamten Körper in die Wahrnehmung und damit in die wahrgenommene gebaute Umwelt einbinden. Werden Wahrnehmungen dieser Form in der Betrachtung von Skulpturen ins Erlebnishafte gesteigert, können Erkenntnisse in Bezug auf die eigene Verbindung mit der Umwelt gewonnen werden, wodurch die Fähigkeit, die Räumlichkeit der gebauten Umwelt zu erleben, vertieft werden kann. Parallelen zwischen Skulptur- und Architekturerfahrung, die einen Transfer anhand der Auseinandersetzung mit Skulpturen gewonnener Erkenntnisse auf das Erleben der gebauten Umwelt ermöglichen, basieren vor allem darauf, dass mit der Bewegungsabhängigkeit der Skulpturrezeption deren zeitliche Dimension in den Vordergrund rückt und zu einer Annäherung an alltägliche Erfahrungsformen führt. Gerade Arbeiten, die wie die hier vorgestellten den Zusammenhang von Bewegung, visueller Wahrnehmung und Raumwahrnehmung erkunden, eröffnen aber auch ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten, vor deren Hintergrund der Einfluss von Architektur auf Bewegungen und Blicke auf einer bewussteren Ebene reflektiert werden kann, wodurch sich Blickund Bewegungsalternativen eröffnen. In einer architekturkritischen Auseinandersetzung kann darüber hinaus nach Machtmechanismen gefragt werden, die
88 Richard Serra: »Shift«. Erstmals publiziert in: Arts Magazine, New York, April 1973, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Schriften, Interviews, 1970-1989, Bern: Benteli 1990, S. 19-25, hier S. 24 89 Ebd., S. 24-25 90 Richard Serra, zitiert nach Fabien Faure: »The Matter of Time. Walking and Looking«, in: Museo Guggenheim Bilbao (Hg.), Richard Serra. The Matter of Time, Paris 2006, S. 16-32, hier S. 20
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ein manipulatives Potenzial architektonischer Blick- und Bewegungslenkungen nutzen. Eine architektonische Relevanz des Zusammenhangs von Gestaltung, Blicken und Bewegungen kann daran erkannt werden, dass dieser im architektonischen Entwerfen nicht nur implizit eine Rolle spielt, sondern auch Gegenstand expliziter Überlegungen sein kann. So ist aus der Sicht Le Corbusiers Bewegung die Voraussetzung dafür, dass Architektur in der visuellen Wahrnehmung nicht in Einzelbilder zerfällt, sondern als räumliches Ganzes erfahren wird. Um dies zu unterstützen, entwirft er seine Bauten nicht von zweidimensionalen Planzeichnungen ausgehend, sondern durchdenkt sie in ihrer sich auf die Bewegung der Nutzerinnen und Nutzer auswirkenden Plastizität. Ziel ist die Schaffung einer promenade architecturale als bewusst geplanter Choreographie von Bewegungen und Perspektiven, anhand derer die Gebäude in ihrer Räumlichkeit wahrgenommen werden können. Besonderen Wert legt Le Corbusier darauf, dass durch Blick- und Bewegungsführung eine Kontinuität von Innen- und Außenraum erfahrbar wird. Hierin und in einer gezielten Lenkung von Blicken und Bewegungen bestehen Parallelen zu Katarzyna Kobros Raum-Kompositionen. In der zeitgenössischen Architektur sind Überlegungen zum Zusammenhang von Bewegung und visueller Wahrnehmung für Steven Holl von konzeptioneller Bedeutung. Sein Interesse richtet sich hierbei auf Parallaxen, d.h. auf die Art und Weise wie sich Formen relational gegeneinander verschieben, wenn man sich durch ein Gebäude bewegt.91 Wie Fred Rush anhand seiner Erfahrung in der Begehung einer Rampe in Holls Bloch Addition zeigt, führt die Auseinandersetzung mit Parallaxen zu einer architektonischen Gestaltung, die er als »both richly pleasurable and uncanny«92 erlebt. Aufgrund dieses Spannungsverhältnisses werde der Zusammenhang von Bewegung in Relation zu einer verkörperten räumlichen Perspektive sowie die Art und Weise, wie architektonischer Raum auf diese Bewegung antwortet, reflexiv.93 Wie unter Bezugnahme auf Strategien und Überlegungen Le Corbusiers und Steven Holls kritisiert werden kann, wird dem Zusammenhang von Gestaltung, Blicken und Bewegungen im architektonischen Entwerfen oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt, weshalb das Erleben von Räumlichkeit und eine für dieses Erleben bedeutsame Inbezugsetzung zum eigenen Körper in einer auf diesen Entwürfen basierenden gebauten Umwelt nicht umfassend unterstützt wird. Folgt man dieser Kritik, ist eine Steigerung der Erlebnisfähigkeit in Bezug auf den Zu-
91 Vgl. S. Holl: Questions of perception, S. 48-55 92 F. Rush: On architecture, S. 39 93 Vgl. ebd., S. 40
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sammenhang von Raum und Bewegung, die wie oben überlegt durch die Auseinandersetzung mit Skulpturen möglich ist, von besonderer Relevanz. Parallelen eines handelnden Umgangs mit Skulptur und Architektur Mit Robert Morris’ Bodyspacemotionthings, Rirkrit Tiravanijas Untitled (Tomorrow is another place) und den Corridors von Bruce Nauman wurden bereits verschiedene Arbeiten vorgestellt, die Handlungen der Betrachtenden ermöglichen bzw. vorsehen. Betrachtet wurden sie im Hinblick auf Formen der Partizipation sowie der Bezugnahme auf den Körper der Betrachtenden. Eine Annäherung der anhand ihrer möglichen Erfahrungen an Architekturerfahrungen wird aber auch dann erkennbar, wenn die durch Skulpturen ermöglichten Handlungsoder Nutzungsweisen unter Einbezug der in Kapitel 2.2.4 vorgestellten architekturpsychologischen Überlegungen in den Blick genommen werden. Aus dieser Perspektive können die einzelnen Elemente von Robert Morris’ Arbeit Bodyspacemotionthings z.B. im Hinblick auf ihre Affordanz betrachtet werden. Soll Bodyspacemotionthings als Erfahrungsangebot genutzt werden, muss die Arbeit diese Möglichkeit so überzeugend wie möglich vermitteln, indem ihre Elemente ihrer spezifischen Nutzungsweise entsprechend als daraufbalancier-bar, be-wipp-bar, erkletterbar, schaukelbar94 usw. wahrgenommen werden. Dadurch, dass im Umgang mit Kunst eingeübte Rezeptionsweisen vor allem in institutionellen Kontexten gegen ein Berühren, geschweige denn Benutzen sprechen, ist die Überwindung einer hieraus resultierenden Hemmschwelle erforderlich. Ihre Benutzbarkeit betonen die Elemente der Arbeit zu diesem Zweck durch eine auf die Temporalität der Ausstellung verweisende Verwendung alltäglicher Baumaterialien. Zusammen mit einer rohen Fertigungsweise trägt diese Materialität zu einer Entauratisierung der skulpturalen Formen bei, durch die die Bereitschaft zur Nutzung der Erfahrungsangebote unterstützt wird. Morris riskiert allerdings nicht, die Affordanzen für sich sprechen zu lassen, sondern fügt den verschiedenen Elementen Fotografien bei, die die Nutzungsweisen erkennbar werden lassen. Er berücksichtigt damit, dass die Tate Gallery einschließlich ihrer Besucherinnen, Besucher und ihres Aufsichtspersonals ein Behaviour Setting bilden, innerhalb dessen bestimmte implizite und explizite Normen und Regeln gelten, die Verhaltensweisen als angemessen oder unangemessen erscheinen lassen. Durch die bildlichen Gebrauchsanweisungen wird, die
94 Ähnliche Attribuierungen (»sit-on-able«, »bump-in-able«) verwendet Gibson, um unmittelbar sichtbare Nutzungsmöglichkeiten zu benennen. Vgl. J. J. Gibson: The Ecological Approach to Visual Perception, S. 128
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Affordanz der Elemente ergänzend, zu einem Verhalten aufgefordert, dass für den institutionellen Kontext Kunstausstellung der 1960er Jahre ungewöhnlich ist. Gerade das hierdurch entstehende Spannungsfeld erklärt möglicherweise die tumultartige (von einem Aufseher als »overzealous« und »exuberant«95 beschriebene) Begeisterung der Ausstellungsbesucherinnen und Besucher, die ein vorzeitiges Ende der Ausstellung erforderte.96 Die Besucherinnen und Besucher nutzten die Elemente allerdings nicht nur zu intensiv, sondern auch auf andere Weise als auf den Fotos vorgegeben, was auf deren nicht eindeutige Affordanzen zurückgeführt werden könnte, aber auch in Morris Sinn gewesen sein dürfte. Eine erneute Ausstellung von Bodyspacemotionsthings in der Tate Gallery im Jahr 2009, in der die Probleme der ersten Ausstellung nicht auftraten, zeigt die Historizität des Behaviour Settings Kunstmuseum. Wie auch die Darstellung eines Erlebnisses Andrej Pops zeigt, beschränken sich für ein zeitgenössisches und informiertes Publikum die Rezeptionsmöglichkeiten der Exponate nicht mehr unhinterfragt auf deren visuelle Wahrnehmung, sondern gehen z.T. über die aus konservatorischen Gründen erforderlichen Grenzen hinaus: »Im Jahr 2004 habe ich als Besucher der Ausstellung A Minimal Future? im Museum of Contemporary Art in Los Angeles, ohne zu überlegen, meine Schuhe ausgezogen, um eine Stahlplatte von Carl Andre zu betreten. Ich tat es aber nicht, denn ein Museumsmitarbeiter riet mir energisch davon ab. Ich hegte also eine Auffassung – dass ich mich auf Werken von Carl Andre ungehindert bewegen dürfe – die sich als Illusion herausstellte.«97
Auch Rirkrit Tiravanijas Untitled (Tomorrow is another place) kann als experimentelles Behaviour Setting analysiert werden. Als Nachbildung des Appartements Tiravanijas umfasst es neben raumbildenden Strukturen auch Mobiliar und weitere Ausstattungsgegenstände, deren Nutzungsmöglichkeiten den Besuchenden aus ihrem eigenen privaten Umfeld bekannt sind, die aber auch bereits aufgrund ihrer formalen Eigenschaften bestimmte Handlungen begünstigen. Die Besonderheit der experimentellen Anordnung besteht in der Verortung im Ausstellungskontext, der ein eigenes, von dem eines privaten Wohnraums in vielfa-
95 Zitiert nach d. burdock/w. d.-b. com 96 Aufgrund der enthusiastischen und damit auch eine Verletzungsgefahr bergenden Nutzung der skulpturalen Elemente durch Besucherinnen und Besucher musste die Ausstellung bereits vier Tage nach ihrer Eröffnung geschlossen werden. Vgl. ebd. 97 Andrei Pop: »Skulptur und Illusion«, in: Kunstmuseum Basel, Mendes Bürgi, Bernhard (Hg.), Sculpture on the Move. 1946-2016, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2016, S. 132-140, hier S. 134-135
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cher Hinsicht abweichendes Behaviour Setting bildet. Aufgrund des Spannungsverhältnisses der sich überlagernden Settings werden Besonderheiten beider reflexiv, es entsteht aber auch ein neues Setting, dessen Wirkungen erkundet werden können. Erfahrungen der materiellen Bedingtheit von Handlungs- und Interaktionsmöglichkeiten Dezidiert partizipative Arbeiten wie Untitled (Tomorrow is another day) nähern sich auch insofern der Architektur an, als die materiellen Strukturen, die z.B. zu bestimmten Handlungsweisen auffordern, ähnlich wie in der gebauten Umwelt nur beiläufig wahrgenommen werden und somit in eine Reflexion der anhand der Arbeit gemachten Erfahrungen möglicherweise nicht einbezogen werden. Eine Arbeit Tiravanijas, deren materielle Beschaffenheit dagegen in der Betrachtung einen größeren Stellenwert beansprucht und somit ein Erkennen von Zusammenhängen zwischen materiellen Strukturen und Handlungsmöglichkeiten deutlicher begünstigt, ist Dom-ino (1998). Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine verkleinerte Adaption des fast gleichnamigen Konzepts Le Corbusiers von 1914, Dom-Ino, die anders als ihr in Stahlbeton vorgesehenes Vorbild als Holzkonstruktion ausgeführt ist. Die Struktur von Tiravanijas Dom-ino besteht aus drei horizontalen Ebenen, vier Stützen sowie seitlich angeordneten Treppen, die die Ebenen verbinden und gleichzeitig die Aussteifung der Konstruktion gewährleisten. Ihre Besonderheit beruht darauf, dass auf vertikale Elemente weitestgehend verzichtet wird, sodass eine klare Trennung zwischen Außen und Innen entfällt. Abbildung 31: Rirkrit Tiravanija, Dom-ino, 1998 Abbildung 32: Le Corbusier, Dom-Ino, 1914
Auf der unteren Ebene der auf ein konstruktives Minimum reduzierten Struktur befinden sich ein CD-Player, ein Fernseher, ein Gaskocher und Sitzgelegenheiten. Besucherinnen und Besucher können Dom-ino nach eigenen Vorstellungen
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nutzen und vorgefundene oder mitgebrachte Ausstattungsgegenstände miteinander teilen. Obwohl auch hier vor allem ein experimentelles Dispositiv geschaffen wird, innerhalb dessen sich temporäre Gemeinschaften bilden und ausdifferenzieren können98, tritt die materielle Struktur in ihrer Abweichung von lebensweltlichen baulichen Gegebenheiten, auf deren Offenheit, konstruktiver Reduktion und Horizontalität die Vielfalt und Besonderheit ihrer Nutzungsmöglichkeiten basiert, ebenfalls immer wieder ins Bewusstsein. Auf diese Weise wird die materielle Bedingtheit von Interaktionsmöglichkeiten in der handelnden Rezeption bedeutsam. Verstärkt wird dies, wenn Betrachtenden die Konzeption Le Corbusiers sowie deren Ziel der Demokratisierung moderner Wohnformen bekannt ist. Gleichwohl ist eine solche architekturgeschichtliche und diskursive Fundierung keine notwendige Voraussetzung der dargestellten Chancen, anhand der Rezeption von Dom-ino die Reziprozität von Architektur in ihrer phänomenalen Wahrnehmbarkeit und individuellen wie sozialen Umgangsmöglichkeiten zu erfahren. Eine Arbeit, deren sinnlich wahrnehmbare Beschaffenheit als Bedingung von Befindlichkeiten, Stimmungen sowie individuellen und gemeinschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten noch deutlicher in den Vordergrund tritt, ist Für die Ankommenden; genannt/nicht genannt (1991) von Maria Nordman. Abb. 33: Maria Nordman, Für die Ankommenden; genannt/nicht genannt, 1991
Der erstmals 1991 im Hamburger Park Planten un Blomen errichtete, vier Räume umfassende flache Pavillon ist aus Aluminium, Holz und Glas konstruiert und so aufgeständert, dass fünf Stufen überwunden werden müssen, um ihn betreten zu können. Seine beiden größeren Räume sind durch eine undurchsichtige Glaswand voneinander getrennt und unterscheiden sich deutlich in ihrer Gestal-
98 Vgl. Les abbatoirs Musée FRAC Occitanie Toulouse
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tung. Die Außenwände des einen Raumes werden durch verschiedenfarbige Glasscheiben in verschiebbaren Rahmen gebildet, in seinem Dach befindet sich eine quadratische, ebenfalls verglaste Öffnung. Sein Holzfußboden weist eine quadratische Vertiefung auf, die so dimensioniert ist, dass eine umlaufende Bank entsteht. Die aus Aluminium bestehenden Außenwände des zweiten Raumes sind an drei Stellen durch schmale vertikale Schlitze geöffnet. Dieser Raum verfügt über eine quadratische verglaste Öffnung im Fußboden. Aufgrund der Ausrichtung und Dimensionierung der Öffnungen ist er dunkler, Aus- und Einblicksmöglichkeiten sind eingeschränkt. Beide Räume sind während der gesamten Dauer der Aufstellung öffentlich zugänglich, der dunklere für kurze Besuche, der helle auch für ganztägiges Bewohnen. Letzteres wird durch das Vorhandensein der notwendigen funktionalen Ausstattung ermöglicht. Wie Maria Nordman im Gespräch mit Theodora Vischer erläutert, bildet der Pavillon eine offene Struktur, deren Elementen erst durch die Besucherinnen und Besucher Bedeutungen zugeschrieben werden.99 So kann die Toilette als »schönes visuelles Artefakt auf einem Podest«100 wahrgenommen, ebenso aber auch genutzt werden. Über die Mitgestaltungsmöglichkeit einer solchen individuellen Bedeutungskonstituierung und Nutzung hinaus haben Besuchende auch die Chance, die Arbeit in ihrer physischen Beschaffenheit mitzugestalten. Hierzu können die farbig verglasten Elemente, die die Außenwand des helleren der beiden Räume bilden, verschoben werden, um unterschiedliche, den subjektiven Bedürfnissen der oder des Einzelnen bzw. den kommunikativ ermittelten Bedürfnissen einer Gruppe entsprechende Farbmischungen und Lichtsituationen zu schaffen. Die sinnliche, vor allem visuelle Wahrnehmung erlangt durch diese Möglichkeit, insbesondere aber auch durch den Kontrast der beiden Räume gleichen Zuschnitts, die sich hinsichtlich der dominierenden Materialien, der Belichtung, der Aus- und Einblicksmöglichkeiten grundlegend unterscheiden, in der Rezeption besondere Bedeutung. Dadurch, dass »Entscheidungen nicht aufgrund der üblichen Zwecke, Motive und Interessen getroffen werden können«101, werden jedoch auch Nutzungsweisen bedeutsam. »Alle ökonomischen, moralischen, politischen und sonstigen alltäglichen Gesichtspunkte greifen an diesem sozial undefinierten Ort letztlich nicht. Sie verlieren ihre Orientierungsfunktion für das Verhalten[,] er-
99
Vgl. Theodora Vischer: »Wandernde Struktur/Haus in der offenen Landschaft. Ein Gespräch zwischen Maria Nordman und Theodora Vischer im Juni 1991«, in: Parkett 29 (1991), S. 6-12, hier S. 8
100 Ebd. 101 Michael Lingner: »Ästhetisches Dasein. Konturen des Menschenbildes XII: Maria Nordman«, in: KUNST+UNTERRICHT (174, 1993), S. 12-13, hier S. 13
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weisen sich als unverbindlich und immer auch als ganz anders möglich.«102 Auf diese Weise werden Orientierungsrahmen reflexiv, die in der Nutzung der gebauten Umwelt nicht hinterfragt werden. Im Vergleich zu Tiravanijas Arbeit Untitled (Tomorrow is another day), wird durch die gestalterischen Besonderheiten und die eigenen realen Mitgestaltungsmöglichkeiten die Gestaltung der PavillonStruktur, insbesondere seine auch haptisch erfassbare Materialität sowie seine Belichtung in eine Reflexion seiner Nutzungsmöglichkeiten stärker einbezogen. Ein weiterer Unterschied zu den beiden vorgestellten Arbeiten Tiravanijas besteht darin, dass Nordmans Pavillon im öffentlichen Raum aufgestellt ist, wodurch der institutionelle Kontext in seiner Rezeption weniger deutlich zutage tritt und somit auch in der Reflexion eine geringere Rolle spielt. Auch hierdurch wird begünstigt, dass Reflexionen, die im Rahmen der Betrachtung oder Nutzung von Für die Ankommenden; genannt/nicht genannt in Gang gesetzt werden, die ästhetische Dimension der Arbeit in ihrem reziproken Bezug zu Nutzungsmöglichkeiten, aber auch zu Stimmungen, Befindlichkeiten und sozialen Interaktionen deutlicher einbeziehen. Wie die Betrachtung der verschiedenen Bereiche, hinsichtlich derer sich die Erfahrungsformen von Skulpturen seit Beginn der Moderne, verstärkt aber seit den 1960er Jahren an Architekturerfahrungen annähern, zeigt, entwickeln sich im Zuge skulpturaler Erweiterungstendenzen vielfältige Möglichkeiten, im Umgang mit gebauten Umwelten gesammelte Erfahrungen in die Rezeption von Skulpturen einzubeziehen und im Kontext ästhetischer Erfahrungsprozesse reflexiv werden zu lassen. In skulpturalen Produktionsprozessen, die einen Schwerpunkt darauf legen, Betrachtende einzubeziehen, indem sie ihnen auf Wahrnehmungen, Bewegungen, individuellen und gemeinschaftlichen Nutzungen basierende Erfahrungschancen eröffnen, kann, wie in Kap. 3.1.1 überlegt, das Erleben architektonischer Objekte und räumlicher Situationen zum skulpturalen Thema und somit ebenfalls reflexiv werden. Eine besondere Chance ästhetischer Erfahrungen, die sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von skulpturalen Auseinandersetzungen mit architektonischen Fragestellungen ermöglicht werden, besteht darin, dass – anders als in täglichen Erfahrungen der gebauten Umwelt – Zusammenhänge zwischen räumlichen Wirkungen und deren materieller Bedingtheit erkannt werden können. Wie anhand der Gegenüberstellung der Arbeiten Tiravanijas und Nordmans gezeigt wurde, ist eine Voraussetzung hierfür allerdings, dass die skulpturale Dimension der Arbeiten nicht durch die anhand der Arbeiten eröffneten Aktions- und Interaktionsmöglichkeiten überlagert wird.
102 Ebd.
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Architektur als »Medium des Sozialen«103 Skulpturen wie Burn the Formwork, die im Kontext von Überschneidungen mit Architektur im sozialen Raum agieren, verfügen über besondere Möglichkeiten, Zusammenhänge von Architektur und Gesellschaft zu erkunden, die als grundlegend für ein Verständnis des Architektonischen betrachtet werden können. Mit der Feuerstelle, die Oscar Tuazon für seine skulpturale Erkundung des sich zwischen Architektur und gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen aufspannenden Feldes errichtet, verwendet er ein grundlegendes architektonisches Element, das aus architekturtheoretischen Perspektiven unterschiedlicher zeitlicher Kontexte den Ausgangspunkt architekturbedingter Vergesellschaftungsformen bildet. Eine solche Einschätzung ist bereits bei Vitruv zu erkennen, aus dessen Sicht »infolge der Entdeckung des Feuers zunächst bei den Menschen ein Zusammenlauf, ein Zusammenschluß und ein Zusammenleben entstanden war und mehr Menschen an eine Stelle zusammenkamen«104. Ein gemeinschaftsstiftendes Potenzial kommt der Feuerstelle Vitruv zufolge auch insofern zu, als ein Austausch über die Entdeckung der wärmespendenden Funktion des Feuers den grundlegenden Impuls der Sprachentwicklung gebildet habe.105 Eine ähnliche Betrachtungsweise findet sich bei Gottfried Semper, der den Herd in Die vier Element der Architektur als Ausgangspunkt kultureller und religiöser Entwicklungen vorstellt: »Das erste Zeichen menschlicher Niederlassung ist die Einrichtung der Feuerstätte und die Erweckung der belebenden und erwärmenden speisebereitenden Flamme. Um den Herd versammelten sich die ersten Gruppen, an ihm knüpften sich die ersten Bündnisse, an ihm wurden die ersten rohen Religionsbegriffe zu Culturgebräuchen formuliert. Durch alle Entwickelungsphasen der Gesellschaft bildet er den heiligen Brennpunkt, um den sich das Ganze ordnet und gestaltet. Er ist das erste und wichtigste, das moralische Element der Baukunst.«106
Auch architekturtheoretische Überlegungen der Moderne befassen sich mit dem Zusammenhang von Architektur und Gesellschaft, auf den Tuazons Verwendung
103 H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen 104 Vitruv: De architectura libri decem, um 30 v. Chr. Zehn Bücher über Architektur. Hg. v. Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964, Darmstadt 1964, http://www.architekturtheorie.tu-berlin.de/fileadmin/fg274/Vitruv_01.pdf, S. 2 105 Vgl. ebd., S. 1 106 Gottfried Semper: Die vier Elemente der Baukunst. Ein Beitrag zur vergleichenden Baukunde, Braunschweig: Vieweg 1851, S. 54-55
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des Herd-Motivs verweist, führen in ihrem zeitlichen Kontext doch einerseits gesellschaftliche Umbrüche zu einer zunehmenden Verstädterung und damit einhergehenden architektonischen Problemstellungen, sieht man aber andererseits auch die Architektur als Instrument, um gesellschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen. Während ein architektonischer Diskurs der Moderne zu einer Sichtweise tendiert, in der Architektur und Gesellschaft ungeachtet ihrer wechselseitigen Bezüge als getrennte Bereiche konzipiert werden, entwickeln sich ab den 1960er Jahren neue Betrachtungsweisen, die beide Bereiche als »Teil eines zusammenhängenden sozialen Gefüges oder Netzwerkes«107 begreifen. Möglichkeiten, um bauliche und gesellschaftliche Strukturen zusammen denken zu können, bieten unter anderem Überlegungen Henri Lefèbvres. Sein Begriff des sozialen Raums fasst diesen weder als ideal noch als real, sondern vielmehr als komplexe Vernetzung von Dingen, Produkten und Wissensformen. Über eine Untrennbarkeit von Raum und gesellschaftlichen Entwicklungen kann auf der Basis seiner Überlegungen zur Produziertheit des sozialen Raumes nachgedacht werden: »Itself the outcome of a sequence of actions, social space is what permits fresh actions to occur, while suggesting others and prohibiting yet others.«108 Dadurch, dass Lefèbvre auch die dinghafte Ebene als Dimension des sozialen Raums in den Blick nimmt, kann er, wie z.B. in Die Revolution der Städte109 Wechselwirkungen zwischen Architektur und Gesellschaft erkunden. Eine Betrachtungsweise, die ähnlich der Lefèbvres daran interessiert ist, eine dualistische Sichtweise auf die Zusammenhänge von Architektur und Gesellschaft zu überwinden und dabei die dinghafte Seite der Architektur zentral zu berücksichtigen, ist die der Architektursoziologie. Diese sich zu Beginn des 21. Jh. entwickelnde soziologische Teildisziplin erweitert die Perspektive der Soziologie insofern, als sie »konkrete architektonische Phänomene in Hinsicht auf die Gesellschaft«110 analysiert und sich damit »nicht nur für das Soziale in der Stadt, sondern für die sozial höchst wirksame, gebaute Gestalt der Städte, Dörfer, Kulturlandschaften und damit für die Gestalt der Gesellschaft«111 interessiert. Dabei nimmt sie einerseits in den Blick, inwiefern Architekturen über
107 S. Hauser/C. Kamleithner/R. Meyer: Ästhetik des Sozialen Raumes, S. 14 108 Henri Lefèbvre: The production of space, Malden, Mass.: Blackwell 2016, S. 73 109 Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte, Frankfurt am Main: Syndikat 1976 110 Joachim Fischer/Heike Delitz: »Die ›Architektur der Gesellschaft‹. Einführung«, in: Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 9-17, hier S. 12 (Hervorhebungen im Original) 111 Ebd. (Hervorhebung im Original)
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die Distribution von individuellen Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten Einfluss auf soziale Interaktionen nehmen und sich somit letztlich auf gesellschaftliche Strukturen auswirken können, befasst sich andererseits aber auch mit der Frage, inwiefern »die Architektur der Gesellschaft – also dem Verhältnis der Generationen, Schichten und Funktionssysteme erst ihre Expressivität verschafft«112. Die als »räumliche Gestalt der Gesellschaft«113 entstehende Architektur hat dann wiederum eine gesellschaftsgestaltende Wirkung. Auf die sich hier andeutende komplexe Vernetzung bzw. eine Unmöglichkeit, Architektur und Gesellschaft als zwei Bereiche zu denken, verweist Heike Delitz, wenn sie Architektur als »ebenso konstitutives wie transitives (veränderndes, vorantreibendes) Medium des Sozialen«114 beschreibt. Neben der Perspektive einer sich entwickelnden expliziten Architektursoziologie existieren ältere implizit architektursoziologische Ansätze, auf die in Kapitel 2.2.3 bereits verwiesen wurde, z.B. bei Marcel Mauss und bei Michel Foucault. In Überwachen und Strafen analysiert Foucault Machtmechanismen, die sich im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Strukturen entwickeln, indem er Gefängnisse in den Blick nimmt. Diese interessieren ihn nicht nur in Bezug auf ihre institutionellen oder organisatorischen Strukturen, sondern werden auch hinsichtlich der Frage betrachtet, inwiefern ihre Bauformen Disziplinierungsoder Normalisierungsweisen unterstützen. Eine besonders zentrale Stellung nehmen architektonische Strukturen in Foucaults Überlegungen zum Panoptismus115 ein. Das panoptische Prinzip, das Foucault aus einer Gefängnisarchitektur Jeremy Benthams ableitet, beruht darauf, dass aufgrund des Bewusstseins einer potenziell jederzeit möglichen Überwachung eine Selbstdisziplinierung bewirkt wird, die eine tatsächliche Überwachung obsolet werden lässt. Aus einer architektursoziologischen Perspektive kann unter Bezugnahme auf das Konzept des Panoptismus die in der Architektur der Moderne zunehmende Entwicklung transparenter Gebäude im Hinblick auf die Frage betrachtet werden, inwiefern veränderte gesellschaftliche Machtstrukturen einen Bedarf an erweiterten Formen der Sichtbarkeit entstehen lassen. Eine zunehmende Transparenz kann aus diesem Blickwinkel nicht nur als Zugewinn an Freiheit erkannt, sondern im Kontext von Entwicklungen biopolitischer Machtstrukturen auch im Hinblick auf ihre gegenteilige Wirkung analysiert werden. Hintergrund dieser Überlegung
112 Ebd. 113 H. Delitz: Architektursoziologie, S. 90 114 Heike Delitz: Architektursoziologie, Bielefeld: transcript 2009, S. 90. 115 M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 251-293.
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sind Korrespondenzen zwischen Sichtbarkeit und der Entwicklung von Normalisierungs- oder Selbstoptimierungsimperativen. Architektursoziologische Relevanz haben auch Foucaults Überlegungen zum Begriff der Heterotopie, den er in Von anderen Räumen entwickelt. Heterotopien beschreibt er als »wirkliche Orte […], die ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen.«116 Besonders relevant sind aus seiner Sicht »Abweichungsheterotopien«117, zu denen er neben Gefängnissen, psychiatrischen Krankenhäusern und Altersheimen auch Gärten und Feriendörfer zählt, real existierende Räume also, »die zuerst solchen Heterogenitäten oder Abweichungen Raum geben, für die in einem gegebenen Raumgefüge kein Platz vorhanden ist.«118 Eine Analyse der reziproken Zusammenhänge von Architektur und Gesellschaft erlaubt der Begriff der Heterotopie sowohl auf einer städtebaulichen Ebene als auch in Bezug auf Raumaufteilungen innerhalb von Gebäuden. In beiden Bereichen kann auf seiner Basis überlegt werden, welche sozialen Gruppen, aber auch welche Bereiche menschlichen Lebens in einer Gesellschaft als anders empfunden und auf bestimmte Orte verwiesen werden. Wie Foucault ausführt, ist zum Beispiel der Tod ein Bereich, der, eigentlich untrennbar mit dem Leben verbunden, ab dem 19. Jahrhundert zunehmend als Abweichung betrachtet wird. Diese Entwicklung findet in einer Verlegung der Friedhöfe aus dem »Bauch der Stadt«119 in deren Randbereiche eine materielle Entsprechung. Eine Reziprozität von Architektur und gesellschaftlichen Entwicklungen wird in diesem Kontext deutlich, wenn man überlegt, dass ein solches Ausschließen des Todes aus der täglichen Umgebung seine Verdrängung aus dem Denken weiter fördert. Auch Marc Augés Unterscheidung von Orten und Nicht-Orten bildet eine Basis für architektursoziologische Überlegungen. Aus seiner Sicht ist in »die Erfahrung des Nicht-Ortes […] heute ein wesentlicher Bestandteil sozialer Existenz«.120 Dies hänge damit zusammen, dass ein übermodernes Leben durch Erfahrungen des Transits gekennzeichnet sei, eine Verwurzelung in Traditionen
116 Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003b, S. 549-559, hier S. 552 117 Ebd., S. 553 118 Tobias Klass: »Heterotopie«, in: Clemens Kammler/Rolf Parr/Ulrich J. Schneider et al. (Hg.), Foucault-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart, Weimar: Metzler 2008, S. 263-266, hier S. 265 119 M. Foucault: Andere Räume, S. 554 120 M. Augé: Nicht-Orte, München: C. H. Beck, 2010, S. 119
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dagegen an Anziehungskraft verliere. Eine Entsprechung in baulichen Strukturen finde eine solche gesellschaftliche Entwicklung insofern, als Orte des temporären Aufenthalts an Bedeutung gewännen, oder Orte durch eine Veränderung der an ihnen stattfindenden Nutzungsweisen und Kommunikationsformen eine Wahrnehmung als Nicht-Orte begünstigten.121 Skulpturen, die wie Burn the Formwork Strukturen des sozialen Raumes aufgreifen und durch einen baulichen Eingriff modifizieren, verfügen über besondere Möglichkeiten, architektursoziologische Fragestellungen aufzuwerfen und zu erkunden. So kann diese Arbeit z.B. als Auseinandersetzung mit Heterotopien betrachtet werden, da sie ein Nachdenken darüber ermöglicht, welche Verhaltens- und Interaktionsweisen mit ihr an einen ›anderen Ort‹ verwiesen werden. Als experimentelles Setting im Feld des Architektonischen kann sie die Komplexität der Vernetzung von Architektur und Gesellschaft soweit reduzieren, dass Zusammenhänge erfahrbar werden. Geht man mit Heike Delitz davon aus, dass Gesellschaften nicht vorstellbar sind122, ist dies eine Möglichkeit, sie in ihrer räumlichen Gestalt greifbarer werden zu lassen. Indem Burn the Formwork auf der Basis der vorgestellten Irritationsmomente ästhetische Erfahrungsprozesse ermöglicht, innerhalb derer Sinnkonstruktionen und Sinnsubversionen einander abwechseln, können diese Zusammenhänge reflexiv werden. Sind diese Erfahrungs- und Reflexionsmöglichkeiten für eine als Teilnahme an einem solchen Feldexperiment verstandene Rezeption kennzeichnend, gilt dies ebenso für die Produktion, in der eine Auseinandersetzung mit Strukturen des sozialen Raums, in dem agiert wird, erfolgt, auf deren Basis Modifikationsmöglichkeiten erprobt und in ihrer Wirkung beobachtet werden können.
3.2 SKULPTURALE RAUMBEZÜGE ALS BASIS VON ERKUNDUNGEN ARCHITEKTONISCHEN RAUMS Sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts erweiternde Rezeptionsbezüge sind eine Voraussetzung dafür, dass Architekturerfahrungen in ästhetische Erfahrungsprozesse, die sowohl im Kontext skulpturaler Produktion und Rezeption in Gang gesetzt werden können, einfließen können. Als Grundlage an die Arbeiten herangetragener Sinnproduktionen können sie somit Gegenstand ästhetischer Erkenntnis werden. Eine weitere, nicht minder wichtige Voraussetzung ist durch die Erweiterung skulpturaler Raumerkundungsmöglichkeiten gegeben. Auch
121 Ebd., S. 81-114 122 Vgl. H. Delitz: Architektur als Medium des Sozialen, S. 279
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wenn Skulpturen als geschlossene Volumina bereits Räume gestalten können, entwickeln sie mit der Moderne zusätzliche Möglichkeiten, Räume zu bilden oder installativ zu werden, sodass das Kriterium der Körper- bzw. Raumbildung als trennscharfes Distinktionsmerkmal von Skulptur und Architektur an Bedeutung verliert. Sich hiermit erweiternde Überschneidungsbereiche von Architektur und Skulptur stehen zum einen in einem Zusammenhang zu dem dargestellten skulpturalen Interesse an Architektur und bilden zum anderen eine wichtige Basis dafür, dass diesem Interesse nachgegangen werden kann. Wie Fritz Schumacher zeigt, wird Architektur auch von außen kaum als positives Volumen erfahren.123 Eine skulpturale Auseinandersetzung mit Architektur bzw. mit den Arten und Weisen, wie Architektur erfahren wird, kann aufgrund dessen ihrem Thema nur gerecht werden, wenn sie sich mit Fragen beschäftigt, die Zusammenhänge von Körper (als positivem Volumen) und Raum betreffen. Wie nehmen materiale Formen Einfluss auf den Raum, wie gestalten, verändern sie ihn? Jeder Versuch, sich diesen Fragen zu nähern, erfordert ein Nachdenken darüber, was in unterschiedlichen Zusammenhängen jeweils mit Raum gemeint sein kann. Schon 1929 diagnostiziert László Moholy-Nagy »bei der definition des raumes […] eine große Unsicherheit«124. Betrachtet man die vielfältigen Dimensionen des Raumbegriffs, die er als »die verschiedenen arten von ›raum‹«125 aufzählt (seine Liste umfasst 44 Begriffe und verweist durch ein »usw.« auf ihre Unvollständigkeit), wird deutlich, dass eine klare Differenzierung nicht möglich ist. Nach wie vor oder mehr denn je überlagern sich auch heute vielfältige Dimensionen, wenn von Raum die Rede ist. Einen Versuch, zu klären, was im Kontext von Architektur unter Raum verstanden werden kann, unternimmt Gernot Böhme in Architektur und Atmosphäre. Wie er hier darstellt, ist mit dem Raum, den die moderne Architektur als ihren zentralen Gegenstand erkennt, zunächst der euklidische oder auch geometrische Raum gemeint.126 Eine andere, ebenfalls den Denkstrukturen der Mathematik entlehnte architekturrelevante Raumkonzeption begreife ihn dagegen nicht so sehr in seiner Eigenschaft, vermessen werden zu können, sondern als Topos.127 Letzterer entspricht aus Böh-
123 Vgl. F. Schumacher: Sinnliche Wirkungen des baulichen Kunstwerks, S. 196-197, s. auch Grafik in Kapitel 5.4.1 124 L. Moholy-Nagy/H. M. Wingler/O. Stelzer: von material zu architektur, S. 194 125 Ebd. 126 Vgl. G. Böhme: Architektur und Atmosphäre, S. 15 127 Vgl. ebd., S. 15-16
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mes Sicht eher dem »Raum leiblicher Anwesenheit«128, wie wir ihn im täglichen Umgang erleben. Dieser Raumkonzeption einer Nutzungsperspektive stellt er den eher metrischen Vorstellungsraum als Medium von Darstellungen entgegen, der einer Planungsperspektive entspreche. In der folgenden Betrachtung skulpturaler Erweiterungen in den Raum und der sich daraus entwickelnden Erkundungsmöglichkeiten architektonischer Fragestellungen wird aufgrund der Besonderheiten des Raumbegriffs bzw. der Raumbegriffe überlegt, inwiefern im Zusammenhang mit den sich erweiternden Bezügen zwischen Skulpturen und Betrachtenden innerhalb verschiedener Betrachtungszeiträume unterschiedliche Raumdimensionen in den Vordergrund treten, die eine Parallelität oder Konvergenz skulpturaler und architektonischer Raumfragen bewirken. Vor dem Hintergrund diesbezüglich erkennbar werdender Tendenzen werden skulpturale Entwicklungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Erkundungen des idealen Raums betrachtet, hinsichtlich eines daran anschließenden Zeitraums ab den 1960er Jahren werden Erweiterungen in den realen Raum fokussiert und ab den 1980er Jahren stehen Erkundungen des sozialen Raums im Vordergrund der Betrachtung. Auf diese Weise werden architekturrelevante Erkundungsfelder des Skulpturalen erschlossen. Die Vorstellung dieser Erkundungsfelder hat das Ziel, aufzuzeigen, welche die Theorie und Praxis der Architektur betreffenden Fragestellungen an skulpturale Erkundungen anschlussfähig werden und so die Basis auch diskursiver Auseinandersetzungen mit Architektur bilden können. So stellen sich in skulpturalen Auseinandersetzungen mit idealen Räumen Fragen nach Gestaltungen zugrundeliegenden Prinzipien, die zu einem Einbezug naturwissenschaftlicher Überlegungen führen. In der Erkundung realer Räume erhalten kontextuelle Fragen wie die des Materials und des Ortes besondere Relevanz. In skulpturalen Erforschungen sozialer Räume gelangen architektursoziologische Problemstellungen in den skulpturalen Fragehorizont. 3.2.1 Moderne Skulptur: Skulpturale Erkundung des idealen Raums Eine grundlegende Basis skulpturaler Erkundungsmöglichkeiten architektonischer Fragestellungen bilden Beziehungen zwischen Skulptur und Raum, die sich zu Beginn der Moderne entwickeln. Umfassende Veränderungsprozesse des Raumbezuges dieses zeitlichen Kontexts sieht Gottfried Boehm in einem
128 Ebd., S. 16
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Zusammenhang zu technischen Neuerungen der Produktion und Fortbewegung am Ende des 19. Jh., die räumliche Erfahrungsmöglichkeiten einschränken. »Mit dem Schwinden der Selbstverständlichkeit dessen, was Raum ist, wächst der Plastik ein neues Bewusstsein ihrer Raumbeziehungen zu, steigt die Frage zum Thema der Künstlerreflexion und Werkkritik auf. Erst seit dem 19. Jh. wird das Verhältnis der Plastik zum Raum als ihr Basisproblem erkannt.«129
Eine bildhauerische Erkundung von Raumfragen wird nach Boehms Auffassung allerdings erst dann möglich, wenn die plastische Form nicht mehr einem ihr äußerlichen, meist dem Modell der menschlichen Gestalt entsprechenden Ideal nachgebildet werde. In Arbeiten der frühen Moderne, in denen ein abbildender Charakter in den Hintergrund trete, könne der Bezug zum Raum daher erstmals zur zentralen künstlerischen Problemstellung werden. Das Verhältnis der plastischen Form zum Raum lasse sich jetzt nicht mehr »als das negative und unvermittelte zwischen Ding und physikalischem Raum«130 beschreiben, vielmehr gehe es moderner Plastik darum, einen »plastischen Raum«131 zu konstituieren. Wie Rosalind Krauss darstellt, tendieren Skulpturen, »denen nun nicht mehr eine Funktion der Repräsentation und Markierung zukommt«132 und die somit keiner »Logik des Denkmals«133 mehr folgen, dazu, Sockelfragen bewusst zu stellen. Diese Auseinandersetzungen führen bei Constantin Brancusi erstmals zu Sockelgestaltungen, die zu Bestandteilen seiner Skulpturen werden. Die tendenzielle Sockellosigkeit der modernen Skulptur hat Auswirkungen auf ihren Raumbezug, der die Selbstverständlichkeit einer konkreten Verortung verliert und somit zum skulpturalen Thema werden kann. Hierzu trägt auch ein verändertes Verhältnis zur Architektur bei. »Wenn die moderne Skulptur seit Auguste Rodin nicht mehr der Architektur untergeordnet ist, also keine ornamentale oder monumentale Funktion mehr erfüllt, dann impliziert diese neu gefundene Unabhängigkeit für die Skulptur die Aufgabe, die Bestimmung ihres Standpunkts und die Formung des umgebenden Raums ganz alleine zu leisten.«134
129 G. Boehm: Plastik und plastischer Raum, S. 21 130 Ebd., S. 25-26 131 Ebd., S. 26 132 R. E. Krauss: Skulptur im erweiterten Feld, S. 335 133 Ebd. 134 Malika Maskarinec: »Körper und Grund«, in: Kunstmuseum Basel, Mendes Bürgi, Bernhard (Hg.), Sculpture on the Move. 1946-2016, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2016, hier S. 15
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Gleichermaßen als Folge der nun relevant werdenden Auseinandersetzung mit Raumfragen wie als deren weitere Bedingung können Auflockerungen der Volumina betrachtet werden, die, wie Carola Giedion-Welcker 1954 beobachtet, bis hin zu einer »Entmaterialisierung des einst statisch-kompakten Massivs«135 führen können. Ausgehend von kubistischen und konstruktivistischen Entwicklungen bewirke sie, dass die raumabweisende Blockhaftigkeit vormoderner Plastik durch raumoffene und raumgreifende Formgebungen ergänzt werde, es entfalte sich »eine Welt von raumumflossenen, raumbezogenen Gebilden«136. Neue Möglichkeiten des Raumbezugs werden jedoch nicht nur auf der Grundlage additiv-konstruierender Verfahren erkundet. Als subtraktiv arbeitender Bildhauer verbindet Henry Moore konvexe Formen verstärkt auch mit Wölbungen nach innen und Durchbrüchen, durch die er es dem Raum ermöglicht, von der Skulptur umschlossen zu werden. In ihren Tendenzen zur Auflösung und zur Überwindung des geschlossenen Volumens neigen moderne Plastiken allerdings dazu, sich weniger in einen realen, als in einen idealen Raum zu erweitern. Grund ist ihr Charakter eines in sich abgeschlossenen Werks, das sich von seiner konkreten Umgebung abgrenzt. Michael Fried stellt eine hierfür verantwortliche vorwiegende Selbstreferenzialität, anhand derer er die modernistische Skulptur von der Objekthaftigkeit minimalistischer Skulpturen abgrenzt, unter Bezugnahme auf die Stahlskulpturen Anthony Caros dar. Wie er feststellt, verleihen deren Elemente einander wechselseitig Bedeutung und bilden so eine in sich geschlossene syntaktische Struktur.137 Diese Eigenschaft führt dazu, dass der durch viele modernistische Skulpturen etablierte und erkundete Raum auch dann nicht dem realen Raum entspricht, wenn sich ihre konstruktiven Elemente von der Gegenständlichkeit empirischer Dinge nicht mehr zu unterscheiden scheinen. Skulpturale Erkundungen idealer architektonischer Räume Mit den vorgestellten Entwicklungen der Raumbezüge moderner Skulpturen in der ersten Hälfte des 20. Jh. geht eine umfassende Erweiterung ihrer Raumerkundungsmöglichkeiten einher, die mit einer Annäherung an architektonische Fragestellungen korrespondiert. Diese Erkundungen thematisieren Architektur zum Teil explizit, zum Teil werden aber auch architektonische Fragestellungen ohne einen ausdrücklichen Bezug zur Architektur in der Auseinandersetzung mit skulpturimmanenten Problemstellungen relevant. Dabei behalten die Arbeiten
135 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, XXIV 136 Ebd. 137 Vgl. M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit, S. 356-357
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ihre Selbstreferenzialität zwar bei, zeigen jedoch Parallelen zu außerhalb ihrer selbst gelegenen, architekturrelevanten Kontexten. Es handelt sich also in der Tendenz um Erkundungen unter den ›Laborbedingungen‹138 eines in sich abgeschlossenen Systems, die einerseits eine Vertiefung von spezifischen Fragestellungen der räumlichen Gestaltung ermöglichen, die sich andererseits aber von der architektonischen Realität als Erfahrungswelt der Betrachtenden mehr oder weniger deutlich abgrenzen. Eine Basis von Parallelen zwischen architektonischen und skulpturalen Raumfragen der Moderne kann darin erkannt werden, dass sowohl in der Architektur als auch in der Skulptur Raum nicht mehr in einem negativen Sinn als Abwesenheit eines körperlichen Volumens gedacht bzw. »übersehen«139, sondern als positive Größe betrachtet wird. Im bildhauerischen Arbeiten wird Raum wie bei Rudolf Belling zur »gewichtslosen Form […], die gebildet und gestaltet wird durch das sie begrenzende Material«140, oder wie bei Naum Gabo selbst zum Material, das gestaltet werden kann141. In der Architektur wird eine beginnende Hinwendung zum Raum bereits bei Gottfried Semper erkennbar, der diesen zwar nicht explizit thematisiert, der jedoch der Wand, die er als Raumbegrenzung konzipiert, einen zentralen architektonischen Stellenwert zuerkennt und somit die Aufmerksamkeit auf den Raum lenkt.142 Zur zentralen Problemstellung der Architektur werden Raumfragen insbesondere durch August Schmarsows Vorlesung Das Wesen der architektonischen Schöpfung (1894), in der er die Bewegung des Menschen in den Raum hinein als zentral für die
138 »Skulptur sollte ein architektonisches Problem sein, eine labormäßige Organisation des Verkehrs eine Stadtplanung als funktionaler Organismus; sie sollte aus realisierbaren Möglichkeiten der modernen Kunst, der Wissenschaft und der Technik resultieren, sie sollte ein Ausdruck des Strebens nach überindividueller Organisation der Gesellschaft sein.« Katarzyna Kobro: »Bemerkungen«, in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991a, S. 76-83, hier S. 76 139 A. Moravánszky: Die Wahrnehmung des Raumes, S. 129 140 Eduard Trier: Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann Verlag 1999, S. 109 141 Vgl. Margit Rowell (Hg.): Skulptur im 20. Jahrhundert. Figur Raumkonstruktion Prozess; [anlässl. d. Ausstellung »Qu’est-ce Que la Sculpture Moderne?« im Centre Georges Pompidou, Musée National d’ Art Moderne, Paris (3. Juli - 13. Oktober 1986)], München: Prestel 1986, S. 61 142 Vgl. A. Moravánszky: Die Wahrnehmung des Raumes, S. 126-127
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Wahrnehmung von Architektur betrachtet. Die Folgen für die Bedeutung des Raumes in der Architektur stellt er folgendermaßen dar: »Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in einer Kunst. Wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als Raumgestalterin bezeichnen.«143 Der Frage nach Gestaltungsmöglichkeiten des Raumes, die somit für Architektur und Skulptur gleichermaßen relevant wird, kann in der Bildhauerei der Moderne insbesondere dadurch nachgegangen werden, dass Skulpturen zu einer Auflösung ihrer Volumina tendieren. Eine beginnende Lösung vom geschlossenen Volumen ist bereits dann erkennbar, wenn, wie bei Arbeiten Auguste Rodins oder Medardo Rossos, basierend auf neuen Formen der Oberflächengestaltung »durch Licht und Schatten zuerst die plastische Masse angegriffen [wird] und sie dadurch in ihre größere Umwelt einströmen«144 kann. Erweitert werden die Parallelen zu architektonischen Raumfragen durch eine stärkere Durchdringung von Raum und Skulptur, die bis hin zu einer Bildung von Innenräumen gehen kann. Wie im Folgenden deutlich werden soll, ist eine solche allerdings ebenso wenig eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Skulpturen sich in der Erkundung räumlicher Gestaltungsmöglichkeiten architektonischen Fragestellungen annähern, wie eine Lösung von gegenständlichen oder figurativen Bezügen. Wie Markus Brüderlin anhand von Wilhelm Lehmbrucks Skulptur Gestürzter (1915/16) darlegt, führt hier eine Durchdringung von plastischer Form und Raum dazu, dass auch in dieser figurativen, auf einer bewussten Ebene kaum Architekturassoziationen weckenden Arbeit Analogien zu architektonischen Raumfragen erkennbar werden. Abb. 34: Wilhelm Lehmbruck, Gestürzter, 1915/16
143 A. Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, S. 154 144 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, XXV
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So formen die Körperglieder der als Denkmal für gefallene Soldaten konzipierten Darstellung einer sich mit dem Kopf, den Unterarmen und Unterschenkeln auf dem Boden abstützenden männlichen Figur einen Hohlraum. Unterstützt durch eine Zergliederung in einzelne Elemente, die durch die Bewegung des Stürzens impliziert wird, verweist die Skulptur auf eine tektonische, raumbildende Grundstruktur, wie sie durch ein auf Stützen stehendes Dach gebildet wird.145 Als gestaltet kann der plastische Raum der Skulptur insofern betrachtet werden, als er durch die zum Ausdruck kommende Bewegung des Stürzens eine dynamische Wirkung erhält. In einer Gegenüberstellung mit Frank Lloyd Wrights House Fallingwater (1935-1939) wird deutlich, dass eine solche auch in der Architektur der Moderne angestrebt wird. Mit Hilfe auskragender Elemente wird hier der Eindruck frei gegeneinander verschieblicher horizontaler Ebenen erreicht. Dieses von Wright als ›destruction of the box‹ bezeichnete Entwurfsprinzip führt zu einer Auflösung des geschlossenen Baukörpers zugunsten der Möglichkeit, »den Raum dort hereinkommen – oder ihn hinausgehen – zu lassen«146. Abb. 35: Frank Lloyd Wright, Fallingwater, Edgar J. Kaufmann Haus, Mill Run, Pennsylvania, 1934-37
145 Markus Brüderlin: »Die Eroberung des Raumes 1910-1930. Kubismus De Stijl Bauhaus«, in: Markus Brüderlin/Friedrich T. Bach (Hg.), ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 96-113, hier S. 98 146 Frank Lloyd Wright: Die Zerstörung der Schachtel, zitiert nach A. Moravánszky, S. 132
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Eine wie beim Gestürzten erkennbare Auseinandersetzung mit architekturrelevanten Raumfragen wird auch in kubistischen Skulpturen deutlich, die Gegenständliches zum Ausgangspunkt wählen, ohne es jedoch abzubilden. Sie basieren auf einer zunächst malerischen Vorgehensweise, bei der Bildgegenstände zerlegt und neu zusammengesetzt werden. Aus der Sicht Sigfried Giedions führt sie zu »plastischen Methoden der neuen Raumkonzeption«147. Die kubistische »Darstellung von Objekten, die gleichzeitig von verschiedenen Gesichtswinkeln gesehen werden«148 habe zur Folge, dass in dieser neuen Raumkonzeption die räumliche Dimension mit einer zeitlichen verbunden werde. Kubistische Skulpturen entwickeln sich über die reliefartige Assemblage, aus der häufig auch die Verwendung flächiger Materialien und der mit ihnen möglichen additivkonstruierenden Verfahren resultiert. So konstruiert Henri Laurens Le compotier de raisins (1918), die insofern noch reliefartige Eigenschaften hat, als sie eine flache und unbearbeitete Rückseite aufweist, aus teilweise gebogenem Blech sowie dünnen, in geometrische Formen gesägten Sperrholzplatten und Brettern. Abbildung 36: Henri Laurens, Le compotier de raisins (Traubenschale),1918
147 S. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 278 148 Ebd., S. 281
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Zum Zentrum der Arbeit hin, in dem der gegenständliche Bezug zu einer Schale auf einem kegelförmigen Fuß erkannt werden kann, nimmt die komplexe Verschränkung der flächigen Elemente, die zum Teil Einschnitte aufweisen, zu, nach außen löst sich die Geschlossenheit der Form dagegen auf, indem ihre Elemente in unterschiedliche Richtungen des umgebenden Raum hineinragen. Auf diese Weise zeigt die Plastik gleichzeitig mehrere Perspektiven ihres Gegenstands und bildet sowohl allseitig umschlossene Hohlräume als auch zum umgebenden Raum geöffnete, meist spitzwinklige Nischen, durch die eine Verzahnung mit dem Raum bewirkt wird. Durch die Bewegung des Zerlegens und Zusammenfügens, die an der Konstruktion, unterstützt durch eine unterschiedliche Bemalung ihrer Elemente, wahrgenommen werden kann, wird der Bezug zum Raum dynamisiert. Wie Laurens erläutert, sind die Gestaltung von plastischem Körper und Raum gleichberechtigte Ziele seiner Arbeit: »Die Hohlräume müssen in einer Plastik ebenso viel Bedeutung haben wie die Volumen. Die Plastik ist vor allem Besitzergreifung des Raumes, eines durch Formen begrenzten Raumes.«149 Anhand des Zitats wird ein grundlegender Wandel des bildhauerischen Interesses »von der Abbildung des äußerlich Sichtbaren zur inneren Struktur einer komplexen räumlichen Situation«150 deutlich. Damit nähern sich die skulpturalen Raumerkundungsmöglichkeiten des Kubismus denen der Architektur ihres zeitlichen Kontexts an, die, wie Daniel-Henry Kahnweiler 1920 darstellt, als angewandte Kunst weniger auf die Erfahrung visueller Stimuli Bezug nimmt, als vielmehr auf der »reinen inneren Vision«151 des Architekten basiert. Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen ergeben sich auch aus der Besonderheit kubistischer Arbeiten, verschiedene Perspektiven eines Gegenstandes simultan zu zeigen, die somit aus einem Blickwinkel erfasst werden können. Wie im Kontext der Betrachtung von sich erweiternden Bezügen von Skulpturen und Betrachtenden umfassender dargestellt, erfordert die Wahrnehmung dreidimensionaler Objekte Bewegung, damit verschiedene Perspektiven tatsächlich eingenommen und die gewonnenen Eindrücke zu einem Gesamtkonzept zusam-
149 Henri Laurens, zitiert nach E. Trier: Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, S. 102 150 Margit Rowell: »Kubismus und Futurismus«, in: Margit Rowell (Hg.), Skulptur im 20. [zwanzigsten] Jahrhundert. Figur Raumkonstruktion Prozess; [anlässl. d. Ausstellung »Qu’est-ce Que la Sculpture Moderne?« im Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris (3. Juli - 13. Oktober 1986)], München: Prestel 1986a, S. 23-25, hier S. 23 151 Daniel-Henry Kahnweiler: »The Essence of Sculpture«. (1920), in: Jon Wood/David Hulks/Alex Potts (Hg.), Modern sculpture reader, Leeds: Henry Moore Institute 2007, S. 71-79, hier S. 72
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mengefügt werden können. Um Raumbezüge dreidimensionaler Objekte in ihrer Gesamtheit zu erfassen, ist eine Vorstellungsbildung erforderlich, in der aus unterschiedlichen Perspektiven aufgenommene Eindrücke zusammengefasst werden. Kubistische Skulpturen entwickeln Möglichkeiten, Ergebnisse dieser Vorstellungsbildung vorwegzunehmen, wodurch Raumbezüge in besonderer Weise erkundet werden können. Dies gilt ebenfalls für konstruktivistische Plastiken, deren Gesamtstruktur »durch Geöffnetsein und Transparenz in einem simultanen Erfassen von Innen und Außen aufgenommen werden kann.«152 Möglich ist dies zum Beispiel in Naum Gabos Säule (1922/23).
Abbildung 37: Naum Gabo, Säule, 1923/1975
Hauptsächlich aus durchsichtigem Acrylglas bestehend, gibt sie »den Blick auf die innere Struktur frei, auf den Kern der Konstruktion eines virtuellen Raumes, der den kontinuierlichen universalen Raum auffängt und rhythmisiert.«153 Aus Sigfried Giedions Sicht sind entsprechende skulpturale Erkundungen für die moderne Architektur insofern von großer Bedeutung, als sie die Entwicklung neuer Möglichkeiten anstoßen, um durch komplexe Bezüge horizontaler und vertikaler Elemente Verbindungen von Innen- und Außenräumen konzipieren zu können.154 Aufgrund dieser Entwicklungen kann in der Architektur eine Durchlässigkeit erzielt werden, die über die Verwendung transparenter Baumaterialien
152 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, XXV 153 M. Brüderlin: Die Eroberung des Raumes, S. 106 154 Vgl. S. Giedion: Raum, Zeit, Architektur, S. 283
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hinausgeht. Eine solche »Transparenz im übertragenen Sinne«155, die auch kubistische Werke auszeichnet, finden Colin Rowe und Robert Slutzky in Le Corbusiers Villa Stein in Garches (1921) verwirklicht, in der mehrere Raumschichten das Volumen horizontal und vertikal zu schneiden scheinen. Diese Raumschichten »beanspruchen alle von Zeit zu Zeit die Aufmerksamkeit; und diese Rasterung des Raumes resultiert in ununterbrochener Veränderung der Interpretation«156. Abbildung 38: Le Corbusier, Villa Stein, Garches, 1921
Damit entspricht das Gebäude den Vorstellungen, die László Moholy-Nagy 1929 in vom material zur architektur entwickelt: »raumgestaltung ist heute [...] ein verwobensein von raumteilen, die meist in unsichtbaren, aber deutlich spürbaren bewegungsbeziehungen aller dimensionsrichtungen in fluktuierenden kräfteverhältnissen verankert sind.«157 Mathematisierungen in Skulptur und Architektur Eine weitere Annäherung bildhauerischen Arbeitens an architektonische Fragestellungen lässt sich in der vollständigen Lösung von gegenständlichen Bezügen erkennen, durch die sich konstruktivistische Positionen von kubistischen sowie futuristischen unterscheiden. Auch neoplastizistischen Skulpturen geht es um die
155 Rowe, Colin, Slutzky, Robert: »Transparenz (Ausschnitt)«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 213-227, hier S. 213 156 Ebd., S. 219 157 L. Moholy-Nagy/H. M. Wingler/O. Stelzer: Von Material zu Architektur, S. 211
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Suche nach Raumbezügen einer konkreten Kunst, die Theo van Doesburg als »Sichtbarmachung der ästhetischen Akzente einer Idee und ihre Wahrnehmbarkeit«158 definiert. Eine in ihrem Kontext wichtige Strategie ist der Einbezug von Grundlagen aus unterschiedlichen Bereichen der Mathematik, insbesondere der Geometrie. In seiner Plastik Konstruktion von Volumen aus den Beziehungen eines einem Kreise eingeschriebenen und umschriebenen Quadrats (1924) untersucht Georges Vantongerloo Möglichkeiten, räumliche Beziehungen eines plastischen Körpers auf der Basis der im Titel der Arbeit dargestellten Konstruktionsweise herzustellen. Abbildung 39: Georges Vantongerloo, Konstruktion von Volumen aus den Beziehungen eines einem Kreise eingeschriebenen und umschriebenen Quadrats, 1924
158 Zitiert nach Ulrike Bestgen: »Max Bill und die Avantgarde des 20. Jahrhunderts einige Anmerkungen«, in: Getulio Alviani/Max Bill (Hg.), Max Bill ohne Anfang, ohne Ende. Eine Retrospektive zum 100. Geburtstag des Künstlers, Designers, Architekten, Typografen und Theoretikers, Zürich: Scheidegger & Spiess 2008, S. 67-74, hier S. 67
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Aus den Schnittpunkten eines Quadrats und zweier konzentrischer Kreise, die mithilfe einer Konstruktionszeichnung ermittelt werden, ergeben sich – in die Dreidimensionalität übertragen die Eckpunkte verschiedener geometrischer Teilkörper, die miteinander verzahnt die Gesamtform der aus Gips erstellten Plastik bestimmen. Diese zeigt vielfältige Vor- und Rücksprünge mit ausschließlich horizontalen und vertikalen Kantenverläufen, die eine Durchdringung von Raum und Körper bewirken, ohne jedoch Durchbrüche aufzuweisen. Ein Einbezug mathematischer Grundlagen ist auch für weitere der prismatischen, zunehmend raumoffener werdenden Arbeiten Vantongerloos kennzeichnend, für die er geometrische Konstruktionen oder Kurvenfunktionen als Ausgangspunkt wählt. Wie Vantongerloo darstellt, dienen ihm die mathematischen Operationen als Werkzeuge, die er für seine Arbeit ebenso nutzt wie seine Intuition159, um auf der universellen Ideen basierende Bezüge zwischen Masse und Raum herzustellen: »Mathematics is only the means, the instrument, used as one uses hammer and chisel to cut marble. […] Mathematics help us to understand the relations existing between geometrical forms«160. Auch Naum Gabo nimmt in seinen Arbeiten Bezug auf mathematische Grundlagen. So interessiert er sich im Kontext seiner Formfindungen der 1930er und 40er Jahre für Modelle, anhand derer komplexe mathematische Ideen veranschaulicht werden.
Abbildung 40: Naum Gabo, Linear Construction in Space No. 1, 1942/43 Den Einbezug der anhand ihrer gewonnenen Eindrücke sieht er als wichtige Basis eines künstlerischen Schaffens, in dem eigene ästhetische Inventionen parallel zu einer als objektiv betrachteten Wissenschaftlichkeit entstehen. Erkennbare
159 Vgl. Dietrich Clarenbach: Grenzfälle zwischen Architektur und Plastik im 20. Jahrhundert, München: Frank 1969, S. 113 160 Georges Vantongerloo, zitiert nach ebd.
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formale Parallelen zwischen den Modellen und Gabos Arbeiten bestehen insbesondere in der Verwendung von saitenartig gespannten Nylonfäden, mit deren Hilfe, wie in Linear Construction in Space No. 1 (1942/43) erkennbar, komplexe dreidimensionale, den Raum durchwirkende Strukturen entstehen.161 Wie aus seiner Äußerung »Es ist ebenso wenig Mathematik in meinem Werk als Anatomie in einer Figur Michelangelos.«162 deutlich wird, bilden die Modelle allerdings lediglich einen Ausgangspunkt seines Arbeitens. Wie Gabo verbindet auch Max Bill in seinen konkreten Plastiken eine »›mathematische Denkweise‹ mit der freien künstlerischen Sensibilität«163. Bekanntes Beispiel dieses Vorgehens ist seine Skulptur Unendliche Schleife (1935-37), deren Form auf einer der topologischen Geometrie zuzuordnenden Figur, dem Möbiusband, basiert.
Abbildung 41: Max Bill, Unendliche Schleife 1935, Version IV von 1960/61
Als Fläche, die über nur eine Seite verfügt, stellt die Idee dieser Figur das Vorstellungsvermögen vor eine Herausforderung, während es Bills Skulptur auf besondere Weise gelingt, sie erfahrbar werden zu lassen. Zum Hintergrund seines Interesses an mathematischen Grundlagen seiner bildhauerischen Arbeit erklärt Bill: »Was ich anstrebe ist, eine form oder einen ausdruck zu finden, der so wenig wie möglich persönlich ist, ich möchte also etwas machen, das so objektiv wie möglich ist.«164 161 Hammer, Martin/Lodder, Christina: »Hepworth and Gabo: a Constructive dialogue«, in: David Thistlewood/Barbara Hepworth (Hg.), Barbara Hepworth, reconsidered, Liverpool: Liverpool Univ. Press [u.a.] 1996, S. 109-134, hier S. 114-115 162 Naum Gabo: On constructive Realism, zitiert nach C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, S. 166 163 C. Giedion-Welcker, Plastik des XX. Jahrhunderts., S. 200 164 Max Bill: »Originaltöne«. Originalzitate aus dem Film bill das absolute augenmass von Erich Schmid, in: Getulio Alviani/Max Bill (Hg.), Max Bill ohne An-
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Eine solche, mehr oder weniger starke Tendenz zu einer »entpersönlichte[n], allgemeine[n] Substanz und Prägung«165, die bei den vorgestellten Bildhauern als Ergebnis des Einbezugs objektivierbarer Grundlagen in das künstlerische Schaffen beobachtet werden kann, bewirkt aus der Sicht Giedion-Welckers eine »starke innere Beziehung zu den Kernproblemen von Natur und Architektur«166. Eine Nähe zu Herangehensweisen in der Architektur kann u.a. darin erkannt werden, dass in deren Kontext mathematische Funktionen häufig als Basis von Proportionierungen genutzt werden. Nach der Auffassung Le Corbusiers erfüllen z.B. »Maß-Regler«167, die er anhand von geometrischen Konstruktionen veranschaulicht, die Funktion einer »Selbstversicherung gegen die Willkür. Sie befriedigen den Geist.«168 Ebenso wie in den vorgestellten bildhauerischen Positionen geht es also aus Le Corbusiers Sicht auch im architektonisches Entwerfen um die Suche nach einer Balance zwischen künstlerischer Autonomie und einer Orientierung an objektivierbaren Grundlagen.169 Auch in der zeitgenössischen Architektur ist die in modernen bildhauerischen Auseinandersetzungen mit Raumfragen bedeutsame Suche nach Verbindungsmöglichkeiten subjektiven Empfindens und universeller Ideen nach wie vor relevant. Für die Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron ist »Entwerfen eine Suche nach der verborgenen Geo-
fang, ohne Ende. Eine Retrospektive zum 100. Geburtstag des Künstlers, Designers, Architekten, Typografen und Theoretikers, Zürich: Scheidegger & Spiess 2008, S. 182, hier S. 182 165 Carola Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts. Volumen- und Raumgestaltung, Stuttgart: Hatje 1955, XXI. 166 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, XXI 167 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur: 1922 (= Bauwelt Fundamente), Berlin: Ullstein 1963a, S. 62 168 Ebd., S. 62-63 169 Wie Alberto Pérez Gómez überlegt, wird eine solche Orientierung in architektonischen Entwicklungen, die diese in erster Linie als Technik definieren, überbetont: »The poetical content of reality, the a priori of the world, which is the ultimate frame of reference for any truly meaningful architecture, is hidden beneath a thick layer of formal explanations. Mathematical logic has been substituted for metaphor as a model of thought.« Alberto Pérez Gómez: »Introduction to Architecture and the crisis of modern science«, in: K. M. Hays (Hg.), Architecture theory since 1968, Cambridge, Mass: The MIT Press ©1998, S. 462-475, hier S. 468
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metrie der Natur und einem damit verbundenen geistigen Prinzip.«170 Sie »verdeutlichen, dass sich um die Frage nach der Rolle der Geometrie in der Architektur – trotz mathematischer Präzision – ein diffuses, doch produktives Bedeutungsspektrum aufspannen kann, das von Metaphern der Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit sowie von Ordnung und Unordnung gleichermaßen handelt.«171 Exakten Konstruktionen kommt in der Architektur darüber hinaus aus konstruktiven Gründen eine zentrale Bedeutung zu: »Um richtig zu konstruieren, um Kräfte richtig zu verteilen, um das Werk haltbar und zweckmäßig zu machen, sind feste Maße die Voraussetzung.«172 Durch die Verwendung industriell hergestellter, standardisierter Baumaterialien und präfabrizierter Bauteile nimmt die Bedeutung maßlicher Passungen auf der Basis mathematischer Grundlagen in der Moderne weiter zu. Skulptur, Architektur und Sozialutopie Wie Carola Giedion-Welcker 1937 feststellt, kann der Entwicklungsprozess der modernen Kunst als ein »aktiver Bestandteil des Zeitganzen«173 erkannt werden. Wie bereits gezeigt wurde, wird eine auf dieser Entwicklung beruhende Verbindung zwischen Skulptur und Architektur unter anderem darin deutlich, dass skulpturale Erkundungen von Raumoffenheit, Transparenz und Durchdringung implizit auf architektonische Fragestellungen und Herangehensweisen Bezug nehmen. Skulpturale Entwicklungen der Moderne korrespondieren darüber hinaus aber auch mit einem expliziten Interesse an einer oft umfassend begriffenen Architektur174, das bei Bildhauerinnen und Bildhauer insbesondere im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erkannt werden kann. Dieses Interesse äußert sich einerseits in theoretischen Überlegungen, die sich unter anderem den verschiedenen künstlerischen Manifesten des zeitlichen Kontextes entnehmen lassen, andererseits darin, dass sich Bildhauerinnen und Bildhauer in künstlerischen Grup-
170 Georg Vrachliotis: »Strukturelles Denken als Werkzeug und Weltbild«, in: Cornelie Leopold (Hg.), Über Form und Struktur Geometrie in Gestaltungsprozessen, Wiesbaden: Springer Vieweg 2014, S. 13-19, hier S. 13 171 Ebd. 172 Le Corbusier: Ausblick auf eine Architektur, S. 63 173 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, XXI 174 Erkennbar wird ein solcher Architekturbegriff z.B. bei Naum Gabo: »Unter Architektur verstehe ich nicht nur das Bauen von Häusern, sondern das gesamte Gebäude unseres täglichen Daseins.« Zitiert nach E. Trier, S. 298
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pierungen mit Architekten zusammenschließen oder sich, wie z.B. auch Georges Vantongerloo175, mit eigenen architektonischen Entwürfen befassen. Das explizite bildhauerische Interesse an Architektur erweitert die skulpturalen Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen insofern, als formalen Raumfragen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und Utopien nachgegangen wird. Diese Tendenz korrespondiert mit Überlegungen zu einer »Verschmelzung von Kunst und Leben«176, die u.a. in der de Stijl-Bewegung, insbesondere aber am Bauhaus angestellt werden. Letzterem geht es dabei um die Schaffung einer Einheit der Künste mit dem gemeinsamen Ziel des Bauens, auf deren Grundlage die »schöpferische Konzeption der Zukunftskathedrale, die wieder alles in einer Gestalt sein wird, Architektur, Plastik und Malerei«177, möglich werden soll. Auch im Futurismus sind Erkundungen räumlicher Fragestellungen durch avantgardistische Vorstellungen motiviert, nach denen der Kunst die Aufgabe zukommt, gegenwärtige und zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen im Medium der verschiedenen Künste umfassend mitzugestalten.178 Überlegungen zu Skulptur und Architektur treffen sich hier in der u.a. von Antonio Sant’Elia erhobenen Forderung nach einer vollständigen Abkehr von tradierten Herangehensweisen, an deren Stelle eine Orientierung an Errungenschaften des technischen Fortschritts und die Verwendung industriell gefertigter Materialien treten soll.179 Ein Ziel futuristischer Auseinandersetzungen mit raum-zeitlichen Fragestellungen ist die Schaffung von Räumen, die in ihrer Dynamik einer zeitgenössischen Lebensweise und Gemütslage entsprechen sollen. Ebenfalls in Verbindung zu einer wenngleich politischer ausgerichteten Sozialutopie stehen konstruktivistische Auseinandersetzungen mit Raumfra-
175 Vgl. Angela Thomas: Biografie zu Georges Vantongerloo. http://www.maxbill.ch/downloads/vantongerloo_biografie.pdf vom 04.03.2017, S. 7. 176 Theo van Doesburg: »Der Wille zum Stil (Ausschnitte)«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 61-64, hier S. 64 177 Walter Gropius/Bruno Taut/Adolf Behne: »Der neue Baugedanke (Ausschnitte)«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 408-409, hier S. 409 (Hervorhebung im Original) 178 Vgl. M. Rowell: Kubismus und Futurismus, S. 24 179 Vgl. Antonio Sant’Elia: »Die futuristische Architektur«, in: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.), Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz ©2004, S. 69-72, hier S. 70
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gen.180 Wenn in ihrem Rahmen zunehmend offener werdende, sich dynamisch mit dem Raum verschränkende Skulpturen entstehen, ist dies nicht nur »Ausdrucksform der Modernität und des dadurch ermöglichten technologischen Fortschritts«181, sondern korrespondiert auch mit einer politischen Idee. Transparenz und Offenheit stehen in deren Kontext »als Metapher für die offene, dynamische, klassenlose Gesellschaft der neuen Welt«.182 Sowohl im Bereich der Skulptur als auch im Bereich kaum verwirklichter konstruktivistischer Architekturprojekte geht es jedoch nicht nur darum, gesellschaftliche Utopien zum Ausdruck zu bringen. Vielmehr wird ebenso das Ziel verfolgt, die Entwicklung einer dieser Utopie entsprechenden Gesellschaft zu unterstützen. Für Katarzyna Kobro, die mit konstruktivistischen Ideen im Rahmen ihres Studiums in Kontakt kommt, sich aber unter anderem auch mit der Position Vantongerloos auseinandersetzt183, bilden architektonische Fragestellungen und deren Verknüpfung mit gesellschaftspolitischen Idealen einen zentralen Bezugspunkt ihrer plastischen Raumerkundungen. Auf der Basis ihres im Kontext der Überlegungen zu den Entwicklungen skulpturaler Bezüge zu den Betrachtenden bereits vorgestellten expliziten, gleichzeitig aber spezifisch skulpturalen Interesses an Architektur entwickelt sie eine Position, die skulpturale Raumerkundungsmöglichkeiten der Moderne einerseits bündelt184, andererseits aber auch entscheidend weiterentwickelt185. Ziel der ihre Materialität reduzierenden RaumKonstruktion 4 (1929) (vorgestellt in Kap. 3.1.2, Abb. 28) ist eine Komposition ihrer Elemente, die mit einfachsten Mitteln Raum gestaltet, dabei aber eine Einheit mit ihm bildet. Eine solche Einheit, die der Skulptur die Monumentalität ei-
180 Vgl. Margit Rowell: »Konstruktivismus«, in: Margit Rowell (Hg.), Skulptur im 20. Jahrhundert. Figur Raumkonstruktion Prozess, München: Prestel 1986, S. 61-62, hier S. 61 181 Ebd. 182 Vgl. ebd., S. 62 183 Vgl. Paulina Kure-Maj: »Katarzyna Kobro. Die Baumeisterin«, in: Susanne MeyerBüser/Ralf Burmeister (Hg.), Die andere Seite des Mondes. Künstlerinnen der Avantgarde, Köln, Düsseldorf: DuMont; Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 2011, S. 182-193, hier S. 192 184 Vgl. Ursula Grzechca-Mohr: »Kobros unistische Plastiken. Die Synthese avantgardistischer Konzepte«, in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991, S. 35-46 185 Vgl. Y.-A. Bois: Strzeminski und Kobro, S. 29
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nes sich vom Raum trennenden Fremdkörpers nimmt186, lässt sich nach Kobros Auffassung »nicht allein mit rein plastischen Mitteln verwirklichen«187, sondern bedarf einer Orientierung an den Gesetzmäßigkeiten des Raumes. Diese Gesetzmäßigkeiten basieren nach Kobros Auffassung auf einem »raum-zeitlichen Rhythmus«188, der »die Einzelformen sowohl aneinander als auch in die Umwelt«189 einbindet. Wie Yve-Alain Bois insbesondere unter Bezugnahme auf Katarzyna Kobros und Władysław Strzemińskis L’Espace uniste überlegt, besteht eine Weiterentwicklung der skulpturalen Position Kobros gegenüber den konstruktivistischen Arbeiten ihres zeitlichen Kontextes darin, dass das Konzept des unistischen Raums einen idealen Raum bereits mit dem Erfahrungsraum verbindet190, wodurch sie diesbezüglichen Entwicklungen v.a. der 1960er Jahre bereits in Teilen vorausgreift, darüber hinaus aber auch auf Architektur bezogene Überlegungen der Einfühlungsästhetik auf die Skulptur überträgt. Der Raum, mit dem ihre Skulpturen eine Einheit bilden sollen, bildet gleichzeitig eine Einheit mit den ihn erfahrenden, sich in ihm bewegenden Menschen: »L’union de l’homme et de l’espace est l’action de l’homme dans l’espace. Nous arrivons à connaître l’espace par notre action. Les directions tracées par l’activité de l’homme dans l’espace sont: la verticale de la station de l’homme et de tout objet, l’horizontale de l’environnement qu’il rencontre sur chacun de ses deux cotés, et la profondeur, devant lui, du mouvement en avant.«191
Um eine Einheit von skulpturalem Raum und so verstandenem Erfahrungsraum zu schaffen, greifen Kobros Skulpturen die drei Raumachsen auf. Hierdurch erfolgt nach Kobros und Strzemińskis Terminologie eine architectonisation der Skulptur, auf deren Basis diese zu einem kondensierten Ausdruck des Raumes192 zu werden vermöge. Anders als ebenfalls am Erfahrungsraum interessierte Ar-
186 Vgl. ebd., S. 28 187 K. Kobro/W. Strzeminski: Raumgestaltung, S. 78 188 Katarzyna Kobro: »Raumgestaltung. Berechnungen eines raum-zeitlichen Rhythmus«, in: Katarzyna Kobro/Jaromir Jedliński (Hg.), Katarzyna Kobro. 1898-1951 [16. Juni bis 25. August 1991, Städtisches Museum Abteiberg, Mönchengladbach], Köln: Ed. Wienand 1991, S. 77-83, hier S. 78 189 Ebd. 190 Vgl. Y.-A. Bois: Strzeminski und Kobro, S. 28 191 Katarzyna Kobro/Władisław Strzeminski: L’Espace uniste. Ecrits du constructivisme polonais, Lausanne: L’Age d’Homme 1977a, S. 103-104 192 Vgl. ebd., S. 104
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beiten, die ab den 1960er Jahren entstehen, agieren Kobros Arbeiten nach wie vor in einer idealen Sphäre, indem sie überindividuelle Erfahrungsgrundlagen fokussieren, von individuellen Erfahrungen, die die Künstlerin als »psychologische Emotion«193 ausdrücklich aus ihrem skulpturalen Schaffen ausklammert, jedoch absehen. Der für Katarzyna Kobros skulpturales Schaffen grundlegende Zusammenhang von sozialutopischem Anspruch und einem intrinsischen skulpturalen Architekturinteresse wird von ihr folgendermaßen dargestellt: »Skulptur sollte ein architektonisches Problem sein, eine labormäßige Organisation des Verkehrs, eine Stadtplanung als funktionaler Organismus; sie sollte aus realisierbaren Möglichkeiten der modernen Kunst, der Wissenschaft und der Technik resultieren; sie sollte ein Ausdruck des Strebens nach überindividueller Organisation der Gesellschaft sein.«194
Mit der Erweiterung ihrer skulpturalen Erkundungen ins Architektonische verbindet Kobro eine gesellschaftliche Relevanz der Skulptur, die auf der reziproken Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft basiert und greift mit deren Erkennen architektursoziologischen Erkenntnissen des späten 20. Jahrhunderts voraus: »L’architectonisation crée des possibilités nouvelles non seulement plastiques, comme il semblerait, mais également sociales car l’architecture modifie le système social tout comme le système social modifie l’architecture.«195 Sozialutopische Überlegungen, die für skulpturale Auseinandersetzungen mit Fragestellungen idealen Raums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kennzeichnend sind, sind auch für Architekturtheorie und Praxis des gleichen Zeitraums von Bedeutung. Diesbezügliche Parallelen und Konvergenzen architektonischer und skulpturaler Entwicklungen weisen auf eine gegenseitige Einflussnahme und Relevanz beider Bereiche hin. Hintergrund eines im zeitlichen Kontext wachsenden architektonischen Interesses an gesellschaftlichen Fragestellungen sind Entwicklungen von Großstädten als Folge der Industrialisierung. In ihnen leben Menschen aus Architektensicht als uferlose »Masse«196 zusammen, an die Stelle gewachsener Gemeinschaften treten soziale Strukturen, die durch
193 K. Kobro, Die Skulptur und der Körper, S. 74 194 K. Kobro, S. 76 195 K. Kobro/W. Strzeminski: L’espace uniste, S. 20 196 David Kuchenbuch: Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert (= Histoire, Band 13), Bielefeld: transcript Verlag 2010, S. 19
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ein bloßes Nebeneinander gekennzeichnet sind.197 Eine Aufgabe der Architektur wird darin erkannt, bauliche Strukturen zu schaffen, die in der Lage sind, diese als »Krise der Gemeinschaft«198 wahrgenommene Situation zu überwinden. Hierzu sollen Abläufe des täglichen Lebens und des sozialen Zusammenlebens in sinnvoller und der Gemeinschaft förderlicher Weise strukturiert werden. Der sozialutopische Anspruch, mit dem eine Tendenz zur Überhöhung der Planungsverantwortung ins Demiurgische korrespondiert, kommt besonders prägnant in Le Corbusiers Ausblick auf eine Architektur zum Ausdruck, der mit seinen ›Leitsätzen‹ und ›Mahnungen‹ in dem Ausruf »Baukunst oder Revolution«199 kulminiert. Skulpturale und architektonische Erkundungen plastischer Raumgestaltungsmöglichkeiten Ein weiteres Feld, in dem skulpturale Positionen der Moderne Bezüge zum Architektonischen herstellen, in dem gleichermaßen aber auch architektonische Annäherungen an skulpturale Fragestellungen beobachtet werden können, betrifft Fragen zu Verbindungen zwischen Körper und Raum, die mit Bezügen zwischen innen und außen unmittelbar zusammenhängen. Wie im Folgenden vor allem anhand von Arbeiten Henry Moores und Katherine Hepworths gezeigt werden soll, referieren auch in diesem Feld modernistische skulpturale Positionen auf der Basis skulpturimmanenter Fragestellungen auf Architekturerfahrungen, wobei auch diese Referenzen vorwiegend auf einer Metaebene verbleiben. Ein architektonisches Interesse an Verbindungen zwischen Körper und Raum korrespondiert mit Fragen der Transparenz als räumlicher Durchdringung, deren skulpturalen Erkundungsmöglichkeiten und sozialutopischen Implikationen im vorangegangenen Abschnitt bereits nachgegangen wurde. Es basiert nicht zuletzt auf der Abkehr von einem architektonischen Denken, dass die Fassade als von den Innenräumen weitgehend unabhängige Fläche konzipiert. Auf der Suche nach Möglichkeiten, um dieses ›Prinzip Fassade‹ zu überwinden, entwickelt sich parallel zu den vorgestellten Strategien der Öffnung und tendenziellen Entmaterialisierung ein Interesse am plastischen Volumen der Architektur. Eine »neue Baukunst« soll aus Kasimir Malevitschs Sicht »anders sein als die bisherige Architektur, die nur zweidimensional denkt, die nur die Fassade gestaltet, die anderen Seiten aber vernachlässigt und den räumlichen Körper nicht als solchen
197 Vgl. ebd. 198 Ebd. 199 Le Corbusier, S. 195
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sieht.«200 Architektur wird vor diesem Hintergrund ebenfalls vor allem als raumbildend betrachtet, allerdings verschiebt sich der Fokus der Betrachtung architektonischer Raumfragen. Körpergestaltung tritt nun nicht mehr so sehr als Mittel zum Zweck der Raumgestaltung in den Hintergrund, sondern wird als Bedingung, damit Raum überhaupt und in einer bestimmten Weise in Erscheinung treten kann, stärker in den Blick genommen. Vor diesem Hintergrund wird das plastische Volumen der Architektur im Zusammenhang mit dem umschlossenen und umgebenden Raum betrachtet, wodurch Fragen nach möglichen Verhältnissen von Innen und Außen in den Fokus geraten. Das Interesse am plastischen Volumen führt zu einer Annäherung an die Plastik, die bis zum Beginn der Moderne vorwiegend geschlossene Volumina hervorbringt, weshalb sie in diesem zeitlichen Kontext z.B. von August Schmarsow oder László Moholy-Nagy noch als Körperbildnerin von der raumbildenden Architektur unterschieden werden kann.201 Durch Erfahrungen mit Körperbildung, die in der traditionellen Bildhauerei vor allem in Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur gewonnen werden, verfügen Bildhauerinnen und Bildhauer mit klassischer Ausbildung über eine Expertise in plastischen Fragen, die nun aus architektonischer Perspektive relevant werden kann. Der Zusammenhang zwischen dem Inneren einer Form und ihrer Oberfläche, der in diesem Kontext ebenfalls in den Fragehorizont architektonischer Überlegungen tritt, wird in der Skulptur nicht erst dann relevant, wenn Skulpturen Höhlungen aufweisen und somit raumbildend werden. Vielmehr spielt er, wie Auguste Rodin in dem folgenden Zitat darstellt, auch bei der Arbeit an vollplastischen Skulpturen eine wichtige Rolle. »Instead of imagining the different parts of a body as surfaces more or less flat, I represented them as projectures of interior volumes. I forced myself to express each swelling of the torso or of the limbs the efflorenscence of a muscle or of a bone which lay deep beneath the skin. And so the truth of my figures, instead of being merely superficial, seems to blossom from within to the outside, like life itself.«202
200 Kasimir Malewitsch, zitiert nach Marta Herford (Hg.): (un)möglich! Künstler als Architekten, Herford 2015, S. 109. 201 Vgl. L. Moholy-Nagy/H. M. Wingler/O. Stelzer, S. 200 202 Auguste Rodin zitiert nach Herbert Read: »The Art of sculpture«. Auszug, in: Jon Wood/David Hulks/Alex Potts (Hg.), Modern sculpture reader, Leeds: Henry Moore Institute 2007, S. 200-207, hier S. 203
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Der hier geschilderten Erkenntnis Rodins kann nach Herbert Reads Auffassung eine allgemeine Gültigkeit für bildhauerisches Vorgehen zuerkannt werden. Trotz ihrer scheinbaren Einfachheit stellt sie keine trivialen Anforderungen, sondern erfordert vielmehr eine andere Art des Wahrnehmens, »a re-education of the senses«203, als besondere bildhauerische Fähigkeit. Bei Henry Moore spielen Vorstellungen anatomischer Strukturen, die als Inneres die äußere Form bestimmen, ebenfalls eine wichtige Rolle. In seinem überwiegend subtraktiven Arbeiten gelangt er auf der Basis eines handlungsleitenden Einbezugs organischer Ideen zu unterschiedlich abstrakt wirkenden Ergebnissen204. Abbildung 42: Henry Moore, Reclining Figure, 1929 Abbildung 43: Henry Moore, Reclining Figure, 1939
Seine Reclining Figure (1929) gehört zu einer größeren Gruppe liegender Figuren, die ihm »die größte Freiheit in Hinsicht auf die Komposition und den Umgang mit Raum«205 bieten. Ihre Körperteile können trotz deutlicher Abweichungen von einer anatomischen Richtigkeit unmittelbar identifiziert werden. Hier sind insbesondere Gelenke als von innen nach außen wirkende Strukturen erkennbar, »sind das Knie, die Schulter, der Schädel, die Stirn, also die Stellen, an denen man spürt, wie der Knochen nach außen drückt, die wichtigen Stellen»206. Einen höheren Abstraktionsgrad weist eine spätere Reclining Figure (1939) auf, bei der die äußere Form ebenfalls durch ihr Inneres bestimmt zu sein scheint. 203 Ebd. 204 Vgl. John Hedgecoe: Henry Moore. Eine monumentale Vision, Köln: Taschen 2006, S. 60 205 Henry Moore, zitiert nach Jean-Luc Duval: »Monumentalität und neue Techniken. Henry Moore, ein beispielhafter Fall«, in: Le Norman-Romain, Antoinette u. a. (Hg.), Skulptur. [von der Antike bis zur Gegenwart], Köln: Taschen 1996, S. 199-201, hier S. 200 206 Henry Moore, zitiert nach J. Hedgecoe, Henry Moore, S. 32
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Hier entsteht allerdings der Eindruck einer inneren Notwendigkeit der Form, ohne dass dies eindeutig anatomischen Strukturen zugeordnet werden kann. Diese Wirkung beschreibt Moore folgendermaßen: »Ich glaube, dass meine Skulpturen etwas besitzen, eine Gewalt, eine Kraft, Leben, eine innere Vitalität, sodass man den Eindruck bekommt, die Form presse sich aus dem Inneren heraus. Sie ist nichts, was nur von außen gestaltet und begrenzt wird. Es ist wie etwas, das versucht, aus seinem Inneren heraus Gestalt anzunehmen.«207 Indem Kraft und Vitalität anstelle anatomischer Strukturen für die Formfindung wichtig werden, wird die von innen nach außen wirkende Formbildung auf einer abstrakteren Idee gegründet, ohne dass diese jedoch vollkommen von der Idee der Lebendigkeit getrennt wird. Wie im Kontext der Betrachtung architektonischer Auseinandersetzungen mit Fragen des plastischen Volumens gezeigt werden wird, werden dort diesen Punkt betreffende Parallelen zu Moores Herangehensweise erkennbar. Ein weiterer Aspekt der Annäherung an architekturrelevante Fragestellungen basiert auf Raumbildungen, die Reclining Figure (1939) aufweist. Im Unterschied zu der früheren Reclining Figure (1929) hat sie mehrere Durchbrüche, die sich insbesondere im Zentrum der Arbeit zu räumlichen Strukturen erweitern. Innerer Raum und seine plastischen Umgrenzungen bilden hier eine organisch wirkende Einheit, da die Form des Raumes einerseits von seinen plastischen Umgrenzungen abzuhängen scheint, die Form des plastischen Volumens aber andererseits durch den umschlossenen Raum mitbestimmt wird. Die Erreichung einer solchen Wechselbeziehung zwischen innerem Raum und seinen plastischen Umgrenzungen, die auf der Vorstellung einer inneren, nach außen wirkenden Kraft basiert, kann auch Ziel architektonischen Entwerfens sein. Eine stärkere, wenngleich nicht vollkommene Lösung von organischen Vorbildern kann anhand von Arbeiten Barbara Hepworths erkannt werden.208 Oval Sculpture (1943) ist eine aus Hartholz gearbeitete ovale Form, die als relativ kleine, 42 cm in der Längsachse messende Skulptur auf einem Sockel präsentiert wird. Die Oberfläche des Ovals weist vier scharfkantig umgrenzte Öffnungen auf, deren Formen ebenfalls einem Oval angenähert sind. Von ihnen ausgehend entwickelt sich im Inneren der Skulptur ein durch geschwungene Linien bestimmter Raum, der an zwei Stellen durch organisch geformte Verbindungselemente in der Längsrichtung des Ovals durchschnitten wird.
207 Ebd. 208 Vgl. Hal Foster/Rosalind Krauss/Yve-Alain Bois/Benjamin H. D. Buchloh: Art since 1900. Modernism, antimodernism, postmodernism, London: Thames & Hudson 2011, S. 269
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Abbildung 44: Barbara Hepworth, Oval Sculpture, 1943 Abbildung 45: Barbara Hepworth, Pelagos, 1943
Auch in dem so gebildeten Inneren, in dem sich verschiedene Raumbereiche durchdringen, finden sich scharfe Kanten, die sich hier jedoch mit weich geschwungenen Formverläufen abwechseln. Während das Holz in den Oberflächenbereichen, die der ovalen äußeren Grundform zugehören, poliert ist und seine natürliche Farbigkeit behält, sind alle Oberflächen im Inneren mit weißer Farbe bemalt. Auf der Basis ihrer formalen Eigenschaften markiert die Skulptur eine Grenze zwischen organischen Anklängen, die jedoch keine unmittelbaren Assoziationen hervorrufen, und der Formwerdung abstrakter Ideen. Letztere basieren aus Herbert Reads Sicht darauf, dass das Ei keine zufällige, sondern eine durch physikalische Gesetzmäßigkeiten bestimmte Form ist.209 Diese Gesetzmäßigkeiten, die die äußere Eiform als innere Notwendigkeit bestimmen, scheinen in den räumlichen Strukturen, die das Oval in einer perfekten Balance halten, zum Ausdruck zu kommen. Ebenso wie die Verwendung von gespannten Fäden in Pelagos (1946), durch die räumliche Bezüge innerhalb einer spiralförmig ausgehöhlten Kugelform anschaulich werden, verweist der Einbezug einer Auseinandersetzung mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten in Oval Sculpture auf Barbara Hepworths Interesse an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, das sie mit dem befreundeten Naum Gabo teilt.210 Neben mathematischen Modellen211 sind zeitgenössische Publikationen über organische und kristalline Strukturen und Wachstumsformen Inspirationsquellen ihrer Arbeit212, deren Einbezug sie bei der
209 Vgl. Mathew Gale/Chris Stephens: Barbara Hepworth. Works in the Tate Gallery collection and the Barbara Hepworth Museum St Ives, London: Tate Gallery op. 1999, S. 87 210 Vgl. M. Hammer/C. Lodder: Hepworth and Gabo, S. 120 211 Vgl. ebd., 114 f 212 Vgl. M. Gale/C. Stephens: Barbara Hepworth, S. 19
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skulpturalen Erkundung von Prinzipien, die unter den sichtbaren Oberflächen wirksam sind, unterstützt. Wie Hepworth jedoch in einem Brief an Herbert Read darstellt, haben ihre Skulpturen aus ihrer Sicht zwar die Eigenschaft, Naturgesetzen zu gehorchen, ihre besondere Qualität beruhe allerdings darauf, dass sie über sie hinausgehen. Dies gelingt ihnen durch eine »eigene intrinsische Kraft«213, die weniger ihren physischen Attributen als vielmehr einem spirituellen inneren Leben zugeschrieben werden kann. Damit diese Qualität erreicht werden kann, verbindet sich ein analytisches Vorgehen bei Hepworth mit Intuition, die unter anderem auf ihrem Erleben von Natur und Landschaft, insbesondere aber auf körperlichen Erfahrungen von Gewicht, Rhythmus, Balance und Spannung beruht.214 Ihre Aufgabe als Bildhauerin sieht Hepworth darin, Betrachtenden ihrer Skulpturen diese Erfahrungen ebenfalls zu ermöglichen: »The sculptor sets out to appeal to all the senses of the spectator, in fact his whole body, not merely to his sight and his sense of touch.«215 Auf diese Weise könne Skulptur eine Kontinuität zwischen dem Mensch und seiner Umgebung erfahrbar werden lassen 216 und somit auch zwischen Menschen und Architektur vermitteln: »Skulptur sollte nicht nur Folie zur Architektur bilden, sondern sie sollte eine Verbindung von menschlicher Dimension und menschlicher Sensibilität zu der umfassenderen Masse und Räumlichkeit der Architektur bilden.«217 Sowohl Henry Moores Streben nach Verbindungen von »abstrakten Qualitäten der Gestaltung« mit einem »psychologisch-menschlichen Element«218 als auch Barbara Hepworths »plastische Verdichtung des Kosmischen und humanen Erlebens […] in einer organisch-mathematischen Formensprache«219 führen zu Erkundungen von Beziehungen zwischen innerem Raum und dem ihn umgeben-
213 Anne J. Barlow: »Barbara Hepworth and science«, in: David Thistlewood/Barbara Hepworth (Hg.), Barbara Hepworth, reconsidered, Liverpool: Liverpool Univ. Press [u.a.] 1996, S. 95-107, hier S. 105 214 Hepworth interessiert sich für die Idee des kollektiven Unbewussten bei C. G. Jung sowie für gestaltpsychologische Überlegungen. Vgl. M. Gale/C. Stephens, Barbara Hepworth S. 18 215 Barbara Hepworth, zitiert nach ebd. 216 Vgl. ebd., S. 19 217 Barbara Hepworth, zitiert nach E. Trier, S. 301 218 H. Foster/R. Krauss/Y.-A. Bois/B. H. D. Buchloh, S. 269. Bei der genannten Verbindung handelt es sich um eine Erläuterung (in eigener Übersetzung) zu Punkt 4 (vision and expression) der 5 Sculptors Aims, die Moore für sein Schaffen formuliert. 219 C. Giedion-Welcker: Plastik des XX. Jahrhunderts, S. 139
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den plastischen Volumen, in denen Innen und Außen als Einheit konzipiert werden. Die Besonderheit ihrer Auseinandersetzungen mit dieser architekturrelevanten Problemstellung besteht darin, dass ihre Formfindungen subjektives Erleben mit intersubjektiv nachvollziehbaren Grundlagen220 verbinden. Während diese bei Henry Moore’s Reclining Figures vor allem aus der Beobachtung des natürlichen Objekts gewonnen werden und zu einer eindeutig organischen Formensprache führen, findet in Oval sculpture Barbara Hepworths Interesse an naturwissenschaftlichen und mathematischen Grundlagen in abstrakteren Formfindungen Ausdruck, womit sie sich noch stärker einem architektonischen Denken annähert. Darin, dass Hepworth mathematische Ideen in ihre skulpturalen Erkundungen räumlicher Fragestellungen einbezieht, kann eine Parallele zu der Position Katarzyna Kobros erkannt werden. Stärker als diese wahrt Hepworth allerdings eine Distanz zu technischen Neuerungen, deren positive wie negative Aspekte aus ihrer Sicht gleichermaßen berücksichtigt werden müssen. Für sie ist es wichtig, dass die Kunst sich ebenso weiterentwickelt wie die Wissenschaften, um als Gegengewicht fungieren zu können und auf diese Weise eine gesellschaftliche Relevanz zu haben.221 Das kritische Potenzial ihrer impliziten Auseinandersetzungen mit architektonischen Fragestellungen hat somit einen anderen Schwerpunkt als das konstruktivistischer oder auch futuristischer Positionen. Während diese – zum Teil auch explizit zu einer Kritik an mangelnden Anpassungen der Architektur an den technischen Fortschritt und die damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen tendieren, korrespondiert die Haltung von Künstlern wie Moore und Hepworth mit einer Kritik an architektonischen Entwicklungen, die zu einer Enthumanisierung der gebauten Umwelt führen. Die Idee eines Bezuges von innerem Raum und ihn umgebendem Baukörper als organischem Zusammenhang ist auch für die Architektur der Moderne von Bedeutung. In In der Sache der Architektur stellt Frank Lloyd Wright 1908 seine organische Architekturauffassung dar, in der eine Orientierung an der Natur eine wichtige Rolle spielt. Analog zu den vorgestellten bildhauerischen Positionen geht es ihm dabei aber nicht um die Herstellung unmittelbarer formaler Bezüge: »So wie die Natur niemals für ein Gemälde geeignet ist, ist sie auch niemals für den Architekten geeignet – das heißt sie ist niemals gebrauchsfertig.«222 Von ar-
220 Vgl. M. Gale/C. Stephens: Barbara Hepworth, S. 19 221 Vgl. A. J. Barlow: Barbara Hepworth and science, S. 96 222 Frank L. Wright: »In der Sache der Architektur«, in: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.), Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz ©2004, S. 50-53, hier S. 50
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chitektonischem Interesse sei das Vorbild der Natur bzw. der Pflanze, auf die er sich vorwiegend bezieht, allerdings im Hinblick auf Zusammenhänge von Form und Funktion, deren Kenntnis den Ausgangspunkt der architektonischen Tätigkeit darstelle. Auf der Grundlage eines organischen Verständnisses dieses Zusammenhangs »kann jenes Gefühl von Unumgänglichkeit lebendig werden, das für ein Kunstwerk charakteristisch ist«.223 Wright geht es demnach um ein Verständnis des Organischen, bei dem, wie in den vorgestellten Werken Moores und insbesondere den durch ein Interesse an Wachstumsprozessen informierten Arbeiten Hepworths, die äußere Form aus einer inneren Notwendigkeit zu entstehen scheint: » Das architektonische Werk« soll vor dem Hintergrund dieses Verständnisses »einfacher wachsen; ausdrucksvoller sein mit weniger Linien, weniger Formen; klarer gegliedert mit weniger Mühe; plastischer, fließender, doch auch einheitlicher, organischer.«224 Auch Rudolf Steiner möchte mit dem Entwurf des zweiten Goetheanums »das Innere im Äußeren darstellen, das Innere wirklich zum Prinzip des Äußeren machen«225. Insbesondere anhand der Eingangssituation des Gebäudes, dessen Gestaltung rechte Winkel konsequent vermeidet, wird dieses Vorhaben deutlich. Abbildung 46: Rudolf Steiner, Zweites Goetheanum, Dornach 1924-1928
223 Ebd., S. 51 224 Ebd. 225 Zitiert nach D. Clarenbach: Grenzfälle zwischen Architektur und Plastik im 20. Jahrhundert, S. 52
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Das Eingangstor und das darüber liegende Fenster befinden sich in einem modelliert wirkenden Gebäudevorsprung, der sich an seinen Außenkanten nach außen wölbt. So entsteht der Eindruck eines Hervorwachsens, einer sich aus dem Inneren ausbreitenden Kraft, anhand dessen eine Korrespondenz zu Steiners weltanschaulichen Vorstellungen erkannt werden kann. Anders als Wright gelangt Erich Mendelsohn im Entwurf des Einsteinturms (1920) zu einer organischen Formensprache, wenngleich auch dessen »schwingend modellierte Umhüllung frei von bildlichen Anklängen an die organischen Formen der Natur ist.«226 Indem Grundrissformen ebenso wie Öffnungen Rundungen aufweisen, entsteht nach Mendelsohns Sicht eine »Architektur der elastischen Einheit«, die – »im Gegensatz zum Skelettbau – eine neue Welt eröffnet, in der Intellekt und Einbildungskraft wieder zur Einheit verschmolzen sind.«227 Wenngleich insbesondere die Bauten Frank Lloyd Wrights, deren Entwürfe einem Interesse an einer organischen Verbindung von Baukörper und Raum folgen, zu den Architekturikonen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehören, spielt eine Orientierung an organischen Vorbildern oder Prinzipien für die architektonischen Entwicklungen des zeitlichen Kontextes eine untergeordnete Rolle. Exemplarisch hierfür ist der nur geringe Einfluss, den Hugo Häring als Antagonist des prominent von Le Corbusier vertretenen rationalistischen Funktionalismus auf die Entwicklungen des CIAM zu nehmen vermag. Wie Häring in seinem 1925 publizierten Aufsatz Wege zur Form228 verdeutlicht, betrachtet er das einzelne Bauwerk ebenso wie das städtebauliche Gefüge als organische Zusammenhänge. Insofern sie damit eigene Ansprüche an Zweckerfüllung und Ausdruck stellen, sieht er ihren Entwurf als »Formfindung, nicht Zwangsform, Gestaltfindung, nicht Gestaltgebung«229 Auch für Häring hat ein Zusammenhang zwischen Architektur und Gesellschaft zentrale Bedeutung, analog zu seinen gestalterischen Überlegungen sieht er die Aufgabe der Architektur jedoch nicht darin, Strukturen vorzugeben. »Wollen wir also Forderungen stellen für die Gestaltfindung der Dinge, so müssen wir zunächst Forderungen stellen für die Gestaltfindung eines neuen Lebens, einer neuen Gesellschaft. […] Fordern wir also für die Gestaltfindung einzelner Dinge, daß sie den Weg der Natur gehe, so müssen wir ergänzen oder vielmehr vorausschicken, daß wir auch für die Gestalt-
226 Ebd., S. 53 227 Zitiert nach ebd. 228 Hugo Häring: »Wege zur Form (1925)«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 75-78 229 Ebd., S. 76-77
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werdung eines neuen Lebens, einer neuen Gesellschaft für unsere Menschwerdung fordern, daß sie den Weg der Natur gehe und nicht gegen sie.«230 Härings organischer Funktionalismus hat zwar weder auf den CIAM noch auf die architektonischen und städtebaulichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts unmittelbaren praktischen Einfluss, seine Überlegungen greifen jedoch bereits Argumenten voraus, die in der Krise des rationalistischen Funktionalismus der 1960er und 70er Jahre gegen diesen ins Feld geführt werden. So erkennt er eine Uniformierung oder Mechanisierung der Gestaltung als »lebenserschöpfend«231: »Die Dinge mechanisieren heißt: ihr Leben – und das ist unser Leben – zu mechanisieren, das ist abtöten.«232 Häring plädiert damit allerdings nicht für eine Rückkehr zu handwerklichen Verfahren, sondern erkennt ebenso wie Le Corbusier die positiven Aspekte industrieller Fertigungsmöglichkeiten: »Die Herstellung mechanisieren indessen heißt Leben gewinnen.«233 Wie die dargestellten Überlegungen zu skulpturalen Erweiterungen in den idealen Raum zeigen, führen diese zu Erkundungen von Fragestellungen, die auch in der Architektur Relevanz besitzen oder eine solche Relevanz im gleichen zeitlichen Kontext erlangen. Während Hintergründen einer rationalistischen Architektur mit ihrem Interesse an Strukturgesetzen der Natur vor allem in konkreten Skulpturen, die u.a. im Konstruktivismus entstehen, nachgegangen wird, können Parallelen zu einer organisch argumentierenden Architektur vor allem in Arbeiten wie denen Hepworths und Moores erkannt werden. Gemeinsamkeit beider Richtungen ist sowohl in der Architektur als auch in der Skulptur ein Bemühen um die Überwindung eines dualistischen Raum-Körper-Verständnisses zugunsten einer Auseinandersetzung mit den raumbildenden Möglichkeiten materieller Begrenzungen. In der Skulptur lassen sich die Unterschiede der Erkundungsweisen, die in dieser Auseinandersetzung relevant werden, deutlich erkennen. Während sich konstruierende Verfahren in der Frage zuspitzen lassen, wie viel Öffnung, Zergliederung, Dynamik und Entmaterialisierung möglich ist, bevor sich der Körper im Raum auflöst, tendieren plastische Herangehensweisen zu einer Erkundung der Frage nach dem Moment, in dem sich Körper in Raum umstülpt.234 Trotz des impliziten wie expliziten Architekturinteresse, dass skulp-
230 Ebd., S. 77-78 231 Ebd., S. 77 232 Ebd., S. 78 233 Ebd. 234 Markus Brüderlin: »Einführung: ArchiSkulptur«, in: Markus Brüderlin/Friedrich T. Bach (Hg.), ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 15-25, hier S. 19
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turalen Erkundungen dieser Fragen inhärent ist, tendieren Skulpturen bis in die 1960er Jahre allerdings dazu, in einem idealen Raum zu agieren. Da sie trotz ihrer sich mit architektonischen Fragestellungen überschneidender Erkundungsfelder in sich geschlossene Referenzsysteme bilden, intervenieren sie nicht in den realen Raum der Architektur. Dies hat zur Folge, dass in ihrer Rezeption Architekturerfahrungen zwar eine Rolle spielen, als solche jedoch nicht umfassend reflexiv werden. Sowohl skulpturale Erkundungen rationaler als auch organischer Grundlagen von Gestaltungen stellen aber insofern auch explizite Architekturbezüge her, als in ihrem Kontext z.T. über gesellschaftliche Implikationen der Gestaltung nachgedacht wird. 3.2.2 Erweiterung der Skulptur in den realen Raum Erweiterungen der Skulptur in den realen Raum entwickeln sich in einem Kontext, in dem sich »die Skulptur zwischen 1968 und 1974 wieder strukturell und konzeptuell neu definiert«235. Land-Art und Bodenskulpturen, die insbesondere in der amerikanischen Bildhauerei an Bedeutung gewinnen, betonen die Horizontalität und weisen so in die Umgebung 236. Durch ihren Bezug zum realen Raum können Skulpturen nun »mit Grundbegriffen, die wir unserer konkreten architektonischen, urbanen, landschaftlichen Umgebung zuordnen«237, operieren. Die Tendenz der Skulptur zur Entgrenzung in den realen Raum sieht Allan Kaprow in einem Zusammenhang mit der malerischen Strategie des Allover bei Jackson Pollock, deren Ergebnisse über die Grenzen der Leinwand konzeptionell hinausweisen. Als konsequente Weiterentwicklung dieser Strategie, die aus seiner Sicht auf eine Überführung in die Skulptur angewiesen ist, entwickelt Kaprow das »Environment«238. In Yard (1961) füllt er den Hinterhof einer Galerie mit ausgedienten Autoreifen und Fässern, deren massenhafte Verfügbarkeit und den Zufall einbeziehende Anordnung Erweiterungsmöglichkeiten in an den Hof angrenzende Räume implizieren.
235 Margit Rowell: »Was ist moderne Skulptur?«, in: Margit Rowell (Hg.), Skulptur im 20. Jahrhundert. Figur Raumkonstruktion Prozess, München: Prestel 1986, S. 710, hier S. 7 236 M. Schneckenburger: Plastik als Handlungsform, S. 23 237 Ebd. 238 Pathmini Ukwattage: »Allan Kaprow«, in: Kunstmuseum Basel, Mendes Bürgi, Bernhard (Hg.), Sculpture on the Move. 1946-2016, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2016, S. 52-53, hier S. 53
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Abbildung 47: Allan Kaprow, Yard, 1961, Environment im Hinterhof der Martha Jackson Gallery, New York Hintergrund dieser und weiterer skulpturaler Arbeiten der 1960er Jahre sind Überlegungen zur Überwindung einer Formidee, die von »einem Anfang, einer Mitte, einem Ende oder irgendeiner Variante dieses Prinzips – so wie Fragmentierung«239 ausgeht. Als eine diesem Postulat entsprechende Arbeit, deren Anfang und Ende sich nicht festlegen lässt und deren räumliches Interesse somit über die der skulpturalen Form immanenten Raumbeziehungen hinausgeht, kann auch Spiral Jetty (1970) von Robert Smithson gelesen werden. Die von ihm als ›Earthwork‹240 bezeichnete Arbeit wird durch eine spiralförmige Formation aus Erde, Steinen und Salzwasser gebildet. Insofern sie sich vom Ufer ausgehend in die Fläche des Großen Salzsees in Utah öffnet, kann sowohl die gesamte Fläche des Sees als auch das ihn umgebende Land zum Teil der Struktur werden. Einen Raumbezug, der durch eine solche Verflechtung von Skulptur und realem Raum gekennzeichnet ist, weisen auch im gleichen zeitlichen Kontext entstehende installative Arbeiten auf. In Installation at the Green Gallery (1964) 239 Allan
Kaprow:
»The
legacy
of
Jackson
Pollock«
(1958), https://
monoskop.org/File:Kaprow_Allan_1958_1993_The_Legacy_of_Jackson_Pollock. pdf, (eingesehen am 30.07.2018), S. 5 240 Vgl. Barbara Reisinger: »Robert Smithson«, in: Kunstmuseum Basel, Mendes Bürgi, Bernhard (Hg.), Sculpture on the Move. 1946-2016, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2016, S. 94-95, hier S. 94
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(Abb. 13) ordnet Robert Morris unterschiedliche aus grau bemaltem Sperrholz gefertigte geometrische Hohlkörper in einem Ausstellungsraum an, indem er sie teilweise auf dem Boden positioniert, teilweise an Wand und Decke befestigt. Anders als in einer Präsentation in sich geschlossener skulpturaler Objekte steht hier das Zusammenwirken der Elemente mit dem Raum im Vordergrund des künstlerischen wie rezeptiven Interesses. Wie Claire Bishop definiert, bestehen Installationen wie Installation at the Green Gallery somit nicht in einer additiven räumlichen Anordnung von Kunstwerken, vielmehr bilden skulpturale Elemente mit dem Raum eine Einheit, in die auch die Betrachtenden einbezogen werden.241 Mit ihren Möglichkeiten, im realen Raum zu agieren, entwickeln Skulpturen Überschneidungsbereiche mit Architektur, die in den folgenden Abschnitten genauer betrachtet werden sollen. Diese Überschneidungsbereiche basieren zum einen darauf, dass Skulptur, die im realen Raum stattfindet, den Bedingungen des realen Raums unterliegt, resultieren zum anderen aber auch aus der Ortsspezifität, die ab den 1960er Jahren zu einer wichtigen skulpturalen Strategie wird. Gemeinsam ist beiden Dimensionen der Bezugnahme auf konkrete Räumlichkeit, dass diese mit sozial oder kulturell vermittelten Dimensionen in Verbindung steht. Realer Raum – reales Material Robert Morris’ Installation at the Green Gallery, auf Erweiterungsmöglichkeiten verweisende Arbeiten wie Allan Kaprows Yard, aber auch serielle Arbeiten wie Donald Judds »Spezifische Objekte«242 bilden keine in sich abgeschlossenen Strukturen, da ihre Elemente nicht nur aufeinander, sondern auch auf den Raum verweisen und sich so mit ihrer jeweiligen Umgebung verzahnen. Auf diese Weise werden sie zwar nicht, wie Michael Fried kritisiert, ausschließlich als Objekte einer außerkünstlerischen Wirklichkeit wahrgenommen243, fluktuieren aber zwischen einer Objekthaftigkeit, die einen konsumierenden Zugriff zu ermöglichen scheint, und deren Negation244. In Momenten ihrer objekthaften Wahrnehmung werden Wahrnehmungsgrundlagen, die für die Gegenstände und architektonischen oder landschaftlichen Elemente ihrer Umgebung gelten, auch für sie relevant. Wird beispielsweise ein Element von Installation at the Green Gallery
241 Vgl. Claire Bishop: Installation Art. A Critical History, London: Tate Publishing 2005, S. 6 242 D. Judd: Spezifische Objekte 243 Vgl. M. Fried: Kunst und Objekthaftigkeit 244 Vgl. J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!
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in seiner realen Objekthaftigkeit wahrgenommen, ist es nichts weiter als ein aus Sperrholzplatten zusammengesetzter Hohlkörper, der so an der Wand befestigt ist, dass er nicht herunterfällt, oder der durch sein eigenes Gewicht auf dem Boden aufliegt, so wie wir es von Möbelstücken gewohnt sind. Anders, als dies in der Betrachtung von Skulpturen, die einer Logik der Repräsentation folgen, aber auch modernistischer, sich in ihrer tendenziellen Selbstreferenzialität vom realen Raum distanzierender Arbeiten der Fall ist, stellen sich in der Rezeption objekthafter Skulpturen Fragen nach dem Material, seiner Be- und Verarbeitung, der Konstruktion und Statik. Erfahrungen werden einbezogen, die in Bezug auf Materialeigenschaften oder die Wirkungen physikalischer Kräfte auf materielle Strukturen wie Gegenstände und bauliche Strukturen, vor allem aber auf den eigenen Körper gesammelt wurden. Unabhängig davon, ob objekthafte Skulpturen tatsächlich berührt oder benutzt werden oder werden können, spielen vor dem Hintergrund ihrer scheinbaren Verfügbarkeit auch Fragen der Oberflächenbeschaffenheit und der Wärmeleitfähigkeit des Materials, die haptisch oder taktil wahrgenommen werden, eine größere Rolle, als dies bei Skulpturen, die sich als in sich geschlossene Strukturen von den Betrachtenden distanzieren, der Fall ist. Für den Einbezug diesbezüglicher Erfahrungen in die Wahrnehmung genügt bereits ihre potenzielle Berührbarkeit, die durch ihre objekthafte Seite suggeriert wird. Eine Verortung im Außenraum führt bei Arbeiten, die sich mit dem realen landschaftlichen oder städtischen Raum aufgrund ihrer strukturellen Besonderheiten verzahnen, dazu, dass in der Rezeption zusätzlich zu den bereits genannten Aspekten Umwelteinflüsse, wie z.B. die Auswirkungen der Bewitterung, Bedeutung erlangen. Abbildung 48: Robert Smithson, Spiral Jetty, 1970
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Bei Spiral Jetty bewirken die wechselnden Pegelstände des Great Salt Lake, dass der von seinem Ufer ausgehende, spiralförmig aufgeschüttete Wall unterschiedlich weit aus dem Wasser ragt, im Laufe der Zeit mit Salz überkrustet und abgetragen wird. Werden Veränderungen, denen Kunstwerke aufgrund der auf sie wirkenden Umwelteinflüsse unterliegen, wahrgenommen, fließt mit dem hiermit verbundenen Einbezug von Erfahrungen der Entropie oder nicht zuletzt am eigenen Körper erfahrener materieller Veränderungs- und Alterungsprozesse eine weitere wesentliche Dimension außerkünstlerischer Realität in die Betrachtung ein und kann auf der Basis ästhetischer Erfahrungen reflexiv werden. Die Bedeutung, die reale, physikalische Materialeigenschaften sowie physikalische Gesetzmäßigkeiten für die Rezeption erlangen, korrespondiert mit einer skulpturalen Produktion, die diesen Aspekten einen wichtigen Stellenwert zuerkennt. Eine solche Produktion steht in Zusammenhang mit einem künstlerischen Interesse an der Überwindung einer persönlichen künstlerischen Handschrift. Eine Strategie, die hierzu genutzt wird, besteht, wie Robert Morris 1968 in AntiForm245 auf der Basis einer Reflexion eigener skulpturaler Prozesse sowie vor dem Hintergrund seiner Beobachtungen der US-amerikanischen künstlerischen Entwicklungen des zeitlichen Kontextes feststellt, zunächst vor allem darin, geometrische, überwiegend rechtwinklige Formen herzustellen, die hinsichtlich »Maßstab, Material, Proportion oder Platzierung«246 variiert werden. Da diese Formen aufgrund ihrer Ökonomie und Stabilität aus Kontexten des lebensweltlichen Bauens bekannt sind und somit zu einem überindividuell geteilten Formenrepertoire jenseits subjektiven Ausdrucks gehören, kann sich ihre Betrachtung von Überlegungen zur Autorschaft trennen.247 Eine weitere Möglichkeit, um zu bewirken, dass Skulpturen nicht in erster Linie als Werke eines Künstlers oder einer Künstlerin wahrgenommen werden, sondern zunächst als Objekte, basiert auf einer Offenlegung des Produktionsprozesses, durch die das Gemachtsein der Arbeiten in den Vordergrund gerückt wird. Die Arbeiten werden auf einer nun relevant werdenden Ebene »des Machens«248 als Ergebnisse eines nachvollzieh-
245 Robert Morris: »Anti-Form (1968)«, in: Clemens Krümmel/Susanne Titz/Robert Morris (Hg.), Bemerkungen zur Skulptur. 12 Texte, Zürich: JRP Ringier Kunstverl. [u.a.] 2010b, S. 54-59 246 Ebd., S. 55 247 Vgl. ebd. 248 Robert Morris: »Einige Bemerkungen zur Phänomenologie des Machens. Die Suche nach dem Motivierten.«, in: Clemens Krümmel/Susanne Titz/Robert Morris (Hg.), Bemerkungen zur Skulptur. 12 Texte, Zürich: JRP Ringier Kunstverl. [u.a.] 2010, S. 74-95, hier S. 75
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baren und potenziell wiederholbaren Prozesses wahrgenommen. Eine damit verbundene Entmystifizierung der Entstehungsprozesse wird u. a. von Donald Judd betont, indem er die Elemente seiner oft seriellen Arbeiten industriell fertigen lässt. Durch die besondere Fokussierung des Herstellungsprozesses wird auch das Material mit seinen Eigenschaften, das in der Bildhauerei zuvor schon einen wichtigen Stellenwert besitzt, unter neuen Perspektiven betrachtet und auf noch umfassendere Weise einbezogen. Obwohl in den beiden dargestellten Entpersonalisierungsstrategien nach wie vor – wenngleich keinem individuellen Ausdrucksbedürfnis entsprechende – Formvorstellungen an das Material herangetragen werden, wird auf Eigenschaften von Materialien insofern bereits eingegangen, als ihre Wahl vor dem Hintergrund der Frage erfolgt, inwiefern sie es ermöglichen, »auf die einfachste und vernunftgemäßeste Weise zu bauen«249. Noch deutlicher in den Fokus gelangt das Material, wenn – ausgehend von in der Malerei entwickelten Strategien Jackson Pollocks – Werkzeuge und Herangehensweisen gewählt werden, die seine »inneren Neigungen und Eigenschaften«250 anerkennen. Skulpturales Arbeiten bewegt sich nun »vom Machen der Dinge hin zum Bearbeiten des Materials selbst. […] Die Konzentration auf Material und Schwerkraft als künstlerische Mittel führt zu Formen, die nicht im Voraus geplant wurden.«251 Während ästhetische Theorien des 19. Jahrhunderts wie die Friedrich Theodor Vischers noch fordern, der Stoff müsse »für den Zweck der darstellenden Phantasie roh sein in dem Sinne, daß die Form, die er vorher hatte, mit der Form, die jene ihm aufdrückt, nichts zu schaffen hat«252, wird das Material nun nicht mehr einem von außen an es herangetragenen Formwillen entsprechend bewältigt, sondern aktiv an der Formentwicklung beteiligt. Die Suspendierung von apriorischen, vom Material und seinem Verhalten im Prozess unabhängigen Formvorstellungen ist auch für Eva Hesse ein zentraler Topos: »Ich hätte es gerne, wenn meine Arbeit Nicht-Arbeit wäre. Dann würde sie ihren Weg jenseits meiner Vorannahmen finden.«253
249 R. Morris: Anti-Form, S. 56 250 Ebd., S. 57 251 Ebd., S. 58-59 252 Friedrich T. Vischer: »Das Material (1852)«, in: Dietmar Rübel/Monika Wagner/Vera Wolff (Hg.), Materialästhetik, Berlin: Reimer, Dietrich 2005, S. 44-51, hier S. 44 253 Eva Hesse zitiert nach Melanie Puff: Eva Hesse. »Sculpture / Drawing« The Jewish Museum, New York, 12.5. - 17.9.2006«, in: Kunstforum International (Bd. 182, 2006), S. 406, hier S. 406
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Eine dem von Hesse formulierten Vorsatz entsprechende, postminimalistische Vorgehensweise erprobt Robert Morris u.a. in seiner Werkreihe der FeltPieces, die parallel zu seinem Aufsatz Anti-Form entsteht.
Abbildung 49: Robert Morris, Untitled (Tangled), 1967
In Untitled (Tangled) (1967) schneidet Morris eine horizontal auf dem Boden liegende 3/8 Zoll starke Filzbahn zunächst einer geordneten Struktur entsprechend ein. Ihre anschließende vertikale Aufhängung an einem auf einer Höhe von 2,50 Meter angebrachten Wandhaken führt dazu, dass die durch den Künstler an den Filz herangetragene geordnete Struktur durch die Wirkung, die die Gravitation auf den Filz ausübt, außer Kraft gesetzt wird. In ungeordneten Schlaufen und Biegungen hängen die Filzstreifen, in die die Bahn nun zerfällt, vom Haken herab und verteilen sich in losen Haufen auf dem Boden.254 Rosalind Krauss beschreibt diesen Effekt folgendermaßen: »Now scattered the pattern would disappear; instead, the gaps would become the index of the horizontal vector understood as a force that had been put into play in a move to disable the very formation of form«.255 Indem dem Filz die Möglichkeit gegeben wird, sich unter dem Einfluss physikalischer Kräfte seinen Materialeigenschaften entsprechend zu verhalten, wird
254 Vgl. Yve-Alain Bois/Rosalind E. Krauss: Formless. A User's Guide, New York: Zone Books, S. 98 255 Ebd., S. 97
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ein Teil des Formfindungsprozesses an das Material delegiert. Sowohl das Material als auch physikalische Gesetzmäßigkeiten werden somit an der Entstehung des Objekts beteiligt. Morris gibt die Entstehung der Form (oder Nicht-Form) insofern nicht vollständig ab, als die Art und Weise des Einschneidens und anschließenden Hängens des Filzes eine künstlerische Setzung darstellt. Dem Filz ist es nicht freigestellt, eine beliebige materialgemäße Form zu finden, vielmehr sind Morris’ Handlungen darauf ausgerichtet, die Materialeigenschaften unter der Wirkung der Schwerkraft als »index of the horizontal vector«256 möglichst prägnant erkennbar werden zu lassen. Auf diese Weise kann die Wahrnehmung der Arbeit ins Erlebnishafte gesteigert und Grundlage ihrer ästhetischen Erfahrbarkeit werden, die wesentlich dazu beiträgt, dass sie trotz ihrer Überschneidungen mit lebensweltlichen Objekten nicht ausschließlich als ein solches Objekt wahrgenommen wird. Ein Interesse an Zusammenhängen zwischen skulpturaler Handlung, Material und physikalischen Kräften kennzeichnet auch Arbeiten Richard Serras, die ebenfalls in den späten 1960er Jahren entstehen. In seiner Verb List (1967/68) führt er verschiedene Möglichkeiten des skulpturalen Handelns mit Material (to roll, to crease, to fold …) sowie eine Reihe von meist physikalischen Gesetzmäßigkeiten entsprechenden Rahmenbedingungen (of tension, of gravity, of entropy…) auf, die er in seinen Arbeiten erkundet. Abbildung 50: Richard Serra, Verblist, 1967/68
In diesen Erkundungen legt er besonderen Wert darauf, Handlungsweisen zu entwickeln, die es ermöglichen, dass das Zusammenwirken von Machen und
256 Ebd.
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Material im Ergebnis unmittelbar erkannt werden kann: »The ›Verb List‹ established a logic whereby the process that constituted a sculpture remains transparent. Anyone can reconstruct the process of the making by viewing the residue.«257 Serras Arbeit Lift (1967) besteht aus einer mehrere Zentimeter dicken, rechteckigen Gummiplatte, deren eine Kante auf dem Boden aufliegt, während sich die gegenüberliegende in einem Bogen nach oben wölbt. Mit den beiden übrigen Kanten stützt sich die Gummiplatte auf dem Boden ab, wodurch sich die im Hochheben der einen Seite entstehende Aufwölbung stabilisiert. Abbildung 51: Richard Serra, Lift, 1967
In der Betrachtung kann das einseitige Hochheben, der im Zitat vorgestellten Intention Serras entsprechend, unmittelbar als Ursache der entstandenen Form erkannt werden. Grundlage der Möglichkeit, den Entstehungsprozess nachzuvollziehen, sind u.a. eigene Erfahrungen mit der Schwerkraft, deren Wirkung auf das Material an der Art und Weise, in der sich die aufliegende Seite an den Boden anschmiegt, aber auch anhand seiner Durchbiegungen, deutlich wird. Neben Handlung, Materialeigenschaften und physikalischen Kräften bezieht der skulpturale Prozess auch den Boden des Ausstellungsraumes ein, der die für die Formentstehung notwendige Gegenkraft der auf das Material wirkenden Gravitation bietet.
257 Richard Serra: »Questions, Contradictions, Solutions. Early Work«, in: Richard Serra (Hg.), The Matter of Time, Göttingen: Steidl 2005, S. 47-54, hier S. 49
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Eine weitere Arbeit, die eine skulpturale Handlung mit dem Material anhand der entstehenden Form unmittelbar transparent werden lässt, ist Splashing (1968). Abbildung 52: Richard Serra, Splashing (lead), 1968
Serra verwendet für diese Arbeit Blei, das er zunächst schmilzt, um es dann mithilfe einer Kelle in eine von Wand und Boden gebildete Raumecke zu schleudern. Zusätzlich zu den an Lift beteiligten Faktoren haben hier temperaturabhängige Veränderungen von Aggregatzuständen des Materials am Entstehungsprozess teil, die dazu führen, dass sich das zunächst flüssige Blei beim Auftreffen in der Raumecke verfestigt. Das im Moment des Aufpralls besonders charakteristische Zusammenwirken der beteiligten Faktoren wird anhand der Verfestigung der hierbei entstehenden Unebenheiten und Bleispritzer dauerhaft erfahrbar. Sowohl in Morris’ Felt-Pieces als auch in den vorgestellten Arbeiten Serras treten an die Stelle geschlossener skulpturaler Körper Materialisierungen der Entstehungsprozesse, in deren Betrachtung in lebensweltlichen Kontexten gesammelte raum-zeitliche Erfahrungen einfließen können. Ein für die Produktion relevant werdendes Interesse an physikalischen Eigenschaften von Materialien und ihrem Verhalten unter Einwirkung physikalischer Kräfte hat somit für die Rezeption zur Folge, dass die entstehenden Skulpturen als den gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten unterliegend wahrgenommen werden, denen auch lebensweltliche Objekte unterworfen sind. Indem sie auf diese Weise einen konsumierenden Zugriff zu ermöglichen scheinen, intervenieren sie in den realen Raum. Damit erlangen für ihre Produktions- und Rezeptionsprozesse auch Konnotationen, die Materialien aufgrund ihrer lebensweltlichen Verwendungskontexte anhaften, besondere Bedeutung. Indem Skulpturen wie Lift oder auch die einzelnen Elemente von Installation at the Green Gallery in ihrer Objekthaftigkeit nicht vollkommen aufgehen, sondern ästhetisch
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erfahren werden, da sie Merkmale und Kontextualisierungen aufweisen, die Zuschreibungen immer wieder fragwürdig werden lassen, können neben physikalischen auch semantische Eigenschaften der Materialien Gegenstand einer ästhetischen Reflexion werden. Unterstützt wird ein sich hierdurch erweiternder lebensweltlicher Bezug skulpturaler Arbeiten durch die Verwendung von Alltagsmaterialien, die seit den 1920er Jahren verstärkt Eingang in die künstlerische Produktion finden. Im realen Raum agierende Skulpturen weisen durch die für ihre Produktion und Rezeption gleichermaßen relevanten Verbindungen realer und konnotativer Merkmale immer auch über ihre Faktizität hinaus und hinterfragen so essentialistische Perspektiven auf Zusammenhänge von Form und Material. Auch der von Morris in Untitled (Tangled) verwendete Filz ist ein alltägliches Material, das u. a. für die Herstellung von Kleidung genutzt wird. Obwohl sich Morris in der Produktion seiner Felt-Pieces der 1960er Jahre vor allem auf formale Eigenschaften des Filzes bezieht, »auf die Schwere, die Zugfestigkeit, die Spannung, auf die Flexibilität des Materials, auf all die Eigenschaften, die den Stoff zwischen der Härte eines Brettes und der Weichheit eines Tuchs ansiedeln«,258 oder ein diese Aspekte betreffendes Interesse zumindest in seinen theoretischen Äußerungen in den Vordergrund stellt, wird der Arbeit aus kunstkritischer Perspektive attestiert, dass sie Assoziationen zu menschlichen Körpermerkmalen wecke259. Hintergrund dieser Assoziationsbildung kann zum einen sein, dass die Wirkung der Schwerkraft, die die spezifische durchhängende Formbildung der Filzstreifen bewirkt, auf der Basis eigener körperlicher Erfahrungen nachvollzogen wird, zum anderen wird die Herstellung von Körperbezügen aber auch durch die faltige, hautartige Oberfläche des Filzes sowie durch seine lebensweltlichen Verwendungsweisen als ›zweiter Haut‹ unterstützt. Dass ein solcher Einbezug einer semantischen Ebene durchaus auch für die Produktion Bedeutung hat, Morris also nicht nur daran interessiert ist, die formalen Besonderheiten des Filzes erfahrbar werden zu lassen, sondern auch die konnotative Ebene des Materials berücksichtigt, kann nicht zuletzt anhand der 1970 entstehenden Arbeit Untitled (Pink Felt) erkannt werden, für die Morris hautfarbenen Filz verwendet.
258 Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München: Beck 2001, S. 217 259 Vgl. Hillary Floe: Robert Morris Robert Morris. Untitled 1967–8, remade 2008. Tate Gallery
2016,
09.01.2018
http://www.tate.org.uk/art/artworks/morris-untitled-t14224
vom
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Material in der zeitgenössischen Skulptur Wie Okwui Enwezor mit Bezug zu Arbeiten der Ausstellung Skulpturales Handeln, die 2012 im Münchener Haus der Kunst gezeigt wird, darstellt, bilden in den 1960er Jahren entwickelte Strategien, um Wechselbeziehungen zwischen Form, Idee und Material zu erkunden, auch für viele zeitgenössische bildhauerische Positionen eine wichtige Grundlage. Während postminimalistische Strategien noch zu einer Fokussierung der physischen Materialeigenschaften tendieren, richtet sich das Interesse seitdem zunehmend auch auf dessen semantische Aspekte. Thematisiert und hinterfragt werden dabei unter anderem die für das Verhältnis von Material und Form seit der Antike relevanten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von weich/passiv/weiblich und hart/aktiv/männlich260. Zwischen den Polen von Essentialismus und Diskursivierung changierend, überwinden zeitgenössische Materialerkundungen noch deutlicher als ihre postminimalistischen Vorläufer eine Dichotomie von Form und Bedeutung.261 Beobachtet werden kann in diesem Zusammenhang, dass Strategien einer möglichst weitgehenden Delegierung des skulpturalen Prozesses an das Zusammenwirken von Material und realen Umweltbedingungen teilweise zugunsten von Herangehensweisen aufgegeben werden, die eigenen Formvorstellungen im Kontext einer Interaktion mit dem Material wieder einen größeren Stellenwert zuerkennen. Entsprechende zeitgenössische Herangehensweisen ermöglichen es noch umfassender, sowohl reale Bedingungen, denen der skulpturale Prozess unterliegt, als auch eigene, diskursiv und kulturell vermittelte oder auch biografisch begründete Vorstellungen in den Entstehungsprozess einer Form einfließen zu lassen. Tendenziell verstehen viele Künstlerinnen und Künstler Handlungen somit »nicht mehr als Ziel an sich, sondern wählen sie im Hinblick auf deren soziale und kulturelle Konnotationen«262, die teils explizit, teils implizit in den Prozess einfließen263. Esther Kläs’ Ohne Titel (B) (2013) ist ein aufrechtstehendes Objekt, das mit seinen Abmessungen von 249 x 68 x 52 cm den Betrachtenden als ein den menschlichen Proportionen angenähertes körperliches Gegenüber begegnet. Von
260 Vgl. Dietmar Rübel/Monika Wagner/Vera Wolff (Hg.): Materialästhetik, Berlin: Reimer, Dietrich 2005, S. 299 261 Vgl. M. Wagner, S. 7-10 262 Patrizia Dander/Julienne Lorz: »Skulpturales Handeln«, in: Patrizia Dander/Julienne Lorz/Deborah Bürgel et al. (Hg.), Skulpturales Handeln, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 11-15, hier S. 12 263 Vgl. ebd., S. 13
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einer fast rechteckigen Grundfläche ausgehend, weist seine Form im oberen Drittel eine deutliche, asymmetrische Verjüngung auf.
Abbildung 53: Esther Kläs, Ohne Titel (B), 2013
Die dunkelgraue Oberfläche hat unregelmäßige Ein- und Auswölbungen sowie Grate und Rillen, glattere Bereiche wechseln sich mit unterschiedlich stark strukturierten Flächen ab. Anhand sichtbarer Hand- und Fingerabdrücke kann eine Bearbeitung mit den Händen erkannt werden. Während die Eigenschaften von Form und Oberfläche einen Entstehungsprozess vermuten lassen, bei dem plastisches Material auf einen stabilisierenden Kern aufgetragen und mit den Händen geformt wird, weisen bei näherem Hinsehen erkennbar werdende lineare Nahtstellen und styroporartige Strukturen diese Vermutung zurück. Die Frage, wie die Skulptur, über die sich bei längerer Betrachtung nicht mehr sagen lässt, ob der erste Eindruck von Massivität einer genaueren Prüfung standhalten kann, hergestellt wurde, kann auf der Basis ihrer wahrnehmbaren Beschaffenheit nicht abschließend beantwortet werden. Auch das Material lässt sich nicht bestimmen, weisen doch die Strukturen der Oberfläche auf Ton oder Gips hin, die einen längeren manuellen Formungsprozess erlauben, der matte Glanz und eine leichte Transparenz dagegen auf einen schnell aushärtenden, in einem formbaren Aggregatzustand eher flüssigen Kunststoff. Die sich aufgrund der Unbestimmbarkeit von Form, Material und Prozess einstellende Irritation lässt sich auch durch die Kenntnis des tatsächlichen Herstellungsprozesses, bei dem zunächst eine positive Form erstellt wird, von der Gipsabdrücke genommen, innenseitig mit eingefärbtem Aqua-Resin laminiert werden und die entstehenden Aqua-
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Resin-Elemente zu einer Hohlform zusammengesetzt werden, nicht beseitigen.264 Anders als bei den vorgestellten postminimalistischen Skulpturen wie Serras Lift oder Morris’ Felt-Pieces wird der Herstellungsprozess hier nicht durch seine Offensichtlichkeit, sondern gerade dadurch betrachtungsrelevant, dass sich eine nur vermeintliche Offensichtlichkeit als Täuschung erweist. Mit dem auf diese Weise in den Fragehorizont gerückten Herstellungsprozess gerät auch die Materialität der Skulptur in das Zentrum des Interesses. Indem immer wieder neue Vermutungen an die Arbeit herangetragen und zurückgewiesen werden, kann die Betrachtung eine Erlebnishaftigkeit erreichen, auf deren Basis sowohl das Material als auch seine Verarbeitung zum Gegenstand ästhetischer Formen der Reflexion werden können. Die so in Gang gesetzte Auseinandersetzung erschöpft sich allerdings nicht auf der Ebene realer Materialität, vielmehr werden auch hier Erfahrungsfelder wahrgenommener Wirklichkeiten einbezogen. So können vor dem Hintergrund des sich im Herstellungsprozess vollziehenden und an der Skulptur präsent werdenden Wechsels von positiver und negativer Form Beziehungen von Innen und Außen, Körper und Raum in der Betrachtung eine Rolle spielen. Darüber eröffnet sich ein Spannungsfeld zwischen einer dem ersten Eindruck entsprechenden Massivität und der dem leicht transparenten und spröde wirkenden Material geschuldeten Fragilität, durch das einer Dichotomie von hart-stabil und plastisch-instabil entgegenlaufende Materialkonnotationen aufgerufen werden. Verstärkt durch anthropomorphe Anklänge – Michael Fried würde Esther Kläs’ Arbeit aufgrund ihrer Hohlheit und unvollkommenen Symmetrie als unheimlich bezeichnen – werden die für die Betrachtung relevanten Spannungsfelder mit körperlichen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Ein komplexer, die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Material und konzeptuellere Strategien verbindender Herstellungsprozess ist auch für Monika Sosnowskas The Tired Room insofern konstituierend, als hier zunächst durch die plastische Verformung von Papier eine Formensprache entwickelt und anschließend an ein konstruierendes Verfahren mit MDF-Platten adaptiert wird. Wie bereits eingangs dargestellt, kann dieses Vorgehen als Hintergrund dafür erkannt werden, dass der Raumeindruck in der Betrachtung zwischen Passivität und Dynamik wechselt. Indem für die eigentliche Installation Materialien verwendet werden, die aus dem Bereich des Wohnens bekannt sind, wird ein Changieren zwischen lebensweltlicher Objekthaftigkeit und einem Hinausweisen über eine
264 Vgl. Erich Franz: »Das Ende der Konzeptualität. Zur plastischen Formbildung bei Esther Kläs«, in: Friedrich Meschede (Hg.), Whatness. Esther Kläs, Johannes Wald; [anlässlich der Ausstellung: Whatness. Esther Kläs. Johannes Wald, 28.3.201521.6.2015 in der Kunsthalle Bielefeld], Köln: Snoeck 2015, S. 186-190, hier S. 187
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solche vermeintliche Faktizität begünstigt. Darüber hinaus werden aber auch eigene Wohnerfahrungen in den so ermöglichten ästhetischen Erfahrungsprozess einbezogen. Mit seinem einfachen Parkett und seiner aus Mietwohnungen bekannten furnierten Tür betont der Raum seinen privaten Charakter, sodass durch die Materialien hervorgerufene Assoziationen wesentlich an einem sich in der Betrachtung einstellenden Gefühl des Voyeurismus beteiligt sind. Wie Juliette Lorz und Patrizia Dander beobachten, bildet das Material in zeitgenössischen Formen skulpturalen Handelns einen Interaktionspartner. »Die Ausgestaltung der Arbeiten wird von den Künstlern zwar nicht an den Prozess delegiert, die darin begründeten Einschränkungen werden jedoch als produktiver Motor verstanden.«265 Unabhängig davon, ob genaue Vorstellungen der finalen Form in den Prozess einfließen, werde Materialien und ihren Eigenschaften eine aktive Rolle im skulpturalen Handeln zuerkannt.266 Sowohl in einer skulpturalen Produktion, in der diskursiv, kulturell oder biografisch begründete Vorstellungen mit realen Bedingungen interagieren, als auch in der Rezeption der auf ihrer Basis entstehenden Arbeiten werden ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet, in denen Wirkungen materialer Formen vor dem Hintergrund der sie kennzeichnenden untrennbaren Verbindungen zwischen Realität und wahrgenommenen Wirklichkeiten, physischen und semantischen Ebenen reflexiv werden können. Ebenso wie minimalistische und postminimalistische Skulpturen agieren auch sie in einem realen Raum, indem sie Erfahrungen mit realer Materialität einbeziehen, lassen aber gleichzeitig erkennbar werden, dass eine reale Ebene des Raumes nicht unabhängig von der wahrgenommenen räumlichen Wirklichkeit mit ihren diskursiven, kulturellen und biografischen Bezügen gedacht und erfahren werden kann. Material in der Architektur als skulpturales Erkundungsfeld Indem bildhauerische Prozesse physikalische Eigenschaften von Materialien, ihr Verhalten unter Einfluss physikalischer Kräfte, ihre damit zusammenhängenden Verarbeitungsmöglichkeiten und konstruktiven Potenziale in den vorgestellten Arten und Weisen als Interaktionspartner einbeziehen, werden Fragestellungen relevant, die für die architektonische Praxis grundlegend sind und auch architekturtheoretische Überlegungen bereits seit der Antike mitbestimmen. Mit der Bedeutung, die Materialien und Materialität erlangen, wenn Skulpturen aufgrund betrachtungsrelevant werdender Überschneidungen mit lebensweltlichen Objekten im realen Raum agieren, eröffnet sich bildhauerischem Arbeiten daher ein
265 P. Dander/J. Lorz: Skulpturales Handeln, S. 13 266 Vgl. ebd., S. 13-14
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umfassendes architektonisches Erkundungsfeld. Wie anhand der folgenden Darstellung dieses Feldes deutlich wird, können Parallelen und Konvergenzen skulpturaler und architektonischer Perspektiven auf Materialien und ihre Verwendungsmöglichkeiten erkannt werden, anhand derer über Synergien zwischen Architektur und Skulptur nachgedacht werden kann. Beobachtbar wird ein untrennbarer Zusammenhang von Material und architektonischen Raumbildungen, der den zentralen Stellenwert von Materialfragen im architektonischen Kontext begründet, anhand des Einflusses, den die Verfügbarkeit von Materialien auf Bauweisen und deren Entwicklungen hat. Auf einen solchen Einfluss weist z.B. der Architekt und Architekturhistoriker JacquesFrançois Blondel hin, indem er anhand des Vergleichs antiker griechischer und ägyptischer Bauweisen darstellt, dass das Fehlen von Holz als Baumaterial in Ägypten zu Konstruktionsweisen führt, die sich sehr weitreichend von denen griechischer, aus dem Holzbau entwickelter Architektur unterscheiden.267 Noch deutlicher wird der Einfluss des Materials, wenn auf Lehmbauweisen basierende Formen in einen Vergleich einbezogen werden: Während sowohl die griechische als auch die aus dem Steinbau entwickelte ägyptische Architektur stereometrische Formen hervorbringen, führt die Verwendung von Lehm zu einer organischen Formensprache und setzt darüber hinaus möglichen Konstruktionshöhen und Tragweiten enge Grenzen. Auch die Entwicklung der modernen Architektur steht in einem untrennbaren Zusammenhang zu materiellen Möglichkeiten, die sich mit den industriellen Fertigungsweisen im 19. Jahrhundert entscheidend erweitern. Die Verwendung von Stahl und Stahlbeton (der im 19. Jh. noch Eisenbeton heißt) bildet insofern die Grundlage neuer Konstruktionen, als beide nicht nur (wie Stein und unbewehrter Beton) auf Druck beansprucht werden können, sondern auch durch Zugfestigkeit gekennzeichnet sind. Durch ihre Verwendung werden große Spannweiten und Konstruktionshöhen nicht nur möglich, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Von ebenso großer Bedeutung ist die industrielle Herstellbarkeit großflächiger Glasscheiben. Die Entwicklungen neuer Techniken der Materialherstellung kann als Voraussetzung dafür erkannt werden, dass den zeitgleichen und ebenfalls u.a. industrialisierungsbedingten gesellschaftlichen Veränderungen durch neue architektonische und städtebauliche Lösungen Rechnung getragen werden kann. Sie haben aber auch wesentlichen Einfluss auf gestalterische Möglichkeiten. Z.B. können Lochfassaden mit stehenden, relativ schmalen Fensterformaten zugunsten einer Trennung von Wand und Fensterflächen aufgeben werden, wie dies besonders an Ludwig Mies van der Rohes Ent-
267 Vgl. Joseph Rykwert: Adams Haus im Paradies. Die Urhütte von der Antike bis Le Corbusier, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2005, S. 70
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würfen erkannt werden kann. Möglich werden auch die von Le Corbusier favorisierten Fensterbänder sowie Vorhangfassaden, die durch Abkopplung der Außenhaut vom tragenden Gerüst insbesondere bei Hochhausbauten großflächige Verglasungen erlauben. Größere Spannweiten, die durch erste Stahlbetonkonstruktionen ermöglicht werden, bieten darüber hinaus Spielräume in der Grundrissgestaltung und sind z.B. die Voraussetzung für Le Corbusiers plan libre. Zusammenhängen von Materialien, Konstruktionen und architektonischer Gestaltung misst auch Andrea Deplazes eine zentrale Bedeutung im Kontext architektonischen Arbeitens bei, wenn sie Konstruieren und Entwerfen als Einheit begreift, in der eine materielle Komponente mit konstruktiven, aber auch über deren Zusammenhang hinausweisenden Komponenten interagiert.268 Mit dem Massivbau (der Stereotomie) und dem Filigranbau (der Tektonik) erkennen Christoph Wieser und Andrea Deplazes zwei einander ebenbürtige »archetypische Konstruktionssysteme«269, deren Verwendung in unterschiedlichen zeitlichen und geografischen Kontexten davon abhänge, »welche natürlichen Ressourcen zur Verfügung stehen«270. Darüber hinaus stellen sie aber auch eine Verbindung zu der Frage her, »welche Bedeutung der Dauerhaftigkeit eines Bauwerks eingeräumt wird«271, wodurch ihre Überlegungen auf Zusammenhänge zu kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen verweisen. Während Filigranbauten aus Holz, später auch aus Stahl, die »aus einer feingliedrigen Struktur, einem Geflecht aus linearen, stab- und rutenförmigen Elementen bestehen«, eine raumdurchspülte Bauweise bedingten, sei das »Schwere und Kompakte«272 ein wesentliches Merkmal des aus Mauerwerk geschichteten oder aus Beton gegossenen Massivbaus. Einfluss auf die Form von Gebäuden nähmen die beiden Konstruktionsweisen auch insofern, als in ersterer Wände erst durch Schließung der Primärstruktur entstünden, während im Massivbau unmittelbar eine gleichermaßen tragende wie raumabgrenzende Konstruktion gebildet werde. In der Architektur der Gegenwart vermischten sich beide Formen aufgrund veränderter
268 Andrea Deplazes: »Zur Bedeutung des Stofflichen«, in: Andrea Deplazes/Gerd Söffker/Philip Thrift (Hg.), Architektur konstruieren. Vom Rohmaterial zum Bauwerk: Ein Handbuch, Basel: Birkhäuser 2018, S. 19. 269 Christoph Wieser/Andrea Deplazes: »Massiv- und Filigranbau«, in: Andrea Deplazes/Gerd Söffker/Philip Thrift (Hg.), Architektur konstruieren. Vom Rohmaterial zum Bauwerk: Ein Handbuch, Basel: Birkhäuser 2018, S. 13-15, hier S. 14. 270 Ebd. 271 Ebd. 272 Ebd.
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Anforderungen (z.B. Wärmeschutz) und technischer Möglichkeiten.273 Auch hinsichtlich dieser Entwicklung wird Material, insbesondere einer »neue[n] und überraschende[n] Verwendung von High-Tech-Materialien und komplexen Systemkomponenten«274, eine zentrale Bedeutung zuerkannt. Betrachtet man die Wechselbeziehungen von Materialien, Konstruktionen, gestalterischen und technischen Anforderungen, wird deutlich, dass konkrete Eigenschaften von Materialien sowie ebenso konkrete Möglichkeiten ihrer Be- und Verarbeitung wesentlichen Anteil an architektonischen Prozessen haben. Gleichzeitig wird aber auch erkennbar, dass sich die Rolle des Materials in der Architektur nicht auf technische Aspekte reduzieren lässt, sondern im Kontext reziproker Verbindungen zu kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten ist. Die sich technizistischen Engführungen wiedersetzende Komplexität des Zusammenhangs von Material, Konstruktion und Entwurf kann allerdings erst umfassend erschlossen werden, wenn dieser Zusammenhang aus der Perspektive entstehender architektonischer Wirkungen in den Blick genommen wird. Aus einer solchen, der Nutzung und einer die Nutzung antizipierenden architektonischen Tätigkeit entsprechenden Perspektive spielen Fragen des Zusammenspiels von Material und Konstruktion insofern eine zentrale Rolle, als sie Einfluss auf architektonischen Raum nehmen. »Der Charakter des architektonischen Raumes ist […] abhängig davon, wie die Dinge gemacht sind, und wird deshalb von der technischen Realisierung bestimmt und von der strukturellen Beschaffenheit der Werkstoffe und Baumaterialien.«275 Ein Zusammenwirken von Konstruktion und Material habe, wie Deplazes betont, Einfluss auf die sinnliche Wahrnehmbarkeit der auf ihrer Basis entstehenden Oberflächen, die ihre Entstehungsprozesse nicht immer offenlegten, grundsätzlich aber auf konstruktive Hintergründe verwiesen.276 Entsprechende Zusammenhänge von Oberflächen, Materialien und Strukturen werden bereits am Bauhaus in dessen sich auf die Architektur richtende Lehre einbezogen. Um zukünftige Architekten für die sinnliche Wahrnehmung des Materials zu sensibilisieren, erkennt u.a. László Moholy-Nagy Materialerkundungen, die er den Bereichen »struktur, textur, faktur« und »häufung«277 zu-
273 Vgl. ebd. 274 C. Wieser/A. Deplazes: Massiv- und Filigranbau, S. 15. 275 A. Deplazes: Zur Bedeutung des Stofflichen, S. 19. 276 Ebd. 277 L. Moholy-Nagy/H. M. Wingler/O. Stelzer: Von Material zu Architektur, S. 33
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ordnet und die insbesondere den Tastsinn einbeziehen, in seiner Lehrtätigkeit am Bauhaus in Dessau einen zentralen Stellenwert zu.278 Ebenso wie anhand der Betrachtungen zum Material in der Skulptur gezeigt wurde, können auch architektonische Oberflächen, die mit den vorgestellten Überlegungen als Ergebnisse des Zusammenspiels von Materialien und Konstruktionsweisen zu betrachten sind,279 nicht unabhängig von konnotativen und assoziativen Ebenen wahrgenommen werden. Eine Auseinandersetzung mit diesen Ebenen deutet sich in einem Zitat des Architekten Louis Kahn an, der sich gegenüber Studierenden zu den Eigenschaften von Ziegelsteinen äußert: »You say to brick, ›What do you want, brick?‹ And brick says to you, ›I like an arch.‹ And you say to brick, ›Look, I want one too, but arches are expensive and I can use a concrete lintel over you, over an opening.‹ And then you say, ›What do you think of that, brick?‹ Brick says, ›I like an arch.‹ It’s important, you see, that you honor the material that you use. […] You can only do it if you honor the brick, and glorify the brick instead of just shortchanging it or giving it an inferior job to do, where it loses its character.«280
Kahn personifiziert in diesem Zitat das Material Ziegelstein als einen Gesprächspartner, dessen eigensinniges Beharren auf einer ihm angemessenen Aufgabe einen Charakter erkennen lässt, der in den physischen Merkmalen und der sinnlichen Wahrnehmbarkeit des Materials gründet, diese jedoch transzendiert.
278 Vgl. ebd., S. 56-65 279 Eine Dichotomie von rationalistischer und sensualistischer Materialgerechtigkeitsbegriffen wie Ute Poerschke sie bei Adolf Loos erkennt, wird mit einem solchen Verständnis architektonischer Oberfläche überwunden. Vgl. Ute Poerschke: »Stein nicht Stein? Holz nicht Holz?«. Zur konkreten Materialität von Architektur 2009, http://www.cloud-cuckoo.net/journal19962013/inhalt/de/heft/ausgaben/109/Poerschke/poerschke.php vom 17.01.2018. 280 Zitiert nach Henning Schmidgen: Bruno Latour in pieces. An intellectual biography (= Forms of living), New York: Fordham University press 2015, cop. 2015, S. 115
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Abbildung 54: Louis Kahn, Indian Institute of Management, Ahmedabad, 1974
Wie sich solche Verbindungen in einer Betrachtung von Architektur äußern können, deutet sich anhand von Überlegungen Steen Eiler Rasmussens an, der sich in Architektur Erlebnis (1959) unter anderem auch mit der Stofflichkeit der Architektur auseinandersetzt. Wie Moholy-Nagy legt er besonderen Wert auf die sinnlich wahrnehmbaren Oberflächen architektonischer Materialien, die nicht nur auf deren natürlicher Beschaffenheit, sondern auch auf den Arten und Weisen ihrer Ver- und Bearbeitung basieren. Indem er z.B. glatten Oberflächen von Fliesen, Glas und verchromtem Metall attestiert, dass sie »von kühler und eleganter Präzision«281 seien, deuten sich Verschränkungen von physischen Eigenschaften, sinnlichen Qualitäten und einer konnotativen Ebene des Materials an. So verweist das Adjektiv kühl zum einen auf die physikalische Eigenschaft einer hohen Wärmeleitfähigkeit der genannten Materialien, die bewirkt, dass die Wärme der sie berührenden Körperteile abgeleitet wird, zum anderen können mit ihm aber auch charakterliche Eigenschaften wie Distanziertheit und Emotionslosigkeit assoziiert werden, die in einem Zusammenhang mit den spiegelnden Oberflächen, die Betrachtende auf sich selbst zurückverweisen, stehen. Werden die Materialien als elegant bezeichnet, basiert dies auf einer Übertragung aus anderen Bereichen, da die Eigenschaft der Eleganz in erster Linie Menschen zugeschrieben wird, die sich durch bestimmte Bewegungsweisen oder einen edlen Kleidungsstil auszeichnen. Dass ein Umgang mit Material, wie ihn Kahn aus der Perspektive der Produktion und Rasmussen aus rezeptiver Sicht darstellen, kein Einzelfall ist, sondern in der Architektur des 19. und 20. Jahrhunderts eine allgemeinere Relevanz 281 S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 178
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besitzt, zeigt Kenneth Frampton in Poetics of construction. Neben Kahn stellt er mit Auguste Perret, Frank Lloyd Wright, Ludwig Mies van der Rohe und Carlo Scarpa weitere, zu unterschiedlichen Zeiten tätige Architekten vor, in deren Arbeit Material nicht nur unter dem Aspekt seiner Konstruktionsmöglichkeiten, sondern auch im Hinblick auf seinen Charakter von zentraler Bedeutung ist.282 Auch in der zeitgenössischen Architektur spielt eine solche Perspektive auf Material eine wichtige Rolle. Erkannt werden kann dies allerdings weniger anhand der Ergebnisse einer verbreiteten architektonischen Praxis als vielmehr an der nicht nur in einem innerprofessionellen architektonischen Diskurs geteilten Anerkennung der architektonischen Leistungen von Architekten wie Peter Zumthor oder Steven Holl. Als Beispiele für einen Umgang mit Material, der in der Lage ist, »inneres und äußeres Material-An-Sich […] in Einklang zu bringen«283 verweist Ute Poerschke insbesondere auf Bauten Zumthors, zu denen die 1996 erbaute Therme in Vals gehört.284 In Architektur denken stellt Peter Zumthor die Grundlagen seines hier ebenso wie in weiteren seiner Entwürfe anschaulich werdenden Materialverständnisses folgendermaßen dar: »Die Arbeiten von Joseph Beuys und einigen Künstlern der Arte-povera-Gruppe haben für mich etwas Aufschlussreiches. Was mich beeindruckt, ist der präzise und sinnliche Einsatz des Materials in diesen Kunstwerken. Er scheint in einem alten Wissen um den Gebrauch der Materialien durch den Menschen verankert zu sein und gleichzeitig das eigentliche Wesen dieser Materialien, das bar jeglicher kulturell vermittelten Bedeutung ist, freizulegen. In meiner Arbeit versuche ich, die Materialien auf ähnliche Weise einzusetzen. Ich glaube, dass Materialien im Kontext eines architektonischen Objektes poetische Qualitäten annehmen können.«285
Wie diesem Zitat zu entnehmen ist, geht es Zumthor um einen Umgang mit Material, der dessen verschiedene Dimensionen auf komplexe Weise vernetzt und dabei seine tradierten Verwendungskontexte ebenso einbezieht wie seine sinnli-
282 Vgl. Kenneth Frampton/Gitta Domik/Elisabeth R. Jessup/John Cava (Hg.): Studies in Tectonic Culture: The Poetics of Construction in Nineteenth and Twentieth Century Architecture, London; MIT Press, 1995 283 U. Poerschke: Stein oder nicht Stein 284 Vgl. ebd. 285 P. Zumthor: Architektur denken, S. 8-10. Inwiefern über das Wesen eines Materials jenseits einer kulturell vermittelten Bedeutung nachgedacht werden kann, wäre allerdings sowohl für die Materialverwendungen bei Peter Zumthor als auch bei Joseph Beuys zu hinterfragen.
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che Wahrnehmbarkeit. Seine weiteren Ausführungen weisen darauf hin, dass sich seine Art der Materialverwendung nicht vollständig begrifflich explizieren lässt. Vielmehr scheinen in ihrem Kontext ästhetische Erfahrungsprozesse eine Rolle zu spielen, auf deren Basis die komplexen Verbindungen der verschiedenen Materialdimensionen zu einem »Form- und Sinnzusammenhang«286 werden können: »Der Sinn, den es im Stofflichen zu stiften gilt, liegt jenseits kompositorischer Regeln, und auch die Fühlbarkeit, der Geruch und der akustische Ausdruck sind lediglich Elemente einer Sprache, in der wir sprechen müssen.«287
Aus Franck Hofmanns in seinem Text Materialverwandlungen vorgestellter Perspektive ist Peter Zumthors Umgang mit Material exemplarisch für ein sich in verschiedenen Bereichen ästhetischer Produktivität entwickelndes Verständnis des Zusammenhangs von Material und Prozess, innerhalb dessen eine Dichotomie von Essentialismus und Diskursivierung aufgehoben werde.288 Material wird dabei weder auf eine dinghafte noch auf eine zeichenhafte Ebene reduziert, sondern vielmehr in einem Dazwischen verortet, innerhalb dessen sich beide Seiten zu etwas Neuem, für den jeweiligen Kontext Spezifischem verbinden. Spielt eine solche Sichtweise für ein Verständnis der Zusammenhänge von Materialien und Formen sowie der in ihrem Zusammenspiel entstehenden Wirkungen in der zeitgenössischen Architektur eine Rolle, kann eine Konvergenz skulpturaler und architektonischer Formen der Auseinandersetzung mit Material erkannt werden. Auf sie deutet Peter Zumthors Verweis auf das Anregungspotenzial, das bildhauerische Umgangsweisen mit Material für seine Arbeit bieten, ebenso hin, wie Richard Serras Überlegungen zu Parallelen zwischen seiner Arbeit und der Louis Kahns: »I am interested in form as a conjunction between space and matter. Matter, any material whatsoever, imposes its own form on form. To me Louis Kahn’s brick is still relevant.«289
286 Ebd., S. 10 287 Ebd. 288 Vgl. Franck Hofmann: »Materialverwandlungen. Prolegomena zu einer Theorie ästhetischer Theorie«, in: Andreas Haus (Hg.), Material im Prozess. Strategien ästhetischer Produktivität, Berlin: Reimer 2000, S. 17-49, hier S. 42-49 289 R. Serra: Questions, Contradictions, S. 54
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Konvergenzen architektonischen und skulpturalen Umgangs mit Material Folgt man den dargestellten Überlegungen, ermöglichen es zeitgenössische Formen skulpturalen Handelns, die, wie weiter oben überlegt, reziproke Verbindungen zwischen konnotativen und physikalischen Materialdimensionen herstellen, die Rolle des Materials in der Architektur, die ebenfalls durch die komplexe Vernetzung unterschiedlicher Ebenen gekennzeichnet ist, zu erkunden. Besondere Chancen bestehen dabei darin, dass Materialität auf der Basis ästhetischer Erfahrungsprozesse reflexiv zu werden vermag. Die Besonderheit gegenüber Zugängen, die explizites Materialwissens fokussieren, besteht darin, dass Zusammenhänge unterschiedlicher Dimensionen des Materials erkennbar werden können, die sich einer begrifflichen Fixierung entziehen. Eine Auseinandersetzung mit den untrennbaren Zusammenhängen von Material, Form und Wirkung, die in der Rezeption und Produktion von Skulpturen, die ihre Materialität thematisieren, initiiert werden kann, kann so zu einer Sensibilisierung für die Materialität der Architektur beitragen. Sie kann bewirken, dass implizites Wissen im Hinblick auf sich an Material anlagernde Bedeutungsebenen, das in die Wahrnehmung architektonischer Materialverwendungen einbezogen wird, auf eine Ebene gelangt, die der ästhetischen Reflexion zugänglich ist. Sie führt aber auch zu einem Ausbau dieses Wissens. Zeitgenössische Skulpturen bieten auch insofern Erkundungs- und Erkenntnismöglichkeiten im Bereich architektonischer Materialverwendungen, als sie einerseits Materialien einbeziehen, die auch in der Architektur Verwendung finden, andererseits aber auch häufig mehrere Materialien kombinieren.290 Letzteres erweitert die skulpturalen Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen, da bauliche Strukturen aus Materialkombinationen bestehen, die auch ihre Wahrnehmung sehr stark mitbestimmen können. Eine Rolle spielt hier zum Beispiel der Aspekt, dass Materialien sich gegenseitig beeinflussen. Wie Franck Hofmann an Peter Zumthors schweizerischem Pavillon auf der Expo 2000 zeigt291, kann die Verwendung sich gegenseitig aufladender Materialien ein zentrales architektonisches Gestaltungsprinzip darstellen, mit dem sich die Komplexität der Zusammenhänge von Material und ihrer Wirkung erhöht.
290 Wie Thomas Strässle überlegt, könnte ein Zusammenwirken unterschiedlicher Materialien in der Skulptur unter dem Begriff der Intermaterialität hinsichtlich der Materialinteraktion, des Materialtransfers und der Materialinterferenz betrachtet werden. Vgl. Thomas Strässle: »Einleitung. Pluralis materialitatis«, in: Thomas Strässle/Christoph Kleinschmidt/Johanne Mohs (Hg.), Das Zusammenspiel der Materialien in den Künsten, transcript Verlag, S. 7-21, hier S. 13. 291 Vgl. F. Hofmann: Materialverwandlungen, S. 43
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Sowohl in architektonischen als auch in skulpturalen Kontexten verbindet sich die Ebene einer materiellen Wirklichkeit an sich, die einer Verortung im realen Raum entspricht, den vorgestellten Überlegungen folgend mit einer Ebene der wahrgenommenen Wirklichkeit, in der die physische Realität eines Objekts die Basis von Zuschreibungen und Assoziationen bildet. Eine besondere Chance skulpturaler Auseinandersetzungen mit Material-. Form-, und Wirkungszusammenhängen kann darin gesehen werden, dass konnotative und assoziative Ebenen auf das Konkrete, Materielle bezogen bleiben. Auf diese Weise wird erkennbar, dass wahrgenommene Materialwirkungen zwar subjektiv, deswegen jedoch nicht arbiträr sind. Indem z.B. Arbeiten wie Esther Kläs’ Ohne Titel. (B) Fragen des Materials und seiner Verarbeitungsweisen stellen, ohne sie abschließend zu beantworten, andere Arbeiten Material und Form in Spannungsverhältnisse setzen oder eine Passung von Material und Form auf den Punkt bringen, wird die Materialerfahrung zum Erlebnis und damit potenziell reflexiv. Basierend auf den hier relevanten Formen der nicht vollständig begrifflichen Reflexion kann komplex vernetztes implizites Wissen in Bezug auf das Zusammenwirken der physikalischen Eigenschaften des Materials, der Herstellungsweisen, Formen sowie kontextuellen und konnotativen Faktoren erworben werden und in die Wahrnehmung der gebauten Umwelt einfließen. Die Bedeutung, die Material für die Wahrnehmung und Erfahrung der Architektur hat, und die damit verbundene Relevanz einer Sensibilisierung für seine Wirkungsweisen zeigt sich in Mies Missing Materiality von Anna und Eugeni Bach (8.-27.11.2017). Abbildung 55: Ludwig Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon, 1929 Abbildung 56: Anna und Eugeni Bach, Mies Missing Materiality, 2017
Für diese temporäre Installation werden alle Oberflächen des BarcelonaPavillons Ludwig Mies van der Rohes mit weißen Paneelen verkleidet. Dieser Prozess ist als Phase der Entmaterialisierung ebenso Teil der Ausstellung wie die anschließende Entfernung der Platten, durch den das Gebäude wieder rematerialisiert wird. Aufgrund ihrer Neutralität und einer gleichförmigen, matten Oberfläche bewirkt die Verkleidung eine Virtualisierung, durch die das Gebäude zu
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seinem eigenen Modell zu werden scheint. Durch die Homogenisierung der Oberflächen verweist die Installation insbesondere auch auf das für den Pavillon kennzeichnende Zusammenwirken unterschiedlicher Materialien. Insofern die Arbeit speziell für den Barcelona-Pavillon konzipiert ist, interveniert sie nicht nur durch die Veränderung der Materialität in den realen Raum, sondern auch durch eine Bezugnahme auf einen konkreten Ort. Diesem weiteren Aspekt möglicher skulpturaler Erkundungen realen Raums soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden. Skulpturale Bezüge zum realen Raum als Ort Arbeiten wie Robert Morris’ Installation at the Green Gallery und Robert Smithsons Spiral Jetty sind für bestimmte räumliche Situationen konzipiert, die auf die Wahl der verwendeten Materialien, die entstehenden skulpturalen Formen und Strukturen sowie deren räumliche Anordnung Einfluss nehmen. Im Unterschied zu Installation at the Green Gallery nimmt Spiral Jetty allerdings auf einen außerhalb eines institutionellen Ausstellungskontextes gelegenen Ort Bezug, den Robert Smithson als »site« vom musealen »non-site« abgrenzt.292 Der reale Raum, in den seine Arbeit interveniert, ist damit zugleich auch als konkreter Ort zu verstehen. Wie Rosalind Krauss darstellt, hängen sich seit den 1960er Jahren entwickelnde skulpturale Auseinandersetzungen mit konkreten Orten damit zusammen, dass Bildhauer dieses zeitlichen Kontextes daran interessiert sind, die modernistische Ortlosigkeit der Skulptur, die sie als »reine Negativität«293 erfahren, zu überwinden. In Conical Intersect (1975) schneidet Gordon Matta-Clark kreisförmige Öffnungen in die Außenwand eines Pariser Wohnhauses, um von dort aus weitere, konische Durchbrüche im Inneren des Hauses vorzunehmen.
292 Doris Krystof: »Ortsspezifität«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 231-236, hier S. 233 293 R. E. Krauss: Skulptur im erweiterten Feld, S. 337
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Abbildung 57: Gordon MattaClark, Conical Intersect, 1975, Filmstill aus dem gleichnamigen Film Durch sie wird eine Sichtachse auf den begonnenen Bau des Centre Pompidou eröffnet, dem das Wohnhaus weichen wird. Neben einem formalästhetischen Interesse an den entstehenden Negativformen geht es Matta-Clark bei seinem Beitrag zur Biennale in Paris auch um eine kritische Bezugnahme auf den bevorstehenden Abriss. Die von ihm gewählte Strategie der Ortsspezifität besteht in der »Verankerung eines Werkes an einem spezifischen Ort, dessen Struktur zu jener des Werkes in einer spannungsvollen, widersprüchlichen und konfrontativen Beziehung steht.«294 Eine konfrontative Beziehung ist auch für Richard Serras Tilted Arc (1981) kennzeichnend, mit dem er die architektonische Struktur des Aufstellungsortes, der Federal Plaza in New York, kritisiert.295
294 Pathmini Ukwattage: »Gordon Matta-Clark«, in: Kunstmuseum Basel, Mendes Bürgi, Bernhard (Hg.), Sculpture on the Move. 1946-2016, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag 2016, S. 96-97, hier S. 97 295 Vgl. Richard Serra: »The Content is really in the work itself. Ein Gespräch mit Hanne Weskott«, in: Kunstforum International (Bd. 093, 1988), S. 229
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Abbildung 58: Richard Serra, Tilted Arc, Federal Plaza, New York, 1981-1989
Wie Serra in einem Gespräch mit Peter Eisenman erläutert, differenziert er zwischen einem affirmativen Umgang mit einem Ort, den er als Kontextualismus bezeichnet, und seinem Verständnis der Ortsspezifität: »In meiner Arbeit analysiere ich den Ort, um ihn dann auf der Basis von Skulptur neu zu definieren.«296 Einen die Merkmale eines spezifischen Ortes zwar nicht affirmierenden, dennoch aber betonenden Bezug wählt Richard Serra dagegen, wenn er in Shift die topografischen Besonderheiten des Geländes durch Betonwände hervorhebt, die teils in den Boden eingelassen, teils über die Geländeoberfläche hinausragend dazu gedacht sind, dass »man mehr von der Landschaft sieht und nicht weniger«297. In beiden Fällen stehen Ort und Skulptur in einer reziproken Beziehung zu einander, indem der Ort Einfluss auf Maßstab, Größe und Proportionen der Skulptur nimmt, diese wiederum den Ort neu definiert.298 In beiden Arbeiten wird darüber hinaus auch die Untrennbarkeit von ihren jeweiligen Orten deutlich, die durch Richard Serras Aussage »To remove the work is to destroy the
296 Richard Serra in einem Interview mit Peter Eisenman. Peter Eisenman: »Interview«, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Schriften, Interviews, 1970-1989, Bern: Benteli 1990, S. 169-182, hier S. 175 297 Friedrich Teja Bach: »Skulptur als Platz. Interview von Richard Serra mit Friedrich Teja Bach«, in: Richard Serra/Harald Szeemann (Hg.), Schriften, Interviews, 19701989, Bern: Benteli 1990, S. 37-46, hier S. 44 298 Vgl. Barbara Oettl: Schwere Kunst nach Maß. Betrachterfunktionen bei ausgewählten Blei- und Stahlskulpturen im Werk von Richard Serra (= Theorie der Gegenwartskunst, Bd. 14), Münster: Lit 2000, S. 42
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work«299 prägnant zusammengefasst wird. Wie anhand von The Tired Room erkannt werden kann, sind Strategien der Ortsspezifität nicht auf die Arbeit im öffentlichen Raum beschränkt. Neben Arbeiten, die wie The Tired Room oder auch Michael Ashers Pomona College Project (1970) an einer Schnittstelle zwischen öffentlichem und institutionellen Raum verortet werden können, arbeiten Bildhauerinnen und Bildhauer seit den 1960er Jahren auch mit den spezifischen Situationen von Ausstellungsräumen, indem sie diese zum Ausgangspunkt installativer Interventionen werden lassen. Mit den Entwicklungen ortsspezifischer Strategien erweitert sich das skulpturale Erkundungspotenzial des Architektonischen insofern, als hier Fragen des Ortes von grundlegender Bedeutung sind. Nicht hintergehbare Formen der Orts spezifität bestehen u.a. bereits in der notwendigen Berücksichtigung der Größe, Tragfähigkeit, Ausrichtung und der Erschließungsmöglichkeiten des Baugrundstücks. Eine Bezugnahme auf den konkreten Ort kann darüber hinaus aber auch im Aufgreifen topografischer Besonderheiten bestehen, auf die Bauten in unterschiedlicher Weise reagieren, zum Beispiel durch Aufnahme von Höhenlinien, Uferkanten etc. oder durch die Ermöglichung von Blickachsen zu markanten Landschaftsmerkmalen. Im Kontext baulichen Bestandes können Gebäudeachsen, Begrenzungen und Parzellierungen ebenso aufgegriffen werden wie gestalterische, materielle und konstruktive Eigenschaften der umgebenden Gebäude. Die Bedeutung des Ortsbezugs in der Architektur sieht Thomáš Valena unter anderem durch die Dauerhaftigkeit von Bauwerken begründet. Da Gebäude für einen Zeitraum gebaut würden, innerhalb dessen sich sowohl seine Nutzungsweisen als auch der Zeitgeschmack ändern könnten, werde der dauerhaftere lokale Kontext in den Vordergrund gestellt. Einen weiteren Faktor sieht Valena in ökonomischen Überlegungen. Werde ein Gebäude an seinen Kontext angepasst, könne mit geringeren Mitteln ein überzeugendes Ergebnis erreicht werden, da vorhandene Potenziale produktiv gemacht würden. Als Antagonisten des von ihm als Topos in den Blick genommenen Ortsbezuges in der Architektur stellt Valena den Typus vor. Dieser, den er als universelle und autonome, gleichwohl aber Veränderungen unterworfene Architektursprache begreift, tendiere zum Optimalen, Idealen und Allgemeingültigen. Unter dem Begriff des Topos als zweitem Grundelement der Architektur fasst er dagegen alle lokalen Faktoren zusammen, die auf Architektur am konkreten Ort Einfluss nehmen können. 300 Be-
299 Richard Serra in einem Brief an Donald Thalacker, in Clara Weyergraf-Serra/Martha Buskirk: Richard Serra’s Tilted arc, Eindhoven: Van Abbemuseum 1988, S. 38 300 Tomáš Valena: Beziehungen. Über den Ortsbezug in der Architektur, Aachen: Geymüller 2014, S. 13.
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trachtet man mit Valena das Verhältnis von Typus und Topos aus einer geschichtlichen Perspektive, können unterschiedliche Gewichtungen beobachtet werden. Langfristig erkennt Valena eine abnehmende Bedeutung von Bezugnahmen auf die physischen oder geografischen Eigenschaften eines Ortes, die er in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen stellt. Den Beginn einer dauerhaften Entwicklung der Dominanz autonomer Idealvorstellungen gegenüber Fragen des Ortsbezuges verortet Valena in der Renaissance, ihre logische Weiterentwicklung erkennt er in der Architektur der frühen Moderne. 301 Als Beispiel hierfür können Überlegungen Le Corbusiers angesehen werden, dessen unverwirklichter Plan Voisin für eine umfassende städtebauliche Neugestaltung bestehender Quartiere in Paris Idealvorstellungen eines den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen der 1920er Jahre entsprechenden Wohnens gegenüber Bezugnahmen auf bestehende Architektur in den Vordergrund stellt. Abbildung 59: Le Corbusier, Plan Voisin, 1925
Die starke Betonung der Funktion als einem Aspekt, den Valena dem Typus zuordnet, kann aus seiner Sicht in den 1960er Jahre als Hintergrund einer Gegenbewegung betrachtet werden, in der eine Bezugnahme auf kontextuelle Faktoren des Ortes verstärkt wird. Beispiele architektonischer Positionen, die einer solchen Gegenbewegung zugeordnet werden können, finden sich allerdings auch schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonders deutlich wird die Bedeutung, die die umgebenden landschaftlichen Besonderheiten für den Entwurf haben, in Wrights Wohnhaus Fallingwater. In der zeitgenössischen Architektur können unterschiedliche Formen des Einbezugs örtlicher Gegebenheiten beobachtet werden, die mit der jeweiligen Zielsetzung einer baulichen Aufgabe in Verbindung stehen. So spielen für Entwürfe sogenannter Signature Buildings renommierter Architekturbüros Bezugnahmen auf Faktoren des jeweiligen Ortes eine eher untergeordnete Rolle. Als 301 Ebd., S. 77.
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Beispiele hierfür kommen Bauten Frank Gehrys in Betracht, deren Wiedererkennungswert auf der Verwendung eines ortsunabhängigen Formenrepertoires basiert und die, wie Jean Baudrillard am Beispiel des Guggenheim-Museums feststellt, als »Prototyp virtueller Architektur«302 auf den ersten Blick kaum Bezüge zu ihrer jeweiligen konkreten Umgebung erkennen lassen. Während hier eine Transformation des Ortes durch ein markantes Gebäude angestrebt wird, tendiert z.B. Dominique Perrault dazu, seine Bauten ihrer physischen Umgebung anzupassen. Seine zwischen 1984 und 1987 erbaute École superieure in Marnela-Vallée verbindet sich hierzu mit der umgebenden flachen Landschaft, aus der sich die eine Längsseite des Baus in einer ansteigenden Fläche herauszuklappen scheint, während die andere fünf mehrgeschossige Gebäuderiegel aufweist, die sich mit dem umgebenden Raum verzahnen. Wie Perrault in Der Architekt in seinem Kontext äußert, geht es ihm in seinen Entwürfen um eine »Akzeptanz im geographischen Sinn«303, in deren Zusammenhang die Geschichte des Ortes nur insofern eine Rolle spiele, als sie »einen bestimmten Typ an Geographie hervorgebracht hat.«304 Die Auseinandersetzung mit dem Ort betrachtet er nicht als Analyse, sondern als »Begegnung, die geschieht oder nicht geschieht«305 und die zunächst die Idee entstehen lasse, nichts zu ändern. Die Bedeutung einer physischen Begegnung mit dem konkreten Bauplatz, die er als Versuch erkennt, »der DNA eines Ortes, seiner Zusammensetzung so nahe wie möglich zu kommen«306, steht auch für Stuart Berriman, Head Designer von The Jerde Partnership am Anfang einer Entwurfstätigkeit, wobei neben physischen Faktoren wie »ortsspezifische[n] Formen, Farben, Materialien, Maßstäblichkeit oder Licht«307 auch atmosphärische und infrastrukturelle Komponenten einbezogen werden. Wie anhand der exemplarischen Gegenüberstellung unterschiedlicher Strategien des Umgangs mit Orten erkennbar wird, kann architektonisches Entwerfen ebenso wie skulpturales Arbeiten als Aushandlungsprozess betrachtet
302 Jean Baudrillard: »Architektur: Wahrheit oder Radikalität«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 570-573, hier S. 572 303 Dominique Perrault: »Der Architekt in seinem Kontext«, in: Vittorio Magnago Lampugnani (Hg.), Architekturtheorie 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz ©2004, S. 321-324, hier S. 322 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Stuart Berriman, zitiert nach Elke Krasny: Architektur beginnt im Kopf. The making of architecture, Basel, Boston: Birkhäuser 2008, S. 73 307 Ebd.
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werden, in dem kontextuelle Faktoren eines unterschiedlich begriffenen Ortes mit künstlerischen bzw. architektonischen Ideen interagieren. Die u.a. von Perrault und Berriman gewählte Strategie, einen Ort in seiner Besonderheit zunächst kennen zu lernen, bevor Entwurfsgedanken entwickelt werden, setzt voraus, dass der Bauplatz bereits als Ort betrachtet wird. Eine solche Sichtweise vertritt u.a. Christian Norberg-Schulz, der unter einem Ort »eine Totalität, die aus konkreten Dingen mit materieller Substanz, Form, Oberfläche und Farbe gebildet wird«308 versteht. In ihrer Gesamtheit bestimmen sie Charakter und Atmosphäre des Ortes, einen »Genius loci«309 den die architektonische Planung visualisieren solle. Der somit immer bereits vorhandene und dabei auch als relativ statisch begriffene Ort wird aus seiner Sicht einerseits durch seine physischen Eigenschaften, andererseits aber auch durch eine hiermit untrennbar verbundene semantische oder auch mythologische Ebene charakterisiert. Eine Perspektive auf den Ort, die es erlaubt, darüber nachzudenken, inwiefern Orte durch eine Intervention wie das Bauen geschaffen werden, kann unter Bezugnahme auf Martin Heidegger eingenommen werden. Wie er anhand einer die beiden Ufer eines Flusses verbindenden Brücke darstellt, lässt erst sie aus einer von vielen Stellen entlang des Flusses einen Ort werden.310 Indem sie die beiden Ufer verbindet, lässt sie diese in ihrer Eigenschaft, einander gegenüberzuliegen, erkennbar werden und bezieht auf diese Weise auch die hinter den Ufern gelegenen Landschaftsbereiche in den so entstehenden Ort ein, sie »versammelt die Erde als Landschaft um den Strom«311. Ein Ort setzt aus Heideggers Sicht damit Beziehungen zwischen räumlichen Elementen voraus, zu deren Schaffung Bauten beitragen können. Auch anhand von Marc Augés Überlegungen zu einer Differenzierung von Orten und Nicht-Orten können Zusammenhänge zwischen baulichen Strukturen und der Entstehung von Orten erkannt werden. Orte zeichnen sich aus seiner, Parallelen zu den vorgestellten Gedanken Heideggers aufweisenden Sicht durch ein Bleiben aus.312 Neben der »Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält«313, spiele hierzu deren Funktion eine Rolle, die wiederum mit baulichen Strukturen in Verbindung steht. Gebäude, die aufgrund
308 Christian Norberg-Schulz: »Das Phänomen ›Ort‹«, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 543-549, hier S. 544 309 Ebd., S. 549 310 Vgl. Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 154-156 311 Ebd., S. 511 312 Vgl. M. Augé: Nicht-Orte, S. 107. 313 Ebd., S. 96.
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ihrer Bestimmung für Zwecke der »Durchreise«314 im Kontext von »Verkehr, Transit, Handel, Freizeit«315 konzipiert sind, kommen als potenzielle Nicht-Orte verstärkt in Betracht. Wie Augé unter Bezugnahme auf Michel de Certeau und Maurice Merleau-Ponty überlegt, sind Orte, anders als durch eine zeitgenössischen »Übermoderne« verstärkt hervorgebrachte Nicht-Orte316, anthropologische Räume, an denen sich Individuen im Verhältnis zu ihrer räumlichen Umgebung erfahren. Für eine solche Verortung erkennt er einer handelnden Auseinandersetzung eine zentrale Bedeutung zu, die er von einem verbalsprachlichen oder bildlichen, Beziehungen zu Nicht-Orten kennzeichnenden Zugang unterscheidet.317 Eine ähnliche Sicht kann auch bei Gernot Böhme erkannt werden, aus dessen Perspektive sich ein Ort durch eine konkrete Dinghaftigkeit auszeichnet, die voraussetzt, dass anhand seiner mit der »Erfahrung des Widerstands der Dinge«318 auch die Erfahrung der eigenen körperlichen Anwesenheit gemacht werden kann. Eine Skulptur, die als Auseinandersetzung mit Fragen der möglichen Entstehung von Orten verstanden werden kann, ist Oscar Tuazons Beitrag zu den Skulptur-Projekten Münster im Jahr 2017. Burn the Formwork ist ein BetonObjekt mit kreisförmigem Grundriss eines Durchmessers von 5,30 m. Im Zentrum befindet sich ein 3,70 m hoher Zylinder, der im unteren Viertel eine runde Öffnung aufweist. Diese setzt sich im Inneren des Zylinders nach oben fort und ist in ihrer Form und Dimensionierung so angelegt, dass der Zylinder als Feuerstätte verwendet werden kann. Zu etwa zwei Dritteln wird der innere Zylinder von einer spiralförmig aufsteigenden Treppenstruktur umgeben, die auf der rechten Seite senkrecht abfällt und von einer etwas höheren Wand abgeschlossen wird. Die Betonoberflächen des Objekts weisen senkrechte Grate und Abdrücke der Schalbretter auf, deren Struktur ebenso wie eine ungleichmäßige Verdichtung des Betons zu einer rauen Oberfläche beiträgt. Zu Beginn des Ausstellungszeitraums sind die zersägten Schalungsbretter außen an der abschließenden Betonwand aufgestapelt.
314 Ebd., S. 83. 315 Ebd., S. 96. 316 Ebd., S. 83. 317 Ebd., S. 84-85. 318 G. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum, S. 98
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Abbildung 60: Oscar Tuazon, Burn the Formwork, Installationsansicht 2017
Das Objekt befindet sich auf einer Industriebrache zwischen Fabrikgeländen, einer höher gelegenen Straße und dem Dortmund-Ems-Kanal, »einem undefinierten Areal, das von verschiedenen Personengruppen genutzt wird«319. Die Skulptur kann als Teil der Skulptur Projekte von Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung als Kunstwerk betrachtet werden, bietet aber auch die Möglichkeit, zunächst das Schalungsmaterial, später auch mitgebrachte brennbare Materialien zu verbrennen und die treppenartige Struktur als Sitzgelegenheit zu verwenden. Um dem Beton eine hierzu erforderliche warme Oberfläche zu verleihen, sind unter den Treppenstufen Luftkanäle angeordnet, durch die die während des Verbrennungsprozesses entstehende warme Luft geleitet wird. Das Objekt weist aufgrund seiner Funktionalität Parallelen zu architektonischen Strukturen auf und eröffnet auf deren Basis Möglichkeiten der Partizipation durch Nutzung. Darüber hinaus kann eine Teilhabe an der Skulptur aber auch in einer Mitgestaltung oder auch Fortführung des Formungsprozesses bestehen. Während das Verbrennen der Schalung noch als weitgehend vorgegebene oder vorgedachte Form einer solchen Weiterführung erkannt werden kann, weist eine im Verlauf der Ausstellung zunehmende Gestaltung durch Graffitis auf selbstbestimmtere Formen der Aneignung hin. Begünstigt werden sie durch die Lage in einem abgelegenen Areal, das sich weitgehend einer öffentlichen Kontrolle entzieht, sowie
319 Andreas Prinzing: »Oscar Tuazon. Burn the Formwork«, in: Kasper König/Britta Peters/Marianne Wagner et al. (Hg.), Skulptur Projekte Münster 2017, Leipzig: Spector Books 2017, S. 305, hier S. 305
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durch die rohe Bauweise, die dem Objekt eine unfertige Wirkung verleiht. »Sich selbst überlassen entwickelt die Arbeit, die in ihrer rohen Gestalt inmitten des peripheren Terrains Züge von Verfall und Entropie hat, ein Eigenleben.«320 Betrachtet man das Areal, in dem Tuazon sein Objekt positioniert, als bestehenden Ort, kann eine Ortsspezifität darin gesehen werden, dass bestehende Nutzungen aufgegriffen und unterstützt werden. Aus dieser Perspektive erhält das Kanalufer als Treffpunkt durch die Skulptur zusätzliche, attraktivitätssteigernde Möglichkeiten. Aus einer an Heideggers Überlegungen angelehnten Sicht kann aber auch darüber nachgedacht werden, dass das Objekt einen Ort erst ausbildet, indem es eine von vielen möglichen Stellen auf der umgebenden Fläche besetzt und somit einen Bezugspunkt für seine Umgebung bildet. Diese Intervention ist insofern am gewählten Platz besonders wirkungsvoll, als das brachliegende Terrain zuvor kaum Strukturen aufweist. Dies liegt an seiner Ebenheit, dem regelmäßigen, niedrigen und spärlichen Bewuchs sowie dem Fehlen von baulichen Elementen, wird aber in besonderer Weise auch dadurch verstärkt, dass die sich in der Nähe der Skulptur auf unterschiedlichen Ebenen schneidenden Verkehrswege weder auf die Fläche noch aufeinander Bezug nehmen. In dem zuvor homogenen Areal bildet die Skulptur, deren zylindrische Form auf eine Achse bezogen ist und somit auf einen Punkt in ihrem Zentrum verweist, eine Markierung, die als Anhaltspunkt auch zu den Straßen und dem Kanal eine Beziehung herstellt. Sie verfügt nicht nur über sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften wie ihre visuell erfassbare Gestalt oder ihre haptisch und taktil wahrnehmbare Oberfläche, sondern kann z.B. durch die Anstrengung, die eine Überwindung der teilweise hohen Stufen erfordert, auch als physischer Widerstand erfahren werden. Auch die in ihrer Rauheit in den Vordergrund tretende Materialität und ein als körperlich anstrengend nachvollziehbarer und weiterführbarer Herstellungsprozess tragen dazu bei, dass die Skulptur in ihrer physischen und materiellen Beschaffenheit erfahren wird. Insbesondere aufgrund des verwendeten Materials Beton, das auf der Basis seiner Materialeigenschaften und Verwendungsweisen als inhuman konnotiert ist, wirkt die Skulptur zunächst wenig einladend, erweist sich jedoch in einer Nutzung als Feuerstelle mit gewärmten Sitzgelegenheiten als unvermutet komfortabel. Ein hierin begründetes Moment der Irritation bildet einen der von der Arbeit ausgehenden Impulse ästhetischer Erfahrbarkeit. Ihr ortsbildendes Potenzial, das einerseits darauf basiert, dass sie Blickachsen entstehen lässt, die es erlauben, die Umgebung zu strukturieren, andererseits aber auch darauf, dass sie einen physischen Widerstand darstellt, der es ermöglicht, die eigene körperliche Anwesenheit zu erfahren, kann durch diese
320 Ebd.
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Irritation reflexiv werden. Ein weiteres, eine solche Reflexion motivierendes Moment der Irritation geht davon aus, dass die Arbeit aufgrund ihres Maßstabs, des verwendeten Materials und der Konstruktionsweise sowie durch ihre Funktionalität architektonische Eigenschaften aufweist, sich jedoch trotz dieser Merkmale nicht als Architektur identifizieren lässt. Hintergründe einer diesbezüglichen Verunsicherung sind eine offenkundige Nichtbeachtung von Bauvorschriften und bei öffentlichen Bauten geltender Standards. Eine Einstufung als Architektur wird aber auch dadurch unterlaufen, dass ein solcher Bau »als offizielle Architektur im städtischen Raum kaum denkbar wäre«321, da sie Nutzungsweisen ermöglicht, die hier als eher unerwünscht eingestuft werden können. Wie in der Auseinandersetzung mit Burn the Formwork, aber auch anhand der Überlegungen zum genius loci bei Norberg-Schulz erkennbar wird, sind Orte nicht nur durch ihre physische Beschaffenheit charakterisiert, sondern auch durch sich an sie anlagernde Ebenen der Bedeutung, die ihnen durch ihre Geschichte oder die anhand ihrer möglichen Formen der Nutzung und sozialen Interaktion verliehen werden. Diesbezügliche Zusammenhänge, die sich in der gebauten Umwelt in komplexer Weise überlagern, aber auch die Fragen, wodurch räumliche Bereiche sich als Orte konkretisieren und durch welche Interventionen die Wahrnehmung räumlicher Umgebungen als Orte unterstützt werden kann, bilden Interessenschwerpunkte ortsspezifischen skulpturalen Arbeitens. Wie Doris Krystof darstellt, bestehen die Kriterien der Ortsspezifität darin, sich »nicht nur formal (architektonisch, funktional), sondern auch inhaltlich (historisch, soziologisch, politisch)«322 mit dem Ort der Arbeit zu befassen. Anhand von Conical Intersect kann diese Form der Bezugnahme insofern bereits erkannt werden, als sich in der Arbeit ein Interesse an formalen Fragestellungen mit der Kritik an der spezifischen städtebaulichen Situation, die zum Abriss des Gebäudes führen soll, verbindet. Darüber hinaus nimmt Conical Intersect aber auch Bezug zu einem größeren Zusammenhang städtebaulicher Entwicklungen der 1970er Jahre, in denen innerstädtische Wohnbebauungen ambitionierten Großprojekten weichen. Die Kritik der Werkgruppe der Cuttings, zu der Conical Intersect gehört, richtet sich außerdem gegen die Wohnungsbaupolitik des zeitlichen Kontextes. Wie aus einem Interview mit Gordon Matta-Clark hervorgeht, betrachtet dieser die durch Formen des Wohnungsbaus bewirkte Isolation der Bewohner und Bewohnerinnen in geschlossenen Wohneinheiten als sozialpolitische Maßnahme, durch die eine bessere Regierbarkeit der Bevölkerung gewährleistet werden
321 Ebd. 322 D. Krystof: Ortsspezifität, S. 231
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soll.323 Nina Möntmann stellt in Kunst als sozialer Raum324 dar, dass hier erkennbar werdende Formen der Kontextualisierung insbesondere für die Kunst ab den 1990er Jahren kennzeichnend werden: »Die grundlegende Veränderung im Umgang mit Raum, die in der Kunst der 90er Jahre stattfindet, liegt im Verständnis von Raum als einem sozialen Gebilde.«325 Dabei ist eine Bezugnahme auf den sozialen Raum nicht mehr auf die Strategie der site-specifity angewiesen, sondern ebenso anhand von Arbeiten im institutionellen Kontext möglich. Hintergrund sind Veränderungen des Ortsbegriffs im Kontext zeitgenössischer sozialer, politischer und medialer Entwicklungen: Orte werden transitorisch, das Interesse verschiebt sich vom spezifischen Ort auf Verbindungen zwischen Orten.326 Besondere Chancen der Erkundung bestehen unter anderem dann, wenn konkret-materielle Strukturen sowie sich an sie anlagernde historische, gesellschaftliche und politischen Bedeutungsebenen in Bezug auf ihre Auswirkungen auf den Ort bzw. die Orthaftigkeit eines räumlichen Bereichs erfahren und reflektiert werden können. 3.2.3 Skulpturale Erkundungen des sozialen Raumes Richtet sich die Betrachtung des Ortsbezuges oder ortskonstituierenden Potenzials von Burn the Formwork auf die Frage nach den Verhaltensweisen und Interaktionen, die durch die Arbeit begünstigt werden, wird deutlich, dass sich in ihr eine physische und eine soziale Dimension in anderer Weise verschränken, als dies in den übrigen, im vorangegangenen Kapitel dargestellten Arbeiten der Fall ist. Anders als z.B. Matta-Clarks Conical Intersect beschränkt sich Burn the Formwork nicht auf eine Erkundung oder Kommentierung gesellschaftlicher Strukturen, sondern agiert im sozialen Raum. Mit der anhand dieser Arbeit besonders gut erkennbaren Möglichkeit vor allem zeitgenössischer skulpturaler Arbeiten, im Kontext sozialer Strukturen performativ zu werden, hängt ein skulpturales Potenzial zur Erkundung der reziproken Beziehungen von Architektur und Gesellschaft zusammen, dem in diesem Kapitel genauer nachgegangen werden soll.
323 Vgl. Nina Möntmann: Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser, Martha Rosler, Rirkrit Tiravanija, Renée Green (= Kunstwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 18), Köln: König 2002, S. 38 324 Vgl. ebd. 325 Ebd., S. 9 326 Vgl. ebd., S. 44
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Burn the Formwork als Akteur im sozialen Raum Durch die Errichtung von Burn the Formwork erweitern sich die Nutzungsmöglichkeiten des Areals am Dortmund-Ems-Kanal, das insbesondere jüngere Bewohnerinnen und Bewohner Münsters in ihrer Freizeit aufsuchen. War das Areal zuvor eher an warmen Tagen attraktiv, kann es aufgrund der Feuerstelle nun auch bei kälterer Witterung oder nachts als Treffpunkt dienen. Indem die Skulptur einen zentralen Anziehungspunkt bildet und Gesprächsstoff bietet, kann sie die Kommunikation der das Areal aufsuchenden Menschen fördern. Betrachtet man mit Marc Augé das Zustandekommen unmittelbarer Formen der zwischenmenschlichen Kommunikation als Distinktionsmerkmal von Orten327, wird eine Tendenz zum Nicht-Ort, die der Bereich aufgrund seiner im vorangegangen Kapitel vorgestellten Eigenschaften vor der Aufstellung von Burn The Formwork aufgewiesen haben dürfte, abgemildert. Aus der Perspektive einer solchen Betrachtungsweise nutzt Tuazon die finanziellen Möglichkeiten und besonderen baurechtlichen Konditionen, die die Skulptur Projekte als Rahmen seines skulpturalen Vorhabens bieten, dazu, bestimmte, tendenziell nicht zur Gruppe eines arrivierten und finanziell abgesicherten Münsteraner Bürgertums gehörende Menschen in einem selbstbestimmten gemeinschaftlichen Handeln zu unterstützen und verweist so mit seiner Arbeit »auf selbstgeschaffene, mit Gegenkultur und Aussteigertum verbundene Basisarchitekturen«328. Aus der Sicht Andreas Prinzings, der Burn the Formwork im Ausstellungskatalog der Skulptur Projekte vorstellt, besteht das Reibungspotenzial der Arbeit in der sich durch sie eröffnenden »Form der Partizipation, die sich der Kontrolle entzieht.«329 Geht man den Irritationsmomenten, die von der Arbeit ausgehen, weiter nach, wird allerdings eine größere Vielschichtigkeit erkennbar. Diese basiert darauf, dass sich die Arbeit einer Rezeption als Maßnahme zum Ausgleich sozialer Ungerechtigkeiten widersetzt, wodurch die ihr innewohnende Geste der Verbrüderung in Paternalismus umzuschlagen beginnt. War die Nutzung eines Areals, das weder das eigene, noch als öffentlicher Bereich allgemein zugänglich ist, zuvor eine Form der Subversion, wird das hier stattfindende Zusammenfinden nun zur erwünschten Partizipation an einem Kunstwerk. Die Unterstützung subversiven Handelns führt somit zu dessen Umwandlung in regelkonformes Verhalten. Insofern die Arbeit alle Formen der Partizipation prinzipiell mitdenkt, ändert sich daran auch dann nichts, wenn die Feuerstelle nicht mehr nur als Feuerstelle und Treffpunkt genutzt, sondern mit Graffitis versehen wird. Ein Handeln, das an anderen Orten
327 Vgl. M. Augé: Nicht-Orte, S. 107 328 A. Prinzing: Oscar Tuazon, S. 305 329 Ebd.
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als Vandalismus eingestuft würde, ist hier willkommenes Zeichen der (vermeintlichen?) Aneignung. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen oder eines sich in der Rezeption einstellenden Unbehagens stellen sich weitere Fragen, die der Widersprüchlichkeit der Arbeit und dem ihr innewohnenden Irritationspotenzial zugrunde liegen: Werden die subversiv-erwünschte Praxis bzw. ihre Spuren wie auf ein Feuer verweisende Asche oder Graffitis zu einem Teil des Kunstwerks und somit in den institutionellen Kontext der Ausstellung eingeholt? Oder gelingt es, die Skulptur durch Aneignung aus diesem Kontext zu lösen? Ein zentraler Aspekt der Widersprüchlichkeit, die Burn the Formwork kennzeichnet, ist, dass sich die Arbeit an zwei größere Gruppen von Rezipientinnen und Rezipienten adressiert, denn nicht nur eine »unmittelbare, lebensnahe Rezeption durch Gebrauch«330 ist möglich, vielmehr wird die Arbeit auch von Besucherinnen und Besuchern der Skulptur Projekte betrachtet, einem kunstinteressierten und tendenziell bildungsorientierten Publikum also, das das Gebiet ohne die Skulptur nicht aufsuchen würde. Eine Betrachtung der Spuren von Feuer, die auf nächtliche Zusammenkünfte verweisen, weckt Sehnsüchte nach einem unkonventionellen und selbstbestimmten Lebensstil, gleichzeitig aber auch das Gefühl des Eindringens in einen privaten Bereich, der Nicht-Zugehörigkeit zu einer unbekannten aber in ihrer Unkonventionalität möglicherweise beneidenswerten Gruppe. Mit den sich in ihren verschiedenen Rezeptionsformen eröffnenden Spannungsfeldern zwischen institutionellem Kontext und Lebenswelt, Architektur und Skulptur, Privatheit und Öffentlichkeit sowie Themengebieten wie Gentrifizierung und paternalistischen Strukturen331 der Architektur verweist die Arbeit in besonders prägnanter Weise darauf, dass sie nicht in einem als homogen denkbaren Raum verortet ist, sondern in einem Raum, der durch sich überlagernde, immer wieder neue Konstellationen bildende soziale Strukturen gekennzeichnet ist. 3.2.4 Skulpturale Raumerkundungsmöglichkeiten als Basis von Auseinandersetzungen mit Architektur Mit den vorgestellten Entwicklungen des skulpturalen Raumbezugs geht eine umfassende Erweiterung der Raumerkundungsmöglichkeiten zeitgenössischer
330 Ebd. 331 Eine »hyper-paternalistische Organisation der Planung« bildet einen zentralen Kritikpunkt in Yona Friedmans architekturkritischen Überlegungen. Yona Friedman: Meine Fibel. Wie die Stadtbewohner ihre Häuser und Städte selber planen können, Düsseldorf: Bertelsmann 1974, S. 99
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Skulptur einher, die eine Voraussetzung darstellen, damit Architektur, deren Eigenschaft, Räume zu schaffen, seit August Schmarsows einflussreicher Antrittsvorlesung als ihr wesentliches Kennzeichen gilt332, skulptural erkundet werden kann. Eine grundlegende Vorbedingung für skulpturale Raumerkundungen bilden bereits die Entwicklungen der Skulptur in der frühen Moderne. In diesem zeitlichen Kontext kann Skulptur ihren Raumbezug erstmals eigenständig erkunden, da sie nicht mehr in einer Verkörperung von außen an das plastische Material herangetragener Ideen aufgeht. In der modernen Skulptur, die in der Auseinandersetzung mit dem Material Formen und Oberflächen entwickelt, kann der Raumbezug als solcher zum Gegenstand einer künstlerischen Untersuchung werden und damit auch in der Betrachtung stärkere Relevanz erhalten. Dies gilt, wie Boehm an Rodins Balzac zeigt, bereits für nach wie vor figurative, geschlossene Volumina bildende Arbeiten333, verstärkt jedoch insbesondere dann, wenn Raumbezüge zum zentralen Thema von Arbeiten werden, die sich, wie Naum Gabos Lineare Konstruktion im Raum, ebenso von einem Abbildungsverhältnis wie von einem geschlossenen Volumen lösen. Insofern sich das räumliche Interesse der modernen Skulptur vor allem auf einen idealen Raum richtet, gehen mit den Entwicklungen der 1960er und 1970er sowie der 1990er Jahre noch einmal wesentliche Erweiterungen der Möglichkeiten skulpturaler Raumbezüge und der damit korrespondierenden Chancen zur Erkundung architektonischer Fragestellungen einher. Diese Erweiterungen stehen im Zusammenhang mit einem Wandel des Raumbegriffs, der den kultur- und geisteswissenschaftlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte prägt334. Der physikalische oder mathematische Raumbegriff wird dabei durch sowohl territoriale als auch relationale Raumkonzepte ergänzt, die in ihrer kulturellen und sozialen Bedingtheit reflektiert werden. An die Stelle eines homogen gedachten Raumes der Moderne treten hybride Raumkonzepte. Indem sich die nun entstehenden Skulpturen nicht mehr in erster Linie für die ihnen immanenten räumlichen Beziehungen interessieren, sondern auch auf den Raum der Betrachtenden in seiner Materialität sowie sozialen und kulturellen Bedingtheit Bezug nehmen, ermöglichen sie eine Betrachtung lebensweltlicher Raumfragen. Zeitgenössische skulpturale Arbeiten tendieren den vorgestellten Entwicklungen entsprechend dazu, kritisch auf den sozialen Raum Bezug zu nehmen oder transformativ in ihn einzugreifen, wobei eine strikte Trennung von Rezeption und Produktion aufgegeben wird. Das bedeutet allerdings nicht, dass andere
332 Vgl. A. Schmarsow: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, S. 154 333 Vgl. G. Boehm: Plastik und plastischer Raum, S. 33 334 Vgl. S. Hornäk: Skulptur als Raumkunst, S. 111
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Formen des Raumbezugs oder des Einbezugs der Betrachtenden, die sich zuvor seit Beginn der Moderne entwickelt haben, obsolet werden. Vielmehr kann anhand vieler zeitgenössischer Skulpturen erkannt werden, dass sie unterschiedliche Strategien der Bezugnahme auf den Raum verbinden. Damit werden auch unterschiedliche Formen des Einbezugs Betrachtender relevant, zwischen denen die Rezeption changieren kann. So kann Burn the Formwork nicht nur als Intervention in den sozialen Raum betrachtet werden, sondern insofern auch als auf sich selbst bezogene Form, als sie aufgrund ihrer Zentriertheit und Verortung auf einem leeren Areal zunächst in ihrer Präsenz und Geschlossenheit wahrgenommen werden kann. Auf einer weiteren Ebene kann ihre Materialität und Gemachtheit in den Vordergrund treten, die dann den Ausgangspunkt der sich in ihr bietenden verschiedenen Formen der Partizipation bildet. Auch The Tired Room nutzt, indem die Arbeit die für ihre Betrachtung grundlegende Möglichkeit bietet, sich in den Raum gleichermaßen physisch wie psychisch einzufühlen, Formen der Bezugnahme auf Raum und Betrachtende, die sich bereits in der modernistischen Skulptur entwickelt haben. Diese werden mit zeitgenössischen Strategien der kritischen Bezugnahme auf Fragen des sozialen Raums verbunden, die sich aufgrund der Verortung im urbanen Kontext besonders deutlich stellen können. Gerade ein Changieren zwischen einer stärkeren Selbstbezüglichkeit, durch die der Kunststatus in den Vordergrund tritt, und einer Tendenz, sich in den lebensweltlichen Raum zu entgrenzen und somit die Möglichkeit eines konsumierenden Zugriffs zu suggerieren, bildet die Grundlage ästhetischer Erfahrung im Sinne des eingangs vorgestellten Verständnisses und der sich in ihr eröffnenden spezifischen Chancen, Erfahrungen, die mit der gebauten Umwelt gemacht werden, einzubeziehen und zu erkunden.
3.3 SKULPTURALE PERSPEKTIVEN AUF ARCHITEKTUR Um die bisherigen Überlegungen zu skulpturalen Erkundungsmöglichkeiten und einem intrinsischen skulpturalen Interesse an architektonischen Fragestellungen, die sich im Zusammenhang mit den Erweiterungs- und Entgrenzungstendenzen der Skulptur entwickeln, zu resümieren, sollen zwei zentrale Aspekte, die für einen skulpturalen Zugang zum Architektonischen als kennzeichnend betrachtet werden können, genauer in den Blick genommen werden. Dabei handelt es sich zum einen um eine anhand dieses Zugangs mögliche Überwindung eines dualistischen Verständnisses der Beziehung von Menschen und gebauten Umwelten, zum anderen und damit korrespondierend um ein architekturkritisches Potenzial skulpturaler Perspektiven.
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3.3.1 Skulpturale Perspektiven als Erschließung eines »In-between Realm« 335 Wie im Kontext der vorgestellten Überlegungen zu Besonderheiten, die zeitgenössische Skulpturen aufgrund ihrer Erweiterungen in den Raum und ihrer Tendenz zur Aufhebung einer Trennung von Rezeption und Produktion aufweisen können, verdeutlicht werden sollte, bilden Zusammenhänge von Form und Materialität bei vielen zeitgenössischen Skulpturen den Ausgangspunkt für den Einbezug verschiedener Bedeutungsebenen. Zum Beispiel nimmt die Möglichkeit der Aneignung durch Nutzung und Mitgestaltung, die konstituierend für die soziale Dimension von Burn the Formwork ist, in der konkreten Form der Skulptur, insbesondere in ihrer rohen Materialität und ihren durch die Form gegebenen Nutzungsmöglichkeiten, ihren Ursprung. Auch in der Betrachtung von The Tired Room verschränkt sich die konkrete Form mit verschiedenen Bedeutungsebenen, da sie Betrachtende in ihrer Leiblichkeit anspricht, in der physische und psychische Ebenen untrennbar verbunden sind. Die dargestellten Formen einer Verschränkung von materieller Form und Bedeutung sind in der Wahrnehmung lebensweltlicher Artefakte, zu denen auch Architektur gehört, ebenfalls grundsätzlich gegeben, bleiben dort allerdings auf einer unbewussten Ebene. Indem Skulpturen die Verschränkung von konkreten Form-Materialzusammenhängen und inhaltlichen Dimensionen einerseits auf einer elementaren Ebene wahrnehmbar werden lassen, insbesondere aber auf der Basis von Irritationsmomenten eine Erlebnishaftigkeit dieser Wahrnehmungen bewirken können, bieten sie besondere Chancen, um Verbindungen zwischen Form und Inhalt zu erschließen und verschiedenen Formen der Reflexion zugänglich werden zu lassen. Betrachtet man ästhetische Erfahrungen mit Juliane Rebentisch336 und Erika Fischer-Lichte337 als Schwellenerfahrung, innerhalb derer Deutungsmuster verunsichert werden können, können somit bestehende Sichtweisen auf die gebaute Umwelt differenziert und erweitert werden. Ein grundlegendes Moment skulpturaler Zugänge zum Architektonischen kann vor diesem Hintergrund darin gesehen werden, dass anhand ihrer eine dualistische Sicht auf das Verhältnis von Form und Inhalt, auf vermeintlich objektive Eigenschaften, die ein Artefakt aufgrund seiner formalen und materiellen Beschaffenheit aufweist, und den ebenfalls nur vermeintlich rein
335 Aldo van Eyck: »The In-between Realm«, in: Aldo van Eyck/Vincent Ligtelijn (Hg.), The Child, the City and the Artist, Amsterdam, Amsterdam: SUN 2008c, S. 54-55, hier S. 54 336 Vgl. J. Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst, S. 78 337 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung, S. 347
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subjektiven Bedeutungen, die ihm zugeschrieben werden, zumindest temporär aufgegeben werden kann. Dadurch, dass in der Skulptur Übergänge von Produktion und Rezeption als fließend erfahren werden können, kann anhand eines skulpturalen Zugangs zur Architektur darüber hinaus eine dualistische Sicht auf Aktivität und Passivität zur Disposition gestellt und sowohl die eigene Performativität als auch die der gebauten Umwelt als gemeinsame Grundlage von Architekturerfahrungen erkannt werden. Überlegungen zu einer architektonischen Relevanz nicht-dualistischer Sichtweisen finden sich unter anderem bei Aldo van Eyck. Aus dem Blickwinkel einer strukturalistischen Architektur propagiert er ein »principle of receprocity«338, das auf der Berücksichtigung untrennbarer Verbindungen grundlegender »dual phenomena«339 wie z.B. »part-whole, unitiy-diversity, large-small«340 basiert. »As long as wie keep balancing between false alternatives [..] we shall continue to miss the mark. […] Architecture must extend ›the narrow borderline‹, persuade it to loop into a realm – into an articulated in-between realm. Its job is to provide this in-between realm by means of construction, i.e. to provide, from house to city scale, a bunch of real places for real people and real things.«341
Aus seiner Perspektive ermöglicht die architektonische oder städtebauliche Eröffnung eines In-between realm – das er anhand des Bereiches am Strand, der abwechselnd vom Meer überspült wird, um dann wieder dem Land zuzugehören, veranschaulicht – wirkliches Ankommen, ein Gefühl des Zuhauseseins342 oder auch die Entstehung eines Ortes, an dem man leben kann, anstatt zu überleben.343 Während van Eyck die Unterstützung einer dieser Beschreibung entsprechenden positiven Beziehung zwischen Menschen und gebauten Umwelten als architektonische Aufgabe in den Blick nimmt, kann aus einer Perspektive, die auch die
338 Aldo van Eyck: »The medicine of reciprocity tentatively illustrated«, in: Aldo van Eyck/Vincent Ligtelijn/Francis Strauven (Hg.), Collected Articles and other writings 1947-1998, Amsterdam: SUN op. 2008d, S. 312-323, hier S. 317 339 Ebd. 340 Ebd. 341 A. van Eyck, S. 54 342 Vgl. Aldo van Eyck: »Our natural affinity toward the In-between«, in: Aldo van Eyck/Vincent Ligtelijn (Hg.), The Child, the City and the Artist, Amsterdam, Amsterdam: SUN 2008b, S. 56, hier S. 56 343 Vgl. A. van Eyck, S. 320.
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subjektiven Grundlagen von Architekturerfahrungen berücksichtigt, überlegt werden, inwiefern die von ihm beschriebene Erschließung eines In-betweenrealm durch die Erweiterung, Diffenzierung und Vertiefung von Architekturerfahrungsmöglichkeiten gefördert werden kann. Wie Patrizia Dander unter Bezugnahme auf die künstlerische Position Alexandra Birckens darstellt, wie aber auch anhand der hier vorgestellten Arbeiten deutlich zu machen versucht wurde, eröffnen Skulpturen besondere Möglichkeiten, dem, was zwischen den Polen von Natur und Kultur, Objekt und Subjekt passiert, nachzugehen und somit weitere Dualismen, die auf dem Grunddualismus von Körper und Geist basieren, als zusammengehörige Pole zu erkennen.344 Indem sie erkennbar werden lassen, dass gesellschaftliche, kulturelle und politische Bedeutungen unmittelbar mit der wahrgenommenen Form verbunden sind und eine Erkundung dieser Verbindungen ermöglichen, verfügen skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur über ein besonderes Potenzial, um Verstehensgrundlagen in Bezug auf architektonische Zusammenhänge zu erwerben, die insofern als zentral betrachtet werden können, als sie die Verbindungen von Mensch und Architektur erkennbar werden lassen. Wie anhand der in Kapitel 2.2 vorgestellten ästhetischen und umweltpsychologischen Perspektiven auf Architekturerfahrungen gezeigt wurde, basieren diese in wichtigen Bereichen auf unbewussten Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, innerhalb derer wir der Umwelt nicht aus der Distanz begegnen, sondern auf komplexe Weise mit ihr verwoben sind. Die Überwindung eines mit einer dualistischen Perspektive einhergehenden »anthropische[n] Prinzip[s]«345, ist auch aus der Sicht Wolfgang Welschs kennzeichnend für künstlerisches Wahrnehmen, Denken und Handeln.346 Indem skulpturale Zugänge zur gebauten Umwelt auf der Basis des Erkennens untrennbarer Verbindungen von Form und Inhalt Chancen bieten, um einen Mensch-gebaute-Umwelt-Dualismus zu überwinden, sind sie in der Lage, das Unbewusste der Architekturerfahrung zu erschließen.
344 Patrizia Dander: »Alexandra Bircken. Aus der Mitte«, in: Patrizia Dander/Julienne Lorz/Deborah Bürgel et al. (Hg.), Skulpturales Handeln, Ostfildern: Hatje Cantz 2012, S. 66-68, hier S. 68 345 Wolfgang Welsch: »Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen?«, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy et al. (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation Kritik Transformation, Bielefeld: transcript Verlag 2014b, S. 179-200, hier S. 180 346 Vgl. ebd., S. 181-183
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3.3.2 Skulptur als »gebaute Kritik« 347 Mit den besonderen Erkundungsmöglichkeiten, über die skulpturale Auseinandersetzungen mit architektonischen Fragestellungen verfügen, indem sie erkennbar werden lassen, dass Architektur als »gebaute Bedeutung«348 wahrgenommen wird, geht ein architekturkritisches Potenzial einher, das anhand von The Tired Room und weiteren hier vorgestellten Arbeiten bereits deutlich wurde. Grundlage der Möglichkeit einer architekturkritischen Stellungnahme ist dabei, dass Skulpturen sich ins Architektonische erweitern, indem sie z.B. zur Handlungsform werden oder sich in den Raum entgrenzen, dabei jedoch immer auch als Skulpturen erkennbar bleiben. So kann z.B. in der Betrachtung von The Tired Room ein ästhetischer Erfahrungsprozess dadurch ausgelöst werden, dass sich die erste Vermutung, in das Schaufenster eines Geschäfts zu blicken, nicht bestätigt und somit ein lebensweltlichen Kontexten entsprechender, konsumierender Zugriff zurückgewiesen wird. Eine Differenz zwischen Architektur und Skulptur betrachtet auch Richard Serra als Voraussetzung dafür, dass Skulptur kritisch auf Architektur Bezug nehmen kann. Um dies zu verdeutlichen, vergleicht Serra beide Gattungen mit unterschiedlichen Sprachen, die eine gegenseitige Kritik erst ermöglichen: »Jede Sprache hat eine eigene Struktur, über die in dieser Sprache nichts Kritisches geäußert werden kann. Um eine Sprache zu kritisieren, braucht es eine zweite Sprache, die sich mit der Struktur der ersten auseinandersetzt.«349 Skulptur als »gebaute Kritik«350 setzt somit voraus, dass sie nicht Architektur wird, sondern auf diese Bezug nimmt, ohne jedoch ihre Autonomie aufzugeben. Gemäß dem Titel einer Ausstellung im Serralves-Museum in Porto 2015 kann die von Monika Sosnowska praktizierte Form einer solchen Bezugnahme als »architectonisation«351 bezeichnet werden. Durch die Verwendung
347 Philip Ursprung: »Gebaute Kritik. Architektur in den Händen der Künstler«, in: Marta Herford (Hg.), (un)möglich! Künstler als Architekten, Herford 2015, S. 24-33 348 »What you should try to accomplish is built meaning. So get close to the meaning and build!« (Aldo van Eyck, 1962) Aldo van Eyck/Vincent Ligtelijn/Francis Strauven (Hg.): Collected Articles and other writings 1947-1998 (= Writings, Band 1), Amsterdam: SUN op. 2008, Backcover 349 Richard Serra im Interview mit Peter Eisenman. P. Eisenman: Interview, S. 174 350 P. Ursprung: Gebaute Kritik, S. 24 351 Suzanne Cotter: »Towards an architectonisation«, in: Suzanne Cotter/Monika Sosnowska (Hg.), Monika Sosnowska arquitetonização. [exposição, Museu de Arte
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dieses von Katarzyna Kobro und Władisław Strzeminski geprägten Begriffs wird eine Parallele zu deren Strategien und den mit ihnen verbundenen Überlegungen zu einer sozialen Relevanz der Skulptur hergestellt, die durch eine spezifische Form der Bezugnahme auf das Architektonische gegeben ist. Wie das folgende Zitat verdeutlicht, erkunden die Strategien der architectonisation die Grenze zwischen Architektur und Skulptur, stellen sie jedoch nicht infrage: »La méthode de l’architectonisation peut étendre le rayon d’action de la sculpture jusqu’aux limites du tout architectonique auquel elle est liée.«352 Eigene Begriffe, die darauf verweisen, dass sie ihre Arbeiten ungeachtet derer Überschneidungen mit Architektur in einem autonomen künstlerischen Bereich verorten, verwenden auch Robert Smithson und Gordon Matta-Clark. Während ersterer im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit Aufbau- und Verfallsprozessen in der Architektur, mit denen er einer Fokussierung ihrer statischen Eigenschaften eine neue Perspektive entgegensetzt, von einer »Entarchitekturisierung«353 spricht, ordnet Matta-Clark seine Eingriffe in bestehende Architekturen dem Bereich der »Anarchitecture«354 zu. In diesem Begriff verbindet sich die Architektur als ordnendes und damit immer auch hierarchisches System mit Anarchie als Ablehnung von Herrschaftsstrukturen.355 Wie diese Begriffsfindungen in besonderer Weise verdeutlichen, greifen skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur in die architektonische Lebenswirklichkeit aus, holen ihren architektonischen Gegenstand dabei aber in den Bereich der Kunst ein, um ihn dort mit den besonderen Mitteln der Kunst zu erkunden und von dort aus im Kontext von Erfahrungsmöglichkeiten der gebauten Umwelt performativ zu werden oder architekturkritisch Stellung zu beziehen. Die damit verbundene Distanz zur Architektur, die trotz z.T. weitreichender Überschneidungen immer erhalten bleibt, ermöglicht es, dass skulpturale Positionen architektonische Praxis reflektieren und Impulse für einen professionsübergreifenden architektonischen Diskurs geben können. Ihr diesbezügliches Potenzial kann insbesondere dadurch erschlossen werden, dass im Kontext ästhetischer Erfahrungen bestehende Überzeugungen und Perspektiven zur Disposition gestellt und Zusammenhänge immer wieder neu und anders gedacht werden können. Hieraus resultierende Entwicklungsimpulse sieht bereits Max Bill, der
Contemporânea de Serralves, Porto] = Monika Sosnowska architectonisation, Porto: Fundação de Serralves 2015, S. 17-20, hier S. 17 352 K. Kobro/W. Strzeminski: L’Espace uniste, S. 90 353 P. Ursprung: Gebaute Kritik, S. 27 354 Ebd., S. 29 355 Vgl. ebd.
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seine künstlerische Arbeit bewusst von seiner architektonischen Tätigkeit trennt, jedoch Synergien zwischen beiden Bereichen erkundet. Gemäß seiner in Schönheit aus Funktion und als Funktion (1949) vorgestellten Sichtweise »vermittelt die Kunst auch immer einen ausblick auf in der luft liegende möglichkeiten und fragen, im positiven wie im negativen. […] ohne die positive beschäftigung mit diesen fragen – allerdings nicht im sinne von verbindung der architektur mit wandmalerei und plastik als dekorativer zutat wird die architektur […] höchstens auf einer stufe der primitiven bedarfsbefriedigung verweilen oder sich in historistische und artistische spielereien verlieren.«356
Eine besondere Relevanz der künstlerischen Perspektive auf architektonische Praxis kann unter Bezugnahme auf Überlegungen Gernot Böhmes insofern erkannt werden, als Architektinnen und Architekten aus seiner Perspektive »eine sich selbst rekrutierende, sich selbst evaluierende Community [bilden], in der Reputation nicht durch Zustimmung der Klienten, sondern der anderen Mitglieder der Community erworben wird«357. Dies kann, wie z.B. Robert G. Hershberger anhand einer umweltpsychologischen Studie erkennt, dazu führen, dass sich eine innerprofessionelle Sicht auf Architektur von der Sicht der Nutzerinnen und Nutzer in wichtigen Punkten abkoppelt. Seine Studie aus dem Jahr 1969 zeigt u.a., dass Architektinnen und Architekten innovative und aufsehenerregende Gebäude deutlich positiver einschätzen als die Gruppe der Nicht-Architektinnen und -Architekten.358 Vor diesem Hintergrund können künstlerische Auseinandersetzungen mit Architektur als Form der externen Evaluation betrachtet werden und somit wertende Züge annehmen. Aus der Sicht Philip Ursprungs kommt einem solchen Korrektiv auch insofern eine besondere Bedeutung zu, als sie ein Substitut für eine seiner Meinung nach derzeit fehlende eigene architektonische Theorie darstellen könne.359 Gerade zeitgenössische skulpturale Positionen agieren in ihrer Bezugnahme auf Architektur allerdings weniger aus einer externen Perspektive, aus der sie architektonische Praxis bewerten, sondern nehmen auf architektonische Wirklichkeiten Bezug, indem sie selbst Teil dieses Feldes wer-
356 Max Bill: »Schönheit aus Funktion und als Funktion (1949)«, in: Klaus T. Edelmann/Gerrit Terstiege (Hg.), Gestaltung denken. Grundlagentexte zu Design und Architektur, Basel: Birkhäuser 2010, S. 29-36, hier S. 35 357 G. Böhme, S. 11-12 358 Vgl. Robert G. Hershberger: A Study of Meaning and Architecture. edra 1969, http://www.edra.org/content/edra-01-herschberger-86-100, S. 6 359 Vgl. P. Ursprung: Gebaute Kritik, S. 32
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den, ohne darin aufzugehen. Erkennbar wird eine solche Form der gleichermaßen kritischen wie transformativen Bezugnahme auf Architektur z. B. bei Oscar Tuazons vorgestellter Arbeit Burn the formwork. Von skulpturalen Möglichkeiten, architektonische Praxis neu zu denken und zu erweitern geht auch Friedrich Teja Bach aus. Aus seiner Perspektive kann Skulptur dazu beitragen, »einen Riss in den Konventionen des Metiers der Architektur zu manifestieren und offen zu halten, ohne diesen unbedingt gleich wieder zu füllen.«360
360 Friedrich T. Bach: »Skulptur als ›Shifter‹: Zum Verhältnis von Skulptur und Architektur«, in: Markus Brüderlin/Friedrich T. Bach (Hg.), ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute [anlässlich der Ausstellung »ArchiSkulptur. Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis Heute« in der Fondation Beyeler, Riehen/Basel, vom 3. Oktober 2004 bis 30. Januar 2005], Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 35-47, hier S. 39
4
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen im Feld des Architektonischen
Wie in den vorangegangenen Betrachtungen skulpturaler Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen erkennbar wurde, erweitern sich diese im Kontext der künstlerischen Entwicklungen der Moderne und Postmoderne dadurch, dass Grenzen zwischen Architektur und Skulptur durchlässig werden, wodurch Skulptur zunehmend im Feld des Architektonischen agieren kann. Auf der Basis dieser Entwicklungen können zeitgenössische skulpturale Positionen räumliche Gestaltungen in Bezug auf ihre Erlebbarkeit erkunden. Hierzu haben sie Teil an architektonischer Wirklichkeit, ohne jedoch ihre Autonomie und damit ihre Möglichkeit der Distanznahme preiszugeben. In den bisherigen Überlegungen war die Frage nach Chancen, die skulpturale Erkundungen gebauter Umwelten aufgrund ihrer Entgrenzung ins Architektonische bieten können, um architektonische und skulpturale Bildungsprozesse in Gang zu setzen und zu unterstützen, bereits erkenntnisleitend. Im Folgenden sollen die vor dem Hintergrund dieser Entwicklung erkennbar werdenden Momente architektonischer und skulpturaler Bildungspotenziale gesammelt und vertieft werden. Gefragt wird hierzu zunächst nach zeitgenössischen Formen der skulpturalen Bezugnahme auf erfahrene architektonische Wirklichkeiten und sich anhand ihrer bietende Erkenntnismöglichkeiten, bevor in einem weiteren Schritt über sich auf ihrer Basis eröffnende Bildungschancen nachgedacht wird.
252 | Architektur wird plastisch
4.1 ERFAHRUNGS- UND ERKENNTNISCHANCEN SKULPTURALER PRODUKTION ZWISCHEN AFFIRMATION, KRITIK UND TRANSFORMATION Wie Johannes Lang überlegt, umfasst zeitgenössische künstlerische Praxis drei Weisen der Bezugnahme auf Wirklichkeit. Unter Zugrundelegung eines Wirklichkeitsverständnisses, bei dem von einer »eigengesetzlichen, aber deshalb nicht unveränderlichen Wirklichkeit und ihrer prinzipiellen Erfahrbarkeit und Erkennbarkeit«1 ausgegangen wird, die »als Ganze […] eine gestaltete und sich gestaltende ist«2, beobachtet er affirmative, kritische und transformative Formen künstlerischer Wirklichkeitsbezüge. Diese seien für zeitgenössische künstlerische Zugänge gemeinsam konstitutiv, könnten aber unterschiedlich stark in den Vordergrund treten. Versteht sich künstlerische Praxis als »gestaltender und gestalteter Teil von Wirklichkeit und nicht als ein urteilendes Quasisubjekt, das sich wertend auf die Wirklichkeit ›da draußen‹ bezieht«3, könne Affirmation als Bezugnahme auf »erfahrene oder vorgefundene Wirklichkeit«4 verstanden werden, Kritik als Bezugnahme auf »erkannte oder bestimmte Wirklichkeit«5 und Transformation als Bezugnahme auf »veränderte oder gewordene Wirklichkeit«6. Die von Lang vorgeschlagene Perspektive stellt die Besonderheit v.a. zeitgenössischen künstlerischen Denkens und Handelns, in ihren Wirklichkeitsbezügen zwischen unmittelbarer Teilhabe und Distanznahme zu changieren, in den Vordergrund. Damit bietet sie besondere Chancen, um über Möglichkeiten skulpturaler Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt nachzudenken, anhand derer die durch unmittelbare Verbindungen gekennzeichnete Beziehung zwischen Subjekten und wahrgenommenen gebauten Wirklichkeiten erschlossen werden kann. Im Folgenden werden daher affirmative, kritische und transformative Bezugnahmen auf gebaute Umwelten, die skulpturale Zugänge in unterschiedlichen
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Johannes Lang: »Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis. Eine Einleitung«, in: Lotte Everts/Johannes Lang/Michael Lüthy et al. (Hg.), Kunst und Wirklichkeit heute. Affirmation Kritik Transformation, Bielefeld: transcript Verlag 2014, S. 7-15, hier S. 9
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Ebd., S. 12
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Ebd., S. 13
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Ebd.
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Ebd.
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Ebd.
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Anteilen bestimmen können, im Hinblick auf ihre jeweils spezifischen Erfahrungs- und Erkenntnischancen betrachtet. 4.1.1 Affirmation – Skulpturale Erkundungen gebauter Umwelten als Auslöser von Transformationen ihres Erlebens Folgt man den Überlegungen Johannes Langs, können affirmative Anteile künstlerischer Formen der Bezugnahme auf architektonische Wirklichkeiten als darin bestehend betrachtet werden, dass dem Erleben der gebauten Umwelt nachgegangen wird. »Der Fokus liegt auf dem durch künstlerische Praxis ermöglichten Erfahrungsraum, denn es geht ihr [der affirmativen Position] primär um eine Veränderung der Erfahrung, sodass in ihr Wirklichkeiten als bestimmte und nicht nur als gegebene erfahren werden können.«7 Ausgangspunkte affirmativer skulpturaler Auseinandersetzungen mit gebauten Umwelten können Momente sein, in denen beiläufiges Wahrnehmen in ästhetisches Erfahren umschlägt, Momente also, in denen räumliche Wirkungen ein unmittelbares Aufmerken hervorrufen, das aufgrund seiner Flüchtigkeit zunächst auf einer vorbewussten Ebene verbleibt. Solche Momente können z.B. in einem Gewahrwerden von Gefühlen der Beengung, des Ausgesetztseins, der Verlassenheit oder Geborgenheit, der Sicherheit oder Verunsicherung in architektonischen Räumen bestehen. Ihre Hintergründe können skulptural erkundet werden, indem Zusammenhängen zwischen körperlichen Formen in ihrer jeweils spezifischen Materialität und den von ihnen ausgehenden räumlichen Wirkungen nachgegangen wird. Welche Formen wirken sich auf den von ihnen gebildeten oder den sie umgebenden Raum stabilisierend oder destabilisierend aus? Wann wird ein gebildeter Raum als schützend empfunden, wann als beengend? Diese und vielfältige weitere, das Erleben architektonischer Räume betreffende Fragen können skulptural betrachtet werden, indem Wirkungen gesteigert, aufgehoben oder kontrastiert werden oder indem versucht wird, sich dem Moment zu nähern, in dem eine Wirkung in ihr Gegenteil umzuschlagen beginnt. Modifikationen des Erlebens gebauter Umwelten, die sich in einer solchen Erkundung, Vertiefung und anschaulichen Reflexion des eigenen Erlebens der gebauten Umwelt eröffnen, sind für ein Verständnis architektonischer Zusammenhänge von grundlegender Bedeutung und stellen eine Voraussetzung für kritische und transformative Formen der Bezugnahme auf architektonische Wirklichkeiten dar. Eine Erweiterung der Erfahrungsmöglichkeiten, auf deren Basis
7
Ebd., S. 14
254 | Architektur wird plastisch
es erst möglich wird, Hintergründen architektonischer Wirkungen nachzugehen, bieten sie insofern, als sie es ermöglichen, deren materiell-körperliche Bedingtheit wahrzunehmen und zu erkunden. Auch wenn Architektur vor allem in ihrer Räumlichkeit und der damit verbundenen Nutzungsbezogenheit erlebt wird, sind es die körperlichen Formen in ihrer Materialität, durch die diese Räumlichkeit hergestellt und mitgestaltet wird: »Räumlichkeit als solche [lässt] sich nicht herstellen; sie entsteht erst damit, dass raumbildende Dinge hergestellt werden.«8 Einen Grund dafür, dass die baulichen Umgrenzungen in der Wahrnehmung eines Raumes in den Hintergrund treten, sieht Steen Eiler Rasmussen darin, dass konvexe Formen tendenziell eher als Figur betrachtet werden als konkave. Skulpturen und Plastiken tendieren in ihrer Allansichtigkeit dagegen ungeachtet ihrer raumbildenden oder -gestaltenden Eigenschaften dazu, als körperliche Form betrachtet zu werden, verfügen aber, wie besonders exemplarisch an Arbeiten Eduardo Chillidas erkannt werden kann, über spezifische Möglichkeiten, die Wahrnehmung der gegenseitigen Bedingtheit von Körper und Raum zu unterstützen. Abbildung 61 und 62: Eduardo Chillida, La Casa del poeta I, 1980; Homenaje à Rembrandt, 1971; Abbildung 63: Illustration aus S. E. Rasmussen, Architektur Erlebnis
Auch skulpturale Produktion kann sich auf die Wechselwirkungen von räumlichen und körperlichen Formen richten, wenn sie erkundet, wie durch körperliche Bildung Raum im Hinblick auf seine Erlebbarkeit geformt werden kann. Zu einem Erwerb der Fähigkeit, Raum und seine Umgrenzungen abwechselnd als Figur bzw. als Grund wahrzunehmen und so ihre gegenseitige Abhängigkeit erfahren zu können, trägt aus der Sicht Steen Eiler Rasmussens die Erfahrung des Herstellens von raumbildenden Formen und Konstruktionen maßgeblich bei. Eine im Herstellen eingenommene Perspektive, die er als die Perspektive des Zimmermanns in den Blick nimmt, richte sich vor allem auf räumliche Umgrenzungen in ihrer phänomenalen Dinghaftigkeit, während sich die Perspektive des
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B. Waldenfels: Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, S. 90
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen
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planenden Architekten stärker auf die durch diese Umgrenzungen gebildeten Räume richte.9 Werden beide Perspektiven verbunden, indem die Fähigkeit erworben wird, die Räume und die sie bildenden und gestaltenden plastischen Formen gemeinsam in den Blick zu nehmen, kann Bauen in seiner Gesamtheit, d.h. als Gestaltung von Räumen in ihrer Erfahrbarkeit durch die Formung von Material betrachtet werden. Diese Perspektive des Bauens kann in der skulpturalen Produktion eingeübt werden. Eine weitere Transformation des Erlebens von Architektur, die sich in dessen skulpturaler Erkundung entwickeln kann, beruht auf der Möglichkeit, eigenen Anteile an der Produktion wahrgenommener architektonischer Wirklichkeit auf einer anschaulichen Ebene nachgehen zu können. Werden zum Beispiel in der gebauten Umwelt gemachte Erfahrungen von Enge und Weite skulptural erkundet, fließt in die skulpturale Produktion implizites, auf Inbezugsetzungen zum Erleben des eigenen Körpers basierendes Wissen ein und wird vertieft. Ohne im Kontext affirmativer Bezugnahmen bereits begrifflich reflektiert zu werden, kann so die Leiblichkeit der Wahrnehmung als zentraler Hintergrund des Erlebens der gebauten Umwelt auf anschauliche Weise erkannt und erkundet werden. Dadurch, dass die Erfahrung der subjektiven Mitgestaltung wahrgenommener Wirklichkeiten im skulpturalen Handeln auf der Basis von Interaktionen mit Material vertieft wird, kann erfahren werden, dass die eigene Beziehung zur gebauten Umwelt nicht die eines distanzierten Subjekt-Objekt-Verhältnisses ist, sondern sich gebaute Außenwelt im Erleben mit der eigenen Innenwelt verbindet. Formen anschaulicher Reflexion der Hintergründe dieses Erlebens können darüber hinaus zu einer Differenzierung der Wahrnehmung gebauter Umwelten führen. Geht man davon aus, dass man nur sieht, was man weiß10, d.h. berück-
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Vgl. S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 46
10 Diese Sichtweise wird im Zusammenhang mit Architekturvermittlung unter vereinfachender Bezugnahme auf das Goethe-Zitat: »Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht. Oft sieht man lange Jahre nicht, was reifere Kenntniß und Bildung an dem täglich vor uns liegenden Gegenstande erst gewähren läßt.« (Zitiert nach Woldemar F. v. Biedermann (Hg.): Goethes Gespräche (= Band 4), Leipzig 1889– 1896,
S.
735,
http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe
Gspr%C3%A4che/%5BZu+den+Gespr%C3%A4chen%5D/1819
+Johann+Wolfgang/ (07.05.2018)
im
Kontext von Überlegungen zu Architekturvermittlung u.a. von Riklef Rambow angeführt. Auch Rambow erweitert dabei den Wissensbegriff u. a. um implizite Bereiche: »Die Perspektive eines Menschen besteht nicht nur aus seinem Wissen, sondern schließt auch seine Erfahrungen, Überzeugungen, Einstellungen und Wünsche ein. Die Gesamtheit dieser miteinander zusammenhängenden Faktoren prägt die aktu-
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sichtigt man den wahrnehmungspsychologischen Kenntnisstand, nach dem TopDown-Prozessen in der Wahrnehmung eine zentrale Bedeutung zukommt11, erscheint es plausibel, dass auch unbewusstes oder vorbewusstes Erleben durch die Vertiefung impliziten Wissens gefördert werden kann. Durch eine solche Erweiterung und Vertiefung der Erlebnisfähigkeit gebauter Umwelten werden neue Momente ästhetischen Erfahrens ermöglicht, die u.a. wiederum Ausgangspunkte weiterer skulpturaler Erkundungen bilden können. Mit im skulpturalen Arbeiten eingeübtem ästhetischem Wahrnehmen werden darüber hinaus Übergänge zwischen unbewussten und bewussteren Formen des Verarbeitens sensorischer Daten gefördert (s. auch Kap. 2.3.4), die die Grundlage der im Folgenden vorgestellten Formen kritischer und transformativer Bezugnahme auf architektonische Wirklichkeiten bilden können. 4.1.2 Kritik – Erkenntnischancen skulpturaler Praxis als Eröffnung von Möglichkeitsräumen Als kritische Bezugnahme auf Architektur können, folgt man weiterhin den Überlegungen Johannes Langs, Formen oder Bereiche skulpturaler Auseinandersetzungen mit der gebauten Umwelt begriffen werden, deren Schwerpunkt »auf dem durch künstlerische Praxis ermöglichten Erkenntnisraum«12 liegt, denen es also »primär um eine Veränderung des Erkennens [geht], sodass dieses befähigt wird, Gegebenes in dem zu erkennen, was es sein kann.«13 Im Kontext so verstandener kritischer Formen der skulpturalen Bezugnahme auf gebaute Wirklichkeiten wird Architektur also nicht als Teil einer Außenwelt distanziert und bewertet, vielmehr verbindet sich in ihnen die Ebene vorbewussten Erfahrens mit Möglichkeiten der nicht ausschließlich anschaulichen, sondern auch begrifflichen Reflexion. Den oben dargestellten Möglichkeiten, sich mit dem eigenen Erleben der gebauten Umwelt skulptural auseinanderzusetzen, indem z.B. Erfahrungen der Enge und Weite, der Sicherheit oder Verunsicherung nicht nur reproduziert, son-
elle Wahrnehmung: Der Satz ›Man sieht nur, was man weiß‹ ist durch die empirischpsychologische Forschung im Wesentlichen bestätigt worden.« (R. Rambow: »Entwerfen und Kommunikation«, in: Ausdruck und Gebrauch, Dresdner wissenschaftliche Halbjahreshefte für Architektur Wohnen Umwelt Heft 4 (2004), S. 103-124, hier S. 110.) 11 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 166 12 J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 15 13 Ebd.
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen
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dern näher erkundet werden, ist bereits ein Erkenntnispotenzial inhärent. Im Rahmen der Überlegungen zu affirmativen Anteilen skulpturaler Bezugnahmen auf gebaute Wirklichkeiten wurde dieses Potenzial als Grundlage der Vertiefung des eigenen Erlebens in den Blick genommen. Doch inwiefern bilden skulpturale Erkundungen gleichermaßen die Basis kritischer Bezugnahmen auf gebaute Wirklichkeiten? Hintergrund unmittelbarer Verbindungen affirmativer und kritischer Bezüge ist, dass skulpturale Erkundungen u.a. Strategien der Kontrastierung, Steigerung oder Verfremdung einbeziehen, um Erfahrungen, die in der gebauten Umwelt gemacht werden, in Spannungsverhältnisse zu setzen und so ins Erlebnishafte zu steigern. Damit eröffnen sich in skulpturalen Prozessen ästhetische Erfahrungsmomente, in deren Zusammenhang, wie in Kapitel 2.1 dargestellt, im täglichen Erleben unbewusst bleibende Verarbeitungsprozesse von Wahrnehmungen auf unterschiedlichen Ebenen reflexiv werden können. Eine Besonderheit ästhetischer Reflexion und der sich mit ihr eröffnenden Erkenntnischancen ist dabei, dass sich Erkennen und Wahrnehmen nicht voneinander abkoppeln.14 Ästhetische Erkenntnis als Grundlage eines kritischen und transformativen Potenzials skulpturaler Erkundungen erlebter gebauter Umwelten kann damit eine begriffliche Ebene erreichen, ohne jedoch vollständig in ihr aufzugehen. Dadurch, dass die Verbindung zwischen bewussteren bis hin zu begrifflichen Reflexionen und ihren in der Wahrnehmung gegebenen Gegenständen erhalten bleibt, ist ein für künstlerische Formen der Bezugnahme auf erfahrene Wirklichkeiten kennzeichnendes Changieren zwischen unmittelbarer Teilhabe und reflexiver Distanz möglich. Die sich somit eröffnenden Erkenntnischancen skulpturaler Bezugnahmen auf gebaute Wirklichkeiten erlauben es, Hintergründen des eigenen Erlebens nachzugehen. Insbesondere können so Verbindungen zwischen dem Erleben des eigenen Körpers und dem Erleben der räumlichen und körperlichen Gegebenheiten der gebauten Umwelt auf eine bewusstere Ebene gebracht werden, indem z.B. das Fehlen vertikaler und horizontaler Orientierungen als Hintergrund von Verunsicherungen erkannt wird, die auf der Ebene körperlichen Erlebens mit Beeinträchtigungen der Balance korrespondieren. Wird die unmittelbare Verbindung zwischen erlebten Innen- und Außenwelten im Kontext affirmativer Anteile skulpturaler Erkundungen implizit erfahren, bestehen Chancen kritischer Formen der Bezugnahme auf gebaute Umwelten darin, dass diese Verbindung auf einer bewussteren Ebene erkannt wird, auf der es möglich ist, über die Bedeutung der gebauten Umwelt für die eigene Lebensweise nachzudenken. Indem Zusammenhänge zwischen baulichen Formen und eigenen Befindlichkeiten,
14 Vgl. U. Brandstätter: Grundfragen der Ästhetik, S. 101
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Stimmungen, Verhaltens- und Handlungsweisen reflexiv werden, besteht darüber hinaus einerseits die Möglichkeit, Wahrnehmungsalternativen zu entwickeln, zum anderen aber auch die Chance, eigene Bedürfnisse zu erkennen. So kann, bei dem bereits genannten Beispiel bleibend, das Bedürfnis erkannt werden, in einer baulichen Situation Möglichkeiten der räumlichen Orientierung vorzufinden. In skulpturalen Erkundungen, die sich mit dem Erleben gebauter Umwelten auseinandersetzen, können jedoch nicht nur Erkenntnisse in Bezug auf dessen subjektive Relevanz gewonnen werden. Dadurch, dass skulpturale Produktion in der zeitgenössischen Kunst nicht darin aufgeht, subjektives Erleben zum Ausdruck zu bringen, sondern ihr Interesse auch darauf richtet, Betrachtenden eine Auseinandersetzung mit ihren jeweils eigenen, in der Betrachtung der Arbeiten relevant werdenden Erfahrungen zu ermöglichen, eröffnen sich darüber hinaus Potenziale der Erkenntnisgewinnung in Bezug auf die Frage, inwiefern und worin interindividuelle Gemeinsamkeiten subjektiver Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen gebauter Umwelten bestehen. Diesbezügliche Reflexionen können bereits auf einer anschaulichen Ebene erfolgen, motivieren aber möglicherweise in besonderem Maße auch Übergänge in bewusstere Formen des Nachdenkens darüber, inwiefern das eigene Erleben von Zusammenhängen zwischen räumlichen und körperlichen Formen in ihrer Materialität und der durch sie gebildeten und gestalteten Räume nicht nur biografischen Besonderheiten geschuldet ist, sondern auf Hintergründen basiert, die auch für das Erleben von anderen eine Rolle spielen können. So geht die Entwicklung einer Arbeit wie The Tired Room zwar von subjektiven Erfahrungen, die im Umgang mit Räumen der gebauten Umwelt gesammelt werden, aus, richtet ihr Interesse dann aber vor allem auf grundlegende Momente des Raumerlebens, die diesen subjektiven Erfahrungen zugrunde liegen können. Beispielsweise erkundet Monika Sosnowska, indem sie sich mit Fragen der Horizontalität und Vertikalität auseinandersetzt, eine allgemeingültige Basis räumlicher Orientierung oder spricht mit dem Phänomen der Müdigkeit gleichermaßen physische wie mentale Befindlichkeiten an, die jedem Menschen gleichermaßen bekannt sind. Erkenntnisse in Bezug auf interindividuelle Gemeinsamkeiten des Architekturerlebens können durch Beobachtungen von Verhaltensweisen und Handlungen anderer oder kommunikativ gewonnen werden. Ein sie betreffendes Erkenntnisinteresse kann aber auch zu theoriebasierten Auseinandersetzungen mit Hintergründen des Wahrnehmens und Erfahrens von Architektur führen. Eine solche Herangehensweise ist z.B. bei Robert Morris zu erkennen, der sich im Kontext seiner Auseinandersetzungen mit skulp-
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen
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turalen Problemstellungen, u.a. mit phänomenologischen Überlegungen Merleau-Pontys befasst.15 Als Basis kritischer Bezugnahmen auf gebaute Wirklichkeiten eignen sich Erkenntnisse in Bezug auf Zusammenhänge zwischen gebauter Umwelt und Erleben, Verhalten und Handeln in ihrer individuellen und interindividuellen Relevanz dadurch, dass sie Möglichkeiten eröffnen, um erlebte gebaute Wirklichkeiten nicht als statische Gegebenheiten zu akzeptieren, sondern in Bezug auf die sich in ihr bietenden Möglichkeiten der Veränderung in den Blick zu nehmen. Betrachtet man das Erleben gebauter Umwelten als Zusammenwirken subjektiver und objektiver Anteile, können solche Veränderungen einerseits an der materiellen Beschaffenheit baulicher Strukturen ansetzen, andererseits aber auch von Transformationen subjektiver Umgangsweisen mit den durch bauliche Strukturen gebildeten räumlichen Situationen ausgehen. Im Kontext beider Möglichkeiten spielen Impulse, die von ästhetischen Erfahrungsprozessen ausgehen, eine wichtige Rolle. Dadurch, dass in diesen Prozessen gewohnte Sichtweisen verunsichert und temporär suspendiert werden, können Situationen neu und anders wahrgenommen und bewertet werden. Gebaute Umwelt in ihrer Statik sowie eigene Wahrnehmungs- und Umgangsweisen in ihrer durch Gewohnheit begünstigten Konstanz können auf diese Weise plastisch werden, wodurch sich Möglichkeiten eines Neudenkens eröffnen. Damit bilden ästhetische Erfahrungsmomente, die sich, wie in Kapitel 5 genauer überlegt wird, in skulpturalen Interaktionen mit materiellen und kontextuellen Gegebenheiten entwickeln können, nicht nur die Grundlage von Reflexionsmöglichkeiten bestehender Formen des Architekturerlebens, sondern können darüber hinaus Impulse geben, um in diesen Reflexionen zu neuen Perspektiven auf das eigene und fremde Erleben gebauter Umwelten und seine subjektiven wie objektiven Grundlagen in ihrer Historizität und Kulturalität zu gelangen. Skulpturale Bezugnahmen auf gebaute Umwelten können darüber hinaus auch Momente stärkerer Distanznahme umfassen, auf deren Grundlage Kritik im Sinne einer Positionierung möglich wird. Auf der Basis von Erkenntnissen, die in Bezug auf individuelle und interindividuelle Wahrnehmungsbeziehungen zur gebauten Umwelt aus einer teilhabenden Position gewonnen werden können, kann eine solche kritisch bewertende Auseinandersetzung z.B. die Fragen erkun-
15 Vgl. Anaël Lejeune: »The Subject-Object Problem in ›Aligned with Nazca‹: On Phenomenological Issues in Robert Morris’ Artwork«, in: Noura W. Katia Schneller (Hg.), Investigations. The Expanded Field of Writing in the Works of Robert Morris, Lyon:
ENS
Éditions
2015.
Absatz2
tions/3828?lang=de#ftn2 (20.07.2018)
https://books.openedition.org/ensedi-
260 | Architektur wird plastisch
den, inwiefern architektonische Gestaltungen die Besonderheiten dieser Wahrnehmungsbeziehungen berücksichtigen oder zeitgenössischen Wahrnehmungsbedürfnissen entsprechen. Kritische Bewertungen können darüber hinaus die reziproke Beziehung zwischen gebauter Umwelt und individuellen sowie gemeinschaftlichen Handlungsweisen in den Blick nehmen und sich so der gesellschaftlichen Relevanz der Architektur nähern. Gefragt werden kann im Kontext einer solchen Auseinandersetzung z.B., auf welche Weisen und mit welchen Zielen architektonische Gestaltung ihre Möglichkeiten nutzt, um Handlungs- und Verhaltensweisen zu begünstigen oder zu erschweren und somit Formen des Zusammenlebens zu beeinflussen. Kritisch bewertende Bezugnahmen auf Architektur, die darüber hinaus auch Partizipationsmöglichkeiten im Rahmen architektonischer und städtebaulicher Planungen betreffen können, erfordern in besonderem Maße Reflexionen auf einer begrifflichen Ebene, durch die ein Einbezug architekturtheoretischer Diskurse und in ihrem Zusammenhang relevanter Bezugswissenschaften motiviert werden kann. 4.1.3 Transformation Erkenntnischancen skulpturaler Interventionen in architektonische Handlungsräume Bei transformativen Formen künstlerischer Wirklichkeitsbezüge handelt es sich, wie Johannes Lang definiert, um solche, »denen es um einen durch künstlerische Praxis ermöglichten Handlungsraum«16 geht, d.h. »um eine Veränderung des Handelns, sodass es befähigt wird, Gegebenes in das zu transformieren, was es sein kann«17. Skulpturale Produktion kann architektonische Wirklichkeit nicht nur kritisieren und damit in ihrer potenziellen Veränderbarkeit in den Blick nehmen, sondern auch in diese Wirklichkeit handelnd eingreifen, indem sie die gebaute Umwelt in ihrer Materialität modifiziert. Eine Grundlage für solche Interventionen im Feld der Architektur können die vorgestellten Formen der kritischen Auseinandersetzung mit gebauter Umwelt bilden, in denen Veränderungspotenziale zunächst erkannt und in Bezug auf Alternativen des Umgehens mit architektonischen Räumen und Strukturen, die anhand dieser Veränderungen möglich werden, reflektiert werden können. Während es im Kontext skulpturaler Prozesse, in denen wahrgenommene Wirklichkeit in Bezug auf die von ihr ausgehenden Wirkungen und die in ihrem Kontext möglichen Formen des handelnden Umgangs reflektiert wird, also darum geht, Möglichkeitsspielräume zu erkennen, richtet sich das Interesse skulpturalen Arbeitens, das transformativ auf
16 J. Lang: Drei Wirklichkeitsbezüge künstlerischer Praxis, S. 15 17 Ebd.
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Architektur Bezug nimmt, darauf, diese Spielräume in baulichen Umgebungen tatsächlich zu eröffnen. Auf diese Weise können Erkenntnischancen in Bezug auf Grundlagen subjektiver Beziehungen zur gebauten Umwelt in ihrer interindividuellen Relevanz, die sich bereits im Kontext kritischer Bezugnahmen auf die gebaute Umwelt eröffnen, differenziert und um eine empirische Komponente ergänzt werden. Vertiefte Erkenntnischancen bieten skulpturale Interventionen, die in gebaute Wirklichkeiten transformierend eingreifen, auch insofern, als Bezüge zu Erfahrungen der gebauten Umwelt hier nicht hergestellt werden müssen, sondern unmittelbar gegeben sind. Auf diese Weise ist ein breiter Einbezug kontextueller Faktoren gewährleistet, die das Erleben architektonischer Situationen in ihrer Gesamtheit kennzeichnen. Besondere Potenziale bieten transformative Bezugnahmen darüber hinaus im Hinblick auf ein Erkennen interindividueller Übereinstimmungen der Wahrnehmungsweisen gebauter Umwelten und der mit diesen korrespondierenden Wirkungen auf Stimmungen, Befindlichkeiten, Verhalten sowie Handlungen und Interaktionen. Gründe hierfür sind zum einen, dass im Kontext der Entwicklung skulpturaler Interventionen in die gebaute Umwelt der Einbezug impliziten Wissens und expliziter Überlegungen bezüglich der Frage, welche Erfahrungsmöglichkeiten sie Nutzerinnen und Nutzern eröffnen, besonders unmittelbar und umfassend motiviert ist. Zum anderen können Veränderungen der gebauten Umwelt auf der Basis von Beobachtungen der Wirkungen, die sie auf Handlungen und Verhaltensweisen Betrachtender haben, weiterentwickelt werden. Architektonische Situationen werden so in ihrer Gesamtheit zum plastischen Material, mit dem interagiert werden kann, um Möglichkeitsräume zu eröffnen und zu erkunden. Konkret erprobt werden kann dabei, auf welche Weise Architektur als »Medium des Sozialen«18 agiert. Die gesellschaftliche Relevanz von Architektur, die aufgrund einer fehlenden Greifbarkeit des Gesellschaftsbegriffs dazu tendiert, ein abstraktes Konzept zu bleiben, kann auf diese Weise erfahrungsbasiert erschlossen werden. Weitere Erkenntnischancen eröffnen sich im Kontext skulpturaler Transformationen gebauter Umwelt durch spezifische Hindernisse, die hier überwunden oder berücksichtigt werden müssen. So werden aufgrund des Erfordernisses, Besitzerinnen und Besitzer um Erlaubnis zu fragen oder Genehmigungen einzuholen, Fragen von Besitz und Eigentum, von Privatheit und Öffentlichkeit städtischer Territorien reflexiv. Dadurch, dass bei der skulpturalen Arbeit im öffentlichen Raum Sicherheitsaspekte stärker in den Vordergrund treten, werden darüber hinaus architekturspezifische Problemstellungen relevant, anhand derer
18 H. Delitz: Architektursoziologie, S. 90
262 | Architektur wird plastisch
Einblicke in die Komplexität architektonischer Planung möglich werden. Indem skulpturale Auseinandersetzungen an Grenzen stoßen können, die der Öffentlichkeit von Architektur geschuldet sind, wird diese erfahrbar. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass skulpturale Bezugnahmen auf gebaute Wirklichkeiten räumliche Wirkungen zum einen in ihrer baukörperlich-materiellen Bedingtheit, zum anderen in ihrer Wahrnehmungsabhängigkeit und leiblichen Verfasstheit erkennbar werden lassen. Die Basis dieser Möglichkeit bilden ihre affirmativen Anteile, durch die diese Zusammenhänge auf einer anschaulichen Ebene erfahren und skulptural handelnd erkundet werden. Im Kontext kritischer Bezugnahmen werden diese Erfahrungen reflexiv, wodurch Wahrnehmungs- und sich daraus entwickelnde Handlungsspielräume eröffnet werden, aber auch eine begriffliche Ebene erreicht werden kann, auf der kritischdistanzierende Reflexionen möglich sind. Eine Erprobung der so gewonnenen Erkenntnisse, die zu deren Evaluierung und weiterer Vertiefung beiträgt, wird im Rahmen transformativer Bezugnahmen ermöglicht, in denen eine umfassende Kontextualisierung zu lebensweltlich relevanten Erfahrungen und Erkenntnisgewinnen beiträgt. Erfahrungen, die im Rahmen skulpturaler Erkundungen gebauter Umwelten, die diese drei Formen der Bezugnahme in unterschiedlichen Anteilen verbinden, gesammelt oder gemacht werden und Erkenntnisse, die erworben werden, gehen von einer subjektiven Ebene aus, verbinden diese jedoch mit impliziten oder expliziten, anschaulichen oder begrifflichen Reflexionen ihrer interindividuellen Relevanz. Grund hierfür ist, dass Rezeption und Produktion untrennbar miteinander verbunden werden, wenn in skulpturalen Prozessen Erfahrungsmöglichkeiten Betrachtender antizipiert oder erprobt werden. Unmittelbar einbezogen oder angeschlossen werden kann dadurch ein Nachdenken über die reziproken Beziehungen zwischen Architektur und Gesellschaft.
4.2 BILDUNGSVERSTÄNDNISSE Wie im vorangegangenen Abschnitt überlegt wurde, eröffnen sich in skulpturalen Erkundungen, in deren Kontext in affirmativer, kritischer und transformativer Weise auf wahrgenommene gebaute Wirklichkeiten Bezug genommen wird, vielfältige Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeiten, die zu einem Verständnis sowohl des eigenen Verhältnisses zur gebauten Umwelt als auch der reziproken Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft beitragen können. Werden skulpturale Erkundungen gebauter Umwelten in Lehr- und Lernkontexten ermöglicht, sind damit auf diesen Erfahrungs- und Erkenntnisweisen basierende Bildungspotenziale verbunden, die im Folgenden in den Blick genommen wer-
Bildungschancen skulpturaler Erkundungen
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den sollen. Hierzu soll zunächst ein Bildungsverständnis konturiert werden, dass dieser Betrachtung zugrunde gelegt werden kann. Insofern das Vorhaben, skulpturale und architektonische Bildungsprozesse zu initiieren, an einer Schnittstelle zwischen Kunstpädagogik und baukultureller Bildung bzw. Architekturvermittlung verortet werden kann, wird dazu über Bildungsverständnisse und Bildungsziele beider Bereiche sowie über Möglichkeiten ihrer Synthese nachgedacht. 4.2.1 Künstlerische Denk- und Handlungsfähigkeit als kunstpädagogisches Bildungsziel Der Frage nach Bildungschancen skulpturaler Auseinandersetzungen mit Architektur liegt die Frage zugrunde, inwiefern künstlerische Denk- und Handlungsweisen besondere Möglichkeiten der Welterschließung eröffnen, inwiefern künstlerische Erkenntnis als eine spezifische, zu (natur-) wissenschaftlichen Erkenntnisweisen komplementäre betrachtet werden kann. Mit dieser Fragestellung setzt sich unter anderen der Kunstpädagoge Joachim Kettel im Kontext seiner Überlegungen zu einer »Künstlerischen Bildung«19 auseinander. »Die Künstlerische Bildung erkennt die künstlerische Tätigkeit im erweiterten Sinne als produktive und rezeptive, als eine allen Menschen vermittelbare Basisqualifikation für ein menschwürdiges, erfülltes und gelingendes persönliches Leben und als Teilhabe an der Gestaltung der sozialen und kulturellen Verhältnisse im Sinne der Lebenskunst (W. Schmid). Kunst und künstlerische Tätigkeit werden hier eine eigene Art umfassender, die Sinne, Gefühl und Verstand ansprechender produktiver Lebens- und Welterfahrung, Weltaneignung und Wirklichkeitsveränderung.«20
Wie Joachim Kettel hier überlegt, gehen mit affirmativen, kritischen und transformativen Formen künstlerischer Bezugnahme auf wahrgenommene Wirklichkeiten, die er als produktive »Lebens- und Welterfahrung, Weltaneignung und Wirklichkeitsveränderung«21 in den Blick nimmt und dabei nicht als exklusive Domäne einer bestimmten Gruppe von Menschen, sondern als allen Menschen gleichermaßen zugänglich begreift, Bildungschancen einher, die sowohl auf einer individuellen als auch auf einer sozialen Ebene Relevanz besitzen. Um diese
19 Joachim Kettel: »Bildung braucht Kunst! Mehr Kunst in die Bildung!«, in: Franz Billmayer (Hg.), Angeboten. Was die Kunstpädagogik leisten kann, München: kopaed 2008, S. 86-93, hier S. 91 20 Ebd., S. 90. (Hervorhebung im Original) 21 Ebd.
264 | Architektur wird plastisch
Bildungschancen näher zu betrachten, soll dem Begriff der Lebenskunst nachgegangen werden, auf den Joachim Kettel unter Bezugnahme auf Wilhelm Schmid verweist. Das Thema Lebenskunst als »die Kunst, ein gutes und glückliches Leben zu führen«22, ist ein zentraler Topos der antiken Philosophie und wird in der Gegenwart vor dem Hintergrund zunehmender, aus Wilhelm Schmids Sicht einem modernen Wegfall traditioneller Bindungen geschuldeter Erfordernisse individueller Entscheidungsfindungen erneut Gegenstand philosophischer Betrachtungen. Anders als die Nähe zum Begriff des Lebenskünstlers eines alltagsprachlichen Verständnisses zunächst vermuten lässt, wird Lebenskunst dabei weniger als ein Laissez-aller konzipiert, allerdings auch nicht, wie in der Interpretation Joachim Kettels als »gelingende Lebensführung«23, sondern vielmehr als »bewusste, überlegte Lebensführung«24. Die zentrale Grundlage einer solchen Lebensführung bilden aus Wilhelm Schmids Sicht Auseinandersetzungen mit der Frage nach Sinn, die er als Frage nach Zusammenhängen begreift. »Was liegt zugrunde, was steckt dahinter, wozu dient etwas, in welchen Beziehungen ist es zu sehen, welche Bedeutung haben die Worte, die gebraucht werden, welche Gründe lassen sich für ein Tun oder Lassen finden? Entscheidend sind Fragestellungen wie diese, nicht etwa definitive Antworten; schon die sokratischen Dialoge enden aus guten Gründen offen und stoßen dennoch wertvolle Klärungsprozesse an. Mit den Fragen sind Spielräume des Denkens und Lebens zu eröffnen und Möglichkeiten der Lebensgestaltung zu gewinnen […].«25
22 Robert Zimmer: »Vorwort des Herausgebers«, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophien, S. 3-7, hier S. 3 23 Wie Sara Hornäk unter Bezugnahme auf die Position Joachim Kettels überlegt, kann das Ziel, durch künstlerische Bildungsprozesse zu einer ›gelingenden‹ Lebensführung beizutragen, insofern kritisiert werden, als in ihm normative Setzungen und ein latenter Utilitarismus erkennbar werden. »Doch welchen Zweck hat es, zu verstehen, wie etwas ›Schlaffes‹, ›Träges‹ oder ›Spannungsgeladenes‹ in der Skulptur zum Ausdruck gebracht werden kann. Von hier aus unmittelbar und in Kürze auf eine angemessene ›Vorbereitung auf das Berufsleben‹ oder gar eine ›gelingende Lebensführung‹ zu schließen, ist denkbar schwierig.« Sara Hornäk: »Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Was ›leisten‹ Kunst und Kunstpädagogik?«, in: Franz Billmayer (Hg.), Angeboten. Was die Kunstpädagogik leisten kann, München: kopaed 2008, S. 79-85, hier S. 82 24 Wilhelm Schmid: »Mit sich selbst befreundet sein«, in: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denke und humanistische Philosophien (2008), S. 209-219, hier S. 209 25 Ebd., S. 210
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Bildungschancen einer Kunstpädagogik, die zu einer Demokratisierung der Fähigkeit beitragen möchte, sich künstlerisch denkend und handelnd mit wahrgenommenen Wirklichkeiten auseinanderzusetzen, sie zu transformieren oder neu zu erschaffen, werden durch die Bezugnahme auf Schmids Überlegungen zu Möglichkeiten einer Lebenskunst im Bereich einer Sinnstiftung verortet, die auf einer persönlichen Ebene ansetzt, dabei jedoch, wie Joachim Kettel betont, soziale und kulturelle Teilhabe umfasst. Doch inwiefern tragen nun künstlerische Wirklichkeitserkundungen auf »eine eigene Art«26 zu einer so verstandenen Bildung bei? Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, bilden im Kontext künstlerischen Arbeitens ästhetische Erfahrungen eine wichtige Grundlage, um Imaginationen und Assoziationen in künstlerische Prozesse einzubeziehen und damit weniger bewusste Hintergründe des Wahrnehmens und Erfahrens zu erschließen sowie bestehende Denk- und Wahrnehmungsmuster erkennen und zu können. Insofern ästhetische Erfahrungsprozesse als Prozesse unabschließbarer »Sinnproduktion und Sinnsubversion«27 divergentes Denken fördern, tragen sie darüber hinaus dazu bei, Denk- und Wahrnehmungsweisen hinterfragen und somit Spielräume erschließen zu können. Sie bilden auf diese Weise eine geeignete Basis, um den von Schmid formulierten Fragen nach Zusammenhängen ergebnisoffen nachgehen zu können und so »Spielräume des Denkens und Lebens zu eröffnen«28. Eine wichtige Grundlage dieser Möglichkeiten ist, dass implizite Wissensbereiche im Rahmen von Rezeption und Produktion verbindenden künstlerischen Prozessen reflexiv werden, wodurch Verbindungen von impliziten und expliziten Formen des Wissens hergestellt werden. Diese beiden Wissensformen, die Ernst Pöppel gemeinsam mit bildlichem Wissen als »stabile Koordinaten unserer Erfahrung und unseres Handelns«29 betrachtet, können in künstlerischen Bildungsprozessen gleichermaßen gestaltet werden. Bildungschancen im dargestellten Sinn basieren somit insbesondere darauf, dass explizites Wissen nicht einseitig fokussiert, sondern auch Erwerb und Reflexion impliziten Wissens gefördert werden. Eine besondere Relevanz einer solchen Bildung in Bezug auf Möglichkeiten einer bewussten Gestaltung der eigenen Lebensweisen kann in der Bedeutung erkannt werden, die implizitem Wissen im Kontext von Handlungsentscheidungen des alltäglichen Lebens zukommt: »Im Alltag bestehen wir im We-
26 J. Kettel: Bildung braucht Kunst, S. 90 27 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie, S. 5 28 W. Schmid: Mit sich selbst befreundet sein, S. 210 29 Ernst Pöppel: »Drei Welten des Wissens Koordinaten einer Wissenswelt«, in: Christa Maar/Hans U. Obrist/Ernst Pöppel (Hg.), Weltwissen-Wissenswelt. Das globale Netz von Text und Bild, Köln: DuMont 2000, S. 21-39, hier S. 22
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sentlichen durch Einsatz des impliziten, nicht-sprachlichen Wissens. Implizites Wissen ist das Gewohnheitswissen des Tages, das Eingebettetsein in Rituale und Abläufe, die nicht mehr hinterfragt werden.«30 Implizites Wissen spielt jedoch auch in Entscheidungsprozessen eine Rolle, die mit alltäglichen Handlungen verbunden sind, über sie aber hinausgehen. So kann mit Foucault überlegt werden, dass das Leben in gegenwärtigen westlichen Gesellschaften weniger durch einen Wegfall tradierter Bindungen, den Wilhelm Schmid als modernen Freiheitzugewinn in den Blick nimmt31, als vielmehr durch eine gouvernementalistische Verinnerlichung von Normen und Regeln gekennzeichnet ist. Betrachtet man im Rahmen der eigenen Lebensgestaltung erforderlich werdende Entscheidungen vor dem Hintergrund neoliberaler Selbststeuerungs- und Selbstoptimierungsimperative als nur vermeintlich frei, kann überlegt werden, dass sich in künstlerischen Prozessen eröffnende Reflexionsmöglichkeiten von Normen und Regeln, die zu implizitem Wissen sedimentiert sind, zu einer bewussten und kritischen Hinterfragung der eigenen Denk- und Handlungsweisen und damit zu weniger selbstgesteuerten als vielmehr selbstbestimmten Lebensweisen beitragen können.32 Ein Nachdenken über Bildungschancen skulpturaler Erkundungen des Architektonischen entspricht, den vorgestellten Überlegungen zu Bildungsverständnissen künstlerischer Kunstpädagogik folgend, einem Nachdenken über sich in ihrem Rahmen eröffnende Möglichkeiten, architektonischen Zusammenhänge nachzugehen, um auf diese Weise Hintergründe eigener Umgangsweisen mit gebauten Umwelten erkennen und Umgangsspielräume erschließen zu können.
30 Ebd., S. 24 31 W. Schmid: Mit sich selbst befreundet sein, S. 210 32 Darauf, dass Foucault die Möglichkeit, gouvernementalistische Selbststeuerungsmechanismen zu unterlaufen, in seinen späten Schriften einräumt, weist Maren Möhring hin: »Anders als in ›Überwachen und Strafen‹, wo das Subjekt von den es unterwerfenden Macht- bzw. Herrschaftstechniken determiniert zu sein scheint, betont Foucault in seinen späteren Texten, dass Selbsttechniken nicht auf Herrschaftstechniken zu reduzieren seien, sondern vielmehr eine Machtform darstellten, die diesen auch zuwiderlaufen könne. Wenn Regierungstechnologien sich einerseits zu Herrschaft verdichten oder aber den Raum für ›Praktiken der Befreiung und Freiheit‹ [Michel Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise, Berlin 1984, S. 137] eröffnen können, dann wird jener ›paradoxe Doppelcharakter‹ greifbar, der die Konstitution des Selbst ›zugleich als genitivus subjectivus und genitivus objectivus‹ [Bernhard Waldenfels, Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 2: Grenzen der Normalisierung, Frankfurt a.M. 1998, S. 13] zu erkennen gibt.« M. Möhring, S. 285
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Zentrale Frage ist dabei, inwiefern Erfahrungen und Erkenntnisse in Bezug auf die eigene Beziehung zur gebauten Umwelt zu einem bewussteren Umgang beitragen können. Insofern diese Beziehung auf gesellschaftlich und kulturell vermittelten Grundlagen basiert, stellt sich dabei auch die Frage, inwiefern ihre Erkundung dazu beitragen kann, auch die reziproke Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft erkennen und mitgestalten zu können. Bevor diesen Fragen nachgegangen wird, sollen zunächst Bildungsziele von Architekturvermittlung und baukultureller Bildung vorgestellt und im Hinblick auf sich durch den Einbezug ihrer Perspektive ergebende Ergänzungserfordernisse der hier vorgestellten kunstpädagogischen Sicht auf mögliche Bildungsziele skulpturaler Erkundungen des Architektonischen reflektiert werden. 4.2.2 Bildungsziele von Architekturvermittlung und baukultureller Bildung Der Begriff Architekturvermittlung bezeichnet gemäß einer Definition Riklef Rambows »alle Aktivitäten, die an den vielfältigen Schnittstellen von Architektur und Öffentlichkeit angesiedelt sind, bei denen es darum geht, Fragen der Architektur, des Städtebaus und der Stadtentwicklung so aufzubereiten, dass sie von Personen verstanden werden können, die keine Fachleute auf dem Gebiet der Architektur sind: Bauherren, Bürger, Betroffene, Kinder und Jugendliche.«33
Die Notwendigkeit dieser Aktivitäten kann durch das Fehlen eines kontinuierlichen, die Professionsgrenzen überschreitenden und damit gesellschaftlichen Austauschs über architektonische Fragestellungen begründet werden. Da die daraus entstehende Problematik in erster Linie von Personenkreisen erkannt wird, die sich professionell mit Architektur auseinandersetzen, gehen Initiativen der Architekturvermittlung insbesondere von Architektenkammern als deren Interessenvertretungen aus. Darüber hinaus agieren in diesem Feld aber auch Institutionen in staatlicher Trägerschaft, wie z.B. Architekturmuseen sowie Initiativen der
33 Riklef Rambow: »Architektur wahrnehmen, denken, vermitteln – Die Grundlagen der Architekturvermittlung«, in: Christina Budde/Arne Winkelmann/Oliver Bruder (Hg.), Von Häusern und Menschen. Architekturvermittlung im Museum, München: kopaed 2010, S. 15-22, hier S. 15
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baukulturellen Bildung.34 Zunehmend wird die Thematik auch von Stiftungen im Rahmen ihrer Programme zur Förderung kultureller Bildung aufgegriffen. Als zentrales Ziel von Initiativen, die unter den Bezeichnungen Architekturvermittlung oder Baukulturelle Bildung subsumiert werden können, erkennt Riklef Rambow die Vermittlung der »Kompetenz zur kritischen und kreativen Wahrnehmung, Aneignung und Mitgestaltung von Architektur und Stadt.«35 Begründet wird dieses Ziel zum einen unter Bezugnahme auf die Bedeutung der Demokratisierung eines architektonischen Verständnisses sowie eines nicht nur innerprofessionellen architektonischen Diskurses im Hinblick auf baukulturelle Entwicklungen, zum anderen aus einer Perspektive, aus der Bildung vor allem das Individuum in seinen Möglichkeiten der Lebensgestaltung in den Blick nimmt. Diese Perspektive, die sich in wesentlichen Punkten dem dargestellten Bildungsverständnis einer künstlerischen Kunstpädagogik nähert, stellt Riklef Rambow wie folgt dar: »Auf die Person bezogen, lässt sich argumentieren, dass Architektur und Stadt so wichtige, allgegenwärtige Aspekte der Gesellschaft sind, dass darauf bezogene Fähigkeiten erforderlich sind, um in einer modernen Gesellschaft erfolgreich zu agieren. […] Die Fähigkeit, Raum differenziert wahrzunehmen, ermöglicht es, die Umwelt reichhaltiger zu erfahren und Augenblicke des Genusses zu erleben. Die Fähigkeit, kulturelle Bezüge herzustellen, ermöglicht es, Architektur als Bedeutungsträger zu entschlüsseln und sich darüber zu verständigen; hier geht es um Teilhabe an kulturellen Entwicklungen. Die Kenntnis der Zusammenhänge von Form und Funktion eröffnet den Weg zu besseren Nutzungsweisen und die Entwicklung angemessener Aneignungsstrategien. Hier geht es nicht zuletzt um die Kenntnis dessen, was möglich ist, das Nachdenken über Alternativen und die Fähigkeit, die eignen raumbezogenen Bedürfnisse erkennen und formulieren zu können. Die Kenntnis des Entstehungsprozesses von Architektur schließlich eröffnet Möglichkeiten des eigenen Eingreifens; Beteiligungsangebote können wahrgenommen oder eingefordert, Initiativen zur Mitgestaltung an der eigenen Umwelt ergriffen werden.«36
34 Einen Überblick über die Vielfalt möglicher Initiativen im Kontext der Architekturvermittlung bieten die Reader Institutionen der Architekturvermittlung des Lehrstuhls Theorie der Architektur an der BTU Cottbus, https://docplayer.org/35192197Institutionen-der-architekturvermittlung.html (13.09.2019) 35 Riklef Rambow: »Arbeit am Begriff. Auf dem Weg zum Common Ground«. Vortrag beim Symposium »schulRAUMkultur« an der Kunstuniversität Linz/Österreich, 29. November 2012. Linz_301112.ppt (12.01.2016) (Hervorhebung im Original) 36 R. Rambow: Architektur wahrnehmen, denken, vermitteln, S. 17
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Neben dieser, die Architektur nutzenden Individuen in den Blick nehmenden Begründungslinie von Architekturvermittlung und baukultureller Bildung, stellt Riklef Rambow eine zweite vor, die insofern aus »gesellschaftsbezogene[r] Perspektive«37 argumentiere, als es ihr mit Blick auf »die Zukunft unserer Städte und Dörfer«38 darum gehe, zur Erhaltung und Entwicklung von Baukultur beizutragen. Aus dieser Perspektive richteten sich Bildungsangebote darauf, einen über Fachkreise hinausgehenden »hinreichend breiten Konsens über Kriterien von Qualität«39 sowie einen »Konsens bezüglich sehr grundlegender Fragen der Bedeutung von Architektur und Baukultur«40 zu erreichen, und so »eine spürbare Nachfrage nach und Wertschätzung von qualitativ hochwertiger Architektur«41 zu ermöglichen. Baukulturelle Bildung nimmt Nutzerinnen und Nutzer gebauter Umwelten aufgrund ihrer doppelten Zielsetzung somit auf zwei Weisen in den Blick: zum einen als sich bildende Individuen, deren persönliche Möglichkeiten des Umgangs mit ihrer gebauten Umwelt erweitert werden, zum anderen als abstrakt begriffenen Menschen42, für dessen Lebensqualität eine Erhaltung und Entwicklung von Baukultur von Bedeutung ist. Die zweite Perspektive entspricht insofern einer Perspektive architektonischer Planung, als auch hier (vor dem Hintergrund der Dauerhaftigkeit und Öffentlichkeit von Architektur) nicht so sehr individuelle Bedürfnisse einzelner Personen als vielmehr interindividuell relevante Bedürfnisse von potenziellen und damit unpersönlichen Nutzerinnen und Nutzern in den Blick genommen werden. Ihre Relevanz im Kontext von Überlegun-
37 Ebd., S. 18 38 Hannes Hubrich: »Architektur Ein idealer Lernstoff«, in: Architektenkammer Thüringen (Hg.), Architektur ein idealer Lernstoff. Modulkatalog. Handreichung für Pädagoginnen und Pädagogen 2015, S. 5, hier S. 5 39 R. Rambow: Architektur wahrnehmen, denken, vermitteln, S. 18 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vgl. Stefan Krämer/Angela Million/Felix u.a. Bentlin: Expertenworkshop »Lernen in der baukulturellen Bildung«. Dokumentation, Berlin, Siegen 2017, S. 21. Hier wird als Ergebnis eines Expertenworkshops zur baukulturellen Bildung folgende These aufgestellt »DER ZENTRALE BEZUGSPUNKT BAUKULTURELLER BILDUNG SOLLTE IMMER DER MENSCH SEIN. Für wen wird eigentlich gebaut? Der zentrale Bezugspunkt sollte bei der Beantwortung dieser Frage immer der Mensch sein.« Interessant (und möglicherweise symptomatisch) ist hier nicht nur der essentialistische Blick auf den Menschen, sondern auch die Vermischung von planerischen und pädagogischen Perspektiven, die der Reflexion bedürfte.
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gen zu Begründungen baukultureller Bildung kann daher mit dem professionellen Hintergrund vieler der sich hier engagierenden Personen erklärt werden. Eine Übertragung dieser Planungsperspektive auf pädagogische Überlegungen ist allerdings nicht unproblematisch: Tritt sie als Motivation baukultureller Bildung in den Vordergrund, können Bildungsprozesse dazu tendieren, nicht mehr eigentliches Ziel zu sein, sondern Mittel zum Zweck zu werden. Sie richten sich dann darauf, Nutzerinnen und Nutzer gebauter Umwelten durch baukulturelle Bildung in die Lage zu versetzen, Baukultur in ›positiver‹ Weise mitzugestalten oder auch nur Formen ›negativer‹ Einflussnahme zu unterlassen43. Bildungsangebote, die auf der Basis dieser Haltung konzipiert werden, können eine Tendenz entwickeln, die eigene (gerne als »Expertenperspektive« von einer »Laienperspektive« unterschiedene44) Sichtweise und mit ihr verbundene implizite Setzungen in Bezug auf die Frage, was im Kontext von Baukultur als positiv betrachtet werden kann, zu vermitteln, anstatt ergebnisoffene Auseinandersetzungen mit gebauten Umwelten zu ermöglichen. Ungeachtet der sich nur teilweise überschneidenden Bildungsverständnisse künstlerisch orientierter Kunstpädagogik und baukultureller Bildung, ist die professionelle Sicht letzterer im Kontext eines Nachdenkens über Bildungsziele und Chancen skulpturaler Erkundungen gebauter Umwelten aufgrund der mit ihr verbundenen Expertise von Belang. Vergleicht man kunstpädagogische Zielset-
43 Eine solche Perspektive wird z.B. deutlich, wenn das Erfordernis baukultureller Bildung mit der »Erfahrung problematisch erodierender Stadtquartiere, in denen gerade Jugendliche ›ihre‹ Orte und Räume suchen und markieren«, begründet wird. EvaMaria Kabisch: »Einführung aus der pädagogischen Praxis«, in: Gert Kähler/Kristina Hasenpflug (Hg.), Baukultur Gebaute Umwelt. Curriculare Bausteine für den Unterricht, Ludwigsburg: Wüstenrot-Stiftung 2010, S. 8-9, hier S. 8. 44 Ein gemeinsamer Ausgangspunkt vieler Überlegungen im Kontext von Architekturvermittlung und baukultureller Bildung kann in einer Bezugnahme auf Erkenntnisse der psychologischen Expertiseforschung erkannt werden. Diese weist erstmals in den 1970er Jahren grundlegende Unterschiede zwischen den Perspektiven von »Experten« und »Laien« auf Architektur nach, deren Einfluss auf die kommunikativen Bedingungen zwischen beiden Gruppen seitens der pädagogischen Psychologie erkundet wird, um herauszufinden, wie Architektinnen und Architekten in die Lage versetzt werden können, über ihre Professionsgrenzen hinaus erfolgreich zu kommunizieren. Aus diesem theoretischen Hintergrund leitet Riklef Rambow konzeptionelle Überlegungen zur Architekturvermittlung ab, die den diesbezüglichen Diskurs im deutschen Sprachraum maßgeblich mitgestalten. Vgl. Riklef Rambow: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur (= Bd. 344), Münster: Waxmann 2000b
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zungen mit denen baukultureller Bildung, kann diese Expertise u.a. daran erkannt werden, dass letztere einen besonderen Schwerpunkt auf das Erkennen der sozialen Relevanz von Architektur legt und somit Teilhabe nicht nur als individuelles Bedürfnis, sondern auch als gesellschaftliches Erfordernis in den Blick zu nehmen vermag. Um die Perspektive architektonischer Planung in die weiteren Überlegungen einzubeziehen, ist darüber nachzudenken, inwiefern Bildungspotenziale skulpturaler Erkundungen des Architektonischen mit einer Förderung von Teilhabe an Architektur einhergehen.
4.3 BILDUNGSPOTENZIALE ERGEBNISOFFENER ERKUNDUNGEN ARCHITEKTONISCHER ZUSAMMENHÄNGE Im Folgenden soll nun überlegt werden, welche den vorangegangenen Überlegungen entsprechende Bildungspotenziale skulpturale Erkundungen des Architektonischen aufweisen. Gefragt wird also, inwiefern sie einen bewussten und zu einem erfüllten Leben beitragenden Umgang mit gebauten Umwelten ermöglichen. Dabei wird aufgezeigt, dass die Weiterentwicklung und Reflexion der eigenen Beziehung zur gebauten Umwelt, die durch skulpturale Formen der Bezugnahme auf gebaute Wirklichkeiten unterstützt wird, mit einer Erweiterung von unmittelbaren Formen der Teilhabe an Architektur als gebauter Umwelt und als Handlungsweise des Planens und Bauens einhergeht, die wiederum eine Basis bilden, um baukulturelle Teilhabe auch auf einer diskursiven Ebene zu ermöglichen. Betrachtet man, Wilhelm Schmid folgend, die Fähigkeit, nach Zusammenhängen zu fragen, als eine zentrale Grundlage eines bewusst geführten und erfüllten Lebens, ist hierzu zunächst zu überlegen, inwiefern skulpturale Erkundungen dazu beitragen können, Zusammenhänge zu erschließen, die für den Umgang mit Architektur relevant sind. Hintergründen eines in diesem Kontext relevanten defragmentierenden Potenzials ergebnisoffenen künstlerischen Arbeitens wird im Folgenden nachgegangen. Auf der Basis künstlerischer Prozesse, die nicht darin aufgehen, vorab festgelegte Ideen umzusetzen, sondern deren Besonderheit vielmehr darin besteht, Fragestellungen in der Auseinandersetzung mit Materialien und Kontexten von verschiedenen Seiten zu erkunden, Widersprüchen nicht auszuweichen, sondern ihnen nachzugehen, entwickelt sich ihre Mehrdeutigkeit, die in der Rezeption der entstehenden Arbeiten eine Grundlage ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten bildet. So kann z.B., wie eingangs dargestellt, The Tired Room nicht nur als pas-
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siver, müder, nachgebender Raum erlebt werden, sondern umfasst auch Momente, die eine gegenteilige Wirkung unterstützen, indem er auch als dynamisch und kraftvoll nach außen drängend, sich aktiv einem äußeren Druck widersetzend wahrgenommen werden kann. Dieses spezifische Spannungsverhältnis, das die Erlebnishaftigkeit seiner Rezeption unterstützt, korrespondiert mit einem skulpturalen Prozess, in dem es nicht nur darum geht, einen möglichst müde wirkenden Raum zu formen, sondern, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit beiden Polen der Spannungsfelder von Müdigkeit und Dynamik, Passivität und Aktivität, einer Vielzahl weiterer sich eröffnender Facetten nachgegangen wird. In Prozessen künstlerischen Denkens und Handelns kann damit die Erfahrung gemacht werden, dass vertiefte Auseinandersetzungen mit Fragestellungen durch mehrperspektivische Betrachtungsweise wesentlich unterstützt werden. Während ein alltägliche Entscheidungsfindungen dominierendes Bestreben, Fragen möglichst eindeutig zu beantworten, dazu führen kann, dass Hinweise darauf, dass auch eine andere Sicht möglich ist, ignoriert werden oder versucht wird, die gegenteilige Sicht möglichst unmittelbar zu widerlegen, ist es künstlerischen Erkundungen förderlich, gerade diesen Hinweisen nachzugehen und scheinbare Widersprüche zuzulassen.45 Erkannt werden kann in ihrem Kontext, dass einander vermeintlich widersprechende Perspektiven auf einen Gegenstand nicht nur koexistieren können, sondern dass sie gemeinsam zu seiner Konturierung beitragen und somit die Grundlage für vertiefte Erfahrungen und differenzierte Erkenntnisse bilden. Indem künstlerische Denk- und Handlungsprozesse in skulpturalen Erkundungen des Architektonischen aufgrund dieser Besonderheit zu einer Überwindung einer dualistischen und somit fragmentierenden Perspektive beitragen, können grundlegende architektonische Zusammenhänge erschlossen werden, die im Folgenden vorgestellt werden. Überlegt wird dabei, inwiefern durch eine Erschließung dieser Zusammenhänge zu einem bewussteren, Teilhabe ermöglichenden Umgang mit der gebauten Umwelt beigetragen werden kann.
45 Aus der Sicht Heinz Paetzolds handelt es sich hierbei um ein Spezifikum ästhetischer Reflexion. »Im Alltag sind wir zufrieden, wenn durch Reflexion etwas Irritierendes beseitigt wurde. In der Wissenschaft hört die Reflexion auf, wenn ein Problem gelöst ist. […] Ästhetische Reflexion dagegen hält sich in ihrem Medium, in einer durch die Sinne angereizten Dauerreflexion (Iteration).« H. Paetzold: Ästhetik der neueren Moderne, S. 71
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4.3.1 Überwindung eines Subjekt/Objekt-Dualismus als Basis unmittelbarer Teilhabe an gebauter Umwelt Eine Basis aller Zusammenhänge, denen im Kontext skulpturaler Erkundungen gebauter Umwelten nachgegangen werden kann, bildet, wie in Kapitel 3.3.1 überlegt, die Erfahrung, dass wahrnehmendes Subjekt und wahrgenommene Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind, die erlebte gebaute Umwelt kein objektiv gegebenes, distanziertes Außen ist, sondern durch eigene Wahrnehmungsweisen beeinflusst und somit unmittelbar mit Bedeutung versehen wird. Möglich werden diesbezügliche Erfahrungen und darauf basierende Erkenntnisse, wenn im skulpturalen Handeln Hintergründe des eigenen Erlebens von Zusammenhängen räumlicher und körperlich-materieller Formen erkundet werden. Wird zum Beispiel die Erfahrung gemacht und reflektiert, dass Enge und Weite architektonischer Räume auf der Grundlage einer unmittelbaren Inbezugsetzung zu den eigenen Körpermaßen wahrgenommen werden und auf diese Weise Einfluss auf die Beurteilung der sich in ihnen bietenden Bewegungsmöglichkeiten nehmen, wird erkennbar, dass räumliche Wahrnehmung nicht allein auf der als objektiv wahrgenommenen Beschaffenheit der gebauten Umwelt basiert, sondern subjektive Anteile umfasst. Noch deutlicher wird der Einfluss dieser Anteile, wenn anschaulich oder begrifflich reflektiert wird, dass räumliche oder körperliche Formen auf der Grundlage von leiblichen Erfahrungen verstanden werden, wenn z.B. aufstrebende Formen als dynamisch, liegende als entspannt wahrgenommen werden. Werden diese Grundlagen des Erlebens erkundet und Reflexionen impliziten, in die Wahrnehmung der gebauten Umwelt einfließenden Wissens ermöglicht, können ein dualistisches Verständnis der Beziehung zur gebauten Umwelt hinterfragt und damit, den Überlegungen in Kapitel 2.2 folgend, Grundlagen eines umfassend begriffenen Wohnens erworben werden. Die Möglichkeit, eigene Anteile am Erleben von Architektur zu reflektieren, bildet darüber hinaus eine Basis, um Wahrnehmungsalternativen zu entwickeln und so die Beziehung zur gebauten Umwelt aktiv zu gestalten. Dadurch, dass die gebaute Umwelt, in der Form, in der sie erlebt wird, immer auch subjektive Anteile umfasst, ist eine Teilhabe an ihr immer etwas Gegebenes. Diese unmittelbare und nicht hintergehbare Form der Teilhabe bleibt aber unerkannt, wenn gebaute Umwelt als objektiv gegebenes Außen betrachtet wird. Erst wenn die eigene Wahrnehmung in ihrem reziproken Bezug zu den Bedingungen der gebauten Umwelt wahrgenommen wird und auf eine bewusstere Ebene gelangt, auf der die Verbindung subjektiver und objektiver Anteile des Erlebens anschaulich oder begrifflich reflektiert und kommuniziert werden kann, wird diese Form der unmittelbaren Teilhabe erkennbar. Dem eigenen Erleben
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der gebauten Umwelt nachzugehen, kann somit als eine Form ihrer Aneignung betrachtet werden. Die sich im skulpturalen Handeln eröffnenden Möglichkeiten, die eigene Verwobenheit in die Umwelt zu erfahren und zu reflektieren, können jedoch nicht nur in Bezug auf ihre Potenziale im Kontext einer Gestaltung der Beziehung zur gebauten Umwelt betrachtet, sondern auch in ihrer allgemeinbildenden Relevanz reflektiert werden. Nachgedacht werden kann dann über Bildungschancen, die zum einen auf der Erprobung dialektischer Denkweisen und zum anderen darauf basieren, dass die Erfahrung der Verwobenheit mit der gebauten Umwelt auf wahrgenommene Umwelt im Allgemeinen übertragen werden kann. Unterstützt wird eine solche umfassendere Relevanz durch Überlegungen Leslie J. Kavanaughs, die einen Zusammenhang zwischen der modernen, durch Distanz gekennzeichneten Beziehung zur Architektur und einer allgemeinen Entfremdung zwischen Mensch und Umwelt herstellt: »How are bodies related to architecture? They dwell. Specifically human beings inhabit and dwell in architecture. Yet from the seventeenth century onward, we human beings have looked upon our spaces as something outside of ourselves. ›I am in here; you and the other stuff are out there‹. This separation leads inevitably to a fundamental alienation of ourselves from our world. This alienation can be seen in a number of ways from the representation of architectural space to the consideration of ourselves as human beings as independent of our natural environment.«46
4.3.2 Wechselwirkungen von Körper und Raum: Raum wird plastisch Ein zweiter Zusammenhang, der im Kontext skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt erschlossen und dessen Bildungspotenzial reflektiert werden kann, betrifft die materielle Bedingtheit architektonischen Raums. Wie in Kapitel 4.1 überlegt wurde, können skulpturale Prozesse auf einer elementaren Ebene als gestaltender Umgang mit Material begriffen werden. Werden architektonische Form-Wirkungszusammenhänge erkundet oder architektonische Räume installativ verändert, richtet sich das skulpturale Interesse zwar auf die räumlichen Wirkungen, die damit einhergehen, die Veränderung selbst wird jedoch herbeigeführt, indem die materiellen Bedingungen des Erlebens von Raum mo-
46 Leslie J. Kavanaugh: »The Ontology of Dwelling«, in: Deborah Hauptmann/Bart Akkerhuis (Hg.), The body in architecture, Rotterdam: 010 Publishers 2006, S. 94-112, hier S. 95
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difiziert werden. Durch skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur wird der Blick damit auf deren Materialität gelenkt. Materielle Beschaffenheiten, Formen und Konstellationen von Wänden, Decken, Böden, Treppen, Einbauten können auf diese Weise als reale Grundlagen des eigenen Erlebens architektonischer Räume, des Fühlens, Verhaltens und Handelns erfahren werden. Eine solche Sichtweise, die sich weder einseitig auf den Raum, noch einseitig auf die ihn bildenden baukörperlichen Strukturen richtet, sondern beides in einen Zusammenhang bringt, unterscheidet sich insofern von Wahrnehmungsweisen, die den täglichen Umgang mit gebauten Umwelten kennzeichnen, als hier vor dem Hintergrund meist impliziter Nutzungserwägungen vor allem die Räumlichkeit der Architektur im Vordergrund steht, die baukörperlichen Strukturen in ihrer Materialität dagegen in den Hintergrund treten. Überlegt man mit Bernhard Waldenfels, dass architektonischer Raum nicht selbst, sondern nur im Medium des ihn umgebenden Materials gestaltet werden kann47, geht der Wechsel in eine skulpturale Perspektive mit der Möglichkeit einher, gebaute Umwelt als gestaltet und gestaltbar zu erkennen. Dadurch, dass architektonischer Raum auf diese Weise als gebauter Raum erfahrbar wird, eröffnen sich Möglichkeiten des gedanklichen Umbauens, Abreißens und Neubauens, die im skulpturalen Handeln in Bezug auf die sich mit ihnen entwickelnden Möglichkeiten räumlichen Erlebens erkundet werden können. Indem ein dualistisches Verständnis von Baukörper und Raum überwunden wird, kann Architektur in ihrer Materialität wahrgenommen und somit plastisch werden. Dadurch, dass reale Materialien, mit denen im skulpturalen Handeln gearbeitet wird, ihrer Be- und Verarbeitung jeweils spezifische Widerstände entgegensetzen (konkretere Überlegungen werden hierzu in Kapitel 5 angestellt), werden allerdings auch Grenzen der Plastizität erfahrbar. Anders als virtuelle Welten, haben (nicht nur) gebaute Umwelten ungeachtet der Subjektivität ihrer Wahrnehmung eine Faktizität, die so erkannt werden kann. Auch in diesem Kontext kann über ein allgemeinbildendes Potenzial nachgedacht werden. Wenn die Begreifbarkeit, die architektonische Räume aus der Sicht Alexandra Abels von einem abstrakten, nicht real erfahrbaren Raum unterscheidet, dazu beitragen kann, dass »wir ankommen in der Realität unserer menschlichen Existenz«48, kann die Relevanz eines so geförderten Wahrnehmens der Dinglichkeit von Architektur erkannt werden. Eine Perspektive auf Architektur, die deren Eigenschaft, nicht nur in ihrer räumlich-atmosphärischen Virtualität, sondern auch als körperlicher Widerstand erfahren werden zu kön-
47 Vgl. B. Waldenfels: Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, S. 90 48 A. Abel: Architektur und Aufmerksamkeit, S. 25
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nen, besondere Bedeutung beimisst, teilt auch Gernot Böhme.49 Wie Böhme und Abel übereinstimmend hervorheben, ist das Wahrnehmen der Körperlichkeit von Gebäuden eine wichtige Voraussetzung dafür, dass wir uns selbst als Nutzende in unserem »Da-Sein«50 bzw. unserer »leibliche[n] Anwesenheit«51 erfahren können. 4.3.3 Verbindungen von Bauen und Wohnen: Teilhabe an einer als soziales Handeln begriffenen Architektur Wird Architektur als gebaut und gestaltet erkannt, kann ihr Erleben zu Reflexionen ihrer Entstehungsprozesse führen, wodurch Interesse an Architektur als Handlung geweckt wird. Eine diesem Interesse zugrundeliegende Perspektive skulpturalen Handelns lässt Architektur dabei weniger als Expertenhandlung, in deren Kontext ein abgeschlossenes Werk entsteht, erkennbar werden, sondern richtet ihren Blick vielmehr auf Architektur als soziales Handeln, in dem Entwurf und praktische Umsetzung, Bauen und Wohnen einen zusammenhängenden Prozess bilden. Das besondere Potenzial einer skulpturalen Perspektive, die Untrennbarkeit der Entwicklung von Entwurfsideen und Umsetzungsmöglichkeiten erkennbar werden zu lassen, hängt, wie in Kap. 4.1 dargestellt, damit zusammen, dass sich hier eine Zimmermannsperspektive, die räumliche Gebilde als Konstruktionen aus Material in den Blick nimmt, und eine Entwurfsperspektive, die sich auf räumliche Wirkungen und Nutzungsmöglichkeiten als deren Ergebnis richtet, verbinden. Eine solche Sichtweise bewirkt, dass Gebäude nicht als Werk eines Architekten oder einer Architektin, als Verwirklichung einer subjektiven Idee begriffen werden, sondern als Ergebnis eines architektonischen Handelns, an dem nicht nur Architektinnen und Architekten, Fachplanerinnen und Fachplaner beteiligt sind, sondern in das neben den Kenntnissen der ausführenden Gewerke vielfältige kontextuelle Faktoren einfließen. Damit wird eine Sicht auf Architektur möglich, in der die Frage nach einer Urheberschaft zugunsten einer Auseinandersetzung mit konstruktiven und kontextuellen Hintergründen des Planens und Bauens in den Hintergrund tritt. Auf diese Weise kann ein unrealistisches Bild des demiurgischen Architekten zugunsten von Einblicken in die Komplexität und Prozesshaftigkeit architektonischer Planung überwunden werden. Dass auch Entwurfsideen, die einer bestimmten Architektenpersönlichkeit zugeschrie-
49 Vgl. G. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum, S. 98 50 A. Abel: Architektur und Aufmerksamkeit, S. 25 51 G. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum, S. 98
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ben werden, in Teamarbeit entwickelt werden, verdeutlicht z.B. Rem Koolhaas in einem Interview, in dem er, nach seiner Entwurfsidee für die gefaltet wirkende Form des CCTV-Tower befragt, antwortet: »Schauen Sie ins Internet. Da begegnen Ihnen mindestens acht Mitarbeiter von mir, die glauben, sie hätten diese Form erfunden. Und sie haben alle recht. Dieses Wirrwarr spiegelt die Situation in Architekturbüros wider. Man fordert Ideen ein und kaut die besten Vorschläge durch. Viele der Beteiligten werden am Ende sagen, sie seien es gewesen, die die entscheidende Vision hatten. Die Wahrheit ist, dass Architektur eine Kollektivleistung ist.«52
Werden im skulpturalen Handeln Wechselwirkungen von Ideen, Kontexten und Umsetzungsmöglichkeiten als Grundlage eines Prozesses kennen gelernt, in dem es nicht um die Verwirklichung einer bestimmten Idee geht, sondern um die Entwicklung einer skulpturalen Form, in der die Offenheit für äußere Einflüsse von zentraler Bedeutung ist, wird es möglich, eine solche Komplexität auch als Basis architektonischen Handelns in den Blick zu nehmen. Wird Architektur auf diese Weise nicht als Ergebnis eines schöpferischen Akts ohne zeitliche Dauer verstanden, sondern als etwas, das sich in einem langen Prozess entwickelt, bildet dies eine grundlegende Voraussetzung dafür, dass Möglichkeiten der Einflussnahme erkennbar werden. Für die eigene Beziehung zur gebauten Umwelt ist eine solche Perspektive, die Einblick in die Prozesshaftigkeit des Planens und Bauens ermöglicht, insofern von Bedeutung, als gebaute Umwelt auf ihrer Grundlage nicht mehr als fertiges, unabänderliches Umfeld akzeptiert werden muss, sondern in Bezug auf mögliche Alternativen reflektiert werden kann. Architektonisches Handeln wird so weniger als Akt der Bevormundung empfunden, als vielmehr als Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, das in Bezug auf die sich eröffnenden Möglichkeiten eines umfassend begriffenen Wohnens (als Verbindung des Erlebens und Nutzens) reflektiert und auch hinterfragt werden kann. Eine besondere Relevanz für ein Erkennen von Architektur als soziales Handeln, das sich als Prozess auf die Entstehung von – in dem dargestellten erweiterten Sinne bewohnbaren Räumen richtet, kommt der Eigenschaft skulpturalen Handelns zu, Rezeption und Produktion zu verbinden. Werden skulpturale Arbeiten als Erfahrungsangebote entwickelt, wird eine wahrnehmende und han-
52 Rem Koolhaas in einem Interview von Sven Michaelsen: »Fast die ganze Welt hat sich der Diktatur der Marktwirtschaft unterworfen«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin (2018), S. 10-16, hier S. 15
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delnde Rezeption mit den sich in ihr eröffnenden Erfahrungsmöglichkeiten zu einem Teil der Arbeit, in dem sie sich temporär und auf jeweils unterschiedliche Weise verwirklichen kann. Wie hierzu gezeigt wurde, erfordert ein skulpturaler Produktionsprozess, in dem diese Arbeiten entstehen, dass die sich in ihnen eröffnenden Rezeptionsmöglichkeiten in ihrer Offenheit implizit oder explizit mitgedacht werden. Solche skulpturalen Prozesse können als paradigmatisch für ein Arbeiten »von Anderen her«53 betrachtet werden und damit ein Verständnis architektonischen Handelns als eines Bauens begünstigen, das sich, wie Bernhard Waldenfels zeigt, »in der Perspektive der Wohnenden«54 vollzieht: »Raumbildende Dinge wie Wände, Böden, Fenster und Türen wären nicht raumbildend ohne Bezugnahme auf den Ort, an dem sich Bewohner befinden werden. In diesem Sinne verschränkt sich das Bauen mit dem Wohnen, ähnlich wie sich das Sprechen mit dem Hören verschränkt. Das Wohnen findet zwar nachträglich statt, aber es kommt mit seien Aufforderungen und Anforderungen dem Bauen zuvor.«55
Das hier von Waldenfels dargestellte Handeln, in dem etwas von andern her entwickelt wird, unterscheidet sich grundlegend von einem Handeln, das etwas für andere herstellt. Während ersteres von der Produktion auf die Rezeption gerichtet ist und dort (als Werk) endet, vollzieht sich letzteres in einer kreisförmigen Bewegung, die insofern von der Rezeption ausgeht, als in der Produktion eine interindividuell begriffene rezeptive Perspektive eingenommen wird. Indem Formen eines solchen sozialen Handelns in skulpturalen Erkundungsprozessen erprobt werden, wird eine Grundlage für eine Sicht auf Architektur entwickelt, in der Bauen und Wohnen als kontinuierlicher, reziproker Prozess erkennbar werden. Wie Martin Heidegger in Bauen Wohnen Denken überlegt, ist ein Verständnis der unmittelbaren Verbindung von Bauen und Wohnen, die er auch etymologisch herleitet, für ein Erkennen der existenziellen Dimension des Wohnens von Bedeutung, fehle es, werde das Wohnen »vollends nie als der Grundzug des Menschen gedacht«56.
53 B. Waldenfels: Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, S. 91 (Hervorhebung im Original) 54 Ebd. (Hervorhebung im Original) 55 Ebd. 56 M. Heidegger: Bauen Wohnen Denken, S. 149-150
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»Wohnen und Bauen stehen zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel. Allein, solange wir nur dies meinen, nehmen wir Wohnen und Bauen für zwei getrennte Tätigkeiten und stellen dabei etwas Richtiges vor. Doch zugleich verstellen wir uns durch das Zweck-Mittel-Schema die wesentlichen Bezüge. Bauen nämlich ist nicht nur Mittel und Weg zum Wohnen, das Bauen ist in sich selber bereits Wohnen.«57
Bauen reicht aus Heideggers Perspektive auch insofern ins Wohnen hinein, als es nicht nur als ein Erstellen, sondern auch als Erhaltung von Gebäuden begriffen werden könne. »Beide Weisen des Bauens bauen als pflegen, lateinisch colere, cultura und bauen als errichten von Bauten, aedificare sind in das eigentliche Bauen, das Wohnen, einbehalten.«58 Eine im skulpturalen Handeln erworbene Perspektive, in der die Zusammenhänge von Bauen und Wohnen erkennbar werden, könnte vor dem Hintergrund von Heideggers Überlegungen begünstigen, dass Wohnen als Prozess des Weiterbauens begriffen wird. Unter Einbezug eines umfassenderen Verständnisses von Wohnen, in der dieses nicht auf das Bewohnen eines privaten Zuhauses, sondern als Herstellung einer Beziehung zu privaten wie öffentlichen Bereichen der gebauten Umwelt verstanden wird, wäre der Erwerb eines Verständnisses von Wohnen als erhaltendem und entwickelndem Weiterbauen eine Basis für die Übernahme von Verantwortung für die gebaute Umwelt. Aus der Sicht Annette Sommers, die die Beziehung zwischen Planenden und Nutzenden gebauter Umwelten aus einer transaktionspsychologischen Perspektive untersucht, wird eine solche Verantwortungsübernahme durch die strukturellen Besonderheiten dieser Beziehung kaum unterstützt. Eine hieraus ihrer Meinung nach resultierende Nutzungshaltung des passiven Konsumierens von Architektur, die auch durch in Planungskontexten etablierte Partizipationsangebote aufgrund der hier vorherrschenden asymmetrischen Interaktionsweisen nicht verändert werde,59 könnte durch die Einnahme einer skulpturalen Perspektive überwunden werden: Wird Architektur auf ihrer Basis nicht als statisches Werk, sondern als Prozess erkannt, der auch mit der Fertigstellung von Gebäuden nicht abgeschlossen ist, sondern in deren Nutzung fortgesetzt wird, erfährt die Nutzung eine Aufwertung. Anstatt als konsumierende
57 Ebd., S. 148 58 Ebd., S. 149 59 Vgl. Annette Sommer: »Die Verantwortung der Architektur für die Verantwortungslosigkeit«, in: Eduard Führ/Hans Friesen/Annette Sommer (Hg.), Architektur im Zwischenreich von Kunst und Alltag, Münster, New York: Waxmann 1997, S. 95-114
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Abnutzung60 begriffen zu werden, wird sie als Form der Teilhabe erfahrbar, zu der Bewohnerinnen und Bewohner nicht durch planungsseitige Partizipationsangebote, die ein dichotomes Verständnis von Planung und Nutzung eher manifestieren als überwinden, autorisiert zu werden brauchen, sondern zu der sie immer schon autorisiert sind. Ein weiteres Potenzial einer Perspektive, die Bauen als sozialen Aushandlungsprozess erkennbar werden lässt, basiert darauf, dass gebaute Umwelt nicht nur in ihrer Gestaltbarkeit erkannt werden kann, sondern auch als Angebot möglicher, aber nicht vorgegebener Formen des Umgehens. Wie Ludger Schwarte überlegt, ist ein architektonisches Handeln, das sich selbst nicht als planvolles Handeln oder Können begreift, sondern als kollektives Geschehen, das nicht »die Kognitionen, das Pläneschmieden und Durchsetzen eines Subjektes zum Kriterium für eine gelungene Ausführung nimmt, sondern die Frage, wie und woraufhin eine Welt überhaupt erschaffen und verändert wird«61, eine Bedingung dafür, dass in auf seiner Basis entstehenden gebauten Umwelten Handlungsspielräume eröffnet werden. Wendet man seine Überlegungen, die sich auf die Produktionsperspektive richten, in die von dieser untrennbare Nutzungsperspektive, wäre eine Sicht der Nutzungsseite, die es erlaubt, architektonisches Handeln als aus »Transformationen, aus Flüssigkeit und Bewegung, aus Verwandlung und Übertragung, aus verschiedenen Prozessen der Weltgestaltung«62 bestehend in den Blick zu nehmen, die Basis dafür, dass architektonische Situationen in ihrer potenziellen Offenheit erkannt werden können. Wie anhand des von Ludger Schwarte herangezogenen Beispiels von Architekturen öffentlicher Plätze im Paris des 18. Jh., die, ursprünglich als Orte der Machtdemonstration geplant, aufgrund der durch sie gegebenen Versammlungsmöglichkeiten eine räumliche Basis der französischen Revolution bildeten63, besonders deutlich
60 Henri Lefèbvre erkennt in architektonischen und städtebaulichen Diskursen die Tendenz, dass Nutzende als Abnutzende betrachtet werden: »Als was sieht man dann den Benutzer an? Als eine ziemlich widerwärtige Person, die beschmutzt, was man ihr neu und frisch verkauft, die Werte mindert, verdirbt« Aus seiner Sicht gehört dieses Nutzungsverständnis zu den soziologischen Gründen für das von ihm untersuchte Phänomen der Passivität von Bewohnerinnen und Bewohnern. »Sie überlassen den ›Entscheidenden‹ die Verantwortung für die Entscheidung. Die Aktivität zieht sich aus dem Alltäglichen in den erstarrten Raum, in die anfangs erduldete, später akzeptierte ›Vergegenständlichung‹ zurück«. H. Lefèbvre: Die Revolution der Städte, S. 198. 61 L. Schwarte: Philosophie der Architektur, S. 342 62 Ebd. 63 Ebd., S. 9-10
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wird, ist ein Erkennen, insbesondere aber eine Umsetzung sich in gebauten Umwelten auch entgegen einer planerischen Intention eröffnender Handlungsmöglichkeiten vor allem dann möglich, wenn gemeinschaftlich gehandelt wird. Auch Saskia Hebert beobachtet, dass gerade die Erschließung nicht geplanter Nutzungsspielräume durch gemeinschaftliches Handeln begünstigt wird: »Während der Einzelne sich […] den räumlichen Vorgaben meistens unterordnet, können Gruppen diese unter Umständen überschreiten – und, zum Beispiel gestaltend, in ihre physische Umgebung eingreifen.«64 Vor diesem Hintergrund kann nicht nur ein herstellendes Planen und Bauen, sondern auch ein weiterbauendes Nutzen von Architektur als soziales Handeln erkennbar werden. Diskursive und kritische Teilhabe Ein Verständnis von Architektur als Prozess sozialen, Bauen und Wohnen umfassenden Handelns65 findet in skulpturalen Auseinandersetzungen dadurch eine Basis, dass die in die Produktion einbezogene Rezeptionsperspektive Fragen individueller Besonderheiten und interindividueller Gemeinsamkeiten von Erfahrungsmöglichkeiten einbezieht. Während eine hierauf basierende Auseinandersetzung mit der sozialen Relevanz von Gestaltungen gebauter Umwelten im Kontext künstlerischen Handelns auf einer anschaulichen Ebene verbleiben kann, erfordert eine Teilhabe an baukulturellen Entwicklungen ebenso wie die gemeinschaftliche Erschließung von Nutzungsspielräumen, dass ein kommunikativer Austausch auch auf einer begrifflichen Ebene möglich ist. So setzt aus der Sicht Andrea Dreyers baukulturelle Teilhabe, die sie als Form der Miteigentümerschaft an einer als geistiges Eigentum begriffenen Architektur von einer aktiven, aber konsumierenden Teilnahme an Partizipationsangeboten unterscheidet, voraus, dass Nutzende zur Einnahme »einer diskursiven und kritischen Haltung«66 fähig sind. Folgt man dieser Sichtweise, kommt den in Kapitel 4.1.2 dar-
64 S. Hebert, Gebaute Welt, Gelebter Raum, S. 86 65 Wie R. Rambow überlegt, kennzeichnet ein solches Verständnis die Perspektive von Architektinnen und Architekten. In der Auswertung von Ergebnissen einer Studie zu Unterschieden der ästhetischen Beurteilung von Gebäuden durch Personen mit und ohne professionellen Bezug zur Architektur kommt er zu dem Ergebnis, dass letztere Architektur in erster Linie als fertiges Produkt beurteilen und demnach kaum Überlegungen zu möglichen Entwurfsabsichten einbeziehen. Vgl. R. Rambow: ExpertenLaien-Kommunikation in der Architektur, S. 163 66 Andrea Dreyer: »Architektur vermitteln. Ein Plädoyer«, in: Alexandra Abel/Bernd Rudolf (Hg.), Architektur wahrnehmen, Bielefeld: transcript 2018, S. 295-308, hier S. 301
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gestellten Möglichkeiten, im Kontext skulpturaler Auseinandersetzung kritisch auf die gebaute Umwelt Bezug zu nehmen, insofern besondere Bedeutung zu, als sie eine Grundlage bilden, um architektonische Erkenntnisse und Bedürfnisse artikulieren zu können. Als spezifisches Kennzeichen im skulpturalen Handeln möglicher kritischer Bezugnahmen wurde überlegt, dass diese nicht aus einer reinen Außenperspektive erfolgen, sondern in einer teilnehmenden Perspektive ihren Ausgang nehmen, zu der auch dann eine Verbindung bestehen bleibt, wenn in eine distanzierte, auch wertende Kritik ermöglichende Position gewechselt wird. Auf diese Weise gründen skulpturale Formen kritischer Bezugnahme auf gebaute Umwelten in der Reflexion des eigenen Erlebens, das zwar einerseits in seiner Subjektivität und damit zusammenhängenden Kontingenz, vor dem Hintergrund eines skulpturalen Fokus auf der Materialität des Gebauten aber auch als auf objektiven Grundlagen basierend erkannt werden kann. Einer aus dieser Sichtweise entwickelten Kritik an Architektur liegt die Frage zugrunde, inwieweit die gebaute Umwelt in ihrer faktischen Beschaffenheit ein Wohnen unterstützt, das zum einen die Herstellung einer existenziellen Beziehung zur Architektur umfasst und sich zum anderen als kontinuierlicher Prozess des Bauens und Nutzens begreifen lässt. Differenziert man diese Fragestellung aus, können architektonische Qualitätskriterien abgeleitet werden, die eine Basis bilden, um architektonische Bedürfnisse differenziert erkennen und kommunizieren zu können und auf diese Weise an einem architektonischen Diskurs teilzuhaben. Betrachtet man den Aufbau einer auf leiblichen Erfahrungen basierenden Beziehung zur gebauten Umwelt als Grundlage der Möglichkeit, sich in ihr zu verorten und heimisch zu fühlen, kann ein solches Qualitätskriterium in der Vielfalt und Deutlichkeit durch Architekturen eröffneter leiblicher Erfahrungsmöglichkeiten erkannt werden. Wie Fred Rush überlegt, verfügen Menschen über ungenutzte Fähigkeiten leiblichen Erfahrens, deren Erschließung durch Architektur mehr oder weniger stark unterstützt werden kann. Architekturen, die wie Steven Holls Erweiterung des Nelson-Atkins Museums »with phenomenology in mind«67 entwickelt werden, ermöglichen aus Rushs Sicht intensive leibliche Erfahrungsmöglichkeiten. »The complexity of the architecture […] engages a number of perceptual capacities, native or learnt, and, at the same time, encourages their further appreciation and development.«68 Folgt man Rushs Überlegungen, könnten Architekturen, in deren Entwicklung auf leibliche Erfahrungsmöglichkeiten Wert gelegt wird, somit nicht nur selbst gute Bedingungen für ein umfassend begriffenes Wohnen bieten, sondern auch als Lernort für ein solches
67 F. Rush: On architecture, xi 68 Ebd., S. 46
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Wohnen fungieren. Wird es auf der Basis skulpturaler Auseinandersetzungen mit Formen des Erlebens gebauter Umwelten möglich, sich in ihr bietende leibliche Erfahrungsmöglichkeiten zu reflektieren, kann dies z.B. eine Grundlage bilden, um funktionalistischer Architektur nicht nur mit diffuser Ablehnung zu begegnen, sondern ihre Unwohnlichkeit mit einem Mangel an Anknüpfungspunkten für den Aufbau einer auf leiblichen Erfahrungen basierenden WohnBeziehung in Verbindung zu bringen. Werden eigene Bedürfnisse der Herstellung einer solchen Beziehung reflektiert, kann aber auch über Hintergründe einer im zeitgenössischen privaten Wohnungsbau deutlich werdenden Vorliebe für historisierende Säulenarchitekturen sowie über zeitgemäßere Alternativen nachgedacht werden. Durch skulpturale Auseinandersetzungen mit der gebauten Umwelt unterstützte Formen der Beurteilung architektonischer Qualität können darüber hinaus auf der Frage basieren, auf welche Weise und mit welchen möglichen Zielen architektonische Wirkungen – bewusst oder unbewusst – eingesetzt werden. So kann eine im skulpturalen Handeln erworbene Sensibilität für Wirkungen, die von architektonischen Situationen ausgehen, eine Grundlage bilden, um explizite oder implizite entwerferische Intentionen erkennen und hinterfragen zu können. Kritisch reflektiert werden können so z.B. architektonische Gestaltungen, die durch ihren beeindruckenden oder einschüchternden Charakter die ökonomische Überlegenheit ihrer Besitzer oder die politische Macht ansässiger Institutionen demonstrieren. Eine solche Reflexion kann sich auch auf atmosphärische Wirkungen beziehen. Das atmosphärische Erleben von Architektur steht zwar in keinem kausalen oder berechenbaren Verhältnis zu deren physischen Eigenschaften, aber »innerhalb gewisser Grenzen lassen sich Atmosphären konstruieren«69. Kritische Reflexionen können sich daher auf die als Hintergrund der architektonischen Beeinflussung von Atmosphären erkennbar werdenden Intentionen richten. So kann die konsumfördernde Wirkung der Atmosphäre von Malls ebenso erkannt und in Bezug auf ihre bauliche Erzeugung reflektiert werden wie die beeindruckende Atmosphäre, die in Firmenzentralen, aber auch in Kirchen angestrebt wird. Ein zentrales Qualitätskriterium, das skulptural handelnd erschlossen werden kann, betrifft die Frage, in welchem Umfang architektonische und städtebauliche Gestaltungen Möglichkeitsräume eröffnen. Wie oben überlegt wurde, ist es eine Frage der rezeptiven Fähigkeiten und Haltungen, ob die gebaute Umwelt entlang der von ihr am deutlichsten unterstützten Handlungsweisen genutzt wird oder ob Handlungsspielräume erschlossen werden. Fähigkeiten und Haltungen, die eine
69 S. Hebert: Gebaute Welt, Gelebter Raum, S. 123
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Erschließung von Möglichkeitsräumen begünstigen, können, wie weiter überlegt wurde, im Kontext skulpturaler Auseinandersetzungen mit der gebauten Umwelt entwickelt werden. Gleichzeitig kann die Einnahme solcher Haltungen oder die Anwendung dieser Fähigkeiten durch architektonische Gestaltungen aber auch mehr oder weniger stark unterstützt werden. So kann z.B. überlegt werden, dass Architekturen, durch die sich Nutzende »von oben herab behandelt«70 oder eingeschüchtert fühlen, eine eher affirmative Haltung begünstigen, in der eine Erschließung von Umgangsspielräumen unwahrscheinlich wird. Darüber hinaus können bauliche Gestaltungen aber auch auf der Ebene faktischer Möglichkeiten mehr oder weniger große Handlungsspielräume eröffnen. Während z.B. eine bauliche Struktur wie Le Corbusiers Dom-Ino und die von ihm propagierte Entwurfsidee des plan libre unterschiedliche Formen des nutzenden Weiterentwickelns erlauben, sind Nutzungsmöglichkeiten von an funktionalen und wirtschaftlichen Kriterien ausgerichteten Wohnungsbauten oft umfassend vorgegeben. Saskia Hebert betrachtet eine solche starke Determinierung von Handlungsmöglichkeiten als »Strukturiertheit […] im Sinne der Vorschrift, der Handlungsanweisung verstanden, die damit einen normativen Charakter erhält.«71 Eine solche Strukturiertheit tritt, wie sie weiter ausführt, ein, »wenn der Handlungsraum zu voll ist (und ich mich darin buchstäblich nicht mehr bewegen kann), zu wenig Handlungen zulässt (indem er sie gesetzlich oder räumlich verhindert), oder von vornherein ausschließend wirkt (exklusiv ist). Im gelebten Handlungsraum verliert der Raum damit seinen Möglichkeitscharakter, seinen ergebnis- und erlebnisoffenen Erfahrungshorizont.«72
In der Zusammenschau der bisher vorgestellten, im Kontext skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt erkennbar werdenden Qualitätskriterien geht es somit um die Frage, inwiefern architektonische und städtebauliche Gestaltungen ein Erkennen der eigenen, unmittelbaren Teilhabe unterstützen. Wie sehr komme ich als Mensch mit meinen Bedürfnissen in der gebauten Umwelt vor, inwiefern bildet sie Möglichkeitsräume und Anknüpfungspunkte für Mitgestaltungen anstelle einer geschlossenen Oberfläche? Diese Aspekte kritisch reflektieren zu
70 Auf die Frage nach seinem Erleben »missratener Architektur« antwortet Rem Koolhaas »Meine Toleranzschwelle ist sehr hoch. Mich schaudert nur, wenn mich Architektur von oben herab behandelt.«, zitiert nach S. Michaelsen: Fast die ganze Welt hat sich dem Diktat der Marktwirtschaft unterworfen, S. 12 71 S. Hebert: Gebaute Welt, Gelebter Raum, S. 127 72 Ebd.
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können, setzt voraus, dass man zunächst die grundsätzliche Fähigkeit hat, eine Beziehung aufzubauen, Atmosphären bewusst wahrzunehmen und Umwelten als Handlungsspielräume zu erkennen. Erst dann kann auch erkannt werden, wenn sich die gebaute Umwelt diesen Bedürfnissen widersetzt, wenn sie Funktionen festlegt, durch atmosphärische Wirkungen zu manipulieren versucht oder kaum Anknüpfungspunkte für leibliche Verortungen bietet. Erkannt wird Architektur auf diese Weise als Möglichkeit und Grenze, ihr Erleben als weder rein subjektiv, noch vollständig von den physischen Eigenschaften der gebauten Umwelt vorgegeben, sondern als Wechselwirkung von beidem. Dadurch, dass aus der kritischen Distanz skulpturaler Bezugnahmen auf die gebaute Umwelt Beurteilungsgrundlagen erkennbar werden und auf ihrer Basis architektonische Bedürfnisse argumentativ begründet werden können, wird eine diskursive Teilhabe an baukulturellen Entwicklungen unterstützt. Diskursive Teilhabe erschöpft sich allerdings nicht darin, der Planungsseite im Rahmen einer »Experten-Laien-Kommunikation«73 Bedürfnisse mitteilen zu können, sondern besteht vor allem auch darin, mit anderen Nutzerinnen und Nutzern in einen kommunikativen Austausch über das Erleben der gebauten Umwelt zu treten. In einem solchen Austausch möglich werdende Erkenntnisse in Bezug auf interindividuelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Wahrnehmungsweisen und Bedürfnissen bilden die Voraussetzung für meist nur gemeinschaftlich mögliche Formen aktiver Mitgestaltung der gebauten Umwelt, gleichzeitig sind sie aber auch eine wichtige Grundlage für ein Erkennen der sozialen Relevanz von Architektur und Städtebau. Unterstützt wird ein in kommunikativen Zusammenhängen möglich werdendes Erkennen der sozialen Relevanz baulicher Gestaltungen, wenn Wahrnehmungs- und Umgangsbedürfnisse in ihrer Historizität in den Blick genommen und damit Zusammenhänge zwischen Architektur und Gesellschaft erschlossen werden können. Wie in Kapitel 3 deutlich wurde, greifen künstlerische Erkundungen architektonischer Fragestellungen Strategien anderer zeitlicher Kontexte auf, um sie weiterzuentwickeln. Damit eine solche Aktualisierung möglich ist, stellen sich Fragen nach den gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen, die früheren Erkundungsweisen zugrunde liegen können: Unter welchen Schwerpunkten wurden architektonische Fragen in unterschiedlichen zeitlichen Kontexten skulptural erkundet? Mit welchen gesellschaftlichen, kulturellen und technischen Entwicklungen können diese Interessenschwerpunkte zusammenhängen? Inwiefern und vor welchen Hintergründen haben sich Wahrnehmungsbedingungen und die mit ihnen zusammenhängenden Wohnbedürfnisse verändert und wie können zeitgenössische skulpturale und architektonische
73 R. Rambow: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur
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Gestaltungen diese Veränderungen berücksichtigen? Werden Zusammenhänge zwischen skulpturalen und architektonischen Entwicklungen sowie Wahrnehmungsweisen und deren kontextuellen Hintergründen im Rahmen skulpturaler Erkundungen hergestellt, findet somit eine vergleichende Betrachtung statt, in deren Kontext baukulturelle Entwicklungen in Bezug auf ihre Historizität reflektiert werden können. Chancen vertiefender diesbezüglicher Erkenntnisse eröffnen sich, wenn in diesem Zusammenhang überlegt wird, inwiefern sich architektonische und skulpturale Entwicklungen auch gegenseitig beeinflussen. Als weiteres Qualitätskriterium, hinsichtlich dessen Architektur auf einer diskursiven Ebene reflektiert werden kann, wird damit die Frage nach einer Passung zwischen architektonischen Gestaltungen und zeitgenössischen Wahrnehmungsbedürfnissen erkennbar. Eine dieser Fragestellung zugrundeliegende Betrachtungsweise, die sich an wahrnehmungstheoretischen Überlegungen Kracauers, Benjamins und Giedions orientieren kann, könnte aus der Sicht Detlev Schöttkers den baukulturellen Diskurs bereichern, »da hier vergangene Raumkonzepte mit gegenwärtigen Wahrnehmungsformen oft unreflektiert miteinander in Beziehung gesetzt werden.«74 Möglich würde vor diesem Hintergrund z.B. eine differenzierte Meinungsbildung im Kontext der Frage nach der Sinnhaftigkeit von Rekonstruktionen historischer Gebäude wie dem Stadtschloss in Berlin oder der Frankfurter Altstadt. Auch im privaten Wohnungsbau könnte das Bedürfnis, Bauweisen anderer Zeiten und Orte zu imitieren, kritisch reflektiert und über zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Wohnbedürfnissen entsprechende Alternativen zu historisierenden Gestaltungen nachgedacht werden. Skulpturale Bildung In den vorangegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass skulpturale Auseinandersetzungen mit gebauten Umwelten ein Verständnis architektonischer Zusammenhänge unterstützen und zu einer durch Interesse und Verantwortungsbewusstsein gekennzeichneten Haltung beitragen können. Doch inwiefern tragen sie auch zu einem Verständnis von Skulptur bei, das im Kontext kultureller Teilhabe ebenfalls von Bedeutung ist? Wie Gottfried Boehm darstellt, kann die Entwicklung eines skulpturalen Interesses an Raumerkundungen in einem Zusammenhang mit sich seit Beginn der Moderne reduzierenden räumlichen Erfahrungsmöglichkeiten betrachtet werden,75 einer Tendenz, die sich im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung in den letzten Jahrzehnten noch verstärkt haben dürfte. Ein solches, skulpturales In-
74 D. Schöttker: Raumerfahrung und Geschichtserkenntnis, S. 138 75 Vgl. G. Boehm: Plastik und plastischer Raum, S. 21
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teresse am Raum verbindet sich zunehmend mit einem Interesse daran, die Wirklichkeit nicht nur abzubilden oder aus der Distanz zu kommentieren, sondern sie aufzugreifen und in sie zu intervenieren. Wie Wolfgang Welsch beobachtet, geht es »in der Kunst immer weniger um die autonome Kreation einer Gegenwelt oder von Gebilden einer in sich ruhenden Kunstwelt«76, als vielmehr um die Suche nach einer »Kunst, die nicht mehr abgespalten ist von der Wirklichkeit, die nicht mehr für sich ist und der Wirklichkeit gegenübersteht, sondern die von der Wirklichkeit, in der sie operiert, nicht mehr kategorisch unterschieden ist. Die eher ein Transformationselement oder ein Verbesserungsferment dieser Wirklichkeit ist.«77
Auf die besonderen Chancen, die Architektur als Feld vor diesem Hintergrund relevant werdender skulpturaler Erkundungen räumlicher Lebenswirklichkeiten eröffnet, weist das mit dem Beginn der Moderne einsetzende und sich seit den 1960er Jahren noch einmal steigernde Interesse hin, das Bildhauerinnen und Bildhauer architektonischen Fragestellungen entgegenbringen. Susanne Titz begründet die Bedeutung architektonischer Interventionen wie folgt: »Die Auseinandersetzung mit Architektur hat sich seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem bedeutenden Thema der bildenden Kunst entwickelt. […] Sie […] demonstriert ein Bewusstsein für aktuelle Fragestellungen der Gegenwart, die bis dato aus der Kunst ausgeschlossen waren. Insofern bündeln sich in der Thematik von Kunst und Architektur grundlegende Veränderungen künstlerischer Ansätze seit dieser Zeit. Sie betreffen sowohl die Intentionen und Rezeptionsweisen als auch die Medien und Fragen der Platzierung von Kunst. Darüber hinaus verdeutlichen sie das künstlerische Bedürfnis, nicht nur mit den BetrachterInnen, sondern auch mit der Umwelt in direkten Kontakt zu treten.«78
Wenn sich, diesen Überlegungen folgend, in einem skulpturalen Interesse an architektonischen Fragestellungen grundlegende Entwicklungen, die die Skulptur seit Beginn der Moderne kennzeichnen und gerade auch für die zeitgenössische Skulptur von Bedeutung sind, bündeln, ermöglichen skulptural-handelnde Auseinandersetzungen mit der gebauten Umwelt wichtige Einblicke in Hintergründe
76 W. Welsch: Wie kann Kunst der Wirklichkeit nicht gegenüberstehen?, S. 184 77 Ebd., S. 200 78 Susanne Titz: »Architektonische Intervention«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 18-22, hier S. 18
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skulpturalen Arbeitens. Erkannt werden kann, dass Skulpturen ungeachtet ihrer Autonomie in unterschiedlicher Weise auf Wirklichkeit Bezug nehmen und Wirklichkeit transformieren. In der Rezeption können Skulpturen als Angebote wahrgenommen werden, um etwas über die eigene Beziehung zur Umwelt zu erfahren. Jenseits aller Zweckhaftigkeit kann Skulptur so als sinnstiftend, persönlich und gesellschaftlich relevant erfahren werden.
5
Architekturerfahrungen skulptural erkunden
Im Folgenden soll überlegt werden, auf welche Weise die im vorangegangenen Kapitel überlegten Bildungspotenziale skulpturaler Auseinandersetzungen mit Architektur in Lehr- und Lernkontexten erschlossen werden können. Hierzu werden skulpturale Erkundungen des Architektonischen, nach deren Initiierungsmöglichkeiten in Lehr- und Lernkontexten gefragt wird, als Erkundungen von Architekturerfahrungen in den Blick genommen. Wie anhand der Position Monika Sosnowskas gezeigt wurde, stehen die Möglichkeiten, Architekturerfahrungen in die Betrachtung ihrer Arbeiten einzubeziehen und reflexiv werden zu lassen, damit in Verbindung, dass die Künstlerin eigene Erfahrungen der gebauten Umwelt als Ausgangspunkte und Erkundungsschwerpunkte skulpturaler Prozesse wählt, die sie mit Reflexionen über die gesellschaftliche Relevanz von Architektur verbindet. Im Hinblick auf Arbeiten, die keinen expliziten Architekturbezug herstellen, in deren Betrachtung jedoch Architekturerfahrungen gleichwohl relevant werden, wurde überlegt, dass hier ebenfalls die gebaute Umwelt als skulpturales Erkundungsfeld eine wichtige Basis in die Produktion einfließenden impliziten Wissens bildet. Orientieren sich skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur im Kunstunterricht an Formen skulpturaler Produktion in der Kunst, in denen explizite oder implizite Erkundungen architekturrelevanter Fragestellungen als Erkundungen von Architekturerfahrungen betrachtet werden können, kann sich ihr Fokus auf Erfahrungen richten, die Lernende im Umgang mit der sie täglich umgebenden gebauten Umwelt sammeln. Die Aktivierung dieser Erfahrungen und des anhand ihrer erworbenen impliziten Wissens bildet konstruktivistischen Lerntheorien folgend eine Voraussetzung dafür, dass im Kontext der weiteren Auseinandersetzung gewonnene Erkenntnisse mit Vorwissen verknüpft und so einerseits langfristig behalten werden, andererseits auf architektonische Problemstellungen angewandt werden können. Implizites Wissen, dass den Überlegungen zu der besonderen Relevanz beiläufiger Architektur-
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wahrnehmungen folgend eine wichtige Grundlage des täglichen Wahrnehmens der gebauten Umwelt bildet, kann somit vertieft und reflektiert werden, wodurch zu einem selbstbestimmteren Erleben der Architektur beigetragen wird. Darüber hinaus wird das Erkennen einer lebensweltlichen Relevanz, die durch die Bezugnahme auf Architekturerfahrungen gewährleistet wird, als wichtige Voraussetzung für Interesse und eine damit korrespondierende intrinsische Motivation betrachtet. Ein besonders zentraler Aspekt, der dafür spricht, skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur als Erkundungen von Architekturerfahrungen zu konzipieren, ist, dass auf diese Weise formalistischen Perspektiven auf Architektur entgegengewirkt wird. Begründet werden kann diese Überlegung damit, dass Architekturerfahrungen zwar mit konkreten architektonischen Formen und Räumen gemacht werden, dass diese in ihrem Kontext jedoch nicht auf ihre phänomenale Beschaffenheit reduziert, sondern vielmehr in ein komplexes Netz an Bezügen eingebunden werden. Indem nicht die Architektur in ihrer formalen Gestaltung in den Blick genommen wird, sondern die Arten und Weisen, wie sie individuell und interindividuell erfahren wird, können diese Bezüge erschlossen werden. Wird nicht Architektur zum Gegenstand skulpturaler Erkundungen, sondern das Erleben gebauter Umwelten, kann darüber hinaus zwischen skulpturalen Produktionen und architektonischen Entwürfen differenziert werden. Diese Differenzierungsmöglichkeit gewährleistet, dass Skulptur und Architektur in ihrer jeweiligen Besonderheit in den Blick genommen werden können, und bildet so unter anderem die Voraussetzung dafür, dass architektonische Zusammenhänge als Teilaspekte erkundet werden können, ohne dass dies mit Simplifizierungen architektonischer Planungserfordernisse einhergeht. Bezieht man die Überlegungen aus Kapitel 3.1 ein, sind skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur in der zeitgenössischen Kunst jedoch nicht als subjektiver Ausdruck eigener Architekturerfahrungen zu verstehen, sondern als Angebote an Betrachtende, eigene Erfahrungen in die Rezeption einfließen zu lassen und somit an der Entstehung der Skulptur teilzuhaben. So sind Monika Sosnowskas Skulpturen, die wie Staircase (2010) auf deformierte Architekturen verweisen, nicht nur als Ausdruck von Emotionen, die die Künstlerin mit den sich verändernden städtebaulichen Strukturen ihres Wohnumfeldes verbindet, zu verstehen, sondern ermöglichen es Betrachtenden, deren architektonische Sozialisation sich von der Sosnowskas unterscheidet, in der Rezeption eigene Architekturassoziationen zu entwickeln.
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Abbildung. 64: Monika Sosnowska, Staircase, 2010, Installationsansicht K21 Ständehaus Düsseldorf Wie in 3.1 gezeigt wurde, besitzt eine solche Rezeptionsoffenheit für viele künstlerische Positionen der Gegenwartskunst konzeptionelle Relevanz, was dazu führt, dass in skulpturalen Prozessen auf einer mehr oder weniger expliziten Ebene darüber nachgedacht wird, wie derartige Erfahrungsangebote anhand einer skulpturalen Form verwirklicht werden können. Durch den Einbezug von Reflexionen über die sich in der entstehenden Arbeit entwickelnden Betrachtungsmöglichkeiten nähert sich die skulpturale Produktion in einem zentralen Aspekt architektonischem Arbeiten an, in dessen Kontext Umgangsmöglichkeiten, die sich Nutzerinnen und Nutzern bieten, mitgedacht werden. Damit diese Besonderheit zeitgenössischen skulpturalen Arbeitens in unterrichtlichen Auseinandersetzungen mit Architekturerfahrungen Berücksichtigung findet, geht es in skulpturalen Prozessen nicht nur darum, eigene Architekturerfahrungen zu erkunden, sondern auch um die Entwicklung von Erfahrungsangeboten an Betrachtende. Didaktisch relevant ist ein solches Vorgehen insofern, als in seinem Kontext die Reflexion von Erfahrungsmöglichkeiten, die sich in der Rezeption eröffnen können, mit einer Reflexion der interindividuellen Relevanz der eigenen Wahrnehmungsweisen einhergeht. Ausgehend von Lehr- und Lernkonzepten, die Sara Hornäk unter dem Begriff des Skulpturalen Handelns konturiert, soll im Folgenden über besondere Chancen und Erfordernisse skulptural-handelnder Erkundungen von Architekturerfahrungen in Lehr- und Lernkontexten nachgedacht werden.
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5.1 SKULPTURALES HANDELN Mit dem Begriff Skulpturales Handeln beschreibt Sara Hornäk »Unterrichts- und Lehrprojekte, in denen Schülerinnen und Schüler skulptural oder plastisch arbeiten, Materialien erproben, Dinge transformieren, Formen finden, mit Objekten umgehen, bildhauerische Konzepte entwickeln, handwerkliche Fertigkeiten erwerben, bildhauerische Positionen kennenlernen«1. Ausgehend von kunstwissenschaftlichen Betrachtungen bildhauerischen Arbeitens denkt sie über skulpturale Handlungsmöglichkeiten nach, die aus kunstpädagogischer Sicht umfassende Lern- und Entwicklungschancen bieten, indem sie Rezeption und Produktion in ihrer wechselseitigen Bezogenheit berücksichtigen. Auf der Basis genauer Analysen skulpturaler Problemstellungen, ihrer kunstphilosophischen und kunstgeschichtlichen Hintergründe sowie der Erkundungsstrategien, mit denen Künstlerinnen und Künstler sich ihnen nähern, werden Lehr- und Lernprozesse konzipiert, die eine Annäherung an künstlerisches Denken und Handeln ermöglichen. Wichtiges Prinzip dabei ist, dass eine selbständige Erarbeitung der Problemfelder möglich, ein mimetisches Vorgehen also vermieden wird. Um dies zu gewährleisten, »verbietet sich eine festgelegte Abfolge, die die Theorie der Praxis voranstellt.«2 Vielmehr eignen sich kunstdidaktische Konzeptionen, innerhalb derer sich Rezeption und Produktion in vielfältiger Weise verschränken. Dies kann erreicht werden, indem Reflexionen das eigene skulpturale Handeln mit kunstwissenschaftlichen Betrachtungen verbinden, diese wiederum von durch ein in eigenen Erfahrungen gewonnenes Verständnis künstlerischer Problemstellungen unterstützt und motiviert werden. So soll ermöglicht werden, auf der Basis eigener praktischer Tätigkeit die Vielfalt heutiger künstlerischer Ausdrucksformen in der Bildhauerei kennen zu lernen, sich künstlerischen Denkweisen anzunähern und sich auf diese Weise kunsttheoretischen, die Skulptur betreffenden Diskursen auf der Basis eigener Erfahrungen stellen zu können. Darüber hinaus werde das Wahrnehmungsvermögen ebenso gefördert wie gestalterische und
1
Sara Hornäk: »Skulpturales Handeln. Bildnerische Lernprozesse mit plastischen Materialien, skulpturalen Techniken, konstruktiven Verfahren«, in: KUNST+ UNTERRICHT (379/380, 2014), S. 4-11, hier S. 4-5.
2
Sara Hornäk: »Abdruck und Abformung Zur Präsenz des Abwesenden in der Kunst. Lehr- und Lernprozesse im Spannungsfeld künstlerischer Praxis, Kunstgeschichte und Kunsttheorie«, in: Kunibert Bering (Hg.), Orientierung: Kunstpädagogik. Bundeskongress der Kunstpädagogik 22.-25. Oktober 2009, Oberhausen, Rheinl: ATHENAVerlag 2010, S. 51-60, hier S. 59
Architekturerfahrungen skulptural erkunden
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handwerkliche Fähigkeiten.3 Ein besonderes Interesse richtet sich in der kunsttheoretischen Fundierung skulpturalen Handelns auf zeitgenössische Entwicklungen in der Skulptur. »Produktiv und rezeptiv ermöglicht die zeitgenössische Skulptur Annäherungen an den Körper, die Figur, den architektonischen, den institutionellen oder öffentlichen Raum. Sie eröffnet Themenfelder zum Verhältnis von Werk, Raum und Betrachter [...].«4
5.2 FORMEN DES MACHENS UND WERDENLASSENS IN SKULPTURALEN PROZESSEN Nähert sich skulpturales, plastisches oder installatives Arbeiten im Kunstunterricht zeitgenössischen Formen bildhauerischen Arbeitens in künstlerischen Kontexten, geht damit eine Prozessorientierung einher, die in der Kunst ab den 1960er besondere Bedeutung gewinnt und, wie in 3.2.3 dargestellt, wichtige Impulse durch postminimalistische Entwicklungen erhält. Die Prozessualisierung des Skulpturalen, die im Begriff des skulpturalen Handelns eines Entsprechung findet5, führt dazu, dass auch in Lehr- und Lernkontexten nicht mehr allein das Werk im Vordergrund steht, sondern dem Prozess, der selbst Werkcharakter erlangen kann6, besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Im Folgenden sollen Besonderheiten skulpturaler, sich an zeitgenössischen künstlerischen Entwicklungen orientierender Prozesse vorgestellt werden, um anschließend zu überlegen, inwiefern anhand ihrer Anschlussmöglichkeiten für skulpturale Erkundungen des Architektonischen in Lehr- und Lernkontexten erkennbar werden. Ein zentrales Moment skulpturaler Prozesse ist die Arbeit mit Material. Wenn mit Robert Morris überlegt wird, dass Kunst »auf einer sehr simplen Ebene […] eine Art des Machens«7 ist, wird erkennbar, dass diese Arbeit sich mit lebensweltlichen Formen der Materialbearbeitung überschneidet. Wie Morris je-
3
Vgl. Sara Hornäk: »Skulpturales Handeln. Bildnerische Lernprozesse mit plastischen Materialien, skulpturalen Techniken, konstruktiven Verfahren«, in: KUNST+ UNTERRICHT (379/380, 2014a), S. 4-11, hier S. 9
4
Ebd.
5
P. Dander/J. Lorz: Skulpturales Handeln, S. 11
6
Vgl. S. Hornäk: Skulpturales Handeln, S. 7
7
R. Morris: Einige Bemerkungen zur Phänomenologie des Machens, S. 75
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doch ebenfalls betont, »lässt sich Kunstmachen nicht mit handwerklicher Arbeitszeit gleichsetzen«8. Was aber sind Besonderheiten, die die Arbeit mit Material im Kontext zeitgenössischer künstlerischer Produktion aufweist? Dieser Frage soll auf der Basis der folgenden Darstellung eines Formungsprozesses mit dem Material Ton nachgegangen werden, anhand dessen Tony Cragg Einblicke in einen skulpturalen Prozess ermöglicht: »Man geht auf ein Feld, gräbt zwei Meter tief und nimmt ein nutzloses, unbeachtetes und relativ unbedeutendes Stück Ton aus der Erde und bringt es ins Atelier. Ich bewege mich und es bewegt sich. Ich sehe, ich denke, ich fühle und ich bewege mich wieder. Das Material bewegt sich. Ich sehe, ich denke, ich fühle und ich bewege mich wieder. Das Material bewegt sich. Und so geht das weiter – mit Auge und Hand. Bis etwas Fantastisches passiert, lässt man dieses Stück Ton auf einem Tisch liegen und verlässt das Atelier. Menschen kommen rein und können von diesem Stück Ton Emotionen und Ideen ablesen.«9
Eine Besonderheit des dargestellten Formungsprozesses kann darin erkannt werden, dass keine kausale Beziehung zwischen Craggs Bewegung und der des Materials hergestellt wird. Craggs Formulierung verweist damit auf eine Leerstelle zwischen der eigenen Bewegung und der Bewegung des Materials und gibt auf diese Weise zu erkennen, dass sich die Entstehung der Form seiner bewussten Steuerung zumindest in Teilen entzieht. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass die Umwandlung des zunächst als unbedeutend attribuierten Tons als ›etwas Fantastisches‹ bezeichnet wird. Craggs in dieser Darstellung zum Ausdruck kommende Perspektive auf skulpturale Prozesse weist Parallelen zu Sichtweisen Marcel Duchamps auf, die dieser in Der kreative Akt (1959) vorstellt. Wie Duchamp hier postuliert, korreliert die künstlerische Qualität einer Arbeit mit ihrem »Kunst-Koeffizient[en]«10 als der Differenz zwischen dem von der Künstlerin oder dem Künstler intendierten Ausdruck und dem, was in der entstandenen Arbeit zum Ausdruck kommt, ohne intendiert zu sein. Die Entstehung einer solchen Differenz setzt Duchamps Perspektive folgend voraus, dass
8
Ebd., S. 88
9
Tony Cragg: »Mit den Augen berühren, mit den Händen sehen«, in: Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hg.), Auge und Hand. [interdisziplinäre Ringvorlesung im Wintersemester 2009/2010 an der Kunstakademie Düsseldorf], Oberhausen: Athena 2011, S. 9-18, hier S. 17
10 Marcel Duchamp/Serge Stauffer: Der kreative Akt. Du champagne brut (= Kleine Bücherei für Hand und Kopf, Bd. 32), Hamburg: Nautilus 1998, S. 11
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der Künstler oder die Künstlerin als eine Art »mediumistisches Wesen«11 agiere. Analog dazu entfalte eine künstlerische Arbeit ihre Wirkung auf Betrachtende »in Form einer ästhetischen Osmose«12. Gemeint ist hiermit, dass die künstlerische Qualität der Arbeit über die materielle Form in ihrer Wahrnehmbarkeit übermittelt wird, ohne dass hierzu Erklärungen des Künstlers oder der Künstlerin möglich oder erforderlich sind. Auch zu dem zuletzt genannten Aspekt kann in dem von Cragg vorgestellten skulpturalen Prozess insofern eine Parallele erkannt werden, als das Produkt »Emotionen und Ideen«13 zu kommunizieren vermag, ohne dass Cragg der das Atelier bereits verlassen hat Einfluss auf die Rezeption nimmt. Ebenso wie Duchamp misst also offenbar auch Tony Cragg Momenten skulpturaler Prozesse einen hohen Stellenwert zu, die sich seiner bewussten Steuerung entziehen. Während diese Momente aus Duchamps Sicht allerdings durch Intuitionen bestimmt sind, deren vollkommene Subjektivität er betont 14 verweist Craggs Darstellung darauf, dass in seinem skulpturalen Prozess auch das Material an der Formentstehung teilhat. Erkennbar wird dies daran, dass Cragg nicht die in außerkünstlerischen Kontexten erwartbare Formulierung ›Ich forme das Material‹ verwendet, anhand derer er sich eindeutig die Rolle des aktiven Subjekts und dem Ton die des passiven Objekts zuweisen würde. Stattdessen deutet er mit ›Ich bewege mich und es bewegt sich‹ darauf hin, dass sowohl er als auch das Material aktiv am skulpturalen Prozess beteiligt sind. Kennzeichnend für den von Cragg vorgestellten skulpturalen Prozess ist somit nicht nur der Einbezug intuitiver Entscheidungen, sondern auch eine Interaktion mit dem Material. Damit resultiert die entstehende Form nicht aus der Umsetzung an das Material herangetragener Ideen und Intuitionen, sondern basiert auf einem Aushandlungsprozess, in dem Widerstände, die der Ton einem kontrollierbaren Formungsprozess entgegensetzt, in das Ergebnis einfließen. Diese scheinen auf den ersten Blick insofern marginal zu sein, als Ton unmittelbar auf Druck reagiert. Gerade diese Eigenschaft begründet jedoch die spezifischen
11 Ebd., S. 9 12 Ebd., S. 10 13 Während Duchamp den Betrachtenden eine aktive Teilhabe an der Werkentstehung zuerkennt, scheint Cragg nicht von einer Rezeptionsoffenheit seiner Arbeit auszugehen. Folgt man seiner Formulierung, können Betrachtende »Gefühle und Ideen ablesen«, eine bestimmte Wirkung scheint der Arbeit aus seiner Perspektive also inhärent zu sein. T. Cragg, S. 17 14 »Beim kreativen Akt gelangt der Künstler von der Absicht zur Verwirklichung durch eine Kette völlig subjektiver Reaktionen.« M. Duchamp/S. Stauffer: Der kreative Akt, S. 11
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Probleme seiner Formung, die darin bestehen, dass sich auch ungeplant ausgeübter Druck, der nicht zuletzt auch auf dem Einfluss der Schwerkraft basieren kann, unmittelbar auf die Form auswirkt. Mit der Delegierung von Teilen der Formentstehung an das Material nutzt Cragg ein skulpturales Vorgehen, das sich besonders explizit in postminimalistischen bildhauerischen Prozessen der späten 1960er Jahre entwickelt und das in 3.2.3 anhand von Arbeiten Robert Morris’ und Richard Serras vorgestellt wurde. Aus Robert Morris’ Sicht, der diese Entwicklungen des Skulpturalen 1970 in Einige Bemerkungen zur Phänomenologie des Machens analysiert, besteht in diesem zeitlichen Kontext ein künstlerisches Interesse daran, »die eigenen Mittel zu ergründen und freizulegen, und diese in den fertigen Werken zunehmend sichtbar werden zu lassen«.15 Vor dem Hintergrund dieses Interesses entstehende Arbeiten sollen nicht mehr das Ergebnis von Prozessen sein, die auf vor allem subjektiven Entscheidungen basieren, da diese als willkürlich empfunden werden. Vielmehr sollen die Prozesse, die zu der Form einer Arbeit führen, anhand der Betrachtung der Arbeit nachvollzogen werden können. Eine solche Nachvollziehbarkeit wird möglich, wenn der Produktion Verhaltensweisen und Faktoren zugrundeliegenden, die auch in außerkünstlerischen Materialbearbeitungskontexten eine Rolle spielen können. Infrage kommt damit »eine Vielzahl von Interaktionen, die sich aus den Möglichkeiten des Körpers ableiten, ebenso wie Eigenschaften des Materials und physikalische Gesetzmäßigkeiten«16. Morris betrachtet den Einbezug solcher Interaktionen als eine Strategie zur »Automatisierung einer bestimmten Herstellungsphase«17 künstlerischer Arbeiten, weist allerdings darauf hin, dass deren Entstehungsprozess nicht in lebensweltlichen Formen des Machens aufgehe. »Kunst zu machen bedeutet vielmehr, etwas zu durchdringen. Die Automatisierungsprozesse der beschriebenen Art öffnen das Werk und die Wechselwirkung mit dem Verhalten des Künstlers für zusätzliche Kräfte, die jenseits seiner totalen persönlichen Kontrolle liegen.«18 Lebensweltliche Faktoren, die in skulpturale Prozesse einbezogen werden und diesen eine nicht-willkürliche Ordnung geben, determinieren die Prozesse aus Morris Sicht also nicht vollständig, sondern bilden eine ergänzende Möglichkeit, ihre bewusste Steuerung zu überwinden. Indem Morris in diesem Zusammenhang auf »zusätzliche Kräfte«19 verweist, wird deutlich, dass er auch intuitiven Momenten in
15 R. Morris: Einige Bemerkungen zu einer Phänomenologie des Machens, S. 78 16 Ebd. 17 Ebd., S. 88 18 Ebd. 19 Ebd., S. 78
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den von ihm betrachteten künstlerischen Prozessen der späten 1960er Jahre Bedeutung zuerkennt. Damit verortet er diese Prozesse in einem Spannungsfeld zwischen Motivation und Arbitrarität20, zwischen Formen des Machens und unterschiedlichen Formen des Werdenlassens. Betrachtet man die eingangs zitierte Darstellung des skulpturalen Prozesses Tony Craggs vor dem Hintergrund der von Morris in Einige Bemerkungen zur Phänomenologie des Machens vorgestellten Überlegungen, kann erkannt werden, dass auch Cragg sowohl die Produktivität des Materials als auch intuitive Momente als miteinander wechselwirkende Möglichkeiten einbezieht, auf deren Basis er die Kontrolle über den Formungsprozess teilweise aufgeben kann. Deutlich wird dies durch den dargestellten Wechsel zwischen Phasen, die eine reflexive Distanz ermöglichen und Phasen eines Eintauchens in den skulpturalen Prozess. Konkret könnte eine Verbindung zwischen bewusst gesteuertem Handeln und ungesteuerter Prozessentwicklung darin bestehen, dass Cragg einerseits auf der Basis bewusster Überlegungen und unbewusster Intuitionen auf den Ton einwirkt, dieser sich aber aufgrund seiner Materialeigenschaften nicht vollständig den bewussten und unbewussten Intentionen entsprechend, sondern auch eigensinnig verhält, indem er z.B. auch auf jenseits dieser Intentionen ausgeübten Druck oder die Wirkung der Schwerkraft reagiert. Dadurch, dass sich Cragg auf die hierdurch entstehende Differenz zwischen erwartetem und tatsächlichem Ergebnis einlässt, kann der Prozess von neuen Impulsen profitieren, die als Katalysatoren eines weiteren Einbezugs intuitiver Momente wirken können. Obwohl eine unmittelbare Interaktion zwischen dem eigenen Handeln und dem Verhalten des Materials in Craggs skulpturalem Prozess somit keinen so umfassenden Anteil an der Formentstehung hat, wie z.B. bei Richard Serras Splashing, kann sie dennoch als konstituierendes Moment seines skulpturalen Handelns erkannt werden. Hinweise auf Merkmale bildhauerischer Prozesse können Craggs Beschreibung, in der eine idealtypische skulpturale Auseinandersetzung auf die unmittelbare Interaktion mit dem ebenfalls idealtypischen plastischen Material Ton verkürzt wird, vor allem dann entnommen werden, wenn man seine Darstellung als bildliche begreift. Als solche ermöglicht sie es, grundlegende Momente bildhauerischer Prozesse zu erkennen, die in einem Kontinuum zwischen konzeptuelleren und stärker auf unmittelbaren Interaktionen mit Material basierenden Herangehensweisen verortet werden können. Ein Wechsel zwischen bewusst gesteuertem Vorgehen und einem sich eigendynamisch entwickelnden Prozess kann im Kontext konzeptuelleren Arbeitens als Wechsel zwischen Phasen bewussten
20 Vgl. ebd., S. 82
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Wahrnehmens und Nachdenkens sowie Phasen, in denen ohne bewusste Suche neue Impulse in die Entwicklung der Konzeption einfließen können, betrachtet werden (vgl. dazu auch der in 2.1.6 dargestellte künstlerische Prozess der Bildhauerin Anja Ciupka). Den Beobachtungen Patrizia Danders und Juliette Lorz’ zufolge entspricht Craggs Vorgehensweise, die Ideen, Konzeptionen und Intuitionen einen größeren Stellenwert zuerkennt, gleichzeitig aber an einem durch Interaktionen zwischen Handlungen, Materialeigenschaften, physikalischen Kräften und kontextuellen Einflüssen mitbestimmten Prozess interessiert ist, zeitgenössischen Formen bildhauerischen Arbeitens, die sich auf der Basis einer Rückbesinnung auf ihre Autonomie »erneut dem Skulpturalen widmet«,21 ohne dabei jedoch selbstreferenziell zu sein. Wie die beiden Autorinnen anhand bildhauerischer Positionen von Künstlern wie Michael Beutler und Vincent Fecteau beobachten, kommt in zeitgenössischem skulpturalem Handeln Entwicklungen, in denen Auseinandersetzungen mit Materialien den Prozess beeinflussen, nach wie vor Bedeutung zu.22 Impulse für ergebnisoffene skulpturale Prozesse gehen ihren Beobachtungen folgend auch von den jeweiligen Ausstellungskontexten aus, auf deren materielle Gegebenheiten ebenso Bezug genommen wird wie auf eine mit diesen verbundene konnotative Ebene.23 Der Einbezug dieser Ebene korrespondiere mit einer umfassenden Referenzialität skulpturaler Handlungsweisen, deren Auswahl ebenfalls »im Hinblick auf deren soziale und kulturelle Konnotationen«24 erfolge. Ein Wissen um diese Ebenen werde nicht nur explizit, sondern auch intuitiv einbezogen.25 Die vielfach implizit bleibenden Bezugnahmen auf soziale und kulturelle Kontexte korrespondieren mit einer nicht vollständigen verbalen Beschreibbarkeit der Wirkung von Skulpturen, die im Kontext zeitgenössischen skulpturales Handeln entstehen. Eine Gemeinsamkeit der vielfältigen, traditionelle Gattungsgrenzen überschreitenden Formen, die bildhauerisches Arbeiten in der zeitgenössischen Kunst annehmen kann, ist, dass Ideen, Strategien sowie die entstehende Arbeit in ihrer Dinglichkeit in Prozessen entwickelt werden, in denen Ungeplantes, Überraschendes und Irritierendes als Chance begriffen werden, um Fragestellungen zu differenzieren und zu vertiefen und so Angebote für Betrachtende zu schaffen, in
21 P. Dander/J. Lorz: Skulpturales Handeln, S. 13 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd., S. 14 24 Ebd., S. 12 25 Vgl. ebd., S. 13
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denen die Offenheit und Unabschließbarkeit der Produktion mit ebenso offenen und unabschließbaren Rezeptionsmöglichkeiten korrespondiert.
5.3 SKULPTURAL-HANDELNDE ERKUNDUNGEN DES ARCHITEKTONISCHEN Nachdem im vorangegangenen Kapitel der Versuch unternommen wurde, elementare Besonderheiten zu konturieren, die skulpturale Prozesse von alltäglichen Produktionsweisen unterscheiden, soll nun über Möglichkeiten nachgedacht werden, die skulpturales Handeln im Hinblick auf Erkundungen von Architekturerfahrungen eröffnet. Hierzu wird im Folgenden zunächst überlegt, welche grundlegenden architekturrelevanten Erkenntnischancen einem Handeln mit Material, das sich künstlerischen Herangehensweisen annähert, immanent sind. Eine Basis dieser Überlegungen bilden zum einen die in Kapitel 2 vorgestellten Chancen, anhand ästhetischer Erfahrungsprozesse unbewussten Hintergründen von Architekturerfahrungen nachgehen zu können, zum anderen das in Kapitel 3 erkennbar werdende skulpturale Handlungsspektrum, das der zeitgenössischen Kunst im Kontext von Erkundungen architektonischer Raumfragen zur Verfügung steht und einen Orientierungsrahmen für skulpturale Prozesse in kunstpädagogischen Kontexten bildet. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen kann gefragt werden, inwiefern skulpturales Handeln bereits dann elementare Erfahrungs- und Erkenntnischancen in Bezug auf das Erleben gebauter Umwelten bietet, wenn diese nicht expliziter Gegenstand einer skulpturalen Erkundung sind. 5.3.1 Erschließung impliziten Architekturwissens Wie in Kapitel 2 überlegt wurde, ist das Erleben der gebauten Umwelt in besonderem Maß durch unbewusste Verarbeitungsprozesse beiläufiger Wahrnehmungen bestimmt. Auf der Basis ästhetischer Erfahrungsprozesse und der in ihrem Kontext möglich werdenden Formen ästhetischer Reflexion kann den Hintergründen dieser Verarbeitungsweisen nachgegangen werden. Auf diese Weise bieten sich Chancen, um Wirkungsweisen architektonischer Formen, Strukturen und Räume auf einer bewussteren Ebene zu reflektieren und so Spielräume der Wahrnehmung und des Umgangs zu erschließen. Analog zu ästhetischen Erfahrungsprozessen, die in der Rezeption zeitgenössischer Skulpturen Möglichkeiten eröffnen, um Architekturerfahrungen zugänglich werden zu lassen, spielen auch in skulpturalen Prozessen, die sich in kunstpädagogischen Kontexten entwickeln
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können, ästhetische Erfahrungen eine wichtige Rolle. In einem Wechseln zwischen Formen bewusst gesteuerten Machens und Formen des Werdenlassens, das den vorangestellten Überlegungen zufolge für skulpturale Prozesse der zeitgenössischen Kunst in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Umfang konstituierend sein kann, kann sich auch hier ein Dazwischen eröffnen, innerhalb dessen unbewusste Hintergründe des eigenen Handelns zugänglich werden können. Eine somit in skulpturalen Prozessen mögliche Initiierung ästhetischer Erfahrungen auf der Basis eines Changierens zwischen Machen und Werdenlassen kann als produktives Äquivalent zu einer »oszillierenden Bewegung zwischen Ding und Zeichen«26 betrachtet werden, die aus der Sicht Juliane Rebentischs eine Grundlage ästhetischer Erfahrungen in der Rezeption zeitgenössischer Kunst bildet. Eine Gemeinsamkeit ästhetischer Erfahrungsmomente in Rezeption und Produktion ist, dass ein Dualismus von Aktivität und Passivität überwunden werden kann. Dadurch, dass auch skulpturale Handlungsprozesse ästhetische Erfahrungsmomente umfassen, können in ihrem Kontext die in Kapitel 2 überlegten Synergieeffekte zwischen Architekturerfahrungen und ästhetischen Erfahrungen zu wechselseitigen Erkenntnismöglichkeiten führen. Ein spezifisches Potenzial skulptural handelnder Auseinandersetzungen mit Architekturerfahrungen besteht darin, dass Denken, Wahrnehmen und Handeln in einem dynamischen Prozess vernetzt sind. Dynamisch ist dieser Prozess insofern, als das Material bzw. die entstehende Skulptur im Prozess die Form verändern und so zu immer wieder neuen Wahrnehmungen und neuen Denkweisen führen, die wiederum in den Veränderungsprozess der Form einfließen. Betrachtet man mit Jean Piaget Verbindungen von Wahrnehmen und Bewegung als wichtige Voraussetzung für das Zustandekommen von Lernprozessen27, deuten sich besondere Chancen eines solchen dynamischen Wechselspiels zwischen »Auge und Hand«28 an. Wenn im Kontext skulpturalen Handelns implizites Architekturwissen aktiviert, vertieft und neu hinzugewonnen wird, können somit komplexe Lernprozesse initiiert werden, in denen sich Erfahrungsmöglichkeiten potenzieren und besondere Erkenntnischancen im Hinblick auf das eigene Verhältnis zur gebauten Umwelt eröffnet werden. Implizite Wissensbereiche können den Überlegungen zu skulpturalen Prozessen folgend besonders dann erschlossen werden, wenn Intuitionen einfließen
26 J. Rebentisch: Autonomie? Autonomie!, S. 4 27 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 74 28 Johannes Bilstein/Guido Reuter (Hg.): Auge und Hand. [interdisziplinäre Ringvorlesung im Wintersemester 2009/2010 an der Kunstakademie Düsseldorf], Oberhausen: Athena 2011
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können. Dies wiederum setzt voraus, dass die bewusste Kontrolle des eigenen Handelns temporär aufgegeben werden kann. Wie anhand des von Tony Cragg dargestellten skulpturalen Prozesses überlegt wurde, ist ein solcher Wechsel zwischen Machen und Werdenlassen, auf dessen Basis Wahrnehmung, Denken und Handeln auf komplexe Weise vernetzt werden können, ein grundlegendes Element skulpturaler Prozesse, in denen Ideen, Intuitionen sowie Bearbeitungsmöglichkeiten und -grenzen des Materials zusammenwirken. Unterstützt werden kann das Zustandekommen solcher Prozesse, wenn Strategien gefunden werden, um die Steuerung an nicht-subjektive Prozessfaktoren delegieren zu können. Besondere Chancen der Initiierung solcher Formen des ergebnisoffenen Experimentierens werden erkennbar, wenn Strategien, die Bildhauerinnen und Bildhauer wie u.a. Robert Morris, Richard Serra und Eva Hesse in den 1960er und 1970er Jahren entwickeln, in den Blick genommen werden. Das Anregungspotenzial dieser Strategien basiert darauf, dass hier vielfältige Möglichkeiten entwickelt werden, um die Steuerung des skulpturalen Prozesses partiell und temporär an das Material und an kontextuelle Faktoren zu delegieren oder auch Wege gefunden werden, um sich auf eine nicht bewusst gesteuerte Interaktion zwischen dem eigenen Körper in seinen Bewegungsmöglichkeiten, dem Material sowie den physikalischen Kräften, denen beide unterliegen, einzulassen. Wie Robert Morris überlegt, werden hierdurch, ebenso wie durch ein Zulassen zufälliger Entwicklungen, Momente der Desorientierung möglich, innerhalb derer eine Lösung von gewohnten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen erfolgen kann. Ein hiermit verbundenes Innovationspotenzial, dem Morris mit Blick auf künstlerisches Arbeiten in der freien Kunst besondere Bedeutung beimisst29, bezieht sich im skulpturalen Handeln, das sich in Lehr- und Lernkontexten auf Erfahrungschancen und Erkenntnisgewinne der Lernenden richtet, vor allem auf die Entdeckung von subjektiv Neuem und die sich darin eröffnenden Chancen der Erweiterung eigener Perspektiven. 5.3.2 Erkundungen der materiellen Hintergründe von Architekturerfahrungen Wie in 3.2.3 dargestellt, wirkt sich die Materialwahl in der Architektur auf die Form von Bauteilen aus. Konstruktionen aus Stahl können z.B. sehr viel filigraner ausgebildet werden als Holzkonstruktionen. Materialien, die nur auf Druck beansprucht werden können, ermöglichen andere Bauformen als solche, die auch Zugkräften standhalten, Materialien, die wie Beton vor Ort aushärten, erfordern
29 Vgl. R. Morris: Einige Bemerkungen zu einer Phänomenologie des Machens, S. 82-83
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eine Schalung, deren Form wiederum vom Schalmaterial abhängig ist. In allen hier aufgeführten Fällen sind Materialien an der Entstehung architektonischer Formen beteiligt und bestimmen so deren Wahrnehmbarkeit und Wirkung mit. Nicht nur die Be- und Verarbeitungsmöglichkeiten von Materialien, sondern auch die Eigenschaften des Materials als solches haben Einfluss darauf, wie Architektur erfahren wird. So können z.B. mit Glas Elemente hergestellt werden, die Bereiche trennen, dabei jedoch Blicke und Licht durchlassen. Werden raumbegrenzende Elemente aus Glas hergestellt, kann dies zu einer offenen Wirkung führen, die im Fall verspiegelten Glases in ihr Gegenteil umschlagen kann. Während Beton durch Bewitterung sein Aussehen verändert, ist dies bei Ziegelmauerwerk deutlich weniger der Fall und auch die Farbigkeit und Textur dieser beiden unterschiedlichen Materialien haben Einfluss auf die Wirkungen, die von Gebäuden in ihrer Körperlichkeit und Räumlichkeit ausgehen. Besondere Bedeutung kommt dabei in der Architektur Materialkombinationen, Imitationen, Schichtungen, Beschichtungen und Verkleidungen zu. Beeinflusst werden Wirkungen von Gebäuden auch aufgrund von Konnotationen, die sich an ihre Materialien z.B. auf der Basis ihrer architektonischen und außerarchitektonischen Verwendungen oder ihres Wertes anlagern. Betrachtet man das Material Beton unter diesem Aspekt, wird zusätzlich deutlich, dass einerseits Assoziationen, die in seine Wahrnehmung einfließen, andererseits aber auch die Bewertungen, die mit diesen Assoziationen einhergehen, je nach zeitlichem Kontext differieren und darüber hinaus individuellen Unterschieden unterliegen. Die vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erkennbar werdende Komplexität des Einflusses, den Materialien auf die Wirkung der gebauten Umwelt und damit auf Architekturerfahrungen haben, erhöht sich zusätzlich dadurch, dass konstruktive Möglichkeiten, wahrnehmbare Eigenschaften und Konnotationen sich gegenseitig beeinflussen, aber auch Materialkombinationen dazu führen, dass sich Wirkungen überlagern, verstärken oder konterkarieren. In skulpturalem Handeln in Lehr- und Lernzusammenhängen, das sich Handlungsweisen der zeitgenössischen Kunst im Hinblick auf die dort erkennbar werdenden Formen des Umgangs mit Material annähert, bieten sich besondere Möglichkeiten Eigenschaften von Materialien zu erkunden. Wie in der Betrachtung der Besonderheiten skulpturaler Prozesse in der Gegenwartskunst dargestellt wurde, werden hier die verwendeten Materialien in unterschiedlichem Umfang am Prozess beteiligt. Das Spektrum einer solchen Beteiligung reicht von einer sich an postminimalistischen Strategien orientierenden Delegierung wesentlicher Bereiche der Formentstehung an das Material, dessen Verhalten im Zusammenhang mit physikalischen Kräften in den Vordergrund gestellt wird, bis hin zu Herangehensweisen, in denen das Material in eine Form gebracht wird, die vor-
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wiegend auf Ideen und ihren sich im Prozess entwickelnden Modifikationen basiert. Wird im skulpturalen Handeln nach Möglichkeiten gesucht, Materialeigenschaften den Prozess weitgehend bestimmen und im Ergebnis besonders prägnant werden zu lassen (eine Strategie die z.B. Richard Serras Lift zugrunde liegt), steht eine Erkundung des Materials im Zentrum des skulpturalen Interesses. Aber auch im Kontext skulpturalen Handelns, bei dem die Materialisierung einer an das Material herangetragenen Idee oder die Verwirklichung konstruktiver Vorstellungen im Vordergrund steht, werden Materialeigenschaften erkundet. Eine solche Erkundung findet z.B. statt, wenn ein möglichst gut geeignetes Material gesucht wird und hierzu Erprobungen durchgeführt werden, oder in der Umsetzung das spezifische Verhalten des Materials im Prozess zu Veränderungen der Idee führt. Unter der Voraussetzung manueller Bearbeitungsmöglichkeiten und günstiger Verfügbarkeit kann im Kontext skulpturalen Handelns in kunstpädagogischen Kontexten das gesamte Materialspektrum der zeitgenössischen Bildhauerei, in der »praktisch alles zum bildhauerischen Material werden kann«30, genutzt oder um neue Materialfindungen ergänzt werden. Werden Materialien ausgewählt, die in der Architektur verwendet werden, können in einer skulpturalen Auseinandersetzung deren Eigenschaften, Bearbeitungsmöglichkeiten und konstruktiven Potenziale erkundet werden und so ein Verständnis architektonischer Formen und Materialwirkungen gewonnen oder vertieft werden. Von besonderem Interesse können hier auch Erkundungen von Materialkombinationen sein, die den Überlegungen in Kap. 3.2.3. folgend architektonische Wirkungen in besonderer Weise bestimmen können. In Abhängigkeit von Fragestellungen, die dem skulpturalen Handeln zugrunde gelegt werden, aber auch unter Berücksichtigung des Maßstabs, in dem gearbeitet wird, kann ein grundlegendes Verständnis von Zusammenhängen zwischen Material, Form und Wirkung aber auch unter Verwendung architekturferner Materialien erworben werden. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn erkundet wird, unter welchen Voraussetzungen Konstruktion, die in einem kleinen Maßstab erprobt werden, stabil wirken. Mit der Entscheidung für ein Material oder eine Materialkombination wird implizit oder explizit eine konnotative Ebene relevant. Wie Johannes Wald feststellt, kann diese bei Materialien, deren bildhauerische Verwendung tradiert und
30 Sara Hornäk: »Material und Prozess«, in: Sabiene Autsch/Sara Hornäk (Hg.), Material und künstlerisches Handeln. Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst, Bielefeld: transcript 2017, S. 53-70, hier S. 57
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somit »gesicherte Tatsache«31 ist, stärker in den Hintergrund treten, dagegen spielen Konnotationen und Assoziationen in der Wahl und Verarbeitung alltäglicher Materialien, denen sie sich aufgrund ihrer Verwendungszusammenhänge im »kunstfernen Vorleben«32 einschreiben, eine wichtige Rolle. Konnotationen, die in die Wahrnehmung von Materialien auf einer unbewussten Ebene einfließen, kann im skulpturalen Prozess aufgrund der hier begünstigten ästhetischen Wahrnehmungen nachgespürt werden. Auf diese Weise oder auch auf der Basis sich im Handeln entwickelnder ästhetischer Erfahrungsmomente können sie auf einer anschaulichen Ebene zum Ausdruck gebracht oder auf einer begriffliche Ebene reflektiert werden. Erfahrungen, die mit Material im skulpturalen Handeln gesammelt werden, können im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt für den Einfluss, den Materialien auf architektonische Wirkungen nehmen, sensibilisieren. Skulpturale Erschließung architekturrelevanten haptischen und taktilen Materialwissens Sich im skulpturalen Handeln eröffnende Chancen, implizites Materialwissen zu erschließen, beruhen besonders darauf, dass Material hier nicht nur visuell wahrgenommen wird, sondern ertastet und geformt wird. Gerade auf der Basis haptischer und taktiler Wahrnehmungen erworbenes Materialwissen bildet einen wichtigen Hintergrund des Erlebens gebauter Umwelten. Wie in Kapitel 2.2 unter Bezugnahme auf Überlegungen Juhanni Pallasmaas dargestellt wurde, spielen im Kontext beiläufiger Wahrnehmungen, denen als Grundlage von Architekturerfahrungen eine sowohl quantitativ wie qualitativ hohe Bedeutung zukommt, periphere visuelle Wahrnehmungen eine wichtige Rolle.33 In diese Form der visuellen Wahrnehmung fließen in besonderem Maße Informationen ein, die zur gleichen Zeit mit anderen Sinnen aufgenommen werden, aber auch ein Wissen um Qualitäten der visuell wahrgenommenen Objekte, deren Wahrnehmung mit Sinnen erfolgt, die in den aktuellen Wahrnehmungsvollzug nicht unmittelbar involviert sind. Im Kontext der peripheren Wahrnehmung der gebauten Umwelt betrifft dies insbesondere Informationen zu Materi-
31 Johannes Wald zitiert nach Meta M. Beeck: »Ein Interview mit Johannes Wald«, in: Friedrich Meschede (Hg.), Whatness. Esther Kläs, Johannes Wald; [anlässlich der Ausstellung: Whatness. Esther Kläs. Johannes Wald, 28.3.2015-21.6.2015 in der Kunsthalle Bielefeld], Köln: Snoeck 2015, S. 198-204, hier S. 202 32 Dietmar Rübel: Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen, München: Schreiber 2012, S. 14 33 Vgl. J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 52
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al- und Formeigenschaften, deren genuine Wahrnehmung auf Berührungen basiert. Durch die Möglichkeit ihres Einbezugs kann sich die visuelle Wahrnehmung einer verputzten Wand auch dann mit dem Gefühl verbinden, das bei einem Ertasten der Wand entsteht, wenn die Wand nicht berührt wird. Eine wichtige Grundlage von Architekturerfahrungen als Erfahrungen einer unmittelbaren Verbindung zur gebauten Umwelt sind multisensorische Wahrnehmungen insofern, als sie verschiedene Nahsinne mit dem Fernsinn Sehen verbinden und so dazu führen, dass dessen distanzierende Wirkung verringert wird. Der vorwiegend implizit erfolgende Einbezug34 von Wissen um Oberflächenbeschaffenheiten, Wärmeleitfähigkeiten, die Plastizität oder Härte, die Materialien der gebauten Umwelt in ihren jeweiligen Ver- und Bearbeitungsformen kennzeichnet, setzt, ebenso wie ein Verständnis der Formen von Gebäuden oder Bauteilen, haptisch-taktile und kinästhetische Erfahrungen voraus35. Besondere Bedeutung kommen im Kontext des Erwerbs von Erfahrungen materieller Qualitäten der gebauten Umwelt Verbindungen haptischer und kinästhetischer Wahrnehmungen zu, die z.B. im Umtasten von Begrenzungen zustande kommen und für die zunehmende Ausdifferenzierung der »Materialstruktur des eigenen Anschauungsraums«36 verantwortlich sind. Sie unterscheiden sich von taktilen Wahrnehmungen dadurch, dass sie auf aktiven Erkundungen basieren, innerhalb derer Wahrnehmung und Bewegung verbunden sind. Eine solche Verbindung bildet aus wahrnehmungspsychologischer Sicht eine wichtige Grundlage nicht nur sensomotorischer Intelligenz, sondern kann, wie Rainer Schönhammer unter Bezugnahme auf Thesen Jean Piagets darstellt, als Basis allen Denkens betrachtet werden.37 Wenngleich die Fähigkeit, Zusammenhänge von Materialien, Oberflächen und Formen wahrzunehmen, bereits auf der Grundlage von Primärerfahrungen der frühen Kindheit entwickelt wird und ein visuelles Berühren haptische und taktile Wahrnehmen zunehmend ersetzen kann, ist eine weitere Ausdifferenzierung diesbezüglichen impliziten Wissens lebenslang möglich und kann wie Axel Buether betont, als Teil der »räumlich-visuellen Kompetenz«38 in Lehr- und Lernkontexten gefördert werden. Zu einer solchen Förderung kann bereits le-
34 Vgl. Petra Kathke: »Materialität inszenieren«, in: Sabiene Autsch/Sara Hornäk (Hg.), Material und künstlerisches Handeln. Positionen und Perspektiven in der Gegenwartskunst, Bielefeld: transcript 2017, S. 23-51, hier S. 33 35 Vgl. J. Pallasmaa: Die Augen der Haut, S. 51 36 A. Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 305 37 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 74 38 A. Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 474
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bensweltlichen Be- und Verarbeitungsweisen entsprechendes Handeln mit Material beitragen. Wie Petra Kathke zeigt, eröffnen sich jedoch in ergebnisoffenen künstlerischen Gestaltungsprozessen, in denen sich »Handwerklichkeit […] nicht in manueller Fertigung, in der materialtechnischen Ausfertigung erschöpft«39, besondere Möglichkeiten der Materialerkundung. »Oft sind es intuitive Handlungen, Reaktionen auf eine zuvor nicht beachtete Potenz des Materials, die jenseits von Fertigungsmustern Ungedachtes, Überraschendes, Irritierendes hervorbringen und Gedanken freisetzen.«40 Diese Beobachtung deutet auf Potenziale künstlerischer Formen der Auseinandersetzung mit Material hin, zu einem Erwerb oder der Ausdifferenzierung impliziten Materialwissens beizutragen, weisen aber auch darüber hinaus. Indem auf der Basis von Irritationsmomenten und unerwarteten Entwicklungen Hintergründen von Materialwirkungen und Ausdrucksqualitäten wahrgenommener Zusammenhänge von Material und Form nachgegangen werden kann, entwickeln sich Möglichkeiten, die eigene, in der Körperbezogenheit der Wahrnehmung begründete Verbindung zur materiellen und damit auch zur gebauten Umwelt zu erkunden. Auf diese Weise kann nicht nur eine Sensibilisierung für die Wahrnehmung der gebauten Umwelt in ihrer Materialität erfolgen, sondern es können auch implizite Wissensbereiche erschlossen und in Bezug auf ihren Einfluss auf die Arten und Weisen, wie Architektur erfahren wird, erkundet werden. Besondere Chancen des Einfließens von Intuitionen, die den skulpturalen Prozess mitbestimmen und auf seiner Basis reflexiv werden können, bestehen auch hier darin, dass komplexe Vernetzungen unterschiedlicher, die Materialwirkungen moderierender Faktoren, zu denen nicht zuletzt eine konnotative Ebene des Materials gehört, erschlossen werden können. 5.3.3 Erkundungsmöglichkeiten eines auf dem Nachvollzug von Entstehungsprozessen basierenden Erlebens gebauter Umwelten Werden Skulpturen nicht als abgeschlossene Werke betrachtet, sondern richtet sich das Interesse auf den Prozess ihrer Entstehung, werden neben dem Material selbst auch die Handlungsweisen in den Blick genommen, auf deren Basis Material bearbeitet und geformt wird. In skulptural handelnden Auseinandersetzungen mit Architektur können aufgrund eines solchen Interesses am Prozess Hintergründe von Architekturerfahrungen erkundet werden, die auf einem Nachvollzug
39 P. Kathke: Materialität inszenieren, S. 35 40 Ebd.
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von realen, aber auch von imaginierten Entstehungsprozessen der gebauten Umwelt beruhen. Darauf, dass wir die Objekte unserer Umwelt »re-produzieren«41, beruht aus der Sicht Steen Eiler Rasmussens ein wichtiges Moment des Erlebens von Architektur. »Alle, die sehen, haben dieses Re-Produzieren gemeinsam, es ist die Aktivität, die zum Erleben eines Gegenstandes notwendig ist.«42 Ein Reproduzieren oder »Neuschaffen«43 kann zunächst auf der Ebene eines Nachvollzugs realer Entstehungsprozesse stattfinden. Unterstützt wird diese Form des Neuschaffens durch Erfahrungen, die die oder der Betrachtende im Kontext des Bauens erworben hat. »Wenn er Handwerker, Maurer, Zimmermann oder Steinmetz gewesen ist, weiß er, wie die einzelnen Teile entstehen. In Gedanken formt er die Materialien und stellt sie in einer großen Konstruktion zusammen.«44 Fließt ein solcher Nachvollzug in die Wahrnehmung der gebauten Umwelt ein, hat dies Einfluss auf ihre Wirkung. Vor seinem Hintergrund können z.B. Mauern »aus schweren Steinen, von denen man sieht, daß sie dick sind, und weiß, daß es große Energie gekostet haben muss, sie zusammenzuschleppen und aufeinanderzusetzen«45 als schwer und unverrückbar, damit als verlässlich oder mächtig angesehen werden. Das Reproduzieren von Objekten der gebauten Umwelt kann jedoch über den Nachvollzug der tatsächlichen Bauweise hinausgehen, wenn Entstehungshintergründe von Gebäuden oder Bauelementen aus einer makroskopischen Perspektive in den Blick genommen werden. Ein Beispiel hierfür ist die bereits dargestellte Brücke, deren Form, ungeachtet der anhand der sichtbaren Ziegel erkennbar werdenden Mauerwerksbauweise, als Ergebnis eines plastischen Formungsprozesses wahrgenommen wird. Kann man sich bei ihrem Anblick »nicht des Eindrucks von etwas Geknetetem und Modellierten erwehren, etwas, das einem gewissen Druck […] nachgegeben hat«46, hat dies Einfluss auf ihre Wirkung. Entgegen ihrer realen Härte wirkt sie weich und formbar. Wie Rasmussen am Beispiel eines Kirchturms zeigt, dessen Form durch ein imaginiertes Aufstapeln nachvollzogen wird47, kann auch die Erfahrung von Gebäuden, die aus stereometrischen Baukörpern bestehen, durch eine makroskopische Form des Nachbildens beeinflusst werden. Werden im skulpturalen Handeln un-
41 S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 36 42 Ebd. 43 Ebd., S. 44 44 Ebd., S. 46 45 Ebd., S. 23 46 Ebd., S. 22 47 Vgl. ebd., S. 44
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terschiedliche Möglichkeiten erprobt, Material in modellierenden, additiven oder subtraktiven Verfahren zu formen, mit ihm zu bauen und zu konstruieren, wird implizites Wissen erworben, durch das das eigene Erleben baulicher Strukturen und Formen differenziert und vertieft werden kann. Beitragen können diese Erkundungen aber auch zu einem Verständnis bestehender Einflüsse, die ein Nachvollzug von Entstehungsprozessen auf das Erleben gebauter Umwelten nimmt. Auf einer weiteren Ebene des Nachvollzugs von Entstehungsprozessen wird Architektur nicht als passives Ergebnis eines Herstellungsprozesses betrachtet, sondern als etwas, das selbst handelnd seine Form ausbildet. Im Kontext dieser Form des Erlebens von Architektur »arbeitet man nicht wie ein Maler oder Bildhauer […], sondern wie ein Schauspieler, der sich in die Rolle hineinlebt«48. Auf der Basis eines aktivierenden Hineinversetzens wird Architektur ein »lebendiges Handeln«49, in dessen vielfältige Formen folgendes Zitat Karl Friedrich Schinkels Einblicke zulässt: »Ein Streben, ein Sprossen, ein Crystallisiren, ein Aufschließen, ein Drängen, ein Spalten, ein Fügen, ein Treiben, ein Schweben, ein Ziehen, ein Drücken, Biegen, Tragen, Setzen, Schwingen, Verbinden, ein Liegen und Ruhen, welches letztere aber hier im Gegensatz mit den bewegenden Eigenschaften auch absichtlich sichtbarlich lagern und insofern auch als lebendiges Handeln gedacht werden muß: dies sind die Leben andeutenden Erfordernisse der Architektur.«50
Wie hier erkennbar wird, überschneiden sich auf einer Verlebendigung der Architektur beruhende Erfahrungsweisen mit Einfühlungen. Dabei legen sie einen Schwerpunkt auf eine eigene Aktivität der Architektur, durch die diese als performatives Gegenüber erlebt wird und zum Beispiel einladend oder bedrohlich wirken kann. Eine solche Eigenaktivität ist aus Rudolf Arnheims Sicht für das Erleben von Architektur kennzeichnend. Erkennbar werde dies anhand von Formulierungen, die gewählt werden, um Architektur zu beschreiben. »So passend wird hier vom Fließen und Eindringen, von Druck und Ausdehnung gesprochen, daß wir dabei kaum an Metaphern denken. Es sind einfach zutreffende Beschreibungen von Wahrnehmungserlebnissen, auch wenn die Objekte, denen sie gelten, aus leblosem Stein sind.«51 Eine solche Belebung baulicher Strukturen kann
48 Ebd., S. 36 49 H. Mackowsky: Karl Friedrich Schinkel: Briefe, Tagebücher, Gedanken: dearbooks 2015, S. 193 50 Ebd. 51 R. Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 226
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aus neurobiologischer Perspektive als Folge eines unmittelbaren Übertragens der eigenen Gleichgewichtsstruktur betrachtet werden. Diese wiederum basiert auf implizitem Wissen, das anhand körperlicher Erfahrungen erworben wird.52 »Da wir von diesem Wissen nicht mehr absehen können, stehen, liegen, fallen oder steigen für uns selbst Landschaften, Wolken, Gebäude, Körper, Linien und Flächen.«53 Das Vermögen, die Stabilität und Balance von Konstruktionen einschätzen zu können, basiert, wie Axel Buether unter Bezugnahme auf neurobiologische Erkenntnisse darstellt, auf vestibulären Erfahrungen, die in der multisensuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt gesammelt werden. »Die statischen und dynamischen Bedingungen zur Aufrechterhaltung der Balance spiegeln sich in der Gleichgewichtsstruktur unseres Anschauungsraums wider«54, d.h. auf der Grundlage unbewusst ablaufender Prozesse zur Herstellung und Aufrechterhaltung des eigenen inneren Gleichgewichtszustandes wird ebenfalls unbewusst die Gleichgewichtsstruktur von Gegenständen und Strukturen der uns umgebenden Umwelt wahrgenommen. Statik und Dynamik von Gebäuden werden somit auf der Basis impliziten Wissen beurteilt, so dass Hintergründe von Erfahrungen der gebauten Umwelt, die diesen Beurteilungen zugrunde liegen, vor allem dann erschlossen werden können, wenn intuitive Momente in den skulpturalen Prozess einfließen. Auf diese Weise können auf einem Nachvollzug imaginierter Entstehungshintergründe von Gebäuden basierende, intuitiv erfolgende Bewertungen, die das Erleben baulicher Strukturen beeinflussen, auf bewusstere Ebenen gelangen, in den skulpturalen Prozess einfließen und für weitere Reflexionen zugänglich werden. Insofern die Gleichgewichtsstruktur des Anschauungsraums zwar insbesondere in der frühen Kindheit entwickelt wird, aber weiter ausdifferenziert werden kann, ist es darüber hinaus aber auch möglich, im experimentellen Konstruieren implizites Wissen zu erwerben und zu vertiefen, wodurch die Wahrnehmung von Gleichgewichtsverhältnissen in der gebauten Umwelt gefördert wird.55 Architekturerfahrungen in deren Kontext ein Nachvollzug makroskopisch wahrgenommener und von der realen Bauweise unabhängiger Entstehungsprozesse eine Rolle spielt, kann insbesondere dann nachgegangen werden, wenn im skulpturalen Handeln Verbindungen zwischen eigener körperlicher Aktivität oder auch Gesten und den auf ihrer Basis entstehenden Formen hergestellt
52 Vgl. A. Buether: Die Bildung der räumlich- visuellen Kompetenz, S. 328-329 53 Ebd., S. 328 54 Ebd. 55 Vgl. ebd., S. 330
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werden. Besonders deutlich wird ein solcher Zusammenhang in skulpturalen Handlungen Richard Serras, die er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit den in der Verb List zusammengestellten Handlungsweisen erprobt. Wie anhand von Splashing gezeigt wurde, schreibt sich in diese Arbeit die Geste ein, mit der Serra flüssiges Blei in eine Raumecke schleudert. Konstituierend für die entstehende Form ist unter anderem die Kraft, die Serra aufbringen kann. Sie kann vor allem daran erkannt werden, dass sich das Blei an Wand und Boden in einer unregelmäßigen, die Dynamik des Schleuderns verbürgenden Form ausbreitet. Eine weitere körperliche Bedingung der Form basiert auf den Bewegungsmöglichkeiten, die Serras Körper bietet. Die Bewegung des Bleischleuderns involviert nicht nur Hand und Arm, sondern setzt den Einsatz des gesamten Körpers voraus, dessen Möglichkeiten somit in der Form, die das Blei annimmt, eine materielle Entsprechung finden. Ebenso wie an Materialien lagern sich auch an Handlungen oder Gesten, die als imaginierte Entstehungsprozesse in die Wahrnehmung architektonischer Formen einfließen, Konnotationen an, die ihre Wirkungen beeinflussen und Grundlagen ihrer Bewertung bilden. Veranschaulicht werden kann dies anhand von Stützen oder Säulen, deren Wahrnehmung durch eine Aktivierung oder Verlebendigung beeinflusst werden kann. Als Geste des Hochstemmens wahrgenommen, kann eine Stütze auf der Basis ihrer Form, Materialität und Oberfläche dynamisch wirken. Nimmt man in ihr die Geste des ausbalancierten Tragens wahr, wirkt sie dagegen eher statisch. Die wahrgenommene Tätigkeit einer Stütze kann, wie von Wölfflin dargestellt, dazu führen, dass man »das stolze Glück«56, eine tragende Aufgabe erfüllen zu können, nachempfindet. Darauf basierend könnte die Stütze als ein gelungenes architektonisches Element bewertet werden. Aus einer Perspektive, die einer pflichtbewussten Einordnung in ein hierarchisches System kritisch gegenübersteht, kann die wahrgenommene Tätigkeit einer Stütze aber auch Abneigung hervorrufen, sie könnte also ein Bauelement sein, dessen Vorhandensein in der gebauten Umwelt als störend empfunden wird. Hintergründe dieser unterschiedlichen Sichtweisen können biografisch bedingt sein oder auf Stimmungen basieren, eine Rolle können hier aber auch gesellschaftliche Entwicklungen spielen. So kann überlegt werden, dass zu Wölfflins Zeit soldatische Tugenden, die mit einer stolzen und kraftvollen Stütze assoziiert werden können, einen anderen Stellenwert hatten als heute. Einflüsse darauf, ob die tragende Tätigkeit einer Stütze als statisch oder dynamisch wahrgenommen wird und welche Wirkungen sie damit hervorruft, gehen darüber hinaus aber auch von kontextuellen Faktoren, insbesondere der Form der umgebenden
56 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 9
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Bauteile, aus. Architektonische Wirkungen, die mit unterschiedlichen Formen des Nachvollzugs von Entstehungsprozessen zusammenhängen, beruhen vor dem Hintergrund dieser Überlegungen auf verschiedenen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Sich in skulpturalen Erkundungen eröffnende Möglichkeiten, den Hintergründen des Erlebens gebauter Umwelten nachzugehen, erschöpfen sich somit nicht darin, eine neurobiologisch erklärbare Einschätzung ihrer Stabilität oder Dynamik zu unterstützen. Vielmehr können im Kontext skulpturalen Handelns, das über bewusst gesteuertes Handeln hinausgeht, auch in das Erleben der gebauten Umwelt im Kontext der Einschätzung statischer oder dynamischer Verhältnisse einfließende, vielfältigen Bereichen entstammende Formen impliziten Wissens in ihrer Vernetztheit auf eine bewusstere Ebene gelangen. Wie die Überlegungen dieses Kapitels zeigen, kann skulpturales Handeln in Lehr- und Lernkontexten zu einem Erwerb oder einer Vertiefung architekturrelevanten impliziten Wissens beitragen, aber auch dessen anschauliche Erkundung und reflexive Erschließung ermöglichen. Auf diese Weise können, den Betrachtungen in Kapitel 2.3 folgend, Wahrnehmungsmöglichkeiten erweitert und Übergänge zu ästhetischem Wahrnehmen ausgebaut werden. Überlegt werden kann, dass die hier aufgezeigten grundlegenden Erfahrungs- und Erkenntnispotenziale sich im skulpturalen Handeln auch dann eröffnen, wenn dieses keine expliziten Bezüge zum Erleben der gebauten Umwelt herstellt. Hintergrund dieser Überlegung ist, dass Architekturerfahrungen einen wesentlichen Bereich von Erfahrungen mit dreidimensionalen Artefakten bilden, sodass sie auch dann in skulpturale Erkundungsprozesse einfließen, wenn die gebaute Umwelt nicht deren unmittelbarer Gegenstand oder Ausgangspunkt ist. Bewusstere Übertragungen der erworbenen Erkenntnisse auf architektonische Kontexte, zu denen ein Erkennen der baukörperlich-materiellen Bedingtheit von Lebensräumen der gebauten Umwelt gehört, sind allerdings vor allem dann möglich, wenn das Erleben der gebauten Umwelt den Rahmen der Erkundung bildet. Möglichkeiten der Initiierung solcher skulpturaler Erkundungen von Architekturerfahrungen wird im folgenden, abschließenden Kapitel nachgegangen.
5.4 ELEMENTE SKULPTURALER ERKUNDUNGSPROZESSE VON ARCHITEKTURERFAHRUNGEN Fragt man Kinder und Jugendliche, aber auch Studierende des Faches Kunst nach Erfahrungen, die sie im Umgang mit der gebauten Umwelt gesammelt haben, nach Arten und Weisen, wie architektonische oder städtebauliche Situatio-
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nen ihre Stimmungen, Befindlichkeiten oder Handlungen beeinflussen, hat dies in der Regel eine eher verhaltene Reaktion zur Folge.57 Das ist, berücksichtigt man die in Kapitel 2.2 dargelegten Besonderheiten von Architekturwahrnehmungen, nicht weiter verwunderlich, da die gebaute Umwelt als weitgehend gleichbleibender Hintergrund des täglichen Lebens vor allem in einem beiläufigen und wenig bewussten Modus wahrgenommen wird. Während die vielfältigen Erfahrungen, die eine Künstlerin wie Monika Sosnowska in der architektonischen und städtebaulichen Situation ihres Wohnumfeldes sammelt, von ihr auf einem Bewusstseinsniveau verarbeitet werden, auf dem sie zu skulpturalen Problemstellungen werden können, scheinen die meisten Menschen kein Problem mit Einflüssen zu haben, die Architektur auf ihr Leben hat, sodass ihr Bedürfnis, diesen Einflüssen nachzugehen, relativ gering ist. Aus der Sicht Rudolf Arnheims führt die Beobachtung, dass viele Menschen Architektur vor allem im Hinblick auf Fragen ihrer Funktionalität reflektieren, dazu, dass ihre psychologischen Wirkungen marginalisiert und Auseinandersetzungen mit formalen Qualitäten, von denen diese Wirkungen ausgehen, als formalistisch kritisiert werden. »Fragt man die Leute nach ihren Bedürfnissen, so reden sie von Heizkörpern und zugigen Fenstern, Treppenhäusern und der großen Wäsche, nicht jedoch von Farbabstufungen und Modulwerten. Aber wahrscheinlich reden sie auch nicht vom Licht und von der Luft, obschon sie von deren Qualität stark beeinflusst werden. Ausführliche Antworten in Fragebögen und Interviews geben nicht erschöpfend über die Faktoren Auskunft, die den Gemütszustand eines Menschen bestimmen. Viele dieser Faktoren nimmt er gar nicht bewußt wahr.«58
Arnheim interessiert sich für diese an designierte Architektinnen und Architekten adressierten Überlegungen in erster Linie in Bezug auf Konsequenzen, die sie seiner Meinung nach für die architektonische Berufspraxis haben sollten und
57 Diese Beobachtung entspricht auch empirischen Befunden R. Rambows. Vgl. R. Rambow: Experten-Laien-Kommunikation in der Architektur, S. 60-65. Rambow stellt hier Ergebnisse einer von ihm durchgeführten Gruppendiskussion mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe vor. Seinen Auswertungen zufolge äußert »kaum ein Schüler ein eigenständiges Interesse an Architektur« (Ebd. S. 62). Auf die Frage nach Lieblingsgebäuden, deren Einstufung eine Reflexion von architektonischen Wirkungen auf einer weniger bewussten Ebene erfordere, »werden Antworten nach einer Phase des Überlegens und meist ohne große emotionale Beteiligung formuliert« (Ebd.). 58 R. Arnheim: Die Dynamik der architektonischen Form, S. 11
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plädiert im Weiteren dafür, dass dort ästhetischen und psychologischen Fragestellungen auch dann Bedeutung beigemessen werden sollte, wenn seitens der Nutzerinnen und Nutzer kein bewusstes Interesse an diesen Fragestellungen besteht.59 Aus einer Perspektive, in der es um eine architektonische Bildung geht, kennzeichnet die von ihm zwar pauschalisierend dargestellte, aber im Kern richtig beobachtete Situation dagegen eine problematische Ausgangslage didaktischer Überlegungen. Der Grund hierfür ist, dass eines der zentralen Ziele, das darin besteht, Einflüsse, die die gebaute Umwelt in ihrer wahrnehmbaren Gestalt auf Stimmungen, Befindlichkeiten und Handlungen nimmt, wahrnehmen zu können, gleichzeitig eine Voraussetzung dafür darstellt, dass zu diesem Ziel führende Auseinandersetzungen überhaupt in Gang gesetzt werden können. Skulpturale Erkundungen von Architekturerfahrungen in Lehr- und Lernkontexten können aus diesem Grund nicht als mehr oder weniger lineare Prozesse gedacht werden, sondern müssen vielmehr in ihrer Spiralförmigkeit und Vernetztheit in den Blick genommen werden. Als Startpunkt spiralförmiger Annäherungen an Möglichkeiten, reziproke Beziehungen zwischen der gebauten Umwelt und sich selbst als Individuum und als Teil der Gesellschaft erkennen zu können, bedarf es zunächst eines Ausgangsimpulses, anhand dessen ein initiales Bemerken von Wirkungen, die von der Architektur ausgehen, möglich wird. Die so erkannten Wirkungen oder Wirkungsmomente können auf verschiedene Weise erkundet und reflektiert werden, wodurch eine nächste Ebene der Wahrnehmungsmöglichkeiten erreicht wird, auf denen dann wiederum weitere Erkundungen basieren können. Wie in Kapitel 2.3.5 überlegt wurde, kann die Rezeption einer skulpturalen Arbeit wie The Tired Room einen Ausgangsimpuls für spiralförmige Erkundungen der eigenen Architekturerfahrungsweisen bilden. Ein solcher Anfang kann aber, je nach Ausgangslage der Lernenden, ebenso gut ungeeignet sein, da sich auch die Möglichkeiten, die sich in der Betrachtung skulpturaler Auseinandersetzungen mit Architektur bieten, um eigene Erfahrungen mit Architektur in ästhetische Erfahrungsprozesse einfließen zu lassen, keineswegs voraussetzungslos entfalten, sondern z.B. die Bereitschaft erfordern, sich auf die Arbeit einzulassen und ihre Irritationsmomente als Chance zu begreifen. Sinnvolle Ausgangsimpulse können daher auch von skulpturalen Handlungen, der Initiierung alternativer Wahrnehmungen der gebauten Umwelt, Übungen zur Sensibilisierung der Wahrnehmung des eigenen Körpers und ggfs. auch dem Erwerb von Wissen über Wahrnehmungsweisen der gebauten Umwelt ausgehen. Im weiteren Verlauf von Erkundungsprozessen, die auch nach einer genauen Analyse der Lern-
59 Vgl. ebd., S. 8-16
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ausgangslage nicht detailliert planbar sind und die im Sinne von Möglichkeiten der individuellen Förderung einer inneren Differenzierung bedürfen, können diese verschiedenen Elemente in unterschiedlicher Weise kombiniert werden, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein Aspekt eigener Architekturerfahrungen in einem eigenen skulpturalen Projekt individuell vertieft werden kann. Im Folgenden werden verschiedene Elemente, die sich in unterschiedlicher Weise kombinieren lassen, um den jeweiligen Entwicklungen der Lernenden entsprechende, individuelle und ergebnisoffene Erkundungsprozesse zu ermöglichen, unter Einbezug von Beispielen universitärer Lehrveranstaltungen vorgestellt. Überlegt wird dabei jeweils, welche Chancen und Grenzen dieser Elemente vor dem Hintergrund der dargestellten Zielperspektiven architektonischer und skulpturaler Bildungsprozesse erkennbar werden. Darüber hinaus wird über Besonderheiten und Anpassungserfordernisse nachgedacht, die eine Verortung in unterschiedlichen Kontexten des Prozesses mit sich bringen kann. 5.4.1 Skulpturale Handlungsformen zwischen Skulptur, Modell und Installation Ein zentrales Element skulpturaler Erkundungen des Architektonischen bilden skulpturale Prozesse, in denen auf unterschiedliche Weise mit Material räumliche oder körperliche Formen entwickelt oder verändert werden. Diese Prozesse können den Kern weitgehend selbständig durchgeführter gestaltungspraktischer Projekte bilden und erfordern als solche den vorangestellten Überlegungen zufolge vorbereitende Schritte. Sie können aber auch selbst Übungscharakter annehmen. Vorgestellt werden skulpturale Handlungsmöglichkeiten, die sich in einem Feld zwischen abstrakter oder konkreter Skulptur, Modell und Installation verorten lassen. Dabei wird zwischen Erkundungen, in deren Kontext Arbeiten eines nicht-architektonischen Maßstabs entstehen und Auseinandersetzungen mit Räumen eines architektonischen Maßstabs unterschieden. Skulpturale Auseinandersetzungen mit Architekturerfahrungen in einem nicht-architektonischen Maßstab Auseinandersetzungen mit Architektur, die auf der Basis modellierender, additiver oder subtraktiver Verfahren in einem kleineren Maßstab erfolgen, bieten besondere Möglichkeiten, um mit Material zu arbeiten und so Phasen ergebnisoffenen Handelns einzubeziehen, in denen implizites Wissen aktiviert und erworben werden kann. Der Grund hierfür ist, dass eigene Bewegungen unmittelbar mit wahrnehmbaren Veränderungen des Materials korrespondieren können. Auf diese Weise können die Chancen der Erkundung grundlegender architektoni-
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scher Wirkungshintergründe, die in Bezug auf Material (Kap 5.3.2) und Handlung (Kap. 5.3.3) bereits vorgestellt wurden, in diesen skulpturalen Auseinandersetzungen eines engeren Verständnisses besonders deutlich zum Tragen kommen. Auf den ersten Blick scheinen die Vorteile von Herangehensweisen, die sich insofern im engeren Feld des Skulpturalen bewegen, als in ihnen Formen entstehen, die in erster Linie in ihrer Körperlichkeit wahrgenommen werden, allerdings dadurch erkauft, dass eine Verbindung zu Fragen der Nutzung oder der Nutzungsmöglichkeiten architektonischer Räume verloren geht und somit eine Relevanz der in der skulpturalen Auseinandersetzung gewonnenen Erkenntnisse hinterfragt werden kann. Wie der Architekt Fritz Schumacher überzeugend darlegt, werden Gebäude auch dann als »konkav«60, d.h. räumlich erfahren, wenn sie von außen betrachtet werden. Auch als Baukörper unterscheidet sich ein Gebäude aus seiner Perspektive, die er anhand schematischer Darstellungen veranschaulicht, von Skulpturen, die umrundet werden und somit in erster Linie als konvexe Form wahrgenommen werden.61 Abbildung 65: Fritz Schumacher: Schematische Darstellung zur Architekturwahrnehnumg
Wie in Kapitel 2 überlegt, bilden explizite oder implizite Nutzungserwägungen einen nicht hintergehbaren Hintergrund der Verarbeitungsprozesse von Architekturwahrnehmungen. Insofern architektonische Nutzungen mit der Räumlichkeit der Architektur verbunden sind, stellt sich die Frage, wie im Kontext skulpturalen Handelns, bei dem nicht an Räumen, sondern an plastischen Formen gearbei60 F. Schumacher: Sinnliche Wirkungen des baulichen Kunstwerks, S. 196 61 Vgl. ebd., S. 195-197
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tet wird, Architekturerfahrungen als Umgangserfahrungen erkundet werden können. Anhand von drei studentischen Arbeiten, die in unterschiedlichen bildhauerischen Seminaren entstanden sind, wird im Folgenden das sich in kunstpädagogischen Kontexten eröffnende Feld untersucht, in dem sich skulpturale Prozesse einer nicht-maßstäblichen Erkundung von Architekturerfahrungen verorten lassen. Betrachtet wird dabei jeweils, welche alltagsrelevanten Architekturerfahrungen in den skulpturalen Prozessen eine Rolle spielen. Anschließend wird überlegt, auf welche Weise auf Architektur Bezug genommen wird und warum die vorgestellten Erkundungen in einem kleineren Maßstab möglich sind. Die Skulptur Ohne Titel, die Julia Koop im Seminar Türme in Architektur und Skulptur entwickelt, besteht aus Stahlstäben von ca. 40 cm Länge, aus denen jeweils 12 zu vier Elementen zusammengeschweißt sind.
Abbildung 66: Julia Koop, Ohne Titel, 2015
Diese vier Elemente sind übereinander angeordnet und ebenfalls durch Schweißpunkte verbunden. Während die Stäbe des unteren Elements rechtwinklig angeordnet die Kanten eines Kubus bilden, nimmt die Zahl der rechten Winkel von Element zu Element nach oben ab. Das untere Element wirkt in seiner Rechtwinkligkeit statisch und verbürgt so eine Stabilität, die von den weiteren Elementen immer stärker in Frage gestellt wird. In der Betrachtung bewirkt dies eine Destabilisierung, die nicht nur die Skulptur selbst betrifft, sondern auch die durch die Skulptur sichtbaren horizontalen und vertikalen Linien des Ausstellungsraumes zu dynamisieren scheint und sich auch auf die Betrachtenden überträgt. Mit ihrer Skulptur nimmt Julia Koop auf in der gebauten Umwelt von
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Türmen ausgehende Wirkungen im Spannungsfeld von Stabilität und Instabilität Bezug. Besonders erfahrbar werden diese, wenn man z.B. an einem Turm hinaufschauend den Eindruck gewinnt, dass der Turm fällt. Die hierdurch hervorgerufene destabilisierende Wirkung wird durch das Phänomen des »Bodyfeedback«62 unterstützt, das dazu führt, dass die Haltung des Hinaufschauens mit in den Nacken gelegtem Kopf ein Unterlegenheitsgefühl hervorzurufen vermag, und steht so in einem Zusammenhang zu Potenzialen, über die Turmbauten auch aus anderen Gründen als Ausdruck von Macht verfügen können. Die zunehmende Höhe, die Gebäude erreichen können, steht darüber hinaus in Verbindung mit bautechnologischen Fortschritten, auf deren Basis es Menschen möglich ist, auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten basierende Konstruktionsprobleme zu überwinden und damit ihre Unabhängigkeit von natürlichen Gegebenheiten zu demonstrieren. Mit ihrer nach oben zunehmenden Dynamisierung verweist die Skulptur darauf, dass mit einem zunehmenden Schlankheitsgrad baulicher Konstruktionen die Gefahr des Kollabierens der gesamten Struktur steigt, eine Erfahrung, die bereits in der Kindheit beim Aufeinanderstapeln von Bausteinen gesammelt werden kann. Mit ihrer skulpturalen Erkundung der Vertikalität befasst sich Julia Koop, folgt man den in Kapitel 2 vorgestellten Überlegungen Wolfgang Meisenheimers, darüber hinaus mit einer grundlegenden architektonischen Geste, die dieser als »die Geste der Aufrichtung (die Vertikale errichten)«63 in den Blick nimmt. Indem sie sich differenziert mit dem Spannungsfeld von vertikaler Orientierung und Schräge auseinandersetzt, ermöglicht ihre Arbeit ästhetische Erfahrungen, in deren Kontext »das Leibgefühl in Verlegenheit«64 gebracht wird. Julia Koop nimmt mit ihrer Skulptur nicht auf einen bestimmten Turm Bezug, sondern auf Erfahrungen, die sie mit von Türmen ausgehenden Wirkungen
62 Richter und Schulze stellen dar, »dass wir uns dem Einfluss der in einer bestimmten Weise gestalteten Umwelt nicht entziehen können, da er teil- oder unbewusst wirksam ist. Wie subtil derartige Einflüsse sein können, zeigen psychologische Untersuchungen zum so genannten Bodyfeedback. Körperhaltung, Mimik und Gestik haben danach eine Auswirkung auf Informationsverarbeitung und Gefühle des Menschen (vgl. WERTH, 2004). Beispielsweise konnten STEPPER & STRACK (1993) zeigen, dass die durch die Auslegung des Mobiliars beeinflusste Körperhaltung das Erleben der eigenen Leistung signifikant modulieren kann.« P. G. Richter/B. Schulze: Das DreiEbenen-Konzept der Mensch-Umwelt-Regulation (ALFRED LANG). In: P. G. Richter (Hg.), S. 55 63 W. Meisenheimer: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, S. 25 64 Ebd., S. 30
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im Rahmen ihrer architektonischen Sozialisation gesammelt hat. Wie im Kontext der Überlegungen zu Nachvollzügen von Entstehungsprozessen architektonischer Formen dargestellt wurde, basieren die den Hintergrund der von ihr thematisierten architektonischen Wirkungen bildenden, die Stabilität und Dynamik von Gebäuden betreffenden Einschätzungen auf Erfahrungen der Gleichgewichtsstruktur des eigenen Körpers. Dass es möglich ist, Architekturerfahrungen, für die eine Inbezugsetzung zum Erleben des eigenen Körpers konstituierend ist, wie hier in einem nichtarchitektonischen Maßstab nachzugehen, zeigt sich u.a. auch an Arbeiten Barbara Hepworths, die, wie in Kapitel 3 überlegt, architekturrelevante Momente der Einfühlung in einem sehr kleinen Maßstab erkunden und in der Betrachtung aktivieren. Eine Erklärung dieses Phänomens kann auf der Basis der in Kapitel 2.3 vorgestellten Besonderheiten von Architekturerfahrungen gefunden werden. Wie hier gezeigt wurde, beruhen Einfühlungen ebenso wie andere Formen der Herstellung von Bezügen zum eigenen Körper sowie nur mittelbar mit diesen Bezügen in Verbindung stehende Imaginationen auf Übertragungen aus außerarchitektonischen Bereichen. Werden, wie Steen Eiler Rasmussen in einem seiner Beispiele solcher Übertragungen darstellt, Erfahrungen mit Fischernetzen, die aufgrund ihrer Materialität beim Trocknen schlaff herabhängen, auf ähnliche, jedoch in der Regel größere architektonische Formen übertragen, die dann ebenfalls als nachgiebig und kraftlos erfahren werden, beinhaltet diese Übertragung, dass Architektur aus ihrem Maßstab gelöst wird. Nicht mehr der architektonische Maßstab ist im Kontext dieser Übertragung erfahrungsrelevant, sondern der Maßstab des Fischernetzes, der sich für eine skulpturale Erkundung dieser, auf der Imaginativität der Architekturwahrnehmung beruhenden Erfahrung besonders gut eignen würde. Analog dazu wäre für skulpturale Auseinandersetzungen mit im Erleben der eigenen Körperlichkeit erworbenen Erfahrungen die Herstellung eines maßstäblichen Bezuges zum eigenen Körper besonders sinnvoll. Vor dem Hintergrund der Überlegung, dass im Kontext von Wahrnehmungen, in die Imaginationen einbezogen werden, die gebaute Umwelt aus ihrem Maßstab gelöst wird, können Fragen der Maßstäblichkeit skulpturaler Erkundungen aber möglicherweise auch an sich stärker in den Hintergrund treten. Wenn Erfahrungen der gebauten Umwelt erkundet werden, in deren Kontext die Imaginativität und Körperbezogenheit der Architekturwahrnehmung eine zentrale Rolle spielt, kann ein Arbeiten in kleineren Maßstäben somit nicht nur möglich, sondern besonders sinnvoll sein. Barbara Hepworth, deren Arbeiten als skulpturale Erkundungen von Momenten der Einfühlung in konkrete oder abstrakte Formen betrachtet werden können, betont die Chancen, die skulpturales Arbeiten aufgrund seines kleineren Maßstabs im Kontext der Erkundung von
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Architekturerfahrungen bietet, wenn sie, wie in Kap. 3.2.1 umfassender dargestellt, Skulptur als »Verbindung von menschlicher Dimension und menschlicher Sensibilität zu der umfassenderen Masse und Räumlichkeit der Architektur«65 beschreibt. Auch Friedrich Teja Bach erkennt einer überschaubaren Größe von Skulpturen ein besonderes Potenzial in Bezug auf Möglichkeiten der Erkenntnisgewinnung im Feld des Architektonischen zu, indem er sie als »Shifter«66 betrachtet, die »für grundlegende architektonische Sachverhalte sensibilisieren«67 oder »das Gefühl einer architektonischen Geste notieren«68 können. Unter anderem auf einem Nachvollzug von Gesten, den Bach hier anspricht, basiert die Möglichkeit einer maßstäblichen Verschiebung, die für eine im Seminar Innen und Außen. Grenzgänge zwischen Skulptur und Architektur entstandene Skulptur der Studentin Christina Kemper kennzeichnend ist.
Abbildung 67: Christina Kemper, Ohne Titel, 2013 Die Arbeit besteht aus fünf dreieckigen Fermacell-Platten verschiedener Abmessungen, die die Studentin miteinander verbindet und anschließend mit einer Putzschicht überzieht. Die Platten umschließen jeweils drei Seiten zweier einander gegenüberliegender, tetraederförmiger Räume. Eine der dreieckigen Platten, die sich im Zentrum der Skulptur befindet, bildet dabei eine Begrenzung beider Räume. Die beiden Oberflächen dieser Platte sind somit sowohl Innenseite der Umgrenzung des einen Raumes als auch Außenseite der Umgrenzung des anderen Raumes. Im Versuch, die Beziehung der Räume zu begreifen, wird die Geste des Umstülpens assoziiert, bei der ebenfalls ein Austausch innerer und äußerer Begrenzungsflächen erfolgt. Aufgrund der geometrischen Formen verweist die Skulptur aber auch auf die ihrer Formentwicklung zugrundeliegende Technik des 65 E. Trier, S. 301 66 F. T. Bach, Skulptur als Shifter 67 Ebd., S. 39 68 Ebd.
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Faltens. Der Zusammenhang der beiden Räume kann erfasst werden, indem der Blick sich im Umrunden der Skulptur auf den Flächen entlang bewegt, um so die gegenseitige Bedingtheit von Innen- und Außenraum, inneren und äußeren Oberflächen nachzuvollziehen. Auf einem solchen Nachvollzug basiert aus der Sicht Dietrich Clarenbachs eine besondere Form der Bewegungsvorstellung, durch die man sich »in die Plastik hineinversetzten oder durch sie hindurchgehen«69 könne. Auf der Basis dieser Bewegungsvorstellung sei es möglich, räumliche Zusammenhänge von Skulpturen auf ähnliche Weise zu erfassen, wie die von Gebäuden, deren diesbezügliche Besonderheiten Clarenbach wie folgt darstellt: »Wird ein Bauwerk umschritten, so kann sein Körper oder wenigstens seine körperhafte Erscheinung, wird es durchschritten sein Innenraum erlebt werden. Einmal wirkt das körperliche Gegenüber, das andere Mal die räumliche Hülle. Ganz kann ein Bauwerk – sein Körper und sein Innenraum – nur durch Bewegung erfasst werden. Wenn die Schwelle eines Bauwerkes überschritten wird, kehrt sich das Erlebnis um, statt der äußeren Gestalt wird der Hohlraum erlebt.«70
Überschneidungen der räumlichen Wahrnehmung von Skulpturen eines kleineren Maßstabs und architektonischen Räumen, auf deren Hintergründe Clarenbach nicht näher eingeht, können aus einer heutigen Perspektive damit erklärt werden, dass die hier entstehenden Bewegungsvorstellungen auf realen Bewegungen basieren. Anders als beim Erfassen räumlicher Zusammenhänge anhand von perspektivischen Zeichnungen, Fotografien, aber auch Filmen und virtuellen Rundgängen durch Gebäude wird in der Betrachtung von skulpturalen und architektonischen Räumen in ihrer realen Dreidimensionalität die visuelle Wahrnehmung umfassend durch kinästhetische Wahrnehmungen beeinflusst71. Diesbezügliche Unterschiede zwischen der Betrachtung dargestellter und realer Räumlichkeit basieren zum einen darauf, dass bei letzteren ein visuelles Abtasten unterschiedlich weit vom Auge entfernter Bereiche die Muskulatur des Auges in anderer Weise beansprucht, als dies bei der Betrachtung von auf einer Fläche befindlichen räumlichen Darstellungen der Fall ist.72 Insofern Skulpturen eine Betrachtung von allen Seiten ermöglichen, oder, wie die Arbeit Christina Kempers, nur dann in ihren räumlichen Zusammenhängen vollständig erfasst werden können, wenn man um sie herumgeht, fließen auch kinästhetische Wahrnehmungen
69 D. Clarenbach: Grenzfälle zwischen Architektur und Plastik im 20. Jahrhundert, S. 37 70 Ebd., S. 33 71 Vgl. R. Schönhammer: Einführung in die Wahrnehmungspsychologie, S. 71 72 Vgl. ebd., S. 197
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der hierzu erforderlichen Bewegungen in die Verarbeitung der visuell aufgenommenen Daten ein. Überlegt werden kann, dass Skulpturen, die Räume umschließen, dadurch, dass ihre Wahrnehmung mit Bewegungen verbunden ist, die Vorstellung begünstigen können, sich durch sie hindurch zu bewegen. Durch ihre geringere Größe werden räumliche Zusammenhänge dabei auf ein überschaubareres Maß gebracht, sodass auch hier möglicherweise ein besonderes Erkenntnispotenzial des gegenüber Architektur verkleinerten Maßstabs erkannt werden kann. Besonders interessant ist dies im Kontext von Kristina Kempers Arbeit für ein Erkennen von Zusammenhängen von Innen und Außen, da sie beide Pole simultan erkunden kann. In der Produktion setzt sich die Studentin mit Zusammenhängen von Innen und Außen nicht nur im Kontext der Wahrnehmung der entstehenden Form auseinander, sondern auch in der Erprobung unterschiedlicher Faltungen aus Papier im Rahmen der Formfindung. Vertieft wird ein Erkennen der räumlichen Zusammenhänge aber auch durch den Vorgang des Faltens selbst sowie durch das Bauen der Skulptur, bei dem die aus mehreren Papierschichten bestehenden Flächen des gefalteten Modells vergrößert und auf eine Schicht reduziert werden, um dann verbunden zu werden. Durch die Putzschicht werden die Einzelplatten noch stärker zu einer Gesamtform zusammengefasst. Das manuelle Auftragen dieser Schicht lässt die Verbindung von Innen und Außen zu einem Kontinuum im skulpturalen Prozess noch einmal deutlich erfahrbar werden. Der Zusammenhang von Körper und Raum, den Christina Kemper als Beziehung zwischen Innen und Außen erkundet, bildet auch einen Schwerpunkt der Arbeit von Laura Fabritz, die im Seminar Skulpturale Auseinandersetzung mit der Architektur des Silos entsteht. In ihren Erkundungen der Besonderheiten, die die Architektur des umgebauten Getreidesilos, in dem die Räume des Faches Kunst an der Universität Paderborn untergebracht sind, kennzeichnen, richtet sich ihr Interesse auf die neun Siloschächte, die im Inneren des Gebäudes zum größten Teil erhalten sind. Wahrnehmbar werden die Schächte nur an einigen Stellen im Erdgeschoss des Gebäudes, wo sie als pyramidale Strukturen von oben in den Raum hineinragen.
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Abbildung 68: Trichterförmige Elemente im Kunstsilo der Universität Paderborn Die Hohlräume selbst sind gefangene Räume, die keinerlei Verbindungen nach außen oder in genutzte Innenräume aufweisen. Laura Fabritz rekonstruiert ihre genaue Größe und Anordnung anhand von Planungsunterlagen des Silos und baut die Hohlräume aus massiven Styrodurblöcken nach, um sie ihrer Anordnung im Gebäude entsprechend zu einer Gesamtform zu verbinden. Dabei orientiert sie sich an einem festgelegten Maßstab, verändert allerdings die Proportionen der trichterförmigen Enden, um diese den wahrgenommenen Proportionen der realen Vorbilder anzupassen. Die Strategie, Raum zu verkörperlichen und somit begreifbar werden zu lassen, wird in der zeitgenössischen Kunst insbesondere mit den Arbeiten Rachel Whitereads verbunden, mit denen sich die Studentin im Rahmen ihres skulpturalen Prozesses auseinandersetzt. Whiteread verfolgt diese Strategie u.a. in ihrer Arbeit House (1993), für die sie die Räume eines vor dem Abriss stehenden Londoner Reihenhauses mit Beton ausgießt, um anschließend die Wände zu entfernen. Über ein Erkenntnispotenzial des Ausgießens von Räumens, bei dem wie hier deren negatives Volumen in ein positives umgewandelt wird, denkt in den 1920er Jahren bereits der Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann nach. Aus seiner Sicht ist die körperliche Darstellung des Raumes auch aufgrund einer ihr immanenten Widersprüchlichkeit lehrreich, die darauf basiere, dass Räume gerade durch ihre Körperlosigkeit gekennzeichnet sind. Diese Widersprüchlichkeit bildet eine Grundlage für die ästhetische Erfahrbarkeit von Arbeiten wie House, aber auch der Skulptur Ohne Titel von Laura Fabritz.
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Abbildung 69: Laura Fabritz, Ohne Titel, 2016
Besonders spannend ist das Projekt der Studentin jedoch nicht nur aufgrund der hier erfolgenden Materialisierung von negativem Volumen, sondern auch insofern, als es verborgene, in ihrer Unzugänglichkeit unheimliche Räume wahrnehmbar werden lässt und so das Interesse der Betrachtenden, die die Arbeit bei der Jahresausstellung in den Siloräumen sehen können, auf die besondere räumliche Struktur des Gebäudes lenkt. Der Verweis auf ein verborgenes System in sich abgeschlossener Räume bewirkt dabei eine Irritation, die mit einem Gefühl des Unheimlichen einhergehen kann. Auf einer weiteren Ebene verweist die Arbeit auf Fragen der früheren und aktuellen Nutzung des Silogebäudes und damit auf Möglichkeiten des Umnutzens, Umbauens und Abreißens architektonischer Strukturen. Projekte zwischen Skulptur und Modell Die vorgestellten studentischen Projekte unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf die in ihrem Kontext jeweils relevanten Möglichkeiten, Architekturerfahrungen in einem nicht-architektonischen Maßstab erkunden zu können, sondern auch hinsichtlich der Formen ihrer Bezugnahmen auf Architektur. Wie im Folgenden anhand der drei Arbeiten gezeigt werden soll, können skulpturale Erkundungen des Architektonischen in einem Feld verortet werden, das sich zwischen autonomer Skulptur und Model, bildnerischem Prozess und konzeptuellem Arbeiten aufspannt. Als Skulpturen, die ihren autonomen Status stärker in den Vordergrund stellen, können die Arbeiten von Julia Koop und Christina Kemper betrachtet werden. Ihnen ist gemeinsam, dass mit Fragen der Stabilität und Vertikalität bzw. des Zusammenhangs von Innen und Außen sehr grundlegende und allgemeine Architekturerfahrungen in die Produktion einfließen. In einer Auseinanderset-
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zung mit diesen Fragen werden Formen entwickelt, in deren Betrachtung Architekturbezüge vor allem auf einer impliziten Ebene hergestellt werden. Die Arbeiten beziehen zwar insofern die Betrachtenden ein, als ihre Rezeption multisensuelle Wahrnehmungen, Bewegung und eine Inbezugsetzung zum eigenen Körper erfordert, agieren jedoch aufgrund ihres vorwiegend impliziten Architekturbezugs vor allem in einem idealen architektonischen Raum. Indem in ihrer Produktion Zusammenhängen zwischen architektonischen Formen und von ihnen begünstigten Wirkungen auf einer elementaren Ebene nachgegangen werden kann, bieten sie besondere Chancen einer Sensibilisierung der Wahrnehmung. Basis einer solchen Sensibilisierung sind implizite oder explizite Erkenntnisse in Bezug auf grundlegende Zusammenhänge zwischen architektonischen MaterialForm-Verbindungen und ihren, vor allem auf einer Inbezugsetzung zu körperlichen Erfahrungsebenen basierenden Wirkungen. Damit skulpturale Auseinandersetzung wie die hier vorgestellten nicht ausschließlich auf sich selbst referieren, sondern Bezüge zum Erleben der gebauten Umwelt herstellen, ist allerdings eine Rahmung erforderlich, durch die Hintergründe eigener Architekturerfahrungen in ihrer subjektiven und interindividuellen Relevanz in die den skulpturalen Prozess begleitenden Reflexionen einbezogen werden. Grundlage einer solchen Rahmung sind die thematischen Schwerpunkte der Seminare (s. auch Kap. 5.4.6). Wichtiger Bestandteil der skulpturalen Erkundungen ist darüber hinaus ein Austausch über entstehende Wirkungen in der Lerngruppe, der es unterstützt, dass die Arbeiten hinsichtlich der durch sie eröffneten architekturrelevanten Erfahrungsmöglichkeiten reflektiert werden können. Anders als die beiden bisher betrachteten studentischen Projekte, referiert die Arbeit von Laura Fabritz in einer expliziteren Weise auf Architektur und nähert sich damit einem architektonischen Modell, von dem aus modelltheoretischer Sicht dann gesprochen werden kann, wenn räumliche Formen zu einem bestehenden oder geplanten Gebäude in einer Beziehung »der Ähnlichkeit, der Vereinfachung und der Veranschaulichung«73 stehen. In der architektonischen Praxis dienen Modelle vor allem dazu, bestehende Gebäude in einer verkleinerten Form abzubilden oder entworfene Gebäude in ihrer Dreidimensionalität zu visualisieren. Dabei werden Massenmodelle, die von der Gebäudeform abstrahieren und sie auf (Lageplan-)Maßstäbe zwischen 1:500 und 1:1000 verkleinern, vor allem dazu verwendet, städtebauliche Strukturen zu veranschaulichen. Dagegen
73 Martin Hartung: »Modellfunktionen. Maßstäbe der Wirklichkeit«, in: Eva Schmidt/Stephanie Rupp (Hg.), Was Modelle können. Eine kleine Geschichte des Architekturmodells in der zeitgenössischen Kunst, Siegen: Museum für Gegenwartskunst Siegen 2014, S. 23-73, hier Fußnote 4, S. 69
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werden Modelle von Einzelgebäuden in größeren Maßstäben (z.B. 1:100) und meist als Hohlkörper angefertigt und lassen so die äußere Gestaltung mit ihren Ein- und Durchblicke gewährenden Öffnungen erkennbar werden. Seltener werden räumliche Strukturen des Gebäudeinneren im Modell dargestellt. Eine besondere Kategorie bilden Arbeitsmodelle, die zur Erprobung von Entwurfsideen herangezogen und im Prozess weiterentwickelt werden können. Künstlerische Modelle unterscheiden sich von einem solchen Begriffsverständnis durch eine mehr oder weniger umfassende Lösung von einem darstellenden Bezug zu einem architektonischen Vor- oder Nachbild. Wichtige Anknüpfungspunkte für skulpturale Auseinandersetzungen mit Architektur bieten allerdings der Prozesscharakter, der besonders Arbeitsmodellen zu eigen ist, sowie die kommunikative Funktion, die Modellen in der architektonischen Praxis zukommt. Insbesondere im Kontext konzeptuell geprägter künstlerischer Auseinandersetzungen mit Architektur sind Modelle aufgrund ihres »diffuse[n] Zustand[s] zwischen Entwurf und Verwirklichung«74 interessant. Anders als es in der Architektur meistens der Fall ist, sind künstlerische Modelle jedoch nicht an eine spätere Realisierung gebunden75, und können so zum »assoziativen Probierfeld möglicher Welten«76 werden. Aufgrund des kleinen Maßstabs bieten sie Möglichkeiten der »Rückführung des Überdimensionierten auf das Maß der Fingerfertigkeit«77 und eröffnen Perspektiven auf Architektur, die diese zu einem überschaubaren und beherrschbaren Objekt werden lassen. Veränderungen des Maßstabs verfügen damit, wie Walter Graskamp hervorhebt, über ein Aneingungspotenzial. Darüber hinaus können sie aber auch Irritationen bewirken, wenn z.B. von einer exakten Skalierung bestehender Gebäude oder bekannten architektonischen Proportionen abgewichen wird. Deutlich wird dies in Arbeiten wie Trailer (2005) von Christian Haake, den »nicht die Kongruenz, sondern der feine Riss der Differenz, die zwischen den Ebenen verläuft«78, interessiert, wenn
74 Eva Schmidt/Stephanie Rupp (Hg.): Was Modelle können. Eine kleine Geschichte des Architekturmodells in der zeitgenössischen Kunst, Siegen: Museum für Gegenwartskunst Siegen 2014, S. 4 75 Vgl. M. Hartung: Modellfunktionen, S. 26 76 Ebd. 77 Walter Grasskamp: »Sentimentale Modelle. Architektur und Erinnerung«, in: Kunstforum International (Bd. 038, 1980) https://www.kunstforum.de/artikel/get-involved2/ (31.07.2018) 78 Stephan Berg: »Christian Haake«, in: Eva Schmidt/Stephanie Rupp (Hg.), Was Modelle können. Eine kleine Geschichte des Architekturmodells in der zeitgenössischen Kunst, Siegen: Museum für Gegenwartskunst Siegen 2014, S. 110-111, hier S. 110
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er seinem Modell einer mobilen Behausung durch leichte Proportionsverschiebungen eine Tendenz zur Niedlichkeit verleiht. Wie anhand der Arbeit von Laura Fabritz gezeigt wurde, können durch Abweichungen von einer maßstäblichen Verkleinerung aber auch Aspekte hervorgehoben oder das Phänomen der Maßstabsabhängigkeit der von Proportionen ausgehenden Wirkungen erkundet werden. Chancen für eine künstlerische Erkundung von Architektur bietet der verkleinerte Maßstab nicht zuletzt auch dadurch, dass eine Distanz zu realer Architektur geschaffen wird. Um in kunstdidaktischen Kontexten Architekturerfahrungen nachgehen zu können, eignen sich besonders Herangehensweisen, die zwischen Modell und Skulptur verortet werden können, da sie besondere Möglichkeiten bieten, um elementaren Fragestellungen nachzugehen. Neben dem Bau exakterer Modelle, die auf einer zeichnerischen Vorplanung und maßlichen Festlegungen basieren, können gerade auch Handlungsweisen, in denen sich Formen und Strukturen unmittelbar mit dem Material entwickeln, genutzt werden, wodurch die mit einer Prozesshaftigkeit skulpturalen Handelns verbundenen Chancen, die in Kapitel 5.2 vorgestellt wurden, eröffnet werden. Anders als im Modellbau eines engeren Begriffsverständnisses steht das Material hier nicht stellvertretend für ein anderes, sondern kann in Form-Material-Zusammenhänge einfließen und in Bezug auf die sich unter seiner Verwendung entwickelnden Wirkungen reflektiert werden. Ein Arbeiten zwischen Modell und Skulptur bietet so besondere Chancen, im Erleben der gebauten Umwelt erworbenes implizites Wissen in den Prozess einfließen zu lassen. Ein weiteres Beispiel einer Erkundung architektonischer Fragestellungen, die sich zwischen Modell und Skulptur verorten lässt, ist ein Projekt der Studentin Katharina Eden, das ebenfalls im Seminar Skulpturale Auseinandersetzungen mit der Architektur des Silos entsteht. Abb. 70: Katharina Eden, Ohne Titel, 2016
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Um den umgenutzten, mehrfach umgebauten und erweiterten Gesamtkomplex des freistehenden Silogebäudes in seiner Struktur zu erfassen und somit auch seine inneren räumlichen Beziehungen zu verstehen, erschließt Katharina Eden zunächst die Gebäudekubatur, indem sie sie aus verschiedenen Perspektiven zeichnet. Auf der Grundlage dieser Erkundung und eines Abgleichs mit seiner inneren räumlichen Struktur kann sie den sukzessiven Entstehungsprozess des Silogebäudes nachvollziehen und einzelne Gebäudeteile isolieren. Diese Elemente werden skaliert und vereinfacht, indem ihre Formen auf Quader unterschiedlicher Abmessungen reduziert werden. Aus Gips gegossen lassen sich die Einzelelemente zu einem vereinfachten Modell des Silos zusammensetzen. Gleichzeitig ermöglichen es die entstandenen Elemente aber auch, den Umbauprozess des Silos im Modell fortzuführen, indem sie sich neu kombinieren lassen. Diese Möglichkeit wird auch Betrachtenden eröffnet, die auf diese Weise zu einer eigenen Auseinandersetzung mit der Architektur des Silos und seiner Geschichte angeregt werden und an Aneignungsprozessen teilhaben können. Unterstützt wird ihre Partizipation durch die Einfachheit und handliche Größe der Gipsquader, durch die diese dazu auffordern, ihre Anordnung zu verändern. Übungen zwischen Skulptur und Modell Erkundungen im kleinen Maßstab können in skulpturalen Prozessen auch als Übungen einbezogen werden oder als Studien der Entwicklung einer Arbeit größeren Formats vorangestellt werden. Als Übungen können u.a. grundlegende architektonische Spannungsfelder (z.B. der Statik und Dynamik oder der Offenheit und Geschlossenheit, s. Kap. 5.4.6) erkundet werden, wodurch eine Wahrnehmungssensibilisierung für diese Aspekte im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt erreicht und Grundlagen für umfangreichere Projekte erworben werden können. Übungscharakter kann auch der Bau von Modellen annehmen, die einer Bestandsaufnahme von Räumen oder Gebäudekörpern dienen. Der Bau eines Gebäude- oder Raummodells erfordert ein Aufmaß, das eine genaue, erkundende Wahrnehmung motiviert. Werden analoge Messmethoden eingesetzt, ist dazu körperlicher Einsatz erforderlich, auf dessen Basis die Beziehung zwischen Räumen, ihren materiellen Begrenzungen sowie dem eigenen Körper erfahren werden kann. Besonders deutlich kann eine Inbezugsetzung von Raum- und eigenen Körpermaßen werden, wenn diese z.B. als Elle oder Fuß die Maßeinheit bilden. Dadurch, dass eine Vermessung von Räumen Bewegungen und Berührungen von Umgrenzungsflächen erfordert, werden multisensorische Wahrnehmungen einbezogen. Auf diese Weise kann ein Aufmaß dazu beitragen, Raumgrenzen als materielle Bedingung architektonischer Räume, die in der alltägli-
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chen Wahrnehmung wenig Aufmerksamkeit erhalten, in den Vordergrund zu rücken. Damit kann die reziproke Beziehung zwischen positiven und negativen Volumen erkennbar werden, die den in Kapitel 4 vorgestellten Überlegungen folgend eine wichtige Basis bildet, um Raum überhaupt als gestaltbar und damit plastisch wahrnehmen zu können. Durch die Bestandsaufnahme im Rahmen des Modellbaus wird so ein Bereich der gebauten Umwelt aus deren statischem Gesamtkontext herausgelöst, wird handhabbar und transformierbar und bietet somit besondere Chancen der Aneignung. Skulpturale Übungen können auch als dreidimensionale Skizzen für größere Arbeiten erstellt werden. Eine solche Möglichkeit nutzt z.B. Christina Kemper für ihre oben vorgestellte Arbeit, deren Form auf kleineren Papierfaltungen basiert. Verschiedene Falttechniken werden dabei erprobt und ihre Ergebnisse in Bezug auf entstehende Übergänge zwischen Innen und Außen reflektiert. Dazu bieten Studien, deren Format es erlaubt, sie in die Hand zu nehmen und aus allen Richtungen zu betrachten, in deren Drehen und Wenden aber auch unterschiedliche Licht- und Schattenwirkungen erkundet werden können, besondere Chancen. Die Möglichkeit räumliche Beziehungen in kleineren Studien zu erkunden, schätzt, wie in seiner folgenden Äußerung deutlich wird, auch der Bildhauer Felix Schramm: »Ich arbeite hauptsächlich mit Modellen, die ich erstelle, also mit dreidimensionalen Skizzen. Das hängt damit zusammen, dass die Arbeiten bei mir nie eine Hauptsichtachse haben, sondern es immer um ganz verschiedene Ansichtspunkte geht, die miteinander verwoben sind.«79 In Lehr- und Lernkontexten, in denen Zwischenergebnisse gemeinsam reflektiert werden, können Modelle und Studien, die der Erprobung von Wirkungen dienen, ähnlich wie in der architektonischen Praxis auch eine kommunikative Funktion übernehmen. Erprobt werden kann so, inwiefern die entstehenden Arbeiten nicht nur einen subjektiv wahrnehmbaren Bezug zu Erfahrungen der gebauten Umwelt aufweisen, sondern auch für Betrachtende entsprechende Anknüpfungspunkte bieten. Besondere Möglichkeiten bieten Studien, die in einem kleinen Maßstab erstellt werden, auch insofern, als in ihrer Entwicklung Materialien genutzt werden können, die sich einfach verformen lassen, sich aber für größere Arbeiten aufgrund ihrer dort zum Tragen kommenden Instabilität nicht eignen. So kann z.B. das Papier, das Christina Kemper für ihre Studien verwendet, sehr einfach gebogen und gefaltet werden, eignet sich dagegen nicht für die spätere Umsetzung der in diesen Studien entwickelten Form. Ein weiteres Material, das sich besonders gut für Studien anbietet, ist Ton, aus dem in einem kleinen Maßstab stabile
79 Stephan Berg zitiert nach Felix Schramm: »final_interview mit stephan berg«, hier S. 3
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Formen hergestellt werden können, dessen plastische Eigenschaften aber bei der Arbeit in einem größeren Maßstab zu statischen Problemen führen können. Dadurch, dass für Studien leicht verformbare Materialien genutzt werden können, kann der Erkundungsprozess sehr dynamisch werden: Veränderungsmöglichkeiten, die erkannt werden, lassen sich unmittelbar erproben, aber auch revidieren, sodass eine intensive Auseinandersetzung mit den entstehenden Wirkungen ebenso ermöglicht wird wie eine dynamische Interaktion mit dem Material. Architekturerkundungen im architektonischen Maßstab: Installation und Intervention Neben den bisher vorgestellten Herangehensweisen, in denen in einem kleineren Maßstab gearbeitet wird, bieten auch Erkundungen im architektonischen Maßstab, die zwischen Installation und Intervention verortet werden können, besondere Chancen. Im Seminar Sculpture about architecture setzt sich die Studentin Anna Kaup im Rahmen einer Exkursion zur Wuppertaler Cragg-Foundation mit der Architektur der dortigen Villa Waldfrieden auseinander. Von dem Architekten Franz Krause zwischen 1947 und 1950 geplant, ist dieses Gebäude ein Beispiel organischer Architektur der Moderne, für deren anthroposophische Hintergründe sich die ehemalige Waldorfschülerin interessiert. Die nach innen und außen schwingenden Wände, die die äußere Gestalt des Gebäudes kennzeichnen, korrespondieren mit organisch geformten Innenräumen, in denen Ecken und Kanten weitgehend vermieden werden. Um den unter anderem von Hugo Häring zu Beginn des 20. Jahrhunderts angestellten Überlegungen zu positiven Wirkungen organisch geformter baulicher Strukturen nachzugehen, plant die Studentin zunächst, eine zwei Meter hohe, freistehende und somit mobile gebogene Wand herzustellen, die ein körperliches Gegenüber der Betrachtenden bildet. Damit diese einen Bezug zu ihrer, durch rechte Winkel, horizontale und vertikale Ecken und Kanten gekennzeichneten gebauten Umwelt herstellen können, entscheidet sie sich im weiteren Prozess jedoch dazu, eine bestehende Raumecke im Silogebäude zu überformen. Um diese Ecke abzurunden, setzt sie eine gebogene Gipskartonplatte davor. Deren regelmäßige und somit noch geometrisch wirkende Biegung wird durch das Aufbringen von Gips weiter ausdifferenziert, sodass schließlich eine organische Form entsteht, deren Oberfläche sowie horizontale und vertikale Übergänge so ausgebildet werden, dass fließende Verbindungen zu den seitlich begrenzenden, vorhandenen Wandbereichen entstehen. Durch diese Anpassung wird der neue, nun mehrfache vertikale Wellen bildende Wandbereich als solcher beim Betreten des Raumes nicht bewusst wahrgenommen, bewirkt allerdings eine zunächst auf einer unbewussten Ebene einsetzende Irritation. Als möglicher Hintergrund dieser Irritation kommt zum einen die Abwei-
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chung von gewohnten baulichen Strukturen in Frage, mit Wolfgang Meisenheimer kann darüber hinaus aber auch überlegt werden, dass die in der Wahrnehmung des Raumes zunächst erwartete, von der Raumecke gebildete vertikale Linie eine wichtige Orientierung für die eigene vertikale Verortung im Raum bildet80, die von Betrachtenden in ihrer peripheren Wahrnehmung des Raumes unbewusst gesucht, jedoch nicht gefunden wird. Erst wenn den Hintergründen dieser Irritation nachgegangen wird, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die organisch geformte Raumecke, deren Abweichung vom architektonisch Gewohnten erkannt und deren Wirkung reflektiert werden kann. Auf diese Weise kann zum einen die Wahrnehmung auf die beiläufige Wahrnehmung des Raumes gelenkt, zum anderen ein Nachdenken über eigene Erwartungen und Bedürfnisse im Umgang mit architektonischen Räumen in Gang gesetzt werden.
Abbildung 71: Anna Kaup, Ohne Titel, 2017 Aufgrund der Verbindung, die die Arbeit von Anna Kaup mit dem Raum eingeht, kann sie als Installation erkannt werden. Dieser Begriff, den Dan Flavin in den 1960er Jahren einem architektonischen Kontext entlehnt, bezeichnet »alle Phänomene auf den Raum bezogener künstlerischer Arbeiten, die auf sehr explizite Weise den Betrachterraum mit einbeziehen«81. Im Zusammenhang mit seit den 1960er Jahren für die künstlerische Produktion zunehmend relevant werdenden kontextuellen Bezügen, die selbst zum Thema vieler Arbeiten werden kön-
80 Vgl. W. Meisenheimer, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, S. 27 81 Johannes Stahl: »Installation«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 123-126, hier S. 124
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nen82, bilden Installationen aus der Sicht Johannes Stahls einerseits eine »selbstverständliche eigene Gattung«83, sind jedoch andererseits aufgrund ihrer Multimedialität »außerhalb der klassischen Gattungen«84 zu verorten und überschneiden sich insbesondere mit vielen skulpturalen Positionen der zeitgenössischen Kunst aufgrund deren oft umfassender Referenzialität und Ortsspezifität. Die sich hier andeutende Unmöglichkeit einer Gattungsdefinition erkennt auch Juliane Rebentisch. Aus ihrer Perspektive ist es jedoch für installative Arbeiten bzw. für in der Gegenwartskunst ubiquitäre installative Tendenzen kennzeichnend, »in besonders expliziter Weise gegen einen Objektivismus anzuarbeiten«85, d.h. in hohem Maße betrachtungsabhängig zu sein. Sowohl durch eine Untrennbarkeit von Installationen und architektonischen Räumen oder Situationen, die mit einer impliziten oder expliziten Bezugnahme korrespondiert, als auch dadurch, dass Installationen aufgrund ihrer Betrachtungsabhängigkeit als Angebote erstellt werden können, um Übergänge und Zusammenhänge von ästhetischen Erfahrungen und Architekturerfahrungen erkennbar werden zu lassen, bietet installatives Arbeiten besondere Chancen, um architektonische Räume in ihren Wirkungen auf Stimmungen, Befindlichkeiten und Nutzungsweisen zu erkunden. Wie Benno Hinkes überlegt, sind solche Erkundungsmöglichkeiten des Architektonischen dann in besonders umfassender Weise gegeben, wenn der Bezug zu architektonischen Räumen selbst thematisch wird. Künstlerische Arbeiten, die den Bezug zur Architektur »nicht allein als Darstellungsmittel, sondern auch als Untersuchungsmittel«86 nutzen, bezeichnet Hinkes als »orts- und architekturbezogene Installationen«87. Im Unterschied zu Installationen eines allgemeineren Verständnisses lassen sich Arbeiten dieser spezifischen Form der Installation gemäß Hinkes Definition »gezielt auf einen Ort oder eine Architektur ein«88 und vermögen so,
82 Vgl. Michael Archer: »Towards Installation«, in: Nicolas de Oliveira/Nicola Ocley/Michael Petry (Hg.), Installation Art. with Texts by Michael Archer, S. 10-31, hier S. 13 83 J. Stahl: »Installation«, S. 123 84 Ebd., S. 125 85 Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation (= Edition Suhrkamp, Band 2318), Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014, S. 15 86 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 247 87 Ebd. 88 Ebd., S. 253
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»Orte zu thematisieren, während sie zugleich selbst Orte ausbilden. Dabei bedienen sie sich nicht selten eben jener Mittel, die auch an den Orten zu finden sind, auf welche sie Bezug nehmen: So etwa des Einsatzes realer Gegenstände (Tische, Stühle, Lampen etc.), baulicher Mittel (Wände, Treppen, Türen etc.), originaler Materialien (Holz, Beton, Tapeten etc.) oder gar authentisch wirkender Klangkulissen und Lichtverhältnisse.«89
Eine konkrete Bezugnahme auf architektonische Kontexte, die nicht nur materiell-räumlich, sondern auch kulturell, d.h. sozial, geschichtlich und institutionell bestimmt sind, geht oft mit einer Ortsspezifität einher, also damit, dass die Arbeit »mit der Entfernung aus ihrem angestammten Umraum aufgehoben werden«90 würde. »Eine Installation kann aber auch eine eher skulpturale Position einnehmen und somit transportierbar sei. Zum jeweilig umgebenden Raum nimmt sie auch dann einen stets von diesem abhängigen Standpunkt ein.«91 Gerade im Kontext eines hier von Johannes Stahl vorgestellten Arbeitens zwischen Skulptur und Installation wird eine Untrennbarkeit von künstlerischen und kuratorischen Überlegungen deutlich, die zeitgenössische Kunst in ihrer Kontextbezogenheit allgemein betreffen kann, für Installationen aber besonders kennzeichnend ist. Um in Lehr- und Lernkontexten das eigene Erleben der gebauten Umwelt zu erkunden, den Arten und Weisen nachzugehen, wie materielle architektonische Strukturen sich auf eigene Stimmungen und Befindlichkeiten auswirken, Handlungsweisen und Formen sozialer Interaktion begünstigen oder erschweren, bieten installative Herangehensweisen vielfältige Möglichkeiten. Die vorgestellte Arbeit von Anna Kaup nähert sich hierzu der von Benno Hinkes als besonders geeignet betrachteten Form einer »orts- und architekturbezogenen Installation«,92 indem sie sich unmittelbar an die reale Architektur bindet und somit deren Maßstäblichkeit annimmt, deren materielle und konstruktive Möglichkeiten verwendet und auf der Basis einer Transformation der gewohnten Gegebenheiten die Aufmerksamkeit der Betrachtenden auf die eigene Architekturwahrnehmung lenkt. Auf diese Weise richtet sich der künstlerische Prozess auf die Eröffnung von Einlassstellen, die es Betrachtenden ermöglichen, dem eigenen Bezug zur gebauten Umwelt nachzugehen, was wiederum eine entsprechende Auseinandersetzung mit Architekturerfahrungen in der Produktion voraussetzt. Ein besonderer Vorteil installativen Arbeitens, der hier zum Tragen kommt, basiert auf den
89 Ebd. 90 J. Stahl: Installation, S. 125 91 Ebd. 92 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 247
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Überschneidungen der Wahrnehmung von Installation und Architektur: Beide werden »aktiv und sukzessive, Schritt für Schritt, multisensorisch erfahren«93. Letzteres insofern, als »akustische, haptische, geruchsspezifische, visuelle und zeitliche Erlebniselemente und ihre Wechselwirkungen untereinander […] die Wirkungsästhetik«94 von Installationen und Architektur gleichermaßen bestimmen. Mit den weitgehenden Überschneidungen der Wahrnehmung von Installationen und denen der architektonischen Räume, mit denen sie zu einer Einheit verschmelzen, kann allerdings, wie in Kapitel 3.1.2 anhand von Rirkrit Tiravanijas Installation Untitled (Tomorrow is another day) überlegt wurde, einhergehen, dass sich der Fokus einer installativen Erkundung von Architekturerfahrungen auf die Ausgestaltung von Räumen richtet und sich damit eher innenarchitektonischen oder szenografischen Aspekten zuwendet. Eine solche Ausrichtung kann in Abhängigkeit von der Fragestellung, die der installativen Erkundung von Architekturerfahrungen zugrunde liegt, sinnvoll sein, allerdings können die Zusammenhänge zwischen baulichen Strukturen und ihren Wirkungen hier sowohl in der produktiven Auseinandersetzung als auch in Bezug auf die in ihrem Kontext antizipierten Rezeptionsmöglichkeiten in den Hintergrund treten. Betrachtet man es, den diesbezüglichen Überlegungen in Kap. 4 folgend, als besonderes Potenzial skulpturaler Erkundungen von Architektur, dass Zusammenhänge zwischen architektonischen Strukturen in ihrer Materialität und den räumlichen Erfahrungen, die in ihrem Kontext gemacht werden, erkennbar werden, bieten sich daher thematische Eingrenzungen an. Ebenso wie in Bezug auf skulpturale und modellhafte Erkundungen des Architektonischen vorgeschlagen wurde, können hierzu grundlegende Spannungsfelder des Architektonischen betreffende Fragestellungen, die in Kap. 5.4.6 vorgestellt werden, geeignet sein. Um eine Erkundung von Räumen in ihrer materiellen Bedingtheit zu initiieren, bieten sich darüber hinaus Formen der architektonischen Intervention an, bei denen, wie in der vorgestellten Arbeit von Anna Kaup, die architektonischen Gegebenheiten als Material in den installativen Prozess einbezogen werden. Wie Susanne Titz unter zentraler Bezugnahme auf Gordon Matta-Clarks Conical Intersect darstellt, ziehen architektonische Interventionen »ihre Stärke aus der Relation zum Vorgefundenen und operieren hierbei – gerade bei temporären Eingriffen – mit der Realzeit.«95 Während die Strategien, die Matta-Clark in der Werkgruppe der Cuttings oder auch in Window Blow-out (1976) nutzt und deren
93 Ebd., S. 256 94 J. Stahl: Installation, S. 125 95 S. Titz, Architektonische Intervention, S. 22
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kritische Bezugnahme auf architektonische Entwicklungen mit einer Zerstörung baulicher Substanz einhergeht, nur unter besonderen Bedingungen umgesetzt werden können, sind temporäre Interventionen, in deren Kontext vorgefundene architektonische Strukturen durch Hinzufügen von Material reversibel verändert werden, auch in Lehr- und Lernkontexten realisierbar. Interessante Strategien einer subarchitektonischen Unterwanderung gebauter Umwelten, die sich einem eigenen gestaltenden Zugriff zu entziehen und damit eine Teilhabe zurückzuweisen scheinen, können bei Charles Simonds erkannt werden. Im Rahmen seiner Werkgruppe der Dwellings erstellt er ab den 1970er Jahren Gebäudemodellen aus Miniaturziegelsteinen, die er in Mauerlöchern, Nischen oder auf Fensterbänken errichtet.96 Abbildung 72: Charles Simonds, Dwelling, Dublin 1980
Wie die Position Simonds’ zeigt, können architektonische Interventionen im Sinne einer wörtlichen Übersetzung als Dazwischen-Kommen begriffen, Chancen bieten, um Risse, Lücken und Unterbrechungen in baulichen Strukturen als 96 Wie Walter Grasskamp darstellt, »sind seine Aktionen auf Stadteile hin konzipiert worden, die nicht ein bildungsbürgerliches Kunstpublikum an seine Objekte heranführen, sondern die Bewohner von Slums und Sanierungsgebieten, die sich in der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk und dem Künstler über ihre eigene architektonische Situation klar werden können. Es kümmert Simonds wenig, daß diese Auseinandersetzung auch aggressiv ist: wenn seine Modelle über Nacht zerstört werden, heißt das nicht, daß die Täter nicht wenige Tage später unter seiner Anleitung selbst Modelle in die Wände spachteln: der Prozeß der Auseinandersetzung ist ihm wichtiger als das Modell, das nur Auslöser, nicht Fetisch sein soll.« W. Grasskamp: Sentimentale Modelle
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Ansatzpunkte für eine Aneignung gebauter Umwelten zu erschließen, die in der alltäglichen Wahrnehmung als in sich geschlossen wahrgenommenen werden. Dabei werden Möglichkeiten der Teilhabe und Aneignung des gebauten Raums auch explizit thematisch und somit reflexiv, wenn es in der Produktion darum geht, Anhaltspunkte zu schaffen, anhand derer Betrachtende ebenfalls darin unterstützt werden, ihr beiläufiges Wahrnehmen des urbanen Raums zu unterbrechen, ihm nachzugehen und eigene Aneignungsstrategien zu entwickeln. Dadurch, dass architektonische Interventionen gerade auch in Lehr- und Lernkontexten nicht als bleibender Eingriff gedacht werden können, richtet sich ein besonderes Augenmerk auf den Prozess der Konzeption und Erstellung, wodurch eine Untrennbarkeit von Rezeption und Produktion unterstützt wird. Die Temporalität architektonischer Interventionen kann darüber hinaus aber auch zu einer Dynamisierung einer sonst vorwiegend als statisch wahrgenommenen gebauten Umwelt beitragen. Wie u.a. anhand von Gordon Matta-Clarks Cuttings, Simonds Dwellings oder auch zeitgenössischen Arbeiten wie denen Tadashi Kawamatas erkannt werden kann, bezieht diese Form der skulpturalen Auseinandersetzung mit Architektur unmittelbar und auf einer der Reflexion zugänglichen Ebene architektur-, urbanismus- und damit gesellschaftskritische Fragestellungen ein. Eine solche Verbindung der physisch erfahrbaren Arbeiten und sich aufgrund ihrer Rezeptionsoffenheit bietender analytischer Erkenntnismöglichkeiten spiegelt sich in folgender Äußerung Gordon Matta-Clarks: »Wenn ich ein Gebäude öffne, richtet sich diese Geste gegen soziale Vorgänge. […] Es entsteht eine besondere Komplexität, wenn man eine vollkommen normale, vertraute und anonyme Situation nimmt; man definiert sie neu und übersetzt sie in einander überlappende, vielfache Lesarten von Bedingungen in Vergangenheit und Gegenwart.«97
Installationen ohne spezifischen Ortsbezug Weitere Möglichkeiten, um Architekturerfahrungen in einem Maßstab zu erkunden, der insofern einem architektonischen entspricht, als entstehende räumliche Objekte den Körper der Betrachtenden umgeben können, nutzt die Studentin Isabel Rösler in ihrem ebenfalls im Seminar Sculpture about architecture – Spannungsfelder des Architektonischen skulptural erkunden entwickelten Projekt.
97 Gordon Matta-Clark, zitiert nach S. Titz: Architektonische Intervention, S. 21
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Abbildung 73 und 74: Isabel Rösler, Ohne Titel, 2017
Auf der Basis ihres Interesses an der Offenheit und Geschlossenheit von Gebäuden und ihrer Erfahrungen mit der beengenden Wirkung, die schmale Flure auf sie ausüben, entwickelt sie eine skulpturale Versuchsanordnung, um diesbezüglichen Fragestellungen nachzugehen. Hierzu baut sie Rahmen aus einfachen Dachlatten in zwei verschiedenen Abmessungen (0,60 m bzw. 0,80 m x 2,20 m), die sie mit Frischhaltefolie umwickelt. Durch unterschiedliche Anzahlen von Folienschichten variiert sie die Transparenz der so innerhalb der Rahmen gebildeten Flächen. Die Elemente setzt Isabel Rösler unter Wahrung rechter Winkel so zusammen, dass ein vierfach gewinkelter Gang entsteht. Durch diese Form sind am Eingang des Ganges sein Ausgang, im seinem Inneren streckenweise Eingang und Ausgang nicht sichtbar. Je nach Transparenz der einzelnen Flächen und der Anzahl der Flächen, die hintereinander angeordnet wahrgenommen werden, können der Verlauf des Ganges sowie der umgebende Raum teils deutlicher, teils nur schemenhaft wahrgenommen werden. Im Prozess des Bauens orientiert sich Isabel Rösler an den Wirkungen, die die von ihr geschaffenen räumlichen Situationen auf sie haben und versucht so den Punkt auszuloten, an dem die Verbindung von Undurchsichtigkeit der Umgrenzungsflächen und räumlicher Form für sie ein Gefühl der Beengung bewirkt. Gleichzeitig richtet sich die begehbare Arbeit an Betrachtende, die ebenfalls herausfinden können, ob und an welchen Stellen des Ganges sich für sie das Gefühl entwickelt, in einem geschlossenen Raum zu sein, wann und wo auch sie möglicherweise Anklänge klaustrophobischer Gefühle entwickeln. Dadurch, dass die Umgebung durch die semitransparenten Flächen sichtbar bleibt, dabei jedoch unscharf wird, steht die Arbeit von Isabel Rösler in einem Bezug gegenseitiger Beeinflussung zu ihrer räumlichen Umgebung. Allerdings
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ist sie insofern nicht ortsspezifisch, als sie in unterschiedlichen räumlichen Kontexten (gezeigt wurde die Arbeit innerhalb und außerhalb des Kunstsilos) aufgebaut werden kann. Für ein von Isabel Rösler gewähltes Vorgehen, bei dem architektonischen Maßstäben entsprechende Räume ohne einen spezifischen Ortsbezug erstellt werden, finden sich in der Kunst u.a. bei Andrea Zittel, die sich anhand von Arbeiten wie den A-Z Escape Vehicles (Abb. 25) mit der »Grauzone zwischen Freiheit (die sich zuweilen als zu unbegrenzt und unermeßlich anfühlen kann) und Sicherheit (aus der im Nu Einschränkung werden kann)«98 beschäftigt. In der Auseinandersetzung mit ihren Living Units (1992) interessiert sie sich für die Beziehung zwischen Strukturiertheit der baulichen Umgebung und strukturierter Lebensweise, einem Zusammenhang, der auch Absalons Auseinandersetzungen mit den von ihm entwickelten Cellules (Abb. 27) motiviert, die funktionalistische Ideen der Moderne prägnant veranschaulichen, aber auch problematisieren99. Intervention als mobile Raumerkundung Ebenso wie Arbeiten zwischen Modell und Skulptur können auch installative Vorgehensweisen im Kontext skulpturaler Erkundungsprojekte als Übungen eingesetzt werden. Dazu eignen sich insbesondere kurzfristige Interventionen in die gebaute Umwelt, die es, wie Johanna Schwarz überlegt, ermöglichen, mit »kostengünstigen, mobilen, in allen Räumen anwendbaren Materialien den Raum zu erkunden und mit künstlerischen Mitteln zu gestalten«100. Mit einfachen Mitteln wie »beispielsweise Tape, Schnur, vorhandene[m] Mobiliar, Kreide, Stoffe[n], Zollstock, Folie, Pappe«101 können reversible Veränderungen architektonischer Räume vorgenommen werden, wodurch eine Erkundung von Zusammenhängen zwischen materiellen Strukturen und räumlichen Wirkungen möglich wird.
98
Andrea Zittel, zitiert nach Theodora Vischer: Andrea Zittel. Units of Freedom. Kunstforum International Bd. 137, 1997, https://kunstforum.de/intern/artikel.aspx? a=137060
99
Vgl. Michael Hübl: »Es gibt keine Häuser, nur Passagen. Von den ›Shelter Drawings‹ zu den ›A-Z Cellular Compartment Units‹«, in: Kunstforum International (Bd. 182, 2006), S. 102, hier S. 102
100 Johanna Schwarz: »Einfach im Raum – Ein Fach im Raum«, in: Sara Hornäk (Hg.), Skulptur lehren. Künstlerische, kunstwissenschaftliche und kunstpädagogische Perspektiven auf Skulptur im erweiterten Feld, Paderborn: Fink, Wilhelm 2018, S. 123-134, hier S. 125 101 Ebd.
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Im Seminar Skulpturale Auseinandersetzungen mit der Architektur des Silos wird hierzu die Aufgabe gestellt, die Räume des Silos in Bezug auf die Frage zu erkunden, welche Handlungsmöglichkeiten durch bauliche Gegebenheiten unterstützt werden. Anschließend soll eine Transformation einer baulichen Situation vorgenommen werden, durch die sich die wahrgenommenen Handlungsoptionen verändern. Ein besonderes Interesse der Studierenden richtet sich auf die labyrinthischen Verkehrswege des Silogebäudes. Eine der Interventionen besteht darin, dass Klebebänder über die Vorderkanten der Stufen einer der vielen Treppen geklebt werden. Hierdurch entstehen anstelle der waagerechten und senkrechten Tritt- und Setzstufen versetzt angeordnete schräge Flächen, wobei ebenfalls versetzt angeordnete schmale Bereiche der Stufen frei bleiben. Auf diese Weise wird ein Begehen der Treppe zum einen real erschwert, zum anderen aber der sicheren und statischen Wirkung der Treppe durch eine Dynamisierung entgegengewirkt, wodurch bereits in der Betrachtung ein Gefühl der Destabilisierung ausgelöst wird. Abbildung 75: Ergebnis einer Übung im Seminar Skulpturale Auseinandersetzung mit der Architektur des Silos
Weitere Fragen, zu deren Erkundung sich architektonische Interventionen, die wie hier Übungscharakter haben, eignen, können sich z.B. auf Zusammenhänge zwischen baulichen Strukturen und den durch sie begünstigten Stimmungen und Befindlichkeiten oder auf die atmosphärischen Wirkungen, die von Räumen ausgehen, richten. Die materielle und zeitliche Beschränkung solcher und ähnlicher Übungen hat zum einen den pragmatischen Vorteil einer einfachen Umsetzbarkeit, die es
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ermöglicht, den »organisatorischen, finanziellen und räumlichen Schwierigkeiten, die sowohl in Schulen als auch in Hochschulen im Bereich des dreidimensionalen Arbeitens auftreten, zu begegnen«102. Gleichzeitig ist dieser Beschränkung aber auch ein pädagogisches Potenzial immanent: Indem vor ihrem Hintergrund deutlich wird, dass durch minimale Modifikationen und mit einfachen Mitteln räumliche Wirkungen verändert werden können, werden Gestaltungsmöglichkeiten der gebauten Umwelt auf eine praktikable Ebene gebracht, Risse in einer sonst als geschlossen wahrgenommenen urbanen Oberfläche werden als Ansatzpunkte für eine mitgestaltende Teilhabe erschlossen. Eine Erkundung, die sich ganz gezielt diesen Rissen zuwendet, wird im Seminar Skulpturale Erkundungen der gebauten Umwelt gemeinsam mit Studierenden des Faches Kunst an der Universität Siegen erarbeitet und im Kontext des Projekts BieleFELD103 mit Schülerinnen und Schülern einer Bielefelder Realschule umgesetzt. Hierzu wird das Interesse der Schülerinnen und Schüler auf Risse, Löcher und Bruchstellen in der Textur des Urbanen gelenkt, indem eine Parallele zu eigenen körperlichen Verletzungen hergestellt wird. Die skulpturale Auseinandersetzung mit den gefundenen Rissen besteht vor dem Hintergrund dieser Parallele darin, sie als urbane Verletzungen zu behandeln. Genutzt wird dazu ein Urban Aid Kit. Es umfasst Materialien, mit denen die Risse ausgefüllt, überklebt, mit Pflastern versehen, verklammert etc. werden können. Indem bauliche Schäden mit körperlichen Verletzungen in Verbindung gebracht werden, wird für das körperliche Erleben als Grundlage des Erlebens der gebauten Umwelt sensibilisiert. Dadurch, dass auf der Suche nach Rissen und Löchern, abgeplatztem Putz oder bröckelnden Fugen die baukörperlichen Begrenzungen des städtischen Raumes in den Blick genommen werden, wird darüber hinaus die Aufmerksamkeit auf die Materialität der gebauten Umwelt gelenkt. Die Vergänglichkeit und Veränderbarkeit baulicher Strukturen kann, wie ein anschließendes Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern zeigt, auf diese Weise reflektiert werden. Reflexionsmöglichkeiten basieren auch auf Irritationsmomenten, die durch das ungewohnte Eingreifen in die materiellen Strukturen der gebauten Umwelt entstehen. Wem gehört hier was? Was darf ich? Wer schaut? Indem die Schülerinnen und Schüler auf der Basis dieser und ähnlicher
102 Ebd., S. 124 103 Das Projekt BieleFELD ist eine Kooperation von Doktorandinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen der Universitäten Paderborn, Bielefeld und Siegen sowie der Kunsthalle Bielefeld, das Juli 2018 als Pilotprojekt initiiert und gemeinsam mit Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern Bielefelder Schulen umgesetzt wird.
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Fragen über Mitgestaltungsmöglichkeiten des urbanen Raums nachdenken, werden Aneignungsprozesse in Gang gesetzt. Chancen bieten einfache architektonische Interventionen auch auf einer rezeptiven Ebene. Werden ihre Ergebnisse in einem sich an die Übung anschließenden Rundgang gemeinsam betrachtet, können sie, entsprechend der situationistischen Strategie des détournement Irritationen gewohnter Wahrnehmungsweisen bewirken, durch die eine Auseinandersetzung mit der eigenen Beziehung zur gebauten Umwelt ausgelöst werden kann (s. auch Kap. 5.4.3). Bewirkt z.B. der Anblick der vorgestellten, durch Klebebänder modifizierten Treppe in der Betrachtung ein Gefühl der Verunsicherung, das bei dem Versuch, die Treppe zu begehen, durch die Schwierigkeit, das Gleichgewicht zu halten, auf einer körperlichen Ebene verstärkt wird, rückt das im täglichen Umgang in Treppen gesetzte Vertrauen in den Fragehorizont. Im Austausch über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweils subjektiven Wahrnehmungen werden darüber hinaus Grundlagen für ein Erkennen der sozialen Relevanz architektonischer Gestaltungen gelegt. Interventionen, deren Temporalität ein unmittelbares Agieren im urbanen Raum ermöglicht, sind auch insofern von pädagogischer Relevanz, als sie besondere Chancen der Aneignung gebauter Umwelten eröffnen. Aufgegriffen werden können in ihrem Kontext z.B. Strategien des Urban Hacking oder Tactical Urbanism, anhand derer die Frage nach individuellen und gemeinschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten öffentlicher Räume in den Fokus gerückt werden kann. 5.4.2 Rezeptive Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten Wenngleich skulpturales Handeln einen besonderen Schwerpunkt auf produktive Herangehensweisen legt, sind Auseinandersetzungen mit künstlerischen Positionen in seinem Kontext von besonderer Bedeutung. Wie Sara Hornäk anhand eines universitären Lehrprojekts zeigt, können sie das eigene skulpturale Handeln unterstützen, indem sie »zeigen, auf welch vielfältige Weise ein Themenkomplex plastisch, skulptural und installativ erarbeitet werden kann«104. Die Herstellung von Verbindungen zwischen der Rezeption künstlerischer Arbeiten und der
104 Sara Hornäk: »2nd Nature Kunstpädagogik zwischen Kunstpraxis und Kunstwissenschaft«, in: Carl-Peter Buschkühle (Hg.), Künstlerische Kunstpädagogik. Ein Diskurs zur künstlerischen Bildung, Oberhausen: ATHENA-Verlag 2012, S. 437446, hier S. 441
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eigenen skulpturalen Produktion sei dabei allerdings weniger als linearer Prozess vorzustellen, an dessen Anfang die Auseinandersetzung mit einer skulpturalen Arbeit steht. Vielmehr könne die Beschäftigung mit verschiedenen künstlerischen Positionen das eigene skulpturale Arbeiten begleiten, indem sie »zu Beginn als Impuls, zwischendurch als Erweiterung, zum Ende hin als Dialogpartner«105 eingesetzt werde. Ein solcher, flexibler und individualisierter Einbezug künstlerischer Arbeiten ist hinsichtlich der Frage zu reflektieren, inwiefern er die Entwicklung und Ausdifferenzierung eigenständiger skulpturaler Fragestellungen und Strategien zu unterstützen vermag. Ziel ist es nicht, mimetische Handlungsweisen zu begünstigen, sondern »die eigene Arbeit zu kontextualisieren, Bezüge herstellen zu können und damit die eigenen Konzepte kritisch reflektieren und weiterentwickeln zu können«106. Im Kontext skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt kommt der rezeptiven Auseinandersetzung mit künstlerischen Arbeiten, die sich explizit oder implizit mit architektonischen Fragestellungen befassen, eine große Bedeutung zu. Grund hierfür ist das bereits vorgestellte Problem, dass die gebaute Umwelt als das paradigmatische Gewohnte und die den Umgang mit ihr wesentlich mitbestimmenden Formen des beiläufigen Wahrnehmens im täglichen Erleben kaum Aufmerksamkeit erlangen, sodass in Lehr- und Lernkontexten zunächst wenig Anknüpfungspunkte für Auseinandersetzungen mit der gebauten Umwelt gefunden werden können. Wird eine künstlerische Arbeit wie The Tired Room betrachtet oder eine unmittelbare Begegnung mit Skulpturen und Installationen ermöglicht, die gewohnte Architekturerfahrungen aufgreifen und ins Erlebnishafte steigern, die vertraute architektonische Strukturen uneindeutig und damit un-heimlich werden lassen, die aufgrund ihrer besonderen Präsenz und Prägnanz ein Aufmerken für die eigenen Wahrnehmungen und Umgangsweisen mit Architektur bewirken, kann dies eine Initialzündung sein, um das Erleben der gebauten Umwelt in den Fragehorizont zu rücken. Um von dieser Ausgangsbasis zu eigenen skulpturalen Problemstellungen zu gelangen, ist es wichtig, die künstlerischen Arbeiten in Bezug auf die in ihrer Rezeption aufgerufenen Architekturerfahrungen zu reflektieren. Auf diese Weise kann über Fragestellungen nachgedacht werden, die dem skulpturalen Prozess zugrunde liegen können und von denen ausgehend sich ein umfassendes Erkundungsfeld erschließen lässt. So kann in der Betrachtung von The Tired Room eine Reflexion der Frage, inwiefern der Raum müde wirkt und wodurch dieser Eindruck entsteht, die Basis bilden, um zu überlegen, welche unterschiedlichen Wirkungen von räumlichen Si-
105 Ebd. 106 Ebd.
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tuationen ausgehen können. Anders als zuvor existiert jetzt eine Frage, die an die gebaute Umwelt zunächst bewusst gestellt werden kann, die dann aber auch bewirken kann, dass ein Aufmerken für räumliche Wirkungen innerhalb des beiläufigen Umgangs-Wahrnehmens möglich wird. Ein eigenes Interesse für eine bestimmte räumliche Situation kann so geweckt werden, deren bauliche Hintergründe skulptural erforscht werden können. Heinrich Wölfflins Frage, »Wie es möglich ist, dass architektonische Formen Ausdruck eines Seelischen, einer Stimmung sein können?«107, gelangt so in den eigenen Fragehorizont und kann unter individuellen Schwerpunktsetzungen und unter Einbezug verschiedener skulpturaler Strategien und Techniken erkundet werden. Im Kontext dieser praktischen Erkundungen können rezeptive Auseinandersetzungen mit weiteren künstlerischen Arbeiten zusätzliche Impulse geben oder auch Strategien aufzeigen, wie bestimmte Aspekte vertiefend betrachtet werden können. Eine Beschäftigung mit der Frage, auf welche Weise sich Skulpturen in unterschiedlichen zeitlichen Kontexten mit räumlichen Wirkungen auseinandergesetzt haben und inwiefern ein hier erkennbar werdendes zeitspezifisches Interesse mit architektonischen Entwicklungen korrespondiert, ermöglicht Einblicke in die Historizität und Kulturalität von Architektur und Skulptur sowie des zwischen beiden Bereichen bestehenden Verhältnisses, von denen ausgehend zum einen eine Kontextualisierung der eigenen Fragestellung möglich wird, die zum anderen aber auch eine Basis bilden, um über die soziale Relevanz von Skulptur und Architektur nachdenken zu können. Skulpturales Handeln als Unterstützung der Rezeption Auseinandersetzungen mit künstlerischen Arbeiten stellen somit ein wichtiges Element skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt dar. Umgekehrt wird aber auch die Rezeption von künstlerischen Arbeiten durch skulpturales Handeln unterstützt. Von besonderer Bedeutung ist dies, wie im Folgenden gezeigt wird, gerade im Kontext der Rezeption von Skulpturen und Installationen, die sich mit architektonischen Fragestellungen auseinandersetzen. Wie in Kapitel 2 grundlegend überlegt und in Kapitel 3 anhand verschiedener skulpturaler Arbeiten gezeigt wurde, können Skulpturen, die architektonische Fragestellungen aufgreifen, ästhetische Erfahrungsprozesse auslösen, innerhalb derer Erfahrungen der gebauten Umwelt, die Betrachtende gesammelt haben, eine Rolle spielen, und eröffnen so Chancen, die diesen Erfahrungen zugrundeliegenden Wahrnehmungen und Wahrnehmungsweisen der gebauten Umwelt zu reflektieren, zu hinterfragen oder zu erweitern. Allerdings ist ein Zu-
107 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 7
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standekommen solcher ästhetischer Erfahrungsprozesse nicht voraussetzungslos, sondern erfordert rezeptive Fähigkeiten und die Bereitschaft, sich mit einer Skulptur auseinanderzusetzen. Aufgrund verschiedener Rezeptionshindernisse kann letztere gerade in der Betrachtung von Skulpturen, die sich mit architektonischen Fragestellungen auseinandersetzen, fehlen. Ein Grund hierfür ist, dass diese Arbeiten in der Regel in keinem abbildenden Verhältnis zur Wirklichkeit stehen, sondern meist wie Gebäude nichts anderes darstellen als sich selbst, sodass ein Ikonizitätsgrad als mögliches Kriterium, das einem traditionelleren Kunstverständnis entsprechend ihren Kunststatus anzeigen könnte, als Auslöser einer Auseinandersetzung entfällt. Auch in der Betrachtung von Skulpturen, die einen Werkcharakter gezielt vermeiden, indem sie wie Oscar Tuazons Burn the Formwork wiederholbare Fertigungsprozesse nachvollziehbar werden lassen, in einem unfertigen Zustand ausgestellt werden oder aus einfachen Materialien bestehen, kann bei einem Fehlen eines skulpturalen Grundverständnisses die Tendenz bestehen, ihren Kunststatus zu hinterfragen. Es sind also gerade diejenigen Strategien, die Skulpturen entwickeln, um Bezüge zur Lebenswelt jenseits der Abbildung herzustellen und damit auch Architektur erkunden zu können, die Ansatzpunkte dafür bieten, dass sie auf ihre dinghafte Seite reduziert werden, wodurch eine differenzierte Auseinandersetzung verhindert werden kann. Eine Begegnung mit Skulpturen, die ihre Dinghaftigkeit in den Vordergrund stellen, kann außerhalb klar erkennbarer institutioneller Kontexte auch zur Folge haben, dass sie nicht als künstlerische Arbeiten erkannt und ebenso beiläufig und unbewusst wahrgenommen werden, wie architektonische Strukturen. Eigene Erfahrungen skulpturalen Handelns können dazu beitragen, dieses Rezeptionshindernis zu überwinden, indem sie als »eine Art des Machens«108 bewirken, dass ein Interesse an der Gemachtheit von Skulpturen entwickelt wird. Dieses Interesse kann in der Betrachtung zeitgenössischer Skulpturen einen möglichen Ausgangspunkt für weitere, auch produktionsorientierte Auseinandersetzungen bilden. Darüber hinaus können eigene Erfahrungen, die in skulptural-handelnden Erkundungen der gebauten Umwelt gemacht werden, dazu beitragen, dass Überschneidungen mit Architektur als Möglichkeit erkannt werden, um Bezüge zur gebauten Umwelt herzustellen. Ein weiteres, zeitgenössische Skulpturen betreffendes Rezeptionshindernis kann in ihrer Widersprüchlichkeit oder Mehrdeutigkeit bestehen. Diese beiden Merkmale sind einerseits eine Grundlage ästhetischer Erfahrungsprozesse, für die ein Wechsel von Sinnproduktionen und Sinnsubversionen konstituierend ist, können aber bei einer mangelnden Bereitschaft, sich auf eine Skulptur einzulas-
108 R. Morris: Einige Bemerkungen zu einer Phänomenologie des Machens, S. 75
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sen, ebenso zu einem Abbruch der Auseinandersetzung führen. So kann das in der Betrachtung von Burn the Formwork möglicherweise hervorgerufene Gefühl, gleichzeitig Adressat und Nicht-Adressat der Arbeit zu sein, Unbehagen auslösen. Den Hintergründen dieses Unbehagens muss jedoch nachgegangen werden, damit das sich anhand der Arbeit eröffnende Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit, Inklusion und Exklusion erkundet werden kann. Auch hier können eigene Erfahrungen in der Produktion eine Basis bilden, um einen als irritierend wahrgenommenen Eigensinn der Arbeiten als möglichen Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrungsprozesse zu erkennen und ihm nachzugehen. Indem im eigenen skulpturalen Handeln eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Skulpturen im öffentlichen und institutionellen Raum gefördert wird, die die Grundlage bildet, um deren sinnstiftendes Potenzial zu erschließen, kann kulturelle Teilhabe unterstützt werden. 5.4.3 Streifzüge durch die gebaute Umwelt Bei skulpturalen Auseinandersetzungen mit Architektur, die den einleitenden Überlegungen dieses Kapitels folgend als Erkundungen von Architekturerfahrungen initiiert werden, handelt es sich um Lernprozesse, die ihren Ausgangspunkt im eigenen Erleben, d.h. in der unmittelbaren Anwesenheit109 in der gebauten Umwelt nehmen. Ansatzpunkte für skulpturale Auseinandersetzungen mit Architekturerfahrungen können daher im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt gefunden werden. Auch hier stellt sich allerdings das bereits dargestellte Problem, dass Lernende zu Beginn eines Projekts, in dem Architekturerfahrungen erkundet werden sollen, zwar über einen umfassenden Fundus solcher Erfahrungen verfügen, dieser Fundus ihnen jedoch in der Regel nicht zugänglich ist. Aus diesem Grund ist es in Lehr- und Lernkontexten von Bedeutung, Erkundungsstrategien vor Ort einzubeziehen, durch die ein Wechseln zwischen Phasen des beiläufigen Wahrnehmens und Momenten, in denen sich eine spezifisch ästhetische Aufmerksamkeit auf das Erleben der gebauten Umwelt richtet, unterstützt wird. Wie in Kapitel 2.3 überlegt wurde, ermöglicht ein solches Wechseln, dass den eigenen Wahrnehmungsweisen so nachgegangen werden kann, wie sie im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt vorkommen, Architekturerfahrungen als Nutzungserfahrungen werden damit zugänglich. Eine Erkundung im Modus des Besichtigens, in dessen Kontext Architektur aufmerksam auf der Basis expliziten Wissens betrachtet wird, eignet sich hierzu allerdings nicht, da in einem aufmerksamen Wahrnehmungsmodus die Viel-
109 Vgl. G. Böhme: Leibliche Anwesenheit im Raum, S. 98
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schichtigkeit des Erlebens zugunsten einer Fokussierung einzelner Aspekte aufgegeben wird. Ebenso wenig eignet sich eine handlungsbefreite kontemplative Betrachtung, da hier die Tendenz bestehen könnte, die gebaute Umwelt von ihrer Nutzbarkeit abgekoppelt wahrzunehmen. Um Zugänge zum eigenen Erleben der gebauten Wirklichkeit zu finden, ist es vielmehr von Bedeutung, Formen der Erkundung vor Ort zu entwickeln, die sich mit alltäglichen Formen des Umgehens überschneiden, dabei aber Momente begünstigen, innerhalb derer das eigene Erleben ereignishaft, die Wahrnehmung temporär selbstbezüglich und reflexiv werden kann. Im Folgenden wird untersucht, welche Potenziale Erkundungen, deren zentrales Element das Gehen als elementare Form der Bewegung in der gebauten Umwelt ist, in diesem Zusammenhang aufweisen. Bezug genommen wird dabei auf Überlegungen aus dem Kontext der Spaziergangswissenschaft, einer von Lucius Burckhardt entwickelten Disziplin, die »sich dem Erforschen und Verstehen von Räumen und dem Hinterfragen der auf sie projizierten Bilder, Anschauungen und Wahrnehmungskonstrukte«110 widmet. Eine Basis finden promenadologische Ideen und Herangehensweisen in Walter Benjamins Gedanken zur Tätigkeit des Flanierens, vor allem aber im situationistischen Urbanismus der 1960er Jahre um Guy Debord, in dem »die Stadt […] als Handlung, Gebrauch und Erfahrung«111 betrachtet wird. Im Zentrum situationistischer Strategien stehen zum einen das als ›Dérive‹ bezeichnete Umherschweifen als eine Art experimentellen Verhaltens, zum anderen »das ›Détournement‹ – die Zweckentfremdung, als eine Form des Plagiarismus, der das Original subversiv unterwandert und seinen Sinn kritisch verkehrt.«112 Auf einer allgemeineren Ebene ist Gehen als Erkundungsform gebauter Umwelt zunächst insofern von Interesse, als es eine Form der Bewegung ist. Bewegung ist für den nutzenden Umgang mit der gebauten Umwelt kennzeichnend, gleichzeitig ist sie eine wichtige Grundlage für den Aufbau einer Beziehung zum architektonischen Raum. So ist die Bewegung in den Raum aus der Perspektive August Schmarsows eine Voraussetzung für die Erschließung der räumlichen Tiefenachse, auf deren Basis eine Inbezugsetzung von architektonischem Raum und eigenem Körper möglich ist. Wie in Kapitel 2.2.2 unter ande-
110 Margit Schild: »Gehend verstehen – Spaziergangswissenschaft«, in: Bertram Weisshaar/Maren Brauner/Andreas Denk et al. (Hg.), Spaziergangswissenschaft in Praxis. Formate in Fortbewegung, Berlin: Jovis Verlag GmbH 2013, S. 18-23, hier S. 19 111 Heinz Schütz: »Die Stadt als Aktionsraum. Urban Performances als singulärer Auftritt und kollektives Ereignis«, in: Kunstforum International (Bd. 224, 2013). https://www.kunstforum.de/artikel/es-gibt-keine-hauser-nur-passagen/ (31.07.18) 112 Ebd.
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rem unter Bezugnahme auf Überlegungen Juhanni Pallasmaas und Steen Eiler Rasmussens dargestellt wurde, ist die eigene Bewegung maßgeblich daran beteiligt, dass eine Einbindung in den Raum erfolgen, der Raum also als umgebend wahrgenommen werden kann. Besondere Bedeutung kommt Bewegung im Kontext von Architekturwahrnehmung auch insofern zu, als durch sie die ebenfalls in Kapitel 2.2.2 vorgestellten Formen multisensuell fundierten visuellen Wahrnehmens möglich werden, die wiederum eine Grundlage leiblichen Erfahrens der gebauten Umwelt bilden. Auch aus der Sicht Fritz Schumachers ist Bewegung eine wichtige Basis des umfassenden Erlebens architektonischer Räume: »Wir tasten das organische Raumgefüge nicht nur mit dem Auge, das es in Bilder zerlegt , sondern durch die Bewegung mit unserer ganzen Körperlichkeit ab. Dadurch leben wir in dem Organismus [der Architektur], wir werden gleichsam Teil von ihm.«113
Besondere Bedeutung kommt im Kontext des Erlebens architektonischer Räume Bewegungen zu, innerhalb derer die räumliche Position verändert wird. Ein elementarer Bestandteil dieser Bewegungen ist daher das Gehen114. Wir gehen durch Räume, von einem Raum in den anderen, aus Gebäuden hinaus und in sie hinein, bewegen uns gehend durch urbane Räume. Wie Michel de Certeau überlegt, ist mit dem Gehen eine Perspektive verbunden, die keinen Überblick gewährt, sondern eine Verwobenheit, wodurch die Lebensbedingungen einer Stadt erfahren werden können.115 Gehen ist dabei nicht nur für einen alltäglichen, handelnden Umgang mit der gebauten Umwelt konstituierend, sondern kann sich in Form des Spazierens oder Flanierens auch teilweise von einer Handlungsorientierung lösen. Als solches eröffnet es insofern besondere Chancen, als hier eine Hierarchie zwischen unterschiedlichen Bereichen des Gesichtsfelds suspendiert wird und so periphere Wahrnehmungen in einen Gesamteindruck umfassend einbezogen werden können. Als automatisierte, auf verkörpertem Wissen basierende Bewegungsweise bedarf das Gehen in der Regel keiner bewussten Steuerung, weshalb es sich besonders eignet, um in einen Modus des ungeplanten, ziellosen Umherschweifens überzugehen. Aufgrund der im Gehen möglichen Übergänge zwischen Zielorientierung und Ziellosigkeit unterstützt es Erkundungen des eigenen Erlebens ge-
113 F. Schumacher: Sinnliche Wirkungen des baulichen Kunstwerks, S. 197 114 oder Fortbewegungsweisen, die Gehen ersetzen, z.B. Rollstuhlfahren 115 Michel de Certeau: »Gehen in der Stadt (1980)«, in: Susanne Hauser (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld: transcript 2011, S. 341-345, hier S. 342
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bauter Umwelt, die die Nutzbarkeit von Architektur zu berücksichtigen vermögen.116 Als Erkundungsform gebauter Umwelt bieten sich insbesondere Formen des Flanierens an, das immer auch Momente der Selbstvergessenheit umfasst und so begünstigt, dass die gewohnte gebaute Umwelt zum Ereignis zu werden vermag. Nicht nur das Besondere, sondern auch »das scheinbar langweilige und schon in- und auswendig bekannte Alltägliche, das beinahe schon Vergangene und das Verdrängte«117 können in diesem umherschweifenden Modus des Gehens reflexiv werden. Damit ist das Flanieren geeignet »die tausendmal peripher im Archiv unserer Sinne gespeicherte urbane Oberfläche abzustreifen, den Blick des Alltäglichen auszuschalten, um Kopf und Körper frei zu machen für das Eintauchen in das Gewebe des Städtischen, für Entdeckungen, Erlebnisse, Erfahrungen.«118 Erkannt wird der in diesem Kontext wichtige »Entdeckungs- und Erlebnisfaktor«119 eines umherschweifenden Gehens bereits von Walter Benjamin.
116 Das Potenzial des Gehens, Wechsel zwischen handlungsorientierten und handlungsbefreiten Formen des Umgehens zu ermöglichen, verdeutlicht folgendes Zitat von Rebecca Solnit: »Gehen selbst ist der vorsätzliche Akt, der den unwillkürlichen Rhythmen des Körpers, der Atmung und dem Herzschlag, am nächsten ist. Es ist ein feiner Mittelweg zwischen Arbeit und Müßiggang, zwischen Sein und Tun. Eine körperliche Anstrengung, die nichts als Gedanken, Erfahrungen und Ankünfte produziert ... idealerweise ist Gehen ein Zustand, in dem der Verstand, der Körper und die Welt miteinander in Einklang stehen, als seien sie Figuren, die miteinander kommunizieren, drei Töne, die plötzlich einen Akkord ergeben. Gehen ermöglicht uns, in unserem Körper und in der Welt zu sein, ohne uns mit ihnen beschäftigen zu müssen, es gibt uns die Freiheit, zu denken, ohne uns völlig in unseren Gedanken zu verlieren.« Volker Adolphs/Philip Norten (Hg.): Gehen, bleiben. Bewegung, Körper, Ort in der Kunst der Gegenwart = Going, staying movement, body, space in contemporary art, Bonn, Ostfildern, New York: Kunstmuseum Bonn; Hatje Cantz; Distribution partner, D.A.P., Distributed Art Publishers 2007, S. 29 117 Tina Saum/Bertram Weisshaar: »Gehen oder Flanieren. Gedanken und Gänge in Stuttgart«, in: Bertram Weisshaar/Maren Brauner/Andreas Denk et al. (Hg.), Spaziergangswissenschaft in Praxis. Formate in Fortbewegung, Berlin: Jovis Verlag GmbH 2013, S. 140-149, hier S. 141 118 Christoph Laimer/Elke Rauth: »Urbanisieren Sie sich! Forschungsreisen ins Gewebe der Stadt. Nicht nur in Wien«, in: Bertram Weisshaar/Maren Brauner/Andreas Denk et al. (Hg.), Spaziergangswissenschaft in Praxis. Formate in Fortbewegung, Berlin: Jovis Verlag GmbH 2013, S. 180-189, hier S. 180 119 T. Saum/B. Weisshaar, S. 141
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Allerdings weist er auch darauf hin, dass die Einnahme einer flanierenden Haltung keineswegs trivial ist: »In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockner Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln.«120
Eine Besonderheit, die Gehen gerade im Kontext urbaner Erkundungen auszeichnet, ist seine Langsamkeit, die aus der Sicht Walter Benjamins die Herstellung von Verbindungen zu unbewussten Prozessen unterstützt.121 Eine weitere Chance des langsamen Fortbewegens wird aus situationistischer Sicht darin gesehen, dass so ein Gefühl für Entfernungen wiedergefunden werden kann, das in der Nutzung moderner Fortbewegungs- und Kommunikationsmittel verloren zu gehen droht.122 Wie aber können Erkundungen der gebauten Umwelt, die als Begehungen eine Verbindung zu einem alltäglichen handlungsorientierten Umgang aufrechterhalten, in deren Kontext aber gewohnte Wahrnehmungen zu Ereignissen werden können und das Wahrnehmungsspektrum auf der Basis einer temporären Orts-, Zeit- und Selbstvergessenheit erweitert wird, initiiert werden? Eine mögliche Strategie kann darin bestehen, ein Verirren zu unterstützen, indem z.B. an unbekannten Orten bewusst auf Orientierungsmöglichkeiten verzichtet wird. Um gewohnte architektonische und urbane Räume, die als gebaute Lebenswirklichkeit die Grundlage gesammelter Architekturerfahrungen bilden und somit eine besondere Relevanz besitzen, zu erkunden, sind Strategien erforderlich, die ein Neu-Sehen unterstützen. Hierzu können z.B. bekannte Wege vermieden oder der Fokus auf sonst unbeachtete Details gelenkt werden, indem die Aufgabe gestellt wird, Dinge oder Informationen real oder fotografisch zu sammeln oder Skizzen
120 Vgl. Walter Benjamin/Rolf Tiedemann (Hg.): Gesammelte Schriften Band IV.1 Berliner Kindheit um Neuzehnhundert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 237 121 » Flanieren ist die Rhythmik dieses Schlummers. 1839 kam über Paris eine Schildkrötenmode. Man kann sich gut vorstellen, wie die Elegants in den Passagen leichter noch als auf den Boulevards das Tempo dieser Geschöpfe annahmen. Langeweile ist immer die Außenseite des unbewußten Geschehens. Darum ist sie den großen Dandys als vornehm erschienen.« Walter Benjamin: »Pariser Passagen. Eine dialektische Feerie«, in: Detlev Schöttker/Walter Benjamin (Hg.), Über Städte und Architekturen, Berlin: DOM publishers 2017, S. 51-63, hier S. 59 122 Vgl. C. Laimer/E. Rauth: Urbanisieren Sie sich, S. 180
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zu erstellen. Unterstützt werden kann eine für ein zielloses Umherschweifen erforderliche Suspendierung von Zielorientierungen auch durch den Einbezug des Zufalls. So können Ausgangspunkte von Erkundungen in ziellosen Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mithilfe anderer Zufallsverfahren gefunden werden.123 Eine weiterführende Möglichkeit, um Wahrnehmungen im umherschweifenden Erkunden gebauter Umwelt ereignishaft werden zu lassen, kann sich an der situationistischen Strategie des détournement orientieren. Zentrales Moment ist hier die Erzeugung von Alterität gegenüber alltäglichen Formen des Umgehens mit gebauter Umwelt. Als möglicher Ansatzpunkt kann hierzu unter anderem das Gehen selbst verändert werden. Beispielsweise kann das Mitführen einer Leiter das Gehen erschweren und so weiter verlangsamen, mit ihrer Hilfe können aber auch Hindernisse wie Mauern oder Zäune überwunden werden. Auf diese Weise können zusätzlich neue Wege eröffnet, sonst unzugängliche Räume erschlossen werden.124 Bereits ein zielloses Umherschweifen, besonders aber veränderte Formen der Fortbewegung durch den architektonischen und städtebaulichen Raum rufen auch insofern Irritationen hervor, als das eigene Verhalten in Bezug auf seine Wirkung auf nicht beteiligte Personen reflektiert wird. Die vorgestellten Erkundungen der gebauten Umwelt vor Ort können so zu einem Nachdenken über den architektonischen und urbanen Raum als Behaviour Setting (s. Kap. 2.2.4) führen. Eine Initiierung von Erkundungen vor Ort unter Einbezug der vorgestellten Strategien und Hintergründe ist vor allem zu Beginn von in Lehr- und Lernkontexten stattfindenden skulpturalen Projekten von Bedeutung, um hier das Finden erster Anknüpfungspunkte für individuelle Auseinandersetzungen mit dem Erleben der gebauten Umwelt zu finden. Im Verlauf der Projekte sind Ortserkundungen weiterhin wichtig, um eine Rückkoppelung der im skulpturalen Handeln vertieften Erfahrungen an die gebaute Umwelt zu gewährleisten, können aber zunehmend auch eigenständig und ungeplant erfolgen. Zielperspektive ist dabei, dass sich ästhetische Erfahrungsmomente im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt entwickeln, dass durch die skulpturale Auseinandersetzung somit eine Erweiterung der Wahrnehmung unterstützt und eine Reflexion des täglichen Erlebens ermöglicht wird.
123 Vgl. ebd., S. 181 124 Vgl. ebd., S. 186
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5.4.4 Übungen körperlich-räumlichen Erlebens Wie vertiefend in Kap. 2.2.2 dargestellt wurde, kann dem körperlichen Erleben als Hintergrund von Wahrnehmungen und Erfahrungen der gebauten Umwelt eine zentrale Bedeutung zuerkannt werden. Ein Erkennen der Zusammenhänge zwischen dem aus körperlichen Erfahrungen resultierenden Körperwissen und den Wahrnehmungs- und Erfahrungsweisen gebauter Umwelten bildet damit eine Basis, um u.a. den Fragen nachzugehen, warum von architektonischen Formen Wirkungen ausgehen können, auf welche Weise architektonische und städtebauliche Situationen auf Handlungsweisen Einfluss nehmen und anhand welchen impliziten Wissens Architektur beurteilt wird. Gleichzeitig sind die Zusammenhänge zwischen körperlichem und räumlichem Erleben eine wichtige Grundlage skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt. Auch das eigene körperliche Erleben verbleibt allerdings im täglichen Umgang mit der gebauten Umwelt auf einer vorbewussten Ebene. Es wird somit in der Regel kaum wahrgenommen und als Hintergrund des Erlebens gebauter Umwelt nur sehr bedingt reflektiert. Die Initiierung skulpturaler Erkundungen, die Zusammenhänge von räumlichem und körperlichem Erleben erschließen, erfordert daher ein Nachdenken über Möglichkeiten, das körperliche Erleben zu intensivieren und damit seine Wahrnehmbarkeit zu unterstützen. Indem auf diese Weise auf leiblichen Erfahrungen basierendes implizites Wissen vertieft wird, werden die Chancen erhöht, dass beiläufige Wahrnehmungen, in die dieses Wissen einfließt, ereignishaft und damit reflexiv werden können. Unterstützt wird so zum einen, dass im Umgang mit der gebauten Umwelt Anknüpfungspunkte für skulpturale Erkundungen gefunden werden können, zum anderen können diese Erkundungen selbst intensiviert werden.125 Bruce Nauman, der sich intensiv mit dem Zusammenhang zwischen körperlichem Erleben und dem Erleben räumlicher Formen und Strukturen befasst, kommt zu dem Ergebnis, dass die hier relevanten »awarenesses«126 nur aktiv erworben werden können:
125 Über positive Effekte einer Vertiefung leiblichen Erlebens für ein Erleben der gebauten Umwelt kann mit Otto Friedrich Bollnow nachgedacht werden. Dieser überlegt unter Bezugnahme auf Merleau-Ponty, »dass das Verhältnis des Menschen zu seinem Haus in der Innigkeit seines Verhältnisses zu seinem Leib begriffen werden kann«. O. F. Bollnow, S. 276-281. 126 Bruce Nauman zitiert nach V. Adolphs/P. Norten (Hg.): Gehen, bleiben, S. 58
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»An awareness of yourself comes from a certain amount of activity and you can’t get it from just thinking about yourself. You do exercises, you have certain kinds of awarenesses that you don’t have if you read books.«127
Als Übungen, die den Erwerb einer »besondere[n] Form der physio-kinetischen Selbsterfahrung«128 unterstützen, erprobt Nauman unter anderem verschiedene Wall-Floor-Positions (1969), in denen er seinen Körper auf 28 verschiedene Weisen in eine Raumecke lehnt, stellt, setzt oder legt. Übungen wie diese können selbst Werkcharakter annehmen, bilden für Nauman aber auch eine Grundlage, um Handlungsanweisungen zu verfassen, in deren Befolgung bestimmte körperliche Erfahrungen gemacht werden sollen. Die in den Handlungsanweisungen dargestellten Übungen umfassen nicht nur Bewegungs- oder Positionierungsanweisungen, sondern auch Hinweise auf mentale Prozesse, die in ihrem Zusammenhang in Gang gesetzt werden sollen. So geht die Aufforderung der Übung Body Pressure (1974), sich mit dem ganzen Körper gegen eine Wand zu pressen, u.a. mit der Anweisung einher, sich eine Auflösung der Wand vorzustellen129. In einer weiteren Handlungsanweisung Naumans, Instruction for a mental exercise (1974), soll mit einer liegenden Position die Vorstellung verbunden werden, im Boden einzusinken130:
127 Bruce Nauman zitiert nach ebd. 128 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 267 129 Vgl. Bruce Nauman: »Body Pressure«, in: Bruce Nauman/Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please. Writings and Interviews, Cambridge: MIT Press 2005, S. 83-85, hier S. 84 130 Bruce Nauman: »Instruction for a mental exercise (1974)«, in: Bruce Nauman/Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please. Writings and Interviews, Cambridge: MIT Press 2005, S. 76-77. Aus einer didaktischen Perspektive interessant ist, dass Nauman zur Steigerung der psychophysischen Selbsterfahrung ein tägliche Wiederholungen vorsehendes Trainingspensum vorschlägt. Überlegt werden kann, dass durch solche – in Lehr- und Lernkontexten allerdings nur bedingt mögliche Wiederholungen eine Habitualisierung erreicht werden kann, durch die die gemachten Erfahrungen zu implizitem Wissen sedimentieren und so nachhaltig in das Erleben der räumlichen Umwelt einbezogen werden können.
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Abbildung 76: Bruce Nauman, Instruction for a mental exercise, 1974
Naumans selbst bereits immanent didaktische Handlungsanweisungen sind als Grundlage für die Konzeption von Körperübungen, die im Kontext skulpturaler Erkundungen zu einer Intensivierung des Erlebens gebauter Umwelten führen könnten, insofern von besonderem Interesse, als sich in ihnen physische und mentale Prozesse verschränken. Auf diese Weise könnten sie z.B. Einfühlungen unterstützen, bei denen implizites Wissen um die mit einer bestimmten Haltung, Bewegung oder Geste verbundenen Emotionen in das Erleben körperlicher und räumlicher Formen einfließt. Während Nauman allerdings daran interessiert ist, die Erfahrungen der Rezipientinnen und Rezipienten möglichst genau zu steuern, ist in Lehr- und Lernkontexten über eine größere Offenheit nachzudenken, durch die weniger ein Nachvollzug vorgegebener mentaler Prozesse angestrebt, als vielmehr ermöglicht wird, dem eigenen Erleben nachzugehen. So könnten in die vorgestellte Bodenübung einbezogene Techniken der Entspannung dazu führen, dass ein Gefühl des Einsinkens beobachtet werden kann, ohne dass eine diesbezügliche Vorgabe erfolgt, oder aber auch ganz andere Erfahrungen gemacht werden. Hinweise auf architekturrelevante Bereiche des körperlichen Erlebens, aus denen weitere Erkundungsschwerpunkte körperlich-mentaler Übungen abgeleitet werden können, finden sich vor allem in einfühlungsästhetischen Überlegungen. So weist z.B. Heinrich Wölfflin auf Verbindungsbereiche körperlichen und architektonischen Erlebens hin, wenn er zeigt, »dass die Grundelemente der Architektur: Stoff und Form, Schwere und Kraft sich bestimmen nach den Erfahrungen, die wir an uns gemacht haben; dass endlich der Ausdruck, der in der horizontalen und vertikalen Gliederung liegt, nach menschlichen (organischen) Prinzipien gegeben ist.«131 Fragen, die vor diesem Hintergrund aktiv erkundet wer-
131 H. Wölfflin: Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, S. 15
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den können sind z.B. folgende: Wie fühle ich mich, wenn ich mich schlaff über einen Stuhl hänge, wie, wenn ich mich gerade hinsetze? Als weiterer relevanter Bereich spielt auch die Erfahrung des Gleichgewichts eine wichtige Rolle, vor deren Hintergrund die Stabilität ebenso wie eine statische oder dynamische Wirkung baulicher Formen und Konstruktionen erfahren werden kann.132 Unter Einbezug der in Kapitel 2.2.2 vorgestellten Überlegungen Wolfgang Meisenheimers133 kann darüber hinaus auch über didaktische Potenziale gestischer Übungen nachgedacht werden. Eine Betrachtung der Position Bruce Naumans ist im Kontext von Überlegungen zum Einbezug von Körperübungen in Projekte skulpturalen Erkundens der gebauten Umwelt auch insofern von Interesse, als hier deutlich wird, dass solche Übungen bildhauerisches Arbeiten nicht nur unterstützen, sondern auch unmittelbar motivieren können. So weist Nauman in einem Interview auf Bezüge zwischen den Wall-Floor Positions (1969) und seinen zeitgleich entstehenden Fiberglasarbeiten hin, bei denen er z.B. Positionierungs- und Verformungsmöglichkeiten eines Stabes erkundet.134 Abbildung 77: Bruce Nauman, Filmstill aus Wall-Floor-Positions, 1968 Abbildung 78: Bruce Nauman, Untitled, 1965
Auch Naumanns Corridors stehen in einer direkten Verbindung mit den auf der Basis von Körperübungen entwickelten Handlungsanweisungen. Eine Vermittlung von Erfahrungsmöglichkeiten findet hier nicht mehr auf einer sprachlichen Ebene statt, sondern dadurch, dass eine räumlich-materielle Situation geschaffen wird. Indem die beiden Wände des Korridors nur eine lineare Bewegung in eine 132 Vgl. A. Buether: Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz, S. 329-345 133 Vgl. W. Meisenheimer: Das Denken des Leibes und der architektonische Raum 134 Vgl. Bruce Nauman im Interview mit Willoughby Sharp: »Nauman Interview, 1970«, in: Bruce Nauman/Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please. Writings and Interviews, Cambridge: MIT Press 2005, S. 111-131, hier S. 123-124
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Richtung ermöglichen, »findet eine gezielte Einschränkung statt, nicht auf eine einzelne activity nebst daran gekoppelter Erfahrung, wohl aber auf eine deutlich limitierte Anzahl an möglichen activities – und somit: auf ein potentielles Erfahrungsspektrum«135. Zusammenhänge zwischen performativen Strategien und bildhauerischem Arbeiten können auch bei Robert Morris deutlich erkannt werden, der sich z.B. in einer Performance mit dem Moment des Übergangs von der Vertikalen in die Horizontale befasst136 und in diesem Kontext relevante Erfahrungen des Gleichgewichts anhand seiner Installation Bodyspacemotionthings (1971) (s. Kap. 3.1.1) auch Betrachtenden ermöglicht. Um körperliches Erleben in Lehr- und Lernzusammenhänge zu vertiefen, kommt neben einer Durchführung von Übungen auch die Möglichkeit infrage, dass Lernende selbst Instruktionen für die Lerngruppe verfassen. Auf diese Weise wird auch hier ein Denken »vom anderen her«137 unterstützt und es werden, analog zu den künstlerischen Prozessen Naumans’ und Morris’, Übergänge in skulpturales Arbeiten begünstigt. Neben den kinästhetischen Erfahrungen spielen auch haptische und taktile Erfahrungen im beiläufigen Wahrnehmen der gebauten Umwelt eine wichtige Rolle. Wie in Kapitel 2.2.2 dargestellt, fließen sie in die multisensorisch fundierte visuelle Wahrnehmung ein und bilden ein Fundament, um Materialeigenschaften in das Erleben baulicher Strukturen einbeziehen zu können. Auch hier können Übungen zu einer Vertiefung des Erlebens führen, wenn z.B. in Orientierung an den didaktischen Strategien László Moholy-Nagys eine Erkundung der taktilen Eigenschaften verschiedener Materialien initiiert wird138, oder, ähnlich wie in der Rezeption von Alex Schweders Arbeit Practise architecture (2013), zu einem tastenden Erkunden baulicher Strukturen und Oberflächen eingeladen wird.
135 B. Hinkes: Aisthetik der (gebauten) menschlichen Umwelt, S. 273 136 Wie Susanne Titz in einem am 17.01.2012 gehaltenen Vortrag darstellt, entstammt Morris Arbeit Two Columns (1971) ursprünglich einer Performance. Dort dient eine der hohlen Säule als Werkzeug, in das sich Morris hineinstellt, um dann gemeinsam mit der Säule umzufallen. Vgl. Susanne Titz: Die Phänomenologie des Machens, ein Aufruf zur Emanzipation. Haus der Kunst, München, https://hausderkunst.de/ entdecken/videos/susanne-titz-die-phaenomenologie-des-machens-ein-aufruf-zuremanzipation vom 28.06.2018 137 B. Waldenfels: Zur Phänomenologie des architektonischen Raumes, S. 91 138 Vgl. L. Moholy-Nagy/H. M. Wingler/O. Stelzer: Von Material zu Architektur, S. 20-91
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Ein weiterer Bereich, dessen körperlich fundiertes Erleben verstärkt werden kann, betrifft rhythmische Wirkungen der Architektur. Wie Steen Eiler Rasmussen darstellt, werden Erfahrungen rhythmischer Bewegungen, wie sie z.B. beim Eislaufen gesammelt werden, in die visuelle Wahrnehmung von Strukturen und Anordnungen baulicher Elemente einbezogen.139 Ein umfassendes Feld möglicher Übungen, die zu einer Sensibilisierung für damit verbundene Wirkungen beitragen können, kann daher mit tänzerischen Raumerkundungen erschlossen werden. Interessant in diesem Kontext sind z.B. Performances von Yvonne Rainer, die auf eine »Sensibilisierung gegenüber dem Realraum und der eigenen Körperlichkeit der BetrachterInnen«140 zielen, oder die Strategie des Room Writings von John Forsythe141. 5.4.5 Erfahrungsaustausch Im Kontext skulpturaler Erkundungen der gebauten Umwelt kommt Möglichkeiten des Erfahrungsaustauschs ein besonderer Stellenwert zu. Gründe hierfür sind, dass ein Austausch über Architekturerfahrungen zum einen eine Basis bildet, um vom subjektiven Erleben ausgehend die reziproke Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft zu erschließen und zum anderen eine auch begriffliche Reflexion unterstützt, durch die Teilhabe auf einer diskursiven Ebene ermöglicht wird. In skulpturalen Erkundungen der gebauten Umwelt geht es, den vorangegangenen Überlegungen folgend, einerseits darum, subjektiven Architekturerfahrungen nachzugehen, andererseits aber auch um die Schaffung von Erfahrungsangeboten, anhand derer Betrachtende die Möglichkeit haben, ihre eigenen Erfahrungen mit gebauten Umwelten in die rezeptive Auseinandersetzung einzubeziehen. Durch die so entstehende gegenseitige Durchdringung von Rezeption und Produktion wird skulpturales Handeln, analog zu einem von der Nutzung her gedachten architektonischen Bauen, zu einer Form sozialen Handelns. Ein solches Handeln setzt voraus, dass rezeptive Möglichkeiten im skulpturalen Prozess antizipiert werden. In Lehr- und Lernkontexten bildet ein Austausch zwi-
139 Vgl. S. E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 135 140 S. Titz: Architektonische Intervention, S. 21 141 Über diese und weitere Möglichkeiten tänzerischer Raumerkundungen denken Mareike Uhl und Suanne Triebel nach in: »Architektur + Tanz. Bewegter Raum Bewegung im Raum«, in: Christina Budde (Hg.), Architektur ganztags. Spielräume für baukulturelle Bildung ; Dokumentation der Tagung im Deutschen Architekturmuseum 20./21. November 2013, München: kopaed 2014, S. 69-74
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schen Lehrenden und Lernenden sowie der Lernenden untereinander eine wichtige Basis, um herauszufinden, inwiefern die entstehenden Arbeiten bei Betrachtenden die Entwicklung architekturrelevanter Assoziationen oder Imaginationen begünstigen. Auf diese Weise kann ausgelotet werden, ob und in welcher Weise Formen des eigenen Erlebens der gebauten Umwelt, die in einem skulpturalen Projekt erkundet werden, auch für andere relevant sind. Darüber hinaus kann anhand gemeinsamer Reflexionen überprüft werden, inwiefern es im skulpturalen Prozess gelingt, dass im Kontext der eigenen Fragestellung relevante Wahrnehmungsweisen, Assoziationen und Imaginationen auch in der Rezeption der entstehenden Arbeit eine Rolle spielen und wenn möglich in ästhetischen Erfahrungsprozessen reflexiv werden. In Phasen gemeinsamer Reflexion in der Lerngruppe, die in kunstpädagogischen Lehr- und Lernsettings ein zentrales Bindeglied zwischen Produktion und Rezeption bilden, können auf diese Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Erlebens gebauter Umwelten erkannt werden. Hierdurch wird ein individuelles oder gemeinsames Nachdenken über die Hintergründe und die Folgen einer intersubjektiven Relevanz architektonischer Wirkungen motiviert. Auf diese Weise können einerseits anthropologische Grundlagen des Erlebens von Architektur, andererseits seine Kulturalität und Historizität erkennbar werden. Ein Nachdenken über die Frage, welche Konsequenzen es hat, wenn architektonische Wirkungen nicht nur subjektiv wahrgenommen werden, sondern Stimmungen, Befindlichkeiten und Handlungen unterschiedlicher Nutzerinnen und Nutzer auf sich überschneidende Weise beeinflussen, bildet eine Grundlage, um zu verstehen, inwiefern architektonische und städtebauliche Gestaltungen in der Lage sind, Einfluss auf soziale Interaktionen und gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Reflexionen darüber, wodurch die explizite oder implizite Erzeugung architektonischer Wirkungen motiviert sein könnte, erlauben es darüber hinaus, Architektur auch als Manifestation gesellschaftlicher Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Ein Austausch über Erfahrungen, die in der gebauten Umwelt gemacht oder gesammelt werden, sowie gemeinsame Reflexionen der im skulpturalen Prozess entstehenden Arbeiten bilden somit eine Grundlage, um Architektur als »konstitutives wie transitives […] Medium des Sozialen«142 erkennen zu können. Auf einer konkreteren Ebene ermöglicht der skulpturale Erkundungsprozesse in Lehr- und Lernkontexten begleitende Austausch ein Erkennen der Übergänge zwischen privaten und öffentlichen Belangen in der Architektur sowie geteilter Interessen und Bedürfnisse,
142 H. Delitz: Architektursoziologie, S. 90, s. auch Kap. 2.2.5 und 3.1.2, Architektur als »Medium des Sozialen«
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wodurch gemeinschaftliche Entwicklungen von Mitgestaltungsmöglichkeiten motiviert werden können. Im Kontext der gemeinsamen Reflexion entstehender Arbeiten bzw. der im Prozess entstehenden Skizzen und Studien, bilden diese nicht nur einen Gegenstand, über den gesprochen werden kann, sondern werden selbst als Kommunikationsmedium einbezogen. Skulpturale Gestaltungen können so als komplementäre Ausdrucksmöglichkeiten erfahren werden, durch die verbalsprachliche Kommunikation erweitert werden kann. Auch der verbalsprachlichen Kommunikation kommt als Grundlage eines Austauschs über das Erleben architektonischer und skulpturaler Gestaltungen allerdings eine zentrale Bedeutung zu. Um über Wahrnehmungen und Erfahrungen sprechen zu können, ist es erforderlich das eigene Erleben so weit wie möglich auf eine begriffliche Ebene zu transferieren. Der Versuch, Worte zu finden, anhand derer sich eigene Wahrnehmungen möglichst differenziert kommunizieren lassen, führt dazu, dass die sprachliche Ausdruckfähigkeit und mit ihr Möglichkeiten der begrifflichen Reflexion erweitert werden. Dies wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass in die Reflexion des eigenen und fremden Architekturerlebens architekturtheoretisch relevantes Wissen einbezogen werden kann, Bedürfnisse kommuniziert sowie Beurteilungen architektonischer Gestaltungen differenziert und nachvollziehbar begründet werden können. Durch die hiermit verbundene Selbstvergewisserung werden Fähigkeiten und Bereitschaften zu einer auch intellektuellen Teilhabe an Architektur unterstützt. Kommunikationsbarrieren zwischen Planungs- und Nutzungsseite der Architektur, deren Überwindung ein zentrales Anliegen von Architekturvermittlung ist, können durch die kommunikative Erschließung eines gemeinsamen Bezugsrahmens143 verringert werden. Wenn eine Nutzungsperspektive differenziert kommuniziert werden kann, wird sie als der Planungsperspektive gleichwertige Komponente eines architektonischen Diskurses erkennbar, wodurch ein Austausch auf Augenhöhe ermöglicht wird. Eine auf einer begrifflichen Ebene möglich werdende Herstellung von Bezügen zwischen eigenem Erleben und explizitem Wissen in Bezug auf die Hintergründe des Wahrnehmens gebauter Umwelten ermöglicht nicht nur eine Anschlussfähigkeit an architektonische Diskurse, Theorien und Bezugswissenschaf-
143 Auf die Bedeutung, die einem gemeinsamen Bezugsrahmen aus architekturvermittlerischer Sicht zuerkannt werden kann, denkt Riklef Rambow in einem Vortag anlässlich des Symposiums schulRAUMkultur Linz, 30.11.2012 nach. Riklef Rambow: Arbeit am Begriff. Auf dem Weg zum common ground. KIT, Karlsruhe 2012, http://2012.schulraumkultur.at/assets/papers/rambow-common-ground.pdf 23.07.2018
vom
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ten, sondern kann auch auf das Erleben von Architektur zurückwirken. Werden z.B. in eine Reflexion von Architekturerfahrungen einfühlungsästhetische Überlegungen einbezogen, kann das so erworbene explizite Wissen um eine für das Erleben bedeutsame Herstellung von Bezügen zwischen architektonischer Form und eigenem Körper dazu führen, dass auf Einfühlungen basierende Wahrnehmungsbesonderheiten im täglichen Umgang eher wahrgenommen werden. Explizites Wissen über Architekturwahrnehmung kann so die Entwicklung von Übergängen zwischen beiläufigem Wahrnehmen und ästhetischem Wahrnehmen unterstützen, durch die Reflexionen des beiläufigen Wahrnehmens möglich werden. Auch von Auseinandersetzungen mit architektursoziologischen Überlegungen können Impulse ausgehen, durch die Wahrnehmungen der gebauten Umwelt differenziert werden. So kann ein Wissen um die reziproke Beziehung zwischen Architektur und Gesellschaft z.B. dazu führen, dass sich das Wahrnehmungsinteresse auf die Frage richtet, welche architektonischen und städtebaulichen Situationen zum Verweilen einladen und damit soziale Interaktion begünstigen und wo dies nicht der Fall ist. Diese Beobachtungen können anschließend hinsichtlich ihrer baulich-materiellen Bedingungen der räumlichen Situationen und möglicher impliziter oder expliziter Entwurfsintentionen reflektiert werden. Wie diese Überlegungen zeigen, kommt dem Austausch von architektonischen und skulpturalen Erfahrungen im Hinblick auf die Erschließung des Bildungspotenzials skulpturaler Erkundungen des Architektonischen eine zentrale Bedeutung zu. Wichtig ist es daher, im Kontext der Initiierung von Erkundungsprozessen ein besonderes Augenmerk auf die sinnvolle Initiierung gemeinsamer Reflexionen zu legen. Darüber hinaus ist aber auch ein Nachdenken darüber erforderlich, wie ein Austausch über das Erleben der gebauten Umwelt im täglichen Umgang motiviert und gestaltet werden kann. Im universitären Seminarkontext wird hierzu ein Blog (http://skulptur.susanne-henning.de/) genutzt, dessen Beiträge durch die Studierenden verfasst werden. Unterstützt durch verschiedene Aufgabenstellungen, die auf einer der Blogseiten vermittelt werden, richten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars ihre Aufmerksamkeit auf das eigene Erleben ihrer gebauten Umwelten und versuchen Hintergründen eines Aufmerkens im beiläufigen Wahrnehmen nachzugehen. Architektonische und städtebauliche Situationen, die ein solches Aufmerken auslösen, werden fotografisch dokumentiert und mit einer Beschreibung der wahrgenommenen Besonderheiten und ersten Reflexionen möglicher Hintergründe des Erlebens als Blogbeitrag eingestellt.
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Abbildung 79: Sculpture about architecture, Seminarbegleitender Blog
Durch die Kommentarfunktion des Blogs haben andere Mitglieder der Lerngruppe die Möglichkeit, zu den Erfahrungen ihrer Kommilitonen und Kommilitoninnen Stellung zu nehmen, von ähnlichen Situationen und geteilten oder abweichenden Erfahrungen mit der vorgestellten Situation zu berichten. Vor allem bilden die Blogbeiträge aber eine Grundlage für den Austausch von Architekturerfahrungen zu Beginn der Seminarsitzungen. Dabei werden Verbindungen zu skulpturalen Erkundungen hergestellt, indem z.B. auf Erkenntnisse aus Übungen oder individuelle skulpturale Projekte Bezug genommen wird. Obwohl das Erleben anhand der eingestellten Fotografien nur sehr bedingt nachvollzogen werden kann, kann in vielen Fällen über geteilte Erfahrungen gesprochen werden, da die gezeigten Situationen oft dem universitären Umfeld entstammen oder aber ähnliche Situationen bekannt sind, auf deren Erleben im Gespräch Bezug genommen werden kann. Wie die Erfahrungen mit dem Blog zeigen, gehen aus der durch die Aufgabe, Blogbeiträge zu erstellen, motivierten Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben der gebauten Umwelt vielfach auch Impulse für skulpturale Projekte und deren Vertiefung oder Differenzierung hervor. Ein weiterer positiver Effekt der kontinuierlichen Mitarbeit am Blog ist, dass Rückkoppelungen zwischen skulpturalen Erkundungen und dem Erleben der gebauten Umwelt unterstützt werden.
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5.4.6 Spannungsfelder des Architektonischen als Erkundungsschwerpunkte skulpturalen Handelns Um skulpturale Auseinandersetzungen mit dem Erleben gebauter Umwelten initiieren zu können, bedarf es motivierender Themenstellungen, die es ermöglichen, dass eigenen Schwerpunktsetzungen in individuellen und ergebnisoffenen Prozessen nachgegangen werden kann, die gleichzeitig aber auch individuellen Bedürfnissen entsprechende Orientierungen bieten. Wichtig ist eine Verständigung auf eine gemeinsame Basis individueller Fragestellungen sowohl im Hinblick auf Phasen der gemeinsamen Erarbeitung von Grundlagen als auch auf Phasen der Reflexion. Hier gewährleistet sie, dass trotz der Individualität der Erkundungsprozesse Bezüge zwischen dem eigenen skulpturalen Prozess und den Erkundungen anderer Lernender hergestellt werden können. Auf diese Weise wird eine intrinsisch motivierte Auseinandersetzung mit deren Arbeiten begünstigt. Erkenntnischancen basieren so nicht nur auf eigenen Erkundungsprozessen, vielmehr tragen auch die unterschiedlichen Herangehensweisen und Perspektiven, die in der Lerngruppe entwickelt werden, zu einer Konturierung des gemeinsamen Gegenstandes bei. Folgt man den bisherigen Überlegungen zu Besonderheiten skulpturaler Zugänge zum Architektonischen, ist ein zentrales Kriterium möglicher Themenstellungen, dass anhand ihrer die in den Kapiteln 3 und 4 überlegten Erfahrungsund Erkenntnischancen, über die skulpturale Zugänge zum Architektonischen in der zeitgenössischen Kunst verfügen, auch in Lehr- und Lernkontexten erschlossen werden können. Konkret erfordert dies, dass Lehrende Themenfelder hinsichtlich der Frage reflektieren, inwiefern sie zum einen eine Überwindung dualistischer Betrachtungsweisen zu unterstützen vermögen und zum anderen die Entwicklung architekturkritischer Perspektiven ermöglichen. Besondere diesbezügliche Chancen bieten sich, wenn Themenstellungen eine Erkundung von gleichermaßen architektur- wie skulpturrelevanten Spannungsfeldern motivieren, die sich zwischen einander gegenüberliegenden, voneinander jedoch nicht getrennt denkbaren Polen eröffnen. Aus skulpturaler Sicht ist eine solche, bildhauerischem Arbeiten immanente Erkundung von Beziehungen, die z.B. zwischen innen und außen, horizontal und vertikal, leicht und schwer, Körper und Raum bestehen, eine wichtige Grundlage von Prozessen, innerhalb derer sich ästhetische Erfahrungsmomente entwickeln können. Hintergrund eines diesbezüglichen besonderen Potenzials der Auseinandersetzung mit Spannungsfeldern ist, dass sich in einem Changieren zwischen ihren Polen Zwischenräume eröffnen, in denen implizites Wissen in Formfindungen einfließen kann, die aber auch eine Basis bilden, um bestehende
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Sichtweisen fragwürdig werden zu lassen und es so ermöglichen, implizites Wissen auf bewussteren Ebenen zu reflektieren. Wie in Kapitel 3.3.1 dargestellt wurde, ist ein Zusammendenken einander gegenüberliegender Pole auch ein architektonisches Anliegen. So ermöglicht die Synthese untereinander verwandter »Doppelphänomene«144 aus der Sicht Aldo van Eycks, dass Architektur jenseits einer einseitigen Fokussierung funktionaler Erfordernisse als Basis eines umfassend begriffenen Wohnens145 in den Blick genommen werden kann. Von ihm in diesem Kontext vorgeschlagene, grundlegende Felder, deren Synthese durch architektonische Planungen ermöglicht werden soll, sind »Einheit-Vielfalt und Teil-Ganzes« und »andere, nicht weniger bedeutsame: innen-außen, offen-geschlossen, Masse-Raum, Dauer-Wechsel, Ruhe-Bewegung, individuell-kollektiv etc.«146 Eine allgemeinere architektonische Relevanz der Erkundung von Spannungsfeldern kann daran erkannt werden, dass ähnliche Begriffspaare z.B. auch bei Rudolf Arnheim (»Vertikal und Horizontal«147 »Festkörper und Hohlräume«148, »Ordnung und Unordnung«149) Steen Eiler Rasmussen (z.B. hart und weich, leicht und schwer, schlaff und gespannt150, Körper und Raum151) und Wolfgang Meisenheimer (»die Geste der Aufrichtung (die Vertikale errichten), die Geste hier! und dort! (Orte setzen), das Trennen von innen und außen (Grenzen ziehen) sowie die Gesten für Enge und Weite (Spannung erzeugen)«152) verwendet werden, um grundlegende Aspekte architektonischen Erlebens betrachten zu
144 Aldo van Eyck: »Versuch, die Medizin der Reziprozität darzustellen«, in: Gerd de Bruyn (Hg.), architektur_theorie.doc. texte seit 1960, Basel [etc.]: Birkhäuser 2003a, S. 37-42, hier S. 38. Van Eyck versieht diese Bezeichnung mit der Fußnote: »Um keinerlei Vorstellung von Dualismus aufkommen zu lassen, spreche ich im Folgenden von Zwillingsphänomenen.« Ebd. S. 41. Beide Begriffe (aber auch die meisten anderen, über die man als Alternative nachdenken könnte) können allerdings als nur begrenzt geeignet betrachtet werden, das von ihm offenbar Gemeinte zum Ausdruck zu bringen, wodurch darauf verwiesen wird, dass es sich um etwas handelt, das vor allem auf einer anschaulichen Ebene erkundet werden kann. 145 A. van Eyck: Our natural affinity toward the In-between, S. 56 146 A. van Eyck: Versuch, die Medizin der Reziprozität darzustellen, S. 38 147 R. Arnheim, S. 40-73 148 Ebd., S. 74-115 149 Ebd., S. 167-210 150 Vgl. S E. Rasmussen: Architektur Erlebnis, S. 20-31 151 Vgl. ebd., S. 35-55 152 W. Meisenheimer, Das Denken des Leibes und der architektonische Raum, S. 25
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können. Auch Walter Gropius erkennt in seinem 1956 gehaltenen Vortrag Apollo in der Demokratie die Herstellung von Beziehungen zwischen den Polen von Spannungsfeldern als wichtiges architektonisches Entwurfsprinzip: »Die berühmte Forderung, ›von Innen nach Außen‹ zu planen, ist ebenso einseitig wie ihre Umkehrung; starr angewandt, führen beide Methoden zur künstlichen Manipulation von Raum und Form, das heißt: zu Formalismus irgendeiner Art. Statt dessen sollte der Entwerfer ständig versuchen, Gegensätze miteinander in Einklang zu bringen das Innere und das Äußere, Baumasse und Freiraum, Einheitlichkeit und Unterschiedlichkeit «153
Auf der Basis einer Auseinandersetzung mit skulpturalen Erweiterungstendenzen des 20. und 21. Jahrhunderts, die mit der Entwicklung eines immanenten Interesses an der Erkundung architektonischer Fragestellungen einhergehen, werden Überschneidungen skulpturaler und architektonischer Spannungsfelder erkennbar. Anhand ihrer werden für die Konzeption der in diesem Kapitel erwähnten universitären Seminare thematische Schwerpunkte auf die Felder innen und außen, Körper und Raum, offen und geschlossen sowie stabil und fragil gelegt. Abbildung 80: Cluster zum Spannungsfeld stabil/fragil
Sie werden in individuellen Prozessen ebenso wie im kommunikativen Austausch in der Lerngruppe auf der Basis produktiver, handlungsorientierter und rezeptiver Auseinandersetzungen ausdifferenziert und bilden eine Grundlage für
153 Walter Gropius: Apollo in der Demokratie (= Neue Bauhausbücher), Mainz: Florian Kupferberg Verlag 1967, S. 79
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die Erschließung benachbarter Felder. Ein im Seminar Skulpturales Arbeiten und Lehren in architektonischen Kontexten entwickeltes Begriffsnetz zum Feld ›statisch und dynamisch‹ zeigt erste Ausdifferenzierungen, die unterschiedliche skulpturale Erkundungen ermöglichen und dabei Anschlüsse an verschiedene für Architekturtheorie und -praxis relevante Themenfelder erkennbar werden lassen. Um in Auseinandersetzungen mit Spannungsfeldern architektursoziologisch relevante Fragestellungen erschließen zu können, bieten sich längs- und querschnittliche Vergleiche an. So kann eine Erkundung des sich zwischen den Polen offen und geschlossen eröffnenden Feldes folgende Fragen motivieren: Wie offen oder geschlossen wird in unterschiedlichen zeitlichen Kontexten gebaut? Mit welchen technischen Entwicklungen hängt das zusammen? Welche Wohnbedürfnisse werden damit befriedigt? Welche kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen können als Hintergrund der sich verändernden Bedürfnisse in den Blick genommen werden? Wie wirkt sich aber auch die gebaute Umwelt als Sozialisationsinstanz auf eigene Bedürfnisse der Sicht- und Unsichtbarkeiten aus? Skulpturale Auseinandersetzungen mit architektonischen Spannungsfeldern bieten somit besondere Chancen, Verbindungen zwischen anschaulichen Erkundungen und begrifflichen Reflexionen herzustellen, wodurch Zusammenhängen zwischen eigenem Erleben gebauter Umwelten und architektursoziologischen Fragestellungen nachgegangen werden kann. Auf einer somit durch sie unterstützten Verbindung analytischer und synthetischer Prozesse basiert aus der Sicht Wassily Kandinskys das besondere kunstpädagogische Potenzial, »die starr gewordene Atmosphäre des ›Entweder-Oder‹ verlassen und sich in die biegsame, lebendige Atmosphäre des ›Und‹ begeben«154 zu können.
154 Wassily Kandinsky: »Kunstpädagogik (1928)«, in: Cornelia Bering/Kunibert Bering (Hg.), Konzeptionen der Kunstdidaktik. Dokumente eines komplexen Gefüges, Oberhausen: Athena 2011, S. 36-37, hier S. 37
Literatur
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Literatur
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Abbildung 54: Louis Kahn, Indian Institute of Management, Ahmedabad, 1974, in: Klaus-Peter Gast: Louis I. Kahn. Das Gesamtwerk –The Complete Works, München / Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 2001, S. 127. Abbildung 55: Ludwig Mies van der Rohe, Barcelona-Pavillon, in: Markus Brüderlin/Friedrich T. Bach (Hg.): Archiskulptur, S. 97. Abbildung 56: Anna und Eugeni Bach, Mies Missing Materiality, 2017, https://www.e-flux.com/announcements/164723/anna-eugeni-bachmies-missing-materiality/ (31.07.2019) Abbildung 57: Gordon Matta-Clark, Conical Intersect, 1975, in: Peter Noever/John Yau (Hg.): Anarchitecture. Works by Gordon Matta-Clark, Los Angeles: MAK Center for Art and Architecture 1997, S. 25. Abbildung 58: Richard Serra, Tilted Arc, Federal Plaza, New York, 1981-1989, in: Clara Weyergraf/Martha Buskirk: The Destruction of Tilted Arc: Documents, Cambridge, London: MIT Press 1991, S. 192. Abbildung 59: Le Corbusier, Plan Voisin, 1925, in: Willy Boesiger (Hg.): Le Corbusier et Pierre Jeanneret, Oeuvre Complète 1910 - 1929, Zürich: Girsberger, 1964, S. 109. Abbildung 60: Oscar Tuazon, Burn the formwork, Installationsansicht 2017. https://www.skulptur-projekte-archiv.de/de-de/2017/projects/202/ (06.09.2019), Foto: Henning Rogge. Abbildung 61: Eduardo Chillida, La casa del poeta I, 1980, in: Brüderlin, Markus/Friedrich T. Bach (Hg.): ArchiSkulptur S. 145. Abbildung 62: Eduardo Chillida, Homenaje a Rembrandt, 1971, in: Martin van der Coelen (Hg.): Opus prints: Catálogo completo de la obra gráfica/Vol. P. I: 1959-1972, München, Mainz: Chorus, S. 277. Abbildung. 63: Illustration aus S. E. Rasmussen, Architektur Erlebnis. Stuttgart: Krämer 1980, S. 49. Abbildung 64: Monika Sosnowska, Staircase, 2010, in: Monika Sosnowska/Adam Szymczyk/Heidi Zuckerman et al. (Hg.): Monika Sosnowska, Aspen, CO: Aspen Art Museum 2013, S. 100. Abbildung 65: Fritz Schumacher: Schematische Darstellung zur Architekturwahrnehnumg, in: Aḱos Moravánszky/Katalin M. Gyöngy (Hg.): Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Eine kritische Anthologie, Wien, New York: Springer 2003, S. 196. Abbildung 66: Julia Koop, Ohne Titel, 2015, Foto: Susanne Henning. Abbildung 67: Christina Kemper, Ohne Titel, 2013, Foto: Susanne Henning. Abbildung 68: Trichterförmige Elemente im Kunstsilo der Universität Paderborn, Foto: Susanne Henning. Abbildung 69: Laura Fabritz, Ohne Titel, 2016, Foto: Susanne Henning
396 | Architektur wird plastisch
Abbildung 70: Katharina Eden, Ohne Titel, 2016, Foto: Susanne Henning. Abbildung 71: Anna Kaup, Ohne Titel, 2017, Foto: Anna Kaup. Abbildung 72: Charles Simonds, Dwelling Dublin 1980, in: Erika Billeter (Hg.): Mythos & Ritual in der Kunst der 70er Jahre, Zürich: Kunsthaus Zürich 1981, S. 66. Abbildung 73 und 74: Isabel Rösler, Ohne Titel, 2017, Fotos: Susanne Henning. Abbildung 75: Ergebnis einer Übung im Seminar Skulpturale Auseinandersetzung mit der Architektur des Silos, Foto: Susanne Henning. Abbildung 76: Bruce Nauman, Instruction for a mental exercise, 1974. (Ausschnitt), in: Bruce Nauman: »Instruction for a mental exercise (1974)«, in: Bruce Nauman/Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please. Writings and Interviews, Cambridge: MIT Press 2005, S. 76-77. Abbildung 77: Bruce Nauman, Wall-Floor-Positions, 1968, in: Renata Catambas (Hg.): 14 Rooms, Ostfildern: Hatje Cantz 2014, S. 57. Abbildung 78: Bruce Nauman: Untitled, 1965, in: Bruce Nauman/Janet Kraynak (Hg.), Please Pay Attention Please. Writings and Interviews, Cambridge: MIT Press 2005, S. 116. Abbildung 79: Sculpture about architecture, Seminarbegleitender Blog. http://skulptur.susanne-henning.de/ (30.07.2018) Abbildung 80: Cluster zum Spannungsfeld stabil – fragil, Grafik: Susanne Henning.
Architektur und Design Annette Geiger
Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs 2018, 314 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4489-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4489-4
Andrea Rostásy, Tobias Sievers
Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente 2018, 456 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2517-2 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2517-6
Christoph Rodatz, Pierre Smolarski (Hg.)
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